The Project Gutenberg EBook of Die schöpferische Pause, by Fritz Klatt

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Title: Die schöpferische Pause

Author: Fritz Klatt

Release Date: November 19, 2017 [EBook #55999]

Language: German

Character set encoding: UTF-8

*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE SCHÖPFERISCHE PAUSE ***




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Anmerkungen zur Transkription

Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text ist so ausgezeichnet.

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Cover

Zeitwende

Schriften zum Aufbau neuer Erziehung


Fritz Klatt

Die schöpferische Pause

Signet

Drittes bis fünftes Tausend

Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 1922


Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprechen, vorbehalten. Copyright 1922 by Eugen Diederichs Verlag in Jena


[1]

Rhythmische Schwingungen

Alles was der Überlieferung wert erscheint, ist entweder Gekonntes oder Gewußtes. Jede Überlieferung hat die Absicht, die Jüngeren zu ihrer eigenen schöpferischen Leistung und zur eigenen liebenden Weisheit zu führen. Wer zu solch eigenem Können, eigenem Lieben, eigenem Wissen kommen will, muß zunächst einmal das Werkzeug seines Lebens in die Hand bekommen. Er muß seinen ererbten und durch die Umstände bedingten Körper sich zu eigen machen. Und dies kann nur geschehen, wenn der Mensch diesen seinen Körper einmal wirklich gespürt hat. Nur in einer günstigen Stunde wird das sein können. Diese Stunde wird eine Stunde der Bewegtheit sein. Das Lebendige wird dann als das Schwingend-Bewegte im eigenen Körper gespürt werden. Wer einmal so in sich das Leben gespürt hat, ahnt, daß diese innere Bewegung gesetzmäßig verläuft, daß die Schwingungen dies es selbst gelebten Einzellebens Abwandlungen des allgültigen Lebensgesetzes darstellen, des obersten Gesetzes, das in der sichtbaren wie der unsichtbaren Gesamtnatur herrscht und Aufbau und Abbau, Spannung und Entspannung, Kraft und Schwäche in rhythmischer Folge miteinander wechseln läßt.

Alle Schwingungen des eigenen körperbedingten Lebens, die kleinteiligsten wie die weitestschwingenden, sind also jedesmal neuartige Erfüllungen des allgemeinen Gesetzes und können als solche Erfüllungen empfunden werden. Dieses allgemeine Schwingungsgesetz vom Auf- und Abbau des Lebendigen ist nun so gebaut, daß zwischen Abschwellung und Anschwellung, zwischen Entspannung und neuer Spannung jedesmal eine Pause liegt, eine Pause, in der, ohne daß etwas getan wird, doch der neue Antrieb verborgen liegt. Und auf die schöpferische Bedeutung dieser Ruhelage vor allem kommt es an, bei all den kleinsten wie den größten Rhythmengefügen, durch die das Selbst des Menschen hindurchschwingt.


[2]

Blutschwingungen

Die pulsenden Schläge des Herzens bilden den kleinteiligsten Rhythmus in der Lebensleistung des Körpers. Wir wissen es alle, das eigenbewegte Blut ist das Grundfließend-Bewegte in uns. Hier ist der Rhythmus, der uns mit allem Lebendigen zu unterst in schwingender Verbindung hält, zugleich der Rhythmus, der uns in die eigenste und einsamste Absonderung treibt.

Das strömende Blut verbindet den Leib der Mutter unmittelbar mit dem Kind. Dies ist ja wirklich jedem geschehen. Wer es vermag sich da hinunter zu ducken, dem schlafen alle Sinne ein. Er wird wie durch einen dunkel purpurnen Schlund hinunter gezogen auf den Grund eines Stromes, der zu unterst unter Zeit und Raum, Licht und Dunkelheit fließt, aus dem alles Lebendige immer von neuem wirbelhaft aufgeschleudert wird, ein Springbrunn von Blut. Weil dieser Springbrunnen so langsam durch die Zwischenschichten: Raum und Zeit und Licht dringt, sind wir meist wie gelähmt in unserer Verbindung nach dem Grund. Wir spüren nur unsern eigenen Auftrieb, nicht das Woher dieses Auftriebes. Nur wenn einer so mitten im Leben einmal, ohne zu wissen warum, an seine Mutter denkt, nicht denkt, sondern so wie von einem Schreck ganz und gar von diesem Gefühl: Mutter durchschossen wird, in dem spricht dann das Blut aus seiner schwindelnden Tiefe. Er ist nicht mehr einsam, sinkt in den Strom von Familie, Geschlecht, Rasse, verliert sich selbst und wird nur noch Bewegung von irgendwoher nach irgendwohin.

Verbindung nach unten ist das eine, der Auftrieb ist das zweite Erlebnis des Blutes. Zur Absonderung treibt es, zu hundert Zweigungen und Ästen, Liebesgedanken und Lebenswerken und schließlich zum Tod. Auch dies spürt ein jeder, vielleicht wenn er mitten in der Nacht einmal aufwacht und in der großen Stille seiner Einsamkeit gewahr wird. Oder wenn er mitten in freudevollster Arbeit innehält und die Arbeit seiner Hände oder seiner Gedanken noch fast unmittelbar als die aus seinem Blut hochgesprossene Blüte riecht, als die letzte, nun der Erstarrung preisgegebene Endigung abspritzenden Lebens.

Nun kommt alles darauf an, nach der einen wie nach der anderen Seite voll zur Schwingung zu gelangen. Mit willensmäßiger Anspannung ist nichts getan. Das Herz schlägt, kann nicht eigenwillig beschleunigt oder verlangsamt werden. Sich geschehen lassen, hingegeben sein, ist hier die[3] Haltung. Alles was Liebe, Wissen, Tod genannt wird, alles was den einzelnen Menschen aus seiner Vereinzelung heraus sich besinnen läßt, alles was Verbindungen schafft und schließlich das Opfer des Selbst erfordert, hat hier in der Tiefe des menschenverbindenden Blutstroms seinen sinnlich-spürbaren Grund, seine Wirklichkeit. Dies wird später zu verfolgen sein.

Aber alles was Lust, Freude, Leistung, Leben genannt wird, was den einzelnen Menschen gerade in seiner Vereinzelung, seiner Einmaligkeit steigert und unverwechselbar in seinem eigenen Selbst schwingen läßt, das ist der Auftrieb aus dem allverbindenden Blutstrom. Davon soll zunächst die Rede sein.


Atemschwingungen

Die Schwingungen des Atems übertönen die Herzschläge. Mehrere Blutwellen gehen während eines Atemzuges ein und aus. Der Atem geht lauter. Vor allem: die Schwingungen des Atems sind willkürlich dehnbar. Dabei ist von entscheidender Wichtigkeit, daß die Pause zwischen Ausatmung und neuer Einatmung dehnbar ist.

Diese Pause ist schöpferisch. Aus ihrer Tiefe kann der wahrhaft eigene Atem sich erheben. Bei den meisten Menschen wird diese Gelegenheit immer wieder vorbeigelassen. Ihr Atem schwingt achtlos über diese Besinnungspause hinweg. So kommen alle diese gar nicht zu ihrem Eigenatem, sondern verbleiben in dem allgemeinen Rhythmus ihres durch Vererbung bedingten Gattungs-Körpers. Würde man die täglichen Atemzüge eines Menschen in schwingenden Kurven darstellen über einer Linie, welche die Ruhepunkte zwischen Ein- und Ausatmen miteinander verbände, so würde das ein höchst zittriges und klägliches Bild ergeben. Auch würde diese Kurve mit dem An- und Abschwellen der alltäglichen Leistungen der Menschen durchaus nicht übereinstimmen. Vielmehr werden die Atemschwingungen gewöhnlich kurzwellig und ängstlich, wenn die Leistung größer wird. Die Atempausen werden dann nicht innegehalten. Der Mensch dringt nicht bis in die Tiefe der Besinnung hinab, atmet hastig schon wieder ein, wo er eigentlich noch einhalten müßte.

Es besteht zwischen solchem ängstlichen Atem und dem Mißlingen der Leistungen ein ursächlicher Zusammenhang, der durch Selbstbeobachtung leicht in seinem ganzen Umfang aufgedeckt werden kann. Wo dann trotz dieses Widerspruches von Atmung und Leistung Taten entstehen, geschieht[4] das eben auf Kosten der Lebenskraft. Und dieses ist der gewöhnliche Zustand der heutigen Menschen, die durch ihre Arbeit hoffnungslos aufgezehrt werden und oft schon in der Mitte ihres Lebens verbraucht sind.

Das Wissen von dem grundlegenden Wert des Atems ist Urzeitgut aller Menschen. In allen großen Religionen ist der Heilswert des Atems bewußt in das Ritual eingebaut. Ausatmend wird der Gottheit das Opfer der gesprochenen Gebete dargebracht und nach der schöpferischen Pause einer inbrünstigen Besinnung dann die Gnade des Gottes mit dem eingeatmeten Luftstrom in den Körper aufgenommen1.

Es müßte dann hier der ganze anatomische Vorgang der Atmung und seine entscheidende Bedeutung für das Körperleben dargestellt werden. Und der Doppelstrom religiöser Inbrunst und naturwissender Klarheit zusammen würde dem System der Atemlehre genügend Weite geben.

Die Andeutung dieser großen Zusammenhänge genügt. An der systematischen Erkenntnis allein ist hier wenig gelegen. Nur wer in irgendeiner dunklen Stunde des Einklangs mit sich selbst erlebt hat, wie sein Atem rauschte, und wie der Rhythmus des eigenen Blutes in der Tiefe der Atempause spürbar wurde, nur der kann begreifen, daß es sich hier in Wahrheit um das Wesentliche handelt, nämlich um die Aneignung des Rhythmus, der jeder Regung und Leistung des eigenen Lebens zugrunde liegt.

Der führende Mensch hat an dieser entscheidenden Stelle seine immer wieder neue Bildungsaufgabe, nämlich den Eigenrhythmus in dem Atem seines Anvertrauten hervorzulocken. Bildung ist nur durch Beispiel möglich. Die Führung an dieser entscheidenden Stelle mißlingt naturgemäß überall da, wo der Führende seinen eigenen Rhythmus verwirrt oder sich verwirren läßt. Er merkt es sofort: er hat dann nicht Ruhe zu warten, und wie lange wird er auf den Rhythmus des Anderen lauschen müssen, bis er eines Tages wirklich weiß: dies ist sein Rhythmus. Erst mit diesem Klangbild im Herzen wird er ihn nun zu locken beginnen mit einer solchen freudevollen Gewißheit, daß sich der Andere dem gar nicht mehr entziehen kann. Nicht in irgendeinem zwangsmäßigen Sinn: zu jeder Stunde, wo er merkt, daß jener seinem eigenen Rhythmus nahe kommt, da wird er[5] mit seinem ganzen führenden Wesen zu rauschen beginnen, er wird den suchenden Atemklang des werdenden Menschen mit einem ganzen Bündel mitklingender Töne aus seiner eigenen Seele umgeben, daß jener sofort merkt: hier wird etwas in mir. Kein Wort wird die Bedeutung solchen Augenblicks zum Ausdruck bringen können, höchstens, daß es im Auge mit aufleuchtet.

Selbstatmend wird er ihm helfen, indem er seine eigenen Atemzüge einfließen läßt in die Atemgezeiten seines Vertrauten, vielmals des Tags bei Arbeit und Freude und manchmal des Nachts in der wechselnden Tiefe des Schlafs. Unmerklich wird er so den Atem des Anderen lenken und vielleicht durch sein immerwährendes Beispiel ihn vermögen, öfter und tiefer herabzusteigen zu der Ruhelage seines eigenen Selbst. Nur in völliger Selbstlosigkeit und ohne Machtgelüste und ohne zur Schau getragene Absichtlichkeit darf diese Lenkung geschehen. Vielleicht wird der Atem auch bewußt geübt werden können. Die Gefahr dabei ist, daß der erste Antrieb, die dunkle Sehnsucht zum Eigensten, verdeckt wird durch die besondere Lust, die jedes Können durch sich selbst bereitet. Der Führer, der stets jenes erste Klangbild von dem Atemrhythmus des Jüngeren in sich bewahrt, wird dann an irgendeinem Tage ihm auf die Schultern klopfen und ihm begreiflich machen: so ist das Bild, und dein Können bleibt an dieser Stelle. Stimmt das noch?


Tagesschwingungen

Der durch den schwingenden Atem immer sicherer werdende Eigenrhythmus wird auch allmählich helfend spürbar werden, wo das Selbst des Menschen durch größere Zeitteile des Lebens hindurch schwingt. Alle diese größeren Rhythmengefüge, die da in Betracht kommen, unterscheiden sich in etwas grundsätzlich von dem Blut- und Atemrhythmus. Der schwingende Atem erbaut seine Periodik nach einer gewissermaßen in dem Menschen selbst befindlichen Schwingungszahl. Diese größeren Rhythmengefüge aber, von denen nun die Rede sein wird, schwingen außerhalb des Menschen selbst. Auf ihre Periodik hat er keinen willensmäßigen Einfluß. Hier bleibt immer nur die Frage: wie schwingt sich sein Selbst durch diesen fest bestimmten und unveränderlichen Lauf der Gezeiten? Oder anders gewandt: Wie behauptet sich sein Selbst in der Zeit?

Genau so achtlos und ihrer selbst unbewußt wie die Menschen gewöhnlich hinwegatmen über ihren eigenen Rhythmus, genau so mechanisch[6] leben sie im allgemeinen über die durch den Umlauf der Gestirne bedingten kleineren und größeren Gezeiten hinweg, ohne ihren eigenen Rhythmus darin zu behaupten oder auch nur zu erkennen. Deutlich wird dieser Zustand an der Tatsache, daß der Kalender zu einer ganz mechanisch benutzten Zeittabelle herabgesunken ist. Der Abreißkalender ist heute das Symbol für diese achtlos wegwerfende Gebärde der Menschen. Man reißt die Tage in seinem Leben ab, achtlos einen nach dem andern und so die Wochen, Monate, Jahreszeiten und Jahre.

Niemand fragt: was ist das nun, Tag? Diese durch den Sonnenlauf gesetzmäßig bedingte Einheit, geteilt in Tag- und Nachthälfte, dieser Doppelrhythmus, ansteigend und absteigend von Morgen zu Abend und abermals absteigend und ansteigend von Abend zu Morgen. Niemand fragt auch die zweite darin enthaltene Frage: wie behauptet sich nun das Selbst des Menschen in diesem rhythmisch schwingenden Tageslauf?

Diese beiden Fragen sind aber von grundlegender Bedeutung für den Lebensaufbau. Es muß geschehen, daß der Mensch diese rhythmische Urgewalt von Tag und Nacht immer von neuem wieder spürt und liebend erkennen lernt und sein Selbst darin einfügen lernt. Zunächst also dies: von der einfachen Schwere dieses gesetzhaften Ereignens: Tag und wieder Tag und wieder Tag! muß der Mensch bis zum Rand voll werden. Er muß leben können wie ein Vogel oder ein Waldtier, hingegeben und ganz abhängig von der ewigen Wiederkehr der Tage. Ganz klein und schwach muß er werden, willenlos sich überlassen dieser reißenden Gewalt des Sonnenlaufs. Er muß sich mit aufnehmen lassen von dem großen Schwung des Morgens, er muß sanft und langsam mit hinabschwingen bis zur mittäglichen Pause. Er muß dann mit dem Nachmittag schwerer sich noch einmal aufschwingen und dann endgültig hinabschwingen in die Ruhe der abendlichen Pause, in den Feierabend. Die große Frage jedes Tages ist also: wie ist es möglich, sich ganz offen zu halten, sich ungehemmt von den rhythmischen Wellen der Sonnenwiederkehr durchfluten zu lassen?

Das ist nur möglich, wenn der Körper des Menschen mit dem Tag, durch den er hindurchschwingt, gleich gestimmt wird. Wie schwingt nun das Selbst des Menschen durch seinen eigenen Körpertag? Ein jeder weiß ja ungefähr von diesem seinem täglichen Auf- und Abbau, aber das Wissen darum ist eben ganz lückenhaft und das Gesetz, das da zugrunde liegt, bleibt unvollkommen erkannt und stückweis befolgt.

[7]

So ist der tägliche Auf- und Abbau des Menschen, der Stoffwechsel, zu beschleunigt oder zu stockend geworden, weil er von Jugend an sein eigenes Gesetz nicht recht beachtend, zu viel oder zu wenig oder unzuträgliche Nahrung zu sich nimmt und dementsprechend die Abfallstoffe nicht genügend ausscheidet. Unreinheit des Blutes, Stocken des ganzen Säfteumlaufs ist die Folge. Nach außen braucht das oft gar nicht so sichtbar zu werden. Oft aber ist es spürbar als ein fader oder gar schlimmer Geruch, der sich von dem Körper erhebt. Allgemeine Nahrungsgesetze und chemische Tabellen können hier nur den äußeren Rahmen einer vernünftigen Ernährung bestimmen. Nur unmerklich und zwanglos kann der Führer hier sein Amt erfüllen. Der junge Mensch muß einfach eine nicht einseitige, sorgfältig und liebevoll bereitete und in jedem Fall reine Nahrung erhalten und nach seinem Beispiel allmählich freudig und nachdenkend essen lernen. Er wird lernen, wie diese Nahrungsstoffe gewachsen, zusammengesetzt und wie sie zubereitet sind, vor allem aber wie sie auf sein Selbst wirken. Er wird lernen, wieviel von Aufbau bewirkenden und Ausscheidung bewirkenden Stoffen er braucht, in welchen Abständen er essen muß und in welchen Abständen er wiederum sich der Abfallstoffe entledigen muß.

So wird der junge Mensch allmählich überall die noch nicht vom eigenen Rhythmus beseelte Schwere seines Körpertages zu spüren beginnen. Alle die vielen Menschen, die noch keinen eigenen Körper besitzen, die höchstens über dem mit Kleidern behangenen Rumpf einen eigenen Kopf besitzen, werden schwer begreifen, um was es sich hier handelt, nämlich um die Eigenbeweglichkeit des Menschen. Der Führer wird lange hinhören müssen, wo und wann es sich zuerst in dem Körper seines Vertrauten regt. Am Morgen vielleicht, wenn die ersten Bewegungen des Körpers noch gegen die Ruhelage der Nacht am ausdrucksvollsten sich abheben, wird er sagen können: so stürmisch oder so bedächtig ist sein wahrer Tagesrhythmus. Die Muskeln und Sehnen werden entweder verkrampft sein oder zu wenig entwickelt. Die Verdauung wird zu schnell oder zu langsam arbeiten. Überhaupt der ganze Mensch wird entweder zu gespannt oder zu schlaff sein. Das ist eine Abweichung von dem wahren Selbst dieses Menschen, der sich in seiner ganzen Schönheit dem Führenden vielleicht einmal in der gelockerten Haltung des Schlafes oder in einer unbewußten Gebärde irgendeines wilden Tages wesentlich offenbart hat.

Diese Abweichung im Sinne zu großer Spannung oder zu großer[8] Entspannung wird vielleicht durch Übung der einzelnen Glieder und des ganzen Körpers aufgehoben werden können. Solche gymnastische Übung braucht nun keineswegs jeden Körper womöglich nach demselben System gleichmäßig in allen seinen Teilen durchzubilden. Wie bei der Ernährung kann das System nur der äußere Rahmen der Körperübungen sein. Die Schwingung des Körpertages muß durchschlagen, muß allein bestimmend sein für die Wahl, Anzahl und Zusammensetzung der Übungen. Oft werden auch gar keine Übungen nötig sein. Das große Ziel, das immer im Auge behalten werden muß, ist allein dieses: wie der ganze Mensch ist, so sollen seine Gebärden, sein Gang, seine Haltung, alle seine Bewegungen sein, ein immer lebendiger unverwechselbarer Ausdruck seiner Tage.

Beides zusammen, der Stoffwechsel im Innern des Körpers und die Bewegung des Körpers nach außen, erbauen das Gefüge des Körpertages. Dieser tagtäglichen Wahrheit gilt es ganz eingehend in sich selbst nachzuspüren: wie die von außen genommenen täglichen Aufbaustoffe innen im Körper verarbeitet werden und sich wieder nach außen in die tägliche Bewegung des Körpers umprägen. Die Gebärde, d. h. die gesamte Eigenbeweglichkeit der Menschen ist ganz entscheidend von der Ernährung abhängig. Die auffällige Verschiedenheit des Menschenschlags in oftmals nahe beieinanderliegenden Gegenden ist aus der verschiedenen Nahrung zu erklären. In Gegenden, wo viel Fleisch und Fett gegessen wird, bildet sich ein schwerer Schlag aus, Menschen von langsamen, nachdrücklichen, schwerflüssigen Gebärden. Und wie im kleinen so sind auch sicherlich die wenigen großen Rassen der Menschheit in ihrer körperlichen Artverschiedenheit nicht nur durch das Klima bestimmt, sondern auch durch grundlegend verschiedene Ernährungsgewohnheiten. Davon hängt wesentlich ab, was in Gebärde und Geruch bei den anderen Rassen anders ist und oftmals gerade die unüberwindliche Abneigung der Rassen voreinander, den Rassenhaß, im tiefsten und unbewußten Sinne begründet. Die Menschen können sich tatsächlich nicht riechen und geraten in Wut, wenn sie die grundanderen Gebärden der anderen Rasse sehen.

Die wenigen selbständigen Menschen, die Rassenhaß wirklich überwinden können, sind nicht etwa die geistig Selbständigen (bei denen bricht Rassenhaß notwendig, wenn auch oft gegen ihren Willen immer wieder durch), sondern die körperlich Selbständigen, welche Eigengeruch und Eigenbeweglichkeit besitzen. Sie allein können die rassenfremde Körperlichkeit als etwas Schicksalhaftes begreifen, vielleicht sogar als etwas[9] Fernes lieben, wie sie ja auch die Masse der eigenen Rassegenossen längst als körperfremd und fern zu empfinden gelernt haben. Nur die wenigen Menschen, die sich ihren Körper zu eigen gemacht haben, also ihr körperliches Selbst beherrschen und lieben können, finden stillschweigend über alle Rassenunterschiede hinweg unmittelbaren Zugang zueinander. Über alle die andern kommt notwendig immer wieder der wilde, leidenschaftlich schöne Haß, der letzten Endes zu Krieg und Vernichtung führt, aber zuvor freilich auch die herrlichsten Werke des Glaubens und der Kunst im Wetteifer gegeneinander emporstellen hilft.


Das Bild eines Tages2

Der für jeden Menschen nach einem ganz allein ihn selbst angehenden Gesetz gebaute Körpertag fügt sich ein in den großen, für alle Menschen, ja für alle Lebewesen gleichgestimmten Sonnentag. Diese tägliche Durchdringung von Körper- und Sonnentag wird sich nun vielleicht für die gemeinsam Suchenden, für Führer und Gemeinde in den gemeinsam durchlebten Tagesläufen, allerdings langsam genug, ergeben.

Am frühen Morgen entscheidet sich das Schicksal jedes Tages. Die aufspringende Wucht des Morgenanstiegs muß vor allen Dingen ungehemmt bleiben. Die in der Nacht abgebauten Stoffe müssen da sorgfältig aus dem Körper entfernt werden, so daß der Körper von innen und außen leicht und rein in den Morgen geht. Aus der Ruhelage der Nacht schießt die Morgenkraft des Sonnentages auf. Dies Schwebende, Schießende, Sprießende des Morgens ist so unbeirrt stark und eigenständig, daß der Mensch sich davon tragen lassen muß. Alles muß er tun, um seinen Körper leicht zu machen, daß er die Schaukel jedes Sonnentages bei ihrem Aufschwung möglichst wenig beschwert. Erwachend, muß er seine Atemschwingungen gleich leicht machen, die Schwere des Schlafes ausatmen. Sich dehnend, wird er die schlafgebundenen Glieder wieder beweglich machen. Er wird den ganzen Körper durch ein Bad von außen und durch die Abführung der Abfallstoffe von innen reinigen. Mit aller Inbrunst wird er sich dieser Bereitung seiner selbst hingeben, wissend, daß er nur so in den aufschwingenden Takt des Tages rasch und leicht hineinkommen kann. Nun muß er sich tragen lassen von dem Aufschwung des Morgens und alles Eigenwillige unterlassen. Wenn er durch eine große[10] Morgenmahlzeit dem Körper sehr viel Aufbaustoffe zuführt, ist es vorbei mit diesem Sichtragenlassen. Nicht viele schwere fett- und mehlhaltige Stoffe wird er zu sich nehmen, sondern viel eher irgend etwas Zartes und Aromatisches. Der Führende kann hier seinen Anvertrauten viel helfen, indem er all das, was die bequemliche Gewohnheit alternder Menschen dem Morgenanstieg in den Weg gebaut hat, ihnen forträumt oder vielmehr erst gar nicht an sie heranläßt. Er wird einfach bei jedem Einzelnen abwarten, ob er auch wirklich das Verlangen hat, solche schweren Dinge frühmorgens zu essen. Diese tägliche Morgenfrage muß eben täglich von neuem eine Frage sein, darf nicht durch einen immer wieder in der gleichen Weise besetzten Frühstückstisch abgestumpft werden. Erst dann wird allmählich jeder Einzelne lernen, was und wieviel und zu welcher Zeit er etwas frühstücken soll, ohne sich für seinen Tag zu belasten.

Die aufsteigende Kraft des Morgens wird sich nun voll und freudig in Arbeit umsetzen können. Die frühen Morgenstunden sind die Stunden der schöpferischen Leistung. Das kann nun körperliche wie gedankliche Leistung sein. In jedem Fall aber muß die Arbeit getragen sein von dem Morgen, muß drängen und strömen und jubeln mit dem steigenden Bogen der Tageskraft. Wo die Arbeit des frühen Morgens etwa durch ihre Schwere oder ihre Zerstreutheit oder ihre Gleichförmigkeit zu unlustiger oder gedankenloser Verrichtung zwingt, ist gleich der ganze Tagesschwung in seiner aufspringenden Wucht gefährdet. Der Mensch ergibt sich dann wohl auch, trägt seine Arbeitslast geduldig oder ungeduldig bis zum Abend fort, aber Lust und Freude ist dahin. Der lebendige Wettlauf der eigenen Kräfte mit der steigenden Sonne ist am Anfang gleich unmöglich gemacht. Das ist das Schicksal der meisten körperlich wie geistig arbeitenden Menschen unserer Tage geworden.

Hier gilt es umzuordnen. Die wahrhaft drängende, die schöpferische Arbeit muß an den Morgen des Arbeitstages geschoben werden. Feld- und Gartenarbeit in dem aufdampfenden Erdboden mit den erwachten Pflanzen ist so drängende Arbeit. Auch das Versorgen der morgenkräftigen Tiere im Stall ist so drängend. Die Vorbereitung und Zubereitung der Speisen für die beiden Tagesmahlzeiten in der Küche, das Schaben und Putzen, Kochen und Backen der frischen, wohlriechenden Dinge, die dem täglichen Körperaufbau dienen sollen, auch das ist solche drängende Arbeit. Dies alles muß den jungen werdenden Menschen früh schon nahegebracht werden, nicht als harte Notwendigkeit, sondern als spielendes,[11] freudevolles Tun. Bei solcher drängenden Morgenarbeit müssen sie spielend erst, dann helfend dabei sein. Solche drängende Wucht und strömende Notwendigkeit muß zum mindesten hinter aller Morgenarbeit jugendlicher Menschen stehen. Schöpferische Arbeit muß es sein. Alles handwerkliche und künstlerische Tun und jede Unterweisung darin gehört in den Morgen des Tages. Es ist ein trauriges Ergebnis, wenn man die »Stundenpläne« der Schulen und Hochschulen daraufhin prüft.

Die Kraft des aufsteigenden Tagesbogens reißt Tat- und Gedankenschöpfung mit sich empor. Das entstehende Werk wird durch die mitschaffenden Elementarkräfte des Morgens mitgetragen und von jeder anhaftenden Schwere und Eigenwilligkeit seines Erschaffers befreit. Die ansteigende Bogenkraft des Tages kann sich dehnen und manchmal ein stundenlanges Aufsteigen gewähren. Stunden der Schaffenskraft, in denen der Mensch sich getragen fühlt, in denen die schaffende Kraft durch ihn hindurch durch die Vermittlung seiner Hände und seines Geistes die Dinge ordnet und auferbaut.

Aber der Aufstieg wird auch aufhören. Die Stunden des Abbaus beginnen. Auch hier muß der Mensch für seinen Körpertag lernen, dem Willen des Sonnentages nachzugehen. Wo der Führer bei seinen Vertrauten die ersten Zeichen der Ermüdung verspürt, muß er die Kraft haben, den Gang der Dinge zu unterbrechen, zu sagen: jetzt ist's genug. Jetzt tun wir etwas anderes. Er muß sie nun zu reproduktiver, zu mechanischer, zu übender Arbeit hinüberleiten. Körperliche Übungen, Gedächtnisübungen, Sprachübungen, belehrende Unterredung über die Geschichte der Natur und des Menschen gehören in diese absteigenden Vormittagsstunden. Fallende, nicht steigende Kraft treibt hier das Räderwerk der Arbeit, bis die Tiefe des Tages, die Mittagspause, erreicht ist.

Nur wer im hohen Sommer die mittägliche Ruhe der Natur einmal wirklich erlebt hat, kennt den Sinn des Mittages. Der Mensch muß hier in sich selbst versinken, ganz zur Besinnung, zur Ruhe kommen. Und als erste körperliche Aufbauregung wird nun der Hunger kommen, das Verlangen nach aufbauender Nahrung, und dieses Verlangen wird befriedigt werden im Mittagessen, das wahrhaft eingebettet sein muß in die schöpferische Pause des Tages. Das Essen wird in Stille und Freudigkeit eingenommen werden und ganz hingegeben an den aufbauenden Sinn des Essens. Wenn es in Gemeinschaft geschieht, dürfen sich die Menschen dabei gegenseitig nicht mehr stören durch viel Gespräch und[12] irgendwelche Anforderungen aneinander. Das Beispiel des Führenden wird hier wirken und allmählich eine rechte Tischgemeinschaft unter seinen Anvertrauten schaffen müssen.

Nun wird der Nachmittag heraufsteigen; sein Anstieg hat nicht die Wucht des Morgenanstiegs, dem Eigenwillen der Menschen ist nun viel mehr Freiheit gegeben. Die durch das Essen zugeführten Stoffe müssen im Körper verarbeitet werden. Darum ist die Lust, an irgendwelche Arbeit nach außen Kraft abzugeben, gering. Besonders bei Kindern, die noch im Wachstum sind, ist der nachmittägliche Arbeitswille gering. Viel eher ist es dem kindlichen Leben gemäß, am frühen Nachmittag zu spielen und herumzulaufen, und am späten Nachmittag erst wird sich das Kind wieder zu kurzer Arbeit entschließen können. Wo Kinder frühzeitig zur Nachmittagsarbeit gezwungen werden, geht das sicherlich auf Kosten ihres Körperaufbaus. Wenn späterhin die dem Kindesalter entwachsenen Menschen am Nachmittag noch schaffende Arbeit tun wollen, müssen sie wissen, daß diese Arbeit schwere Arbeit ist. Sie wird dem Körper abgerungen und ist nicht so strömend und so drängend wie die Morgenarbeit. Der Fluß der Leistung ist zäher, von dem bewußten Willen abhängiger. Entwerfen, Planen, Beginnen gehört in die Morgenstunde. Aber das Durcharbeiten und Prüfen, Überdenken, Verändern, Vollenden gehört in den Nachmittag. Nachmittagsarbeit ist langsamer und stockender, von vornherein auf die Überwindung von Hindernissen eingestellt. Schwere problemreiche Arbeit von wissenschaftlich-philosophischer Art gehört in den Nachmittag, als ein Sieg des Geistes über körperliche Schwere.

Dieser Sieg kann naturgemäß nur dann errungen werden, wenn die Wechselbeziehung zwischen der für den Körperaufbau notwendigen Kraft und der freiwerdenden Arbeitskraft genau bekannt ist. Der Führende wird jeden seiner Anvertrauten von früh auf genau beobachten müssen, damit er ihm später auf seine Fragen Aufschluß geben kann. Und alsdann wird es für alle einzelnen Glieder der Gemeinschaft allmählich klar werden, daß sie ihr Mittagessen nicht allein nach ihrem Hunger bemessen dürfen, sondern auch noch irgendwie mit ihren vielleicht sehr verschiedenen Tagesabsichten in Einklang bringen müssen! Ein wahrhaft schöpferischer Tag läßt Hungergefühl oft erst sehr verspätet oder gar nicht aufkommen.

Wenn stundenlang schwere und mühsame Arbeit getan ist, kommt die[13] Abspannung des Gesamttages. Der Mensch geht in den Abend des Tages ein. Und damit erreicht er wieder die schöpferische Pause. Er überläßt sich der Ruhe des Sonnentages. In kleinen Städten und auf dem Lande setzen sich zu dieser Stunde die Menschen auf die Bank vor dem Hause oder gehen über die abendlichen Felder. Aus dem Zusammenklang der inneren Abendruhe des Menschentages mit der äußeren Abendruhe des Sonnentages wird Feierabend. Des Morgens darf der Körper nur möglichst wenig belastet werden, um den Morgenaufschwung nicht zu hemmen, am Mittag muß das Gleichgewicht zwischen Körperaufbau und Tagesleistung geschaffen werden. Am Abend aber erhält der Tag seine Schwere. Das aufbaubegehrende Gefühl des Hungers bekommt das entscheidende Übergewicht, das Abendessen wird die Hauptmahlzeit des Tages.

Ein richtiges Gleichgewichtsgefühl wird den Abstand zwischen Abendmahlzeit und Schlafengehen richtig bemessen. Unmittelbar nach der Mahlzeit ist noch ein Stück grober Verdauungsarbeit zu tun. Jeder Mensch muß fühlen lernen, wieviel Zeit er dazu braucht. Es ist schlecht möglich, diese Arbeit im Schlaf zu tun. Und so wird das Essen unmittelbar vor dem Schlafengehen eine Unmöglichkeit.

Diese Zeit zwischen Abend und Nacht ist Ruhezeit, ganz und gar dem Aufbau des Selbst gewidmet, es ist die eigentliche Erbauungszeit im alten schweren Sinne des Wortes. In breiten Strömen können hier die gewaltigen Werte der ganzen großen Menschengemeinschaft auf den Einzelnen einwirken, wenn er sich nur ganz locker und offen zu machen versteht. Ein völlig hingegebenes Lesen in Büchern, die das Menschliche vermitteln, ist zu dieser Zeit möglich. Der Abend ist die Zeit, mit den großen Menschen früherer oder gegenwärtiger Zeit in Verkehr zu treten. Der Abend ist überhaupt die Zeit der Gemeinsamkeit. Alles dies braucht nur angedeutet zu werden. Es ist ja längst bekannt, und es gilt nur, dieses Bekannte nicht zu unterdrücken, sondern im Verlauf eines jeden Tages immer voll und ganz ausschwingen zu lassen.

Der Abend ist vielgestaltig in seiner Schwere. Aus der kraftbergenden Ruhezeit des menschlichen Selbst kann sogar noch einmal etwas wie ein neuer Morgen mitten in die beginnende Nacht hinein aufbrechen. Es gibt Abende, an denen der Mensch über viele Stunden hinweg noch einmal wieder schöpferisch zu werden vermag, im festlichen Kreis nahestehender Menschen oder auch in einsamer Arbeit. Aber nur selten einmal wird diese Nachblüte des Tages sich wirklich von Natur aus voll entfalten. Und der[14] Mensch kann diese Gewalt, seinen eigenen Körpertag in die Erdnacht hinein zu verlängern, leicht mißbrauchen lernen. Viele der heutigen Menschen zwingen sich selbst fast täglich zu solcher zweiten Tag-Geburt in die Nacht hinein und erschöpfen damit ihre Kraft. Der Führer zum Leben wird seinen Anvertrauten sicher erst nach der Zeit der Reife, und auch dann nur selten, diese geheimnisvolle und so leicht abnutzbare Kraft brauchen lehren.

Denn das Gesetz des Sonnentages fordert die dunkle Ruhe der nächtlichen Pause, die völlige Entspannung des Tages in die Nacht. Der Schlafzustand ist dementsprechend die große Pause des Körpertages. Aber wie die heutigen Menschen gewohnt sind, ihre Tage zu verleben, so sind sie auch gewohnt, ihre Nächte zu verschlafen. Sie schlafen hinweg über ihren eigenen Schlaf. Sie können sich nicht mehr in die große Nachtruhe des Sonnentages fallen lassen. Das Seil ihres Schlafes ist gewissermaßen zu straff gespannt und vermag gar nicht mehr in einer großbogigen Schwingung den schöpferischen Tiefpunkt zu erreichen. In kleinteiligen, vielträumigen Rhythmen flattert ihr Schlaf darüber hinweg vom Abend zum Morgen. Nur ganz selten geschieht es einmal, daß einer beim Erwachen spürt, er habe die Tiefe erreicht, er steige aus dem Abgrund, ganz neu gestärkt, ja neu geboren.

An irgendeiner Stelle des Schlafes liegt sein schöpferischer Kern, die Pause des Tiefschlafes, zu der die Rhythmen in absteigender Folge hinführen müssen, um dann von dort im großen Bogen wieder anzusteigen zum Erwachen. Auf die Erreichung dieser Tiefe kommt es an, viel mehr als auf die Länge des Schlafes. Auch kurzer Schlaf, wenn er nur steil hinabführt, vermag Entspannung zwischen Tag und neuem Tag zu sein. In diese Tiefe des Schlafes hinein kann der Führer seine Anvertrauten ein Stück geleiten. Er muß sie lehren, sich nicht anzuklammern an den Tag, der ging, vielmehr nach jedem vollendeten Tage ihr Leben in die Nacht hineinfallen zu lassen, damit sie wirklich alle in die schöpferische Tiefe ihres Schlafes hinabgelangen. Er öffnet alle diese Tag und Nacht umschließenden Zeiträume, er gibt sie jedem seiner Anvertrauten zu eigen, so daß ein jeder ganz davon durchdrungen wird: diese Tage können von mir gefüllt werden bis zum Überquellen mit Leben und Leiden, sie können von mir leicht und leer wie Seifenblasen fortgeblasen werden. Beides kann ich mir geschehen lassen, mit der wissenden Inbrunst des lebendigen Menschen, der dem Gesetz in keinem Falle widerstrebt, sondern sein[15] ganzes Wesen mit dem großen Rhythmus der Tageswiederkehr mitschwingen läßt.

So werden die Menschen nicht mehr an der Ungeprägtheit ihrer Tage zu leiden haben. Jeder Tag wird für sie sein eigenes Gesicht bekommen und ihnen wohlvertraut im Gedächtnis bleiben. Das Tagebuch hat hier seinen neuen Sinn, zum mindesten für alle Menschen, deren Sehnsucht immer wieder nach Gesichtgebung, nach Gestaltung, nach Klärung drängt. Wer Buch führt über seine Tage, wird seine Gedanken allmählich sammeln lernen auf das Wesentliche, das Gesicht dieses einen nie wiederkehrenden Tages. Die fertige Tageskugel wird an jedem Abend noch einmal freudig in beide Hände genommen und gegen das sinkende Licht gehalten, mit der Frage: was war dies, was da mit diesem nun gewesenen Heute reigenhaft durch mich hindurchging?


Monats- und Jahresschwingungen

Wer so die Einheit Tag und Nacht einzeln gestalthaft erlebt, als wäre jeder Tag der erste und jede Nacht die letzte, der wird dann auch langsam fähig werden zu begreifen, was die Mehrzahl Tage bedeutet: daß es nicht zu Ende ist mit dem einen Tag, daß es seinen Fortgang nimmt, daß die Einzelkugeln sich zur Kette reihen. Der Führer zum Leben muß es seinen Anvertrauten begreiflich machen: morgen ist auch ein Tag. Denn das Kind lebt einzig in den Tag hinein, so, als wäre der Tag das ganze Leben. Es mag gar nicht zu Bett gehen, weil es noch viel mehr hineinleben möchte in den einen Tag. Ganz sacht und allmählich wird nun der Führer die kindlichen Zeiträume aufweiten, bis diese ungeheure Tatsache des Morgen, diese Überhöhung der Gegenwart durch Zukunft ihm zu erlebter Wirklichkeit wird; und das Kind dieses Geschenk zu gebrauchen lernt nach seinem eigenen Willen. In den heutigen Schulen wird gewissermaßen vorausgesetzt, daß das Kind schon seine Tage zusammenhängend verleben könnte. Es erhält einfach seine Aufgabe für morgen, oder gar für über acht Tage, ohne doch zu wissen, was es damit vermag, wenn es eine Aufgabe für morgen vorbereitet. Es ahnt nicht, daß dieses eine Erweiterung seines eigenen Tageslebens, eine Eroberung seiner Zeit bedeutet, vor allem es lernt sich nicht freuen über dieses Anwachsen seiner Macht.

Von vornherein muß der werdende Mensch lernen, daß er mit dem Auf- und Abbau der vielen Einzeltage zugleich an bestimmten größeren[16] Rhythmengefügen arbeitet. Die Einheit Tag wird durch die Sonne bestimmt. Die nächst höhere Zeiteinheit bildet sich durch den Umlauf des Mondes. Die 28 Tage des Mondumlaufes bilden sicherlich eine sehr wesentliche Periode, durch die sich das körperliche Selbst eines jeden Menschen hindurchschwingen muß. Die monatliche Periode ist, wie der Tagesrhythmus im Leben des Menschen, fast gänzlich verschüttet. Wer fragt danach, ob Vollmond ist oder Neumond? Wenige fragen überhaupt nach dem Dasein von Sonne und Mond und nehmen dieses rhythmische Anschwellen und Abschwellen von Neumond zu Vollmond und wieder zum Neumond genau so gedankenlos hin, wie sie das Anschwellen und Abschwellen des Tages von Morgen über Mittag zum Abend hinnehmen. Die Bedeutung des Mondwechsels lebt höchstens als Erinnerung an märchenhafte Geschehnisse in den dunkelsten Winkeln des Gedächtnisses fort: daß die Hexe zu Neumond oder Vollmond ihre Kräutertränke braut, daß Mädchen ihre Haare zu Vollmond beschneiden, damit sie besser wachsen; dann erinnert man sich, daß auch die Springfluten mit dem Mondwechsel zu tun haben, und schließlich etwas tiefer ins tägliche Leben eingreifend ist die Erfahrung, daß das Wetter bei Vollmond und Neumond umzuschlagen pflegt. Im übrigen denkt man eben nicht an die Mondgezeiten, zumal da auch der Kalender nicht mehr nach Mondmonaten rechnet. Und doch gewinnt diese Periode der 28 Tage bei der Frau eine ihr ganzes körperliches Dasein beeinflussende Bedeutung. Durch zu gestraffte Lebensführung kann diese Periode sich verkürzen, auch kann sie durch eine zu erschlaffte Lebensführung sich verlängern, ja ganz unkenntlich werden. Der Sinn dieser »monatlichen Reinigung« ist die schöpferische Pause, in den zwei bis drei Tagen der Schwäche liegt beschlossen die Sammlung der Kraft. Frauen, die diesen Sinn mißachten und diese schöpferische Pause ihrem Selbst nicht gönnen, also dem allgemeinen Gesetz zuwider handeln, werden allmählich starr oder schlaff. Sinn und Wesen dieses monatlichen Rhythmus ist für den Mann noch bedeutungsloser geworden, weil er nicht wie die Frau ein so merkbares Zeichen in seiner Monatswelle hat.

Die nächst höhere Periode, das Jahr, ist wie der Tag vom Lauf der Sonne abhängig, teilt sich in an- und abschwellende Jahreszeiten. Dieser Periodik entsprechen jährliche Sammlungszeiten des Menschen, die in der Hauptsache dem Aufbau des Selbst gewidmet sind und jährliche Gebezeiten, die durch Abbau des Selbst Leistung schaffen. Die Art, wie[17] die Erde sich durch den sonnenbedingten Rhythmus hindurchschwingt, die ganze Summe der jährlichen Taten und Leiden der Erde, wird dem heutigen Menschen nur noch bruchstückhaft fühlbar. Er spürt zwar die Witterungstatsachen hier und da, aber die großen Zusammenhänge innerhalb eines Jahres sind ihm verloren gegangen. Alle die Erscheinungen der Lufthülle und der Erdoberfläche, wie Luftdruck und -feuchtigkeit, Wolkenbildung und Windstärke, Wärme und Lichtaufnahme, Erdströmung und dergleichen fügen sich an ganz bestimmter Stelle dem Rhythmus des Sonnenjahres ein. Zwischen den einzelnen Jahreszeiten liegen jedesmal Ruhepausen der Erde, schöpferische Pausen, in denen etwas geschieht, ohne daß etwas getan wird. Wo der Mensch in und mit der Natur lebt, wird er bald merken, wie erschütternd tief diese Jahrespausen in sein Selbst einzugreifen vermögen: die Zeit der Wintersonnenwende, die Zeit der ersten Frühjahrswinde, die hohe Zeit des Frühjahrs, die Sommersonnenwende, die Zeit der ersten Reife, die hohe Zeit des Herbstes, die Zeit der beginnenden Winterstürme und abermals die Wintersonnenwende. Das Jahr hat viel mehr Zeiten im Wechsel des steigenden und fallenden Rhythmus, als der Kalender verzeichnet. Und immer wo der fallende Rhythmus abklingt, liegt die bedeutungsschwere Pause. Sie ist da und kündigt sich dem Menschen, der darauf horcht, mit unfehlbarer Sicherheit an. Überhört er dieses rhythmische Schweigen zwischen den Jahreszeiten hartnäckig immer wieder, stürmt er immer wieder über die Pausen hinweg, so verwirrt sich sein eigener Jahresrhythmus immer mehr, daß er mit Gewalt noch Leistungen aus sich heraus hetzt, wo er schon lange wieder einsammeln sollte und daß er sich vollstopft und in sich aufspeichert, wo er längst schon geben könnte.

Wie diese durch Sonne und Mond bedingten Zeitperioden, die das ganze Erdleben schwingen lassen, im einzelnen auf die einzelnen Menschen wirken, wird zunächst noch lückenhaft erkennbar bleiben. Doch werden Menschen, die diesem allgemein erkannten Gesetz nicht mehr widerstreben, allmählich einen rhythmischen Zusammenhang ihres eigenen Lebens mit den astronomischen Perioden zu spüren beginnen. In diese streng gesetzmäßige Periodik des Sonnenjahres muß sich das Menschenjahr in irgendeiner Form einfügen. Und das Heil kann immer nur da sein, wo das »Jahr der Seele« zusammenklingt mit dem Sonnenjahr.

Die Menschen haben nach dem Gesetz ihres langsameren oder schnelleren Lebenslaufes weniger oder mehr Feiertage nötig. Die vier Sonntage[18] des Monats sind für die meisten sicherlich die vollkommen richtig abgemessene Feierzeit. Auf sechs Tage Arbeit muß notwendig ein Ruhetag folgen, Entspannung, Umstellung ist der Sinn des Sonntages. Wo Menschen schwer arbeiten, halten sie ganz von selbst den Sonntag heilig. Wer am Sonntag aufs Land geht, kann dort in jeder Bewegung eines ihm begegnenden Menschen merken, daß Feiertag ist.

Feiertag ist Freudentag: die Menschen freuen sich an sich selbst, an ihrer Ruhe. Und wenn die Freudenwelle hoch genug steigt, flutet sie auf den anderen Menschen über. So kann der Feiertag zum Festtag werden. Gemeinsam überflutende Freude an sich selbst bringt die Menschen zur festlichen Gemeinschaft. Nur aus der glühroten Freude des eigenen Blutes kann die wahrhaft festliche Erwartung in den Menschen geboren werden, die schöpferische Erwartung, daß unter allen zusammen etwas geschehen wird ohne Absicht, ohne gewollte Anspannung der Kräfte. Dieses innere Wissen von der in allen gleichmäßig stark anschwellenden Freude des Feiertages ist von solcher Wucht, daß es nach Gewand, Leib, Gestalt begehrt, um seine Fülle zu bergen, zu fassen und sichtbar zu machen. Fest ist ursprünglich religiöse Handlung. Die Sonntage und kirchlichen Feiertage lassen das noch ganz abgeblaßt erkennen. Fast nur die äußere Hülle ist geblieben, die innere Bereitschaft, die entscheidende Wucht der gemeinsamen Freude ist zersprungen in tausend Nichtigkeiten. Die Feste der großen Städte sind zu Gespenstern ihres eigentlichen Sinnes geworden, grauenvolle Umkehrung der Wahrheit. Sie bringen nicht Entspannung, sondern zwingen die Einzelnen gerade zu gespannter, ja gekrampfter Lust. Sie bringen die Unrast, mit der schon die Arbeit gewöhnlich getan wird, auch noch in den Feiertag mit. Rastlose Lust jagt die Menschen durcheinander. Der Ballsaal einer Großstadt am Sonntag hat genau dieselbe übersteigerte Atmosphäre wie der große Maschinenraum am Werktag. Die Menschen bewegen sich da wie hier mit derselben Anstrengung, sie schwitzen und keuchen, und leiden an ihrer Unrast. Kein Überfluten der Freude in den anderen Menschen, sondern ein lustbegehrendes Zerren aneinander kennzeichnet die Gemeinsamkeit solches Festes. Nur ganz selten, nur in den kleinen Gemeinschaften, die sich in diesen Zeiten überall im Lande gebildet haben, gibt es schon wieder Feste, die in ihrer strahlenden Schönheit über viele Jahre des Lebens hinaus leuchten für alle, die dabei waren. Da ist das Fest wieder das Werk der feiernden Gemeinsamkeit geworden, unwiederholbar, schön[19] wie Musik, wie Tanz; aber nicht von einem geschaffen, sondern von allen zusammen. Feste können nur dann zu gemeinsamen Werken der Weihe werden, wenn sie wahrhaft in die Ruhezeiten des schwingenden Jahres eingebettet sind. Die alten kirchlichen Feste, soweit sie noch einige Gewalt über die Menschen behalten haben, das Weihnachtsfest, Ostern, Pfingsten sind ganz vom Sonnenjahr abhängig. Etwa: der erste Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond, das gibt den rechten Zeitpunkt für ein Fest beweglich nach der Schwingung des Jahres. Nicht kalendermäßig festgelegt muß der Zeitpunkt der Feste sein. Die innere Ruhe des einzelnen Menschen, ihre Versenkung in sich selbst ist ja gesetzmäßig gebunden an die Wartezeit des Sonnenjahres. Diese Zwischenjahreszeiten sind die natürlichen Räume für die menschlichen Feste. Weil zu solchen Zeiten alle in der gleichen Lage der Ruhe und Erwartung sind, können sich hier wahrhaft religiöse Feste erheben, die wieder alle Menschen in Eins zu verbinden vermögen.


Lebensalter

Wo der Mensch sich des zeitlichen Ablaufes bewußt wird, meint er damit meistens die astronomisch bedingte Zeitfolge. Vergangenheit ist ihm nach Tagen und Jahren meßbar. Vor seiner Geburt sieht er eine endlose Reihe von Jahren; nach seinem Tode sieht er wieder eine unendliche Reihe von Jahren. Und das Gefühl der Vergänglichkeit überfällt ihn wie ein Schwindel, wenn er sich so in dem unabsehbaren Netz der Sternenzeit hängen sieht. In dem Grade, wie einer sich seiner eigenen Entwicklung, also seines Selbst bewußt wird, wird er unabhängiger von den astronomischen Zeiteinheiten. Er fühlt sich dann nicht mehr hängend in einem unübersehbar weiten Zeitgefüge. Viel eher fühlt er sich als Schöpfer seiner eigenen Lebenszeit. Und wenn er gegen Ende des Lebens seine Zeit überblickt, mag ihm zumute sein wie einem Künstler vor dem endlichen Abschluß seines Werkes.

So kann der Mensch also sein Verhältnis zur Zeitlichkeit gewissermaßen von zwei Seiten her betrachten. Nach außen hin sieht er sich eingespannt in die stets wiederkehrende Folge der durch Sonne- und Mondumlauf bedingten Gezeiten. Durch Tage, Monate und Jahre muß sein Leben hindurchschwingen, um schließlich darin zu verschwinden. Nur ganz selten vergißt der Mensch die schneidende Gewalt der Sternenzeit und wird gewahr, daß er ja auch ebenso gewiß aus seinem eigenen Selbst[20] heraus stetig sein eigenes Zeitnetz spinnt. Als Einheit der selbsteigenen Zeit des Menschen könnte man von seiner Atemsekunde sprechen, von der Zeit, die ein jeder zu seiner eigenen Aus- und Einatmung braucht. Es wäre vorstellbar, daß das atmende Selbst auch in einem gleichmäßigen dunklen Raum ohne Bewegung verharrend, gewissermaßen wie die Tiere im Winterschlaf, mit seinen eigenen Atemsekunden eine eigene Zeit aufbauen könnte. Mit seinem eigenen Atem schwingt er sich durch die Tage und Jahre. Aber nicht jeder schreitet nun gleichmäßig fort. Die Allermeisten erreichen nicht die höheren Altersstufen ihres Selbst. Nach dem ersten Anlauf des Lebens bleiben sie in sich selber stecken.

Bei dem Aufbau der eigenen Lebensalter ist die Bedeutung der schöpferischen Pause groß, Glück und Fülle und Schönheit des Einzellebens hängt davon ab, ob die kraftspendenden Pausen zwischen den Lebensaltern wirklich innegehalten wurden.

In der Jugend folgen die Lebenswellen schneller aufeinander. Die Pausen sind dichter aneinander gerückt. Im Alter greifen die Wellen breiter aus, und weitere Zeiträume umspannend folgen die Pausen.

Das Leben wird gleichsam aus der Urpause im Mutterleib mit einer gewaltigen Wucht ausgestoßen und bildet im frühesten Kindesalter sicherlich ein Auf und Ab von ganz dicht beieinanderliegenden Lebenswellen. Nur die Mütter wissen von diesen ersten so schnell aufeinanderfolgenden Perioden im Leben ihres Kindes und sind recht imstande, die trennenden Pausen dazwischen einzuhalten. Von diesen frühesten Perioden kann hier nicht gesprochen werden. Etwa vom sechsten oder siebenten Jahre an, wo das Kind allmählich der alleinigen Pflege seiner Mutter entwächst, beginnt dann deutlich ein neuer Lebensteil sich abzuheben. Auch in den sehr verwirrten Zuständen des heutigen Europa wird dieser neue Lebensanstieg des »zur Schule kommenden« Kindes deutlich sichtbar. Diese Welle läuft bis zum elften und zwölften Jahr. Hier beginnt dann eine zweite Welle, und auch dieser neue Anstieg ist bei allen jungen Menschen noch voll erkennbar. Es ist die Zeit, die durch die Firmelung der Kinder nach außen hin von der Kirche sichtbar gemacht wurde. Von hier an läuft aber das Leben des europäischen Menschen gewöhnlich schon pausenlos weiter fort. Bei den wenigen Menschen, die ihrer Bildung von da an noch einige Zeit widmen dürfen, tritt manchmal noch eine neue, deutlich erkennbare Pause nach dem Verlassen der höheren Schule ein, ehe der junge Mensch sich für ein Studium oder eine berufliche Sonderausbildung entscheidet.[21] Und schließlich als Abschluß des Jugendalters wird dann vor der eigentlichen Aufnahme eines Lebensberufes in seltenen Fällen nochmal eine Pause sichtbar. Die Perioden der späteren Lebensalter sind noch unkenntlicher als die des Jugendalters geworden, die schöpferischen Pausen werden immer mehr verwischt und bleiben bei den meisten Menschen ganz aus. Nur bei denen, die gar nicht anders können als ihr eigenes Gesetz befolgen, treten auch diese späteren Besinnungspausen noch zutage. Das Leben dieser wenigen zur Selbständigkeit gekommenen Menschen setzt in deutlichen Wellen Lebensalter an Lebensalter bis zum Tode als der abebbenden Welle des höchsten Alters.

Goethes Leben ist solch ein bis zu seiner letzten Möglichkeit an- und abschwellendes Leben gewesen.

Diese menschlichen Werdezeiten können sich natürlich verschieben je nach dem Eigengesetz eines Lebens. Aber sie müssen da sein. Wo sie durch eine zu gestraffte Lebensführung überrannt oder infolge einer zu schlaffen Lebensführung gar nicht erreicht werden, überjagt der Mensch sein Leben, oder er lebt es nur bis zu einer gewissen Periode. Tatsächlich sind die meisten Menschen entweder überlebt, früh gealtert, scheinbar gejagt von unsichtbaren Mächten, oder sie sind stehen geblieben an irgendeiner Stelle ihres Lebens, und von da an wiederholen sie mechanisch immer wieder die Schwingungen ihrer schon durchlebten Jahre. Nur wo das Leben in seinen großen Bögen von einer Ruhelage zur anderen ungehemmt ausschwingen darf, wo jede neue Lebensperiode wirklich aus der Tiefe steigt, geboren wird aus der Besinnung auf das eigene Gesetz, nur da vermag der Mensch sein eigenes Leben bis zu Ende zu leben »nach dem Gesetz, wonach er angetreten«.

Der Führende muß nun bei jedem seiner Anvertrauten dieses rhythmische Eigengesetz der jugendlichen Lebensteile in seinem großen Wellenschlag vollauf zur Schwingung kommen lassen. Nur wer im eigenen Leben, auch im führenden Alter noch, die Pausen innegehalten hat, ist fähig, den rhythmischen Lebensgang seiner Anvertrauten zu behüten, von Welle zu Welle, von Pause zu Pause. Den Stürmischen wird er die Ruhelage zu zeigen vermögen (ohne ihn da hinein zu zwingen), den Zaudernden wird er liebend zum Anstieg locken (ohne ihn zu treiben).

Die Machtgebärde des bildenden Führers in seiner Bildungsarbeit reicht auch hier nie weiter, als es durch die Worte: lauschen, warten, zeigen und locken angedeutet wird.

[22]

Kinder von etwa sieben Jahren, die gerade den vielteiligen Anstieg ihres Lebens unter der mütterlichen Führung beendet haben, sind also inmitten ihrer ersten großen schöpferischen Lebenspause, wenn der Führer (an Stelle des Vaters, soweit der Vater nicht selbst Führer ist) auf ihr Leben Einfluß gewinnt. Hier ist das Problem: wie soll überhaupt die neue, die zweite große Wachstumsperiode begonnen werden? Über diesen Anfang wird durch die gewöhnliche Schulform ohne weiteres hinweggewischt, indem eben einfach eines Tages über das Kind das Verhängnis hereinbricht und es drei Stunden lang in einer Stube mit anderen Kindern zusammengetan wird, um dort von nun an Dinge zu hören, nach denen es nicht verlangt und noch lange nicht von selbst verlangen würde. Mit einer Pause beginnt dieses neue Leben des Kindes, einer Pause, die sich vielleicht bei einzelnen Kindern über Monate oder gar Jahre erstreckt. Hier wird der Kern gepflanzt für viele kommende Jahre. Es soll etwas werden und zum Ausdruck kommen, das in dem Wesen des Kindes noch verborgen ist. Alles kommt hier darauf an, daß der Führer den Sinn dieser Pause begreift. Wie sinnlos ist es, mit einem bestimmten, vorher überlegten, und in seiner Methodik sorgsam eingelernten Fragenbündel in das dunkel geschlossene Sein des Kindes hineinzustechen und sein ruhendes Denken aufzuscheuchen, damit es dieses Denken in irgendeiner Zukunft einmal gebrauchen lernt!

Was muß nun der Führer tun, in diesen schweren Anfangszeiten, zwischen Schweigen und Reden? Er muß sich niederknieen, daß er so klein wird wie das Kind. Er muß seine Sinne zusammenschließen, daß er so gespannt wird wie das Kind, so lauschend auf jede Regung. Und spielend muß er, erst selten und dann immer öfter, Brücken schlagen von ihm selbst zu dem Kind hinüber, an dieser und jener Stelle, ob es vielleicht schon einen ersten Ausgang aus sich tun will. Tag und Nacht wird er bereit sein müssen auf diesen ersten Ausgang seines Schützlings. Und inzwischen muß er warten, muß immer wieder nur ganz zarte Versuche der Annäherung machen, muß immer wieder sein eigenes Leben in gleichen Takt setzen wie das Leben des Kindes.

Das Anfangsverhalten des Führers ist entscheidend. Kann er nicht warten, greift er ein in das Leben des Kindes, bevor es seine Pause, den herrlichen ersten Tiefschlaf des jungen Lebens beendet hat, so hat er verspielt und muß bei diesem Zögling vielleicht jahrelang warten, ob er ihm in der nächsten großen Lebenspause den entscheidenden Dienst leisten kann.

[23]

Es ist klar, daß ja bei diesem Anfang schon die meisten Lehrenden und die meisten Väter scheitern müssen. Denn ihr eigenes Dasein wurde ja in früher Jugend durch irgendeinen eingreifenden Willen irgendeines Erwachsenen verbogen. Sie wurden frühzeitig gezwungen, irgendeinen fremden Takt zu gehen und fanden sich darein und glaubten von da an, daß es eben so sein müßte. Sie lernten ihren eigenen Takt vielleicht erst sehr viel später, vielleicht überhaupt nicht kennen, und da sie nun selbst in ihrem eigenen Lebenstakt so unsicher sind, wie wollten sie da vermögend sein, auf einen fremden Rhythmus hin sich liebend einzustellen?

Also der Führer muß selbst Ruhe genug haben, um dem Kind Ruhe zu lassen, solange es noch gesetzmäßig in dem Zustand seiner Unentfaltetheit verharrt. Bis es eines Tages von sich aus nach irgendwelchem Ausweg aus sich selbst begehrt! Der Tag wird kommen, und der Führer darf diesen Tag nicht verpassen und zu dieser Zeit nicht in irgendwelcher Müdigkeit vergraben sein. Gemeinsam mit dem nun von selbst erwachenden Kinde muß er den ersten Ausgang machen. Er braucht nun nicht zu ziehen und zu zerren und zu fragen und zu mahnen. Weit eher wird ihm das Kind mit geweiteten Augen voranlaufen und wird nur hier und da stehen bleiben und von sich aus fragen. Und er wird Antwort zu geben haben. Durchaus nicht immer in dem gleichmäßig belehrenden Tonfall des erwachsenen Besserwissenden, sondern je nach dem Inhalt der Frage fröhlich und schnell, oder ernst und behutsam, oder stammelnd und leidvoll.

So wird allmählich das Leben des Kindes sich überall nach außen zu entfalten beginnen. Und in der nun anbrechenden Wachstumsperiode wird je nach der besonderen Schnelligkeit und Dichtigkeit des kindlichen Geistes Können und Wissen langsam oder schnell, tiefgehend oder an der Oberfläche zunehmen, bis sich die zweite große Pause im Leben des jugendlichen Menschen ankündigt.

Diese Zeit um das zwölfte Jahr herum, die Zeit der beginnenden Geschlechtsreife, wird in dem mit Zwang und Überwindung arbeitenden Erziehungssystem noch viel weniger beachtet. Hier liegt wieder der schöpferische Kern für die Geschehnisse des weiteren Lebens. Der jetzt bestehende Zustand ist ein unbegreiflicher. Der Erzieher in der Schule geht über diese große Pause, die vielleicht bei einzelnen eine jahrelange Schonung, bei allen aber eine gewisse Zeit völliger Umstellung zum Leben erforderte, einfach hinweg. Kein Blick, kein Wort des Lehrers beschäftigt sich mit[24] dem, was in diesen Zeiten allein Körper und Seele des werdenden Menschen erfüllt. Wenig wird hier gebessert werden, wenn nun in reformierten Schulanstalten zu dieser Zeit eine gemeinsame Belehrung über geschlechtliche Dinge einsetzt. Im Gegenteil, für die allermeisten wird solche Belehrung großen Schaden bewirken. Deswegen, weil das Mittel der Belehrung überhaupt unzweckmäßig ist, wenn ein Mensch sich im Zustand des Chaos befindet. Solche Belehrung verkürzt den chaotischen Zustand und nur wo diese Besinnungszeit des reifenden Jugendlebens ohnehin schon ihrem eigenen Ende nahe ist, mag Belehrung das Gegebene sein. Wo aber ein junger Mensch erst am Anfang seiner Umwandlung steht oder infolge seiner langsamen Entwicklung viel Zeit dazu gebraucht, kann das aufhellende Licht die noch schlummernde Schöpfung seines Selbst höchstens zu einer vorzeitigen Reife bringen, und diese ist genau so tödlich für das Selbst des Menschen wie die Unreife, die durch das Übergehen dieser großen Lebenspause, durch das lieblose und gedankenlose Schweigen des Lehrers verschuldet wird.

Der Führende muß hier wie stets lauschen und warten, mit seinem ganzen Leben nach seinem Anvertrauten hin gerichtet sein. Schon lange ehe dieser selbst irgend etwas weiß, wird sich dem Führer seine Lebenspause ankündigen. All die kleinen Schwächen und Unarten, die der heutige zünftige Erzieher mit dem Begriff »Flegeljahre« geringschätzig oder gar scherzhaft an sich abgleiten läßt, wird der wahre Führer liebevoll wissend auf ihren chaotischen Ursprung deuten und ertragen, d. h. mit-leiden. Sein ganzes eigenes Wesen wird sich erhöhen bei dem Gedanken an die schöpferische Zeit, die nun dem jungen Menschenkind bevorsteht. Bei diesem Wissen müssen aber seine eigenen Herzschläge wechselweis stürmisch und stockend werden, wie bei dem Kind, das er behütet. In seiner nachempfindenden Glut selbst errötend, muß er jedes Erröten des Kindes verstehend und zugleich übersehend in sich nehmen. So wird er merken, wann das hilflose Werden des Knaben nach Einsamkeit ruft. Er wird ihn an solchem Tage von den Gespielen und von sich selbst wegschicken, über alle Mauern und Zäune weg in den Wald, an den See, mitten in die Wildnis werdender Natur. Sein Mund aber wird verschlossen bleiben wie der Mund seines lieben Kindes. Allein seine Augen werden wachsam bleiben. Er wird darauf achten, daß es langen kühlen Schlaf hat, daß seine Nahrung nun besonders ausgewählt ist, daß keine unreinen Stoffe ihn belasten, daß Wind und Sonne täglich an ihn kommen und[25] der Mond ihn nicht berührt. Er wird das Versteckenspielen des Kindes, das vorher doch so offen und zutraulich war, nicht Unwahrheit schelten, weil er durch sich selbst weiß, daß Werdendes dunkel ist und sich ungern offenbart, ehe die Zeit da ist. Freuen wird er sich, wenn der vorher so Regsame faul wird und sich in die Sonne legt und tagelang nichts tut als so vor sich hindämmern. Selbst wenn Tücke und Grausamkeit in diesen Tagen bei irgendeiner Gelegenheit ausbricht, wird er sich freuen, daß solche Restbestände ererbter Dunkelheiten früh zum Ausdruck kommen und sich nicht im Inneren festsetzen und so unterdrückt für später sehr viel Schlimmeres vorbereiten. Vor allem aber wird er die wie auch immer aufquellende jugendliche Tatenlust nicht töricht hemmen, auch dann nicht, wenn sie den gewohnten Gang des Lebens und des Unterrichts durchbricht. Im Gegenteil, er wird den Knaben reizen und herausfordern, sich voll auszutoben in Spiel und Geschrei, im Laufen und Rennen und Wandern und Schwimmen und allerlei körperlichen Kunststücken.

Und über alledem darf er ihn niemals aus dem Auge lassen, denn eines Tages wird es so weit sein, daß eine scheue fragende Gebärde im Körper seines Schutzbefohlenen ihm sagt: das Werdende in mir ist jetzt sehr stark geworden, es drängt schon nach dem eigenen, nicht mehr nach irgend einem Ausdruck. Kein fragendes Wort, kein fragender Blick wird es sein. Viel früher ist die Frage im Körper, vielleicht in einer plötzlichen eckigen Wendung oder in einem unerklärlichen lauschend atmenden Stillstehen des Körpers mitten im wildesten Lauf. Wenn der Führer sonst wohl meistens mit der ganzen Schar in den Wald gegangen ist, wird er nun an einem wohl ausgesuchten Tage ganz einfach mit dem einen ausgehen. Es braucht nicht auffällig zu sein, zu einem notwendigen Gang nimmt er ihn mit, weil doch eben überhaupt einer mitkommen muß. Hierbei braucht sich auch gar nichts zu ereignen, als höchstens ein paar freundliche Blicke oder daß sie gemeinsam einen Abhang herunterlaufen oder am Waldrand ein paar Augenblicke über die Felder atmen. Nur der Führer weiß, was wird und dient dem Werdenden mit seinem ganzen Wesen. Wenn er dann vielleicht zum zweiten oder dritten oder zehnten Male mit jenem allein geht, wird auch etwas geschehen, etwas Geheimnisvolles, das sich nicht näher bestimmen läßt. Denn daß der Junge vielleicht auf einmal mit einem neuen ihm ganz eigenen Ausdruck irgendeinen Gedanken formt, oder daß er halb zitternd, halb ungestüm die Hand des Älteren ergreift und lange nicht los läßt, oder was es[26] auch sein wird, – das ist ja nur das außen Geschehende. Mit dem inneren Auge aber sieht nun der Führende nichts als lauter aufsteigende Ströme von Kraft, die alle in seine Hände münden, an denen er liebend und formend entlang gleiten darf, die gar nicht enden wollen in ihrer Unerschöpflichkeit, die kreisend immer neu aufsteigen aus der unendlichen Werdefülle des reifenden Knaben.

Und noch viel später wird dann erst die Frage zu der Oberfläche der Worte aufsteigen: was ist mit mir, warum geschieht mir das, was vorher doch nicht gewesen ist? Und auf die vertrauende Frage wird die sehr langsame Antwort kommen und später dann ganz zuletzt zusammenhängende Belehrung über Zweck und Ziel der körperlichen Wandlung und regelmäßige Übung. Also erst zu einer sehr späten Zeit, wenn Wort und Begriff schon zu einem sicheren Hilfsmittel der Verständigung zwischen den Vertrauten geworden sind, ist es möglich, durch Worte zu geschlechtlichem Wissen zu führen. Dies Wissen wird sich aber für jeden Einzelnen anders gestalten. Dinge, die doch »jeder wissen muß«, gibt es hier noch weniger als wo anders. Einer wird viel Beweisbares hören müssen und mancher vielleicht nur ein halb betontes Wort zur rechten Zeit. Die alles gleichmachende Gesinnung unserer Zeit darf hier nicht Einlaß gewinnen. Ein Körper, der sich nach der Norm entwickelt, wird niemals lebendig werden. Nur das schon wieder erstarrte oder das noch gehemmte Körperleben fügt sich dem System.

Das wartende Dasein des Führenden kann dem jungen Menschen allein dazu verhelfen, über diese entscheidende Pause seines Jugendalters nicht hinweg zu leben, sondern wirklich ganz hinab zu gelangen zu den ruhenden Kräften seines Selbst, und darin zu verharren, solange bis er von sich selbst ganz gesättigt ist. Mit seiner gesamten mitschwingenden Lebenskraft muß der Führer in seinem Vertrauten bewirken, daß er sich fallen läßt in seine Tiefe, nicht davor zurückschreckt und nicht durch irgendwelche gesetzten Ziele und Arbeiten sich etwa daran hindern läßt. Und dann auch, daß er nicht darin verharrt, daß er nicht erschlafft in dem untätigen Staunen über sich selbst. Es ist ja das Schicksal unzähliger Menschen, gewissermaßen in der Zeit ihrer Pubertät stecken zu bleiben. So daß eigentlich alle weiteren Erlebnisse Wiederholungen dieser ihrer ersten geschlechtsreifen Erschütterungen bleiben.

An dieser Stelle, wo das jugendliche Leben aus der Tiefe der Pause nun zur Reife seines Geschlechtes aufbricht, ist dem Führenden alle Macht[27] gegeben. Die ganze aufsteigende Kraft kann er nun lenken, daß sie in die selbst geschaffene Tat des jungen Menschen strömt. Diese Kraft kann auch früh schon als leidenschaftlich dargebrachtes Opfer der Liebe aufflammen. Vor allem wird der Führende an dieser Stelle die Last der eigentlichen Wissenschaft bereit halten, die dem jungen Leben von da an Schwere und Richtung geben kann. Von alle dem wird später ausführlich die Rede sein.

Die dritte schöpferische Pause der Jugend liegt um das zwanzigste Jahr herum. Auch an dieser entscheidenden Stelle versagt die Jugenderziehung heutiger Zeit völlig. Denn gerade hier ist der junge Mensch gewöhnlich schon führerlos. Die Schule hat ihn entlassen, ohne ihn auf die kommende Zeit der Besinnung genügend vorzubereiten. Entweder ist er schon in einen Beruf eingespannt, der sein noch wachsendes Selbst in irgendwelche herkömmlichen Formen lenkt, oder er geht auf eine Hochschule, um zu studieren. Die Wende seines Lebens spürt er höchstens als einen angstvollen Zustand der Leere. Grundlose Traurigkeit, Weltschmerz, Ekel an den Dingen überkommt ihn. Alles wird ihm fragwürdig. Und je öfter er aus seinem Trotz heraus nein sagen kann, desto wohler ist ihm. Eine Sehnsucht nach Zerstörung wird in ihm groß. Darum hat Krieg, Revolution, überhaupt Empörung gegen das Bestehende für jugendliche Menschen so hohen Erlösungswert. Diese gewaltsamen Ereignisse werden immer wieder von den Vielen bejaht werden und immer wieder geschehen müssen, ja eigentlich herbeigeführt werden, solange Jugend von der Tiefe ihrer großen schöpferischen Lebenspause nichts weiß, sich davor fürchtet und darum in zerstörerischer Sehnsucht jede Gelegenheit benutzt, um auszubrechen in einen Zustand, der ihrem eigenen chaotischen Inneren gleicht. Auch viele andere Ventile werden geöffnet aus Angst vor dieser Leere. Besinnungslos wirft sich der junge Mensch an Dinge und Menschen weg. Angst vor dem eigenen chaotischen Zustand treibt ihn dazu, seine Liebe an Frauen zu geben, die ihm nicht gehören und die ihm so fremd sind wie irgendein Vogel oder Baum am Wege. Aus dem chaotischen Grund seiner verzweifelten Einsamkeit heraus erweckt er Liebe, vielleicht in vielen Menschen, wird verzehrende Flamme für viele, die ihm nahe kommen. Und alle diese Geschehnisse, die für ihn selbst nur Rettung vor der Leere seiner jugendlichen Wende sind, werden um ihn herum Schicksal, ohne daß er es zunächst merkt und weiß und will. Und erst später, wenn alles das sich ausgewachsen und längst von ihm getrennt hat, tritt[28] es ihm als fremdes Schicksal wieder in den Weg und mahnt nun und fordert und zwingt ihn zu unfreiem Handeln.

Auch alles, was die Menschen in diesem Alter tun und arbeiten, bekommt etwas von diesem Geschmack der Verzweiflung. Junge Künstler arbeiten selbstquälerisch Tag und Nacht an niemals vollendbaren Kunstwerken; Fragmente von steiler, später nicht mehr erreichter, vielleicht gar nicht wieder erreichbarer Schönheit entstehen aus ihrer Verzweiflung. Andere wiederum ergeben sich einem Studium, einem Beruf, wahllos und einzig getrieben von ihrem Wunsche, den chaotischen Raum in ihrem Selbst zu füllen, irgend etwas zu gestalten. Der Trieb zu gestalten erwächst also aus der gleichen Furcht vor den Abgründen des Selbst wie die Sehnsucht zu zerstören und zu verneinen. Und auch diese Gestalten bildende Flucht vor sich selbst wächst allmählich zum unentrinnbaren Schicksal. Der Mensch, der an irgendeinem entscheidungsvollen Abend seines jungen Lebens den Plan gefaßt hat, Künstler zu werden oder Geschichte zu studieren oder Politiker zu werden, weiß zunächst gar nicht, was er damit auf sich nimmt. Aus der Mitte seiner lebendigen Kraft türmt er aus Furcht vor dem Chaos wahllos Sach-Gebirge auf, die dann nachher seinem Lebensstrom unabänderlich leidvolle Richtung geben können.

Was könnte der Führer zum Leben, all diese Unabänderlichkeiten überschauend, hier wohl tun? Wahrlich nur sehr wenig, weniger als bei irgendeiner anderen entscheidungsvollen Ausübung seines Führeramtes. Wo die Führung für dieses Lebensalter versagt, liegt es jedenfalls meist daran, daß zuviel vom Führer getan und gewollt wurde.

Das Kind und der reifende Knabe ist noch so weich, daß ein zu harter Eingriff des Führers das werdende Selbst meist nur dazu zwingen kann, auszuweichen. Aber aus der schöpferischen Pause der Jünglingschaft soll ja gerade die Unabirrbarkeit des Selbst geboren werden. Einwirkung in einer das Selbst verbiegenden Richtung ist hier verhängnisvoller als vorher. Wie stets zuvor ist die Gebärde des bildenden Führers ein Horchen und liebendes Warten, nicht aber Bestimmen und Raten und Handeln. Sein Dasein allein ist die Stärke und der Wert seiner Führerschaft. Stehen bleiben muß er selbst, wenn der Jüngere von dem chaotischen Zustand seines Inneren gepeinigt vorwärts stürmt und alles zerbricht, was er selbst, der Führer, die ganzen Jahre hindurch hat bauen helfen. Er weiß ja, daß sich der Zerstörungswille nicht gegen ihn selbst richtet,[29] sondern gegen das Bestehende überhaupt. Aus Eigenliebe darf er also hier nicht etwa hindern oder auch nur vorzeitig Ordnung schaffen wollen. Es wird eine schwere Probe seiner Führerschaft sein, wenn er vielleicht für sich selbst gerade in höchst fruchtbarer und aufbauender Arbeit ist, den zerstörerischen Zustand seines Freundes zu ertragen. Wenn er selbst an irgendeinem sachlichen Aufbau arbeitet, wird er nicht über jene großen leeren Räume verfügen, deren sein Anvertrauter bedarf, um darein all sein zerstörerisches Wesen zu ergießen. Doch schon bei dem geringsten Widerwillen, oder wenn der Führende auch nur mit einem leisen Gedanken der Wehmut bei seinem eigenen unterbrochenen Werk verharrt, nicht augenblicklich alles Werkzeug von sich tut und sich selbst weit macht in seiner wartenden Liebe zu seinem Getreuen, ist er seinem Führeramt untreu geworden. Er hat sich dann entschieden, Meister zu werden an irgendeinem selbstgeschaffenen Werk. Das mag auch gut sein, ist aber etwas anderes und ist in Augenblicken der Entscheidung jedenfalls nicht mit dem Führeramt zu vereinen. Leicht und mit tiefer Lust muß das Werk aufgegeben werden in solcher Zeit der wartenden Liebe, so leicht wie man ein Spiel aufgibt, wenn einer der Gefährten schwach wird und umzusinken droht. Auffangen muß der Führer dann die ganze Trümmerlast des jungen Menschen. Er muß ihm Raum geben. Was jener zu solchen Stunden großer Werdenot in ihn gelegt hat, muß er still in sich bewahren. Es muß Geheimnis bleiben zwischen ihnen. Denn dies hingebende Vertrauen in die bergende Liebe fordert von dem Älteren schweigende Ehrfurcht. Selbst wenn dieser Bund nur für Augenblicke seinen Ausdruck fand und später vielleicht niemals mehr in Erscheinung treten wird, so deutet diese Stunde doch auf das Letzte, das zwischen Menschen hin und wieder schwingt. Nur wenn der Führer ganz und gar mit hinabsteigt in die Tiefe der Zerstörung und Verzweiflung und auch durch gutes Zureden und tröstliches Schwatzen vom aufbauenden Leben sich selbst und seinem Gefährten den Weg nicht ungebührlich verkürzt hat, dann, aber auch nur dann wird er nun die Macht haben, ihn zu einem wirklich aufbauenden Leben zu locken. Nicht zu einem Leben, das er selbst in irgendwelcher guten Absicht für den Freund sich ausdenkt, sondern zu einem Leben, das sich ganz ohne sein Zutun stolz und gerade auf den Trümmern des vergangenen Lebensteils erhebt, als wahrer und ureigener Ausdruck des nunmehr unbeirrbar werdenden Selbst des Jünglings.

Bei dem nun neu anhebenden Lebensanstieg des Jünglings wird der[30] Führer nur noch lose nebenher gehen. Die führende Wirkung seines Lebens wird nicht mehr nach außen hin erkennbar sein wie früher. Der Jüngere wird nicht mehr Tag für Tag an ihn denken. Das Dasein des Führers wird für ihn allmählich etwas Entferntes werden. Auch räumliche Trennung, vielleicht zeitweise, vielleicht für immer wird einen Keil zwischen die Menschen treiben. In Wahrheit gehört aber diese Entwöhnung voneinander noch in den Bereich der bildenden Aufgaben des Führers. Es ist seine letzte und schwerste Arbeit, sich selbst dem Anvertrauten entbehrlich zu machen, ihn zu entlassen, Abschied zu nehmen. Nur in den seltensten Fällen wird dieser rechte Abschied gelingen, nur dann, wenn der Führer Einsamkeit-erfahren ganz in sich beruht. Nur dann, wenn der Jüngere selbständig und aufrecht seinen eigenen Gang zu gehen gelernt hat. Dann wird Abschied ohne Schmerz sein und Trennung so leicht und so gesetzhaft wie das Fallen der Frucht vom Baum.

Um das achtundzwanzigste Jahr herum liegt abermals eine Pause, die das Jünglingsalter von dem beginnenden Mannesalter scheidet. Das heutige europäische Leben läßt allerdings die Innehaltung dieser Pause überhaupt kaum zu, weil der Mensch von achtundzwanzig Jahren schon lange fertig sein muß. Er muß seinen Beruf und womöglich seine Familie schon haben. Die Notwendigkeiten des materiellen Lebens, aber auch des geistigen Lebens erfordern nun gleichmäßiges und rastloses Fortschreiten und zwingen ihn über die wichtigste Bedenkzeit seines Lebens hinweg. Er hat sich längst entschieden und ist gebunden und tut seine Pflicht. Wenn einer in diesen entscheidenden Jahren von seiner Pflicht redet, sieht man es seinen zusammenkrampfenden Lippen an, wie sein ganzes Selbst eine einzige große unterdrückte Trauer ist über dieses forttrottende Leben, das ihn hinwegzerrt über irgend etwas, was unter ihm verborgen liegt, und das er nur noch hier und da spürt als ein leises Beben des Grundes, etwas, das er selbst sich lächelnd oder seufzend – und sehr richtig – erklärt als ein – wie er meint - törichtes Erinnern an längst überwundene Werdezeiten seiner Jugend. Alles was sich an dieser Stelle des Lebens zum letzten Mal als »Sentimentalität«, als »Hamlet-Stimmung« an die Oberfläche wagt, wird entschiedener und rücksichtsloser als in den früheren Besinnungszeiten zurückgestoßen. Der Mann stürzt sich in seinen Beruf; große Pläne bringt er nun zur Verwirklichung. Es beginnt, ihm auf Vollendung, auf Vollständigkeit anzukommen. Was sich ihm an Widerständen entgegenstellt, wird rücksichtslos zurückgeworfen.[31] Zur Zeit der Jünglingspause um das zwanzigste Jahr treibt die Furcht vor der Tiefe des eigenen Selbst zur Zerstörungstat oder zur gewalttätigen Arbeit, in hundert steilen Anfängen. In dieser Hamlet-Zeit aber steht gerade die Sehnsucht nach Fertigwerden, nach Vollenden überall auf, um über die Zeit der Besinnung hinwegzulocken. Furcht vor dem nochmals aufgebrochenen Abgrund des Selbst treibt den Mann in die bürgerliche Ruhe der Ehe. Unter dem unbewußten Bann dieser Furcht entschließt sich der geistige Mensch zu einer wirkenden Tat. In Kunst und Wissenschaft bringt er es allmählich durch seine fertig erscheinenden Werke, durch seinen nunmehr unverkennbar gewordenen Stil zu Ruhm und Ansehen. Schlau und ängstlich beginnt sich der Mensch zu hüten vor allem, was ihn etwa zu der Erkenntnis eines doch vielleicht notwendigen Neuanfangs führen könnte. Er sucht dann nach Ausflüchten, nach Rechtfertigung vor sich selbst. Er bringt sein Leben in System, läßt alles fallen, was kreuz und quer darin liegt, was sich nicht fügt. Sein Wille verdrängt alles, was sich in ihm selbst auflehnt gegen diese Systematik. Er will und muß die Herrschaft über sich und seine Aufgaben behalten. Ist er doch in den Kampf des Lebens getreten und muß nun glauben, daß er »Rechte« und »Ehre« und »Ziele« habe.

Aber aus all dieser mannigfaltig gespreizten Kämpferstellung des werdenden Mannes spricht deutlich die Angst, von der letzten Besinnungszeit seiner Jugend zu Fall gebracht zu werden. Das ist Todesangst im tiefsten Sinne dieses Wortes, zum ersten Male wahre Furcht vor dem Tode. Und doch könnte aus dieser Angst allein das Hinabsteigen in seine Tiefe, das Ersterben in sich selbst Erlösung bringen.

Von Führung und Gefolgschaft kann bei dieser Besinnungszeit des werdenden Mannes nicht mehr gesprochen werden. Hier ist der Mensch zum ersten Mal allein. Das klare Bewußtsein von seiner ersten wirklichen Einsamkeit darf ihn nicht schrecken. Er muß wissen, daß er nun ins Leben entlassen ist, und bestimmt, dem Tode zuzuwandern. Gerade die Hingebung an diese Einsamkeit macht ihn mit seinem eigenen Tode vertraut, daß er nun von Farbe und Geschmack des Todes ganz durchdrungen wird.

Nur durch diese Todesweihe der ersten Einsamkeit geht der Weg zur Liebe des Mannes und zum Beruf des Mannes. Erst dann hat er volle Freiheit und Ruhe, sich umzusehen und die anderen Menschen, alle jene einsamen Menschen, ringsum in ihrer inselhaft abgeschlossenen Wirklichkeit zu gewahren. Es wird notwendig werden, daß er etwas tut. Sein[32] Wissen und sein Können ist ausgebildet. Durch eins von beiden kommt er zur Tat. Wissend wird er zum Führer, könnend wird er zum Meister. Beides in Beziehung zu jenen anderen Menschen, die er nun gesehen hat: die jünger sind als er, noch in Werdenot befangen, oder gleichen Alters und frei geworden wie er selbst, oder älter als er, schon von Todesnot befangen. Sein wissendes Leben wird ihn stark machen, die Jüngeren zu führen, mit den Gleichaltrigen einen Bund zu schließen, Väter und Mütter zu stützen in ihrer wachsenden Bedrängnis. Unter diesen vielfachen Verbindungen wissender Mannesliebe wird immer deutlicher eine Spur zu der Frau hinführen, welche die Ergänzung seines Mannestums darstellt, die ihn zum Vater machen wird. Aber keine der anderen Verbindungen wird dadurch nun etwa gelockert, keine darf willkürlich abgeschnitten werden. Nun muß alles getragen und zur Vollendung gebracht werden. Das ganze Tauwerk dieser Verbindungen muß der Mann bewußt durchs Leben fortführen.

Wissend wird er zum Führer, könnend zum Meister. Aber auch das nur in bezug auf die anderen Menschen ringsum. Allerdings sieht der Werktätige nicht so liebesbewußt auf die einzelnen Menschen wie der Führende. Er tut seine erwählte Arbeit, seinen Beruf aus der zwingenden Notwendigkeit seiner eigenen Kraft und fragt nicht viel nach den Menschen, denen er mit diesem Werke ohne zu wollen eben doch liebe-dient.

Werktätig oder führend, immer nur das eine oder das andere, beginnt der Mann seinen Lebensanstieg. Ein jeder kann beides tun. Doch muß er bei jeder Gelegenheit immer wieder zwischen dem einen oder dem andern wählen, das eine vor dem anderen zurückstellen. Führendes oder werktätiges Vorzeichen werden auch die noch folgenden Perioden des späteren Mannesalters tragen. Darüber kann hier nicht mehr gesprochen werden.


Rhythmischer Wechsel von Schwäche und Kraft

Bei all den Perioden draußen wie drinnen im Menschen ist immer wieder dasselbe: das Auf- und Abschwingen eines Rhythmus um einen Ruhekern herum. Die schwachen und für sich allein sogar schlecht klingenden Zeiten tragen die schöpferische Bedeutung der Pause in sich. Und diese Bedeutung muß zum Ausdruck kommen.

Es ist aber heute keineswegs so, daß der Mensch diese seine dunklen[33] Tage anerkennt oder gar liebt und pflegt. Die meisten wüten vielmehr gegen ihr eigenes Gesetz. Wer eine kraftvolle Natur hat, zwingt sich an diesen Schwächetagen genau so zu leben als sonst, also genau so viel Nahrung aufzunehmen und genau so viel Arbeit zu leisten als sonst. Das heutige Leben, das ganz nach Minutenzeiger und Zentimeterstab ausgerichtet ist, zwingt ja ohnehin jeden Einzelnen von Jugend auf zu maschinenhaften Gewohnheiten und läßt jedes Auflehnen der eigenen Natur dagegen – auch wenn es einmal aus der Tiefe der Besinnung kommt – ungeprüft unterdrücken. So lebt der mit viel Energie ausgestattete Mensch über seine Schwächetage hinweg auf Kosten seiner zunächst unerschöpflich scheinenden Lebenskraft, solange bis dieser Vorrat eben doch erschöpft ist und es in irgendeiner Gestalt zum Zusammenbruch kommt. Von Zeit zu Zeit kommt es bei solchen starken Naturen zu irgendwelchen Katastrophen, etwa zu schweren Krankheiten, oder zu Perioden gesteigerter Genüßlichkeit alkoholischer oder sexueller Art oder zu irgendwelchen übertriebenen Sportgelüsten, vor allem aber zu Perioden unzugänglicher und reizbarer Gesinnung gegen nahestehende Menschen. Und das ist der beste Fall. In den schlimmeren Fällen führt dies achtlose Hinwegleben über die Schwächezeiten irgendwann sogar zu einem endgültigen Zusammenbruch des Lebens. Die Menschen können dann wohl häufig nach außen hin ruhig weiterleben, aber sie haben für den, der näher zusieht, einen Riß (einen Knacks), den sie gewöhnlich vor sich und anderen zu verbergen suchen, der aber da ist und je älter sie werden desto klaffender wird.

Die Menschen von geringer Lebensenergie dagegen geben sich ihren Schwächetagen gänzlich hilflos hin, als wären sie niemals wieder gefolgt von Tagen des Aufschwungs. Sie schaffen sich so allmählich ein immer mehr verdunkeltes Leben. Zunächst wechseln noch Aufschwünge und Abstürze jäh miteinander. Schließlich aber bekommen sie irgendwann einmal ein Grausen vor den (wie sie meinen) dunklen Mächten in ihrem Innern. Sie können sich nicht mehr aufschwingen, weil sie zu sicher schon den Absturz vorher wissen. So verzweifeln die Schwachen am Leben, wie die Starken daran zerbrechen, beide, weil sie das Gesetz der Schwächewiederkehr nicht zu beachten gelernt haben, oder immer wieder diesem Gesetz wissentlich widerstreben. Die rhythmischen Auf- und Abschwünge sind bei jedem Menschen nach einem ihm ganz allein eigenen Urklang gebildet. Es ist der Sinn der Pause, diesen Urklang des Selbst aus der Ruhelage neu entstehen zu lassen. Dieses Hinabschwingen und Hinaufschwingen[34] aus der Ruhelage ist immer wiederkehrende Geburt und Wiedergeburt aus dem Chaos. Die Ruhe der Pause ist gewissermaßen der Grund, bis zu dem alle Schwingungen des Lebens, die kleinsten wie die größten, immer wieder hinabreichen müssen, wenn das Leben wirklich seinen vollen Eigenklang bekommen soll. In den Ruhekernen liegt die Entfaltung des Lebens beschlossen.

An diesen Stellen, wo das Leben sich stets erneuert, liegt naturgemäß auch die Gefahr für das Leben. Alles was wir Krankheit, Schwäche, Fehler, Sünde und Schuld nennen und als lebensfeindlich empfinden, greift immer an den Kern, ja entwickelt sich im Kern, der den Pausen zugrunde liegt. Deswegen ist alles dieses unausrottbar. All dies bedeutet: hier ist Leben, weil eben Feindschaft dagegen da ist.

Wo Verstopfungen der Pausen eintreten, gewinnen diese feindlichen Kräfte sogleich Über-Macht. Nicht Hinabgelangen zur Ruhelage oder in ihr Verharren, beides ist Sünde und Schuld.

Tatsächlich ist auch im einzelnen überall zu sehen, wie die Tiefpunkte der Ruhe und Sammlung, der Kraft, zugleich der Herd der Gefahr sind. Jede Krankheit und jede Notlage läßt sich ursächlich verfolgen bis dahin, wo ein solcher Tiefpunkt der Ruhe entweder nicht erreicht wurde, oder ungesetzlich verlängert wurde. Die Menschen, die immer wieder über die vielen tausend Atempausen des Tages achtlos hinweggleiten, fühlen sich dauernd unruhig, gehetzt und gejagt. Alle, die an zu beschleunigtem oder zu verlangsamtem Stoffwechsel leiden, sind müde und fühlen sich beschwert. Sie können ihren Körper nicht erlösen. Sie können nicht mit ausgeprägten Gebärden zu einer täglich neuen Eigenbeweglichkeit kommen. Um mit der Arbeit schneller fertig zu werden, überstürmen sie ihr Tempo und kommen niemals zum Genuß der Ruhe. Übermüdet halten sie fest am Tage und bringen sich selbst um den allheilenden Segen des Tiefschlafs. Sie haben keine Feiertage, weil sie zu schlapp sind, um überhaupt etwas zu tun und ihnen so jeder Tag ein Ruhetag ist, oder weil sie, von Arbeit überbürdet, alle Tage gleichmäßig fortarbeiten. Die monatliche Schwächewiederkehr, der Jahreszeitenwechsel bleibt unbeachtet in ihrem Leben, und sie verschmähen immer wieder den Trost, mit der neu aufschwingenden Natur aus dem eigenen Grunde mitzuschwingen. Sichtbar wird alles das, was wir Krankheit, Sünde, Schuld oder wie auch immer nennen, natürlich an sehr verschiedenen Stellen der steigenden und fallenden Bewegung des Lebens. Verschiebungen, Übertragungen,[35] Verdrängungen aller Art, machen das Bild von Ursache und Wirkung im einzelnen völlig unübersehbar.

Gewiß hängt auch all dies Äußere miteinander zusammen, aber das eine ist sicher: Immer hat das Übel, das sich irgendwo an der Oberfläche zeigt, seinen Ursprung in der Tiefe, wo die Pausen sind. Behoben kann das Übel nur werden, wenn man in die Tiefe steigt. Am öftesten und leichtesten kann man in diese Tiefe steigen auf dem schwingenden Atem, vielmals in jeder Minute. Und so ist tiefste Wahrheit, was von dieser alles heilenden Kraft der bewußt atmenden Seele gesagt wird. Damit ist keineswegs gesagt, daß man das Übel nicht auch an seiner sichtbaren Stelle bekämpfen könnte und sollte, wie die Ärzte tun. Nur das ist sicher, daß es immer wiederkehrt, solange der verkehrte, der dem Selbst nicht eigene Rhythmus bestehen bleibt. Jeder Mensch leidet eben an seinen eigenen Übeln und Krankheiten als den Abweichungen von seinem Rhythmus, und diese Übel endgültig beseitigen kann er nur durch Einlenken in seinen eigenen Rhythmus.

Der Führende muß versuchen, die Schwächetage der Einzelnen herauszuspüren, weil er da die immer wiederkehrende Gelegenheit hat, helfend einzugreifen. Die jungen Mütter, die ja bei der Erziehung des kleinen Kindes meist noch unabgelenkt ihrer inneren Natur folgen, geben hier ein meisterliches Vorbild. Wenn das Kind aus irgendwelchen Gründen sich schlecht aufgelegt fühlt, unlustig und krank ist, dann wissen sie es genau. Was tun sie? Sie singen es ruhig in den Schlaf. Sie gehen nur ganz leise auf den Zehen im Zimmer herum, daß es ja nicht etwa vorzeitig erwacht. Sie vertrauen seinem Schlaf. Sie geben ihm weniger Nahrung und lassen es überhaupt in Ruhe. Hier gilt es zu lernen. Es muß Vertrauen gelernt werden in die Selbstheilkraft des einzelnen Menschen zur Zeit seiner Schwäche. Oft mag es schwer sein, wenn das Kind, das dieses alles ja nicht weiß, sich sehr trotzig oder sehr verzagt gebärdet. Nur das unverwirrbare Wissen des Führenden kann da helfen. Wenig kann er tun, kann höchstens Schädliches verhindern. Er muß darauf achten, daß das Kind sich in seinen Schwächezeiten nicht mit schweren Nahrungsstoffen belastet, daß es im Gegenteil sich gründlich entlastet, seinen Leib innen und außen reinigt. Er muß darauf achten, daß es irgendeine gleichmäßige, aber leichte körperliche Arbeit tut und womöglich so den schwingenden Rhythmus seines Atems wiederfindet, und schließlich sich beruhigt und in einen frühen und tiefen Schlaf verfällt.


[36]

Später, wenn der junge Mensch allmählich in das bewußte Leben hineinmündet, muß der Führer ihn in den Sinn der Schwächetage einführen. Daß er ohne Widerstreben aber auch ohne Verzagen sich der ihn überkommenden Schwäche überlassen darf, wissend er steige in die Tiefe seines Lebens und bereite damit den aufschwingenden Tagen ihren Weg. Ein jeder der Anvertrauten muß dann schon gelernt haben, wie das Gesetz seiner eigenen Schwächetage verläuft und wie er die dadurch geschehende Reinigung am besten unterstützt. Der eine wird an diesen Tagen gar nichts essen oder nur ganz wenig und nur frische fruchthafte Nahrung, er wird sich baden und sonnen und viel schlafen. Ein anderer wird vielleicht in den Wald gehen, den ganzen Tag über und ganz heimlich und wartend das Leben der Pflanzen und Vögel belauschen. Ein Dritter wird vielleicht ein Buch nehmen und sich in irgendeinen Winkel damit legen. Ein Vierter wird Lust nach tobendem Spiel und körperlicher Arbeit haben und befriedigen müssen. Aber alle werden sich in eine gewisse wartende Stellung begeben, wo sie aufnehmen können, empfangen können, ohne sich zu belasten. Jeder wird sich so einstellen lernen, daß der Strom der Natur an solchen Tagen möglichst wenig gehemmt durch ihn hindurch kann. Um der Gewalt der Strömung Raum zu schaffen, ist es nötig, die gewöhnliche Tageseinteilung zu unterbrechen, den gewöhnlichen Arbeitsgang und die gewöhnlichen Essenszeiten fallen zu lassen. Die ganze Freude des Wissens um die schöpferische Bedeutung dieser Ruhetage muß darin sein. Auch die Genossen müssen diese Schwächetage an einander achten lernen, weil jeder weiß, daß sie über jeden kommen, und es darf keine falsche Scham und kein Ehrgeiz und kein böser Spott zwischen ihnen stehen. Davon wird später noch zu sprechen sein.

Wenn so die Menschen gelernt haben, die Tage ihrer Schwäche einzubauen in den Gesamtrhythmus ihres Lebens, wird es vielleicht auch gelingen, die Tage der Kraft miteinander in Einklang zu setzen, sie in einen strömenden Zusammenhang zu bringen. Es ist sehr schwierig und erst in einem späteren Alter möglich, daß die Tage der Kraft sich voll und ganz in bestimmte Reihen fügen und also zielgerichtet werden. Gemeint sind die Tage, in denen sich der Mensch geborgen fühlt und allmächtig zugleich, Tage, in denen die schaffende Natur in ihm und durch ihn mühelos schafft, Tage des Gelingens, der Freude. Kinder haben diese Tage in regelmäßiger Aufeinanderfolge. Nur die wenigen Schwächetage unterbrechen notwendig in rhythmischer Folge diesen Gang ihres Glücks. Es[37] gibt Menschen, in denen dieser Glückstakt vorherrschend bleibt. Wie in ihrer Kindheit bleiben sie gesund, und ihr Leben fließt ohne allzugroße Erschütterungen zwischen ertragbaren Schmerzen und vielen Freuden, zwischen Tun und Lassen, Neigung und Abneigung in mäßig bewegten Rhythmen dahin. Ihre Natur scheut sich vor dem allzugroßen Ausmaß der Schicksalsschläge und vor dem zu schnellen Tempo. Werden sie in ihrem Takt nicht gestört, so erreichen sie die eine Möglichkeit des Glückes: sie fügen ihre Krafttage zu einem maßvoll und schön gegliederten Bau, zu einem Leben voll Heiterkeit, Genuß und maßvollem Tun. Goethe ist einer von den Wenigen, denen ein solches Leben gelungen ist. Die meisten so gearteten Menschen aber lassen sich durch irgendwelche Hindernisse in ihrer Lebensgestaltung früh schon aufhalten. Sie haben nicht den Mut zur Freude, zum Genuß. Nach Art von Kindern, die in ihrer Lebensfreude gestört werden, fühlen sie sich zurückgesetzt, übergangen und verkannt. Es sind die immer Mißmutigen, von ihren Launen hin und her Getriebenen, recht eigentlich Menschen, die im kindischen Wesen stecken geblieben sind. Oft wird man noch den Zeitpunkt nachweisen können, wo sie aus Scham oder Furcht oder irgendwelcher hemmenden Rücksicht in dem Rhythmus ihrer Glückstage einmal unterbrochen wurden und niemals wieder recht zum Aufschwung kamen.

Die andere Glücksmöglichkeit lockt sehr viel mehr Menschen der nördlichen Länder: nicht Maß und Harmonie, sondern leidenschaftliche Kraftsteigerung ist ihnen Glück. Die Tage der Kraft werden auf ein ganz bestimmtes Ziel gerichtet. Nicht die in ihnen aufschwingende Kraft selbst, sondern das dadurch bewirkte Werk, die Erreichung einer ganz bestimmten Wirkung heißt Glück für diese Menschen. Dem Glück des harmonischen Kräfteausgleiches steht das Glück des leidenschaftlichen Kraftgebrauches gegenüber. Das niemals gehemmte gleichmäßige Aufschwingen der Kraft verbürgt die erste Glücksmöglichkeit, die hemmungüberwindende Steigerung der Kraft verbürgt die zweite Glücksmöglichkeit. Beide Glücksmöglichkeiten haben ihre eigenen Gesetze. Für den Menschen des Gleichmaßes ist geboten, den Hemmungen in seinen Krafttagen aus dem Wege zu gehen, ihnen auszuweichen. Der Mensch der leidenschaftlichen Kraftanspannung dagegen sucht grade Reibung und Gefahr, um sich an der Überwindung der Hindernisse zu steigern. Ausnutzung der Kraft bis aufs äußerste ist das Geheimnis, dem diese Menschen nachspüren: wie ist es möglich, die Kraft durch Verschiebung, Ersetzung und[38] Stauung zu vervielfachen? Um das zu erreichen, hat man in unseren Zeiten vor allem nach dem Gesetz der Arbeitsteilung verfahren. Arbeit wurde die Losung aller Menschen.

Die Arbeit machten sie zum Gott, dem sie ihr Leben stückweis opfern, ihr eigenes Leben und das ihrer Frauen und Kinder noch dazu. Dem Mann steht sein Beruf am höchsten. Er benutzt die Freude ganz rechnerisch absichtlich als Antriebsmittel zur Arbeit, er verschafft sich nur so viel Genuß, wie gerade eben noch durch die darauf folgende Arbeit wieder unschädlich gemacht werden kann. In ebenso kleinen und zuträglichen Dosen nimmt man den Schmerz. Das Leben eines solchen Arbeitsmenschen, eines Großkaufmanns etwa oder Großindustriellen oder Großgelehrten dieser Zeit ist bis in die letzten Minuten wohl eingeteilt und geordnet zu dem einzigen Zweck, möglichst viel Arbeit herauszubekommen. Das ist die typische Verkörperung der einen Glücksmöglichkeit.

Diese Möglichkeit gilt heute als die einzige. Jede andere wird bestraft. Denn das ist das Schlimme: der Glaube an die Arbeit ist so einseitig allmächtig geworden, daß es zur Dogmenbildung gekommen ist und zur Verfolgung der Andersgläubigen. Mittel der Verfolgung sind Hunger und Verachtung, die wirksamsten Mittel, die große Menge in Bann zu halten und zugleich den edlen Einzelnen zu bezähmen. Keiner darf sich der Arbeit entziehen. Denn die Arbeit braucht die Menschen in Mengen. Eine besondere Arbeiterklasse ist entstanden, wie in der römischen Spätzeit der Sklavenstand. Jeder dieser vielen übt sich auf möglichst eng begrenzte Arbeit ein, um möglichst viel zu leisten. Alle staatlichen und kirchlichen Einrichtungen sind auf das Arbeitsdogma zugeschnitten. Und so hat sich der Rhythmus der europäischen Arbeit ganz und gar verwirrt und zerknittert. Jede auch nur geringfügige Pausierung ist daraus verschwunden. Die Fabrikstadt ist das Symbol dieses Arbeitslebens. Tag und Nacht, wochentags und feiertags brennen die Öfen. Sie dürfen nicht ausgehen, weil es zu kostspielig ist. Ob es regnet oder die Sonne scheint, ob es Frühling ist oder weit draußen auf den unbekannten Feldern das Getreide reif wird, niemand merkt es. Ob eine Arbeiterin ein Kind trägt, ob ein Vater stirbt, ob ein junger Mensch zum ersten Mal Liebe empfängt und gibt, über alles das jagt die Arbeit die einzelnen Menschen so lange mitleidlos hinweg, bis sie selbst glauben, sie hätten kein Recht daran. Es gilt schon geradezu als minderwertig, wenn einer sich von einem allzu großen Schmerz übermannen läßt und seine Arbeit darüber versäumt.[39] Und doch wäre es für die meisten viel besser, wenn sie einmal gründlich verzweifelten. Selbst auf die Gefahr, daran zu sterben und nie wieder zu arbeiten. Denn so können sie weder sterben noch leben. Die Menschen haben keine Zeit zur großen Verzweiflung, wie sie keine Zeit zur großen Freude haben. Das rasende Tempo der Arbeit hat alles überrannt, so daß die arbeitenden Menschen eigentlich nur von ihrer Anfangskraft zehren, die sie aus dem Mutterleib mitbringen und dann hinfallen und sterben, ohne ein einziges Mal von sich selbst aus tief Atem geholt zu haben. Vielleicht, wenn sie nur einmal innehalten könnten, um wirklich und lange genug auszuruhen, würde ihre Arbeit viel leichter und freudevoller und auch stärker aus ihnen hervorbrechen können. Sie würden dann einen Überschuß an Kraft gesammelt haben und nicht immer nur knapp so viel Kraft aufraffen, wie sie im nächsten Augenblick schon wieder ausgeben müssen, um die notwendige Arbeit im Gang zu halten.

Gegen den Glauben an die Arbeit soll hier nichts gesagt werden, nur gegen die Dogmatik. Sicher ist das Zeitalter, das Klima, die nördliche Menschenrasse so beschaffen, daß die Mehrzahl der Menschen ihre Glücksmöglichkeit in der Arbeit suchen muß. Das Glück des in sich schwingenden Kräftegleichmaßes, die griechische, auch die christlich-mystische, auch die indische Zielforderung der Harmonie ist in ihrer Ausschließlichkeit nur für wenige Menschen gültig. Alles drängt heute zur Sichtbarmachung, zu der sofortigen Umprägung der inneren Kräfte in Arbeit. Dies ist entwicklungsmäßig das Unumgängliche. Auch die Erziehung wird dahin gerichtet sein müssen. Die Arbeitsschule ist der lebenskräftigste neue Gedanke. Alles kommt aber nun darauf an, den finsteren dogmatischen Geist der Sklaven und Sklavenhalter zu vertreiben, und damit wirklich und endgültig zu der Glücksmöglichkeit der Arbeit durchzustoßen.

Es muß gelernt werden, die Tage der Kraft in strömenden Zusammenhang zu bringen. Tage der Kraft sind Tage der Freude. Solange die Fortsetzung einer angefangenen Arbeit an den darauf folgenden Tagen Lust, sogar steigende Lust bereitet, ist die Glücksreihe der Tage gewährleistet. Wenn der Fortsetzung der Arbeit an einem Tage dann plötzlich ein Unlustgefühl entgegensteht, bedeutet das einen Knotenpunkt in der Reihe der Tage. Es ist dies der kritische Punkt, der schöpferische Bedeutung hat und in keinem Fall gedankenlos übergangen werden darf. Es ist dann zweifache Entscheidung möglich. Entweder der Mensch hört auf, bricht ab mit der Arbeit, überläßt sich der Ruhe und nimmt damit alle Nachteile[40] auf sich, die der Abbruch einer Arbeit mit sich bringt, unter Umständen also Hunger und Verachtung der Menschen. Oder aber er überwindet das Unlustgefühl. Mit Dransetzung aller Kräfte setzt er willensmäßig die Reihe der Krafttage fort. Freiwillig, nicht gezwungen durch irgendein Abhängigkeits- oder Pflichtgefühl muß die Kraftanspannung geschehen, wenn das werktätige Glück erhalten bleiben soll. Das Arbeitsdogma befiehlt hier: Ergebung in die unbedingte Abhängigkeit von der Arbeit, in die »Pflicht«; etwas kirchlicher ausgedrückt: Hingebung, Liebe zu dem Nächsten, für den man die Arbeit tut. Natürlich kann man auch zu Zeiten Umwege gehen und das Arbeitsfeuer erhalten aus Pflicht oder aus Liebe zu einem Menschen. Für die große Menschenmasse ist das vielleicht sogar auf längere Zeit hinaus das Notwendige. Aber solche Umwege, solche kleinlichen Brücken und Krücken bleiben doch immer Unglaube an die unmittelbare Schöpferkraft in den Menschen selbst. Das eigentliche Glück liegt in der Spannung der selbsteigenen Kraft auf den gewollten Zweck.

Arbeit ist Freude, und die Fortsetzung der Arbeit über den natürlichen Ermüdungspunkt hinaus ist das äußerste Glück, das den Menschen zuteil werden kann. Es ist dem Menschen gegeben, zu Zeiten seiner Kraft durch den Gedanken an das Ziel sich selbst zu vervielfachen weit über alle natürliche Möglichkeit hinaus. Monatelang, jahrelang, lebenslang sogar kann das Bild eines Werkes den Menschen in Schwung halten und den Tagen seiner Kraft einheitliche Glücksrichtung geben. Nicht aus Pflicht, nicht aus Liebe, nein aus werkwärts gerichteter Kraft vermag er, wenn es die Arbeit befiehlt, die durch den Lauf der Gezeiten gesetzmäßig über ihn kommenden Schwächetage zu seinem höchsten Glück in Tage der Kraft umzuwandeln. Und er weiß, was dieser Sieg über das natürliche Gesetz der Schwächezeiten bedeutet. Es ist das Überschwingen der gesetzlichen Pause. Gefahr, Vernichtung, Tod liegt dort verborgen. Ein jeder muß lernen und wissen, wann und wie oft er das vermag. Der Führende muß von früher Kindheit an schon die Kraft seiner Anvertrauten daraufhin prüfen, wann sie zum ersten Mal um einer Leistung willen ihre Schwächezeiten ausschalten können. Für Kinder gilt das noch nicht. Für Kinder gilt zunächst allein der Satz von dem natürlichen Anschwellen und Abschwellen der Gezeiten. Kindliche Leistungen werden entweder, wenn die Kraft anschwillt, spielend hervorgebracht oder eben unterlassen, wenn die Kraft abschwillt. Sinnlos ist es, Kinder zur Fortsetzung der Arbeit anzuhalten, unter der Begründung, sie hätten diese Arbeit doch übernommen und also[41] die Pflicht, sie fertig zu machen, oder sie müßten diese Arbeit diesem oder jenem Menschen »zuliebe« fertigmachen. Erst spät und meist wohl nach dem Entwicklungsalter wird es möglich werden, um der Arbeit willen die Schwäche zu überwinden und also die schöpferische Pause unmittelbar in Schaffen umzusetzen. Der Hilfsbegriff der Pflicht wird da nicht mehr nötig sein. Ein Siegestag, ein Tag überschwänglicher Freude wird es sein, unvorstellbar für die vielen Menschen, die von Kindheit an zur freudlosen Arbeit gezwungen wurden und von denen darum Arbeit ohne weiteres gleichgesetzt wird mit Leid und Qual, denen man sich mit List auf jede Weise entziehen muß. Wo der junge Mensch (nicht zu früh) solchen Siegestag seiner Kraft erlebt hat, wird es nicht mehr nötig sein, ihn anzutreiben. Im Gegenteil, der Führende wird sorglich und unmerklich darauf achten müssen, daß jener in seiner immer wachsenden Kraftfülle durch ein zu häufiges Überschwingen der Pause diese Umschaltung nicht mißbraucht und abnutzt.

Denn nicht alle Pausen dürfen übergangen werden. Die Atempause und die Pause zwischen den Lebensaltern müssen eingehalten werden, denn dieser kleinteiligste und weitestschwingende Rhythmus ist ja das Schwingen des lebendigen Menschen selbst. Geht der Atem nicht tief genug, dann brennt die Flamme des täglichen Lebens nicht so stark, die überströmende Lust zur Leistung kann nicht frei werden. Ist keine Besinnungszeit zwischen den verschiedenen Lebensaltern, so bleibt der Mensch in sich selbst stecken, schwingt zwar noch durch die Gezeiten, aber ohne mehr selbst noch weiterzuschreiten. Also nur die astronomisch gesetzten Pausierungen können zeitweise um eines Werkes willen übergangen werden. Und allmählich wird der Mensch lernen, welche Umschaltungsmöglichkeiten ihm da zu Gebote stehen, um die Tage seiner Kraft in strömenden Zusammenhang zu erhalten. Er wird es vermögen, die jahreszeitlichen, die monatlichen und die täglichen Pausen zeitweise nicht zu beachten. Er wird darüber hinaus schöpferisch tätig sein können gegen alles Gesetz, beflügelt durch seine Freude an dem wachsenden Werk.


Rhythmische Leistung

Der Erzieher in den heutigen Schulen läßt den jungen Menschen in der Auffindung seiner eigenen Bedingungen, seines eigenen Naturgesetzes völlig allein. Man setzt voraus, er werde sich schon selbst »finden«. Die allermeisten finden sich selbst tatsächlich aber niemals. Und alle diese[42] leitet man nun trotzdem zu einem Können, das überhaupt nicht oder noch nicht in ihnen selbst bedingt ist. Die Folge davon tritt in diesen Zeiten schon als ein wahrer Höllenzustand überall zutage.

Alles Können, alles Gekonnte hat sich losgelöst von dem erzeugenden Menschen und wird getrennt von dem Erzeuger gewertet. Getane Werke, Erzeugnisse der Hand und des Geistes, Dinge, die Menschen hervorbringen, haben Eigenmacht gewonnen über die lebendigen Menschen. Dieser Zweckgedanke, diese ungeheuerliche Überschätzung der Sache, der Leistungen, hat ihren immer wieder neuen Nährboden in der Erziehung, welche die Menschen von vornherein doch wenigstens zu einem gewissen Mindestmaß von Leistung abrichtet. So werden dem jungen Menschen von vornherein allein die Dinge, die von Menschen geschaffenen Werte, hingehalten mit dem stillschweigenden Bedeuten: auch du hast später in deinem Leben zu diesem Haufen der Werke deine Arbeit, mag sie nun klein oder groß sein, hinzuzulegen. Die sich selbst zur Qual verdammende europäische Menschheit jagt ihre Kinder mit Hilfe der Erziehung immer wieder von neuem in diese trostlose Sklaverei, wo die Menschen meist ohne Freude und weit über ihre Kraft hinaus Dinge herstellen müssen für Menschen, die auch wieder nichts tun als Dinge herstellen oder Dinge verbrauchen.

Mit all diesen Worten wurde nichts gegen Arbeit und Leistung selbst gesagt. Nur gegen die Losgelöstheit der Arbeitsleistung von den Menschen, die sie hervorbringen. Arbeit ist aber doch Hervorgebrachtes, ist die Frucht vom Baume Mensch, die Frucht, die zu ihrer Zeit abfällt.

All das atmende, durch Tag und Monat, durch Jahr und Lebensalter hindurchschwingende Leben ist ja eigentlich nur Kraftbereitung für die hier und da selten, dann aber wuchtvoll zutage tretende, schöpferische Leistung des Menschen. Für solche Früchte, solche Werke hat all das schwingende Leben dann die Bedeutung der schöpferischen Pause; denn aus der Tiefe des Lebens schießt diese Kraft herauf.

Jedes Kind bringt zugleich mit seiner Lebenskraft auch schon die Urausdrucksform dieses Kraftüberschusses, den Spieltrieb ins Leben mit. Spiel ist die leichteste Form des Ausbruchs aus dem ruhenden Selbst, und darum auch selbst in seiner Übertreibung für die schöpferische Pause nicht gefährlich. Im Spielenkönnen ist gewissermaßen noch unentfaltet alles Können enthalten, was sich nachher bei den erwachsenen Menschen in Einzelfähigkeiten gespalten ausdrücken soll. Die gewöhnlichen Schulbetriebe der heutigen Zeit sind nun so einseitige Vorbereitungsanstalten[43] für das sogenannte »Leben« geworden, daß die Form des Spieles in ihnen gar nicht oder nur sehr wenig Raum findet. Der Grundsatz der Arbeitsteilung beherrscht den »Stundenplan«, und damit ist das zweckmäßigste Mittel gefunden, möglichst viel an Leistung herauszupressen. Stundenweise, immer wenn der Lernende ermüden will, bekommt er ein anderes Gebiet der Arbeit vorgesetzt. Dies erinnert an die ehemals übliche Methode, bei überreichen Gastmählern durch die Verschiedenartigkeit der Gerichte immer von neuem den Appetit anzureizen.

Schnell ausmünzbare kleinteilige Arbeitsweise lernen die Kinder auf der Schule. Was sie gelernt haben, müssen sie auch gleich anwenden und benutzen. Daß nur ja nichts verschwindet! Der Lehrer will gleich Erfolge sehen und die Eltern zu Hause auch, und so muß das Kind denn von Tag zu Tag immerfort zulernen; je klagloser es sich dazu zwingen läßt, d. h. je schwächer es in seiner Anfangskraft ist, umsomehr wird es gelobt. Dieser ganze Zwang zur Arbeitsleistung, diese Vorbereitung aufs Leben, überhaupt das ganze Arbeitsdogma muß beiseite gelassen werden, wenn es sich um die Erziehung des kleinen Kindes handelt. Der Führer braucht nichts weiter zu tun, als den kindlichen Schatz an spielenden Ausdrucksmöglichkeiten verwalten helfen. Aber nicht mehr darf er diesen Schatz zerstreuen und vergraben, weil für ihn selbst das Leben ernst geworden ist. Er muß spielend Führer sein. Und um das zu können, muß er in seinem Blute den Ursinn alles gestaltenden Lebens kreisen fühlen: ganz gleich ob so oder so, wenn nur überhaupt! Und zugleich muß er als erster und immer wieder mit dem spielenden Kind die Ernsthaftigkeit des Spiels freudig bejahen, das Werfen aller Kraft auf das Ziel dieses einen Spieles: wenn einmal überhaupt, dann so und mit aller Kraft nur so! Beides zusammen: die freudige Erkenntnis der Zwecklosigkeit alles Spiels und trotzdem die ernsthafte Ergreifung des einen gewählten Spieles macht allein locker und leicht genug, um immer und immer wieder in die Tiefen der Ruhe hinabzuschwingen, aus der sich dann zu ihrer Zeit die schöpferische Leistung ungezwungen erheben kann.


Die allgemeine Bildung

Die Stellung des heutigen Menschen der Alltagsarbeit gegenüber ist ja sinnlos geworden. Der allgemeine Zustand in den großen Städten ist so: die alltägliche Arbeit, Kleinarbeit und Grobarbeit, wird einer gewissen Anzahl von Menschen ohne weiteres aufgebürdet und zwar mit[44] völliger Selbstverständlichkeit, als wäre es das gute Recht der übrigen Menschen, von dieser Alltagsarbeit befreit zu leben und zu schaffen, wie es ihnen gefällt. Besonders den Frauen und den minderbemittelten Ständen ist diese für die Anderen zu leistende Alltagsarbeit zugeschoben worden. Alles, was infolge der täglichen Abnutzung des menschlichen Lebens unmerklich immer wieder ersetzt werden muß, um ein Weiterleben möglich zu machen, alles Kochen und Flicken und Scheuern, überhaupt alle Haus- und Reinigungsarbeit wird ohne jedes weitere Nachdenken von den Männern als Frauenarbeit gestempelt, und von den Frauen auch ohne jeden Einspruch geleistet. Ebenso ist die Herstellung der vielen für das alltägliche Leben notwendig gewordenen Dinge, die in Maschinenbetrieben irgendwelcher Art angefertigt werden, den handarbeitenden Klassen des Volkes auch wieder ohne jedes Nachdenken zugeschoben, und von dieser Klasse – bis vor kurzem – auch ohne Einspruch geleistet worden.

Gegen diesen bestehenden Zustand soll hier nun nicht etwa vom Standpunkt der »Gerechtigkeit« Einspruch erhoben werden, als ob jeder Mensch unbedingt lebenslänglich das gleiche Maß von alltäglicher Kleinarbeit und Grobarbeit ableisten müßte. Die Verwirklichung dieser Forderung wäre sinnlos, ebenso wie der heutige Zustand sinnlos ist. Die Kleinarbeit ist zeitraubend und die Grobarbeit ist kraftraubend; und wo Menschen sind, die ihre Zeit und ihre Kraft für feinere und über viele Zeit wirkende Arbeit bereit haben müssen, wird ihnen dienende Liebe auch fürderhin jene Arbeit abnehmen müssen. Aber es ist notwendig, daß alle diese geistig arbeitenden Menschen endlich erkennen lernen, was ihnen eigentlich damit an Hilfe geleistet wird, wenn ihnen die Grundlagen ihres Lebens und Arbeitens von anderen Menschen täglich untergebaut werden. Es muß so weit kommen, daß sie selbst solche vielen kleinen und schweren Dienste überhaupt nur noch dann annehmen, wenn sie wissen, daß sie wirklich durch ihr Leben und ihre Leistung doch mindestens Wertgleiches aufzubringen vermögen.

Um dieses Gefühl der Selbst-Schätzung zu bekommen, muß jeder Mensch diese Kleinarbeit lange Zeit hindurch selbst getan haben und gern und richtig getan haben. Er muß durchdrungen von der Zweckfreiheit alles Tuns ganz im Innersten wissen: es ist ja ganz gleich, was ich tue. Wesentlich ist allein, daß ich etwas hervorbringe, daß meine lebendige Kraft überschießend sich Ausdruck schafft. Ob ich nun Korn mahle oder Gemüse bereite, ob ich gemeinsam bewohnte Stuben täglich wieder[45] zum Darinleben herrichte, ob ich das Feld bebaue oder eine handwerkliche Tätigkeit habe, ob ich Kinder beaufsichtige, ob ich Gedanken in irgendwelche wissenschaftliche oder künstlerische Form biege, – die großen Unterschiede zwischen all diesen und hundert anderen Leistungsmöglichkeiten verschwinden zu nichts gegenüber dem wesentlich Gleichen: ich selbst, meine täglich immer wieder wachsende Lebenskraft prägt sich da in all diesem Tun ihren eigenen Ausdruck, wird sichtbar an den Dingen, wird sinnlich greifbare Form durch meine Leistung.

Der Führer zum Leben muß seine Anvertrauten von dem kindlichen Spiel aus spielend und leicht von vornherein in diese Alltagsarbeit einführen. Das ist heute der wichtigste, weil am wenigsten geübte Teil seines Bildungsamtes, und Bildung der Jugend gewinnt so ein weit von dem üblichen Begriff Bildung abweichendes Gepräge. Allgemeine Bildung zum alltäglichen Tun ist als Ziel allem anderen vorangestellt. Von den Lehrlingen wird hier sehr viel mehr und ein sehr Verschiedenartiges an Leistung verlangt werden als bisher. Das Ziel dieser allgemeinen Bildung ist, den einzelnen Menschen so weit selbständig zu machen, daß er jede Arbeit, die ihm in seinem Leben am Wege liegt, aufnehmen kann, wenn er will. Keineswegs muß er nun jede Arbeit aufnehmen. Zweierlei Folgen wird diese allgemeine Bildung haben. Der Mensch bekommt Sinn für die Eigentümlichkeit einer jeden Arbeitsleistung, und somit Ehrfurcht vor denen, die sie leisten, die sie gar für ihn leisten, um ihn zu entlasten und für andere Arbeit freizumachen. Und – er bekommt dadurch allein wahre Freiheit in der Wahl dessen, was er nun in seinem Leben endgültig tun soll. Er bekommt Freiheit in der Wahl seines Berufes. Er hat den Umkreis alles Tuns in seiner Weite gesehen und darf nun wählen.

Denn allein die spielende Unbekümmertheit jedem beliebigen Tun gegenüber macht den Menschen unabhängig genug, daß er letztlich, am Ende seiner Jugend, das ihm gemäße »Spiel« auswählt, den Beruf, dem er sich nun mit sehr großem Ernste zuwenden wird, um ihn von da an das Leben entlang als Hauptaufgabe weiter zu spielen.

Auch von da an aber wird freilich jene allgemeine Bildung dem älter werdenden Menschen die niemals wankende Grundlage bleiben. Gewiß wird er sich nun mancherlei tägliche Arbeit, Kleinarbeit und Grobarbeit abnehmen lassen dürfen, von Menschen, die ihm dies zuliebe tun wollen und denen eben dies Beruf geworden sein kann. Aber er wird[46] nicht mehr in die Sackgasse des heute noch gültigen bürgerlichen Berufslebens hineingeraten. Wo einmal die tägliche Hilfe seiner Mitmenschen aus irgendwelchen Gründen versagt, wird er weder hilflos noch lieblos werden, wie die heutigen Menschen in solchen Fällen unweigerlich werden müssen. Er wird eben nicht mit Heftigkeit diese oder jene Dienstleistung fordern, wenn der, welcher sie ihm gewöhnlich tut, einmal nicht kann oder mag. Er wird dann einfach hingehen und das Notwendige selbst tun und tun können. Er wird alle dazu gehörigen Handgriffe können, weil er sie gelernt hat, und er wird sie zugleich gern tun, untertauchend in die früh geübte Zweckfreiheit jeglichen Tuns. Ja, es wird oftmals dazu kommen, daß er selbst sich in dieses weite Meer jeglichen Tuns absichtlich hinabläßt. Diese alltägliche Arbeit wird für ihn dann die Ruhelage für seine eigentliche Arbeit sein können, aus deren Grunde er leicht und frei sich täglich erheben kann. Ist er doch nicht an seinen Beruf gekettet. Er hat unterbrechen und Unterbrochenes wieder anknüpfen gelernt. Er wird auch in seinem Alter nicht verlernen, zwischendurch hundert alltägliche Verrichtungen spielend gern auszuüben, immer wieder von neuem durchdrungen von jener ersten Spielregel: ganz gleich ob so oder so, wenn nur überhaupt!

So wird er vielleicht an der lieblosen Hilflosigkeit alternder Menschen in seinem eigenen Alter vorbeikommen und damit die schwerste Probe der »allgemeinen Bildung« seiner selbst bestehen, weder lieblos noch hilflos zu werden. Bis an seinen Tod wird jede Leistung zwanglos und leicht aus der tiefen Ruhe seines Lebens aufquellen und überschießen.


Die Berufsbildung

Der Ausbau der ersten Spielregel: Ganz gleich ob so oder so, wenn nur überhaupt – führt das Kind aus dem alltäglichen richtungslosen Spielen allmählich zur spielenden Beherrschung seiner Alltagsarbeit. Die Unendlichkeit spielender Kraft wird in die immer wieder neue Aufgabe jedes Tages hineingeleitet. In umgekehrtem Sinne läßt sich die zweite Spielregel anwenden. Dieses: »wenn einmal überhaupt, dann so und nur so« wird das Kind aus dem alltäglichen richtungslosen Spielen zur Wahl einer ganz besonderen Berufsarbeit leiten. Es wird sein wie ein Wechselströmen mit entgegengesetzten Richtungszeichen. Die Allgemeinbildung hat das Ziel, das Einerlei der alltäglichen Verrichtungen immer wieder mit schöpferischer Kraft zu verlebendigen, zu verunendlichen.[47] Die Sonderbildung hat das Ziel, die strömende Kraft auf ein ganz bestimmtes Tun hinzulenken, zu einem ganz begrenzten Werk zu leiten. Die allgemeine Bildung des Menschen wird nun seiner besonderen Bildung nicht mehr so beziehungslos gegenüberstehen, wie die heute übliche »allgemeine Bildung« der Berufsbildung gegenübersteht. Vielmehr wird die besondere Bildung eines Menschen, sein Beruf, ganz allmählich und langsam aus der Gesamtbildung seines Könnens erwachsen.

Der Führer zum Leben wird bei der Unterweisung in den verschiedenen Teilgebieten des Könnens weit vorsichtiger sein, als es in den heutigen Schulen üblich ist. Die fachmäßige Sonderbildung wird nicht mehr das berechenbare Ergebnis absichtlicher Züchtung sein. Freilich wird es eine Kraftprobe werden, dem richtungslosen Auf und Ab der alltäglichen Arbeit und des alltäglichen Spieles der Kinder zuzuschauen und ihrem Tun lange Zeit keine Sonderrichtung zu geben, auch dann nicht, wenn andere Kinder draußen längst zu ganz bestimmten Leistungen abgerichtet sind und bereits allerlei »können«. Heute wird ein Kind ja doch oftmals nur darum »beschäftigt«, um es »abzulenken«. Und warum will man es ablenken? Um es »loszuwerden«. Und gerade dies darf der wahre Führer nicht tun. Er muß durch das Wirrsal des täglichen Spielens und Arbeitens mit hindurch bis ans Ende. Dieses Ende wird schon kommen.

An irgendeinem Tage wird einer aus der Schar zu spüren beginnen, daß er mit seinen Kräften lieber etwas ganz Bestimmtes ausdrücken möchte. Er wird unzufrieden werden und sich zurückziehen von der gewöhnlichen Tagesarbeit und nicht mehr mittun. Das ist das entscheidende Zeichen. Der Führer weiß, daß hier die schöpferische Pause begonnen hat, die dem Werkgedanken notwendig vorausgeht.

Alles kommt darauf an, solche schöpferischen Unterbrechungen in dem täglichen Arbeitsgang der Allgemeinheit nun nicht untergehen zu lassen. Der Führer muß dem Jungen den wahren Grund seiner allgemeinen Arbeitsunlust begreiflich machen. Nicht mit Worten! Er muß ihn spüren lassen, daß seine Kraft nach dem Ausdruck eines ganz bestimmten Tuns sich sehnt, dadurch daß er ihm jetzt irgendein ganz bestimmtes Tun nahelegt. Ob es nun die Herstellung eines Papierdrachens oder die Einrichtung eines eigenen Blumenbeetes im Garten ist, die Tat, die nach solcher schöpferischen Pause vorgenommen wird, erhält die Bedeutung eines Probestückes. Die ungehemmte Stoßkraft des aus der eigenen Tiefe kommenden Gestaltungstriebes prallt auf die ringsum bereitliegende[48] Masse und formt sie zum erstenmal zu einem ganz bestimmten Gegenstand, nach einem ganz bestimmten inneren Bilde.

In jedem Knabenleben gibt es an irgendeiner Stelle dieses erste Gestaltungserlebnis und später immer wieder neue Wiederholungen dieses Erlebnisses. Und an dieser Stelle muß der Führer die anderen alle hinter sich lassen und ganz für den einen da sein. Er muß ihm tragen helfen an dem erschütternden Ernst solcher ersten Tat. Wenn der Führer früher die vielen richtungslosen Versuche des kindlichen Ausdrucks hat gewähren lassen, wird er an dieser Stelle plötzlich nicht mehr locker lassen, sondern er wird womöglich noch ernster werden als der Knabe, daß er ihn nur nicht zu leicht an dieser Stelle vorüberläßt. Die jetzt entstehende Tat muß auch wirklich mit dem Grundbilde zusammenstimmen, sie darf nicht ungefähr, sie muß ganz gelingen. Wenn die Kraft des Jungen erschlafft und er in das Tändeln des gewohnten alltäglichen Tuns verfallen will, und er etwas anderes anfangen will, da er ja gelernt hat, daß es ganz gleich ist ob so oder so … wird hier nun die treibende Hilfe des Führers ihn zwingen, zum erstenmal bei dem ja selbstgewählten Einen zu bleiben, und dieses Eine zu Ende zu bringen. Der Führer wird ihm das eigene innere Vorstellungsbild wach halten und ihn so zu dem ersten Gestaltungssiege führen.

Die eigene Tat, das eigene Werk wird nun zum erstenmal dastehen vor dem Kinde. Doch darf der Führer seinen Anvertrauten auch hier nicht etwa allein lassen. Das gestaltete Ding gehört nicht mehr dem schöpferisch gewesenen Selbst. Die Tat darf nicht festgehalten und götzendienerisch betrachtet werden. Die Spannung, die auf die Vollendung dieses einen Dings gerichtete Kraft, muß sich lösen im Augenblick, wo die Arbeit fertig ist, wie ein Zweig wieder hochschnellt, wenn die Frucht sich gelöst hat. Das Kind muß begreifen lernen, was Entspannung nach der Tat ist. Gerade hier verfahren die Erzieher in den Schulen anders. Durch das voll ausgebaute Lob-Tadel-System wird der Ehrgeiz, d. h. die Spannung der Schüler dauernd wach gehalten. Nur nicht erschlaffen, nicht nachlassen in den Leistungen! Immer von Erfolg zu Erfolg! Das ist der geltende Grundsatz. Das kleine Kind muß sich schon in dies Zwangssystem immer von neuem gesteigerter Anspannung einfügen. Ja, es begehrt bald selbst nach immer neuer Anspannung, weil es sich von selbst gar nicht mehr abspannen kann. So entstehen dann die Musterkinder mit ihrem vielversprechenden Eifer, mit ihrem lärmenden[49] Interesse an hundert Dingen, die ganz belanglos sind. Nur wenige Kinder sind von Natur aus stark genug, sich dagegen abzusperren. Aber gerade diese verhärten sich dann gewöhnlich in ihrer ständigen Abwehrstellung und werden faul und dickfellig. Sie spannen sich überhaupt nicht mehr an. In steter Verzweiflung von Mißerfolg zu Mißerfolg geben sie es zuletzt überhaupt auf, sich zu rühren.

Hier bleibt noch alles zu tun. Der Führer zum Leben muß darüber wachen, daß die Spannung nach der Tat sogleich gelöst wird, daß das Kind wieder in seine Ruhelage eingeht und die nächste Tat von neuem aus dem tiefen Grunde der Ruhe aufsteigen lassen kann, nicht aber von dem Dach seiner schon vorher getanen Taten. Dies stets Von-neuem-Tun, das Vom-Grund-Aufbauen jeder Tat muß vor allen Dingen gelernt und geübt werden, denn nicht auf das Tun kommt es an, sondern auf den rechten Wechsel von Tun und Lassen. So wie es ja auch nicht auf das Einatmen allein ankommt, sondern auf den rhythmischen Wechsel von Ein- und Ausatmen.


Ausbildung in den Ausdrucksmitteln der Künste

Die reinste und vollkommen gelöste Tat menschlichen Könnens offenbart sich in dem Kunstwerk, welches perlenhaft klar und geschlossen aus dem Grunde des Selbst aufsteigt, sich dann aber von dem Selbst für immer loslöst und eigenen Bestand und eigenes Leben hat. Eine jede Tat muß so getan und nach dem Tun so entlassen werden, wie die Kunst-Tat. Es ist der untergründige Zweck aller Beschäftigung mit den Künsten und ihren Ausdrucksformen, dieses rechte Tun und rechte Lassen einer Tat überhaupt zu lernen und immerfort vor Augen zu haben.

Bei der künstlerischen Tat handelt es sich ja um das Sammeln aller Kraft auf ein einziges Gestaltungsziel nach jener zweiten Spielregel: wenn einmal überhaupt, dann so und nur so.

Die Gefahr, daß durch einen allgemeinen Kunstunterricht die Menge der Schein-Künstler vermehrt würde, besteht nicht. Im Gegenteil: wer von früh auf mit der Schwerheit künstlerischen Ausdrucks vertraut ist, wird sich wahrlich scheuen, zu der kleinen Schar schöpferischer Menschen als Gleichberechtigter, aber auch Gleichverpflichteter zu treten. Durch den bisherigen Schulzustand, der die Unterweisung in künstlerischer Ausdrucksform fast gänzlich beiseite schob, wurde erreicht, daß gerade die lebendigsten Geister mit einer wilden Sehnsucht sich auf das vorenthaltene[50] Gut stürzten. Weil sie überhaupt den Drang zur Gestaltung der Dinge in sich spürten, gerieten sie in den romantischen Wahn, daß sie einzig und allein als Künstler zum Ausdruck ihres Selbst kommen könnten. Das Künstlertum wurde das abgesperrte Zauberland, zu dem sich immer wieder die Besten, die Unbefriedigten aufmachten in dem Wahn, sie könnten dort ihre Jugendkraft endlich in eigene Tat umprägen. Schriftsteller, Schauspieler, Künstler wollten sie werden, nur weil sie überhaupt nach einer Ausdrucksmöglichkeit verlangten, die ihnen durch den Schulbetrieb bisher versperrt wurde.

Wenn aber dieser sinnlose Bann einmal gebrochen ist und jeder von frühester Jugend an sich der künstlerischen Ausdrucksmittel bedienen darf, dann werden ganz gewiß nur noch sehr wenige, und diese allerdings in vollem Bewußtsein dessen, was sie damit tun, zur Ausübung einer Kunst als lebenfüllende Aufgabe sich berufen fühlen. Alle die anderen aber werden durch die Übung in den künstlerischen Ausdrucksformen lernen, sich selbst auszudrücken, ohne mehr dem Wahn zu verfallen, daß sie damit etwa schon zu Künstlern geworden seien. Sie werden lernen, jede Tat zu tun, als ob sie Künstler wären.

Es ist also die Aufgabe, das Kind aus seiner Gesamtausdrucksform »Spiel« zu diesem und jenem ganz bestimmten Kunstausdruck hinzuführen. Eine Fülle künstlerischer Teilstücke liegt in jeder Äußerung des spielenden Kindes. Ja, oftmals ist das Spiel des kleinen Kindes unter der Führung der Mutter schon zu einer Art Gesamtkunstwerk ausgebildet, enthält Körperausdruck, singendes und schauendes Gestalten, Handwerk- und Sprachausdruck unlösbar in sich. Die eigentlich gestaltende Kraft braucht der Führer somit wahrlich nicht anzutreiben. In Überfülle wird sie da sein. Ziel ist hier vielmehr, der Unendlichkeit spielender Kräfte immer von neuem ganz bestimmte Grenzen zu setzen. Also die eine wesentliche Eigenschaft des Kunstwerks, daß es aus dem Grunde aufquillt, ist nicht lehrbar, und das Kind hat sie ja ganz von selbst in sich. Aber die andere wesentliche Eigenschaft des Kunstwerks, daß es ein endliches Gebilde ist, daß es nach allen Seiten begrenzt ist und aufhört, das weiß das Kind nicht von selbst. Es muß lernen, aus der Fülle des Möglichen das ganz bestimmte Teilstück, das ja gewissermaßen drin steckt, auszuschneiden und in seiner Begrenzung zu gestalten.


[51]

Der Tanz

Der Tanz als die rein körperliche Form des Kunstausdrucks wird sich vielleicht am ehesten und leichtesten aus der Fülle des kindlichen Spiels heraussondern lassen. Jede Bewegung des spielenden Kindes ist ja wahrster Körperausdruck und somit Rohstoff zum Tanz, der nur nicht allseitig begrenzt in Erscheinung treten kann. Alle körperliche Übung wird im Hinblick auf das befreiende und begrenzende Endziel: »Tanz« vorgenommen werden. Aber auch die alltägliche körperliche Arbeit des Kindes wird sich stets leise und unmerklich nach diesem Endziel ganz hinlenken lassen, wenn nur jede Handreichung und alles Laufen und Rennen, alles Bücken und Beugen und Heben und Tragen von dem leichten und tiefschwingenden Atem des Tanzes durchpulst ist. Später dann an einem kraft- und freudegefüllten Tage wird das Kind seinen Körper aus seinem eigenen tanzhaften Urtrieb heraus zu gestaltetem Ausdruck bringen können.


Die Sprachbildung

Der körperlichen Ausdrucksform Tanz am fernsten steht die rein geistige Ausdrucksform durch das Wort. Wortgeformter Geist ist zwar auch schon im Spiel enthalten, aber nur sehr bruchstückhaft. Die Worte im Spiel sind meist noch nicht fest bestimmte Ausdrucksformen für bestimmte Gedankeninhalte, sondern eher Naturlaute von sehr viel dehnbarerer Bedeutung. Spät erst wird das Kind danach Verlangen haben, seine Gedanken in den bestehenden Wortformen der Sprache »richtig« auszudrücken. Darum klingt ein richtig gebauter Satz, den etwa ein Kindermädchen ihrem Zögling eingelernt hat, so sinnlos aus dem kindlichen Munde.

Das Kind spielt zunächst mit den Worten, die ihm gerade geläufig geworden sind und versucht den Gedanken, den es ausdrücken will, damit einzukreisen. Und diese Lust am Zusammenbacken der vielen fremden Worte, noch ohne ihre volle Bedeutung zu wissen, das fröhlich quatschende Durcheinanderwerfen der Worte ist lange da, ehe der Geist mit geordneten eindeutigen Worten sich auszudrücken vermag. Viel zu früh wird das Kind durch seine erwachsenen Lehrer – und vorher schon durch die Eltern – dazu gezwungen, für ein bestimmtes Ding ein ganz bestimmtes Wort zu gebrauchen und immer wieder zu gebrauchen, das es von sich[52] aus vielleicht gar nicht wählen und ganz gewiß nicht wieder wählen würde. Ja, es wird auch noch gezwungen, dieses Wort mit den es bezeichnenden Buchstaben schriftlich zu fixieren. Durch das viel zu frühe Lesen- und Schreibenlernen auf der Schule verliert das Kind dann vollends seine eigene spielende Leichtigkeit im Gebrauch der Worte, und lernt viel zu früh mit fremden Worten reden und was noch schlimmer ist, denken.

Die in ganz Europa geübte Vergewaltigung des Geistes hat hier ihren Hauptansatzpunkt. Die Sprache ist das unscheinbarste und doch wirksamste Gewaltmittel, mit der jede Generation, wenn sie zu Ansehen und Macht und damit in den Zustand der Erstarrung gekommen ist, die aufwachsenden Kinder sacht und sicher in ihre eigene Bahn hinüberlenken kann.

Hier also muß der bildende Führer besonders wachsam sein, daß er seine Anvertrauten vor der Gewalt der fremden Worte schützt. Wo er merkt, daß ein Kind ein Wortgefüge braucht, das aus dem Sprachgut der Erwachsenen stammt, muß er der Sache auf den Grund gehen. Er muß sich von dem Kind erzählen lassen, was es damit meint. Hinter jedem fremden Wort, das Eingang in die Gemeinde gewinnt, muß er hinterher sein. Keineswegs braucht er es zu vertreiben, aber er muß es einkreisen lassen von dem bunten Spiel ihrer eigenen kindlichen Worte, bis seine Fremdheit ganz darin untergegangen ist. Das ist das Wesentliche, daß niemals fremde Wortgefüge allzulange bestehen bleiben. Sie müssen immer wieder gleich aufgelöst und in den Zusammenhang mit dem schon vorhandenen Sprachgut hineingezogen werden.

Weil der Machtdämon im Bezirk der Worte so leicht Eingang hat, muß der Führer hier auch die jüngeren vor den älteren Gefährten der Gemeinde in Schutz nehmen, daß sie sich deren Sprachgut nicht ohne zu wissen und ohne zu wollen aneignen. Er muß die Jüngsten immer wieder reizen, sich nicht unterkriegen zu lassen, immer zu sagen, was sie selbst meinen. Und schließlich vor allem muß er sich hier selbst in Zucht nehmen. Denn seine Worte werden natürlich immer wieder Macht gewinnen wollen über die jüngeren Freunde. Sie werden mit seinen Worten denken, und er wird es vielleicht gar nicht merken. Die Versuchung ist groß, daß er seine eigenen Worte aus dem vertrauten Munde des Jüngeren schmeichelnd begrüßt. Er freut sich über ihre vermeintlichen geistigen Fortschritte, und es sind doch eigentlich nichts als nachgesprochene Worte. Wo er seine eigenen Worte wiederfindet, muß er sofort bedenklich[53] werden, und es muß wie ein Erschrecken über ihn kommen. Zu anderen Worten muß ihn das treiben. Wenn seine Worte nachgesprochen wurden, beweist dies ja nur, daß sie nicht von innen her, sondern aus Verstand und Absicht kamen und also auch nur auf den Verstand der Hörenden wirkten. Er muß seine Worte tiefer hervorholen. Spricht er von Herzen, so geht es zu Herzen, und die ihn hören, kommen dann gar nicht mehr darauf, nachzusprechen, sondern selbst zu sprechen. Und zunächst einmal zu schweigen. Aus der Tiefe kommende Worte werden in dem Hörenden zunächst nicht notwendig Gegenworte erzeugen. Schweigen ist vollwertige Antwort bei wachsenden Menschen. Schweigen sagt: Ich habe gehört. Schweigen ist die schöpferische Pause zwischen Hören und Sagen, die Ruhelage, aus der allein die eigenen Worte des Menschen aufquellen können.

Wieder an diesem wichtigsten Punkt versagt die heutige Erziehung. Schweigen bedeutet heute im allgemeinen: er weiß nichts zu sagen, er ist unfähig, er ist dumm. Man muß ihn antreiben, daß er sich äußert; denn der Mensch muß sich äußern können, wenn er in seinem Leben fortkommen und mit anderen Menschen zusammenleben will. Mit einer lückenlos ausgearbeiteten Methode zwingt man also das Kind, sich zu äußern. Man legt nahe, man fragt so dicht an den Dingen entlang, daß die Antwort unausweichlich kommen muß. Wenn sie dann immer noch nicht gleich kommt, zeigt man sich erstaunt, erklärt sofort alles noch einmal, daß nur ja nichts dunkel bleibt. Und dann geht man zum nächsten Thema über. Erklärt wieder, legt nahe, fragt und ist befriedigt über die erfolgende Antwort.

So kommt es zu jenem ununterbrochenen Hinwegreden über die Dinge mit angelernten fremden Worten. Die Schnelligkeit des Ausdrucks wird gesteigert, die Eigen-Tiefe gemindert oder vielmehr gar nicht erreicht. Hier muß also der Führende versuchen, aus dem schweigenden Begreifen heraus langsam und mit Verzicht auf sehr sichtbare Erfolge die eigene Sprache seiner Anvertrauten hervorzulocken. Nicht nur in den »deutschen Stunden«, wie es auf den Schulen geschieht, sondern immerfort wird in diesem Sinn der eigene Ausdruck in deutscher Sprache geübt werden müssen.

Schreiben- und Lesenlernen hat Zeit. Was ist Schreiben und Lesen? Schreiben ist die Kunst, selbstgedachte und bis zum Aussprechen reif gewordene Worte durch Schriftzeichen aufbewahren zu können. Wo der[54] Mensch also noch nicht aus sich selbst heraus sprechen gelernt hat, ist es sinnlos, ihn das Schreiben zu lehren. Lesen ist die Kunst, die von anderen gedachten und bis zum Aussprechen reif gewordenen und dann niedergeschriebenen Worte wieder zu entziffern. Wo der Mensch aber noch nicht zu hören und zu schweigen gelernt hat, ist es sinnlos, ihn das Lesen zu lernen.

Immer wieder neue Übung im Schweigen und Hören und Sprechen wird also noch lange hinaus die Zeit ausfüllen, die heute in den Schulen schon zu Schreiben und Lesen verwandt wird. Papier und Tinte und Bücher werden lange unbekannt bleiben dürfen. Erst wenn das Kind von der Fülle des Selbstgedachten und Selbstgesprochenen sich so bedrängt fühlt, daß es nach Fächern und Stützen sucht, um diese stets neu andrängende Fülle der eigenen Gedanken zu bewältigen, ist es Zeit ihm begreiflich zu machen: es gibt eine Kunst, die für morgen und alle kommenden Tage dir deine Worte in sichtbare Zeichen umgesetzt aufbewahren hilft. Und jetzt wird es leicht sein, dem so von seiner eigenen Fülle gedrängten jungen Menschen zu seiner Erlösung von dieser Fülle zu helfen. Er wird es wie von selbst lernen, daß alle diese Worte sich in Laute und Buchstaben auflösen lassen, und daß man mit Hilfe der sichtbar gemachten Buchstabenzeichen Laute und schließlich Worte zu Papier bringen kann. So wird er das Schreiben gewissermaßen aus eigener Notwendigkeit heraus selbst erfinden. Er wird mit all der ungeheuren Erregung und Entdeckerfreude des schöpferischen Menschen daran arbeiten, das breite Gebiet der Sichtbarmachung seiner eigenen Worte sich schnell zu erobern und so vielleicht in wenigen Tagen schreiben lernen. Die Tage, in denen das geschieht, werden natürlich Tage höchster Kraftentfaltung sein, an denen der Führer alle seine eigene Kraft in den Dienst dieses einen Lernenden stellen muß, nicht in kühler Absichtlichkeit, sondern mit hingerissen von der Wucht dieses welterweiternden Geschehens, daß hier ein Mensch seine bis dahin flüchtig durch die Zeit hingesprochenen Worte nun festzuhalten, sichtbar zu machen, aufzubewahren lernt. Die Fülle der Fragen, die der Knabe in diesen Tagen über ihn ausschüttet, wird ihn allerdings nicht wegschwemmen dürfen. Er wird mancherlei zurückbehalten müssen, daß er ihn nicht überspannt. Wie stets bei außerordentlichen Gelegenheiten wird er für den von der schaffenden Freude Ergriffenen unmerklich und besonders pflegsam sorgen müssen, daß er die Pausen des Tages nicht überrennt, daß er tiefen Schlaf hat und rechtes[55] Essen und Luft und Sonne. So wird das Tun gedeihen. Der Knabe wird schreiben können.

Selbstverständlich wird zu gleicher Zeit das Verlangen da sein, auch das von anderen Menschen Geschriebene zu lesen. Und der aufgespeicherte Wort- und Denkschatz der Bücher wird sich dem Knaben öffnen. Gute und schlechte Bücher werden dem Lesenden zufallen. Es ist gar keine Gefahr dabei; denn er wird von vornherein wertend an die Bücher herangehen. Da er gelernt hat, selbst aus dem Herzen heraus zu sprechen, wird er nicht durch Bücher getäuscht werden können, die in irgendwelcher Absicht Untiefes, Undurchdachtes oder Verstandüberlichtetes sagen. Er wird sie dann einfach als unwahr beiseite tun.

Wenn nun der junge Mensch alle diese Teilgebiete sprachlichen Könnens, Hören und Sprechen, Lesen und Schreiben aus seinem schweigenden Verstehen heraus gelernt hat, wird er nun zur Beherrschung der sprachlichen Gesamtkunst weiterdringen können. Dazu müssen diese Teilgebiete sprachlichen Könnens dauernd miteinander in Verbindung gehalten werden. Alles Geschriebene wird auch ausgesprochen werden, wenn es nicht mit vollem Bewußtsein verschwiegen wird. Und so werden die jungen Menschen nur das schreiben, was sie wirklich aussprechen oder wirklich verschweigen und geheimhalten wollen, was sie den andern sagen wollen, oder vor den andern verschließen wollen. Und außerdem werden sie alles, was sie lesen, vergleichen lernen mit dem, was sie gehört und auch mit dem, was sie selber gesprochen oder bewußt verschwiegen haben, und schließlich auch vielleicht mit dem, was sie selber schon geschrieben haben. So wird sich aus den Elementen immer mehr das Ganze sprachlichen Ausdrucks herausheben. Ziel ist hier, daß der Geist durch das Mittel des eigenen Worts sich völlig ausdrücken lernt und zugleich auch lernt, den Geist in fremdem Wortgewand möglichst restlos wieder zu erkennen.

Wie das Kind einst Worte wirklich zu hören gelernt hat, so wird nun der junge Mensch in der Zeit seiner Reife Dichtwerke in diesem Sinn aufnehmen und wirklich sich aneignen lernen. Er wird vor die großen Werke der Dichtkunst treten, als vor die letztmöglichen Erfüllungen dessen, was sich ja auch stets aus seinem eigenen Geist heraus durch das Mittel des Wortes hat ausdrücken wollen. Also ein Dichtwerk wird für ihn nicht mehr als Fremdes außerhalb von ihm selbst stehen, sondern wird als Vertrautes in ihm sein. Sein eigener Geist wird sich aus dem Dichtwerk[56] heraus auszudrücken vermögen, ja sich in diesem fremden Ausdruck erlösen lassen können.

Die Worte besitzen stellvertretenden Erlösungswert, wenn sie wirklich ganz in der Tiefe angeeignet werden. Wie der Dichter in seinem Werk, so vermag nun auch der Nachschaffende auf dem steigenden Bogen der Worte sich aufzuschwingen aus seinem eigenen Stummsein, aus der Wirrnis seiner Gedanken. Er wird nicht mehr Götzendienerei mit den fremden Worten treiben, er wird sie brauchen wie seinen eigenen Ausdruck. Und doch wird er ehrfürchtig an den unverwechselbaren Ausdruck eines jeden wahren Dichters herangehen und gerade diese Einzigkeit zu ergründen versuchen. Jeder eigene Gefühlsablauf und Gedankengang wird, wenn er überhaupt zum Wortausdruck kommt, ein vollkommener Ausdruck des Sprechenden selbst sein und so jedes Mal dem Bruchstück einer echten Dichtung ähnlich sehen.

Menschen, die so zu Beherrschern des Wortes aufwachsen, müssen der Möglichkeit nach auch alle zu Künstlern des Wortes werden. Ob einer von ihnen in Wirklichkeit Dichter wird, hängt dann allein noch von der Fülle seiner überschüssigen Kraft ab.

Eine solche Sprachbildung ist die Grundlage für die meisten heutigen Berufe. Alle Berufe, die sich mit Schreibarbeit, Schnellschrift und Kunstschrift befassen, alle Berufe, die mit fremden Sprachen, Sprachforschung, aber auch mit Bibliothekswesen und Buchhandel zu tun haben, alle juristischen und politischen Berufe, schließlich der Beruf des Predigers und zum großen Teil auch der Beruf des Erziehers – alle diese Berufe bedienen sich als Ausdrucksmittel der geschriebenen und gesprochenen Worte und wurzeln also ganz und gar in der Spachbildung. Neues Leben in all diesen Berufen kann nur entstehen, wenn die Grundlagen geändert werden, wenn in frühester Jugend schon an Stelle der oberflächlichen Erlernung einer allgemein gebräuchlichen Umgangssprache die Übung im eigenen Sprachausdruck tritt, wenn jeder lernt, Worte und Sprachgebilde in ihrer Tiefe zu verstehen und aus ihrer Tiefe heraus selbst zu gestalten.

In alledem war nur von der Führung des einzelnen Knaben, konnte nur davon die Rede sein. Denn Unterweisung in dem sprachlichen Können – wie in jedem Können – ist nur durch Einzelunterricht möglich, weil hier ja gerade das Einzelsein eines Menschen zu der ihm allein bestimmten Blüte und Frucht gebracht werden soll.

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Wenn aber die Einzelnen sprachlich so weit gebildet sind, daß alle ein Dichtwerk schöpferisch begreifen können, wird es vielleicht möglich werden, in Gemeinschaft zu lesen. Was dann geschehen kann, ist gemeinsame Befreiung durch das Wort. Doch das ist nur das Letztmögliche, selten Erreichbare. Jedes gemeinsame Kunsterleben ist gefahrvoll. Jeder Einzelne, der dabei ist, trägt das Ganze so entscheidend, daß seine abschweifende Sonderrichtung, vielleicht nur in einer unwahren Gebärde unbewußt zum Ausdruck gebracht, die gemeinsame Lösung schon vernichten kann. Und solch gemeinsames Lesen, das aus irgendeinem meist nicht recht erkennbaren Grunde nichts geworden ist, bleibt nun nicht etwa so folgenlos, wie es scheinen könnte. Es ist nicht etwa nur eine mißglückte Veranstaltung, die man unter glücklicheren Verhältnissen beliebig wiederholen könnte. Hier ist vielmehr etwas Unwiederbringliches geschehen. Bei der nächsten gemeinsamen Handlung macht sich der Riß meist gleich wieder bemerkbar als leises Mißtrauen, als ein nicht so hingegebenes Bereitsein der Versammelten. Der Geist der Gemeinschaft ist durch den Eigenwillen des Einzelnen verletzt. Nur durch verdoppelte Inbrunst kann der Riß wieder geheilt werden. Aus der gemeinsamen schöpferischen Ruhelage allein kann die gemeinsame Erlösung durch das Wort kommen.


Der Ausdruck mit den Mitteln der bildenden Künste

Zwischen dem unmittelbaren Körperausdruck in Tanz und dem durch die Sprache vermittelten Geistesausdruck im Wort liegt das Zwischenreich der verschiedenen vor allem durch Auge und Ohr vermittelten sinnlichen Ausdrucksmöglichkeiten. Auch diese müssen aus der Gesamtform »Spiel« allmählich hervorgelockt werden.

Das Kind schaut schon sehr früh. Die Fülle der Dinge fliegt durch das Auge in einer ununterbrochenen Reihe von Eindrücken in seine Seele, und so baut sich in ihm die gestalten- und farben- und bildvolle Raumwelt. Diese seiner Seele mehr und mehr eingedrückte Raumwelt gibt allein allen Spielen des Kindes Weite und Zusammenhang. Daß es an dem Faden seiner Vorstellung das Spiel von seinem Anfang bis zu seinem Ende überhaupt durchführt, das ist schon eine Wirkung dieser verbindungschaffenden Raumwelt. Der schauende Sinn gibt dem Kind den Plan seines Spiels. Wenn nun die Zeit gekommen ist, muß der Führer dieses dunkle Ahnen von Raum und Gestalt aus der Wirrnis des Spieles herauslösen, dem Kind begreiflich machen, daß dieser Raum[58] in seiner Weite wie in seiner Gestaltenfülle ihm ja durch sein Auge zu eigen gegeben ist und daß er ihn auch bei geschlossenen Augen in sich hat, daß er ihn beliebig aus sich ausdrücken kann.

Jedes Spielzeug, das das Kind sich verfertigen lernt und späterhin jedes Gerät, zu dessen Herrichtung es angeleitet wird, gibt Gelegenheit, aus dem eigenen inneren Raumschatz zu gestalten. Und wenn die Kinder sich eine Hütte bauen oder im Winter einen Schneewall, so werden sie diese Bauten aus sich heraussetzen als Ausdruck ihres inneren Schauens. Und wenn sie dann in Sand und auf den Brettertischen und auf Papierstücken etwas kritzeln, so wird das alles ausdrücken, was sie seit langem in sich haben. Ganz von selbst entwickelt sich so aus den Raum- und Gestaltelementen des Spiels allmählich eine Unterweisung in Handwerk aller Art, ein Unterricht in Formen und Zeichnen. Dies wird nicht ein Nachahmen, ein Abzeichnen und Abformen von äußeren Dingen sein, sondern ein Formerfinden aus innerem Drang.

Das Kind, das so aus der Lust des Spiels heraus gestalten gelernt hat, was in ihm steckt, wird dann vielleicht früher oder später, meist aber erst zur Zeit der geschlechtlichen Reife merken, daß sein Raumschatz für irgendeinen bestimmten Ausdruck seines Willens plötzlich nicht mehr genug hergibt. Das Licht des inneren Raumes mit aller Gestalt darin wird erloschen sein. Dunkelheit wird sein, Nicht-Raum, Nicht-Gestalt. Hier wird der Führer wieder sehr notwendig sich der Pflege des einen Anvertrauten zuwenden müssen. Und an dieser Stelle ist dann wieder der schöpferische Tiefpunkt erreicht. Wie aus dem Schweigen das eigene Wort, so entwickelt sich aus dem inneren Dunkel das eigene Schauen. Doch muß an dieser entscheidenden Stelle gewartet werden, lange vielleicht in aller Übung und allem Lernen innegehalten werden.

Wer etwa die Briefe des jungen Feuerbach kennt, wird verstehen, was hier gemeint ist. An der entscheidenden Stelle seiner Jugend war ihm versagt, Gestaltenfülle einzuatmen. Und so wurde sein ganzes Schaffen verhauchende Verzweiflung, ein gigantischer Kampf mit den leeren Räumen, die er niemals mehr ganz zu füllen vermochte, weil sie ihm zur Zeit seiner Reife leer geblieben waren. Die Geschichte vieler dem frühem Tode oder dem Wahnsinn verfallener Künstler von Raffael bis van Gogh ist die Leidensgeschichte vergewaltigter Knaben von hoher sinnlicher Begabung. Sie alle wurden durch die Schulen, durch ihre Meister, durch die Zeitumstände gezwungen, aus ihrem Dunkel viel zu früh[59] aufzutauchen. Bei weniger stark sinnlich begabten Menschen kann die Wirkung natürlich nicht so merkbar werden. Es tritt im Gegenteil ein völliges Versiegen aller künstlerischer Begabung ein. Als Kinder können sich ja die meisten Menschen zeichnerisch ausdrücken. Wenn sie dann aber in das Entwicklungsalter eintreten und der Zeichenunterricht geht immer in der gewohnten Weise fort, so verlieren sie einfach jede Lust und gehören nachher eben zu den Menschen, die »nicht zeichnen können«.

Hier vermag der Führende viel zu tun, oder vielmehr zu unterlassen. Alle zeichnerische Betätigung läßt er für eine Zeit ganz und gar vergessen, das Dunkel des raumlosen Zustandes läßt er in dem jungen Menschen anwachsen, bis seine Augen selbst beweglich werden und nach Befreiung aus dieser Innen-Dunkelheit suchen. Und nun läßt ihn der Führende einbrechen in die weiten Räume der Landschaft draußen, läßt ihn die Gestaltenfülle der Menschen und Dinge einfangen in den dunklen Raum seines Schauens. Bewußte Augenübung und Einprägung von bestimmten Formen durch Zeichnen und Abzeichnen wird jetzt von Vielen wie von selbst begehrt werden. Die Lust, nachahmend hervorzubringen, wird nun immer größer werden, ja vielleicht bei einigen sich zu fröhlichem Könnertum verselbständigen. Da wird dann der Führer eingreifen und irgendwie begreiflich machen müssen, daß ja das eigentlich gar nicht die ursprüngliche Absicht war. Denn Künstler werden ist schwer und jenseits der Nachahmung. Und bei solchen Gelegenheiten wird es dann vielleicht an der Zeit sein, mit dem so in das Können abgeirrten jungen Menschen gemeinsam vor das Werk eines großen Künstlers zu treten. In der Stille der Betrachtung wird es dann klar werden, was eigentlich künstlerische Notwendigkeit ist und wahrer Ausdruck eines inneren Schauens. Das überschüssige Können wird sich wieder eingliedern in den Gesamtplan des durch die innere Schau bedingten Bildungswillens. Und bei den Höchstbegabten wird aus alledem die Ausübung eines gestaltenden Handwerkes oder einer bildenden Kunst erwachsen können.

Das Zwischenreich sinnlicher Ausdruckformen dehnt sich auf der andern Seite in die Weite von Klang und Schall und Ton. Auch dieses Reich der Töne ist dem spielenden Kind von Anfang an vertraut. In seinem Lachen und Jauchzen und tausendfachen Geschrei bricht es immer wieder von neuem aus dem engen Körpergewölbe hinaus in den schwingenden Luftraum. In viel höherem Maße noch als die innere Welt der Gestalten drängt die Klangwelt nach Ausdruck. Hier darf kein Zwang von[60] außen hemmen. Wer einmal gefühlt hat, wie das unendliche Stimmengezwitscher einer Schulklasse plötzlich verstummt, wenn die Schritte des Lehrers zu hören sind, wer einmal erlebt hat, was geschieht, wenn ein singender Vogel durch ein über sein Bauer geworfenes Tuch geschweigt wird, wer dabei gewesen ist, wenn der Gesang einer marschierenden Truppe durch ein schrilles Kommandowort plötzlich entzweigeschnitten wird, oder wenn ein kleines Kind, das schreit, durch Drohung oder Schläge dazu gebracht wird, was heraus will, qualvoll in sich hineinzuschluchzen, wer diesen täglich in tausend Formen begangenen Mord am Ton einmal begriffen hat, wird sicherlich niemals mehr mithelfen zu hemmen, wo etwas singt oder schreit oder klagt oder jubelt oder lacht.

Aus dieser von innen her ausbrechenden Klangfülle wird der Führende vielleicht an einem Tage den eigenen Ton seines Anvertrauten heraushören. Und von da an wird er ihn locken, daß jener aus dem Chaos des wahllosen Klangausdrucks vielleicht zu dem einen kommt, der ihm gemäß ist. Erst wenn der Führer den Vertrauten zu dieser Möglichkeit der Geburt des eigenen Gesanges geführt hat, ist es an der Zeit, auch die Fülle der von andern Menschen gesungenen Lieder sich anzueignen, und im Chor der anderen auch nach ihrem eigenen Ton hungrig gewordenen Genossen ihn mit einstimmen zu lassen. Mehrstimmiger Gesang ist ja das einzige, niemals versagende Mittel, durch gemeinsames Können zur Gemeinschaft zu gelangen. Wenn dieses Mittel zu früh angewandt wird, ehe das Kind seinen eigenen Ton gefunden hat, wird das kostbarste Bindungsmittel menschlicher Gemeinschaft nutzlos vertan und zugleich die eigene Klangentwicklung gehemmt.

Zur Zeit der Reife wird die Klangwelt genau so wie die Raumwelt in dem werdenden Menschen verdunkelt. Ein inneres Verstummen tritt ein, der Stimmwechsel. Die schöpferische Bedeutung dieser Pause für die Entwicklung der Stimme ist ja allgemein bekannt. Kinder, die zu dieser Zeit gezwungen werden, zu singen oder sich gegen den aufreizenden Zustand ihrer Umgebung mit viel Geschrei und lauten Worten wehren müssen, schädigen ihre Stimme auf eine nie wieder gutzumachende Weise. Hier kommt alles darauf an, die Stimme des Vertrauten zu beruhigen, ihre aufgeregte Schrillheit zu dämpfen, daß kein Schaden geschieht. Selbst schweigend muß der Führer die Stimmen der Nacht hören können und die jauchzende Stimme des Morgens, Sturm und Gewitter und Meeresbrausen, das Beben der Blätter, das Ächzen der Stämme, das prickelnde[61] Geräusch des Sumpfes. Und auf alle diese Laute der Natur muß er seine Schutzbefohlenen horchen lehren, bis sie vor der Gewalt dieser Laute verstummen.

Und schließlich wird es dann an der Zeit sein, mit dem Anvertrauten gemeinsam zum erstenmal ein großes Musikwerk zu hören. Da wird die Gewalt des großen Klanggebäudes in ihn hineinstürzen und von innen her alles Eigenwillige auseinandersprengen. Und auf dieses Erlebnis seliger Zerstörung wird dann nun sich das neue Suchen nach dem eigenen Ton aufbauen und nun stärker werden und in den Grundmauern weiter. So wird sich der Klang und Gesang der eigenen Stimme wechselseitig steigern an dem Hören musikalischer Werke. Stärker wird auch das Verlangen werden, den Bau solcher Tonwerke ganz klar und voll in sich selbst aufnehmen zu können, ja sie selbst aus den Instrumenten erzeugen zu lernen. Und bei den Höchstbegabten wird dann wieder aus alledem die Ausübung einer Kunst erwachsen.

Diese vier Hauptausdrucksmöglichkeiten: der Körperausdruck, der Wortausdruck, die Raum- und Klanggestaltung geben gewissermaßen die vier Richtungen an, in denen alles menschliche Können und Leisten sich ergießt. Am letzten Ende steht jedesmal die Kunst selbst, zu deren Ausübung aber nur die Höchstbegabten gelangen können. In und zwischen diesen Richtungen sind die vielen menschlichen Berufe einzuordnen. Jede Begabung läßt sich nach einer dieser Richtungen entwickeln, und führt dann notwendig zu einem dieser Berufe.

Der Führer kann bei alledem das Können nur in die Richtung lenken, Übung dafür bereithalten und zur eigenen Wahlentscheidung hinführen. Aber in Wahrheit ist und bleibt dieses Können, der Beruf eines Menschen, der unverwechselbare Ausdruck dieses Lebens selbst. Dazu ist nichts hinzuzutun und davon ist nichts wegzunehmen. Das Können wächst so hoch und so schnell und so freudig, wie das Leben selbst, ja es ist das wachsende Leben selbst.


Über den Tod

Das Leben ist ein Wurf aus dem Dunkel des Todes wieder in das Dunkel des Todes zurück. Bei der Empfängnis im Mutterleib springt die Lebenslinie sogleich senkrecht aus dem Spiegel des Nichtseienden herauf, durchrast in der Zeit der neun Monate spiralig in sich gekrümmt mit einer für unser Bewußtsein unvorstellbaren Wucht alle[62] Stufen des pflanzlich tierischen Lebens und springt dann in fast senkrechtem Anprall im Augenblick der Geburt als eigenbewegliches Leben ans Tageslicht, um nun im steilen Bogen aufwärts zu steigen bis zur Höhe des Lebens. Dort hält sich die Linie eine Weile in scheinbar gleicher Höhe, um sich dann allmählich zu senken und je nach der Spannweite des Lebens früh oder spät mit schmerzvollem Anprall in den Spiegel des Nichtseins wieder unterzutauchen.

Alle Rhythmengefüge, von denen bisher die Rede war, Atem und Tagesrhythmus, Jahresrhythmus und der Rhythmus der Lebensalter spannen sich in diesen alles überspannenden Bogen von Geburt zu Tod. Und dadurch kommt ein völlig anderer Klang auch in die Teilrhythmen des Lebens. Nämlich der Klang des »Einmal«. Bisher wurde das Leben als ewiges Leben, als ein immerwährend Auf und Ab von Rhythmen angesehen, so wie es der Mensch in seinen jugendlichen Stunden in seinen vollklingenden Stunden eben tatsächlich betrachtet und betrachten muß. Es ist aber auch ein Gegenklang von der Todesseite her. Viele Namen bezeichnen ihn: Zwang, Notwendigkeit, Schicksal, Fatum, Ananke. Aus dem wachsenden Wissen um diesen Gegenklang entspringt plötzlich einmal die Gewißheit: nicht immer geht es so weiter von einem Atemzug zum anderen, von einem Tag zum anderen, von einem Jahr zum anderen, von einem Lebensalter zum anderen, von einem Werk zum anderen. Wie man bei der Erdbetrachtung zunächst einmal ruhig die Krümmung der Erdoberfläche außer acht läßt und alle Länder und Meere auf einer Fläche nebeneinander ausbreitet, Erdteil um Erdteil, als ginge es immer so weiter. Nun aber gilt es, die Krümmung in Rechnung zu setzen. Der Tod strafft die in sich selbst rhythmisch schwingende Lebenslinie bogenförmig zusammen und zwingt so das Leben zu seinem Schluß. Und dieser Bogen von der Empfängnis im Mutterleib bis zum Tod, diese alle anderen umfangende Kurve ist nicht mehr dehnbar oder wiederholbar. Sie ist festgelegt oder wenigstens erscheint uns festgelegt. Während der Wille des Menschen das innere Rhythmengefüge dauernd in seiner Anordnung verändert oder zu verändern scheint, ist die äußerste Kurve, der Bogen von der Geburt her durch den Tod notwendig bestimmt.

Verfolgt man von hier aus nun alle die vorher betrachteten Teilrhythmen noch einmal rückwärts bis zu dem ersten Atemzug hinauf, so wird sich alles als tod-gebundene Notwendigkeit erweisen, was zuvor als aufwallendes Leben angeschaut wurde. Die kleinste Atemschwingung ist[63] da, wo sie hinabschwingt in die schöpferische Ruhelage, ein Bild des Todes und faßt darum auch den ganzen Segen des Einmal und Nichtwieder in sich. Ausatmend kann der Mensch in jeder Minute sterben, d. h. zur Ruhe kommen, abschließen, zu Ende bringen. In Stunden der Erschöpfung gelingt es wohl dann und wann einmal, im Ausatmen sich so ganz und gar zu Ende zu bringen. Und auch die anderen größeren Rhythmengefüge, von denen die Rede war, sind jedesmal da, wo die Abwärtsschwingung zur Ruhe kommt, Bilder des Todes, der Tag, der in den Abend schwingt und den Menschen in den täglichen Schlaf fallen läßt, der monatliche Abschwung der sexuellen Kräfte, das Abklingen der Jahreszeiten, die Pausen zwischen den menschlichen Lebensaltern, und schließlich auch das Abfallen der Arbeitsleistung von dem unbemerkt tausendfältigen Herabtropfen der alltäglichen Kleinarbeit bis zu dem seltenen schwerreifen Abfallen wertvoller Lebenswerke. Alles das ist todüberschattet.

Ja mehr noch: der Tod ist der Verursacher. Der Tod setzt der Kraft des Lebens Ziel und Grenzen, und ruft eigentlich darum erst dies alles hervor. Weil Tod ist, darum entsteht alles Begrenzte, alles Geformte, alles Abgeschlossene, alles Einzelne, alles Selbständige, um sich abzugrenzen gegen den Tod. Der Tod läßt das Leben überhaupt erst aufbäumen, daß es zu Rhythmus und demzufolge zu Gestaltung kommt. Sonst würde es ewig und geradlinig weiterfließen, ungetrennt, formlos. Von hier aus gesehen ist das Leben in seinem Lauf eine vielfältig prächtige Flucht vor dem Tode. Jeder aufsteigende Rhythmus ist ein erzwungenes Ausweichen. Jedes abfallende Werk ist ein zögernd hingeworfener Brocken von dem großen Raube des glücklich weitergetragenen Lebens. Je größer die Lust an Leben ist, desto bewußter wehrt sich das Selbst täglich, stündlich, bei jedem Atemzuge in diesem Auf- und Abschwingen, die alle doch nur das eine sagen und wiederholen: ich lebe, lebe und will nicht sterben.

Der Tod geht überall in den Dienst des Lebens, und seine Macht wird scheinbar gering. Je bewußter und kühner die Lebensschwingungen nun werden, desto gewaltiger wächst aber die Gefahr mit. Unter dem Namen Krankheit, Sünde, Schuld wurde schon vorher von der Gefahr gesprochen. Hier wird sie mit ihrem umfassendsten Namen genannt: Todesfurcht. Es kann geschehen, daß der Tod schon lange wohlgezähmt dem Leben diente, aber bei irgendeiner Gelegenheit, ganz plötzlich wird er[64] in seiner Urgestalt, in seiner Nichtgestalt erkannt. Entsetzen vor dem Tode ist plötzlich da und nichts anderes als Entsetzen. Einzige Ausflucht bleibt: das Leben festzuhalten. Und dieser Wunsch rät öfter und öfter zur Vorsicht und Schonung. Die Lebenskraft wird zurückgehalten, wo der Einsatz zu groß scheint. Man spart sein Leben auf, wird geizig mit seiner Kraft. Bei der nächsten Gelegenheit könnte man diese zurückgehaltene Kraft besser anwenden, glaubt man. Aber in Wahrheit ist alles Furcht vor dem Abnehmen der Kraft, Furcht vor dem Tode. Man möchte gar zu gern das Leben aufspeichern, um recht lange davon zu zehren. Es ist der Besitzgedanke, der da das Leben durchseucht hat und plötzlich alle, aber auch alle Mühe vieler Jahre mit eins zunichte macht. Es ist hier wie stets, die Gefahr kommt von einer anderen Ecke als man vermutet. Der, der sein Selbst lange Zeit gepflegt hat und dem es nun Früchte bringt, dem mancherlei Leistungen immer besser gelingen, glaubt natürlich, die einzige Gefahr läge im Nichtstun, man nennt das Zeitverlieren; er sucht alle Löcher zu verstopfen, durch die seine Lebenskraft noch nutzlos verrinnen könnte. Mit wenig Zeit viel erreichen, das ist sein Wille. Und während er all sein Augenmerk nur immer auf Steigerung des Lebens richtet, unvermutet packts ihn von der anderen Seite. Es ist wie ein Schwindel nach langem Bergsteigen.

Es kann nur zweierlei geschehen. Der starke Mensch verschließt sich vor diesem ersten Gewahrwerden des Abgrundes. Er erkennt den Tod einfach nicht an. So ist es heut gewöhnlich. Angst gilt nicht. Der Mensch soll und soll und soll … Und so beginnt er den völlig hoffnungslosen Kampf mit der eigenen Todesangst. Wo man sie findet, stößt man sie weg, so daß sie in die Träume und unbewachten Augenblicke flüchtet, bis der Mensch an einem grauenvollen Tage schließlich doch übermannt und zerbrochen wird. Der schwache Mensch dagegen gibt gleich beim ersten Mal das Spiel verloren. Der Tod nimmt von ihm langsam Besitz. Die Lebensfreude weicht. Der Mensch fragt sich bei jeder Gelegenheit: wozu? Die falsch verstandene Weisheit des Predigers: »Alles ist eitel« vergiftet die Freude an jedem Tun und jedem Genießen.

Hier gibt es nur eins: Bejahung des Vorhandenen. Die Todesfurcht ist da und nicht wegzuleugnen. Todesfurcht heißt nur: ich liebe des Leben! Warum also Scham vor der Todesfurcht? Unterliege ich diesmal der Furcht, lasse ich mich heute ganz durchdringen von dem Tod, morgen vielleicht schon werde ich wieder jung werden mit einem anderen Tage,[65] und mein Leben ist wieder siegreich. Volle Anerkennung der Schwäche, ein Ersterben in Furcht ist nötig, um die Furcht zu entkräften. Die heroische Weltanschauung will das nicht zugeben, d. h. sie will es nicht so weit kommen lassen. Sie verdrängt die Todesfurcht. So sagt man schon dem kleinen Jungen, der seinen Mund zum Weinen verziehen will: was, du willst ein Junge sein, du wirst dich doch nicht unterkriegen lassen? Jawohl. Er soll sich unterkriegen lassen mit aller Inbrunst des Versinkens in das Unvermeidliche. Viel zu früh geben die allermeisten auf, sich vor dem Tode zu fürchten, weil sie gar nicht wissen, was sie mit ihrem Leben verlieren können, weil sie ihr Leben nicht lieben und es ihnen gleich anfangs leicht und feil ist oder wohl gar unnütz oder mühselig oder belanglos. Wo man nicht liebt, ist es freilich einfach, nicht zu fürchten. Aber wo das Leben in einem Menschen groß und hell und weltenweit geworden ist, da ist so viel zu verlieren, daß manchmal nächtelang rund um ihn nichts ist als Furcht.

Aber nach solcher Überflutung von Angst und Grauen wird eine verborgene Kraft wirksam werden. Es gibt eine Kraft, die plötzlich im Untersinken das Unvermeidliche lieben läßt, sogar wenn das Unvermeidliche das Aufhören des selbsteigenen Lebens wäre. Wer dieses erfahren hat, weiß es. (Und viele haben es in dieser Zeit erfahren.) Wer in einem Augenblick des sehr nahen Todes diese große Umstellung gespürt hat, vermag von da an die Furcht zu entkräften mit der lächelnden Abspannung: ich gebe mich hin, ich lasse mich treiben, selbst und ungezwungen lasse ich mich fallen in den Tod. Diese Kraft kommt ruckweise über den Menschen und löscht alles Vorhergewesene aus. Unvergleichbar ist das mit dem lässigen Aufgeben eines gleichgültigen Dinges. Wo die Umstellung mit dieser lässigen Gebärde geschieht, ist noch Lüge dabei. In Wahrheit ist es wie nach dem Ziehen einer herrlichen Last bis an den obersten Rand, bis sie rund und voll daliegt und im Licht funkelt. Nun aber ist es gut: nun lasse ich meine Hände davon. Das, was meine ganze Kraft, Freude und Leid in sich enthält, das lasse ich nun fahren, wende mich davon ab und bleibe leer und arm und nichts. Gewaltig und schöpferisch ist diese Inbrunst des Lassens, und die Furcht hat nichts mehr wo sie anpacken könnte und wandelt sich in ein leise fragendes Staunen: Was nun? Hier wird bewußt, was Wahrheit ist: der Leben erschließende und Leben beschließende Tod nicht mehr Feind des Lebens, sondern die große schöpferische Pause des Lebens.


[66]

Liebe als Macht

Das atmende, das durch Tag und Jahr und Lebensalter hindurch flutende Leben des Selbst, all dieses schwingende Geschehen im Leben des einen Menschen, gerinnt zu Schicksal für den anderen und heißt dann: Liebe. In dem Maße, wie Liebe sich eigenwillig gebärdet, faßt das Wort noch nicht ganz seinen Inhalt. Erst wo sich das ganze Leben unter einen anderen Neigungswinkel beugt, also dem anderen Menschen in seiner Gesamtheit dargebracht wird, ist Liebe im großen Sinn. Solche große Liebe, die das ganze Leben in ein liebendes Leben verwandelt, ist aber nicht in dem Sinne Schicksal, als ob es jedem so ohne weiteres zufallen könnte. Nur wenige vermögen dieses Schicksal zu tragen. Eine doppelte Erfahrung muß im ganzen Ausmaß ihrer Höhe und Tiefe vorausgegangen sein. Die im tiefsten Grunde schmerzliche Erfahrung von dem Alleinsein der Menschen und das beglückende Geheimnis von der trotzdem möglichen Vereinigung gibt die beiden Pole, die erreicht werden müssen, wenn die Liebe wirklich umspannend werden soll. Sonst wird die Liebe eben nicht rund wie die Welt und nicht umfassend wie das Leben, sondern bleibt Stückwerk, Schmuckwerk, kommt leuchtend hier und da zutage und verschwindet dann wieder auf lange Strecken.

Das Kind nimmt aus dem Mutterleib die dunkle Glückserinnerung an den Zustand des völligen Umschlossenseins mit. Da gab es noch nicht Getrenntheit. Es hatte das Blut der Mutter zu eigen. Geburt ist dann der große Schmerz des Getrenntwerdens. Mit diesem Schmerz wird zugleich der Wunsch geboren, den schmerzlosen Zustand wieder zu gewinnen. Sehnsucht nach Besitz und Macht in den verschiedensten Gestaltungen quillt von nun an unaufhörlich aus dieser dunklen Wunschquelle und ist weiter nichts als das zu reißend gewordene allzu ungestüme Verlangen, selbst in den andern einzugehen. Mit Augen und Händen ergreift das Kind darum sogleich Besitz von der Welt und den Menschen. Was ihm nahekommt, gehört ihm. Die Eltern kommen diesem Besitzwunsch des Kindes so lange entgegen, wie er sich in der liebenswürdigen hilflosen Art des kleinen Kindes äußert. Wenn das Kind dann erst laufen kann und seine Wünsche unbequemer werden, beginnt man zu »erziehen«, d. h. abzugewöhnen. Dabei werden aber die Eltern oft kindischer als die Kinder. Ihre eigene dunkle Sehnsucht nach Macht benutzt die Gelegenheit, von dem Kind, das sich ja nicht wehren kann, Besitz zu ergreifen.[67] Aus demselben dunklen Grund stammt ja bei Eltern und Kindern dieser Wunsch. Auch die Mutter hat ja das Kind einmal ungetrennt besessen. Daß es noch ihr eigenes Fleisch und Blut sei, will sie möglichst deutlich immer wieder erfahren. Auch sie willigt in kein Getrenntsein ein. Grauenhaft ist es nun zu sehen, wie die meisten Kinder als das allerdings kostbarste Besitzstück der Familie betrachtet und auch sogar nach außen hin als solches hin- und hergeschoben und gezeigt werden. Die Erwachsenen sind stärker. Sie setzen ihren Willen durch. So wird der junge Wille meist schon ganz früh gebrochen, die Begierde der Kinder wird erdrückt und kommt erst später wieder zutage. Oder das Gegenteil geschieht (wenn auch nicht so häufig): dem Kind wird alles zu willen getan. Und es lernt dann niemals das Getrenntsein, den Abstand von Menschen und Dingen. Es bleibt unerlöst in seiner Besitzbegierde stecken. Beides, das gewaltsame Unterdrücken der kindlichen Besitzbegierde wie das schrankenlose Gewährenlassen dieses Triebes, begründet die spätere Unfähigkeit zu lieben.

Die bestehenden Schulen versagen hier auch fast vollständig. Die meisten Lehrer widmen sich ja aus Erwerbsgründen diesem Beruf. Sie lieben die Kinder gar nicht. Gegen das jugendliche Drängen müssen sie sich wehren, weil es ihre eigene Macht bedroht. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als eine Maske anzunehmen, damit das Schwinden ihrer Macht nicht bemerkt wird. Wo sie spüren, daß ihre Macht im Schwinden ist, müssen sie gleich zum Gegenangriff übergehen, weil sonst alles verloren ist. Ihr Beruf, ihr Amt, ihre Schulklasse wird »ihre Aufgabe«, an der sie arbeiten, das Material, an dem sie ihre Kraft sehen können, der Besitz, über den sie verfügen. Wo sich unter den jungen Menschen anders gerichtete Kräfte regen, da sind sie sofort argwöhnisch, als sei jedes eigenmächtige Wachstum selbstverständlich gegen ihre Autorität gerichtet. Aber Autorität wahren, nichts sich vergeben, immer oben sein, ist ihre einzige Rettung, sonst paßt ihnen ihre Maske nicht mehr und rutscht ihnen vom Gesicht herunter und sie sind hilflos. Und so ist es denn auch, wenn sie einmal ihre Autorität nicht ausüben, also nicht dauernd sich stark genug zeigen, ihren Willen überall durchzudrücken, dann merken die Jungen sofort das Loch, wo sie ausbrechen können, um den Zwang, der immer auf ihnen lastet, fortzuschieben. Sie gehen dann sofort zum Angriff über, um ihrerseits nun Zwang auf den Lehrer auszuüben. In kurzer Zeit lernen sie die schwachen Stellen unfehlbar sicher benutzen. Und so[68] bilden sich in den Schulen immer wieder die zwei Hauptarten des Lehrers, der Tyrann und der Popanz.

Doch auch der wirklich liebende Erzieher kann hier versagen. All seine bildnerischen Fähigkeiten helfen ihm hier nichts. Leicht und unmerklich verfällt er dem Besitzgedanken, wenn er vergißt, daß er lebendige unter seiner Hand wachsende Menschen vor sich hat. Mit der Gewalt seiner Liebe kann er über die Kinder kommen, sie zur Unterwürfigkeit verführen und so zum Tyrannen wider Willen werden. Oder er kann in seiner hingebenden Liebe gar zu hinfällig werden und so dann wieder ungewollt ihre tyrannischen Instinkte erwecken.


Ehrfurcht als Liebeshemmung

Schon jetzt ist es klar geworden: Liebe ist mit dem Machtgedanken schicksalhaft verleitet. Die Erziehung zur Liebe wird sich also mit dem Machtgedanken auseinanderzusetzen haben. Die Haltung des Führenden wird daher grundsätzlich anders sein als zuvor. Bisher handelte es sich um die Entfaltung des einzelnen Menschen. Der Führer stand sorgend, hütend, wartend daneben. Der Mensch wächst aber nicht ungestört und unbekümmert wie eine Pflanze, um eigne Blüte und Frucht hervorzubringen. Sondern er hängt entscheidend von den anderen Menschen ab, gibt und empfängt von der Gemeinschaft der Menschen. Von dem rhythmischen Wechsel dieses zwischen-menschlichen Gebens und Nehmens ist von nun an die Rede. Hierbei handelt es sich um etwas, das nicht so wie bisher »von selbst« geschieht. Dem einzelnen Menschen, wenn er so wächst wie er wächst, wird es nicht einfallen, sich um den andern zu kümmern. Vielmehr wird ihn, wie geschildert wurde, der dunkle Trieb zur Machtentfaltung, zur Besitzergreifung des anderen zwingen, zumal wenn der andere mit ihm dasselbe versucht. Hier muß der Führende auf irgendeine Weise seinen Anvertrauten jene beiden Erfahrungen vermitteln, welche die Liebe bedingen: ein jeder ist in sich selbst allein und hat kein Recht an den anderen: aber trotzdem ist es möglich, zueinanderzukommen durch freiwillige Hingabe. Wie geht dieses vor sich?

Aus der Tiefe des Selbst steigen hemmende Kräfte, die jene elementaren Machttriebe dem anderen Menschen gegenüber zu dämmen vermögen. Und nun schwillt diese selbst-hemmende Kraft an, fließt über, gibt sich hin, löst sich auf in den andern. Dieses Wissen von der liebewirkenden Kraft der Hemmung gilt es zu wecken. Jedes Wissen hängt ursächlich[69] mit dem Wissen vom Tode zusammen. Nichtswissenwollen stammt aus Todesfurcht. Und so ist in allen Menschen ein leises Sträuben auch gegen dieses Wissen von dem Segen der Hemmungen. Nur das stärkste Mittel kann hier helfen: Zwang! Zwang in einem besonderen Sinne! Der Führende muß sich selbst mit seiner ganzen Persönlichkeit seinen Anvertrauten gegenüber stellen, sich ihnen in den Weg stellen, sich unumgänglich machen. In keinem Fall darf er diesen Gegensatz zwischen ihnen verwischen lassen. Er selbst stellt eben mit seiner ganzen Persönlichkeit für seinen Anvertrauten den anderen Menschen dar. Und diesen anderen Menschen (sich selbst) muß er gegen ihn wahren und wenn es notwendig ist, verteidigen. Er muß den jungen Menschen spüren lassen, daß er kein »Recht« an ihm hat, daß Liebe nicht Besitzergreifung ist. So leicht ist es ja möglich, daß seine Vertrauten sich gewöhnen, ihn in Anspruch zu nehmen, so wie man tagtäglich seinen Stiefel oder andere Gegenstände benützt; hält sich doch der Führende zu jedem Spiel, zu jeder gemeinsamen Arbeit bereit, Offenheit und Hingebung an das gemeinsame Leben ist seine Lust und sein Gestaltungstrieb vollauf damit beschäftigt. Aber es gibt Zeiten, wo die Offenheit dem Anderen gegenüber Lüge wird. Es gibt Stunden, wo sein eigenes Leben und Arbeiten ihm befiehlt, sich zu verschließen und ganz mit sich allein zu bleiben. Hier darf er sich nicht aus sich herauszerren lassen durch die gewohnheitsmäßig an ihn gestellte Forderung der Anderen. Er muß die Kraft haben, nein zu sagen, nicht notwendig mit Worten, sondern mit der ablehnenden Regung seines ganzen Willens. Läßt er sich an solchem Tage doch verleiten, den Forderungen der Anderen nachzugeben, so tritt das Schlimmste, die Lüge zwischen ihn und seine Vertrauten. Solche Herablassung, lustlose Hingabe, Verstellung in irgendeinem Sinne wird durch die überquellende Lebenslust der Kinder zunächst vielleicht überdeckt werden und ist darum so besonders schadenvoll. Geschieht diese täuschende Herablassung, diese Hingabe aus Pflicht öfter, so »merken« dann die Zarten doch sehr bald etwas, und damit ist das Vertrauen an seinem Grunde erschüttert. Hier also gilt es, die Kraft zum Nein, zur Ablehnung, zur Selbstbewahrung aufzubringen und dem Anderen deutlich zu machen: Heut ist ein Tag der Ferne zwischen mir und dir. Heut ist alles verschlossen in mir, und wenn ich auch neben dir stehe, bin ich dir doch fremd. Diese Erfahrung wird dem jungen Menschen nun gewaltsam den Abgrund aufreißen, der sein Selbst von allen Menschen trennt. Der Kampf[70] gegen den Besitzgedanken ist hiermit bewußt eröffnet. Wenn in früher Jugend schon ein gewichtiger Mensch dem Jüngeren bedeutet: hier ist deine Grenze, du hast kein Recht, in das verschlossene Gebiet des Anderen einzudringen, so entsteht zunächst Ehrfurcht vor diesem Anderen, Ehrfurcht vor dem Älteren, Ehrfurcht vor der Ferne des anderen Menschen wird auch im Kreise der gleichaltrigen Genossen dem Miteinanderleben die notwendige Spannung geben. Auch der Führende seinerseits wird durch die Ehrfurcht vor der geschlossenen Art seiner Anvertrauten ihnen in ihrer Einsamkeit nicht zu nahe treten und so Machtwunsch und Besitzwillen in sich überwinden.

Ehrfurcht hemmt jedes vorzeitige Wollen, Ehrfurcht läßt innehalten, Ehrfurcht hüllt sich schützend um alle noch nicht zur Reife gelangten Liebesformen. Aber Ehrfurcht ist nicht nur eine Durchgangsform, sondern unter Umständen auch etwas Endgültiges. Es ist durchaus möglich, daß es im Verhältnis zwischen Menschen überhaupt nicht, oder von einem bestimmten Zeitpunkt an endgültig nicht mehr zur Entfaltung der Liebe kommt. Dann bleibt es aber doch möglich, daß dieses Entferntsein kein gleichgültiger, sondern ein liebesgerichteter Zustand ist. Dieser Zustand des liebenden Entferntseins wird heute selten zugelassen und fast überall in die Scheinformen von Leidenschaft und Inbrunst hinauf- und hinabgezerrt. Der höfliche Verkehrston oberer Gesellschaftsschichten, ebenso die höfliche Umgangsart der Menschen in südlichen und orientalischen Ländern, schließlich die Geselligkeitsformen der Menschen vor 1840 etwa drückt ungefähr nach außen hin aus, was hier gemeint ist: Wohlwollendes Entferntsein, Einandergeneigtsein, ehrfurchtsvolle Achtung des Unbekannten.

In den nördlichen Ländern und den unteren Gesellschaftsschichten, wozu auch die meisten bürgerlichen Kreise gehören, und in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist diese Achtung voreinander allmählich geschwunden, sicherlich aus der dumpfen Sehnsucht nach bewegteren Formen unmittelbarer Liebe. In den sogenannten gebildeten Schichten erstarrte ja die Liebe. Andeutende Beispiele genügen: die gute bürgerliche Ehe führt zwar bestenfalls zu einem gemeinsamen Leben in Achtung voreinander, aber sie endigt auch darin. Der gut erzogene Sohn verharrt in der Ehrfurcht vor dem Vater, die Schüler in Ehrfurcht vor den Lehrern, der Beamte in Ehrfurcht vor dem Vorgesetzten. In allen diesen Fällen handelt es sich um die besten Fälle. Und gerade gegen[71] diese Mustergültigkeit, die ein durchaus auskömmliches Leben miteinander sichert, erhebt sich der Sturm der Masse, welche in sich spürt: der Damm muß zerbrochen werden. Es gilt einzig und allein zueinanderzukommen. Und nun prallen die Menschen in ihrem Liebeswillen ungehemmt und zügellos aufeinander. Sie zerquälen und zerreißen sich mit ihrem Liebeswillen, oder was seltener und gar nicht schlechter ist: mit ihrem Haß. Freundschaften, Ehen, Kreise und Bünde entstehen aus diesem reißenden Willen nach Vereinigung um jeden Preis. All diese neuen Gemeinschaftsformen sind dazu verurteilt, sofort wieder zu zerbrechen, oder doch in sich unmöglich zu werden, weil eben das Medium, die Ehrfurcht voreinander nicht da ist.

So ist es das Erziehungsamt der lebendigen Einzelnen, die Ehrfurcht zu wahren und trotzdem zueinander durchzustoßen. Diese wenigen Lebendigen spüren den gleichen Drang in sich wie die große Masse: die erstarrte Liebesordnung im Verhältnis der Menschen zueinander zu zerbrechen. Aber sie wissen, daß dieser Durchbruch zueinander nur stark sein kann, wenn die Liebe Zeit hatte zu wachsen und also sich zu ihrer ganzen Größe aufzustauen.


Leidenschaft und Inbrunst

Durch den Damm der Hemmungen, durch die Ehrfurcht muß durchgestoßen werden in die dahinter liegenden Höhen- und Tiefengebiete der Liebe. Von Zeit und Gezeiten war bisher nur bei der rhythmischen Teilung des Einzellebens die Rede. Das Leben des einzelnen Menschen wächst durch die Zeiträume seines Lebens. In der Zeit, doch blind vor ihr.

Wer nun in Beziehung zu einem anderen Menschen gerät, setzt zunächst auch dort stillschweigend seine eigene Lebensbewegung voraus. Doch merkt er dann bald, daß etwas nicht stimmt. Für den Anderen sind andere Zeiträume maßgebend, sind die rhythmischen Schwingungen des Lebens kürzer oder länger, sind die Pausen dichter oder weiter gesät, jedenfalls an anderer Stelle liegend. Dementsprechend sind auch die Aufschwünge des Lebens häufiger oder seltener und meist nicht gleichzeitig. Jeder trägt seine eigene Zeit in sich, und Getrenntsein heißt andere Zeit haben. Was Ehrfurcht genannt wurde, ist die Verehrung der anderen Zeit des Geliebten. Diese Ehrfurcht gebietet, auf ihn zu warten oder ihm vorauszugehen, beides im Hinblick auf ihn. Es ist leidenschaftliches Verlangen der Liebe, den Rhythmus des eigenen Lebens dem des anderen[72] gleichzustimmen, den Geliebten zu begleiten, mitzuschwingen wo es irgendeiner Gipfelzeit entgegengeht. Hier wird Liebe in hinreißender Form. Wo der Geliebte in Ehrfurcht eine Zeitlang gewartet oder ruhig ein Stück vorausgegangen ist, und nun die aufschießende Wucht des anderen Lebens gewaltig hinterdrein flutet, steigert sich Liebe zu ihrer leidenschaftlichen Gipfelung.

Das Erlebnis gleicher Zeitaufschwünge ist das Hinreißende daran. Durch den Gleichklang des steigenden Doppellebens wird die letztmögliche Näherung an den Zustand des Ungetrenntseins erreicht.

Wo es wieder hinabgeht, ist die Gefahr. Es geht nicht gleichzeitig hinab. Einer macht den Anfang. Kein Bild »wie er war, da man ihn am meisten liebte« darf nun im Hinabgleiten hemmen. Die ehrfürchtige Grundregung läßt den Geliebten nun wieder in das Entfernte gleiten, in die Zeitfolge, die ihm allein gemäß ist. Es gilt wieder zu warten, nun aber in Richtung auf den Tiefpunkt, wo das Leben des Anderen in seine Ruhelage hinabschwingt. Das tosende Licht des gemeinsamen Aufschwungs kann Mißklänge übertäuben. Hier aber wo es schweigt, wo es gärt, wo das Leben sich sammelt, sinkt Liebe zu der Tiefe ihrer Gewißheit. In dieser Tiefe der schöpferischen Pause ist es gegeben, in Liebe ganz und gar zu sein. Hier ist das Gegenbild der Gipfel-Leidenschaft, unsichtbare, unregbare, unerschütterbare Inbrunst.

Wer es vermag, in schöpferischer Inbrunst den Anderen zu erwarten, also in seinem eigenen Grunde noch liebe-gerichtet zu sein, für den erst ist der Besitzgedanke wirklich und endgültig aufgehoben. Das nur erst ahnende Wissen von dem Entferntsein des Anderen braucht Ehrfurcht, als den ersten schützenden Wall vor der Machtgier. Inbrunst macht den Wall der Ehrfurcht überflüssig. In der gemeinsamen Tiefe ist Ungetrenntsein, in der Tiefe jedes Atemzuges, in der Tiefe jeder Nacht ist es zu spüren. Macht wird reizlos und darum sinnlos. In dem dunklen Jubel dieser umfassenden Gewißheit muß die glänzende Wunschgestalt von Herrschaft und zeitlichem Besitz auseinanderstieben. Viel tiefer, unterhalb des Stromes von Zeit und Raum wird der Geliebte wahrhaft besessen.

Inbrunst ist das Gegenbild der Leidenschaft. Es ist die Liebes-Verhaltenheit, die in jedem einzelnen Menschen je nach Maß seiner Kraft verborgen liegt. In ihrem inbrünstigen Zustand tritt Liebe nicht in die Erscheinung. Auch wenn gar niemand zu lieben da ist, vermag es inwendig zu brennen und weiter zu brennen. Hier gilt all das, was von[73] der Kraft der schöpferischen Pause gesagt wurde. Je tiefer der liebende Mensch in die Tiefe der schöpferischen Pause hinabschwingen kann, desto tragender wird seine Liebe, desto krampfloser seine leidenschaftlichen Aufschwünge. Trennung von dem Geliebten, Abschied, Entfernung, jedes gewollte und ungewollte Alleinsein wird in dem liebe-gerichteten Menschen sogleich zu inbrünstiger Entspannung umgewandelt.

Die Tiefe des ruhenden Atems, die Entspannung des Tages in die Nacht, die Ruhe nach einer gereiften Tat … immer der Abgrund, wo sich die neue Lebenswoge bildet, heißt dann Inbrunst. Ist der andere, der geliebte Mensch wieder da und wirklich bei sich selbst, so ist die Woge der Liebe, die sich aus dieser Tiefe herauf ihm entgegenwölbt, fast greifbar in ihrer überflutenden Stärke. Ist der Geliebte fern, so ergießt sich dieselbe Kraft vielleicht in eine neue Tat oder auch nur springquellhaft müßig in irgendeine einsame körperliche Regung, irgendeine ausdruckgefüllte Gebärde, die keiner sieht, oder auch in einen klaren Gedanken, der bald wieder vergessen ist und verfällt. In der Tiefe ihres Ursprungs sind alle diese Regungen des einsamen Selbst mit den Liebesregungen eins und dasselbe. Wer in sich Bescheid weiß, vermag sogar durch einen ganz kleinen Ruck in der Tiefe große Umstellungen an der Oberfläche zu bewirken. Doch wird dies stets Geheimnis bleiben.


Der Rhythmus der Liebe innerhalb der Lebensalter

Es soll nun im einzelnen betrachtet werden, wie dies Gegenspiel von Inbrunst und Leidenschaft durch alle jene Rhythmengefüge, von denen bisher die Rede war, hindurchpulst. Zunächst soll der weitestgespannte Lebensrhythmus, die große Welle der Lebensalter, in ihrer Liebesgerichtetheit überschaut werden. Der Abstand der Jahre ist ja für Menschen, die sich lieben, von ausschlagender Bedeutung. Es gibt da liebesnahe und liebesferne Abstände. Gleiches Alter läßt keineswegs am reibungslosesten zueinanderkommen. Aus diesem Grunde bleiben sich oft Geschwister, die nur ein oder zwei Jahre auseinander sind, und infolge ihres nahen Beieinanderlebens die wesentlichen Lebenserfahrungen gleichzeitig machen, so fremd.

Erst wenn der Abstand der Jahre etwas größer wird, etwa drei oder vier Jahre dazwischen treten, wird das Verhältnis günstiger. Geschwister in diesem Jahresabstand halten gewöhnlich am stärksten zusammen. Die streng durchgeführte Altersklassentrennung ist so besonders lebensfeindlich,[74] weil das rechte Spiel von Inbrunst und Leidenschaft in einer Schar gleichaltriger Knaben künstlich gestaut wird. Die Luft der Schulklassen ist darum voll unerträglicher Spannung, die sofort gelöst würde, wenn man die Jungen wenigstens in der Schulpause nach ihren Neigungen zu älteren Freunden aus einer höheren Klasse laufen ließe. Aber der Geist der Klassenschichtung ist so stark, daß die Kinder schon gar nicht mehr auszubrechen wagen, auch wenn die Gelegenheit sich ergibt.

Wo der Jahresabstand noch größer wird, wo etwa sieben Jahre zwischen zwei Menschen stehen, scheint damit wieder etwas Hemmendes zwischen sie zu treten. Bei Geschwistern, die so weit auseinander sind, wird das deutlich. Der Ältere ist dann schon zu alt, um sich noch auf gleicher Stufe stehend zu empfinden und doch noch nicht alt genug, um dieses Ältersein klar und schön sprechen zu lassen. Sie stehen unsicher zueinander. Erweitert sich der Jahresabstand noch mehr, so scheint das Verhältnis wieder günstiger zu werden. Über all dies kann nur andeutungsweise gesprochen werden, weil sich dergleichen Feststellungen nicht in ein System bringen lassen. Viele Beobachtungen müssen erst noch gemacht werden. Sicherlich ist der Jahresunterschied zwischen zwei Menschen gleichen Geschlechts und zwei Menschen verschiedenen Geschlechts dann auch noch verschieden zu bewerten. Hier kommt es nur darauf an, festzustellen, daß der Altersunterschied dem Verhältnis der Menschen zueinander überhaupt eine ganz bestimmte Tonhöhe gibt, die auch immer ungefähr die gleiche bleibt, wenn sie nun miteinander älter werden.

Der Erzieher wird allmählich für diese Tonhöhe, die sich für ihn aus dem Altersunterschied zu jedem seiner Anvertrauten ergibt, ein völlig sicheres Gefühl bekommen. Doch der Unterschied der astronomischen Jahre gibt ja nur das Gerüst für die eigentlichen Unterschiede der Lebensalter. Es gilt, dichter an das Geschehen heranzutreten. Überall da, wo ein Mensch in eine Pause zwischen zwei Lebensalter eingetreten ist, verlangt er nach Einsamkeit, nach weitem Raum für sich selbst und Entfernung von den Menschen. Diese Zeiten der Knabenreife um das 15. Jahr, der Jünglingsreife um das 20. Jahr, der Mannesreife um das 30. Jahr sind Zeiten der Liebesferne. Tadelnde Worte wie Egoismus, Selbstsucht, Lieblosigkeit bezeichnen diese Zustände schlecht und oberflächlich. Liebe ist schon da, nur verborgen und ungestaltet. Ja, es sind dies vielmehr gerade Sammelzeiten der Liebe, Zeiten der Inbrunst. Der Liebeswille steckt drin, kann aber nicht heraus. Und wenn die Menschen[75] um ihn herum keine Ehrfurcht vor diesem Zustand haben und den in sich selbst gebundenen Menschen zu Liebesbezeugungen reizen, durch Worte oder Gebärden oder Klagen oder vorwurfsvolle Blicke, so entsteht notwendig geheimer oder offener Haß gegen die liebend-unwissenden Peiniger. Immer wo Liebe in Haß umschlägt ist es darum, weil aus dem Zustand inbrünstiger Liebesferne vorzeitig versucht wurde, Liebe zu wecken. Offener Haß durchbrennt und zerstört dann plötzlich alle hemmenden Schichten der Ehrfurcht. Solch leidenschaftlicher Haß erreicht genau die gleiche Höhe wie leidenschaftliche Liebe. Nur ein Unterschied ist, daß Hassende einsam bleiben. Sie kommen nicht in gleichen Rhythmus, weil der eine von beiden nicht warten konnte, und den anderen mitriß oder für immer stehen ließ. Haß ist nichts als überschnellte Liebe. Oft fehlt nur eine ganz geringe ehrfürchtige Regung, ein unmerkbar kleiner Augenblick inbrünstiger Sammlung … und reinste Liebe würde in hohem Bogen aufsteigen, wo nun flammender Haß wütet.

Nur bei starken Menschen wird solche über-raschte Liebe zu offenem Haß. Bei schwächeren Menschen bleibt der Haß verborgen, wird unterdrückt, wirkt aber deswegen fast noch zerstörender. Dies ist der heute fast überall zutage tretende Zustand. Verborgener Haß, verzerrte Liebesbezeigung, verkrampfte Leidenschaft ist überall.

Der Führende aber muß Raum breiten um den Knaben in der Zeit seiner Liebesferne. Sich selbst muß er unscheinbar machen. Selbst wenn Menschen auf dieselbe Wohnstube beschränkt sind, können sie sich ja einander entfernt machen. Freilich gehört dazu das stets ehrfürchtige, ja inbrünstige Wissen um den Zustand des anderen. Dann schlafen die müßigen oder gierigen Fragen ein. Dann werden die Blicke kühl und vertrauensvoll ruhig. Dann verlieren die Hände das hastige Greifen und die Arme das Raffen, das den in sich versunkenen Knaben immer wieder aus sich herauslockt und reizt, sich darzustellen. So kann der wissende Erzieher den Raum, den sein Vertrauter braucht, unmerklich wachsen lassen. Auch den anderen Gefährten muß er das begreiflich machen. Mit Spaß und Spott übermütig sich aneinander zu reiben, sind die naturgemäßen Formen kindlicher Liebesäußerung. Gleichaltrige Knaben kurz vor ihrer Geschlechtsreife haben den Hang, im Spiel sich gegenseitig anzustacheln und einander bis aufs Blut zu reizen. Wenn aber die Zeit heran ist, wo einer von ihnen durch die Nähe des anderen heimlich verletzt ist und die anderen nichts merken und auch er selbst kaum etwas[76] weiß, muß der Führer ihnen die Augen öffnen, daß sie sehen, was sie tun. Dann werden sie in Ehrfurcht vor dem Geschehen, das ihnen da sichtbar wird, zurücktreten und Raum lassen um den Ruhebedürftigen. Haben sie doch auch gelernt, einen in der Sonne Liegenden nicht zu stören, einen in Arbeit Vertieften nicht zu fragen, einen Schlafenden niemals zu wecken. So behütet wird nun in dem so Gefernten die Liebe wachsen und groß werden und sich an einem Tage zum ersten Mal leidenschaftlich erheben. Der gewaltig aufsteigende Rhythmus des jungen Lebens sucht nach gleichklingendem Leben, nach einem Menschen, der gleich ihm dehnbar ist und sehnsüchtig nach dem Auf und Ab des Lebens, der erfüllt ist gleich ihm von dem rasenden Verlangen, zugleich sich hinzugeben und zugleich zu genießen. Acht haben auf sich selbst oder auf den Menschen, dem die Leidenschaft gilt, ist jetzt unmöglich. Sinnlos ist jeder Gedanke eines Dritten, der in ermahnendem, vorbeugendem, abhaltendem Sinn darauf hinweisen wollte. Bewegtes Leben türmt sich auf, das sich nicht selbst bewahrt und rücksichtslos auch den Geliebten nicht bewahrt.

Wie steht der Erzieher nun solchem Geschehen, solchem Schicksal der Leidenschaft gegenüber? Zunächst also, wenn es sich fern von ihm selbst vollzieht, zwischen zweien seiner Anvertrauten.

Der, den er jahrelang führte und täglich behütete, den er in das lebendig strömende Wasser stieß, daß er seine Tage von da an in Schönheit dahin brachte und seine Kraft in gelungene Werke fließen ließ, der, den er liebte in inbrünstiger Freudigkeit, der ihm nahe war, ja mit der Glut seines jungen Lebens ihn hielt und begeisterte … plötzlich wirbelt ihn sein fremdes Schicksal fort. Eifersucht ist solchem Geschehen gegenüber die kleinsinnig-sinnlose Regung des Augenblicks. Der ältere Mensch muß sich hier auf die Klanghöhe seines Jahresabstands besinnen. Nur so wird ihm möglich werden, hier nicht einzugreifen. Nur so wird ihm die große umfassende Gebärde gelingen, die allein solchem Schicksal gemäß wird.

Solange die Woge dieses fremden Doppelschicksals im Schwung ihrer Aufwärtsbewegung ihn umbraust, bleibt sein Wissen stumm; sein Wissen, daß Leidenschaft etwas Bewegtes ist und also etwas, das sein Ende in sich selbst trägt. Leidenschaftliche Zustände, anhaltende Leidenschaft gibt es nicht. Wo die Woge der Leidenschaft zurückflutet und nur noch von dem erregten Willen der Liebenden zwangsmäßig gehalten wird, für diesen Augenblick muß er sein Wissen vom Ende der Leidenschaft bereithalten und irgendwie bei seinen Vertrauten zur Geltung bringen.[77] Daß auch sie ja sagen zu dem Ende, ja sagen zu den Folgen ihrer leidenschaftlichen Erhebung. Denn wirklich und unvermeidbar folgt Leid, wo Leidenschaft festgehalten wurde. Die Formen dieses Leides werden verschieden sein, und die Betroffenen werden gar nicht wissen, wie ihnen geschieht. Sie werden es am eigenen Leibe verspüren als körperliche oder seelische Reizbarkeit, als Krankheit, Unlust, Unfähigkeit zu gewohnter Arbeit. Auch in ihrer Gemeinsamkeit wird das Leid zu spüren sein als Fernegefühl oder gar als Haß, und wird sie zu Abschied und Trennung drängen. Und nun ist es die führende Aufgabe des Erziehers, die beiden Menschen, denen ihre Leidenschaft so zum Leide gereicht, in seine inbrünstig bereitgehaltene Liebe aufzufangen, sie zu trösten, zu beschwichtigen und mit diesem seinem liebe-gerichteten Verhalten auf die neuen Gipfelungen der Liebe hinzuweisen, die ihnen jede neue gemeinsame Lebenswallung bringen muß. Wenn sie nur jetzt nachgeben und sich in ihre Ferne fallen lassen, wird jeder neue Atemzug, jeder neue Morgen, jede in ihnen selbst wieder ansteigende Kraftwelle sie sicher geleiten.

Wie ist es aber, wenn nun das leidenschaftliche Schicksal den Führenden selbst mitreißt? Der Abstand von einem halben Menschenalter zwischen ihm und seinem Vertrauten begünstigt die Schwingungsstärke. Es gibt kein Verwahren vor dem Schicksal der leidenschaftlich sich steigernden Liebe.

Der Führer ist inmitten einer Schar junger Menschen, die täglich um ihn ist, dem Leben hingegeben, so rettungslos wie kein anderer Mensch. An kein Werk, an keinen Beruf kann er sich für die Dauer halten. Vielleicht kann er sich einige Zeit verschließen, wenn es sein Leben so will. Aber sobald er sich wieder öffnet, öffnet er sich auch seinen Vertrauten. Sie sind da, und er ist für sie der Mensch, den sie verehren, den sie, wenn sie in das Alter ihrer Reife getreten sind, vielleicht als ersten Menschen lieben werden. Wo Liebe ist, kann es auch zu leidenschaftlichen Gipfelungen kommen.

Leidenschaft fordert immer volle Ausschließlichkeit. Der Führer ist dann nicht mehr unbedingt für alle da, er ist auch nicht mehr Erzieher und Lehrer. Er ist Liebender für seinen Geliebten. Wenn das gemeinschaftliche Leben schon so stark geworden ist, daß es alle trägt, so werden die Anderen dann ruhig ihren Weg gehen und in Ehrfurcht geschehen lassen, was geschieht. Aber auch dann, wenn es noch nicht so weit ist, wenn ein solches Schicksal das gemeinschaftliche Leben aller bedroht, wenn die Anderen[78] es nicht ertragen, muß es trotzdem geschehen. Denn es gibt kein Verwahren gegen das Schicksal. Rücksicht auf die Anderen nehmen, heißt den geliebten Menschen auf der Woge seiner steigenden Liebe allein lassen. So kommt es hier unter Umständen zu der Entscheidung: führender Dienst an den Vielen oder Verrat an dem geliebten Einen. Diese Entscheidung ist schwer.

Das Schwerste aber ist, in der Leidenschaft noch Führer des Geliebten zu bleiben. Und das wieder erfordert: nicht festhalten und nicht sich festhalten lassen, wo die Woge wieder hinabgeht. Es erfordert zu zeigen: hier ist es zu Ende. Es erfordert, als Wissender stillschweigend die Folgen auf sich zu nehmen, die Leidenschaft mit sich bringt und zugleich den geliebten Neuling in dieses Wissen einzuweihen.

Solcher erster Aufschwung der Liebe aus der Tiefe der ersten Knabeninbrunst überwölbt nun durch Jahre hindurch alle Liebesregungen des jungen Menschen, bis er dann in den Zeiten seiner reifenden Jünglingschaft wieder in eine neue entscheidende Periode der Liebesferne tritt.

Diese Ruhezeit und noch mehr die nächstfolgende große Lebenspause, die Reifezeit des Mannes wird durchpflügt von der Unrast des Lebens. Liebe und Leidenschaft kann aber nur groß und umspannend werden, wenn an diesen entscheidenden Stellen genügend Raum um den in sich selbst Versunkenen blieb, wenn er nicht vorzeitig aus sich herausgezerrt wurde und sich nicht zerren und nicht locken ließ. Wo einer noch Macht hat über Menschen, die sich in diesen Lebenspausen befinden, leistet er ihnen den entscheidenden Dienst nur dadurch, daß er Raum um sie breitet, daß er sie entfernt von den Anderen und daß er sich selbst in ihrem Gesichtsfeld auslöscht.

Es ist gewagt von diesen großen Bogenschwüngen zwischen Inbrunst und Leidenschaft zu sprechen, wo doch das tausendfältige Spiel der täglichen Liebesregungen verwirrend dazwischen schwingt und eigentlich immer das allein Spürbare ist. Diese großen Schwingungen, die von den einzelnen wenigen ganz großen Inbrunstpausen des Lebens ausschwingen, sind aber da und jedem sichtbar, der seinen Blick weitet und große Strecken eines Lebens überblickt.

Auch wenn es den meisten Menschen verwehrt ist, zu ihrer Zeit einsam zu sein, weil die anderen es nicht zulassen oder auch sie selbst nicht Mut genug haben, in ihre Tiefe einzugehen, sie spüren doch die Stelle, wo es hätte sein sollen. Sie wissen genau, in diesem Jahr ist es gewesen …


[79]

Rhythmus der Liebe im Jahr

Das einzelne Jahr hat seine Inbrunstzeiten und Leidenschaftszeiten. Das natürliche Jahr, das Sonnenjahr, das für die Tiere und ihre Liebesregungen so entscheidend ist, schlägt auch durch das Gefüge des menschlichen Jahres hindurch; gerüstweise bleibt es erkennbar. Die Jahreszeiten sind in ihrer Liebesgerichtetheit verschieden. Die großen Sammelzeiten des Jahres im späten Herbst, im tiefen Winter, die Zeit, wo der Sommer sich vorbereitet und die Früchte ansetzen, schließlich die Zeit, wo der Herbst sich vorbereitet (oft schon in den letzten Julitagen), diese Sammelzeiten des Jahres machen es dem Menschen, der mit dem Jahr zu leben gelernt hat, leicht, sich in seine Inbrunst zu versenken. Verschlossen zu sein ist dann der Natur gemäß. Es sind das die Zeiten, wo nichts sichtbar wird, sondern alles unter der Oberfläche geschieht.

Dem gegenüber stehen die leidenschaftlichen Zeiten des Jahres, Gebezeiten, in denen die Liebe sichtbar wird. Zu Anfang des Winters ist solche Zeit, die Frühlingszeit des Winters, die das alte Lied meint: es ist ein Ros entsprungen … Manchmal ist diese Gipfelzeit kurz, aber stets in der gesamten Natur zu spüren. Die eigentliche Frühlingsgipfelzeit ist sehr viel länger von den frühesten bis zu den spätesten Blüten. Um die Zeit der heißen Nächte liegt dann die oft nur kurze Gipfelzeit des Sommers. Und in den jauchzenden Tagen des reifen Herbstes schwingt sich die Natur wieder zu einer Gipfelzeit auf, die oftmals lange dauert, von der Zeit der Kornreife bis zur Zeit, wo die letzten Äpfel reif werden.

Freilich das menschliche Jahr flutet vielfach über diese naturgesetzten Zeiten hinweg, daß die Grenzen sich verschieben. Doch dies bleibt: es sind Gebezeiten und Inbrunstzeiten der Liebe im Jahr eines jeden Menschen deutlich zu spüren, und auch hier ist es Sache des führenden Erziehers, ferne zu halten und zu schaffen, wo seine Anvertrauten die Kraft des Jahres in sich sammeln, und mitzuschwingen, wo sie geben und blühen und jauchzen in ihrer Liebe.


Der sexuelle Rhythmus der Liebe

Durch die gegeneinander beweglichen Brunst- und Inbrunstzeiten des Jahres flicht sich in sehr viel strengerem Wechsel der monatliche Rhythmus. Hier ist von der geschlechtlichen Liebesgerichtetheit zu sprechen. Die monatliche Periode der Frau gibt in ihrer strengen Gesetzlichkeit[80] das führende Zeichen für die Menschen. Auf Tag und Stunde ist der Eintritt dieser monatlich wiederkehrenden Reinigungszeit bei gesunden Frauen vorausbestimmbar. Davon war bereits die Rede, soweit es den Rhythmus des Einzelmenschen betraf. Wie ist diese Tatsache für das Miteinanderleben der Menschen auszudeuten?

Wie der Herztakt des Blutes sich der Aufsicht des Willens entzieht, so ist auch die steigende und fallende Bewegung der geschlechtlichen Säfte der willentlichen Beeinflussung des Menschen entzogen. Wenigstens von der einen Hälfte, der weiblichen Hälfte der Menschheit ist dies mit Sicherheit zu sagen. Durch das Leben des Mannes geht allerdings auch ein monatlicher Rhythmus, ein Rhythmus von etwas kürzerer Wellenlänge als bei der Frau3. Dieser Rhythmus ist aber bei den meisten Männern nicht mehr spürbar, d. h. von allzu starker Willensanspannung übertäubt worden. Wenige werden diese Taktschläge regelmäßig in sich hören. Nur wer in die Zeit seiner eigenen Knabenreife hinabzulauschen versteht, wird wissen, um was es sich handelt. Um die Reifezeit beginnt bei dem Knaben der Saft zu steigen. Die Kraft spannt alle Glieder. Auch das männliche Zeugungsglied streckt sich zum ersten Mal. Und in später Nacht, wenn der Schlaf schon dünn geworden ist und die volle Kraft des jungen Körpers sich in den Morgen hebt, kann die letzte Welle irgendeines Traumes zur unwillkürlichen Vergießung des Samens drängen. Nach solcher Entspannung folgt nun wieder eine Zeit des Aufbaues der sexuellen Kräfte etwa einen Monat lang, und wieder kommt die Zeit der Krafthöhe und drängt nach Entspannung dieser Kraft. Diese nächtlichen Entladungen des Samens in etwa monatlicher Wiederkehr sind aber nur ein äußerstes Mittel des Körpers, Stauungen zu vermeiden. Bei einem gesunden Leben wird es selten dazu kommen. Auch ohne Samenverlust wird der Körper in die Zeit seiner Schwäche zurückzuschwingen vermögen. Denn die nach außen drängenden Kräfte können auch im Innern des Körpers verbraucht werden4.

Die Zeit der sexuellen Krafthöhe ist bei vielen Menschen die Zeit der Gefahr, wo ihr eigener oder auch fremder Wille Übermacht über die natürliche Gesetzlichkeit ihres Körpers bekommt. Willkürlich wird durch[81] Onanie eine gewaltsame Entspannung der sexuellen Kraft herbeigeführt. Von da an vermag der junge Mensch die natürliche, periodisch ihn überkommende Entspannung nicht mehr abzuwarten. Eigene leidenschaftliche Wunschbilder oder fremde Verführung übersteigern seinen Rhythmus, beschleunigen sein Entwicklungstempo oft so übermäßig, daß der Knabe nach wenigen Monaten einem »Erwachsenen« nach Wort und Gebärde ähnlich sieht. Dabei wird sein Blutkreislauf gewaltig gesteigert und seine Haut bleich. Bei schwächlichen Knaben wird dieses übersteigerte Tempo durch ihren schleppenden Gang, ihre müde Haltung und ihre verhetzten Augen sehr sichtbar. Starken Knaben wird man äußerlich nicht so viel ansehen. Sie halten es aus. Aber die Schwächung der Kräfte ist überhaupt gar nicht die schädlichste Folge der Onanie. Sie wäre wohl auszugleichen. Der entscheidende Schaden liegt in der Beschleunigung des Rhythmus der geschlechtlichen Kraftwiederkehr. Ein natürlicher Ablauf wird durch eine willkürlich herbeigeführte Ersatzhandlung zunichte gemacht. Dies ist entscheidend und prägt der ganzen heutigen Kultur den Stempel auf. Was rhythmisch hätte von selbst geschehen müssen, gerät unter die Knechtschaft des Willens. Schwer ist die Befreiung aus dieser Knechtschaft. Der Erzieher, der den Knaben das Häßliche und Entstellende dieser Samenverluste wissen läßt, ihm »ins Gewissen« redet, hat damit wenig getan, selbst wenn er so viel Macht auf den Knaben ausübt, daß er die Onaniegelüste von da an unterdrückt. Denn er hat damit auch nur wieder Willenskraft und zwar von allerstärkstem Grad in dem Knaben wachgerufen, damit er aus Furcht vor den schädlichen Folgen, aus Furcht vor ihm, von jener anderen Willkürhandlung abläßt. Willkür wird durch Willkür vertrieben. Niemals kann das die Wiederkehr des natürlichen Eigenrhythmus bewirken. Aus dem übermäßig beschleunigten Rhythmus der Kraftwiederkehr wird von da an ein übermäßig stockender Rhythmus. Schließlich machen Angstträume den Schlaf untief und ungewollte Samenergießungen quälen den Knaben öfter und öfter.

Hier gibt es nur eine Hilfe, das Einlenken in den eigenen Rhythmus. Nicht angestachelte Willenskraft kann hier helfen, sondern allein die vertrauende Hingabe an den rhythmischen Lauf der Natur in dem eigenen Körper.

Der Knabe fühlt in dieser Zeit nur, daß eine Kraft in ihm hoch kommt, eine Kraft, die zur Vergießung ihrer selbst drängt. Das Wissen von dieser neuen Möglichkeit zu verströmen muß all sein Denken und Sein durchdringen.[82] Dies ist das eine. Ein anderes schwächeres Gefühl ist aber mit dem ersten verschwistert. Kurz bevor die steigende Kraft in ihm zu ihrem höchsten Gipfel kommt, spürt er: ein Behälter bin ich, ein Gefäß, in dem die Säfte steigen und … fallen. Und dieses schwächere, aber umfassendere Gefühl, daß die Kraftwelle auch wieder fallen muß, ist die natürliche Ursache für jede geschlechtliche Hemmung. Mit der steigenden Kraft wächst auch schon, was sie hemmen wird. Nicht Willensanspannung darf der Führer hervorrufen. Dies innere Wissen vom Steigen und Fallen der Kraftwelle muß er vielmehr hüten und pflegen. Hier ist er wahrhaft Erzieher, der sein eigenes Wissen helfend in immer wieder neuen Formen darbieten kann. Locken, reizen, ja zwingen muß er den Knaben, dieses Wissen in sich groß zu machen. Denn in diesem hemmenden Gefühl ist zugleich das Geheimnis seiner künftigen geschlechtlichen Steigerung verborgen. Die Kraft steigt und fällt. Wenn sie aber wieder steigt, ist sie noch drängender, noch zwingender, noch herrlicher geworden als vorher. Sie fällt aber auch diesmal wieder, um abermals gewaltiger anzusteigen. Die sich immer machtvoller ballenden, immer drängender, flutender, brausender werdenden Kräfte in sich zu fassen, ist nur möglich für den, der hinabzuschwingen vermag in die schöpferische Ruhelage.

Die ältere Erziehung übersah geflissentlich alles, was mit der geschlechtlichen Kräftewiederkehr, überhaupt mit der Geschlechtlichkeit zu tun hat. Man ließ den Knaben mit seiner Kraft allein fertig werden und stärkte durch allerhand Mittel, vor allem durch Ermahnung, Warnung, Strafe einzig und allein die Hemmungen in ihm. Die neue Erziehung fällt in den entgegengesetzten Fehler: der Knabe wird auf die in ihm erwachende Kraft aufmerksam gemacht. Dabei aber werden häufig die hemmenden Gegenkräfte in ihm selbst durch frühzeitige Rationalisierung zerstört. Und dies wirkt eigentlich noch schlimmer als die alte Erziehung. Die edelste und geistigste Steigerung wird durch Geheimhaltung der besonderen Zwecke hervorgelockt. Geheimnis darf nicht verwechselt werden mit absichtlichem Verschweigen und wissentlicher Täuschung, wie es jetzt häufig geschieht. Denn das Geheimnis verhüllt eben nur die naheliegenden Zwecke, um gerade desto stärker die eigentliche Richtung weisen zu können.

Wo zu frühzeitig von den besonderen Zwecken der sexuellen Kräfte, von Fortpflanzung der Art, von Zuchtwahl … wo immerfort von Vorbereitung, Reinhaltung und Sparen der Kraft für die kommende Höhe[83] des Lebens gesprochen wird, wird damit die geschlechtliche Kraft allmählich aber sicher ihres Geheimnisses entkleidet. Der so gewaltsam aufklärende Erzieher verletzt damit, was früher Schamgefühl genannt wurde, den Raum der Hemmungen, der um den Knaben gebreitet ist und unbetretbar für ihn sein sollte. Was haben denn auch die tatsächlichen Zwecke der geschlechtlichen Kraft, ihre Folgen, überhaupt ihre beschreibende Naturgeschichte mit dieser Kraft selbst zu tun? Alle ausmalenden Bilder, ganz gleich, ob sie die Herrlichkeiten oder die dahinterlauernden Gefahren der geschlechtlichen Zukunft darstellen, arbeiten nur darauf hin, die lebendige Wucht dieser Kraft selbst zu zerstören. Zu früh ins Gebiet der gesonderten Vorstellungen, ins »Wirkliche« der »Tatsachen« führen, heißt, lebendiges Wasser, ehe es stromstark geworden ist, in gegrabene Kanäle ableiten. Die gestaltlose, dunkle, schaffende Kraft, die nur erst als steigende und fallende Bewegung in dem jungen Körper spürbar wird, ist allein die Wahrheit; und diesen wuchtenden, ganz ungegliederten Wahrheitsblock muß der Erzieher mit seinem führenden Wesen bejahen, mit allen stürmischen Pulsschlägen seines eigenen Herzens bekräftigen.

An die Schwere dieser ungestalten Wahrheit reicht nur Traum und Mythos. Vielleicht erzählt ihm der Knabe selbst das Bruchstück irgendeines Traumes, in dem nicht mehr wie früher von lauter bunten Einzeldingen die Rede ist, wie sie gestern und vorgestern wirklich geschehen sind, aus denen vielmehr zusammenfassende Bewegung spricht. Vielleicht erzählt er: Wasser, ein Strom war ich, Schalen, Mulden, Felsentrichter waren da, in die es hineinsprudelte. Und immer mehr Wasser war da, und herabstürzend füllte es alles aus, brach alles weg, immer schneller ging es und in großer Masse fiel es besinnungslos herab. Wenn der Knabe in den durch den monatlichen Rhythmus vorbestimmten Nächten solche aus dem Tiefschlaf hervorbrechenden Bilder von bewegter Kraft träumt, bringt er aus seiner schöpferischen Ruhelage einen völlig entspannten Körper in den Morgen mit. Der Knabe hat dann selbst den rechten Weg zur Entspannung seiner Kräfte gefunden, eintauchend in die Ruhe seines Selbst. Der Führer kann ihm in dieser Zeit nur dadurch helfen, daß er ihm Räume eröffnet, die ebenso weit und tief sind, wie dieses erste Erleben seiner geschlechtlichen Kraft in ihm. Er wird ihn das Gebirge mit seinen aufgesteilten Massen, die Ebene in ihrer dahinfließenden Fülle sehen lassen. Aus der beliebigen Gegend, die man[84] seit jeher kennt, wo man rennen und klettern und spielen und Pilze sammeln konnte, wächst plötzlich der Raum und seine Füllung mit Gestalt. Weil der Knabe selbst voll steigender und fallender Bewegung ist und seinen Körper als das umschließende Gefäß dafür empfindet, wird ihn die fließende, strömende, steigende, fallende, in sich zur Ruhe kommende Bewegung der Natur in seinem eigenen Inneren erregen und ihn ebenso vielgestaltig, ebenso weiträumig werden lassen.

Hier ist auch der Grund, weswegen ihn zur Zeit der Reife seine eigene aufquellende Freude naturgemäß zur eigenen Gestaltgebung in Tanz und Ton und Wort und Bild drängt. Räume werden da geöffnet, und die steigende Kraft kann sie mit Gestalt füllen. Davon war schon im einzelnen die Rede.

Hier ist auch der Grund, weswegen gerade zur Reifezeit dieselbe Freude naturgemäß die Frage nach dem Wesen dieser Kräfte draußen und drinnen hervorruft und also zur »Wissenschaft« drängt. Davon wird noch die Rede sein. Alles Schauen, alles gestaltende Tun, alles drängende Wissen ist in diesen Jahren nichts als die hemmende Schicht, die das vorzeitige Ergießen verhindert und zugleich die Steigerung bewirkt.

Wie eine immer wachsende Wärme bleibt nun die steigende und fallende Kraft in dem Menschen drin. Die Kräfte können sich vielleicht jahrelang in sich selbst ausgleichen und so immer höher ansteigende Lebenswärme erzeugen. Hier ist das Geheimnis, warum knabenhafte Schönheit und Geschlossenheit unmittelbar und ungewollt Liebe entzündet. Knabenhaftigkeit ist rhythmisches Steigen und Fallen in sich selbst bei ständiger Steigerung. Selten und kurz ist das Wunder knabenhafter Vollendung und dann von weltbewegender Wirkung. Die griechische Kunst in ihrer herben Zeit, die Kunst des Donatello, des Memling, die Rede des Meisters Ekkehard ist von solcher verhaltenen Wärme strahlend. Hier ist dem Wunder, das nur an dem Knaben erscheint, Ausdruck gegeben. Auch heute vermag die innere Glut knabenhafter Verhaltenheit wieder die große Kunst zum Ausbruch reiner Gestalt zu bewegen. Maximin hat die Kunst Georges in fließende Bewegung gebracht.

Was ist knabenhafte Verhaltenheit? Es ist Inbrunst, Verharren in der schöpferischen Ruhelage zur Zeit der geschlechtlichen Reife. Wie immer das Gleiche: hier wird nichts getan, aber Entscheidendes geschieht. Dieser Zustand innerer Glut, der den Menschen nur für die kurze Zeit der Knabenjahre erfüllt und Wärme für das ganze Leben bereiten soll, wird nun in[85] der schlimmsten Weise mißbraucht. Auch von den jungen Menschen selbst. Davon war schon die Rede. Mißbraucht vor allem aber durch die erwachsenen Menschen, die mit dem Knaben zusammen sind. Eltern, Lehrer, Erzieher, alle zehren sie von diesem kostbaren Gut, als gehörte es ihnen. Meist wissen sie es nicht, aber sie zerren den jungen Körper, wo er ganz schmiegsam und biegsam und hilflos ist, nämlich an seiner geschlechtlichen Verhaltenheit. Sie verlangen von ihm eine zugemessene Arbeit, reizen seinen Ehrgeiz und loben und tadeln und schmeicheln willkürlich an ihm herum. Sie verlangen, daß der Knabe alles ihnen »zuliebe« tut. Warum? Sie wollen sich daran wärmen. So werden sie zu Verführern wider Willen und bringen es endlich dahin, daß der Knabe seine geschlechtliche Inbrunst viel zu früh in körperliche oder geistige Arbeit umsetzt, an der sie ihre »Erfolge« sehen können, an der sie sich freuen, an der sie sich wärmen. Hier wird auch der wissende Erzieher leicht Verführer. Denn auch er wärmt sich machtsüchtig, wenn auch meist nicht so prahlerisch und eitel an der inneren Glut, die von den Knaben ausgeht. Gar zu gern läßt auch er sich etwas »zuliebe« tun. Ja, er lockt zu sich heran und bringt Liebe frühzeitig zum Ausbruch. Unter den verschiedensten Formen kann sich das verbergen und sehr harmlos und sachlich, ja sogar geistig aussehen. Dieses Schüren der inneren Glut ist und bleibt aber doch immer ein eigenmächtiges und meist gefallsüchtiges Stören des fremden Lebens, ehe es Zeit war.

Der Führer zum wahren Leben wird hier immer nur auf das eine sehen, wie er die geschlechtliche Inbrunst in dem Knaben hüten kann, so daß sie ganz und gar in ihm bleibt. Nur wenn er selbst ihm stets herb und verhalten gegenübersteht, kann das gelingen. Er braucht darum seine eigene Lust an den jungen Menschen nicht etwa zu verbergen und zu unterdrücken, nur hinabschwingen, untertauchen lassen muß er diese Lust in die inbrünstige Tiefe seiner eigenen Liebe, bis sie sich nicht mehr laut und zügellos gebärdet, sondern ganz still und mild von innen her strahlend geworden ist.

Aus der Tiefe seiner wohl behüteten geschlechtlichen Inbrunstzeit wird der Knabe nun die Kraft zu seiner ersten geschlechtlichen Leidenschaft aufbringen. Und diese Leidenschaft ist eine Opferung seiner knabenhaften Verhaltenheit. Geschlechtliche Hingabe bringt Schmerz, bringt das Ende des in sich selbst beschlossenen Lebens, bringt in jedem Fall das erste Vertrautwerden mit dem Tode. Die in dem Gefäß des Körpers bereitete Wärme, diese an den Rand gestiegene Kraft wird auf einmal dem geliebten[86] Menschen hingegeben. Weiter kann hier nichts gesagt werden. Geschlechtliche Hingabe entzieht sich jeder allgemeinen Behandlung durch Worte und bleibt die eigenste Angelegenheit des Menschen. Der Führer kann da nichts tun, als den Vertrauten in seine Mannheit entlassen. In der Gewißheit, daß dem Menschen, der in sich selbst zu schwingen gelernt hat, nichts Gesetzloses mehr geschehen kann.

Wenn der Mensch so aus der verhaltenen Glut der Knabenjahre in die gespannte Kraft seines Mannestumes eingegangen ist, braucht es für ihn in seiner eigenen Geschlechtlichkeit keine Hemmung mehr zu geben. Er ist von sich aus frei. Wohl aber bleibt die Hemmung bestehen, welche durch die Ferne des geliebten Menschen auferlegt wird: Ehrfürchtige Haltung vor der geschlechtlichen Ferne der Frau. Das Mädchen geht ja einen ganz anderen Weg der Geschlechtlichkeit. Unumstößlich sicher ist das geschlechtliche Leben der Frau um die Inbrunstzeiten, die Zeiten der ruhenden Liebe, um die Zeiten der schöpferischen Pause gruppiert und aufgebaut. Die erste Blutung, die an einem Tage ganz unerwartet das Mädchen in die ruhende Lage zwingt, sieht für die Entwicklung der weiblichen Geschlechtlichkeit an derselben Stelle, wie der erste nächtliche Kräfteüberschuß des Knaben. Aus diesen höchst verschiedenen Anfängen ist die ganze Verschiedenartigkeit des geschlechtlichen Lebens erkennbar. Periodischer Kräftewiederkehr des Knaben entspricht eine monatliche Schwächewiederkehr des Mädchens. Das spannt eine unüberbrückbar scheinende Ferne zwischen die Geschlechter. Die leidenschaftlichen Höhepunkte bilden beim Mann die Periode, die inbrünstigen Tiefpunkte bei der Frau. Wahre Liebe muß nun das Wunder vollbringen, diese gewissermaßen im weitesten Abstand voreinander hergleitenden Rhythmen dennoch zusammenklingen zu lassen.

Zunächst muß noch einmal von hier aus Rückwärtiges beleuchtet werden. Wenn der Erzieher in dem Knaben gegenüber der leidenschaftlichen Gier sich zu vergessen jenes zweite von Natur aus schwächere Gefühl: Gefäß zu sein für seine eigenen immer wachsenden Kräfte, ausspielt und stark macht (und gerade dies ist ja Sache der Erziehung), stärkt er damit die weiblich gerichteten Kräfte des Knaben. Inbrunst schwingt stets nach der weiblichen Seite hin. Und so kann es kommen, daß der Knabe in dem meist so kurz dauernden Zustand seiner vollendeten Knabenhaftigkeit in sich selbst den Ausgleich zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit vollbringt und darstellt. Er ist das inbrünstige Gefäß für seine eigene leidenschaftlich schwellende Kraft. Erklärt ist daraus, daß die Knaben sich zu dieser Zeit gerade[87] von Mädchen abgestoßen fühlen. Sie brauchen sie nicht, weil sie ja genug von weiblicher Kraft in sich haben. Kurz ist dieser Zustand meist und hört auf in dem Augenblick, wo sich seine Leidenschaft nach außen wendet, wo ihn das ferne Sein weiblicher Geschlechtlichkeit zum Ausbruch aus sich selbst lockt. Das Mädchen in der Zeit seiner Reife stellt ebenso wie der Knabe eine in sich geschlossene Einheit dar, die eine Zeitlang gar keine Berührung von außen her verträgt. Scheue, herb abweisende Bewegungen kommen zu dieser Zeit in die Gebärdensprache des Mädchens. Noch hilfloser als der Knabe ist das Mädchen in seiner Unnahbarkeit und meist noch weniger in ihrem Zustand geachtet. Die Mutter hat in den meisten Fällen ihr eigenes schweres Leben die Not ihrer Jugend vergessen lassen, so daß sie verständnislos bleibt. Statt Raum um das Kind zu breiten, jagt sie es gerade zu den anderen Menschen hin. Man führt das junge Mädchen in die Geselligkeit ein. Auch hier sonnen sich die Erwachsenen, die Mütter an den Erfolgen ihrer Kinder, sind stolz auf die Liebe, die durch die mädchenhaft verhaltene Schönheit erregt wird und wärmen an dieser Glut Erinnerungsträume aus ihrer eigenen Jugend auf. Und dabei wird an den Mädchen gezerrt und geschüttelt, geschmeichelt und verbogen, was nie wieder gut zu machen ist. Wenige wehren sich dagegen und flüchten sich hinter den Schutzwall der in ihnen liegenden männlichen Teilkräfte. Sie werden dann meist spröde und unbeugsam. Die meisten geben es aber von da an auf, einsam zu sein. Sie werden gefallsüchtig, lüstern und sehen ihren Lebenszweck darin, andere Menschen anzulocken, je älter sie werden desto absichtlicher und immer mehr mit der Entfaltung aller Willenskräfte. Hier geschieht also dasselbe wie beim Knaben, die Verwirrung des eigenen geschlechtlichen Rhythmus durch viel zu frühe Willensentfaltung, und gerade dies ist das entscheidend Verderbliche. Darin liegt ja auch der Grund, weswegen sie auch später über die von der Natur gesetzten Inbrunstzeiten der monatlichen Reinigung hinwegjagen. Sie müßten einsam sein können und ganz in sich selbst beruhen in dieser Zeit, und gerade das haben sie nicht gelernt oder längst verlernt. Bei allen Naturvölkern ist es Gesetz, daß die Frau zur Zeit ihrer monatlichen Blutung von keinem Manne berührt werden darf, ja nicht einmal in die Nähe eines Mannes kommen darf. Sie ist unrein, sie geht in die Einsamkeit – wie auch die Knaben zur Zeit ihrer Reife in die Wälder geschickt werden. Dagegen ist in der europäischen Welt der Zustand schließlich so geworden, daß die Frauen durch allerlei Künste und Mittel[88] voreinander und vor allem vor den Männern dieses »Unwohlsein«, wie sie es nennen, zu verbergen wissen. So ist der Eigenrhythmus der weiblichen Geschlechtlichkeit gerade an der Stelle fast vollkommen zerstört, wo das Naturgesetz am offensichtlichsten zutage treten sollte.

Die überwiegende Mehrzahl von Männern sucht nach einer ganz kurzen und meist jäh gebrochenen Knabenzeit sogleich seine leidenschaftliche Erfüllung in dem anderen Geschlecht. Die Schranke der Ehrfurcht vor der Fremdheit der Frau hält also nicht mehr stand. Sie ist beim ersten Ansturm gleich zerbrochen. Hemmungslos prasselt das nächste in das fernste, verzischt und verbrennt. Der Frau wird Gewalt angetan. Sie wird aus der inbrunstgerichteten Zeit willkürlich herausgerissen, hinaufgerissen auf leidenschaftliche Höhe, meist ehe es von Natur so weit gekommen ist. Seit Jahrtausenden ist das so. Hier gilt es, mit aller Kraft den Wall der geschlechtlichen Hemmungen aufzurichten, das Wissen von der Ferne weiblicher Geschlechtlichkeit, von der Unnahbarkeit der Frau groß zu machen.

Nicht alle Männer brechen so frühzeitig und unhaltbar aus ihrer Knabenzeit heraus. Gerade im Gegensatz dazu kann es geschehen, daß sie schwer oder gar nicht daraus herauskommen. Sie vergessen es gewissermaßen, aus der inbrunsttiefen Zeit ihrer schöpferischen Pause aufzutauchen. Sie erstarren in ihrer knabenhaften Vollendung. Sie fürchten sich davor, wieder in Stücke zu gehen und den verlorenen Teil suchen zu gehen. So werden sie ängstlich in ihrer selbstgenügsamen Vollendung. Mit ihrer wollenden Regung halten sie an ihrer Reinheit fest. Immer bleiben sie Gefäß für ihre steigende und fallende Kraft, aber langsam wird es ihnen überhaupt unmöglich, über ihren eigenen Rand überzufließen. Zwischen dem zu frühen Ausbrechen aus dem Knabentum und dem zu langen Verharren darin geht der Weg, den der Erzieher nur führen kann, wenn er Knaben und Mädchen zugleich erzieht. Er braucht dann nur die verschiedene Geschlechtlichkeit verschieden zu betonen, einfach durch die verschiedene Art und Weise, wie er sich zu jedem Einzelnen stellt. Und das wird beispielhaften Einfluß haben. Die Knaben wird er in ihrer Männlichkeit lächelnd, schweigend, unmittelbar aus seiner eigenen Männlichkeit heraus anerkennen. Dem Frauentum der Mädchen wird er in jeder Gebärde selbst ehrfürchtig und scheu gegenüberstehen. Seiner selbst ganz sicher und doch zugleich ganz und gar liebeweit offene Frage, was da so fern von ihm und doch ihm zugewandt geschieht. So werden die[89] Knaben es dann auch machen. Sie werden die Scheu vor dem Weiblichen von vornherein lernen. Ritterlichkeit nannte es eine vergangene Zeit. Diese scheue Zugewandtheit zu dem anderen Geschlecht wird jedes voreilige Zueinanderprasseln hemmen. Nicht nur die wilde verfrühte Leidenschaftlichkeit, auch die heute aufgekommene ersatzhafte Neigung zu allen möglichen Formen burschikoser Kameradschaftlichkeit wird dadurch ausgeschlossen werden. Die Ferne des anderen Geschlechtes wird weder rücksichtslos ausgelöscht, noch auch phrasenhaft vertuscht werden, sondern wird ruhig und klar in ihrer ganzen Weite anerkannt werden. Damit wird der Bogen des Trotzdem immer mehr an Spannkraft gewinnen. Die Ferne des anderen Geschlechtes wird nun immer heißer begehrt werden. Aus der knabenhaften Selbstgenügsamkeit und Ausgeglichenheit heraus wird sich die bewußt einseitige Männlichkeit ausprägen und immer steigern. Und aus der mädchenhaften Sprödigkeit und Herbheit wird Frauentum ausreifen. Diese gegeneinander sich immer deutlicher ausprägende geschlechtliche Reife wird das Gefäß ausgeglichener Selbstgenügsamkeit von Knaben- und Mädchentum an einem Tage in gemeinsam aufspringender Leidenschaft sprengen. Aufhebung aller eigensüchtigen, eigengewichtigen Schwere, Tod des Selbst wird sein.

Hier liegt die Gefahr, weil sich die zwei Menschen dem Gesetz der wieder abschwingenden Kräfte meist nicht völlig fügen. Besonders der Mann wird meist die Leidenschaft übersteigern. Mit Willen festgehaltene geschlechtliche Leidenschaft scheidet aber sofort stärkstes Gift aus, das die bindende Liebe augenblicks zerfressen kann. Hier muß die Frau wissen, daß sie führend ist, führend sein muß. Die Frau allein vermag aus der Tiefe ihrer geschlechtlichen Eigenart den Abschwung der Bewegung einzuleiten. Der geschlechtlichen Art des Mannes entspricht es ja von Natur eigentlich nicht zu hemmen, da gerade die leidenschaftlichen Höhepunkte bei ihm Periode bilden müssen. Solange die Frau an dieser führenden Stelle versagt, verführt sie also zu immer neuen, immer sich steigernden Zügellosigkeiten oder aber sie zwingt dem Mann gegen seine eigene geschlechtliche Natur hier doch die Zügel in die Hand, daß er sich besinnt in Augenblicken, wo es gerade seiner Natur gemäß wäre, besinnungslos zu sein. Nur die Frau, die gelernt hat, in ihre schöpferische Ruhelage hinabzugelangen, vermag hier Führerin zu sein.


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Die tägliche Erneuerung der Liebe

Alle die großen Schwingungen, der ganze Bogen des Liebeslebens, das Schwingen der Lebensalter, schließlich die sexuelle Periode der Liebe reichen noch nicht heran an das, was Liebe eigentlich ist, an das tägliche Auf und Ab von Leidenschaft und Inbrunst. Nur jene ganz kleinteiligen Schwingungen lassen mit Sicherheit spüren: hier in diesem Augenblick ist – war – inbrünstige oder leidenschaftliche Regung. In einem gefüllten Leben wechselt Einsamkeit mit Liebesregung in einem ständig zuckenden Wechselstrom des täglichen Lebens. Wo einer im täglichen Leben spürt, daß alle seine einsamen Stunden leer und trostlos geworden sind, gibt es für ihn nur eins: sich ungehemmt der inbrünstigen Liebesregung zu überlassen. Er ist dann geladen mit seiner Einsamkeit und stark Liebe zu geben. Nichts ist sinnloser, als in solchem Augenblicke sich selbst zu zwingen, an seinem Werk, an seiner Ruhe festhalten zu wollen. Nur in der Hingabe besteht dann das Heil. Aber umgekehrt gibt es nach jedem höchsten Augenblick gesteigerter Liebesregung nur eins: sich fallen lassen in die Einsamkeit seines Selbst. Einsamkeit ist die schöpferische Pause für die Liebe, und Liebe ist die schöpferische Pause für die Einsamkeit. Es sind die Pole, zwischen denen alle täglichen Regungen hin und her fluten. Wo dieser Wechselstrom nicht strömt, wird das tägliche Leben sinnlos und quälend. Unmittelbar nahe an der Wirklichkeit pulst für jeden Menschen dieser Wechselstrom.

Zunächst ist jeder hier mehr oder weniger unterworfen dem Gesetz des Sonnentages. Es gibt Zeiten des Tages, die liebegerichtet sind und Zeiten, die das Selbst zur Einsamkeit drängen. Von den schaffenden, den aufbauenden Zeiten des Tages wurde schon gesprochen. Jetzt muß noch einmal davon gesprochen werden. Denn es sind zugleich die Zeiten schöpferischer Pause, in denen die Liebe stark wird, ohne noch sichtbar zu werden. In den Stunden einsamer Morgenarbeit (Arbeit ist immer einsam, auch wenn sie mit anderen zusammengetan wird) ballt sich hauptsächlich die Liebeskraft für den ganzen Tag zusammen. Am frühen Morgen ist es das Bestreben des Menschen, mit sich allein zu sein, wenn auch nur eine kurze Zeit. Menschen, die lange schlafen, werden dieses Alleinsein weniger nötig brauchen, weil sie der Morgenschlaf genügend isoliert und in die Tiefe ihres Selbst geführt hat. Später am Vormittag kann sich jeder sehr viel leichter und sicherer zu dem anderen Menschen finden.[91] Er sieht ihn, hört ihn, spürt ihn um sich. Er tut mit ihm gemeinschaftlich, was gerade not ist. Und er kommt ihm nahe. Am Nachmittag wechselt der Strom öfter, der Nachmittag hat nach einer kurzen Zeit der Ruhe im allgemeinen liebegerichtetes Vorzeichen, und erst am späten Nachmittag, wenn die schöpferische Kraft wieder langsam und zäh die Oberhand gewinnt, wird das Verlangen zur Absonderung wieder stark werden. Doch hat der Wechselstrom am Nachmittag nicht mehr die Stoßkraft wie am Morgen. Die Sonne verliert an Kraft und in demselben Maße gewinnt der Mensch gewissermaßen Übergewicht über die tragenden Kräfte des Sonnentages und so vermag er hier schon sehr viel leichter den Wechselstrom nach seinem Willen zu lenken. So ist es begreiflich, daß im gesamten Volksleben nachmittags Arbeit und Geselligkeit viel mehr durcheinander geht als am Vormittag. Am Abend und in der Nacht wird dieses Übergewicht des Menschentages über den Sonnentag noch größer. Die Abende werden liebesbetont sein können oder auch werktätig je nach der Eigengesetzlichkeit des einzelnen Menschenlebens. Erst in der zweiten Hälfte der Nacht kommt »Es« wieder über den Menschen und läßt einsame Arbeit erschlaffen oder die Liebesregung einschlafen. Tiefschlaf kommt und bereitet die neue Morgeneinsamkeit vor.

Mit diesem Gesetz von Liebesnähe und Liebesferne innerhalb des Sonnentages ist nur das allgemeine Schema zu geben. Der Führende wird ganz sacht und sicher dafür sorgen müssen, daß die Morgeneinsamkeit und die nachmittägliche Ruhe und die Zeit des Tiefschlafes, diese drei großen Perioden der täglichen Liebesferne im allgemeinen innegehalten werden. Das Bild der ganzen Tageseinteilung wird so im Großen stets nach diesem umfassenden Gesetz geprägt sein müssen. Für jeden einzelnen Menschen bleibt trotzdem das Wechselstromnetz von Liebesnähe und -ferne unberechenbar und andersartig an jedem neuen Tage. Denn jeder wandelt eben das Gesetz in seiner Weise ab. Es wird Tage geben, in denen die Liebe ganz und gar überflutend den Tag in seiner Richtung ganz allein bestimmt und es gibt Tage, die allein zur schöpferischen Arbeit oder zur Versenkung in sich selbst bestimmt sind. Doch kann der Rhythmus des Wechselstromes auch sehr viel zuckender gehen und vielmals am Tage von einem Pol zum anderen überspringen. Das läßt sich weder vorher sagen noch willkürlich beeinflussen. Wie die Pulsschläge des Herzens jagen oder langsam werden, unberechenbar, unbeeinflußbar durch Willen, so ist es auch mit dem Wechselstrom von Liebesnähe und[92] -ferne in dieser seiner kleinteiligsten Rhythmik. Wer hier seiner selbst sicher geworden ist, braucht keine Furcht mehr zu haben, daß die Liebesferne einsamer Stunden die Liebe selbst schädigen könnte. Nein, im Gegenteil, gerade diese Zeiten sind ja Zeiten der Werbung. Wer in der Frühe die Vögel hat singen hören, weiß es: Jeder Vogel ist ganz in sich selbst, in seiner schwingenden Stimme, und doch dient dieses alles gerade zur Lockung des anderen, es bedeutet nichts als Liebeswerbung. So ist es. Wo der andere Mensch am fernsten ist und ganz in sich selbst zurückgezogen, wirbt er, lockt er ungewollt und unbewußt am meisten, weil eben ganz aus sich selbst.

Der Führende muß hier also vor allen Dingen die Furcht voreinander entkräften, so daß jeder seiner Anvertrauten sich dem Wechselstrom gern und willig überläßt. Falsche Liebe wird nicht mehr sein, kann nicht mehr sein, wenn der junge Mensch täglich immer wieder ohne Scheu für längere oder kürzere Zeit zu sich selbst kommt, wie sein Lebensgesetz es verlangt. Die meisten Kinder geraten in ihrem täglichen Rhythmus schon früh durcheinander. Entweder werden sie lieblos behandelt und die Zeit, in der sie sich mit sich selbst beschäftigen müssen, wird über Gebühr lang. So ist es vor allen Dingen in den unbemittelten Schichten häufig genug. Sie leiden dann an Liebesleere. Ihr ganzes Leben bleibt unerfüllt von Liebe. Und später versuchen sie dann, die Liebe herbeizuzwingen oder sperren sich trotzig gegen jede Liebesregung ab. Die Anderen aber, die Kinder reicher und unbeschäftigter Eltern werden von den Erwachsenen gezwungen, auch in ihren einsamen Stunden immer wieder Liebe an ihre Umgebung abzugeben. Man beschäftigt sich dauernd mit ihnen. So werden sie zuletzt hungrig nach sich selbst und schlaff und arm an Liebeswillen. Der Führer zum Leben muß nun die Stunden des Tages wägen und niemals zulassen, daß das lebendige Wechselströmen von einem Pol zum anderen aufhört. Auch muß er darauf achten, daß die Umschaltung von Liebesnähe und -ferne beliebig schnell geschehen kann. Dieses erfordert viel Übung. Was ehedem als Erziehung zur Demut und Selbsthingabe, gesellschaftlich gesprochen, als Erziehung zur Höflichkeit gelehrt wurde, hat den Übungswert, solche schnelle Umschaltung gründlich zu lernen. Ein höflicher Mensch hat es infolge seiner Übung erreicht, sich schnell aus der Selbstruhe oder aus irgendeiner Arbeit loszumachen, um für den Anderen da zu sein. Nur ist die Höflichkeit zu einer ein- für allemal gültigen Formel erstarrt. Und damit wird ja gerade die lebendige Hingabe aus[93] immer wieder neuem Antriebe erstickt. Die Lust am Gekonntem, am Erlernten ist da zu groß geworden. Hier bleibt die tägliche Aufgabe des Führenden, den täglichen Verkehrston der miteinander lebenden und arbeitenden Genossen stets von neuem auf eine ins Lebendige aufgelöste Höflichkeit abzustimmen. Nur wenn er selbst vermag, leicht hinüberzuschwingen aus dem liebesfernen in den liebesnahen Zustand, wird sein Beispiel stark genug wirken. Er versagt in dem Augenblick, wo er zu schwerfällig in seinem Selbst bleibt und zu langsam in seiner Bereitschaft.

Hier wird das Geheimnis des Miteinanderlebens im Tiefsten berührt. Zwischen diesem Wechselstrom werden täglich alle Regungen der Menschen hin und her getrieben und erscheinen in einem Augenblick als selbsteigenes Werk und im nächsten Augenblick schon als Liebestat. Das Fernste wird zum Nächsten und Unterschiede sind nicht mehr. Öfter noch als der Atem, mehrmals in einer Atemsekunde vermag der Mensch durch eine leichte Umstellung des Wechselstromes zu dem Grunde hinabzutauchen, wo es keine Unterschiede mehr gibt zwischen ich und du. Alles Vorhergesagte wird erst an dieser tiefsten Stelle unmittelbar greifbar. Liebe ist ja nur in einem einzigen verfliegenden Augenblick spürbar. In einem solchen Augenblick prallen die Lebensalter aufeinander. Das menschliche Jahr spitzt sich in seiner Liebesgerichtetheit vielleicht auf einen einzigen solchen Augenblick zu. Die geschlechtliche Liebe bäumt sich im Augenblick auf. An jedem Tage kann es unzählige Male zu solchem polaren Zusammenströmen und Auseinanderströmen kommen. Zwischen inbrünstiger Gespanntheit und leidenschaftlicher Opferung des Selbst ist das Wechselstromnetz der liebesnahen und liebesfernen Augenblicke über alle Tage, Monate, Jahre und Lebensalter des Menschen ausgespannt. Und immer ist der Augenblick der Umschaltung, der als das Opfer der stets von neuem erzeugten Wärme von dem einen verlangt, von dem andern geschenkt wird, der schöpferische Augenblick. Dies Innehalten ist zeitlich nicht mehr merkbar, so kurz ist es. Es ist die schöpferische Pause in ihrer flüchtigsten Form, der Blutwelle vergleichbar und wohl auch mit dem flutenden Blut ein und dasselbe.


Erziehung zum wissenden Leben

Das Wissen ist ein Abbau des Eigenlebens in die Welt hinein. Es gilt Brücken zu schlagen zwischen all den fremden Dingen ringsum und vor allem von sich selbst zu diesen umgebenden Dingen. Nur wo dieses[94] Suchen der Zusammenhänge in dem Drang geschieht, sich selbst abzubauen, sich liebend hinzugeben, wird die Kenntnis der Dinge zur wahren Wissenschaft.

Alles andere, was unter dem Namen Wissenschaft heute erscheint, ist die Überlieferung technischer Fähigkeiten aus einem Wissen heraus, das der Mensch allmählich erlernt hat. Jede dieser Fähigkeiten erfordert ein bestimmtes Fachwissen, das man auch außerhalb jedes Zusammenhangs sich aneignen und üben kann, um dann damit zu arbeiten. All diese sogenannten Wissenschaften, am offensichtlichsten die medizinischen und juristischen Wissenschaften, aber auch alle angewandten Naturwissenschaften und die übrigen Wissenschaften, so wie sie heute meistens betrieben werden, sind eigentlich solche Fertigkeiten aus Wissenschaft. Wenn diese Tätigkeiten recht betrieben werden, sind es Auswirkungen des Menschen selbst, der sie betreibt, Früchte, die abfallen von seinem Leben. Durch Schaffung günstiger Bedingungen kann der einzelne Mensch sich so entwickeln, daß er zur Ausübung dieser Fertigkeiten geeigneter wird als andere. So wie auch der Künstler sich einer bestimmten Kunst zuwendet und in ihr sein Werk schafft. In gleichem Sinne könnte der Künstler von seiner Kunst als von seiner »Wissenschaft« sprechen, denn er schafft ja auch nicht allein aus sich heraus, sondern eignet sich zuvor und dann immer wieder die Fähigkeiten der gesamten Vergangenheit an. Bei den meisten der kleinen Künstler ist das vielleicht nicht so ohne weiteres sichtbar. Aber schaut man zu den großen, so wird es klar. Leonardo hat den tiefen Ernst wissenschaftlicher Methode in jedem seiner Werke enthalten. Auch George besitzt diese herbe Sachlichkeit des wissenden Menschen durch und durch. Und doch sind sie in jeder Linie ihres Lebens Künstler geblieben, d. h. Schaffende aus sich selbst.

Grundsätzlich ebenso müßte es auch in allen jenen wissenschaftlichen Fertigkeiten, in den Fachwissenschaften sein. Dann würden jene groben Verzerrungen fortfallen, die heute das Leben aller fachwissenschaftlich arbeitenden Menschen so unmöglich machen. Als Ärzte, als Richter, als chemische, physikalische, technische Berater der Menschen würden doch diese alle nur sich selbst ausdrücken wollen und können. Mit dem Mut zur freien Künstlerschaft! Nicht mehr gebunden an den Wahn, als könnten sie in den Besitz eines außer ihnen selbst befindlichen Haufens von Wissen gelangen, das allen anderen unzugänglich sei und sie zu Auserwählten erhebe, weil sie nun lebenslänglich daraus schöpfen könnten. Wissen sei Macht, sagt man und wiederholt man überall. So ist es auch; aber es[95] sollte damit sein wie mit dem Namen Gottes, den man nicht unnütz brauchen darf. Unheil ist, wenn Wissen schon von vornherein und allein zum Zweck dieser Machtausübung angeeignet wird. Und so ist es ja fast ausschließlich heut geworden. Um Geld zu erwerben, also um dem Anderen überlegen zu sein in der Lebensstellung, ergreifen die Menschen heut eine Fachwissenschaft als Beruf. Überlegen sein, mehr als die andern sein, das ist der Wunsch und die Sehnsucht, die schon in die Kinder unserer hohen Schulen vom ersten Anfang an eingepflanzt wird. Es ist dieselbe Sehnsucht, die als dunkle Erinnerung an den vorgeburtlichen Zustand den Menschen zur Besitzergreifung des anderen Menschen drängt. Schon die kleinen Schuljungen treiben ihr Lernen ja wie sie ihre Markensammlung betreiben: mehr können, mehr wissen, mehr haben als die andern, das vor allem läßt sie lernen, darin werden sie groß gezogen, um es einst den Erwachsenen dann darin gleich tun zu können. Wissenschaft wird eine möglichst unfehlbare Vorbereitung zum Geldverdienen und zu Erlangung von Macht. Und die wenigen, für die Machtübung in dieser primitiven Form nicht mehr den allgewaltigen Reiz hat, machen ihre Wissenschaft zu ihrem Gott, den sie anbeten, dessen selbst geschaffener Macht sie sich beugen, weil sie das Verlangen haben, sich irgendwem zu beugen. Sie sprechen von der Disziplinierung des Geistes. Fragt man warum, so sagen sie: Eben um des Geistes willen, um der Wissenschaft willen. Sie konstruieren ein Gesetz, daß es notwendig sei, das Wissen, den Geist zu hüten, zu überliefern, zu mehren. Als wäre der Geist, die Wissenschaft ein Für-sich-selbst-bestehendes, dem man Opfer bringen müßte, um dann freilich doch nach langem Dienst ein Auserwählter und Liebling dieses Götzen zu werden und den wohlverdienten Lohn davonzutragen. Also doch zuletzt Entgelt und Lohn!

In Wahrheit kann man doch in lernbaren wissenschaftlichen Fertigkeiten immer nur sich selbst ausdrücken, genau nach Art des Künstlers. Wo überhaupt ein Wissender nach Ausdruck sucht, erweist er sich eben gerade durch diesen Ausdruckswillen als ein Werkschaffender, einer, dessen Kraft gestaltend überquillt und der eben nicht an dem schauenden Wissen genug hat.

Wahre Wissenschaft will aber nicht mehr Ausdruck, sondern Schweigen. Wahres Wissen ist streng genommen unüberlieferbar und stirbt mit dem Menschen, der weiß, unausgedrückt und unausdrückbar durch ein Werk oder eine Lehre, höchstens hier und da erkennbar in dem Gesamtleben[96] dieses wissenden Menschen. Alles was überlieferbar ist, also in die Form des Gekonnten, des Fertigen, des Systems übergegangen, erweist sich damit nicht mehr als Wissen im Sinn eines unbezweifelbaren Gewißseins. Die spielende Lust des Gestaltungstriebes hat es vielmehr aus dem Dunkel der Gewißheit heraufgerissen.

Hiermit ist wieder der entscheidende Punkt erreicht. Wahres Wissen hat seinen Sinn in der schöpferischen Ruhelage, in die der Mensch hinabschwingt.

Unter vielen Namen wurde diese schöpferische Pause immer wieder und wieder erkannt. Mit dem Namen Wissen bekommt sie nunmehr ihren umfassendsten Sinn. Wissen ist allerdings Macht, aber Macht aus der Ruhe. Dieses letzte Wissen ist nicht notwendig an irgendwelche Einzelfähigkeiten gebunden, kann nicht gelernt werden, geübt werden, ist überhaupt willensmäßig nicht zu erreichen, und braucht sich schließlich auch nicht notwendig in Tat umzusetzen. Sondern dem Menschen, dessen Leben nach seinem eigenen Gesetz schwingend geworden ist, können alle Dinge zu gewußten werden, beliebig, sobald er in die Tiefe seines Bewußtseins hinabsteigt. Irrtum, Täuschung, Nichtwissen bedeutet dann nur: nicht tief genug hinabgelangen in die Ruhelage, bedeutet eigenwilliges und freilich oftmals sehr notwendiges Verharren in irgendwelchen oberen Zwischenschichten.

Das Hinabschwingen in die Tiefen des eigenen Blutes, das Eingehen in die Atempausen, das Versinken in Tiefschlaf, das Schweigen und innere Verstummen, aus dem ein Werk aufwächst, die Tiefe der Inbrunst, aus der die Liebe sich fortgesetzt erneuert … es ist immer dieselbe Tiefe der schöpferischen Pause. Diese schöpferische Pause schien bisher unter allen diesen Benennungen gerade im Dunkel des Unbewußten zu sein. Was ist dunkler als Blut, als inbrünstige Liebe! Es schien dies alles als Gnade, als Gottesgabe, als das, was alle Religionen letzten Endes verehren; die dunkle schaffende Kraft hinter aller lichtbewegten Gestaltung. Spüren, ahnen, glauben waren die Worte, die diesen Abgrund des Unbewußten umkreisten.

Doch all dies Unbewußte kann Gewißheit werden. Unsere Worte: Wissen, Bewußtsein, reichen lange nicht mehr weit genug, diesen Zustand des Gewißwerdens zu bezeichnen. Sie sind schwach und geringfügig geworden infolge des verengten und gestrafften Lebens der nördlichen Menschen. Die Menschen haben den Mut zur Gewißheit des[97] Wissens verloren, weil sie allzu lange gezählt und gemessen, zerbohrt und zerteilt und zergliedert, geprüft und gezweifelt haben, wo doch eigentlich alles zu Tage tritt, unzerlegbar und ganz mit der strahlenden Gewißheit des Einmalig-Lebendigen. Das Wissen bekam so etwas Lauerndes. Den Dingen ihre Geheimnisse ablauschen, eindringen in ihre Zusammenhänge, das war das Streben der Menschen, die sich die Wissenden nannten und als Hüter des wissenschaftlichen Gutes galten. Sie wollten überwältigen, sie wollten herrschen über das, was sie mit ihrem Wissen durchschauten. Dies Herrschgelüste war ja der Grund, weswegen das Wissen Marktware wurde, ein Gegenstand, der für Geld zu kaufen ist und Geld einbringt.

Die entscheidende Wendung, auf die ja jetzt alle Einzelnen wie alle Völker so inbrünstig warten, kann erst geschehen, wenn Wissen wieder den umfänglichen Sinn von Weisheit in sich schließen wird. Wissen, Bewußtwerden, Weisheit, ist der Weg, der zu dem wissenden Abbau des eigenen Lebens und also zum bewußten Tode führt.

Hier ist die Aufgabe des Erziehers, das ganze junge Leben durch die Übermittlung des Wissens dem Tod entgegen zu entspannen. Es gilt die jungen Menschen die Fähigkeit zu lehren, daß sie nicht nur aus einem dunklen Drang in ihre schöpferische Ruhelage hinabzuschwingen vermögen, sondern hell und klar wissen, was sie damit tun und zu welchem Ende es führt. Leben lernen war der eine Blick, unter den alle bisherigen Gedankenführungen fielen. Sterben lernen ist der zweite Blick, unter den diese Gedankenführungen fallen. Der Bildung zum Leben steht die Erziehung zum Tode gegenüber. Und dies zweite macht die schwierigere Hälfte der Führungskunst aus.

Zunächst einmal dies zweite gehört untrennbar zum ersten. Wie der Schatten zum Licht, wie das Tal zum Gebirge. Die Erziehung zum Tode darf also niemals aufgespart werden. Sie muß immer zugleich da sein mit der Bildung zum Leben. Alles was bisher gesagt wurde, wäre für sich allein Lüge ohne die nunmehr folgende Ergänzung. Aber auch umgekehrt: der schließende Teil dieser Gedankenfolge hat für sich selbst keinen Sinn, sondern nur im Zusammenhang mit dem Vorhergegangenen. Es ist nicht so, als könnte der junge Mensch zunächst einmal leben lernen gewissermaßen im Treibhaus seiner jugendlichen Kraft und Schönheit. Dieser Fehlgedanke liegt sehr nahe. Die Jugend, die jetzt jung ist, hängt sehr fest im Leben. Mehr noch als sonst eine Jugend. Die großen Sterbezeiten führen da, wo sie zu Ende zu gehen scheinen, diese Erscheinung[98] notwendig mit sich. Wie viele sind sinnlos leicht gestorben, ohne zu wissen, was das Leben wert ist. Nun ist es, als ob das Leben selbst sich empört hätte, als es sein Gut überall leichtsinnig und unerkannt verschüttet sah. Zeit der Stauung kommt. Aufbäumung des Lebens gegen den Tod. Stolze, schöne, eigenwillige Menschen überall, die aber nicht mehr die Beugekraft der Hingabe besitzen, Vereinsamte, die nicht mehr lieben können. Das sind die Übriggebliebenen, Brüder von denen, die so jung und zu leicht und viel zu unwissend gestorben sind.

Das hingebende Wissen, d. h. der wissende Abbau zum Tode ist das, was ihnen allen not tut. Nur das Wissen, das Verbindungen schlägt, das Zusammenhänge schafft, also das Ich des Menschen in die Dinge hinein erweitert und auflöst, hat den großen entspannenden Wert. Was als Wissen in den Schulen übermittelt wird, bewirkt das Gegenteil. Es macht gerade zu Besitzenden, die rund und geschwollen von den Wissensstoffen werden, daß sie ihr eigenes kleines Leben ängstlich festhalten und niemals das große Leben durch sich hindurchfluten lassen. Unter sich zusammenhanglos werden die einzelnen Wissenschaften gelehrt und auch mit den Lernenden nicht in Zusammenhang gebracht. Man rechnet hier ziemlich leichtsinnig auf die Selbsttätigkeit der jungen Menschen, während man sie ja sonst auf allen Gebieten, wo sie wirklich selbsttätig sein können, gängelt. Man beschränkt sich darauf, in den jungen Köpfen Wissen von ganz verschiedener Art und Gestalt zu häufen: Geschichte, Physik, Botanik, fremde Sprachen. Fragt man ein Schulkind, was es eigentlich gelernt hat, so ist die Antwort: in Physik haben wir jetzt gerade das Gay-Lussacsche Gesetz gehabt, in Geschichte haben wir das Zeitalter des Perikles gehabt, in Latein haben wir den accusativ cum infinitiv durchgenommen. Wenn das Kind fleißig ist, kann es das alles auch hersagen.

Hier ist dann eigentlich überhaupt kaum mehr zu den Zusammenhängen durchzudringen. Das Kind würde höchst erstaunt sein, wenn man es durch Fragen dahin lenken würde, die Verbindung zwischen einem physikalischen und einem grammatischen Gesetz etwa von selbst aufzusuchen. Physik ist ihm eben Physik, und Latein ist ihm Latein. Für jedes Fach muß er besonders lernen, mehr oder weniger, je nach seiner Begabung. Aber es ist unmöglich zu verlangen, daß es von selbst dazu kommt, die Wissenszweige als miteinander verbundene menschliche Kulturgüter zu begreifen und also den Punkt zu finden, wo das alles in ihm selbst verwurzelt ist. Und doch kommt es nur darauf an.

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Diese ganze in den Schulen sich so ernsthaft gebärdende Methode, Wissenschaft zu häufen und zuvor erst noch in kleinste Teile zu zerpflücken, züchtet recht eigentlich ein Verharren in kindischem Wesen, einen Zustand, für den das Fachwort Infantilismus sehr zutreffend ist. Die für den Kindergarten und die Spielschule der jüngeren Kinder sehr richtige Methode, spielend Stoff zu häufen, wird ausgerechnet an den Stoffen geübt, die einzig und allein eine spielende Behandlung sehr schwer vertragen, ja ausschließen, an den Wissensstoffen. Alle künstlerische und handwerkliche Tätigkeit kann ohne Schaden für die Sache spielend von dem kleinsten Kind versucht und spielend geübt werden, weil das Wesen dieser Dinge Spiel ist. Aber ein philosophisch oder gelehrt spielendes Kind wirkt widersinnig, ja grauenhaft und frivol. Deshalb sind lernende Schulkinder, die eigentlich spielen müßten und nun spielend das Wissen zerhacken, ein so erschütternder Anblick. Denn das wahre Wissen ist todernst und der Gegenpol zu jedem Spiel, nämlich ausdruckslos tief. Wissen ist kein Kinderspiel. Die zu früh aufgelegte Wissenslast läßt die Menschen nicht wachsen, läßt sie vielmehr zwergenhaft verkümmern. Die abgemüdeten und augenschwachen Gesichter und die gebeugten Rücken und dünnen Hälse heutiger Schulkinder sind Beweis genug.

Jugend ist stark. Sie würde vielleicht sogar diesen Widersinn überstehen, wenn nun wenigstens zur Zeit der Geschlechtsreife eine Umstellung erfolgen würde. Aber hier geschieht das entscheidend Verderbliche. Das Wissen wird auch von da an weiter spielerisch kindisch in den einzelnen Fächern zerpflückt. Man läßt die jungen Menschen die Wissensstoffe weiterhin zusammenhanglos in sich aufhäufen. Und so wird erreicht, daß die jungen Menschen in ihrer stärksten schöpferischen Zeit kindisch und interesselos herplappern, was ihnen eigentlich die erlösende Brücke in die umgebende Welt sein müßte. Das stärkste Mittel, aus der Enge des eigenen Selbst sich zu entspannen, das wissende Begreifen, wird zu nutzlosem Spiel verschwendet.

Hier gibt es nur eins: entschlossener Widerstand, Bruch mit der bisherigen Art der Erziehung. Nicht aus Mißachtung der Wissenschaft, sondern gerade aus dem tiefen Glauben an den Erlösungswert des wahren Wissens. Der Führer zum Leben muß die Erlebnisse des jungen Menschen, welche die erste Entspannung durch Wissen herbeiführen werden, von Anfang an genau beobachten. Er muß sie in sich selbst mit erleben und in Reihe bringen. Es handelt sich hier um das In-reihe-bringen der[100] nachdenklichen, der tiefen Stunden im Leben des Kindes. Alle Kinder haben von klein auf solche Stunden, öfter oder seltener, je nach der Anlage. Die Kinder mit großer Lebenskraft haben solche Stunden selten, aber meist sehr intensiv, die mit geringerer Kraft öfter, aber mit weniger Nachdruck. Es sind dies die Stunden, wo das Wissen vom Tode sich zum ersten Mal ankündigt. Der Erzieher kann es fast mit den Augen sehen, wie das Kind in solcher Stunde durch die Nebelschutzhülle des Selbst aus sich herausgreift: tastend, fragend: Was ist das? Warum das?

Hier ist der Ort, wo die Frage, die erste echte notwendige Frage entsteht. Diese echte Frage kommt aus dem Grunde des Selbst und darf nicht verwechselt werden mit den spielerischen Frageformeln der gewöhnlichen kindlichen Rede. Unter tausend Fragen kommt vielleicht eine einzige aus dem Grunde, alle anderen hängen wie schillernde Blasen an der Oberfläche. Alle diese oberflächlichen Fragen verlangen auch nur spielende Beantwortung. Viel zu ernst nehmen viele Eltern und Erzieher solche Fragen des Kindes. Das Kind fragt ja meist nur, um sich bemerklich zu machen, will damit sagen: ich bin auch noch da. Und dies kann ihm der Erzieher natürlich auch auf andere Weise bestätigen als durch eine wohldurchdachte Antwort. Menschen, die pedantisch an einem viel zu engen Wahrheitsbegriff festhalten, fühlen ihr Gewissen sich regen, wenn sie auf eine Frage nicht gleich wahrheitsgemäß antworten. Es sind dieselben, die Märchen unwahr schelten, die Lüge und Geheimnis verwechseln, die lachenden Ernst nicht kennen. Die meisten Fragen wollen nur gehört, nicht beantwortet werden.

Ganz selten einmal kommt aber doch unter den hundert anderen die eine echte Frage auf und die gilt es dann festzuhalten. Wo jede Frage des Kindes gleichmäßig sorgfältige Behandlung findet, ist es unmöglich, Unterschiede in der Bewertung der Fragen zu machen. Man erklärt und antwortet dann einfach immerfort und betont die Antwort auf die wesentliche Frage gar nicht stärker als die Antwort auf die anderen Fragen.

Wahllosigkeit in der Beantwortung frühester Kinderfragen ist in der Tat sehr viel schuld an der allgemeinen Gleichmacherei heutiger Zeit. Unterscheidungsvermögen, Bewertung, Urteil kann den Kindern nur anerzogen werden, wenn sie schon sehr früh aufmerksam werden auf die Schichten verschiedener Tiefe in ihnen selbst, aus denen ihre Fragen kommen. Und das kann eben wieder nur geschehen durch eine verschieden betonte Beachtung ihrer Fragen. Die Bewertung der Fragen muß also[101] sehr verschieden sein. Die obersten Schichten der Fragen kommen unmittelbar selbsttätig hervor unter dem mehr oder weniger leichten Druck der alltäglichen Freuden und Leiden des Lebens. Diese Fragen bezeugen zugleich die durchschnittlich sehr hohe Anteilnahme jedes Kindes an der Außenwelt. Fragt es, so will es damit sagen, dies Ding macht mir Spaß, oder das tut mir weh.

Die oberste Schicht der Fragen stammt noch aus der Zeit, wo das Kind vollständig in den dunklen Besitzwünschen seiner vorgeburtlichen Zeit befangen war. Den allerersten, besitznehmenden, hinzeigenden Gebärden des Kindes entsprechen seine ersten Worte: da … da. Es will damit zeigen, was es haben will. Zunächst gibt es da keine Frage, alles ist fraglos gewiß. Auch die Fragenschicht bei dem etwas älteren Kinde hat noch nahezu den gleichen, hinweisenden Gewißheitswert. Aber es mischt sich doch bereits das erste, leise Erstaunen mit hinein und verwandelt so das einfach hinweisende Da in das Was ist da. Das heißt, der andere soll doch auch hinsehen, was da so Seltsames ist. Das Staunen entsteht also aus einer, wenn auch noch so leisen Stauung des bis dahin allumfassend gewesenen Besitzwunsches und findet damit zugleich die erste Form der Mit-Teilung in dem fragenden Tonfall. Diese erste Stauung, Formprägung, Mitteilung ist für die Geschichte der Menschen von so gewaltiger Bedeutung wie in der Erdgeschichte die erste leichte Krustenbildung über der feurigen Kugel. Diese erste Kräuselung bedeutet Anfang und Bedingung für jedes selbständige Einzelleben. Die staunende Regung in der Frage des Kindes muß also vor allen Dingen durch die Antwort befriedigt werden. Nicht Erklärung, sondern Mit-Staunen, Mit-Freude, Mit-Leiden sind die beste Antwort. Nur Eltern und Erzieher, für die die Dinge selbst noch höchst staunenswert sind, können allerdings von innen her die Fähigkeit aufbringen, sich mitzufreuen restlos und vorbehaltlos, weil auch für sie das Leben in seinem Kern unerklärlich geblieben ist. Wo ein Mensch sein Leben schon so zersetzt hat, daß er sich nicht mehr staunend in überströmender Freude einer einzelnen Erscheinung oder auch einem großen zusammenhängenden Geschehen hinzugeben vermag, ist er als Erzieher nicht mehr geeignet. Dies ist vielmehr der Prüfstein aller erzieherischen Fähigkeiten. Nur dieses Vermögen zur unbedingten Freude an den Dingen ermöglicht es, die Fragen des Kindes nach ihrer Schwere zu sondern, die leichten spielend leicht dem Kind wieder zurückzuwerfen und nur die wenigen schweren zu behalten.

[102]

Wie sind solche schwerwiegenden Fragen nun eigentlich beschaffen, bei welchen Gelegenheiten kommen sie heraus? Solche Fragen tauchen auf, immer da, wo das Kind in seine Ruhelage hinabschwingt, wo es nach erregtem Spiel tiefatmend sich niedersetzt, am Abend eines sonnedurchglühten Tages, in den Reifezeiten des Jahres und vor allem zu Zeiten, in denen das Kind seinem Beschützer in kindlicher Inbrunst zugetan ist. In diesen Zeiten muß der Führer ganz offen sein. In solcher Ruhezeit sieht das Kind dann vielleicht zum ersten Mal ein Tier, eine Katze oder einen Sperling wirklich als ein Wesen außer ihm, fern von ihm, nicht mehr als das selbstverständliche Besitztum kindlichen Machtwillens. Es ahnt zum ersten Mal: fern von mir ganz unbeteiligt und unbekümmert um mich geht dies alles da draußen seinen Weg durchs Leben. Und es flüchtet sich die dunkle, die echte Frage aus dem Innern des Kindes hilfeflehend an seinen Beschützer: Was geschieht da so fern von mir? Hier geschieht in dem Kind selbst etwas unsagbar Schmerzhaftes, etwas wie eine zweite Geburt. Der Abgrund des Getrenntseins reißt sich auf. Dem Erzieher bleibt nur übrig, dem Kinde auf solche ernsthaft fragende Regung hin zu bestätigen: Ja, dieses Tier, dieser Vogel ist ganz und gar außerhalb deines Bereiches. Und wenn du dich auch noch so sehr anspannst, du hast keine Macht darüber. Ja, auch wenn du diesen Wesen etwas antun willst, wenn du sie quälst oder tötest, tust du ihnen nur Unrecht an. Und du vermagst doch niemals, sie zu besitzen. Höchstens sterben sie dir, und ihr Leben zerrinnt dir dann unter den Fingern. Kindliche Grausamkeit hat hier, wo die echte, die dunkle Frage auftaucht, ihren Ursprung und kann darum niemals durch Verbot und Ermahnung bekämpft werden, sondern nur aus dem Wissen heraus, wie schwer es ist, diesen Abgrund des Getrenntseins zwischen sich selbst und den Dingen zu begreifen und anzuerkennen. Grausamkeit ist ja nur das Nichtbegreifen, das Sichwehren gegen diese Wahrheit. Es ist die Rache des Unwissenden, der sich an dem schuldlosen Gegenstand vergreift, zu der Zeit, wo er merkt, daß er doch nicht allmächtig ist.

Aus der Tiefe seines Wissens heraus muß der Erzieher in solchem Augenblick und später bei ähnlichen Gelegenheiten immer wieder dem Kinde das fremde Leben ringsum begreiflich machen.

Von Ehrfurcht war schon die Rede als von dem trennenden Wall zwischen den Menschen, der die Liebe zueinander hemmt und doch zugleich anwachsen läßt. Ehrfurcht in noch umfassenderem Sinn ist das verbindende[103] Medium zwischen den Menschen und allen Dingen. Wenn die Erfahrung, daß die Dinge fern und fremd sind, dem Kinde nicht mehr verschleiert ist, wird sich an einem schöpferischen Tage der Besitztrieb stauen. Und wenn der Damm, der da entsteht, liebewärts aufgestaut war, so wird nun damit in dem nachdenkenden Kinde das wirkliche, das ehrfürchtige Wissen von den Dingen anwachsen.

Es gibt daraufhin vorbereitende Arbeit. Der Erzieher wird das Gedächtnis des Kindes üben, indem er ihm die Dinge, nach denen es erstaunt fragt, benennt. Benennung ist nicht Erklärung, soll zunächst einmal nur die Fülle, die fremd vor dem Kinde da liegt, zerteilen, gliedern, unterscheiden lassen. Nicht näher soll ihm das alles durch die Benennung gebracht werden. Es soll die Dinge an ihrem Namen nur behalten und aufreihen lernen, wie es ihm beliebt. Durch die Namengebung wird eigentlich den Wesen und Dingen ringsum Ehrfurcht bezeugt. Menschen im Zustand von Begierde kommen noch nicht zu eingehender Namengebung. Namen gibt man erst den Dingen, an denen man Freude hat und vor denen man sich fürchtet. So kann im Kindesalter Ehrfurcht hauptsächlich durch Namengebung vermittelt werden. Darum ist es so besonders wichtig, daß dem Kinde auch wirklich nur die Dinge, nach denen es fragt und die ihm verwunderlich erscheinen, benannt werden. Wo ein Kind mechanisch lernt, ohne vorher von seinen staunenden Sinnen zu der Frage geführt zu sein, wird die Ehrfurcht vor dem Ding dadurch von vornherein untergraben. Es lernt viel zu viele Dinge benennen und erklären, ehe es sie überhaupt gesehen hat. Es wird »blasiert«.

Das ist fast niemals wieder gut zu machen. Wenn es nämlich später einmal das Ding in Wirklichkeit sieht, dessen Namen ihm schon bekannt ist, ist seine staunende Regung abgestumpft. »Ach, das weiß ich schon, das kenne ich schon« sagt es, kommt also gar nicht zur Frage von innen heraus. Der vorher gewußte Name hindert zu der Wirklichkeit und zu der Freude daran zu kommen. Und dies leiert sich dann so weiter. Die heutige wissenschaftliche Bildung tut ja – wenige Ausnahmen abgerechnet – die gleiche beschreibende, also gewissermaßen vorbereitende Arbeit, ohne doch jemals zu dem eigentlichen Zweck der Wissenschaft durchzustoßen. Es wird fieberhaft an dem »Rüstzeug« für das Wissen gearbeitet. Aber das Rüstzeug wendet man nur immer wieder an, um neues Rüstzeug damit herzustellen. Der Hochmut der »wissenschaftlich Gebildeten« ist der zurückgebliebene Stolz, die »Blasiertheit« der Kinder, die viel »wissen«,[104] das heißt viel Namen gelernt haben und dabei das Fragen gründlich verlernt haben. Und das alles geschieht, weil an der entscheidenden Stelle die Erziehung versagte.

Zur Zeit der Geschlechtsreife wächst der Wissenstrieb mit einem gewaltigen Schuß aus der Tiefe des Menschen. Das einzige Begehren der jungen Menschen ist zu dieser Zeit: das Dunkel über ihre Geschlechtlichkeit aufzuhellen, zu wissen, was mit ihnen vorgeht. Darüber wurde schon gesprochen. Es muß noch einmal aufgegriffen werden, soweit es sich hier um den Trieb zu wissen handelt.

Der junge Mensch fühlt an seiner Geschlechtlichkeit sein Bewußtsein überhaupt erst erwachen. Alles in ihm wandelt sich. Er muß darüber staunen. Es wächst an, erfüllt ihn ganz und gar und wird nun in ihm zu der brennenden Frage: Was ist das? Und daraufhin erhält er dann entweder eine Antwort, die der heute geltenden Wirklichkeit vielleicht gemäß sein mag, aber nicht der Wahrheit auf den Grund geht. Er wird in »beschreibendem« Sinne geschlechtlich aufgeklärt. Er erfährt, wie das alles ist, keineswegs aber warum das so ist. Die Folge davon ist, daß er dann bald aufhört, zu fragen, weil ihm eben alles fraglos wird. Oder er erhält keine Antwort darauf, sondern muß seine gewöhnliche Lernarbeit weitertun. Also ein viel zu schnelles und lediglich beschreibendes Wissen oder gar kein Wissen überlichtet oder verdunkelt sofort das eben erwachende Bewußtsein. Was wird daraus? Eitle, blasierte, rücksichtslose Menschen, denen gar nichts mehr geschehen kann, für die das Leben eine ganz selbstverständliche Rechenaufgabe wird, auf der einen Seite. Finstere oder geduckte Menschen, die allen anderen und sich selbst mißtrauen, auf der anderen Seite.

Hier hat der Führer zum Leben seine letzte Aufgabe, aus der geschlechtlichen Frage über alle Vorbereitungen und Beschreibungen hinweg zu der Tiefe des wahren Wissens zu führen. Dabei muß ihm unablässig gegenwärtig bleiben, daß alle Fragen in dieser Zeit aus dem Dämmern der geschlechtlichen Kräfte entstehen. Davon war schon eingehend die Rede. Er muß ihnen Räume öffnen, die sie selbst dann mit ihrer eigenen Fragekraft überspannen können. Das Kind hat vorher gelernt, die Dinge ringsum zu benennen und aufzureihen und in diesem untergeordneten Sinn zu wissen. Jetzt aber prallt die Frage: was ist das, wirkungslos ab an der Härte der geschlechtlichen Problematik. Beschreibende Aufklärung kann hier nicht mehr genügen, weil ja zum ersten Mal der Gegenstand der[105] Frage sich nicht mehr außerhalb befindet, sondern in dem fragenden Selbst, in seiner eigenen Tiefe steckt. Helfen kann ihm jetzt nur Begründung, Entwicklung, Einsicht in die Zusammenhänge. Mit jenem tiefen Bezug auf den Fragenden selbst heißt die Frage jetzt einzig und allein: warum.

Zwei große Zusammenhangsreihen werden sich von nun an dem in einem neuen Sinn Fragenden auftun. Die erste Fragereihe geht auf örtliche, auf gleichzeitige Zusammenhänge, verbindet alles Gestaltete im Raum unter einander und mit dem Schauenden selbst. Antwort auf die Frage wird hier immer mehr oder weniger gleichnishaft bleiben. Erkenntnis der Ähnlichkeit der Dinge in Gestalt und Lage, Erkenntnis der Verwandtschaft in Stoff und Trieb und Richtung wird das bunte Durcheinander ordnen und auferbauen, bis es licht und klar und einfach erscheint. Hier kann die Naturwissenschaft, wenn sie sich über die nur benennende, beschreibende Vorform erhoben hat, als Formenlehre in einem umfassenden Sinn Aufschluß geben.

Die Verwandtschaft der Formen in der Erscheinung der Dinge wird aber dem Fragenden nicht genügen. Fragt er weiter, so stößt er auf die zweite Reihe, auf die zeitlichen Zusammenhänge der Dinge. Das Schaubare, Gestaltete ist ja nicht nur räumlich verbunden, ist nicht nur einander ähnlich und verwandt in seiner Erscheinung. Es gibt auch unsichtbare Zusammenhänge in die Tiefe der Zeit hinein. Zusammenhänge, in denen gewissermaßen ein Verbindungsstück zu fehlen scheint. Entwicklung, Geburt und Wiedergeburt, die Ursächlichkeit der Dinge wird hier Problem. Die Antwort gibt sich hier nicht in gleichnishafter Form sondern in Form des Schlusses. In den Geisteswissenschaften, den Kulturwissenschaften, in der Geschichte können hauptsächlich solche zeitlichen Zusammenhänge vermittelt, solche ursächlichen Probleme gestellt werden.

Die räumlichen Erscheinungsformen der Dinge können nur durch das Mittel des Vergleichens verbunden werden. Die zeitlichen Entwicklungsformen der Dinge können nur durch das Mittel der Schlußfolgerung verbunden werden. Überlieferung von Wissenschaft hat nur so weit Sinn, wie die Dinge entweder in vergleichendem oder folgerndem Sinn untereinander verbunden werden. Alles andere bleibt kindische Stoffhäufung, Vorbereitung auf Wissenschaft, nicht aber Wissenschaft selbst.

Aber beide Möglichkeiten, Verbindungen zu schaffen in die Weite des Raumes und in die Tiefe der Zeit, werden lebendig nur bei der vollkommenen[106] Hingabe und Ehrfurcht des Wissenden. Denn die bloße Fähigkeit, jene Verbindungen zu schaffen, genügt an sich noch nicht. Inbrünstige Hingabe muß die Spannkraft von dem Wissenden selbst zu den Dingen erst gewaltig anwachsen lassen.

Wenn aber ein junger Mensch zur Zeit seiner Reife diese Spannkraft der Hingabe, die er ja dann im höchsten Maße besitzt, ganz und gar in eine Wissenschaft einströmen läßt, sich selbst zum ersten Mal abbaut, sich auflöst, sich ganz und gar vergißt und vergießt in das Schauen jener großen zeitlichen oder räumlichen Zusammenhänge, so hat dies erste wissende Schauen hohen Erlösungswert. Es ist das Eingehen in die schöpferische Ruhelage des klaren Bewußtseins.

An dieser Stelle ist wie stets der Herd der Gefahr.

»Tödlich kann lehre sein dem der nicht fasset«. So steht es in einer Tafel vom »Stern des Bundes« geschrieben. Und nicht nur da. Von überall her bricht es in breitem Strom in das eng gewordene Bett europäischer Wissensbehandlung. Nicht mehr darf jeder in dem seicht und träge fließenden Fluß ungestraft und eigenmächtig seinen Vorteil fischen. Schon schwillt der Strom, wird wieder tief und reißend und grundlos. Wissen wird gefahrvoll, ja todbringend für jeden, der zu früh oder aus irgendwelchen eigensüchtigen Gründen sich hineinwagt.

Und wie es wieder Hüter vor dem Liebesgarten gibt, wird es auch Hüter an diesem Strom geben. Ritter in blanker Rüstung, einsame, unbestechliche, riesenhafte Gestalten, Männer, die schweigend alles tun und alles lassen können, die mit der wissenden Gewalt ihres Wesens ihre Lehrlinge nach langem eigenen Suchen das Wissen in sich selbst finden lassen, die gütig einen jeden nach seiner Stärke und seinem Bemühen, aber immer nur soweit sein Umkreis reicht, ins Wissen steigen lassen, die herb und streng jeden Unbereiten fortschicken.

Männer, die niemals greisenhaft und grämlich werden, die nach ihrem erfüllten Leben, wie hier und da die alten Überlieferungen berichten, den Blicken der Mitlebenden entrückt werden, indem sie wissend und ganz leuchtend geworden ihr eigenes Leben restlos verzehrt haben.

Diese sind die wahrhaft Wissenden, die Hüter des tiefen Stromes, die nicht mehr absichtlich und für alle sichtbar in Erscheinung treten und sich nicht mehr in Werken und Taten bis ans Ende ausdrücken. Es sind die Entschwindenden, die wissend sich auflösen und mitten im Leben schon mit dem Tode beginnen.

[107]

Schon sind sie vielleicht in ihren Gebärden wieder den gänzlich Unwissenden ähnlich geworden, einfach und unauffällig, aber doch von einem inneren Licht strahlend.

Es sind Menschen, an die man glaubt, glauben muß, weil sie in ihrem ganzen Wesen die schöpferische Ruhe begehrenswert schön verkörpern, ohne daß etwas Außerordentliches an ihnen und durch sie zu geschehen brauchte. Nur daß man weiß: sie sind, läßt still werden und ganz stark zu eigenem Leben und Leiden, zu eigenem Können und Wissen.

Nicht daß das Leben beschwerlich sei und verdienstlich, sondern vielmehr leicht und schön, voller Leid und Freude, aber immer von einer gleitenden Einfachheit, geht wie ein Duft von ihnen aus.

So daß alle, die in Berührung damit kommen, aufatmen und plötzlich in sich spüren: es ist ja nicht schlimm. Wir schwimmen ja ganz von selbst im Meer des Lebens. Überall ist alles. Nirgendwo ist nichts. Lassen wir uns fallen, lassen wir uns gleiten in dies Überall und Nirgend. Von außen so schwer es schien, ist ja gar kein Widerstand da. Innen war es, da hat es sich gestaut. Und nun? Eine einzige lösende Gebärde, vielleicht nur ein mit leichtem Nachdruck hochgehobener Arm genügt schon, wieder hineinzugleiten in die allgemeine Bewegung.

In ihnen wird offenbar, was jeder in jedem Augenblick dunkel in sich ahnt: die unaufhörliche Wiedergeburt mit jedem tiefen Atemzug, mit jedem neuen Morgen, mit jeder erwachenden Jahreszeit, mit jedem neuen Lebensalter, mit jedem reifenden Werk, mit jeder inbrünstigen Liebesregung, mit jeder schöpferischen Gewißheit.


Fußnoten

1 In den Upanishads des Veda werden die Zusammenhänge von Ritus und Atemlehre besonders deutlich (Übersetzung von Deussen: 60 Upanishads des Veda, Leipzig, Brockhaus). In der Mazdaznan-Atemlehre von Hanisch ist der allerdings leicht zu willensüberspannter Einseitigkeit verführende Versuch eines Systems der Atemlehre gemacht worden.

2 Der Verfasser leitet in Prerow an der Ostsee ein Ferienschul- und Jugendheim und gibt auf Wunsch darüber nähere Auskunft.

3 Die monatliche Periodik im Leben des Menschen untersucht Wilhelm Fließ in seinen Büchern (Verlag Diederichs) auf Grund einer gewaltigen Beobachtungsfülle.

4 Untersuchungen über innere Sekretion sind gerade jetzt in den medizinischen Zeitschriften vielfach zu finden.

[108]

Inhalt

Seite
Rhythmische Schwingungen 1
Blutschwingungen 2
Atemschwingungen 3
Tagesschwingungen 5
Das Bild eines Tages 9
Monats- und Jahresschwingungen 15
Lebensalter 19
Rhythmischer Wechsel von Schwäche und Kraft 32
Rhythmische Leistung 41
Die allgemeine Bildung 43
Die Berufsbildung 46
Ausbildung in den Ausdrucksmitteln der Künste 49
Der Tanz 51
Die Sprachbildung 51
Der Ausdruck mit den Mitteln der bildenden Künste 57
Über den Tod 61
Liebe als Macht 66
Ehrfurcht als Liebeshemmung 68
Leidenschaft und Inbrunst 71
Der Rhythmus der Liebe innerhalb der Lebensalter 73
Rhythmus der Liebe im Jahr 79
Der sexuelle Rhythmus der Liebe 79
Die tägliche Erneuerung der Liebe 90
Erziehung zum wissenden Leben 93

Gedruckt bei Radelli & Hille in Leipzig.


Eugen Diederichs Verlag in Jena

Zeitwende

Schriften zum Aufbau neuer Erziehung

Heft 1. Wilhelm Flitner, Laienbildung br. M 10.–

Mit dieser Schrift des Leiters der Jenaer Volkshochschule ist das Bildungsideal der Zukunft so formuliert, daß es neben dem bisherigen Ideal Humboldts der sich selbst lebenden Persönlichkeit fest dasteht und an Stelle von dessen Scheintotalität die wirkliche menschliche Totalität erobert. Das Humboldtsche Bildungsideal bevorzugte die kontemplative Menschenart vor der tätig praktischen und bewirkte eine einseitige Vorherrschaft des wissenschaftlichen Tuns im geistigen Leben. Der im Leben praktisch tätige Mensch, der Laie, verknüpft dagegen stets Erkenntnis mit Handeln. Wir müssen darum dahin kommen, gegenüber dem Aufbau der Schulbildung von Volksschule bis zur Universität eine Spannung des Bildungsbegriffes durch pädagogische Laiengemeinschaften zu erzeugen. Diese neuartige Gemeinschaftsbildung, die bereits in den Keimen existiert, verdeutlicht der Verfasser auf den Gebieten der Musik, Sprache, Dichtung und bildenden Kunst. Es geht ein stark kultisch-religiöser Zug durch seine Darlegungen.

Rudolf Bode, Der Rhythmus und seine Bedeutung für die körperliche Erziehung. Mit fünf Zeichnungen von Ludwig Eberle. br. M 8.–

Dresdner Anzeiger: Bode geht an den Grundbegriff der Sache heran und regt vor allem an, über den großen Fehler nachzudenken, der allgemein mit dem Begriff Rhythmus verbunden ist, und der sowohl Büchers viel zitiertes Buch »Arbeit und Rhythmus« als auch Dalcrozes Anschauungen beherrscht, die Verwechslung von Rhythmus und Takt (Regel). Man kann Bodes Ausführungen auf die kurze Formel bringen, Rhythmus ist das Unbegrenzte, das ewig Schwingende, Takt das Begrenzte, das sich in der Wiederholung regeln läßt. So spitzt sich die Forderung der rhythmischen Erziehung darauf zu: den Körper fähig zu machen, Ausdrucksorgan der ganz persönlichen inneren Beschwingtheit, des wahren Rhythmus zu werden. Fünf von Ludwig Eberle beigesteuerte Zeichnungen rhythmischer Bewegungstypen ergänzen die Bodeschen Ausführungen wertvoll.

Ottmar Rutz, Menschheitstypen und Kunst. br. M 30.–, geb. M 45.–

München-Augsburger Abendzeitung: Über allen Rassen und Völkern im landläufigen Sinn stehen die »Typen« oder »Urgeschlechter« der Menschheit. Das oberste und letzte gestaltende Prinzip ist der seelische Menschheitstypus: er gestaltet – neben und in Änderung der Gesetze der Materie – den menschlichen Körper, den Typus seiner Nerven- und Bluterregung, seiner Muskeltätigkeit, seiner Atmung, Stimmtätigkeit, Rede und Gesang. Er gibt der gesamten Kultur die typische Richtung, Gestalt und Form. Drei letzte seelische Menschheitstypen sind festgestellt worden. Um Typus und Spielart für den einzelnen Menschen als Persönlichkeit und als Vertreter eines Volkes festzustellen, hat sich eine besondere Untersuchungsmethode entwickelt: sie setzt praktisch in den Stand jene seelischen Eigenschaften zu entwickeln, die den einzelnen Menschen und durch die Masse von Einzelmenschen gleicher Gattung ein Volk beherrschen. Diese »Typenprobe« gibt den Schlüssel zur typischen Persönlichkeit, ohne Voraussetzungen, ohne vorgefaßte Meinung, unbestechlich, an Hand der praktischen Erfahrung, die jeder nachprüfen kann. Das von der Rassenforschung so lange gesuchte Unterscheidungsmaterial für die seelischen Verschiedenheiten oder Ähnlichkeiten der Völker ist damit gegeben.

Wilhelm Fließ, Vom Leben und vom Tod. Biologische Vorträge. 8. Tausend. br. M 20.–, geb. M 35.–

Deutsche Tageszeitung: Alles Leben, sagt Fließ, läuft nach einem inneren, in der lebendigen Substanz selbst gegebenen Mechanismus ab, und dieser Mechanismus ist für Menschen, Tiere und Pflanzen der gleiche. Leibliches und geistiges Wachstum, Geburt und Tod, der Zusammenhang der Generationen erweisen das Vorhandensein zweier alles Leben durchwaltender Perioden von 28 und von 23 Tagen. Die Statistik wird durch diese merkwürdigen Zahlen auf einmal hell und durchsichtig; Geburts- und Sterbestatistik gewisser Krankheiten, wie Tuberkulose, Diabetes, Schlaganfall, Gallensteine, erweist das geheime Walten dieser Zahlen. Das Buch ist nicht nur ein Genuß wegen des wissenschaftlichen Neuen, das es enthält, sondern diese neue Fließsche Arbeit ist auch jedermann verständlich geschrieben, der lernen will.

Pester Lloyd: Was Fließ verkündet, ist kein Geringes; denn er hat nichts weniger entdeckt als ein Naturgesetz, auf Grund dessen sich das ganze Dasein nach einer inneren Ordnung abrollt und die Zeiten des Geborenwerdens und Sterbens, des Wachstums und des Vergehens ihren festen und vorbestimmten Platz in der uns genau zugemessenen Lebensdauer haben. Das statistische Material, an dem Fließ sein Gesetz demonstriert, ist sicher über allen Zweifel erhaben, und unzweifelhaft scheint es auch, daß die neue Lehre befruchtend und aufklärend auf alle naturwissenschaftliche Sonderzweige wirken wird, ja vielleicht wirklich das ewige Mysterium vom Ablauf des Lebens im Hauptprinzip löst. Die Mathematiker haben längst erkannt, daß sich der Forscher, angesichts der Tatsache, wie sich jahrzehntelange Epochen in der Entwicklung ganzer Geschlechter dem Fließschen Zahlengesetz fügen, auf richtiger Spur befinden muß.

Wilhelm Fließ, Das Jahr im Lebendigen. br. M 30.–, geb. M 45.–

In diesem Buch führt Fließ seine Lehre weiter und zeigt, daß beide Perioden der männlichen und weiblichen Substanzeinheiten im Jahr ihre höhere Einheit finden. Es leben in unserem Körper also sozusagen Erinnerungsbilder an kosmische Einflüsse, an die Geschwindigkeiten des Sonnenlaufes und der Achsendrehung unseres Planeten. Durch diese Weiterführung der Fließschen Lehre eröffnet sich die Aussicht, daß eines Tages eine astronomische Kenntnis für die zeitliche Gesetzmäßigkeit des Lebens ermöglicht wird.

Natur und Gesellschaft: Das vorliegende Werk bildet eine wesentliche Ergänzung der früheren Veröffentlichungen des Forschers. Es räumt auf mit der klimatischen Erklärung von Blüte und Brunst und zeigt den Ablauf des Jahres in der lebendigen Substanz. Diese Jahresimmanenz wird an einem umfassenden genealogischen Material bewiesen. Fließ ist in die Forschergruppe von allergrößtem Geistkaliber einzuordnen. Er vereinigt Scharfsinn mit Intuition.

Hans Schlieper, Der Rhythmus des Lebendigen. br. M 15.–, Pappband M 25.–

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für psychische Forschung: Schliepers Buch schließt sich zwar an Fließ an, aber als Ganzes stellt es eine durchaus selbständige Arbeit dar. Schlieper hat selbst eine Reihe gründlicher Untersuchungen angestellt und damit die Forschungsergebnisse von Fließ bestätigt gefunden und im einzelnen erweitert. Vor allem aber ist sein Buch darin von außerordentlichem Wert, daß es für alle Weiterstrebenden eine solide Grundlage für eigene Forschungen ist, denn es enthält einen Überblick über die Resultate der bisherigen Forschungen, zugleich bietet es eine lichtvolle Darlegung der Technik, die zu solchen Arbeiten erforderlich ist. Nicht nur die Biologie, auch die Psychologie und schließlich die Philosophie werden aus diesem Forschungsgebiete bedeutende Anregungen erhalten.

Hans Hackmann, Die Wiedergeburt der Tanz- und Gesangskunst aus dem Geiste der Natur. br. M 10.–

Sozialistische Monatshefte: Hackmann erblickt im reinen Rhythmus den unmittelbaren Ausdruck des Körperwillens und damit des ursprünglichen unbewußten Gefühlslebens. Deshalb strebt er eine Reform des Tanzes wie des Gesanges an, im Sinne einer wahrhaft aus dem Rhythmus geborenen Kunst, während er z. B. unserer modernen Tanzkunst den Vorwurf des Intellektualismus macht, weil sie, ähnlich wie die Programmusik auf bewußte Darstellung eines geistigen Gehaltes abziele. Es ist gerade das Verdienst der Hackmannschen Schrift, daß sie die Notwendigkeit der Technik als der bewußten Formung des unbewußten rhythmischen Ausdruckes betont und den zu Unrecht als intuitiven Schwung gepriesenen dilettantischen Mangel an Technik und künstlerischer Durcharbeitung beim Tanz wie beim Gesang scharf zurückweist.

Alfred Kurella: Es ist die erste Arbeit, die sich systematisch mit einem Thema beschäftigt, welches schon lange in den engeren jugendlichen Gemeinschaften eine große Rolle spielt: mit dem Körpergefühl und seiner Erziehung. (Freideutsche Jugend)

Hans Hackmann, Die Entwicklung der Seelenkräfte als Grundlage der Körperkultur. br. M 20.–, geb. M 35.–

Der Bund: Der Abendländer krankt am Zu-vielen-Wollen und -Wissen. Das erzeugte den Krampf und den Hochmut unserer Kultur. Es gilt, ihn zu lösen von der lebendigen Seele, vom Lebensgefühl her. Es gilt vor allem, den Körper wieder als Organ und Träger des Seelischen neu zu entdecken und fähig zu machen. Praktisch sind die Bestrebungen vor allem im neuen Tanz und einer neuen Rhythmik versucht worden. Dies Buch gibt die psychologische Grundlage für diese praktischen Versuche und versucht auch eine Theorie der Methode zu geben, die vom Körper her Seelisches entwickeln will. Unsere Zeit entdeckt neu den Zusammenhang von Seele und Leib. Auch die Medizin hat auf dem Gebiete dieser Zusammenhänge noch Größtes zu erwarten. Der Verfasser gräbt überzeugend zu jenen bildenden Kräften hinab, die die treibenden Faktoren aller Entwicklung, Heilung und Erziehung sind, und befreit in diesem Bestreben zusehends den Körper von der Mißachtung, in der ihn Intellektualismus unserer abgelaufenen Kultur gehalten hat. Das Ganze aber ist in den Rahmen einer geistigen Weltanschauung gestellt, die eine neue Synthese zwischen Orient und Okzident sucht.

Ferdinand Lagrange, Physiologie der Leibesübungen. A. d. Französischen von Ludwig Kuhlenbeck. br. M 35.–, geb. M 50.–

Akademische Sportblätter: Der Hauptwert des Buches liegt in seiner Methode, in der praktischen Anordnung des Inhalts, der geschickten Verarbeitung eines reichen Beobachtungsmaterials und der klaren, induktiven Logik, mit der Lagrange verfährt; dann aber auch in seinen Ergebnissen, die dem physiologisch Ungeschulten teils neu, teils zum ersten Male verständlich erscheinen werden. Seine Ausführungen werden in ihrer Einprägsamkeit noch gehoben durch einen überaus flüssigen und bewegten, an treffenden Vergleichen und prägnanten Bildern reichen Stil, dessen Frische die Übersetzung gar nicht zu beeinträchtigen scheint. Möge es auch bei uns allenthalben die Beachtung finden, die ihm als einer klassischen Leistung auf dem Gebiete der Physiologie der Leibesübungen gebührt!

Deutsche Tageszeitung: Wer das Buch mit Verständnis liest, erhebt sich mit einem aus der fast noch allgemein herrschenden Empirie; seine ruhige, klare Wissenschaftlichkeit wird Offizieren und Leitern von Sportsvereinen nicht minder großen Segen bringen, wie den zur Erziehung der deutschen Jugend Berufenen.

Lenore Kühn, Das Buch Eros. Studium zur Liebesgeschichte von Seele, Welt, Gott. br. M 15.–, geb. M 25.–

Leipziger Tageblatt: Dieses kleine Werk steht auf jener Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst, wo das Reich Nietzsches liegt. Das Buch ist erlebt. Seine Leistung besteht darin, daß es eine Grundanschauung an die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeiten heranbringt und die verschiedenen Gebiete in ihren Beziehungen aufdeckt. Diese Frau würdigt Eros in Plato, Jesus, Spinoza, Fichte, Schleiermacher, Goethe, Nietzsche, findet ihn im Erleben der Natur und in der Dichtung, namentlich bei Peter Altenberg und Rilke und in der Lyrik überhaupt, in der Musik, und zwar auch bei Bach und in Brahms' Deutschem Requiem, dann in dem Trieb zum Vaterland, in der Freundschaft, und nicht zum wenigsten natürlich in der Liebe zwischen Mann und Weib, in der vornehmlich tiefe Blicke getan werden.

Der Tag: Ein Hymnus an das Leben. Ein Dithyrambus der reichen Seele, die die Kraft ihres Gefühls an die ganze Welt verschwendet. Ein hohes Lied der Freundschaft und Liebe, wie es noch selten so innig und rein erklang. Mit zarten ehrfurchtsvollen Händen deutet L. Kühn die Mysterien des Lebens. Ihre Besonderheit liegt in der Verschmelzung kristallklarer psychologischer Analyse mit echt weiblicher Wärme und Innigkeit. Es ist ein Buch von großem Schwung. Jede Seite ist durchströmt von innerem Erleben von der Fülle des Herzens.

Gertrud Prellwitz, Vom Wunder des Lebens. 107. Tausend. kart. M 8.–

Münchener Neueste Nachrichten: Gertrud Prellwitz gibt in großen Zügen im Rahmen einer Erzählung den Weg an, wie man fragenden Kindern, wie man nachdenklichen Mädchen und Jünglingen allmählich die Wahrheit über das sexuelle Leben sagen soll, daß sie sich die Keuschheit des Herzens, die Vollkraft ihrer Gefühle, die Freude am Dasein, die Sicherheit und Gradheit im Verkehr mit der Welt, die Ehrfurcht vor dem Wunder des Lebens bewahren.

Karl Zimmermann, Himmelfahrt der Venus. Gedichte. br. M 15.–, geb. M 25.–

Frankfurter Zeitung: Das Lied von der Zerspaltenheit in Ich und Du, in Mann und Weib. Das Lied von der ewigunstillbaren Sehnsucht, von dem Ineinander, dem Zueinander, von dem Dreiwerden im Kind, von dem Über-einander-hinaus. Aber sie singt es neu, dies uralte Lied. Denn ihre Worte kommen aus dem bebenden Herzen eines schöpferischen Menschen. In Erdennähe beginnt das Buch. Zwei Menschen, wie tausend andere auch, wollen zu einander. Finden sich. Scheiden sich. Der Kreis wird geweitet. Natur und Menschentum, die gleichgestimmt sind, singen sich in den Versen. Und dann geht es himmelwärts. Ewige Formen der Liebe, stets wechselnd, stets gleich, werden im Wort wiedergeboren. Ewigliebende, Göttergleiche stehen auf und kämpfen den Kampf der Kämpfe, bis das wundersame Wort fällt: »Wir sind unlöslich geschieden!« Das ist in Versen eingefangen, die ein williges Instrument geistsehnsüchtigen Gefühls sind, die zu einer Kongruenz zwischen Stoff und Form gelangen, wie man sie heute selten antrifft.

Kölner Tageblatt: Diese Gedichte sind Bekenntnisse einer Frauenseele zum Eros, die sich mehr zufällig hinter einem männlichen Pseudonym bergen. Die Venus, die den Himmelswagen fährt, ist vom Stamme Botticellischer Frauengestalten: unendliche Zartheit und Süße, die das beste Wissen dem enthüllt, der das geistige in ihr erlebt. Es sind hier tiefe Dinge aus dem Erosleben einer Frau gesagt, und wenn sie die letzten Hüllen fallen läßt, immer noch bleibt die zu einer Knospe gefaltete Seele.

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Weitere Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.

Korrekturen:

S. 32: liebensbewußt → liebesbewußt
Werktätige nicht so liebesbewußt auf die






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