*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 77553 ***
Anmerkungen zur Transkription
Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von
1923 so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Offensichtliche
Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute
nicht mehr verwendete Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original
unverändert.
Das Inhaltsverzeichnis wurde der Übersichtlichkeit halber
an den Anfang des Buches versetzt.
Der Originaltext wurde in Frakturschrift gesetzt. Passagen in
gesperrter Schrift wurden kursiv dargestellt.
Original-Einband
Der deutsche Spielmann
Eine Auswahl aus dem Schatze deutscher Dichtung
für Jugend und Volk
Herausgegeben von Dr. Ernst Weber
✤
Bach und Strom
Der deutsche Strom,
wie er wird und was er uns bedeutet
Bildschmuck von Ernst Liebermann
Zweite, veränderte Auflage
✤
München 1923
Georg D. W. Callwey ✤ Verlag des deutschen Spielmanns
Wie lustige Gesellen einen Müller foppen und wie er’s ihnen eintränkt
Es kamen einstmals einige lustige Gesellen, die sich auf dem Wege
verirrt hatten, spät abends in einer einsam gelegenen Mühle an, wo sie
um Herberg nachsuchten. Der Müller, ein leutseliger Mann, nahm sie
freundlich auf und versah sie aufs beste mit Brot, Käs und Bier dazu.
Also aßen und tranken sie bis in die späte Nacht hinein und trieben
dazu allerlei Kurzweil mit guten Schwänken, an denen auch der Müller
großen Gefallen hatte. Da konnte es denn nicht fehlen, daß es zuletzt
auch über die Müller herging, welchen freilich viel Böses nachgesagt
wird, [S. 13]nicht mit Unrecht. So fragte denn der erste den Müller, ob er
wohl wisse, was das Beste sei in der Mühle? Der Müller antwortete:
„Nun, ja wohl, die vollen Säcke.“ „Nein,“ sagte jener, sondern daß die
Säcke nicht reden können; denn — —“ „Schon gut,“ sagte der Müller,
„ich versteh’s, wo’s hinaus will.“ Ein zweiter fragte den Müller,
ob er wisse, warum die Störche auf keiner Mühle ihr Nest bauen? Der
Müller sagte: „Nun ja, weil die klappernden Störche die klappernden
Mühlen nicht leiden mögen.“ „Schlecht erraten,“ sagte jener, „sondern
weil die Störche wissen, daß nicht einmal ihre Eier vor den Müllern
sicher seien.“ „Oho!“ sagte der Müller und lachte, „aufs Dach gehen
wir doch nicht hinauf, solang es was zu fischen gibt in der Mühle.“
— Ein dritter nahm das Wort und sprach: „Welcher Müller versteht am
besten sein Handwerk?“ Der Müller sagte: „Wohl derjenige, der aus dem
wenigsten Korn das meiste Mehl macht.“ „Mitnichten,“ sagte jener,
„sondern der das Korn und das Mehl so fein mahlt, daß die Leute kaum
wieder die Säcke finden.“ — Der vierte sagte: „Ich verstehe auch etwas
vom Handwerk und habe oft auf der Mühle zugeschaut, wie’s da zugeht.
Wenn man das erste Wasser in der Mühle anläßt, so geht sie anfangs gar
langsam und sagt gleichsam: Es ist ein Dieb da! Es ist ein Dieb da!
Wenn man das zweite laufen läßt, so geht sie schon etwas geschwinder
und spricht gleichsam: Wer ist er? Wer ist er? Endlich, wenn das dritte
Wasser dazukommt, so geht sie gar geschwind und antwortet: Der Müller,
der Müller, der Müller.“ Es sagte darauf der fünfte: „Wenn denn alle
Müller Diebe sind, wie kommt es denn, daß man sie nicht alle aufhängt
gleich andern Dieben?“ „Narr,“ sagte der sechste, „da würde ja das
ganze Handwerk in Abgang kommen, und man kann es doch nicht missen.“
Zuletzt langte der siebente seine Fiedel hervor und sprach: „Ich will
dem Müller lieber eins aufgeigen,“ und er sang:
„Müller, Müller, Metzendieb,
Hast die jungen Mädle lieb,
Eile, Müller, schütte drauf,
Gib der Mühle schnellen Lauf.
Nimm fein recht das Beutelgeld,
Daß kein Heller neben fällt.“
So ging’s denn fort und die Gesellen hatten ihr Gespött mit dem Müller,
und der Müller machte auch kein schiefes Maul dazu. Er dachte aber
bei sich: „Wartet, ich will’s euch schon eintränken.“ [S. 14]— Als sie nun
schlafen gehen wollten, sprach der Müller, er habe nur eine einzige
Kammer leer, unter dem Taubenschlag droben, und zu der müsse man auf
schlechter Stiege unter freiem Himmel hinaufsteigen. Den Gesellen war
das gleichviel. Und sie brachen auf und stiegen die Staffeln hinan, und
sie merkten wohl, daß sie steil und schlecht seien zum Halsbrechen.
Und als sie nun alle auf der Stiege standen — es war aber das große
Wasserrad — so zog der Müller unversehens den Schluß auf, und, hopps!
purzelte einer nach dem andern in den Gumpen hinab wie Frösche, und
sie zwatzelten und plätscherten drin herum wie Pudelhunde, die das
Schwimmen lernen. Ersoffen ist jedoch keiner, und das kalte Bad hat
ihnen weiter auch nicht geschadet. Der Müller sagte, es tue ihm leid,
daß die Stiege gebrochen sei, und sie müßten nun schon in der Stube
vorlieb nehmen. Das taten sie denn auch, und sie schliefen gar wohl.
Des andern Tags sahen sie nun freilich, was das für eine Bewandtnis
gehabt habe mit der Stiege, und der Müller lachte sie brav aus und
sagte: „Da habt ihr nun ein Stückchen mehr zu erzählen von den
Müllern.“ Der Fiedler aber stimmte seine Geige und spielte ihnen was
auf und sang:
„Die Mühlen, die klappen,
Die Knappen, die schnappen,
Die Beutel, die strotzen,
Die Müller, die trotzen —“
und so weiter.
Als sie endlich aufbrechen wollten und nach der Zeche fragten, sagte
der Müller, sie hätten dieselbe schon gestern bezahlt; [S. 15]sie sollten
nur damit vorlieb und nichts für ungut nehmen. Also sind sie als gute
Freunde voneinander gegangen.
Ludwig Aurbacher
Die verlassene Mühle
Das Wasser rauscht zum Wald hinein,
Es rauscht im Wald so kühle,
Wie mag es wohl gekommen sein
Vor die verlaßne Mühle?
Die Räder stille, morsch, bemoost,
Die sonst so fröhlich herumgetost,
Dach, Gäng und Fenster alle
Im drohenden Verfalle.
Allein bei Sonnenuntergang,
Da knisterten die Äste,
Da schlichen sich den Bach entlang
Gar sonderbare Gäste,
Viel Männlein grau, von Zwergenart,
Mit dickem Kopf und langem Bart,
Sie schleppten Müllersäcke
Daher aus Busch und Hecke.
Und alsobald im Müllerhaus
Beginnt ein reges Leben,
Die Räder drehen sich im Saus,
Das Glöcklein schellt daneben;
Die Männlein laufen ein und aus,
Mit Sack hinein und Sack heraus,
Und jeder von den Kleinen
Scheint nur ein Sack mit Beinen.
Und immer toller schwärmten sie
Wie Bienen um die Zellen,
Und immer toller lärmten sie
Durch das Getos der Wellen;
Mit wilder Hast das Glöcklein scholl,
Bis alle Säcke waren voll
Und klar am Himmel oben
Der Vollmond sich erhoben.
[S. 16]
Da öffnet sich ein Fensterlein,
Das einzige noch ganze,
Ein schönes, bleiches Mägdelein
Zeigt sich im Mondesglanze
Und ruft vernehmlich durchs Gebraus
Mit süßer Stimme Klang heraus:
„Nun habt ihr doch, ihr Leute,
Genug des Mehls für heute!“
Da neigt das ganze Lumpenpack
Sich vor dem holden Bildnis,
Und jeder sitzt auf seinem Sack
Und reitet in die Wildnis;
Schön Müllerin schließt’s Fenster zu,
Und alles liegt in alter Ruh.
Des Morgens Nebel haben
Die Mühle ganz begraben.
Und als ich kam am andern Tag
In trüber Ahnung Schauern,
Die Mühle ganz zerfallen lag
Bis auf die letzten Mauern;
Das Wasser rauschet neben mir hin,
Es weiß wohl, was ich fühle,
Und nimmermehr will aus dem Sinn
Mir die zerfallne Mühle.
August Schnezler
Als ich der Müller war
Nicht gar weit vom Hause, zwischen und unterhalb von Feldrainen und
Wiesenlehnen, ist eine Schlucht. Sie ist voll dichten und hohen
Erlen- und Haselnußgebüsches, zwischen welchen Germen, Schierling
und Sauerampfer wuchern. Unter diesen Gewächsen rieselt ein Wasser,
das seinerzeit zuweilen nur von einem durstigen Krötlein aufgesucht
wurde, sonst aber, so klar und frisch es war, ganz unbeachtet blieb,
bis unser Nachbar, der Thoma, dem die Schlucht gehörte, eine Mühle in
dieselbe baute. Die Mühle stand so versteckt im Gebüsche, daß ich, wenn
ich bei meiner Rinderherde auf dem Wiesenraine stand, vergebens nach
derselben gespäht hätte, wenn an ihr und hoch über den Gesträuchen
nicht [S. 17]zwei Tannen emporgeragt haben würden. Auf diesen Tannen saß gern
ein Habicht und pfiff zu mir und meinen Rindern herüber, daß ich vor
Grauen in Gedanken oft ein heilig Vaterunser betete. Auch vor der Mühle
fürchtete ich mich; sie kam mir mit ihren ewigen Schatten und traurigem
Wasserrauschen schier so schauerlich vor, wie jene im Märchen meiner
Mutter, in der die schöne einschichtige Müllerstochter zwölf Räuber mit
der breiten Mühlhacke geköpft hat.
Da kam aber eine Zeit, in der ich näher mit der Mühle im
Schierlinggraben Bekanntschaft machen sollte.
Unsere schöne Mühle im lichten Wiesentale, in der ich meinem
Vater so oft das Korn mahlen half, war in einer Nacht niedergebrannt
bis auf die zahllosen Eisennägel und die zwei Mühlsteine, die ganz
dunkelrot angelaufen und dann in mehrere Stücke auseinander gefallen
waren. Das Wasserrad am halbverkohlten Gründel allein war stehen
geblieben, und auf dasselbe schoß der Mühlbach nieder, und das Rad lief
und tanzte in hastiger Eile wie närrisch. Verrückt war es geworden ob
des Unglückes. Und erst, als mein Vater den Mühlbach ab in den Fluß
leitete, blieb das Rad stehen und stand viele Jahre lang hoch und
kohlschwarz und unbeweglich über dem Schutt.
Ich und mein Vater hatten alle Eisennägel zusammengesucht auf der
Brandstätte, aber der Schmied gab uns dafür nur fünfundzwanzig
Groschen, und die Mühle konnten wir nicht mehr aufbauen.
Da ging mein Vater zum Nachbar Thoma und fragte an, was er
Gegendienstes leisten müsse, wenn er die Mühle im Schierlinggraben an
Tagen, da sie leer stehe, benützen dürfe.
Der Thoma legte meinem Vater einen Brotlaib vor; er möge sich
abschneiden, nur ein recht groß Stück, er, der Nachbar, habe gut Korn
gebaut. Ja, und von wegen der Mühle, die könne er, mein Vater, schon
haben; so einen, zwei Tage die Woche stehe sie ja leer; und eines
Gegendienstes wegen könne keine Rede sein; er, mein Vater, sei mit dem
Feuer unglücklich gewesen; ja, und das könne jedem geschehen, solle
sich nur noch Brot abschneiden, ein rechtschaffen Stück. Gesegne Gott!
Gesegne Gott!
In unserem Hause ist mein Vater selbst der Mühlesel gewesen. Und so
stieg er eines Tages, den Kornsack auf der Achsel, nieder in den
Schierlinggraben. Ich, ein blöder Junge, war entweder hinter meinen
Rindern oder hinter meinem Vater her; [S. 18]mein Vater war mir stets der
unfehlbarste und erste Mensch auf Erden, und alle andern Leute liefen
nur so neben mit; nur der Pfarrer und der Amtmann ausgenommen, die
standen höher; der eine hielt’s ganz mit Gott, der andere mit dem
Kaiser — und mit uns hielt’s keiner von beiden.
So wand ich mich denn hinter meinem Vater durch das Erlen- und
Haselnußgebüsch der Mühle zu. Und als wir vor derselben standen, zog
mein Vater einen hölzernen Schlüssel aus dem Sack, sperrte die graue,
niedrige Tür auf, und wir standen jetzt in der finsteren Mühle, in
welcher nur der staubige Mehlkasten und über demselben das Steingehäus
und die Aufschüttmulde uns matt entgegenblickten. Wir stiegen
über sechs oder acht Stufen empor zum Schüttboden; an die braune,
spinnwebige Wand desselben waren mehrere Heiligenbilder geklebt, eine
Art Hausaltar, an dem auch ein grünes Weihbrunngefäßchen gängelte.
Mein Vater besprengte sich damit; dann leerte er seinen Kornsack in
die Schüttmulde und guckte noch ein wenig durch ein Fensterchen auf
das stetig rauschende Wasserfloß hinaus und zwischen den Fugen in die
Radstube hinab, aus welcher erst eine rechte Finsternis hervorglotzte.
Und als er sah, daß alles in Ordnung, tauchte er mit beiden Händen eine
aus der Wand stehende Stange nieder. Da wurde es lebendig. Zuerst hörte
ich einen einzelnen Klapper, bald einen zweiten, dritten; der Boden hub
sachte an zu dröhnen, zu schütteln; das Klappern wurde schneller und
schneller und kam endlich in ein gleichmäßiges Rollen und Klirren und
Schrillen. Es ging die Mühle.
Von dem zitternden Schnabel der Schüttmulde rieselte das braungelbe
Brünnlein des Kornes in den Steinhals, an welchem seines raschen Laufes
wegen weder ein Kern, noch ein Maserchen zu erkennen war.
Mein Vater unterwies mich in den Dingen, auf daß auch ich das Müllern
lerne, und machte endlich die Decke des Mehlkastens auf, in dem bereits
der feine, weiße Staub des Mehles flog.
Erst spät abends — als es schon so finster war, daß ein zur Tür
hereinsprühendes Johanniswürmchen mich ins Herz hinein erschreckte,
weil ich im Augenblick wähnte, es sei ein Feuerfunke und es hebe
auch diese Mühle zu brennen an — drückte mein Vater wieder an der
Wandstange; da wurde das Klirren und Klappern langsamer, noch dröhnte
und ächzte das Räderwerk träg [S. 19]und träger, dann stockte es und war
verstummt. — Mir klang es in den Ohren, und draußen rauschte wieder
das Wasser.
Mein Vater besprengte Steingehäus und Mehlkasten mit dem Weihwasser,
auf daß über Nacht kein Unglück komme; dann verschloß er die Tür mit
dem hölzernen Schlüssel, und wir stiegen durch das wilde Gesträuche und
über die Wiesen- und Feldlehnen hinan zu unserm Hause. Als wir über die
Leinwandbleiche [S. 20]gingen, huschte ein Weibsbild an uns vorbei und hin
über den Anger, auf welchem die Eschen und die Kirschbäume standen.
„Ich denk gar, das ist die kohlschwarze Stina gewesen,“ sagte mein
Vater vor sich hin, „wie närrisch lauft denn die herum in der Nacht!“
„Der wäre es sicher nicht uneben gewesen, wenn sie unsere
Bleichleinwand noch gefunden hätt auf dem Anger,“ meinte meine Mutter
daheim.
„Ei, das kannst nicht wissen,“ sagte mein Vater ablehnend. „Sie macht
sich ihr Brot bei der Kohlenbrennerei, und Schlechtes kann man ihr doch
just gerade eben nicht gar recht viel nachsagen.“
„Gutes auch nicht,“ versetzte die Mutter, dann war nicht weiter mehr
davon die Rede.
Wir gingen zum Abendessen. Nach diesem setzte sich meine Mutter zum
Spinnrad und sang ein Lied und erzählte ein Märchen. Das Märchen von
der weißen Frau, wie sie um Mitternacht durch das Ritterschloß schwebt
und mit dem blutigen Dolche eine Unglücksprophezeiung an die Wand
schreibt — es ließ mir die ganze Nacht keine Ruhe, und ich kroch aus
Angst und Furcht vor der weißen Frau dem alten Einleger-Jobst, bei dem
ich schlief, schier hinters Hemd hinein.
Am andern Morgen, als wir aufstanden, war die Nachricht da, mein Vater
müsse eilends roboten gehen. Zwar war es schon ein Stück Weile nach dem
Jahre des Heiles achtundvierzig, aber unser guter Verwalter hielt stets
noch an der ehrwürdigen Sitte, die Bauern ins Joch zu spannen, und die
Bauern bogen willig ihre sonst so steifen Nacken.
Mich aber traf’s an diesem Morgen wie ein Donnerschlag; „Bub,“
sagte der Vater zu mir, „so mußt heut du der Müllner sein unten im
Schierlinggraben.“
Noch ging er mit mir hinab, um die Tür aufzuschließen und die Mühle
anzurichten.
Ersteres wäre nicht nötig gewesen; die Tür war kaum verriegelt und mein
Vater brummte: „So ein hölzern Schloß ist just für die Katz; der erst
best Bettelmann taucht mit dem Stock den Riegel in Scherben.“
Dann gab mir der Vater noch Verhaltungsmaßregeln; unterwies mich,
wie man mittels der Wandstange das Wasser vom Holzfloße leite, daß
es seitwärts tief in das steinige Bett hinabstürze und die Mühle
stehen bleibe. Ferner bereitete er mir [S. 21]einen Kübel Wassers auf dem
Schüttboden, „im Falle, daß was sein sollte“. Er dachte ans Feuer. Dann
ging er, und ich war allein in der dunklen, klappernden Mühle.
Mir war, als obläge mir die Sorge über eine ganze wildwirbelnde Welt.
Ich schlich und spähte herum, ob überall alles in Ordnung; ich guckte
in die Aufschüttmulde; es rieselte immer aus ihr, aber sie wollte nicht
leerer werden. Ich hub in Gedanken an zu zählen und dachte, bis ich
fünftausend gezählt hätte, würde das Korn wohl zur Rüste sein; aber ich
zählte bis zehntausend, zählte bis — da war mir plötzlich, als stiege
aus dem Mehlkasten Rauch empor.
Ich stürzte zur Stange, bald stand das ganze Radwerk still und ich sah,
es war nicht Rauch, es war nur Mehlstaub gewesen.
Ich richtete die Mühle wieder an und wurde nun etwas zuversichtlicher.
Aber in dieser ewigen Dunkelheit des alten Baues, in diesem
fortwährenden Tosen und Klirren wurde ich anderartig aufgeregt ... Ich
spähte nach rechts und nach links und gegen die dunkelsten Winkel hin.
Was gängelt doch das Weihbrunngefäß in einem fort! — Schon wieder
wollt ich zur Wandstange eilen, da ist plötzlich ein Gepuster und
Gepolter — siehe dort! — langsam und von sich selbst hebt sich der
Deckel des Mehlkastens, eine Gestalt, eine Menschengestalt richtet
sich auf im Kasten, — bleich ist sie bis in die Augen, bis in den
Mund hinein. Jesus und Heiland! Die weiße Frau! — Meine Augen wollen
vergehen vor Schreck; aber sie sehn es noch, wie die Gestalt polternd
aus dem Kasten steigt und hinaushuscht zur Tür.
Ich bin sehr erschrocken; aber der Schreck war verhältnismäßig kurz
gewesen. Die Hast und Eile des Gespenstes kam mir verdächtig vor; ein
ordentlicher Geist weiß sonst stets Würde und Anstand zu bewahren.
Wenn das ein Mensch gewesen wäre, ein schlechter Mensch, ein Mehldieb,
den wir des Morgens in der Mühle überrascht und der sich in den Kasten
verkrochen? — Noch immer wirbelte der weiße Staub aus dem Mehlkasten
auf. Ich guckte zum Fensterchen hinaus. Ich sah, wie die weiße Gestalt
durch das Gesträuche kroch. Zuweilen, wo das Gebüsche eben recht dicht
war, blieb sie ein wenig kauern und lauerte; sie meinte wohl, von der
Tür aus müsse sie verfolgt werden, aber ich beobachtete sie durchs
Fensterchen. Sie strich ängstlich hin und her, kroch endlich durch
Erlen und hohe Germen und Sauerampfer in das steinige Bett des [S. 22]Baches,
über welchen das Mühlfloß ging. Hier in dem tiefen Graben mochte sie
sich sicher denken; mir aber kam ein verteufelter Gedanke. — „Jetzt,
bist du ein Geist oder nicht,“ dachte ich, „frisch Wasser ist eine
Gottesgabe; das kann nicht schaden.“
Sofort rückte ich die Wandstange, und in demselben Augenblicke
kreischte ein heller Schrei draußen im Wassergraben, in welchen das
ganze Mühlwasser niederschoß auf die weiße Gestalt.
Diese blieb sie aber nicht lange; kaum sie sich soweit aus den Fluten
hervorgearbeitet hatte, daß ich sie wieder sehen konnte, war sie nicht
mehr weiß, war fahlgrau, war braun, wie die kohlschwarze Stina.
Sie hatte sich so sehr in ihre nassen Kleider und in das Gestrüppe
verwickelt und verkettet, daß sie noch hübsch an Ort und Stelle war,
als ich zu ihr hinauskam.
„Stina!“ sagte ich, „hast du uns wollen das Korn stehlen oder das Mehl“
Da wollte sie mit einem Steine nach mir werfen. Darüber erhob ich einen
gewaltigen Lärm, und als auf denselben der Nachbar Thoma, der in der
Schlucht Zaunstangen gehackt hatte, herbeikam, war die davonwatschelnde
Stina noch zu sehen.
„Mach dir nichts draus, daß dich mein Mühlwasser schwarz gewaschen
hat,“ rief er ihr nach, „in der Haftstuben wirst schon wieder trocken
werden. Mein Weib freilich, die hängt die nassen Lumpen zum Trocknen an
den Strick!“
Hierauf untersuchten wir den Mehlkasten; da drin war arg gewirtschaftet
worden, und hätte der brave Mehlstaub die Diebin nicht noch rechtzeitig
aus dem Schlupfwinkel getrieben, ich und mein Vater, wir hätten das
Korn nicht für uns gemahlen.
Ich richtete die Mühle nicht mehr in den Gang; der Thoma faßte das Mehl
in einen Sack und trug es hinauf in unser Haus.
Dann ging er und fing die Kohlschwarze ein.
Die Mühle im Schierlinggraben steht heute noch und ist versteckt unter
den Büschen.
Das Mehl, das ich gemahlen, ist längst gebacken und gegessen, die
kohlschwarze Stina längst trocken und vergessen.
In alten Zeiten ließ sich manchmal auf dem Lurlei um die Abenddämmerung
und beim Mondschein eine Jungfrau sehen, die mit so anmutiger Stimme
sang, daß alle, die es hörten, davon bezaubert wurden. Viele, die
vorüberschifften, gingen am Felsenriff oder im Strudel zugrunde, weil
sie nicht mehr auf den Lauf des Fahrzeuges achteten, sondern von
den himmlischen Tönen [S. 61]der wunderbaren Jungfrau gleichsam vom Leben
abgelöst wurden, wie das zarte Leben der Blume sich im süßen Duft
verhaucht. Niemand hatte die Jungfrau noch in der Nähe geschaut, als
einige junge Fischer. Zu diesen gesellte sie sich bisweilen im letzten
Abendrot und zeigte ihnen die Stellen, wo sie ihr Netz auswerfen
sollten. Jedesmal, wenn sie den Rat der Jungfrau befolgten, taten sie
einen reichlichen Fang. Die Jünglinge erzählten nun, wo sie hinkamen,
von der Huld und Schönheit der Unbekannten, und die Geschichte
verbreitete sich im ganzen Lande umher. Ein Sohn des Pfalzgrafen, der
damals in der Gegend sein Hoflager hatte, hörte die wundervolle Märe
und faßte eine innige Zuneigung zu der Jungfrau. Unter dem Vorwand,
auf die Jagd zu gehen, nahm er den Weg nach Wesel, setzte sich dort
auf einen Nachen und ließ sich stromabwärts fahren. Die Sonne war eben
untergegangen, und die ersten Sterne am Himmel traten hervor, als sich
das Fahrzeug dem Lurlei näherte. „Seht ihr sie dort, die verwünschte
Zauberin? Das ist sie gewiß!“ riefen die Schiffer. Der Jüngling hatte
sie aber bereits erblickt, wie sie am Abhang des Felsenberges, nicht
weit vom Strome, saß und einen Kranz für ihre goldnen Locken band.
Jetzt vernahm er auch den Klang ihrer Stimme und war bald seiner Sinne
nicht mehr mächtig. Er nötigte die Schiffer, am Fels anzufahren, und
noch einige Schritte davon wollte er ans Land springen und die Jungfrau
festhalten. Aber er nahm den Sprung zu kurz und versank in dem Strome,
dessen schäumende Wogen schauerlich über ihm zusammenschlugen.
Die Nachricht von dieser traurigen Begebenheit kam schnell zu den
Ohren des Pfalzgrafen. Schmerz und Wut zerrissen die Seele des armen
Vaters, der auf der Stelle den strengsten Befehl erteilte, ihm die
Unholdin tot oder lebendig zu liefern. Einer seiner Hauptleute übernahm
es, den Willen des Pfalzgrafen zu vollziehen; doch bat er sich aus,
die Hexe ohne weiteres in den Rhein stürzen zu dürfen, damit sie sich
nicht vielleicht durch lose Künste aus Kerker und Banden befreie. Der
Pfalzgraf war dies zufrieden. Der Hauptmann zog gegen Abend aus und
umstellte mit seinen Reisigen den Berg in einem Halbkreise vom Rheine
aus. Er selbst nahm drei der Beherztesten aus seiner Schar und stieg
den Lurlei hinan. Die Jungfrau saß oben auf der Spitze und hielt eine
Schnur von Bernstein in der Band. Sie sah die Männer von fern kommen
und rief ihnen zu, was sie hier [S. 62]suchten. „Dich, Zauberin,“ antwortete
der Hauptmann. „Du sollst einen Sprung in den Rhein hinunter machen.“
— „Ei,“ sagte die Jungfrau lachend, „der Rhein mag mich holen.“ Bei
diesen Worten warf sie die Bernsteinschnur in den Strom hinab und sang
mit schauerlichem Ton:
„Vater, geschwind, geschwind,
Die weißen Rosse schick deinem Kind!
Es will reiten mit Wogen und Wind.“
Urplötzlich rauschte ein Sturm daher. Der Rhein erbrauste, daß
weitum Ufer und Höhen vom weißen Gischt bedeckt wurden; zwei Wellen,
welche fast die Gestalt von zwei weißen Rossen hatten, flogen mit
Blitzesschnelle aus der Tiefe auf die Kuppe des Felsens und trugen die
Jungfrau hinab in den Strom, wo sie verschwand.
Jetzt erst erkannten der Hauptmann und seine Knechte, daß die Jungfrau
eine Undine sei und menschliche Gewalt ihr nichts anhaben könne. Sie
kehrten mit der Nachricht zu dem Pfalzgrafen zurück und fanden dort
mit Erstaunen den totgeglaubten Sohn, den eine Welle ans Ufer getragen
hatte.
Die Lurleijungfrau ließ sich von der Zeit an nicht wieder hören,
obgleich sie noch ferner den Berg bewohnte und die Vorüberschiffenden
durch das laute Nachäffen ihrer Reden neckte.
A. Schreiber
Der Drachen-Schläger
Die Trauer barg in schweren Gewölken das Land am Rhein:
Der Drache trug Begehren nach des Königs Töchterlein.
Man konnte sie nicht versagen des wilden Wurmes Gewalt:
Die Helden lagen erschlagen, der König war viel zu alt.
Die schwarze Trauerfahne, sie wallte weit ins Land:
Auf hohem Turm-Altane die schöne Jungfrau stand:
„Fahrt wohl nun, Rosen und Reben! Fahr wohl, du rauschender Rhein:
Nun muß mein junges Leben in den Tod gegeben sein.“
Da nach dem Königsschlosse ein schimmernder Reiter ritt:
Er ritt auf weißem Rosse, drei Schwäne flogen mit.
„Nun laßt das Trauern und Klagen, nun wird das Weh gewandt;
Ich werde den Lindwurm schlagen, Siegfried von Niederland.
Aus eitel Sonnenlichte geschmiedet ist mein Schwert,
Vor mir wird all zunichte das Nachtgewürm der Erd.“
Felix Dahn
[S. 63]
Frühgesicht
Im Zwielicht raget Dom an Dom,
An allen Fenstern lauscht’s verstohlen;
Doch auf gedankenleichten Sohlen
Vorüber eilt der Schattenstrom.
Das rauscht und tauschet Hand und Kuß,
Der Sturmhauch rührt verjährte Fahnen
Wie neues Hoffen, altes Mahnen,
Erschauernd wie ein Geistergruß.
Was brav und mannhaft ist, vereint
Zieht es, den letzten Streit zu schlagen;
Es klirrt zu Fuß, zu Roß und Wagen,
Zum Freunde wird der alte Feind,
Und neben Siegfried reitet Hagen.
Gottfried Keller
Siegfrieds Tod
Gunther und Hagen, die Recken wohlgetan,
Berieten mit Untreuen ein Birschen in den Tann:
Mit den scharfen Speeren wollten sie jagen Schwein
Und Bären und Wisende: Was konnte Kühneres sein?
Da ritt auch mit ihnen Siegfried mit stolzem Sinn.
Man bracht ihnen Speise mancherlei dahin.
An einem kalten Brunnen ließ er da das Leben;
Den Rat hatte Brunhild, König Gunthers Weib, gegeben.
Da ließ man herbergen bei dem Walde grün
Vor des Wildes Wechsel die stolzen Jäger kühn,
Wo sie da jagen wollten auf breitem Angergrund,
Da war auch Siegfried kommen: das ward dem König kund.
Von den Jagdgesellen ward umhergestellt
Die Wart nach allen Enden: da sprach der kühne Held,
Siegfried, der starke: „Wer soll uns in den Wald
Nach dem Wilde weisen, ihr Degen kühn und wohlgestalt?“
„Wollen wir uns scheiden,“ hub da Hagen an.
„Ehe wir beginnen zu jagen hier im Tann?
So mögen wir erkennen, ich und die Herren mein.
Wer die besten Jäger bei dieser Waldreise sein.
[S. 64]
Leute so wie Hunde, wir teilen uns darein:
Dann fährt, wohin ihn lüstet, jeglicher allein,
Und wer das Beste jagte, dem sagen wir den Dank.“
Da weilten die Jäger bei einander nicht mehr lang.
Da sprach der edle Siegfried: „Der Hunde hab ich Rat,
Ich will nur einen Bracken, der so genossen hat,
Daß er des Wildes Fährte spüre durch den Tann:
Wir kommen wohl zum Jagen!“ so sprach der Kriemhilde Mann.
Da nahm ein alter Jäger einen Spürhund hinter sich
Und brachte den Herren, eh lange Zeit verstrich,
Wo sie viel Wildes fanden. Was des erstöbert ward,
Das erjagten die Gesellen, wie heut noch guter Jäger Art.
Da wurde viel des Wildes vom grimmen Tod ereilt.
Sie wähnten es zu fügen, daß ihnen zugeteilt
Der Preis des Jagens würde: das konnte nicht geschehn,
Als bei der Feuerstätte der starke Siegfried ward gesehn.
Da ließ der König künden den Jägern wohlgeborn,
Daß er zum Imbiß wolle: da wurde laut ins Horn
Einmal gestoßen: damit war nun bekannt,
Daß man den edeln Fürsten bei den Herbergen fand.
Da sprach der edle Siegfried: „Nun räumen wir den Wald.“
Sein Roß trug ihn eben, die andern folgten bald.
Sie ersprengten mit dem Schalle ein Waldtier fürchterlich,
Einen wilden Bären; da sprach der Degen hinter sich:
„Nun will ich uns Kurzweil schaffen auf der Fahrt:
Den Bracken löst, einen Bären hab ich hier gewahrt,
Der soll mit uns von hinnen zu den Herbergen fahren.
Er müßte hurtig fliehen, wollt er davor sich bewahren.“
Da lösten sie den Bracken: gleich sprang der Bär hindann;
Da wollte ihn erreiten der Kriemhilde Mann.
Er fiel in ein Geklüfte: da konnt er ihm nicht bei;
Das starke Tier wähnte von den Jägern schon sich frei.
Da sprang von seinem Rosse der stolze Ritter gut
Und begann ihm nachzulaufen. Das Tier war ohne Hut,
Es konnt ihm nicht entrinnen: er fing es allzuhand,
Ohn es zu verwunden; der Degen eilig es band.
[S. 65]
Kratzen oder beißen konnt es nicht den Mann,
Er band es auf den Sattel: aufsaß der Schnelle dann;
Er bracht es an die Feuerstatt in seinem hohen Mut
Zu einer Kurzweile, der Degen edel und gut.
Da ritt der edle Degen stattlich aus dem Tann.
Ihn sahen zu sich kommen, die in Gunthers Bann.
Sie liefen ihm entgegen und hielten ihm das Roß:
Da führt er auf dem Sattel einen Bären stark und groß.
Als er vom Roß gestiegen, löst er ihm das Band
Vom Mund und von den Füßen; die Hunde, gleich zur Hand,
Begannen laut zu heulen, als sie den Bären sahn.
Das Tier zum Walde wollte: das erschreckte manchen Mann.
Der Bär in die Küche von dem Lärm geriet;
Hei! was er von dem Feuer der Küchenknechte schied!