The Project Gutenberg EBook of Die Welträtsel, by Ernst Haeckel

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Title: Die Welträtsel
       Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie

Author: Ernst Haeckel

Release Date: May 19, 2019 [EBook #59547]

Language: German

Character set encoding: ISO-8859-1

*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE WELTRÄTSEL ***




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[S. I]

Die Welträtsel


Gemeinverständliche Studien
über Monistische Philosophie

von

Ernst Haeckel


Neu bearbeitete

Taschenausgabe

Decoration

Leipzig
Alfred Kröner Verlag
1909


[S. II]

Druck von Ernst Hedrich Nachf., G. m. b. H., Leipzig

[S. III]

Vorwort zur ersten Auflage.

(1899).

Die vorliegenden Studien über monistische Philosophie sind für die denkenden, ehrlich die Wahrheit suchenden Gebildeten aller Stände bestimmt. Zu den hervorragenden Merkmalen des 19. Jahrhunderts, an dessen Ende wir stehen, gehört das lebendige Wachstum des Strebens nach Erkenntnis der Wahrheit in weitesten Kreisen. Dasselbe erklärt sich einerseits durch die ungeheuren Fortschritte der wirklichen Naturerkenntnis in diesem merkwürdigsten Abschnitte der menschlichen Geschichte, andererseits durch den offenkundigen Widerspruch, in den dieselbe zur gelehrten Tradition der »Offenbarung« geraten ist, und endlich durch die entsprechende Ausbreitung und Verstärkung des vernünftigen Bedürfnisses nach Verständnis der unzähligen neu entdeckten Tatsachen, nach klarer Erkenntnis ihrer Ursachen.

Den gewaltigen Fortschritten der empirischen Kenntnisse in unserem »Jahrhundert der Naturwissenschaft« entspricht keineswegs eine gleiche Klärung ihres theoretischen Verständnisses und jene höhere Erkenntnis des kausalen Zusammenhanges aller einzelnen Erscheinungen, die wir mit einem Worte Philosophie nennen. Vielmehr sehen wir, daß die abstrakte und größtenteils metaphysische Wissenschaft, welche auf unseren Universitäten seit Jahrhunderten als »Philosophie« gelehrt wird, weit davon entfernt ist, jene neu erworbenen Schätze der Erfahrungswissenschaft in sich aufzunehmen. Und mit gleichem Bedauern müssen wir auf der anderen Seite zugestehen, daß die meisten Vertreter der sogenannten »exakten Naturwissenschaft« sich mit der speziellen Pflege ihres engeren Gebietes der Beobachtung und des Versuchs begnügen und die tiefere Erkenntnis des allgemeinen Zusammenhanges der beobachteten Erscheinungen — d. h. eben Philosophie! — für überflüssig halten. Während diese reinen Empiriker »den Wald vor Bäumen nicht sehen«, begnügen sich jene Metaphysiker mit dem bloßen Begriffe des Waldes, ohne seine Bäume zu sehen. [S. IV] Der Begriff der »Naturphilosophie«, in welchem ganz naturgemäß jene beiden Wege der Wahrheitsforschung, die empirische und die spekulative Methode, zusammenlaufen, wird sogar noch heute in weiten Kreisen beider Richtungen mit Abscheu zurückgewiesen.

Dieser unnatürliche und verderbliche Gegensatz zwischen Naturwissenschaft und Philosophie, zwischen den Ergebnissen der Erfahrung und des Denkens, wird unstreitig in weiten gebildeten Kreisen immer lebhafter und schmerzlicher empfunden. Das bezeugt schon der wachsende Umfang der ungeheuren populären »naturphilosophischen« Literatur, die im Laufe des letzten halben Jahrhunderts entstanden ist. Das bezeugt auch die erfreuliche Tatsache, daß trotz jener gegenseitigen Abneigung der beobachtenden Naturforscher und der denkenden Philosophen dennoch hervorragende Männer der Wissenschaft aus beiden Lagern sich gegenseitig die Hand zum Bunde reichen und vereinigt nach der Lösung jener höchsten Aufgabe der Forschung streben, die wir kurz mit einem Worte als »Die Welträtsel« bezeichnen.

Die Untersuchungen über diese »Welträtsel«, welche ich in der vorliegenden Schrift gebe, können vernünftigerweise nicht den Anspruch erheben, eine vollständige Lösung derselben zu bringen; vielmehr sollen sie nur eine kritische Beleuchtung derselben für weitere gebildete Kreise geben und die Frage zu beantworten suchen, wie weit wir uns gegenwärtig deren Lösung genähert haben. Welche Stufe in der Erkenntnis der Wahrheit haben wir am Ende des 19. Jahrhunderts wirklich erreicht? Und welche Fortschritte nach diesem unendlich entfernten Ziele haben wir im Laufe desselben wirklich gemacht?

Die Antwort auf diese großen Fragen, die ich hier gebe, kann naturgemäß nur subjektiv und nur teilweise richtig sein; denn meine Kenntnisse der wirklichen Natur und meine Vernunft zur Beurteilung ihres objektiven Wesens sind beschränkt, ebenso wie diejenigen aller anderen Menschen. Das Einzige, was ich für dieselben voll in Anspruch nehme, und was auch meine entschiedensten Gegner anerkennen müssen, ist, daß meine monistische Philosophie von Anfang bis zu Ende ehrlich ist, d. h. der vollständige Ausdruck der Überzeugung, welche ich durch vieljähriges eifriges Forschen in der Natur und durch unablässiges Nachdenken über den wahren Grund ihrer Erscheinungen erworben habe. Diese naturphilosophische Gedankenarbeit erstreckt sich jetzt über ein volles halbes Jahrhundert, und ich darf jetzt, in meinem 66. Lebensjahre, wohl annehmen, daß sie reif im menschlichen Sinne ist; ich bin auch völlig gewiß, daß diese »reife Frucht« vom Baume der Erkenntnis für die kurze Spanne des Daseins, [S. V] die mir noch beschieden ist, keine bedeutende Vervollkommnung und keine prinzipiellen Veränderungen erfahren wird.

Alle wesentlichen und entscheidenden Anschauungen meiner monistischen und genetischen Philosophie habe ich schon vor 33 Jahren in meiner »Generellen Morphologie der Organismen« niedergelegt, einem weitschweifig und schwerfällig geschriebenen Werke, welches nur sehr wenig Leser gefunden hat. Es war der erste Versuch, die neubegründete Entwickelungslehre für das ganze Gebiet der organischen Formenwissenschaft durchzuführen. Um wenigstens einen Teil der neuen, darin enthaltenen Gedanken zur Geltung zu bringen und um zugleich einen weiteren Kreis von Gebildeten für die größten Erkenntnisfortschritte unseres Jahrhunderts zu interessieren, veröffentlichte ich zwei Jahre später (1868) meine »Natürliche Schöpfungsgeschichte«. Da dieses leichter geschürzte Werk trotz seiner großen Mängel in neun starken Auflagen und zwölf verschiedenen Übersetzungen erschien, hat es nicht wenig zur Verbreitung der monistischen Weltanschauung beigetragen. Dasselbe gilt auch wohl von der weniger gelesenen »Anthropogenie«, in welcher ich (1874) die schwierige Aufgabe zu lösen versuchte, die wichtigsten Tatsachen der menschlichen Entwickelungsgeschichte einem größeren Kreise von Gebildeten zugänglich und verständlich zu machen; die vierte, umgearbeitete Auflage derselben erschien 1891. Einige bedeutende und besonders wertvolle Fortschritte, welche neuerdings dieser wichtigste Teil der Anthropologie gemacht hat, habe ich in dem Vortrage beleuchtet, den ich 1898 »Über unsere gegenwärtige Kenntnis vom Ursprung des Menschen« auf dem vierten internationalen Zoologenkongreß in Cambridge gehalten habe (siebente Auflage 1899). Mehrere einzelne Fragen unserer modernen Naturphilosophie, die ein besonderes Interesse bieten, habe ich behandelt in meinen »Gesammelten populären Vorträgen aus dem Gebiete der Entwickelungslehre« (1878). Endlich habe ich die allgemeinsten Grundsätze meiner monistischen Philosophie und ihre besondere Beziehung zu den herrschenden Glaubenslehren kurz zusammengefaßt in dem »Glaubensbekenntnis eines Naturforschers: Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft« (1892, achte Auflage 1899).

Die vorliegende Schrift über die »Welträtsel« ist die weitere Ausführung, Begründung und Ergänzung der Überzeugungen, welche ich in den vorstehend angeführten Schriften bereits ein Menschenalter hindurch vertreten habe. Ich gedenke damit meine Studien auf dem Gebiete der monistischen Weltanschauung abzuschließen.

[S. VI]

Der alte, viele Jahre hindurch gehegte Plan, ein ganzes »System der monistischen Philosophie« auf Grund der Entwickelungslehre auszubauen, wird nicht mehr zur Ausführung gelangen. Meine Kräfte reichen dazu nicht mehr aus, und mancherlei Mahnungen des herannahenden Alters drängen zum Abschluß. Auch bin ich ganz und gar ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts und will mit dessen Ende einen Strich unter meine Lebensarbeit machen.

Die unermeßliche Ausdehnung, welche das menschliche Wissen infolge fortgeschrittener Arbeitsteilung in unserem Jahrhundert erlangt hat, läßt es schon heute unmöglich erscheinen, alle Zweige desselben mit gleicher Gründlichkeit zu umfassen und ihren inneren Zusammenhang einheitlich darzustellen. Selbst ein Genius ersten Ranges, der alle Gebiete der Wissenschaft gleichmäßig beherrschte, und der die künstlerische Gabe ihrer einheitlichen Darstellung in vollem Maße besäße, würde doch nicht imstande sein, im Raume eines mäßigen Bandes ein umfassendes allgemeines Bild des ganzen »Kosmos« auszuführen. Mir selbst, dessen Kenntnisse in den verschiedenen Gebieten sehr ungleich und lückenhaft sind, konnte hier nur die Aufgabe zufallen, den allgemeinen Plan eines solchen Weltbildes zu entwerfen und die durchgehende Einheit seiner Teile nachzuweisen, trotz sehr ungleicher Ausführung derselben. Das vorliegende Buch über die Welträtsel trägt daher auch nur den Charakter eines »Skizzenbuches«, in welchem Studien von sehr ungleichem Werte zu einem Ganzen zusammengefügt sind. Da die Niederschrift derselben zum Teil schon in früheren Jahren, zum anderen Teil aber erst in der letzten Zeit erfolgte, ist die Behandlung leider oft ungleichmäßig; auch sind mehrfache Wiederholungen nicht zu vermeiden gewesen; ich bitte dieselben zu entschuldigen.

Indem ich hiermit von meinen Lesern mich verabschiede, spreche ich die Hoffnung aus, daß ich durch meine ehrliche und gewissenhafte Arbeit — trotz ihrer mir wohl bewußten Mängel — ein kleines Scherflein zur Lösung der »Welträtsel« beigetragen habe, und daß ich im Kampfe der Weltanschauungen manchem ehrlichen und nach reiner Vernunfterkenntnis ringenden Leser denjenigen Weg gezeigt habe, der nach meiner festen Überzeugung allein zur Wahrheit führt, den Weg der empirischen Naturforschung und der darauf gegründeten monistischen Philosophie.

Jena, 2. April 1899.

Ernst Haeckel.

[S. VII]

Vorwort zur Taschenausgabe.

Auf Anregung des Verlegers der »Welträtsel«, Herrn Alfred Kröner, und auf Wunsch vieler Leser dieses Buches, habe ich mich entschlossen, eine neue und bequeme Taschenausgabe davon zu veranstalten. Es kam dabei besonders in Betracht, den Inhalt einem größeren Kreise durch leichtere Darstellung und gefälligere Form zugänglich zu machen, überflüssige Zugaben zu entfernen und Wiederholungen auszuschalten, sowie viele Fremdwörter und verwickelte Ausführungen durch leichter verständliche zu ersetzen. Ferner sind viele Sätze entfernt worden, welche teils ferner liegende, teils zweifelhafte Fragen behandelten; das Buch hat dadurch an Klarheit und Sicherheit, wie auch an einheitlicher Durchführung gewonnen.

Der Raumersparnis halber sind auch alle Literaturhinweise und Anmerkungen weggefallen, welche in der ersten großen Ausgabe enthalten sind, sowie das Nachwort zu der später erschienenen Volksausgabe (»Das Glaubensbekenntnis der reinen Vernunft«). Diejenigen Leser, welche diese weiteren Zusätze und Erläuterungen kennen zu lernen wünschen, finden sie in der kürzlich erschienenen zehnten Auflage der großen Ausgabe, und teilweise in der »neu durchgesehenen und verbesserten Auflage der Volksausgabe« (240. Tausend).

Möge auch diese neue Taschenausgabe dazu dienen, das Licht der Aufklärung in immer weitere Kreise zu tragen und viele denkende Leser anregen, sich selbsttätig an der Lösung der großen »Welträtsel« zu beteiligen.

Jena, 29. September 1908.

Ernst Haeckel.

[S. VIII]

Inhalt

I.  Anthropologischer Teil
Der Mensch
1. Stellung der Welträtsel 1
2. Unser Körperbau 14
3. Unser Leben  24
4. Unsere Keimesgeschichte 32
5. Unsere Stammesgeschichte 42
II.  Psychologischer Teil
Die Seele
6. Das Wesen der Seele 54
7. Stufenleiter der Seele 68
8. Keimesgeschichte der Seele 80
9. Stammesgeschichte der Seele 90
10. Bewußtsein der Seele 101
11. Unsterblichkeit der Seele 113
III.  Kosmologischer Teil
Die Welt
12. Das Substanzgesetz 127
13. Entwickelungsgeschichte der Welt 140
14. Einheit der Natur 154
15. Gott und Welt 168
IV.  Theologischer Teil
Der Gott
16. Wissen und Glauben 180
17. Wissenschaft und Christentum 191
18. Unsere monistische Religion 206
19. Unsere monistische Sittenlehre 217
20. Lösung der Welträtsel 229

[S. 1]

Erstes Kapitel.

Stellung der Welträtsel.

Allgemeines Kulturbild des neunzehnten Jahrhunderts. Der Kampf der Weltanschauungen. Monismus und Dualismus.

Am Schlusse des neunzehnten Jahrhunderts bietet sich dem denkenden Beobachter eines der merkwürdigsten Schauspiele dar. Alle Gebildeten sind darüber einig, daß dieses großartige Jahrhundert in vieler Beziehung alle seine Vorgänger unendlich überflügelt und Aufgaben gelöst hat, die in seinem Anfange unlösbar erschienen. Die überraschenden theoretischen Fortschritte in der Naturerkenntnis und ihre fruchtbare praktische Verwertung in Technik, Industrie, Verkehr usw. haben unserem modernen Kulturleben ein völlig neues Gepräge gegeben. Dagegen haben wir auf wichtigen Gebieten des geistigen Lebens und der Gesellschafts-Beziehungen wenige oder gar keine Fortschritte gegen frühere Jahrhunderte aufzuweisen, vielfach sogar leider bedenkliche Rückschritte. Aus diesem offenkundigen Zwiespalt entspringt nicht nur ein unbehagliches Gefühl innerer Zerrissenheit und Unwahrheit, sondern auch die Gefahr schwerer Katastrophen auf politischem und sozialem Gebiete. Es ist daher nicht nur das gute Recht, sondern auch die heilige Pflicht jedes ehrlichen und von Menschenliebe beseelten Forschers, nach bestem Wissen zur Aufhebung jenes Zwiespaltes und zur Vermeidung der daraus entspringenden Gefahren beizutragen. Dies kann aber nach unserer Überzeugung nur durch mutiges Streben nach Erkenntnis der Wahrheit geschehen und durch Gewinnung einer klaren, fest gegründeten, naturgemäßen Weltanschauung.

Fortschritte der Naturerkenntnis. Wenn wir uns den unvollkommenen Zustand der Naturerkenntnis im Anfang des 19. Jahrhunderts vergegenwärtigen und ihn mit der glänzenden [S. 2] Höhe an dessen Schlusse vergleichen, so muß jedem Sachkundigen der Fortschritt erstaunlich groß erscheinen. Jeder einzelne Zweig der Naturwissenschaft darf sich rühmen, daß er innerhalb dieses Jahrhunderts Gewinne von größter Tragweite erzielt habe. In der mikroskopischen Kenntnis des Kleinsten wie in der teleskopischen Erforschung des Größten haben wir unschätzbare Einsichten gewonnen, die noch vor hundert Jahren undenkbar erschienen. Verbesserte Untersuchungsmethoden haben uns im Reiche der einzelligen Lebewesen eine »unsichtbare Welt« voll unendlichen Formenreichtums offenbart, sowie in der winzigen kleinen Zelle den gemeinsamen »Elementar-Organismus« kennen gelehrt, aus dessen sozialen Zellverbänden, den Geweben, der Körper aller vielzelligen Pflanzen und Tiere ebenso wie der des Menschen zusammengesetzt ist. Diese anatomischen Kenntnisse sind von größter Tragweite; sie werden ergänzt durch den embryologischen Nachweis, daß jeder höhere vielzellige Organismus sich aus einer einzigen einfachen Zelle entwickelt, der »befruchteten Eizelle«. Die bedeutungsvolle, hierauf gegründete Zellentheorie hat uns erst das wahre Verständnis für die geheimnisvollen Lebenserscheinungen eröffnet, zu deren Erklärung man früher eine übernatürliche »Lebenskraft« oder ein »unsterbliches Seelenwesen« annahm. Auch das eigentliche Wesen der Krankheit ist dem Arzte erst durch die damit verknüpfte Zellularpathologie klar und verständlich geworden.

Nicht minder gewaltig sind aber die Entdeckungen des 19. Jahrhunderts im Bereiche der anorganischen Natur. Die Physik hat in allen Teilen ihres Gebietes die erstaunlichsten Fortschritte gemacht; und was wichtiger ist, sie hat die Einheit der Naturkräfte im ganzen Universum nachgewiesen. Die mechanische Wärmetheorie hat gezeigt, wie eng dieselben zusammenhängen und wie jede unter bestimmten Bedingungen sich direkt in die andere verwandeln kann. Die Spektralanalyse hat uns gelehrt, daß dieselben Stoffe, welche unseren Erdkörper und seine lebendigen Bewohner aufbauen, auch die Masse der übrigen Planeten, der Sonne und der entferntesten Fixsterne zusammensetzen. Die Astrophysik hat unsere Weltanschauung im großartigsten Maßstabe erweitert, indem sie uns im unendlichen Weltraum Millionen von kreisenden Weltkörpern nachgewiesen hat, größer als unsere Erde, und gleich dieser in beständiger Umbildung begriffen, in einem ewigen Wechsel von »Werden und Vergehen«. Die Chemie hat uns mit einer Menge von neuen, früher unbekannten Stoffen bekannt gemacht, die alle aus Verbindungen von wenigen unzerlegbaren Elementen (ungefähr achtzig) bestehen. Sie hat gezeigt, daß eines von diesen Elementen, der Kohlenstoff, der wunderbare [S. 3] Körper ist, welcher die Bildung der unendlich mannigfaltigen organischen Verbindungen bewirkt und somit die »chemische Basis des Lebens« darstellt. Alle einzelnen Fortschritte der Physik und Chemie stehen jedoch an theoretischer Bedeutung der Erkenntnis des gewaltigen Gesetzes nach, welches alle in einem gemeinsamen Brennpunkt vereinigt, des Substanzgesetzes. Indem dieses »kosmologische Grundgesetz« die ewige Erhaltung der Kraft und des Stoffes, die allgemeine Konstanz der Energie und der Materie im ganzen Weltall nachweist, ist es der sichere Leitstern geworden, der unsere monistische Philosophie durch das gewaltige Labyrinth der Welträtsel zu deren Lösung führt.


Da es unsere Aufgabe sein wird, in den folgenden Kapiteln eine allgemeine Übersicht über den jetzigen Stand unserer Naturerkenntnis und über ihre Fortschritte in unserem Jahrhundert zu gewinnen, wollen wir hier nicht weiter auf eine Musterung der einzelnen Gebiete eingehen. Nur einen größten Fortschritt wollen wir noch hervorheben, der dem Substanzgesetz ebenbürtig ist und der es ergänzt: die Begründung der Entwickelungslehre. Zwar haben einzelne denkende Forscher schon seit Jahrtausenden von »Entwickelung« der Dinge gesprochen; daß aber dieser Begriff das Universum beherrscht, und daß die Welt selbst weiter nichts ist als eine ewige »Entwickelung der Substanz«, dieser gewaltige Gedanke ist ein Kind des 19. Jahrhunderts. Erst in seiner zweiten Hälfte gelangte er zu voller Klarheit und zu allgemeiner Anwendung. Das unsterbliche Verdienst, diesen höchsten philosophischen Begriff empirisch begründet und zu umfassender Geltung gebracht zu haben, gebührt dem großen englischen Naturforscher Charles Darwin; er legte 1859 den festen Grund für jene Abstammungslehre, welche der geniale französische Naturphilosoph Jean Lamarck schon 1809 in ihren Hauptzügen erkannt, und deren Grundgedanken unser größter deutscher Dichter und Denker, Wolfgang Goethe, schon 1790 prophetisch erfaßt hatte. Damit wurde uns zugleich der Schlüssel zur »Frage aller Fragen« geschenkt, zu dem großen Welträtsel von der »Stellung des Menschen in der Natur« und von seiner natürlichen Entstehung. Wenn wir heute imstande sind, die Herrschaft des Entwickelungsgesetzes im Gesamtgebiete der Natur klar zu erkennen und sie in Verbindung mit dem Substanzgesetze zur einheitlichen Erklärung aller Naturerscheinungen zu benutzen, so verdanken wir dies in erster Linie jenen drei genialen, weitblickenden Naturphilosophen, drei Sternen erster Größe unter allen anderen großen Männern des neunzehnten Jahrhunderts.

[S. 4]

Diesen erstaunlichen Fortschritten unserer theoretischen Naturerkenntnis entspricht deren mannigfaltige praktische Anwendung auf allen Gebieten des menschlichen Kulturlebens. Wenn wir heute im »Zeitalter des Verkehrs« stehen, wenn der internationale Handel und das Reisen eine früher nicht geahnte Bedeutung erlangt haben, wenn wir mittels Telegraph und Telephon die Schranken von Raum und Zeit überwunden haben, so verdanken wir das in erster Linie den Fortschritten der technischen Physik, besonders in der Anwendung der Dampfkraft und der Elektrizität. Wenn wir durch die Photographie das Sonnenlicht zwingen, uns in einem Augenblick naturgetreue Bilder von jedem beliebigen Gegenstande zu verschaffen, wenn wir in der Landwirtschaft und in den verschiedensten Gewerben erstaunliche praktische Fortschritte gemacht haben, wenn wir in der Medizin durch Chloroform und Morphium, durch antiseptische und Serumtherapie die Leiden der Menschheit unendlich gemildert haben, so verdanken wir dies der angewandten Chemie. Durch diese und andere Erfindungen der Technik haben wir alle früheren Jahrhunderte weit überflügelt.

Fortschritte der sozialen Einrichtungen. So dürfen wir heute mit gerechtem Stolze auf die gewaltigen Fortschritte des 19. Jahrhunderts in der Naturerkenntnis und deren praktische Verwertung zurückblicken. Leider bietet sich uns ein ganz anderes und wenig erfreuliches Bild, wenn wir andere, nicht minder wichtige Gebiete des modernen Kulturlebens ins Auge fassen. Zu unserem Bedauern müssen wir da den Satz von Alfred Wallace unterschreiben: »Verglichen mit unseren erstaunlichen Fortschritten in den physikalischen Wissenschaften und ihrer praktischen Anwendung, bleibt unser System der Regierung, der administrativen Justiz, der Nationalerziehung und unsere ganze soziale und moralische Organisation in einem Zustande der Barbarei.« Um uns von der Wahrheit dieser schweren Vorwürfe zu überzeugen, brauchen wir nur einen unbefangenen Blick in unser öffentliches Leben zu werfen, oder in den Spiegel zu blicken, den uns täglich unsere Zeitung, als das Organ der öffentlichen Meinung, vorhält.

Unsere Rechtspflege. Beginnen wir unsere Rundschau mit der Justiz, dem »Fundamentum regnorum«. Niemand wird behaupten können, daß deren heutiger Zustand mit unserer fortgeschrittenen Erkenntnis des Menschen und der Welt in Einklang sei. Keine Woche vergeht, in der wir nicht von richterlichen Urteilen lesen, welche dem gesunden Menschenverstand widersprechen; viele Entscheidungen unserer höheren und niederen Gerichtshöfe erscheinen geradezu unbegreiflich. Wir sehen ganz davon [S. 5] ab, daß in vielen modernen Staaten — trotz der auf Papier gedruckten Verfassung — noch tatsächlich der Absolutismus herrscht und daß manche »Männer des Rechts« nicht nach ehrlicher Überzeugung urteilen, sondern entsprechend dem »höheren Wunsche von maßgebender Stelle«. Wir nehmen vielmehr an, daß die meisten Richter und Staatsanwälte nach bestem Gewissen urteilen und nur menschlich irren. Dann erklären sich wohl die meisten Irrtümer durch mangelhafte Vorbildung und durch die veraltete Gesetzgebung. Freilich herrscht vielfach die Ansicht, daß gerade die Juristen die höchste Bildung besitzen; gerade sie werden bei der Besetzung der verschiedensten Ämter vorgezogen. Allein diese vielgerühmte »juristische Bildung« ist größtenteils eine rein formale, keine reale. Den menschlichen Organismus und seine wichtigste Funktion, die Seele, lernen unsere Juristen nur oberflächlich kennen; das beweisen z. B. die wunderlichen Ansichten über »Willensfreiheit, Verantwortung« usw., denen wir täglich begegnen. Den meisten Studierenden der Jurisprudenz fällt es gar nicht ein, sich um Anthropologie, Psychologie und Entwickelungsgeschichte zu bekümmern, die ersten Vorbedingungen für richtige Beurteilung des Menschenwesens. Freilich bleibt dazu auch »keine Zeit«; diese wird leider nur zu sehr durch das gründliche Studium von Bier und Wein in Anspruch genommen, sowie das »veredelnde« Mensurenwesen; der Rest der kostbaren Studienzeit aber ist notwendig, um die Hunderte von Paragraphen der Gesetzbücher zu erlernen, deren Kenntnis den Juristen zu allen möglichen Stellungen im heutigen Kulturstaate befähigt.

Unsere Staatsordnung. Das leidige Gebiet der Politik wollen wir hier nur ganz flüchtig streifen. Die unerfreulichen Zustände des modernen Staatslebens sind ja allbekannt und jedermann täglich fühlbar. Zum großen Teile erklären sich deren Mängel daraus, daß die meisten Staatsbeamten eben Juristen sind, Männer von hoher formaler Bildung, aber ohne jene gründliche Kenntnis der Menschennatur, die nur durch vergleichende Anthropologie und Psychologie erworben werden kann. »Bau und Leben des sozialen Körpers«, d. h. des Staates, lernen wir nur dann richtig verstehen, wenn wir naturwissenschaftliche Kenntnis vom »Bau und Leben« der Personen besitzen, welche den Staat zusammensetzen, und der Zellen, welche jene Personen zusammensetzen. Wenn unsere »Staatslenker« und »Volksvertreter« diese unschätzbaren biologischen und anthropologischen Vorkenntnisse besäßen, so würde unmöglich in den Zeitungen täglich jene entsetzliche Fülle von soziologischen Irrtümern und von politischer Kannegießerei zu lesen sein, welche unsere Parlamentsberichte und auch [S. 6] viele Regierungserlasse nicht gerade erfreulich auszeichnen. Am meisten zu beklagen ist es, daß der moderne Kulturstaat sich der kulturfeindlichen Kirche in die Arme wirft, und daß der bornierte Egoismus der Parteien, die Verblendung der kurzsichtigen Parteiführer die Hierarchie unterstützt. Dadurch entstehen so traurige Bilder, wie sie uns am Schlusse des 19. Jahrhunderts der Deutsche Reichstag vor Augen führte: die Geschicke des gebildeten deutschen Volkes in der Hand des ultramontanen Zentrums, unter der Leitung des römischen Papismus, der sein ärgster und gefährlichster Feind ist. Statt Recht und Vernunft regiert Aberglaube und Verdummung. Unsere Staatsordnung kann nur dann besser werden, wenn sie sich von den Fesseln der Kirche befreit und wenn sie durch allgemeine naturwissenschaftliche Bildung die Welt- und Menschenkenntnis der Staatsbürger auf eine höhere Stufe hebt. Dabei kommt es gar nicht auf die besondere Staatsform an. Ob Monarchie oder Republik, ob aristokratische oder demokratische Verfassung, das sind untergeordnete Fragen gegenüber der großen Hauptfrage: Soll der moderne Kulturstaat geistlich oder weltlich sein? Soll er theokratisch, durch unvernünftige Glaubenssätze und klerikale Willkür, oder soll er nomokratisch, durch vernünftige Gesetze und bürgerliches Recht geleitet werden?

Unsere Schule. Ebenso wie unsere Rechtspflege und Staatsordnung entspricht auch unsere Jugenderziehung durchaus nicht den Anforderungen, welche die wissenschaftlichen Fortschritte des 19. Jahrhunderts an die moderne Bildung stellen. Die Naturwissenschaft, die alle anderen Wissenschaften so weit überflügelt und welche, bei Licht betrachtet, auch alle sogenannten Geisteswissenschaften in sich aufgenommen hat, wird in unseren Schulen immer noch als Aschenbrödel in die Ecke gestellt. Unseren meisten Lehrern erscheint immer noch als Hauptaufgabe jene tote Gelehrsamkeit, die aus den Klosterschulen des Mittelalters übernommen ist; im Vordergrunde steht der grammatikalische Sport und die zeitraubende »gründliche Kenntnis« der klassischen Sprachen, sowie der äußerlichen Völkergeschichte. Die Sittenlehre, der wichtigste Gegenstand der praktischen Philosophie, wird vernachlässigt und an ihre Stelle die kirchliche Konfession gesetzt. Der Glaube soll dem Wissen vorangehen; nicht jener wissenschaftliche Glaube, welcher uns zu einer monistischen Religion führt, sondern jener unvernünftige Aberglaube, der die Grundlage eines verunstalteten Christentums bildet. Während die großartigen Erkenntnisse der modernen Kosmologie und Anthropologie, der heutigen Biologie und Entwickelungslehre auf unseren höheren Schulen gar keine oder nur ganz ungenügende Verwertung finden, wird das Gedächtnis [S. 7] mit einer Unmasse von philologischen und historischen Tatsachen überladen, die weder für die Geistesbildung, noch für das praktische Leben von Nutzen sind. Auch die veralteten Einrichtungen und Fakultätsverhältnisse der Universitäten entsprechen der heutigen Entwickelungsstufe der natürlichen Weltanschauung ebensowenig wie der Unterricht in den Gymnasien und in den niederen Schulen.

Unsere Kirche. Im schärfsten Gegensatze zu der modernen Bildung und zu deren Grundlage, der vorgeschrittenen Naturerkenntnis, steht unstreitig die Kirche. Wir wollen hier garnicht vom ultramontanen Papismus sprechen, oder von den orthodoxen evangelischen Richtungen, welche diesem in bezug auf krassesten Aberglauben und Unkenntnis der Wirklichkeit nichts nachgeben. Vielmehr versetzen wir uns in die Predigt eines liberalen protestantischen Pfarrers, der gute Durchschnittsbildung besitzt und der Vernunft neben dem Glauben ihr gutes Recht einräumt. Da hören wir neben vortrefflichen Sittenlehren, die mit unserer monistischen Ethik (im 19. Kapitel) vollkommen harmonieren, Vorstellungen über das Wesen von Gott und Welt, von Mensch und Leben, welche allen Erkenntnissen der Naturforschung direkt widersprechen. Es ist kein Wunder, wenn Techniker und Chemiker, Ärzte und Philosophen, die gründlich über die Natur beobachtet und nachgedacht haben, solchen Predigten kein Gehör schenken wollen. Es fehlt eben unseren Theologen und Philologen, ebenso wie unseren Politikern und Juristen, an jener unentbehrlichen Naturerkenntnis, auf welche sich die monistische Entwickelungslehre gründet.

Konflikt zwischen Vernunft und Dogma. Aus diesen bedauerlichen Gegensätzen ergeben sich für unser modernes Kulturleben schwere Konflikte, deren Gefahr dringend zur Beseitigung auffordert. Unsere heutige Bildung verlangt ihr gutes Recht auf allen Gebieten des öffentlichen und privaten Lebens; sie wünscht die Menschheit mittels der Vernunft auf jene höhere Stufe der Erkenntnis und damit zugleich auf jenen besseren Weg zum Glück erhoben zu sehen, welche wir unserer hoch entwickelten Naturwissenschaft verdanken. Dagegen sträuben sich mit aller Macht diejenigen einflußreichen Kreise, welche unsere Geistesbildung in den überwundenen Anschauungen des Mittelalters zurückhalten wollen; sie verharren im Banne der traditionellen Dogmen und verlangen, daß die Vernunft sich unter diese »höhere Offenbarung« beuge. Das ist der Fall in weiten Kreisen der Theologie und Philologie, der Soziologie und Jurisprudenz. Diese Rückständigkeit beruht zum größten Teile gewiß nicht auf eigennützigem [S. 8] Streben, sondern teils auf Unkenntnis der realen Tatsachen, teils auf der bequemen Gewohnheit der Tradition. Die gefährlichste Feindin der Vernunft und Wissenschaft ist nicht die Bosheit, sondern die Unwissenheit und vielleicht noch mehr die Trägheit. Gegen diese beiden Mächte kämpfen die Götter selbst dann noch vergebens, wenn sie die erstere glücklich überwunden haben.

Anthropismus. Eine der mächtigsten Stützen gewährt jener rückständigen Weltanschauung der Anthropismus oder die »Vermenschlichung«. Unter diesem Begriffe verstehe ich jenen mächtigen und weit verbreiteten Komplex von irrtümlichen Vorstellungen, welcher den menschlichen Organismus in Gegensatz zu der ganzen übrigen Natur stellt, ihn als vorbedachtes Endziel der organischen Schöpfung und als ein von dieser verschiedenes, gottähnliches Wesen auffaßt. Bei genauerer Kritik dieses einflußreichen Vorstellungskreises ergibt sich, daß er eigentlich aus drei verschiedenen Dogmen besteht, die wir als den anthropozentrischen, anthropomorphischen und anthropolatrischen Irrtum unterscheiden. I. Das anthropozentrische Dogma ruht auf der Vorstellung, daß der Mensch der vorbedachte Mittelpunkt und Endzweck alles Erdenlebens — oder in weiterer Fassung der ganzen Welt — sei. Da dieser Irrtum dem menschlichen Eigendünkel äußerst erwünscht, und da er mit den Schöpfungsmythen und mit den Dogmen der mosaischen, christlichen und mohammedanischen Religion innig verwachsen ist, beherrscht er auch heute noch den größten Teil der Kulturwelt. — II. Das anthropomorphische Dogma knüpft ebenfalls an die Schöpfungssagen der drei genannten, sowie vieler anderen Religionen an. Es vergleicht die Weltschöpfung und Weltregierung Gottes mit den Kunstschöpfungen eines sinnreichen Technikers und mit der Staatsregierung eines weisen Herrschers. »Gott der Herr« als Schöpfer, Erhalter und Regierer der Welt wird dabei in seinem Denken und Handeln durchaus menschenähnlich vorgestellt. Daraus folgt dann wieder umgekehrt, daß der Mensch gottähnlich ist. »Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde.« Die ältere naive Mythologie verleiht ihren Göttern Menschengestalt, Fleisch und Blut. Weniger materialistisch sind die Vorstellungen der neueren mystischen Theosophie, welche den persönlichen Gott als »unsichtbares« Wesen verehrt und ihn doch gleichzeitig nach Menschenart denken, sprechen und handeln läßt. — III. Das anthropolatrische Dogma ergibt sich aus dieser Vergleichung der menschlichen und göttlichen Seelentätigkeit von selbst; es führt zu der göttlichen Verehrung des menschlichen Organismus, zum »anthropistischen Größenwahn«. Daraus folgt [S. 9] wieder der hochgeschätzte »Glaube an die persönliche Unsterblichkeit der Seele«, sowie das dualistische Dogma von der Doppelnatur des Menschen, dessen »unsterbliche Seele« den sterblichen Körper nur zeitweise bewohnt. Diese drei anthropistischen Dogmen, mannigfach ausgebildet und der wechselnden Glaubensform der verschiedenen Religionen angepaßt, wurden zur Quelle der gefährlichsten Irrtümer. Die anthropistische Weltanschauung, die daraus entsprang, steht in unversöhnlichem Gegensatz zu unserer monistischen Naturerkenntnis; sie wird zunächst schon durch deren kosmologische Perspektive widerlegt.

Kosmologische Perspektive. Die Unhaltbarkeit dieser drei anthropistischen Dogmen, wie auch vieler anderer Anschauungen der dualistischen Philosophie und der orthodoxen Religion, offenbart sich, sobald wir sie aus der kosmologischen Perspektive unseres Monismus kritisch betrachten. Wir verstehen darunter jene umfassende Anschauung des Weltganzen, welche uns der höchste Standpunkt der monistischen Naturerkenntnis gewährt. Da überzeugen wir uns von der Wahrheit der folgenden wichtigen »kosmologischen Lehrsätze«:

1. Das Weltall (Universum oder Kosmos) ist ewig, unendlich und unbegrenzt. 2. Die Substanz desselben mit ihren beiden Attributen (Materie und Energie) erfüllt den unendlichen Raum und befindet sich in ewiger Bewegung. 3. Diese Bewegung verläuft in der unendlichen Zeit als eine einheitliche Entwickelung, mit periodischem Wechsel von Werden und Vergehen, von Fortbildung und Rückbildung. 4. Die unzähligen Weltkörper, welche im raumerfüllenden Äther verteilt sind, unterliegen sämtlich dem Substanzgesetz. 5. Unsere Sonne ist einer von diesen unzähligen vergänglichen Weltkörpern, und unsere Erde ist einer von den zahlreichen vergänglichen Planeten, welche diese umkreisen. 6. Unsere Erde hat einen langen Abkühlungsprozeß durchgemacht, ehe auf derselben tropfbar flüssiges Wasser und damit die erste Vorbedingung organischen Lebens entstehen konnte. 7. Der darauf folgende biogenetische Prozeß, die langsame Entwickelung und Umbildung zahlloser organischer Formen, hat viele Millionen Jahre (weit über hundert!) in Anspruch genommen. 8. Unter den verschiedenen Tierstämmen, welche sich im späteren Verlaufe des biogenetischen Prozesses auf unserer Erde entwickelten, hat der Stamm der Wirbeltiere im Wettlaufe der Entwickelung neuerdings alle anderen weit überflügelt. 9. Als der bedeutendste Zweig des Wirbeltierstammes hat sich erst spät (während der Triasperiode) aus Amphibien die Klasse der Säugetiere entwickelt. 10. Der vollkommenste und höchst entwickelte Zweig dieser Klasse [S. 10] ist die Ordnung der Herrentiere oder Primaten, die erst im Beginne der Tertiärzeit durch Umbildung aus niedersten Zottentieren entstanden ist. 11. Das jüngste und vollkommenste Ästchen des Primatenzweiges ist der Mensch, der erst in späterer Tertiärzeit aus einer Reihe von Menschenaffen hervorging. 12. Demnach ist die sogenannte »Weltgeschichte« eine verschwindend kurze Episode in dem langen Verlaufe der organischen Erdgeschichte, ebenso wie diese selbst ein kleines Stück von der Geschichte unseres Planetensystems; und wie unsere Mutter Erde ein vergängliches Sonnenstäubchen im unendlichen Weltall, so ist der einzelne Mensch eine vorübergehende Erscheinung in der vergänglichen organischen Natur.

Nichts scheint mir geeigneter als diese großartige kosmologische Perspektive, um von vornherein den richtigen Maßstab und den weitsichtigen Standpunkt festzusetzen, welchen wir zur Lösung der Welträtsel einhalten müssen. Denn dadurch wird nicht nur die maßgebende »Stellung des Menschen in der Natur« klar bezeichnet, sondern auch der herrschende anthropistische Größenwahn widerlegt, die Anmaßung, mit welcher der Mensch sich dem unendlichen Universum gegenüberstellt und als wichtigsten Teil des Weltalls verherrlicht. Diese grenzenlose Selbstüberhebung des eiteln Menschen hat ihn dazu verführt, sich als »Ebenbild Gottes« zu betrachten, für seine vergängliche Person ein »ewiges Leben« in Anspruch zu nehmen und sich einzubilden, daß er unbeschränkte »Freiheit des Willens« besitzt. Der lächerliche Cäsarenwahn des Caligula ist eine spezielle Form dieser hochmütigen Selbstvergötterung des Menschen. Erst wenn wir diesen unhaltbaren Größenwahn aufgeben und die naturgemäße kosmologische Perspektive einnehmen, können wir zur Lösung der »Welträtsel« gelangen.

Zahl der Welträtsel. Der ungebildete Kulturmensch ist noch ebenso wie der rohe Naturmensch auf Schritt und Tritt von unzähligen Welträtseln umgeben. Je weiter die Kultur fortschreitet und die Wissenschaft sich entwickelt, desto mehr wird ihre Zahl beschränkt. Die monistische Philosophie wird schließlich nur ein einziges, allumfassendes Welträtsel anerkennen, das »Substanzproblem«. In der berühmten Rede, welche Emil du Bois-Reymond 1880 in der Leibniz-Sitzung der Berliner Akademie der Wissenschaften hielt, unterscheidet er »sieben Welträtsel«; er führt dieselben in nachstehender Reihenfolge auf: I. das Wesen von Materie und Kraft, II. der Ursprung der Bewegung, III. die erste Entstehung des Lebens, IV. die (anscheinend absichtsvoll) zweckmäßige Einrichtung der Natur, V. das [S. 11] Entstehen der einfachen Sinnesempfindung und des Bewußtseins, VI. das vernünftige Denken und der Ursprung der damit eng verbundenen Sprache, VII. die Frage nach der Willensfreiheit. Von diesen sieben Welträtseln erklärt der Rhetor der Berliner Akademie drei für ganz transzendent und unlösbar (das erste, zweite und fünfte); drei andere hält er zwar für schwierig, aber für lösbar (das dritte, vierte und sechste); bezüglich des siebenten und letzten »Welträtsels«, welches praktisch das wichtigste ist, nämlich der Willensfreiheit, verhält er sich unentschieden.

Nach meiner Ansicht werden die drei »transzendenten« Rätsel (I, II, V) durch unsere Auffassung der Substanz erledigt (Kapitel 12); die drei anderen, schwierigen, aber lösbaren Probleme (III, IV, VI) sind durch unsere moderne Entwickelungslehre endgültig gelöst; das siebente und letzte Welträtsel, die Willensfreiheit, ist gar kein Objekt kritischer wissenschaftlicher Erklärung, da sie als reines Dogma auf bloßer Täuschung beruht und in Wirklichkeit gar nicht existiert.

Lösung der Welträtsel. Die Mittel und Wege zur Lösung der Welträtsel sind diejenigen der reinen wissenschaftlichen Erkenntnis überhaupt: Erfahrung und Schlußfolgerung. Die wissenschaftliche Erfahrung erwerben wir uns durch Beobachtung und Experiment, wobei in erster Linie unsere Sinnesorgane, in zweiter die »inneren Sinnesherde« unserer Großhirnrinde tätig sind. Die mikroskopischen Elementarorgane der ersteren sind die Sinneszellen, die der letzteren Gruppen von Ganglienzellen. Die Erfahrungen, welche wir von der Außenwelt durch diese unschätzbarsten Organe unseres Geisteslebens erhalten haben, werden dann durch andere Gehirnteile in Vorstellungen umgesetzt und diese wiederum durch Assoziation zu Schlüssen verknüpft. Die Bildung dieser Schlußfolgerungen erfolgt auf zwei verschiedenen Wegen, die nach meiner Überzeugung gleich wertvoll und unentbehrlich sind: Induktion und Deduktion. Die weiteren verwickelten Gehirnoperationen, die Bildung von zusammenhängenden Kettenschlüssen, die Abstraktion und Begriffsbildung, die Ergänzung des erkennenden Verstandes durch die plastische Phantasie, schließlich das Bewußtsein, das Denken und Philosophieren, sind ebenso Funktionen der Ganglienzellen der Großhirnrinde wie die vorhergehenden einfacheren Seelentätigkeiten. Alle zusammen vereinigen wir in dem höchsten Begriffe der Vernunft.

Vernunft, Gemüt und Offenbarung. Durch die Vernunft allein können wir zur wahren Naturerkenntnis und zur Lösung der Welträtsel gelangen. Indessen hat die Vernunft ihren hohen Wert erst durch die fortschreitende Kultur und Geistesbildung, durch [S. 12] die Entwickelung der Wissenschaft erhalten. Der ungebildete Mensch und der rohe Naturmensch sind ebensowenig (oder ebensosehr) »vernünftig« wie die nächstverwandten Säugetiere (Affen, Hunde, Elefanten usw.). Nun ist noch heute in weiten Kreisen die Ansicht verbreitet, daß es außer der Vernunft noch zwei weitere (ja sogar wichtigere!) Erkenntniswege gebe: Gemüt und Offenbarung. Diesem gefährlichen Irrtum müssen wir entschieden entgegentreten. Das Gemüt hat mit der Erkenntnis der Wahrheit garnichts zu tun. Was wir »Gemüt« nennen und hochschätzen, ist eine verwickelte Tätigkeit des Gehirns, welche sich aus Gefühlen der Lust und Unlust, aus Vorstellungen der Zuneigung und Abneigung, aus Strebungen des Begehrens und Fliehens zusammensetzt. Dabei können die verschiedensten anderen Tätigkeiten des Organismus mitspielen, Bedürfnisse der Sinne und der Muskeln, des Magens und der Geschlechtsorgane usw. Die Erkenntnis der Wahrheit fördern alle diese Gemütszustände und Gemütsbewegungen in keiner Weise; im Gegenteil stören sie oft die allein dazu befähigte Vernunft. Noch kein »Welträtsel« ist durch die Gehirnfunktion des Gemüts gelöst oder auch nur gefördert worden. Dasselbe gilt aber auch von der sogenannten »Offenbarung« und den angeblichen, dadurch erreichten »Glaubenswahrheiten«; diese beruhen sämtlich auf bewußter oder unbewußter Täuschung (vergl. das 16. Kapitel).

Philosophie und Naturwissenschaft. Als einen der erfreulichsten Fortschritte zur Lösung der Welträtsel müssen wir es begrüßen, daß in neuerer Zeit immer mehr die beiden einzigen dazu führenden Wege: Erfahrung und Denken (oder Empirie und Spekulation) als gleichberechtigte und sich gegenseitig ergänzende Erkenntnismethoden anerkannt worden sind. Die Philosophen haben allmählich eingesehen, daß die reine Spekulation zur wahren Erkenntnis nicht ausreicht. Und ebenso haben sich anderseits die Naturforscher überzeugt, daß die bloße Erfahrung für die Bildung einer realen Weltanschauung ungenügend ist. Die zwei großen Erkenntniswege, die sinnliche Erfahrung und das vernünftige Denken, sind zwei verschiedene Gehirnfunktionen; die erstere wird durch die Sinnesorgane und die zentralen Sinnesherde, die letztere durch die dazwischen liegenden Denkherde, die großen »Assozionszentren der Großhirnrinde« vermittelt. (Vergl. Kapitel 7 und 10.) Erst durch die vereinigte Tätigkeit beider entsteht wahre Erkenntnis. Allerdings gibt es auch heute noch Philosophen, welche die Welt bloß aus ihrem Kopfe konstruieren wollen, und welche die empirische Naturerkenntnis schon deshalb verschmähen, weil sie die wirkliche Welt nicht [S. 13] kennen. Anderseits behaupten auch heute noch manche Naturforscher, daß die einzige Aufgabe der Wissenschaft das »tatsächliche Wissen, die objektive Erforschung der einzelnen Naturerscheinungen sei«; das »Zeitalter der Philosophie« sei vorüber, und an ihre Stelle sei die Naturwissenschaft getreten (Virchow 1893). Diese einseitige Überschätzung der Empirie ist ein ebenso gefährlicher Irrtum wie jene entgegengesetzte der Spekulation. Beide Erkenntniswege sind sich gegenseitig unentbehrlich. Die größten Triumphe der modernen Naturforschung, die Zellentheorie und die Wärmetheorie, die Entwickelungstheorie und das Substanzgesetz, sind philosophische Taten, aber nicht Ergebnisse der reinen Spekulation, sondern der vorausgegangenen, ausgedehntesten und gründlichsten Empirie.

Dualismus und Monismus. Alle verschiedenen Richtungen der Philosophie lassen sich, vom heutigen Standpunkte der Naturwissenschaft beurteilt, in zwei entgegengesetzte Reihen bringen, einerseits die dualistische oder zwiespältige, anderseits die monistische oder einheitliche Weltanschauung. Der Dualismus (im weitesten Sinne!) zerlegt das Universum in zwei ganz verschiedene Substanzen, die materielle Welt und den immateriellen Gott, der ihr als Schöpfer, Erhalter und Regierer gegenübersteht. Der Monismus hingegen (ebenfalls im weitesten Sinne begriffen!) erkennt im Universum nur eine einzige Substanz, die »Gott und Natur« zugleich ist; Körper und Geist (oder Materie und Energie) sind für sie untrennbar verbunden. Der außerweltliche »persönliche« Gott des Dualismus führt zum Theismus, der innerweltliche Gott des Monismus zum Pantheismus.

Materialismus und Spiritualismus. Sehr häufig werden auch heute noch die verschiedenen Begriffe Monismus und Materialismus und ebenso die wesentlich verschiedenen Richtungen des theoretischen und des praktischen Materialismus verwechselt. Da diese und ähnliche Begriffsverwirrungen zahlreiche Irrtümer veranlassen, wollen wir zur Vermeidung aller Mißverständnisse nur kurz noch folgendes bemerken: I. Unser reiner Monismus ist weder mit jenem Materialismus identisch, welcher den Geist leugnet und die Welt in eine Summe von toten Atomen auflöst, noch mit dem theoretischen Spiritualismus (neuerdings als Energetik bezeichnet), welcher die Materie leugnet und die Welt nur als eine räumlich geordnete Gruppe von bloßen Empfindungen und Vorstellungen (oder von Energien oder immateriellen Naturkräften) betrachtet. II. Vielmehr sind wir mit Goethe der festen Überzeugung, daß »die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam [S. 14] sein kann«. Wir halten fest an der monistischen Auffassung von Spinoza: Die Materie, als die unendlich ausgedehnte Substanz, und der Geist (oder die Energie), als die empfindende oder denkende Substanz, sind die beiden Attribute oder Grundeigenschaften des allumfassenden göttlichen Weltwesens, der universalen Substanz. (Vergl. Kapitel 12.)

Zweites Kapitel.

Unser Körperbau.

Monistische Studien über menschliche und vergleichende Anatomie. Übereinstimmung in der gröberen und feineren Organisation des Menschen und der Säugetiere.

Alle biologischen Untersuchungen, alle Forschungen über die Gestaltung und Lebenstätigkeit der Organismen haben zunächst den sichtbaren Körper ins Auge zu fassen, an welchem uns die betreffenden morphologischen und physiologischen Erscheinungen entgegentreten. Dieser Grundsatz gilt ebenso für den Menschen wie für alle anderen belebten Naturkörper. Dabei darf sich die Untersuchung nicht mit der Betrachtung der äußeren Gestalt begnügen, sondern sie muß in das Innere derselben eindringen und ihre Zusammensetzung aus den gröberen und feineren Bestandteilen erforschen. Die Wissenschaft, welche diese grundlegende Untersuchung im weitesten Umfange auszuführen hat, ist die Anatomie.

Menschliche Anatomie. Die erste Anregung zur Erkenntnis des menschlichen Körperbaues ging naturgemäß von der Heilkunde aus. Da diese bei den ältesten Kulturvölkern gewöhnlich von den Priestern ausgeübt wurde, dürfen wir annehmen, daß diese höchsten Vertreter der damaligen Bildung schon im zweiten Jahrtausend vor Christo und früher über ein gewisses Maß von anatomischen Kenntnissen verfügten. Aber genauere Erfahrungen, gewonnen durch die Zergliederung von Säugetieren und von diesen übertragen auf den Menschen, finden wir erst bei den Griechen, von denen Hippokrates lange als vorzüglichste Autorität galt. Nach ihm erscheint nur noch ein bedeutender Anatom im Altertum, [S. 15] der Arzt Claudius Galenus. Alle diese älteren Anatomen erwarben ihre Kenntnisse zum größten Teile nicht durch die Untersuchung des menschlichen Körpers selbst — die damals noch streng verboten war! —, sondern durch diejenige der menschenähnlichsten Säugetiere, besonders der Affen; sie waren also alle eigentlich schon »vergleichende Anatomen«.

Das Emporblühen des Christentums und der damit verknüpften mystischen Weltanschauung bereitete der Anatomie, wie allen anderen Naturwissenschaften, den Niedergang. Die römischen Päpste waren vor allem bestrebt, die Menschheit in Unwissenheit und in blindem Aberglauben zu erhalten; sie hielten die Kenntnis des menschlichen Organismus mit Recht für ein gefährliches Mittel der Aufklärung über unser wahres Wesen. Während des langen Zeitraums von dreizehn Jahrhunderten blieben die Schriften des Galenus fast die einzige Quelle für die menschliche Anatomie, ebenso wie diejenigen des Aristoteles für die gesamte Naturgeschichte. Erst als im sechzehnten Jahrhundert n. Chr. durch die Reformation die geistige Weltherrschaft des Papismus gebrochen und durch das neue Weltsystem des Kopernikus die eng damit verknüpfte geozentrische Weltanschauung zerstört wurde, begann auch für die Erkenntnis des menschlichen Körpers eine neue Periode des Aufschwungs. Die großen Anatomen Vesalius, Eustachius und Fallopius förderten durch eigene gründliche Untersuchungen die genaue Kenntnis unseres Körperbaues so sehr, daß ihren zahlreichen Nachfolgern bezüglich der gröberen Verhältnisse hauptsächlich nur Einzelheiten festzustellen übrigblieben. Der ebenso kühne wie geistreiche Andreas Vesalius ging bahnbrechend allen voran; er vollendete schon in seinem 28. Lebensjahre das große, einheitlich durchgeführte Werk »De humani corporis fabrica« (1543) und gab der ganzen menschlichen Anatomie eine neue, selbständige Richtung und sichere Grundlage.

Vergleichende Anatomie. Die Verdienste, welche das neunzehnte Jahrhundert sich um die Erkenntnis des menschlichen Körperbaues erworben hat, bestehen vor allem in dem Ausbau von zwei neuen, überaus wichtigen Forschungsrichtungen, der »vergleichenden Anatomie« und der »Gewebelehre« oder der »mikroskopischen Anatomie«. Die erstere war allerdings schon von Anfang an mit der menschlichen Anatomie eng verknüpft gewesen; denn diese wurde solange durch die erstere ersetzt, als die Sektion menschlicher Leichen für ein todeswürdiges Verbrechen galt — und das war selbst noch im 15. Jahrhundert der Fall! Aber die zahlreichen Anatomen der folgenden drei Jahrhunderte beschränkten sich größtenteils auf die genaue Untersuchung des [S. 16] menschlichen Organismus. Diejenige hochentwickelte Disziplin, die wir heute vergleichende Anatomie nennen, wurde erst im Jahre 1803 geboren, als der große französische Zoologe George Cuvier seine grundlegenden »Leçons sur l'Anatomie comparée« herausgab und darin zum ersten Male bestimmte Gesetze über den Körperbau des Menschen und der Tiere festzustellen suchte. Während seine Vorläufer — unter ihnen auch Goethe 1790 — hauptsächlich nur das Knochengerüst des Menschen mit demjenigen der übrigen Säugetiere eingehend verglichen hatten, umfaßte Cuviers weiter Blick die Gesamtheit der tierischen Organisation; er unterschied in derselben vier große, voneinander unabhängige Hauptformen oder Typen: Wirbeltiere, Gliedertiere, Weichtiere und Strahltiere. Für die »Frage aller Fragen« war dieser Fortschritt insofern epochemachend, als damit klar die Zugehörigkeit des Menschen zum Typus der Wirbeltiere — sowie seine Grundverschiedenheit von allen anderen Typen — ausgesprochen war. Allerdings hatte schon der scharfblickende Linné in seinem ersten »Systema naturae« (1735) dem Menschen definitiv seinen Platz in der Klasse der Säugetiere angewiesen; er vereinigte sogar in der Ordnung der Herrentiere die drei Gruppen der Halbaffen, Affen und Menschen. Aber es fehlte diesem kühnen systematischen Griffe noch jene tiefere empirische Begründung durch die vergleichende Anatomie, die erst Cuvier herbeiführte. Diese fand ihre weitere Ausführung durch die großen vergleichenden Anatomen des 19. Jahrhunderts, durch Friedrich Meckel, Johannes Müller, Richard Owen, Thomas Huxley und Carl Gegenbaur. Indem dieser letztere in seinen Grundzügen der vergleichenden Anatomie (1870) zum ersten Male die durch Darwin neu begründete Abstammungslehre auf jene Wissenschaft anwandte, erhob er sie zum ersten Range unter den biologischen Disziplinen. Seine »Vergleichende Anatomie der Wirbeltiere« (1898) legte den unerschütterlichen Grund fest, auf welchem sich unsere Überzeugung von der Wirbeltiernatur des Menschen nach allen Richtungen hin klar beweisen läßt.

Gewebelehre (Histologie) und Zellenlehre (Cytologie). In ganz anderer Richtung als die vergleichende entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die mikroskopische Anatomie. Schon im Anfange desselben (1802) unternahm ein französischer Arzt, Bichat, den Versuch, mittels des Mikroskops die Organe des menschlichen Körpers in ihre einzelnen feineren Bestandteile zu zerlegen und die Beziehungen dieser verschiedenen Gewebe festzustellen. Aber dieser erste Versuch führte nicht weit, da ihm das gemeinsame Element für die zahlreichen, verschiedenen Gewebe [S. 17] unbekannt blieb. Dies wurde erst 1838 für die Pflanzen in der Zelle von Matthias Schleiden entdeckt und gleich darauf auch für die Tiere von Theodor Schwann nachgewiesen. Albert Kölliker und Rudolf Virchow führten dann im sechsten Dezennium des 19. Jahrhunderts die Zellentheorie und die darauf gegründete Gewebelehre für den gesunden und kranken Organismus des Menschen im einzelnen durch; sie wiesen nach, daß auch im Menschen, wie in allen anderen Tieren, alle Gewebe sich aus den gleichen mikroskopischen Formbestandteilen, den einfachen Zellen, zusammensetzen, und daß diese »Elementar-Organismen« die wahren, selbsttätigen Staatsbürger sind, die, zu Milliarden vereinigt, unseren Körper, den »Zellenstaat«, aufbauen. Alle diese Zellen entstehen durch oft wiederholte Teilung aus einer einzigen, einfachen Zelle, aus der »Stammzelle« oder »befruchteten Eizelle« (Cytula). Die allgemeine Struktur und Zusammensetzung der Gewebe ist beim Menschen dieselbe wie bei den übrigen Wirbeltieren. Unter diesen zeichnen sich die Säugetiere, die jüngste und höchst entwickelte Klasse, durch gewisse besondere, spät erworbene Eigentümlichkeiten aus. So ist z. B. die mikroskopische Bildung der Haare, der Hautdrüsen, der Milchdrüsen, der Blutzellen bei den Säugetieren ganz eigentümlich und verschieden von derjenigen der übrigen Wirbeltiere; der Mensch ist auch in allen diesen feinsten histologischen Beziehungen ein echtes Säugetier.

Wirbeltiernatur des Menschen. Unser gesamter Körperbau zeigt sowohl in der gröberen als in der feineren Zusammensetzung den charakteristischen Typus der Wirbeltiere (Vertebrata). Diese höchst entwickelte Hauptgruppe des Tierreichs wurde in ihrer natürlichen Einheit zuerst 1801 von dem großen Lamarck erkannt; er faßte unter diesem Begriffe die vier höheren Tierklassen von Linné zusammen: Säugetiere, Vögel, Amphibien und Fische. Die beiden niederen Klassen: Insekten und Würmer, stellte er jenen als »Wirbellose« (Invertebrata) gegenüber. Cuvier bestätigte (1812) die Einheit des Vertebratentypus und begründete sie fester durch seine vergleichende Anatomie. In der Tat stimmen alle Wirbeltiere, von den Fischen aufwärts bis zum Menschen, in allen wesentlichen Hauptmerkmalen überein; sie besitzen alle ein festes inneres Skelett, Knorpel- und Knochengerüst, und dieses besteht überall aus einer Wirbelsäule und einem Schädel; die verwickelte Zusammensetzung des letzteren ist zwar im einzelnen sehr mannigfaltig, aber im allgemeinen stets auf dieselbe Urform zurückzuführen. Ferner liegt bei allen Wirbeltieren auf der Rückenseite dieses Achsenskeletts das »Seelenorgan«, das zentrale Nervensystem, in Gestalt eines Rückenmarks und eines Gehirns. Auch [S. 18] von diesem wichtigen Gehirn gilt dasselbe wie von der es umschließenden Knochenkapsel, dem Schädel; im einzelnen ist seine Ausbildung und Größe höchst mannigfaltig abgestuft; im großen und ganzen bleibt die charakteristische Zusammensetzung dieselbe.

Die gleiche Erscheinung zeigt sich auch, wenn wir die übrigen Organe unseres Körpers mit denen der anderen Wirbeltiere vergleichen: überall bleibt infolge von Vererbung die ursprüngliche Anlage und die relative Lagerung der Organe dieselbe, obgleich die Größe und Ausbildung der einzelnen Teile höchst mannigfaltig sich sondert, entsprechend der Anpassung an sehr verschiedene Lebensbedingungen. So sehen wir, daß überall das Blut in zwei Hauptröhren kreist, von denen die eine (Aorta) über dem Darm, die andere (Prinzipalvene) unter dem Darm verläuft, und daß durch Erweiterung der letzteren an einer ganz bestimmten Stelle das Herz entsteht; dieses »Ventralherz« ist für alle Wirbeltiere ebenso charakteristisch wie umgekehrt das Rückengefäß oder »Dorsalherz« für die Gliedertiere und Weichtiere. Nicht minder eigentümlich ist bei allen Vertebraten die frühzeitige Scheidung des Darmrohres in einen zur Atmung dienenden Kopfdarm (oder »Kiemendarm«) und einen die Verdauung bewirkenden Rumpfdarm mit der Leber (daher »Leberdarm«); ferner die Gliederung des Muskelsystems, die besondere Bildung der Harn- und Geschlechtsorgane usw. In allen diesen anatomischen Beziehungen ist der Mensch ein echtes Wirbeltier.

Tetrapodennatur des Menschen. Mit der Bezeichnung Vierfüßler (Tetrapoda) hatte schon Aristoteles alle jene höheren, blutführenden Tiere belegt, welche sich durch den Besitz von zwei Beinpaaren auszeichnen. Später wurde dieser Begriff erweitert, nachdem Cuvier gezeigt hatte, daß auch die »zweibeinigen« Vögel und Menschen eigentlich Vierfüßler sind; er wies nach, daß das innere Knochengerüst der vier Beine bei allen höheren landbewohnenden Wirbeltieren, von den Amphibien aufwärts bis zum Menschen, ursprünglich in gleicher Weise aus einer bestimmten Zahl von Gliedern zusammengesetzt ist. Auch die »Arme« des Menschen, die »Flügel« der Fledermäuse und Vögel zeigen denselben typischen Skelettbau wie die »Vorderbeine« der laufenden, eigentlich vierfüßigen Tiere.

Diese anatomische Einheit des verwickelten Knochengerüstes in den vier Gliedmaßen aller Tetrapoden ist sehr wichtig. Um sich wirklich davon zu überzeugen, braucht man bloß das Skelett eines Salamanders oder Frosches mit demjenigen eines Affen oder Menschen aufmerksam zu vergleichen. Da sieht man sofort, daß vorn der Schultergürtel und hinten der Beckengürtel aus denselben [S. 19] Hauptstücken zusammengesetzt ist wie bei den übrigen »Vierfüßlern«. Überall sehen wir, daß das erste Glied des eigentlichen Beines nur einen einzigen starken Röhrenknochen enthält (vorn den Oberarm, hinten den Oberschenkel); dagegen wird das zweite Glied ursprünglich stets durch zwei Knochen gestützt (vorn Ellbogen und Speiche, hinten Wadenbein und Schienbein). Vergleichen wir dann weiter den verwickelten Bau des eigentlichen Fußes, so überrascht uns die Wahrnehmung, daß die zahlreichen, denselben zusammensetzenden, kleinen Knochen ebenfalls überall ähnlich angeordnet und gesondert sind; vorn entsprechen sich in allen Klassen der Tetrapoden die drei Knochengruppen des Vorderfußes (oder der »Hand«): I. Handwurzel, II. Mittelhand und III. fünf Finger; ebenso hinten die drei Knochengruppen des Hinterfußes: I. Fußwurzel, II. Mittelfuß und III. fünf Zehen. Sehr schwierig war die Aufgabe, alte diese zahlreichen kleinen Knochen, die im einzelnen höchst mannigfaltig gestaltet und umgebildet, teilweise oft verschmolzen oder verschwunden sind, auf eine und dieselbe Urform zurückzuführen, sowie die Gleichwertigkeit der einzelnen Teile überall festzustellen. Diese wichtige Aufgabe wurde erst vollständig von Carl Gegenbaur gelöst. Er zeigte in seinen »Untersuchungen zur vergleichenden Anatomie der Wirbeltiere« (1864), wie diese charakteristische »fünfzehige Beinform« der landbewohnenden Vierfüßler ursprünglich (erst in der Steinkohlenperiode) aus der vielstrahligen »Flosse« (Brustflosse oder Bauchflosse) der älteren, wasserbewohnenden Fische entstanden ist. In gleicher Weise leitete er in seinen »Untersuchungen über das Kopfskelett der Wirbeltiere« (1872) den jüngeren Schädel der Tetrapoden aus der älteren Schädelform der Fische ab.

Besonders bemerkenswert ist noch, daß die ursprüngliche, zuerst bei den alten Amphibien der Steinkohlenzeit entstandene Fünfzahl der Zehen an allen vier Füßen sich infolge strenger Vererbung noch beim Menschen bis auf den heutigen Tag erhalten hat. Selbstverständlich ist dementsprechend auch die typische Bildung der Gelenke und Bänder, der Muskeln und Nerven der zwei Beinpaare, in der Hauptsache dieselbe geblieben wie bei den übrigen »Vierfüßlern«; auch in diesen wichtigen Beziehungen ist der Mensch ein echter Tetrapode.

Säugetiernatur des Menschen. Die Säugetiere (Mammalia) bilden die jüngste und höchst entwickelte Klasse der Wirbeltiere. Sie sind zwar ebenso wie die Vögel und Reptilien aus der älteren Klasse der Amphibien abzuleiten; sie unterscheiden sich aber von allen diesen anderen Tetrapoden durch eine Anzahl von sehr auffallenden anatomischen Merkmalen. Äußerlich tritt vor allem die [S. 20] Haarbedeckung der Haut hervor, sowie der Besitz von zweierlei Hautdrüsen: Schweißdrüsen und Talgdrüsen. Aus einer lokalen Umbildung dieser Drüsen an der Bauchhaut entstand dasjenige Organ, welches für die Klasse besonders charakteristisch ist und ihr den Namen gegeben hat, das »Gesäuge«. Dieses wichtige Werkzeug der Brutpflege ist zusammengesetzt aus den Milchdrüsen (Mammae) und den »Mammar-Taschen« (Falten der Bauchhaut); durch ihre Fortbildung entstanden die Zitzen oder »Milchwarzen« aus denen das junge Säugetier die Milch seiner Mutter saugt. Im inneren Körperbau ist besonders bemerkenswert der Besitz eines vollständigen Zwerchfells, einer muskulösen Scheidewand, welche bei allen Säugetieren die Brusthöhle von der Bauchhöhle gänzlich abschließt; bei allen übrigen Wirbeltieren fehlt diese Trennung. Durch eine Anzahl von merkwürdigen Umbildungen zeichnet sich auch der Schädel der Mammalien aus, besonders der Bau des Kieferapparates (Oberkiefer, Unterkiefer und Gehörknochen). Aber auch das Gehirn, das Geruchsorgan, das Herz, die Lungen, die inneren und äußeren Geschlechtsorgane, die Nieren und andere Körperteile zeigen bei den Säugetieren besondere Eigentümlichkeiten im gröberen und feineren Bau; diese alle vereinigt weisen unzweideutig auf eine frühzeitige Trennung derselben von den älteren Stammgruppen der Reptilien und Amphibien hin, welche spätestens in der Trias-Periode stattgefunden hat. In allen diesen wichtigen Beziehungen ist der Mensch ein echtes Säugetier.

Plazentaliennatur des Menschen. Die zahlreichen Ordnungen, welche die moderne systematische Zoologie in der Klasse der Säugetiere unterscheidet, werden schon seit 1816 in drei natürliche Hauptgruppen geordnet, welchen man den Wert von Unterklassen zuspricht: IGabeltiere (Monotrema), IIBeuteltiere (Marsupialia) und IIIZottentiere (Placentalia). Diese drei Unterklassen unterscheiden sich nicht nur in wichtigen Verhältnissen des Körperbaues und der Entwickelung, sondern entsprechen auch drei verschiedenen historischen Bildungsstufen der Klasse, wie wir später sehen werden. Auf die älteste Gruppe, die Monotremen der Triasperiode, sind in der Jurazeit die Marsupialien gefolgt, und auf diese erst in der Kreideperiode die Plazentalien. Zu dieser jüngsten Unterklasse gehört auch der Mensch; denn er zeigt in seiner Organisation alle die Eigentümlichkeiten, durch welche sich sämtliche Zottentiere von den Beuteltieren und den noch älteren Gabeltieren unterscheiden. In erster Linie gehört dahin das eigentümliche Organ, welches der Plazentaliengruppe ihren [S. 21] Namen gegeben hat, der Mutterkuchen (Placenta). Dasselbe dient dem jungen, im Mutterleibe noch eingeschlossenen Säugetier-Embryo längere Zeit zur Ernährung; es besteht in blutführenden Zotten, welche von der Zottenhaut der Keimhülle auswachsen und in entsprechende Grübchen der Schleimhaut des mütterlichen Fruchtbehälters eindringen; hier wird die zarte Haut zwischen beiden Gebilden so sehr verdünnt, daß unmittelbar die ernährenden Stoffe aus dem mütterlichen Blute durch dieselbe hindurch in das kindliche Blut übertreten können. Diese vortreffliche, erst spät entstandene Ernährungsart des Keimes ermöglicht demselben einen längeren Aufenthalt und eine weitere Ausbildung in der schützenden Gebärmutter; sie fehlt noch den beiden älteren Unterklassen der Beuteltiere und Gabeltiere. Aber auch durch andere anatomische Merkmale, insbesondere die höhere Ausbildung des Gehirns und den Verlust der Beutelknochen, erheben sich die Zottentiere über die letzteren. In allen diesen wichtigen Beziehungen ist der Mensch ein echtes Zottentier.

Primatennatur des Menschen. Die formenreiche Subklasse der Placentaltiere wird neuerdings in eine große Zahl von Ordnungen geteilt. Als ihre wichtigsten Vertreter in der Gegenwart führen wir hier nur die Nagetiere, Huftiere, Raubtiere und Herrentiere an. Zur Legion der Herrentiere (Primates) gehören die drei Ordnungen der Halbaffen, der echten Affen und der Menschen. Alle Angehörigen dieser drei Ordnungen stimmen in vielen wichtigen Eigentümlichkeiten überein und unterscheiden sich dadurch von den übrigen Ordnungen der Zottentiere. Besonders zeichnen sie sich durch lange Beine aus, welche ursprünglich der kletternden Lebensweise auf Bäumen angepaßt sind. Hände und Füße sind fünfzehig und die langen Finger vortrefflich zum Greifen und zum Umfassen der Baumzweige geeignet; sie tragen entweder teilweise oder sämtlich Nägel (keine Krallen). Das Gebiß ist vollständig, aus allen vier Zahngruppen zusammengesetzt (Schneidezähne, Eckzähne, Lückenzähne, Backenzähne). Auch durch wichtige Eigentümlichkeiten im besonderen Bau des Schädels und des Gehirns unterscheiden sich die Herrentiere von den übrigen Zottentieren, und zwar um so auffälliger, je höher sie ausgebildet, je später sie in der Erdgeschichte aufgetreten sind. In allen diesen wichtigen anatomischen Beziehungen stimmt unser menschlicher Organismus mit demjenigen der übrigen Primaten überein: der Mensch ist ein echtes Herrentier.

Affennatur des Menschen. Eine unbefangene gründliche Vergleichung des Körperbaues der Primaten läßt zunächst in dieser höchst entwickelten Säugetierlegion zwei Ordnungen unterscheiden: [S. 22] Halbaffen (Prosimiae) und Affen (Simiae). Die ersteren erscheinen in jeder Beziehung als die niedere und ältere, die letzteren als die höhere und jüngere Ordnung. Die Gebärmutter der Halbaffen ist noch doppelt oder zweihörnig, wie bei allen übrigen Säugetieren; bei den Affen dagegen sind rechter und linker Fruchtbehälter völlig verschmolzen; sie bilden einen birnförmigen Uterus, wie ihn außerdem nur der Mensch besitzt. Wie bei diesem, so ist auch bei den Affen am Schädel die Augenhöhle von der Schläfengrube durch eine knöcherne Scheidewand vollständig getrennt; bei den Halbaffen ist diese noch gar nicht oder nur unvollständig ausgebildet. Endlich ist bei den Halbaffen das große Gehirn noch glatt oder nur schwach gefurcht und verhältnismäßig klein; bei den Affen ist es viel größer, und besonders der graue Hirnmantel, das Organ der höheren Seelentätigkeiten, ist viel besser entwickelt; an seiner Oberfläche sind die charakteristischen Windungen und Furchen um so mehr ausgeprägt, je mehr er sich dem Menschen nähert. In diesen und anderen wichtigen Beziehungen, besonders auch in der Bildung des Gesichts und der Hände, zeigt der Mensch alle anatomischen Merkmale der echten Affen.

Katarrhinennatur des Menschen. Die formenreiche Ordnung der Affen wurde schon 1812 von Géoffroy in zwei natürliche Unterordnungen geteilt, die noch heute allgemein in der systematischen Zoologie angenommen sind: Westaffen und Ostaffen; erstere bewohnen ausschließlich die westliche, letztere die östliche Erdhälfte. Die amerikanischen Westaffen heißen »Plattnasen« (Platyrrhinae), weil ihre Nase plattgedrückt, die Nasenlöcher seitlich gerichtet und deren Scheidewand breit ist. Dagegen sind die Ostaffen, welche die Alte Welt bewohnen, sämtlich »Schmalnasen« (Catarrhinae); ihre Nasenlöcher sind wie beim Menschen nach unten gerichtet, da ihre Scheidewand schmal ist. Ein weiterer Unterschied beider Gruppen besteht darin, daß das Trommelfell bei den Westaffen oberflächlich, dagegen bei den Ostaffen tiefer, im Innern des Felsenbeins liegt; hier hat sich ein langer und enger knöcherner Gehörgang entwickelt, während dieser bei den Westaffen noch kurz und weit ist oder selbst ganz fehlt. Endlich zeigt sich ein sehr wichtiger und durchgreifender Gegensatz beider Gruppen darin, daß alle Katarrhinen die Gebißbildung des Menschen besitzen, nämlich 20 Milchzähne und 32 bleibende Zähne (in jeder Kieferhälfte 2 Schneidezähne, 1 Eckzahn, 2 Lückenzähne und 3 Mahlzähne). Die Platyrrhinen dagegen zeigen in jeder Kieferhälfte einen Lückenzahn mehr, also im ganzen 36 Zähne. Da diese anatomischen Unterschiede beider Affengruppen ganz allgemein und durchgreifend sind, und da sie mit der geographischen Verbreitung in den beiden getrennten Hemisphären der Erde zusammenstimmen, [S. 23] ergibt sich daraus die Berechtigung ihrer scharfen systematischen Trennung; weiterhin knüpft sich daran die phylogenetische Folgerung, daß seit sehr langer Zeit sich beide Unterordnungen in der westlichen und östlichen Hemisphäre getrennt von einander entwickelt haben. Das ist für die Stammesgeschichte unsere Geschlechts überaus wichtig; denn der Mensch teilt alle Merkmale der echten Katarrhinen; er hat sich aus älteren ausgestorbenen Affen dieser Unterordnung in der Alten Welt entwickelt.

Anthropomorphengruppe. Die zahlreichen Formen der Ostaffen, welche noch heute in Asien und Afrika leben, werden schon seit langer Zeit in zwei natürliche Sektionen geteilt: die geschwänzten Hundsaffen (Cynopitheca) und die schwanzlosen Menschenaffen (Anthropomorpha). Diese letzteren stehen dem Menschen viel näher als die ersteren, nicht nur in dem Mangel des Schwanzes und in der allgemeinen Gestaltung des Körpers (besonders des Kopfes), sondern auch durch besondere Merkmale, die an sich unbedeutend, aber wegen ihrer Beständigkeit wichtig sind. Das Kreuzbein ist bei den Menschenaffen, wie beim Menschen, aus fünf verschmolzenen Wirbeln zusammengesetzt, dagegen bei den Hundsaffen nur aus drei (seltener vier) Kreuzwirbeln. Im Gebiß der Cynopitheken sind die Lückenzähne länger als breit, in demjenigen der Anthropomorphen breiter als lang; und der erste Mahlzahn zeigt bei den ersteren vier, bei den letzteren dagegen fünf Höcker. Ferner ist im Unterkiefer jederseits bei den Menschenaffen, wie beim Menschen, der äußere Schneidezahn breiter als der innere, bei den Hundsaffen umgekehrt schmäler. Endlich ist von besonderer Bedeutung die wichtige Tatsache, daß die Menschenaffen mit dem Menschen auch die eigentümlichen feineren Bildungsverhältnisse seiner scheibenförmigen Placenta, der Docidua reflexa und des Bauchstiels teilen (vergl. Kap. 4). Übrigens ergibt schon die oberflächliche Vergleichung der Körperform der heute noch lebenden Menschenaffen, daß sowohl die asiatischen Vertreter dieser Gruppe (Orang und Gibbon), als die afrikanischen Vertreter (Gorilla und Schimpanse) dem Menschen im gesamten Körperbau näher stehen als sämtliche Hundsaffen. Unter diesen letzteren stehen namentlich die hundsköpfigen Papstaffen (Papiomorpha), die Paviane und Meerkatzen, auf einer sehr tiefen Bildungsstufe. Der anatomische Unterschied zwischen diesen rohen Papstaffen und den höchst entwickelten Menschenaffen ist in jeder Beziehung größer als derjenige zwischen den letzteren und dem Menschen.

Die vergleichende Anatomie ergibt somit für den unbefangenen und kritischen Forscher die bedeutungsvolle Tatsache, daß der Körperbau des Menschen und der Menschenaffen nicht nur im [S. 24] höchsten Grade ähnlich, sondern in allen wesentlichen Beziehungen derselbe ist. Dieselben 200 Knochen, in der gleichen Anordnung und Zusammensetzung, bilden unser inneres Knochengerüst; dieselben 300 Muskeln bewirken unsere Bewegungen; dieselben Haare bedecken unsere Haut; dieselben Gruppen von Seelenzellen setzen den kunstvollen Wunderbau unseres Gehirns zusammen; dasselbe vierkammerige Herz ist das zentrale Pumpwerk unseres Blutkreislaufs; dieselben 32 Zähne setzen in der gleichen Anordnung unser Gebiß zusammen; dieselben Speicheldrüsen, Leber- und Darmdrüsen vermitteln unsere Verdauung; dieselben Organe der Fortpflanzung ermöglichen die Erhaltung unseres Geschlechts.

Allerdings finden wir bei genauer Vergleichung gewisse Unterschiede in der Größe und Gestalt der meisten Organe zwischen dem Menschen und Menschenaffen; allein dieselben oder ähnliche Unterschiede entdecken wir auch bei der sorgfältigen Vergleichung der höheren und niederen Menschenrassen, ja sogar bei der exakten Vergleichung aller einzelnen Individuen unserer eigenen Rasse. Wir finden nicht zwei Personen, welche ganz genau dieselbe Größe und Form der Nase, der Ohren, der Augen usw. haben. Man braucht bloß aufmerksam in einer größeren Gesellschaft diese einzelnen Teile der menschlichen Gesichtsbildung bei zahlreichen Personen zu vergleichen, um sich von der erstaunlichen Mannigfaltigkeit in deren spezieller Gestaltung zu überzeugen. Oft sind ja bekanntlich selbst Geschwister von so verschiedener Körperbildung, daß ihre Abstammung von einem und demselben Elternpaare kaum glaublich erscheint. Alle diese individuellen Unterschiede beeinträchtigen aber nicht das Gewicht der fundamentalen Gleichheit im Körperbau; denn sie sind nur bedingt durch geringe Verschiedenheiten im Wachstum der einzelnen Teile.

Drittes Kapitel.

Unser Leben.

Monistische Studien über menschliche und vergleichende Physiologie. Übereinstimmung in allen Lebensfunktionen des Menschen und der Säugetiere.

Unsere Kenntnis vom menschlichen Leben hat sich erst innerhalb des 19. Jahrhunderts zum Range einer selbständigen, wirklichen [S. 25] Wissenschaft erhoben. Diese »Lehre von den Lebenstätigkeiten«, die Physiologie, hat sich zwar frühzeitig der Heilkunde als eine wünschenswerte, ja notwendige Vorbedingung für erfolgreiche ärztliche Tätigkeit fühlbar gemacht, in engem Zusammenhang mit der Anatomie, der Lehre vom Körperbau. Aber sie konnte erst viel später und langsamer als letztere gründlich erforscht werden, da sie auf viel größere Schwierigkeiten stieß.

Der Begriff des Lebens, im Gegensatz zum Tode, ist natürlich schon sehr frühzeitig Gegenstand des Nachdenkens gewesen. Man beobachtete am lebenden Menschen wie an den lebendigen Tieren eine Anzahl von eigentümlichen Veränderungen, vorzugsweise Bewegungen, welche den »toten« Naturkörpern fehlten: selbständige Ortsbewegung, Herzklopfen, Atemzüge, Sprache usw. Allein die Unterscheidung solcher »organischen Bewegungen« von ähnlichen Erscheinungen bei anorganischen Naturkörpern war nicht leicht und oft verfehlt; das fließende Wasser, die flackernde Flamme, der wehende Wind, der stürzende Fels zeigten dem Menschen ganz ähnliche Veränderungen, und es war sehr natürlich, daß der naive Naturmensch auch diesen »toten Körpern« ein selbständiges Leben zuschrieb. Von den bewirkenden Ursachen konnte man sich bei den letzteren ebensowenig befriedigende Rechenschaft geben als bei den ersteren.

Menschliche Physiologie. Die ältesten wissenschaftlichen Betrachtungen über das Wesen der menschlichen Lebenstätigkeiten treffen wir (ebenso wie diejenigen über den Körperbau des Menschen) bei den griechischen Naturphilosophen und Ärzten im sechsten und fünften Jahrhundert v. Chr. Die reichste Sammlung von bezüglichen, damals bekannten Tatsachen finden wir in der Naturgeschichte des Aristoteles.

Der Ruhm, die vorhandenen Kenntnisse einheitlich zusammengefaßt und den ersten Versuch zu einem System der Physiologie gemacht zu haben, gebührt dem großen griechischen Arzte Galenus, den wir auch als den ersten großen Anatomen des Altertums kennen gelernt haben. Bei seinen Untersuchungen über die Organe des menschlichen Körpers stellte er sich beständig auch die Frage nach ihren Lebenstätigkeiten oder Funktionen, und auch hierbei verfuhr er vergleichend und untersuchte vor allem die menschenähnlichsten Tiere, die Affen. Die Erfahrungen, die er hier gewonnen, übertrug er direkt auf den Menschen. Er erkannte auch bereits den hohen Wert des physiologischen Experimentes: bei Vivisektion von Affen, Hunden und Schweinen stellte er verschiedene interessante Versuche an. Die Vivisektionen sind neuerdings nicht nur von unwissenden und beschränkten Leuten, sondern auch von wissensfeindlichen Theologen und von gefühlsseligen [S. 26] Gemütsmenschen vielfach auf das heftigste angegriffen worden; sie gehören aber zu den unentbehrlichen Methoden der Lebensforschung und haben uns unschätzbare Aufschlüsse über die wichtigsten Fragen gegeben.

Ebenso wie für die Anatomie des Menschen, so blieb auch für seine Physiologie das System des Galenus während des langen Zeitraums von dreizehn Jahrhunderten die unantastbare Quelle aller Kenntnisse. Der kulturfeindliche Einfluß des Christentums bereitete auch auf diesem, wie auf allen anderen Gebieten, der Naturerkenntnis die unüberwindlichsten Hindernisse. Vom dritten bis zum sechzehnten Jahrhundert trat kein einziger Forscher auf, der gewagt hätte, selbständig wieder die Lebenstätigkeiten der Menschen zu untersuchen und über das System von Galenus hinauszugehen. Erst im 16. Jahrhundert wurden dazu mehrere bescheidene Versuche von angesehenen Ärzten und Anatomen gemacht. Aber erst im Jahre 1628 veröffentlichte der englische Arzt Harvey seine große Entdeckung des Blutkreislaufs und wies nach, daß das Herz ein Pumpwerk ist, welches durch regelmäßige, unbewußte Zusammenziehung seiner Muskeln die Blutwelle unablässig durch das kommunizierende Röhrensystem der Adern oder Blutgefäße treibt. Nicht minder wichtig waren Harveys Untersuchungen über die Zeugung der Tiere, infolge deren er den berühmten Satz aufstellte: »Alles Lebendige entwickelt sich aus einem Ei« (omne vivum ex ovo).

Die mächtige Anregung zu physiologischen Beobachtungen und Versuchen, welche Harvey gegeben hatte, führte im 16. und 17. Jahrhundert zu einer großen Anzahl von Entdeckungen. Diese faßte der Gelehrte Albrecht Haller um die Mitte des 18. Jahrhunderts zum ersten Male zusammen; in seinem großen Werke »Elementa physiologiae« begründete er den selbständigen Wert dieser Wissenschaft und nicht nur in ihrer Beziehung zur praktischen Medizin. Indem aber Haller für die Nerventätigkeit eine besondere »Empfindungskraft oder Sensibilität« und ebenso für die Muskelbewegung eine besondere »Reizbarkeit oder Irritabilität« als Ursache annahm, lieferte er mächtige Stützen für die irrtümliche Lehre von einer eigentümlichen »Lebenskraft«.

Lebenskraft (Vitalismus). Über ein volles Jahrhundert hindurch, von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, blieb in der Medizin, und speziell in der Physiologie, die alte Anschauung herrschend, daß zwar ein Teil der Lebenserscheinungen auf physikalische und chemische Vorgänge zurückzuführen sei, daß aber ein anderer Teil derselben durch eine besondere, davon unabhängige [S. 27] Lebenskraft (Vis vitalis) bewirkt werde. So verschiedenartig auch die besonderen Vorstellungen vom Wesen derselben und besonders von ihrem Zusammenhang mit der »Seele« sich ausbildeten, so stimmten doch alle darin überein, daß die Lebenskraft von den physikalisch-chemischen Kräften der gewöhnlichen »Materie« unabhängig und wesentlich verschieden sei; als eine selbständige, der anorganischen Natur fehlende »Urkraft« sollte sie die ersteren in ihren Dienst nehmen. Nicht allein die Seelentätigkeit selbst, die Sensibilität der Nerven und die Irritabilität der Muskeln, sondern auch die Vorgänge der Sinnestätigkeit, der Fortpflanzung und Entwickelung erschienen allgemein so wunderbar und in ihren Ursachen so rätselhaft, daß es unmöglich sei, sie auf einfache physikalische und chemische Naturprozesse zurückzuführen.

Der Mechanismus des Lebens (Monistische Physiologie). Schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts hatte der berühmte Philosoph Descartes, fußend auf Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs, den Gedanken ausgesprochen, daß der Körper des Menschen ebenso wie der Tiere eine komplizierte Maschine sei, und daß ihre Bewegungen nach denselben mechanischen Gesetzen erfolgen wie bei den künstlichen, vom Menschen für einen bestimmten Zweck gebauten Maschinen. Allerdings nahm Descartes trotzdem für den Menschen allein eine vollkommene Selbständigkeit der immateriellen Seele an und erklärte sogar deren subjektive Empfindung, das Denken, für das einzige in der Welt, von dem wir unmittelbar ganz sichere Kenntnis besitzen (»Cogito, ergo sum!«). Allein dieser Dualismus hinderte ihn nicht, im einzelnen die Erkenntnis der mechanischen Lebenstätigkeiten vielseitig zu fördern. Im Anschluß daran führte Borelli (1660) die Bewegungen des Tierkörpers auf rein physikalische Gesetze zurück, und gleichzeitig versuchte Sylvius, die Vorgänge bei der Verdauung und Atmung als rein chemische Prozesse zu erklären. Allein diese vernünftigen Ansätze zu einer naturgemäßen, mechanischen Erklärung der Lebenserscheinungen vermochten keine allgemeine Anwendung und Geltung zu erringen; und im Laufe des 18. Jahrhunderts traten sie ganz zurück, je mehr sich der Vitalismus entwickelte. Eine endgültige Widerlegung des letzteren und Rückkehr zur ersteren wurde erst vorbereitet, als im vierten Dezennium des 19. Jahrhunderts die neue vergleichende Physiologie sich zu fruchtbarer Geltung erhob.

Vergleichende Physiologie. Wie unsere Kenntnisse vom Körperbau des Menschen, so wurden auch diejenigen von seiner Lebenstätigkeit ursprünglich größtenteils nicht durch direkte Beobachtung am menschlichen Organismus selbst gewonnen, sondern an den nächstverwandten höheren Wirbeltieren, vor allem den [S. 28] Säugetieren. Aber die eigentliche »vergleichende Physiologie«, welche das ganze Gebiet der Lebenserscheinungen von den niedersten Tieren bis zum Menschen hinauf im Zusammenhang erfaßt, ist erst eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts; ihr großer Schöpfer war Johannes Müller in Berlin (1801-1858). Ursprünglich ausgehend von der Anatomie und Physiologie des Menschen, zog derselbe bald alle Hauptgruppen der höheren und niederen Tiere in den Kreis seiner Vergleichung. Indem er zugleich die Bildung der ausgestorbenen Tiere mit den lebenden, den gesunden Organismus des Menschen mit dem kranken verglich, indem er wahrhaft philosophisch alle Erscheinungen des organischen Lebens zusammenzufassen strebte, erhob er sich zu einer bis dahin unerreichten Höhe der biologischen Erkenntnis.

Allerdings war Müller ursprünglich, gleich allen Physiologen seiner Zeit, Vitalist. Allein die herrschende Lehre von der Lebenskraft nahm bei ihm eine neue Form an und verwandelte sich allmählich in ihr prinzipielles Gegenteil. Denn auf allen Gebieten der Physiologie war Müller bestrebt, die Lebenserscheinungen mechanisch zu erklären; seine reformierte Lebenskraft steht nicht über den physikalischen und chemischen Gesetzen der übrigen Natur, sondern sie ist streng an dieselben gebunden; sie ist schließlich weiter nichts als das »Leben« selbst, d. h. die Summe aller Bewegungserscheinungen, die wir am lebendigen Organismus wahrnehmen. Überall war er bestrebt, dieselben mechanisch zu erklären, in dem Sinnes- und Seelenleben wie in der Tätigkeit der Muskeln, in den Vorgängen des Blutkreislaufs, der Atmung und Verdauung wie in den Erscheinungen der Fortpflanzung und Entwickelung. Die größten Fortschritte führte hier Müller dadurch herbei, daß er überall von den einfachsten Lebenserscheinungen der niederen Tiere ausging und Schritt für Schritt ihre allmähliche Ausbildung zu den höheren, bis zum höchsten, zum Menschen, hinauf verfolgte. Hier bewährte sich seine Methode der kritischen Vergleichung ebenso in der Physiologie, wie in der Anatomie.

Zellularphysiologie. Unter den zahlreichen Schülern von Johannes Müller, welche teils schon bei seinen Lebzeiten, teils nach seinem Tode die verschiedenen Zweige der Biologie mächtig förderten, war einer der glücklichsten Theodor Schwann. Als 1838 der geniale Botaniker Schleiden in Jena die Zelle als das gemeinsame Elementarorgan der Pflanzen erkannt und alle verschiedenen Gewebe des Pflanzenkörpers als zusammengesetzt aus Zellen nachgewiesen hatte, erkannte Johannes Müller sofort die außerordentliche Tragweite dieser bedeutungsvollen Entdeckung; er versuchte selbst, in verschiedenen Geweben des Tierkörpers [S. 29] die gleiche Zusammensetzung nachzuweisen, und veranlaßte sodann seinen Schüler Schwann, diesen Nachweis auf alle tierischen Gewebe auszudehnen. Diese schwierige Aufgabe löste der letztere glücklich in seinen »Mikroskopischen Untersuchungen über die Übereinstimmung in der Struktur und dem Wachstum der Tiere und Pflanzen« (1839). Damit war der Grundstein für die Zellentheorie gelegt, deren Bedeutung ebenso für die Physiologie wie für die Anatomie seitdem von Jahr zu Jahr zugenommen und sich immer allgemeiner bewährt hat. Daß auch die Lebenstätigkeit aller Organismen auf diejenige ihrer Gewebeteile, der mikroskopischen Zellen, zurückgeführt werden müsse, führten namentlich zwei andere Schüler von Johannes Müller aus, der scharfsinnige Physiologe Ernst Brücke in Wien und der berühmte Histologe Albert Kölliker in Würzburg. Der erstere bezeichnete die Zellen richtig als »Elementar-Organismen« und zeigte, daß sie ebenso im Körper des Menschen wie aller anderen Tiere die selbständig tätigen Faktoren des Lebens sind. Kölliker erwarb sich besondere Verdienste nicht nur um die Ausbildung der gesamten Gewebelehre, sondern auch durch den Nachweis, daß das Ei der Tiere, sowie die daraus entstehenden »Furchungskugeln« einfache Zellen sind.

So allgemein aber auch die hohe Bedeutung der Zellentheorie für alle biologischen Aufgaben erkannt wurde, so wurde doch die darauf gegründete Zellular-Physiologie erst in neuester Zeit selbständig ausgebaut. Hier hat namentlich Max Verworn sich ein doppeltes Verdienst erworben. In seinen »Psychophysiologischen Protisten-Studien« (1889) hat derselbe auf Grund sinnreicher experimenteller Untersuchungen gezeigt, daß die von mir (1866) aufgestellte »Theorie der Zellseele« durch das genaue Studium der einzelligen Protozoen vollkommen gerechtfertigt wird, und daß »die psychischen Vorgänge im Protistenreiche die Brücke bilden, welche die chemischen Prozesse in der unorganischen Natur mit dem Seelenleben der höchsten Tiere verbindet«. Weiter ausgeführt und gestützt auf die moderne Entwickelungslehre hat Verworn diese Ansichten in seiner »Allgemeinen Physiologie«. Dieses ausgezeichnete Werk geht zum ersten Male wieder auf den umfassenden Standpunkt von Johannes Müller zurück, im Gegensatze zu den einseitigen und beschränkten Methoden jener modernen Physiologen, welche glauben, ausschließlich durch physikalische und chemische Experimente das Wesen der Lebenserscheinungen ergründen zu können. Verworn zeigte, daß nur durch die vergleichende Methode Müllers und durch das Vertiefen in die Physiologie der Zelle jener höhere Standpunkt gewonnen werden kann, der uns einen einheitlichen Überblick über das wundervolle [S. 30] Gesamtgebiet der Lebenserscheinungen gewährt; nur dadurch gelangen wir zu der Überzeugung, daß auch die sämtlichen Lebenstätigkeiten des Menschen denselben Gesetzen der Physik und Chemie unterliegen, wie diejenigen aller anderen Tiere.

Zellularpathologie. Die grundlegende Bedeutung der Zellentheorie für alle Zweige der Biologie bewährte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht allein in den großartigen Fortschritten der gesamten Morphologie und Physiologie, sondern auch besonders in der totalen Reform derjenigen biologischen Wissenschaft, welche vermöge ihrer Beziehungen zur praktischen Heilkunst von jeher die größte Bedeutung in Anspruch nahm, der Pathologie oder Krankheitslehre. Daß die Krankheiten des Menschen wie aller übrigen Lebewesen Naturerscheinungen sind und also gleich den übrigen Lebensfunktionen nur naturwissenschaftlich erforscht werden können, war ja schon vielen älteren Ärzten zur festen Überzeugung geworden. Auch hatten schon im 17. Jahrhundert einzelne medizinische Schulen den Versuch gemacht, die Ursachen der Krankheiten auf bestimmte physikalische oder chemische Veränderungen zurückzuführen. Allein der damalige niedere Zustand der Naturwissenschaften verhinderte einen bleibenden Erfolg dieser berechtigten Bestrebungen. Daher blieben mehrere ältere Theorien, die das Wesen der Krankheit in übernatürlichen oder mystischen Ursachen suchten, bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in fast allgemeiner Geltung.

Erst um diese Zeit hatte Rudolf Virchow, ebenfalls ein Schüler von Johannes Müller, den glücklichen Gedanken, die Zellentheorie vom gesunden auch auf den kranken Organismus zu übertragen; er suchte in den feinen Veränderungen der kranken Zellen und der aus ihnen zusammengesetzten Gewebe die wahre Ursache jener gröberen Veränderungen, welche als bestimmte »Krankheitsbilder« den lebenden Organismus mit Gefahr und Tod bedrohen. Besonders während der sieben Jahre seiner Lehrtätigkeit in Würzburg (1849-1856) führte Virchow diese große Aufgabe mit so glänzendem Erfolge durch, daß seine Zellularpathologie mit einem Schlage die ganze Pathologie und die von ihr gestützte praktische Medizin in neue, höchst fruchtbare Bahnen lenkte. Für unsere Aufgabe ist diese Reform der Medizin deshalb so bedeutungsvoll, weil sie uns zu einer monistischen, rein wissenschaftlichen Beurteilung der Krankheit führt. Auch der kranke Mensch, ebenso wie der gesunde, unterliegt denselben »ewigen ehernen Gesetzen«, wie die ganze übrige organische Welt.

Physiologie der Säugetiere. Unter den zahlreichen Tierklassen, welche die neuere Zoologie unterscheidet, nehmen die Säugetiere nicht allein in morphologischer, sondern auch in physiologischer Beziehung [S. 31] eine ganz besondere Stellung ein. Da nun auch der Mensch seinem ganzen Körperbau nach zur Klasse der Säugetiere gehört, muß er auch den besonderen Charakter seiner Lebenstätigkeiten mit den übrigen Säugetieren teilen. Der Blutkreislauf und die Atmung vollziehen sich beim Menschen genau nach denselben Gesetzen und in derselben eigentümlichen Form, welche auch allen anderen Säugetieren zukommt; sie ist bedingt durch den besonderen, feineren Bau ihres Herzens und ihrer Lungen. Nur bei den Säugetieren wird alles Arterienblut aus der linken Herzkammer durch den linken Aortenbogen in den Körper geführt, während dies bei den Vögeln durch den rechten und bei den Reptilien durch beide Aortenbogen bewirkt wird. Das Blut der Säugetiere zeichnet sich vor demjenigen aller anderen Wirbeltiere dadurch aus, daß aus ihren roten Blutzellen der Kern verschwunden ist. Die Atembewegungen werden nur in dieser Tierklasse vorzugsweise durch das Zwerchfell vermittelt, weil dasselbe nur hier eine vollständige Scheidewand zwischen Brusthöhle und Bauchhöhle bildet. Ganz besonders wichtig aber ist für diese höchst entwickelte Tierklasse die Produktion der Milch in den Brustdrüsen (Mammae) und die besondere Form der Brutpflege, welche die Ernährung des Jungen durch die Milch der Mutter mit sich bringt. Da dieses Säugegeschäft auch andere Lebenstätigkeiten in der eingreifendsten Weise beeinflußt, da die Mutterliebe der Säugetiere aus dieser innigen Form der Brutpflege ihren Ursprung genommen hat, erinnert uns der Name der Klasse mit Recht an ihre hohe Bedeutung. In Millionen von Bildern, zum großen Teil von Künstlern ersten Ranges, wird »die Madonna mit dem Christuskinde« verherrlicht als das reinste und erhabenste Urbild der Mutterliebe; desselben Instinktes, dessen extremste Form die übertriebene Zärtlichkeit der Affenmutter darstellt.

Physiologie der Affen. Da unter allen Säugetieren die Affen im gesamten Körperbau dem Menschen am nächsten stehen, läßt sich von vornherein erwarten, daß dasselbe auch von ihren Lebenstätigkeiten gilt; und das ist in Wahrheit der Fall. Wie sehr die Lebensgewohnheiten, die Bewegungen, die Sinnesfunktionen, das Seelenleben, die Brutpflege der Affen sich denjenigen des Menschen nähern, weiß jedermann. Aber die wissenschaftliche Physiologie weist dieselbe bedeutungsvolle Übereinstimmung auch für andere, weniger bekannte Erscheinungen nach, besonders die Herztätigkeit, die Drüsenabsonderung und das Geschlechtsleben. In letzterer Beziehung ist besonders merkwürdig, daß die geschlechtsreifen Weibchen bei vielen Affenarten einen regelmäßigen Blutabgang aus dem Fruchtbehälter erleiden, entsprechend der Menstruation [S. 32] (oder »Monatsregel«) des menschlichen Weibes. Auch die Milchabsonderung aus der Brustdrüse und das Säugegeschäft geschieht bei den weiblichen Affen genau ebenso wie bei den Frauen.

Besonders interessant ist endlich die Tatsache, daß die Lautsprache der Affen, physiologisch verglichen, als Vorstufe zu der artikulierten menschlichen Sprache erscheint. Unter den heute noch lebenden Menschenaffen gibt es eine indische Art, welche musikalisch ist: der Hylobates syndactylus auf Sumatra singt in vollkommen reinen und klangvollen, halben Tönen eine ganze Oktave. Für den unbefangenen Sprachforscher kann es heute keinem Zweifel mehr unterliegen, daß unsere hochentwickelte Begriffssprache sich langsam und stufenweise aus der unvollkommenen Lautsprache unserer Affenahnen entwickelt hat.

Viertes Kapitel.

Unsere Keimesgeschichte.

Monistische Studien über menschliche und vergleichende Ontogenie. Übereinstimmung in der Keimbildung und Entwickelung des Menschen und der Wirbeltiere.

In noch höherem Maße als die vergleichende Anatomie und Physiologie ist die vergleichende Ontogenie, die Entwickelungsgeschichte des Einzeltieres oder Individuums, ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts. Wie entsteht der Mensch im Mutterleibe? Wie entstehen die Tiere aus den Eiern? Wie entsteht die Pflanze aus dem Samenkorn? Diese inhaltsschwere Frage hat auch schon seit Jahrtausenden den denkenden Menschengeist beschäftigt; aber erst sehr spät, 1828, zeigte uns der Embryologe Baer die rechten Mittel und Wege, um tiefer in die Kenntnis der geheimnisvollen Tatsachen der Keimesgeschichte einzudringen; und erst 1859 lieferte uns Darwin durch seine Reform der Deszendenztheorie den Schlüssel, mit dessen Hülfe wir zur Erkenntnis ihrer Ursachen gelangen können. Da ich diese hochinteressanten, aber schwierig zu verstehenden Verhältnisse in meiner Keimesgeschichte des Menschen (im ersten Teile der Anthropogenie) einer ausführlichen, populär-wissenschaftlichen Darstellung [S. 33] unterzogen habe, beschränke ich mich hier auf eine kurze Zusammenfassung und Deutung der wichtigsten Erscheinungen. Wir wollen dabei zunächst einen historischen Rückblick auf die ältere Ontogenie werfen.

Präformationslehre. Ältere Keimesgeschichte. (Vergl. den 2. Vortrag meiner »Anthropogenie«.) Wie für die vergleichende Anatomie, so sind auch für die Entwickelungsgeschichte die klassischen Werke des Aristoteles, des vielseitigen »Vaters der Naturgeschichte«, die älteste uns bekannte wissenschaftliche Quelle (im 4. Jahrhundert v. Chr.). Nicht allein in seiner großen Tiergeschichte, sondern auch in einer besonderen kleinen Schrift: »Fünf Bücher von der Zeugung und Entwickelung der Tiere« erzählt uns der große Philosoph eine Menge von interessanten Tatsachen und stellt Betrachtungen über deren Bedeutung an; viele davon sind erst in unserer Zeit wieder zur Geltung gekommen und eigentlich erst wieder neu entdeckt worden. Natürlich sind aber daneben auch viele Fabeln und Irrtümer zu finden, und von der verborgenen Entstehung des Menschenkeimes war noch nichts Näheres bekannt. Auch in dem langen folgenden Zeitraume von zwei Jahrtausenden machte die schlummernde Wissenschaft keine weiteren Fortschritte. Erst im Anfange des 17. Jahrhunderts fing man wieder an, sich damit zu beschäftigen; der italienische Anatom Fabricius ab Aquapendente veröffentlichte 1600 die ältesten Abbildungen und Beschreibungen von Embryonen des Menschen und einiger höheren Tiere; und der berühmte Marcello Malpighi in Bologna, gleich bahnbrechend in der Zoologie wie in der Botanik, gab 1687 die erste zusammenhängende Darstellung von der Entstehung des Hühnchens im bebrüteten Ei.

Alle diese älteren Beobachter waren von der Vorstellung beherrscht, daß im Ei der Tiere, ähnlich wie im Samen der höheren Pflanzen, der ganze Körper mit allen seinen Teilen bereits fertig vorhanden sei, nur in einem so feinen und so durchsichtigen Zustande, daß man sie nicht erkennen könne; die ganze Entwickelung sei demnach nichts weiter, als Wachstum oder »Auswickelung« (Evolutio) der eingewickelten Teile. Diese falsche Lehre, die bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts fast allgemein in Geltung blieb, nennen wir am besten die Vorbildungslehre oder Präformationstheorie.

Einschachtelungslehre. In engem Zusammenhange mit der Präformationslehre entstand im 17. Jahrhundert eine weitere Theorie, welche die denkenden Biologen lebhaft beschäftigte: die sonderbare »Einschachtelungslehre«. Da man annahm, daß im Ei bereits die Anlage des ganzen Organismus mit allen seinen [S. 34] Teilen vorhanden sei, mußte auch der Eierstock des jungen Keimes mit den Eiern der folgenden Generation darin vorgebildet sein, und in diesen wiederum die Eier der nächstfolgenden, usw. in infinitum! Daraufhin berechnete der berühmte Physiologe Haller, daß der liebe Gott vor 6000 Jahren — am sechsten Tage seines Schöpfungswerkes — die Keime von 200 000 Millionen Menschen gleichzeitig erschaffen und sie im Eierstock der ehrwürdigen Urmutter Eva kunstgerecht eingeschachtelt habe. Kein Geringerer als der hochangesehene Philosoph Leibniz schloß sich diesen Ausführungen an und verwertete sie für seine Monadenlehre; und da dieser zufolge sich Seele und Leib in ewig unzertrennlicher Gemeinschaft befinden, übertrug er sie auch auf die Seele; — »die Seelen der Menschen haben in deren Voreltern bis auf Adam, also seit dem Anfang der Dinge(!!), immer in der Form organisierter Körper existiert«.

Epigenesislehre. Im November 1759 verteidigte in Halle ein junger, 26jähriger Mediziner, Kaspar Friedrich Wolff, seine Doktordissertation unter dem Titel: »Theoria generationis«. Gestützt auf eine Reihe der mühsamsten und sorgfältigsten Beobachtungen wies er nach, daß die ganze herrschende Präformationstheorie falsch sei. Im bebrüteten Hühnerei ist anfangs noch keine Spur vom späteren Vogelkörper und seinen Teilen vorhanden; vielmehr finden wir statt dessen oben auf der bekannten gelben Dotterkugel eine kleine, kreisrunde, weiße Scheibe. Diese dünne »Keimscheibe« wird länglich rund und zerfällt dann in vier übereinanderliegende Schichten, die Anlagen der vier wichtigsten Organsysteme: zuerst die oberste, das Nervensystem, darunter die Fleischmasse (Muskelsystem), dann das Gefäßsystem mit dem Herzen und zuletzt der Darmkanal. Also, sagt Wolff richtig, besteht die Keimbildung nicht in einer Auswickelung vorgebildeter Organe, sondern in einer Kette von Neubildungen, einer wahren »Epigenesis«; ein Teil entsteht nach dem andern, und alle erscheinen zuerst in einer einfachen Form, welche von der später ausgebildeten ganz verschieden ist; diese entsteht erst durch eine Reihe der merkwürdigsten Umbildungen. Obgleich nun diese große Entdeckung sich unmittelbar durch Nachuntersuchung der beobachteten Tatsachen hätte bestätigen lassen, und obgleich die darauf gegründete »Theorie der Generation« eigentlich gar keine Theorie, sondern eine nackte Tatsache war, fand sie dennoch ein halbes Jahrhundert hindurch nicht die mindeste Anerkennung. Besonders hinderlich war die mächtige Autorität von Haller, der sie hartnäckig bekämpfte mit dem Dogma: »Es gibt kein Werden! Kein Teil im Tierkörper ist vor dem anderen gemacht worden, und alle sind [S. 35] zugleich erschaffen.« Wolff, der nach Petersburg gehen mußte, war schon lange tot, als die vergessenen, von ihm beobachteten Tatsachen von Lorenz Oken in Jena (1806) aufs neue entdeckt und richtig gedeutet wurden.

Keimblätterlehre. Nachdem durch Oken die Epigenesistheorie von Wolff bestätigt worden war, warfen sich in Deutschland mehrere junge Naturforscher mit großem Eifer auf die genauere Untersuchung der Keimesgeschichte. Der bedeutendste war Karl Ernst Baer; sein berühmtes Hauptwerk erschien 1828 unter dem Titel: »Entwickelungsgeschichte der Tiere, Beobachtung und Reflexion«. Nicht allein sind darin die Vorgänge der Keimbildung ausgezeichnet klar und vollständig beschrieben, sondern auch zahlreiche geistvolle Spekulationen daran geknüpft. Die zwei blattförmigen Schichten, welche in der runden Keimscheibe der höheren Wirbeltiere zuerst auftreten, zerfallen nach Baer zunächst in je zwei Blätter, und diese vier Keimblätter verwandeln sich in vier Röhren. Durch sehr verwickelte Prozesse der Epigenesis entstehen daraus die späteren Organe, und zwar bei dem Menschen und bei allen Wirbeltieren in wesentlich gleicher Weise. Unter den vielen einzelnen Entdeckungen von Baer war eine der wichtigsten das menschliche Ei. Bis dahin hatte man beim Menschen, wie bei allen anderen Säugetieren, für Eier kleine Bläschen gehalten, die sich zahlreich im Eierstock finden. Erst Baer zeigte (1827), daß die wahren Eier in diesen Bläschen, den »Graafschen Follikeln«, eingeschlossen und viel kleiner sind, Kügelchen von nur 0,2 mm Durchmesser, unter günstigen Verhältnissen eben als Pünktchen mit bloßem Auge zu sehen. Auch entdeckte er zuerst, daß aus dieser kleinen Eizelle der Säugetiere sich zunächst eine charakteristische Keimblase entwickelt, eine Hohlkugel mit flüssigem Inhalt, deren Wand die dünne Keimhaut bildet.

Eizelle und Samenzelle. Zehn Jahre, nachdem Baer der Embryologie durch seine Keimblätterlehre eine feste Grundlage gegeben, entstand für dieselbe eine neue wichtige Aufgabe durch die Begründung der Zellentheorie (1838). Wie verhalten sich das Ei der Tiere und die daraus entstehenden Keimblätter zu den Geweben und Zellen, welche den entwickelten Tierkörper zusammensetzen? Die richtige Beantwortung dieser inhaltschweren Frage gelang um die Mitte des 19. Jahrhunderts zwei Schülern von Johannes Müller: Robert Remak und Albert Kölliker. Sie wiesen nach, daß das Ei ursprünglich nichts anderes ist als eine einfache Zelle, und daß auch die zahlreichen Keimkörper oder »Furchungskugeln«, welche durch wiederholte Teilung daraus entstehen, einfache Zellen sind. Aus diesen »Furchungzellen« [S. 36] bauen sich zunächst die Keimblätter auf, und weiterhin durch Arbeitsteilung oder Differenzierung derselben die verschiedenen Organe. Kölliker erwarb sich das große Verdienst, auch die schleimartige Samenflüssigkeit der männlichen Tiere als Anhäufung von mikroskopischen kleinen Zellen nachzuweisen. Die beweglichen stecknadelförmigen »Samentierchen« (Spermatozoen) sind nichts anderes als eigentümliche »Geißelzellen«, wie ich (1866) zuerst an den Samenfäden der Schwämme nachgewiesen habe. Damit war für beide wichtige Zeugungsstoffe der Tiere, das männliche Sperma und das weibliche Ei, bewiesen, daß auch sie der Zellentheorie sich fügen.

Gasträatheorie. Alle älteren Untersuchungen über Keimbildung betrafen den Menschen und die höheren Wirbeltiere, vor allem aber den Vogelkeim: denn das Hühnerei ist das größte und bequemste Objekt dafür und steht jederzeit in beliebiger Menge zur Verfügung; man kann in der Brutmaschine sehr bequem das Ei ausbrüten und dabei stündlich die ganze Reihe der Umbildungen, von der einfachen Eizelle bis zum fertigen Vogelkörper innerhalb dreier Wochen beobachten. Auch Baer hatte nur für die verschiedenen Klassen der Wirbeltiere die Übereinstimmung in der charakteristischen Bildung der Keimblätter und in der Entstehung der einzelnen Organe aus derselben nachweisen können. Dagegen in den zahlreichen Klassen der Wirbellosen — also der großen Mehrzahl der Tiere — schien die Keimung in wesentlich verschiedener Weise abzulaufen, und den meisten schienen wirkliche Keimblätter ganz zu fehlen. Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurden solche auch bei einzelnen Wirbellosen nachgewiesen, so von Kölliker 1844 bei den Cephalopoden und von Huxley 1849 bei den Medusen. Besonders wichtig wurde sodann die Entdeckung von Kowalevsky (1866), daß das niederste Wirbeltier, der Lanzelot oder Amphioxus, sich genau in derselben, und zwar in einer sehr ursprünglichen Weise entwickelt wie ein wirbelloses, anscheinend ganz entferntes Manteltier, die Seescheide oder Ascidia. Auch bei verschiedenen Würmern, Sterntieren und Gliedertieren wies Kowalevsky eine ähnliche Bildung der Keimblätter nach. Ich selbst war damals (seit 1866) mit der Entwickelungsgeschichte der Spongien, Korallen, Medusen und Siphonophoren beschäftigt, und da ich auch bei diesen niedersten Klassen der vielzelligen Tiere überall dieselbe Bildung von zwei primären Keimblättern fand, gelangte ich zu der Überzeugung, daß dieser bedeutungsvolle Keimungsvorgang im ganzen Tierreiche derselbe ist.

Besonders wichtig erschien mir dabei der Umstand, daß bei den Schwammtieren und bei den niederen Nesseltieren (Polypen, [S. 37] Medusen) der Körper lange Zeit hindurch oder selbst zeitlebens nur aus zwei einfachen Zellenschichten besteht. Schon Huxley hatte sie bei den Medusen mit den beiden primären Keimblättern der Wirbeltiere verglichen. Gestützt auf diese Beobachtungen und Vergleichungen, stellte ich dann 1872 in meiner »Biologie der Kalkschwämme« die »Gasträatheorie« auf, deren wesentlichste Lehrsätze folgende sind: I. Das ganze Tierreich zerfällt in zwei wesentlich verschiedene Hauptgruppen: die einzelligen Urtiere (Protozoa) und die vielzelligen Gewebtiere (Metazoa); der ganze Organismus der Protozoen bleibt zeitlebens eine einfache Zelle (seltener ein lockerer Zellverein ohne Gewebebildung, ein Coenobium). II. Dagegen ist der Organismus der Metazoen nur im ersten Beginn einzellig, später aus vielen Zellen zusammengesetzt, welche Gewebe bilden. III. Nur bei den Metazoen entstehen wirkliche Keimblätter, und aus diesen Gewebe, die den Protozoen noch ganz fehlen. IV. Bei allen Metazoen entstehen zunächst nur zwei primäre Keimblätter, die überall dieselbe wesentliche Bedeutung haben: aus dem äußeren Hautblatt entwickelt sich die äußere Hautdecke und das Nervensystem, aus dem inneren Darmblatt hingegen der Darmkanal und alle übrigen Organe. V. Die Keimform, welche überall zunächst aus dem befruchteten Ei hervorgeht, und welche allein aus diesen beiden primären Keimblättern besteht, ist die Darmlarve oder der Becherkeim (Gastrula); ihr becherförmiger, zweischichtiger Körper umschließt ursprünglich eine einfache verdauende Höhle, den Urdarm, und dessen einfache Öffnung ist der Urmund. Dies sind die ältesten Organe des vielzelligen Tierkörpers, und die beiden Zellenschichten seiner Wand sind seine ältesten Gewebe; alle anderen Organe und Gewebe sind erst später (sekundär) daraus hervorgegangen. VI. Aus dieser Gleichartigkeit oder Homologie der Gastrula in sämtlichen Stämmen und Klassen der Gewebtiere zog ich nach dem Biogenetischen Grundgesetze den Schluß, daß alle Metazoen ursprünglich von einer gemeinsamen Stammform abstammen, Gasträa, und daß diese uralte, längst ausgestorbene Stammform im wesentlichen die Körperform und Zusammensetzung der heutigen, durch Vererbung erhaltenen Gastrula besaß. VII. Dieser phylogenetische Schluß aus der Vergleichung der ontogenetischen Tatsachen wird auch dadurch gerechtfertigt, daß noch heute einzelne Gasträaden existieren, sowie älteste Formen anderer Tierstämme, deren Organisation sich nur sehr wenig über diese letzteren erhebt. VIII. Bei der weiteren Entwickelung der verschiedenen Gewebtiere aus der Gastrula sind zwei verschiedene Hauptgruppen zu unterscheiden: [S. 38] Die älteren Niedertiere (Coelenteria) bilden noch keine Leibeshöhle und besitzen weder Blut noch After; das ist der Fall bei den Gasträaden, Spongien, Nesseltieren und Plattentieren. Die jüngeren Obertiere (Coelomaria) hingegen besitzen eine echte Leibeshöhle und meistens auch Blut und After; dahin gehören die Wurmtiere (Vermalia) und die höheren typischen Tierstämme, welche sich aus diesen entwickelt haben, die Sterntiere, Weichtiere, Gliedertiere, Manteltiere und Wirbeltiere.

Eizelle und Samenzelle des Menschen. Das Ei des Menschen ist, wie das aller anderen Gewebtiere, eine einfache Zelle, und diese kleine kugelige Eizelle (von nur 0,2 mm Durchmesser) hat dieselbe charakteristische Beschaffenheit wie die aller anderen, lebendig gebärenden Säugetiere. Dasselbe gilt von den beweglichen Spermien oder Samenfäden des Mannes, den winzig kleinen, fadenförmigen Geißelzellen, welche sich zu Millionen in jedem Tröpfchen des schleimartigen männlichen Samens (Sperma) finden; sie wurden früher wegen ihrer lebhaften Bewegung für besondere »Samentierchen« (Spermatozoa) gehalten. Auch die Entstehung dieser beiden wichtigen Geschlechtszellen in der Geschlechtsdrüse ist dieselbe beim Menschen und den übrigen Säugetieren; sowohl die Eier im Eierstock des Weibes, als die Samenfäden im Hoden oder Samenstock des Mannes entstehen überall auf dieselbe Weise, aus der Zellenschicht, welche die Leibeshöhle auskleidet.

Empfängnis oder Befruchtung. Der wichtigste Augenblick im Leben eines jeden Menschen, wie jedes anderen Gewebtieres, ist der Moment, in welchem seine individuelle Existenz beginnt; es ist der Augenblick, in welchem die Geschlechtszellen der beiden Eltern zusammentreffen und zur Bildung einer einzigen, einfachen Zelle verschmelzen. Diese neue Zelle, die »befruchtete Eizelle«, ist die individuelle Stammzelle (Cytula), aus deren wiederholter Teilung die Zellen der Keimblätter und die Gastrula hervorgehen. Erst mit der Bildung dieser Stammzelle, also mit dem Vorgange der Befruchtung selbst, beginnt die Existenz der Person, des selbständigen Einzelwesens. Diese ontogenetische Tatsache ist überaus wichtig, denn aus ihr allein schon lassen sich die weitestreichenden Schlüsse ableiten. Zunächst folgt daraus die klare Erkenntnis, daß der Mensch, gleich allen anderen Gewebtieren, alle persönlichen Eigenschaften, körperliche und geistige, von seinen beiden Eltern durch Vererbung erhalten hat; und weiterhin die inhaltschwere Überzeugung, daß die neue, so entstandene Person unmöglich Anspruch haben kann, »unsterblich« zu sein.

Die feineren Vorgänge bei der Empfängnis und der geschlechtlichen [S. 39] Zeugung überhaupt sind daher von allerhöchster Wichtigkeit; sie sind uns in ihren Einzelheiten erst seit 1875 bekannt geworden. Das einzige wesentliche Ereignis bei der Befruchtung ist die Verschmelzung der beiden Geschlechtszellen und ihrer Kerne. Von den Millionen männlicher Geißelzellen, welche die weibliche Eizelle umschwärmen, dringt nur eine einzige in deren Plasmakörper ein. Die Kerne beider Zellen, der Spermakern und der Eikern, verschmelzen miteinander. So entsteht eine neue Zelle, welche die erblichen Eigenschaften beider Eltern in sich vereinigt; der Spermakern überträgt die väterlichen, der Eikern die mütterlichen Charakterzüge auf die Stammzelle, aus der sich nun das Kind entwickelt; das gilt ebenso von den körperlichen wie von den geistigen Eigenschaften.

Keimanlage des Menschen. Die Bildung der Keimblätter durch wiederholte Teilung der Stammzelle, die Entstehung der Gastrula und der weiterhin aus ihr hervorgehenden Keimformen geschieht beim Menschen genau so wie bei den übrigen höheren Säugetieren, unter denselben eigentümlichen Besonderheiten, welche diese Gruppe vor den niederen Wirbeltieren auszeichnen. Die bedeutungsvolle Keimform der Chordula oder »Chordalarve«, die zunächst aus der Gastrula entsteht, zeigt bei allen Wirbeltieren im wesentlichen die gleiche Bildung: ein einfacher gerader Achsenstab, die Chorda, geht der Länge nach durch die Hauptachse des länglich-runden, schildförmigen Körpers (des »Keimschildes«); oberhalb der Chorda entwickelt sich aus dem äußeren Keimblatt das Rückenmark, unterhalb das Darmrohr. Dann erst erscheinen zu beiden Seiten, rechts und links vom Achsenstab, die Ketten der »Urwirbel«, die Anlagen der Muskelplatten, mit denen die Gliederung des Wirbeltierkörpers beginnt. Vorn am Darm treten beiderseits die Kiemenspalten auf, die Öffnungen des Schlundes, durch welche ursprünglich bei unseren Fischahnen das vom Munde aufgenommene Atemwasser an den Seiten des Kopfes nach außen trat. In zäher Vererbung treten diese Kiemenspalten, die nur bei den fischartigen, im Wasser lebenden Vorfahren von Bedeutung waren, auch heute noch beim Menschen wie bei allen übrigen Wirbeltieren auf; sie verschwinden später. Selbst nachdem schon am Kopfe die fünf Hirnblasen, seitlich die Anfänge der Augen und Ohren sichtbar geworden, nachdem am Rumpfe die Anlagen der beiden Beinpaare in Form rundlicher platter Knospen aus dem fischartigen Menschenkeim hervorgesproßt sind, ist dessen Bildung derjenigen anderer Wirbeltiere noch so ähnlich, daß man sie nicht unterscheiden kann.

Ähnlichkeit der Wirbeltierkeime. Die wesentliche Übereinstimmung in der äußeren Körperform und dem inneren Bau, [S. 40] welche die Embryonen des Menschen und der übrigen Wirbeltiere in dieser früheren Bildungsperiode zeigen, ist eine embryologische Tatsache ersten Ranges; aus ihr lassen sich nach dem Biogenetischen Grundgesetze die wichtigsten Schlüsse ableiten. Denn es gibt dafür keine andere Erklärung als die Annahme einer Vererbung von einer gemeinsamen Stammform. Wenn wir sehen, daß in einem bestimmten Stadium die Keime des Menschen und des Affen, des Hundes und des Kaninchens, des Schweines und des Schafes zwar als höhere Wirbeltiere erkennbar, aber sonst nicht zu unterscheiden sind, so kann diese Tatsache nur durch gemeinsame Abstammung erklärt werden. Diese Erklärung erscheint um so sicherer, wenn wir die später eintretende Sonderung oder Divergenz jener Keimformen verfolgen. Je näher sich zwei Tierformen in der gesamten Körperbildung stehen, desto länger bleiben sich auch ihre Embryonen ähnlich, und desto enger hängen sie auch im Stammbaum der betreffenden Gruppe zusammen, desto näher sind sie »stammverwandt«. Daher erscheinen die Embryonen des Menschen und der Menschenaffen auch später noch höchst ähnlich, auf einer hoch entwickelten Bildungsstufe, auf welcher ihre Unterschiede von den Embryonen anderer Säugetiere sofort erkennbar sind.

Die Keimhüllen des Menschen. Die hohe Bedeutung der eben besprochenen Ähnlichkeit tritt nicht nur bei Vergleichung der Wirbeltier-Embryonen selbst hervor, sondern auch bei derjenigen ihrer Keimhüllen. Es zeichnen sich nämlich alle Wirbeltiere der drei höheren Klassen, Reptilien, Vögel und Säugetiere, vor den niederen Klassen durch die Bildung eigentümlicher Embryonalhüllen aus, des Amnion (Wasserhaut) und des Serolemma (seröse Haut). In diesen mit Wasser gefüllten Säcken liegt der Embryo eingeschlossen und ist dadurch gegen Druck und Stoß geschützt. Diese zweckmäßige Schutzeinrichtung ist wahrscheinlich erst entstanden, als die ältesten Reptilien (Proreptilien), die gemeinsamen Stammformen aller Amniontiere, vollständig an das Landleben sich anpaßten. Bei ihren direkten Vorfahren, den Amphibien, fehlt diese Hüllenbildung noch ebenso wie bei den Fischen; sie war bei diesen Wasserbewohnern überflüssig. Mit der Erwerbung dieser Schutzhüllen stehen bei allen Amnioten noch zwei andere Veränderungen in engem Zusammenhang, erstens der gänzliche Verlust der Kiemen (während die Kiemenbogen und die Spalten dazwischen als »rudimentäre Organe« sich forterben), und zweitens die Bildung der Allantois. Dieser blasenförmige, mit Wasser gefüllte Sack wächst bei dem Embryo aller Amniontiere aus dem Enddarm hervor und ist nichts anderes als die vergrößerte [S. 41] Harnblase der Amphibien-Ahnen. Aus ihrem innersten und untersten Teile bildet sich später die bleibende Harnblase der Amnioten, während der größere äußere Teil rückgebildet wird. Gewöhnlich spielt dieser eine Zeitlang eine wichtige Rolle als Atmungsorgan des Embryo, indem sich mächtige Blutgefäße auf seiner Wand ausbreiten. Sowohl die Entstehung der Keimhüllen, als auch der Allantois geschieht beim Menschen genau ebenso wie bei allen anderen Amnioten und durch dieselben verwickelten Prozesse des Wachstums; der Mensch ist ein echtes Amniontier.

Die Placenta des Menschen. Die Ernährung des menschlichen Keimes im Mutterleibe geschieht durch ein eigentümliches, äußerst blutreiches Organ, die sogenannte Placenta, den Aderkuchen oder Blutgefäßkuchen. Sie wird nach erfolgter Geburt des Kindes abgelöst und als sogenannte »Nachgeburt« ausgestoßen. Die Placenta besteht aus zwei wesentlich verschiedenen Teilen, dem Fruchtkuchen oder der kindlichen Placenta und dem Mutterkuchen oder dem mütterlichen Gefäßkuchen. Dieser letztere enthält reich entwickelte Bluträume, welche ihr Blut durch die Gefäße der Gebärmutter zugeführt erhalten. Der Fruchtkuchen dagegen wird aus zahlreichen verästelten Zotten gebildet, welche von der Außenfläche der kindlichen Allantois hervorwachsen und ihr Blut von deren Nabelgefäßen beziehen. Die hohlen, blutgefüllten Zotten des Fruchtkuchens wachsen in die Bluträume des Mutterkuchens hinein, und die zarte Scheidewand zwischen beiden wird so sehr verdünnt, daß durch sie hindurch ein unmittelbarer Stoffaustausch der ernährenden Blutflüssigkeit erfolgen kann.

In den einzelnen Gruppen der Zottentiere ist die Ausbildung des Mutterkuchens wesentlich verschieden. Höchst wichtig ist nun die erst 1890 von Emil Selenka entdeckte Tatsache, daß gerade die Menschenaffen, besonders der Orang (Satyrus), mit dem Menschen gewisse Eigentümlichkeiten, die sich sonst nirgends finden, gemeinsam haben (Siehe den 23. Vortrag meiner Anthropogenie). Also bestätigt sich auch hier wieder der Pithecometrasatz von Huxley: »Die Unterschiede zwischen dem Menschen und den Menschenaffen sind geringer als diejenigen zwischen den letzteren und den niederen Affen.« Die angeblichen »Beweise gegen die nahe Blutsverwandtschaft des Menschen und der Affen« ergaben sich bei genauer Untersuchung der tatsächlichen Verhältnisse auch hier wieder umgekehrt als wichtige Gründe zugunsten derselben.

Jeder Naturforscher, der mit offenen Augen in diese dunkeln, aber höchst interessanten Labyrinthgänge unserer Keimesgeschichte eindringt, und der imstande ist, sie kritisch mit derjenigen der übrigen Säugetiere zu vergleichen, wird in denselben die bedeutungsvollsten [S. 42] Lichtträger für das Verständnis unserer Stammesgeschichte finden. Denn die verschiedenen Stufen der Keimbildung werfen als Vererbungs-Phänomene ein helles Licht auf die entsprechenden Stufen unserer Ahnenreihe, gemäß dem Biogenetischen Grundgesetze. (Kap. 5.) Aber auch die Anpassungserscheinungen, die Bildung der vergänglichen Embryonalorgane — der charakteristischen Keimhüllen, und vor allem der Placenta — geben uns ganz bestimmte Aufschlüsse über unsere nahe Stammverwandtschaft mit den Primaten.

Fünftes Kapitel.

Unsere Stammesgeschichte.

Monistische Studien über Ursprung und Abstammung des Menschen von den Wirbeltieren, zunächst von den Herrentieren.

Der jüngste unter den großen Zweigen am lebendigen Baume der Biologie ist diejenige Naturwissenschaft, welche wir Stammesgeschichte oder Phylogenie nennen. Sie hat sich noch weit später und unter viel größeren Schwierigkeiten entwickelt als ihre natürliche Schwester, die Keimesgeschichte oder Ontogenie. Diese hatte zur Aufgabe die Erkenntnis der geheimnisvollen Vorgänge, durch welche sich die organischen Individuen, die Einzelwesen der Tiere und Pflanzen, aus dem Ei entwickeln. Die Stammesgeschichte hingegen hat die viel dunklere und schwierigere Frage zu beantworten: »Wie sind die organischen Spezies entstanden, die einzelnen Arten der Tiere und Pflanzen?«

Die Ontogenie konnte zur Lösung ihrer nahe liegenden Aufgabe zunächst unmittelbar den empirischen Weg der Beobachtung betreten; sie brauchte nur Tag für Tag und Stunde für Stunde die sichtbaren Umbildungen zu verfolgen, welche der organische Keim innerhalb kurzer Zeit während der Entwickelung aus dem Ei erfährt. Viel schwieriger war von vornherein die Aufgabe der Phylogenie; denn die langsamen Prozesse der allmählichen Umbildung, welche die Entstehung der Tier- und Pflanzenarten bewirken, vollziehen sich unmerklich im Verlaufe [S. 43] von Jahrtausenden und Jahrmillionen; ihre unmittelbare Beobachtung ist nur in sehr engen Grenzen möglich, und der weitaus größte Teil dieser historischen Vorgänge kann nur indirekt erschlossen werden: durch vergleichende Benutzung von empirischen Urkunden, die sehr verschiedenen Gebieten angehören, der Paläontologie, Ontogenie und Morphologie. Dazu kam noch das gewaltige Hindernis, welches der natürlichen Stammesgeschichte durch die enge Verknüpfung der »Schöpfungsgeschichte« mit übernatürlichen Mythen und religiösen Dogmen bereitet wurde; es ist daher begreiflich, daß die wissenschaftliche Existenz der wahren Stammesgeschichte erst unter vielen Mühen und schweren Kämpfen errungen und gesichert werden mußte.

Mythische Schöpfungsgeschichte. Alle ernstlichen Versuche, welche bis zum Beginne des 19. Jahrhunderts zur Beantwortung des Problems von der Entstehung der Organismen unternommen wurden, blieben in dem mythologischen Labyrinthe der übernatürlichen Schöpfungssagen stecken. Einzelne Bemühungen hervorragender Denker, sich von diesem zu befreien und zu einer natürlichen Auffassung zu gelangen, blieben erfolglos. Die mannigfaltigsten Schöpfungsmythen entwickelten sich bei allen älteren Kulturvölkern im Zusammenhang mit der Religion, und während des Mittelalters war es naturgemäß das zur Herrschaft gelangte Christentum, welches die Beantwortung der Schöpfungsfrage für sich in Anspruch nahm. Da die Bibel als die unerschütterliche Grundlage des christlichen Religionsgebäudes galt, wurde die ganze Schöpfungsgeschichte dem ersten Buche Moses entnommen. Auf dieses stützte sich auch noch der große schwedische Naturforscher Carl Linné, als er 1735 in seinem grundlegenden »Systema Naturae« den ersten Versuch zu einer systematischen Ordnung, Benennung und Klassifikation der unzähligen verschiedenen Naturkörper unternahm. Als bestes, praktisches Hilfsmittel derselben führte er die bekannte doppelte Namengebung ein; jeder einzelnen Art von Tieren und Pflanzen gab er einen besonderen Artnamen und stellte diesem einen allgemeinen Gattungsnamen voran. In einer Gattung (Genus) wurden die nächstverwandten Arten (Species) zusammengestellt.

Höchst verhängnisvoll wurde für die Wissenschaft das theoretische Dogma, welches schon von Linné selbst mit seinem praktischen Speziesbegriffe verknüpft wurde. Die erste Frage, welche sich dem denkenden Systematiker aufdrängen mußte, war natürlich die Frage nach dem eigentlichen Wesen des Spezies-Begriffes, nach Inhalt und Umfang desselben. Und gerade diese Grundfrage beantwortete sein Schöpfer in naivster Weise, in Anlehnung an den allgemein [S. 44] gültigen Mosaischen Schöpfungsmythus: »Es gibt so viel verschiedene Arten, als im Anfange vom unendlichen Wesen verschiedene Formen erschaffen worden sind«. Mit diesem Dogma war jede natürliche Erklärung der Artentstehung abgeschnitten. Linné kannte nur die gegenwärtig existierende Tier- und Pflanzenwelt; er hatte keine Ahnung von den viel zahlreicheren ausgestorbenen Arten, welche in den früheren Perioden der Erdgeschichte unseren Erdball in wechselnder Gestaltung bevölkert haben.

Erst im Anfange des 19. Jahrhunderts wurden diese fossilen Tiere durch Cuvier näher bekannt. Er gab in seinem berühmten Werke über die fossilen Knochen der vierfüßigen Wirbeltiere (1812) die erste genaue Beschreibung und richtige Deutung zahlreicher Versteinerungen. Zugleich wies er nach, daß in den verschiedenen Perioden der Erdgeschichte eine Reihe von ganz verschiedenen Tierbevölkerungen aufeinander gefolgt war. Da nun Cuvier hartnäckig an Linnés Lehre von der absoluten Beständigkeit der Spezies festhielt, glaubte er ihre Entstehung nur durch die Annahme erklären zu können, daß eine Reihe von großen Katastrophen und von wiederholten Neuschöpfungen in der Erdgeschichte auf einander gefolgt sei; im Beginne jeder großen Erdrevolution sollten alle lebenden Geschöpfe vernichtet und am Ende derselben eine neue Bevölkerung erschaffen worden sein. Obgleich diese Katastrophentheorie von Cuvier zu den absurdesten Folgerungen führte und auf den nackten Wunderglauben hinauslief, gewann sie doch bald allgemeine Geltung und blieb bis auf Darwin (1859) herrschend.

Transformismus. Goethe. Daß die herrschenden Vorstellungen von der absoluten Beständigkeit und übernatürlichen Schöpfung der organischen Arten tiefer denkende Forscher nicht befriedigen konnten, ist leicht einzusehen. Daher finden wir denn schon in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts einzelne hervorragende Geister mit Versuchen beschäftigt, zu einer naturgemäßen Lösung des großen »Schöpfungsproblems« zu gelangen. Allen voran war unser größter Dichter und Denker Wolfgang Goethe durch seine vieljährigen und eifrigen morphologischen Studien schon am Ende des 18. Jahrhunderts zu der klaren Einsicht in den inneren Zusammenhang aller organischen Formen und zu der festen Überzeugung eines gemeinsamen natürlichen Ursprungs gelangt. In seiner berühmten »Metamorphose der Pflanzen« (1790) leitete er alle verschiedenen Formen der Gewächse von einer Urpflanze ab, und alle verschiedenen Organe derselben von einem Urorgane, dem Blatt. In seiner Wirbeltheorie des Schädels versuchte [S. 45] er zu zeigen, daß die Schädel aller verschiedenen Wirbeltiere — mit Inbegriff des Menschen! — in gleicher Weise aus bestimmt geordneten Knochengruppen zusammengesetzt seien, und daß diese letzteren nichts anderes seien als umgebildete Wirbel. Grade seine eingehenden Studien über vergleichende Knochenlehre hatten Goethe zu der festen Überzeugung von der Einheit der Organisation geführt; er hatte erkannt, daß das Knochengerüst des Menschen nach demselben Typus zusammengesetzt sei wie das aller übrigen Wirbeltiere — »geformt nach einem Urbilde, das nur in seinen sehr beständigen Teilen mehr oder weniger hin- und herweicht und sich noch täglich durch Fortpflanzung aus- und umbildet« —. Diese Umbildung oder Transformation läßt Goethe durch die beständige Wechselwirkung von zwei gestaltenden Bildungskräften geschehen, einer inneren Zentripetalkraft des Organismus, dem »Spezifikationstrieb«, und einer äußeren Zentrifugalkraft, dem Variationstrieb oder der »Idee der Metamorphose«; erstere entspricht dem, was wir heute Vererbung, letztere dem, was wir Anpassung nennen. Wie tief Goethe durch diese naturphilosophischen Studien über »Bildung und Umbildung organischer Naturen« in deren Wesen eingedrungen war, und inwiefern er demnach als der bedeutendste Vorläufer von Darwin und Lamarck betrachtet werden kann, ist aus den interessanten Stellen seiner Werke zu ersehen, welche ich im vierten Vortrage meiner Natürlichen Schöpfungsgeschichte zusammengestellt habe. In meinem Vortrage über »Die Naturanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck« (Eisenach 1882) habe ich dies näher begründet. Doch kamen diese naturgemäßen Entwickelungsideen von Goethe ebenso wie ähnliche Vorstellungen von Kant, Oken, Treviranus und anderen Naturphilosophen im Beginne des 19. Jahrhunderts nicht über gewisse allgemeine Überzeugungen hinaus. Es fehlte ihnen noch der große Hebel, dessen die »natürliche Schöpfungsgeschichte« zu ihrer Begründung durch die Kritik des Speziesdogma bedurfte, und diese verdanken wir erst Lamarck.

Deszendenztheorie oder Abstammungslehre. Lamarck (1809). Den ersten eingehenden Versuch zu einer wissenschaftlichen Begründung des Transformismus unternahm im Beginne des 19. Jahrhunderts der große französische Naturphilosoph Jean Lamarck, der bedeutendste Gegner seines Kollegen Cuvier in Paris. Schon 1802 hatte derselbe in seinen »Betrachtungen über die lebenden Naturkörper« die bahnbrechenden Ideen über die Unbeständigkeit und Umbildung der Arten ausgesprochen, die er dann 1809 in den zwei Bänden seines tiefsinnigsten Werkes, der Philosophie zoologique, eingehend begründete. Hier führte [S. 46] Lamarck zum ersten Male — gegenüber dem herrschenden Spezies-Dogma — den richtigen Gedanken aus, daß die organische »Art oder Spezies« eine künstliche Abstraktion sei, ein Begriff von relativem Werte, ebenso wie die übergeordneten Begriffe der Gattung, Familie, Ordnung und Klasse. Er behauptete ferner, daß alle Arten veränderlich und im Laufe sehr langer Zeiträume aus älteren Arten durch Umbildung entstanden seien. Die gemeinsamen Stammformen, von denen dieselben abstammen, waren ursprünglich ganz einfache und niedere Organismen; die ersten und ältesten entstanden durch Urzeugung. Während durch Vererbung der Typus sich beständig erhält, werden anderseits durch Anpassung, durch Gewohnheit und Übung der Organe, die Arten allmählich umgebildet. Auch unser menschlicher Organismus ist auf dieselbe natürliche Weise durch Umbildung aus einer Reihe von affenartigen Säugetieren entstanden. Für all diese Vorgänge, wie überhaupt für alle Erscheinungen in der Natur und im Geistesleben, nimmt Lamarck ausschließlich mechanische, physikalische und chemische Vorgänge als wahre, bewirkende Ursachen an. Sein Werk enthält die Elemente für ein rein monistisches Natursystem auf Grund der Entwickelungslehre.

Man hätte erwarten sollen, daß dieser großartige Versuch, die Abstammungslehre oder Deszendenztheorie wissenschaftlich zu begründen, alsbald den herrschenden Mythus von der Speziesschöpfung erschüttert und einer natürlichen Entwickelungslehre Bahn gebrochen hätte. Indessen vermochte Lamarck gegenüber der konservativen Autorität seines großen Gegners Cuvier ebensowenig durchzudringen, wie zwanzig Jahre später sein Kollege und Gesinnungsgenosse Géoffroy St. Hilaire. Die berühmten Kämpfe, welcher dieser Naturphilosoph 1830 im Schoße der Pariser Akademie mit Cuvier zu bestehen hatte, endigten mit einem vollständigen Siege des letzteren. Die mächtige Entfaltung, welche zu jener Zeit das empirische Studium der Biologie fand, die Fülle von interessanten Entdeckungen auf dem Gebiete der vergleichenden Anatomie und Physiologie, die Begründung der Zellentheorie und die Fortschritte der Ontogenie gaben den Zoologen und Botanikern einen solchen Überfluß von dankbarem Arbeitsmaterial, daß darüber die schwierige und dunkle Frage nach der Entstehung der Arten ganz vergessen wurde. Man beruhigte sich bei dem althergebrachten Schöpfungs-Dogma. Selbst nachdem der große englische Naturforscher Charles Lyell 1830 in seinen Prinzipien der Geologie die abenteuerliche Katastrophentheorie von Cuvier widerlegt und für die anorganische Natur unseres Planeten einen natürlichen und kontinuierlichen Entwickelungsgang nachgewiesen hatte, fand sein einfaches Kontinuitätsprinzip keine Anwendung auf die organische Natur. Die [S. 47] Anfänge der natürlichen Phylogenie, welche in Lamarcks Werke verborgen lagen, wurden ebenso vergessen, wie die Keime zu ihrer natürlichen Ontogenie, welche 50 Jahre früher (1759) Caspar Friedrich Wolff in seiner Theorie der Generation gegeben hatte. Hier wie dort verfloß ein volles halbes Jahrhundert, ehe die bedeutendsten Ideen über natürliche Entwickelung die gebührende Anerkennung fanden. Erst nachdem Darwin 1859 die Lösung des Schöpfungsproblems von einer ganz anderen Seite angefaßt und den reichen, inzwischen angesammelten Schatz von empirischen Kenntnissen glücklich dazu verwertet hatte, fing man an, sich auf Lamarck, als seinen bedeutendsten Vorgänger, wieder zu besinnen.

Selektionstheorie. Darwin (1859). Der beispiellose Erfolg von Charles Darwin ist allbekannt. Kein anderer von den zahlreichen großen Geisteshelden unserer Zeit hat mit einem einzigen klassischen Werke einen so gewaltigen, so tiefgehenden und so umfassenden Erfolg erzielt, wie Darwin 1859 mit seinem berühmten Hauptwerk: »Über die Entstehung der Arten im Tier- und Pflanzenreich durch natürliche Züchtung oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe ums Dasein.« Gewiß hat die Reform der vergleichenden Anatomie und Physiologie durch Johannes Müller der ganzen Biologie eine neue, fruchtbare Epoche eröffnet, gewiß waren die Begründung der Zellentheorie durch Schleiden und Schwann, die Reform der Ontogenie durch Baer, die Begründung des Substanzgesetzes durch Robert Mayer und Helmholtz wissenschaftliche Großtaten ersten Ranges; aber keine von ihnen hat nach Tiefe und Ausdehnung eine so gewaltige, unser ganzes menschliches Wissen umgestaltende Wirkung ausgeübt, wie Darwins Theorie von der natürlichen Entstehung der Arten. Denn damit war ja das mystische »Schöpfungsproblem« gelöst, und mit ihm die inhaltsschwere »Frage aller Fragen«, das Problem vom wahren Wesen und von der Entstehung des Menschen selbst.

Vergleichen wir die beiden großen Begründer des Transformismus, so finden wir bei Lamarck überwiegende Neigung zur Deduktion und zum Entwurfe eines vollständigen Naturbildes, bei Darwin hingegen vorherrschende Anwendung der Induktion und das vorsichtige Bemühen, die einzelnen Teile der Deszendenztheorie durch Beobachtung und Experiment möglichst sicher zu begründen. Während der französische Naturphilosoph den damaligen Kreis des empirischen Wissens weit überschritt und eigentlich das Programm der zukünftigen Forschung entwarf, hatte der englische Experimentator umgekehrt den großen Vorteil, das einigende Erklärungsprinzip für eine Masse von empirischen Kenntnissen zu begründen, die bis dahin unverstanden sich angehäuft hatten. So [S. 48] erklärt es sich, daß der Erfolg von Darwin ebenso überwältigend, wie derjenige von Lamarck verschwindend war. Darwin hatte aber nicht allein das große Verdienst, die allgemeinen Ergebnisse der verschiedenen biologischen Forschungskreise in dem gemeinsamen Brennpunkte des Deszendenzprinzips zu sammeln und dadurch einheitlich zu erklären, sondern er entdeckte auch in dem Selektionsprinzip jenen wichtigen Faktor der Umbildung, welcher Lamarck noch gefehlt hatte. Indem Darwin als praktischer Tierzüchter die Erfahrungen der künstlichen Zuchtwahl auf die Organismen im freien Naturzustande anwendete und in dem »Kampf ums Dasein« das auslesende Prinzip der natürlichen Zuchtwahl entdeckte, schuf er seine bedeutungsvolle Selektionstheorie, den eigentlichen Darwinismus.

Stammesgeschichte (Phylogenie) (1866). Unter den zahlreichen und wichtigen Aufgaben, welche Darwin der modernen Biologie stellte, erschien als eine der nächsten die Reform des zoologischen und botanischen Systems. Wenn die unzähligen Tier- und Pflanzenarten nicht durch übernatürliche Wunder »erschaffen«, sondern durch natürliche Umbildung »entwickelt« waren, so ergab sich das »natürliche System« derselben als ihr Stammbaum. Den ersten Versuch, das System in diesem Sinne umzugestalten, unternahm ich selbst (1866) in meiner »Generellen Morphologie der Organismen«. Bis dahin hatte man unter »Entwickelungsgeschichte« sowohl in der Zoologie als in der Botanik ausschließlich diejenige der organischen Individuen verstanden. Ich begründete dagegen die Ansicht, daß dieser Keimesgeschichte (Ontogenie) als zweiter, gleichberechtigter und eng verbundener Zweig die Stammesgeschichte (Phylogenie) gegenüberstehe. Beide Zweige der Entwickelungsgeschichte stehen nach meiner Auffassung im engsten kausalen Zusammenhang; dieser beruht auf der Wechselwirkung der Vererbungs- und Anpassungsgesetze; er fand seinen präzisen und umfassenden Ausdruck in meinem allgemein gültigen »Biogenetischen Grundgesetz«.

Natürliche Schöpfungsgeschichte (1868). Da die neuen, in der »Generellen Morphologie« niedergelegten Anschauungen trotz ihrer streng wissenschaftlichen Fassung bei den sachkundigen Fachgenossen sehr wenig Beachtung und noch weniger Beifall fanden, versuchte ich, den wichtigsten Teil derselben in einem kleineren, mehr populär gehaltenen Werke einem größeren, gebildeten Leserkreise zugänglich zu machen. Dies geschah 1868 in der »Natürlichen Schöpfungsgeschichte« (Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwickelungslehre im allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im besonderen). Wenn der gehoffte [S. 49] Erfolg der »Generellen Morphologie« weit unter meiner berechtigten Erwartung blieb, so ging umgekehrt derjenige der »Natürlichen Schöpfungsgeschichte« weit über dieselbe hinaus. Trotz seiner großen Mängel hat dieses Buch doch viel dazu beigetragen, die Grundgedanken unserer modernen Entwickelungslehre in weiteren Kreisen zu verbreiten. Allerdings konnte ich meinen Hauptzweck, die phylogenetische Umbildung des natürlichen Systems, dort nur in allgemeinen Umrissen andeuten. Indessen habe ich die ausführliche, dort vermißte Begründung des phylogenetischen Systems später in einem größeren Werke nachgeholt, in der »Systematischen Phylogenie« (Entwurf eines natürlichen Systems der Organismen auf Grund ihrer Stammesgeschichte). Der erste Band derselben (1894) behandelt die Protisten und Pflanzen, der zweite (1896) die wirbellosen Tiere, der dritte (1895) die Wirbeltiere. Die Stammbäume der kleineren und größeren Gruppen sind hier so weit ausgeführt, als es mir meine Kenntnis der drei großen »Stammesurkunden« gestattete, der Paläontologie, Ontogenie und Morphologie.

Biogenetisches Grundgesetz. Den engen, ursächlichen Zusammenhang, welcher nach meiner Überzeugung zwischen beiden Zweigen der organischen Entwickelungsgeschichte besteht, hatte ich schon in der Generellen Morphologie als einen der wichtigsten Begriffe des Transformismus hervorgehoben und einen präzisen Ausdruck dafür in mehreren »Thesen von dem Kausalnexus der biontischen und der phyletischen Entwickelung« gegeben: »Die Ontogenesis ist eine kurze und schnelle Rekapitulation der Phylogenesis, bedingt durch die physiologischen Funktionen der Vererbung (Fortpflanzung) und Anpassung (Ernährung)«. Schon Darwin hatte (1859) die große Bedeutung seiner Theorie für die Erklärung der Embryologie betont, und Fritz Müller hatte dieselbe (1864) an dem Beispiele einer einzelnen Tierklasse, der Krebstiere, erläutert, in der geistvollen kleinen Schrift: »Für Darwin« (1864). Ich selbst habe dann die allgemeine Geltung und die fundamentale Bedeutung jenes Biogenetischen Grundgesetzes in einer Reihe von Arbeiten nachzuweisen versucht, insbesondere in der Biologie der Kalkschwämme (1872) und in den »Studien zur Gasträatheorie« (1873-1884). Die dort aufgestellte Lehre von der Homologie der Keimblätter, sowie von den Verhältnissen der Palingenie (Auszugsgeschichte) und der Zenogenie (Störungsgeschichte) ist seitdem durch zahlreiche Arbeiten anderer Zoologen bestätigt worden; durch sie ist es möglich geworden, die natürlichen Gesetze der Einheit in der mannigfaltigen Keimesgeschichte der Tiere nachzuweisen; für ihre Stammesgeschichte [S. 50] ergibt sich daraus die gemeinsame Ableitung von einer einfachsten ursprünglichen Stammform.

Anthropogenie (1874). Der weitschauende Begründer der Abstammungslehre, Lamarck, hatte schon 1809 richtig erkannt, daß sie allgemeine Geltung besitze, und daß also auch der Mensch, als das höchst entwickelte Säugetier, von demselben Stamme abzuleiten sei, wie alle anderen Säugetiere, und diese weiter hinauf von demselben älteren Zweige des Stammbaums, wie die übrigen Wirbeltiere. Er hatte auch schon auf die Vorgänge hingewiesen, durch welche die Abstammung des Menschen vom Affen, als dem nächstverwandten Säugetiere, wissenschaftlich erklärt werden könne. Darwin, der naturgemäß zu derselben Überzeugung gelangt war, ging in seinem Hauptwerk (1859) über diese anstößigste Folgerung seiner Lehre absichtlich hinweg und hat dieselbe erst später (1871) in seinem Werke über »Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl« geistreich ausgeführt. Inzwischen hatte aber schon sein Freund Huxley (1863) jenen wichtigsten Folgeschluß der Abstammungslehre sehr scharfsinnig erörtert in seiner berühmten kleinen Schrift über die »Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur«. An der Hand der vergleichenden Anatomie und Ontogenie und gestützt auf die Tatsachen der Paläontologie zeigte Huxley, daß die »Abstammung des Menschen vom Affen« eine notwendige Konsequenz des Darwinismus sei, und daß eine andere wissenschaftliche Erklärung von der Entstehung des Menschengeschlechts überhaupt nicht gegeben werden könne.

Als weitere Folgerung dieser wichtigen Erkenntnis ergab sich die schwierige Aufgabe, nicht nur die nächstverwandten Säugetier-Ahnen des Menschen in der Tertiärzeit zu erforschen, sondern auch die lange Reihe der älteren tierischen Vorfahren, welche in früheren Zeiträumen der Erdgeschichte gelebt und während ungezählter Jahrmillionen sich entwickelt hatten. Die hypothetische Lösung dieser großen historischen Aufgabe hatte ich schon 1866 in der Generellen Morphologie versucht; weiter ausgeführt habe ich dieselbe 1874 in meiner Anthropogenie (I. Teil: Keimesgeschichte; II. Teil: Stammesgeschichte). Die fünfte umgearbeitete Auflage dieses Buches (1903) enthält diejenige Darstellung der Entwickelungsgeschichte des Menschen, welche bei dem gegenwärtigen Zustande unserer Urkundenkenntnis sich dem fernen Ziele der Wahrheit nach meiner persönlichen Auffassung am meisten nähert; ich war dabei stets bemüht, alle drei empirischen Urkunden, die Paläontologie, Ontogenie und Morphologie (oder vergleichende Anatomie), möglichst gleichmäßig und im Zusammenhange [S. 51] zu benutzen. Sicher werden die hier gegebenen Deszendenz-Hypothesen im einzelnen durch spätere phylogenetische Forschungen vielfach ergänzt und berichtigt werden; aber eben so sicher steht für mich die Überzeugung, daß der dort entworfene Stufengang der menschlichen Stammesgeschichte im großen und ganzen der Wahrheit entspricht. Denn die historische Reihenfolge der Wirbeltierversteinerungen entspricht vollständig der morphologischen Entwickelungsreihe, welche uns die vergleichende Anatomie und Ontogenie enthüllt: auf die silurischen Fische folgen die devonischen Lurchfische, die karbonischen Amphibien, die permischen Reptilien und die mesozoischen Säugetiere; von diesen erscheinen wiederum zunächst in der Trias die niedersten Formen, die Gabeltiere (Monotremen), dann im Jura die Beuteltiere (Marsupialien) und darauf in der Kreide die ältesten Zottentiere (Plazentalien). Von diesen letzteren treten wieder zunächst in der ältesten Tertiärzeit die niedersten Primatenahnen auf, die Halbaffen, darauf die echten Affen, und zwar von den Catarrhinen zuerst die Hundsaffen (Cynopitheken), später die Menschenaffen (Anthropomorphen); aus einem Zweige dieser letzteren ist während der Pliozänzeit der sprachlose Affenmensch entstanden (Pithecanthropus alalus), und aus diesem endlich der sprechende Mensch.

Viel schwieriger und unsicherer als diese Kette unserer Wirbeltier-Ahnen ist diejenige der vorhergehenden wirbellosen Ahnen zu erforschen; denn von ihren weichen skelettlosen Körpern kennen wir keine versteinerten Überreste; die Paläontologie kann uns hier keinerlei Zeugnis liefern. Um so wichtiger werden hier die Urkunden der vergleichenden Anatomie und Ontogenie. Da der menschliche Keim denselben Chordula-Zustand durchläuft wie der Embryo aller anderen Wirbeltiere, da er sich ebenso aus zwei Keimblättern einer Gastrula entwickelt, schließen wir nach dem Biogenetischen Grundgesetze auf die frühere Existenz entsprechender Ahnenformen (Vermalien, Gastraeaden). Vor allem wichtig aber ist die fundamentale Tatsache, daß auch der Keim des Menschen, gleich demjenigen aller anderen Tiere, sich ursprünglich aus einer einfachen Zelle entwickelt; denn diese Stammzelle (Cytula) — die »befruchtete Eizelle« — weist zweifellos auf eine entsprechende einzellige Stammform hin, ein uraltes Protozoon.

Für unsere monistische Philosophie ist es übrigens zunächst ziemlich gleichgültig, wie sich im einzelnen die Stufenreihe unserer Vorfahren noch sicherer feststellen lassen wird. Für sie bleibt als sichere historische Tatsache die folgenschwere Erkenntnis bestehen, daß der Mensch zunächst vom Affen abstammt, weiterhin von einer langen Reihe niederer Wirbeltiere. Die [S. 52] logische Begründung dieses Satzes habe ich schon 1866 im siebenten Buche der »Generellen Morphologie« betont (S. 427): »Der Satz, daß der Mensch sich aus niederen Wirbeltieren, und zwar zunächst aus echten Affen, entwickelt hat, ist ein spezieller Deduktionsschluß, der sich aus dem generellen Induktionsgesetze der Deszendenztheorie mit absoluter Notwendigkeit ergibt.«

Von größter Bedeutung für die definitive Feststellung und Anerkennung dieses fundamentalen Satzes sind die paläontologischen Entdeckungen der letzten Dezennien geworden; insbesondere haben uns die überraschenden Funde von zahlreichen ausgestorbenen Säugetieren der Tertiärzeit in den Stand gesetzt, die Stammesgeschichte dieser wichtigsten Tierklasse, von den niedersten, eierlegenden Monotremen bis zum Menschen hinauf, in ihren Grundzügen klarzulegen. Die vier Hauptgruppen der Zottentiere, die formenreichen Legionen der Raubtiere, Nagetiere, Huftiere und Herrentiere, erscheinen durch tiefe Klüfte getrennt, wenn wir nur die heute noch lebenden Epigonen als Vertreter derselben ins Auge fassen. Diese Klüfte werden aber vollkommen ausgefüllt und die scharfen Unterschiede der vier Legionen gänzlich verwischt, wenn wir ihre tertiären, ausgestorbenen Vorfahren vergleichen, und wenn wir bis in die eozäne Geschichtsdämmerung der ältesten Tertiärzeit hinabsteigen. Da finden wir die große Unterklasse der Zottentiere, die heute mehr als 2500 Arten umfaßt, nur durch eine geringe Zahl von kleinen und unbedeutenden »Urzottentieren« vertreten; und in diesen Prochoriaten erscheinen die Charaktere jener vier divergenten Legionen so gemischt und verwischt, daß wir sie vernünftigerweise nur als gemeinsame Vorfahren derselben deuten können. Sie besitzen alle im wesentlichen dieselbe Bildung des Knochengerüstes und dasselbe typische Gebiß der ursprünglichen Plazentalien mit 44 Zähnen; sie zeichnen sich alle durch die geringe Größe und die unvollkommene Bildung ihres Gehirns aus; sie haben alle kurze Beine und fünfzehige Füße, die mit der flachen Sohle auftreten. Bei manchen dieser ältesten Zottentiere der Eozänzeit war es anfangs zweifelhaft, ob man sie zu den Raubtieren oder Nagetieren, zu den Huftieren oder Herrentieren stellen sollte; so sehr nähern sich hier unten diese vier großen, später so sehr verschiedenen Legionen der Plazentalien. Unzweifelhaft folgt daraus ihr gemeinsamer Ursprung aus einer einzigen Stammgruppe. Diese Urzottentiere lebten schon in der vorhergehenden Kreideperiode und sind wahrscheinlich aus einer Gruppe von insektenfressenden Beuteltieren hervorgegangen.

Die wichtigsten von allen neueren paläontologischen Entdeckungen, [S. 53] welche die Stammesgeschichte der Zottentiere aufgeklärt haben, betreffen unseren eigenen Stamm, die Legion der Herrentiere (Primates). Früher waren versteinerte Reste derselben äußerst selten. Noch Cuvier, der große Gründer der Paläontologie, behauptete bis zu seinem Tode (1832), daß es keine Versteinerungen von Primaten gäbe; zwar hatte er selbst schon den Schädel eines eozänen Halbaffen (Adapis) beschrieben, ihn aber irrtümlich für ein Huftier gehalten. In den letzten Dezennien sind aber gut erhaltene, versteinerte Skelette von Halbaffen und Affen in ziemlicher Zahl entdeckt worden; darunter befinden sich alle die wichtigen Zwischenglieder, welche eine zusammenhängende Ahnenkette von den ältesten Halbaffen bis zum Menschen hinauf darstellen.

Der berühmteste und interessanteste von diesen fossilen Funden ist der versteinerte Affenmensch von Java, welchen der holländische Militärarzt Eugen Dubois 1891 entdeckt hat, der vielbesprochene Pithecanthropus erectus. Er ist in der Tat das vielgesuchte »Missing link«, das angeblich »fehlende Glied« in der Primatenkette, welche sich ununterbrochen vom niedersten Affen bis zum höchst entwickelten Menschen hinaufzieht. Ich habe die hohe Bedeutung, welche dieser merkwürdige Fund besitzt, ausführlich erörtert in dem Vortrage »Über unsere gegenwärtige Kenntnis vom Ursprung des Menschen«, welchen ich am 26. August 1898 auf dem vierten internationalen Zoologenkongreß in Cambridge gehalten habe. Der Paläontologe, welcher die Bedingungen für Bildung und Erhaltung von Versteinerungen kennt, wird die Entdeckung des Pithecanthropus als einen besonders glücklichen Zufall betrachten. Denn als Baumbewohner kommen die Affen nach ihrem Tode (wenn sie nicht zufällig ins Wasser fallen) nur selten unter Verhältnisse, welche die Erhaltung und Versteinerung ihres Knochengerüstes gestatten. Durch den Fund dieses fossilen Affenmenschen von Java ist also auch von seiten der Paläontologie die »Abstammung des Menschen vom Affen« ebenso klar und sicher bewiesen, wie es früher schon durch die Urkunden der vergleichenden Anatomie und Ontogenie geschehen war; wir besitzen jetzt in der Tat alle wesentlichen Urkunden unserer Stammesgeschichte.

Zusatz (1908). Die dreißig Hauptstufen, die sich gegenwärtig in der Stammeskette unserer tierischen Vorfahren unterscheiden und auf sechs Strecken verteilen lassen, habe ich übersichtlich zusammengestellt in meiner Festschrift über: »Unsere Ahnenreihe (Prognotaxis hominis)«. Jena 1908.

[S. 54]

Sechstes Kapitel.

Das Wesen der Seele.

Monistische Studien über den Begriff der Psyche. Aufgaben und Methoden der wissenschaftlichen Psychologie. Psychologische Metamorphosen.

Die Lebenstätigkeiten, welche man allgemein unter dem Begriffe des Seelenlebens oder der psychischen Funktionen zusammenfaßt, sind unter allen uns bekannten Erscheinungen einerseits die wichtigsten und interessantesten, andererseits die verwickeltsten und rätselhaftesten. Da die Naturerkenntnis selbst ein Teil des Seelenlebens ist, und da mithin auch die Anthropologie, ebenso wie die Kosmologie, eine richtige Erkenntnis der »Psyche« zur Voraussetzung hat, so kann man die Psychologie, die wirklich wissenschaftliche Seelenlehre, auch als das Fundament und als die Voraussetzung aller anderen Wissenschaften ansehen; von der anderen Seite betrachtet, ist sie wieder ein Teil der Philosophie, oder der Physiologie, oder der Anthropologie.

Die große Schwierigkeit ihrer naturgemäßen Begründung liegt nun aber darin, daß die Psychologie wiederum die genaue Kenntnis des menschlichen Organismus voraussetzt und vor allem des Gehirns, als des wichtigsten Organs des Seelenlebens. Die große Mehrzahl der sogenannten »Psychologen« besitzt jedoch von diesen anatomischen Grundlagen der Psyche nur sehr unvollständige oder gar keine Kenntnis, und so erklärt sich die bedauerliche Tatsache, daß in keiner anderen Wissenschaft so widersprechende und unhaltbare Vorstellungen über ihren eigenen Begriff und ihre wesentliche Aufgabe herrschen, wie in der Psychologie. Diese Verwirrung ist in den letzten Dezennien um so fühlbarer hervorgetreten, je mehr die großartigen Fortschritte der Anatomie und Physiologie unsere Kenntnis vom Bau und von den Funktionen des wichtigsten Seelenorgans erweitert haben.

Methoden der Seelenforschung. Nach meiner Überzeugung ist das, was man die »Seele« nennt, in Wahrheit eine Naturerscheinung; ich betrachte daher die Psychologie als einen Zweig der Naturwissenschaft — und zwar der Physiologie. Demzufolge muß ich von vornherein betonen, daß wir für dieselbe keine anderen Forschungswege zulassen können als in allen übrigen Naturwissenschaften; [S. 55] d. h. in erster Linie die Beobachtung und das Experiment, in zweiter Linie die Entwickelungsgeschichte und in dritter Linie die theoretische Spekulation, welche durch induktive und deduktive Schlüsse möglichst dem unbekannten »Wesen« der Erscheinung sich zu nähern sucht. Mit Bezug auf seine prinzipielle Beurteilung aber müssen wir zunächst gerade hier den Gegensatz der dualistischen und der monistischen Ansicht scharf ins Auge fassen.

Dualistische Psychologie. Die allgemein herrschende Auffassung des Seelenlebens, welche wir bekämpfen, betrachtet Seele und Leib als zwei verschiedene »Wesen«. Diese beiden Wesen können unabhängig voneinander existieren und sind nicht notwendig aneinander gebunden. Der organische Leib ist ein sterbliches materielles Wesen, chemisch zusammengesetzt aus lebendigem Plasma und den von diesem erzeugten Verbindungen. Die Seele hingegen ist ein unsterbliches, immaterielles Wesen, ein spirituelles Agens, dessen rätselhafte Tätigkeit uns völlig unbekannt ist. Diese übliche Auffassung ist als solche rein spiritualistisch und ihr prinzipielles Gegenteil im gewissen Sinne materialistisch. Sie ist zugleich transzendent und supranaturalistisch; denn sie behauptet die Existenz von Kräften, welche ohne materielle Basis existieren und wirksam sind; sie fußt auf der Annahme, daß außer und über der Natur noch eine »geistige Welt« existiert, eine immaterielle Welt, von der wir durch Erfahrung nichts wissen und unserer Natur nach nichts wissen können.

Diese hypothetische »Geisteswelt«, die von der materiellen Körperwelt ganz unabhängig sein soll, und auf deren Annahme das ganze künstliche Gebäude der dualistischen Weltanschauung ruht, ist lediglich ein Produkt der dichtenden Phantasie; und dasselbe gilt von dem mystischen, eng mit ihr verknüpften Glauben an die »Unsterblichkeit der Seele«, dessen wissenschaftliche Unhaltbarkeit wir nachher noch besonders dartun müssen (im 11. Kapitel). Wenn die in diesem Sagenkreise herrschenden Glaubensvorstellungen wirklich begründet wären, so müßten die betreffenden Erscheinungen nicht dem Substanzgesetze unterworfen sein; diese einzige Ausnahme von dem höchsten kosmologischen Grundgesetze müßte aber erst sehr spät im Laufe der organischen Erdgeschichte eingetreten sein, da sie nur die »Seele« des Menschen und der höheren Tiere betrifft. Auch das Dogma des »freien Willens«, ein anderes wesentliches Stück der dualistischen Psychologie, ist mit dem Substanzgesetze ganz unvereinbar.

Monistische Psychologie. Unsere natürliche Auffassung des Seelenlebens erblickt dagegen in ihm eine Summe von Lebenserscheinungen, [S. 56] welche gleich allen anderen an ein bestimmtes materielles Substrat gebunden sind. Wir wollen diese materielle Basis aller psychischen Tätigkeit, ohne welche dieselbe nicht denkbar ist, vorläufig als Psychoplasma bezeichnen, und zwar deshalb, weil sie durch die chemische Analyse überall als ein Körper nachgewiesen ist, welcher zur Gruppe der Plasmakörper gehört, d. h. jener eiweißartigen Kohlenstoff-Verbindungen, welche sämtlichen Lebensvorgängen zugrunde liegen. Bei den höheren Tieren, welche ein Nervensystem und Sinnesorgane besitzen, ist aus dem Psychoplasma durch Differenzierung das Neuroplasma, die Nervensubstanz, entstanden. Unsere Auffassung ist in diesem Sinne materialistisch. Sie ist aber zugleich empiristisch und naturalistisch; denn unsere wissenschaftliche Erfahrung hat uns noch keine Kräfte kennen gelehrt, welche der materiellen Grundlage entbehren, und keine »geistige Welt«, welche außer der Natur und über der Natur stünde.

Gleich allen anderen Naturerscheinungen sind auch diejenigen des Seelenlebens dem alles beherrschenden Substanzgesetze unterworfen; es gibt auch in diesem Gebiete keine Ausnahme von diesem höchsten kosmologischen Grundgesetze. Die Erscheinungen des niederen Seelenlebens bei den einzelligen Protisten und bei den Pflanzen — aber ebenso auch bei den niederen Tieren —, ihre Reizbarkeit, ihre Reflexbewegungen, ihre Empfindlichkeit und ihr Streben nach Selbsterhaltung beruhen auf physiologischen Vorgängen im Plasma ihrer Zellen, auf physikalischen und chemischen Veränderungen, welche teils auf Vererbung, teils auf Anpassung zurückzuführen sind. Aber ganz dasselbe müssen wir auch für die höheren Seelentätigkeiten der höheren Tiere und des Menschen behaupten, für die Bildung der Vorstellungen und Begriffe, für die wunderbaren Phänomene der Vernunft und des Bewußtseins; denn diese haben sich phylogenetisch aus jenen entwickelt, und nur der höhere Grad der Zentralisation, durch innige und mannigfaltige Verbindung der einzelnen Funktionen, erhebt sie zu dieser erstaunlichen Höhe.

Begriffe der Psychologie. In jeder Wissenschaft gilt mit Recht als erste Aufgabe die klare Begriffsbestimmung des Gegenstandes, den sie zu erforschen hat. In keiner Wissenschaft aber ist die Lösung dieser ersten Aufgabe so schwierig als in der Seelenlehre, und diese Tatsache ist um so merkwürdiger, als die Logik, die Lehre von der Begriffsbildung, selbst nur ein Teil der Psychologie ist. Wenn wir alles vergleichen, was über die Grundbegriffe der Seelenkunde von den angesehensten Philosophen und Naturforschern aller Zeiten gesagt worden ist, so ersticken wir in [S. 57] einem Chaos der widersprechendsten Ansichten. Was ist denn eigentlich die »Seele«? Wie verhält sie sich zum »Geist«? Welche Bedeutung hat eigentlich das »Bewußtsein«? Wie unterscheiden sich »Empfindung« und »Gefühl«? Was ist der »Instinkt«? Wie verhält sich der »freie Wille«? Was ist »Vorstellung«? Welcher Unterschied besteht zwischen »Verstand und Vernunft«? Und was ist eigentlich »Gemüt«? Welche Beziehung besteht zwischen allen diesen »Seelenerscheinungen und dem Körper«? Die Antworten auf diese und viele andere, sich daran anschließenden Fragen lauten so verschieden als möglich; nicht allein gehen die Ansichten der angesehensten Autoritäten darüber weit auseinander, sondern auch eine und dieselbe wissenschaftliche Autorität hat oft im Laufe ihrer eigenen psychologischen Entwickelung ihre Ansichten völlig verändert. Sicher hat diese »psychologische Metamorphose« vieler Denker (die wir noch am Schlusse dieses 6. Kapitels beleuchten wollen) nicht wenig zu der kolossalen Konfusion der Begriffe beigetragen, welche in der Seelenlehre mehr als in jedem anderen Gebiete der Erkenntnis herrscht.

Objektive und subjektive Psychologie. Die ganz eigentümliche Natur vieler Seelenerscheinungen, und vor allem des Bewußtseins bedingt gewisse Abänderungen und Modifikationen unserer naturwissenschaftlichen Untersuchungsmethoden. Besonders wichtig ist hier der Umstand, daß zu der gewöhnlichen, objektiven, äußern Beobachtung noch die introspektive Methode treten muß, die subjektive, innere Beobachtung, welche die Spiegelung unseres »Ich« im Bewußtsein bedingt. Von dieser »unmittelbaren Gewißheit des Ich« gingen die meisten Psychologen aus: »Cogito, ergo sum!« »Ich denke, also bin ich.« Wir werden daher zunächst auf diesen Erkenntnisweg und dann erst auf die anderen, ihn ergänzenden Methoden einen Blick werfen.

Introspektive Psychologie (Selbstbeobachtung der Seele). Der weitaus größte Teil aller derjenigen Kenntnisse, welche seit Jahrtausenden in unzähligen Schriften über das menschliche Seelenleben niedergelegt sind, beruht auf introspektiver Seelenforschung, d. h. auf Selbstbeobachtung, und auf Schlüssen, welche wir aus der Assozion und Kritik dieser subjektiven, »inneren Erfahrungen« ziehen. Für einen wichtigen Teil der Seelenlehre ist dieser introspektive Weg überhaupt der einzig mögliche, vor allem für die Erforschung des Bewußtseins; diese Gehirnfunktion nimmt daher eine ganz eigentümliche Stellung ein und ist mehr als jede andere die Quelle unzähliger philosophischer Irrtümer geworden (vergl. Kap. 10). Es ist aber ganz ungenügend und führt zu ganz unvollkommenen und falschen Vorstellungen, [S. 58] wenn man diese Selbstbeobachtung unseres Geistes als die wichtigste oder überhaupt als die einzige Quelle seiner Erkenntnis betrachtet, wie es von zahlreichen und angesehenen Philosophen geschehen ist. Denn ein großer Teil der wichtigsten Erscheinungen im Seelenleben, vor allem die Sinnesfunktionen (Sehen, Hören, Riechen usw.), ferner die Sprache, kann nur auf demselben Wege erforscht werden wie jede andere Lebenstätigkeit des Organismus, nämlich erstens durch gründliche anatomische Untersuchung ihrer Organe, und zweitens durch exakte physiologische Analyse der davon abhängigen Funktionen. Um diese »äußere Beobachtung« der Seelentätigkeit auszuführen und dadurch die Ergebnisse der »inneren Beobachtung« zu ergänzen, bedarf es aber gründlicher Kenntnisse in Anatomie und Histologie, Ontogenie und Physiologie des Menschen. Von diesen unentbehrlichen Grundlagen der Anthropologie haben nun die meisten sogenannten »Psychologen« gar keine oder nur höchst unvollkommene Kenntnis; sie sind daher nicht imstande, auch nur von ihrer eigenen Seele eine genügende Vorstellung zu erwerben. Dazu kommt noch der schlimme Umstand, daß die eigene Seele dieser Psychologen gewöhnlich die einseitig ausgebildete (wenn auch in ihrem spekulativen Sport sehr hoch entwickelte!) Psyche eines Kulturmenschen höchster Rasse darstellt, also das letzte Endglied einer langen phyletischen Entwickelungsreihe, deren zahlreiche ältere und niedere Vorläufer für ihr richtiges Verständnis unentbehrlich sind. So erklärt es sich, daß der größte Teil der gewaltigen psychologischen Literatur heute wertlose Makulatur ist. Die introspektive Methode ist gewiß höchst wertvoll und unentbehrlich, sie bedarf aber durchaus der Mitwirkung und Ergänzung durch die übrigen Methoden.

Exakte Psychologie. Je reicher im Laufe des 19. Jahrhunderts sich die verschiedenen Zweige des menschlichen Erkenntnisbaumes entwickelt, je mehr sich die verschiedenen Methoden der einzelnen Wissenschaften vervollkommnet haben, desto mehr ist das Bestreben gewachsen, dieselben exakt zu gestalten, d. h. die Erscheinungen möglichst genau empirisch zu untersuchen und die daraus abzuleitenden Gesetze tunlichst scharf, womöglich mathematisch zu formulieren. Letzteres ist aber nur bei einem kleinen Teile des menschlichen Wissens erreichbar, vorzüglich in jenen Wissenschaften, bei denen es sich in der Hauptsache um meßbare Größenbestimmungen handelt: in erster Linie der Mathematik, sodann der Astronomie, der Mechanik, überhaupt einem großen Teile der Physik und Chemie. Diese Wissenschaften werden daher auch als exakte Disziplinen im engeren Sinne bezeichnet. Dagegen ist es nicht richtig und führt nur irre, wenn man oft alle Naturwissenschaften [S. 59] als »exakte« betrachtet und anderen, namentlich den historischen und den »Geisteswissenschaften« gegenüberstellt. Denn ebensowenig als diese letzteren kann auch der größere Teil der Naturwissenschaft wirklich exakt behandelt werden; ganz besonders gilt dies von der Biologie und in dieser wieder von der Psychologie. Da diese letztere nur ein Teil der Physiologie ist, muß sie im allgemeinen deren fundamentale Erkenntniswege teilen. Sie muß die tatsächlichen Erscheinungen des Seelenlebens möglichst genau empirisch ergründen, durch Beobachtung und durch Experiment; und sie muß dann die Gesetze der Psyche aus diesen durch induktive und deduktive Schlüsse ableiten und möglichst scharf formulieren. Allein ihre mathematische Formulierung ist aus leicht begreiflichen Gründen nur sehr selten möglich; sie ist mit großem Erfolge nur bei einem Teile der Sinnesphysiologie ausgeführt; für den weitaus größten Teil der Gehirnphysiologie ist sie dagegen nicht anwendbar.

Psychophysik. Ein kleiner Teil der Psychologie, welcher der erstrebten »exakten« Untersuchung zugänglich erscheint, ist seit Jahren mit großer Sorgfalt studiert und zum Range einer besonderen Disziplin erhoben worden unter der Bezeichnung Psychophysik. Die Begründer derselben, die Physiologen Theodor Fechner und Ernst Heinrich Weber, untersuchten zunächst genau die Abhängigkeit der Empfindungen von den äußeren, auf die Sinnesorgane wirkenden Reizen und besonders das quantitative Verhältnis zwischen Reizstärke und Empfindungsintensität. Sie fanden, daß zur Erregung einer Empfindung eine bestimmte minimale Reizstärke erforderlich ist (die »Reizschwelle«), und daß ein gegebener Reiz immer um einen gewissen Betrag (die »Unterschiedsschwelle«) geändert werden muß, ehe die Empfindung sich merklich verändert. Für die wichtigsten Sinnesempfindungen (Gesicht, Gehör, Druckempfindung) gilt das Gesetz, daß ihre Änderung derjenigen der Reizstärke proportional ist. Aus diesem empirischen »Weberschen Gesetz« leitete Fechner sein »psycho-physisches Grundgesetz« ab, wonach die Empfindungsintensitäten in arithmetischer Progression wachsen sollen, hingegen die Reizstärken in geometrischer Progression. Indessen haben spätere Forscher gezeigt, daß dieses Fechnersche Gesetz exakt nur für mittlere Intensitäten gilt, also nicht die allgemeine Bedeutung hat, die man ihm früher zuschrieb.

Vergleichende Psychologie. Die auffällige Ähnlichkeit, welche im Seelenleben des Menschen und der höheren Tiere — besonders der nächstverwandten Säugetiere — besteht, ist eine altbekannte Tatsache. Die meisten Naturvölker machen noch heute zwischen [S. 60] beiden psychischen Erscheinungsreihen keinen wesentlichen Unterschied, wie schon die allgemein verbreiteten Tierfabeln, die alten Sagen und die Vorstellungen von der Seelenwanderung beweisen. Auch die meisten Philosophen des klassischen Altertums waren davon überzeugt und entdeckten zwischen der menschlichen und tierischen Psyche keine wesentlichen Unterschiede. Selbst Plato, der zuerst den fundamentalen Unterschied von Leib und Seele behauptete, ließ in seiner Seelenwanderung eine und dieselbe Seele (oder »Idee«) durch verschiedene Tier- und Menschenleiber hindurchwandern. Erst das Christentum, das den Unsterblichkeitsglauben auf das engste mit dem Gottesglauben verknüpfte, führte die prinzipielle Scheidung zwischen der unsterblichen Menschenseele und der sterblichen Tierseele durch. In der dualistischen Philosophie gelangte sie vor allem durch den Einfluß von Descartes (1643) zur Geltung; er behauptete, daß nur der Mensch eine wahre »Seele« und somit Empfindung und freien Willen besitze, daß hingegen die Tiere Automaten, Maschinen ohne Willen und Empfindung seien. Seitdem wurde von den meisten Psychologen — namentlich auch von Kant — das Seelenleben der Tiere ganz vernachlässigt und das psychologische Studium auf den Menschen beschränkt; die menschliche, meistens rein introspektive Psychologie entbehrte der befruchtenden Vergleichung und blieb daher auf demselben niederen Standpunkt stehen, welchen die menschliche Morphologie einnahm, ehe sie Cuvier durch die Begründung der vergleichenden Anatomie zur Höhe einer philosophischen Naturwissenschaft erhob.

Tierpsychologie. Das wissenschaftliche Interesse für das Seelenleben der Tiere wurde erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts neu belebt, im Zusammenhang mit den Fortschritten der systematischen Zoologie und Physiologie. Besonders anregend wirkte die Schrift von Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere (Hamburg 1760). Eine tiefere wissenschaftliche Erforschung wurde erst möglich durch Johannes Müllers Reform der Physiologie. Dieser geistvolle Biologe, das ganze Gebiet der organischen Natur, Morphologie und Physiologie, gleichmäßig umfassend, führte zuerst die exakten Methoden der Beobachtung und des Versuchs im gesamten Gebiete der Physiologie durch und verknüpfte sie zugleich in genialer Weise mit den vergleichenden Methoden; er wendete sie ebenso auf das Seelenleben im weitesten Sinne an (auf Sprache, Sinne, Gehirntätigkeit) wie auf alle übrigen Lebenserscheinungen. Das sechste Buch seines »Handbuchs der Physiologie des Menschen« (1840) handelt speziell »Vom Seelenleben« und enthält auf [S. 61] 80 Seiten eine Fülle der wichtigsten psychologischen Betrachtungen.

Völkerpsychologie. Für die fruchtbare Ausbildung der vergleichenden Seelenlehre ist es höchst wichtig, die kritische Vergleichung nicht auf Tier und Mensch im allgemeinen zu beschränken, sondern auch die mannigfaltigen Abstufungen in ihrem Seelenleben nebeneinander zu stellen. Erst dadurch gelangen wir zur klaren Erkenntnis der langen Stufenleiter psychischer Entwickelung, welche ununterbrochen von den niedersten, einzelligen Lebensformen bis zu den Säugetieren und an deren Spitze bis zum Menschen hinauf führt. Auch innerhalb des Menschengeschlechts selbst sind jene Abstufungen sehr beträchtlich und die Verzweigungen des »Seelenstammbaums« höchst mannigfaltig. Der psychische Unterschied zwischen dem rohesten Naturmenschen der niedersten Stufe und dem vollkommensten Kulturmenschen der höchsten Stufe ist kolossal, viel größer, als gemeinhin angenommen wird. In der richtigen Erkenntnis dieser Tatsache hat besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die »Anthropologie der Naturvölker« (Waitz) einen lebhaften Aufschwung genommen und die vergleichende Ethnographie eine hohe Bedeutung für die Psychologie gewonnen. Leider ist nur das massenhaft gesammelte Rohmaterial dieser Wissenschaft noch nicht genügend kritisch durchgearbeitet.

Ontogenetische Psychologie. Am meisten vernachlässigt und am wenigsten angewendet unter allen Methoden der Seelenforschung war bis auf die letzte Zeit die Entwickelungsgeschichte der Seele; und doch ist gerade dieser selten betretene Pfad derjenige, der uns am kürzesten und sichersten durch den dunklen Urwald der psychologischen Vorurteile, Dogmen und Irrtümer zu der klaren Einsicht in viele der wichtigsten »Seelenfragen« führt. Wie in jedem anderen Gebiete der organischen Entwickelungsgeschichte, so stelle ich auch hier zunächst die beiden Hauptzweige derselben gegenüber, die ich zuerst 1866 unterschieden habe: die Keimesgeschichte (Ontogenie) und die Stammesgeschichte (Phylogenie). Die Keimesgeschichte der Seele untersucht die allmähliche und stufenweise Entwickelung der Seele in der einzelnen Person und strebt nach Erkenntnis der Gesetze, welche sie ursächlich bedingen. Für einen wichtigen Abschnitt des menschlichen Seelenlebens ist hier schon seit Jahrtausenden sehr viel geschehen; denn die rationelle Pädagogik mußte sich ja schon frühzeitig die Aufgabe stellen, theoretisch die stufenweise Entwickelung und Bildungsfähigkeit der kindlichen Seele kennen zu lernen, deren harmonische Ausbildung und Leitung sie praktisch [S. 62] durchzuführen hatte. Allein die meisten Pädagogen waren idealistische und dualistische Philosophen und gingen daher an ihre Aufgabe von vornherein mit den althergebrachten Vorurteilen der spiritualistischen Psychologie. Erst seit wenigen Dezennien ist dieser dogmatischen Richtung gegenüber auch in der Schule die naturwissenschaftliche Methode zu größerer Geltung gelangt; man bemüht sich jetzt mehr, auch in der Beurteilung der Kindesseele die Grundsätze der Entwickelungslehre zur Anwendung zu bringen. Das individuelle Rohmaterial der kindlichen Seele ist ja bereits durch Vererbung von Eltern und Voreltern von vornherein gegeben; die Erziehung hat die schöne Aufgabe, dasselbe durch intellektuelle Belehrung und moralische Erziehung, also durch Anpassung, zur reichen Blüte zu entwickeln. Für die Kenntnis unserer frühesten psychischen Entwickelung hat erst Wilhelm Preyer (1882) den Grund gelegt in seiner interessanten Schrift »Die Seele des Kindes, Beobachtungen über die geistige Entwickelung des Menschen in den ersten Lebensjahren«. Für die Erkenntnis der späteren Stufen und Metamorphosen der individuellen Psyche bleibt noch sehr viel zu tun; die richtige, kritische Anwendung des Biogenetischen Grundgesetzes beginnt auch hier sich als klarer Leitstern des wissenschaftlichen Verständnisses zu bewähren. (Vergl. Hermann Kroell, Der Aufbau der menschlichen Seele, 1900.)

Phylogenetische Psychologie. Eine neue, fruchtbare Periode höherer Entwickelung begann für die Psychologie, wie für alle anderen biologischen Wissenschaften, als Charles Darwin die Grundsätze der Entwickelungslehre auf sie anwendete. Das siebente Kapitel seines epochemachenden Werkes über die Entstehung der Arten (1859) ist dem Instinkt gewidmet; es enthält den wertvollen Nachweis, daß die Instinkte der Tiere, gleich allen anderen Lebenstätigkeiten, den allgemeinen Gesetzen der historischen Entwickelung unterliegen. Die speziellen Instinkte der einzelnen Tierarten werden durch Anpassung umgebildet, und diese »erworbenen Abänderungen« werden durch Vererbung auf die Nachkommen übertragen; bei ihrer Erhaltung und Ausbildung spielt die natürliche Selektion durch den »Kampf ums Dasein« ebenso eine züchtende Rolle wie bei der Transformation jeder anderen physiologischen Tätigkeit. Später hat Darwin in mehreren Werken diese fundamentale Ansicht weiter ausgeführt und gezeigt, daß dieselben Gesetze »geistiger Entwickelung« durch die ganze organische Welt hindurch walten, beim Menschen ebenso wie bei den Tieren und bei diesen ebenso wie bei den Pflanzen. [S. 63] Die Einheit der organischen Welt, die sich aus ihrem gemeinsamen Ursprung erklärt, gilt also auch für das gesamte Gebiet des Seelenlebens, vom einfachsten, einzelligen Organismus bis hinauf zum Menschen.

Die weitere Ausführung von Darwins Psychologie und ihre besondere Anwendung auf alle einzelnen Gebiete des Seelenlebens verdanken wir einem ausgezeichneten englischen Naturforscher, George Romanes. Leider wurde er durch seinen allzu frühen Tod an der Vollendung des großen Werkes gehindert, welches alle Teile der vergleichenden Seelenkunde gleichmäßig im Sinne der monistischen Entwickelungslehre ausbauen sollte. Die beiden Teile dieses Werkes, welche erschienen sind, gehören zu den wertvollsten Erzeugnissen der gesamten psychologischen Literatur. Denn getreu den Prinzipien unserer modernen monistischen Naturforschung sind darin erstens die wichtigsten Tatsachen zusammengefaßt und geordnet, welche seit Jahrtausenden durch Beobachtung und Experiment auf dem Gebiete der vergleichenden Seelenlehre empirisch festgestellt wurden; zweitens sind dieselbe mit objektiver Kritik geprüft und zweckmäßig gruppiert; und drittens ergeben sich daraus diejenigen Vernunftschlüsse über die wichtigsten allgemeinen Fragen der Psychologie, welche allein mit den Grundsätzen unserer modernen monistischen Weltanschauung vereinbar sind. Der erste Band von Romanes' Werk (Leipzig 1885) führt den Titel: »Die geistige Entwickelung im Tierreich« und stellt die ganze lange Stufenreihe der psychischen Entwickelung im Tierreiche von den einfachsten Empfindungen und Instinkten der niedersten Tiere bis zu den vollkommensten Erscheinungen des Bewußtseins und der Vernunft bei den höchststehenden Tieren im natürlichen Zusammenhang dar. Es sind darin auch viele Mitteilungen aus hinterlassenen Manuskripten »über den Instinkt« von Darwin mitgeteilt, und zugleich ist eine »vollständige Sammlung von allem, was er auf dem Gebiete der Psychologie geschrieben hat«, gegeben.

Der zweite Teil von Romanes' Werk behandelt »die geistige Entwickelung beim Menschen und den Ursprung der menschlichen Befähigung« (Leipzig 1893). Der scharfsinnige Psychologe führt darin den überzeugenden Beweis, »daß die psychologische Schranke zwischen Tier und Mensch überwunden ist«; das begriffliche Denken und Abstraktionsvermögen des Menschen hat sich allmählich aus den nicht begrifflichen Vorstufen des Denkens und Vorstellens bei den nächstverwandten Säugetieren entwickelt. Die höchsten Geistestätigkeiten des Menschen, Vernunft, Sprache und Bewußtsein, sind aus den niederen Vorstufen derselben in [S. 64] der Reihe der Primatenahnen (Affen und Halbaffen) hervorgegangen. Der Mensch besitzt keine einzige »Geistestätigkeit«, welche ihm ausschließlich eigentümlich ist; sein ganzes Seelenleben ist von demjenigen der nächstverwandten Säugetiere nur dem Grade, nicht der Art nach, nur quantitativ, nicht qualitativ verschieden.

Psychologische Metamorphosen. Nicht unerwähnt soll eine merkwürdige Erscheinung bleiben, die uns manche bedeutende Naturforscher und Philosophen wahrzunehmen Gelegenheit gaben. Sie besteht in einem eigentümlichen philosophischen Prinzipienwechsel, in der Vertauschung des ursprünglichen monistischen Standpunktes mit einem späteren dualistischen. Das interessanteste Beispiel solcher Verwandlung liefert Immanuel Kant. Als kritischer Philosoph war er zur Überzeugung gelangt, daß die drei Großmächte des Mystizismus: »Gott, Freiheit und Unsterblichkeit« — als Dogmen der »reinen Vernunft« — unhaltbar erscheinen. Der dogmatische Kant dagegen fand später, daß diese drei Hauptgespenster »Postulate der praktischen Vernunft« und als solche unentbehrlich seien. Je mehr neuerdings die angesehene Schule der Neokantianer den »Rückgang auf Kant« als einzige Rettung aus dem entsetzlichen Wirrwarr der modernen Metaphysik predigt, desto klarer offenbart sich der unleugbare und unheilvolle Widerspruch der beiden Grundanschauungen, zwischen denen Kant hin und her schwankte.

In Deutschland gilt gegenwärtig als einer der bedeutendsten Psychologen Wilhelm Wundt in Leipzig; er besitzt vor den meisten anderen Philosophen den unschätzbaren Vorzug einer gründlichen zoologischen, anatomischen und physiologischen Bildung. Früher Assistent und Schüler von Helmholtz, hatte sich Wundt frühzeitig daran gewöhnt, die Grundgesetze der Physik und Chemie im gesamten Gebiete der Physiologie geltend zu machen, also auch (im Sinne von Johannes Müller) in der Psychologie, als einem Teilgebiete der letzteren. Von diesen Gesichtspunkten geleitet, veröffentlichte Wundt 1863 wertvolle »Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele«. Er liefert darin, wie er selbst in der Vorrede sagt, den Nachweis, daß der Schauplatz der wichtigsten Seelenvorgänge in der unbewußten Seele liegt, und er eröffnet uns »einen Einblick in jenen Mechanismus, der im unbewußten Hintergrund der Seele die Anregungen verarbeitet, die aus den äußeren Eindrücken stammen«. Was mir aber besonders wichtig und wertvoll an Wundts Werk erscheint, ist, daß er »hier zum ersten Male das Gesetz der Erhaltung der Kraft auf das psychische Gebiet ausdehnt und dabei eine Reihe von Tatsachen der Elektrophysiologie zur Beweisführung benutzt« (a. a. O. S. VIII).

[S. 65]

Dreißig Jahre später veröffentlichte Wundt (1892) eine zweite, wesentlich verkürzte und gänzlich umgearbeitete Auflage seiner »Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele«. Die wichtigsten Prinzipien der ersten Auflage sind in dieser zweiten völlig aufgegeben, und der monistische Standpunkt der ersteren ist mit einem rein dualistischen vertauscht. Wundt selbst sagt in der Vorrede zur zweiten Auflage, daß er sich erst allmählich von den fundamentalen Irrtümern der ersten befreit habe, und daß er »diese Arbeit schon seit Jahren als eine Jugendsünde betrachten lernte«; sie »lastete auf ihm als eine Art Schuld, der er, so gut es gehen mochte, ledig zu werden wünschte«. In der Tat sind die wichtigsten Grundanschauungen der Seelenlehre in den beiden Auflagen von Wundts weit verbreiteten »Vorlesungen« völlig entgegengesetzte; in der ersten Auflage rein monistisch und materialistisch, in der zweiten Auflage rein dualistisch und spiritualistisch. Dort wird die Psychologie als Naturwissenschaft behandelt, nach denselben Grundsätzen wie die gesamte Physiologie, von der sie nur ein Teil ist; dreißig Jahre später ist für ihn die Seelenlehre eine reine Geisteswissenschaft geworden, deren Prinzipien und Objekte von denjenigen der Naturwissenschaft völlig verschieden sind. Den schärfsten Ausdruck findet diese Bekehrung in seinem Prinzip des psychophysischen Parallelismus, wonach zwar einem »jeden psychischen Geschehen irgendwelche physische Vorgänge entsprechen«, beide aber völlig unabhängig voneinander sind und nicht in natürlichem Kausalzusammenhang stehen. Dieser vollkommene Dualismus von Leib und Seele, von Natur und Geist hat begreiflicherweise den lebhaften Beifall der herrschenden Schulphilosophie gefunden und wird von ihr als ein bedeutungsvoller Fortschritt gepriesen, um so mehr, als er von einem angesehenen Naturforscher bekannt wird, der früher die entgegengesetzten Anschauungen unseres modernen Monismus vertrat. Da ich selbst auf diesem letzteren, »beschränkten« Standpunkt seit mehr als fünfzig Jahren stehe und mich trotz aller bestgemeinten Anstrengungen nicht von ihm habe losmachen können, muß ich natürlich die »Jugendsünden« des jungen Physiologen Wundt für die richtige Naturerkenntnis halten und sie gegen die entgegengesetzten Grundanschauungen des alten Philosophen Wundt energisch verteidigen.

Ein interessantes Beispiel ähnlicher tiefgehender Wandlung bieten zwei der berühmtesten Naturforscher, R. Virchow und E. Du Bois-Reymond; die Metamorphose ihrer psychologischen Grundanschauungen darf um so weniger übersehen werden, als beide Berliner Biologen mehr als 40 Jahre hindurch an der größten Universität Deutschlands eine höchst bedeutende Rolle gespielt und [S. 66] sowohl direkt wie indirekt einen tiefgreifenden Einfluß auf das moderne Geistesleben geübt haben. Rudolf Virchow, der verdienstvolle Begründer der Zellularpathologie, war in der besten Zeit seiner wissenschaftlichen Tätigkeit, um die Mitte des 19. Jahrhunderts (und besonders während seines Würzburger Aufenthalts, von 1849 1856) reiner Monist; er galt damals als einer der hervorragendsten Vertreter jenes neu erwachenden »Materialismus«, der im Jahre 1855 besonders durch zwei berühmte, fast gleichzeitig erschienene Werke eingeführt wurde: Ludwig Büchners Kraft und Stoff, und Carl Vogts Köhlerglaube und Wissenschaft. Seine allgemeinen biologischen Anschauungen von den Lebensvorgängen im Menschen — sämtlich als mechanische Naturerscheinungen aufgefaßt! — legte damals Virchow in einer Reihe ausgezeichneter Artikel in den ersten Bänden des von ihm herausgegebenen Archivs für pathologische Anatomie nieder. Wohl die bedeutendste unter diesen Abhandlungen und diejenige, in der er seine damalige monistische Weltanschauung am klarsten zusammenfaßte, ist die Rede über »Die Einheitsbestrebungen in der wissenschaftlichen Medizin« (1849). Es geschah gewiß mit Bedacht und mit der Überzeugung ihres philosophischen Wertes, daß Virchow 1856 dieses »medizinische Glaubensbekenntnis« an die Spitze seiner »Gesammelten Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medizin« stellte. Er vertritt darin ebenso klar als bestimmt die fundamentalen Prinzipien unseres heutigen Monismus, wie ich sie hier mit bezug auf die Lösung der »Welträtsel« darstelle; er verteidigt die alleinige Berechtigung der Erfahrungswissenschaft, deren einzige zuverlässige Quellen Sinnestätigkeit und Gehirnfunktion sind; er bekämpft ebenso entschieden den anthropologischen Dualismus, jede sogenannte Offenbarung und jede »Transzendenz« mit ihren zwei Wegen: »Glauben und Anthropomorphismus«. Vor allem betont er den monistischen Charakter der Anthropologie, den untrennbaren Zusammenhang von Geist und Körper, von Kraft und Materie; am Schlusse seines Vorworts spricht er (S. 4) den Satz aus: »Ich habe die Überzeugung, daß ich mich niemals in der Lage befinden werde, den Satz von der Einheit des menschlichen Wesens und seine Konsequenzen zu verleugnen.« Leider war diese »Überzeugung« ein schwerer Irrtum; denn 28 Jahre später vertrat Virchow ganz entgegengesetzte prinzipielle Anschauungen; es geschah dies in jener vielbesprochenen Rede über »Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staate«, die er 1877 auf der Naturforscherversammlung in München hielt, und deren Angriffe ich in meiner Schrift »Freie Wissenschaft und freie Lehre« (1878) zurückgewiesen habe.

[S. 67]

Ähnliche Widersprüche in bezug auf die wichtigsten philosophischen Grundsätze wie Virchow hat auch Emil Du Bois-Reymond gezeigt und damit den lauten Beifall der dualistischen Schulen und vor allem der Ecclesia militans errungen. Je mehr dieser berühmte Rhetor der Berliner Akademie im allgemeinen die Grundsätze unseres Monismus vertrat, je mehr er selbst zur Widerlegung des Vitalismus und der transzendenten Lebensauffassung beigetragen hatte, desto lauter war das Triumphgeschrei der Gegner, als er 1872 in seiner wirkungsvollen Ignorabimus-Rede das »Bewußtsein« als ein unlösbares Welträtsel hingestellt und als eine übernatürliche Erscheinung den anderen Gehirnfunktionen gegenübergestellt hatte.

Der totale philosophische Prinzipienwechsel, der uns in den »psychologischen Metamorphosen« dieser und anderer berühmter Denker entgegentritt, ist sehr merkwürdig. In ihrer Jugend umfassen diese kühnen und talentvollen Naturforscher das ganze Gebiet ihrer biologischen Forschung mit weitem Blick und streben eifrig nach einem einheitlichen, natürlichen Erkenntnisgrunde; in ihrem Alter haben sie eingesehen, daß dieser nicht vollkommen erreichbar ist, und deshalb geben sie ihn lieber ganz auf. Zur Entschuldigung dieser psychologischen Metamorphose können sie natürlich anführen, daß sie in der Jugend die Schwierigkeiten der großen Aufgabe übersehen und die wahren Ziele verkannt hätten; erst mit der reiferen Einsicht des Alters und der Sammlung vieler Erfahrungen hätten sie sich von ihren Irrtümern überzeugt und den wahren Weg zur Quelle der Wahrheit gefunden. Man kann aber auch umgekehrt behaupten, daß die großen Männer der Wissenschaft in jüngeren Jahren unbefangener und mutiger an ihre schwierige Aufgabe herantreten, daß ihr Blick freier und ihre Urteilskraft reiner ist; die Erfahrungen späterer Jahre führen vielfach nicht nur zur Bereicherung, sondern auch zur Trübung der Einsicht, und mit dem Greisenalter tritt allmähliche Rückbildung ebenso im Gehirn wie in anderen Organen ein. Jedenfalls ist diese Metamorphose an sich eine lehrreiche psychologische Tatsache; denn sie beweist mit vielen anderen Formen des »Gesinnungswechsels«, daß die höchsten Seelenfunktionen ebenso wesentlichen individuellen Veränderungen im Laufe des Lebens unterliegen wie alle anderen Lebenstätigkeiten.

[S. 68]

Siebentes Kapitel.

Stufenleiter der Seele.

Monistische Studien über vergleichende Psychologie. Psychologische Stufenleiter. Instinkt und Vernunft.

Die großartigen Fortschritte, welche die Psychologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Hilfe der Entwickelungslehre gemacht hat, gipfeln in der Anerkennung der psychologischen Einheit der organischen Welt. Die vergleichende Seelenlehre, im Vereine mit der Ontogenie und Phylogenie der Psyche, hat uns zu der Überzeugung geführt, daß das organische Leben in allen Abstufungen, vom einfachsten, einzelligen Protisten bis zum Menschen hinauf, aus denselben elementaren Naturkräften sich entwickelt, aus den Funktionen der Empfindung und Bewegung. Die Hauptaufgabe der wissenschaftlichen Psychologie wird daher künftig nicht, wie bisher, die ausschließlich subjektive und introspektive Zergliederung der höchstentwickelten Philosophenseele sein, sondern die objektive und vergleichende Untersuchung der langen Stufenleiter, auf welcher sich der menschliche Geist allmählich aus einer langen Reihe von niederen tierischen Zuständen entwickelt hat. Die schöne Aufgabe, die einzelnen Stufen dieser psychologischen Kette zu unterscheiden und ihren ununterbrochenen phylogenetischen Zusammenhang nachzuweisen, ist erst in den letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts ernstlich in Angriff genommen worden.

Materielle Basis der Psyche. Alle Erscheinungen des Seelenlebens ohne Ausnahme sind verknüpft mit materiellen Vorgängen in der lebendigen Substanz des Körpers, im Plasma oder Protoplasma. Wir haben jenen Teil des letzteren, der als der Träger der Psyche erscheint, als Psychoplasma bezeichnet; wir erblicken darin kein besonderes »Wesen«, sondern wir betrachten die Psyche als Kollektivbegriff für die gesamten psychischen Funktionen des Plasma. »Seele« ist in diesem Sinne ebenso eine physiologische Abstraktion wie der Begriff »Stoffwechsel« oder »Zeugung«. Beim Menschen und den höheren Tieren ist das Psychoplasma, zufolge der vorgeschrittenen Arbeitsteilung der Organe und Gewebe, ein differenzierter [S. 69] Bestandteil des Nervensystems, das Neuroplasma der Ganglienzellen und ihrer leitenden Ausläufer, der Nervenfasern. Bei den niederen Tieren dagegen, die noch keine gesonderten Nerven und Sinnesorgane besitzen, ist das Psychoplasma noch nicht zur selbständigen Differenzierung gelangt, ebensowenig bei den Pflanzen. Bei den einzelligen Protisten ist das Psychoplasma identisch mit dem ganzen lebendigen Protoplasma desselben. In allen Fällen, ebenso auf dieser niedersten wie auf jener höchsten Stufe der psychologischen Entwickelungsreihe, ist eine gewisse chemische Zusammensetzung des Psychoplasma und eine gewisse physikalische Beschaffenheit desselben unentbehrlich, wenn die »Seele« arbeiten soll. Das gilt ebenso von der elementaren Seelentätigkeit der plasmatischen Empfindung und Bewegung bei den Protozoen, wie von den zusammengesetzten Funktionen der Sinnesorgane und des Gehirns bei den höheren Tieren und dem Menschen. Die Arbeit des Psychoplasma, die wir »Seele« nennen, ist stets mit Stoffwechsel verknüpft.

Stufenleiter der Empfindungen. Alle lebendigen Naturkörper ohne Ausnahme sind empfindlich; sie unterscheiden die Zustände der umgebenden Außenwelt und reagieren darauf durch gewisse Veränderungen in ihrem Innern. Licht und Wärme, Schwerkraft und Elektrizität, mechanische Prozesse und chemische Vorgänge in der Umgebung wirken als »Reize« auf das empfindliche Psychoplasma und rufen Veränderungen in seiner molekularen Zusammensetzung hervor. Als Hauptstufen seiner Empfindlichkeit unterscheiden wir folgende fünf Grade:

I. Auf den untersten Stufen der Organisation ist das ganze Psychoplasma als solches empfindlich und reagiert auf die einwirkenden Reize, so bei den niederen Protisten, bei vielen Pflanzen und einem Teile der unvollkommensten Tiere. II. Auf der zweiten Stufe beginnen sich an der Oberfläche des Körpers einfachste Sinneswerkzeuge zu entwickeln, in Form von Plasmahaaren und Pigmentflecken, als Vorläufer von Tastorganen und Augen; so bei einem Teile der höheren Protisten, aber auch bei vielen niederen Tieren und Pflanzen. III. Auf der dritten Stufe haben sich aus diesen einfachen Grundlagen durch Differenzierung spezifische Sinnesorgane entwickelt, mit eigentümlicher Anpassung: die chemischen Werkzeuge des Geruchs und Geschmacks, die physikalischen Organe des Tastsinnes und Wärmesinnes, des Gehörs und Gesichts. Die »spezifische Energie« dieser höheren Sinnesorgane ist keine ursprüngliche Eigenschaft, sondern durch funktionelle Anpassung und progressive Vererbung erworben. IV. Auf der vierten Stufe tritt die Zentralisation des Nervensystems und damit zugleich diejenige der Empfindung ein, durch [S. 70] Assozion der früheren isolierten oder lokalisierten Empfindungen entstehen Vorstellungen, die zunächst noch unbewußt bleiben, so bei vielen niederen und höheren Tieren. V. Auf der fünften Stufe bildet sich im Zentralteil des Nervensystems eine besondere Sammelstelle für die empfangenen Eindrücke und die aus ihnen zusammengesetzten Erlebnisse aus. Ihre Funktion kennen wir bei uns selbst als bewußte Empfindung; ähnliche Organe besitzen alle höheren Wirbeltiere und unter den Wirbellosen sind sie besonders bei den Gliedertieren bekannt.

Stufenleiter der Bewegungen. Alle lebendigen Naturkörper ohne Ausnahme sind spontan beweglich, im Gegensatze zu den starren und unbeweglichen Anorganen (Krystallen), d. h. es finden im lebendigen Psychoplasma Lageveränderungen der Teilchen aus inneren Ursachen statt, welche in dessen chemischer Konstitution selbst begründet sind. Diese aktiven vitalen Bewegungen sind zum Teil direkt durch Beobachtung wahrzunehmen, zum anderen Teil aber nur indirekt aus ihren Wirkungen zu erschließen. Wir unterscheiden fünf Abstufungen derselben.

I. Auf der untersten Stufe des organischen Lebens nehmen wir nur jene Wachstumsbewegungen wahr, welche allen Organismen gemeinsam zukommen. Sie geschehen gewöhnlich so langsam, daß man sie nicht unmittelbar beobachten, sondern nur indirekt aus ihrem Resultate erschließen kann, aus der Veränderung in Größe und Gestalt des wachsenden Körpers. II. Viele Protisten, namentlich einzellige Algen aus den Gruppen der Diatomeen und Desmidiaceen, bewegen sich kriechend oder schwimmend durch Sekretion fort, durch einseitige Ausscheidung einer schleimigen Masse. III. Andere, im Wasser schwebende Organismen, z. B. viele Radiolarien, Siphonophoren, Ktenophoren u. a., steigen auf und nieder, indem sie ihr spezifisches Gewicht verändern, bald durch Osmose, bald durch Absonderung oder Ausstoßung von Luft. IV. Viele Pflanzen, besonders die empfindlichen Sinnpflanzen (Mimosen) und andere Papilionaceen, führen Bewegungen von Blättern oder anderen Teilen mittels Turgorwechsels aus, d. h. es verändert sich die Spannung des Protoplasmas und damit auch dessen Druck auf die umschließende elastische Zellenwand. V. Die wichtigsten von allen organischen Bewegungen sind die Kontraktionserscheinungen, d. h. Gestaltsveränderungen der Körperoberfläche, welche mit gegenseitigen Lageverschiebungen ihrer Teilchen verbunden sind; sie verlaufen stets in zwei verschiedenen Zuständen oder Phasen der Bewegung: der Kontraktionsphase (Zusammenziehung) und der Expansionsphase (Ausdehnung). Als vier verschiedene Formen der Plasmakontraktion [S. 71] werden unterschieden Va: die amöboiden Bewegungen (bei Rhizopoden, Blutzellen, Pigmentzellen usw.); Vb: die ähnlichen Plasmaströmungen im Innern von abgeschlossenen Zellen; Vc: die Flimmerbewegung (Geißelbewegung und Wimperbewegung) bei Infusorien, Samenzellen, Flimmerepithelzellen, und endlich Vd: die Muskelbewegung (bei den meisten Tieren).

Reflexe. Die elementare Seelentätigkeit, welche durch die Verknüpfung von Empfindung und Bewegung entsteht, nennen wir Reflex. Die Bewegung — gleichviel welcher Art — erscheint hier als die unmittelbare Folge des Reizes, welcher die Empfindung hervorgerufen hat; man hat sie daher auch im einfachsten Falle (bei Protisten) kurz als »Reizbewegung« bezeichnet. Alles lebende Plasma besitzt Reizbarkeit (Irritabilität). Jede physikalische oder chemische Veränderung der umgebenden Außenwelt kann unter Umständen auf das Psychoplasma als Reiz wirken und eine Bewegung hervorrufen oder »auslösen«. Wir werden später sehen, wie der wichtige physikalische Begriff der Auslösung die einfachsten organischen Reflextaten unmittelbar anschließt an ähnliche mechanische Bewegungsvorgänge in der anorganischen Natur (z. B. bei der Explosion von Pulver durch einen Funken, von Dynamit durch einen Stoß).

Einfache und zusammengesetzte Reflexe. Der wichtige Unterschied, den wir in morphologischer und physiologischer Hinsicht zwischen den einzelligen Organismen (Protisten) und den vielzelligen (Histonen) machen, gilt auch für deren elementare Seelentätigkeit, für die Reflextat. Bei den einzelligen Protisten läuft der ganze Prozeß des Reflexes innerhalb des Protoplasma einer einzigen Zelle ab; die »Zellseele« derselben erscheint noch als eine einheitliche Funktion des Psychoplasma, deren einzelne Phasen sich erst mit der Differenzierung besonderer Organe zu sondern beginnen. Schon bei Zellvereinen beginnt die zweite Stufe der Seelentätigkeit, der zusammengesetzte Reflex. Die zahlreichen sozialen Zellen, welche diese Zellvereine zusammensetzen, stehen immer in mehr oder weniger enger Verbindung, oft direkt durch fadenförmige Plasmabrücken. Ein Reiz, welcher eine oder mehrere Zellen des Verbandes trifft, wird durch die Verbindungsbrücken den übrigen mitgeteilt und kann alle zu gemeinsamer Kontraktion veranlassen. Dieser Zusammenhang besteht auch in den Geweben der vielzelligen Pflanzen und Tiere. Während man früher irrtümlich annahm, daß die Zellen der Pflanzengewebe ganz isoliert nebeneinander stehen, sind jetzt überall feine Plasmafäden nachgewiesen, welche die dicken Zellmembranen [S. 72] durchsetzen und ihre lebendigen Plasmakörper in materiellem und psychologischem Zusammenhang erhalten. So erklärt es sich, daß die Erschütterung der empfindlichen Wurzel von Mimosa, welche der Tritt des Wanderers auf den Boden verursacht, sofort den Reiz auf alle Zellen des Pflanzenstockes überträgt und ihre zarten Fiederblätter zum Zusammenlegen, die Blattstiele zum Herabsinken veranlaßt.

Reflex und Bewußtsein. Auf die Frage, inwieweit dem Organismus seine Reaktionen auf die Reize der Umwelt bewußt werden, kann eine allgemeine Antwort nicht gegeben werden. Vom Bewußtsein wissen wir eigentlich nur insofern, als es die unmittelbare Erfahrung unseres eigenen Erlebens ist. Vergleichende Betrachtung der Reflexe selbst und besonders auch ihrer anatomischen Grundlagen berechtigen uns aber zu der Annahme, daß diejenigen Tiere, die einen ähnlichen Assozionsapparat in ihren Reflexbogen eingeschaltet haben wie wir, auch in ähnlicher Weise erleben, also ein dem unseren analoges Bewußtwerden ihrer psychischen Funktionen besitzen. Als solche Tiere kommen die uns stammesgeschichtlich nahe stehenden Wirbeltiere und von den Wirbellosen vielleicht die sozialen Gliedertiere und die Kopffüßer (Cephalopoden) in Betracht.

Stufenleiter der Vorstellungen. Der Schauplatz klaren Bewußtseins sind beim Menschen vor allem die Vorstellungen. Doch ist das Bewußtsein kein wesentliches Merkmal der Vorstellungen; wir nehmen solche vielmehr bei allen Organismen an, ohne daß wir ihnen ein dem unseren ähnliches klar bewußtes Erleben zuschreiben. Im allgemeinen erscheint die Vorstellung als das innere Bild des äußeren Objektes, welches durch die Empfindung übermittelt ist.

I. Zellulare Vorstellung. Auf den niedersten Stufen begegnet uns die Vorstellung als eine allgemeine physiologische Funktion des Psychoplasma; schon bei den einfachsten einzelligen Protisten können Empfindungen bleibende Spuren im Psychoplasma hinterlassen, und diese können vom Gedächtnis reproduziert werden. Bei mehr als viertausend Radiolarienarten, welche ich beschrieben habe, ist jede einzelne Spezies durch eine besondere erbliche Skelettform ausgezeichnet. Die Produktion dieses spezifischen, oft höchst verwickelt gebauten Skeletts durch eine höchst einfach gestaltete (meist kugelige) Zelle ist nur dann erklärlich, wenn wir dem bauenden Plasma die Fähigkeit der Vorstellung zuschreiben, und zwar der besonderen Reproduktion des »plastischen Distanzgefühls«, wie ich in meiner Psychologie der Radiolarien gezeigt habe (1887, S. 121).

[S. 73]

II. Histonale Vorstellung. Schon bei den Zönobien oder Zellvereinen der geselligen Protisten, noch mehr aber in den Geweben der Pflanzen und der niederen, nervenlosen Tiere (Spongien, Polypen) begegnen wir der zweiten Stufe der Vorstellung, welche auf dem gemeinsamen Seelenleben zahlreicher, eng verbundener Zellen beruht. Da einmalige Reize nicht bloß eine vorübergehende Bewegung eines Organes (z. B. eines Pflanzenblattes, eines Polypenarmes) auslösen, sondern einen bleibenden Eindruck hinterlassen, der von diesem später reproduziert werden kann, so müssen wir zur Erklärung dieser Erscheinung eine Histonal-Vorstellung annehmen, gebunden an das Psychoplasma der assoziierten Gewebezellen.

III. Unbewußte Vorstellung der Ganglienzellen. Die dritte, höhere Stufe der Vorstellung ist die häufigste Form dieser Seelentätigkeit im Tierreich; sie erscheint als eine Lokalisation des Vorstellens auf bestimmte »Seelenzellen« oder Gruppen von Nervenzellen. Mit der aufsteigenden Entwickelung des Zentralnervensystems im Tierreich, seiner zunehmenden Differenzierung und Integration erhebt sich auch die Ausbildung dieser Vorstellungen zu immer höheren Stufen.

IV. Bewußte Vorstellung der Gehirnzellen. Erst auf den höchsten Entwickelungsstufen der tierischen Organisation entwickelt sich das Bewußtsein als eine besondere Funktion eines bestimmten Zentralorgans des Nervensystems. Indem die Vorstellungen bewußte werden, und indem besondere Gehirnteile sich zur Assozion der bewußten Vorstellungen reich entfalten, wird der Organismus zu jenen höchsten psychischen Funktionen befähigt, welche wir als Denken und Überlegen, als Verstand und Vernunft bezeichnen. Obgleich die Absteckung der phyletischen Grenze zwischen den älteren, unbewußten und den jüngeren, bewußten Vorstellungen höchst schwierig ist, können wir doch mit Wahrscheinlichkeit annehmen, daß die letzteren aus den ersteren polyphyletisch entstanden sind. Denn wir dürfen bewußtes und vernünftiges Denken nicht nur bei den höchsten Formen des Wirbeltierstammes annehmen (Mensch, Säugetiere, ein Teil der niederen Vertebraten), sondern auch bei den höchstentwickelten Vertretern anderer Tierstämme (Ameisen und andere Insekten, Spinnen und höhere Krebse unter den Gliedertieren, Cephalopoden unter den Weichtieren).

Stufenleiter des Gedächtnisses. Eng verknüpft mit der Stufenleiter in der Entwickelung der Vorstellungen ist diejenige des Gedächtnisses; diese höchst wichtige Funktion des Psychoplasma — die Bedingung aller fortschreitenden Seelenentwickelung [S. 74] — ist ja im wesentlichen Reproduktion von Vorstellungen. Die Eindrücke im Plasma, welche der Reiz als Empfindung bewirkt hatte, und welche bleibend zu Vorstellungen geworden waren, werden neu belebt; sie gehen aus dem potentiellen in den aktuellen Zustand über. Entsprechend den vier Stufen der Vorstellung können wir auch beim Gedächtnis vier Hauptstufen der aufsteigenden Entwickelung unterscheiden.

I. Zellulargedächtnis. Mit Recht hatte der Physiologe Ewald Hering in einer gedankenreichen Abhandlung »das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie« bezeichnet und die hohe Bedeutung dieser Seelentätigkeit hervorgehoben, »der wir fast alles verdanken, was wir sind und haben« (1870). Ich habe später (1876) diesen Gedanken weiter ausgeführt und in seiner fruchtbaren Anwendung auf die Entwickelungslehre zu begründen versucht, in meiner Abhandlung über »Die Perigenesis der Plastidule oder die Wellenzeugung der Lebensteilchen; ein Versuch zur mechanischen Erklärung der elementaren Entwickelungsvorgänge«. Ich habe dort das »unbewußte Gedächtnis« als eine allgemeine, höchst wichtige Funktion aller Plastidule nachzuweisen gesucht, d. h. jener hypothetischen Moleküle oder Molekülgruppen, welche von Naegeli als Micellen, von anderen als Bioplasten usw. bezeichnet worden sind. Nur die lebendigen Plastidule, als die individuellen Molekeln des aktiven Plasma, sind reproduktiv und besitzen somit Gedächtnis; das ist der Hauptunterschied der organischen Natur von der anorganischen. Man kann sagen: »Die Erblichkeit ist das Gedächtnis der Plastidule, hingegen die Variabilität ist die Fassungskraft der Plastidule«. Das elementare Gedächtnis der einzelligen Protisten setzt sich zusammen aus dem molekularen Gedächtnis der Plastidule oder Micellen, aus welchen ihr lebendiger Zellenleib sich aufbaut. Für die erstaunlichen Leistungen des unbewußten Gedächtnisses bei diesen einzelligen Protisten ist wohl keine Tatsache lehrreicher als die unendlich mannigfaltige und regelmäßige Bildung ihrer Schutzapparate, der Schalen und Skelette; besonders die Diatomeen unter den Protophyten, die Radiolarien unter den Protozoen liefern dafür eine Fülle von interessanten Beispielen. In vielen tausend Arten dieser Protisten vererbt sich die spezifische Skelettform relativ konstant. (Vergl. die wichtige Schrift von Richard Semon, 1904: »Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens«).

II. Histonalgedächtnis. Ebenso interessante Beweise für die zweite Stufe der Erinnerung, für das unbewußte Gedächtnis der [S. 75] Gewebe, liefert die Vererbung der einzelnen Organe und Gewebe im Körper der Pflanzen und der niederen, nervenlosen Tiere (Spongien usw.). Diese zweite Stufe erscheint als Reproduktion der Histonalvorstellungen, jener Assozion von Zellularvorstellungen, die schon mit der Bildung von Zönobien bei den sozialen Protisten beginnt.

III. Gleicherweise ist die dritte Stufe, das »unbewußte Gedächtnis« derjenigen Tiere, die bereits ein Nervensystem besitzen, als Reproduktion der entsprechenden »unbewußten Vorstellungen« zu betrachten, welche in gewissen Ganglienzellen aufgespeichert sind. Bei den meisten niederen Tieren ist wohl alles Gedächtnis unbewußt. Aber auch beim Menschen und den höheren Tieren, denen wir Bewußtsein zuschreiben müssen, sind die täglichen Funktionen des unbewußten Gedächtnisses ungleich häufiger und mannigfaltiger als diejenigen des bewußten; davon überzeugt uns leicht eine unbefangene Prüfung von tausend unbewußten Tätigkeiten, die wir aus Gewohnheit, ohne daran zu denken, beim Gehen, Sprechen, Schreiben, Essen usw., täglich vollziehen.

IV. Das bewußte Gedächtnis, welches durch bestimmte Gehirnzellen beim Menschen und den höheren Tieren vermittelt wird, erscheint daher nur als eine spät entstandene »innere Spiegelung«, als die höchste Blüte derselben psychischen Vorstellungs-Reproduktionen, welche bei unseren niederen tierischen Vorfahren sich als unbewußte Vorgänge in den Ganglienzellen abspielten.

Assozion der Vorstellungen. Die Verkettung der Vorstellungen, welche man gewöhnlich als Assoziation der Ideen (oder kürzer Assozion) bezeichnet, durchläuft ebenfalls eine lange Stufenleiter von den niedersten bis zu den höchsten Stufen. Die Erzeugnisse dieser »Ideenassozion« sind äußerst mannigfaltig; trotzdem aber führt eine sehr lange, ununterbrochene Stufenleiter allmählicher Entwickelung von den einfachsten Assozionen der niedersten Protisten bis zu den vollkommensten Ideenverkettungen des Kulturmenschen hinauf. Alles höhere Seelenleben wird um so vollkommener, je mehr sich die normale Assozion unendlich zahlreicher Vorstellungen ausdehnt, und je naturgemäßer dieselben durch die kritische Vernunft geordnet werden. Im Traume, wo diese Kritik fehlt, erfolgt oft die Assozion der reproduzierten Vorstellungen in der konfusesten Form. Aber auch im Schaffen der Phantasie, welche durch mannigfaltige Verkettung vorhandener Vorstellungen ganz neue Gruppen derselben produziert, ebenso in den Halluzinationen usw. werden dieselben oft ganz naturwidrig geordnet und erscheinen daher bei nüchterner Betrachtung unvernünftig. Ganz besonders gilt dies von den übernatürlichen [S. 76] »Gestalten des Glaubens«, dem Geisterspuk des Spiritismus und Okkultismus. Aber gerade diese abnormen Assozionen des »Glaubens« und der angeblichen »Offenbarung« werden vielfach als die wertvollsten »Geistesgüter« des Menschen hochgeschätzt.

Instinkte. Die veraltete Psychologie des Mittelalters, die allerdings auch heute noch viele Anhänger besitzt, betrachtete das Seelenleben des Menschen und der Tiere als gänzlich verschiedene Erscheinungen; sie leitete das erstere von der »Vernunft«, das letztere von dem »Instinkt« ab. Der traditionellen Schöpfungsgeschichte entsprechend nahm man an, daß jeder Tierart bei ihrer Schöpfung eine bestimmte, unbewußte Seelenqualität vom Schöpfer eingepflanzt sei, und daß dieser »Naturtrieb« (Instinctus) einer jeden Species ebenso unveränderlich sei wie deren körperliche Organisation. Nachdem schon Lamarck (1809) bei Begründung seiner Deszendenztheorie diesen Irrtum als unhaltbar erwiesen, wurde er durch Darwin (1859) vollständig widerlegt; er bewies an der Hand seiner Selektionstheorie folgende wichtige Lehrsätze: I. Die Instinkte der Spezies sind individuell verschieden und ebenso der Abänderung durch Anpassung unterworfen wie die morphologischen Merkmale der Körperbildung. II. Diese Variationen (großenteils durch veränderte Gewohnheiten entstanden) werden durch Vererbung teilweise auf die Nachkommen übertragen und im Laufe der Generationen gehäuft und befestigt. III. Die Selektion (ebenso die künstliche wie die natürliche) trifft unter diesen erblichen Abänderungen der Seelentätigkeit eine Auswahl, sie erhält die zweckmäßigsten und entfernt die weniger passenden Modifikationen. IV. Die dadurch bedingte Divergenz des psychischen Charakters führt so im Laufe der Generationsfolgen ebenso zur Entstehung neuer Instinkte, wie die Divergenz des morphologischen Charakters zur Entstehung neuer Spezies. Dies gilt für sämtliche Protisten und Pflanzen ebenso wie für sämtliche Tiere und Menschen. Die Instinkte treten aber bei letzteren um so mehr zurück, je mehr sich auf ihre Kosten die Vernunft entwickelt.

Stufenleiter der Vernunft. In jenen oberflächlichen, mit dem Seelenleben der Tiere unbekannten psychologischen Betrachtungen, welche nur im Menschen eine »wahre Seele« anerkennen, wird auch ihm allein als höchstes Gut die »Vernunft« und das Bewußtsein zugeschrieben. Auch dieser Irrtum ist durch die vergleichende Psychologie der letzten Jahrzehnte gründlich widerlegt. Die höheren Wirbeltiere besitzen ebensogut Vernunft wie der Mensch selbst, und innerhalb der Tierreihe zeigt sich ebenso eine lange Stufenleiter in der allmählichen Entwickelung der Vernunft wie innerhalb der Menschenreihe. Der Unterschied zwischen der Vernunft [S. 77] eines Goethe, Kant, Lamarck, Darwin und derjenigen des niedersten Naturmenschen, eines Wedda, Akka, Australnegers und Patagoniers, ist viel größer als die Differenz zwischen der Vernunft dieser letzteren und der »vernünftigsten« Säugetiere, der Menschenaffen, Hunde, Elefanten usw.

Sprache. Der höhere Grad von Entwickelung der Begriffe, von Verstand und Vernunft, welcher den Menschen so hoch über die Tiere erhebt, ist eng verknüpft mit der Ausbildung seiner Sprache. Aber auch hier, wie dort, ist eine lange Stufenleiter der Entwickelung nachweisbar, welche ununterbrochen von den niedersten zu den höchsten Bildungsstufen hinaufführt. Sprache ist ebensowenig als Vernunft ein ausschließliches Eigentum des Menschen. Vielmehr ist Sprache im weiteren Sinne ein gemeinsamer Vorzug aller höheren sozialen Tiere, mindestens aller Gliedertiere und Wirbeltiere, welche in Gesellschaften und Herden vereinigt leben; sie ist ihnen notwendig zur Verständigung, zur Mitteilung ihrer Vorstellungen. Diese kann nun entweder durch Berührung oder durch Zeichengebung geschehen, oder durch Töne, welche bestimmte Begriffe bezeichnen. Auch der Gesang der Singvögel und der singenden Menschenaffen (Hylobates) gehört zur Lautsprache, ebenso wie das Bellen der Hunde und das Wiehern der Pferde; ferner das Zirpen der Grillen und das Geschrei der Zikaden. Aber nur beim Menschen hat sich jene artikulierte Begriffssprache entwickelt, welche seine Vernunft zu so viel höheren Leistungen befähigt. Die vergleichende Sprachforschung hat gelehrt, wie die zahlreichen hochentwickelten Sprachen der verschiedenen Völker sich aus wenigen einfachen Ursprachen langsam und allmählich entwickelt haben. Romanes (1893) hat überzeugend dargetan, daß die Sprache des Menschen nur dem Grade der Entwickelung nach, nicht dem Wesen und der Art nach von derjenigen der höheren Tiere verschieden ist.

Stufenleiter der Gemütsbewegungen oder Affekte. Die wichtige Gruppe von Seelentätigkeiten, welche wir unter dem Begriffe »Gemüt« zusammenfassen, spielt eine große Rolle ebenso in der theoretischen wie in der praktischen Vernunftlehre. Für unsere Betrachtungsweise sind sie deshalb besonders wichtig, weil hier der direkte Zusammenhang der Gehirnfunktion mit anderen physiologischen Funktionen (Herzschlag, Sinnestätigkeit, Muskelbewegung) unmittelbar einleuchtet; dadurch wird hier besonders das Widernatürliche und Unhaltbare jener Philosophie klar, welche die Psychologie prinzipiell von der Physiologie trennen will. Alle die zahlreichen Äußerungen des Gemütslebens, welche wir beim Menschen finden, kommen auch bei den höheren Tieren vor (besonders bei den Menschenaffen und Hunden); so verschiedenartig [S. 78] sie auch entwickelt sind, so lassen sich doch alle wieder auf die beiden Elementarfunktionen der Psyche zurückführen, auf Empfindung und Bewegung, und auf deren Verbindung im Reflex und in der Vorstellung. Zum Gebiete der Empfindung im weiteren Sinne gehört das Gefühl von Lust und Unlust, welches das Gemüt bestimmt, und ebenso gehört auf der anderen Seite zum Gebiete der Bewegung die entsprechende Zuneigung und Abneigung (»Liebe und Haß«), das Streben nach Erlangen der Lust und nach Vermeiden der Unlust. »Anziehung und Abstoßung« erscheinen hier zugleich als die Urquelle des Willens. Die Leidenschaften, welche eine so große Rolle im höheren Seelenleben des Menschen spielen, sind nur Steigerungen der »Gemütsbewegungen« und Affekte. Daß auch diese den Menschen und Tieren gemeinsam sind, hat Romanes einleuchtend gezeigt. Auf der tiefsten Stufe des organischen Lebens schon finden wir bei allen Protisten jene elementaren Gefühle von Lust und Unlust, welche sich in ihren sogenannten Tropismen äußern, in dem Streben nach Licht oder Dunkelheit, nach Wärme oder Kälte, in dem verschiedenen Verhalten gegen positive und negative Elektrizität. Auf der höchsten Stufe des Seelenlebens dagegen treffen wir beim Kulturmenschen jene feinsten Gefühlstöne und Abstufungen von Entzücken und Abscheu, von Liebe und Haß, welche die Triebfedern der Kulturgeschichte und die unerschöpfliche Fundgrube der Poesie sind. Und doch verbindet eine zusammenhängende Kette von allen denkbaren Übergangsstufen jene primitivsten Urzustände des Gemüts im Psychoplasma der einzelligen Protisten mit diesen höchsten Entwickelungsformen der Leidenschaften beim Menschen, welche sich in den Ganglienzellen der Großhirnrinde abspielen.

Stufenleiter des Willens. Der Begriff des Willens unterliegt gleich anderen psychologischen Grundbegriffen den verschiedensten Deutungen und Definitionen. Bald wird der Wille im weitesten Sinne als kosmologisches Attribut betrachtet: »die Welt als Wille und Vorstellung« (Schopenhauer), bald im engsten Sinne als ein anthropologisches Attribut, als eine ausschließliche Eigenschaft des Menschen; letzteres gilt z. B. für Descartes, für welchen die Tiere willenlose und empfindungslose Maschinen sind. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch wird der Wille von der Erscheinung der willkürlichen Bewegung abgeleitet und somit als eine Seelentätigkeit der meisten Tiere betrachtet. Wenn wir den Willen im Lichte der vergleichenden Physiologie und Entwickelungsgeschichte untersuchen, so kommen wir — ebenso wie bei der Empfindung — zur Überzeugung, daß er eine allgemeine Eigenschaft [S. 79] des lebenden Psychoplasma ist.

Willensfreiheit. Das Problem von der Freiheit des menschlichen Willens ist unter allen Welträtseln dasjenige, welches den denkenden Menschen von jeher am meisten beschäftigt hat, und zwar deshalb, weil sich hier mit dem hohen philosophischen Interesse der Frage zugleich die wichtigsten Folgerungen für die praktische Philosophie verknüpfen, für die Moral, die Erziehung, die Rechtspflege usw. E. Du Bois-Reymond, welcher dasselbe als das siebente und letzte unter seinen »sieben Welträtseln« behandelt, sagt daher von dem Problem der Willensfreiheit mit Recht: »Jeden berührend, scheinbar jedem zugänglich, innig verflochten mit den Grundbedingungen der menschlichen Gesellschaft, auf das tiefste eingreifend in die religiösen Überzeugungen, hat diese Frage in der Geistes- und Kulturgeschichte eine Rolle von unermeßlicher Wichtigkeit gespielt, und in ihrer Behandlung spiegeln sich die Entwickelungsstadien des Menschengeistes deutlich ab. — Vielleicht gibt es keinen Gegenstand menschlichen Nachdenkens, über welchen längere Reihen nie mehr aufgeschlagener Folianten im Staube der Bibliotheken modern.« — Diese Wichtigkeit der Frage tritt auch darin klar zutage, daß Kant die Überzeugung von der »Willensfreiheit« unmittelbar neben diejenige von der »Unsterblichkeit der Seele« und neben den »Glauben an Gott« stellte. Er bezeichnete diese drei großen Fragen als die drei unentbehrlichen »Postulate der praktischen Vernunft«, nachdem er vorher in der »Kritik der reinen Vernunft« klar dargelegt hatte, daß ihre Annahme völlig unbegründet ist.

Das Merkwürdigste in dem großartigen und höchst verworrenen Streite über die Willensfreiheit ist vielleicht die Tatsache, daß dieselbe theoretisch nicht nur von höchst kritischen Philosophen, sondern auch von den extremsten Gegensätzen verneint und trotzdem von den meisten Menschen als selbstverständlich noch heute bejaht wird. Hervorragende Lehrer der christlichen Kirche, wie der Kirchenvater Augustin und der Reformator Calvin, leugnen die Willensfreiheit ebenso bestimmt wie die bekanntesten Führer des reinen Materialismus, Holbach im 18. und Büchner im 19. Jahrhundert. Die christlichen Theologen verneinen sie, weil sie mit ihrem festen Glauben an die Allmacht Gottes und die Prädestination unvereinbar ist; Gott, der Allmächtige und Allwissende, sah und wollte alles von Ewigkeit voraus; also bestimmte er auch das Handeln der Menschen. Wenn der Mensch nach freiem Willen handelte, anders, als es Gott vorausbestimmt hatte, so wäre Gott nicht allmächtig und allwissend gewesen. In demselben Sinne war auch Leibniz unbedingter Determinist. Die monistischen Naturforscher des 18. Jahrhunderts, allen voran Laplace, verteidigten [S. 80] den Determinismus wieder auf Grund ihrer einheitlichen mechanischen Weltanschauung.

Der gewaltige Kampf zwischen den Deterministen und Indeterministen, zwischen den Gegnern und den Anhängern der Willensfreiheit, ist heute, nach mehr als zwei Jahrtausenden, endgültig zugunsten der ersteren entschieden. Der menschliche Wille ist ebensowenig frei als derjenige der höheren Tiere, von welchem er sich nur dem Grade, nicht der Art nach unterscheidet. Während noch im 18. Jahrhundert das alte Dogma von der Willensfreiheit wesentlich mit allgemeinen, philosophischen und kosmologischen Gründen bestritten wurde, hat uns dagegen das 19. Jahrhundert ganz andere Waffen zu dessen definitiver Widerlegung geschenkt, die gewaltigen Waffen, welche wir dem Arsenal der vergleichenden Physiologie und Entwickelungsgeschichte verdanken. Wir wissen jetzt, daß jeder Willensakt ebenso durch die Organisation des wollenden Individuums bestimmt und ebenso von den jeweiligen Bedingungen der umgebenden Außenwelt abhängig ist wie jede andere Seelentätigkeit. Der Charakter des Strebens ist von vornherein durch die Vererbung von Eltern und Voreltern bedingt; der Entschluß zum jedesmaligen Handeln wird durch die Anpassung an die momentanen Umstände gegeben, wobei das stärkste Motiv den Ausschlag gibt, entsprechend den Gesetzen, welche die Statik der Gemütsbewegungen bestimmen. Die Ontogenie lehrt uns die individuelle Entwickelung des Willens beim Kinde verstehen, die Phylogenie aber die historische Ausbildung des Willens innerhalb der Reihe unserer Wirbeltier-Ahnen.

Achtes Kapitel.

Keimesgeschichte der Seele.

Monistische Studien über ontogenetische Psychologie. Entwickelung des Seelenlebens im individuellen Leben der Person.

Unsere menschliche Seele — gleichviel, wie man ihr Wesen auffaßt — unterliegt im Laufe unseres individuellen Lebens einer stetigen Entwickelung. Diese ontogenetische Tatsache ist für unsere monistische Psychologie von fundamentaler Bedeutung, obwohl [S. 81] die meisten »Psychologen von Fach« ihr teils nur geringe, teils gar keine Berücksichtigung schenken. Wie nun die individuelle Entwickelungsgeschichte der »wahre Lichtträger für alle Untersuchungen über organische Körper ist«, so wird sie auch über die wichtigsten Geheimnisse des Seelenlebens uns erst das wahre Licht anzünden.

Obgleich nun diese »Keimesgeschichte der Menschenseele« äußerst wichtig und interessant ist, hat sie doch bisher nur in sehr beschränktem Umfange die verdiente Berücksichtigung gefunden. Es waren bisher fast ausschließlich die Pädagogen, welche sich mit einem Teile derselben beschäftigten; durch ihren praktischen Beruf darauf angewiesen, die Ausbildung der Seelentätigkeit beim Kinde zu leiten und zu überwachen, mußten sie auch theoretisches Interesse an den dabei beobachteten psychogenetischen Tatsachen finden. Indessen standen die Pädagogen in der Neuzeit wie im Altertum größtenteils im Banne der herrschenden dualistischen Psychologie; dagegen waren sie mit den wichtigsten Tatsachen der vergleichenden Psychologie, sowie mit der Organisation und Funktion des Gehirns meistens nicht bekannt. Außerdem aber betrafen ihre Beobachtungen größtenteils erst die Kinder in schulpflichtigem Alter oder in den unmittelbar vorhergehenden Lebensjahren. Die merkwürdigen Erscheinungen, welche die individuelle Psychogenie des Kindes gerade in den ersten Lebensjahren darbietet, und welche alle denkenden Eltern freudig bewundern, wurden fast niemals Gegenstand eingehender wissenschaftlicher Studien. Hier hat erst Wilhelm Preyer (1881) Bahn gebrochen, in seiner Schrift über »Die Seele des Kindes; Beobachtungen über die geistige Entwickelung des Menschen in den ersten Lebensjahren«. Indessen müssen wir, um volle Klarheit zu gewinnen, noch weiter zurückgehen, bis auf die erste Entstehung der Seele im befruchteten Ei.

Entstehung der individuellen Seele. Der Ursprung und die erste Entstehung des menschlichen Individuums galt noch im Anfange des 19. Jahrhunderts für ein vollkommenes Geheimnis. Allerdings hatte Caspar Friedrich Wolff schon 1759 in seiner Theoria generationis das wahre Wesen der embryonalen Entwickelung aufgedeckt und an der sicheren Hand kritischer Beobachtung gezeigt, daß bei der Entwickelung des Keimes aus dem einfachen Ei eine wahre Epigenesis, d. h. eine Reihe der merkwürdigsten Neubildungsprozesse stattfinde. Allein die damalige Physiologie lehnte diese empirischen, unmittelbar mikroskopisch zu demonstrierenden Erkenntnisse rundweg ab und hielt an dem hergebrachten Dogma der embryonalen Präformation fest. Nach diesem nahm man an, daß im Ei der Organismus mit allen [S. 82] seinen Teilen vorgebildet oder präformiert sei; die »Entwickelung« des Keimes bestehe eigentlich nur in einer »Auswickelung« der eingewickelten Teile (Evolutio). Als notwendiger Folgeschluß dieses Irrtums ergab sich daraus weiterhin die oben erwähnte Einschachtelungstheorie (S. 33). Diesem Dogma der »Ovulisten«schule stand gegenüber eine andere, ebenso irrtümliche Ansicht, die der »Animalkulisten«; diese glaubten, daß der eigentliche Keim nicht in der weiblichen Eizelle der Mutter, sondern in der männlichen Spermazelle des Vaters liege, und daß in diesem »Samentierchen« die Einschachtelung der Generationsreihen zu suchen sei.

Leibniz übertrug diese Einschachtelungslehre ganz folgerichtig auch auf die menschliche Seele; er leugnete für sie eine wahre Entwickelung (Epigenesis) ebenso wie für den Körper und sagte in seiner Theodicee: »So sollte ich meinen, daß die Seelen, welche eines Tages menschliche Seelen sein werden, im Samen, wie jene von anderen Spezies, dagewesen sind; daß sie in den Voreltern bis auf Adam, also seit dem Anfang der Dinge, immer in der Form organisierter Körper existiert haben.« Ähnliche Vorstellungen erhielten sich sowohl in der Biologie wie in der Philosophie noch bis in das dritte Dezennium des 19. Jahrhunderts, wo ihnen die Reform der Keimesgeschichte durch Baer den Todesstoß versetzte.

Mythologie des Seelenursprungs. Die näheren Aufschlüsse, welche wir durch die vergleichende Ethnologie neuerdings über die mannigfaltigen Mythenbildungen der älteren Kulturvölker sowohl als der heutigen Naturvölker gewonnen haben, sind auch für die Psychogenie von großem Interesse. Betreffs ihres wissenschaftlichen oder poetischen Gehaltes können die Mythen über den Seelenursprung etwa folgendermaßen in fünf Gruppen geordnet werden: I. Mythus der Seelenwanderung: die Seele lebte früher im Körper eines anderen Tieres und ist erst aus diesem in den menschlichen Körper übergetreten; die ägyptischen Priester z. B. behaupteten, daß die menschliche Seele nach dem Tode des Leibes durch alle Tiergattungen hindurchwandere, nach 3000 Jahren aber wieder in einen Menschenleib zurückkehre. II. Mythus der Seeleneinpflanzung: die Seele existierte selbständig an einem anderen Orte, in einer Seelen-Vorratskammer (etwa in einer Art von Keimschlaf oder latentem Leben); sie wird von einem Vogel (bisweilen als Adler, oft als »Klapperstorch« gedacht) geholt und in den menschlichen Körper eingesetzt. III. Mythus der Seelenschöpfung: der göttliche Schöpfer, als persönlicher »Gott-Vater« gedacht, erschafft die Seelen, hält sie vorrätig — bald in einem Seelenteich, bald an einem Seelenbaum; der Schöpfer nimmt dieselben heraus und setzt sie (während des Zeugungsaktes) [S. 83] dem menschlichen Keime ein. IV. Mythus der Seeleneinschachtelung (von Leibniz, vorher erwähnt). V. Mythus der Seelenteilung (von Rudolf Wagner, 1855); im Zeugungsakte spaltet sich ein Teil von beiden (immateriellen!) Seelen ab, die den Körper der beiden kopulierenden Eltern bewohnen; der mütterliche Seelenkeim lebt in der Eizelle, der väterliche in dem beweglichen Samentierchen; indem diese beiden Keimzellen verschmelzen, wachsen auch die beiden sie begleitenden Seelen zur Bildung einer neuen immateriellen Seele zusammen.

Physiologie des Seelenursprungs. Obwohl die angeführten Dichtungen über die Entstehung der einzelnen Menschenseele heute noch sehr weite Verbreitung und Anerkennung besitzen, ist dennoch ihr rein mythologischer Charakter jetzt sicher nachgewiesen. Die bewunderungswürdigen Untersuchungen, welche im Laufe der letzten Dezennien über die feineren Vorgänge bei der Befruchtung und Keimung des Eies ausgeführt worden sind, haben ergeben, daß diese mysteriösen Erscheinungen sämtlich in das Gebiet der Zellenphysiologie gehören. Sowohl die weibliche Keimanlage, das Ei, als der männliche Befruchtungskörper, das Spermium oder Samentierchen, sind einfache Zellen. Diese lebendigen Zellen besitzen eine Summe von physiologischen Eigenschaften, welche wir unter dem Begriff der Zellseele zusammenfassen, ebenso wie bei den permanent einzelligen Protisten (vergl. S. 92). Beiderlei Geschlechtszellen besitzen das Vermögen der Bewegung und Empfindung. Die jugendliche Eizelle oder das »Urei« bewegt sich nach Art einer Amöbe; die sehr kleinen Samenkörperchen oder Spermien, von welchen Millionen in jedem Tropfen des schleimartigen, männlichen Samens sich finden, sind Geißelzellen und bewegen sich mittels ihrer schwingenden Geißel ebenso lebhaft schwimmend im Sperma umher wie die gewöhnlichen Geißelinfusorien (Flagellaten).

Wenn nun die beiderlei Zellen bei der Begattung zusammentreffen, oder wenn sie durch künstliche Befruchtung (z. B. bei Fischen) in Berührung gebracht werden, ziehen sie sich gegenseitig an und legen sich fest aneinander. Die Ursache dieser zellularen Attraktion ist eine chemische, dem Geruche oder Geschmacke verwandte Sinnestätigkeit des Plasma, die wir als »erotischen Chemotropismus« bezeichnen. Man kann sie auch geradezu (sowohl im Sinne der Chemie als im Sinne der Romanliebe) »Zellenwahlverwandtschaft« oder »sexuelle Zellenliebe« nennen. Zahlreiche Geißelzellen des Sperma schwimmen auf die ruhige Eizelle lebhaft hin und versuchen in deren Körper einzudringen. Es gelingt aber normalerweise nur einem einzigen glücklichen Bewerber, [S. 84] das ersehnte Ziel wirklich zu erreichen. Sobald sich dieses bevorzugte »Samentierchen« mit seinem »Kopfe« (d. h. dem Zellenkern) in den Leib der Eizelle eingebohrt hat, wird von der Eizelle eine dünne Schleimschicht abgesondert, welche das Eindringen anderer männlicher Zellen verhindert. Nur wenn man durch niedere Temperatur die Eizelle in Kältestarre versetzt oder sie durch narkotische Mittel (Chloroform, Morphium, Nikotin) betäubt, unterbleibt die Bildung dieser Schutzhülle; dann tritt »Überfruchtung oder Polyspermie« ein, und zahlreiche Samenfäden bohren sich in den Leib der bewußtlosen Zelle ein. Diese merkwürdige Tatsache bezeugt ebenso einen niederen Grad von spezifischer, sinnlicher, lebhafter Empfindung in den beiderlei Geschlechtszellen wie die wichtigen Vorgänge, die gleich darauf sich in ihrem Innern abspielen. Die beiderlei Zellenkerne, der weibliche Eikern und der männliche Spermakern, ziehen sich gegenseitig an, nähern sich und verschmelzen bei der Berührung vollständig miteinander. So ist denn aus der befruchteten Eizelle jene wichtige neue Zelle entstanden, welche wir Stammzelle nennen, und aus deren wiederholter Teilung der ganze vielzellige Organismus hervorgeht.

Die psychologischen Erkenntnisse, welche sich aus diesen merkwürdigen Tatsachen der Befruchtung ergeben, sind überaus wichtig und bisher nicht entfernt in ihrer allgemeinen Bedeutung gewürdigt. Wir fassen die wesentlichsten Folgerungen in folgenden fünf Sätzen zusammen: I. Jedes menschliche Individuum ist, wie jedes andere höhere Tier, im Beginne seiner Existenz eine einfache Zelle. II. Diese Stammzelle entsteht überall auf dieselbe Weise, durch Verschmelzung oder Kopulation von zwei getrennten Zellen verschiedenen Ursprungs, der weiblichen Eizelle und der männlichen Spermazelle. III. Beide Geschlechtszellen besitzen eine verschiedene »Zellseele«, d. h. beide sind durch eine besondere Form von Empfindung und von Bewegung ausgezeichnet. IV. In dem Momente der Befruchtung oder Empfängnis verschmelzen nicht nur die Plasmakörper der beiden Geschlechtszellen und ihre Kerne, sondern auch ihre »Seelen«; d. h. die in ihnen enthaltenen psychischen Anlagen (oder »Spannkräfte«) vereinigen sich zum »Seelenkeim« der neugebildeten Stammzelle. V. Daher besitzt jede Person leibliche und geistige Eigenschaften von beiden Eltern; der Kern der Eizelle überträgt einen Teil der mütterlichen, der Kern der Spermazelle einen Teil der väterlichen Eigenschaften.

Durch diese empirisch erkannten Erscheinungen der »Empfängnis« oder Konzeption wird ferner die höchst wichtige Tatsache festgestellt, [S. 85] daß jeder Mensch, wie jedes andere Tier, einen Beginn der individuellen Existenz hat; die völlige Kopulation der beiden sexuellen Zellkerne bezeichnet haarscharf den Augenblick, in welchem nicht nur der Körper der neuen Stammzelle entsteht, sondern auch ihre »Seele«. Durch diese Tatsache allein schon wird der alte Mythus von der Unsterblichkeit der Seele widerlegt, auf den wir später zurückkommen. Ferner wird dadurch der noch sehr verbreitete Aberglaube widerlegt, daß der Mensch seine individuelle Existenz der »Gnade des liebenden Gottes« verdankt. Die Ursache derselben beruht vielmehr einzig und allein auf dem »Eros« seiner beiden Eltern, auf jenem mächtigen, allen vielzelligen Tieren und Pflanzen gemeinsamen Geschlechtstriebe, welcher zu deren Begattung führt. Das Wesentliche bei diesem physiologischen Prozesse ist aber nicht, wie man früher annahm, die »Umarmung« oder die damit verknüpften Liebesspiele, sondern einzig und allein die Einführung des männlichen Sperma in die weiblichen Geschlechtskanäle. Nur dadurch wird es bei den landbewohnenden Tieren möglich, daß der befruchtende Samen mit der abgelösten Eizelle zusammenkommt (was beim Menschen gewöhnlich innerhalb des Uterus geschieht). Bei niederen, wasserbewohnenden Tieren (z. B. Fischen, Muscheln, Medusen) werden beiderlei reife Geschlechtsprodukte einfach in das Wasser entleert, und hier bleibt ihr Zusammentreffen dem Zufall überlassen; dann fehlt eine eigentliche Begattung, und damit fallen zugleich jene zusammengesetzten psychischen Funktionen des »Liebeslebens« hinweg, die bei höheren Tieren eine so große Rolle spielen. Daher fehlen auch allen niederen, nicht kopulierenden Tieren jene interessanten Organe, die Darwin als »sekundäre Sexualcharaktere« bezeichnet hat, die Produkte der geschlechtlichen Zuchtwahl: der Bart des Mannes, das Geweih des Hirsches, das prachtvolle Gefieder der Paradiesvögel und vieler Hühnervögel, sowie viele andere Auszeichnungen der Männchen, welche den Weibchen fehlen. (Vergl. Wilhelm Bölsche, Liebesleben der Natur, 3 Bände, 1901.)

Vererbung der Seele. Unter den angeführten Folgeschlüssen der Konzeptionsphysiologie ist für die Psychologie ganz besonders wichtig die Vererbung der Seelenqualitäten von beiden Eltern. Daß jedes Kind besondere Eigentümlichkeiten des Charakters, Temperament, Talent, Sinnesschärfe, Willensenergie von beiden Eltern erbt, ist allgemein bekannt. Ebenso bekannt ist die Tatsache, daß auch psychische Eigenschaften von beiderlei Großeltern durch Vererbung übertragen werden; ja, häufig stimmt in einzelnen Beziehungen der Mensch mehr mit den Großeltern als mit den Eltern überein. Alle die merkwürdigen [S. 86] Gesetze der Vererbung besitzen ebenso allgemeine Gültigkeit für die besonderen Erscheinungen der Seelentätigkeit wie der Körperbildung; ja, sie treten uns häufig an der ersteren noch viel auffallender und klarer entgegen, als an der letzteren.

Nun ist ja an sich das große Gebiet der Vererbung, für dessen ungeheuere Bedeutung uns erst Darwin das wissenschaftliche Verständnis eröffnet hat, reich an dunkeln Rätseln und physiologischen Schwierigkeiten; wir dürfen nicht beanspruchen, daß uns schon jetzt alle Seiten desselben klar vor Augen liegen. Aber so viel haben wir doch schon sicher gewonnen, daß wir die Vererbung als eine physiologische Funktion des Organismus betrachten, die mit der Tätigkeit seiner Fortpflanzung unmittelbar verknüpft ist; und wie alle anderen Lebenstätigkeiten müssen wir auch diese schließlich auf physikalische und chemische Prozesse, auf Mechanik des Plasma zurückführen. Nun kennen wir aber jetzt den Vorgang der Befruchtung selbst genau; wir wissen, daß dabei ebenso der Spermakern die väterlichen, wie der Eikern die mütterlichen Eigenschaften auf die neugebildete Stammzelle überträgt. Die Vermischung beider Zellkerne ist das eigentliche Hauptmoment der Vererbung; durch sie werden ebenso die individuellen Eigenschaften der Seele wie des Leibes auf das neugebildete Individuum übertragen. Diesen ontogenetischen Tatsachen steht die dualistische und mystische Psychologie der noch heute herrschenden Schulen ratlos gegenüber, während sie sich durch unsere monistische Psychogenie in einfachster Weise erklären.

Seelenmischung (Psychische Amphigonie). Die physiologische Tatsache, auf welche es für die richtige Beurteilung der individuellen Psychogenie vor allem ankommt, ist die Kontinuität der Psyche in der Generationsreihe. Wenn im Moment der Empfängnis auch tatsächlich ein neues Individuum entsteht, so ist dasselbe doch weder hinsichtlich seiner geistigen noch leiblichen Qualität eine unabhängige Neubildung, sondern lediglich das Produkt aus der Verschmelzung der beiden elterlichen Faktoren. Die Zellseelen beider Geschlechtszellen verschmelzen im Befruchtungsakte ebenso vollständig zur Bildung einer neuen Zellseele, wie die beiden Zellkerne, welche die materiellen Träger dieser psychischen Spannkräfte sind, zu einem neuen Zellkern sich verbinden. Da wir nun sehen, daß die Individuen einer und derselben Art stets gewisse, wenn auch geringfügige Unterschiede zeigen, so müssen wir annehmen, daß solche auch schon in der chemischen Beschaffenheit der kopulierenden Keimzellen selbst vorhanden sind.

Psychologischer Atavismus. Wenn bei der Seelenmischung im Augenblicke der Empfängnis zunächst auch nur die besonderen [S. 87] Eigenschaften der beiden Elternseelen mittels Verschmelzung der beiden erotischen Zellkerne erblich übertragen werden, so kann damit doch zugleich der erbliche psychische Einfluß älterer, oft weit zurückliegender Generationen mit fortgepflanzt werden. Denn auch die Gesetze der latenten Vererbung oder des Atavismus gelten ebenso für die Psyche wie für die anatomische Organisation. Gerade in feineren Zügen des Seelenlebens, im Besitze bestimmter künstlerischer Talente oder Neigungen, in der Energie des Charakters, in der Leidenschaft des Temperamentes gleichen oft hervorragende Menschen mehr ihren Großeltern als den Eltern; nicht selten tritt auch ein auffälliger Charakterzug hervor, den weder diese noch jene besaßen, der aber in einem älteren Gliede der Ahnenreihe vor langer Zeit sich offenbart hatte. Auch in diesen merkwürdigen Atavismen gelten dieselben Vererbungsgesetze für die Psyche wie für die Physiognomie, für die individuelle Qualität der Sinnesorgane, wie für die der Muskeln, des Skeletts und anderer Körperteile. Am auffälligsten können wir dieselben in regierenden Dynastien und in alten Adelsgeschlechtern verfolgen, deren hervorragende Tätigkeit im Staatsleben zur genaueren historischen Darstellung der Individuen in der Generationskette Veranlassung gegeben hat, so z. B. bei den Hohenzollern, Hohenstaufen, Oraniern, Bourbonen usw., und nicht minder bei den römischen Zäsaren.

Das Biogenetische Grundgesetz in der Psychologie (1866). Der Kausalzusammenhang der biontischen (individuellen) und der phyletischen (historischen) Entwickelung, den ich schon in der Generellen Morphologie als oberstes Gesetz an die Spitze aller biogenetischen Untersuchungen gestellt hatte, besitzt ebenso allgemeine Geltung für die Psychologie wie für die Morphologie. Wie bei allen anderen Organismen, so ist auch beim Menschen »die Keimesgeschichte ein Auszug der Stammesgeschichte«. Diese gedrängte und abgekürzte Rekapitulation ist um so vollständiger, je mehr durch beständige Vererbung die ursprüngliche Auszugsentwickelung (Palingenesis) beibehalten wird; hingegen wird sie um so unvollständiger, je mehr durch wechselnde Anpassung die spätere Störungsentwickelung (Cenogenesis) eingeführt wird (Anthropogenie, 1. Vortrag).

Indem wir dieses Grundgesetz auf die Entwickelungsgeschichte der Seele anwenden, müssen wir ganz besonderen Nachdruck darauf legen, daß stets beide Seiten desselben kritisch im Auge zu behalten sind. Denn beim Menschen wie bei allen höheren Tieren und Pflanzen haben im Laufe der phyletischen Jahrmillionen so beträchtliche Störungen oder Zenogenesen sich ausgebildet, daß dadurch das ursprüngliche reine Bild der Palingenese oder des [S. 88] »Geschichtsauszuges« stark getrübt und verändert erscheint. Während einerseits durch die Gesetze der gleichzeitigen und gleichörtlichen Vererbung die palingenetische Rekapitulation erhalten bleibt, wird sie andererseits durch die Gesetze der abgekürzten und vereinfachten Vererbung wesentlich zenogenetisch verändert. Zunächst ist das deutlich erkennbar in der Keimesgeschichte der Seelenorgane, des Nervensystems, der Muskeln und Sinnesorgane. In ganz gleicher Weise gilt dasselbe aber auch von der Seelentätigkeit, die untrennbar an die normale Ausbildung dieser Organe gebunden ist. Ihre Keimesgeschichte ist beim Menschen, wie bei allen anderen lebendig gebärenden Tieren, schon deshalb stark zenogenetisch abgeändert, weil die volle Ausbildung des Keimes hier längere Zeit innerhalb des mütterlichen Körpers stattfindet. Wir müssen daher als zwei Hauptperioden der individuellen Psychogenie unterscheiden: I. die embryonale und II. die post-embryonale Entwickelungsgeschichte der Seele.

Embryonale Psychogenie. Der menschliche Keim oder Embryo entwickelt sich normalerweise im Mutterleibe während des Zeitraumes von neun Monaten. Während dieser Zeit ist er vollkommen von der Außenwelt abgeschlossen und nicht allein durch die dicke Muskelwand des mütterlichen Fruchtbehälters (Uterus) geschützt, sondern auch durch die besonderen Fruchthüllen (Amnion und Serolemma) welche allen drei höheren Wirbeltierklassen gemeinsam zukommen, den Reptilien, Vögeln und Säugetieren. Es sind das Schutzeinrichtungen, welche von den ältesten Reptilien, den gemeinsamen Stammformen aller Amnioten, erst in der Permperiode (gegen Ende des paläozoischen Zeitalters) erworben wurden, als diese höheren Wirbeltiere sich an das beständige Landleben und die Luftatmung gewöhnten. Ihre vorhergehenden Ahnen, die Amphibien der Steinkohlenperiode, lebten und atmeten noch im Wasser, wie ihre älteren Vorfahren, die Fische.

Bei diesen älteren und niederen wasserbewohnenden Wirbeltieren besaß die Keimesgeschichte noch in viel höherem Grade den palingenetischen Charakter, wie es auch noch bei den meisten Fischen und Amphibien der Gegenwart der Fall ist. Die bekannten Kaulquappen, die Larven der Salamander und Frösche, bewahren noch heute in der ersten Zeit ihres freien Wasserlebens den Körperbau ihrer Fischahnen; sie gleichen ihnen auch in der Lebensweise, in der Kiemenatmung, in der Funktion ihrer Sinnesorgane und ihrer anderen Seelenorgane. Erst wenn die interessante Metamorphose der schwimmenden Kaulquappen eintritt, und wenn sie sich an das Landleben gewöhnen, verwandelt sich ihr fischähnlicher Körper in das vierfüßige, kriechende Amphibium; an die Stelle [S. 89] der Kiemenatmung im Wasser tritt die ausschließliche Luftatmung durch Lungen, und mit der veränderten Lebensweise erlangt auch der Seelenapparat, Nervensystem und Sinnesorgane, einen höheren Grad der Ausbildung. Die schwimmende Kaulquappe besitzt nicht nur die Organisation, sondern auch die Lebensweise und Seelentätigkeit des Fisches und erlangt erst durch ihre Verwandlung diejenige des Frosches.

Beim Menschen wie bei allen anderen Amniontieren ist das nicht der Fall; ihr Embryo ist schon durch den Einschluß in die schützenden Eihüllen dem direkten Einflusse der Außenwelt ganz entzogen und jeder Wechselwirkung mit derselben entwöhnt. Außerdem aber bietet die besondere Brutpflege der Amniontiere ihrem Keime viel günstigere Bedingungen für zenogenetische Abkürzung der palingenetischen Entwickelung. Vor allem gehört dahin die vortreffliche Ernährung des Keims; sie geschieht bei den Reptilien, Vögeln und Monotremen (den eierlegenden Säugetieren) durch den großen gelben Nahrungsdotter, welcher dem Ei beigegeben ist, bei den übrigen Säugetieren hingegen (den lebendig gebärenden Beuteltieren und Zottentieren) durch das Blut der Mutter, welches durch die Blutgefäße des Dottersackes und der Allantois dem Keime zugeführt wird. Bei den höchstentwickelten Zottentieren (Placentalia) hat diese zweckmäßige Ernährungsform durch Ausbildung des Mutterkuchens (Placenta) den höchsten Grad der Vollkommenheit erreicht; daher ist der Embryo schon vor der Geburt hier vollkommen ausgebildet. Seine Seele aber befindet sich während dieser ganzen Zeit im Zustande des Keimschlafes, einem Ruhezustande, welchen Preyer mit Recht dem Winterschlafe der Tiere verglichen hat. Einen gleichen, lange dauernden Schlaf finden wir auch im Puppenzustande jener Insekten, welche eine vollkommene Verwandlung durchmachen (Schmetterlinge, Immen, Fliegen, Käfer usw.). Hier ist der Puppenschlaf, während dessen die wichtigsten Umbildungen der Organe und Gewebe vor sich gehen, um so interessanter, als der vorhergehende Zustand der frei lebenden Larve (Raupe, Engerling oder Made) ein sehr entwickeltes Seelenleben besitzt, und als dieses bedeutend unter derjenigen Stufe steht, welche später (nach dem Puppenschlaf) das vollendete, geflügelte und geschlechtsreife Insekt zeigt.

Postembryonale Psychogenie. Die Seelentätigkeit des Menschen durchläuft während seines individuellen Lebens, ebenso wie bei den meisten höheren Tieren, eine Reihe von Entwickelungsstufen; als die wichtigsten derselben können wir wohl folgende fünf Hauptabschnitte unterscheiden: 1. die Seele des Neugeborenen [S. 90] bis zum Erwachen des Selbstbewußtseins und zum Erlernen der Sprache, 2. die Seele des Knaben und des Mädchens bis zur Pubertät (zum Erwachen des Geschlechtstriebes), 3. die Seele des Jünglings und der Jungfrau bis zum Eintritt der sexuellen Verbindung (die Periode der »Ideale«), 4. die Seele des erwachsenen Mannes und der reifen Frau (Periode der vollen Reife und der Familiengründung), 5. die Seele des Greises und der Greisin (Periode der Rückbildung). Das Seelenleben des Menschen durchläuft also dieselben Entwickelungsstufen der aufsteigenden Fortbildung, der vollen Reife und der absteigenden Rückbildung wie jede andere Lebenstätigkeit des Organismus.

Neuntes Kapitel.

Stammesgeschichte der Seele.

Monistische Studien über phylogenetische Psychologie. Entwickelung des Seelenlebens in der tierischen Ahnenreihe des Menschen.

Die Deszendenztheorie in Verbindung mit der Anthropologie hat uns überzeugt, daß unser menschlicher Organismus aus einer langen Reihe tierischer Vorfahren durch allmähliche Umbildung im Laufe vieler Jahrmillionen langsam und stufenweise sich entwickelt hat. Da wir nun das Seelenleben des Menschen von seinen übrigen Lebenstätigkeiten nicht trennen können, vielmehr zu der Überzeugung von der einheitlichen Entwickelung unseres ganzen Körpers und Geistes gelangt sind, so ergibt sich auch für die moderne monistische Psychologie die Aufgabe, die historische Entwickelung der Menschenseele aus der Tierseele stufenweise zu verfolgen. Die Lösung dieser Aufgabe versucht unsere »Stammesgeschichte der Seele« oder die Phylogenie der Psyche. Obgleich diese neue Wissenschaft noch kaum ernstlich in Angriff genommen ist, obgleich selbst ihre Existenzberechtigung von den meisten Fachpsychologen bestritten wird, müssen wir für sie dennoch die allerhöchste Wichtigkeit und das größte Interesse in Anspruch nehmen. Denn nach unserer festen Überzeugung ist die phyletische Psychologie vor allem berufen, uns das große »Welträtsel« vom Wesen und der Entstehung unserer Seele zu lösen.

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Methoden der poetischen Psychogenie. Die Mittel und Wege, welche zu dem weit entfernten, im Nebel der Zukunft für viele noch kaum erkennbaren Ziele der phylogenetischen Psychologie hinführen sollen, sind von denjenigen anderer stammesgeschichtlicher Forschungen nicht verschieden. Vor allem ist auch hier die vergleichende Anatomie, Physiologie und Ontogenie von höchstem Werte. Aber auch die Paläontologie liefert uns eine Anzahl von sicheren Stützpunkten; denn die Reihenfolge, in welcher die versteinerten Überreste der Wirbeltierklassen nacheinander in den Perioden der organischen Erdgeschichte auftreten, offenbart uns teilweise, zugleich mit deren phyletischem Zusammenhang, auch die stufenweise Ausbildung ihrer Seelentätigkeit. Freilich sind wir hier, wie überall bei phylogenetischen Untersuchungen, zur Bildung zahlreicher Hypothesen gezwungen, um die Lücken der empirischen Stammesurkunden auszufüllen; aber dennoch werfen die letzteren ein so helles und bedeutungsvolles Licht auf die wichtigsten Abstufungen der geschichtlichen Entwickelung, daß wir eine befriedigende Einsicht in deren allgemeinen Verlauf gewinnen können.

Hauptstufen der phyletischen Psychogenie. Die vergleichende Psychologie des Menschen und der höheren Tiere läßt uns zunächst in den höchsten Gruppen der Säugetiere, bei den Herrentieren, die wichtigsten Fortschritte erkennen, durch welche die Menschenseele aus der Psyche der Menschenaffen hervorgegangen ist. Die Phylogenie der Säugetiere und weiterhin der niederen Wirbeltiere zeigt uns die lange Reihe der älteren Vorfahren der Primaten, welche innerhalb dieses Stammes seit der Silurzeit sich entwickelt haben. Alle diese Wirbeltiere stimmen überein in der Struktur und Entwickelung ihres charakteristischen Seelenorgans, des Markrohrs. Daß dieses sich aus einem dorsalen Scheitelhirn wirbelloser Vorfahren hervorgebildet hat, scheint die vergleichende Anatomie der Wurmtiere oder Vermalien zu lehren. Weiter zurückgehend erfahren wir durch die vergleichende Ontogenie, daß dieses einfache Seelenorgan aus der Zellenschicht des äußeren Keimblattes, aus dem Ektoderm von Platodarien entstanden ist; bei diesen ältesten Plattentieren, die noch kein gesondertes Nervensystem besaßen, wirkt die äußere Hautdecke als universales Sinnes- und Seelenorgan. Durch die vergleichende Keimesgeschichte überzeugen wir uns endlich, daß diese einfachsten Metazoen durch Gastrulation aus Blastäaden entstanden sind, aus Hohlkugeln, deren Wand eine einfache Zellenschicht bildete, das Blastoderm. Zugleich lernen wir durch dieselbe mit Hilfe des Biogenetischen Grundgesetzes verstehen, wie diese vielzelligen Gebilde [S. 92] einfachster Art ursprünglich aus einzelligen Urtieren hervorgegangen sind.

I. Zellseele (Zytopsyche); erste Hauptstufe der phyletischen Psychogenesis. Die ältesten Vorfahren des Menschen, wie aller übrigen Tiere, waren einzellige Protisten. Diese Fundamental-Hypothese der Phylogenie ergibt sich nach dem Biogenetischen Grundgesetze aus der embryologischen Tatsache, daß jeder Mensch, wie jedes andere Tier, im Beginne seiner individuellen Existenz eine einfache Zelle ist, die »Stammzelle«. Wie diese schon von Anfang an »beseelt« war, so auch jene entsprechende einzellige Stammform, welche in der ältesten Ahnenreihe des Menschen durch eine Kette von verschiedenen Protisten vertreten war.

Über die Seelentätigkeit dieser einzelligen Organismen unterrichtet uns die vergleichende Physiologie der heute noch lebenden Protisten; sowohl genaue Beobachtung als sinnreiches Experiment haben uns hier ein neues Gebiet voll höchst interessanter Erscheinungen eröffnet. Die beste Darstellung derselben hat 1889 Max Verworn gegeben, in seinen gedankenreichen, auf eigene originelle Versuche gestützten »Psychophysiologischen Protistenstudien«. Auch die wenigen älteren Beobachtungen über »das Seelenleben der Protisten« sind darin zusammengestellt. Verworn gelangte zu der festen Überzeugung, daß bei allen Protisten die unbewußten Vorgänge der Empfindung und Bewegung noch mit den molekularen Lebensprozessen im Plasma selbst zusammenfallen, und daß ihre letzten Ursachen in den Eigenschaften der Plasmamoleküle (der Plastidule) zu suchen sind. »Die psychischen Vorgänge im Protistenreich sind daher die Brücke, welche die chemischen Prozesse in der unorganischen Natur mit dem Seelenleben der höchsten Tiere verbindet; sie repräsentieren den Keim der höchsten psychischen Erscheinungen bei den Metazoen und dem Menschen.«

Die sorgfältigen Beobachtungen und zahlreichen Experimente von Verworn, im Verein mit denjenigen von Wilhelm Engelmann, Wilhelm Preyer, Richard Hertwig und anderen neueren Protistenforschern, liefern die bündigen Beweise für meine monistische »Theorie der Zellseele« (1866). Gestützt auf eigene langjährige Untersuchungen von verschiedenen Protisten, besonders von Rhizopoden und Infusorien, hatte ich den Satz aufgestellt, daß jede lebendige Zelle psychische Eigenschaften besitzt, und daß also auch das Seelenleben der vielzelligen Tiere und Pflanzen nichts anderes ist als das Resultat der psychischen Funktionen der ihren Leib zusammensetzenden Zellen. Bei den niederen Gruppen [S. 93] (z. B. Algen und Spongien) sind alle Zellen des Körpers gleichmäßig (oder mit geringen Unterschieden) daran beteiligt; in den höheren Gruppen dagegen, entsprechend den Gesetzen der Arbeitsteilung, nur ein auserlesener Teil derselben, die »Seelenzellen«. Die bedeutungsvollen Konsequenzen dieser »Zellular-Psychologie« hatte ich teils 1876 in meiner Schrift über die »Perigenesis der Plastidule« erörtert, teils 1877 in meiner Münchner Rede »über die heutige Entwickelungslehre im Verhältnis zur Gesamtwissenschaft«. Eine mehr populäre Darstellung enthalten meine beiden Wiener Vorträge (1878) »über Ursprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge« und »über Zellseelen und Seelenzellen«.

Die einfache Zellseele zeigt übrigens schon innerhalb des Protistenreiches eine lange Reihe von Entwickelungsstufen, von ganz einfachen, primitiven bis zu sehr vollkommenen und hohen Seelenzuständen. Bei den ältesten und einfachsten Protisten ist das Vermögen der Empfindung und Bewegung gleichmäßig auf das ganze Plasma des homogenen Körperchens verteilt; bei den höheren Formen dagegen sondern sich als physiologische Organe derselben besondere »Zellwerkzeuge« oder Organelle. Derartige motorische Zellteile sind die Pseudopodien der Rhizopoden, die Flimmerhaare, Geißeln und Wimpern der Infusorien. Als ein inneres Zentralorgan des Zellenlebens wird der Zellkern betrachtet, welcher den ältesten und niedersten Protisten noch fehlt. In physiologisch-chemischer Beziehung ist besonders hervorzuheben, daß die ursprünglichsten und ältesten Protisten Plasmodomen waren, mit pflanzlichem Stoffwechsel, also Protophyten oder Urpflanzen; aus ihnen entstanden sekundär, durch Metasitismus, die ersten Plasmophagen mit tierischem Stoffwechsel, also Protozoen oder Urtiere. Dieser Metasitismus, die »Umkehrung des Stoffwechsels«, bedeutete einen wichtigen psychologischen Fortschritt; denn damit begann die Entwickelung jener charakteristischen Vorzüge der Tierseele, welche der Pflanzenseele noch fehlen.

IIZellvereinsseele oder Zönobial-Seele (Coenopsyche); zweite Hauptstufe der phyletischen Psychogenesis. Die individuelle Entwickelung beginnt beim Menschen wie bei allen anderen vielzelligen Tieren mit der wiederholten Teilung einer einfachen Zelle. Die Stammzelle (Cytula) zerfällt dadurch in einen maulbeerähnlichen Zellhaufen, den Maulbeerkeim (Morula). Indem sich im Inneren dieses soliden Körpers Flüssigkeit ansammelt, verwandelt er sich in ein kugeliges Bläschen; alle Zellen treten an dessen Oberfläche und ordnen sich in eine einfache Zellenschicht, die Keimhaut (Blastoderma). Die so entstandene Hohlkugel ist der bedeutungsvolle Zustand der Keimblase (Blastula).

[S. 94] Die Bewegungen, die wir unmittelbar bei der Bildung der Blastula beobachten können, sind ohne entsprechende Empfindungen nicht zu denken. Die Bewegungen zerfallen in zwei Gruppen: 1. die inneren Bewegungen, welche überall in wesentlich gleicher Weise beim Vorgange der gewöhnlichen (indirekten) Zellteilung sich wiederholen (Bildung der Kernspindel, Mitose, Karyokinese usw.); 2. die äußeren Bewegungen, welche in der gesetzmäßigen Lageveränderung der geselligen Zellen und ihrer Gruppierung bei Bildung des Blastoderms zutage treten. Wir fassen diese Bewegungen als ererbte auf, weil sie überall in prinzipiell gleicher Weise von den Ahnen übernommen worden sind. Die Empfindungen können ebenfalls in zwei Gruppen unterschieden werden: 1. die Empfindungen der einzelnen Zellen, welche sich in der Behauptung ihrer individuellen Selbständigkeit und ihrem Verhalten gegen die Nachbarzellen äußern (mit denen sie in Berührung und teilweise durch Plasmabrücken in direkter Verbindung stehen); 2. die einheitliche Empfindung des ganzen Zellvereins oder Zönobiums, welche in der individuellen Gestaltung der Blastula als Hohlkugel zutage tritt.

Das kausale Verständnis der Blastulabildung liefert uns das Biogenetische Grundgesetz, indem es die unmittelbar zu beobachtenden Erscheinungen derselben durch die Vererbung erklärt und auf entsprechende historische Vorgänge zurückführt, welche sich ursprünglich bei der Entstehung der ältesten Protisten-Zönobien, der Blastäaden, vollzogen haben. Die physiologische und psychologische Einsicht in diese wichtigen Prozesse der ältesten Zellen-Assozion gewinnen wir aber durch Beobachtung und Experiment an den heute noch lebenden Zönobien. Solche beständige Zellvereine der Gegenwart sind z. B. die bekannten »Kugeltierchen« (Volvocina). Ihre schwimmende Ortsbewegung wird durch schwingende Geißeln vermittelt, die von den einzelnen Zellen an der Oberfläche der »Flimmerkugel« ausgehen. In allen diesen Zönobien können wir bereits neben einander zwei verschiedene Stufen der psychischen Tätigkeit unterscheiden: I. die Zellseele der einzelnen Zellindividuen (als »Elementar-Organismen«) und II. die Zönobialseele des ganzen Zellvereins.

IIIGewebeseele (Histopsyche); dritte Hauptstufe der phyletischen Psychogenesis. Bei allen vielzelligen und gewebebildenden Pflanzen (Metaphyten) und ebenso bei den niedersten, nervenlosen Klassen der Gewebetiere (Metazoen) haben wir zunächst zwei verschiedene Formen der Seelentätigkeit zu unterscheiden, nämlich A. die Psyche der einzelnen Zellen, welche die Gewebe zusammensetzen, und B. die Psyche der Gewebe selbst oder des [S. 95] »Zellenstaates«, welcher von diesen gebildet wird. Diese Gewebeseele ist überall die höhere psychologische Funktion, welche den zusammengesetzten vielzelligen Organismus als einheitliches Lebewesen oder »physiologisches Individuum«, als wirklichen »Zellenstaat« erscheinen läßt. Sie beherrscht alle die einzelnen »Zellseelen« der sozialen Zellen, welche als abhängige »Staatsbürger« den einheitlichen Zellenstaat konstituieren.

III. A. Die Pflanzenseele (Phytopsyche) ist für uns der Inbegriff der gesamten psychischen Tätigkeit der gewebebildenden, vielzelligen Pflanzen (Metaphyten); sie ist Gegenstand der verschiedensten Beurteilung bis auf den heutigen Tag geblieben. Früher fand man gewöhnlich einen Hauptunterschied zwischen Pflanzen und Tieren darin, daß man den letzteren allgemein eine »Seele« zuschrieb, den ersteren dagegen nicht. Indessen führte unbefangene Vergleichung der Reizbarkeit und der Bewegungen bei verschiedenen höheren Pflanzen und niederen Tieren schon im Anfange des 19. Jahrhunderts einzelne Forscher zu der Überzeugung, daß beide gleichmäßig beseelt sein müßten. Später traten namentlich Fechner, Leitgeb u. a., neuerdings besonders Francé, lebhaft für die Annahme einer »Pflanzenseele« ein. Tieferes Verständnis derselben wurde erst erworben, nachdem durch die Zellentheorie (1838) die gleiche Elementarstruktur in Pflanzen und Tieren nachgewiesen, und besonders seitdem durch die Plasmatheorie von Max Schultze (1859) das gleiche Verhalten des aktiven, lebendigen Protoplasma in beiden erkannt worden war. Die neuere vergleichende Physiologie zeigte sodann, daß das physiologische Verhalten gegen verschiedene Reize (Licht, Elektrizität, Wärme, Schwere, Reibung, chemische Einflüsse usw.) in den »empfindlichen« Körperteilen vieler Pflanzen und Tiere ganz ähnlich ist, und daß auch die Reflexbewegungen, die jene Reize hervorrufen, ganz ähnlichen Verlauf haben. Wenn man daher diese Tätigkeiten bei niederen, nervenlosen Metazoen (Schwämmen, Polypen) einer besonderen »Seele« zuschrieb, so war man berechtigt, diese auch bei den Metaphyten anzunehmen, besonders bei den sehr »empfindlichen« Sinnpflanzen (Mimosa), den Fliegenfallen (Dionaea, Drosera) und den zahlreichen rankenden Kletter- und Schlingpflanzen.

III. B. Die Seele nervenloser Metazoen. Von ganz besonderem Interesse für die vergleichende Physiologie im allgemeinen und für die Phylogenie der Tierseele im besonderen ist die Seelentätigkeit jener niederen Metazoen, welche zwar Gewebe und oft bereits differenzierte Organe besitzen, aber weder Nerven noch spezifische Sinnesorgane. Dahin gehören vier verschiedene [S. 96] Gruppen von ältesten Zölenterien oder Niedertieren, nämlich: 1. die Gasträaden, 2. die Platodarien, 3. die Spongien und 4. die Hydropolypen, die niedersten Formen der Nesseltiere.

Die Gasträaden oder Urdarmtiere bilden jene kleine Gruppe von niedersten Zölenterien, welche als die gemeinsame Stammgruppe aller Metazoen von höchster Wichtigkeit ist. Der Körper dieser kleinen, schwimmenden Tierchen erscheint als ein kleines (meist eiförmiges) Bläschen, welche eine einfache Höhle mit einer Öffnung enthält (Urdarm und Urmund). Die Wand der verdauenden Höhle wird aus zwei einfachen Zellenschichten oder Epithelien gebildet, von denen die innere (Darmblatt) die Tätigkeiten der Ernährung, und die äußere (Hautblatt) die Funktionen der Bewegung und Empfindung vermittelt. Die gleichartigen sensiblen Zellen dieses Hautblattes tragen zarte Geißeln, lange Flimmerhaare, deren Schwingungen die willkürliche Schwimmbewegung bewirken. Die wenigen noch lebenden Formen der Gasträaden sind deshalb so interessant, weil sie zeitlebens auf derselben Bildungsstufe stehen bleiben, welche die Keime aller übrigen Metazoen (von den Spongien bis zum Menschen hinauf) im Beginne ihrer Keimesentwickelung durchlaufen. Wie ich in meiner Gasträatheorie (1872) gezeigt habe, entsteht bei sämtlichen Gewebetieren zunächst aus der vorher betrachteten Blastula eine höchst charakteristische Keimform, die Gastrula. Die Keimhaut (Blastoderma), welche die Wand der Hohlkugel darstellt, bildet an einer Seite eine grubenförmige Vertiefung, und diese wird bald zu einer so tiefen Einstülpung, daß der innere Hohlraum der Keimblase verschwindet. Die eingestülpte (innere) Hälfte der Keimhaut legt sich an die äußere (nicht eingestülpte) Hälfte innen an; letztere bildet das Hautblatt oder äußere Keimblatt (Ektoderm), erstere dagegen das Darmblatt oder innere Keimblatt (Entoderm). Der neu entstandene Hohlraum des becherförmigen Körpers ist die verdauende Magenhöhle, der Urdarm, seine Öffnung der Urmund. Das Hautblatt oder Ektoderm ist bei allen Metazoen das ursprüngliche »Seelenorgan«; denn aus ihm entwickeln sich bei sämtlichen Nerventieren nicht nur die äußere Hautdecke und die Sinnesorgane, sondern auch das Nervensystem. Bei den Gasträaden, welche letzteres noch nicht besitzen, sind alle Zellen, welche die einfache Epithelschicht des Ektoderm zusammensetzen, gleichmäßig Organe der Empfindung und Bewegung; die Gewebeseele zeigt sich hier in einfachster Form.

Die Spongien oder Schwammtiere stellen einen selbständigen Stamm des Tierreichs dar, der sich von allen anderen Metazoen [S. 97] durch seine eigentümliche Organisation unterscheidet; die zahlreichen Arten desselben sitzen meistens auf dem Meeresboden angewachsen. Die einfachste Form der Schwämme, Olynthus, ist eigentlich nichts weiter als eine Gastraea, deren Körperwand siebförmig von feinen Poren durchbrochen ist, zum Eintritt des ernährenden Wasserstromes. Bei den meisten Spongien (auch beim bekanntesten, dem Badeschwamm) bildet der knollenförmige Körper einen Stock, welcher aus Tausenden oder Millionen solcher Gasträaden (»Geißelkammern«) zusammengesetzt und von einem ernährenden Kanalsystem durchzogen ist. Empfindung und Bewegung sind bei den Schwammtieren nur in äußerst geringem Grade entwickelt; Nerven, Sinnesorgane und Muskeln fehlen. Es war daher sehr natürlich, daß man diese festsitzenden, unförmigen und unempfindlichen Tiere früher allgemein als »Gewächse« betrachtete. Ihr Seelenleben (für welches keine besonderen Organe differenziert sind) steht tief unter demjenigen der Mimosen und anderer empfindlicher Pflanzen.

Die Seele der Nesseltiere (Cnidaria) ist für die vergleichende und phylogenetische Psychologie von hervorragender Bedeutung. Denn in diesem formenreichen Stamm der Zölenterien vollzieht sich vor unseren Augen die historische Entstehung der Nervenseele aus der Gewebeseele. Es gehören zu diesem Stamme die vielgestaltigen Klassen der festsitzenden Polypen und Korallen, der schwimmenden Medusen und Siphonophoren. Als gemeinsame hypothetische Stammform aller Nesseltiere läßt sich mit voller Sicherheit ein einfachster Polyp erkennen, welcher dem gemeinen, heute noch lebenden Süßwasserpolypen (Hydra) im wesentlichen gleich gebaut war. Nun besitzen aber diese Hydra und ebenso die festsitzenden, nahe verwandten Hydropolypen noch keine gesonderten Nerven und höheren Sinnesorgane, obgleich sie sehr empfindlich sind. Dagegen die frei schwimmenden Medusen, welche sich aus letzteren entwickeln (und noch heute mit ihnen durch Generationswechsel verknüpft sind), besitzen bereits ein selbständiges Nervensystem und gesonderte Sinnesorgane. Wir können also hier den historischen Ursprung der Nervenseele aus der Gewebeseele unmittelbar ontogenetisch beobachten und phylogenetisch verstehen lernen. Sehr interessant ist für die Psychologie auch die Klasse der Staatsquallen (Siphonophorae). An diesen prächtigen, freischwimmenden Tierstöcken, welche von Hydromedusen abstammen, können wir eine Doppelseele beobachten: die Einzelseele (Personalseele) der zahlreichen Personen, die ihn zusammensetzen, und die gemeinsame, einheitlich tätige Psyche des ganzen Stockes (Kormalseele).

IVDie Nervenseele (Neuropsyche); vierte Hauptstufe [S. 98] der phyletischen Psychogenesis. Das Seelenleben aller höheren Tiere wird, ebenso wie beim Menschen, durch einen mehr oder minder komplizierten »Seelenapparat« vermittelt, und dieser besteht immer aus drei Hauptbestandteilen: die Sinnesorgane bewirken die verschiedenen Empfindungen, die Muskeln dagegen die Bewegungen; die Nerven stellen die Verbindung zwischen ersteren und letzteren durch ein besonderes Zentralorgan her: Gehirn oder Ganglion (Nervenknoten). Die Einrichtung und Tätigkeit dieses Seelenapparates pflegt man mit einem elektrischen Telegraphensystem zu vergleichen; die Nerven sind die Leitungsdrähte, das Gehirn die Zentralstation, die Muskeln und Sensillen die untergeordneten Lokalstationen. Die motorischen Nervenfasern leiten die Willensbefehle oder Impulse zentrifugal von diesem Nervenzentrum zu den Muskeln und bewirken durch deren Kontraktion Bewegungen; die sensiblen Nervenfasern dagegen leiten die verschiedenen Empfindungen zentripetal von den peripheren Sinnesorganen zum Gehirn und statten Bericht ab von den empfangenen Eindrücken der Außenwelt. Die Ganglienzellen oder »Seelenzellen«, welche das nervöse Zentralorgan zusammensetzen, sind die vollkommensten von allen organischen Elementarteilen; denn sie vermitteln nicht nur den Verkehr zwischen den Muskeln und Sinnesorganen, sondern auch die höchsten von allen Leistungen der Tierseele, die Bildung von Vorstellungen und Gedanken, an der Spitze von allem das Bewußtsein.

Die großen Fortschritte der Anatomie und Physiologie, der Histologie und Ontogenie haben in der Neuzeit unsere tiefere Kenntnis des Seelenapparates mit einer Fülle der interessantesten Entdeckungen bereichert. Wenn die spekulative Philosophie auch nur die wichtigsten von diesen bedeutungsvollen Erwerbungen der empirischen Biologie in sich aufgenommen hätte, müßte sie heute schon eine ganz andere Physiognomie zeigen, als es leider der Fall ist.

Jeder der höheren Tierstämme besitzt sein eigentümliches Seelenorgan; in jedem ist das Zentralnervensystem durch seine besondere Gestalt, Lage und Zusammensetzung ausgezeichnet. Unter den strahlig gebauten Nesseltieren (Cnidaria) zeigen die Medusen einen Nervenring am Schirmrande, meistens mit vier oder acht Ganglien ausgestattet. Bei den fünfstrahligen Sterntieren (Echinoderma) ist der Mund von einem Nervenring umgeben, von welchem fünf Nervenstämme ausstrahlen. Die zweiseitig-symmetrischen Plattentiere (Platodes) und Wurmtiere (Vermalia) besitzen ein Scheitelhirn oder Akroganglion, zusammengesetzt aus ein paar dorsalen, oberhalb des Mundes gelegenen Ganglien; von diesen »oberen Schlundknoten« gehen zwei seitliche [S. 99] Nervenstämme an die Haut und die Muskeln. Bei einem Teile der Vermalien und bei den Weichtieren (Mollusca) treten dazu noch ein paar ventrale »untere Schlundknoten«, welche sich mit den ersteren durch einen den Schlund umfassenden Ring verbinden. Dieser »Schlundring« kehrt auch bei den Gliedertieren (Articulata) wieder, setzt sich aber hier auf der Bauchseite des langgestreckten Körpers in ein »Bauchmark« fort, einen strickleiterförmigen Doppelstrang, welcher in jedem Gliede zu einem Doppelganglion anschwillt. Ganz entgegengesetzte Bildung des Seelenorgans zeigen die Wirbeltiere (Vertebrata); hier findet sich allgemein auf der Rückenseite des innerlich gegliederten Körpers ein Rückenmark entwickelt; aus einer Anschwellung seines vorderen Teiles entsteht später das charakteristische blasenförmige Gehirn.

Obgleich nun so die Seelenorgane der höheren Tierstämme in Lage, Form und Zusammensetzung sehr charakteristische Verschiedenheiten zeigen, ist doch die vergleichende Anatomie imstande gewesen, für die meisten einen gemeinsamen Ursprung nachzuweisen, aus dem Scheitelhirn der Platoden und Vermalien; und allen gemeinsam ist die Entstehung aus der äußersten Zellenschicht des Keimes, aus dem »Hautsinnesblatt« (Ektoderm). Ebenso finden wir in allen Formen der nervösen Zentralorgane dieselbe wesentliche Struktur wieder, die Zusammensetzung aus Ganglienzellen oder »Seelenzellen« (den eigentlichen aktiven Elementarorganen der Psyche) und aus Nervenfasern, welche den Zusammenhang und die Leitung der Aktion vermitteln.

Seelenorgan der Wirbeltiere. Die erste Tatsache, welche uns in der vergleichenden Psychologie der Wirbeltiere entgegentritt, und welche der empirische Ausgangspunkt jeder wissenschaftlichen Seelenlehre des Menschen sein sollte, ist der charakteristische Bau ihres Zentralnervensystems. Wie dieses zentrale Seelenorgan in jedem der höheren Tierstämme eine besondere, diesem eigentümliche Lage, Gestalt und Zusammensetzung zeigt, so ist es auch bei den Wirbeltieren der Fall. Überall finden wir hier ein Rückenmark vor, einen starken zylindrischen Nervenstrang, welcher in der Mittellinie des Rückens verläuft, oberhalb der Wirbelsäule (oder der sie vertretenden Chorda). Überall gehen von diesem Rückenmark zahlreiche Nervenstämme in regelmäßiger, segmentaler Verteilung ab, je ein Paar an jedem Segment oder Wirbelgliede. Überall entsteht dieses »Medullarrohr« im Embryo auf gleiche Weise: in der Mittellinie der Rückenhaut bildet sich eine feine Furche oder Rinne; die beiden parallelen Ränder dieser Markrinne oder Medullarrinne erheben sich, krümmen sich gegen einander und verwachsen in der Mittellinie zu einem Rohre.

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Das lange dorsale, so entstandene, zylindrische Nervenrohr oder Medullarrohr ist durchaus für die Wirbeltiere charakteristisch, in der früheren Embryonalanlage überall dasselbe und die gemeinsame Grundlage aller der verschiedenen Formen des Seelenorgans, die sich später daraus entwickeln. Nur eine einzige Gruppe von wirbellosen Tieren zeigt eine ähnliche Bildung; das sind die seltsamen meerbewohnenden Manteltiere (Tunicata). Sie gleichen den Wirbeltieren auch im Besitze von anderen charakteristischen Organen (Chorda, Kiemendarm usw.). Wir nehmen daher an, daß die ungegliederten Manteltiere und die innerlich gegliederten Wirbeltiere aus einer gemeinsamen älteren Stammgruppe von Wurmtieren hervorgegangen sind (Prochordonia).

Phyletische Bildungsstufen des Medullarrohrs. Die lange Stammesgeschichte unserer »Wirbeltierseele« beginnt mit der Bildung des einfachsten Medullarrohrs bei den ältesten Schädellosen; sie führt uns durch einen Zeitraum von vielen Millionen Jahren langsam und allmählich bis zu jenem komplizierten Wunderbau des menschlichen Gehirns hinauf, welcher diese höchst entwickelte Primatenform zu einer Ausnahmestellung in der Natur zu berechtigen scheint. Da eine klare Vorstellung von diesem langsamen und stetigen Gange unserer phyletischen Psychogenie die erste Vorbedingung einer wirklich naturgemäßen Psychologie ist, erscheint es zweckmäßig, jenen gewaltigen Zeitraum in eine Anzahl von Stufen oder Hauptabschnitten einzuteilen; in jedem derselben hat sich gleichmäßig mit der Struktur des Nervenzentrums auch seine Funktion, die »Psyche«, vervollkommnet. Ich unterscheide acht solche Perioden in der Phylogenie des Medullarrohrs und in der stufenweisen Vervollkommnung seines vordersten Teiles, des Gehirns; sie sind charakterisiert durch acht verschiedene Hauptgruppen der Wirbeltiere; nämlich I. die Schädellosen (Acrania), II. die Rundmäuler (Cyclostoma), III. die Fische (Pisces), IV. die Lurche (Amphibia), V. die implacentalen Säugetiere (Monotrema und Marsupialia), VI. die älteren plazentalen Säugetiere, besonders die Halbaffen (Prosimiae), VII. die jüngeren Herrentiere, die echten Affen (Simiae), VIII. die Menschenaffen und der Mensch (Anthropomorpha).

Seelengeschichte der Säugetiere. Der wichtigste Folgeschluß, welcher sich aus dem monophyletischen Ursprung der Säugetiere ergibt, ist die notwendige Ableitung der Menschenseele aus einer langen Entwickelungsreihe von anderen Mammalienseelen. Eine gewaltige anatomische und physiologische Kraft trennt den Gehirnbau und das davon abhängige Seelenleben der höchsten und der niedersten Säugetiere, und dennoch wird diese tiefe Kluft durch [S. 101] eine lange Reihe von vermittelnden Zwischenstufen vollständig ausgefüllt. Die allgemeinsten Ergebnisse der wichtigen, neuerdings hier tief eingedrungenen Forschungen sind folgende:

I. Das Gehirn der Säugetiere entwickelt sich zwar in gleicher Weise, wie das der anderen Wirbeltiere, aus drei hintereinander gelegenen Blasen, die durch zweifache Einschnürung der anfangs einfachen Hirnblase entstehen; es unterscheidet sich von demjenigen der übrigen Vertebraten durch gewisse Eigentümlichkeiten, welche allen Gliedern der Klasse gemeinsam sind, vor allem die überwiegende Ausbildung der ersten und dritten Blase, des Großhirns und Kleinhirns, während die zweite Blase, das Mittelhirn, ganz zurücktritt. II. Trotzdem schließt sich die Hirnbildung der niedersten und ältesten Mammalien noch eng an diejenige ihrer paläozoischen Vorfahren an, der Amphibien in der Steinkohlenperiode. III. Erst während der Tertiärzeit erfolgt die typische volle Ausbildung des Großhirns, welche die jüngeren Säugetiere so auffallend vor den älteren auszeichnet. IV. Die besondere (quantitative und qualitative) Ausbildung des Großhirns, welche den Menschen so hoch erhebt, und welche ihn zu seinen vorzüglichen psychischen Leistungen befähigt, findet sich außerdem nur bei einem Teile der höchstentwickelten Säugetiere der jüngeren Tertiärzeit, vor allen bei den Menschenaffen. V. Die Unterschiede, welche im Gehirnbau und Seelenleben des Menschen und der Menschenaffen existieren, sind geringer als die entsprechenden Unterschiede zwischen diesen letzteren und den niederen Primaten (den ältesten Affen und den Halbaffen). VI. Demnach muß die historische stufenweise Entwickelung der Menschenseele aus einer langen Kette von höheren und niederen Säugetierseelen als eine fundamentale, durch die vergleichende Anatomie und Ontogenie wissenschaftlich bewiesene Tatsache gelten.

Zehntes Kapitel.

Bewußtsein.

Monistische Studien über bewußtes und unbewußtes Seelenleben. Entwickelungsgeschichte und Theorie des Bewußtseins.

Unter allen Äußerungen des Seelenlebens gibt es keine, die so wunderbar erscheint und so verschieden beurteilt wird wie das Bewußtsein. Nicht allein über das eigentliche Wesen dieser [S. 102] Seelentätigkeit und über ihr Verhältnis zum Körper, sondern auch über ihre Verbreitung in der organischen Welt, über ihre Entstehung und Entwickelung stehen sich noch heute, wie seit Jahrtausenden, die widersprechendsten Ansichten gegenüber. Mehr als jede andere psychische Funktion hat das Bewußtsein zu der irrtümlichen Vorstellung eines »immateriellen Seelenwesens« und im Anschluß daran zu dem Aberglauben der »persönlichen Unsterblichkeit« Veranlassung gegeben; viele der schwersten Irrtümer, die unser modernes Kulturleben noch heute beherrschen, sind darauf zurückzuführen. Ich habe daher schon früher das Bewußtsein als das »psychologische Zentralmysterium« bezeichnet; es ist die feste Zitadelle aller mystischen und dualistischen Irrtümer, an deren gewaltigen Wällen alle Angriffe der bestgerüsteten Vernunft zu scheitern drohen. Schon diese Tatsache allein rechtfertigt es, daß wir hier dem Bewußtsein eine besondere kritische Betrachtung von unserem monistischen Standpunkte aus widmen. Wir werden sehen, daß das Bewußtsein nicht mehr und nicht minder wie jede andere Seelentätigkeit eine Naturerscheinung ist, und daß es gleich allen anderen Naturerscheinungen dem Substanzgesetz unterworfen ist.

Begriff des Bewußtseins. Schon über den elementaren Begriff dieser Seelentätigkeit, über seinen Inhalt und Umfang, gehen die Ansichten der angesehensten Philosophen und Naturforscher weit auseinander. Vielleicht am besten bezeichnet man den Inhalt des Bewußtseins als innere Anschauung und vergleicht diese einer Spiegelung. Als zwei Hauptbezirke desselben unterscheidet man häufig das objektive und subjektive Bewußtsein, das Weltbewußtsein und Selbstbewußtsein. Bei weitem der größte Teil aller bewußten Seelentätigkeit betrifft, wie schon Schopenhauer hervorhob, das Bewußtsein der Außenwelt, der »anderen Dinge«; dieses Weltbewußtsein umfaßt alle möglichen Erscheinungen der Außenwelt, welche überhaupt unserer Erkenntnis zugänglich sind. Viel beschränkter ist unser Selbstbewußtsein, die innere Spiegelung unserer eigenen gesamten Seelentätigkeit, aller Vorstellungen, Empfindungen und Strebungen oder Willenstätigkeiten.

Bewußtsein und Seelenleben. Viele und angesehene Denker, namentlich unter den Physiologen (z. B. Wundt und Ziehen), halten die Begriffe des Bewußtseins und der psychischen Funktionen für identisch: »alle Seelentätigkeit ist bewußte«; das Gebiet der Psychologie reicht nur so weit als dasjenige des Bewußtseins. Nach unserer Ansicht erweitert diese Definition die Bedeutung des letzteren in ungebührlicher Weise und gibt Veranlassung [S. 103] zu zahlreichen Irrtümern und Mißverständnissen. Wir teilen vielmehr die Ansicht anderer Philosophen (z. B. Romanes und Fritz Schultze), daß auch die unbewußten Vorstellungen, Empfindungen und Strebungen zum Seelenleben gehören; in der Tat ist sogar das Gebiet dieser unbewußten psychischen Aktionen (der Reflextätigkeit usw.) viel ausgedehnter als dasjenige der bewußten. Beide Gebiete stehen übrigens im engsten Zusammenhang und sind durch keine scharfe Grenze getrennt; jederzeit kann uns eine unbewußte Vorstellung plötzlich bewußt werden; wird unsere Aufmerksamkeit darauf durch ein anderes Objekt gefesselt, so kann sie ebenso rasch wieder unserem Bewußtsein völlig entschwinden.

Bewußtsein des Menschen. Die einzige Quelle unserer Erkenntnis des Bewußtseins ist dieses selbst, und hierin liegt in erster Linie die außerordentliche Schwierigkeit seiner wissenschaftlichen Untersuchung und Deutung. Subjekt und Objekt fallen hier in eins zusammen; das erkennende Subjekt spiegelt sich in seinem eigenen inneren Wesen, welches Objekt der Erkenntnis sein soll. Auf das Bewußtsein anderer Wesen können wir also niemals mit voller objektiver Sicherheit schließen, sondern immer nur durch Vergleichung seiner Äußerungen mit unseren eigenen. Soweit diese Vergleichung sich nur auf normale Menschen erstreckt, können wir allerdings auf deren Bewußtsein gewisse Schlüsse ziehen, deren Richtigkeit niemand bezweifelt. Aber schon bei abnormen Persönlichkeiten (bei genialen und exzentrischen, stumpfsinnigen und geisteskranken Menschen) sind diese Analogieschlüsse entweder unsicher oder falsch. In noch höherem Grade gilt das, wenn wir das Bewußtsein des Menschen mit demjenigen der Tiere in Vergleich stellen. Da ergeben sich alsbald so große tatsächliche Schwierigkeiten, daß die Ansichten der hervorragendsten Physiologen und Philosophen himmelweit auseinander gehen. Wir wollen hier nur die wichtigsten Anschauungen darüber kurz einander gegenüberstellen.

IAnthropistische Theorie des Bewußtseins: es ist dem Menschen eigentümlich. Die weitverbreitete Anschauung, daß Bewußtsein und Denken ausschließliches Eigentum des Menschen seien, und daß auch ihm allein eine »unsterbliche Seele« zukomme, ist auf Descartes zurückzuführen (1643). Dieser geistreiche französische Philosoph und Mathematiker errichtete eine vollkommene Scheidewand zwischen der Seelentätigkeit des Menschen und der Tiere. Die Seele des Menschen, als denkendes, immaterielles Wesen, ist nach ihm vom Körper, als ausgedehntem, materiellem Wesen, vollständig getrennt. Trotzdem soll sie an einem Punkte des Gehirns (an der Zirbeldrüse!) mit dem Körper verbunden [S. 104] sein, um hier Einwirkungen der Außenwelt aufzunehmen und ihrerseits auf den Körper auszuüben. Die Tiere dagegen, als nicht denkende Wesen, sollen keine Seele besitzen und reine Automaten sein, kunstvoll gebaute Maschinen, deren Empfinden, Vorstellen und Wollen rein mechanisch zustande kommt und nach physikalischen Gesetzen verläuft. Für die Psychologie des Menschen vertrat demnach Descartes den Dualismus, für diejenige der Tiere den Monismus. Dieser offenkundige Widerspruch bei einem so klaren und scharfsinnigen Denker muß höchst auffallend erscheinen; zu Erklärung desselben darf man wohl mit Recht annehmen, daß er seine wahre Überzeugung verschwieg und deren Erkenntnis den selbständigen Denkern überließ. Als Zögling der Jesuiten war Descartes schon frühzeitig dazu erzogen, wider bessere Einsicht die Wahrheit zu verleugnen; vielleicht fürchtete er auch die Macht der Kirche und ihre Scheiterhaufen. Ohnehin hatte ihm seine skeptische Forderung, daß jedes reine Erkenntnisstreben vom Zweifel am überlieferten Dogma ausgehen müsse, fanatische Anklagen wegen Skeptizismus und Atheismus zugezogen. Die mächtige Wirkung, welche Descartes auf die nachfolgende Philosophie ausübte, war sehr merkwürdig und seiner »doppelten Buchführung« entsprechend. Die Materialisten des 17. und 18. Jahrhunderts beriefen sich für ihre monistische Psychologie auf die kartesianische Theorie von der Tierseele und ihrer mechanischen Maschinentätigkeit. Die Spiritualisten umgekehrt behaupteten, daß ihr Dogma von der Unsterblichkeit der Seele und ihrer Unabhängigkeit vom Körper durch die kartesianische Theorie der Menschenseele unwiderleglich begründet sei. Diese Ansicht ist auch heute noch im Lager der Theologen und der dualistischen Metaphysiker die herrschende. Die naturwissenschaftliche Anschauung des 19. Jahrhunderts hat sie mit Hülfe der empirischen Fortschritte im Gebiete der physiologischen, pathologischen und vergleichenden Psychologie völlig überwunden.

IINeurologische Theorie des Bewußtseins: es kommt nur dem Menschen und jenen höheren Tieren zu, welche ein zentralisiertes Nervensystem und Sinnesorgane besitzen. Die Überzeugung, daß ein großer Teil der Tiere — zum mindesten die höheren Säugetiere — ebenso eine denkende Seele und also auch Bewußtsein besitzt, wie der Mensch, beherrscht die Kreise der modernen Zoologie, Physiologie und monistischen Psychologie. Die großartigen Fortschritte der Neuzeit in mehreren Gebieten der Biologie haben uns übereinstimmend zu der Anerkennung dieser bedeutungsvollen Erkenntnis geführt. Wir beschränken uns bei ihrer Würdigung zunächst auf die höheren Wirbeltiere und [S. 105] vor allem die Säugetiere. Daß die intelligentesten Vertreter dieser höchst entwickelten Wirbeltiere — allen voran die Affen und Hunde — in ihrer gesamten Seelentätigkeit sich dem Menschen höchst ähnlich verhalten, ist seit Jahrtausenden bekannt und bewundert. Ihre Vorstellungs- und Sinnestätigkeit, ihr Empfinden und Begehren ist dem Menschen so ähnlich, daß wir keine Beweise dafür anzuführen brauchen. Aber auch die höhere Assoziationstätigkeit ihres Gehirns, die Bildung von Urteilen und deren Verbindung zu Schlüssen, das Denken und das Bewußtsein im engeren Sinne, sind bei ihnen ähnlich entwickelt wie beim Menschen — nur dem Grade, nicht der Art nach davon verschieden. Überdies lehrt uns die vergleichende Anatomie und Histologie, daß die verwickelte Zusammensetzung des Gehirns (sowohl die feinere als die gröbere Struktur) bei diesen höheren Säugetieren im wesentlichen dieselbe wie beim Menschen ist. Dasselbe zeigt uns die vergleichende Ontogenie bezüglich der Entstehung dieser Seelenorgane. Die vergleichende Physiologie lehrt, daß die verschiedenen Zustände des Bewußtseins sich bei diesen höchst entwickelten Plazentaltieren ganz ähnlich wie beim Menschen verhalten, und das Experiment beweist, daß sie auch auf äußere Eingriffe ebenso reagieren. Man kann höhere Tiere durch Alkohol, Chloroform, Äther usw. ebenso betäuben, durch geeignete Behandlung ebenso hypnotisieren usw. wie den Menschen. Dagegen ist es nicht möglich, die Grenze scharf zu bestimmen, wo auf den niederen Stufen des Tierlebens das Bewußtsein zuerst als solches erkennbar wird. Die einen Zoologen setzen dieselbe sehr hoch oben an, die anderen sehr tief unten. Darwin, der die verschiedenen Abstufungen des Bewußtseins, der Intelligenz und des Gemüts bei den höheren Tieren sehr genau unterscheidet und durch zunehmende Entwickelung erklärt, weist zugleich darauf hin, wie schwer oder eigentlich wie unmöglich es ist, die ersten Anfänge dieser höchsten Seelentätigkeiten bei den niederen Tieren zu bestimmen. Am wahrscheinlichsten ist die Annahme, daß diejenigen Tiere ein unserem eigenen ähnliches bewußtes Erleben haben, die ein Nervensystem von annähernd so feiner Struktur, histologischer Differenzierung und Zentralisation besitzen.

IIIAnimalische Theorie des Bewußtseins: es findet sich bei allen Tieren und nur bei diesen. Hiernach würde ein scharfer Unterschied im Seelenleben der Tiere und Pflanzen bestehen; ein solcher wurde schon von vielen alten Autoren angenommen und von Linné scharf formuliert in seinem grundlegenden »Systema naturae« (1735); die beiden großen Reiche der organischen Natur unterscheiden sich nach ihm dadurch, daß die Tiere Empfindung und [S. 106] Bewußtsein haben, die Pflanzen nicht. Später hat besonders Schopenhauer diesen Unterschied scharf betont: »Das Bewußtsein ist uns schlechthin nur als Eigenschaft animaler Wesen bekannt. Auch nachdem es sich durch die ganze Tierreihe, bis zum Menschen und seiner Vernunft, gesteigert hat, bleibt die Bewußtlosigkeit der Pflanze, von der es ausging, noch immer die Grundlage. Die untersten Tiere haben bloß eine Dämmerung desselben.« Die Unhaltbarkeit dieser Ansicht wurde schon um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts klar, als man das Seelenleben der niederen Tierstämme, besonders der Schwämme und Nesseltiere, näher kennen lernte: echte Tiere, die ebenso wenig Spuren von klarem Bewußtsein besitzen, wie die meisten Pflanzen. Noch mehr wurde der Unterschied zwischen beiden Reichen verwischt, als man die einzelligen Lebensformen derselben genauer untersuchte. Die Urtiere und die Urpflanzen zeigen keine psychologischen Unterschiede, auch nicht in Beziehung auf ihr fragliches Bewußtsein.

IVBiologische Theorie des Bewußtseins: es ist allen Organismen gemeinsam, es findet sich bei allen Tieren und Pflanzen, während es den anorganischen Naturkörpern (Krystallen usw.) fehlt. Diese Annahme wird gewöhnlich mit der Ansicht verknüpft, daß alle Organismen (im Gegensatze zu den Anorganen) beseelt sind; die drei Begriffe: Leben, Seele und Bewußtsein, fließen dann gewöhnlich zusammen. Eine andere Modifikation dieser Anschauung ist, daß diese drei Grunderscheinungen des organischen Lebens zwar unzertrennbar verknüpft sind, daß aber das Bewußtsein nur ein Teil der psychischen Tätigkeit ist, wie diese selbst ein Teil der Lebenstätigkeit. Daß die Pflanzen in demselben Sinne wie die Tiere eine »Seele« besitzen, hat namentlich Fechner sich zu zeigen bemüht, und manche schreiben der Pflanzenseele ein Bewußtsein von ähnlicher Art zu wie der Tierseele. In der Tat sind ja bei sehr empfindlichen »Sinnpflanzen« (Mimosa, Drosera, Dionaea) die auffallenden Reizbewegungen der Blätter, bei manchen anderen (Klee und Sauerklee, besonders aber Hedysarum) die autonomen Bewegungen, bei »schlafenden Pflanzen« (auch vorzugsweise Papilionaceen) die Schlafbewegungen usw. auffallend ähnlich denjenigen vieler niederen Tiere; wer den letzteren Bewußtsein zuschreibt, darf es ganz gewiß auch den ersteren nicht absprechen.

VZellulare Theorie des Bewußtseins: es ist eine Lebenseigenschaft jeder Zelle. Die Anwendung der Zellentheorie auf alle Zweige der Biologie verlangt auch ihre Verknüpfung mit der Psychologie. Mit demselben Rechte, mit dem man in der Anatomie und Physiologie die lebendige Zelle als den »Elementarorganismus« [S. 107] behandelt und das ganze Verständnis des höheren, vielzelligen Tier- und Pflanzenkörpers daraus ableitet, mit demselben Rechte kann man auch die »Zellseele« als das psychologische Element betrachten und die zusammengesetzte Seelentätigkeit der höheren Organismen als das Resultat aus dem vereinigten Seelenleben der Zellen, die sie zusammensetzen. Ich habe die Grundzüge dieser Zellular-Psychologie schon 1866 in meiner »Generellen Morphologie« entworfen und sie später weiter ausgeführt in meinem Aufsatz über »Zellseelen und Seelenzellen«. Zum tieferen Eindringen in diese »Elementarpsychologie« wurde ich durch meine langjährige Beschäftigung mit den einzelligen Lebensformen geführt. Viele von diesen kleinen (meist mikroskopischen) Protisten zeigen ähnliche Äußerungen von Empfindung und Willen, ähnliche Instinkte und Bewegungen wie höhere Tiere; besonders gilt das von den sehr empfindlichen und lebhaft beweglichen Infusorien. Sowohl in dem Verhalten dieser reizbaren Zellinge gegenüber der Außenwelt, wie in vielen anderen Lebensäußerungen derselben, z. B. in dem wunderbaren Gehäusebau der Rhizopoden, (Thalamophoren und Radiolarien) könnte man deutliche Spuren bewußter Seelentätigkeit zu erkennen glauben. Wenn man nun die biologische Theorie des Bewußtseins akzeptiert (Nr. IV), und wenn man jede psychische Funktion mit einem Bewußtseinsanteil ausstattet, dann wird man auch jeder selbständigen Protistenzelle Bewußtsein zuschreiben müssen. Die materielle Grundlage desselben wäre dann entweder das ganze Plasma der Zelle, oder deren Kern, oder ein Teil desselben. Definitiv widerlegen läßt sich diese Annahme, die ich früher vertrat, nicht. Ich muß aber jetzt Max Verworn zustimmen, welcher in seinen ausgezeichneten »Psychophysiologischen Protistenstudien« annimmt, daß wohl sämtlichen Protisten ein entwickeltes »Ichbewußtsein« fehlt, und daß ihre Empfindungen und Bewegungen durchweg den Charakter des »Unbewußten« tragen.

VIAtomistische Theorie des Bewußtseins: es ist eine Elementareigenschaft aller Atome. Unter allen verschiedenen Anschauungen über die Verbreitung des Bewußtseins geht diese aromatische Hypothese am weitesten. Sie ist wohl hauptsächlich der Schwierigkeit entsprungen, welche manche Philosophen und Biologen bei der Frage nach der ersten Entstehung des Bewußtseins empfinden. Diese Erscheinung trägt ja einen so eigenartigen Charakter, daß ihre Ableitung aus anderen psychischen Funktionen höchst bedenklich erscheint; man glaubte daher dieses Hindernis am leichtesten dadurch zu überwinden, daß man sie als eine Elementareigenschaft aller Materie annahm, gleich der Massenanziehung [S. 108] oder der chemischen Wahlverwandtschaft. Es würde danach so viele Formen des Elementarbewußtseins geben, als es chemische Elemente gibt; jedes Atom Wasserstoff würde sein hydrogenes Bewußtsein haben, jedes Atom Kohlenstoff sein karbonisches Bewußtsein usw.

Ich halte diese Hypothese für unbegründet und beharre in der Überzeugung, daß das Bewußtsein an einen hohen Grad von Differenzierung und Zentralisation des Nervensystems gebunden ist, wie beim Menschen und einem Teile der höheren Wirbeltiere.

Monistische und dualistische Theorie des Bewußtseins. Soweit auch die verschiedenen Ansichten über die Natur und die Entstehung des Bewußtseins auseinander gehen, so lassen sich doch alle schließlich — bei klarer und konsequenter logischer Behandlung — auf zwei entgegengesetzte Grundanschauungen zurückführen, auf die transzendente (übernatürliche, dualistische) und die physiologische (natürliche, monistische). Ich selbst habe von jeher diese letztere Auffassung, und zwar auf Grund der Entwickelungslehre, vertreten, und sie wird gegenwärtig von einer großen Anzahl hervorragender Naturforscher geteilt.

Transzendenz des Bewußtseins. In dem berühmten Vortrag »über die Grenzen des Naturerkennens«, welchen E. Du Bois-Reymond am 14. August 1872 auf der Naturforscherversammlung in Leipzig hielt, stellte derselbe zwei verschiedene »unbedingte Grenzen« unseres Naturerkennens auf, welche der menschliche Geist auch bei vorgeschrittenster Naturerkenntnis niemals überschreiten werde — niemals, wie das oft zitierte Schlußwort des Vortrags emphatisch betont: »Ignorabimus!« Das eine absolut unlösbare »Welträtsel« ist der »Zusammenhang von Materie und Kraft« und das eigentliche Wesen dieser fundamentalen Naturerscheinungen; wir werden dieses »Substanzproblem« im zwölften Kapitel eingehend behandeln. Das zweite unübersteigliche Hindernis der Philosophie soll das Problem des Bewußtseins bilden, die Frage: wie unsere Geistestätigkeit aus materiellen Bedingungen, bezüglich Bewegungen zu erklären ist, wie die (der Materie und Kraft zugrunde liegende) »Substanz unter bestimmten Bedingungen empfindet, begehrt und denkt«.

Wenn man diese vielbesprochene »Ignorabimusrede« unbefangen auf ihren Kern untersucht, so muß man darin das entschiedene Programm des methaphysischen Dualismus finden; die Welt ist »doppelt unbegreiflich«: einmal die materielle Welt, in welcher »Materie und Kraft« ihr Wesen treiben, und gegenüber, ganz getrennt, die immaterielle Welt des »Geistes«, in welcher »Denken und Bewußtsein nicht aus materiellen Bedingungen erklärbar [S. 109] sind«, wie bei der ersteren. Es war ganz naturgemäß, daß der herrschende Dualismus und Mystizismus diese Anerkennung der zwei verschiedenen Welten mit Begierde ergriff, um damit die Doppelnatur des Menschen und die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen. Der Jubel der Spiritualisten darüber war um so heller und berechtigter, als E. Du Bois-Reymond bis dahin als ein bedeutender prinzipieller Vertreter des wissenschaftlichen Materialismus gegolten hatte; und das war und blieb er auch (trotz seiner »schönen Reden«!), ebenso wie alle anderen sachkundigen, klaren und konsequent denkenden Naturforscher der Gegenwart.

Allerdings hat der Verfasser der Ignorabimusrede am Schlusse derselben kurz auf die Frage hingewiesen, ob nicht jene beiden gegenüberstehenden »Welträtsel«, das allgemeine Substanzproblem und das besondere Bewußtseinsproblem, zusammenfallen. Er sagt: »Freilich ist diese Vorstellung die einfachste und der vorzuziehen, wonach die Welt doppelt unbegreiflich erscheint. Aber es liegt in der Natur der Dinge, daß wir auch in diesem Punkte nicht zur Klarheit kommen, und alles weitere Reden darüber bleibt müßig.« — Dieser letzteren Ansicht bin ich von Anfang an entschieden entgegengetreten und habe mich zu zeigen bemüht, daß jene beiden großen Fragen nicht zwei verschiedene Welträtsel sind. »Das neurologische Problem des Bewußtseins ist nur ein besonderer Fall von dem allumfassenden kosmologischen Problem, der Substanzfrage.« (Monismus, 1892, S. 23.)

Physiologie des Bewußtseins. Die eigenartige Naturerscheinung des Bewußtseins ist nicht, wie Du Bois-Reymond und mit ihm die dualistische Philosophie behauptet, ein völlig und »durchaus transzendentes Problem«; sondern sie ist, wie ich schon seit 1866 behauptet habe, ein physiologisches Problem, und als solches auf die Erscheinungen im Gebiete der Physik und Chemie zurückzuführen. Ich habe es später noch bestimmter als ein neurologisches Problem bezeichnet, auf der Annahme fußend, daß ein dem menschlichen analoges Bewußtsein nur bei den höheren Tieren mit stark zentralisiertem Nervensystem zu suchen ist. Mit voller Sicherheit läßt sich das für die höheren Wirbeltiere behaupten, und vor allem für die plazentalen Säugetiere, aus deren Stamm das Menschengeschlecht selbst entsprossen ist. Das Bewußtsein der höchstentwickelten Affen, Hunde, Elephanten usw. ist von demjenigen des Menschen nur dem Grade, nicht der Art nach verschieden, und die graduellen Unterschiede im Bewußtsein dieser »vernünftigsten« Zottentiere und der niedersten Menschenrassen (Weddas, Australneger usw.) sind geringer als die entsprechenden [S. 110] Unterschiede zwischen diesen letzteren und den höchst entwickelten Vernunftmenschen (Spinoza, Goethe, Lamarck, Darwin usw.). Das Bewußtsein ist mithin nur ein Teil der höheren Seelentätigkeit, und als solche abhängig von der normalen Struktur des betreffenden Seelenorgans, des Gehirns.

Physiologische Beobachtung und Experiment haben seit zwanzig Jahren den sicheren Beweis geführt, daß derjenige engere Bezirk des Säugetiergehirns, den man in diesem Sinne als Organ des Bewußtseins bezeichnet, ein Teil des Großhirns ist, und zwar der spät entstandene »graue Mantel« oder die »Großhirnrinde«. Aber auch die morphologische Begründung dieser physiologischen Erkenntnis ist den bewunderungswürdigen Fortschritten der mikroskopischen Gehirnanatomie gelungen, welche wir den vervollkommneten Forschungsmethoden der neuesten Zeit verdanken.

Wohl die wichtigste von diesen Erkenntnissen ist die Entdeckung der Denkorgane durch Paul Flechsig in Leipzig; er wies 1894 nach, daß in der grauen Rindenzone des Hirnmantels vier Gebiete der zentralen Sinnesorgane oder vier »innere Empfindungssphären« liegen, die Körperfühlsphäre im Scheitellappen, die Riechsphäre im Stirnlappen, die Sehsphäre im Hinterhauptslappen, die Hörsphäre im Schläfenlappen. Zwischen diesen vier »Sinnesherden« liegen die vier großen »Denkherde« oder Assozionszentren, die realen Organe des Geisteslebens; sie sind jene höchsten Werkzeuge der Seelentätigkeit, welche das Denken und das Bewußtsein vermitteln: vorn das Stirnhirn oder das frontale Assozionszentrum, hinten oben das Scheitelhirn oder parietale Assozionszentrum, hinten unten das Prinzipalhirn oder das »große occipito-temporale Assozionszentrum« (das wichtigste von allen!) und endlich tief unten, im Innern versteckt, das Inselhirn oder »die Reilsche Insel«, das insulare Assozionszentrum. Diese vier Denkherde, durch eigentümliche und höchst verwickelte Nervenstruktur vor den zwischenliegenden Sinnesherden ausgezeichnet, sind die wahren »Denkorgane«, die einzigen Organe unseres Bewußtseins. In neuester Zeit hat Flechsig nachgewiesen, daß in einem Teile derselben sich beim Menschen noch ganz besonders verwickelte Strukturen finden, welche den übrigen Säugetieren fehlen, und welche die Überlegenheit des menschlichen Bewußtseins erklären.

Pathologie des Bewußtseins. Die bedeutungsvolle Erkenntnis der modernen Physiologie, daß das Großhirn beim Menschen und den höheren Säugetieren das Organ des Geisteslebens und des Bewußtseins ist, wird einleuchtend bestätigt durch die Pathologie, durch die Kenntnis seiner Erkrankungen. Wenn die betreffenden [S. 111] Teile der Großhirnrinde durch Krankheit zerstört werden, erlischt ihre Funktion, und zwar läßt sich hier die Lokalisation der Gehirnfunktionen sogar partiell nachweisen; wenn einzelne Stellen jenes Gebietes erkranken, verschwindet auch der Teil des Denkens und des Bewußtseins, welcher an die betreffende Stelle gebunden ist. Dasselbe Ergebnis liefert das pathologische Experiment; Zerstörung einer solchen bekannten Stelle (z. B. im Sprachzentrum) vernichtet deren Funktion (die Sprache). Übrigens genügt ja der Hinweis auf die bekanntesten alltäglichen Erscheinungen im Gebiete des Bewußtseins, um die völlige Abhängigkeit desselben von den chemischen Veränderungen der Gehirnsubstanz zu beweisen. Viele Genußmittel (Kaffee, Tee) regen unser Denkvermögen an; andere (Wein, Bier) stimmen unser Gemüt heiter; Moschus und Kampher als »Excitantia« beleben das erlöschende Bewußtsein; Äther und Chloroform betäuben dasselbe usw. Wie wäre das alles möglich, wenn das Bewußtsein ein immaterielles Wesen, unabhängig von jenen anatomisch nachgewiesenen Organen wäre? Und worin besteht das Bewußtsein der »unsterblichen Seele«, wenn sie nicht mehr jene Organe besitzt.

Alle diese und andere bekannte Tatsachen beweisen, daß das Bewußtsein beim Menschen (genau ebenso wie bei den nächstverwandten Säugetieren) veränderlich ist, und daß seine Tätigkeit jederzeit abgeändert werden kann durch innere Ursachen (Stoffwechsel, Blutkreislauf) und äußere Ursachen (Verletzung des Gehirns, Reizung usw.). Sehr lehrreich sind auch die merkwürdigen Zustände des alternierenden oder doppelten Bewußtseins; derselbe Mensch zeigt an verschiedenen Tagen, unter veränderten Umständen, ein ganz verschiedenes Bewußtsein; er weiß heute nicht mehr, was er gestern getan hat, gestern konnte er sagen: Ich bin ich; — heute muß er sagen: Ich bin ein anderer. Solche Intermissionen des Bewußtseins können nicht bloß Tage, sondern Monate und Jahre dauern; sie können selbst bleibend werden.

Ontogenie des Bewußtseins. Wie jedermann weiß, ist das neugeborene Kind noch ganz ohne Bewußtsein, und wie Preyer gezeigt hat, entwickelt sich dasselbe erst spät, nachdem das kleine Kind zu sprechen angefangen hat; es spricht von sich lange Zeit in der dritten Person. Erst in dem bedeutungsvollen Momente, in welchem es zum ersten Male »Ich« sagt, in welchem das »Ichgefühl« klar wird, beginnt sein Selbstbewußtsein zu keimen und damit auch der Gegensatz zur Außenwelt. Die schnellen und tiefgreifenden Fortschritte der Erkenntnis, welche das Kind durch den Unterricht der Eltern und der Schule in den ersten zehn Lebensjahren macht, und später langsamer im zweiten Dezennium [S. 112] bis zur vollendeten geistigen Reife, sind eng verknüpft mit unzähligen Fortschritten im Wachstum und in der Entwickelung des Bewußtseins und mit derjenigen seines Organs, des Gehirns. Aber auch, wenn der Schüler das »Zeugnis der Reife« erlangt hat, ist in Wahrheit sein Bewußtsein noch lange nicht reif, und jetzt beginnt erst recht, in vielseitiger Berührung mit der Außenwelt, das »Weltbewußtsein« sich zu entwickeln. Jetzt erst reift im dritten Dezennium jene volle Ausbildung des vernünftigen Denkens und damit des Bewußtseins, welche dann bei normaler Entwickelung in den folgenden drei Jahrzehnten ihre reifen Früchte trägt. Gewöhnlich mit Beginn des siebenten Dezennium (bald früher, bald später) beginnt dann jene langsame und allmähliche Rückbildung der höheren Geistestätigkeit, welche das Greisenalter charakterisiert. Gedächtnis, Rezeptionsfähigkeit und Interesse an speziellen Objekten nehmen mehr und mehr ab; dagegen bleibt die Produktionsfähigkeit, das gereifte Bewußtsein und das philosophische Interesse an allgemeinen Beziehungen oft noch lange erhalten. Die individuelle Entwickelung des Bewußtseins in früher Jugend beweist die allgemeine Geltung des Biogenetischen Grundgesetzes; aber auch in späteren Jahren ist dieselbe noch vielfach erkennbar. Jedenfalls überzeugt uns die Ontogenese des Bewußtseins aufs klarste von der Tatsache, daß dasselbe kein »immaterielles Wesen«, sondern eine physiologische Funktion des Gehirns ist, und daß es also auch keine Ausnahme vom Substanzgesetze bildet.

Phylogenie des Bewußtseins. Die Tatsache, daß das Bewußtsein, gleich allen anderen Seelentätigkeiten, an die normale Ausbildung bestimmter Organe gebunden ist, und daß es sich beim Kinde, in Zusammenhang mit diesen Gehirnorganen, allmählich entwickelt, läßt schon von vornherein schließen, daß es auch innerhalb der Tierreihe sich stufenweise historisch entwickelt hat. So sicher wir aber auch eine solche natürliche Stammesgeschichte des Bewußtseins im Prinzip behaupten müssen, so wenig sind wir doch leider imstande, tiefer in dieselbe einzudringen und spezielle Hypothesen darüber aufzustellen. Indessen liefert uns die Paläontologie doch einige interessante Anhaltspunkte, die nicht ohne Bedeutung sind. Auffallend ist z. B. die bedeutende, quantitative und qualitative Entwickelung des Gehirns der plazentalen Säugetiere innerhalb der Tertiärzeit. An vielen fossilen Schädeln derselben ist die innere Schädelhöhle genau bekannt und liefert uns sichere Aufschlüsse über die Größe und teilweise auch über den Bau des davon umschlossenen Gehirns. Da zeigt sich denn innerhalb einer und derselben Legion (z. B. der Huftiere, der Raubtiere, der Herrentiere) ein gewaltiger Fortschritt von den älteren eozänen [S. 113] und oligozänen zu den jüngeren miozänen und pliozänen Vertretern desselben Stammes; bei den letzteren ist das Gehirn (im Verhältnis zur Körpergröße) 6-8 mal so groß als bei den ersteren.

Auch jene höchste Entwickelungsstufe des Bewußtseins, welche nur der Kulturmensch erreicht, hat sich erst allmählich und stufenweise — eben durch den Fortschritt der Kultur selbst — aus niederen Zuständen entwickelt, wie wir sie noch heute bei primitiven Naturvölkern antreffen. Das zeigt uns schon die Vergleichung ihrer Sprachen, welche mit derjenigen der Begriffe eng verknüpft ist. Je höher sich beim denkenden Kulturmenschen die Begriffsbildung entwickelt, je mehr er fähig wird, aus zahlreichen verschiedenen Einzelheiten die gemeinsamen Merkmale zusammenzufassen und unter allgemeine Begriffe zu bringen, desto klarer und tiefer wird damit sein Bewußtsein.

Elftes Kapitel.

Unsterblichkeit der Seele.

Monistische Studien über Fanatismus und Athanismus. Kosmische und persönliche Unsterblichkeit. Seelen-Substanz.

Indem wir uns von der genetischen Betrachtung der Seele zu der großen Frage ihrer »Unsterblichkeit« wenden, betreten wir jenes höchste Gebiet des Aberglaubens, welches gewissermaßen die unzerstörbare Zitadelle aller mystischen und dualistischen Vorstellungskreise bildet. Denn bei dieser Kardinalfrage knüpft sich an die rein philosophischen Vorstellungen mehr als bei jedem anderen Problem das egoistische Interesse der menschlichen Person, welche um jeden Preis ihre individuelle Fortdauer über den Tod hinaus garantiert haben will. Dieses »höhere Gemütsbedürfnis« ist so mächtig, daß es alle logischen Schlüsse der kritischen Vernunft über den Haufen wirft. Bewußt oder unbewußt werden bei den meisten Menschen alle übrigen allgemeinen Ansichten, also auch die ganze Weltanschauung, von dem Dogma der persönlichen Unsterblichkeit beeinflußt, und an diesen theoretischen Irrtum knüpfen sich praktische Folgerungen von weitestreichender Wirkung. Es wird daher unsere Aufgabe sein, alle Seiten dieses wichtigen Dogmas kritisch zu prüfen und seine Unhaltbarkeit gegenüber den empirischen Erkenntnissen der modernen Biologie nachzuweisen.

[S. 114]

Athanismus und Thanatismus. Um einen kurzen und bequemen Ausdruck für die beiden entgegengesetzten Grundanschauungen über die Unsterblichkeitsfrage zu haben, bezeichnen wir den Glauben an die »persönliche Unsterblichkeit des Menschen« als Athanismus. Dagegen nennen wir Thanatismus die Überzeugung, daß mit dem Tode des Menschen nicht nur alle übrigen physiologischen Lebenstätigkeiten erlöschen, sondern auch die »Seele« verschwindet, d. h. jene Summe von Gehirnfunktionen, welche der psychische Dualismus als ein eigenes »Wesen«, unabhängig von den übrigen Lebensäußerungen des lebendigen Körpers, betrachtet.

Indem wir hier das physiologische Problem des Todes berühren, betonen wir nochmals den individuellen Charakter dieser organischen Naturerscheinung. Wir verstehen unter Tod ausschließlich das definitive Aufhören der Lebenstätigkeit des organischen Individuums, gleichviel welcher Kategorie oder welcher Stufenfolge der Individualität das betreffende Einzelwesen angehört. Der Mensch ist tot, wenn seine Person stirbt, gleichviel, ob er gar keine Nachkommenschaft hinterlassen hat, oder ob er Kinder erzeugt hat, deren Nachkommen sich durch viele Generationen fruchtbar fortpflanzen. Man sagt ja in gewissem Sinne, daß der »Geist« großer Männer (z. B. in einer Dynastie hervorragender Herrscher, in einer Familie talentvoller Künstler) durch Generationen fortlebt; und ebenso sagt man, daß die »Seele« ausgezeichneter Frauen oft in den Kindern und Kindeskindern sich forterhält. Allein in diesen Fällen handelt es sich stets um verwickelte Vorgänge der Vererbung, bei welchen eine abgelöste mikroskopische Zelle (die Spermazelle des Vaters, die Eizelle der Mutter) gewisse Eigenschaften der Substanz auf die Nachkommen überträgt. Die einzelnen Personen, welche jene Geschlechtszellen zu Tausenden produzieren, bleiben trotzdem sterblich, und mit ihrem Tode erlischt ihre individuelle Seelentätigkeit ebenso wie jede andere physiologische Funktion.

Kosmische und persönliche Unsterblichkeit. Wenn man den Begriff der Unsterblichkeit ganz allgemein auffaßt und auf die Gesamtheit der erkennbaren Natur ausdehnt, so gewinnt er wissenschaftliche Bedeutung; er erscheint dann der monistischen Philosophie nicht nur annehmbar, sondern selbstverständlich. Denn die These von der Unzerstörbarkeit und ewigen Dauer alles Seienden fällt dann zusammen mit unserem höchsten Naturgesetze, dem Substanzgesetz (12. Kapitel). Wir werden diese kosmische Unsterblichkeit später, bei Begründung der Lehre von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes, ausführlich erörtern; jetzt wenden wir [S. 115] uns sogleich zur Kritik jenes »Unsterblichkeitsglaubens«, der gewöhnlich allein unter diesem Begriffe verstanden wird, der Immortalität der persönlichen Seele. Wir untersuchen zunächst die Verbreitung und Entstehung dieser mystischen und dualistischen Vorstellung und betonen dabei besonders die weite Verbreitung ihres Gegenteils, des monistischen, empirisch begründeten Thanatismus. Ich unterscheide hier als zwei wesentlich verschiedene Erscheinungen desselben den primären und den sekundären Thanatismus; bei ersterem ist der Mangel des Unsterblichkeitsdogmas ein ursprünglicher (bei primitiven Naturvölkern); der sekundäre Thanatismus dagegen ist das späte Erzeugnis vernunftgemäßer Naturerkenntnis bei hoch entwickelten Kulturvölkern.

Primärer Thanatismus (Ursprünglicher Mangel der Unsterblichkeitsidee). In vielen philosophischen und besonders theologischen Schriften lesen wir noch heute die Behauptung, daß der Glaube an die persönliche Unsterblichkeit der menschlichen Seele allen Menschen ursprünglich gemeinsam sei. Das ist falsch. Dieses Dogma ist weder eine ursprüngliche Vorstellung der menschlichen Vernunft, noch hat es jemals allgemeine Verbreitung gehabt. In dieser Beziehung ist vor allem wichtig die sichere, erst neuerdings durch die vergleichende Ethnologie festgestellte Tatsache, daß mehrere Naturvölker der ältesten und primitivsten Stufe ebensowenig von einer Unsterblichkeit als von einem Gotte irgend eine Vorstellung haben. Das gilt namentlich von den Weddas auf Ceylon, jenen primitiven Pygmäen, die wir auf Grund der ausgezeichneten Forschungen der Herren Sarasin für einen Überrest der ältesten indischen »Urmenschen« halten; ferner von mehreren ältesten Stämmen der nächstverwandten Dravidas, von den indischen Seelongs und einigen Stämmen der Australneger. Ebenso kennen mehrere der primitivsten Urvölker der amerikanischen Rasse, im inneren Brasilien, am oberen Amazonenstrom usw., weder Götter noch Unsterblichkeit.

Sekundärer Thanatismus (Erworbener Mangel der Unsterblichkeitsidee). Im Gegensatze zu dem primären Thanatismus, der sicher bei den ältesten Urmenschen ursprünglich bestand und noch heute besteht, ist der sekundäre Mangel des Unsterblichkeitsglaubens erst spät entstanden; er ist erst die reife Frucht eingehenden Nachdenkens über »Leben und Tod«, also ein Produkt echter und unabhängiger philosophischer Reflexion. Als solcher tritt er uns schon im sechsten Jahrhundert v. Chr. bei einem Teile der ionischen Naturphilosophen entgegen, später bei den Gründern der alten materialistischen Philosophie, bei Demokritos und Empedokles, aber auch bei Simonides und Epikur, bei Seneca und Plinius, [S. 116] am meisten durchgebildet bei Lucretius Carus. Als dann nach dem Untergange des klassischen Altertums das Christentum sich ausbreitete, gewann mit ihm der Athanismus, als einer seiner wichtigsten Glaubensartikel, die höchste Bedeutung.

Während der langen Geistesnacht des christlichen Mittelalters wagte begreiflicherweise nur selten ein kühner Freidenker, seine abweichende Überzeugung zu äußern; die Beispiele von Galilei, von Giordano Bruno und anderen unabhängigen Philosophen, welche von den »Nachfolgern Christi« der Tortur und dem Scheiterhaufen überliefert wurden, schreckten genügend jedes freie Bekenntnis ab. Dieses wurde erst wieder möglich, nachdem die Reformation und die Renaissance die Allmacht des Papismus gebrochen hatten. Die Geschichte der neueren Philosophie zeigt die mannigfaltigen Wege, auf denen die gereifte menschliche Vernunft dem Aberglauben der Unsterblichkeit zu entrinnen versuchte. Immerhin verlieh ihm die enge Verknüpfung mit dem christlichen Dogma auch in den freieren protestantischen Kreisen solche Macht, daß selbst die meisten überzeugten Freidenker ihre Meinung still für sich behielten. Nur selten wagten einzelne hervorragende Männer, ihre Überzeugung von der Unmöglichkeit der Seelenfortdauer nach dem Tode frei zu bekennen. Besonders geschah dies in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich von Voltaire, Danton, Mirabeau u. a., ferner von den Hauptvertretern des damaligen Materialismus, Holbach, Lamettrie u. a. Dieselbe Überzeugung vertrat auch der geistreiche Freund der letzteren, der größte der Hohenzollernfürsten, der »Philosoph von Sanssouci«. Was würde Friedrich der Große, dieser gekrönte Thanatist und Atheist, sagen, wenn er heute seine monistischen Überzeugungen mit den mittelalterlich-dualistischen Kundgebungen seiner Nachfolger vergleichen könnte!

Unter den denkenden Ärzten ist die Überzeugung, daß mit dem Tode des Menschen auch die Existenz seiner Seele aufhöre, wohl seit Jahrhunderten sehr verbreitet gewesen; aber auch sie hüteten sich meistens wohl, dieselbe auszusprechen. Auch blieb immerhin noch im 18. Jahrhundert die empirische Kenntnis des Gehirns so unvollkommen, daß die »Seele« als ein rätselhafter Bewohner desselben ihre freie Existenz fortfristen konnte. Endgültig beseitigt wurde sie erst durch die Fortschritte der Biologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Begründung der Deszendenztheorie und der Zellentheorie, die überraschenden Entdeckungen der Ontogenie und der Experimentalphysiologie, vor allem aber die bewundernswürdigen Fortschritte der mikroskopischen Gehirnanatomie entzogen dem Athanismus allmählich jeden [S. 117] Boden, so daß jetzt nur selten ein sachkundiger und ehrlicher Biologe noch für die Unsterblichkeit der Seele eintritt. Die monistischen Philosophen des 19. Jahrhunderts (Strauß, Feuerbach, Büchner, Rau, Spencer usw.) sind sämtlich Thanatisten.

Athanismus und Religion. Die weiteste Verbreitung und die höchste Bedeutung hat das Dogma der persönlichen Unsterblichkeit erst durch seine innige Verbindung mit den Glaubenslehren des Christentums gefunden; und diese hat auch zu der irrtümlichen, heute noch sehr verbreiteten Ansicht geführt, daß jenes Dogma überhaupt einen wesentlichen Grundbestandteil jeder geläuterten Religion bilde. Das ist durchaus nicht der Fall! Der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele fehlt vollständig den meisten höher entwickelten orientalischen Religionen; er fehlt dem Buddhismus, der noch heute über 30 Prozent der gesamten menschlichen Bevölkerung der Erde beherrscht; er fehlt ebenso der alten Volksreligion der Chinesen wie der reformierten, später an deren Stelle getretenen Religion des Confucius; und, was das Wichtigste ist, er fehlt der älteren und reineren jüdischen Religion; weder in den fünf Büchern Moses' noch in jenen älteren Schriften des Alten Testamentes, welche vor dem babylonischen Exil geschrieben wurden, ist die Lehre von der individuellen Fortdauer nach dem Tode zu finden.

Entstehung des Unsterblichkeitsglaubens. Die mystische Vorstellung, daß die Seele des Menschen nach seinem Tode fortdauere und unsterblich weiterlebe, fehlte dem ältesten, schon mit Sprache begabten Urmenschen gewiß ebenso wie seinen Vorfahren und wie seinen modernen, wenig entwickelten Nachkommen, den Weddas von Ceylon, den Seelongs von Indien und anderen primitiven Naturvölkern. Erst bei zunehmender Vernunft, bei eingehenderem Nachdenken über Leben und Tod, über Schlaf und Traum, entwickelten sich bei verschiedenen älteren Menschenrassen — unabhängig voneinander — mystische Vorstellungen über die dualistische Zusammensetzung unseres Organismus. Sehr verschiedene Motive werden bei diesem Vorgange zusammengewirkt haben: Ahnenkultus, Verwandtenliebe, Lebenslust und Wunsch der Lebensverlängerung, Hoffnung auf bessere Lebensverhältnisse im Jenseits, Hoffnung auf Belohnung der guten und Bestrafung der schlechten Taten usw. Die vergleichende Physiologie hat uns neuerdings eine große Anzahl von sehr verschiedenen derartigen Glaubensdichtungen kennen gelehrt; großenteils hängen sie eng zusammen mit den ältesten Formen des Gottesglaubens und der Religion überhaupt. In den meisten modernen Religionen ist der Athanismus eng verknüpft mit dem Theismus. Die Vorstellung, [S. 118] welche sich die meisten Gläubigen von ihrer »persönlichen unsterblichen Seele« bilden, ist ebenso materialistisch, wie das individuelle Bild von ihrem »persönlichen lieben Gott«.

Christlicher Unsterblichkeitsglaube. Wie allgemein bekannt, hat das Dogma von der Unsterblichkeit der Seele in der christlichen Religion schon lange diejenige feste Form angenommen, welche sich in dem Glaubensartikel ausspricht: »Ich glaube an die Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben.« Wie am Osterfest Christus selbst von den Toten auferstanden ist und nun in Ewigkeit als »Gottes Sohn, sitzend zur rechten Hand Gottes«, gedacht wird, versinnlichen uns unzählige Bilder und Legenden. In gleicher Weise wird auch der Mensch »am jüngsten Tage auferstehen« und seinen Lohn für die Führung seines einstigen Erdenlebens empfangen. Dieser ganze christliche Vorstellungskreis ist durch und durch materialistisch und anthropistisch; er erhebt sich nicht viel über die entsprechenden rohen Vorstellungen vieler niederer Naturvölker. Daß die »Auferstehung des Fleisches« unmöglich ist, weiß eigentlich jeder, der einige Kenntnisse in Anatomie und Physiologie besitzt. Die materielle Auferstehung Christi, welche von Millionen gläubiger Christen an jedem Osterfeste gefeiert wird, ist ebenso ein reiner Mythus wie die »Auferweckung von den Toten«, welche er mehrfach ausgeführt haben soll. Für die reine Vernunft sind diese mystischen Glaubensartikel ebenso unannehmbar wie die damit verknüpfte Hypothese eines »ewigen Lebens«.

Metaphysischer Unsterblichkeitsglaube. Gegenüber dem materialistischen Athanismus, welcher in der christlichen und mohammedanischen Kirche herrschend ist, vertritt scheinbar eine reinere und höhere Glaubensform der metaphysische Athanismus, wie ihn die meisten dualistischen und spiritualistischen Philosophen lehren. Als der bedeutendste Begründer desselben ist Plato zu betrachten; er lehrte schon im vierten Jahrhundert vor Chr. jenen vollkommenen Dualismus zwischen Leib und Seele, welcher dann in der christlichen Glaubenslehre zu einem der theoretisch wichtigsten und praktisch wirkungsvollsten Artikel wurde. Der Leib ist sterblich, materiell (physisch); die Seele ist unsterblich, immateriell (metaphysisch). Beide sind nur während des individuellen Lebens vorübergehend verbunden. Da Plato ein ewiges Leben der selbständigen Seele sowohl vor als nach dieser zeitweiligen Verbindung annimmt, ist er auch Anhänger der »Seelenwanderung«; die Seelen existierten als solche, als »ewige Ideen«, schon bevor sie in den menschlichen Körper eintraten. Nachdem sie denselben verlassen, suchen sie sich als Wohnort einen anderen Körper aus, der ihrer Beschaffenheit am meisten angemessen ist; die Seelen von [S. 119] grausamen Tyrannen schlüpfen in den Körper von Wölfen und Geiern, diejenigen von tugendhaften Arbeitern in den Leib von Bienen und Ameisen usw. Die kindlichen und naiven Anschauungen dieser platonischen Seelenlehre liegen auf der Hand; bei weiterem Eindringen erscheinen sie völlig unvereinbar mit unseren festgegründeten physiologischen Erkenntnissen. Wir erwähnen sie hier nur, weil sie trotz ihrer Absurdität den größten kulturhistorischen Einfluß erlangten. Denn einerseits knüpfte an die platonische Seelenlehre die Mystik der Neuplatoniker an, welche in das Christentum Eingang gewann; andererseits wurde sie später zu einem Hauptpfeiler der spiritualistischen und idealistischen Philosophie. Die platonische »Idee« verwandelte sich später in den Begriff der Seelensubstanz, die allerdings ebenso unfaßbar und metaphysisch ist, aber doch oft einen physikalischen Anschein gewann.

Seelensubstanz. Die Auffassung der Seele als »Substanz« ist bei vielen Psychologen sehr unklar; bald wird dieselbe in abstraktem und idealistischem Sinne als ein »immaterielles Wesen« von ganz eigentümlicher Art betrachtet, bald in konkretem und realistischem Sinne, bald als ein unklares Mittelding zwischen beiden. Halten wir an dem monistischen Substanzbegriffe fest, wie wir ihn (im 12. Kapitel) als einfachste Grundlage unserer gesamten Weltanschauung entwickeln, so ist in demselben Energie und Materie untrennbar verbunden. Dann müssen wir an der »Seelensubstanz« die eigentliche, uns allein bekannte psychische Energie unterscheiden (Empfinden, Vorstellen, Wollen) und die psychische Materie, durch welche allein dieselbe zur Wirkung gelangen kann, also das lebendige Plasma. Bei den höheren Tieren bildet dann der »Seelenstoff« einen Teil des Nervensystems, bei den niederen, nervenlosen Tieren und den Pflanzen einen Teil ihres vielzelligen Plasmakörpers, bei den einzelligen Protisten einen Teil ihres plasmatischen Zellenkörpers. Somit kommen wir wieder auf die Seelenorgane und gelangen zu der naturgemäßen Erkenntnis, daß diese materiellen Organe für die Seelentätigkeit unentbehrlich sind; die Seele selbst aber ist aktuell, ist die Summe ihrer physiologischen Funktionen.

Anders gestaltet sich der Begriff der spezifischen Seelensubstanz bei vielen dualistischen Philosophen und Theologen. Die unsterbliche »Seele« soll dann zwar materiell sein, aber doch unsichtbar und ganz verschieden von dem sichtbaren Körper, in welchem sie wohnt. Die Unsichtbarkeit der Seele wird dabei als ein sehr wesentliches Attribut derselben betrachtet. Einige vergleichen dabei die Seele mit dem Äther und betrachten sie gleich diesem als einen äußerst feinen und leichten, höchst beweglichen Stoff oder ein [S. 120] imponderables Agens, welches überall zwischen den wägbaren Teilchen des lebendigen Organismus schwebt. Andere hingegen vergleichen die Seele mit dem wehenden Winde und schreiben ihr also einen gasförmigen Zustand zu; und dieser Vergleich ist ja auch derjenige, welcher zuerst bei den Naturvölkern zu der später so allgemein gewordenen dualistischen Auffassung führte. Wenn der Mensch starb, blieb der Körper als Leiche zurück; die unsterbliche Seele aber »entfloh aus ihm mit dem letzten Atemzuge«.

Ätherseele. Die Vergleichung der menschlichen Seele mit dem physikalischen Äther als qualitativ ähnlichem Gebilde hat in neuerer Zeit eine konkretere Gestalt gewonnen durch die großartigen Fortschritte der Optik und der Elektrizität (besonders in den letzten Dezennien). Diese haben uns mit der Energie des Äthers bekannt gemacht und damit zugleich gewisse Schlüsse auf die materielle Natur dieses raumerfüllenden Wesens gestattet. Da ich diese wichtigen Verhältnisse später (im 12. Kapitel) besprechen werde, will ich nur kurz darauf hinweisen, daß dadurch die Annahme einer Ätherseele vollkommen unhaltbar geworden ist. Eine solche »ätherische Seele«, d. h. eine Seelensubstanz, welche dem physikalischen Äther ähnlich ist und gleich ihm zwischen den wägbaren Teilchen des lebendigen Plasma oder den Gehirnmolekeln schwebt, kann unmöglich individuelles Seelenleben hervorbringen. Weder die mystischen Anschauungen, welche darüber um die Mitte unseres Jahrhunderts lebhaft diskutiert wurden, noch die Versuche des modernen Neovitalismus, die mystische »Lebenskraft« mit dem physikalischen Äther in Beziehung zu setzen, sind heute mehr der Widerlegung bedürftig.

Luftseele. Viel allgemeiner verbreitet und auch heute noch in hohem Ansehen steht jene Anschauung, welche der Seelensubstanz eine gasförmige Beschaffenheit zuschreibt. Uralt ist die Vergleichung des menschlichen Atemzuges mit dem wehenden Windhauche; beide wurden ursprünglich für identisch gehalten und mit demselben Namen belegt. Anemos und Psyche der Griechen, Anima und Spiritus der Römer sind ursprünglich Bezeichnungen für den Lufthauch des Windes; sie wurden von diesem auf den Atemhauch des Menschen übertragen. Später wurde dann dieser »lebendige Odem« mit der »Lebenskraft« identifiziert und zuletzt als das Wesen der Seele selbst angesehen oder in engerem Sinne als deren höchste Äußerung, der »Geist«. Davon leitete dann weiterhin wieder die Phantasie die mystische Vorstellung der individuellen Geister ab, der »Gespenster« (»Spirits«); auch diese werden ja heute noch meistens als »luftförmige Wesen« — aber begabt mit den physiologischen Funktionen des Organismus! [S. 121] — vorgestellt; in manchen berühmten Spiritistenkreisen werden dieselben freilich trotzdem photographiert!

Flüssige und feste Seele. Der Experimentalphysik ist es in den letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts gelungen, alle gasförmigen Körper in den tropfbar-flüssigen — und die meisten auch in den festen — Aggregatzustand überzuführen. Es bedarf dazu weiter nichts als geeigneter Apparate, welche unter sehr hohem Druck und bei sehr niedriger Temperatur die Gase sehr stark komprimieren. Nicht allein die luftförmigen Elemente, Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff, sondern auch zusammengesetzte Gase (Kohlensäure) und Gasgemenge (atmosphärische Luft) sind so aus dem luftförmigen in den flüssigen Zustand versetzt worden. Dadurch sind aber jene unsichtbaren Körper für jedermann sichtbar und in gewissem Sinne »handgreiflich« geworden. Mit dieser Änderung der Dichtigkeit ist der mystische Nimbus verschwunden, welcher früher das Wesen der Gase in der gemeinen Anschauung verschleierte, als unsichtbare Körper, die doch sichtbare Wirkungen ausüben. Wenn nun die Seelensubstanz wirklich, wie viele »Gebildete« noch heute glauben, gasförmig wäre, so müßte man auch imstande sein, sie durch Anwendung von hohem Druck und sehr niederer Temperatur in den flüssigen Zustand überzuführen. Man könnte dann die Seele, welche im Momente des Todes »ausgehaucht« wird, auffangen, unter sehr hohem Druck bei niederer Temperatur kondensieren und in einer Glasflasche als »unsterbliche Flüssigkeit« aufbewahren (Fluidum animae immortale). Durch weitere Abkühlung und Kondensation müßte es dann auch gelingen, die flüssige Seele in den festen Zustand überzuführen (»Seelenschnee«). Bis jetzt ist das Experiment noch nicht gelungen.

Unsterblichkeit der Tierseele. Wenn der Athanismus wahr wäre, wenn wirklich die »Seele« des Menschen in alle Ewigkeit fortlebte, so müßte man ganz dasselbe auch für die Seele der höheren Tiere behaupten, mindestens für diejenige der ihm am nächsten stehenden Säugetiere (Affen, Hunde usw.). Denn der Mensch zeichnet sich vor diesen letzteren nicht durch eine besondere neue Art oder eine eigentümliche, nur ihm zukommende Funktion der Psyche aus, sondern lediglich durch einen höheren Grad der psychischen Tätigkeit, durch eine vollkommenere Stufe ihrer Entwickelung. Besonders ist bei vielen Menschen das Bewußtsein höher entwickelt als bei den meisten Tieren, die Fähigkeit der Ideenassoziation, des Denkens und der Vernunft. Indessen ist dieser Unterschied bei weitem nicht so groß, als man gewöhnlich annimmt; und er ist in jeder Beziehung viel geringer als der entsprechende Unterschied zwischen den höheren und niederen Tierseelen oder selbst als der Unterschied zwischen den [S. 122] höchsten und tiefsten Stufen der Menschenseele. Wenn man also der letzteren »persönliche Unsterblichkeit« zuschreibt, so muß man sie auch den höheren Tieren zugestehen. Diese Überzeugung von der individuellen Unsterblichkeit der Tiere ist denn auch ganz naturgemäß bei vielen Völkern alter und neuer Zeit zu finden.

Beweise für den Athanismus. Die Gründe, welche man seit zweitausend Jahren für die Unsterblichkeit der Seele anführt, und welche auch heute noch dafür geltend gemacht werden, entspringen zum größten Teile nicht dem Streben nach Erkenntnis der Wahrheit, sondern vielmehr dem sogenannten »Bedürfnis des Gemütes«, d. h. dem Phantasieleben und der Dichtung. Um mit Kant zu reden, ist die Unsterblichkeit der Seele ein unbegründetes Dogma für die reine Vernunft, ein bloßes »Postulat für die praktische Vernunft«. Diese letztere und die mit ihr zusammenhängenden »Bedürfnisse des Gemütes, der moralischen Erziehung usw.« müssen wir aber ganz aus dem Spiele lassen, wenn wir ehrlich und unbefangen zur reinen Erkenntnis der Wahrheit gelangen wollen; denn diese ist einzig und allein durch empirisch begründete und logisch klare Schlüsse der reinen Vernunft möglich. Es gilt also hier vom Athanismus dasselbe, wie vom Theismus; beide sind nur Gegenstände der mystischen Dichtung, des transzendenten »Glaubens«, nicht der vernünftig schließenden Wissenschaft.

Wollten wir alle die einzelnen Gründe analysieren, welche für den Unsterblichkeitsglauben geltend gemacht worden sind, so würde sich ergeben, daß nicht ein einziger derselben wirklich wissenschaftlich ist; kein einziger verträgt sich mit den klaren Erkenntnissen, welche wir durch die physiologische Psychologie und die Entwickelungstheorie in den letzten Dezennien gewonnen haben. Der theologische Beweis, daß ein persönlicher Schöpfer dem Menschen eine unsterbliche Seele eingehaucht habe, ist reiner Mythus. Der kosmologische Beweis, daß die »sittliche Weltordnung« die ewige Fortdauer der menschlichen Seele erfordere, ist unbegründetes Dogma. Der teleologische Beweis, daß die »höhere Bestimmung« des Menschen eine volle Ausbildung seiner mangelhaften irdischen Seele im Jenseits erfordere, beruht auf einem falschen Anthropismus. Der moralische Beweis, daß die Mängel und die unbefriedigten Wünsche des irdischen Daseins durch eine »ausgleichende Gerechtigkeit« im Jenseits befriedigt werden müssen, ist ein frommer Wunsch, weiter nichts. Der ethnologische Beweis, daß der Glaube an die Unsterblichkeit ebenso wie an Gott eine angeborene, allen Menschen gemeinsame Wahrheit sei, ist tatsächlicher Irrtum. Der ontologische Beweis, daß die Seele als ein »einfaches, immaterielles und unteilbares Wesen« unmöglich [S. 123] mit dem Tode verschwinden könne, beruht auf einer ganz falschen Auffassung der psychischen Erscheinungen; sie ist ein spiritualistischer Irrtum. Alle diese und andere ähnliche »Beweise für den Athanismus« sind hinfällig geworden; sie sind durch die wissenschaftliche Kritik jetzt definitiv widerlegt.

Beweise gegen den Athanismus. Gegenüber den angeführten, sämtlich unhaltbaren Gründen für die Unsterblichkeit der Seele ist es bei der hohen Bedeutung dieser Frage wohl zweckmäßig, die wohlbegründeten, wissenschaftlichen Beweise gegen dieselbe hier kurz zusammenzufassen. Der physiologische Beweis lehrt uns, daß die menschliche Seele ebenso wie die der höheren Tiere kein selbständiges, immaterielles Wesen ist, sondern der Kollektivbegriff für eine Summe von Gehirnfunktionen; diese sind ebenso wie alle anderen Lebenstätigkeiten durch physikalische und chemische Prozesse bedingt, also auch dem Substanzgesetz unterworfen. Der histologische Beweis gründet sich auf den höchst verwickelten mikroskopischen Bau des Gehirns und lehrt uns in den Ganglienzellen desselben die wahren »Elementarorgane der Seele« kennen. Der experimentelle Beweis überzeugt uns, daß die einzelnen Seelentätigkeiten an einzelne Bezirke des Gehirns gebunden und ohne deren normale Beschaffenheit unmöglich sind; werden diese Bezirke zerstört, so erlischt damit auch deren Funktion; insbesondere gilt dies von den »Denkorganen«, den einzigen zentralen Werkzeugen des »Geisteslebens«. Der pathologische Beweis ergänzt den physiologischen; wenn bestimmte Gehirnbezirke (Sprachzentrum, Sehsphäre, Hörsphäre) durch Krankheit zerstört werden, so verschwindet auch deren Arbeit (Sprechen, Sehen, Hören); die Natur selbst führt hier das entscheidende physiologische Experiment aus. Der ontogenetische Beweis führt uns unmittelbar die Tatsachen der individuellen Entwickelung der Seele vor Augen; wir sehen, wie die Kindesseele ihre einzelnen Fähigkeiten nach und nach entwickelt; der Jüngling bildet sich zur vollen Blüte, der Mann zur reifen Frucht aus; im Greisenalter findet allmähliche Rückbildung der Seele statt, entsprechend der senilen Degeneration des Gehirns. Der phylogenetische Beweis stützt sich auf die Paläontologie, die vergleichende Anatomie und Physiologie des Gehirns; in ihrer gegenseitigen Ergänzung begründen diese Wissenschaften die Gewißheit, daß das Gehirn des Menschen (und also auch dessen Funktion, die Seele) sich stufenweise und allmählich aus demjenigen der Säugetiere und weiterhin der niederen Wirbeltiere entwickelt hat.

Athanistische Illusionen. Die vorhergehenden Untersuchungen, die durch viele andere Ergebnisse der modernen Wissenschaft ergänzt [S. 124] werden könnten, haben das alte Dogma von der »Unsterblichkeit der Seele« als völlig unhaltbar nachgewiesen; dasselbe kann im 20. Jahrhundert nicht mehr Gegenstand ernster wissenschaftlicher Forschung, sondern nur noch des transzendenten Glaubens sein. Die »Kritik der reinen Vernunft« weist aber nach, daß dieser hochgeschätzte Glaube, bei Licht betrachtet, der reine Aberglaube ist, ebenso wie der oft damit verknüpfte Glaube an den »persönlichen Gott«. Nun halten aber noch heute Millionen von »Gläubigen« — nicht nur aus den niederen, ungebildeten Volksmassen, sondern aus den höheren und höchsten Bildungskreisen — diesen Aberglauben für ihr teuerstes Besitztum, für ihren »kostbarsten Schatz«. Es wird daher nötig sein, in den damit verknüpften Vorstellungskreis noch etwas tiefer einzugehen und seinen wirklichen Wert einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Da ergibt sich denn für den objektiven Kritiker die Einsicht, daß jener Wert zum größten Teile auf Einbildung beruht, auf Mangel an klarem Urteil und an folgerichtigem Denken. Der definitive Verzicht auf diese »athanistischen Illusionen« würde nach meiner festen und ehrlichen Überzeugung für die Menschheit nicht nur keinen schmerzlichen Verlust, sondern einen unschätzbaren positiven Gewinn bedeuten.

Das menschliche »Gemütsbedürfnis« hält den Unsterblichkeitsglauben besonders aus zwei Gründen fest, erstens in der Hoffnung auf ein besseres zukünftiges Leben im Jenseits, und zweitens in der Hoffnung auf Wiedersehen der teuren Lieben und Freunde, welche uns der Tod hier entrissen hat. Die erste Hoffnung entspricht einem natürlichen Vergeltungsgefühl, das zwar subjektiv berechtigt, aber objektiv ohne jeden Anhalt ist. Wir erheben Ansprüche auf Entschädigung für die zahllosen Mängel und traurigen Erfahrungen dieses irdischen Daseins, ohne irgend eine reale Aussicht oder Garantie dafür zu besitzen. Wir verlangen eine unbegrenzte Dauer eines ewigen Lebens, in welchem wir nur Lust und Freude, keine Unlust und keinen Schmerz erfahren wollen. Die Vorstellungen der meisten Menschen über dieses »selige Leben im Jenseits« sind höchst seltsam und um so sonderbarer, als darin die »immaterielle Seele« sich an höchst materiellen Genüssen erfreut. Die Phantasie jeder gläubigen Person gestaltet sich diese fortdauernde Herrlichkeit entsprechend ihren persönlichen Wünschen. Der amerikanische Indianer, dessen Athanismus Schiller in seiner nadowessischen Totenklage so anschaulich schildert, hofft in seinem Paradiese die herrlichsten Jagdgründe zu finden, mit unermeßlich vielen Büffeln und Bären; der Eskimo erwartet dort sonnenbestrahlte Eisflächen mit einer unerschöpflichen Fülle von Eisbären, Robben und anderen Polartieren; der sanfte Singhalese gestaltet sich sein jenseitiges [S. 125] Paradies entsprechend dem wunderbaren Inselparadiese Ceylon mit seinen herrlichen Gärten und Wäldern; nur setzt er voraus, daß jederzeit unbegrenzte Mengen von Reis und Curry, von Kokosnüssen und anderen Früchten bereit stehen; der mohammedanische Araber ist überzeugt, daß in seinem Paradiese blumenreiche, schattige Gärten sich ausdehnen, durchrauscht von kühlen Quellen und bevölkert mit den schönsten Mädchen; der katholische Fischer in Sizilien erwartet dort täglich einen Überfluß der köstlichsten Fische und der feinsten Makkaroni, und ewigen Ablaß für alle Sünden, die er auch im ewigen Leben noch täglich zu begehen hofft; der evangelische Nordeuropäer hofft auf einen unermeßlichen gothischen Dom, in welchem »ewige Lobgesänge auf den Herrn der Heerscharen« ertönen. Kurz, jeder Gläubige erwartet von seinem ewigen Leben in Wahrheit eine direkte Fortsetzung seines individuellen Erdendaseins, nur in einer bedeutend »vermehrten und verbesserten Auflage«.

Besonders muß hier noch die durchaus materialistische Grundanschauung des christlichen Athanismus betont werden, die mit dem absurden Dogma von der »Auferstehung des Fleisches« eng zusammenhängt. Wie uns Tausende von Ölgemälden berühmter Meister versinnlichen, gehen die »auferstandenen Leiber« mit ihren »wiedergeborenen Seelen« droben im Himmel gerade so spazieren, wie hier im Jammerthal der Erde; sie schauen Gott mit ihren Augen, sie hören seine Stimme mit ihren Ohren, sie singen Lieder zu seinen Ehren mit ihrem Kehlkopf usw. Kurz, die modernen Bewohner des christlichen Paradieses sind ebenso Doppelwesen von Leib und Seele, ebenso mit allen Organen des irdischen Leibes ausgestattet, wie unsere Altvordern in Odins Saal zu Walhalla, wie die »unsterblichen« Türken und Araber in Mohammeds lieblichen Paradiesgärten, wie die altgriechischen Halbgötter und Helden an Zeus' Tafel im Olymp, im Genusse von Nektar und Ambrosia.

Mag man sich dieses »ewige Leben« im Paradiese aber noch so herrlich ausmalen, so muß dasselbe auf die Dauer unendlich langweilig werden. Und nun gar: »Ewig!« Ohne Unterbrechung, ohne Weiterentwickelung diese ewige individuelle Existenz fortführen! Der tiefsinnige Mythus vom »Ewigen Juden«, das vergebliche Ruhesuchen des unseligen Ahasverus sollte uns über den Wert eines solchen »ewigen Lebens« aufklären! Das beste, was wir uns nach einem tüchtigen, nach unserm besten Gewissen gut angewandten Leben wünschen können, ist der ewige Friede des Grabes: »Herr, schenke ihnen die ewige Ruhe!«

Jeder vernünftige Gebildete, der die geologische Zeitrechnung kennt, und der über die lange Reihe der Jahrmillionen [S. 126] in der organischen Erdgeschichte nachgedacht hat, muß bei unbefangenem Urteil zugeben, daß der banale Gedanke des »ewigen Lebens« auch für den besten Menschen kein herrlicher Trost, sondern eine furchtbare Drohung ist. Nur Mangel an klarem Urteil und folgerichtigem Denken kann dies bestreiten.

Den besten und den am meisten berechtigten Grund für den Athanismus gibt die Hoffnung, im »ewigen Leben« die teueren Angehörigen und Freunde wieder zu sehen, von denen uns hier auf Erden ein grausames Schicksal früh getrennt hat. Aber auch dieses vermeintliche Glück erweist sich bei näherer Betrachtung als Illusion; und jedenfalls würde es stark durch die Aussicht getrübt, dort auch allen den weniger angenehmen Bekannten und den widerwärtigen Feinden zu begegnen, die hier unser Dasein getrübt haben.

Unlösbare Schwierigkeiten bereitet auch den gläubigen Athanisten die Frage, in welchem Stadium ihrer individuellen Entwickelung die abgeschiedene Seele ihr »ewiges Leben« fortführen soll? Sollen die Neugeborenen erst im Himmel ihre Seele entwickeln, unter demselben harten »Kampf ums Dasein«, der den Menschen hier auf der Erde erzieht? Soll der talentvolle Jüngling, der dem Massenmorde des Krieges zum Opfer fällt, erst in Walhalla seine reichen, ungenutzten Geistesgaben entwickeln? Soll der altersschwache, kindisch gewordene Greis, der als reifer Mann die Welt mit dem Ruhm seiner Taten erfüllte, ewig als rückgebildeter Geist fortleben? Oder soll er sich gar in ein früheres Blütestadium zurück entwickeln? Wenn aber die unsterblichen Seelen im Olymp als vollkommene Wesen verjüngt fortleben sollen, dann ist auch der Reiz und das Interesse der Persönlichkeit für sie ganz verschwunden.

Ebenso unhaltbar erscheint uns heute im Lichte der reinen Vernunft der anthropistische Mythus vom »jüngsten Gericht«, von der Scheidung aller Menschenseelen in zwei große Haufen, von denen der eine zu den ewigen Freuden des Paradieses, der andere zu den ewigen Qualen der Hölle bestimmt ist — und das von einem persönlichen Gott, welcher »der Vater der Liebe« ist! Hat doch dieser liebende Allvater selbst die Bedingungen der Vererbung und Anpassung »geschaffen«, unter denen sich einerseits die bevorzugten Glücklichen notwendig zu straflosen Seligen, andererseits die unglücklichen Armen und Elenden ebenso notwendig zu strafwürdigen Verdammten entwickeln mußten.

Eine kritische Vergleichung der unzähligen bunten Phantasiegebilde, welche der Unsterblichkeitsglaube der verschiedenen Völker und Religionen seit Jahrtausenden erzeugt hat, gewährt das merkwürdigste Bild; eine hochinteressante, auf ausgedehnte Quellenstudien [S. 127] gegründete Darstellung derselben hat Adalbert Svoboda gegeben in seinen ausgezeichneten Werken: »Seelenwahn« (1886) und »Gestalten des Glaubens« (1897). Wie absurd uns auch die meisten dieser Mythen erscheinen mögen, wie unvereinbar sie sämtlich mit der vorgeschrittenen Naturerkenntnis der Gegenwart sind, so spielen sie dennoch auch heute eine höchst wichtige Rolle und üben trotzdem als »Postulate der praktischen Vernunft« den größten Einfluß auf die Lebensanschauungen der Individuen und die Geschicke der Völker.

Die idealistische und spiritualistische Philosophie der Gegenwart wird nun freilich zugeben, daß diese herrschenden materialistischen Formen des Unsterblichkeitsglaubens unhaltbar seien, und sie wird behaupten, daß an ihre Stelle die geläuterte Vorstellung von einem immateriellen Seelenwesen, von einer platonischen Idee oder einer transzendenten Seelensubstanz treten müsse. Allein mit diesen unfaßbaren Vorstellungen kann die realistische Naturanschauung der Gegenwart absolut nichts anfangen; sie befriedigen weder das Kausalitätsbedürfnis unseres Verstandes, noch die Wünsche unseres Gemütes. Fassen wir alles zusammen, was vorgeschrittene Anthropologie, Psychologie und Kosmologie der Gegenwart über den Athanismus ergründet haben, so müssen wir zu dem bestimmten Schlusse kommen: »Der Glaube an die Unsterblichkeit der menschlichen Seele ist ein Dogma, welches den sichersten Erfahrungssätzen der modernen Naturwissenschaft völlig widerspricht.«

Zwölftes Kapitel.

Das Substanzgesetz.

Monistische Studien über das kosmologische Grundgesetz. Erhaltung der Materie und der Energie. Einheit und Trinität der Substanz.

Als das oberste und allumfassende Naturgesetz betrachte ich das Substanzgesetz, das wahre und einzige kosmologische Grundgesetz; seine Entdeckung und Feststellung ist die größte Geistestat des 19. Jahrhunderts, insofern alle anderen erkannten Naturgesetze sich ihm unterordnen. Unter dem Begriffe »Substanzgesetz« fasse ich zwei höchste allgemeine Gesetze verschiedenen Ursprungs [S. 128] und Alters zusammen, das ältere chemische Gesetz von der »Erhaltung des Stoffes« und das jüngere physikalische Gesetz von der »Erhaltung der Kraft«. Daß diese beiden Grundgesetze der exakten Naturwissenschaft im Wesen unzertrennlich sind, wird vielen Lesern wohl selbstverständlich erscheinen und ist von den meisten Naturforschern der Gegenwart anerkannt. Indessen wird diese fundamentale Überzeugung doch von anderer Seite noch heute vielfach bestritten und muß jedenfalls erst bewiesen werden. Wir müssen daher zunächst einen kurzen Blick auf beide Gesetze gesondert werfen.

Gesetz von der Erhaltung des Stoffes (oder der »Konstanz der Materie«, Lavoisier, 1789). Die Summe des Stoffes, welcher den Weltraum erfüllt, ist unveränderlich. Wenn ein Körper zu verschwinden scheint, wechselt er nur seine Form; wenn die Kohle verbrennt, verwandelt sie sich durch Verbindung mit dem Sauerstoff der Luft in gasförmige Kohlensäure; wenn ein Zuckerstück sich im Wasser löst, geht seine feste Form in die tropfbar flüssige über. Ebenso wechselt die Materie nur ihre Form, wenn ein neuer Naturkörper zu entstehen scheint; wenn es regnet, wird der Wasserdampf der Luft in Tropfenform niedergeschlagen; wenn das Eisen rostet, verbindet sich die oberflächliche Schicht des Metalles mit Wasser und dem Sauerstoff der Luft und bildet so Rost. Nirgends in der Natur sehen wir, daß neue Materie entsteht oder »geschaffen« wird; nirgends finden wir, daß vorhandene Materie verschwindet oder in Nichts zerfällt. Dieser Erfahrungssatz gilt heute als erster und unerschütterlicher Grundsatz der Chemie und kann jederzeit mittels der Wage unmittelbar bewiesen werden. Es war aber das unsterbliche Verdienst des großen französischen Chemikers Lavoisier, diesen Beweis durch die Wage zuerst geführt zu haben. Heute sind alle Naturforscher, welche sich jahrelang mit dem denkenden Studium der Naturerscheinungen beschäftigt haben, so fest von der absoluten Konstanz der Materie überzeugt, daß sie sich das Gegenteil gar nicht mehr vorstellen können.

Gesetz von der Erhaltung der Kraft (oder der »Konstanz der Energie«, Robert Mayer, 1842.) Die Summe der Kraft oder Energie, welche im Weltraum alle Erscheinungen bewirkt, ist unveränderlich. Wenn die Lokomotive den Eisenbahnzug fortführt, verwandelt sich die Spannkraft des erhitzten Wasserdampfes in die lebendige Kraft der mechanischen Bewegung; wenn wir die Pfeife der Lokomotive hören, werden die Schallschwingungen der bewegten Luft durch unser Trommelfell und die Kette der Gehörknochen zum Labyrinth unseres inneren Ohres fortgeleitet und von da durch den Hörnerv zu den akustischen [S. 129] Ganglienzellen, welche die Hörsphäre im Schläfenlappen unserer Großhirnrinde bilden. Die ganze wunderbare Gestaltenfülle, welche unseren Erdball belebt, ist in letzter Instanz umgewandeltes Sonnenlicht. Allbekannt ist, wie gegenwärtig die bewunderungswürdigen Fortschritte der Technik dazu geführt haben, die verschiedenen Naturkräfte ineinander zu verwandeln: Wärme wird in Massenbewegung, diese wieder in Licht oder Schall, diese wiederum in Elektrizität übergeführt oder umgekehrt. Die genaue Messung der Kraftmenge, welche bei dieser Verwandlung tätig ist, hat ergeben, daß auch sie konstant bleibt. Der großen Entdeckung dieser fundamentalen Tatsache hatte sich schon 1837 Friedrich Mohr in Bonn sehr genähert; sie erfolgte 1842 durch den geistreichen schwäbischen Arzt Robert Mayer in Heilbronn; unabhängig von ihm kam Hermann Helmholtz auf die Erkenntnis desselben Prinzips; er wies fünf Jahre später seine allgemeine Anwendbarkeit und Fruchtbarkeit auf allen Gebieten der Physik nach. Wir würden heute sagen müssen, daß es auch das gesamte Gebiet der Physiologie — d. h. der »organischen Physik!« — beherrsche, wenn dagegen nicht entschiedener Widerspruch von seiten der vitalistischen Biologen, sowie der dualistischen und spiritualistischen Philosophen erhoben würde. Diese erblicken in den eigentümlichen »Geisteskräften« des Menschen eine Gruppe von »freien«, dem Energiegesetz nicht unterworfenen Krafterscheinungen; besonders gestützt wird diese dualistische Auffassung durch das Dogma von der Willensfreiheit. Wir haben schon bei deren Besprechung gesehen, daß ihre Annahme unhaltbar ist. In neuester Zeit hat die Physik den Begriff der »Kraft« und der »Energie« getrennt; für unsere vorliegende allgemeine Betrachtung ist diese Unterscheidung gleichgültig.

Einheit des Substanzgesetzes. Von größter Wichtigkeit für unsere monistische Weltanschauung ist die feste Überzeugung, daß die beiden großen kosmologischen Grundlehren, das chemische Grundgesetz von der Erhaltung des Stoffes und das physikalische Grundgesetz von der Erhaltung der Kraft, untrennbar zusammengehören; beide Theorien sind ebenso innig verknüpft, wie ihre beiden Objekte, Stoff und Kraft (oder Materie und Energie). Vielen monistisch denkenden Naturforschern und Philosophen wird diese fundamentale Einheit beider Gesetze selbstverständlich erscheinen, da ja beide nur zwei verschiedene Seiten eines und demselben Objektes, des »Kosmos«, betreffen; indessen ist diese naturgemäße Überzeugung weit entfernt, sich allgemeiner Anerkennung zu erfreuen. Sie wird vielmehr energisch bekämpft von der gesamten dualistischen Philosophie, von der vitalistischen Biologie, der parallelistischen [S. 130] Psychologie; ja sogar von vielen (inkonsequenten!) Monisten, welche im »Bewußtsein« oder in der höheren Geistestätigkeit des Menschen, oder auch in anderen Erscheinungen des »freien Geisteslebens« einen Gegenbeweis zu finden glauben.

Ich betone daher ganz besonders die fundamentale Bedeutung des einheitlichen Substanzgesetzes als Ausdruck des untrennbaren Zusammenhanges jener beiden begrifflich getrennten Gesetze. Daß dieselben ursprünglich nicht zusammengefaßt und nicht in dieser Einheit erkannt wurden, ergibt sich ja schon aus der Tatsache ihrer verschiedenen Entdeckungszeit. Die Einheit beider Grundgesetze, welche noch heute vielfach bestritten wird, drücken viele überzeugte Naturforscher in der Benennung aus: »Gesetz von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes«. Um einen kürzeren und bequemeren Ausdruck für diesen fundamentalen, aus neun Worten zusammengesetzten Begriff zu haben, habe ich schon vor längerer Zeit vorgeschlagen, dasselbe das »Substanzgesetz« oder das »kosmologische Grundgesetz« zu nennen (Monismus, 1892, S. 14, 39).

Substanzbegriff. Der erste Denker, der den reinen monistischen »Substanzbegriff« in die Wissenschaft einführte und seine fundamentale Bedeutung erkannte, war der große Philosoph Baruch Spinoza; sein Hauptwerk erschien kurz nach seinem frühzeitigen Tode, 1677. In seiner großartigen pantheistischen Weltanschauung fällt der Begriff der Welt (Universum, Kosmos) zusammen mit dem allumfassenden Begriff Gott; sie ist gleichzeitig der reinste und vernünftigste Monismus, und der geklärteste und abstrakteste Monotheismus. Diese Universalsubstanz oder dieses göttliche Weltwesen zeigt uns zwei verschiedene Seiten seines wahren Wesens, zwei fundamentale Attribute: die Materie (den unendlichen ausgedehnten Substanzstoff) und den Geist (die allumfassende denkende Substanzenergie). Alle Wandelungen, die später der Substanzbegriff gemacht hat, kommen bei konsequenter Analyse auf diesen höchsten Grundbegriff von Spinoza zurück, den ich mit Goethe für einen der erhabensten und wahrsten Gedanken aller Zeiten halte. Alle einzelnen Objekte der Welt, die unserer Erkenntnis zugänglich sind, alle individuellen Formen des Daseins, sind nur besondere vergängliche Formen der Substanz, Akzidenzen oder Moden. Diese Modi sind körperliche Dinge, materielle Körper, wenn wir sie unter dem Attribut der Ausdehnung (der »Raumerfüllung«) betrachten, dagegen Kräfte oder Ideen, wenn wir sie unter dem Attribut des Denkens (der »Energie«) betrachten. Auf diese Grundvorstellung von Spinoza kommt auch unser Monismus jetzt zurück; auch für uns sind Materie (der raumerfüllende Stoff) und Energie [S. 131] (die bewegende Kraft) nur zwei untrennbare Attribute des einheitlichen Weltwesens, der einen Substanz.

Der kinetische Substanzbegriff. (Urprinzip der Schwingung oder Vibration.) Unter den verschiedenen Formen, welche der fundamentale Substanzbegriff in der neueren Physik, in Verbindung mit der herrschenden Atomistik, angenommen hat, überwog bisher die Annahme, daß allen Erscheinungen eine schwingende Bewegung der kleinsten Massenteilchen zugrunde liege, eine Vibration der Atome. Die Atome selbst sind dem gewöhnlichen »kinetischen Substanzbegriff« zufolge tote diskrete Körperteilchen, welche im leeren Raum schwingen und in die Ferne wirken. Der eigentliche Begründer und angesehenste Vertreter dieser kinetischen Substanztheorie ist der große Mathematiker Newton, der berühmte Entdecker des Gravitationsgesetzes. In seinem Hauptwerke »Principia philosophiae naturalis mathematica« (1687) wies er nach, daß im ganzen Weltall ein und dasselbe Grundgesetz der Massenanziehung, dieselbe unveränderliche Gravitationskonstante herrscht; die Anziehung von je zwei Massenteilchen steht im geraden Verhältnis ihrer Massen und im umgekehrten Verhältnis des Quadrats ihrer Entfernungen. Diese allgemeine »Schwerkraft« bewirkt ebenso die Bewegung des fallenden Apfels und die Flutwelle des Meeres, wie den Umlauf der Planeten um die Sonne und die kosmischen Bewegungen aller Weltkörper. Das unsterbliche Verdienst von Newton war, dieses Gravitationsgesetz endgültig festzustellen und dafür eine unanfechtbare mathematische Formel zu finden. Aber diese tote mathematische Formel, auf welche die meisten Naturforscher hier, wie in vielen anderen Fällen, das größte Gewicht legen, gibt uns nur die quantitative Beweisführung für die Theorie, sie gewährt uns nicht die mindeste Einsicht in das qualitative Wesen der Erscheinungen. Die unvermittelte Fernwirkung, welche Newton aus seinem Gravitationsgesetz ableitete und welche zu einem der wichtigsten und gefährlichsten Dogmen der späteren Physik wurde, gibt uns nicht den mindesten Aufschluß über die eigentlichen Ursachen der Massenanziehung; vielmehr versperrt sie uns den Weg zu deren Erkenntnis.

Der trinitäre Substanzbegriff. Die tiefer liegenden Ursachen der Massenanziehung werden klar, und zugleich werden manche Einwände gegen unsere monistische Substanztheorie hinfällig, wenn wir den beiden Substanzattributen von Spinoza noch ein drittes, davon untrennbares Attribut hinzufügen, die unbewußte Empfindung (Psychoma). Die wahren »inneren Ursachen« der mechanischen Bewegungen, welche die dualistische Metaphysik [S. 132] als immaterielle Kräfte, als Geisteskräfte oder psychische Energieformen den materiellen Energieformen der Physik gegenüberstellt, sind gleich den letzteren untrennbar an die raumerfüllende Materie gebunden. Gewöhnlich wird ja von der neueren monistischen Philosophie die Empfindung selbst als eine Form der Energie aufgefaßt; das geschieht sowohl von deren materialistischer Richtung (»Stoff und Kraft« von Büchner), als von der spiritualistischen, ihr entgegengesetzten Richtung (»Energetik« als »Überwindung des Materialismus« von Ostwald). Die Einseitigkeit beider Richtungen wird vermieden, und zugleich werden manche irreführende Mißverständnisse beseitigt, wenn wir den bisher vorherrschenden Begriff der »Energie« in zwei gleichwertige Attribute zerlegen, in »aktive Energie« — Mechanik (»Wille« im Sinne von Schopenhauer) und in »passive Energie« — Psychoma (»unbewußte Empfindung« im weitesten Sinne). Ich habe diese Theorie von der »Dreieinigkeit der Substanz« (oder »Trinität des Kosmos«) im 19. Kapitel meiner »Lebenswunder« näher erläutert. (Ergänzungsband zu den »Welträtseln«, 1904; — Volksausgabe 1906, S. 184-188.) Dabei habe ich mich besonders auf die gleichgerichteten Ansichten von mehreren unserer hervorragendsten modernen Naturphilosophen bezogen, Carl Naegeli (1877), Albrecht Rau (1896) und Ernst Mach (1901). Die drei fundamentalen Attribute der Substanz: ARaumerfüllung oder »Ausdehnung«, Stoff, (= Materie), BBewegung oder »Mechanik«, Kraft (= Energie), und CEmpfindung oder »Weltseele«, Geist (= Psychom) sind demnach ganz allgemeine Grundeigenschaften aller Körper.

Gesetz von der Erhaltung der Empfindung. Wenn diese »Trinitärtheorie« der Substanz richtig ist, dann muß auch das große Konstanzgesetz, die Lehre von der »Erhaltung« der unzerstörbaren Substanz, ebenso auf die Empfindung, wie auf »Stoff und Kraft« Anwendung finden. Die niedersten und einfachsten Psychomformen (Massenanziehung in der Physik, Wahlverwandtschaft in der Chemie) sind dann nur stufenweise verschieden von den niederen und höheren Formen des organischen Seelenlebens, von der Sinnestätigkeit der niederen Organismen, von der Geistestätigkeit des Menschen (»Denken«). Jede Psychomform kann in die andere übergeführt werden. Die Summe der Empfindung im unendlichen Weltraum ist unveränderlich.

Der dualistische Substanzbegriff. Die beiden Substanztheorien, die wir vorstehend einander gegenübergestellt haben, sind im Prinzip monistisch; beide betrachten »Stoff und Kraft« als untrennbar, die ganze Welt als einheitliche Substanz. Ganz anders verhält es sich mit den dualistischen Substanztheorien, welche [S. 133] noch heute in der idealistischen und spiritualistischen Philosophie herrschend sind; diese werden auch von der einflußreichen Theologie gestützt, soweit sich dieselbe überhaupt auf solche metaphysische Spekulationen einläßt. Hiernach sind zwei ganz verschiedene Hauptbestandteile der Substanz zu unterscheiden, materielle und immaterielle. Die materielle Substanz bildet die »Körperwelt«, deren Erforschung Objekt der Physik und Chemie ist; hier allein gilt das Gesetz von der Erhaltung der Materie und Energie (soweit man nicht überhaupt an deren »Erschaffung aus Nichts« und andere Wunder glaubt!). Die immaterielle Substanz hingegen bildet die »Geisterwelt«, in welcher jenes Gesetz nicht gilt; hier gelten die Gesetze der Physik und Chemie entweder gar nicht, oder sie sind der »Lebenskraft« unterworfen, oder dem »freien Willen«, oder der »göttlichen Allmacht«, oder anderen solchen Gespenstern, von denen die kritische Wissenschaft nichts weiß. Eigentlich bedürfen diese prinzipiellen Irrtümer heute keiner Widerlegung mehr; denn die Erfahrung hat uns bis auf den heutigen Tag keine einzige immaterielle Substanz kennen gelehrt, keine einzige Kraft, welche nicht an den Stoff gebunden ist.

Masse oder Körperstoff (Ponderable Materie). Die Erkenntnis dieses wägbaren Teiles der Materie ist in erster Linie Gegenstand der Chemie. Allbekannt sind die erstaunlichen theoretischen Fortschritte, welche diese Wissenschaft im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts gemacht hat, und der ungeheuere Einfluß, welchen sie auf alle Seiten des praktischen Kulturlebens gewonnen hat. Wir begnügen uns daher mit wenigen Bemerkungen über die wichtigsten prinzipiellen Fragen von der Natur der Masse. Der analytischen Chemie ist es bekanntlich gelungen, alle die unzähligen verschiedenen Naturkörper durch Zerlegung auf eine geringe Anzahl von Urstoffen oder Elementen zurückzuführen, d. h. auf einfache Körper, welche nicht weiter zerlegt werden können. Die Zahl dieser Elemente beträgt ungefähr achtzig. Nur der kleinere Teil derselben (eigentlich nur vierzehn) ist allgemein auf der Erde verbreitet und von hoher Bedeutung; die größere Hälfte besteht aus seltenen und weniger wichtigen Elementen (meistens Metallen). Die gruppenweise Verwandtschaft dieser Elemente und die merkwürdigen Beziehungen ihrer Atomgewichte, welche Lothar Meyer und Mendelejeff in ihrem »Periodischen System der Elemente« nachgewiesen haben, machen es sehr wahrscheinlich, daß dieselben keine absoluten Spezies der Masse, keine ewig unveränderlichen Größen sind. Man hat nach jenem System die 80 Elemente auf acht Hauptgruppen verteilt und innerhalb derselben nach der Größe ihrer Atomgewichte geordnet, so daß die [S. 134] chemisch ähnlichen Elemente Familienreihen bilden. Die gruppenweisen Beziehungen im natürlichen System der Elemente erinnern einerseits an ähnliche Verhältnisse der mannigfach zusammengesetzten Kohlenstoff-Verbindungen, andererseits an die Beziehungen paralleler Gruppen, wie sie im natürlichen System der Tier- und Pflanzenarten sich zeigen. Wie nun bei diesen die »Verwandtschaft« der ähnlichen Gestalten auf Abstammung von gemeinsamen einfachen Stammformen beruht, so ist es sehr wahrscheinlich, daß auch dasselbe für die Familien und Ordnungen der Elemente gilt. Wir dürfen daher annehmen, daß die jetzigen »empirischen Elemente« keine wirklich einfachen und unveränderlichen »Spezies der Masse« sind, sondern ursprünglich zusammengesetzt aus gleichartigen einfachen Uratomen in verschiedener Zahl und Lagerung. Neuerdings soll es tatsächlich gelungen sein, ein Element in ein anderes zu verwandeln, so z. B. Radium in Helium. Der alte Traum der Alchymisten scheint dadurch teilweise in Erfüllung zu gehen.

Atome und Elemente. Die moderne Atomlehre, wie sie heute der Chemie als unentbehrliches Hilfsmittel erscheint, ist wohl zu unterscheiden von dem alten philosophischen Atomismus, wie er schon vor mehr als zweitausend Jahren von hervorragenden monistischen Philosophen des Altertums gelehrt wurde, von Leukippos, Demokritos und Lukretius; später fand derselbe eine weitere und mannigfach verschiedene Ausbildung durch Descartes, Hobbes, Leibniz und andere hervorragende Philosophen. Eine bestimmte annehmbare Fassung und empirische Begründung fand aber der moderne Atomismus erst 1808 durch den englischen Chemiker Dalton, welcher das »Gesetz der einfachen und multiplen Proportionen« bei der Bildung chemischer Verbindungen aufstellte. Er bestimmte zuerst die Atomgewichte der einzelnen Elemente und schuf damit die unerschütterliche exakte Basis, auf welcher die neueren chemischen Theorien ruhen; diese sind sämtlich atomistisch, insofern sie die Elemente aus gleichartigen, kleinsten, diskreten Teilchen zusammengesetzt annehmen, die nicht weiter zerlegt werden können. Jedoch haben die gewaltigen Fortschritte der neueren Physik (besonders der Elektrik) dazu geführt, die Atome wieder in viel kleinere (hypothetische!) Bestandteile theoretisch zu zerlegen, die Elektronen (Ionentheorie). Dabei bleibt die Frage nach dem eigentlichen Wesen der Atome, ihrer Gestalt, Größe, Beseelung usw. ganz außer Spiele; denn diese Qualitäten sind hypothetisch; empirisch dagegen ist der Chemismus der Atome oder ihre »chemische Affinität«, d. h. die konstante Proportion, in der sie sich mit den Atomen anderer Elemente verbinden (Monismus, 1892, S. 17, 41).

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Wahlverwandtschaft der Elemente. Das verschiedene Verhalten der einzelnen Elemente gegeneinander, das die Chemie als »Affinität oder Verwandtschaft« bezeichnet, ist eine der wichtigsten Eigenschaften der Masse und äußert sich in den verschiedenen Mengenverhältnissen oder Proportionen, in denen ihre Verbindung stattfindet, und in der Intensität, mit der dieselbe erfolgt. Alle Grade der Zuneigung, von der vollkommenen Gleichgültigkeit bis zur heftigsten Leidenschaft, finden sich in dem chemischen Verhalten der verschiedenen Elemente gegeneinander ebenso wieder, wie sie in der Psychologie des Menschen und namentlich in der Zuneigung der beiden Geschlechter die größte Rolle spielen. Goethe hat bekanntlich in seinem klassischen Roman »Die Wahlverwandtschaften« die Verhältnisse der Liebespaare in eine Reihe gestellt mit der gleichnamigen Erscheinung bei Bildung chemischer Verbindungen. Die unwiderstehliche Leidenschaft, welche Eduard zu der sympathischen Ottilie, Paris zu Helena hinzieht und alle Hindernisse der Vernunft und Moral überwindet, ist dieselbe mächtige »unbewußte« Attraktionskraft, welche bei der Befruchtung der Tier- und Pflanzeneier den lebendigen Samenfaden zum Eindringen in die Eizelle (aber auch zur Apfelsäure!) antreibt; dieselbe heftige Bewegung, durch welche zwei Atome Wasserstoff und ein Atom Sauerstoff sich zur Bildung von einem Molekül Wasser vereinigen. Diese prinzipielle Einheit der Wahlverwandtschaft in der ganzen Natur, vom einfachsten chemischen Prozeß bis zu dem verwickeltsten Liebesroman hinauf, hat schon der griechische Naturphilosoph Empedokles im fünften Jahrhundert v. Chr. erkannt, in seiner Lehre vom »Lieben und Hassen der Elemente«. Sie findet ihre empirische Bestätigung durch die interessanten Fortschritte der Zellularpsychologie, deren hohe Bedeutung wir erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gewürdigt haben. Wir gründen darauf unsere Überzeugung, daß auch schon den Atomen die einfachste Form der Empfindung und des Willens innewohnt — oder besser gesagt: der Fühlung (Aesthesis) und der Strebung (Tropesis) —, also eine universale »Seele« von primitivster Art, das »Elementarpsychom«. Dasselbe gilt aber auch von den Molekülen oder Massenteilchen, welche aus zwei oder mehreren Atomen sich zusammensetzen. Aus der weiteren Verbindung verschiedener solcher Moleküle entstehen dann die einfachen und weiterhin die zusammengesetzten chemischen Verbindungen, in deren Aktion sich dasselbe Spiel in verwickelterer Form wiederholt.

Äther (Imponderable Materie). Die Erkenntnis dieses unwägbaren Teiles der Materie ist in erster Linie Gegenstand [S. 136] der Physik. Nachdem man schon lange die Existenz eines äußerst feinen, den Raum außerhalb der Masse erfüllenden Mediums angenommen und diesen »Äther« zur Erklärung verschiedener Erscheinungen (vor allem des Lichtes) verwendet hatte, ist uns die nähere Bekanntschaft mit diesem wunderbaren Stoffe erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gelungen, und zwar im Zusammenhang mit den erstaunlichen empirischen Entdeckungen auf dem Gebiete der Elektrizität, mit ihrer experimentellen Erkenntnis, ihrem theoretischen Verständnis und ihrer praktischen Verwertung. Vor allem sind hier bahnbrechend geworden die berühmten Untersuchungen von Heinrich Hertz in Bonn (1888); der frühzeitige Tod dieses genialen jungen Physikers, der das Größte zu erreichen versprach, ist nicht genug zu beklagen; er gehört ebenso wie der allzu frühe Tod von Spinoza, von Raffael, von Schubert und vielen anderen genialen Jünglingen zu jenen brutalen Tatsachen der menschlichen Geschichte, welche für sich allein schon den unhaltbaren Mythus von einer »weisen Vorsehung« und von einem »alliebenden Vater im Himmel« gründlich widerlegen.

Die Existenz des Äthers oder »Weltäthers«, als realer »Materie«, kann seit 1888 als Tatsache angesehen werden. Man kann allerdings auch heute noch vielfach lesen, daß der Äther eine »bloße Hypothese« sei; diese irrtümliche Behauptung wird nicht nur von unkundigen Philosophen und populären Schriftstellern wiederholt, sondern auch von einzelnen »vorsichtigen exakten Physikern«. Mit demselben Rechte müßte man aber auch die Existenz der ponderablen Materie, der Masse, leugnen. Freilich gibt es heute noch Metaphysiker, die auch dieses Kunststück zustande bringen, und deren höchste Weisheit darin besteht, die Realität der Außenwelt zu leugnen oder doch zu bezweifeln; nach ihnen existiert eigentlich nur ein einziges reales Wesen, nämlich ihre eigene teure Person, oder vielmehr deren unsterbliche Seele.

Wesen des Äthers. Wenn nun auch heute von fast allen Physikern die reale Existenz des Äthers als eine positive Tatsache betrachtet wird, und wenn uns auch viele Wirkungen dieser wunderbaren Materie durch unzählige Erfahrungen, besonders optisch und elektrische Versuche, genau bekannt sind, so ist es doch bisher nicht gelungen, Klarheit und Sicherheit über ihr eigentliches Wesen zu gewinnen. Vielmehr gehen auch heute noch die Ansichten der hervorragendsten Physiker, die sie speziell studiert haben, sehr weit auseinander; ja sie widersprechen sich sogar in den wichtigsten Punkten. Es steht daher jedem frei, sich bei der Wahl zwischen den widersprechenden Hypothesen seine eigene Meinung zu bilden, [S. 137] entsprechend dem Grade seiner Sachkenntnis und Urteilskraft (die ja beide immer unvollkommen bleiben!). Die Meinung, die ich persönlich (als bloßer Dilettant auf diesem Gebiete!) mir durch reifliches Nachdenken gebildet habe, fasse ich in folgenden acht Sätzen zusammen:

I. Der Äther erfüllt als eine kontinuierliche Materie den ganzen Weltraum, soweit dieser nicht von der Masse (oder der ponderablen Materie) eingenommen ist; er füllt auch alle Zwischenräume zwischen den Atomen der letzteren vollständig aus. II. Der Äther besitzt wahrscheinlich noch keinen Chemismus und ist noch nicht aus Atomen zusammengesetzt wie die Masse; (wenn man annimmt, derselbe sei aus äußerst kleinen, gleichartigen Atomen zusammengesetzt [z. B. unteilbaren Ätherkugeln von gleicher Größen], so muß man weiterhin auch annehmen, daß zwischen denselben noch etwas anderes existiert, entweder der »leere Raum« oder ein drittes, ganz unbekanntes Medium, ein völlig hypothetischer »Interäther«; bei der Frage nach dessen Wesen würde sich dann dieselbe Schwierigkeit, wie beim Äther erheben [in infinitum!].)' III. Da die Annahme des leeren Raumes und der unvermittelten Fernwirkung beim jetzigen Stande unseres Naturkennens kaum mehr möglich ist (wenigstens zu keiner klaren Vorstellung führt), so nehme ich eine eigentümliche Struktur des Äthers an, die nicht atomistisch ist, wie diejenige der ponderablen Masse, und die man vorläufig (ohne weitere Bestimmung) als ätherische oder dynamische Struktur bezeichnen kann. IV. Der Aggregatzustand des Äthers ist, dieser Hypothese zufolge, ebenfalls eigentümlich und von demjenigen der Masse verschieden; er ist weder gasförmig, noch fest; die beste Vorstellung gewinnt man vielleicht durch den Vergleich mit einer äußerst feinen elastischen und leichten Gallerte. V. Der Äther ist imponderable Materie in dem Sinne, daß wir kein Mittel besitzen, sein Gewicht experimentell zu bestimmen; wenn er wirklich Gewicht besitzt, was sehr wahrscheinlich ist, so ist dasselbe äußerst gering und für unsere feinsten Wagen unwägbar. VI. Der ätherische Aggregatzustand kann wahrscheinlich unter bestimmten Bedingungen durch fortschreitende Verdichtung in den gasförmigen Zustand der Masse übergehen, ebenso wie dieser letztere durch Abkühlung in den flüssigen und weiterhin in den festen übergeht. VII. Diese Aggregatzustände der Materie ordnen sich demnach (was für die monistische Kosmogenie sehr wichtig ist) in eine genetische, kontinuierliche Reihe; wir unterscheiden fünf Stufen derselben: 1. der ätherische, 2. der gasförmige, 3. der flüssige, 4. der festflüssige (im lebenden Plasma), 5. der feste Zustand. VIII. Der [S. 138] Äther ist ebenso unendlich und unermeßlich wie der Raum selbst; er befindet sich ewig in ununterbrochener Bewegung.

Äther und Masse. »Die gewaltige Hauptfrage nach dem Wesen des Äthers«, wie sie Hertz mit Recht nennt, schließt auch diejenige seiner Beziehungen zur Masse ein; denn beide Hauptbestandteile der Materie befinden sich nicht nur überall in innigster äußerer Berührung, sondern auch in ewiger dynamischer Wechselwirkung. Man kann die allgemeinsten Naturerscheinungen, welche die Physik als Naturkräfte oder als »Funktionen der Materie« unterscheidet, in zwei Gruppen teilen, von denen die eine vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) Funktion des Äthers, die andere ebenso Funktion der Masse ist. Die Erscheinungen des Lichtes, der strahlenden Wärme, der Elektrizität und des Magnetismus werden überwiegend durch den imponderablen Äther vermittelt; dagegen die Erscheinungen der Schwere, der Trägheit, der Wasserwärme und des Chemismus durch die ponderable Masse. Diese Unterscheidung bedeutet aber keine absolute Trennung der beiden entgegengesetzten Energiegruppen; vielmehr bleiben beide trotzdem vereinigt, behalten ihren Zusammenhang und stehen überall in beständiger Wechselwirkung. Wie bekannt, sind optische und elektrische Vorgänge des Äthers eng verknüpft mit mechanischen und chemischen Veränderungen der Masse; die strahlende Wärme des ersteren geht direkt über in die Massenwärme oder mechanische Wärme der letzteren; die Gravitation kann nicht wirken, ohne daß der Äther die Massenanziehung der getrennten Atome vermittelt, da wir keine Fernwirkung annehmen können. Die Verwandlung einer Energieform in die andere, wie sie das Gesetz von der Erhaltung der Kraft nachweist, bestätigt zugleich die beständige Wechselwirkung zwischen den beiden Hauptteilen der Substanz, zwischen Äther und Masse.

Kraft und Energie. Das große Grundgesetz der Natur, welches wir als Substanzgesetz an die Spitze aller physikalischen Betrachtungen stellen, wurde ursprünglich von Robert Mayer, der es aufstellte (1842), und von Helmholtz, der es ausführte (1847), als das Gesetz von der Erhaltung der Kraft bezeichnet. Schon zehn Jahre früher hatte ein anderer deutscher Naturforscher, Friedrich Mohr in Bonn, die wesentlichen Grundgedanken desselben klar entwickelt (1837). Später wurde der alte Begriff der Kraft durch die moderne Physik von demjenigen der Energie getrennt, der ursprünglich gleichbedeutend war. Demnach wird jetzt dasselbe Gesetz gewöhnlich als das »Gesetz von der Konstanz der Energie« bezeichnet. Für die allgemeine Betrachtung desselben, mit der ich mich hier begnügen muß, und für das große Prinzip von der [S. 139] »Erhaltung der Substanz« kommt dieser feinere Unterschied nicht in Betracht. Der Leser, der sich dafür interessiert, findet eine sehr klare Auseinandersetzung darüber z. B. in dem ausgezeichneten Aufsatz des englischen Physikers Tyndall über »das Grundgesetz der Natur« (Braunschweig 1898). Dort ist auch eingehend die universale Bedeutung dieses kosmologischen Grundgesetzes erläutert, sowie seine Anwendung auf die wichtigsten Probleme sehr verschiedener Gebiete. Wir begnügen uns hier mit der wichtigen Tatsache, daß gegenwärtig das »Energieprinzip« und die damit verknüpfte Überzeugung von der Einheit der Naturkräfte, von ihrem gemeinsamen Ursprung, durch alle kompetenten Physiker anerkannt und als der wichtigste Fortschritt der Physik im 19. Jahrhundert gewürdigt wird. Wir wissen jetzt, daß Wärme ebensogut eine Form der Bewegung ist, wie Schall, Elektrizität ebenso wie Licht, Chemismus ebenso wie Magnetismus. Wir können durch geeignete Vorrichtungen eine dieser Kräfte in die andere verwandeln, und überzeugen uns dabei durch genaueste Messung, daß von ihrer Gesamtsumme niemals das kleinste Teilchen verloren geht.

Spannkraft und Triebkraft (potentielle und aktuelle Energie). Die Gesamtsumme der Kraft oder Energie im Weltall bleibt beständig, gleichviel, welche Veränderungen uns erscheinen; sie ist ewig und unendlich, wie die Materie, an die sie untrennbar gebunden ist. Das ganze Spiel der Natur beruht auf dem Wechsel von scheinbarer Ruhe und Bewegung; die ruhenden Körper besitzen aber ebenso eine unverlierbare Größe von Kraft, wie die bewegten. Bei der Bewegung selbst verwandelt sich die Spannkraft der ersteren in die Triebkraft der letzteren. »Indem das Prinzip der Erhaltung der Kraft sowohl die Abstoßung als die Anziehung in Betracht zieht, behauptet es, daß der mechanische Wert der Spannkräfte und der lebendigen Kräfte in der materiellen Welt eine konstante Quantität ist. Kurz gesagt, zerfällt der Kraftbesitz des Universums in zwei Teile, die nach einem bestimmten Wertverhältnis ineinander verwandelt werden können. Die Verminderung des einen bringt die Vergrößerung des anderen mit sich; der Gesamtwert seines Besitzes bleibt jedoch unverändert.« Die Spannkraft oder die potentielle Energie und die lebendige Kraft oder die aktuelle Energie (= Triebkraft) werden beständig ineinander umgewandelt, ohne daß die unendliche Gesamtsumme der Kraft im unendlichen Weltall jemals den geringsten Verlust erleidet.

Einheit der Naturkräfte. Nachdem die moderne Physik das Substanzgesetz zunächst für die einfacheren Beziehungen der anorganischen [S. 140] Körper festgestellt hatte, wies die Physiologie dessen allgemeine Geltung auch im Gesamtbereiche der organischen Natur nach. Sie zeigte, daß alle Lebenstätigkeiten der Organismen ebenso auf einem beständigen »Kraftwechsel« und einem damit verknüpften »Stoffwechsel« beruhen wie die einfachsten Vorgänge in der sogenannten »leblosen Natur«. Nicht nur das Wachstum und die Ernährung der Pflanzen und Tiere, sondern auch die Funktionen ihrer Empfindung und Bewegung, ihrer Sinnestätigkeit und ihres Seelenlebens beruhen auf der Verwandlung von Spannkraft in lebendige Kraft und umgekehrt. Dieses höchste Gesetz beherrscht auch diejenigen vollkommensten Leistungen des Nervensystems, welche man bei den höheren Tieren und beim Menschen als das »Geistesleben« bezeichnet. Somit gilt dasselbe auch für die gesamte Psychologie. Wir kennen nur einerlei Art von Naturkräften in allen Naturerscheinungen.

Allmacht des Substanzgesetzes. Unsere feste monistische Überzeugung, daß das kosmologische Grundgesetz allgemeine Geltung für die gesamte Natur besitzt, nimmt die höchste Bedeutung in Anspruch. Denn dadurch wird nicht nur positiv die prinzipielle Einheit des Kosmos und der kausale Zusammenhang aller uns erkennbaren Erscheinungen bewiesen, sondern es wird dadurch zugleich negativ der höchste intellektuelle Fortschritt erzielt, der definitive Sturz der drei Zentraldogmen der Metaphysik: »Gott, Freiheit und Unsterblichkeit«. Indem das Substanzgesetz überall mechanische Ursachen in den Erscheinungen nachweist, verknüpft es sich mit dem »allgemeinen Kausalgesetz«.

Dreizehntes Kapitel.

Entwickelungsgeschichte der Welt.

Monistische Studien über die ewige Entwickelung des Universum. Schöpfung, Anfang und Ende der Welt. Entropie.

Unter allen Welträtseln das größte, umfassendste und schwerste ist dasjenige von der Entstehung und Entwickelung der Welt, kurz gewöhnlich die »Schöpfungsfrage« genannt. Auch zur Lösung dieses schwierigsten Welträtsels hat das 19. Jahrhundert mehr beigetragen als alle früheren, ja sie ist ihm sogar bis zu einem gewissen Grade gelungen. Wenigstens sind wir zu der klaren Einsicht gelangt, [S. 141] daß alle verschiedenen einzelnen Schöpfungsfragen untrennbar verknüpft sind, daß sie alle nur ein einziges, allumfassendes »kosmisches Universalproblem« bilden, und den Schlüssel zur Lösung dieser »Weltfrage« gibt uns das eine Zauberwort: »Entwickelung«! Die großen Fragen von der Schöpfung des Menschen, von der Schöpfung der Tiere und Pflanzen, von der Schöpfung der Erde und der Sonne usw., sie alle sind nur Teile jener Universalfrage: Wie ist die ganze Welt entstanden? Ist sie auf übernatürlichem Wege »erschaffen«, oder hat sie sich auf natürlichem Wege »entwickelt«? Welcher Art sind die Ursachen und die Wege dieser Entwickelung? Gelingt es uns, eine sichere Antwort auf diese Fragen für eines jener Teil-Probleme zu finden, so haben wir nach unserer einheitlichen Naturauffassung damit zugleich ein erhellendes Licht auf deren Beantwortung für das ganze Weltproblem geworfen.

Schöpfung (Creatio). Die herrschende Ansicht über die Entstehung der Welt war in früheren Jahrhunderten fast überall, wo denkende Menschen wohnten, der Glaube an die Schöpfung. In Tausenden von interessanten, mehr oder weniger fabelhaften Sagen und Dichtungen, Kosmogonien und Schöpfungsmythen hat dieser Schöpfungsglaube seinen mannigfaltigen Ausdruck gefunden. Frei davon blieben nur wenige große Philosophen und besonders jene bewunderungswürdigen freien Denker des klassischen Altertums, die zuerst den Gedanken der natürlichen Entwickelung erfaßten. Im Gegensatz zu diesem letzteren trugen alle jene Schöpfungsmythen den Charakter des Übernatürlichen, Wunderbaren oder Transzendenten. Unfähig, das Wesen der Welt selbst zu erkennen und ihre Entstehung durch natürliche Ursachen zu erklären, mußte die unentwickelte Vernunft selbstverständlich zum Wunder greifen. In den meisten Schöpfungssagen verknüpfte sich mit dem Wunder die Vermenschlichung (der Anthropismus). Wie der Mensch mit Absicht und durch Kunst seine Werke schafft, so sollte der bildende »Gott« planmäßig die Welt erschaffen haben; die Vorstellung dieses Schöpfers war meistens ganz menschenähnlich (anthropomorph). Der »allmächtige Schöpfer Himmels und der Erden«, wie er im ersten Buch Moses und in unserem heute noch gültigen Katechismus schafft, ist ebenso ganz menschlich gedacht wie der moderne Schöpfer von Agassiz und Reinke.

Schöpfung des Weltalls und der Einzeldinge (Kreation der Substanz und der Akzidenzen). Bei tieferem Eingehen in den Wunderbegriff der Kreation können wir als zwei wesentlich verschiedene Akte die totale Schöpfung des Weltalls und die partielle Schöpfung der einzelnen Dinge unterscheiden, entsprechend dem [S. 142] Begriffe Spinozas von der Substanz (dem Universum) und den Akzidenzen (oder Modi, den einzelnen »Erscheinungsformen der Substanz«). Diese Unterscheidung ist prinzipiell wichtig; denn es hat viele und angesehene Philosophen gegeben (und es gibt noch heute solche), welche die erstere annehmen, die letztere dagegen verwerfen.

Schöpfung der Substanz (Kosmologischer Kreatismus). Nach dieser Schöpfungslehre hat »Gott die Welt aus dem Nichts geschaffen«. Man stellt sich vor, daß der »ewige Gott« (als vernünftiges, aber immaterielles Wesen!) für sich allein von Ewigkeit her (im leeren Raum) ohne Welt existierte, bis er dann einmal auf den Gedanken kam, »die Welt zu schaffen«. Viele Anhänger dieses Glaubens beschränken die Schöpfungstätigkeit Gottes aufs Äußerste, auf einen einzigen Akt; sie nehmen an, daß der außerweltliche Gott (dessen übrige Tätigkeit rätselhaft bleibt!) in einem Augenblick die Substanz erschaffen, ihr die Fähigkeit zur weitergehenden Entwickelung beigelegt und sich dann nie weiter um sie bekümmert habe. Diese weit verbreitete Ansicht ist namentlich im englischen Deismus vielfach ausgebildet worden; sie nähert sich unserer monistischen Entwickelungslehre und gibt sie nur in dem einen Momente preis, in welchem Gott auf den Schöpfungsgedanken kam. Andere Anhänger des kosmologischen Kreatismus nehmen dagegen an, daß »Gott der Herr« die Substanz nicht nur einmal erschaffen habe, sondern als bewußter »Erhalter und Regierer der Welt« in deren Geschichte fortwirke. Viele Variationen dieses Glaubens nähern sich bald dem Pantheismus, bald dem konsequenten Theismus. Alle diese und ähnliche Formen des Schöpfungsglaubens sind unvereinbar mit dem Gesetz von der Erhaltung der Kraft und des Stoffs; dieses kennt keinen »Anfang der Welt«.

Schöpfung der Einzeldinge (Ontologischer Kreatismus). Nach dieser individuellen, noch jetzt herrschenden Schöpfungslehre hat Gott der Herr nicht nur die Welt im Ganzen (»aus Nichts«) geschaffen, sondern auch alle einzelnen Dinge. In der christlichen Kulturwelt besitzt noch heute die uralte semitische, aus dem ersten Buch Moses herübergenommene Schöpfungssage die weiteste Geltung; selbst unter den modernen Naturforschern findet sie noch hier und da gläubige Anhänger. Ich habe meine kritische Auffassung derselben im ersten Kapitel meiner »Natürlichen Schöpfungsgeschichte« eingehend dargelegt. Als interessante Modifikationen dieses ontologischen Kreatismus dürften folgende Theorien zu unterscheiden sein: IDualistische Kreation: Gott hat sich auf zwei Schöpfungsakte beschränkt; zuerst schuf er die anorganische [S. 143] Welt, die tote Substanz, für die allein das Gesetz der Energie gilt, blind und ziellos wirkend im Mechanismus der Weltkörper und der Gebirgsbildung; später erwarb Gott Intelligenz und teilte diese den Dominanten mit, den zielstrebigen, intelligenten Kräften, welche die Entwickelung der Organismen bewirken und leiten (Reinke). IITrialistische Kreation: Gott hat die Welt in drei Hauptakten geschaffen: A. Schöpfung des Himmels (d. h. der außerirdischen Welt); B. Schöpfung der Erde (als Mittelpunkt der Welt) und ihrer Organismen; C. Schöpfung des Menschen (als Ebenbild Gottes): dieses Dogma ist noch heute weit verbreitet unter christlichen Theologen und anderen »Gebildeten«; es wird in vielen Schulen als Wahrheit gelehrt. IIIHexamerale Kreation: die Schöpfung in sechs Tagen (nach Moses). Obgleich nur wenige Gebildete heute noch wirklich an diesen mosaischen Mythus glauben, wird er dennoch unseren Kindern schon in der frühesten Jugend mit dem Bibelunterricht fest eingeprägt. Die vielfachen, namentlich in England gemachten Versuche, denselben mit der modernen Entwickelungslehre in Einklang zu bringen, sind völlig fehlgeschlagen. Für die Naturwissenschaft gewann derselbe dadurch große Bedeutung, daß Linné bei Begründung seines Natursystems (1735) ihn annahm und zur Begriffsbestimmung der organischen (von ihm für beständig gehaltenen) Spezies benutzte: »Es gibt so viele verschiedene Arten von Tieren und Pflanzen, als im Anfang verschiedene Formen von dem unendlichen Wesen erschaffen worden sind.« Dieses Dogma wurde ziemlich allgemein bis auf Darwin (1859) festgehalten, obgleich Lamarck schon 1809 seine Unhaltbarkeit dargelegt hatte. IVPeriodische Kreation: im Anfang jeder Periode der Erdgeschichte wurde die ganze Tier- und Pflanzenbevölkerung neu geschaffen und am Ende derselben durch eine allgemeine Katastrophe vernichtet; es gibt so viele General-Schöpfungsakte, als getrennte geologische Perioden aufeinander folgten (die Katastrophentheorie von Cuvier, 1818, und von Louis Agassiz, 1858). Die Paläontologie, welche in ihren unvollkommenen Anfängen diese Lehre von den wiederholten Neuschöpfungen der organischen Welt zu stützen schien, hat dieselbe später vollständig widerlegt. VIndividuelle Kreation: jeder einzelne Mensch — ebenso wie jedes einzelne Tier und jedes Pflanzenindividuum — ist nicht durch einen natürlichen Fortpflanzungsakt entstanden, sondern durch die Gnade Gottes geschaffen (»der alle Dinge kennt und die Haare auf unserem Haupte gezählt hat«). Man liest diese christliche Schöpfungsansicht noch heute oft in den Zeitungen, besonders bei Geburtsanzeigen (»Gestern schenkte uns der gnädige Gott einen gesunden Knaben« [S. 144] usw.). Auch die individuellen Talente und Vorzüge unserer Kinder werden oft als »besondere Gaben Gottes« dankbar anerkannt (die erblichen Fehler gewöhnlich nicht!).

Entwickelung (Genesis, Evolutio). Die Unhaltbarkeit der Schöpfungssagen und des damit verknüpften Wunderglaubens mußte sich schon frühzeitig denkenden Menschen aufdrängen; wir finden daher schon vor mehr als zweitausend Jahren zahlreiche Versuche, dieselben durch eine vernünftige Theorie zu ersetzen und die Entstehung der Welt mittels natürlicher Ursachen zu erklären. Allen voran stehen hierin wieder die großen Denker der ionischen Naturphilosophie, ferner Demokritos, Heraklitos, Empedokles, Aristoteles, Lukretius und andere Philosophen des Altertums. Die ersten unvollkommenen Versuche, welche sie unternahmen, überraschen uns zum Teil durch strahlende Lichtblicke des Geistes, die als Vorläufer moderner Ideen erscheinen. Indessen fehlte dem klassischen Altertum jener sichere Boden der naturphilosophischen Spekulation, der erst durch unzählige Beobachtungen und Versuche der Neuzeit gewonnen wurde. Während des Mittelalters — und besonders während der Gewaltherrschaft des Papismus — ruhte die wissenschaftliche Forschung auf diesem Gebiete ganz. Die Tortur und die Scheiterhaufen der Inquisition sorgten dafür, daß der unbedingte Glaube an die hebräische Mythologie des Moses als definitive Antwort auf alle Schöpfungsfragen galt. Selbst diejenigen Erscheinungen, die unmittelbar zur Beobachtung der Entwickelungs-Tatsachen aufforderten, die Keimesgeschichte der Tiere und Pflanzen, die Embryologie des Menschen, blieben unbeachtet oder erregten nur hie und da das Interesse einzelner wißbegieriger Beobachter; aber ihre Entdeckungen wurden ignoriert und vergessen. Außerdem wurde der wahren Erkenntnis der natürlichen Entwickelung ihr Weg von vornherein durch die herrschende Präformationslehre versperrt, durch das Dogma, daß die charakteristische Form und Struktur jeder Tier- und Pflanzenart schon im Keime vorgebildet sei (vergl. S. 33).

Entwickelungslehre (Evolutismus, Evolutionismus). Die Wissenschaft, die wir heute Entwickelungslehre (im weitesten Sinne) nennen, ist sowohl im ganzen als in ihren einzelnen Teilen ein Kind des 19. Jahrhunderts; sie gehört zu seinen wichtigsten und glänzendsten Erzeugnissen. Tatsächlich ist dieser Begriff, der noch im 18. Jahrhundert fast unbekannt war, heute bereits ein fester Grundstein unserer ganzen Weltanschauung geworden. Ich habe die Grundzüge derselben in früheren Schriften ausführlich behandelt, am eingehendsten in der »Generellen Morphologie« (1866), sodann mehr populär in der »Natürlichen Schöpfungsgeschichte« [S. 145] (1868, elfte Auflage 1908) und mit besonderer Beziehung auf den Menschen in der »Anthropogenie« (1874, fünfte Auflage 1903). Ich beschränke mich daher hier auf eine kurze Übersicht der wichtigsten Fortschritte, welche die Entwickelungslehre im Laufe des 19. Jahrhunderts gemacht hat; sie zerfällt nach ihren Objekten in vier Hauptteile: die natürliche Entstehung 1. des Kosmos, 2. der Erde, 3. der irdischen Organismen und 4. des Menschen.

IMonistische Kosmogenie. Den ersten »Versuch«, die Verfassung und den mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes nach »Newtonschen Grundsätzen« — d. h. durch mathematische und physikalische Gesetze — in einfachster Weise zu erklären, unternahm Immanuel Kant in seinem berühmten Jugendwerke, der »Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels« (1755). Leider blieb dieses großartige und kühne Werk 90 Jahre hindurch fast unbekannt; es wurde erst 1845 durch Alexander von Humboldt wieder hervorgezogen, im ersten Bande seines »Kosmos«. Inzwischen war aber der große französische Mathematiker Pierre Laplace selbständig auf ähnliche Theorien wie Kant gekommen und führte sie mit mathematischer Begründung weiter aus in seiner »Exposition du système du monde« (1796). Sein Hauptwerk »Mécanique céleste« erschien im Jahre 1799. Die übereinstimmenden Grundzüge der Kosmogenie von Kant und Laplace beruhen bekanntlich auf einer mechanischen Erklärung der Planetenbewegungen und der daraus abgeleiteten Annahme, daß alle Weltkörper ursprünglich aus rotierenden Nebelbällen durch Verdichtung entstanden sind. Diese »Nebularhypothese« ist zwar später vielfach verbessert und ergänzt worden, sie gilt aber noch heute als der beste von allen Versuchen, die Entstehung des Weltgebäudes einheitlich und mechanisch zu erklären (vergl. Wilhelm Bölsche, Entwickelungsgeschichte der Natur. I. Bd. 1894). In späterer Zeit hat sie eine bedeutungsvolle Ergänzung und zugleich Verstärkung durch die Annahme gewonnen, daß dieser kosmogonische Prozeß nicht nur einmal stattgefunden, sondern sich periodisch wiederholt hat. Während in gewissen Teilen des unendlichen Weltraums aus rotierenden Nebelbällen neue Weltkörper entstehen und sich entwickeln, werden in anderen Teilen desselben umgekehrt alte, erkaltete und abgestorbene Weltkörper durch Zusammenstoß wieder zerstäubt und in diffuse Nebelmassen aufgelöst.

Anfang und Ende der Welt. Fast alle älteren und neueren Kosmogenien und so auch die meisten, die sich an Kant und Laplace anschlossen, gingen von der herrschenden Ansicht aus, [S. 146] daß die Welt einen Anfang gehabt habe. So hätte sich »im Anfang« nach einer vielverbreiteten Form der »Nebularhypothese« ursprünglich ein ungeheurer Nebelball aus äußerst dünner und leichter Materie gebildet, und in einem bestimmten Zeitpunkte (»vor undenklich langer Zeit«) habe in diesem eine Rotationsbewegung angefangen. Ist der »erste Anfang« dieser kosmogenen Bewegung erst einmal gegeben, so lassen sich dann nach jenen mechanischen Prinzipien die weiteren Vorgänge in der Bildung der Weltkörper, der Sonderung der Planetensysteme usw. sicher ableiten und mathematisch begründen. Dieser erste »Ursprung der Bewegung« ist das zweite »Welträtsel« von Du Bois-Reymond; er erklärt es für transzendent. Auch viele andere Naturforscher und Philosophen kommen um diese Schwierigkeit nicht herum und resignieren mit dem Geständnis, daß man hier einen ersten »übernatürlichen Anstoß«, also ein »Wunder«, annehmen müsse.

Nach unserer Ansicht wird dieses »zweite Welträtsel« durch die Annahme gelöst, daß die Bewegung ebenso eine immanente und ursprüngliche Eigenschaft der Substanz ist wie die Empfindung (Kap. 12). Die Berechtigung zu dieser monistischen Annahme finden wir erstens im Substanzgesetz und zweitens in den großen Fortschritten, welche die Astronomie und Physik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gemacht haben. Durch die Spektralanalyse von Bunsen und Kirchhoff (1860) haben wir nicht nur erfahren, daß die Millionen Weltkörper, welche den unendlichen Weltraum erfüllen, aus denselben Materien bestehen wie unsere Sonne und Erde, sondern auch, daß sie sich in verschiedenen Zuständen der Entwickelung befinden; wir haben sogar mit ihrer Hilfe Kenntnisse über die Bewegungen und Entfernungen der Fixsterne gewonnen, welche durch das Fernrohr allein nicht erkannt werden konnten. Ferner ist das Teleskop selbst sehr bedeutend verbessert worden und hat uns mit Hilfe der Photographie eine Fülle von astronomischen Entdeckungen geschenkt, welche im Beginne des 19. Jahrhunderts noch nicht geahnt werden konnten. Insbesondere hat die bessere Kenntnis der Kometen und Sternschnuppen, der Sternhaufen und Nebelflecke, uns die große Bedeutung der kleinen Weltkörper kennen gelehrt, welche zu Milliarden zwischen den größeren Sternen im Weltraum verteilt sind.

Wir wissen jetzt auch, daß die Bahnen der Millionen von Weltkörpern veränderlich und zum Teil unregelmäßig sind, während man früher die Planetensysteme als beständig betrachtete und die rotierenden Bälle in ewiger Gleichmäßigkeit ihre Kreise [S. 147] beschreiben ließ. Wichtige Aufschlüsse verdankt die Astrophysik auch den gewaltigen Fortschritten in anderen Gebieten der Physik, vor allem in der Optik und Elektrik, sowie in der dadurch geförderten Äthertheorie. Endlich erweist sich auch hier wieder als größter Fortschritt unserer Naturerkenntnis das universale Substanzgesetz. Wir wissen jetzt, daß es ebenso überall in den fernsten Welträumen unbedingte Geltung hat wie in unserem Planetensystem, ebenso in dem kleinsten Teilchen unserer Erde wie in der kleinsten Zelle unseres menschlichen Körpers. Wir sind aber auch zu der wichtigen Annahme berechtigt und logisch gezwungen, daß die Erhaltung der Materie und der Energie zu allen Zeiten ebenso allgemein bestanden hat, wie sie heute ohne Ausnahme besteht. In alle Ewigkeit war, ist und bleibt das unendliche Universum dem Substanzgesetz unterworfen.

Aus diesen gewaltigen Fortschritten der Astronomie und Physik, die sich gegenseitig erläutern und ergänzen, ergibt sich eine Reihe von überaus wichtigen Schlüssen über die Zusammensetzung und Entwickelung des Kosmos, über die Beharrung und Umbildung der Substanz. Wir fassen dieselben kurz in folgenden Thesen zusammen: I. Der Weltraum ist unendlich groß und unbegrenzt; er ist nirgends leer, sondern allenthalben mit Substanz erfüllt. II. Die Weltzeit ist ebenfalls unendlich und unbegrenzt; sie hat keinen Anfang und kein Ende, sie ist Ewigkeit. III. Die Substanz befindet sich überall und jeder Zeit in ununterbrochener Bewegung und Veränderung; nirgends herrscht vollkommene Ruhe und Starre; dabei bleibt aber die unendliche Quantität der Materie ebenso unverändert wie diejenige der ewig wechselnden Energie. IV. Die Universalbewegung der Substanz im Weltraum ist ein ewiger Kreislauf mit periodisch sich wiederholenden Entwickelungszuständen. V. Diese Phasen bestehen in einem periodischen Wechsel der Temperatur und der dadurch bedingten Dichtigkeitsverhältnisse (Aggregatzustände). VI. Während in einem Teile des Weltraums durch fortschreitende Verdichtung neue Weltkörper entstehen, erfolgt gleichzeitig in anderen Teilen der entgegengesetzte Prozeß, die Zerstörung von Weltkörpern, die aufeinander stoßen. VII. Die ungeheuren Wärmequantitäten, welche durch diese mechanischen Prozesse bei den Zusammenstößen der rotierenden Weltkörper erzeugt werden, stellen die neuen lebendigen Kräfte dar, welche die Bewegung der dabei gebildeten kosmischen Staubmassen und die Neubildung rotierender Bälle bewirken: das ewige Spiel beginnt wieder von neuem. Auch unsere Mutter Erde, die vor Millionen von Jahrtausenden aus einem Teile des rotierenden Sonnensystems entstanden ist, wird nach Verfluß [S. 148] weiterer Millionen erstarren und, nachdem ihre Bahn immer kleiner geworden, in die Sonne stürzen.

Besonders wichtig für die klare Einsicht in den universalen kosmischen Entwickelunsprozeß sind diese modernen Vorstellungen über periodisch wechselnden Untergang und Neubildung der Weltkörper. Unsere Mutter »Erde« schrumpft dabei auf den Wert eines winzigen »Sonnenstäubchens« zusammen, wie deren ungezählte Millionen im unendlichen Weltenraum umherjagen. Unser eigenes »Menschenwesen«, welches in seinem anthropistischen Größenwahn sich als »Ebenbild Gottes« verherrlicht, sinkt zur Bedeutung eines plazentalen Säugetieres hinab, welches nicht mehr Wert für das ganze Universum besitzt als die Ameise und die Eintagsfliege, als das mikroskopische Infusorium und der winzigste Bazillus. Auch wir Menschen sind nur vorübergehende Entwickelungszustände der ewigen Substanz, individuelle Erscheinungsformen der Materie und Energie, deren Nichtigkeit wir begreifen, wenn wir sie dem unendlichen Raum und der ewigen Zeit gegenüberstellen.

Raum und Zeit. Seitdem Kant die Begriffe von Raum und Zeit als bloße »Formen der Anschauung« erklärt hat — den Raum als Form der äußeren, die Zeit als Form der inneren Anschauung — hat sich über diese wichtigen Probleme der Erkenntnis ein Streit erhoben, der auch heute noch fortdauert. Bei einem großen Teile der modernen Metaphysiker hat sich die Ansicht befestigt, daß dieser »kritischen Tat« als Ausgangspunkt einer »rein idealistischen Erkenntnistheorie« die größte Bedeutung beizulegen sei, und daß damit die natürliche Ansicht des gesunden Menschenverstandes von der Realität des Raumes und der Zeit widerlegt sei. Diese einseitige Auffassung jener beiden Grundbegriffe ist die Quelle der größten Irrtümer geworden; sie übersieht, daß Kant mit jenem Satze nur die eine Seite des Problems, die subjektive, streifte, daneben aber die andere, die objektive, als gleichberechtigt anerkannte; er sagte: »Raum und Zeit haben empirische Realität, aber transzendentale Idealität.« Mit diesem Satze Kants kann sich unser moderner Monismus wohl einverstanden erklären, nicht aber mit jener einseitigen Geltendmachung der subjektiven Seite des Problems; denn diese führt in ihrer Konsequenz zu jenem absurden Idealismus, der in Berkeleys Satze gipfelt: »Körper sind nur Vorstellungen, ihr Dasein besteht im Wahrgenommenwerden«. Dieser Satz sollte heißen: »Körper sind für mein persönliches Bewußtsein nur Vorstellungen; ihr Dasein ist ebenso real wie dasjenige meiner Denkorgane, nämlich der Ganglienzellen des Großhirns, welche die Eindrücke der Körper auf meine Sinnesorgane aufnehmen und [S. 149] durch Assozion derselben jene Vorstellung bilden.« Ebenso gut, wie ich die »Realität von Raum und Zeit« bezweifle, oder gar leugne, kann ich auch diejenige meines eigenen Bewußtseins leugnen; im Fieberdelirium, in Halluzinationen, im Traum, im Doppelbewußtsein halte ich Vorstellungen für wahr, welche nicht real, sondern »Einbildungen« sind; ich halte sogar meine eigene Person für eine andere (S. 111); das berühmte »Cogito ergo sum« gilt hier nicht mehr. Dagegen ist die Realität von Raum und Zeit jetzt endgültig bewiesen durch die Erweiterung unserer Weltanschauung, welche wir dem Substanzgesetz und der monistischen Kosmogenie verdanken. Nachdem wir die unhaltbare Vorstellung vom »leeren Raum« glücklich abgestreift haben, bleibt uns als das unendliche, »raumerfüllende Medium« die Materie, und zwar in ihren beiden Formen: Äther und Masse. Und ebenso betrachten wir auf der anderen Seite als das »zeiterfüllende Geschehen« die ewige Bewegung oder genetische Energie, welche sich in der ununterbrochenen Entwickelung der Substanz äußert.

Universum perpetuum mobile. Da jeder bewegte Körper seine Bewegung so lange fortsetzt, als ihn nicht äußere Umstände daran hindern, kam der Mensch schon vor Jahrtausenden auf den Gedanken, Apparate zu bauen, die sich, einmal in Bewegung gesetzt, immerfort in derselben Weise weiter bewegen. Man übersah dabei, daß jede Bewegung auf äußere Hindernisse stößt und allmählich aufhört, wenn nicht ein neuer Anstoß von außen erfolgt, wenn nicht eine neue Kraft zugeführt wird, die jene Hindernisse überwindet. So würde z. B. ein schwingendes Pendel in Ewigkeit mit derselben Geschwindigkeit sich hin und her bewegen, wenn nicht der Widerstand der Luft und die Reibung im Aufhängungspunkte die mechanische lebendige Kraft seiner Bewegung allmählich aufhöben und in Wärme verwandelten. Wir müssen ihm durch einen neuen Anstoß (oder bei der Pendeluhr durch Aufziehen des Gewichtes) neue mechanische Kraft zuführen. Daher ist die Konstruktion einer Maschine, welche ohne äußere Hilfe einen Arbeitsüberschuß erzeugt, durch den sie sich selbst immerfort im Gang erhält, unmöglich. Alle Versuche, ein solches Perpetuum mobile zu bauen, mußten fehlschlagen; die Erkenntnis des Substanzgesetzes bewies sodann auch theoretisch die Unmöglichkeit desselben.

Anders verhält es sich aber, wenn wir den Kosmos als Ganzes ins Auge fassen, das unendliche Weltall, welches nach unserer Anschauung in ewiger Bewegung begriffen ist. Damit ist aber zugleich gesagt, daß das ganze Universum selbst ein allumfassendes Perpetuum mobile ist. Diese unendliche und ewige [S. 150] »Maschine des Weltalls« erhält sich selbst in ewiger und ununterbrochener Bewegung, wobei die unendlich große Summe der aktuellen und potentiellen Energie ewig dieselbe bleibt. Nach unserer Auffassung ist also die Vorstellung des Perpetuum mobile für den ganzen Kosmos ebenso wahr und fundamental bedeutend wie sie für die isolierte Aktion eines Teiles desselben unmöglich ist. Damit werden auch die Schlußfolgerungen abgelehnt, die aus der Lehre von der Entropie gezogen worden sind.

Entropie des Weltalls. Der scharfsinnige Begründer der mechanischen Wärmetheorie (1850), Clausius, faßte den wichtigsten Inhalt dieser bedeutungsvollen Lehre in zwei Hauptsätzen zusammen. Der erste Hauptsatz lautet: »Die Energie des Weltalls ist konstant«; er bildet die eine Hälfte unseres Substanzgesetzes, das »Energieprinzip« (S. 28). Der zweite Hauptsatz behauptet: »Die Entropie des Weltalls strebt einem Maximum zu.« Nach der Ansicht von Clausius zerfällt die Gesamtenergie des Weltalls in zwei Teile, von denen der eine (als Wärme von höherer Temperatur, als mechanische, elektrische, chemische Energie usw.) noch teilweise in Arbeit umsetzbar ist, der andere dagegen nicht; diese letztere, die bereits in Wärme verwandelte und in kälteren Körpern angesammelte Energie, ist für weitere Arbeitsleistung unwiederbringlich verloren. Diesen gleichsam »verbrauchten« Energieteil, der nicht mehr in mechanische Arbeit umgesetzt werden kann, nennt Clausius Entropie (d. h. die nach innen gewendete Kraft); er wächst beständig auf Kosten des ersten Teiles. Da nun tagtäglich immer mehr mechanische Energie des Weltalls in Wärme übergeht und diese nicht in die erstere zurückverwandelt werden kann, muß die gesamte Quantität der arbeitsfähigen Energie immer mehr zerstreut und herabgesetzt werden. Alle Temperaturunterschiede müßten zuletzt verschwinden und die völlig gebundene Wärme gleichmäßig in einem einzigen trägen Klumpen von starrer Materie verbreitet sein; alles organische Leben und alle organische Bewegung würde aufgehört haben, wenn dieses Maximum der Entropie erreicht wäre; das wahre »Ende der Welt« wäre da. (Vergl. Felix Auerbach, Die Weltherrin und ihr Schatten, 1902.)

Wenn diese Anwendung der Lehre von der Entropie richtig wäre, so müßte dem angenommenen »Ende der Welt« auch ein ursprünglicher »Anfang« derselben entsprechen; beide Vorstellungen sind nach unserer monistischen und konsequenten Auffassung des ewigen kosmogenetischen Prozesses gleich unhaltbar. Es gibt einen Anfang der Welt ebensowenig als ein Ende derselben. Wie das Universum unendlich ist, so bleibt es auch ewig in Bewegung; [S. 151] ununterbrochen findet eine Verwandlung der lebendigen Kraft in Spannkraft statt und umgekehrt; und die Summe dieser aktuellen und potentiellen Energie bleibt immer dieselbe.

Die Verteidiger der Entropie behaupten dieselbe mit Recht, sobald sie Prozesse ins Auge fassen, die in einem geschlossenen System ablaufen. Im großen Ganzen des Weltalls, worauf wir den Begriff eines »geschlossenen Systems« nicht anwenden können, herrschen aber jedenfalls Verhältnisse, die eine Umkehrung des energetischen Ablaufs möglich machen. So werden z. B. beim Zusammenstoße von zwei Weltkörpern, die mit ungeheurer Geschwindigkeit aufeinander treffen, kolossale Wärmemengen frei, während die zerstäubten Massen in den Weltraum hinausgeschleudert und zerstreut werden. Das ewige Spiel der rotierenden Massen mit Verdichtung der Teile, Ballung neuer kleiner Meteoriten, Vereinigung derselben zu größeren usw. beginnt dann von neuem.

Herbert Spencer hat in seinen »Grundprinzipien« überzeugend dargelegt, daß selbst für ein geschlossenes Universum der Schluß unerlaubt wäre, es müsse, einmal in Ruhe, auch unendliche Zeit in Ruhe bleiben. Man könne sagen, der jetzige Zustand habe mit dem Ende einer früheren Entwickelung begonnen, und das Ende der gegenwärtigen sei zugleich der Anfang einer neuen; in dem Augenblick, wo das Maximum der Entropie erreicht sei, setze gerade eine langsame Entwickelung im entgegengesetzten Sinne ein, und so würde sich das Leben des Universums unaufhörlich fortsetzen. Wie Poincaré (Die moderne Physik, 1908) bemerkt, stimmt diese Auffassung mit der vieler Physiker überein, welche z. B. nach der kinetischen Gastheorie annehmen, daß man bei genügend langer Beobachtung die verschiedenen Zustände wiederkehren sehen kann, wenn eine Gasmasse eine Reihe von Veränderungen durchgemacht hat.

IIMonistische Geogenie. Die Entwickelungsgeschichte der Erde, auf die wir jetzt noch einen flüchtigen Blick werfen, bildet nur einen winzig kleinen Teil von derjenigen des Kosmos. Sie ist zwar auch gleich dieser seit mehreren Jahrtausenden Gegenstand der philosophischen Spekulation und noch mehr der mythologischen Dichtung gewesen; aber ihre wirklich wissenschaftliche Erkenntnis ist viel jünger und stammt zum weitaus größten Teile aus dem 19. Jahrhundert. Im Prinzip war die Natur der Erde, als eines Planeten, der um die Sonne kreist, schon durch das Weltsystem des Kopernikus (1543) bestimmt; durch Galilei, Kepler und andere große Astronomen war ihr Abstand von der Sonne, ihr Bewegungsgesetz usw. mathematisch festgestellt. Auch war bereits [S. 152] durch die Kosmogenie von Kant und Laplace der Weg gezeigt, auf welchem sich die Erde aus der Mutter Sonne entwickelt hatte. Aber die spätere Geschichte unseres Planeten, die Umbildung seiner Oberfläche, die Entstehung der Kontinente und Meere, der Gebirge und Wüsten war noch zu Ende des 18. und in den ersten beiden Dezennien des 19. Jahrhunderts nur wenig Gegenstand ernster wissenschaftlicher Untersuchungen gewesen; meistens begnügte man sich mit ziemlich unsicheren Vermutungen oder mit der Annahme der traditionellen Schöpfungssagen; insbesondere war es auch hier wieder der überlieferte Glaube an die mosaische Schöpfungsgeschichte, welcher der selbständigen Forschung von vornherein den Weg zur wahren Erkenntnis verlegte.

Erst im Jahre 1822 erschien ein bedeutendes Werk, welches zur wissenschaftlichen Erforschung der Erdgeschichte diejenige Methode einschlug, die sich bald als die weitaus fruchtbarste erwies, die ontologische Methode oder das Prinzip des Aktualismus. Sie besteht darin, daß wir die Erscheinungen der Gegenwart genau studieren und benutzen, um dadurch die ähnlichen geschichtlichen Vorgänge der Vergangenheit zu erklären. Nachdem zuerst Karl Hoff (Gotha) in seiner »Geschichte der durch Überlieferung nachgewiesenen natürlichen Veränderungen der Erdoberfläche« diese ontologische Methode (1822) begründet hatte, wurde sie bald (1830) von dem großen englischen Geologen Charles Lyell in seinen »Prinzipien der Geologie« auf die ganze Geschichte der Erde erfolgreich angewendet. In neuester Zeit hat Johannes Walther in seiner gedankenreichen »Geschichte der Erde und des Lebens« (1908) eine lichtvolle populäre Darstellung derselben gegeben.

Als zwei Hauptabschnitte der Erdgeschichte müssen wir vor allem die anorganische und organische Geogenie unterscheiden; die letztere beginnt mit dem ersten Auftreten lebender Wesen auf unserem Erdball. Die anorganische Geschichte der Erde, der ältere Abschnitt, verlief in derselben Weise wie diejenige der übrigen Planeten unseres Sonnensystems; sie alle lösten sich vom Äquator des rotierenden Sonnenkörpers als Nebelringe ab, welche sich allmählich zu selbständigen Weltkörpern verdichteten. Aus dem gasförmigen Nebelball wurde durch Abkühlung der glutflüssige Erdball, und weiterhin entstand an dessen Oberfläche durch fortschreitende Wärmeausstrahlung die dünne feste Rinde, welche wir bewohnen. Erst nachdem die Temperatur an der Oberfläche bis zu einem gewissen Grade gesunken war, konnte sich aus der umgebenden Dampfhülle das erste tropfbar-flüssige Wasser niederschlagen, und damit war die wichtigste Vorbedingung für die Entstehung [S. 153] des organischen Lebens gegeben. Viele Millionen Jahre sind verflossen, seitdem dieser bedeutungsvolle Vorgang, die erste Wasserbildung, eintrat und damit die Einleitung zum dritten Hauptabschnitt der Kosmogenie, zur Biogenie.

IIIMonistische Biogenie. Der dritte Hauptabschnitt der Weltentwickelung beginnt mit der ersten Entstehung der Organismen auf unserem Erdball und dauert seitdem ununterbrochen bis zur Gegenwart fort. Die großen Welträtsel, welche dieser interessanteste Teil der Erdgeschichte uns vorlegt, galten noch im Anfange des 19. Jahrhunderts allgemein für unlösbar oder doch für so schwierig, daß ihre Lösung in weitester Ferne zu liegen schien; am Ende desselben durften wir mit berechtigtem Stolze sagen, daß sie durch die moderne Biologie und ihren Transformismus im Prinzip gelöst sind. Zuerst stellte (1809) Jean Lamarck die Lehre fest, daß alle die unzähligen Formen des Tier- und Pflanzenreiches durch allmähliche Umbildung aus gemeinsamen einfachsten Stammformen hervorgegangen sind, und daß die allmähliche Veränderung der Gestalten durch Anpassung, in Wechselwirkung mit Vererbung, diese langsame Transmutation bewirkt hat. Fünfzig Jahre später führte Charles Darwin die einzelnen Teile dieser »Deszendenztheorie«, gestützt auf die großartigen, inzwischen erfolgten Fortschritte der Biologie, weiter aus und füllte zugleich durch seine neue »Selektionstheorie« die bedenklichste Lücke der ersteren aus. Er zeigte, wie »die natürliche Zuchtwahl im Kampf ums Dasein« der unbewußte Schöpfer ist, welcher die zweckmäßige Organisation der Lebensformen ohne vorbedachten Zweck und Schöpfungsplan hervorbringt. Dadurch ist Darwin der »Kopernikus der organischen Welt« geworden.

IVMonistische Anthropogenie. Als vierter und letzter Hauptabschnitt der Weltentwickelung kann für uns Menschen derjenige jüngste Zeitraum gelten, innerhalb dessen sich unser eigenes Geschlecht entwickelt hat. Schon Lamarck (1809) hatte klar erkannt, daß diese Entwickelung vernünftigerweise nur auf einem natürlichen Wege denkbar sei, durch »Abstammung vom Affen«, als von dem nächstverwandten Säugetiere. Huxley zeigte sodann (1863) in seiner berühmten Abhandlung über »die Stellung des Menschen in der Natur«, daß diese bedeutungsvolle Annahme ein notwendiger Folgeschluß der Deszendenztheorie und durch anatomische, embryologische und paläontologische Tatsachen wohlbegründet sei; er erklärte diese »Frage aller Fragen« im Prinzip für gelöst. Darwin behandelte sie in geistreicher Weise von verschiedenen Seiten in seinem Werke über »die Abstammung des Menschen und [S. 154] die geschlechtliche Zuchtwahl« (1871). Ich selbst hatte schon in meiner Generellen Morphologie (1866) diesem wichtigsten Spezialproblem der Abstammungslehre ein besonderes Kapitel gewidmet. 1874 veröffentlichte ich meine Anthropogenie, als ersten Versuch, die Abstammung des Menschen durch seine ganze Ahnenreihe bis zur ältesten archigonen Monerenform hinauf zu verfolgen; ich stützte mich dabei gleichmäßig auf die drei großen Urkunden der Stammesgeschichte, auf die vergleichende Anatomie, Ontogenie und Paläontologie (Fünfte umgearbeitete Auflage 1903). Wie weit wir seitdem durch zahlreiche wichtige Fortschritte der anthropogenetischen Forschung gekommen sind, habe ich in dem Vortrag gezeigt, den ich 1898 auf dem internationalen Zoologenkongresse in Cambridge »über unsere gegenwärtige Kenntnis vom Ursprung des Menschen« gehalten habe. Die ausführlichste Darstellung derselben, unter Benutzung der neuesten Fortschritte der Anthropogenie, habe ich in meiner letzten Abhandlung gegeben: »Unsere Ahnenreihe (Progonotaxis hominis), Festschrift zur 350jährigen Jubelfeier der Universität Jena, am 30. Juli 1908.«

Vierzehntes Kapitel.

Einheit der Natur.

Monistische Studien über die materielle und energetische Einheit des Kosmos. — Mechanismus und Vitalismus. — Ziel, Zweck und Zufall.

Durch das Substanzgesetz ist zunächst die fundamentale Tatsache erwiesen, daß jede Naturkraft mittelbar oder unmittelbar in jede andere umgewandelt werden kann. Mechanische und chemische Energie, Schall und Wärme, Licht und Elektrizität können ineinander übergeführt werden und erweisen sich nur als verschiedene Erscheinungsformen einer und derselben Urkraft, der Energie. Daraus ergibt sich der bedeutungsvolle Satz von der Einheit aller Naturkräfte oder, wie wir auch sagen können, dem »Monismus der Energie«. Im gesamten Gebiete der Physik und Chemie ist dieser Fundamentalsatz jetzt allgemein anerkannt, soweit er die anorganischen Naturkörper betrifft.

[S. 155]

Anders verhält sich scheinbar die organische Welt, das bunte und formenreiche Gebiet des Lebens. Zwar liegt es auch hier auf der Hand, daß ein großer Teil der Lebenserscheinungen unmittelbar auf mechanische und chemische Energie, auf elektrische und Lichtwirkungen zurückzuführen ist. Für einen anderen Teil aber wird das auch heute noch bestritten, so vor allem für das Welträtsel des Seelenlebens, insbesondere des Bewußtseins. Hier ist es nun das hohe Verdienst der modernen Entwickelungslehre, die Brücke zwischen den beiden, scheinbar getrennten Gebieten geschlagen zu haben. Wir sind jetzt zu der klaren Überzeugung gelangt, daß auch alle Erscheinungen des organischen Lebens ebenso dem universalen Substanzgesetz unterworfen sind wie die anorganischen Phänomene im unendlichen Kosmos.

Die Einheit der Natur, die hieraus folgt, die Überwindung des früheren Dualismus, ist sicher eines der wertvollsten Ergebnisse unserer modernen Entwickelungslehre. Ich habe diesen »Monismus des Kosmos«, die prinzipielle »Einheit der organischen und anorganischen Natur« schon 1866 sehr eingehend zu begründen versucht, indem ich die Übereinstimmung der beiden großen Naturreiche in Beziehung auf Stoffe, Formen und Kräfte einer eingehenden kritischen Prüfung und Vergleichung unterzog (Generelle Morphologie, 5. Kap.). Einen kurzen Auszug ihrer Ergebnisse enthält der fünfzehnte Vortrag meiner »Natürlichen Schöpfungsgeschichte«. Während die hier entwickelten Anschauungen von der großen Mehrzahl der Naturforscher gegenwärtig angenommen sind, ist doch neuerdings von mehreren Seiten der Versuch gemacht worden, sie zu bekämpfen und den alten Gegensatz von zwei ganz verschiedenen Naturgebieten aufrecht zu erhalten. In der Hauptsache handelt es sich auch hier wieder um den uralten Gegensatz der mechanischen und der teleologischen Weltanschauung. Bevor wir auf denselben eingehen, wollen wir kurz auf zwei andere Theorien hinweisen, welche nach meiner Überzeugung für die Entscheidung dieser wichtigen Probleme sehr wertvoll sind, die Kohlenstofftheorie und die Urzeugungslehre.

Kohlenstofftheorie. Die physiologische Chemie hat im Laufe der letzten Dezennien durch unzählige Analysen folgende fünf Tatsachen festgestellt: I. In den organischen Naturkörpern kommen keine anderen Elemente vor als in den anorganischen. II. Diejenigen Verbindungen der Elemente, welche dem Organismus eigentümlich sind, und welche ihre »Lebenserscheinungen« bewirken, sind zusammengesetzte Plasmakörper, aus der Gruppe der Albuminate oder Eiweißverbindungen. III. Das organische Leben selbst ist ein chemisch-physikalischer Prozeß, der auf dem [S. 156] Stoffwechsel dieser Albuminate beruht. IV. Dasjenige Element, welches allein imstande ist, diese zusammengesetzten Eiweißkörper in Verbindung mit anderen Elementen (Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Schwefel) aufzubauen, ist der Kohlenstoff. V. Diese plasmatischen Kohlenstoff-Verbindungen zeichnen sich vor den meisten anderen chemischen Verbindungen durch ihre sehr komplizierte Molekularstruktur aus, durch ihre Unbeständigkeit und ihren gequollenen Aggregatzustand. Auf Grund dieser fünf fundamentalen Tatsachen stellte ich im Jahre 1866 folgende Theorie auf: »Lediglich die eigentümlichen, chemisch-physikalischen Eigenschaften des Kohlenstoffes — und namentlich der festflüssige Aggregatzustand und die leichte Zersetzbarkeit der höchst zusammengesetzten, eiweißartigen Kohlenstoff-Verbindungen — sind die mechanischen Ursachen jener eigentümlichen Bewegungs-Erscheinungen, durch welche sich die Organismen von den Anorganen unterscheiden, und die man im engeren Sinne das Leben nennt.« Obwohl diese »Kohlenstofftheorie« von mehreren Biologen heftig angegriffen worden ist, hat doch bisher keiner eine bessere monistische Theorie an deren Stelle gesetzt. Heute, wo wir die physiologischen Verhältnisse des Zellenlebens, die Chemie und Physik des lebendigen Plasma viel besser und gründlicher kennen als um die Mitte des 19. Jahrhunderts, läßt sich unsere Theorie eingehender und sicherer begründen, als es damals möglich war.

Achigonie oder Urzeugung. Der alte Begriff der Urzeugung (Generatio spontanea oder aequivoca) wird heute noch in sehr verschiedenem Sinne verwendet; gerade die Unklarheit über diesen Begriff und die widersprechende Anwendung desselben auf ganz verschiedene, alte und neue Hypothesen sind schuld daran, daß dieses wichtige Problem zu den bestrittensten und konfusesten Fragen der ganzen Naturwissenschaft bis auf den heutigen Tag gehört. Ich beschränke den Begriff der Urzeugung auf die erste Entstehung von lebendem Plasma aus anorganischen Kohlenstoff-Verbindungen und unterscheide als zwei Hauptperioden in diesem »Beginn der Biogenesis«: I. die Entstehung von einfachsten Plasmakörpern in einer anorganischen Bildungsflüssigkeit, und II. die Individualisierung von primitivsten Organismen aus jenen Plasmaverbindungen, in Form von Moneren. Ich habe diese wichtigen, aber auch sehr schwierigen Probleme im 15. Kapitel meiner Natürlichen Schöpfungsgeschichte so eingehend behandelt, daß ich hier darauf verweisen kann. Eine sehr ausführliche und streng wissenschaftliche Erörterung derselben habe ich bereits 1866 in der »Generellen Morphologie« gegeben (Bd. I, S. 167-190); später hat Naegeli in seiner Mechanisch-physiologischen Theorie der [S. 157] Abstammungslehre (1884) die Hypothese der Urzeugung ganz in demselben Sinne sehr eingehend behandelt und als eine unentbehrliche Annahme der natürlichen Entwickelungstheorie bezeichnet. Ich stimme vollkommen seinem Satze bei: »Die Urzeugung leugnen heißt das Wunder verkünden.« Eine kritische Auseinandersetzung der verschiedenartigen Hypothesen, welche neuerdings über »Urzeugung« aufgestellt worden sind, enthält das 15. Kapitel (»Lebensursprung«) meines Buches über die »Lebenswunder« (Volksausgabe 1906).

Teleologie und Mechanik. Sowohl die Hypothese der Urzeugung als die eng damit verknüpfte Kohlenstofftheorie besitzen die größte Bedeutung für die Entscheidung des alten Kampfes zwischen der teleologischen (dualistischen) und der mechanischen (monistischen) Beurteilung der Erscheinungen. Seit Darwin uns vor fünfzig Jahren durch seine Selektionstheorie den Schlüssel zur monistischen Erklärung der Organisation in die Hand gab, sind wir in den Stand gesetzt, die bunte Mannigfaltigkeit der zweckmäßigen Einrichtungen in der lebendigen Körperwelt ebenso auf natürliche mechanische Ursachen zurückzuführen, wie dies vorher nur in der anorganischen Natur möglich war. Die übernatürlichen zwecktätigen Ursachen, zu welchen man früher seine Zuflucht hatte nehmen müssen, sind dadurch überflüssig geworden.

Werkursachen (Causae efficientes) und Endursachen (Causae finales). Den tiefen Gegensatz zwischen den bewirkenden Ursachen (oder Werkursachen) und den zwecktätigen Ursachen (oder Endursachen) hat mit Bezug auf die Erklärung der Gesamtnatur kein neuerer Philosoph schärfer hervorgehoben, als Immanuel Kant. In seinem berühmten Jugendwerke, der »Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels«, hatte er 1755 den kühnen Versuch unternommen, »die Verfassung und den mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes nach Newtonschen Grundsätzen abzuhandeln«. Er stützte sich dabei ganz auf die mechanischen Bewegungserscheinungen der Gravitation; sie wurde später von Laplace weiter ausgebildet und mathematisch begründet. Als dieser von Napoleon I. gefragt wurde, welche Stelle in seinem System Gott, der Schöpfer und Erhalter des Weltalls, einnehme, antwortete er klar und ehrlich: »Sire, ich bedarf dieser Hypothese nicht.« Damit war der atheistische Charakter dieser mechanischen Kosmogenie, den sie mit allen anorganischen Wissenschaften teilt, offen anerkannt. Dies muß um so mehr hervorgehoben werden, als die Kant-Laplacesche Theorie noch heute in fast allgemeiner Geltung steht. Wenn man den Atheismus [S. 158] noch heute in weiten Kreisen als einen schweren Vorwurf betrachtet, so trifft dieser die gesamte moderne Naturwissenschaft, insofern sie die anorganische Welt unbedingt mechanisch erklärt.

Der Mechanismus allein gibt uns eine wirkliche Erklärung der Naturerscheinungen, indem er dieselben auf reale Werkursachen zurückführt, auf Bewegungen, welche durch die materielle Konstitution der betreffenden Naturkörper selbst bedingt sind. Kant selbst betont, daß es »ohne diesen Mechanismus der Natur keine Naturwissenschaft geben kann«, und daß die Befugnis der menschlichen Vernunft zur mechanischen Erklärung aller Erscheinungen unbeschränkt sei. Als er aber später in seiner Kritik der ideologischen Urteilskraft die Erklärung der verwickelten Erscheinungen in der organischen Natur besprach, behauptete er, daß dafür jene mechanischen Ursachen nicht ausreichend seien; hier müsse man zweckmäßig wirkende Endursachen zu Hilfe nehmen. Zwar sei auch hier die Befugnis unserer Vernunft zur mechanischen Erklärung anzuerkennen, aber ihr Vermögen sei begrenzt. Allerdings gestand er ihr teilweise dieses Vermögen zu, aber für den größten Teil der Lebenserscheinungen (und besonders für die Seelentätigkeit des Menschen) hielt er die Annahme von Endursachen unentbehrlich. Der merkwürdige § 79 der Kritik der Urteilskraft trägt die charakteristische Überschrift: »Von der notwendigen Unterordnung des Prinzips des Mechanismus unter das teleologische in Erklärung eines Dinges als Naturzweck«. Die zweckmäßigen Einrichtungen im Körperbau der organischen Wesen schienen Kant ohne Annahme übernatürlicher Endursachen (d. h. also einer planmäßig wirkenden Schöpferkraft) so unerklärlich, daß er sagte: »Es ist ganz gewiß, daß wir die organisierten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechanischen Prinzipien der Natur nicht einmal zureichend kennen, viel weniger uns erklären können, und zwar so gewiß, daß man dreist sagen kann: Es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen oder zu hoffen, daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde, sondern man muß diese Einsicht dem Menschen schlechterdings absprechen.« Siebzig Jahre später ist dieser unmögliche »Newton der organischen Natur« in Darwin wirklich erschienen und hat die große Aufgabe gelöst, die Kant für unlösbar erklärt hatte.

Der Zweck in der anorganischen Natur (Anorganische Teleologie). Seitdem Newton (1682) das Gravitationsgesetz aufgestellt, und seitdem Kant (1755) »die Verfassung und den mechanischen Ursprung des ganzen Weltgeldes nach Newtonschen Grundsätzen« festgestellt — seitdem endlich Laplace (1796) [S. 159] dieses Grundgesetz des Weltmechanismus mathematisch begründet hatte, sind die sämtlichen anorganischen Naturwissenschaften rein mechanisch und damit zugleich rein atheistisch geworden. In der Astronomie und Kosmogenie, in der Geologie und Meteorologie, in der anorganischen Physik und Chemie gilt seitdem die absolute Herrschaft mechanischer Gesetze auf mathematischer Grundlage als unbedingt feststehend. Seitdem ist aber auch der Zweckbegriff aus diesem ganzen großen Gebiete verschwunden. Jetzt ist diese monistische Betrachtung nach harten Kämpfen zu allgemeiner Geltung gelangt, und kein Naturforscher fragt mehr im Ernste nach dem Zweck irgendeiner Erscheinung in diesem ganzen unermeßlichen Gebiete. Oder sollte wirklich noch heute im Ernste ein Astronom nach dem Zwecke der Planetenbewegungen oder ein Mineraloge nach dem Zwecke der einzelnen Kristallformen fragen? Oder sollte ein Physiker über den Zweck der elektrischen Kräfte oder ein Chemiker über den Zweck der Atomgewichte grübeln? Wir dürfen getrost antworten: Nein! Sicher nicht in dem Sinne, daß der »liebe Gott« oder eine zielstrebige Naturkraft diese Grundgesetze des Weltmechanismus einmal plötzlich »aus nichts« zu einem bestimmten Zweck erschaffen hat, und daß er sie nach seinem vernünftigen Willen tagtäglich wirken läßt. Diese anthropomorphe Vorstellung von einem zwecktätigen Weltbaumeister und Weltherrscher ist hier völlig überwunden; an seine Stelle sind die »ewigen, ehernen, großen Naturgesetze« getreten.

Der Zweck in der organischen Natur (Biologische Teleologie). Eine ganz andere Bedeutung und Geltung als in der anorganischen besitzt der Zweckbegriff noch heute in der organischen Natur. Im Körperbau und in der Lebenstätigkeit aller Organismen tritt uns die Zwecktätigkeit unleugbar entgegen. Jede Pflanze und jedes Tier erscheinen in der Zusammensetzung aus einzelnen Teilen ebenso für einen bestimmten Lebenszweck eingerichtet wie die künstlichen, vom Menschen erfundenen und konstruierten Maschinen; und solange ihr Leben fortdauert, ist auch die Funktion der einzelnen Organe ebenso auf bestimmte Zwecke gerichtet wie die Arbeit in den einzelnen Teilen der Maschine. Es war daher ganz naturgemäß, daß die ältere naive Naturbetrachtung für die Entstehung und die Lebenstätigkeit der organischen Wesen einen Schöpfer in Anspruch nahm, der mit »Weisheit und Verstand alle Dinge geordnet« hatte, und der jedes Tier und jede Pflanze ihrem besonderen Lebenszweck entsprechend organisiert hatte. Gewöhnlich wurde dieser »allmächtige Schöpfer Himmels und der [S. 160] Erden« durchaus anthropomorph gedacht; er schuf »jegliches Wesen nach seiner Art«. Solange dabei dem Menschen der Schöpfer noch in menschlicher Gestalt erschien, denkend mit seinem Gehirn, sehend mit seinen Augen, formend mit seinen Händen, konnte man sich von diesem »göttlichen Maschinenbauer« und von seiner künstlerischen Arbeit in der großen Schöpfungswerkstätte noch eine anschauliche Vorstellung machen. Viel schwieriger wurde dies, als sich der Gottesbegriff läuterte und man in dem »unsichtbaren Gott« einen immateriellen Schöpfer ohne Organe erblickte. Noch unbegreiflicher endlich wurden diese anthropistischen Vorstellungen, als die Physiologie an die Stelle des bewußt bauenden Gottes die unbewußt schaffende »Lebenskraft« setzte — eine unbekannte, zweckmäßig tätige Naturkraft, welche von den bekannten physikalischen und chemischen Kräften verschieden war und diese nur zeitweise — auf Lebenszeit — in Dienst nahm. Dieser Vitalismus blieb noch bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts herrschend; er fand seine tatsächliche Widerlegung erst durch den großen Physiologen Johannes Müller. Zwar war auch dieser geistreiche Biologe im Glauben an die Lebenskraft aufgewachsen und hielt sie für die Erklärung der »letzten Lebensursachen« für unentbehrlich, aber er führte zugleich in seinem klassischen, noch heute unübertroffenen Lehrbuch der Physiologie (1833) den Beweis, daß eigentlich nichts mit ihr anzufangen ist. Müller selbst zeigte in einer langen Reihe von ausgezeichneten Beobachtungen und scharfsinnigen Experimenten, daß die meisten Lebenstätigkeiten im Organismus des Menschen ebenso wie der übrigen Tiere nach physikalischen und chemischen Gesetzen geschehen, daß viele von ihnen sogar mathematisch bestimmbar sind. Das gilt ebensowohl von den Funktionen der Muskeln und Nerven, der niederen und höheren Sinnesorgane, wie von den Vorgängen bei der Ernährung und dem Stoffwechsel, der Verdauung und dem Blutkreislauf. Rätselhaft und ohne die Annahme einer Lebenskraft nicht erklärbar blieben eigentlich nur zwei Gebiete, das der höheren Seelentätigkeit (Geistesleben) und das der Fortpflanzung (Zeugung). Aber auch auf diesen Gebieten wurden unmittelbar nach Müllers Tode so bedeutende Entdeckungen und Fortschritte gemacht, daß das unheimliche »Gespenst der Lebenskraft« auch aus diesen letzten Schlupfwinkeln verschwand. Es war ein merkwürdiger chronologischer Zufall, daß Johannes Müller 1858 in demselben Jahre starb, in welchem Charles Darwin die ersten Mitteilungen über seine epochemachende Theorie veröffentlichte. Die Selektionstheorie des letzteren beantwortete das große Rätsel, vor welchem der erstere stehen geblieben war: die Frage von der Entstehung [S. 161] zweckmäßiger Einrichtungen durch rein mechanische Ursachen, ohne vorbedachten Plan.

Der Zweck in der Selektionstheorie (Darwin 1859). Das unsterbliche philosophische Verdienst Darwins bleibt, wie wir schon oft betont haben, ein doppeltes: erstens die Reform der älteren, 1809 von Lamarck begründeten Deszendenztheorie, ihre Begründung durch das gewaltige, im Laufe dieses halben Jahrhunderts angesammelte Tatsachenmaterial — und zweitens die Aufstellung der Selektionstheorie, jener Zuchtwahllehre, welche uns erst eigentlich die wahren bewirkenden Ursachen der allmählichen Artumbildung enthüllt. Darwin zeigte zuerst, wie der unerbittliche »Kampf ums Dasein« der unbewußt wirkende Regulator ist, welcher die Wechselwirkung der Vererbung und Anpassung bei der allmählichen Transformation der Spezies leitet; er ist der große »züchtende Gott«, welcher ohne Absicht neue Formen ebenso durch »natürliche Auslese« bewirkt, wie der züchtende Mensch neue Formen mit Absicht durch »künstliche Auslese« hervorbringt. Damit wurde das große philosophische Rätsel gelöst: »Wie können zweckmäßige Einrichtungen rein mechanisch entstehen, ohne zwecktätige Ursachen?« Neuerdings hat sich daraus das Prinzip der »teleologischen Mechanik« zu immer größerer Geltung entwickelt und hat auch die feinsten und verborgensten Einrichtungen der organischen Wesen uns durch die »funktionelle Selbstgestaltung der zweckmäßigen Struktur« mechanisch erklärt. Damit ist aber der transzendente Zweckbegriff unserer teleologischen Schulphilosophie beseitigt, das größte Hindernis einer vernünftigen und einheitlichen Naturauffassung.

Neovitalismus. In neuerer Zeit ist das alte Gespenst der mystischen Lebenskraft, das gründlich getötet schien, wieder aufgelebt; verschiedene Biologen haben versucht, dasselbe unter neuem Namen zur Geltung zu bringen. Die konsequenteste Darstellung desselben hat der Kieler Botaniker Johannes Reinke in zwei Büchern gegeben: »Die Welt als Tat« (1899) und »Einleitung in die theoretische Biologie« (1901). Er nennt sie »Umrisse einer Weltansicht auf naturwissenschaftlicher Grundlage«; tatsächlich ist aber diese Grundlage der christliche Kirchenglaube. Indem er von den Offenbarungen der Bibel ausgeht und Moses als höchste wissenschaftliche Autorität betrachtet, verteidigt er zugleich den Wunderglauben und den Theismus, die Mosaische Schöpfungsgeschichte und die Konstanz der Arten; er nennt die »Lebenskräfte«, im Gegensatze zu den physikalischen Kräften, Richtkräfte, Oberkräfte oder Dominanten. Reinke wendet vergeblich alle Mittel auf, um die herrschenden Glaubenslehren der christlichen [S. 162] Kirche mit den direkt widersprechenden Erfahrungssätzen der Entwickelungslehre in Einklang zu bringen. Diesen Widerspruch wird auch der neue sogenannte »Keplerbund« nicht lösen, den er 1908 zur Bekämpfung und Vernichtung des 1905 gegründeten »Monistenbundes« ins Leben gerufen hat. Das Widersinnige und Unhaltbare dieses Neovitalismus (der in den mystischen Kreisen der Spiritisten und Okkultisten, Theosophen und Metaphysiker viel Anklang findet), habe ich im 2. und 3. Kapitel meiner »Lebenswunder« eingehend nachgewiesen.

Unzweckmäßigkeitslehre (Dysteleologie). Unter diesem Begriffe habe ich schon im Jahre 1866 die Wissenschaft von den überaus interessanten und wichtigen biologischen Tatsachen begründet, welche in handgreiflichster Weise die hergebrachte teleologische Auffassung von der »zweckmäßigen Einrichtung der lebendigen Naturkörper« direkt widerlegen. Diese Wissenschaft von den »rudimentären, abortiven, verkümmerten, fehlgeschlagenen, atrophischen oder kataplastischen Individuen« stützt sich auf eine unermeßliche Fülle der merkwürdigsten Erscheinungen, welche zwar den Zoologen und Botanikern längst bekannt waren, aber erst durch Darwin ursächlich erklärt und in ihrer hohen philosophischen Bedeutung vollständig gewürdigt worden sind.

Alle höheren Tiere und Pflanzen, überhaupt alle diejenigen Organismen, deren Körper nicht ganz einfach gebaut, sondern aus mehreren, zweckmäßig zusammenwirkenden Organen zusammengesetzt ist, lassen bei aufmerksamer Untersuchung eine Anzahl von nutzlosen oder unwirksamen, ja zum Teil sogar gefährlichen und schädlichen Einrichtungen erkennen. In den Blüten der meisten Pflanzen finden sich neben den wirksamen Geschlechtsblättern, welche die Fortpflanzung vermitteln, einzelne nutzlose Blattorgane ohne Bedeutung (verkümmerte oder »fehlgeschlagene« Staubfäden, Fruchtblätter, Kronen-, Kelchblätter usw.). In den beiden großen und formenreichen Klassen der fliegenden Tiere, Vögel und Insekten, gibt es neben den gewöhnlichen, ihre Flügel täglich gebrauchenden Arten eine Anzahl von Formen, deren Flügel verkümmert sind, und die nicht fliegen können. Fast in allen Klassen der höheren Tiere, die ihre Augen zum Sehen gebrauchen, existieren einzelne Arten, welche im Dunkeln leben und nicht sehen; trotzdem besitzen auch diese meistens noch Augen; nur sind sie verkümmert, zum Sehen nicht mehr tauglich. An unserem eigenen menschlichen Körper besitzen wir solche nutzlose Rudimente in den Muskeln unseres Ohres, in der Nickhaut unseres Auges, in der Brustwarze und Milchdrüse des Mannes und in anderen Körperteilen; ja der gefürchtete Wurmfortsatz unseres Blinddarmes ist nicht nur unnütz, [S. 163] sondern sogar gefährlich, und alljährlich geht eine Anzahl Menschen durch seine Entzündung zugrunde.

Die Erklärung dieser und vieler anderer zweckloser Einrichtungen im Körperbau der Tiere und Pflanzen vermag weder der alte noch der neue Vitalismus zu geben; dagegen finden wir sie sehr einfach durch die Deszendenztheorie. Sie zeigt, daß diese rudimentären Organe verkümmert sind, und zwar durch Nichtgebrauch. Ebenso, wie die Muskeln, die Nerven, die Sinnesorgane durch Übung und häufigeren Gebrauch gestärkt werden, ebenso erleiden sie umgekehrt durch Untätigkeit und unterlassenen Gebrauch mehr oder weniger Rückbildung. Aber obgleich so durch Übung und Anpassung die höhere Entwickelung der Organe gefördert wird, so verschwinden sie doch keineswegs sofort spurlos durch Nichtübung; vielmehr werden sie durch die Macht der Vererbung noch während vieler Generationen erhalten und verschwinden erst allmählich nach längerer Zeit. Der blinde »Kampf ums Dasein zwischen den Organen« bedingt ebenso ihren historischen Untergang, wie er ursprünglich ihre Entstehung und Ausbildung verursachte. Ein immanenter »Zweck« spielt dabei überhaupt keine Rolle.

Unvollkommenheit der Natur. Wie das Menschenleben so bleibt auch das Tier- und Pflanzenleben immer und überall unvollkommen. Diese Tatsache ergibt sich einfach aus der Erkenntnis, daß die ganze Natur in einem beständigen Flusse der Entwickelung, der Veränderung und Umbildung begriffen ist. Diese Entwickelung erscheint uns im großen und ganzen — wenigstens soweit wir die Stammesgeschichte der organischen Natur auf unserem Planeten übersehen können — als eine fortschreitende Umbildung, als ein historischer Fortschritt vom Einfachen zum Zusammengesetzten, vom Niederen zum Höheren, vom Unvollkommenen zum Vollkommneren. Ich habe schon in der Generellen Morphologie (1866) den Nachweis geführt, daß dieser historische Fortschritt — oder die allmähliche Vervollkommnung — die notwendige Wirkung der Selektion ist, nicht aber die Folge eines vorbedachten Zweckes. Das ergibt sich auch daraus, daß kein Organismus ganz vollkommen ist; selbst wenn er in einem gegebenen Augenblicke den Umständen vollkommen angepaßt wäre, würde dieser Zustand nicht lange dauern; denn die Existenzbedingungen der Außenwelt sind selbst einem beständigen Wechsel unterworfen und bedingen damit eine ununterbrochene Anpassung der Organismen.

Sittliche Weltordnung. In der Philosophie der Geschichte, in den allgemeinen Betrachtungen, welche die Geschichtschreiber über die Schicksale der Völker und über den verschlungenen Gang [S. 164] der Staatenentwickelung anstellen, herrscht noch heute die Annahme einer »sittlichen Weltordnung«. Die Historiker suchen in dem bunten Wechsel der Völkergeschicke einen leitenden Zweck, eine ideale Absicht, welche diese oder jene Rasse, diesen oder jenen Staat zu besonderem Gedeihen auserlesen und zur Herrschaft über die anderen bestimmt hat. Diese teleologische und dualistische Geschichtsbetrachtung ist neuerdings um so schärfer in prinzipiellen Gegensatz zu unserer monistischen Weltanschauung getreten, je sicherer sich diese letztere im gesamten Gebiete der anorganischen Natur als die allem berechtigte herausgestellt hat. In der gesamten Astronomie und Geologie, in dem weiten Gebiete der Physik und Chemie spricht heute niemand mehr von einer sittlichen Weltordnung, ebensowenig als von einem persönlichen Gotte, dessen »Hand mit Weisheit und Verstand alle Dinge geordnet hat«. Dieser ist aber auch in dem gesamten Gebiete der Biologie nicht zu finden, in der ganzen Verfassung und Geschichte der organischen Natur. Darwin hat uns in seiner Selektionstheorie nicht nur gezeigt, wie die zweckmäßigen Einrichtungen im Leben und im Körperbau der Tiere und Pflanzen ohne vorbedachten Zweck mechanisch entstanden sind, sondern er hat uns auch in seinem »Kampf ums Dasein« die gewaltige Naturmacht erkennen gelehrt, welche den ganzen Entwickelungsgang der organischen Welt seit vielen Jahrmillionen ununterbrochen beherrscht und regelt. Man könnte freilich sagen: Der »Kampf ums Dasein« ist das »Überleben des Passendsten« oder der »Sieg des Besten«; das kann man aber nur, wenn man das Stärkere stets als das beste (in moralischem Sinne!) betrachtet; und überdies zeigt uns die ganze Geschichte der organischen Welt, daß neben dem überwiegenden Fortschritt zum Vollkommenen jederzeit auch einzelne Rückschritte zu niederen Zuständen vorkommen.

Verhält es sich nun in der Völkergeschichte, die der Mensch in seinem anthropozentrischen Größenwahn die »Weltgeschichte« zu nennen liebt, etwa anders? Ist da überall und jederzeit ein höchstes moralisches Prinzip oder ein weiser Weltregent zu entdecken, der die Geschicke der Völker leitet? Die unbefangene Antwort kann heute, bei dem vorgeschrittenen Zustande unserer Naturgeschichte und Völkergeschichte, nur lauten: Nein! Die Geschicke der Zweige des Menschengeschlechts, die als Rassen und Nationen seit Jahrtausenden um ihre Existenz und ihre Fortbildung gerungen haben, unterliegen genau denselben »ewigen, ehernen, großen Gesetzen« wie die Geschichte der ganzen organischen Welt, die seit vielen Jahrmillionen die Erde bevölkert.

Die Geologen unterscheiden in der »organischen Erdgeschichte«, [S. 165] soweit sie uns durch die Denkmäler der Versteinerungskunde bekannt ist, drei große Perioden: das primäre, sekundäre und tertiäre Zeitalter. Ihre Zeitdauer ist schwer abzuschätzen, beträgt aber (zusammengenommen) jedenfalls mehr als hundert Millionen Jahre. Die Geschichte des Wirbeltierstammes, aus dem unser eigenes Geschlecht entsprossen ist, liegt innerhalb dieses langen Zeitraumes klar vor unseren Augen; drei verschiedene Entwickelungsstufen der Vertebraten waren in jenen drei großen Perioden nacheinander entwickelt; in der primären Periode die Fische, in der sekundären die Reptilien, in der tertiären die Säugetiere. Von diesen drei Hauptgruppen der Wirbeltiere nehmen die Fische den niedersten, die Reptilien einen mittleren, die Säugetiere den höchsten Rang der Vollkommenheit ein. Bei tieferem Eingehen in die Geschichte der drei Klassen finden wir, daß auch die einzelnen Ordnungen und Familien derselben innerhalb der drei Zeiträume sich fortschreitend zu höherer Vollkommenheit entwickelten. Kann man nun diesen fortschreitenden Entwickelungsgang als Ausfluß einer bewußten zweckmäßigen Zielstrebigkeit oder einer sittlichen Weltordnung bezeichnen? Durchaus nicht! Denn die Selektionstheorie lehrt uns, daß der organische Fortschritt, ebenso wie die organische Differenzierung, eine notwendige Folge des Kampfes ums Dasein ist. Tausende von bewunderungswürdigen Arten des Tier- und Pflanzenreiches sind im Laufe jener hundert Millionen Jahre zugrunde gegangen, weil sie anderen, stärkeren, Platz machen mußten, und diese Sieger im Kampfe ums Dasein waren nicht immer die edleren oder im moralischen Sinne vollkommneren Formen.

Genau dasselbe gilt von der Völkergeschichte. Die bewunderungswürdige Kultur des klassischen Altertums ist zugrunde gegangen, weil das Christentum dem ringenden Menschengeiste damals durch den Glauben an einen liebenden Gott und die Hoffnung auf ein besseres jenseitiges Leben einen gewaltigen neuen Aufschwung verlieh. Der Papismus wurde zwar bald zur schamlosen Karikatur des reinen Christentums und zertrat schonungslos die Schätze der Erkenntnis, welche die hellenische Philosophie schon erworben hatte; aber er gewann die Weltherrschaft durch die Unwissenheit der blindgläubigen Massen. Erst die Renaissance zerriß die Ketten dieser Geistesknechtschaft und verhalf wieder den Ansprüchen der Vernunft zu ihrem Rechte. Aber auch in dieser neuen, wie in jenen früheren Perioden der Kulturgeschichte, wogt ewig der große Kampf ums Dasein hin und her, ohne jede moralische Ordnung.

Vorsehung. So wenig bei unbefangener und kritischer Betrachtung eine »moralische Weltordnung« im Gange der Völkergeschichte [S. 166] nachzuweisen ist, ebensowenig können wir eine »weise Vorsehung« im Schicksal der einzelnen Menschen anerkennen. Dieses wie jener wird mit eiserner Notwendigkeit durch die mechanische Kausalität bestimmt, welche jede Erscheinung aus einer oder mehreren vorhergehenden Ursachen ableitet. Schon die alten Hellenen erkannten als höchstes Weltprinzip das blinde Fatum (die Anangke), das »Götter und Menschen beherrscht«. An ihre Stelle trat im Christentum die bewußte Vorsehung eines Gottes, welcher nicht blind, sondern sehend ist, und welcher die Weltregierung als patriarchalischer Herrscher führt. Der anthropomorphe Charakter dieser Vorstellung liegt auf der Hand. Der Glaube an einen »liebenden Vater«, der die Geschicke von 1500 Millionen Menschen auf unserem Planeten unablässig lenkt und dabei die millionenfach sich kreuzenden Gebete und »frommen Wünsche« derselben jederzeit berücksichtigt, ist vollkommen unhaltbar: das ergibt sich sofort, wenn die Vernunft beim Nachdenken darüber die farbige Brille des »Glaubens« ablegt.

Bei dem ungeheuren Aufschwung des Verkehrs im 19. Jahrhundert hat notwendig die Zahl der Verbrechen und Unglücksfälle in einem früher nicht geahnten Maße zugenommen; das erfahren wir tagtäglich durch die Zeitungen. In jedem Jahre gehen Tausende von Menschen zugrunde durch Schiffbrüche, Tausende durch Eisenbahnunglücke, Tausende durch Bergwerkskatastrophen usw. Viele Tausende töten sich alle Jahre gegenseitig im Kriege, und die Zurüstung für diesen Massenmord nimmt bei den höchstentwickelten, die christliche Liebe bekennenden Kulturnationen den weitaus größten Teil des Nationalvermögens in Anspruch. Und unter jenen Hunderttausenden, die alljährlich als Opfer der modernen Zivilisation fallen, befinden sich überwiegend tüchtige, tatkräftige, arbeitsame Menschen. Dabei redet man noch von sittlicher Weltordnung! Es soll durchaus nicht bestritten werden, daß der heute noch herrschende und in den Schulen gelehrte Glaube an eine »sittliche Weltordnung« — ebenso wie an eine »liebevolle Vorsehung« — einen hohen Idealwert besitzt. Er tröstet die Leidenden, stärkt die Schwachen, erhebt im Unglück; er befriedigt unser zweifelndes Gemüt und versetzt uns in eine Idealwelt des »Jenseits«, in welcher die Mängel des irdischen Daseins im »Diesseits« überwunden sind. So lange der Mensch kindlich und unerfahren genug bleibt, mag er sich mit diesen Gebilden der Dichtung begnügen. Allein das fortgeschrittene Kulturleben der Gegenwart reißt ihn gewaltsam aus jener schönen Idealwelt heraus und stellt ihn vor Aufgaben, zu deren Lösung ihn nur die vernünftige Erkenntnis der Wirklichkeit befähigt. Unzweifelhaft wird die frühzeitige Anpassung an [S. 167] diese Realwelt, zweckmäßig in den Unterricht eingeführt und auf die moderne Entwickelungslehre gestützt, den höher gebildeten Menschen der Zukunft nicht allein vernünftiger und vorurteilsfreier, sondern auch besser und glücklicher machen.

Ziel, Zweck und Zufall. Wenn uns unbefangene Prüfung der Weltentwickelung lehrt, daß dabei weder ein bestimmtes Ziel noch ein besonderer Zweck (im Sinne der menschlichen Vernunft!) nachzuweisen ist, so scheint nichts übrig zu bleiben, als alles dem »blinden Zufall« zu überlassen. Dieser Vorwurf ist in der Tat ebenso dem Transformismus von Lamarck und Darwin, wie früher der Kosmogenie von Kant und Laplace entgegengehalten worden; viele dualistische Philosophen legen gerade hierauf besonderes Gewicht. Es verlohnt sich daher wohl der Mühe, hier noch einen flüchtigen Blick darauf zu werfen.

Die eine Gruppe der Philosophen behauptet nach ihrer teleologischen Auffassung: die ganze Welt ist ein geordneter Kosmos, in dem alle Erscheinungen Ziel und Zweck haben; es gibt keinen Zufall! Die andere Gruppe dagegen meint gemäß ihrer mechanistischen Auffassung: Die Entwickelung der ganzen Welt ist ein einheitlich mechanischer Prozeß, in dem wir nirgends Ziel und Zweck entdecken können; was wir im organischen Leben so nennen, ist eine besondere Folge der biologischen Verhältnisse; weder in der Entwickelung der Weltkörper, noch in derjenigen unserer organischen Erdrinde ist ein leitender Zweck nachzuweisen; hier ist alles Zufall! Beide Parteien haben recht, je nach der Definition des »Zufalls«. Das allgemeine Kausalgesetz, in Verbindung mit dem Substanzgesetz, überzeugt uns, daß jede Erscheinung ihre mechanische Ursache hat; in diesem Sinne gibt es keinen Zufall. Wohl aber können und müssen wir diesen unentbehrlichen Begriff beibehalten, um damit das Zusammentreffen von zwei Erscheinungen zu bezeichnen, die nicht unter sich kausal verknüpft sind, von denen aber natürlich jede ihre Ursache hat, unabhängig von der anderen. Wie jedermann weiß, spielt der Zufall in diesem monistischen Sinne die größte Rolle im Leben des Menschen wie in demjenigen aller anderen Naturkörper. Die wichtigsten Entscheidungen im bunten Wechsel unserer persönlichen Schicksale werden oft durch zufällige Begegnung mit anderen Personen bestimmt. Das hindert aber nicht, daß wir in jedem einzelnen »Zufall« wie in der Entwickelung des Weltganzen die universale Herrschaft des umfassendsten Naturgesetzes anerkennen, des Substanzgesetzes.

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Fünfzehntes Kapitel.

Gott und Welt.

Monistische Studien über Theismus und Pantheismus. Der anthropistische Monotheismus der drei großen Mediterran-Religionen. Extramundaner und intramundaner Gott.

Als letzten und höchsten Urgrund aller Erscheinungen betrachtet die Menschheit seit Jahrtausenden eine bewirkende Ursache unter dem Begriffe Gott (Deus, Theos). Wie alle anderen allgemeinen Begriffe, so ist auch dieser höchste Grundbegriff im Laufe der Vernunftentwickelung den bedeutendsten Umbildungen und den mannigfaltigsten Abartungen unterworfen gewesen. Ja man kann sagen, daß kein anderer Begriff so sehr umgestaltet und abgeändert worden ist; denn kein anderer berührt in gleich hohem Maße sowohl die höchsten Aufgaben des erkennenden Verstandes und der vernünftigen Wissenschaft als auch zugleich die tiefsten Interessen des gläubigen Gemütes und der dichtenden Phantasie.

Eine vergleichende Kritik der zahlreichen verschiedenen Hauptformen der Gottesvorstellung ist zwar höchst interessant und lehrreich, würde uns hier aber viel zu weit führen; wir müssen uns damit begnügen, nur auf die wichtigsten Gestaltungen der Gottesidee und auf ihre Beziehung zu unserer heutigen, durch die reine Naturerkenntnis bedingten Weltanschauung einen flüchtigen Blick zu werfen.

Wenn wir von allen feineren Abtönungen und bunten Gewandungen des Gottesbildes absehen, können wir füglich — mit Beschränkung auf den tiefsten Inhalt desselben — alle verschiedenen Vorstellungen darüber in zwei entgegengesetzte Hauptgruppen ordnen, in die theistische und die pantheistische Gruppe. Die letztere ist eng verknüpft mit der monistischen oder rationellen, die erstere mit der dualistischen oder mystischen Weltanschauung.

ITheismus: Gott und Welt sind zwei verschiedene Wesen. Gott steht der Welt gegenüber als deren Schöpfer, Erhalter und Regierer. Dabei wird Gott stets mehr oder weniger menschenähnlich gedacht, als ein Organismus, welcher dem Menschen ähnlich (wenn auch in höchst vollkommener Form) denkt und handelt. Dieser anthropomorphe Gott, den die verschiedenen Naturvölker offenbar unabhängig voneinander mehrmals erdacht [S. 169] haben, unterliegt in ihrer Phantasie bereits den mannigfaltigsten Abstufungen, vom Fetischismus aufwärts bis zu den geläuterten monotheistischen Religionen der Gegenwart. Als wichtigste Unterarten der theistischen Begriffsbildung unterscheiden wir Polytheismus, Triplotheismus, Amphitheismus und Monotheismus.

Polytheismus (Vielgötterei). Die Welt ist von vielen verschiedenen Göttern bevölkert, welche mehr oder weniger selbständig in deren Getriebe eingreifen. Der Fetischismus findet dergleichen untergeordnete Götter in den verschiedensten leblosen Naturkörpern, in den Steinen, im Wasser, in der Luft, in menschlichen Kunstprodukten einfachster Art. Der Dämonismus erblickt Götter in lebendigen Organismen, in Bäumen, Tieren und Menschen. Diese Vielgötterei nimmt schon in den niedersten Religionsformen der rohen Naturvölker sehr mannigfaltige Formen an. Sie erscheint auf der höchsten Stufe geläutert im hellenischen Polytheismus, in jenen herrlichen Göttersagen des alten Griechenlands, welche noch heute unserer modernen Kunst die schönsten Vorbilder für Poesie und Bildnerei liefern. Auf viel tieferer Stufe steht der katholische Polytheismus, in dem zahlreiche »Heilige« als untergeordnete Gottheiten angebetet und um gütige Vermittelung beim obersten Gott oder bei der »Jungfrau Maria« ersucht werden.

Triplotheismus (Dreigötterei, Trinitätslehre). Die Lehre von der »Dreieinigkeit Gottes«, welche heute noch im Glaubensbekenntnis der christlichen Kulturvölker die grundlegenden »drei Glaubensartikel« bildet, gipfelt bekanntlich in der Vorstellung, daß der Eine Gott des Christentums eigentlich in Wahrheit aus drei Personen von verschiedenem Wesen sich zusammensetzt: IGott der Vater ist der »allmächtige Schöpfer Himmels und der Erde« (dieser unhaltbare Mythus ist durch die wissenschaftliche Kosmogenie, Astronomie und Geologie längst widerlegt). IIJesus Christus ist der »eingeborene Sohn Gottes des Vaters« (und zugleich der dritten Person, des »Heiligen Geistes«!!), erzeugt durch unbefleckte Empfängnis der Jungfrau Maria. III. Der Heilige Geist, ein mystisches Wesen, über dessen unbegreifliches Verhältnis zum »Sohne« und zum Vater sich viele christliche Theologen seit 1900 Jahren den Kopf ganz umsonst zerbrochen haben. Die Evangelien, die doch die einzigen lauteren Quellen dieses christlichen Triplotheismus sind, lassen uns über die eigentlichen Beziehungen dieser drei Personen zu einander völlig im Dunkeln und geben auf die Frage nach ihrer rätselhaften Einheit keine irgendwie befriedigende Antwort. Dagegen müssen wir besonders darauf hinweisen, welche Verwirrung diese unklare und mystische [S. 170] Trinitätslehre in den Köpfen unserer Kinder schon beim ersten Schulunterricht notwendig anrichten muß. Montag morgens in der ersten Unterrichtsstunde (Religion) lernen sie: Dreimal eins ist eins! — und gleich darauf in der zweiten Stunde (Rechnen): Dreimal eins ist drei! Ich erinnere mich selbst sehr wohl noch der Bedenken, welche dieser auffällige Widerspruch in mir selbst beim ersten Unterricht erregte. — Übrigens ist die »Dreieinigkeit« im Christentum keineswegs originell, sondern gleich den meisten anderen Lehren desselben aus älteren Religionen übernommen. Aus dem Sonnendienste der chaldäischen Magier entwickelt sich die Trinität der Ilu, der geheimnisvollen Urquelle der Welt; ihre drei Offenbarungen waren Anu, das ursprüngliche Chaos, Bel, der Ordner der Welt, und Ao, das himmlische Licht, die alles erleuchtende Weisheit. — In der Brahmanenreligion wird die Trimurti als »Gotteseinheit« ebenfalls aus drei Personen zusammengesetzt, aus Brahma (dem Schöpfer), Wischnu (dem Erhalter) und Schiwa (dem Zerstörer).

Amphitheismus (Zweigötterei). Die Welt wird von zwei verschiedenen Göttern regiert, einem guten und einem bösen Wesen, Gott und Teufel. Beide Weltregenten befinden sich in einem beständigen Kampfe, wie Kaiser und Gegenkaiser, Papst und Gegenpapst. Das Ergebnis dieses Kampfes ist jederzeit der gegenwärtige Zustand der Welt. Der liebe Gott, als das gute Wesen, ist der Urquell des Guten und Schönen, der Lust und Freude. Die Welt würde vollkommen sein, wenn sein Wirken nicht beständig durchkreuzt würde von dem bösen Wesen, dem Teufel; dieser schlimme Satanas ist die Ursache alles Bösen und Häßlichen, der Unlust und des Schmerzes.

Dieser Amphitheismus ist unter allen verschiedenen Formen des Götterglaubens insofern der vernünftigste, als sich seine Theorie am ersten mit einer wissenschaftlichen Welterklärung verträgt. Wir finden ihn daher schon mehrere Jahrtausende vor Christus bei verschiedenen Kulturvölkern des Altertums ausgebildet. Im alten Indien kämpft Wischnu, der Erhalter, mit Schiwa, dem Zerstörer. Im alten Ägypten steht dem guten Osiris der böse Typhon gegenüber. In der Zendreligion der alten Perser, von Zoroaster 2000 Jahre vor Christus gegründet, herrscht beständiger Kampf zwischen Ormudz, dem guten Gott des Lichtes, und Ahriman, dem bösen Gott der Finsternis.

Keine geringere Rolle spielt der Teufel als Gegner des guten Gottes in der Mythologie des Christentums als der Versucher und Verführer, der Fürst der Hölle und Herr der Finsternis. Als persönlicher Satanas war er auch noch im Anfange des 19. Jahrhunderts [S. 171] ein wesentliches Element im Glauben der meisten Christen; erst gegen die Mitte desselben wurde er mit zunehmender Aufklärung allmählich abgesetzt, oder er mußte sich mit jener Rolle begnügen, welche ihm Goethe in der größten aller dramatischen Dichtungen, im »Faust«, als Mephistopheles zuteilt. Gegenwärtig gilt in den besseren gebildeten Kreisen der »Glaube an den persönlichen Teufel« als ein überwundener Aberglaube des Mittelalters, während gleichzeitig der »Glaube an Gott« (d. h. den persönlichen, guten und lieben Gott) als ein unentbehrlicher Bestandteil der Religion festgehalten wird. Und doch ist der erstere Glaube ebenso voll berechtigt (vielmehr ebenso haltlos!) wie der letztere! Jedenfalls erklärt sich die vielbeklagte »Unvollkommenheit des Erdenlebens« viel einfacher und natürlicher durch diesen Kampf des guten und bösen Gottes als durch irgend welche andere Form des Gottesglaubens.

Monotheismus (Eingötterei). Die Lehre von der Einheit Gottes kann in vieler Beziehung als die einfachste und natürlichste Form der Gottesverehrung gelten. Nach der allgemeinen Meinung ist sie die weitest verbreitete Grundlage der Religion und beherrscht namentlich den Kirchenglauben der Kulturvölker. Tatsächlich ist dies jedoch nicht der Fall; denn der angebliche Monotheismus erweist sich bei näherer Betrachtung meistens als eine der vorher angeführten Formen des Theismus, indem neben dem obersten »Hauptgotte« noch einer oder mehrere Nebengötter angebetet werden. Auch sind die meisten Religionen, welche einen rein monotheistischen Ausgangspunkt haben, im Laufe der Zeit mehr oder minder polytheistisch geworden. Allerdings behauptet die moderne Statistik, daß unter den 1500 Millionen Menschen, welche unsere Erde bevölkern, die große Mehrzahl Monotheisten seien; angeblich sollen davon ungefähr 600 Millionen Brahma-Buddhisten sein, 500 Millionen (sogenannte!) Christen, 200 Millionen Heiden (verschiedenster Sorte), 180 Millionen Mohammedaner, 10 Millionen Israeliten und 10 Millionen ganz religionslos. Allein die große Mehrzahl der angeblichen Monotheisten hat ganz unklare Gottesvorstellungen oder glaubt neben dem einen Hauptgott auch noch an viele Nebengötter, als da sind: Engel, Teufel, Dämonen usw. Die verschiedenen Formen, in denen sich der Monotheismus polyphyletisch entwickelt hat, können wir in zwei Hauptgruppen bringen: naturalistische und anthropistische Eingötterei.

Naturalistischer Monotheismus. Diese alte Form der Religion erblickt die Verkörperung Gottes in einer erhabenen, alles beherrschenden Naturerscheinung. Als solche imponierte schon vor vielen Jahrtausenden den Menschen vor allem die [S. 172] Sonne, die leuchtende und erwärmende Gottheit, von deren Einfluß sichtlich alles organische Leben unmittelbar abhängig ist. Der Sonnenkultus oder Solarismus kann für den modernen Naturforscher wohl unter allen theistischen Glaubensformen als die würdigste erscheinen. Denn unsere moderne Astrophysik und Geogenie hat uns überzeugt, daß die Erde ein abgelöster Teil der Sonne ist und später wieder in ihren Schoß zurückkehren wird. Die moderne Physiologie lehrt uns, daß der erste Urquell des organischen Lebens auf der Erde die Plasmabildung ist und daß diese Synthese von einfachen anorganischen Verbindungen, von Wasser, Kohlensäure und Ammoniak nur unter dem Einflusse des Sonnenlichtes erfolgt. Auf die primäre Entwickelung der Pflanzen ist erst nachträglich, sekundär, diejenige der Tiere gefolgt, die sich direkt oder indirekt von ihnen nähren; und die Entstehung des Menschengeschlechtes selbst ist wiederum nur ein späterer Vorgang in der Stammesgeschichte des Tierreichs. Auch unser gesamtes körperliches und geistiges Menschenleben ist ebenso wie alles andere organische Leben im letzten Grunde auf die strahlende, Licht und Wärme spendende Sonne zurückzuführen. Unbefangen und vernünftig betrachtet, erscheint daher der Sonnenkultus als naturalistischer Monotheismus besser begründet als der anthropistische Gottesdienst der Christen und anderer Kulturvölker, welche Gott in Menschengestalt sich vorstellen. Tatsächlich haben auch schon vor Jahrtausenden die Sonnenanbeter sich auf eine höhere intellektuelle und moralische Bildungsstufe erhoben als die meisten anderen Theisten. Als ich im November 1881 in Bombay war, betrachtete ich mit der größten Teilnahme die erhebenden Andachtsübungen der frommen Parsi, welche beim Aufgang und Untergang der Sonne, am Meeresstrande stehend oder auf ausgebreitetem Teppich kniend, dem kommenden und scheidenden Tagesgestirn ihre Verehrung bezeugten (Indische Reisebriefe, IV. Aufl., S. 56).

Anthropistischer Monotheismus. Die Vermenschlichung Gottes, die Vorstellung, daß das »höchste Wesen« dem Menschen gleich empfindet, denkt und handelt (wenn auch in erhabenster Form), spielt als anthropomorpher Monotheismus die größte Rolle in der Kulturgeschichte. Vor allen anderen treten hier in den Vordergrund die drei großen Religionen der mediterranen Menschenart, die ältere mosaische, die mittlere christliche und die jüngere mohammedanische. Diese drei großen Mittelmeer-Religionen, alle drei an der gesegneten Ostküste des interessantesten aller Meere entstanden, alle drei in ähnlicher Weise von einem phantasiereichen Schwärmer semitischer Rasse gestiftet, hängen [S. 173] nicht nur äußerlich durch diesen gemeinsamen Ursprung innig zusammen, sondern auch durch zahlreiche gemeinsame Züge ihrer inneren Glaubensvorstellungen. Wie das Christentum einen großen Teil seiner Mythologie aus dem älteren Judentum direkt übernommen hat, so hat der jüngere Islam wiederum von diesen beiden Religionen viele Erbschaften beibehalten. Alle drei Mediterran-Religionen waren ursprünglich rein monotheistisch; alle drei sind späterhin den mannigfaltigsten polytheistischen Umbildungen unterlegen, je weiter sie sich zunächst an den vielteiligen Küsten des mannigfach bevölkerten Mittelmeers und sodann in den übrigen Erdteilen ausbreiteten.

Der Mosaismus. Der jüdische Monotheismus, wie ihn Moses (1600 vor Chr.) begründete, gilt gewöhnlich als diejenige Glaubensform des Altertums, welche die höchste Bedeutung für die weitere ethische und religiöse Entwickelung der Menschheit besitzt. Unzweifelhaft ist ihr dieser hohe historische Wert schon deshalb zuzugestehen, weil die beiden anderen weltbeherrschenden Mediterran-Religionen aus ihr hervorgegangen sind; Christus steht ebenso auf den Schultern von Moses, wie später Mohammed auf den Schultern von beiden. Ebenso ruht das Neue Testament, welches in der kurzen Zeitspanne von 1900 Jahren das Glaubens-Fundament der höchstentwickelten Kulturvölker gebildet hat, auf der Basis des Alten Testaments. Beide zusammengenommen haben als Bibel einen Einfluß und eine Verbreitung gewonnen wie kein anderes Buch in der Welt. Wenn wir aber diese merkwürdige Geschichtsquelle unbefangen und vorurteilslos prüfen, so stellen sich viele wichtige Beziehungen ganz anders dar, als gelehrt wird. Auch hier hat die tiefer eindringende moderne Kritik und Kulturgeschichte wichtige Aufschlüsse geliefert, welche die geltende Tradition in ihren Fundamenten erschüttern.

Der Monotheismus, wie ihn Moses im Jehovahdienste zu begründen suchte, und wie ihn später mit großem Erfolge die Propheten ausbildeten, hatte ursprünglich harte und lange Kämpfe mit dem herrschenden älteren Polytheismus zu bestehen. Ursprünglich war Jehovah oder Japheh aus jenem Himmelsgotte abgeleitet, der als Moloch oder Baal eine der meistverehrten orientalischen Gottheiten war. Die vielbesprochenen Forschungen der modernen Assyriologen über »Bibel und Babel« (Delitzsch u. a.) haben gelehrt, daß der monotheistische Japhehglaube schon lange vor Moses in Babylon heimisch war. Daneben aber blieben andere Götter vielfach in hohem Ansehen, und der Kampf mit der »Abgötterei« bestand im jüdischen Volke immer fort. Trotzdem blieb im Prinzipe Jehovah der alleinige Gott, der im ersten der [S. 174] zehn Gebote Mosis ausdrücklich sagt: »Ich bin der Herr dein Gott, du sollst nicht andere Götter haben neben mir.«

Das Christentum. Der christliche Monotheismus teilte das Schicksal seiner Mutter, des Mosaismus, und blieb wahre Eingötterei meistens nur theoretisch im Prinzip, während er praktisch in die mannigfaltigsten Formen des Polytheismus sich verwandelte. Eigentlich war ja schon in der Trinitätslehre selbst, die doch als ein unentbehrliches Fundament der christlichen Religion gilt, der Monotheismus logischerweise aufgegeben. Die drei Personen, die als Vater, Sohn und Heiliger Geist unterschieden werden, sind und bleiben ebenso drei verschiedene Individuen (und zwar anthropomorphe Personen!) wie die drei indischen Gottheiten der Trimurti (Brahma, Wischnu, Schiwa). Dazu kommt noch, daß in den weiterverbreiteten Abarten des Christianismus als vierte Gottheit die Jungfrau Maria, als unbefleckte Mutter Christi, eine große Rolle spielt; in weiten katholischen Kreisen gilt sie sogar als viel wichtiger und einflußreicher als die drei männlichen Personen der Himmelsregierung. Der Madonnenkultus hat hier tatsächlich eine solche Bedeutung gewonnen, daß man ihn als einen weiblichen Monotheismus der gewöhnlichen männlichen Form der Eingötterei gegenüberstellen kann. Die »hehre Himmelskönigin« erscheint hier so sehr im Vordergrund aller Vorstellungen (wie es auch unzählige Madonnenbilder und Sagen bezeugen), daß die drei männlichen Personen dagegen ganz zurücktreten.

Nun hat sich aber außerdem schon frühzeitig in der Phantasie der gläubigen Christen eine zahlreiche Gesellschaft von »Heiligen« aller Art zu dieser obersten Himmelsregierung gesellt, und musikalische Engel sorgen dafür, daß es im »ewigen Leben« an Konzertgenüssen nicht fehlt. Die römischen Päpste — die größten Charlatans, die jemals eine Religion hervorgebracht hat! — sind beständig beflissen, durch neue Heiligsprechungen die Zahl dieser anthropomorphen Himmelstrabanten zu vermehren. Den reichsten und interessantesten Zuwachs hat aber diese seltsame Paradiesgesellschaft am 13. Juli 1870 dadurch bekommen, daß das vatikanische Konzil die Päpste als Stellvertreter Christi für unfehlbar erklärt und sie damit selbst zum Range von Göttern erhoben hat. Nimmt man dazu noch den von ihnen anerkannten »persönlichen Teufel« und die »bösen Engel«, welche seinen Hofstaat bilden, so gewährt uns der Papismus, die heute noch meistverbreitete Form des modernen Christentums, ein so buntes Bild des reichsten anthropistischen Polytheismus, daß der hellenische Olymp im Vergleiche dazu klein und dürftig erscheint.

Der Islam (oder der mohammedanische Monotheismus) [S. 175] ist die jüngste Form der Eingötterei. Als der junge Mohammed (geb. 570) frühzeitig den polytheistischen Götzendienst seiner arabischen Stammesgenossen verachten und das Christentum der Nestorianer kennen lernte, eignete er sich zwar ihre Grundlehren im allgemeinen an; er konnte sich aber nicht entschließen, in Christus etwas anderes zu erblicken als einen Propheten, gleich Moses. Im Dogma der Dreieinigkeit fand er das, was bei unbefangenem Nachdenken jeder vorurteilsfreie Mensch darin finden muß, einen widersinnigen Glaubenssatz, der weder mit den Grundsätzen unserer Vernunft vereinbar noch für unsere religiöse Erhebung von irgend welchem Werte ist. Die Anbetung der unbefleckten Jungfrau Maria als der »Mutter Gottes« betrachtete er ebenso als eitle Götzendienerei wie die Verehrung von Bildern und Bildsäulen. Je länger er darüber nachdachte, und je mehr er nach einer reineren Gottesvorstellung hinstrebte, desto klarer wurde ihm die Gewißheit seines Hauptsatzes: »Gott ist der alleinige Gott«; es gibt keine anderen Götter neben ihm.

Allerdings konnte auch Mohammed sich von dem Anthropomorphismus der Gottesvorstellung nicht frei machen. Auch sein alleiniger Gott blieb ein idealisierter, allmächtiger Mensch, ebenso wie der strenge, strafende Gott des Moses, ebenso wie der milde, liebende Gott des Christus. Aber trotzdem kann man der mohammedanischen Religion den Vorzug lassen, daß sie auch im Verlaufe ihrer historischen Entwickelung und unvermeidlichen Abartung den ursprünglichen reinen Charakter strenger bewahrte als die mosaische und die christliche Religion. Das zeigt sich auch heute noch äußerlich in den Gebetsformen und Predigtweisen ihres Kultus, wie in der Architektur und Ausschmückung ihrer Gotteshäuser. Als ich 1873 zum ersten Male den Orient besuchte und die herrlichen Moscheen in Kairo und Smyrna, in Brussa und Konstantinopel bewunderte, erfüllten mich mit wahrer Andacht die einfache und geschmackvolle Dekoration des Innern, der erhabene und zugleich prächtige architektonische Schmuck des Äußern. Wie edel und erhaben erscheinen diese Moscheen im Vergleiche zu der Mehrzahl der katholischen Kirchen, welche innen mit bunten Bildern und goldenem Flitterkram überladen, außen durch übermäßige Fülle von Menschen- und Tierfiguren verunstaltet sind! Nicht minder schön erscheinen die stillen Gebete und die einfachen Andachtsübungen des Koran im Vergleiche mit dem lauten, unverstandenen Wortgeplapper der katholischen Messen und der lärmenden Musik ihrer theatralischen Prozessionen.

Mixotheismus (Mischgötterei). Unter diesem Begriffe kann man füglich alle diejenigen Formen des Götterglaubens zusammenfassen, [S. 176] welche Mischungen von religiösen Vorstellungen verschiedener und zum Teil direkt widersprechender Art enthalten. Theoretisch ist diese weitestverbreitete Religionsform bisher nirgends anerkannt. Praktisch aber ist sie die wichtigste und merkwürdigste von allen. Denn die große Mehrzahl der Menschen, die sich überhaupt religiöse Vorstellungen bildeten, waren von jeher und sind noch heute Mixotheisten; ihre Gottesvorstellung ist bunt gemischt aus den frühzeitig in der Kindheit eingeprägten Glaubenssätzen ihrer speziellen Konfession und aus vielen verschiedenen Eindrücken, welche später bei der Berührung mit anderen Glaubensformen empfangen werden, und welche die ersteren modifizieren. Bei vielen Gebildeten kommen dazu noch der umgestaltende Einfluß philosophischer Studien im reiferen Alter und vor allem die unbefangene Beschäftigung mit den Erscheinungen der Natur, welche die Nichtigkeit der theistischen Glaubensbilder dartun. Der Kampf dieser widersprechenden Vorstellungen, welcher für feiner empfindende Gemüter äußerst schmerzlich ist und oft das ganze Leben hindurch unentschieden bleibt, offenbart klar die ungeheure Macht der Vererbung alter Glaubenssätze einerseits und der frühzeitigen Anpassung an irrtümliche Lehren andererseits. Die besondere Konfession, in welche das Kind von frühester Jugend an durch die Eltern eingezwängt wurde, bleibt meistens in der Hauptsache maßgebend, falls nicht später durch den stärkeren Einfluß eines anderen Glaubensbekenntnisses eine Konversion eintritt. Aber auch bei diesem Übertritt von einer Glaubensform zur anderen ist oft der neue Name, ebenso wie der alte aufgegebene, nur eine äußere Etikette, unter welcher bei näherer Untersuchung die allerverschiedensten Überzeugungen und Irrtümer sich bunt gemischt verstecken. Die große Mehrzahl der sogenannten Christen sind nicht Monotheisten (wie sie glauben), sondern Amphitheisten, Triplotheisten oder Polytheisten. Dasselbe gilt aber auch von den Bekennern des Islam und des Mosaismus, wie von anderen monotheistischen Religionen. Überall gesellen sich zu der ursprünglichen Vorstellung des »alleinigen oder dreieinigen Gottes« später erworbene Glaubensbilder von untergeordneten Gottheiten: Engeln, Teufeln, Heiligen und anderen Dämonen, eine bunte Mischung der verschiedensten theistischen Gestalten.

Wesen des Theismus. Alle hier angeführten Formen des Theismus im eigentlichen Sinne haben gemeinsam die Vorstellung Gottes als des Außerweltlichen oder Übernatürlichen. Immer steht Gott als selbständiges Wesen der Welt oder der Natur gegenüber, meistens als Schöpfer, Erhalter und Regierer der Welt. In den allermeisten Religionen kommt dazu noch der Charakter [S. 177] des Persönlichen und bestimmter noch die Vorstellung, daß Gott als Person dem Menschen ähnlich ist. »In seinen Göttern malet sich der Mensch.« Dieser Anthropomorphismus Gottes, die Vorstellung eines Wesens, welches gleich dem Menschen denkt, empfindet und handelt, ist bei der großen Mehrzahl der Gottesgläubigen maßgebend, bald in mehr roher und naiver, bald in mehr feiner und abstrakter Form. Allerdings wird die fortgeschrittenste Form der Theosophie behaupten, daß Gott als höchstes Wesen von absoluter Vollkommenheit und daher gänzlich von dem unvollkommenen Wesen des Menschen verschieden sei. Allein bei genauerer Untersuchung bleibt immer das Gemeinsame beider ihre Seelen-oder Geistestätigkeit.

Der persönliche Anthropismus Gottes ist bei der großen Mehrzahl der Gläubigen zu einer so geläufigen Vorstellung geworden, daß sie keinen Anstoß an der menschlichen Personifikation Gottes in Bildern und Statuen nehmen, und an den mannigfaltigen Dichtungen der Phantasie, in welchen Gott menschliche Gestalt annimmt. In vielen Mythen erscheint die Person Gottes auch in Gestalt anderer Säugetiere (Affen, Löwen, Stiere usw.), seltener in Gestalt von Vögeln (Adler, Tauben, Schwäne) oder in Form von anderen Wirbeltieren (Schlangen, Krokodile, Drachen).

In den höheren und abstrakteren Religionsformen wird diese körperliche Erscheinung aufgegeben und Gott nur als »reiner Geist« ohne Körper verehrt. »Gott ist ein Geist, und wer ihn anbetet, soll ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.« Trotzdem bleibt aber die Seelentätigkeit dieses reinen Geistes ganz dieselbe wie diejenige der anthropomorphen Gottesperson. In Wirklichkeit wird auch dieser immaterielle Geist nicht unkörperlich, sondern unsichtbar gedacht, gasförmig.

IIPantheismus (All-Eins-Lehre): Gott und Welt sind ein einziges Wesen. Der Begriff Gottes fällt mit demjenigen der Natur oder der Substanz zusammen. Diese pantheistische Weltanschauung steht im Prinzip sämtlichen angeführten und allen sonst noch möglichen Formen des Theismus schroff gegenüber, wenngleich man durch Entgegenkommen von beiden Seiten die tiefe Kluft zwischen beiden zu überbrücken, sich vielfach bemüht hat. Immer bleibt zwischen beiden der fundamentale Gegensatz bestehen, daß im Theismus Gott als außerweltliches oder extramundanes Wesen der Natur schaffend und erhaltend gegenübersteht und von außen auf sie einwirkt, während im Pantheismus Gott als innerweltliches oder intramundanes Wesen allenthalben die Natur selbst ist und als denkende Substanz, als »Kraft oder [S. 178] Energie« tätig ist. Diese letztere Ansicht allein ist vereinbar mit dem Substanzgesetze. Daher ist notwendigerweise der Pantheismus die Weltanschauung unserer modernen Naturwissenschaft.

Da der Pantheismus erst aus der geläuterten Naturbetrachtung des denkenden Kulturmenschen hervorgehen konnte, ist er begreiflicherweise viel jünger als der Theismus, dessen roheste Formen sicher schon vor mehr als zehntausend Jahren bei den primitiven Naturvölkern in mannigfaltigen Variationen ausgebildet wurden. Wenn auch in den ersten Anfängen der Philosophie bei den ältesten Kulturvölkern (in Indien und Ägypten, in China und Japan) schon mehrere Jahrtausende vor Christus Keime des Pantheismus in verschiedenen Religionsformen eingestreut sich finden, so tritt doch eine bestimmte philosophische Fassung desselben erst in dem Hylozoismus der ionischen Naturphilosophen auf, in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts vor Chr. Alle großen Denker dieser Blüteperiode des hellenischen Geistes überragt der gewaltige Anaximander von Milet, der die prinzipielle Einheit des unendlichen Weltganzen tief und klar erfaßte. Nicht nur den großen Gedanken der ursprünglichen Einheit des Kosmos, der Entwickelung aller Erscheinungen aus der alles durchdringenden Urmaterie, hatte Anaximander bereits ausgesprochen, sondern auch die kühne Vorstellung von zahllosen, in periodischem Wechsel entstehenden und vergehenden Weltbildungen.

Auch viele von den folgenden großen Philosophen des klassischen Altertums, vor allen Demokritos, Heraklitos und Empedokles, hatten in gleichem oder ähnlichem Sinne tief eindringend bereits jene Einheit von Natur und Gott, von Körper und Geist erfaßt, welche im Substanzgesetze unseres heutigen Monismus den bestimmtesten Ausdruck gewonnen hat. Der große römische Dichter und Naturphilosoph Lucretius Carus hat ihn in seinem berühmten Lehrgedichte »De rerum natura« in hochpoetischer Form dargestellt. Allein dieser naturwahre pantheistische Monismus wurde bald ganz zurückgedrängt durch den mystischen Dualismus von Plato und besonders durch den gewaltigen Einfluß, den seine idealistische Philosophie durch die Verschmelzung mit den christlichen Glaubenslehren gewann. Als sodann deren mächtigster Anwalt, der römische Papst, die geistige Weltherrschaft gewann, wurde der Pantheismus gewaltsam unterdrückt; Giordano Bruno, sein geistvollster Vertreter, wurde am 17. Februar 1600 auf dem Campo Fiori in Rom von dem »Stellvertreter Gottes« lebendig verbrannt.

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Erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde durch den großen Baruch Spinoza das System des Pantheismus in reinster Form ausgebildet; er stellte für die Gesamtheit der Dinge den reinen Substanzbegriff auf, in welchem »Gott und Welt« untrennbar vereinigt sind. Wir müssen die Klarheit, Sicherheit und Folgerichtigkeit des monistischen Systems von Spinoza heute um so mehr bewundern, als diesem gewaltigen Denker vor 250 Jahren noch alle die sicheren empirischen Fundamente fehlten, die wir erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewonnen haben. Das Verhältnis von Spinoza zum späteren Materialismus im 18. und zu unserem heutigen Monismus im 19. Jahrhundert haben wir bereits im ersten Kapitel besprochen. Zur weiteren Verbreitung desselben, besonders im deutschen Geistesleben, haben vor allem die unsterblichen Werke unseres größten Dichters und Denkers beigetragen, Wolfgang Goethe. Seine herrlichen Dichtungen »Gott und Welt«, »Prometheus«, »Faust« usw. hüllen die Grundgedanken des Pantheismus in die vollkommenste und schönste dichterische Form.

Die Beziehungen unseres heutigen Monismus zu den früheren philosophischen Systemen, sowie die wichtigsten Grundzüge von deren historischer Entwickelung, sind in dem »Grundriß der Geschichte der Philosophie« von Friedrich Überweg eingehend dargestellt (10. Auflage, bearbeitet von Max Heinze, Berlin 1906). Eine vortreffliche klare Übersicht derselben — gewissermaßen eine »Stammesgeschichte der Welträtsel und der Versuche zu ihrer Lösung« — hat Fritz Schultze (Dresden) in seinem »Stammbaum der Philosophie« gegeben; ein »Tabellarisch-Schematischer Grundriß der Geschichte der Philosophie von den Griechen bis zur Gegenwart« (Leipzig, 2. Auflage, 1899).

Atheismus (»Die entgötterte Weltanschauung«). Es gibt keinen Gott und keine Götter, falls man unter diesem Begriff persönliche, außerhalb der Natur stehende Wesen versteht. Diese »gottlose Weltanschauung« fällt im wesentlichen mit dem Monismus oder Pantheismus unserer modernen Naturwissenschaft zusammen; sie gibt nur einen anderen Ausdruck dafür, indem sie eine negative Seite desselben hervorhebt, die Nichtexistenz einer außerweltlichen und übernatürlichen Gottheit. In diesem Sinne sagt Schopenhauer ganz richtig: »Pantheismus ist nur ein höflicher Atheismus. Die Wahrheit des Pantheismus besteht in der Aufhebung des dualistischen Gegensatzes zwischen Gott und Welt, in der Erkenntnis, daß die Welt aus ihrer inneren Kraft und durch sich selbst da ist. Der Satz des Pantheismus: [S. 180] 'Gott und die Welt ist eins' ist bloß eine höfliche Wendung, dem Herrgott den Abschied zu geben.«

Während des ganzen Mittelalters, unter der blutigen Tyrannei des Papismus, wurde der Atheismus als die entsetzlichste Form der Weltanschauung mit Feuer und Schwert verfolgt. Da der »Gottlose« im Evangelium mit dem »Bösen« schlechtweg identifiziert und ihm im ewigen Leben die Höllenstrafe der ewigen Verdammnis angedroht wird, ist es begreiflich, daß jeder gute Christ selbst den entfernten Verdacht des Atheismus ängstlich mied. Leider besteht auch heute noch diese Auffassung in weiten Kreisen fort. Dem atheistischen Naturforscher, der seine Kraft und sein Leben der Erforschung der Wahrheit widmet, traut man von vornherein alles Böse zu; der theistische Kirchgänger dagegen, der die leeren Zeremonien des papistischen Kultus gedankenlos mitmacht, gilt schon deswegen als guter Staatsbürger, auch wenn er sich bei seinem Glauben gar nichts denkt und nebenher der verwerflichsten Moral huldigt. Dieser Irrtum wird sich erst klären, wenn im 20. Jahrhundert der herrschende Aberglaube mehr der vernünftigen Naturerkenntnis weicht und der monistischen Überzeugung der Einheit von Gott und Welt.

Sechzehntes Kapitel.

Wissen und Glauben.

Monistische Studien über Erkenntnis der Wahrheit. Sinnestätigkeit und Vernunfttätigkeit. Glauben und Aberglauben Erfahrung und Offenbarung.

Alle Arbeit wahrer Wissenschaft geht auf Erkenntnis der Wahrheit. Unser echtes und wertvolles Wissen ist realer Natur und besteht aus Vorstellungen, welche wirklich existierenden Dingen entsprechen. Wir sind zwar unfähig, das innerste Wesen dieser realen Welt — »das Ding an sich« — zu erkennen; aber unbefangene und kritische Beobachtung und Vergleichung überzeugt uns, daß bei normaler Beschaffenheit des Gehirns und der Sinnesorgane die Eindrücke der Außenwelt auf diese bei allen vernünftigen Menschen dieselben sind, und daß bei normaler Funktion der Denkorgane bestimmte, überall gleiche Vorstellungen gebildet werden; diese [S. 181] nennen wir wahr und sind dabei überzeugt, daß ihr Inhalt dem erkennbaren Teile der Dinge entspricht. Wir wissen, daß diese Tatsachen nicht eingebildet, sondern wirklich sind.

Erkenntnisquellen. Alle Erkenntnis der Wahrheit beruht auf zwei verschiedenen, aber innig zusammenhängenden Gruppen von physiologischen Funktionen des Menschen; erstens auf der Empfindung der Objekte mittels der Sinnestätigkeit, und zweitens auf der Verbindung der so gewonnenen Eindrücke durch Assozion zur Vorstellung im Subjekt. Die Werkzeuge der Empfindung sind die Sinnesorgane; die Werkzeuge, welche die Vorstellungen bilden und verknüpfen, sind die Denkorgane. Diese letzteren sind Teile des zentralen, die ersteren Teile des peripheren Nervensystems, jenes wichtigsten und höchstentwickelten Organsystems der höheren Tiere, dessen Funktion einzig und allein die gesamte Seelentätigkeit ist.

Sinnesorgane (Sensilla). Die Sinnestätigkeit des Menschen, welche der erste Ausgangspunkt aller Erkenntnis ist, hat sich langsam und allmählich aus derjenigen der nächstverwandten Säugetiere, der Primaten, entwickelt. Die Organe derselben sind in dieser höchstentwickelten Tierklasse überall von wesentlich gleichem Bau, und ihre Funktion erfolgt überall nach denselben physikalischen und chemischen Gesetzen. Sie haben sich allenthalben in derselben historischen Weise entwickelt. Wie bei allen anderen Tieren, so sind auch bei den Säugetieren alle Sensillen ursprünglich Teile der Hautdecke, und die empfindlichen Zellen der Oberhaut sind die Ureltern aller der verschiedenen Sinnesorgane, welche durch Anpassung an verschiedene Reize (Licht, Wärme, Schall, chemische Reize) ihre spezifische Energie erlangt haben. Sowohl die Stäbchenzellen der Retina in unserem Auge und die Hörzellen in der Schnecke unseres Ohres, als auch die Riechzellen in der Nase und die Schmeckzellen auf unserer Zunge stammen ursprünglich von jenen einfachen indifferenten Zellen der Oberhaut ab, welche die ganze Oberfläche unseres Körpers überziehen. Diese bedeutungsvolle Tatsache wird durch die unmittelbare Beobachtung am Embryo des Menschen ebenso wie aller anderen Tiere direkt bewiesen. Aus dieser ontogenetischen Tatsache folgt aber nach dem Biogenetischen Grundgesetz mit Sicherheit der phylogenetische Schluß, daß auch in der langen Stammesgeschichte unserer Vorfahren die höheren Sinnesorgane mit ihren speziellen Energien ursprünglich aus der Oberhaut niederer Tiere entstanden sind, aus einer einfachen Zellenschicht, die noch keine solchen gesonderten Sensillen enthielt.

Spezifische Energie der Sensillen. Von größter Bedeutung für die menschliche Erkenntnis ist die Tatsache, daß verschiedene [S. 182] Nerven unseres Körpers imstande sind, ganz verschiedene Qualitäten der Außenwelt und nur diese wahrzunehmen. Der Sehnerv des Auges vermittelt nur Lichtempfindung, der Hörnerv des Ohres nur Schallempfindung, der Riechnerv der Nase nur Geruchsempfindung usw. Gleichviel, welche Reize das einzelne Sinneswerkzeug treffen und erregen, ihre Reaktion behält dieselbe Qualität. Aus dieser spezifischen Energie der Sinnesnerven, welche von Johannes Müller zuerst in ihrer weitreichenden Bedeutung gewürdigt wurde, sind sehr irrtümliche Schlüsse gezogen worden, besonders zugunsten einer dualistischen und apriorischen Erkenntnistheorie. Man behauptete, daß das Gehirn oder die Seele nur einen gewissen Zustand des erregten Nerven wahrnehme, und daß daraus nichts auf die Existenz und Beschaffenheit der erregenden Außenwelt geschlossen werden könne. Die skeptische Philosophie zog daraus den Schluß, daß diese letztere selbst zweifelhaft sei, und der extreme Idealismus bezweifelte nicht nur diese Realität, sondern er negierte sie einfach; er behauptete, daß die Welt nur in unserer Vorstellung existiere.

Diesen Irrtümern gegenüber müssen wir daran erinnern, daß die »spezifische Energie« ursprünglich nicht eine anerschaffene besondere Qualität einzelner Nerven, sondern durch Anpassung an die besondere Tätigkeit der Oberhautzellen entstanden ist, in welchen sie enden. Nach den großen Gesetzen der Arbeitsteilung nahmen die ursprünglich indifferenten »Hautsinneszellen« verschiedene Aufgaben in Angriff, indem die einen den Reiz der Lichtstrahlen, die anderen den Eindruck der Schallwellen, eine dritte Gruppe die chemische Einwirkung riechender Substanzen usw. aufnahmen. Im Laufe langer Zeiträume bewirkten diese äußeren Sinnesreize eine allmähliche Veränderung der physiologischen und weiterhin auch der morphologischen Eigenschaften dieser Oberhautstellen, und damit zugleich veränderten sich die sensiblen Nerven, welche die von ihnen aufgenommenen Eindrücke zum Gehirn leiteten. Die Selektion verbesserte Schritt für Schritt die besonderen Umbildungen derselben, welche sich als nützlich erwiesen; sie schuf so zuletzt im Laufe vieler Jahrmillionen jene bewunderungswürdigen Instrumente, welche als Auge und Ohr unsere teuersten Güter darstellen. Ihre Einrichtung ist so wunderbar zweckmäßig, daß sie uns zu der irrtümlichen Annahme einer »Schöpfung nach vorbedachtem Bauplan« führen könnte. Die besondere Eigentümlichkeit jedes Sinnesorganes und seiner spezifischen Nerven hat sich aber erst durch Gewohnheit und Übung — d. h. durch Anpassung — allmählich entwickelt und ist dann durch Vererbung von Generation zu Generation übertragen worden.

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Grenzen der Sinneswahrnehmung. Die kritische Vergleichung der Sinnestätigkeit beim Menschen und bei den übrigen Wirbeltieren ergibt eine Anzahl überaus wichtiger Tatsachen. Ganz besonders gilt dies von den beiden höchstentwickelten, den »ästhetischen Sinneswerkzeugen«, Auge und Ohr. Sie zeigen im Stamme der Wirbeltiere einen anderen und verwinkelteren Bau als bei den übrigen Tieren und entwickeln sich auch im Embryo derselben auf eigentümliche Weise. Diese typische Ontogenese und Struktur der Sensillen bei sämtlichen Wirbeltieren erklärt sich durch Vererbung von einer gemeinsamen Stammform. Innerhalb des Stammes aber zeigt sich eine große Mannigfaltigkeit der Ausbildung im einzelnen, und diese ist bedingt durch die Anpassung an die Lebensweise der einzelnen Arten, durch den gesteigerten oder geminderten Gebrauch der einzelnen Teile.

Der Mensch erscheint nun in bezug auf die Ausbildung seiner Sinne keineswegs als das vollkommenste und höchstentwickelte Wirbeltier. Das Auge der Vögel ist viel schärfer und unterscheidet kleine Gegenstände auf weite Entfernung viel deutlicher als das menschliche Auge. Das Gehör vieler Säugetiere, besonders der in Wüsten lebenden Raubtiere, Huftiere, Nagetiere usw., ist viel empfindlicher als das menschliche und nimmt leise Geräusche auf viel weitere Entfernungen wahr; darauf weist schon ihre große und sehr bewegliche Ohrmuschel hin. Die Singvögel offenbaren selbst in bezug auf musikalische Begabung eine höhere Entwickelungsstufe als viele Menschen. Der Geruchssinn ist bei den meisten Säugetieren, namentlich Raubtieren und Huftieren, viel mehr ausgebildet als beim Menschen; wenn der Hund seine eigene feine Spürnase mit der des Menschen vergleichen könnte, würde er mitleidig auf letztere herabsehen. Auch in bezug auf die niederen Sinne, den Geschmackssinn, den Geschlechtssinn, den Tastsinn und den Temperatursinn, behauptet der Mensch keineswegs in jeder Beziehung die höchste Entwickelungsstufe.

Wir selbst können natürlich nur über diejenigen Sinnesempfindungen urteilen, die wir selbst besitzen. Nun weist uns aber die Anatomie im Körper vieler Tiere noch andere als unsere bekannten Sinnesorgane nach. So besitzen die Fische und andere niedere, im Wasser lebende Wirbeltiere eigentümliche Sensillen in der Haut, welche mit besonderen Sinnesorganen in Verbindung stehen. In den Seiten des Fischkörpers verläuft rechts und links ein langer Kanal, der vorn am Kopfe in mehrere verzweigte Kanäle übergeht. In diesen »Schleimkanälen« liegen Nerven mit zahlreichen Ästen, deren Enden mit eigentümlichen Nervenhügeln verbunden sind. Wahrscheinlich dient dieses ausgedehnte »Hautsinnesorgan« [S. 184] zur Wahrnehmung von Unterschieden im Wasserdruck oder in chemischen Eigenschaften des Wassers. Einige Gruppen sind noch durch den Besitz anderer eigentümlicher Sensillen ausgezeichnet, deren Bedeutung uns unbekannt ist.

Schon aus diesen Tatsachen ergibt sich, daß unsere menschliche Sinnestätigkeit beschränkt ist, und zwar sowohl in quantitativer als in qualitativer Hinsicht. Wir können also mit unseren Sinnen, vor allem dem Auge und dem Tastsinn, immer nur einen Teil der Eigenschaften erkennen, welche die Objekte der Außenwelt besitzen. Aber auch diese partielle Wahrnehmung ist unvollständig, insofern unsere Sinneswerkzeuge unvollkommen sind und die Sinnesnerven als Dolmetscher dem Gehirn nur die Übersetzung der empfangenen Eindrücke mitteilen.

Diese anerkannte Unvollkommenheit unserer Sinnestätigkeit darf uns aber nicht hindern, in ihren Werkzeugen, und vor allem im Auge, die edelsten Organe zu erblicken; im Vereine mit den Denkorganen des Gehirns sind sie das wertvollste Geschenk der Natur für den Menschen. In voller Wahrheit sagt Albrecht Rau (a. a. O.): »Alle Wissenschaft ist in letzter Linie Sinneserkenntnis; die Data der Sinne werden darin nicht negiert, sondern interpretiert. Die Sinne sind unsere ersten und besten Freunde; lange bevor sich der Verstand entwickelt, sagen die Sinne dem Menschen, was er tun und lassen soll. Wer die Sinnlichkeit überhaupt verneint, um ihren Gefahren zu entgehen, der handelt ebenso unbesonnen und töricht als der, welcher seine Augen ausreißt, weil sie einmal auch schändliche Dinge sehen könnten; oder der, welcher seine Hand abhaut, weil er fürchtet, sie könnte einmal auch nach fremdem Gute langen.« Mit vollem Rechte nennt deshalb Feuerbach alle Philosophen, alle Religionen, alle Institute, die dem Prinzipe der Sinnlichkeit widersprechen, nicht nur irrtümliche, sondern sogar grundverderbliche. Ohne Sinne keine Erkenntnis! »Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu!« (Locke.)

Hypothese und Glaube. Der Erkenntnistrieb des hochentwickelten Kulturmenschen begnügt sich nicht mit jener lückenhaften Kenntnis der Außenwelt, welche er durch seine unvollkommenen Sinnesorgane gewinnt. Er bemüht sich vielmehr, die sinnlichen Eindrücke, welche er durch dieselben gewonnen hat, in Erkenntniswerte umzusetzen; er verwandelt sie in den Sinnesherden der Großhirnrinde in spezifische Sinnesempfindungen und verbindet diese durch Assozion in deren Denkherden zu Vorstellungen; durch weitere Verkettung der Vorstellungsgruppen gelangt er endlich zu zusammenhängendem Wissen. Aber dieses Wissen bleibt [S. 185] immer lückenhaft und unbefriedigend, wenn nicht die Phantasie die ungenügende Kombinationskraft des erkennenden Verstandes ergänzt und durch Assozion von Gedächtnisbildern entfernt liegende Erkenntnisse zu einem zusammenhängenden Ganzen verknüpft. Dabei entstehen neue allgemeine Vorstellungsgebilde, welche erst die wahrgenommenen Tatsachen erklären und das »Kausalitätsbedürfnis der Vernunft befriedigen«.

Die Vorstellungen, welche die Lücken des Wissens ausfüllen oder an dessen Stelle treten, kann man im weiteren Sinne als »Glauben« bezeichnen. So geschieht es fortwährend im alltäglichen Leben. Wenn wir irgend eine Tatsache nicht sicher wissen, so sagen wir: Ich glaube sie. In diesem Sinne sind wir auch in der Wissenschaft selbst zum Glauben gezwungen; wir vermuten oder nehmen an, daß ein bestimmtes Verhältnis zwischen zwei Erscheinungen besteht, obwohl wir es nicht sicher kennen. Wir bilden eine Hypothese. Indessen dürfen in der Wissenschaft nur solche Hypothesen zugelassen werden, die innerhalb des menschlichen Erkenntnisvermögens liegen, und die nicht bekannten Tatsachen widersprechen. Solche Hypothesen sind z. B. in der Physik die Lehre von Schwingungen des Äthers, in der Chemie die Annahme der Atome und deren Wahlverwandtschaft, in der Biologie die Lehre von der Molekularstruktur des lebendigen Plasmas usw.

Theorie und Glaube. Die Erklärung einer größeren Reihe von zusammenhängenden Erscheinungen durch Annahme einer gemeinsamen Ursache nennen wir Theorie. Auch bei der Theorie, wie bei der Hypothese, ist der Glaube (in wissenschaftlichem Sinne!) unentbehrlich; denn auch hier ergänzt die dichtende Phantasie die Lücke, welche der Verstand in der Erkenntnis des Zusammenhangs der Dinge offen läßt. Die Theorie kann daher immer nur als eine Annäherung an die Wahrheit betrachtet werden; es muß zugestanden werden, daß sie später durch eine andere, besser begründete Theorie verdrängt werden kann. Trotz dieser eingestandenen Unsicherheit bleibt die Theorie für jede wahre Wissenschaft unentbehrlich; denn sie erklärt erst die Tatsachen durch Annahme von Ursachen. Wer auf die Theorie ganz verzichten und reine Wissenschaft bloß aus »sicheren Tatsachen« aufbauen will (wie es oft von beschränkten Köpfen in der modernen sogenannten »exakten Naturwissenschaft« geschieht), der verzichtet damit auf die Erkenntnis der Ursachen überhaupt und somit auf die Befriedigung des Kausalitätsbedürfnisses der Vernunft.

Die Gravitationstheorie in der Astronomie (Newton), die Nebulartheorie in der Kosmogenie (Kant und Laplace), das Energieprinzip in der Physik (Mayer und Helmholtz), die Atomtheorie [S. 186] in der Chemie (Dalton), die Zellentheorie in der Gewebelehre (Schleiden und Schwann), die Deszendenztheorie in der Biologie (Lamarck und Darwin) sind gewaltige Theorien ersten Ranges; sie erklären eine ganze Welt von großen Naturerscheinungen durch Annahme einer gemeinsamen Ursache für alle einzelnen Tatsachen ihres Gebietes und durch den Nachweis, daß alle Erscheinungen in demselben zusammenhängen und durch feste, von dieser einen Ursache ausgehende Gesetze geregelt werden. Dabei kann aber diese Ursache selbst ihrem Wesen nach unbekannt oder nur eine »provisorische Hypothese« sein. Die »Schwerkraft« in der Gravitationstheorie und in der Kosmogenie, die »Energie« selbst in ihrem Verhältnis zur Materie, das »Atom« in der Chemie, das lebendige »Plasma« in der Zellenlehre, die »Vererbung« in der Abstammungslehre — diese und ähnliche Grundbegriffe in anderen großen Theorien können von der skeptischen Philosophie als »bloße Hypothesen«, als Erzeugnisse des wissenschaftlichen Glaubens betrachtet werden, aber sie bleiben uns als solche unentbehrlich, so lange, bis sie durch eine bessere Hypothese ersetzt werden.

Glaube und Aberglaube. Ganz anderer Natur als diese Formen des wissenschaftlichen Glaubens sind diejenigen Vorstellungen, welche in den verschiedenen Religionen zur Erklärung der Erscheinungen benutzt und schlechtweg als Glaube im engeren Sinne bezeichnet werden. Da aber diese beiden Glaubensformen, der »natürliche Glaube« der Wissenschaft und der »übernatürliche Glaube« der Religion, nicht selten verwechselt werden und so Verwirrung entsteht, ist es zweckmäßig, ja notwendig, ihren prinzipiellen Gegensatz scharf zu betonen. Der »religiöse« Glaube ist stets Wunderglaube und steht als solcher mit dem natürlichen Glauben der Vernunft in unversöhnlichem Widerspruch. Im Gegensatz zu letzterem behauptet er übernatürliche Vorgänge und kann somit als »Überglaube« oder »Oberglaube« bezeichnet werden, die ursprüngliche Form des Wortes Aberglaube. Der wesentliche Unterschied dieses Aberglaubens von dem »vernünftigen Glauben« besteht eben darin, daß er übernatürliche Kräfte und Erscheinungen annimmt, welche die Wissenschaft nicht kennt und nicht zuläßt, welche durch irrtümliche Wahrnehmungen und falsche Phantasiedichtungen erzeugt sind; der Aberglaube widerspricht mithin den klar erkannten Naturgesetzen und ist als solcher unvernünftig.

Aberglaube der Naturvölker. Durch die moderne Ethnologie ist uns eine erstaunliche Fülle von mannigfaltigen Formen und Erzeugnissen des Aberglaubens bekannt geworden, wie sie noch heute unter den rohen Naturvölkern existieren. Vergleicht man [S. 187] dieselben untereinander und mit den entsprechenden mythologischen Vorstellungen früherer Zeiten, so ergibt sich eine vielfache Analogie, oft ein gemeinsamer Ursprung und schließlich eine einfache Urquelle für alle. Diese finden wir in dem natürlichen Kausalitätsbedürfnisse der Vernunft, in dem Suchen nach Erklärung unbekannter Erscheinungen durch Auffinden ihrer Ursachen. Besonders gilt das von solchen Bewegungserscheinungen, die Gefahr drohen und Furcht erregen, wie Blitz und Donner, Erdbeben, Mondfinsternis usw. Das Bedürfnis nach kausaler Erklärung solcher Naturerscheinungen besteht schon bei den Naturvölkern der niedersten Stufe und ist bereits von ihren Primatenahnen durch Vererbung übertragen. Es besteht ebenso bei vielen anderen Wirbeltieren. Wenn ein Hund den Vollmond anbellt oder eine tönende Glocke, deren Klöppel er sich bewegen sieht, oder eine Fahne, die im Winde weht, so äußert er dabei nicht nur Furcht, sondern auch den dunklen Drang nach Erkenntnis der Ursache dieser unbekannten Erscheinung. Die rohen Religionsanfänge der primitiven Naturvölker haben ihre Wurzeln teilweise in solchem erblichen Aberglauben ihrer Primatenahnen, teilweise im Ahnenkultus, in verschiedenen Gemütsbedürfnissen und in traditionell gewordenen Gewohnheiten.

Aberglaube der Kulturvölker. Die religiösen Glaubensvorstellungen der modernen Kulturvölker, die ihnen als wertvollster geistiger Besitz gelten, pflegen von ihnen hoch über den »rohen Aberglauben« der Naturvölker gestellt zu werden; man preist den großen Fortschritt, welchen die aufklärende Kultur durch Beseitigung des letzteren herbeigeführt habe. Das ist ein großer Irrtum! Bei unbefangener kritischer Prüfung und Vergleichung zeigt sich, daß beide nur durch die besondere »Gestalt des Glaubens« und durch die äußere Hülle der Konfession voneinander verschieden sind. Im klaren Lichte der Vernunft erscheint der destillierte Wunderglaube der freisinnigsten Kirchenreligionen — insofern er klar erkannten und festen Naturgesetzen widerspricht — genau so als unvernünftiger Aberglaube, wie der rohe Gespensterglaube der primitiven Fetischreligionen, auf welchen jene stolz herabsehen.

Werfen wir von diesem unbefangenen Standpunkte einen kritischen Blick auf die gegenwärtig noch herrschenden Glaubensvorstellungen der heutigen Kulturvölker, so finden wir sie allenthalben von traditionellem Aberglauben durchdrungen. Der christliche Glaube an die Schöpfung, die Dreieinigkeit Gottes, an die unbefleckte Empfängnis Mariä, an die Erlösung, die Auferstehung und Himmelfahrt Christi usw. ist ebenso reine Dichtung und kann ebensowenig mit der vernünftigen Naturerkenntnis in Einklang [S. 188] gebracht werden, als die verschiedenen Dogmen der mohammedanischen und mosaischen, der buddhistischen und brahmanischen Religion. Jede von diesen Religionen ist für den wahrhaft »Gläubigen« eine zweifellose Wahrheit, und jede von ihnen betrachtet jede andere Glaubenslehre als Ketzerei und verderblichen Irrtum. Je mehr eine bestimmte Konfession sich für die »allein seligmachende« hält — für die »katholische« —, und je inniger diese Überzeugung als heiligste Herzenssache verteidigt wird, desto eifriger muß sie naturgemäß alle anderen Konfessionen bekämpfen, und desto fanatischer gestalten sich die fürchterlichen Glaubenskriege, welche die traurigsten Blätter im Buche der Kulturgeschichte bilden. Und doch überzeugt uns die unparteiische »Kritik der reinen Vernunft«, daß alle diese verschiedenen Glaubensformen in gleichem Maße unwahr und unvernünftig sind, Produkte der dichtenden Phantasie und der unkritischen Tradition. Die vernünftige Wissenschaft muß sie samt und sonders als Erzeugnisse des Aberglaubens verwerfen.

Glaubensbekenntnis (Konfession). Der unermeßliche Schaden, welchen der unvernünftige Aberglaube seit Jahrtausenden in der gläubigen Menschheit angerichtet hat, offenbart sich wohl nirgends auffälliger als in dem unaufhörlichen »Kampfe der Glaubensbekenntnisse«. Unter allen Kriegen, welche die Völker mit Feuer und Schwert gegeneinander geführt haben, sind die Religionskriege die blutigsten gewesen; unter allen Formen der Zwietracht, welche das Glück der Familien und der einzelnen Personen zerstört haben, sind die religiösen, dem Glaubensunterschiede entsprungenen, noch heute die gehässigsten. Man denke nur an die vielen Millionen Menschen, welche in den Christenbekehrungen und -Verfolgungen, in den Glaubenskämpfen des Islam und der Reformation, durch die Inquisition und die Hexenprozesse ihr Leben verloren haben. Oder man denke an die noch größere Zahl der Unglücklichen, welche wegen Glaubensverschiedenheiten in Familienzwist geraten, ihr Ansehen bei den gläubigen Mitbürgern und ihre Stellung im Staate verloren oder aus dem Vaterlande haben auswandern müssen. Die verderblichste Wirkung übt das offizielle Glaubensbekenntnis dann, wenn es mit den politischen Zwecken des Kulturstaates verknüpft und als »konfessioneller Religionsunterricht« in den Schulen zwangsweise gelehrt wird. Die Vernunft der Kinder wird dadurch schon frühzeitig von der Erkenntnis der Wahrheit abgelenkt und dem Aberglauben zugeführt. Jeder Menschenfreund sollte daher die konfessionslose Schule, als eine der wertvollsten Institutionen des modernen Vernunftstaates, mit allen Mitteln zu fördern suchen.

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Der Glaube unserer Väter. Der hohe Wert, welcher trotzdem noch heute in den weitesten Kreisen dem konfessionellen Religionsunterricht beigelegt wird, ist nicht allein durch den Konfessionszwang des rückständigen Kulturstaates und dessen Abhängigkeit von klerikaler Herrschaft bedingt, sondern auch durch das Gewicht von alten Traditionen und von »Gemütsbedürfnissen« verschiedener Art. Unter diesen ist besonders wirkungsvoll die andächtige Verehrung, welche in weitesten Kreisen der konfessionellen Tradition gezollt wird, dem »heiligen Glauben unserer Väter«. In Tausenden von Erzählungen und Gedichten wird das Festhalten an demselben als ein geistiger Schatz und als eine heilige Pflicht gepriesen. Und doch genügt unbefangenes Nachdenken über die Geschichte des Glaubens, um uns von der völligen Ungereimtheit jener einflußreichen Vorstellung zu überzeugen. Der herrschende evangelische Kirchenglaube in der zweiten Hälfte des aufgeklärten 19. Jahrhunderts ist wesentlich verschieden von dem in der ersten Hälfte, und dieser wieder von dem des 18. Jahrhunderts. Der letztere weicht sehr ab von dem »Glauben unserer Väter« im 17. und noch mehr im 16. Jahrhundert. Die Reformation, welche die geknechtete Vernunft von der Tyrannei des Papismus befreite, wird natürlich von dieser als ärgste Ketzerei verfolgt; aber auch der Glaube des Papismus selbst hatte sich im Laufe eines Jahrtausends völlig verändert. Und wie verschieden ist der Glaube der getauften Christen von dem ihrer heidnischen Väter! Jeder selbständig denkende Mensch bildet sich eben seinen eigenen, mehr oder weniger »persönlichen Glauben«, und immer ist dieser verschieden von dem seiner Väter; denn er ist abhängig von dem gesamten Bildungszustande seiner Zeit. Je weiter wir in der Kulturgeschichte zurückgehen, desto mehr erscheint uns der gepriesene »Glaube unserer Väter« als unhaltbarer Aberglaube, dessen Formen sich beständig umbilden.

Spiritismus. Eine der merkwürdigsten Formen des Aberglaubens ist diejenige, welche noch heutzutage in unserer modernen Kulturwelt eine erstaunliche Rolle spielt, der Spiritismus und Okkultismus, der moderne Geisterglaube. Es ist eine ebenso befremdende wie betrübende Tatsache, daß noch heute Millionen gebildeter Kulturmenschen von diesem finsteren Aberglauben völlig beherrscht sind; ja sogar einzelne berühmte Naturforscher haben sich von ihm nicht losmachen können. Zahlreiche spiritistische Zeitschriften verbreiten diesen Gespensterglauben in weitesten Kreisen, und unsere »feinsten Gesellschaftskreise« schämen sich nicht, »Geister« erscheinen zu lassen, welche klopfen, schreiben, »Mitteilungen aus dem Jenseits« machen usw. Man beruft sich in den [S. 190] Kreisen der Spiritisten oft darauf, daß selbst angesehene Naturforscher diesem Aberglauben huldigen. Die bedauerliche Tatsache, daß selbst hervorragende Physiker und Biologen sich dadurch haben irre führen lassen, erklärt sich teils aus ihrem Übermaß an Phantasie und Kritikmangel, teils aus dem mächtigen Einfluß starrer Dogmen, welche religiöse Verziehung dem kindlichen Gehirn in frühester Jugend schon einprägt. Übrigens ist gerade bei den berühmten spiritistischen Vorstellungen in Leipzig, in welchen die Physiker Zöllner, Fechner und Wilhelm Weber durch den schlauen Taschenspieler Slade irre geführt wurden, dessen Schwindel nachträglich klar zutage gekommen; er wurde als gemeiner Betrüger entlarvt und bestraft. Auch in allen anderen Fällen, in welchen die angeblichen »Wunder des Spiritismus« gründlich untersucht werden konnten, hat sich als Ursache eine gröbere oder feinere Täuschung herausgestellt; die sogenannten »Medien« (meist weiblichen Geschlechts) sind teils als schlaue Schwindler entlarvt, teils als nervöse Personen von ungewöhnlicher Reizbarkeit erkannt worden. Ihre angebliche Telepathie (oder »Fernwirkung des Gedankens ohne materielle Vermittelung«) existiert ebensowenig als die »Stimmen der Geister«, die »Seufzer der Gespenster« usw. Die lebhaften Schilderungen, welche Carl du Prel und andere Spiritisten von solchen »Geistererscheinungen« geben, beruhen auf Tätigkeit der freien Phantasie, verbunden mit Mangel an Kritik und an physiologischen Kenntnissen.

Offenbarung. Die meisten Religionen haben trotz ihrer mannigfaltigen Verschiedenheit einen gemeinsamen Grundzug, der zugleich eine ihrer mächtigsten Stützen in weiten Kreisen bildet; sie behaupten, die Rätsel des Daseins, deren Lösung auf natürlichem Wege durch die Vernunft nicht möglich ist, auf übernatürlichem Wege durch Offenbarung geben zu können; zugleich leiten sie daraus die Geltung der Dogmen oder Glaubenssätze ab, welche als »göttliche Gesetze« die Sittenlehre ordnen und die Lebensführung bestimmen sollen. Derartige göttliche Inspirationen bilden die Grundlage zahlreicher Mythen und Legenden, deren anthropistischer Ursprung auf der Hand liegt. Zwar erscheint der Gott, der »sich offenbart«, oft nicht direkt in menschlicher Gestalt, sondern im Donner und Blitz, im Sturm und Erdbeben, im feurigen Busch oder der drohenden Wolke. Aber die Offenbarung selbst, welche er dem gläubigen Menschenkinde gibt, wird in allen Fällen anthropistisch gedacht, als Mitteilung von Vorstellungen oder Befehlen, welche genau so formuliert und ausgesprochen werden, wie es normalerweise nur durch die Großhirnrinde und durch den Kehlkopf des Menschen geschieht. In den [S. 191] indischen und ägyptischen Religionen, in der hellenischen und römischen Mythologie, im Talmud wie im Koran, im Alten wie im Neuen Testament — denken, sprechen und handeln die Götter ganz wie die Menschen, und die Offenbarungen, in denen sie uns die Geheimnisse des Daseins enthüllen, die dunkeln Welträtsel lösen wollen, sind Dichtungen der menschlichen Phantasie. Die Wahrheit, welche der Gläubige darin findet, ist menschliche Erfindung, und der »kindliche Glaube« an diese unvernünftigen Offenbarungen ist Aberglaube.

Die wahre Offenbarung, d. h. die wahre Quelle vernünftiger Erkenntnis, ist nur in der Natur zu finden. Der reiche Schatz wahren Wissens, der den wertvollsten Teil der menschlichen Kultur darstellt, ist einzig und allein den Erfahrungen entsprungen, welche der forschende Verstand durch Naturerkenntnis gewonnen hat, und den Vernunftschlüssen, welche er durch richtige Assozion dieser empirischen Vorstellungen gebildet hat. Jeder vernünftige Mensch mit normalem Gehirn und normalen Sinnen schöpft bei unbefangener Betrachtung aus der Natur diese wahre Offenbarung und befreit sich damit von dem Aberglauben, welchen ihm die Offenbarungen der Religion aufgebürdet haben.

Siebzehntes Kapitel.

Wissenschaft und Christentum.

Monistische Studien über den Kampf zwischen der wissenschaftlichen Erfahrung und der christlichen Offenbarung. Vier Perioden in der historischen Metamorphose der christlichen Religion. Vernunft und Dogma.

Zu den hervorragenden Charakterzügen des 19. Jahrhunderts gehört die wachsende Schärfe des Gegensatzes zwischen Wissenschaft und Christentum. Das ist ganz natürlich und notwendig; denn in demselben Maße, in welchem die siegreichen Fortschritte der modernen Naturerkenntnis alle wissenschaftlichen Eroberungen früherer Jahrhunderte überflügeln, ist zugleich die Unhaltbarkeit aller jener mystischen Weltanschauungen offenbar geworden, welche die Vernunft unter das Joch der sogenannten »Offenbarung« beugen wollten, und dazu gehört auch die christliche Religion. [S. 192] Je sicherer durch die moderne Astronomie, Physik und Chemie die Alleinherrschaft unbeugsamer Naturgesetze im Universum, durch die moderne Botanik, Zoologie und Anthropologie die Gültigkeit derselben Gesetze im Gesamtbereiche der organischen Natur nachgewiesen ist, desto heftiger sträubt sich die christliche Religion, im Vereine mit der dualistischen Metaphysik, die Geltung dieser Naturgesetze im Bereiche des sogenannten »Geisteslebens« anzuerkennen, d. h. in einem Teilgebiete der Gehirnphysiologie.

Diesen offenkundigen und unversöhnlichen Gegensatz zwischen der modernen wissenschaftlichen und der überlebten christlichen Weltanschauung hat niemand klarer, mutiger und unwiderleglicher bewiesen, als der größte Theologe des 19. Jahrhunderts, David Friedrich Strauß. Sein letztes Bekenntnis: »Der alte und der neue Glaube« 1872, (14. Auflage 1900) ist der allgemein gültige Ausdruck der ehrlichen Überzeugung aller derjenigen Gebildeten der Gegenwart, welche den unvermeidlichen Konflikt zwischen den anerzogenen, herrschenden Glaubenslehren des Christentums und den einleuchtenden, vernunftgemäßen Offenbarungen der modernen Naturwissenschaft einsehen; aller derjenigen, welche den Mut finden, das Recht der Vernunft gegenüber den Ansprüchen des Aberglaubens zu wahren, und welche das philosophische Bedürfnis nach einer einheitlichen Naturanschauung empfinden. Strauß hat als ehrlicher und mutiger Freidenker weit besser, als ich es vermag, die wichtigsten Gegensätze zwischen »altem und neuem Glauben« klargelegt. Die volle Unversöhnlichkeit zwischen beiden Gegensätzen, die Unvermeidlichkeit des Entscheidungskampfes zwischen beiden — »auf Tod und Leben« — hat von philosophischer Seite namentlich Eduard Hartmann nachgewiesen in seiner interessanten Schrift über die Selbstzersetzung des Christentums (1874).

Unter den zahlreichen Werken, die im Laufe des 19. Jahrhunderts die wissenschaftliche Kritik des Christentums, seines Wesens und seiner Lehre gefördert haben, sind außerdem namentlich folgende hervorzuheben: David Strauß, Das Leben Jesu für das deutsche Volk. 1864 (11. Auflage, Bonn 1890). Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums. 1841 (4. Aufl. 1883). Paul de Regla (P. Desjardin), Jesus von Nazareth, vom wissenschaftlichen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Standpunkte dargestellt. Leipzig 1894. S. E. Verus, Vergleichende Übersicht der vier Evangelien. Leipzig 1897.

Wenn man die Werke von Strauß und Feuerbach, sowie die »Geschichte der Konflikte zwischen Religion und Wissenschaft« von John William Draper (1875) gelesen hat, könnte es überflüssig [S. 193] erscheinen, diesem Gegenstande hier ein besonderes Kapitel zu widmen. Trotzdem wird es nützlich und notwendig sein, hier einen kritischen Blick auf den historischen Verlauf dieses großen Kampfes zu werfen, und zwar deshalb, weil die Angriffe der streitenden Kirche auf die Wissenschaft im allgemeinen und auf die Entwickelungslehre im besonderen in neuester Zeit besonders scharf und gefahrdrohend geworden sind. Auch ist leider die geistige Erschlaffung, welche sich neuerdings geltend macht, sowie die steigende Flut der Reaktion auf politischem, sozialem und kirchlichem Gebiete nur zu sehr geeignet, jene Gefahren zu verschärfen. Wollte jemand daran zweifeln, so braucht er nur die Verhandlungen der christlichen Synoden und des Deutschen Reichstags in den letzten Jahren zu lesen. Im Einklang damit stehen die Bemühungen vieler weltlicher Regierungen, sich mit dem geistlichen Regimente, ihrem natürlichen Todfeinde, auf möglichst guten Fuß zu setzen, d. h. sich dessen Joche zu unterwerfen; als gemeinsames Ziel schwebt dabei den beiden Verbündeten die Unterdrückung des freien Gedankens und der freien wissenschaftlichen Forschung vor, mit dem Zwecke, sich auf diese Weise am leichtesten die absolute Herrschaft zu sichern.

Wir müssen ausdrücklich betonen, daß es sich hier um notgedrungene Verteidigung der Wissenschaft und der Vernunft gegen die scharfen Angriffe der christlichen Kirche und ihrer gewaltigen Heerscharen handelt, und nicht etwa um unberechtigte Angriffe der ersteren gegen die letzteren. In erster Linie muß dabei unsere Abwehr gegen den Papismus oder Ultramontanismus gerichtet sein; denn diese »allein seligmachende« und »für alle bestimmte« katholische Kirche ist nicht allein weit größer und weit mächtiger als die anderen christlichen Konfessionen, sondern sie besitzt vor allem den Vorzug einer großartigen, zentralisierten Organisation und einer unübertroffenen politischen Schlauheit. Man hört allerdings oft von Naturforschern und von anderen Männern der Wissenschaft die Ansicht äußern, daß der katholische Aberglaube nicht schlimmer sei als die anderen Formen des übernatürlichen Glaubens, und daß diese trügerischen »Gestalten des Glaubens« alle in gleichem Maße die natürlichen Feinde der Vernunft und Wissenschaft seien. Im allgemeinen theoretischen Prinzip ist diese Behauptung richtig, aber in bezug auf die praktischen Folgen irrtümlich; denn die zielbewußten und rücksichtslosen Angriffe der ultramontanen Kirche auf die Wissenschaft, gestützt auf die Trägheit und Dummheit der Volksmassen, sind vermöge ihrer mächtigen Organisation ungleich schwerer und gefährlicher als diejenigen aller anderen Religionen.

[S. 194]

Entwickelung des Christentums. Um die ungeheure Bedeutung des Christentums für die ganze Kulturgeschichte, besonders aber seinen prinzipiellen Gegensatz gegen Vernunft und Wissenschaft richtig zu würdigen, müssen wir einen flüchtigen Blick auf die wichtigsten Abschnitte seiner geschichtlichen Entwickelung werfen. Wir unterscheiden in derselben vier Hauptperioden: I. das Urchristentum (die drei ersten Jahrhunderte), II. den Papismus (zwölf Jahrhunderte, vom vierten bis fünfzehnten), III. die Reformation (drei Jahrhunderte, vom sechzehnten bis achtzehnten), IV. das moderne Scheinchristentum (im neunzehnten Jahrhundert).

I. Das Urchristentum umfaßt die ersten drei Jahrhunderte. Christus selbst, der edle, ganz von Menschenliebe erfüllte Prophet und Schwärmer, stand tief unter dem Niveau der klassischen Kulturbildung; er kannte nur jüdische Tradition; er hat selbst keine einzige Zeile hinterlassen. Auch hatte er von dem hohen Zustande der Welterkenntnis, zu dem griechische Philosophie und Naturforschung schon ein halbes Jahrtausend früher sich erhoben hatten, keine Ahnung. Alles, was wir von ihm und seinen ursprünglichen Lehren wissen, ist den Hauptdokumenten des Neuen Testamentes entnommen — den vier Evangelien und den Episteln des Paulus. Was die vier kanonischen Evangelien betrifft, so wissen wir, daß sie ausgewählt sind aus einem Haufen von sich widersprechenden und gefälschten Manuskripten aus dem 2. Jahrhundert. Der gültige Kanon scheint vor dem Ende des 2. Jahrhunderts festgesetzt zu sein, obwohl Zweifel und Meinungsverschiedenheiten bis weit ins 4. Jahrhundert hineinreichen. Das Konzilium von Nicäa, 325, fügt nach dem hl. Hieronymus ein gewisses Buch in den Kanon ein, was auf eine Ungewißheit bis zu diesem Datum schließen läßt. Neuere Gelehrsamkeit setzt den Zeitpunkt der Abfassung der drei synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus und Lukas — die anerkanntermaßen nach und nicht von diesen Männern geschrieben worden sind) auf 65-100 n. Chr. und das Evangelium von Johannes auf einige Zeit vor 125 fest. Aber es kommt dabei in Betracht, daß, wenn die biblischen Gelehrten von diesen Daten sprechen (im einzelnen — 65-70 für Markus, 70-75 für Matthäus, 80-98 für Lukas, 80-120 für Johannes), sie nicht an die Evangelien denken, wie wir sie heute haben. Bis zum Hl. Justinus mindestens (und selbst er kann nicht als Zeuge des wirklichen Evangeliums von Johannes angeführt werden), das ist also bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts, finden wir nur Erwähnungen (oft sehr fragliche) von Sagen angeführt, die in den Evangelien zu finden sind. Mit andern Worten, wir haben keinerlei authentischen [S. 195] Beweis für die Echtheit irgend einer der Evangelienerzählungen, bis mehr als ein Jahrhundert nach dem Tode Christi. Niemand, der weiß, in welchem Grade Legenden in der orientalischen Atmosphäre anwachsen, kann Dokumenten solch späten Datums nur den geringsten Glauben schenken. Selbst wenn das früheste synoptische Evangelium 70 n. Chr. datiert wäre (wir müssen immer bedenken, daß sich das nur auf »die Aussagen Jesu« bezieht), so wäre noch der weite Spielraum von vierzig Jahren für die Mythenbildung gegeben.

Die dreizehn Episteln des Apostels Paulus, von denen nur vier Anspruch auf Echtheit machen können (Römer, Korinther 2, Galater), vermehren unsere Kenntnis über die Begebenheiten im Leben Jesu nur sehr wenig. So bleiben wir beschränkt auf sehr kärgliche und unsichere Nachforschungen über die Handlungen und die Persönlichkeit des Gründers des Christentums. Der Glaube an die tief eingewurzelten und beliebtesten Traditionen muß gänzlich verlassen werden. Die Geschichte von der wunderbaren Geburt Christi wird verworfen; dieser Mythus wird sowohl von den führenden christlichen Gelehrten Deutschlands als auch Englands für eine der spätesten und der wenigst glaubwürdigen »biblischen Geschichten« erklärt, mit anderen Worten: für eine später eingeschobene wertlose Fälschung. Die Sagen von der Auferstehung und von der Himmelfahrt Christi erfahren jetzt ein gleiches Schicksal. Das Neue Testament wird zerstört wie das Alte, und die schöne Figur von Jesus löst sich zusehends in ein Nebelbild auf.

Die unbefangenen und scharfsinnigen Forschungen der deutschen Theologen (Strauß, Feuerbach, Baur u. a.), denen sich später auch englische, französische und italienische Philosophen anschlossen, hatten schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts gezeigt, daß das »Leben Jesu« zum größten Teile ein Erzeugnis der religiösen Dichtung, ähnlich der von Buddha ist, und daß keine zuverlässigen historischen Quellen darüber existieren. Viel klarer ergibt sich das aus den überraschenden kritischen Forschungen der vergleichenden Religionsgeschichte im Beginne des 20. Jahrhunderts. Danach bleibt weder von den einzelnen Wundergeschichten und Sagen, noch von dem ganzen dogmatischen Lehrgebäude des Christentums etwas Originelles von Bedeutung mehr bestehen. Denn fast alles, was uns die Evangelien davon erzählen, ist aus älteren orientalischen Quellen zusammengetragen und entstammt den babylonischen und assyrischen, den indischen und hellenischen Sagenkreisen. Hervorragende Kritiker gehen noch weiter und führen mit großer Wahrscheinlichkeit den Beweis, daß der Jesus des Evangeliums überhaupt niemals gelebt hat, sondern ein reines [S. 196] Idealbild der Dichtung ist. Vergl. die interessanten Schriften von Kalthoff und Promus über »die Entstehung des Christentums« (1904) und von Karl Vollers: »Die Weltreligionen in ihrem geschichtlichen Zusammenhange« (1907), ferner die sehr scharfe Kritik des englischen Theologen Saladin (Stewart Roß): »Jehovahs gesammelte Werke, eine kritische Untersuchung des christlichen Religionsgebäudes auf Grund der Bibelforschung« (Leipzig 1896).

II. Der Papismus, das »lateinische Christentum« oder Papsttum. Der Papismus oder die »römisch-katholische Kirche«, oft auch Ultramontanismus oder nach ihrer Residenz Vatikanismus genannt, ist unter allen Erscheinungen der menschlichen Kulturgeschichte eine der großartigsten und merkwürdigsten, eine »welthistorische Größe« ersten Ranges. Trotz aller Stürme der Zeit erfreut sie sich noch heute des mächtigsten Einflusses. Von den 500 Millionen Christen, welche die Erde gegenwärtig bewohnen, bekennt die größere Hälfte, nämlich über 250 Millionen, den römischen, nur 75 Millionen den griechischen Katholizismus, und 120 Millionen sind Protestanten. Während eines Zeitraumes von 1200 Jahren, vom vierten bis zum sechzehnten Jahrhundert, hat der Papismus das geistige Leben Europas fast vollkommen beherrscht; dagegen hat er den großen alten Religionssystemen in Asien und Afrika nur sehr wenig Boden abgewonnen. In Asien zählt der Buddhismus heute noch ungefähr 503 Millionen, die Brahmareligion 140 Millionen, der stetig vordringende Islam mehr als 120 Millionen Anhänger. Die Weltherrschaft des Papismus prägt vor allem dem Mittelalter seinen finsteren Charakter auf; sie bedeutet den Tod alles freien Geisteslebens, den Rückgang aller wahren Wissenschaft, den Verfall aller reinen Sittlichkeit. Von der glänzenden Blüte, zu welcher sich das menschliche Geistesleben im klassischen Altertum erhoben hatte, im ersten Jahrtausend vor Christus und in den ersten Jahrhunderten nach demselben, sank dasselbe unter der Herrschaft des Papsttums bald zu einem Niveau herab, das mit Bezug auf die Erkenntnis der Wahrheit nur als Barbarei bezeichnet werden kann. Man rühmt wohl am Mittelalter, daß andere Seiten des Geisteslebens darin zu reicher Entfaltung gekommen seien, Dichtkunst und bildende Kunst, scholastische Gelehrsamkeit und patristische Philosophie. Aber diese Kulturtätigkeit befand sich im Dienste der herrschenden Kirche und wurde nicht zur Hebung, sondern zur Unterdrückung der freien Geistesforschung verwandt. Die ausschließliche Vorbereitung für ein unbekanntes »ewiges Leben im Jenseits«, die Verachtung der Natur, die Abwendung von ihrem Studium, welche im Prinzip der christlichen Religion innewohnt, wurde von der römischen [S. 197] Hierarchie zur heiligen Pflicht gemacht. Eine durchgreifende Wandlung zum Besseren brachte erst im Beginn des 16. Jahrhunderts die Reformation.

Rückschritte der Kultur im Mittelalter. Es würde uns viel zu weit führen, wenn wir hier die jammervollen Rückschritte schildern wollten, welche menschliche Kultur und Gesittung während zwölf Jahrhunderte unter der geistigen Gewaltherrschaft des Papismus erlitten. Am prägnantesten sind sie wohl durch einen einzigen Satz des größten und geistreichsten Hohenzollernfürsten illustriert; Friedrich der Große faßte sein Urteil in dem Satze zusammen, man werde durch das Studium der Geschichte zu der Überzeugung geführt, daß von Konstantin dem Großen bis auf die Zeit der Reformation die ganze Welt wahnsinnig gewesen sei. Eine vortreffliche kurze Schilderung dieser »Wahnsinnsperiode« hat (1887) L. Büchner gegeben in seiner Schrift »Über religiöse und wissenschaftliche Weltanschauung«.

Unter den historischen Tatsachen, welche am einleuchtendsten die Verwerflichkeit der ultramontanen Geistestyrannei beweisen, interessiert uns vor allem ihre energische und konsequente Bekämpfung der wahren Wissenschaft als solcher. Diese war zwar schon von Anfang an prinzipiell im Christentum dadurch bestimmt, daß dasselbe den Glauben über die Vernunft stellte und die blinde Unterwerfung der letzteren unter den ersteren forderte; nicht minder dadurch, daß es das ganze Erdenleben nur als eine Vorbereitung für das erdichtete »Jenseits« betrachtete, also auch der wissenschaftlichen Forschung an sich jeden Wert absprach. Allein die planmäßige und erfolgreiche Bekämpfung der letzteren begann doch erst im Anfange des vierten Jahrhunderts, besonders seit dem berüchtigten Konzil von Nicäa (325), welchem Kaiser Konstantin präsidierte, — »der Große« genannt, weil er das Christentum zur Staatsreligion erhob und Konstantinopel gründete, dabei ein nichtswürdiger Charakter, ein falscher Heuchler und vielfacher Mörder. Wie erfolgreich der Papismus in seinem Kampfe gegen jedes selbständige wissenschaftliche Denken und Forschen war, beweist am besten der jammervolle Zustand der Naturerkenntnis und ihrer Literatur im Mittelalter. Nicht nur wurden die reichen Geistesschätze, welche das klassische Altertum hinterlassen hatte, zum größten Teile vernichtet oder der Verbreitung entzogen, sondern Folterknechte und Scheiterhaufen sorgten dafür, daß jeder »Ketzer«, d. h. jeder selbständige Denker, seine vernünftigen Gedanken für sich behielt. Tat er das nicht, so mußte er sich darauf gefaßt machen, lebendig verbrannt zu werden, wie es dem großen monistischen Philosophen Giordano Bruno, dem Reformator Johann Hus und mehr als hunderttausend [S. 198] anderen »Zeugen der Wahrheit« geschah. Die Geschichte der Wissenschaften im Mittelalter belehrt uns auf jeder Seite, daß das selbständige Denken und die empirische wissenschaftliche Forschung unter dem Drucke des allmächtigen Papismus durch zwölf traurige Jahrhunderte wirklich völlig begraben blieben.

Papismus und Christentum. Alles das, was wir am wahren Christentum im Sinne seines Stifters und seiner edelsten Nachfolger hochschätzen, und was wir aus dem unausbleiblichen Untergange dieser »Weltreligion« in unsere neue, monistische Religion hinüber zu retten suchen müssen, liegt auf seiner ethischen und sozialen Seite. Die Prinzipien der wahren Humanität, der goldenen Regel, der Toleranz, der Menschenliebe im besten und höchsten Sinne des Wortes, alle diese wahren Lichtseiten des Christentums sind zwar nicht von ihm zuerst erfunden und aufgestellt, aber doch erfolgreich in jener kritischen Periode zur Geltung gebracht worden, in der das klassische Altertum seiner Auflösung entgegenging. Der Papismus aber hat es verstanden, alle jene Tugenden in ihr direktes Gegenteil zu verkehren und dabei doch die alte Firma als Aushängeschild zu bewahren. An die Stelle der christlichen Liebe trat der fanatische Haß gegen alle Andersgläubigen; mit Feuer und Schwert wurden nicht allein die Heiden ausgerottet, sondern auch jene christlichen Sekten, welche in besserer Erkenntnis Einwendungen gegen die aufgezwungenen Lehrsätze des ultramontanen Aberglaubens zu erheben wagten. Überall in Europa blühten die Ketzergerichte und forderten unzählige Opfer, deren Folterqualen ihren frommen, von »christlicher Bruderliebe« erfüllten Peinigern besonderes Vergnügen bereiteten. Die Papstmacht wütete auf ihrer Höhe durch Jahrhunderte erbarmungslos gegen alles, was ihrer Herrschaft im Wege stand. Unter dem berüchtigten Großinquisitor Torquemada (1481-1498) wurden in Spanien allein achttausend Ketzer lebendig verbrannt, neunzigtausend mit Einziehung des Vermögens und den empfindlichsten Kirchenbußen bestraft, während in den Niederlanden unter der Herrschaft Karl des Fünften dem klerikalen Blutdurst mindestens fünfzigtausend Menschen zum Opfer fielen. Und während das Geheul gemarterter Menschen die Luft erfüllte, strömten in Rom, dem die ganze christliche Welt tributpflichtig war, die Reichtümer der halben Welt zusammen, und wälzten sich die angeblichen Stellvertreter Gottes auf Erden und ihre Helfershelfer in Lüsten und Lastern jeder Art. »Welche Vorteile,« sagte der frivole und syphilitische Papst Leo X. ironisch, »hat uns doch diese Fabel von Jesus Christus gebracht!« Dabei war der Zustand der europäischen Gesellschaft trotz Kirchenzucht und Gottesfurcht von der allerschlimmsten Art. Feudalismus, [S. 199] Leibeigenschaft, Gottesgnadentum und Mönchtum beherrschten das Land, und die armen Heloten waren froh, wenn sie ihre elenden Hütten im Machtbereiche der Schlösser oder Klöster ihrer geistlichen und weltlichen Unterdrücker und Ausbeuter errichten durften. Heutzutage noch leiden wir unter den Nachwehen und Überbleibseln dieser traurigen Zustände und Zeiten, in welchen von Pflege der Wissenschaft und höherer Geistesbildung nur ausnahmsweise und im Verborgenen die Rede sein konnte. »Unwissenheit, Armut und Aberglaube vereinigten sich mit der entsittlichenden Wirkung des im elften Jahrhundert eingeführten Zölibats, um die absolute Papstmacht immer stärker werden zu lassen« (Büchner a. a. O.). Man hat berechnet, daß während dieser Glanzperiode des Papismus über zehn Millionen Menschen dem fanatischen Glaubenshaß der »christlichen Liebe« zum Opfer fielen; und wie viel mehr Millionen betrugen die geheimen Menschenopfer, welche das Zölibat, die Ohrenbeichte und der Gewissenszwang erforderten, die gemeinschädlichsten und fluchwürdigsten Institutionen des päpstlichen Absolutismus! Die »ungläubigen« Philosophen, welche Beweise gegen das Dasein Gottes sammelten, haben einen der stärksten Beweise dagegen übersehen, die Tatsache, daß die römischen »Statthalter Christi zwölf Jahrhunderte« hindurch ungestraft die greulichsten Verbrechen und Schandtaten »im Namen Gottes« verüben durften.

III. Die Reformation. Die Geschichte der Kulturvölker, welche wir »die Weltgeschichte« zu nennen belieben, läßt deren dritten Hauptabschnitt, die »Neuzeit«, mit der Reformation der christlichen Kirche beginnen, ebenso wie den zweiten, das Mittelalter, mit der Gründung des Christentums, und sie tut recht daran. Denn mit der Reformation beginnt die Wiedergeburt der gefesselten Vernunft, das Wiedererwachen der Wissenschaft, welche die eiserne Faust des christlichen Papismus durch 1200 Jahre gewaltsam niedergehalten hatte. Allerdings hatte die Verbreitung allgemeiner Bildung durch die Buchdruckerkunst schon um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts begonnen, und gegen Ende desselben traten mehrere große Ereignisse ein, welche im Verein mit der »Renaissance« der Kunst auch diejenige der Wissenschaft vorbereiteten, vor allem die Entdeckung von Amerika (1492). Auch wurden in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts mehrere höchst wichtige Fortschritte in der Erkenntnis der Natur gemacht, welche die bestehende Weltanschauung in ihren Grundfesten erschütterten; so die erste Umschiffung der Erde durch Magellan, welche den empirischen Beweis für ihre Kugelgestalt lieferte (1522); die Gründung des neuen Weltsystems durch Kopernikus (1543). [S. 200] Aber der 31. Oktober 1517, an welchem Martin Luther seine 95 Thesen an die hölzerne Tür der Schloßkirche zu Wittenberg nagelte, bleibt daneben ein weltgeschichtlicher Tag; denn damit wurde die eiserne Tür des Kerkers gesprengt, in dem der päpstliche Absolutismus durch 1200 Jahre die gefesselte Vernunft eingeschlossen gehalten hatte. Man hat die Verdienste des großen Reformators, der auf der Wartburg die Bibel übersetzte, teils übertrieben, teils unterschätzt; man hat auch mit Recht darauf hingewiesen, wie er gleich den anderen Reformatoren noch vielfach im tiefsten Aberglauben befangen blieb. So konnte sich Luther zeitlebens nicht von dem starren Buchstabenglauben der Bibel befreien; er verteidigte eifrig die Lehre von der Auferstehung, der Erbsünde und Prädestination, der Rechtfertigung durch den Glauben usw. Die gewaltige Geistestat des Kopernikus verwarf er als Narrheit, weil in der Bibel »Josua die Sonne stillstehen hieß und nicht das Erdreich«. Für die großen politischen Umwälzungen seiner Zeit, besonders die großartige und vollberechtigte Bauernbewegung, hatte er kein Verständnis. Schlimmer noch war der fanatische Reformator Calvin in Genf, welcher (1553) den geistreichen spanischen Arzt Serveto lebendig verbrennen ließ, weil er den unsinnigen Glauben an die Dreieinigkeit bekämpfte. Überhaupt traten die fanatischen »Rechtgläubigen« der reformierten Kirche nur zu oft in die blutbefleckten Fußtapfen ihrer papistischen Todfeinde, wie sie es auch heute noch tun. Leider folgten auch ungeheure Greueltaten der Reformation auf dem Fuße: die Bartholomäusnacht und die Hugenottenverfolgung in Frankreich, blutige Ketzerjagden in Italien, lange Bürgerkriege in England, der Dreißigjährige Krieg in Deutschland. Aber trotz alledem bleibt dem sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert der Ruhm, dem denkenden Menschengeiste zuerst wieder freie Bahn geschaffen und die Vernunft von dem erstickenden Drucke der papistischen Herrschaft befreit zu haben. Erst dadurch wurde die mächtige Entfaltung verschiedener Richtungen der kritischen Philosophie und neuer Bahnen der Naturforschung möglich, welche dann dem folgenden achtzehnten Jahrhundert den Ehrentitel des »Jahrhunderts der Aufklärung« erwarb.

IV. Das Scheinchristentum des neunzehnten Jahrhunderts. Als vierten und letzten Hauptabschnitt in der Geschichte des Christentums stellen wir das 19. Jahrhundert seinen Vorgängern gegenüber. Wenn in diesen letzteren bereits die »Aufklärung« nach allen Richtungen hin die kritische Philosophie gefördert, und wenn ihr das Aufblühen der Naturwissenschaften die stärksten empirischen Waffen in die Hände gegeben hatte, so erscheint uns doch der Fortschritt nach beiden Richtungen hin in unserem 19. Jahrhundert [S. 201] ganz gewaltig; es beginnt damit wiederum eine ganz neue Periode in der Geschichte des Menschengeistes, charakterisiert durch die Entwickelung der monistischen Naturphilosophie. Schon im Beginne desselben wurde der Grund zu einer neuen Anthropologie gelegt (durch die vergleichende Anatomie von Cuvier) und zu einer neuen Biologie (durch die Philosophie zoologique von Lamarck). Bald folgten diesen beiden großen Franzosen zwei ebenbürtige Deutsche, Baer als Begründer der Entwickelungsgeschichte (1828) und Johannes Müller (1834) als der der vergleichenden Morphologie und Physiologie. Ein Schüler des letzteren, Theodor Schwann, schuf 1838, im Verein mit Matthias Schleiden, die grundlegende Zellentheorie. Schon vorher hatte Lyell (1830) die Entwickelungsgeschichte der Erde auf natürliche Ursachen zurückgeführt und damit auch für unseren Planeten die Geltung der mechanischen Kosmogenie bestätigt, welche Kant bereits 1755 mit kühner Hand entworfen hatte. Endlich wurde durch Robert Mayer und Helmholtz (1842) das Energieprinzip festgestellt und damit die zweite, ergänzende Hälfte des großen Substanzgesetzes gegeben, dessen erste Hälfte die Konstanz der Materie, schon Lavoisier 1789 entdeckt hatte. Allen diesen tiefen Einblicken in das innere Wesen der Natur setzte dann 1859 Charles Darwin die Krone auf durch seine neue Entwickelungslehre, das größte naturphilosophische Ereignis des 19. Jahrhunderts.

Wie verhält sich nun zu diesen gewaltigen Fortschritten der Naturerkenntnis das moderne Christentum? Zunächst wurde naturgemäß die tiefe Kluft zwischen seinen beiden Hauptrichtungen immer größer, zwischen dem konservativen Papismus und dem progressiven Protestantismus. Der ultramontane Klerus ( — und im Verein mit ihm die orthodoxe »Evangelische Allianz« — ) mußten naturgemäß jenen mächtigen Eroberungen des freien Geistes den heftigsten Widerstand entgegensetzen; sie verharrten unbeirrt auf ihrem strengen Buchstabenglauben und verlangten die unbedingte Unterwerfung der Vernunft unter das Dogma. Der liberale Protestantismus hingegen verflüchtigte sich immer mehr zu einem monistischen Pantheismus und strebte nach Versöhnung der beiden entgegengesetzten Prinzipien; er suchte die unvermeidliche Anerkennung der empirisch bewiesenen Naturgesetze und der daraus gefolgerten philosophischen Schlüsse mit einer geläuterten Religionsform zu verbinden, in der freilich von der eigentlichen Glaubenslehre fast nichts mehr übrig blieb. Zwischen beiden Extremen bewegten sich zahlreiche Kompromißversuche; darüber hinaus aber drang in immer weitere Kreise die Überzeugung, daß das dogmatische Christentum überhaupt jeden Boden [S. 202] verloren habe, und daß man nur seinen wertvollen ethischen Inhalt in die neue, monistische Religion des 20. Jahrhunderts hinüberretten könne. Da jedoch gleichzeitig die gegebenen äußeren Formen der herrschenden christlichen Religion fortbestanden, da sie sogar trotz der fortgeschrittenen politischen Entwickelung mit den praktischen Bedürfnissen des Staates immer enger verknüpft wurden, entwickelte sich jene weitverbreitete religiöse Weltanschauung der gebildeten Kreise, die wir nur als Scheinchristentum bezeichnen können — im Grunde eine »religiöse Lüge« bedenklichster Art. Die großen Gefahren, welche dieser tiefe Konflikt zwischen der wahren Überzeugung und dem falschen Bekenntnis der modernen Scheinchristen mit sich bringt, hat u. a. trefflich Max Nordau geschildert in seinem interessanten Werke: »Die konventionellen Lügen der Kulturmenschheit

Inmitten dieser offenkundigen Unwahrhaftigkeit des herrschenden Scheinchristentums ist es für den Fortschritt der vernunftgemäßen Naturerkenntnis sehr wertvoll, daß dessen mächtigster und entschiedenster Gegner, der Papismus, um die Mitte des 19. Jahrhunderts die alte Maske angeblicher höherer Geistesbildung abgeworfen und der selbständigen Wissenschaft als solcher den entscheidenden »Kampf auf Tod und Leben« angekündigt hat. Es geschah dies in drei bedeutungsvollen Kriegserklärungen gegen die Vernunft, für deren Unzweideutigkeit und Entschiedenheit die moderne Wissenschaft und Kultur dem römischen »Statthalter Christi« nur dankbar sein kann: I. Im Dezember 1854 verkündete der Papst das Dogma von der unbefleckten Empfängnis Mariä. II. Zehn Jahre später, im Dezember 1864, sprach der »heilige Vater« in der berüchtigten Enzyklika das absolute Verdammungsurteil über die ganze moderne Zivilisation und Geistesbildung aus; in dem begleitenden Syllabus gab er eine Aufzählung und Verfluchung aller einzelnen Vernunftsätze und philosophischen Prinzipien, welche von unserer modernen Wissenschaft als sonnenklare Wahrheit anerkannt sind. III. Endlich setzte sechs Jahre später, am 13. Juli 1870, der streitbare Kirchenfürst im Vatikan seinem Aberwitz die Krone auf, indem er für sich und alle seine Vorgänger in der Papstwürde die Unfehlbarkeit in Anspruch nahm.

Unfehlbarkeit des Papstes. Diese drei wichtigsten Akte des Papismus im 19. Jahrhundert waren so offenkundige Faustschläge in das Antlitz der Vernunft, daß sie selbst innerhalb der orthodoxen katholischen Kreise von Anfang an das höchste Bedenken erregten. Als man im vatikanischen Konzil am 13. Juli 1870 zur Abstimmung über das Dogma von der Unfehlbarkeit schritt, erklärten sich nur [S. 203] drei Viertel der Kirchenfürsten zugunsten desselben, nämlich 451 von 601 Abstimmenden; dazu fehlten noch zahlreiche andere Bischöfe, welche sich der gefährlichen Abstimmung enthalten wollten. Indessen zeigte sich bald, daß der kluge und menschenkundige Papst richtiger gerechnet hatte als die zaghaften »besonnenen Katholiken«; denn in den leichtgläubigen und ungebildeten Massen fand auch dieses ungeheuerliche Dogma trotz aller Bedenken blinde Annahme.

Die ganze Geschichte des Papsttums, wie sie von zuverlässigen Quellen und handgreiflichen historischen Dokumenten unwiderleglich festgenagelt ist, erscheint für den unbefangenen Kenner als ein gewissenloses Gewebe von Lug und Trug, als ein rücksichtsloses Streben nach absoluter geistlicher Herrschaft und weltlicher Macht, als eine frivole Verleugnung aller der hohen sittlichen Gebote, welche das wahre Christentum predigt: Menschenliebe, und Duldung, Wahrheit und Keuschheit, Armut und Entsagung. Wenn man die lange Reihe der Päpste und der römischen Kirchenfürsten, aus denen sie gewählt wurden, nach dem Maßstabe der reinen christlichen Moral mustert, ergibt sich klar, daß die große Mehrzahl derselben schamlose Gaukler und Betrüger waren, viele von ihnen nichtswürdige Verbrecher. Diese allbekannten historischen Tatsachen hindern aber nicht, daß noch heute Millionen von »gebildeten« gläubigen Katholiken an die »Unfehlbarkeit« dieses »heiligen Vaters« glauben und durch Spenden von »Peterspfennigen« sein Regiment stützen; sie hindern nicht, daß noch heute protestantische Fürsten nach Rom fahren und dem »heiligen Vater« (ihrem gefährlichsten Feinde!) ihre Verehrung bezeugen.

Enzyklika und Syllabus. Unter den angeführten drei großen Gewalttaten, durch welche der moderne Papismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seine absolute Herrschaft zu retten und zu befestigen suchte, ist für uns am interessantesten die Verkündigung der Enzyklika und des Syllabus im Dezember 1864; denn in diesen denkwürdigen Aktenstücken wird der Vernunft und Wissenschaft überhaupt jede selbständige Tätigkeit abgesprochen und ihre absolute Unterwerfung unter den »alleinseligmachenden Glauben«, d. h. unter die Dekrete des »unfehlbaren Papstes«, gefordert. Die ungeheure Erregung, welche diese maßlose Frechheit in allen gebildeten und unabhängig denkenden Kreisen hervorrief, entsprach dem ungeheuerlichen Inhalte der Enzyklika; eine vortreffliche Erörterung ihrer kulturellen und politischen Bedeutung hat u. a. Draper in seiner Geschichte der Konflikte zwischen Religion und Wissenschaft gegeben (1875).

Unbefleckte Empfängnis der Jungfrau Maria. Weniger einschneidend und bedeutungsvoll als die Enzyklika und als das Dogma [S. 204] der Infallibilität des Papstes erscheint vielleicht das Dogma von der unbefleckten Empfängnis. Indessen legt nicht nur die römische Hierarchie auf diesen Glaubenssatz das höchste Gewicht, sondern auch ein Teil der orthodoxen Protestanten (z. B. die Evangelische Allianz). Der sogenannte »Immakulateid«, d. h. die eidliche Versicherung des Glaubens an die unbefleckte Empfängnis Mariä, gilt noch heute Millionen von Christen als heilige Pflicht. Viele Gläubige verbinden damit einen doppelten Begriff; sie behaupten, daß die Mutter der Jungfrau Maria ebenso durch den »Heiligen Geist« befruchtet worden sei wie diese selbst. Jedoch soll ursprünglich das Dogma der unbefleckten Empfängnis nur bedeuten, daß Maria selbst eine Tochter des heiligen Geistes, und daher frei von Erbsünde sei. Die vergleichende und kritische Theologie hat neuerdings nachgewiesen, daß auch dieser Mythus, gleich den meisten anderen Legenden der christlichen Mythologie, keineswegs originell, sondern aus älteren orientalischen Religionen, besonders dem Buddhismus, übernommen ist. Ähnliche Sagen hatten schon mehrere Jahrhunderte vor Christi Geburt eine weite Verbreitung in Indien, Persien, Kleinasien und Griechenland. Wenn Königstöchter oder andere Jungfrauen aus höheren Ständen, ohne legitim verheiratet zu sein, durch die Geburt eines Kindes erfreut wurden, so wurde als der Vater dieses illegitimen Sprößlings meistens ein »Gott« oder »Halbgott« ausgegeben, in diesem Falle der mysteriöse »Heilige Geist«.

Die Erzählung der beiden Evangelisten Matthäus und Lukas, daß auch Maria selbst vom heiligen Geiste befruchtet und demnach dieser rätselhafte Gott der wahre Vater von Christus sei, wird gegenwärtig von den meisten Theologen als eine später entstandene Sage angesehen; sie behaupten, daß der jüdische Zimmermann Joseph der wirkliche Vater gewesen sei. Andere wieder erklären die uneheliche Geburt Christi durch folgende Angabe eines apokryphen Evangeliums, auf welche sich auch Celsus (178 n. Chr.) bezieht: »Josephus Pandera, der römische Hauptmann einer kalabresischen Legion, welche in Judäa stand, verführte Mirjam von Bethlehem, ein hebräisches Mädchen, und wurde der Vater von Jesus.« Diese Legende fand besonders bei jenen Theologen Beifall, welche die übernatürliche Erzeugung Christi (durch den heiligen Geist) leugneten, aber als seinen natürlichen Vater nicht einen Juden (den Zimmermann Joseph), sondern einen Griechen (den Hauptmann Pandera oder Pantheras) anerkannt zu sehen wünschten. Historische Zeugnisse, die wissenschaftliche Bedeutung beanspruchen, können weder für die Wahrheit der einen noch der anderen Sage gefunden werden.

[S. 205]

Interessant ist übrigens die verschiedene Auffassung und Beurteilung, welche dieser angebliche Liebesroman der Mirjam von seiten der vier großen christlichen Kulturnationen Europas erfahren hat. Nach den strengeren Moralbegriffen der germanischen Rassen wird derselbe schlechtweg verworfen; lieber glaubt der ehrliche Deutsche und der prüde Brite blind an die unmögliche Sage von der Erzeugung durch den »Heiligen Geist«. Wie bekannt, entspricht diese strenge, sorgfältig zur Schau getragene Prüderie der feineren Gesellschaft (besonders in England!) keineswegs dem wahren Zustande der sexuellen Sittlichkeit in dem dortigen »High life«. Die Enthüllungen z. B., welche darüber vor einigen Jahren die »Pall Mall Gazette« brachte, erinnerten sehr an die Zustände von Babylon und an das Rom der Kaiserzeit.

Die romanischen Rassen, welche diese Prüderie verlachen und die sexuellen Verhältnisse leichtfertiger beurteilen, finden jenen »Roman der Maria« recht anziehend, und der besondere Kultus, dessen gerade in Frankreich und Italien »Unsere liebe Frau« sich erfreut, ist oft in merkwürdiger Naivetät mit jener Liebesgeschichte verknüpft. So findet z. B. Paul de Regla (Dr. Desjardin), welcher (1894) »Jesus von Nazareth vom wissenschaftlichen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Standpunkte aus dargestellt« hat, gerade in der unehelichen Geburt Christi ein besonderes »Anrecht auf den Heiligenschein, der seine herrliche Gestalt umstrahlt«!

Der Streit über diese drei verschiedenen Mythen von der Vaterschaft Christi, der noch zu Ende des 19. Jahrhunderts die Theologen lebhaft erregte, hat gegenwärtig an Interesse sehr verloren. Denn die überraschenden Fortschritte der vergleichenden Religionsgeschichte haben das ganze orientalische Prachtgebäude der christlichen Mythologie in seinen Grundfesten erschüttert. Das reine Idealbild von Jesus Christus, dessen erhabene Züge der Gläubige aus dem Neuen Testament sich zusammensetzt, hat als wirklicher Mensch (oder »Gottmensch«) in dieser Vollkommenheit niemals auf unserem Planeten existiert. Der hohe ethische Wert des ursprünglichen reinen Christentums, der veredelnde Einfluß dieser »Religion der Liebe« auf die Kulturgeschichte, ist ganz unabhängig von jenen mythologischen Dogmen. Die angeblichen »Offenbarungen«, auf welche sich diese Mythen stützen, sind dagegen ( — ebenso wie sämtliche Wundergeschichten des Alten und des Neuen Testaments — ) Erzeugnisse der dichtenden Phantasie; sie bleiben unvereinbar mit den sichersten Ergebnissen unserer modernen Naturerkenntnis.

[S. 206]

Achtzehntes Kapitel.

Unsere monistische Religion.

Monistische Studien über die Religion der Vernunft und ihre Harmonie mit der Wissenschaft. Die drei Kultusideale des Wahren, Guten und Schönen.

Viele und sehr angesehene Naturforscher und Philosophen der Gegenwart, welche unsere monistischen Überzeugungen teilen, halten die Religion überhaupt für eine abgetane Sache. Sie meinen, daß die klare Einsicht in die Weltentwickelung, die wir den gewaltigen Erkenntnisfortschritten des 19. Jahrhunderts verdanken, nicht bloß das Kausalitätsbedürfnis unserer Vernunft vollkommen befriedige, sondern auch die höchsten Gefühlsbedürfnisse unseres Gemütes. Diese Ansicht ist in gewissem Sinne richtig, insofern bei einer vollkommen klaren und folgerichtigen Auffassung des Monismus tatsächlich die beiden Begriffe von Religion und Wissenschaft zu einem mit einander verschmelzen. Indessen nur wenige entschlossene Denker ringen sich zu dieser höchsten und reinsten Auffassung von Spinoza und Goethe empor; vielmehr verharren die meisten Gebildeten unserer Zeit bei der Überzeugung, daß die Religion ein selbständiges, von der Wissenschaft unabhängiges Gebiet unseres Geisteslebens darstelle, nicht minder wertvoll und unentbehrlich als die letztere.

Wenn wir diesen Standpunkt einnehmen, können wir eine Versöhnung zwischen jenen beiden großen, anscheinend getrennten Gebieten in der Auffassung finden, welche ich 1892 in meinem Altenburger Vortrage niedergelegt habe: »Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft« (14. Aufl. 1908). In dem Vorwort zu diesem »Glaubensbekenntnis eines Naturforschers« habe ich mich über dessen doppelten Zweck mit folgenden Worten geäußert: »Erstens möchte ich damit derjenigen vernünftigen Weltanschauung Ausdruck geben, welche uns durch die neueren Fortschritte der einheitlichen Naturerkenntnis mit logischer Notwendigkeit aufgedrungen wird; sie wohnt im Innersten von fast allen unbefangenen und denkenden Naturforschern, wenn auch nur wenige den Mut oder das Bedürfnis haben, sie offen zu bekennen. Zweitens möchte ich dadurch ein Band zwischen Religion und Wissenschaft knüpfen und somit zur Ausgleichung des Gegensatzes [S. 207] beitragen, welcher zwischen diesen beiden Gebieten der höchsten menschlichen Geistestätigkeit unnötigerweise aufrecht erhalten wird; das ethische Bedürfnis unseres Gemütes wird durch den Monismus ebenso befriedigt wie das logische Kausalitätsbedürfnis unseres Verstandes

Die starke Wirkung, welche dieser Altenburger Vortrag hatte, beweist, daß ich mit diesem monistischen Glaubensbekenntnis nicht nur das vieler Naturforscher, sondern auch zahlreicher gebildeter Männer und Frauen aus verschiedenen Berufskreisen ausgesprochen hatte. Ich durfte diesen unerwarteten Erfolg um so höher anschlagen, als jenes Glaubensbekenntnis ursprünglich eine freie Gelegenheitsrede war, die unvorbereitet am 9. Oktober 1892 in Altenburg während des Jubiläums der Naturforschenden Gesellschaft des Osterlandes entstand. Natürlich erfolgte auch bald die notwendige Gegenwirkung nach der anderen Seite; ich wurde nicht nur von der ultramontanen Presse des Papismus auf das Heftigste angegriffen, von den geschworenen Verteidigern des Aberglaubens, sondern auch von »liberalen« Kriegsmännern des evangelischen Christentums, welche sowohl die wissenschaftliche Wahrheit als auch den aufgeklärten Glauben zu vertreten behaupten. Nun hat sich aber der große Kampf zwischen der modernen Naturwissenschaft und dem orthodoxen Christentum seitdem immer drohender gestaltet; er ist für die erstere um so gefährlicher geworden, je mächtigere Unterstützung das letztere durch die wachsende geistige und politische Reaktion gefunden hat. Diese ist in manchen Ländern schon so weit vorgeschritten, daß die gesetzlich garantierte Denk- und Gewissensfreiheit praktisch schwer gefährdet wird. In der Tat hat der große weltgeschichtliche Geisteskampf, welchen John Draper in seiner »Geschichte der Konflikte zwischen Religion und Wissenschaft« vortrefflich schildert, heute eine Schärfe und Bedeutung erlangt wie nie zuvor; man bezeichnet ihn deshalb seit 1872 mit Recht als »Kulturkampf«.

Der Kulturkampf. Die berühmte Enzyklika nebst Syllabus, welche der streitbare Papst Pius IX. 1864 in alle Welt gesandt hatte, erklärte in der Hauptsache der ganzen modernen Wissenschaft den Krieg; sie forderte blinde Unterwerfung der Vernunft unter die Dogmen des »unfehlbaren Statthalters Christi«. Das Ungeheuerliche und Unerhörte dieses brutalen Attentates gegen die höchsten Güter der Kulturmenschheit rüttelte selbst viele träge und indolente Gemüter aus ihrem gewohnten Glaubensschlafe. Im Vereine mit der nachfolgenden Verkündung der päpstlichen Unfehlbarkeit (1870) rief die Enzyklika eine weitgehende Erregung hervor und eine energische Abwehr, welche zu den besten Hoffnungen berechtigte. [S. 208] In dem neuen Deutschen Reiche, das in den Kämpfen von 1866 und 1871 unter schweren Opfern seine nationale Einheit errungen hatte, wurden die frechen Attentate des Papismus besonders schwer empfunden; denn einerseits ist Deutschland die Geburtsstätte der Reformation und der modernen Geistesbefreiung; andererseits aber besitzt es leider in seinen 20 Millionen Katholiken ein mächtiges Heer von streitbaren Gläubigen, welches an blindem Gehorsam gegen die Befehle seines Oberhirten von keinem anderen Kulturvolke übertroffen wird. Christus sagt zu Petrus: »Weide meine Schafe!« Die Nachkommen auf dem Stuhle Petri haben das »Weiden« in »Scheeren« übersetzt. Die hieraus entspringenden Gefahren erkannte mit klarem Blick der gewaltige Staatsmann, der das »politische Welträtsel« der deutschen Nationalzerrissenheit gelöst und uns durch seine bewunderungswürdige Staatskunst zu dem ersehnten Ziele nationaler Einheit und Macht geführt hatte. Fürst Bismarck begann 1872 jenen denkwürdigen, vom Vatikan aufgedrungenen Kulturkampf, der von dem ausgezeichneten Kultusminister Falk durch die »Maigesetzgebung« (1873) ebenso klug als energisch geführt wurde. Leider mußte er schon sechs Jahre später aufgegeben werden. Obwohl unser größter Staatsmann ein ausgezeichneter Menschenkenner und kluger Realpolitiker war, hatte er doch die Macht von drei gewaltigen Hindernissen unterschätzt: erstens die unübertroffene Schlauheit und gewissenlose Perfidie der römischen Kurie, zweitens die entsprechende Gedankenlosigkeit und Leichtgläubigkeit der ungebildeten katholischen Massen, auf welche sich die erstere stützte, und drittens die Macht der Trägheit, des Fortbestehens des Unvernünftigen, bloß weil es da ist. So mußte denn schon 1878, nachdem der klügere Papst Leo XIII. seine Regierung angetreten hatte, der schwere »Gang nach Canossa« wiederholt werden. Die neu gestärkte Macht des Vatikans nahm seitdem wieder mächtig zu, einerseits durch die gewissenlosen Ränke und Schlangenwindungen seiner aalglatten Jesuitenpolitik, andererseits durch die falsche Kirchenpolitik der deutschen Reichsregierung und die merkwürdige politische Unfähigkeit des deutschen Volkes. So mußten wir denn am Schlusse des 19. Jahrhunderts das beschämende Schauspiel erleben, daß das sogenannte »Zentrum im Deutschen Reichstage Trumpf« war, und daß die Geschicke unseres gedemütigten Vaterlandes von einer papistischen Partei geleitet wurden, deren Kopfzahl noch nicht den dritten Teil der ganzen Bevölkerung beträgt.

Als der deutsche Kulturkampf 1872 begann, wurde er mit vollem Rechte von allen frei denkenden Männern als eine politische Erneuerung der Reformation begrüßt, als ein energischer Versuch, [S. 209] die moderne Kultur von dem Joche der papistischen Geistestyrannei zu befreien; die gesamte liberale Presse feierte Fürst Bismarck als »politischen Luther«, als den gewaltigen Helden, der nicht nur die nationale Einigung, sondern auch die geistige Befreiung Deutschlands erringe. Zehn Jahre später, nachdem der Papismus gesiegt hatte, behauptete dieselbe »liberale Presse« das Gegenteil und erklärte den Kulturkampf für einen großen Fehler; und dasselbe tut sie noch heute. Diese Tatsache beweist nur, wie kurz das Gedächtnis unserer Zeitungsschreiber, wie mangelhaft ihre Kenntnis der Geschichte und wie unvollkommen ihre philosophische Bildung ist. Der sogenannte »Friedensschluß zwischen Staat und Kirche« ist immer nur ein Waffenstillstand. Der moderne Papismus, getreu den absolutistischen, seit 1600 Jahren befolgten Prinzipien, will und muß die Alleinherrschaft über die leichtgläubigen Seelen behaupten; er muß die absolute Unterwerfung des Kulturstaates fordern, der als solcher die Rechte der Vernunft und Wissenschaft vertritt. Wirklicher Friede kann erst eintreten, wenn einer der beiden ringenden Kämpfer bewältigt am Boden liegt. Entweder siegt die »alleinseligmachende Kirche«, und dann hört »freie Wissenschaft und freie Lehre« überhaupt auf; dann werden sich unsere Universitäten in Konvikte, unsere Gymnasien in Klosterschulen verwandeln. Oder es siegt der moderne Vernunftstaat, und dann wird sich im 20. Jahrhundert die menschliche Bildung, Freiheit und Wohlstand in noch weit höherem Maße fortschreitend entwickeln, als es im 19. erfreulicherweise der Fall gewesen ist. (Vergl. hierüber Eduard Hartmann, Die Selbstzersetzung des Christentums, 1874.)

Gerade zur Förderung dieser hohen Ziele erscheint es höchst wichtig, daß die moderne Naturwissenschaft nicht bloß die Wahngebilde des Aberglaubens zertrümmert und deren wüsten Schutt aus dem Wege räumt, sondern daß sie auch auf dem frei gewordenen Bauplatze ein neues wohnliches Gebäude für das menschliche Gemüt herrichtet; einen Palast der Vernunft, in welchem wir mittels unserer neu gewonnenen monistischen Weltanschauung die wahre »Dreieinigkeit« des 19. Jahrhunderts andächtig verehren, die Trinität des Wahren, Guten und Schönen. Um den Kultus dieser göttlichen Ideale greifbar zu gestalten, erscheint es vor allem notwendig, uns mit den herrschenden Religionsformen des Christentums auseinanderzusetzen und die Veränderungen ins Auge zu fassen, welche bei deren Ersetzung durch erstere zu erstreben sind. Denn die christliche Religion besitzt (in ihrer ursprünglichen, reinen Form!) trotz aller Irrtümer und Mängel einen so hohen sittlichen Wert, sie ist vor allem seit anderthalb Jahrtausenden so eng mit den wichtigsten sozialen und politischen Einrichtungen [S. 210] unseres Kulturlebens verwachsen, daß wir uns bei Begründung unserer monistischen Religion möglichst an die bestehenden Institutionen anlehnen müssen. Wir wollen keine gewaltsame Revolution, sondern eine vernünftige Reformation unseres religiösen Geisteslebens.

I. Das Ideal der Wahrheit. Wir haben uns durch die vorhergehenden Betrachtungen (besonders im ersten und dritten Abschnitt) überzeugt, daß die reine Wahrheit nur in dem Tempel der Naturerkenntnis zu finden ist, und daß die einzigen brauchbaren Wege zu demselben die kritische »Beobachtung und Reflexion« sind, die empirische Erforschung der Tatsachen und die vernunftgemäße Erkenntnis ihrer bewirkenden Ursachen. So gelangen wir mittels der reinen Vernunft zur wahren Wissenschaft, dem kostbarsten Schatze der Kulturmenschheit. Dagegen müssen wir aus den gewichtigen, im 16. Kapitel erörterten Ursachen jede sogenannte »Offenbarung« ablehnen, jede Glaubensdichtung, welche behauptet, auf übernatürlichem Wege Wahrheiten zu erkennen, zu deren Entdeckung unsere Vernunft nicht ausreicht. Da nun das ganze Glaubensgebäude der jüdisch-christlichen Religion, ebenso wie das islamitische und muhamedanische, auf solchen angeblichen Offenbarungen beruht, da ferner diese mystischen Phantasieprodukte direkt der klaren empirischen Naturerkenntnis widersprechen, so ist es sicher, daß wir die Wahrheit nur mittels der Vernunfttätigkeit der echten Wissenschaft finden können, nicht mittels der Phantasiedichtung des mystischen Glaubens.

Die Göttin der Wahrheit wohnt im Tempel der Natur, im grünen Walde, auf dem blauen Meere, auf den schneebedeckten Gebirgshöhen; — aber nicht in den dumpfen Hallen der Klöster, in den engen Kerkern der Konviktschulen und nicht in den weihrauchduftenden christlichen Kirchen. Die Wege, auf denen wir uns dieser herrlichen Göttin der Wahrheit und Erkenntnis nähern, sind die liebevolle Erforschung der Natur und ihrer Gesetze, die Beobachtung der unendlich großen Sternenwelt mittels des Teleskops, der unendlich kleinen Zellenwelt mittels des Mikroskops; — aber nicht sinnlose Andachtsübungen und gedankenlose Gebete, nicht die Opfergaben des Ablasses und der Peterspfennige. Die kostbaren Gaben, mit denen uns die Göttin der Wahrheit beschenkt, sind die herrlichen Früchte vom Baume der Erkenntnis und der unschätzbare Gewinn einer klaren, einheitlichen Weltanschauung, — aber nicht der Glaube an übernatürliche »Wunder« und das Wahngebilde eines »ewigen Lebens«.

II. Das Ideal der Tugend. Anders als mit dem ewig Wahren verhält es sich mit dem Gottesideal des ewig Guten. Während bei [S. 211] der Erkenntnis der Wahrheit die Offenbarung der Kirche völlig auszuschließen und allein die Erforschung der Natur zu befragen ist, fällt dagegen der Inbegriff des Guten, den wir Tugend nennen, in unserer monistischen Religion größtenteils mit der christlichen Tugend zusammen; natürlich gilt das nur von dem ursprünglichen, reinen Christentum der drei ersten Jahrhunderte, wie dessen Tugendlehren in den Evangelien und in den paulinischen Briefen niedergelegt sind; — es gilt aber nicht von der vatikanischen Karikatur jener reinen Lehre, welche die europäische Kultur zu ihrem unendlichen Schaden durch zwölf Jahrhunderte beherrscht hat. Den besten Teil der christlichen Moral, an dem wir festhalten, bilden die Humanitätsgebote der Liebe und Duldung, des Mitleids und der Hilfe. Nur sind diese edlen Pflichtgebote, die man als »christliche Moral« (im besten Sinne!) zusammenfaßt, keine neuen Erfindungen des Christentums, sondern sie sind von diesem aus älteren Religionsformen herübergenommen. In der Tat ist ja die »Goldene Regel«, welche diese Gebote in einem Satze zusammenfaßt, Jahrhunderte älter als das Christentum. In der Praxis des Lebens aber wurde dieses natürliche Sittengesetz ebenso oft von Atheisten und Nichtchristen sorgsam befolgt als von frommen, gläubigen Christen außer acht gelassen. Auch beging die christliche Tugendlehre einen großen Fehler, indem sie einseitig den Altruismus zum Gebote erhob, den Egoismus dagegen verwarf. Unsere monistische Ethik legt beiden gleichen Wert bei und findet die vollkommene Tugend in dem richtigen Gleichgewicht von Nächstenliebe und Eigenliebe. (Vergl. Kapitel 19. Das ethische Grundgesetz.)

IIIDas Ideal der Schönheit. In vielfachen Gegensatz zum Christentum tritt unser Monismus auf dem Gebiete der Schönheit. Das ursprüngliche, reine Christentum predigte die Wertlosigkeit des irdischen Lebens und betrachtete dasselbe bloß als eine Vorbereitung für das ewige Leben im »Jenseits«. Daraus folgt unmittelbar, daß alles, was das menschliche Leben im »Diesseits« darbietet, alles Schöne in Kunst und Wissenschaft, im öffentlichen und privaten Leben, keinen Wert besitzt. Der wahre Christ muß sich von ihm abwenden und nur daran denken, sich für das Jenseits würdig vorzubereiten. Die Verachtung der Natur, die Abwendung von allen ihren unerschöpflichen Reizen, die Verwerfung jeder Art von schöner Kunst sind echte Christenpflichten; diese würden am vollkommensten erfüllt, wenn der Mensch sich von seinen Mitmenschen absonderte, sich kasteite und in Klöstern oder Einsiedeleien ausschließlich mit der »Anbetung Gottes« beschäftigte.

Nun lehrt uns freilich die Naturgeschichte, daß diese asketische Christenmoral, die aller Natur Hohn sprach, als natürliche Folge [S. 212] das Gegenteil bewirkte. Die Klöster, die Asyle der Keuschheit und Zucht, wurden bald die Brutstätten der tollsten Orgien. Der Kultus der »Schönheit«, der hier getrieben wurde, stand mit der gepredigten »Weltentsagung« in schneidendem Widerspruch. Dasselbe gilt von dem Luxus und der Pracht, welche sich bald in dem sittenlosen Privatleben des höheren katholischen Klerus und in der künstlerischen Ausschmückung der christlichen Kirchen und Klöster entwickelten.

Christliche Kunst. Man wird hier einwenden, daß unsere Ansicht durch die Schönheitsfülle der christlichen Kunst widerlegt werde, welche besonders in der Blütezeit des Mittelalters so unvergängliche Werke schuf. Die prachtvollen gotischen Dome und byzantinischen Basiliken, die Hunderte von prächtigen Kapellen, die Tausende von Marmorstatuen christlicher Heiliger und Märtyrer, die Millionen von schönen Heiligenbildern, von tiefempfundenen Darstellungen von Christus und der Madonna — sie zeugen alle von einer Entwickelung der schönen Künste im Mittelalter, die in ihrer Art einzig ist. Alle diese herrlichen Denkmäler der bildenden Kunst, ebenso wie die der Dichtkunst, behalten ihren hohen ästhetischen Wert, gleichviel, wie wir die darin enthaltene Mischung von »Wahrheit und Dichtung« beurteilen. Aber was hat das alles mit der reinen Christenlehre zu tun, mit jener Religion der Entsagung, welche von allem irdischen Prunk und Glanz, von aller materiellen Schönheit und Kunst sich abwendete, welche das Familienleben und die Frauenliebe gering schätzte, welche allein die Sorge um die immateriellen Güter des »ewigen Lebens« predigte? Der Begriff der »christlichen Kunst« ist eigentlich ein Widerspruch in sich. Die reichen Kirchenfürsten freilich, welche dieselben pflegten, verfolgten damit ganz andere Zwecke, und sie erreichten sie auch vollständig. Indem sie das ganze Interesse und Streben des menschlichen Geistes im Mittelalter auf die christliche Kirche und deren eigentümliche Kunst lenkten, wendeten sie dasselbe von der Natur ab und von der Erkenntnis der hier verborgenen Schätze, die zu selbständiger Wissenschaft geführt hätten. Außerdem aber erinnerte der tägliche Anblick der überall massenhaft ausgestellten Heiligenbilder, der Darstellungen aus der »heiligen Geschichte«, den gläubigen Christen jederzeit an den reichen Sagenschatz, den die Phantasie der Kirche angesammelt hatte. Die Legenden derselben wurden für wahre Erzählungen, die Wundergeschichten für wirkliche Ereignisse ausgegeben und geglaubt. Unzweifelhaft hat in dieser Beziehung die christliche Kunst einen ungeheuren Einfluß auf die allgemeine Bildung und ganz besonders auf die Festigung des Glaubens geübt, einen Einfluß, der sich in der ganzen Kulturwelt bis auf den heutigen Tag geltend macht.

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Monistische Kunst. Den schärfsten Gegensatz zu dieser herrschenden christlichen Kunst bildet diejenige neue Form der bildenden Kunst, die sich erst im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Naturwissenschaft entwickelt hat. Die überraschende Erweiterung unserer Weltkenntnis, die Entdeckung von unzähligen schönen Lebensformen, die wir der letzteren verdanken, hat in unserer Zeit einen ganz anderen ästhetischen Sinn geweckt und damit auch der bildenden Kunst eine neue Richtung gegeben. Zahlreiche wissenschaftliche Reisen und große Expeditionen zur Erforschung unbekannter Länder und Meere förderten schon im 18., noch viel mehr aber im 19. Jahrhundert eine ungeahnte Fülle von unbekannten organischen Formen zutage. Die Zahl der neuen Tier- und Pflanzenarten wuchs bald ins Unermeßliche, und unter diesen (besonders unter den früher vernachlässigten niederen Gruppen) fanden sich Tausende schöner und interessanter Gestalten, ganz neue Motive für Malerei und Bildhauerei, für Architektur und Kunstgewerbe. Eine neue Welt erschloß in dieser Beziehung besonders die ausgedehntere mikroskopische Forschung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und namentlich die Entdeckung der fabelhaften Tiefseebewohner, die erst durch die berühmte Challenger-Expedition (1872-1876) ans Licht gezogen wurden. Tausende von zierlichen Radiolarien und Thalamophoren, von prächtigen Medusen und Korallen, von abenteuerlichen Mollusken und Krebsen eröffneten uns da mit einem Male eine ungeahnte Fülle von verborgenen Formen, deren eigenartige Schönheit und Mannigfaltigkeit alle von der menschlichen Phantasie geschaffenen Kunstprodukte weitaus übertrifft. Allein schon in den fünfzig großen Bänden des Challengerwerkes ist auf 3000 Tafeln eine Masse solcher schöner Gestalten abgebildet; aber auch in vielen anderen großen Prachtwerken, welche die mächtig wachsende zoologische und botanische Literatur der letzten Dezennien enthält, sind Millionen reizender Formen dargestellt. Ich habe versucht, in meinen »Kunstformen der Natur« eine Auswahl von solchen schönen und reizvollen Gestalten weiteren Kreisen zugänglich zu machen. (100 Tafeln in 10 Heften. Leipzig 1899-1903.)

Indessen bedarf es nicht weiter Reisen und kostspieliger Werke, um jedem Menschen die Herrlichkeiten dieser Welt zu erschließen. Vielmehr müssen dafür nur seine Augen geöffnet und sein Sinn geübt werden. Überall bietet die umgebende Natur eine überreiche Fülle von schönen und interessanten Objekten aller Art. In jedem Moose und Grashalme, in jedem Käfer und Schmetterling finden wir bei genauer Untersuchung Schönheiten, an denen der Mensch gewöhnlich achtlos vorübergeht. Vollends wenn wir dieselben [S. 214] mit einer Lupe bei schwacher Vergrößerung betrachten, oder noch mehr, wenn wir die stärkere Vergrößerung eines guten Mikroskopes anwenden, entdecken wir überall in der organischen Natur eine neue Welt voll unerschöpflicher Reize.

Aber nicht nur für diese ästhetische Betrachtung des Kleinen und Kleinsten, sondern auch für diejenige des Großen und Größten in der Natur hat uns erst das 19. Jahrhundert die Augen geöffnet. Noch im Beginne desselben war die Ansicht herrschend, daß die Hochgebirgsnatur zwar großartig, aber abschreckend, das Meer zwar gewaltig, aber furchtbar sei. Jetzt, am Ende desselben, sind die meisten Gebildeten — und besonders die Bewohner der Großstädte — glücklich, wenn sie jährlich auf ein paar Wochen die Herrlichkeit der Alpen und die Kristallpracht der Gletscher genießen können; oder wenn sie sich an der Majestät des blauen Meeres, an den reizenden Landschaftsbildern seiner Küsten erfreuen können. Alle diese Quellen des edelsten Naturgenusses sind uns erst neuerdings in ihrer ganzen Herrlichkeit offenbar und verständlich geworden, und die erstaunlich gesteigerte Leichtigkeit und Schnelligkeit des Verkehrs hat selbst den Unbemittelteren die Gelegenheit zu ihrer Kenntnis verschafft. Alle diese Fortschritte im ästhetischen Naturgenusse — und damit zugleich im wissenschaftlichen Naturverständnis — bedeuten ebenso viele Fortschritte in der höheren menschlichen Geistesbildung und damit zugleich in unserer monistischen Religion.

Landschaftsmalerei und Illustrationswerke. Der Gegensatz, in welchem unser naturalistisches Jahrhundert zu den vorhergehenden anthropistischen steht, prägt sich besonders in der verschiedenen Wertschätzung und Verbreitung von Illustrationen der mannigfaltigsten Naturobjekte aus. Es hat sich in unserer Zeit ein lebhaftes Interesse für ihre bildlichen Darstellungen entwickelt das früheren Zeiten unbekannt war; es wird unterstützt durch die erstaunlichen Fortschritte der Technik und des Verkehrs, welche eine allgemeine Verbreitung derselben in weitesten Kreisen gestatten. Zahlreiche illustrierte Zeitschriften verbreiten mit der allgemeinen Bildung zugleich den Sinn für die unendliche Schönheit der Natur in allen Gebieten. Besonders ist es die Landschaftsmalerei, die hier eine früher nicht geahnte Bedeutung gewonnen hat. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte einer unserer größten und vielseitigsten Naturforscher, Alexander von Humboldt, darauf hingewiesen, wie die Entwickelung der modernen Landschaftsmalerei nicht nur als »Anregungsmittel zum Naturstudium« und als geographisches Anschauungsmittel von hoher Bedeutung sei, sondern wie sie auch in anderer Beziehung als ein edles Bildungsmittel hochzuschätzen sei. Seitdem ist der Sinn [S. 215] dafür noch bedeutend weiter entwickelt. Es sollte Aufgabe jeder Schule sein, die Kinder frühzeitig zum Genusse der Landschaft anzuleiten und zu der höchst dankbaren Kunst, sie durch Zeichnen und Aquarellmalen ihrem Gedächtnis einzuprägen.

Moderner Naturgenuß. Der unendliche Reichtum der Natur an Schönem und Erhabenem bietet jedem Menschen, der offene Augen und ästhetischen Sinn besitzt, eine unerschöpfliche Fülle der herrlichsten Gaben. So wertvoll und beglückend aber auch der unmittelbare Genuß jeder einzelnen Gabe ist, so wird deren Wert doch noch hoch gesteigert durch die Erkenntnis ihrer Bedeutung und ihres Zusammenhanges mit der übrigen Natur. Als Alexander von Humboldt (1845) in seinem großartigen »Kosmos« den »Entwurf einer physischen Weltbeschreibung« gab, als er in seinen mustergültigen »Ansichten der Natur« wissenschaftliche und ästhetische Betrachtung in glücklichster Weise verband, da hat er mit Recht hervorgehoben, wie eng der veredelte Naturgenuß mit der »wissenschaftlichen Ergründung der Weltgesetze«, verknüpft ist, und wie beide vereinigt dazu dienen, das Menschenwesen auf eine höhere Stufe der Vollendung zu erheben. Die staunende Bewunderung, mit der wir den gestirnten Himmel und das mikroskopische Leben in einem Wassertropfen betrachten, die Ehrfurcht, mit der wir das wunderbare Wirken der Energie in der bewegten Materie untersuchen, die Andacht, mit welcher wir die Geltung des allumfassenden Substanzgesetzes im Universum verehren, — sie alle sind Bestandteile unseres Gemütslebens, die unter den Begriff der »natürlichen Religion« fallen.

Diesseits und Jenseits. Die angedeuteten Fortschritte der Neuzeit in der Erkenntnis des Wahren und im Genusse des Schönen bilden ebenso einerseits einen wertvollen Inhalt unserer monistischen Religion, als sie andererseits in feindlichem Gegensatze zum Christentum stehen. Denn der menschliche Geist lebt dort in dem bekannten »Diesseits«, hier in einem unbekannten »Jenseits«. Unser Monismus lehrt, daß wir sterbliche Kinder der Erde sind, die ein oder zwei, höchstens drei »Menschenalter« hindurch das Glück haben, im Diesseits die Herrlichkeiten dieses Planeten zu genießen, die unerschöpfliche Fülle seiner Schönheit zu schauen und die wunderbaren Spiele seiner Naturkräfte zu erkennen. Das Christentum dagegen lehrt, daß die Erde ein elendes Jammerthal ist, auf welchem wir bloß eine kurze Zeitlang uns zu kasteien und abzuquälen brauchen, um sodann im »Jenseits« ein ewiges Leben voller Wonne zu genießen. Wo dieses »Jenseits« liegt, und wie diese Herrlichkeit des ewigen Lebens eigentlich beschaffen sein soll, das hat uns noch keine »Offenbarung« gesagt. Solange der [S. 216] »Himmel« für den Menschen ein blaues Zelt war, ausgespannt über der scheibenförmigen Erde und erleuchtet durch das blinkende Lampenlicht einiger tausend Sterne, konnte sich die menschliche Phantasie oben in diesem Himmelssaal allenfalls das ambrosische Gastmahl der olympischen Götter oder die Tafelfreuden der Walhallabewohner vorstellen. Nun ist aber für alle diese Gottheiten und für die mit ihnen tafelnden »unsterblichen Seelen« die offenkundige Wohnungsnot eingetreten. »Himmelsbild und Weltanschauung«, wie sie Troels-Lund in ihrem tiefen Zusammenhange historisch dargestellt hat, haben durch die bewunderungswürdigen Fortschritte der modernen Kosmologie eine völlige Umwandlung erfahren. Wir wissen jetzt durch die Astrophysik, daß der unendliche Raum mit schwingendem Äther erfüllt ist, und daß Millionen von Weltkörpern, nach ewigen ehernen Gesetzen bewegt, sich rastlos darin umhertreiben, alle im ewigen großen »Werden und Vergehen« begriffen.

Monistische Kirchen. Die Stätten der Andacht, in denen der Mensch sein religiöses Gemütsbedürfnis befriedigt und die Gegenstände seiner Anbetung verehrt, betrachtet er als seine geheiligten »Kirchen«. Die Pagoden im buddhistischen Asien, die griechischen Tempel im klassischen Altertum, die Synagogen in Palästina, die Moscheen in Ägypten, die katholischen Dome im südlichen und die evangelischen Kathedralen im nördlichen Europa — alle diese »Gotteshäuser« sollen dazu dienen, den Menschen über die Misere und Prosa des realen Alltagslebens zu erheben; sie sollen ihn in die Weihe und die Poesie einer höheren, idealen Welt versetzen. Sie erfüllen diesen Zweck in vielen tausend verschiedenen Formen, entsprechend den verschiedenen Kulturformen und Zeitverhältnissen. Der moderne Mensch, welcher »Wissenschaft und Kunst« besitzt — und damit zugleich auch Religion —, bedarf keiner besonderen Kirche, keines engen, eingeschlossenen Raumes. Denn überall in der freien Natur, wo er seine Blicke auf das unendliche Universum oder auf einen Teil desselben richtet, überall findet er zwar den harten »Kampf ums Dasein«, aber daneben auch das »Wahre, Schöne und Gute«; überall findet er seine »Kirche« in der herrlichen Natur selbst.

[S. 217]

Neunzehntes Kapitel.

Unsere monistische Sittenlehre.

Gleichgewicht zwischen Selbstliebe und Nächstenliebe. Gleichberechtigung des Egoismus und Altruismus. Fehler der christlichen Moral. Staat, Schule und Kirche.

Das praktische Leben stellt an den Menschen eine Reihe von ganz bestimmten sittlichen Anforderungen, die nur dann richtig erfüllt werden können, wenn sie in reinem Einklang mit seiner vernünftigen Weltanschauung stehen. Diesem Grundsatze unserer monistischen Philosophie zufolge muß unsere gesamte Sittenlehre oder Ethik in vernünftigem Zusammenhang mit der einheitlichen Auffassung des »Kosmos« stehen, welche wir durch unsere fortgeschrittene Erkenntnis der Naturgesetze gewonnen haben. Wie das ganze unendliche Universum im Lichte unseres Monismus ein einziges großes Ganzes darstellt, so bildet auch das geistige und sittliche Leben des Menschen nur einen Teil dieses »Kosmos«, und so kann auch seine naturgemäße Ordnung nur eine einheitliche sein. Es gibt nicht zwei verschiedene, getrennte Welten: eine physische, materielle und eine moralische, immaterielle Welt.

Ganz entgegengesetzter Ansicht ist die große Mehrzahl der Philosophen und Theologen noch heute; sie behaupten mit Immanuel Kant, daß die sittliche Welt von der physischen ganz unabhängig sei und ganz anderen Gesetzen gehorche; also müsse auch das sittliche Bewußtsein des Menschen, als die Basis des moralischen Lebens, ganz unabhängig von der wissenschaftlichen Welterkenntnis sein und sich vielmehr auf den religiösen Glauben stützen. Die Erkenntnis der sittlichen Welt soll danach durch die gläubige praktische Vernunft geschehen, hingegen die der Natur oder der physischen Welt durch die theoretische Vernunft. Dieser unzweifelhafte und bewußte Dualismus in Kants Philosophie war ihr größter und schwerster Fehler; er hat unendliches Unheil angerichtet und wirkt noch heute mächtig fort. Zuerst hatte der kritische Kant in der großartigen und bewunderungswürdigen Kritik der reinen Vernunft einleuchtend gezeigt, daß die drei großen Zentraldogmen der Metaphysik: der persönliche Gott, der freie Wille und die unsterbliche Seele [S. 218] völlig unbegründet sind und immer unbegründet bleiben werden. Später aber führte der dogmatische Kant das schimmernde ideale Luftschloß der praktischen Vernunft auf, in welchem drei imposante Kirchenschiffe zur Wohnstätte jener drei mystischen Gottheiten hergerichtet wurden. Nachdem sie durch die Vordertür mittels des vernünftigen Wissens hinausgeschafft waren, kehrten sie nun durch die Hintertür mittels des unvernünftigen Glaubens wieder zurück.

Obgleich nun der offenkundige Gegensatz der beiden Vernünfte von Kant, der prinzipielle Antagonismus der reinen und der praktischen Vernunft, schon im Anfange des 19. Jahrhunderts erkannt und widerlegt wurde, blieb er doch bis heute in weiten Kreisen herrschend. Die moderne Schule der Neokantianer predigt noch heute den »Rückgang auf Kant« so eindringlich gerade wegen dieses willkommenen Dualismus, und die streitende Kirche unterstützt sie dabei aufs wärmste, weil ihr eigener mystischer Glaube dazu vortrefflich paßt. Eine wirksame Niederlage bereitete demselben erst die moderne Naturwissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; die Voraussetzungen der praktischen Vernunftlehre wurden dadurch hinfällig. Kosmologie und Biologie, die auf dem Substanzgesetz ruhen, bedürfen keines »persönlichen Gottes« mehr; die vergleichende und genetische Psychologie zeigte, daß eine »unsterbliche Seele« nicht existieren kann, und die Physiologie wies nach, daß die Annahme des »freien Willens« auf Täuschung beruht. Die Entwickelungslehre endlich machte klar, daß die »ewigen, ehernen Naturgesetze« der anorganischen Welt auch in der organischen und moralischen Welt Geltung haben.

Unsere moderne Naturerkenntnis wirkt aber für die praktische Philosophie und Ethik nicht nur negativ, indem sie den Kantischen Dualismus zertrümmert, sondern auch positiv, indem sie an dessen Stelle das neue Gebäude des ethischen Monismus setzt. Sie zeigt, daß das Pflichtgefühl des Menschen nicht auf einem eingeimpften »kategorischen Imperativ« beruht, sondern auf dem realen Boden der sozialen Instinkte, die wir bei allen gesellig lebenden höheren Tieren finden. Sie erkennt als höchstes Ziel der Moral die Herstellung einer gesunden Harmonie zwischen Egoismus und Altruismus, zwischen Selbstliebe und Nächstenliebe. Vor allen anderen war es der große englische Philosoph Herbert Spencer, dem wir die Begründung dieser monistischen Ethik durch die Entwickelungslehre verdanken.

Egoismus und Altruismus. Der Mensch gehört zu den sozialen Wirbeltieren und hat daher, wie alle sozialen Tiere, zweierlei verschiedene Pflichten, erstens gegen sich selbst und zweitens gegen die Gesellschaft, der er angehört. Erstere sind Gebote der [S. 219] Selbstliebe (Egoismus), letztere Gebote der Nächstenliebe (Altruismus). Beide Gebote sind gleich berechtigt, gleich natürlich und gleich unentbehrlich. Will der Mensch in geordneter Gesellschaft existieren und sich wohl befinden, so muß er nicht nur sein eigenes Glück anstreben, sondern auch dasjenige der Gemeinschaft, der er angehört, und der »Nächsten«, welche diesen sozialen Verein bilden. Er muß erkennen, daß ihr Gedeihen sein Gedeihen ist und ihr Leiden sein Leiden. Diese sozialen Grundgesetze sind so einfach und so naturnotwendig, daß man schwer begreift, wie ihnen theoretisch und praktisch widersprochen werden kann; und doch geschieht das noch heute, wie es seit Jahrtausenden geschehen ist.

Gleichgewicht des Egoismus und Altruismus. Die gleiche Berechtigung dieser beiden Naturtriebe, die moralische Gleichwertigkeit der Selbstliebe und der Nächstenliebe ist das wichtigste Fundamentalprinzip unserer Moral. Das höchste Ziel aller vernünftigen Sittenlehre ist demnach sehr einfach, die Herstellung des »naturgemäßen Gleichgewichts zwischen Eigenliebe und Nächstenliebe«. Das Goldene Sittengesetz sagt: »Was du willst, daß dir die Leute tun sollen, das tue du ihnen auch.« Aus diesem höchsten Gebot des Christentums folgt von selbst, daß wir ebenso heilige Pflichten gegen uns selbst wie gegen unsere Mitmenschen haben. Ich habe meine Auffassung dieses Grundprinzips bereits 1892 in meinem »Monismus« auseinandergesetzt (S. 29, 45) und dabei besonders drei wichtige Sätze betont: I. Beide konkurrierende Triebe sind Naturgesetze, die zum Bestehen der Familie und der Gesellschaft gleich wichtig und gleich notwendig sind; der Egoismus ermöglicht die Selbsterhaltung des Individuums, der Altruismus diejenige der Gattung und Spezies, die sich aus der Kette der vergänglichen Individuen zusammensetzt. IIDie sozialen Pflichten, welche die Gesellschaftsbildung den assoziierten Menschen auferlegt, und durch welche sich diese erhält, sind nur höhere Entwickelungsformen der sozialen Instinkte, welche wir bei allen höheren, gesellig lebenden Tieren finden. III. Beim Kulturmenschen steht alle Ethik, sowohl die theoretische wie die praktische Sittenlehre, als »Normwissenschaft« in Zusammenhang mit der Weltanschauung und demnach auch mit der Religion.

Das ethische Grundgesetz. (Das Goldene Sittengesetz.) Aus der Anerkennung unseres Fundamentalprinzips der Moral ergibt sich unmittelbar das höchste Gebot derselben, jenes Pflichtgebot, das man jetzt oft als das Goldene Sittengesetz oder kurz als die »Goldene Regel« bezeichnet. Christus sprach dasselbe wiederholt in dem einfachen Satze aus: »Du sollst deinen [S. 220] Nächsten lieben wie dich selbst« (Matth. 19, 19; 22, 39, 40; Römer 13, 9 usw.). In diesem wichtigsten und höchsten Gebote stimmt unsere monistische Ethik vollkommen mit der christlichen überein. Nur müssen wir gleich die historische Tatsache hinzufügen, daß die Aufstellung dieses obersten Grundgesetzes nicht ein Verdienst Christi ist, wie die meisten christlichen Theologen behaupten und ihre unkritischen Gläubigen unbesehen annehmen. Vielmehr ist diese Goldene Regel mehr als fünfhundert Jahre älter als Christus und von vielen verschiedenen Weisen Griechenlands und des Orients als wichtigstes Sittengesetz anerkannt. Pittakos von Mytilene, einer der sieben Weisen Griechenlands, sagte 620 Jahre vor Christus: »Tue deinem Nächsten nicht, was du ihm verübeln würdest.« — Konfutse, der große chinesische Philosoph und Religionsstifter (der die Unsterblichkeit der Seele und den persönlichen Gott leugnete), sagte 500 Jahre vor Chr.: »Tue jedem anderen, was du willst, daß er dir tun soll; und tue keinem anderen, was du willst, daß er dir nicht tun soll. Du brauchst nur dieses Gebot allein; es ist die Grundlage aller anderen GeboteAristoteles lehrte um die Mitte des vierten Jahrhunderts vor Chr.: »Wir sollen uns gegen andere so benehmen, als wir wünschen, daß andere gegen uns handeln sollen.« In gleichem Sinne und zum Teil mit denselben Worten wird auch die goldene Regel von Thales, Isokrates, Aristippus, dem Pythagoräer Sextus und anderen Philosophen des klassischen Altertums — mehrere Jahrhunderte vor Christus! — ausgesprochen. Aus dieser Zusammenstellung geht hervor, daß das Goldene Grundgesetz zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenem Orten von mehreren Philosophen — unabhängig voneinander — aufgestellt worden ist. Anderenfalls müßte man annehmen, daß Jesus es aus anderen orientalischen Quellen (aus älteren semitischen, indischen, chinesischen Traditionen, besonders buddhistischen Lehren) übernommen habe, wie es jetzt für die meisten anderen christlichen Glaubenslehren nachgewiesen ist.

Christliche Sittenlehre. Da das ethische Grundgesetz demnach bereits seit 2500 Jahren besteht, und da das Christentum dasselbe ausdrücklich als höchstes, alle anderen umfassendes Gebot an die Spitze seiner Sittenlehre stellt, würde unsere monistische Ethik in diesem wichtigsten Punkte nicht nur mit jenen älteren heidnischen Sittenlehren, sondern auch mit den christlichen in vollkommenem Einklang sein. Leider wird aber diese erfreuliche Harmonie dadurch gestört, daß die Evangelien und die paulinischen Episteln viele andere Sittenlehren enthalten, die jenem ersten und obersten Gebote geradezu widersprechen. Wir müssen daher kurz jene bedauerlichen [S. 221] Seiten der christlichen Lehre andeuten, welche mit der besseren Weltanschauung der Neuzeit unverträglich und bezüglich ihrer praktischen Konsequenzen geradezu schädlich sind. Dahin gehört die Verachtung der christlichen Moral gegen das eigene Individuum, gegen den Leib, die Natur, die Kultur, die Familie und die Frau.

IDie Selbstverachtung des Christentums. Als obersten und wichtigsten Mißgriff der christlichen Ethik, welcher die Goldene Regel geradezu aufhebt, müssen wir die Übertreibung der Nächstenliebe auf Kosten der Selbstliebe betrachten. Das Christentum bekämpft und verwirft den Egoismus im Prinzip, und doch ist dieser Naturtrieb zur Selbsterhaltung absolut unentbehrlich; ja, man kann sagen, daß auch der Altruismus, sein scheinbares Gegenteil, im Grunde ein verfeinerter Egoismus ist. Nichts Großes, nichts Erhabenes ist jemals ohne Egoismus geschehen und ohne die Leidenschaft, welche uns zu großen Opfern befähigt. Nur die Ausschreitungen dieser Triebe sind verwerflich. Zu denjenigen christlichen Geboten, welche uns in frühester Jugend als wichtigste eingeprägt und welche in Millionen von Predigten verherrlicht werden, gehört der Satz (Matthäus 5, 44): »Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen.« Dieses ideale Gebot ist praktisch von sehr bedenklichem Werte. Ebenso verhält es sich mit der Anweisung: »Wenn dir jemand den Rock nimmt, dem gib auch den Mantel«; d. h. in das moderne Leben übersetzt: »Wenn dich ein gewissenloser Schuft um die eine Hälfte deines Vermögens betrügt, dann schenke ihm auch noch die andere Hälfte.« Die vielbewunderte Weltmachtspolitik der modernen Kulturstaaten steht in schneidendem Widerspruch zu allen Grundlehren der christlichen Liebe, welche von ihnen im Munde geführt wird. Übrigens ist ja der offenkundige Widerspruch zwischen der empfohlenen idealen, altruistischen Moral des einzelnen Menschen und der realen, rein egoistischen Moral der menschlichen Gemeinden, und besonders der christlichen Kulturstaaten, eine allbekannte Tatsache. Es wäre interessant, mathematisch festzustellen, bei welcher Zahl von vereinigten Menschen das altruistische Sittenideal der einzelnen Person sich in sein Gegenteil verwandelt, in die rein egoistische »Realpolitik« der Staaten und Nationen.

IIDie Leibesverachtung des Christentums. Da der christliche Glaube den Organismus des Menschen ganz dualistisch beurteilt und der unsterblichen Seele nur einen vorübergehenden Aufenthalt im sterblichen Leibe anweist, ist es ganz natürlich, daß der ersteren ein viel höherer Wert beigemessen wird als dem letzteren. [S. 222] Daraus folgt jene Vernachlässigung der Leibespflege, der körperlichen Ausbildung und Reinlichkeit, welche das Kulturleben des christlichen Mittelalters sehr unvorteilhaft vor demjenigen des heidnischen klassischen Altertums auszeichnet. In der christlichen Sittenlehre fehlen jene strengen Gebote der täglichen Waschungen und der sorgfältigen Körperpflege, die wir in der mohammedanischen, den indischen und anderen Religionen nicht nur theoretisch festgesetzt, sondern auch praktisch ausgeführt sehen. Das Ideal des frommen Christen ist in vielen Klöstern der Mensch, der sich niemals ordentlich wäscht und kleidet, der seine schmutzige Kutte niemals wechselt, und der statt ordentlicher Arbeit sein faules Leben mit gedankenlosen Betübungen, sinnlosem Fasten usw. zubringt. Als Auswüchse dieser Leibesverachtung möge noch an die widerwärtigen Bußübungen der Geißler und anderer Asketiker erinnert werden.

IIIDie Naturverachtung des Christentums. Eine Quelle von unzähligen theoretischen Irrtümern und praktischen Fehlern, von geduldeten Rohheiten und bedauerlichen Entbehrungen liegt in dem falschen Anthropismus des Christentums, in der exklusiven Stellung, welche es dem Menschen als »Ebenbild Gottes« anweist, im Gegensatze zu der übrigen Natur. Dadurch hat es nicht allein zu einer höchst schädlichen Entfremdung von unserer herrlichen Mutter »Natur« beigetragen, sondern auch zu einer bedauernswerten Verachtung der übrigen Organismen. Das Christentum kennt nicht jene rühmliche Liebe zu den Tieren, jenes Mitleid mit den nächststehenden, uns befreundeten Säugetieren (Hunden, Pferden, Rindern usw.), welche zu den Sittengesetzen vieler anderer älterer Religionen gehören, vor allem der weitestverbreiteten, des Buddhismus. Wer längere Zeit im katholischen Südeuropa gelebt hat, ist oftmals Zeuge jener abscheulichen Tierquälereien gewesen, die uns Tierfreunden sowohl das tiefste Mitleid als den höchsten Zorn erregen; und wenn er dann jenen rohen »Christen« Vorwürfe über ihre Grausamkeit macht, erhält er zur lachenden Antwort: »Ja, die Tiere sind doch keine Christen!« Leider wurde dieser Irrtum auch durch Descartes befestigt, der nur dem Menschen eine fühlende Seele zuschrieb, nicht aber den Tieren. Wie erhaben steht in dieser Beziehung unsere monistische Ethik über der christlichen! Der Darwinismus lehrt uns, daß wir zunächst von Primaten und weiterhin von einer Reihe älterer Säugetiere abstammen, und daß diese »unsere Brüder« sind; die Physiologie beweist uns, daß diese Tiere dieselben Nerven und Sinnesorgane haben wie wir, daß sie ähnlich Lust und Schmerz empfinden wie wir. Kein mitfühlender monistischer Naturforscher wird sich jemals jener rohen Mißhandlung der [S. 223] Tiere schuldig machen, die der gläubige Christ in seinem anthropistischen Größenwahn — als »Kind des Gottes der Liebe!« — gedankenlos begeht. — Außerdem aber entzieht die prinzipielle Naturverachtung des Christentums dem Menschen eine Fülle der edelsten irdischen Freuden, vor allem den herrlichen, wahrhaft erhebenden Naturgenuß.

IVDie Kulturverachtung des Christentums. Da nach Christi Lehre unsere Erde ein Jammerthal ist, unser irdisches Leben wertlos und nur eine Vorbereitung auf das »ewige Leben« im besseren Jenseits, so verlangt sie folgerichtig, daß demgemäß der Mensch auf alles Glück im Diesseits zu verzichten und alle dazu erforderlichen irdischen Güter gering zu achten hat. Zu diesen »irdischen Gütern« gehören aber für den modernen Kulturmenschen die unzähligen kleinen und großen Hilfsmittel der Technik, der Hygiene, des Verkehrs, welche unser heutiges Kulturleben angenehm gestalten; — zu diesen »irdischen Gütern« gehören alle die hohen Genüsse der bildenden Kunst, der Tonkunst, der Poesie, welche schon während des christlichen Mittelalters (trotz seiner Prinzipien!) sich zu hoher Blüte entwickelten, und welche wir als »ideale Güter« hochschätzen; — zu diesen »irdischen Gütern« gehören die unschätzbaren Fortschritte der Wissenschaft und vor allem der Naturerkenntnis. Alle diese »irdischen Güter« der verfeinerten Kultur, welche nach unserer monistischen Weltanschauung den höchsten Wert besitzen, sind nach der christlichen Lehre wertlos, ja großenteils verwerflich, und die strenge christliche Moral muß das Streben nach diesen Gütern mißbilligen. Das Christentum zeigt sich also auch auf diesem praktischen Gebiete kulturfeindlich; der Kampf, welchen die moderne Bildung und Wissenschaft dagegen zu führen gezwungen sind, ist auch in diesem Sinne ein wirklicher »Kulturkampf«.

VDie Familienverachtung des Christentums. Zu den bedauerlichsten Seiten der christlichen Moral gehört die Geringschätzung, welche dasselbe gegen das Familienleben besitzt, d. h. gegen jenes naturgemäße Zusammenleben mit den nächsten Blutsverwandten, welches für den normalen Menschen ebenso unentbehrlich ist wie für alle höheren sozialen Tiere. Die »Familie« gilt uns ja mit Recht als die »Grundlage der Gesellschaft« und das gesunde Familienleben als Vorbedingung für ein blühendes Staatsleben. Ganz anderer Ansicht war Christus, dessen nach dem »Jenseits« gerichteter Blick die Frau und die Familie ebenso gering schätzte wie alle anderen Güter des »Diesseits«. Von den seltenen Berührungen mit seinen Eltern und Geschwistern wissen die Evangelien nur sehr wenig zu erzählen; das Verhältnis zu seiner Mutter [S. 224] Maria war danach keineswegs so zart und innig, wie es uns Tausende von schönen Bildern in poetischer Verklärung vorführen; er selbst war nicht verheiratet. Die Geschlechtsliebe, die doch die erste Grundlage der Familienbildung ist, erschien Jesus eher wie ein notwendiges Übel. Noch weiter ging darin sein eifrigster Apostel, Paulus, der es für besser erklärte, nicht zu heiraten, als zu heiraten. »Es ist dem Menschen gut, daß er kein Weib berühre« (1. Korinther 7, 1, 28-38). Wenn die Menschheit diesen guten Rat befolgte, würde sie damit allerdings bald alles irdische Leid und Elend loswerden; sie würde durch diese Radikalkur innerhalb eines Jahrhunderts aussterben.

VI. Die Frauenverachtung des Christentums. Da Christus selbst die Frauenliebe nicht kannte, blieb ihm persönlich jene feine Veredelung des wahren Menschenwesens fremd, welche erst aus dem innigen Zusammenleben des Mannes mit dem Weibe entspringt. Der intime sexuelle Verkehr, auf welchem allein die Erhaltung des Menschengeschlechts beruht, ist dafür ebenso wichtig wie die geistige Durchdringung beider Geschlechter und die gegenseitige Ergänzung, die sich beide gleicherweise in den praktischen Bedürfnissen des täglichen Lebens wie in den höchsten idealen Funktionen der Seelentätigkeit gewähren. Denn Mann und Weib sind zwei verschiedene, aber gleichwertige Organismen, jeder mit seinen Eigentümlichkeiten, Vorzügen und Mängeln. Je höher sich die Kultur entwickelte, desto mehr wurde dieser ideale Wert der sexuellen Liebe erkannt, und desto höher stieg die Achtung der Frau, besonders in der germanischen Rasse; ist sie doch die Quelle, aus welcher die herrlichsten Blüten der Poesie und der Kunst entsprossen sind. Christus dagegen lag diese Anschauung ebenso fern wie fast dem ganzen Altertum; er teilte die allgemein herrschende Anschauung des Orients, daß das Weib dem Manne untergeordnet und der Verkehr mit ihm »unrein« sei. Die beleidigte Natur hat sich für diese Mißachtung furchtbar gerächt; ihre traurigen Folgen sind namentlich in der Kulturgeschichte des papistischen Mittelalters mit blutiger Schrift verzeichnet.

Papistische Moral. Die bewunderungswürdige Hierarchie des römischen Papismus, die kein Mittel zur absoluten Beherrschung der Geister verschmähte, fand ein ausgezeichnetes Instrument in der Fortbildung jener »unreinen« Anschauung und in der Pflege der asketischen Vorstellung, daß die Enthaltung vom Frauenverkehr an sich eine Tugend sei. Schon in den ersten Jahrhunderten nach Christus enthielten sich viele Priester freiwillig der Ehe, und bald stieg der vermeintliche Wert dieses Zölibats so hoch, daß dasselbe für obligatorisch erklärt wurde. Die Sittenlosigkeit, die infolge [S. 225] dessen einriß, ist durch die Forschungen der neueren Kulturgeschichte allbekannt geworden. Schon im Mittelalter wurde die Verführung ehrbarer Frauen und Töchter durch katholische Geistliche (wobei der Beichtstuhl eine wichtige Rolle spielte) ein öffentliches Ärgernis; viele Gemeinden drangen darauf, daß zur Verhütung derselben den »keuschen« Priestern das Konkubinat gestattet werde! Auf den christlichen Konzilien, auf welchen ungläubige Ketzer lebendig verbrannt wurden, tafelten die versammelten Kardinäle und Bischöfe mit ganzen Scharen von Freudenmädchen. Die geheimen und öffentlichen Ausschweifungen des katholischen Klerus wurden so schamlos und gemeingefährlich, daß schon vor Luther die Empörung darüber allgemein und der Ruf nach einer »Reformation der Kirche an Haupt und Gliedern« überall laut wurde. Daß trotzdem diese unsittlichen Verhältnisse in katholischen Ländern noch heute fortbestehen (wenn auch mehr im Geheimen), ist bekannt. Früher wiederholten sich noch immer von Zeit zu Zeit die Anträge auf definitive Aufhebung des Zölibats, so in den Kammern von Baden, Bayern, Hessen, Sachsen und anderen Ländern. Leider bisher vergebens! Im Deutschen Reichstage, in welchem das ultramontane Zentrum die lächerlichsten Mittel zur Vermeidung der sexuellen Unsittlichkeit vorschlägt, denkt noch heute keine Partei daran, die Abschaffung des Zölibats im Interesse der öffentlichen Moral zu beantragen. (Vergl. Hoensbroech, Das Papsttum, Leipzig 1901).

Der moderne Kulturstaat, der nicht bloß das praktische, sondern auch das moralische Volksleben auf eine höhere Stufe heben soll, hat das Recht und die Pflicht, solche unwürdige und gemeinschädliche Zustände aufzuheben. Das obligatorische Zölibat der katholischen Geistlichen ist ebenso verderblich und unsittlich wie die Ohrenbeichte und der Ablaßkram; alle drei Einrichtungen haben mit dem ursprünglichen Christentum nichts zu tun; alle drei schlagen der reinen Christenmoral ins Gesicht; alle drei sind nichtswürdige Erfindungen des Papismus, darauf berechnet, die absolute Herrschaft über die leichtgläubigen Volksmassen aufrecht zu erhalten und sie nach Kräften materiell auszubeuten.

Die Nemesis der Geschichte wird früher oder später über den römischen Papismus ein furchtbares Strafgericht halten, und die Millionen Menschen, die durch diese entartete Religion um ihr Lebensglück gebracht wurden, werden dazu dienen, ihr im zwanzigsten Jahrhundert den Todesstoß zu versetzen — wenigstens in den wahren »Kulturstaaten«. Man hat neuerdings berechnet, daß die Zahl der Menschen, welche durch die papistischen Ketzerverfolgungen, die Inquisition, die christlichen Glaubenskriege usw. ums Leben kamen, weit über zehn Millionen beträgt. Aber was [S. 226] bedeutet diese Zahl gegen die zehnfach größere Zahl der Unglücklichen, welche den Satzungen und der Priesterherrschaft der entarteten christlichen Kirche moralisch zum Opfer fielen? — gegen die Unzahl derjenigen, deren höheres Geistesleben durch sie getötet, deren naives Gewissen gequält, deren Familienleben vernichtet wurde? Hier gilt das wahre Wort aus Goethes Gedicht »Die Braut von Korinth«:

»Opfer fallen hier, weder Lamm noch Stier,
Aber Menschenopfer unerhört

Staat und Kirche. In dem großen »Kulturkampfe«, der infolge dieser traurigen Verhältnisse noch immer geführt werden muß, sollte das erste Ziel die vollständige Trennung von Staat und Kirche sein. Die »freie Kirche soll im freien Staate« bestehen, d. h. jede Kirche soll frei sein in voller Ausübung ihres Kultus und ihrer Zeremonien, auch im Ausbau ihrer phantastischen Dichtungen und abergläubigen Dogmen — jedoch unter der Voraussetzung, daß sie dadurch nicht die öffentliche Ordnung und Sittlichkeit gefährdet. Und dann soll gleiches Recht für alle gelten! Die freien Gemeinden und die monistischen Religions-Gesellschaften sollen ebenso geduldet und ebenso frei in ihren Bewegungen sein wie die liberalen Protestantenvereine und die orthodoxen ultramontanen Gemeinden. Aber für alle diese »Gläubigen« der verschiedensten Konfessionen soll die Religion Privatsache bleiben; der Staat soll sie nur beaufsichtigen und etwaige Ausschreitungen verhüten, sie aber weder unterdrücken, noch unterstützen. Auch sollen die Steuerzahler nicht mehr gehalten werden, ihr Geld für die Aufrechterhaltung und Förderung eines fremden »Glaubens« herzugeben, der nach ihrer ehrlichen Überzeugung ein schädlicher Aberglaube ist. In den Vereinigten Staaten von Nordamerika, in Holland und einigen kleineren Ländern ist in diesem Sinne die vollständige »Trennung von Staat und Kirche« längst durchgeführt, und zwar zur Zufriedenheit aller Beteiligten, ebenso neuerdings in Frankreich. Damit ist dort zugleich die ebenso wichtige Trennung von der Schule bestimmt, unzweifelhaft ein wesentlicher Grund für den Aufschwung der Wissenschaft und des höheren Geisteslebens überhaupt.

Kirche und Schule. Es ist selbstverständlich, daß die Entfernung der Kirche aus der Schule sich bloß auf die Konfession bezieht, auf die besondere Glaubensform, welche der Sagenkreis jeder einzelnen Kirche im Laufe der Zeit entwickelt hat. Dieser »konfessionelle Unterricht« ist reine Privatsache und Aufgabe der Eltern und Vormünder, oder derjeniger Priester oder Lehrer, denen diese ihr persönliches Vertrauen schenken. Dagegen treten an [S. 227] Stelle der ausgeschiedenen »Konfession« zwei verschiedene wichtige Unterrichtsgegenstände: erstens die monistische Sittenlehre und zweitens die vergleichende Religionsgeschichte. Über die neue monistische Ethik, welche sich auf der festen Basis der modernen Naturerkenntnis — vor allem der Entwickelungslehre — erhebt, ist im Laufe der letzten Jahrzehnte eine umfangreiche Literatur erschienen. Unsere neue vergleichende Religionsgeschichte knüpft naturgemäß an den bestehenden Elementarunterricht in »biblischer Geschichte« und in der Sagenwelt des griechischen und römischen Altertums an. Beide bleiben wie bisher wesentliche Bildungselemente. Das ist schon deshalb selbstverständlich, weil unsere ganze bildende Kunst auf das Innigste mit der jüdischen und christlichen, der hellenischen und römischen Mythologie verwachsen ist. Ein wesentlicher Unterschied im Unterricht wird nur da eintreten, daß die israelitischen und christlichen Sagen und Legenden nicht als »Wahrheit« gelehrt werden, sondern gleich den griechischen und römischen als Dichtungen; was sie an ethischen und ästhetischen Werten enthalten, wird dadurch nicht vermindert, sondern erhöht. — Was die Bibel betrifft, so sollte dieses »Buch der Bücher« den Kindern nur in sorgfältig gewähltem Auszuge in die Hand gegeben werden (als »Schulbibel«); dadurch würde die Befleckung der kindlichen Phantasie mit den zahlreichen unsauberen Geschichten und unmoralischen Erzählungen verhütet werden, an denen namentlich das Alte Testament so reich ist.

Staat und Schule. Nachdem unser moderner Kulturstaat sich und die Schule von den Sklavenfesseln der Kirche befreit hat, wird er um so mehr seine Kraft und Fürsorge der Pflege der Schule widmen können. Der unschätzbare Wert eines guten Schulunterrichts ist uns um so mehr zum Bewußtsein gekommen, je reicher sich im Laufe des 19. Jahrhunderts alle Zweige des modernen Kulturlebens entfaltet haben. Aber die Entwickelung der Unterrichtsmethoden hat damit keineswegs gleichen Schritt gehalten. Die Notwendigkeit einer umfassenden Schulreform drängt sich uns immer entschiedener auf. Besonders dürften dabei folgende Fortschritte zu berücksichtigen sein: 1. Im bisherigen Unterricht spielte allgemein der Mensch die Hauptrolle und besonders das grammatische Studium seiner Sprache; die Naturkunde wurde darüber ganz vernachlässigt. 2. In der neueren Schule muß die Natur das Hauptobjekt werden; der Mensch soll eine richtige Vorstellung von der Welt gewinnen, in der er lebt; er soll nicht außerhalb der Natur stehen oder gar im Gegensatz zu ihr, sondern soll als ihr höchstes und edelstes Erzeugnis erscheinen. 3. Das Studium der klassischen Sprachen (Lateinisch und [S. 228] Griechisch), das bisher den größten Teil der Zeit und Arbeit in Anspruch nahm, bleibt zwar sehr wertvoll, muß aber stark beschränkt und auf die Elemente reduziert werden (das Griechische nur fakultativ, das Lateinisch obligatorisch). 4. Dafür müssen die modernen Kultursprachen auf allen höheren Schulen um so mehr gepflegt werden (Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch). 5. Der Unterricht in der Geschichte muß mehr das innere Geistesleben, die Kulturgeschichte berücksichtigen, weniger die äußerliche Völkergeschichte (die Schicksale der Dynastien, Kriege usw.). 6. Die Grundzüge der Entwickelungslehre sind im Zusammenhange mit denjenigen der Kosmologie zu lehren, Geologie im Anschluß an die Geographie, Anthropologie im Anschluß an die Biologie. 7. Die Grundzüge der Biologie müssen Gemeingut jedes gebildeten Menschen werden; der moderne »Anschauungsunterricht« fördert die anziehende Einführung in die biologischen Wissenschaften (Anthropologie, Zoologie, Botanik). Im Beginne ist von der beschreibenden Systematik auszugehen (im Zusammenhang mit Ökologie oder Bionomie); später sind die Elemente der Anatomie und Physiologie anzuschließen. 8. Ebenso muß von Physik und Chemie jeder Gebildete die Grundzüge kennen lernen. 9. Jeder Schüler muß gut zeichnen lernen, und zwar nach der Natur; womöglich auch aquarellieren. Das Entwerfen von Zeichnungen und Aquarellskizzen nach der Natur (von Blumen, Tieren, Landschaften, Wolken usw.) weckt nicht nur das Interesse an der Natur und erhält die Erinnerung an ihren Genuß, sondern die Schüler lernen dadurch überhaupt erst richtig sehen und das Gesehene verstehen. 10. Viel mehr Sorgfalt und Zeit als bisher ist auf die körperliche Ausbildung zu verwenden, auf Turnen und Schwimmen; vorzüglich aber sind wöchentlich gemeinsame Spaziergänge und jährlich in den Ferien mehrere Fußreisen zu unternehmen; der hier gebotene Anschauungsunterricht ist von höchstem Wert.

Das Hauptziel der höheren Schulbildung blieb bisher in den meisten Kulturstaaten die Vorbildung für den späteren Beruf, Erwerbung eines gewissen Maßes von Kenntnissen und Abrichtung für die Pflichten des Staatsbürgers. Die Schule des 20. Jahrhunderts wird dagegen als Hauptziel die Ausbildung des selbständigen Denkens verfolgen, das klare Verständnis der erworbenen Kenntnisse und die Einsicht in den natürlichen Zusammenhang der Erscheinungen. Wenn der moderne Kulturstaat jedem Bürger das allgemeine gleiche Wahlrecht zugesteht, muß er ihm auch die Mittel gewähren, durch gute Schulbildung seinen Verstand zu entwickeln, um davon zum allgemeinen Besten eine vernünftige Anwendung zu machen.

[S. 229]

Zwanzigstes Kapitel.

Lösung der Welträtsel.

Rückblick auf die Fortschritte der wissenschaftlichen Welterkenntnis im neunzehnten Jahrhundert. Beantwortung der Welträtsel durch die monistische Naturphilosophie.

Am Ende unserer philosophischen Studien über die Welträtsel angelangt, dürfen wir getrost zur Beantwortung der schwerwiegenden Frage schreiten: Wie weit ist uns ihre Lösung gelungen? Welchen Wert besitzen die ungeheuren Fortschritte, welche das verflossene 19. Jahrhundert in der wahren Naturerkenntnis gemacht hat? Und welche Aussicht eröffnen sie uns für die Zukunft, für die weitere Entwickelung unserer Weltanschauung im 20. Jahrhundert? Jeder unbefangene Denker, der die tatsächlichen Fortschritte unserer empirischen Kenntnisse und die einheitliche Klärung unseres philosophischen Verständnisses einigermaßen übersehen kann, wird unsere Ansicht teilen: das 19. Jahrhundert hat größere Fortschritte in der Kenntnis der Natur und im Verständnis ihres Wesens herbeigeführt als alle früheren Jahrhunderte; es hat viele große »Welträtsel« gelöst, die an seinem Beginne für unlösbar galten; es hat uns neue Gebiete des Wissens und Erkennens aufgeschlossen, von deren Existenz der Mensch vor hundert Jahren noch keine Ahnung hatte. Vor allem aber hat es uns das erhabene Ziel der monistischen Kosmologie klar vor Augen gestellt und den Weg gezeigt, auf welchem allein wir uns ihm nähern können, den Weg der exakten empirischen Erforschung der Tatsachen und der kritischen genetischen Erkenntnis ihrer Ursachen. Das abstrakte große Gesetz der mechanischen Kausalität, für das unser kosmologisches Grundgesetz, das Substanzgesetz, nur ein anderer konkreter Ausdruck ist, beherrscht jetzt das Universum ebenso wie den Menschengeist; es ist der sichere, unverrückbare Leitstern geworden, dessen klares Licht uns durch das dunkle Labyrinth der unzähligen einzelnen Erscheinungen den Pfad zeigt. Um uns davon zu überzeugen, wollen wir einen flüchtigen Rückblick auf die erstaunlichen Fortschritte werfen, welche die Hauptzweige der Naturwissenschaft in diesem denkwürdigen Zeitraum gemacht haben.

IFortschritte der Astronomie. Die Himmelskunde ist die älteste, die Menschenkunde die jüngste Naturwissenschaft. [S. 230] Über sich selbst und sein eigenes Wesen kam der Mensch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Klarheit, während er in der Kenntnis des gestirnten Himmels, der Planetenbewegungen usw. schon vor 5000 Jahren viele Kenntnisse besaß. Die alten Chinesen, Inder, Ägypter und Chaldäer kannten im fernen Morgenlande schon damals die sphärische Astronomie genauer als die meisten »gebildeten« Christen des Abendlandes viertausend Jahre später. Schon im Jahre 2697 vor Chr. wurde in China eine Sonnenfinsternis astronomisch berechnet und 1100 Jahre vor Chr. mittels eines Gnomons die Schiefe der Ekliptik bestimmt; hingegen besaß Christus selbst (der »Sohn Gottes!«) bekanntlich gar keine astronomischen Kenntnisse; er beurteilte vielmehr Himmel und Erde, Natur und Mensch von dem beschränktesten geozentrischen und anthropozentrischen Standpunkte aus. Als größter Fortschritt der Astronomie wird allgemein und mit Recht das heliozentrische Weltsystem des Kopernikus betrachtet, dessen großartiges Werk: »De revolutionibus orbium coelestium« (1543) selbst die größte Revolution in den Köpfen der denkenden Menschen hervorrief. Indem er das herrschende geozentrische Weltsystem des Ptolemäus stürzte, entzog er zugleich der herrschenden christlichen Weltanschauung den Boden, welche die Erde als Mittelpunkt der Welt und den Menschen als gottgleichen Beherrscher der Erde betrachtete. Es war daher nur folgerichtig, daß der christliche Klerus, an seiner Spitze der römische Papst, die neue Entdeckung des Kopernikus aufs heftigste bekämpfte. Trotzdem brach sie sich bald vollständig Bahn, nachdem Kepler und Galilei darauf die wahre »Mechanik des Himmels« gegründet und Newton ihr durch seine Gravitationstheorie die unerschütterliche mathematische Basis gegeben hatte (1686).

Ein weiterer gewaltiger und das ganze Universum umfassender Fortschritt war die Einführung der Entwickelungsidee in die Himmelskunde; er geschah 1755 durch den jugendlichen Kant, der in seiner kühnen Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels nicht nur die »Verfassung«, sondern auch den »mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes nach Newtons Grundsätzen« abzuhandeln unternahm. Durch das großartige »Système du monde« von Laplace, der unabhängig von Kant auf dieselben Vorstellungen von der Weltbildung gekommen war, wurde dann 1796 diese neue »Mécanique céleste« so fest begründet, daß es scheinen konnte, unserem 19. Jahrhundert sei auf diesem größten Erkenntnisgebiete nichts wesentlich Neues von gleicher Bedeutung mehr vorbehalten. Und doch bleibt ihm der Ruhm, auch hier ganz neue Bahnen eröffnet und unseren Blick ins Universum unendlich erweitert zu haben. [S. 231] Durch die Erfindung der Photographie und Photometrie, vor allem aber der Spektralanalyse (durch Bunsen und Kirchhoff, 1860) wurden die Physik und Chemie in die Astronomie eingeführt und dadurch kosmologische Aufschlüsse von größter Tragweite gewonnen. Es ergab sich nun mit Sicherheit, daß die Materie im ganzen Weltall wesentlich dieselbe ist, und daß ihre physikalischen und chemischen Eigenschaften auf den fernsten Fixsternen nicht verschieden sind von denjenigen unserer Erde.

Die monistische Überzeugung von der physikalischen und chemischen Einheit des unendlichen Kosmos, die wir dadurch gewonnen haben, gehört sicherlich zu den wertvollsten allgemeinen Erkenntnissen, welche wir der Astrophysik verdanken, einem neuen höchst interessanten Zweige der Astronomie. Nicht minder wichtig ist die klare, mit Hilfe jener gewonnene Erkenntnis, daß auch dieselben Gesetze der mechanischen Entwickelung im unendlichen Universum ebenso überall herrschen wie auf unserer Erde; eine gewaltige allumfassende Metamorphose des Kosmos vollzieht sich ebenso ununterbrochen in allen Teilen des unendlichen Universums wie in der geologischen Geschichte unserer Erde; ebenso in der Stammesgeschichte ihrer Bewohner wie in der Völkergeschichte und im Leben jedes einzelnen Menschen. In einem Teile des Kosmos erblicken wir mit unserem vervollkommneten Fernrohre gewaltige Nebelflecke, die aus glühenden, äußerst dünnen Gasmassen bestehen; wir deuten sie als Keime von Weltkörpern, die Milliarden von Meilen entfernt und im ersten Stadium der Entwickelung begriffen sind. Bei einem Teile dieser »Sternkeime« sind wahrscheinlich die chemischen Elemente noch nicht getrennt, sondern bei ungeheuer hoher Temperatur im Urelement vereinigt. In anderen Teilen des Universums begegnen wir Sternen, die bereits durch Abkühlung glutflüssig geworden, anderen, die schon erstarrt sind; wir können ihre Entwickelungsstufe annähernd aus ihrer verschiedenen Farbe bestimmen. Dann wieder sehen wir Sterne, die von Ringen und Monden umgeben sind wie unser Saturn; wir erkennen in dem leuchtenden Nebelring den Keim eines neuen Mondes, der sich vom Mutterplaneten ebenso abgelöst hat wie dieser von der Sonne. Die moderne Himmelsphotographie hat uns in den Stand gesetzt, mit Hilfe der mächtigen, sehr vervollkommneten Riesenfernrohre, die Zahl der sichtbaren Weltkörper in den einzelnen Himmelsbezirken genau zu bestimmen; schon jetzt sind mehr als hundert Millionen Sterne wirklich gezählt worden, die meisten wahrscheinlich viel größer als unsere Erde.

Von vielen »Fixsternen«, deren Licht Jahrtausende braucht, um zu uns zu gelangen, dürfen wir mit Sicherheit annehmen, daß [S. 232] sie Sonnen sind, ähnlich unserer Mutter Sonne, und daß sie von Planeten und Monden umkreist werden, ähnlich denen unseres eigenen Sonnensystems. Wir dürfen auch weiterhin vermuten, daß sich Tausende von diesen Planeten auf einer ähnlichen Entwickelungsstufe wie unsere Erde befinden, d. h. in einem Lebensalter, in dem die Temperatur der Oberfläche zwischen dem Gefrier- und Siedepunkt des Wassers liegt, also die Existenz tropfbaren flüssigen Wassers gestattet. Damit ist die Möglichkeit gegeben, daß der Kohlenstoff auch hier, wie auf der Erde, mit anderen Elementen sehr verwickelte Verbindungen eingeht, und daß aus seinen stickstoffhaltigen Verbindungen sich Plasma entwickelt hat, jene wunderbare »lebendige Substanz«, die wir als alleinigen Eigentümer des organischen Lebens kennen. Die Moneren, die nur aus solchem primitiven Protoplasma bestehen, und die durch Urzeugung (Archigonie) aus jenen anorganischen Kohlenstoff-Verbindungen entstanden, können nun denselben Entwickelungsgang auf vielen anderen, wie auf unserem eigenen Planeten, eingeschlagen haben; zunächst bildeten sich aus ihrem homogenen Plasmakörper durch Sonderung eines inneren Kerns vom äußeren Zellkörper einfachste lebendige Zellen. Die Analogie im Leben aller Zellen aber berechtigt uns zu dem Schlusse, daß auch die weitere Stammesgeschichte sich auf vielen Sternen ähnlich wie auf unserer Erde abspielt — immer natürlich die gleichen engen Grenzen der Temperatur vorausgesetzt, in denen das Wasser tropfbar-flüssig bleibt; für glühendflüssige Weltkörper, auf denen das Wasser nur in Dampfform, und für erstarrte, auf denen es nur in Eisform besteht, ist organisches Leben in gleicher Weise unmöglich.

Die Ähnlichkeit der Phylogenie, die Analogie der stammesgeschichtlichen Entwickelung, die wir demnach bei vielen Sternen auf gleicher biogenetischer Entwickelungsstufe annehmen dürfen, bietet natürlich der konstruktiven Phantasie ein weites Feld für farbenreiche Spekulationen. Ein Lieblingsgegenstand derselben ist seit alter Zeit die Frage, ob auch Menschen oder uns ähnliche, vielleicht höher entwickelte Organismen auf anderen Sternen wohnen? Soweit wir gegenwärtig zur Beantwortung dieser Frage befähigt erscheinen, können wir uns etwa Folgendes vorstellen: I. Es ist sehr wahrscheinlich, daß auf einigen Planeten unseres Systems (Mars und Venus) und vielen Planeten anderer Sonnensysteme der biogenetische Prozeß sich ähnlich wie auf unserer Erde abspielt; zuerst entstanden durch Archigonie einfache Moneren und aus diesen einzellige Protisten. II. Es ist sehr wahrscheinlich, daß aus solchen einzelligen Urwesen sich im weiteren Verlauf der Entwickelung zunächst soziale Zellvereine [S. 233] bildeten, später gewebebildende Pflanzen und Tiere. III. Es ist auch fernerhin wahrscheinlich, daß im Pflanzenreiche sich zunächst Moose und Farne, später Algen, zuletzt Blumenpflanzen entwickelten. IV. Es ist ebenso wahrscheinlich, daß auch im Tierreiche der biogenetische Prozeß einen ähnlichen Verlauf nahm, daß aus Blastäaden sich zunächst Gasträaden entwickelten, und aus diesen Niedertieren später Obertiere. V. Dagegen ist es sehr fraglich, ob die einzelnen Stämme dieser höheren Tiere (und ebenso der höheren Pflanzen) denselben oder einen ähnlichen Entwickelungsgang auf anderen Planeten durchlaufen wie auf unserer Erde. VI. Insbesondere ist es unsicher, ob Wirbeltiere auch außerhalb der Erde existieren, und ob aus deren phyletischer Metamorphose sich im Laufe vieler Millionen Jahre ebenso Säugetiere und an deren Spitze der Mensch entwickelt haben wie auf unserer Erde; es müßten dann Millionen von Transformationen sich dort ganz ebenso wie hier wiederholt haben. VII. Dagegen ist es wahrscheinlicher, daß auf anderen Planeten sich andere Typen von höheren Pflanzen und Tieren entwickelt haben, die unserer Erde fremd sind; vielleicht auch aus einem höheren Tierstamme, der den Wirbeltieren an Bildungsfähigkeit überlegen ist, höhere Wesen, die uns irdische Menschen an Intelligenz und Denkvermögen weit übertreffen. VIII. Die Möglichkeit, daß wir Menschen mit solchen Bewohnern anderer Planeten jemals in direkten Verkehr treten könnten, erscheint ausgeschlossen durch die weite Entfernung unserer Erde von anderen Weltkörpern und die Abwesenheit der atmosphärischen Luft in dem ungeheuren, nur von Äther erfüllten Zwischenraum.

Während nun viele Sterne sich wahrscheinlich in einem ähnlichen biogenetischen Entwickelungsstadium befinden wie unsere Erde, sind andere schon weiter vorgeschritten und gehen im »planetarischen Greisenalter« ihrem Ende entgegen, demselben Ende, das auch unserer Erde sicher bevorsteht. Durch Ausstrahlung der Wärme in den kalten Weltraum wird die Temperatur allmählich so herabgesetzt, daß alles tropfbar flüssige Wasser zu Eis erstarrt; damit hört die Möglichkeit organischen Lebens auf. Zugleich zieht sich die Masse der rotierenden Weltkörper immer stärker zusammen; ihre Umlaufsgeschwindigkeit ändert sich langsam. Die Bahnen der kreisenden Planeten werden immer enger, ebenso diejenigen der sie umgebenden Monde. Zuletzt stürzen die Monde in die Planeten und diese in die Sonnen, aus denen sie geboren sind. Durch diesen Zusammenstoß werden wieder ungeheure Wärmemengen erzeugt. Die zerstäubte Masse der zerstoßenen kollidierten Weltkörper verteilt sich frei im unendlichen Weltraum, und das ewige Spiel der Sonnenbildung beginnt von neuem.

[S. 234]

Das großartige Bild, welches so vor unseren geistigen Augen die moderne Astrophysik aufrollt, offenbart uns ein ewiges Entstehen und Vergehen der unzähligen Weltkörper, einen periodischen Wechsel der verschiedenen kosmogenetischen Zustände, welche wir im Universum nebeneinander beobachten. Während an einem Orte des unendlichen Weltraums aus einem diffusen Nebelfleck ein neuer Weltkeim sich entwickelt, hat ein anderer an einem weit entfernten Orte sich bereits zu einem rotierenden Balle von glutflüssiger Materie verdichtet; ein dritter hat bereits an seinem Äquator Ringe abgeschleudert, die sich zu Planeten ballen; ein vierter ist schon zur mächtigen Sonne geworden, deren Planeten sich mit sekundären Trabanten umgeben haben, den Monden usw. usw. Und dazwischen treiben sich im Weltraum Milliarden von kleineren Weltkörpern umher, von Meteoriten und Sternschnuppen, die als scheinbar gesetzlose Vagabunden die Bahn der größeren durchkreuzen, und von denen täglich ein großer Teil in die letzteren hineinstürzt. Dabei ändern sich beständig langsam die Umlaufszeiten und die Bahnen der jagenden Weltkörper. Die erkalteten Monde stürzen in ihre Planeten wie diese in ihre Sonnen. Zwei entfernte Sonnen, vielleicht schon erstarrt, stoßen mit ungeheurer Kraft aufeinander und zerstäuben in nebelartige Massen. Dabei entwickeln sie so kolossale Wärmemengen, daß der Nebelfleck wieder glühend wird, und nun wiederholt sich das alte Spiel von neuem. Bei dieser beständigen Umbildung bleibt aber die unendliche Substanz des Universums, die Summe ihrer Materie und Energie, ewig unverändert, und ewig wiederholt sich in der unendlichen Zeit der periodische Wechsel der Weltbildung, die in sich selbst zurücklaufende Metamorphose des Kosmos, das »Perpetuum mobile« des Universums. Allgewaltig herrscht das Substanzgesetz.

IIFortschritte der Geologie. Viel später als der Himmel wurde die Erde und ihre Entstehung Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Die zahlreichen Kosmogenien alter und neuer Zeit wollten zwar über die Entstehung der Erde ebensogut Auskunft geben wie über die des Himmels; allein das mythologische Gewand, in das sie sich sämtlich hüllten, verriet sofort ihren Ursprung aus der dichtenden Phantasie. Unter all den zahlreichen Schöpfungssagen, von denen uns die Religions- und Kulturgeschichte Kunde gibt, gewann eine einzige bald allen übrigen den Rang ab, die Schöpfungsgeschichte des Moses, wie sie im ersten Buche des Pentateuch (Genesis) erzählt wird. Sie entstand in der bekannten Fassung erst lange nach dem Tode des Moses; ihre Quellen sind aber größtenteils viel älter und auf assyrische, babylonische und [S. 235] indische Sagen zurückzuführen. Den größten Einfluß gewann diese jüdische Schöpfungssage dadurch, daß sie in das christliche Glaubensbekenntnis hinübergenommen und als »Wort Gottes« geheiligt wurde. Zwar hatten schon 500 Jahre vor Chr. die griechischen Naturphilosophen die natürliche Entstehung der Erde auf dieselbe Weise wie die der anderen Weltkörper erklärt. Auch hatte schon damals Xenophanes von Kolophon die Versteinerungen, die später so große Bedeutung erlangten, in ihrer wahren Natur erkannt; der große Maler Leonardo da Vinci hatte im 15. Jahrhundert ebenfalls diese Petrefakten für die fossilen Überreste von Tieren erklärt, die in früheren Zeiten der Erdgeschichte gelebt hatten. Allein die Autorität der Bibel, insbesondere der Mythus von der Sintflut, verhinderte jeden weiteren Fortschritt der wahren Erkenntnis und sorgte dafür, daß die mosaischen Schöpfungssagen noch bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts in Geltung blieben. In den Kreisen der orthodoxen Theologen besitzen sie dieselbe noch bis auf den heutigen Tag. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begannen unabhängig davon wissenschaftliche Forschungen über den Bau der Erdrinde, und wurden daraus Schlüsse auf ihre Entstehung abgeleitet. Der Begründer der Geognosie, Werner in Freiberg, ließ alle Gesteine aus dem Wasser entstehen, während Voigt und Hutton (1788) richtig erkannten, daß nur die sedimentären, Petrefakten führenden Gesteine diesen Ursprung haben, die vulkanischen und plutonischen Gebirgsmassen dagegen durch Erstarrung feurigflüssiger Massen entstanden sind.

Der heftige Kampf, der zwischen jener neptunistischen und dieser plutonistischen Schule entstand, dauerte noch während der ersten drei Dezennien des 19. Jahrhunderts fort; er wurde erst geschlichtet, nachdem Karl Hoff (1822) das Prinzip des Aktualismus begründet und Charles Lyell dasselbe mit größtem Erfolge für die ganze natürliche Entwickelung der Erde durchgeführt hatte. Durch seine »Prinzipien der Geologie« (1830) wurde die überaus wichtige Lehre von der Kontinuität der Erdumbildung endgültig zur Anerkennung gebracht, gegenüber der Katastrophentheorie von Cuvier. Die Paläontologie, welche letzterer durch sein Werk über die fossilen Knochen (1812) begründet hatte, wurde nun bald zur wichtigsten Hilfswissenschaft der Geologie, und schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sie sich so weit entwickelt, daß die Hauptperioden in der Geschichte der Erde und ihrer Bewohner festgelegt waren. Die dünne Rindenschicht der Erde war nun mit Sicherheit als die Erstarrungskruste des feurigflüssigen Planeten erkannt, dessen langsame Abkühlung und Zusammenziehung sich [S. 236] ununterbrochen fortsetzt. Die Faltung der erstarrenden Rinde, die »Reaktion des feurigflüssigen Erdinnern gegen die erkaltete Oberfläche«, und vor allem die ununterbrochene geologische Tätigkeit des Wassers sind die natürlich wirkenden Ursachen, welche tagtäglich an der langsamen Umbildung der Erdrinde und ihrer Gebirge mächtig arbeiten.

Drei überaus wichtige Ergebnisse von allgemeiner Bedeutung verdanken wir den glänzenden Fortschritten der neueren Geologie. Erstens wurden damit aus der Erdgeschichte alle Wunder ausgeschlossen, alle übernatürlichen Ursachen beim Aufbau der Gebirge und der Umbildung der Kontinente. Zweitens wurde unser Begriff von der Länge der ungeheuren Zeiträume, die seit deren Bildung verflossen sind, erstaunlich erweitert. Wir wissen jetzt, daß die ungeheuren Gebirgsmassen der paläozoischen, mesozoischen und zänozoischen Formationen nicht viele Jahrtausende, sondern viele Jahrmillionen zu ihrem Aufbau brauchten. Drittens wissen wir jetzt, daß alle die zahlreichen, in diesen Formationen eingeschlossenen Versteinerungen nicht wunderbare »Naturspiele« sind, wie man noch vor 150 Jahren glaubte, sondern die versteinerten Überreste von Organismen, welche in früheren Perioden der Erdgeschichte wirklich lebten, und welche durch langsame Umbildung aus vorhergegangenen Ahnenreihen entstanden sind.

IIIFortschritte der Physik und Chemie. Die zahllosen wichtigen Entdeckungen, welche diese fundamentalen Wissenschaften im 19. Jahrhundert gemacht haben, sind so allbekannt und ihre praktische Anwendung in allen Zweigen des menschlichen Kulturlebens liegt so klar vor aller Augen, daß wir hier nicht Einzelnes hervorzuheben brauchen. Allen voran hat die Anwendung der Dampfkraft und Elektrizität dem 19. Jahrhundert den charakteristischen »Maschinenstempel« aufgedrückt. Aber nicht minder wertvoll sind die kolossalen Fortschritte der anorganischen und organischen Chemie. Alle Gebiete unserer modernen Kultur, Medizin und Technologie, Industrie und Landwirtschaft, Bergbau und Forstwirtschaft, Landtransport und Wasserverkehr, sind bekanntlich im Laufe des 19. Jahrhunderts — und besonders in dessen zweiter Hälfte — dadurch so gefördert worden, daß unsere Großväter aus dem 18. Jahrhundert sich in dieser fremden Welt nicht auskennen würden. Aber wertvoller und tiefgreifender noch ist die ungeheure theoretische Erweiterung unserer Naturerkenntnis, welche wir der Begründung des Substanzgesetzes verdanken. Nachdem Lavoisier (1789) das Gesetz von der Erhaltung der Materie aufgestellt und Dalton (1808) mittels desselben die Atomtheorie neu begründet hatte, war der modernen Chemie die Bahn eröffnet, [S. 237] auf der sie in rapidem Siegeslauf eine früher nicht geahnte Bedeutung gewann. Dasselbe gilt für die Physik betreffend das Gesetz von der Erhaltung der Energie. Seine Entdeckung durch Robert Mayer (1842) und Hermann Helmholtz (1847) bedeutet auch für diese Wissenschaft eine neue Periode fruchtbarster Entwickelung; denn nun erst war die Physik imstande, die universale Einheit der Naturkräfte zu begreifen, und das ewige Spiel der unzähligen Naturprozesse, bei welchen in jedem Augenblick eine Kraft in die andere umgesetzt werden kann.

IVFortschritte der Biologie. Die großartigen und für unsere ganze Weltanschauung bedeutsamen Entdeckungen, welche die Astronomie und Geologie im 19. Jahrhundert gemacht haben, werden noch weit übertroffen von denjenigen der Biologie; ja, wir dürfen sagen, daß von den zahlreichen Zweigen, in welchen diese umfassende Wissenschaft vom organischen Leben sich neuerdings entfaltet hat, der größere Teil überhaupt erst im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden ist. Wie wir im ersten Abschnitte gesehen haben, sind innerhalb desselben alle Zweige der Anatomie und Physiologie, der Botanik und Zoologie, der Ontogenie und Phylogenie, durch unzählige Entdeckungen und Erfindungen so sehr bereichert worden, daß der heutige Zustand unseres biologischen Wissens denjenigen vor hundert Jahren um das Vielfache übertrifft. Das gilt zunächst quantitativ von dem kolossalen Wachstum unseres positiven Wissens auf allen jenen Gebieten und ihren einzelnen Teilen. Es gilt aber ebenso und noch mehr qualitativ von der Vertiefung unseres Verständnisses der biologischen Erscheinungen, von unserer Erkenntnis ihrer bewirkenden Ursachen. Hier hat vor allen anderen Charles Darwin (1859) die Palme des Sieges errungen; er hat durch seine Selektionstheorie das große Welträtsel von der »organischen Schöpfung« gelöst, von der natürlichen Entstehung der unzähligen Lebensformen durch allmähliche Umbildung. Zwar hatte schon fünfzig Jahre früher der große Lamarck (1809) erkannt, daß der Weg dieser Transformation auf der Wechselwirkung von Vererbung und Anpassung beruhe; allein es fehlte ihm damals noch das Selektionsprinzip, und es fehlte ihm vor allem die tiefere Einsicht in das wahre Wesen der Organisation, welche erst später durch die Begründung der Entwickelungsgeschichte und der Zellentheorie gewonnen wurde. Indem wir allgemein die Ergebnisse dieser und anderer Disziplinen zusammenfaßten und in der Stammesgeschichte der Organismen den Schlüssel zu ihrem einheitlichen Verständnis fanden, gelangten wir zur Begründung jener monistischen Biologie, deren Prinzipien ich (1866) in meiner »Generellen Morphologie« festzulegen versucht [S. 238] habe. (Vergl. meine »Natürliche Schöpfungsgeschichte«, 11. Auflage, 1908). Die Anwendung der Entwickelungslehre auf die allgemeinen Fragen der Physiologie habe ich 1904 in meinem Buche über die »Lebenswunder« versucht. (Gemeinverständliche Studien über Biologische Philosophie, Ergänzungsband zu dem Buche über die »Welträtsel«.)

VFortschritte der Anthropologie. Allen anderen Wissenschaften voran steht in gewissem Sinne die wahre Menschenkunde, die wirklich vernünftige Anthropologie. Das Wort des alten Weisen: »Mensch, erkenne dich selbst« und das andere berühmte Wort: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge« sind ja von Alters her anerkannt und angewendet. Und dennoch hat diese Wissenschaft — im weitesten Sinne genommen — länger als alle anderen in den Ketten der Tradition und des Aberglaubens geschmachtet. Wir haben im ersten Abschnitt gesehen, wie langsam und spät sich erst die Kenntnis vom menschlichen Organismus entwickelt hat. Einer ihrer wichtigsten Zweige, die Keimesgeschichte, wurde erst 1828 (durch Baer) und ein anderer, nicht minder wichtiger, die Zellenlehre, erst 1838 (durch Schwann) sicher begründet. Noch später aber wurde die »Frage aller Fragen« gelöst, das gewaltige Rätsel vom »Ursprung des Menschen«. Obgleich Lamarck schon 1809 den einzigen Weg zu seiner richtigen Lösung gezeigt und »die Abstammung des Menschen vom Affen« behauptet hatte, gelang es doch Darwin erst fünfzig Jahre später, diese Behauptung sicher zu begründen, und erst 1863 stellte Huxley in seinen »Zeugnissen für die Stellung des Menschen in der Natur« die gewichtigsten Beweise hierfür zusammen. Ich selbst habe sodann in meiner Anthropogenie (1874) den ersten Versuch gemacht, die ganze Reihe der Ahnen, durch welche sich unser Geschlecht im Laufe vieler Jahrmillionen aus dem Tierreich langsam entwickelt hat, im historischen Zusammenhang darzustellen. Eine ausführliche Begründung der ganzen Stammesgeschichte und ihre Anwendung auf das natürliche System der Organismen habe ich in den drei Bänden meiner »Systematischen Phylogenie« gegeben (1894). Die schärfere kritische Unterscheidung der sechs Strecken und dreißig Hauptstufen unserer menschlichen Stammesgeschichte enthält meine Festschrift über »Unsere Ahnenreihe« (Progonotoxis hominis, Jena, 30. Juli 1908).

[S. 239]

Schlußbetrachtung.

Die Zahl der Welträtsel hat sich durch die angeführten Fortschritte der wahren Naturerkenntnis im Laufe des 19. Jahrhunderts stetig vermindert; sie ist schließlich auf ein einziges allumfassendes Universalrätsel zurückgeführt, auf das Substanzproblem. Was ist denn nun eigentlich im tiefsten Grunde dieses allgewaltige Weltwunder, welches der realistische Naturforscher als Natur oder Universum verherrlicht, der idealistische Philosoph als Substanz oder Kosmos, der fromme Gläubige als Weltgeist oder Gott? Können wir heute behaupten, daß die wunderbaren Fortschritte unserer modernen Kosmologie dieses »Substanzrätsel« gelöst oder auch nur, daß sie uns dessen Lösung sehr viel näher gebracht haben?

Die Antwort auf diese Schlußfrage fällt natürlich sehr verschieden aus, entsprechend dem Standpunkte des fragenden Philosophen und seiner empirischen Kenntnis der wirklichen Welt. Wir geben von vornherein zu, daß wir dem innersten Wesen der Natur heute vielleicht noch ebenso fremd und verständnislos gegenüberstehen, wie Anaximander und Empedokles vor 2400 Jahren, wie Spinoza und Newton vor 200 Jahren, wie Kant und Goethe vor 100 Jahren. Ja, wir müssen sogar eingestehen, daß uns dieses eigentliche Wesen der Substanz immer wunderbarer und rätselhafter wird, je tiefer wir in die Erkenntnis ihrer Attribute, der Materie und Energie, eindringen, je gründlicher wir ihre unzähligen Erscheinungsformen und deren Entwickelung kennen lernen. Was als »Ding an sich« hinter den erkennbaren Erscheinungen steckt, das wissen wir auch heute noch nicht. Aber was geht uns dieses mystische »Ding an sich« überhaupt an, wenn wir keine Mittel zu seiner Erforschung besitzen, wenn wir nicht einmal klar wissen, ob es existiert oder nicht? Überlassen wir daher das unfruchtbare Grübeln über dieses ideale Gespenst den »reinen Metaphysikern« und erfreuen wir uns statt dessen als »echte Physiker« an den gewaltigen realen Fortschritten, welche unsere monistische Naturphilosophie tatsächlich errungen hat.

Da überragt alle anderen Fortschritte und Entdeckungen des verflossenen »großen Jahrhunderts« das allumfassende Substanzgesetz, das »Grundgesetz von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes«. Die Tatsache, daß die Substanz überall einer ewigen Bewegung und Umbildung unterworfen ist, stempelt es zugleich zum universalen Entwickelungsgesetz. Indem dieses höchste Naturgesetz festgestellt und alle anderen ihm untergeordnet wurden, gelangten wir zu der Überzeugung von der universalen Einheit [S. 240] der Natur und der ewigen Geltung der Naturgesetze. Aus dem dunklen Substanz-Problem entwickelte sich das klare Substanz-Gesetz. Der Monismus des Kosmos, den wir darauf begründen, lehrt uns die ausnahmslose Geltung der »ewigen, ehernen, großen Gesetze« im ganzen Universum. Damit vernichtet er aber zugleich die drei großen Zentraldogmen der bisherigen dualistischen Philosophie, den persönlichen Gott, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit des Willens.

In der vorliegenden Behandlung der Welträtsel habe ich meinen konsequenten monistischen Standpunkt scharf betont und den Gegensatz zu der dualistischen, heute noch herrschenden Weltanschauung klar hervorgehoben. Ich stütze mich dabei auf die Zustimmung von fast allen modernen Naturforschern, welche überhaupt Neigung und Mut zum Bekenntnis einer abgerundeten philosophischen Überzeugung besitzen. Ich möchte aber von meinen Lesern nicht Abschied nehmen, ohne versöhnlich darauf hinzuweisen, daß dieser schroffe Gegensatz bei konsequentem und klarem Denken sich bis zu einem gewissen Grade mildert, ja selbst bis zu einer erfreulichen Harmonie gelöst werden kann. Bei völlig folgerichtigem Denken, bei gleichmäßiger Anwendung der höchsten Prinzipien auf das Gesamtgebiet des Kosmos — der organischen und anorganischen Natur —, nähern sich die Gegensätze des Theismus und Pantheismus, des Vitalismus und Mechanismus bis zur Berührung. Aber freilich, konsequentes Denken bleibt eine seltene Naturerscheinung! Die große Mehrzahl aller Philosophen möchte mit der rechten Hand das reine, auf Erfahrung begründete Wissen ergreifen, kann aber gleichzeitig nicht den mystischen, auf Offenbarung gestützten Glauben entbehren, den sie mit der linken Hand festhält.

Die alte Weltanschauung des Idealdualismus mit ihren mystischen und anthropistischen Dogmen versinkt in Trümmer; aber über diesem gewaltigen Trümmerfelde steigt hehr und herrlich die neue Sonne unseres Realmonismus auf, welche uns den wundervollen Tempel der Natur in seiner ganzen Pracht erkennen läßt. In dem reinen Kultus des »Wahren, Guten und Schönen«, welcher den Kern unserer neuen monistischen Religion bildet, finden wir reichen Ersatz für die verlorenen anthropistischen Ideale von »Gott, Freiheit und Unsterblichkeit«.

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.

Inkonsistente Schreibweisen wurden korrigiert.






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Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate

Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

Most people start at our Web site which has the main PG search
facility: www.gutenberg.org

This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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