The Project Gutenberg EBook of Effi Briest, by Theodor Fontane Copyright laws are changing all over the world. Be sure to check the copyright laws for your country before downloading or redistributing this or any other Project Gutenberg eBook. This header should be the first thing seen when viewing this Project Gutenberg file. Please do not remove it. Do not change or edit the header without written permission. Please read the "legal small print," and other information about the eBook and Project Gutenberg at the bottom of this file. Included is important information about your specific rights and restrictions in how the file may be used. You can also find out about how to make a donation to Project Gutenberg, and how to get involved. **Welcome To The World of Free Plain Vanilla Electronic Texts** **eBooks Readable By Both Humans and By Computers, Since 1971** *****These eBooks Were Prepared By Thousands of Volunteers!***** Title: Effi Briest Author: Theodor Fontane Release Date: March, 2004 [EBook #5323] [Yes, we are more than one year ahead of schedule] [This file was first posted on July 1, 2002] [Most recently updated January 16, 2009] Edition: 10 Language: German Character set encoding: ASCII *** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, EFFI BRIEST *** This eBook was prepared by Gunther Olesch from a source file at Project Gutenberg of DE created by Joerg Steinbrenner for PG-DE. Effi Briest Theodor Fontane Erstes Kapitel In Front des schon seit Kurfuerst Georg Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstrasse, waehrend nach der Park- und Gartenseite hin ein rechtwinklig angebauter Seitenfluegel einen breiten Schatten erst auf einen weiss und gruen quadrierten Fliesengang und dann ueber diesen hinaus auf ein grosses, in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr und an seinem Rande mit Canna indica und Rhabarberstauden besetzten Rondell warf. Einige zwanzig Schritte weiter, in Richtung und Lage genau dem Seitenfluegel entsprechend, lief eine ganz in kleinblaettrigem Efeu stehende, nur an einer Stelle von einer kleinen weissgestrichenen Eisentuer unterbrochene Kirchhofsmauer, hinter der der Hohen-Cremmener Schindelturm mit seinem blitzenden, weil neuerdings erst wieder vergoldeten Wetterhahn aufragte. Fronthaus, Seitenfluegel und Kirchhofsmauer bildeten ein einen kleinen Ziergarten umschliessendes Hufeisen, an dessen offener Seite man eines Teiches mit Wassersteg und angekettetem Boot und dicht daneben einer Schaukel gewahr wurde, deren horizontal gelegtes Brett zu Haeupten und Fuessen an je zwei Stricken hing - die Pfosten der Balkenlage schon etwas schief stehend. Zwischen Teich und Rondell aber und die Schaukel halb versteckend standen ein paar maechtige alte Platanen. Auch die Front des Herrenhauses - eine mit Aloekuebeln und ein paar Gartenstuehlen besetzte Rampe - gewaehrte bei bewoelktem Himmel einen angenehmen und zugleich allerlei Zerstreuung bietenden Aufenthalt; an Tagen aber, wo die Sonne niederbrannte, wurde die Gartenseite ganz entschieden bevorzugt, besonders von Frau und Tochter des Hauses, die denn auch heute wieder auf dem im vollen Schatten liegenden Fliesengange sassen, in ihrem Ruecken ein paar offene, von wildem Wein umrankte Fenster, neben sich eine vorspringende kleine Treppe, deren vier Steinstufen vom Garten aus in das Hochparterre des Seitenfluegels hinauffuehrten. Beide, Mutter und Tochter, waren fleissig bei der Arbeit, die der Herstellung eines aus Einzelquadraten zusammenzusetzenden Altarteppichs galt; ungezaehlte Wollstraehnen und Seidendocken lagen auf einem grossen, runden Tisch bunt durcheinander, dazwischen, noch vom Lunch her, ein paar Dessertteller und eine mit grossen schoenen Stachelbeeren gefuellte Majolikaschale. Rasch und sicher ging die Wollnadel der Damen hin und her, aber waehrend die Mutter kein Auge von der Arbeit liess, legte die Tochter, die den Rufnamen Effi fuehrte, von Zeit zu Zeit die Nadel nieder und erhob sich, um unter allerlei kunstgerechten Beugungen und Streckungen den ganzen Kursus der Heil- und Zimmergymnastik durchzumachen. Es war ersichtlich, dass sie sich diesen absichtlich ein wenig ins Komische gezogenen Uebungen mit ganz besonderer Liebe hingab, und wenn sie dann so dastand und, langsam die Arme hebend, die Handflaechen hoch ueber dem Kopf zusammenlegte, so sah auch wohl die Mama von ihrer Handarbeit auf, aber immer nur fluechtig und verstohlen, weil sie nicht zeigen wollte, wie entzueckend sie ihr eigenes Kind finde, zu welcher Regung muetterlichen Stolzes sie voll berechtigt war. Effi trug ein blau und weiss gestreiftes, halb kittelartiges Leinwandkleid, dem erst ein fest zusammengezogener, bronzefarbener Lederguertel die Taille gab; der Hals war frei, und ueber Schulter und Nacken fiel ein breiter Matrosenkragen. In allem, was sie tat, paarten sich Uebermut und Grazie, waehrend ihre lachenden braunen Augen eine grosse, natuerliche Klugheit und viel Lebenslust und Herzensguete verrieten. Man nannte sie die "Kleine", was sie sich nur gefallen lassen musste, weil die schoene, schlanke Mama noch um eine Handbreit hoeher war. Eben hatte sich Effi wieder erhoben, um abwechselnd nach links und rechts ihre turnerischen Drehungen zu machen, als die von ihrer Stickerei gerade wieder aufblickende Mama ihr zurief: "Effi, eigentlich haettest du doch wohl Kunstreiterin werden muessen. Immer am Trapez, immer Tochter der Luft. Ich glaube beinah, dass du so was moechtest." "Vielleicht, Mama. Aber wenn es so waere, wer waere schuld? Von wem hab ich es? Doch nur von dir. Oder meinst du, von Papa? Da musst du nun selber lachen. Und dann, warum steckst du mich in diesen Haenger, in diesen Jungenkittel? Mitunter denk ich, ich komme noch wieder in kurze Kleider. Und wenn ich die erst wiederhabe, dann knicks ich auch wieder wie ein Backfisch, und wenn dann die Rathenower herueberkommen, setze ich mich auf Oberst Goetzes Schoss und reite hopp, hopp. Warum auch nicht? Drei Viertel ist er Onkel und nur ein Viertel Courmacher. Du bist schuld. Warum kriege ich keine Staatskleider? Warum machst du keine Dame aus mir?" "Moechtest du's?" "Nein." Und dabei lief sie auf die Mama zu und umarmte sie stuermisch und kuesste sie. "Nicht so wild, Effi, nicht so leidenschaftlich. Ich beunruhige mich immer, wenn ich dich so sehe ..." Und die Mama schien ernstlich willens, in Aeusserung ihrer Sorgen und Aengste fortzufahren. Aber sie kam nicht weit damit, weil in ebendiesem Augenblick drei junge Maedchen aus der kleinen, in der Kirchhofsmauer angebrachten Eisentuer in den Garten eintraten und einen Kiesweg entlang auf das Rondell und die Sonnenuhr zuschritten. Alle drei gruessten mit ihren Sonnenschirmen zu Effi herueber und eilten dann auf Frau von Briest zu, um dieser die Hand zu kuessen. Diese tat rasch ein paar Fragen und lud dann die Maedchen ein, ihnen oder doch wenigstens Effi auf eine halbe Stunde Gesellschaft zu leisten. "Ich habe ohnehin noch zu tun, und junges Volk ist am liebsten unter sich. Gehabt euch wohl." Und dabei stieg sie die vom Garten in den Seitenfluegel fuehrende Steintreppe hinauf. Und da war nun die Jugend wirklich allein. Zwei der jungen Maedchen - kleine, rundliche Persoenchen, zu deren krausem, rotblondem Haar ihre Sommersprossen und ihre gute Laune ganz vorzueglich passten - waren Toechter des auf Hansa, Skandinavien und Fritz Reuter eingeschworenen Kantors Jahnke, der denn auch, unter Anlehnung an seinen mecklenburgischen Landsmann und Lieblingsdichter und nach dem Vorbilde von Mining und Lining, seinen eigenen Zwillingen die Namen Bertha und Hertha gegeben hatte. Die dritte junge Dame war Hulda Niemeyer, Pastor Niemeyers einziges Kind; sie war damenhafter als die beiden anderen, dafuer aber langweilig und eingebildet, eine lymphatische Blondine, mit etwas vorspringenden, bloeden Augen, die trotzdem bestaendig nach was zu suchen schienen, weshalb denn auch Klitzing von den Husaren gesagt hatte: "Sieht sie nicht aus, als erwarte sie jeden Augenblick den Engel Gabriel?" Effi fand, dass der etwas kritische Klitzing nur zu sehr recht habe, vermied es aber trotzdem, einen Unterschied zwischen den drei Freundinnen zu machen. Am wenigsten war ihr in diesem Augenblick danach zu Sinn, und waehrend sie die Arme auf den Tisch stemmte, sagte sie: "Diese langweilige Stickerei. Gott sei Dank, dass ihr da seid." "Aber deine Mama haben wir vertrieben", sagte Hulda. "Nicht doch. Wie sie euch schon sagte, sie waere doch gegangen; sie erwartet naemlich Besuch, einen alten Freund aus ihren Maedchentagen her, von dem ich euch nachher erzaehlen muss, eine Liebesgeschichte mit Held und Heldin und zuletzt mit Entsagung. Ihr werdet Augen machen und euch wundern. Uebrigens habe ich Mamas alten Freund schon drueben in Schwantikow gesehen; er ist Landrat, gute Figur und sehr maennlich." "Das ist die Hauptsache", sagte Hertha. "Freilich ist das die Hauptsache, 'Weiber weiblich, Maenner maennlich' - das ist, wie ihr wisst, einer von Papas Lieblingssaetzen. Und nun helft mir erst Ordnung schaffen auf dem Tisch hier, sonst gibt es wieder eine Strafpredigt." Im Nu waren die Docken in den Korb gepackt, und als alle wieder sassen, sagte Hulda: "Nun aber, Effi, nun ist es Zeit, nun die Liebesgeschichte mit Entsagung. Oder ist es nicht so schlimm?" "Eine Geschichte mit Entsagung ist nie schlimm. Aber ehe Hertha nicht von den Stachelbeeren genommen, eher kann ich nicht anfangen - sie laesst ja kein Auge davon. Uebrigens nimm, soviel du willst, wir koennen ja hinterher neue pfluecken; nur wirf die Schalen weit weg oder noch besser, lege sie hier auf die Zeitungsbeilage, wir machen dann eine Tuete daraus und schaffen alles beiseite. Mama kann es nicht leiden, wenn die Schlusen so ueberall herumliegen, und sagt immer, man koenne dabei ausgleiten und ein Bein brechen." "Glaub ich nicht", sagte Hertha, waehrend sie den Stachelbeeren fleissig zusprach. "Ich auch nicht", bestaetigte Effi. "Denkt doch mal nach, ich falle jeden Tag wenigstens zwei-, dreimal, und noch ist mir nichts gebrochen. Was ein richtiges Bein ist, das bricht nicht so leicht, meines gewiss nicht und deines auch nicht, Hertha. Was meinst du, Hulda?" "Man soll sein Schicksal nicht versuchen; Hochmut kommt vor dem Fall." "Immer Gouvernante; du bist doch die geborene alte Jungfer." "Und hoffe mich doch noch zu verheiraten. Und vielleicht eher als du." "Meinetwegen. Denkst du, dass ich darauf warte? Das fehlte noch. Uebrigens, ich kriege schon einen und vielleicht bald. Da ist mir nicht bange. Neulich erst hat mir der kleine Ventivegni von drueben gesagt: 'Fraeulein Effi, was gilt die Wette, wir sind hier noch in diesem Jahre zu Polterabend und Hochzeit.'" "Und was sagtest du da?" "'Wohl moeglich', sagte ich, 'wohl moeglich; Hulda ist die Aelteste und kann sich jeden Tag verheiraten.' Aber er wollte davon nichts wissen und sagte: 'Nein, bei einer anderen jungen Dame, die geradeso bruenett ist, wie Fraeulein Hulda blond ist.' Und dabei sah er mich ganz ernsthaft an... Aber ich komme vom Hundertsten aufs Tausendste und vergesse die Geschichte." "Ja, du brichst immer wieder ab; am Ende willst du nicht." "Oh, ich will schon, aber freilich, ich breche immer wieder ab, weil es alles ein bisschen sonderbar ist, ja beinah romantisch." "Aber du sagtest doch, er sei Landrat." "Allerdings, Landrat. Und er heisst Geert von Innstetten, Baron von Innstetten." Alle drei lachten. "Warum lacht ihr?" sagte Effi pikiert. "Was soll das heissen?" "Ach, Effi, wir wollen dich ja nicht beleidigen und auch den Baron nicht. Innstetten, sagtest du? Und Geert? So heisst doch hier kein Mensch. Freilich, die adeligen Namen haben oft so was Komisches." "Ja, meine Liebe, das haben sie. Dafuer sind es eben Adelige. Die duerfen sich das goennen, und je weiter zurueck, ich meine der Zeit nach, desto mehr duerfen sie sich's goennen. Aber davon versteht ihr nichts, was ihr mir nicht uebelnehmen duerft. Wir bleiben doch gute Freunde. Geert von Innstetten also und Baron. Er ist geradeso alt wie Mama, auf den Tag." "Und wie alt ist denn eigentlich deine Mama?" "Achtunddreissig." "Ein schoenes Alter." "Ist es auch, namentlich wenn man noch so aussieht wie die Mama. Sie ist doch eigentlich eine schoene Frau, findet ihr nicht auch? Und wie sie alles so weg hat, immer so sicher und dabei so fein und nie unpassend wie Papa. Wenn ich ein junger Leutnant waere, so wuerd ich mich in die Mama verlieben." "Aber Effi, wie kannst du nur so was sagen", sagte Hulda. "Das ist ja gegen das vierte Gebot." "Unsinn. Wie kann das gegen das vierte Gebot sein? Ich glaube, Mama wuerde sich freuen, wenn sie wuesste, dass ich so was gesagt habe." "Kann schon sein", unterbrach hierauf Hertha. "Aber nun endlich die Geschichte." "Nun, gib dich zufrieden, ich fange schon an ... Also Baron Innstetten! Als er noch keine zwanzig war, stand er drueben bei den Rathenowern und verkehrte viel auf den Guetern hier herum, und am liebsten war er in Schwantikow drueben bei meinem Grossvater Belling. Natuerlich war es nicht des Grossvaters wegen, dass er so oft drueben war, und wenn die Mama davon erzaehlt, so kann jeder leicht sehen, um wen es eigentlich war. Und ich glaube, es war auch gegenseitig." "Und wie kam es nachher?" "Nun, es kam, wie's kommen musste, wie's immer kommt. Er war ja noch viel zu jung, und als mein Papa sich einfand, der schon Ritterschaftsrat war und Hohen-Cremmen hatte, da war kein langes Besinnen mehr, und sie nahm ihn und wurde Frau von Briest ... Und das andere, was sonst noch kam, nun, das wisst ihr ... das andere bin ich." "Ja, das andere bist du, Effi", sagte Bertha. "Gott sei Dank; wir haetten dich nicht, wenn es anders gekommen waere. Und nun sage, was tat Innstetten, was wurde aus ihm? Das Leben hat er sich nicht genommen, sonst koenntet ihr ihn heute nicht erwarten." "Nein, das Leben hat er sich nicht genommen. Aber ein bisschen war es doch so was." "Hat er einen Versuch gemacht?" "Auch das nicht. Aber er mochte doch nicht laenger hier in der Naehe bleiben, und das ganze Soldatenleben ueberhaupt muss ihm damals wie verleidet gewesen sein. Es war ja auch Friedenszeit. Kurz und gut, er nahm den Abschied und fing an, Juristerei zu studieren, wie Papa sagt, mit einem 'wahren Biereifer'; nur als der Siebziger Krieg kam, trat er wieder ein, aber bei den Perlebergern statt bei seinem alten Regiment, und hat auch das Kreuz. Natuerlich, denn er ist sehr schneidig. Und gleich nach dem Kriege sass er wieder bei seinen Akten, und es heisst, Bismarck halte grosse Stuecke von ihm und auch der Kaiser, und so kam es denn, dass er Landrat wurde, Landrat im Kessiner Kreise." "Was ist Kessin? Ich kenne hier kein Kessin." "Nein, hier in unserer Gegend liegt es nicht; es liegt eine huebsche Strecke von hier fort in Pommern, in Hinterpommern sogar, was aber nichts sagen will, weil es ein Badeort ist (alles da herum ist Badeort), und die Ferienreise, die Baron Innstetten jetzt macht, ist eigentlich eine Vetternreise oder doch etwas Aehnliches. Er will hier alte Freundschaft und Verwandtschaft wiedersehen." "Hat er denn hier Verwandte?" "Ja und nein, wie man's nehmen will. Innstettens gibt es hier nicht, gibt es, glaub ich, ueberhaupt nicht mehr. Aber er hat hier entfernte Vettern von der Mutter Seite her, und vor allem hat er wohl Schwantikow und das Bellingsche Haus wiedersehen wollen, an das ihn so viele Erinnerungen knuepfen. Da war er denn vorgestern drueben, und heute will er hier in Hohen-Cremmen sein." "Und was sagt dein Vater dazu?" "Gar nichts. Der ist nicht so. Und dann kennt er ja doch die Mama. Er neckt sie bloss." In diesem Augenblick schlug es Mittag, und ehe es noch ausgeschlagen, erschien Wilke, das alte Briestsche Haus- und Familienfaktotum, um an Fraeulein Effi zu bestellen: Die gnaedige Frau liesse bitten, dass das gnaedige Fraeulein zu rechter Zeit auch Toilette mache; gleich nach eins wuerde der Herr Baron wohl vorfahren. Und waehrend Wilke dies noch vermeldete, begann er auch schon auf dem Arbeitstisch der Damen abzuraeumen und griff dabei zunaechst nach dem Zeitungsblatt, auf dem die Stachelbeerschalen lagen. "Nein, Wilke, nicht so; das mit den Schlusen, das ist unsere Sache... Hertha, du musst nun die Tuete machen und einen Stein hineintun, dass alles besser versinken kann. Und dann wollen wir in einem langen Trauerzug aufbrechen und die Tuete auf offener See begraben." Wilke schmunzelte. Is doch ein Daus, unser Fraeulein, so etwa gingen seine Gedanken. Effi aber, waehrend sie die Tuete mitten auf die rasch zusammengeraffte Tischdecke legte, sagte: "Nun fassen wir alle vier an, jeder an einem Zipfel, und singen was Trauriges." "Ja, das sagst du wohl, Effi. Aber was sollen wir denn singen?" "Irgendwas; es ist ganz gleich, es muss nur einen Reim auf 'u' haben; 'u' ist immer Trauervokal. Also singen wir: Flut, Flut, Mach alles wieder gut ..." Und waehrend Effi diese Litanei feierlich anstimmte, setzten sich alle vier auf den Steg hin in Bewegung, stiegen in das dort angekettelte Boot und liessen von diesem aus die mit einem Kiesel beschwerte Tuete langsam in den Teich niedergleiten. "Hertha, nun ist deine Schuld versenkt", sagte Effi, "wobei mir uebrigens einfaellt, so vom Boot aus sollen frueher auch arme, unglueckliche Frauen versenkt worden sein, natuerlich wegen Untreue." "Aber doch nicht hier." "Nein, nicht hier", lachte Effi, "hier kommt sowas nicht vor. Aber in Konstantinopel, und du musst ja, wie mir eben einfaellt, auch davon wissen, so gut wie ich, du bist ja mit dabeigewesen, als uns Kandidat Holzapfel in der Geographiestunde davon erzaehlte." "Ja", sagte Hulda, "der erzaehlte immer so was. Aber so was vergisst man doch wieder." "Ich nicht. Ich behalte so was." Zweites Kapitel Sie sprachen noch eine Weile so weiter, wobei sie sich ihrer gemeinschaftlichen Schulstunden und einer ganzen Reihe Holzapfelscher Unpassendheiten mit Empoerung und Behagen erinnerten. Ja, man konnte sich nicht genug tun damit, bis Hulda mit einem Male sagte: "Nun aber ist es hoechste Zeit, Effi; du siehst ja aus, ja, wie sag ich nur, du siehst ja aus, wie wenn du vom Kirschenpfluecken kaemst, alles zerknittert und zerknautscht; das Leinenzeug macht immer so viele Falten, und der grosse weisse Klappkragen ... ja, wahrhaftig, jetzt hab ich es, du siehst aus wie ein Schiffsjunge." "Midshipman, wenn ich bitten darf. Etwas muss ich doch von meinem Adel haben. Uebrigens, Midshipman oder Schiffsjunge, Papa hat mir erst neulich wieder einen Mastbaum versprochen, hier dicht neben der Schaukel, mit Rahen und einer Strickleiter. Wahrhaftig, das sollte mir gefallen, und den Wimpel oben selbst anzumachen, das liess' ich mir nicht nehmen. Und du, Hulda, du kaemst dann von der anderen Seite her herauf, und oben in der Luft wollten wir hurra rufen und uns einen Kuss geben. Alle Wetter, das sollte schmecken." "'Alle Wetter ...', wie das nun wieder klingt ... Du sprichst wirklich wie ein Midshipman. Ich werde mich aber hueten, dir nachzuklettern, ich bin nicht so waghalsig. Jahnke hat ganz recht, wenn er immer sagt, du haettest zuviel von dem Bellingschen in dir, von deiner Mama her. Ich bin bloss ein Pastorskind." "Ach, geh mir. Stille Wasser sind tief. Weisst du noch, wie du damals, als Vetter Briest als Kadett hier war, aber doch schon gross genug, wie du damals auf dem Scheunendach entlangrutschtest. Und warum? Nun, ich will es nicht verraten. Aber kommt, wir wollen uns schaukeln, auf jeder Seite zwei; reissen wird es ja wohl nicht, oder wenn ihr nicht Lust habt, denn ihr macht wieder lange Gesichter, dann wollen wir Anschlag spielen. Eine Viertelstunde hab ich noch. Ich mag noch nicht hineingehen, und alles bloss, um einem Landrat guten Tag zu sagen, noch dazu einem Landrat aus Hinterpommern. Altlich ist er auch, er koennte ja beinah mein Vater sein, und wenn er wirklich in einer Seestadt wohnt, Kessin soll ja so was sein, nun, da muss ich ihm in diesem Matrosenkostuem eigentlich am besten gefallen und muss ihm beinah wie eine grosse Aufmerksamkeit vorkommen. Fuersten, wenn sie wen empfangen, soviel weiss ich von meinem Papa her, legen auch immer die Uniform aus der Gegend des anderen an. Also nun nicht aengstlich ... rasch, rasch, ich fliege aus, und neben der Bank hier ist frei." Hulda wollte noch ein paar Einschraenkungen machen, aber Effi war schon den naechsten Kiesweg hinauf, links hin, rechts hin, bis sie mit einem Male verschwunden war. "Effi, das gilt nicht; wo bist du? Wir spielen nicht Versteck, wir spielen Anschlag", und unter diesen und aehnlichen Vorwuerfen eilten die Freundinnen ihr nach, weit ueber das Rondell und die beiden seitwaerts stehenden Platanen hinaus, bis die Verschwundene mit einem Male aus ihrem Versteck hervorbrach und muehelos, weil sie schon im Ruecken ihrer Verfolger war, mit "eins, zwei, drei" den Freiplatz neben der Bank erreichte. "Wo warst du?" "Hinter den Rhabarberstauden; die haben so grosse Blaetter, noch groesser als ein Feigenblatt ..." "Pfui ..." "Nein, pfui fuer euch, weil ihr verspielt habt. Hulda, mit ihren grossen Augen, sah wieder nichts, immer ungeschickt." Und dabei flog Effi von neuem ueber das Rondell hin, auf den Teich zu, vielleicht weil sie vorhatte, sich erst hinter einer dort aufwachsenden dichten Haselnusshecke zu verstecken, um dann, von dieser aus, mit einem weiten Umweg um Kirchhof und Fronthaus, wieder bis an den Seitenfluegel und seinen Freiplatz zu kommen. Alles war gut berechnet; aber freilich, ehe sie noch halb um den Teich herum war, hoerte sie schon vom Hause her ihren Namen rufen und sah, waehrend sie sich umwandte, die Mama, die, von der Steintreppe her, mit ihrem Taschentuch winkte. Noch einen Augenblick, und Effi stand vor ihr. "Nun bist du doch noch in deinem Kittel, und der Besuch ist da. Nie haeltst du Zeit." "Ich halte schon Zeit, aber der Besuch hat nicht Zeit gehalten. Es ist noch nicht eins; noch lange nicht", und sich nach den Zwillingen hin umwendend (Hulda war noch weiter zurueck), rief sie diesen zu: "Spielt nur weiter; ich bin gleich wieder da." Schon im naechsten Augenblick trat Effi mit der Mama in den grossen Gartensaal, der fast den ganzen Raum des Seitenfluegels fuellte. "Mama, du darfst mich nicht schelten. Es ist wirklich erst halb. Warum kommt er so frueh? Kavaliere kommen nicht zu spaet, aber noch weniger zu frueh." Frau von Briest war in sichtlicher Verlegenheit; Effi aber schmiegte sich liebkosend an sie und sagte: "Verzeih, ich will mich nun eilen; du weisst, ich kann auch rasch sein, und in fuenf Minuten ist Aschenputtel in eine Prinzessin verwandelt. So lange kann er warten oder mit dem Papa plaudern." Und der Mama zunickend, wollte sie leichten Fusses eine kleine eiserne Stiege hinauf, die aus dem Saal in den Oberstock hinauffuehrte. Frau von Briest aber, die unter Umstaenden auch unkonventionell sein konnte, hielt ploetzlich die schon forteilende Effi zurueck, warf einen Blick auf das jugendlich reizende Geschoepf, das, noch erhitzt von der Aufregung des Spiels, wie ein Bild frischesten Lebens vor ihr stand, und sagte beinahe vertraulich: "Es ist am Ende das beste, du bleibst, wie du bist. Ja, bleibe so. Du siehst gerade sehr gut aus. Und wenn es auch nicht waere, du siehst so unvorbereitet aus, so gar nicht zurechtgemacht, und darauf kommt es in diesem Augenblick an. Ich muss dir naemlich sagen, meine suesse Effi ...", und sie nahm ihres Kindes beide Haende, "... ich muss dir naemlich sagen ..." "Aber Mama, was hast du nur? Mir wird ja ganz angst und bange." "... Ich muss dir naemlich sagen, Effi, dass Baron Innstetten eben um deine Hand angehalten hat." "Um meine Hand angehalten? Und im Ernst?" "Es ist keine Sache, um einen Scherz daraus zu machen. Du hast ihn vorgestern gesehen, und ich glaube, er hat dir auch gut gefallen. Er ist freilich aelter als du, was alles in allem ein Glueck ist, dazu ein Mann von Charakter, von Stellung und guten Sitten, und wenn du nicht nein sagst, was ich mir von meiner klugen Effi kaum denken kann, so stehst du mit zwanzig Jahren da, wo andere mit vierzig stehen. Du wirst deine Mama weit ueberholen." Effi schwieg und suchte nach einer Antwort. Aber ehe sie diese finden konnte, hoerte sie schon des Vaters Stimme von dem angrenzenden, noch im Fronthause gelegenen Hinterzimmer her, und gleich danach ueberschritt Ritterschaftsrat von Briest, ein wohlkonservierter Fuenfziger von ausgesprochener Bonhomie, die Gartensalonschwelle - mit ihm Baron Innstetten, schlank, bruenett und von militaerischer Haltung. Effi, als sie seiner ansichtig wurde, kam in ein nervoeses Zittern; aber nicht auf lange, denn im selben Augenblick fast, wo sich Innstetten unter freundlicher Verneigung ihr naeherte, wurden an dem mittleren der weit offenstehenden und von wildem Wein halb ueberwachsenen Fenster die rotblonden Koepfe der Zwillinge sichtbar, und Hertha, die Ausgelassenste, rief in den Saal hinein: "Effi, komm." Dann duckte sie sich, und beide Schwestern sprangen von der Banklehne, darauf sie gestanden, wieder in den Garten hinab, und man hoerte nur noch ihr leises Kichern und Lachen. Drittes Kapitel Noch an demselben Tage hatte sich Baron Innstetten mit Effi Briest verlobt. Der joviale Brautvater, der sich nicht leicht in seiner Feierlichkeitsrolle zurechtfand, hatte bei dem Verlobungsmahl, das folgte, das junge Paar leben lassen, was auf Frau von Briest, die dabei der nun um kaum achtzehn Jahre zurueckliegenden Zeit gedenken mochte, nicht ohne herzbeweglichen Eindruck geblieben war. Aber nicht auf lange; sie hatte es nicht sein koennen, nun war es statt ihrer die Tochter - alles in allem ebensogut oder vielleicht noch besser. Denn mit Briest liess sich leben, trotzdem er ein wenig prosaisch war und dann und wann einen kleinen frivolen Zug hatte. Gegen Ende der Tafel, das Eis wurde schon herumgereicht, nahm der alte Ritterschaftsrat noch einmal das Wort, um in einer zweiten Ansprache das allgemeine Familien-Du zu proponieren. Er umarmte dabei Innstetten und gab ihm einen Kuss auf die linke Backe. Hiermit war aber die Sache fuer ihn noch nicht abgeschlossen, vielmehr fuhr er fort, ausser dem "Du" zugleich intimere Namen und Titel fuer den Hausverkehr zu empfehlen, eine Art Gemuetlichkeitsrangliste aufzustellen, natuerlich unter Wahrung berechtigter, weil wohlerworbener Eigentuemlichkeiten. Fuer seine Frau, so hiess es, wuerde der Fortbestand von "Mama" (denn es gaebe auch junge Mamas) wohl das beste sein, waehrend er fuer seine Person, unter Verzicht auf den Ehrentitel "Papa", das einfache Briest entschieden bevorzugen muesse, schon weil es so huebsch kurz sei. Und was nun die Kinder angehe - bei welchem Wort er sich, Aug in Auge mit dem nur etwa um ein Dutzend Jahre juengeren Innstetten, einen Ruck geben musste -, nun, so sei Effi eben Effi und Geert Geert. Geert, wenn er nicht irre, habe die Bedeutung von einem schlank aufgeschossenen Stamm, und Effi sei dann also der Efeu, der sich darumzuranken habe. Das Brautpaar sah sich bei diesen Worten etwas verlegen an. Effi zugleich mit einem Ausdruck kindlicher Heiterkeit, Frau von Briest aber sagte: "Briest, sprich, was du willst, und formuliere deine Toaste nach Gefallen, nur poetische Bilder, wenn ich bitten darf, lass beiseite, das liegt jenseits deiner Sphaere." Zurechtweisende Worte, die bei Briest mehr Zustimmung als Ablehnung gefunden hatten. "Es ist moeglich, dass du recht hast, Luise." Gleich nach Aufhebung der Tafel beurlaubte sich Effi, um einen Besuch drueben bei Pastors zu machen. Unterwegs sagte sie sich: "Ich glaube, Hulda wird sich aergern. Nun bin ich ihr doch zuvorgekommen - sie war immer zu eitel und eingebildet." Aber Effi traf es mit ihrer Erwartung nicht ganz; Hulda, durchaus Haltung bewahrend, benahm sich sehr gut und ueberliess die Bezeugung von Unmut und Aerger ihrer Mutter, der Frau Pastorin, die denn auch sehr sonderbare Bemerkungen machte. "Ja, ja, so geht es. Natuerlich. Wenn's die Mutter nicht sein konnte, muss es die Tochter Sein. Das kennt man. Alte Familien halten immer zusammen, und wo was is, da kommt was dazu." Der alte Niemeyer kam in arge Verlegenheit ueber diese fortgesetzten Spitzen Redensarten ohne Bildung und Anstand und beklagte mal wieder, eine Wirtschafterin geheiratet zu haben. Von Pastors ging Effi natuerlich auch zu Kantor Jahnkes; die Zwillinge hatten schon nach ihr ausgeschaut und empfingen sie im Vorgarten. "Nun, Effi", sagte Hertha, waehrend alle drei zwischen den rechts und links bluehenden Studentenblumen auf und ab schritten, "nun, Effi, wie ist dir eigentlich?" "Wie mir ist? Oh, ganz gut. Wir nennen uns auch schon du und bei Vornamen. Er heisst naemlich Geert, was ich euch, wie mir einfaellt, auch schon gesagt habe." "Ja, das hast du. Mir ist aber doch so bange dabei. Ist es denn auch der Richtige?" "Gewiss ist es der Richtige. Das verstehst du nicht, Hertha. Jeder ist der Richtige. Natuerlich muss er von Adel sein und eine Stellung haben und gut aussehen." "Gott, Effi, wie du nur sprichst. Sonst sprachst du doch ganz anders." "Ja, sonst." "Und bist du auch schon ganz gluecklich?" "Wenn man zwei Stunden verlobt ist, ist man immer ganz gluecklich. Wenigstens denk ich es mir so." "Und ist es dir denn gar nicht, ja, wie sag ich nur, ein bisschen genant?" "Ja, ein bisschen genant ist es mir, aber doch nicht sehr. Und ich denke, ich werde darueber wegkommen." Nach diesem im Pfarr- und Kantorhause gemachten Besuche, der keine halbe Stunde gedauert hatte, war Effi wieder nach drueben zurueckgekehrt, wo man auf der Gartenveranda eben den Kaffee nehmen wollte. Schwiegervater und Schwiegersohn gingen auf dem Kieswege zwischen den zwei Platanen auf und ab. Briest sprach von dem Schwierigen einer landraetlichen Stellung; sie sei ihm verschiedentlich angetragen worden, aber er habe jedesmal gedankt. "So nach meinem eigenen Willen schalten und walten zu koennen ist mir immer das liebste gewesen, jedenfalls lieber - Pardon, Innstetten -, als so die Blicke bestaendig nach oben richten zu muessen. Man hat dann bloss immer Sinn und Merk fuer hohe und hoechste Vorgesetzte. Das ist nichts fuer mich. Hier leb ich so freiweg und freue mich ueber jedes gruene Blatt und ueber den wilden Wein, der da drueben in die Fenster waechst." Er sprach noch mehr dergleichen, allerhand Antibeamtliches, und entschuldigte sich von Zeit zu Zeit mit einem kurzen, verschiedentlich wiederkehrenden "Pardon, Innstetten". Dieser nickte mechanisch zustimmend, war aber eigentlich wenig bei der Sache, sah vielmehr wie gebannt immer aufs neue nach dem drueben am Fenster rankenden wilden Wein hinueber, von dem Briest eben gesprochen, und waehrend er dem nachhing, war es ihm, als saeh' er wieder die rotblonden Maedchenkoepfe zwischen den Weinranken und hoere dabei den uebermuetigen Zuruf: "Effi, komm." Er glaubte nicht an Zeichen und aehnliches, im Gegenteil, wies alles Aberglaeubische weit zurueck. Aber er konnte trotzdem von den zwei Worten nicht los, und waehrend Briest immer weiterperorierte, war es ihm bestaendig, als waere der kleine Hergang doch mehr als ein blosser Zufall gewesen. Innstetten, der nur einen kurzen Urlaub genommen, war schon am folgenden Tag wieder abgereist, nachdem er versprochen, jeden Tag schreiben zu wollen. "Ja, das musst du", hatte Effi gesagt, ein Wort, das ihr von Herzen kam, da sie seit Jahren nichts Schoeneres kannte als beispielsweise den Empfang vieler Geburtstagsbriefe. Jeder musste ihr zu diesem Tag schreiben. In den Brief eingestreute Wendungen, etwa wie "Gertrud und Klara senden Dir mit mir ihre herzlichsten Glueckwuensche", waren verpoent; Gertrud und Klara, wenn sie Freundinnen sein wollten, hatten dafuer zu Sorgen, dass ein Brief mit selbstaendiger Marke dalaege, womoeglich - denn ihr Geburtstag fiel noch in die Reisezeit mit einer fremden, aus der Schweiz oder Karlsbad. Innstetten, wie versprochen, schrieb wirklich jeden Tag; was aber den Empfang seiner Briefe ganz besonders angenehm machte, war der Umstand, dass er allwoechentlich nur einmal einen ganz kleinen Antwortbrief erwartete. Den erhielt er dann auch, voll reizend nichtigen und ihn jedesmal entzueckenden Inhalts. Was es von ernsteren Dingen zu besprechen gab, das verhandelte Frau von Briest mit ihrem Schwiegersohn: Festsetzungen wegen der Hochzeit, Ausstattungs- und Wirtschaftseinrichtungsfragen. Innstetten, schon an die drei Jahre im Amt, war in seinem Kessiner Hause nicht glaenzend, aber doch sehr standesgemaess eingerichtet, und es empfahl sich, in der Korrespondenz mit ihm ein Bild von allem, was da war, zu gewinnen, um nichts Unnuetzes anzuschaffen. Schliesslich, als Frau von Briest ueber all diese Dinge genugsam unterrichtet war, wurde seitens Mutter und Tochter eine Reise nach Berlin beschlossen, um, wie Briest sich ausdrueckte, den "Trousseau" fuer Prinzessin Effi zusammenzukaufen. Effi freute sich sehr auf den Aufenthalt in Berlin, um so mehr, als der Vater darein gewilligt hatte, im Hotel du Nord Wohnung zu nehmen. Was es koste, koenne ja von der Ausstattung abgezogen werden; Innstetten habe ohnehin alles. Effi ganz im Gegensatz zu der solche "Mesquinerien" ein fuer allemal sich verbittenden Mama - hatte dem Vater, ohne jede Sorge darum, ob er's scherz- oder ernsthaft gemeint hatte, freudig zugestimmt und beschaeftigte sich in ihren Gedanken viel, viel mehr mit dem Eindruck, den sie beide, Mutter und Tochter, bei ihrem Erscheinen an der Table d'hote machen wuerden, als mit Spinn und Mencke, Goschenhofer und aehnlichen Firmen, die vorlaeufig notiert worden waren. Und diesen ihren heiteren Phantasien entsprach denn auch ihre Haltung, als die grosse Berliner Woche nun wirklich da war. Vetter Briest vom Alexanderregiment, ein ungemein ausgelassener junger Leutnant, der die "Fliegenden Blaetter" hielt und ueber die besten Witze Buch fuehrte, stellte sich den Damen fuer jede dienstfreie Stunde zur Verfuegung, und so sassen sie denn mit ihm bei Kranzler am Eckfenster oder zu statthafter Zeit auch wohl im Cafe Bauer und fuhren nachmittags in den Zoologischen Garten, um da die Giraffen zu sehen, von denen Vetter Briest, der uebrigens Dagobert hiess, mit Vorliebe behauptete, sie saehen aus wie adlige alte Jungfern. Jeder Tag verlief programmaessig, und am dritten oder vierten Tag gingen sie, wie vorgeschrieben, in die Nationalgalerie, weil Vetter Dagobert seiner Cousine die "Insel der Seligen" zeigen wollte. Fraeulein Cousine stehe zwar auf dem Punkte, sich zu verheiraten, es sei aber doch vielleicht gut, die "Insel der Seligen" schon vorher kennengelernt zu haben. Die Tante gab ihm einen Schlag mit dem Faecher, begleitete diesen Schlag aber mit einem so gnaedigen Blick, dass er keine Veranlassung hatte, den Ton zu aendern. Es waren himmlische Tage fuer alle drei, nicht zum wenigsten fuer den Vetter, der so wundervoll zu chaperonnieren und kleine Differenzen immer rasch auszugleichen verstand. An solchen Meinungsverschiedenheiten zwischen Mutter und Tochter war nun, wie das so geht, all die Zeit ueber kein Mangel, aber sie traten gluecklicherweise nie bei den zu machenden Einkaeufen hervor. Ob man von einer Sache sechs oder drei Dutzend erstand, Effi war mit allem gleichmaessig einverstanden, und wenn dann auf dem Heimweg von dem Preis der eben eingekauften Gegenstaende gesprochen wurde, so verwechselte sie regelmaessig die Zahlen. Frau von Briest, sonst so kritisch, auch ihrem eigenen geliebten Kinde gegenueber, nahm dies anscheinend mangelnde Interesse nicht nur von der leichten Seite, sondern erkannte sogar einen Vorzug darin. Alle diese Dinge, so sagte sie sich, bedeuten Effi nicht viel. Effi ist anspruchslos; sie lebt in ihren Vorstellungen und Traeumen, und wenn die Prinzessin Friedrich Karl vorueberfaehrt und sie von ihrem Wagen aus freundlich gruesst, so gilt ihr das mehr als eine ganze Truhe voll Weisszeug. Das alles war auch richtig, aber doch nur halb. An dem Besitze mehr oder weniger alltaeglicher Dinge lag Effi nicht viel, aber wenn sie mit der Mama die Linden hinauf- und hinunterging und nach Musterung der schoensten Schaufenster in den Demuthschen Laden eintrat, um fuer die gleich nach der Hochzeit geplante italienische Reise allerlei Einkaeufe zu machen, so zeigte sich ihr wahrer Charakter. Nur das Eleganteste gefiel ihr, und wenn sie das Beste nicht haben konnte, so verzichtete sie auf das Zweitbeste, weil ihr dies Zweite nun nichts mehr bedeutete. Ja, sie konnte verzichten, darin hatte die Mama recht, und in diesem Verzichtenkoennen lag etwas von Anspruchslosigkeit; wenn es aber ausnahmsweise mal wirklich etwas zu besitzen galt, so musste dies immer was ganz Apartes sein. Und darin war sie anspruchsvoll. Viertes Kapitel Vetter Dagobert war am Bahnhof, als die Damen ihre Rueckreise nach Hohen-Cremmen antraten. Es waren glueckliche Tage gewesen, vor allem auch darin, dass man nicht unter unbequemer und beinahe unstandesgemaesser Verwandtschaft gelitten hatte. "Fuer Tante Therese", so hatte Effi gleich nach der Ankunft gesagt, "muessen wir diesmal inkognito bleiben. Es geht nicht, dass sie hier ins Hotel kommt. Entweder Hotel du Nord oder Tante Therese; beides zusammen passt nicht." Die Mama hatte sich schliesslich einverstanden damit erklaert, ja, dem Liebling zur Besiegelung des Einverstaendnisses einen Kuss auf die Stirn gegeben. Mit Vetter Dagobert war das natuerlich etwas ganz anderes gewesen, der hatte nicht bloss den Gardepli, der hatte vor allem auch mit Hilfe jener eigentuemlich guten Laune, wie sie bei den Alexanderoffizieren beinahe traditionell geworden, sowohl Mutter wie Tochter von Anfang an anzuregen und aufzuheitern gewusst, und diese gute Stimmung dauerte bis zuletzt. "Dagobert", so hiess es noch beim Abschied, "du kommst also zu meinem Polterabend, und natuerlich mit Cortege. Denn nach den Auffuehrungen (aber kommt mir nicht mit Dienstmann oder Mausefallenhaendler) ist Ball. Und du musst bedenken, mein erster grosser Ball ist vielleicht auch mein letzter. Unter sechs Kameraden - natuerlich beste Taenzer - wird gar nicht angenommen. Und mit dem Fruehzug koennt ihr wieder zurueck." Der Vetter versprach alles, und so trennte man sich. Gegen Mittag trafen beide Damen an ihrer havellaendischen Bahnstation ein, mitten im Luch, und fuhren in einer halben Stunde nach Hohen-Cremmen hinueber. Briest war sehr froh, Frau und Tochter wieder zu Hause zu haben, und stellte Fragen ueber Fragen, deren Beantwortung er meist nicht abwartete. Statt dessen erging er sich in Mitteilung dessen, was er inzwischen erlebt. "Ihr habt mir da vorhin von der Nationalgalerie gesprochen und von der 'Insel der Seligen' - nun, wir haben hier, waehrend ihr fort wart, auch so was gehabt: unser Inspektor Pink und die Gaertnersfrau. Natuerlich habe ich Pink entlassen muessen, uebrigens ungern. Es ist sehr fatal, dass solche Geschichten fast immer in die Erntezeit fallen. Und Pink war sonst ein ungewoehnlich tuechtiger Mann, hier leider am unrechten Fleck. Aber lassen wir das; Wilke wird schon unruhig." Bei Tische hoerte Briest besser zu; das gute Einvernehmen mit dem Vetter, von dem ihm viel erzaehlt wurde, hatte seinen Beifall, weniger das Verhalten gegen Tante Therese. Man sah aber deutlich, dass er inmitten seiner Missbilligung sich eigentlich darueber freute; denn ein kleiner Schabernack entsprach ganz seinem Geschmack, und Tante Therese war wirklich eine laecherliche Figur. Er hob sein Glas und stiess mit Frau und Tochter an. Auch als nach Tisch einzelne der huebschesten Einkaeufe von ihm ausgepackt und seiner Beurteilung unterbreitet wurden, verriet er viel Interesse, das selbst noch anhielt oder wenigstens nicht ganz hinstarb, als er die Rechnung ueberflog. "Etwas teuer, oder sagen wir lieber sehr teuer; indessen es tut nichts. Es hat alles so viel Schick, ich moechte sagen so viel Animierendes, dass ich deutlich fuehle, wenn du mir solchen Koffer und solche Reisedecke zu Weihnachten schenkst, so sind wir zu Ostern auch in Rom und machen nach achtzehn Jahren unsere Hochzeitsreise. Was meinst du, Luise? Wollen wir nachexerzieren? Spaet kommt ihr, doch ihr kommt." Frau von Briest machte eine Handbewegung, wie wenn sie sagen wollte: "Unverbesserlich", und ueberliess ihn im uebrigen seiner eigenen Beschaemung, die aber nicht gross war. Ende August war da, der Hochzeitstag (3. Oktober) rueckte naeher, und sowohl im Herrenhause wie in der Pfarre und Schule war man unausgesetzt bei den Vorbereitungen zum Polterabend. Jahnke, getreu seiner Fritz-Reuter-Passion, hatte sich's als etwas besonders "Sinniges" ausgedacht, Bertha und Hertha als Lining und Mining auftreten zu lassen, natuerlich plattdeutsch, waehrend Hulda das Kaethchen von Heilbronn in der Holunderbaumszene darstellen sollte, Leutnant Engelbrecht von den Husaren als Wetter vom Strahl. Niemeyer, der sich den Vater der Idee nennen durfte, hatte keinen Augenblick gesaeumt, auch die versaeumte Nutzanwendung auf Innstetten und Effi hinzuzudichten. Er selbst war mit seiner Arbeit zufrieden und hoerte, gleich nach der Leseprobe, von allen Beteiligten viel Freundliches darueber, freilich mit Ausnahme seines Patronatsherrn und alten Freundes Briest, der, als er die Mischung von Kleist und Niemeyer mit angehoert hatte, lebhaft protestierte, wenn auch keineswegs aus literarischen Gruenden. "Hoher Herr und immer wieder Hoher Herr - was soll das? Das leitet in die Irre, das verschiebt alles. Innstetten, unbestritten, ist ein famoses Menschenexemplar, Mann von Charakter und Schneid, aber die Briests - verzeih den Berolinismus, Luise-, die Briests sind schliesslich auch nicht von schlechten Eltern. Wir sind doch nun mal eine historische Familie, lass mich hinzufuegen Gott sei Dank, und die Innstettens sind es nicht; die Innstettens sind bloss alt, meinetwegen Uradel, aber was heisst Uradel? Ich will nicht, dass eine Briest oder doch mindestens eine Polterabendfigur, in der jeder das Widerspiel unserer Effi erkennen muss - ich will nicht, dass eine Briest mittelbar oder unmittelbar in einem fort von 'Hoher Herr' spricht. Da muesste denn doch Innstetten wenigstens ein verkappter Hohenzoller sein, es gibt ja dergleichen. Das ist er aber nicht, und so kann ich nur wiederholen, es verschiebt die Situation." Und wirklich, Briest hielt mit besonderer Zaehigkeit eine ganze Zeitlang an dieser Anschauung fest. Erst nach der zweiten Probe, wo das "Kaethchen", schon halb im Kostuem, ein sehr eng anliegendes Sammetmieder trug, liess er sich - der es auch sonst nicht an Huldigungen gegen Hulda fehlen liess - zu der Bemerkung hinreissen, das Kaethchen liege sehr gut da, welche Wendung einer Waffenstreckung ziemlich gleichkam oder doch zu solcher hinueberleitete. Dass alle diese Dinge vor Effi geheimgehalten wurden, braucht nicht erst gesagt zu werden. Bei mehr Neugier auf seiten dieser letzteren waere das nun freilich ganz unmoeglich gewesen, aber Effi hatte so wenig Verlangen, in die Vorbereitungen und geplanten Ueberraschungen einzudringen, dass sie der Mama mit allem Nachdruck erklaerte, sie koenne es abwarten, und Wenn diese dann zweifelte, so schloss Effi mit der wiederholten Versicherung: Es waere wirklich so, die Mama koenne es glauben. Und warum auch nicht? Es sei ja doch alles nur Theaterauffuehrung und huebscher und poetischer als "Aschenbroedel", das sie noch am letzten Abend in Berlin gesehen haette, huebscher und poetischer koenne es ja doch nicht Sein. Da haette sie wirklich selber mitspielen moegen, wenn auch nur, um dem laecherlichen Pensionslehrer einen Kreidestrich auf den Ruecken zu machen. "Und wie reizend im letzten Akt 'Aschenbroedels Erwachen als Prinzessin' oder wenigstens als Graefin; wirklich, es war ganz wie ein Maerchen." In dieser Weise sprach sie oft, war meist ausgelassener als vordem und aergerte sich bloss ueber das bestaendige Tuscheln und Geheimtun der Freundinnen. "Ich wollte, sie haetten sich weniger wichtig und waeren mehr fuer mich da. Nachher bleiben sie doch bloss stecken, und ich muss mich um sie aengstigen und mich schaemen, dass es meine Freundinnen sind." So gingen Effis Spottreden, und es war ganz unverkennbar, dass sie sich um Polterabend und Hochzeit nicht allzusehr kuemmerte. Frau von Briest hatte so ihre Gedanken darueber, aber zu Sorgen kam es nicht, weil sich Effi, was doch ein gutes Zeichen war, ziemlich viel mit ihrer Zukunft beschaeftigte und sich, phantasiereich wie sie war, viertelstundenlang in Schilderungen ihres Kessiner Lebens erging, Schilderungen, in denen sich nebenher und sehr zur Erheiterung der Mama eine merkwuerdige Vorstellung von Hinterpommern aussprach oder vielleicht auch, mit kluger Berechnung, aussprechen sollte. Sie gefiel sich naemlich darin, Kessin als einen halbsibirischen Ort aufzufassen, wo Eis und Schnee nie recht aufhoerten. "Heute hat Goschenhofer das letzte geschickt", sagte Frau von Briest, als sie wie gewoehnlich in Front des Seitenfluegels mit Effi am Arbeitstisch sass, auf dem die Leinen- und Waeschevorraete bestaendig wuchsen, waehrend der Zeitungen, die bloss Platz wegnahmen, immer weniger wurden. "Ich hoffe, du hast nun alles, Effi. Wenn du aber noch kleine Wuensche hegst, so musst du sie jetzt aussprechen, womoeglich in dieser Stunde noch. Papa hat den Raps vorteilhaft verkauft und ist ungewoehnlich guter Laune." "Ungewoehnlich? Er ist immer in guter Laune." "In ungewoehnlich guter Laune", wiederholte die Mama. "Und sie muss genutzt werden. Sprich also. Mehrmals, als wir noch in Berlin waren, war es mir, als ob du doch nach dem einen oder anderen noch ein ganz besonderes Verlangen gehabt haettest." "Ja, liebe Mama, was soll ich da sagen. Eigentlich habe ich ja alles, was man braucht, ich meine, was man hier braucht. Aber da mir's nun mal bestimmt ist, so hoch noerdlich zu kommen ... ich bemerke, dass ich nichts dagegen habe, im Gegenteil, ich freue mich darauf, auf die Nordlichter und auf den helleren Glanz der Sterne ... da mir's nun mal so bestimmt ist, so haette ich wohl gern einen Pelz gehabt." "Aber Effi, Kind, das ist doch alles bloss leere Torheit. Du kommst ja nicht nach Petersburg oder nach Archangel." "Nein; aber ich bin doch auf dem Wege dahin..." "Gewiss, Kind. Auf dem Wege dahin bist du; aber was heisst das? Wenn du von hier nach Nauen faehrst, bist du auch auf dem Wege nach Russland. Im uebrigen, wenn du's wuenschst, so sollst du einen Pelz haben. Nur das lass mich im voraus sagen, ich rate dir davon ab. Ein Pelz ist fuer aeltere Personen, selbst deine alte Mama ist noch zu jung dafuer, und wenn du mit deinen siebzehn Jahren in Nerz oder Marder auftrittst, so glauben die Kessiner, es sei eine Maskerade." Das war am 2. September, dass sie so sprachen, ein Gespraech, das sich wohl fortgesetzt haette, wenn nicht gerade Sedantag gewesen waere. So aber wurden sie durch Trommel- und Pfeifenklang unterbrochen, und Effi, die schon vorher von dem beabsichtigten Aufzuge gehoert, aber es wieder vergessen hatte, stuerzte mit einem Male von dem gemeinschaftlichen Arbeitstisch fort und an Rondell und Teich vorueber auf einen kleinen, an die Kirchhofsmauer angebauten Balkon zu, zu dem sechs Stufen, nicht viel breiter als Leitersprossen, hinauffuehrten. Im Nu war sie oben, und richtig, da kam auch schon die ganze Schuljugend heran, Jahnke gravitaetisch am rechten Fluegel, waehrend ein kleiner Tambourmajor, weit voran, an der Spitze des Zuges marschierte, mit einem Gesichtsausdruck, als ob ihm oblaege, die Schlacht bei Sedan noch einmal zu schlagen. Effi winkte mit dem Taschentuch, und der Begruesste versaeumte nicht, mit seinem blanken Kugelstock zu salutieren. Eine Woche spaeter sassen Mutter und Tochter wieder am alten Fleck, auch wieder mit ihrer Arbeit beschaeftigt. Es war ein wunderschoener Tag; der in einem zierlichen Beet um die Sonnenuhr herum stehende Heliotrop bluehte noch, und die leise Brise, die ging, trug den Duft davon zu ihnen herueber. "Ach, wie wohl ich mich fuehle", sagte Effi, "so wohl und so gluecklich; ich kann mir den Himmel nicht schoener denken. Und am Ende, wer weiss, ob sie im Himmel so wundervollen Heliotrop haben." "Aber Effi, so darfst du nicht sprechen; das hast du von deinem Vater, dem nichts heilig ist und der neulich sogar sagte, Niemeyer saehe aus wie Lot. Unerhoert. Und was soll es nur heissen? Erstlich weiss er nicht, wie Lot ausgesehen hat, und zweitens ist es eine grenzenlose Ruecksichtslosigkeit gegen Hulda. Ein Glueck, dass Niemeyer nur die einzige Tochter hat, dadurch faellt es eigentlich in sich zusammen. In einem freilich hat er nur zu recht gehabt, in all und jedem, was er ueber 'Lots Frau', unsere gute Frau Pastorin, sagte, die uns denn auch wirklich wieder mit ihrer Torheit und Anmassung den ganzen Sedantag ruinierte. Wobei mir uebrigens einfaellt, dass wir, als Jahnke mit der Schule vorbeikam, in unserem Gespraech unterbrochen wurden - wenigstens kann ich mir nicht denken, dass der Pelz, von dem du damals sprachst, dein einziger Wunsch gewesen sein sollte. Lass mich also wissen, Schatz, was du noch weiter auf dem Herzen hast." "Nichts, Mama." "Wirklich nichts?" "Nein, wirklich nichts; ganz im Ernst ... Wenn es aber doch am Ende was sein sollte ..." "Nun ..." "... so muesste es ein japanischer Bettschirm sein, schwarz und goldene Voegel darauf, alle mit einem langen Kranichschnabel ... Und dann vielleicht noch eine Ampel fuer unser Schlafzimmer, mit rotem Schein." Frau von Briest schwieg. "Nun siehst du, Mama, du schweigst und siehst aus, als ob ich etwas besonders Unpassendes gesagt haette." "Nein, Effi, nichts Unpassendes. Und vor deiner Mutter nun schon gewiss nicht. Denn ich kenne dich ja. Du bist eine phantastische kleine Person, malst dir mit Vorliebe Zukunftsbilder aus, und je farbenreicher sie sind, desto schoener und begehrlicher erscheinen sie dir. Ich sah das so recht, als wir die Reisesachen kauften. Und nun denkst du dir's ganz wundervoll, einen Bettschirm mit allerhand fabelhaftem Getier zu haben, alles im Halblicht einer roten Ampel. Es kommt dir vor wie ein Maerchen, und du moechtest eine Prinzessin sein." Effi nahm die Hand der Mama und kuesste sie. "Ja, Mama, so bin ich." "Ja, so bist du. Ich weiss es wohl. Aber meine liebe Effi, wir muessen vorsichtig im Leben sein, und zumal wir Frauen. Und wenn du nun nach Kessin kommst, einem kleinen Ort, wo nachts kaum eine Laterne brennt, so lacht man ueber dergleichen. Und wenn man bloss lachte. Die, die dir ungewogen sind, und solche gibt es immer, sprechen von schlechter Erziehung, und manche sagen auch wohl noch Schlimmeres." "Also nichts Japanisches und auch keine Ampel. Aber ich bekenne dir, ich hatte es mir so schoen und poetisch gedacht, alles in einem roten Schimmer zu sehen." Frau von Briest war bewegt. Sie stand auf und kuesste Effi. "Du bist ein Kind. Schoen und poetisch. Das sind so Vorstellungen. Die Wirklichkeit ist anders, und oft ist es gut, dass es statt Licht und Schimmer ein Dunkel gibt." Effi schien antworten zu wollen, aber in diesem Augenblick kam Wilke und brachte Briefe. Der eine war aus Kessin von Innstetten. "Ach, von Geert", sagte Effi, und waehrend sie den Brief beiseite steckte, fuhr sie in ruhigem Ton fort: "Aber das wirst du doch gestatten, dass ich den Fluegel schraeg in die Stube stelle. Daran liegt mir mehr als an einem Kamin, den mir Geert versprochen hat. Und das Bild von dir, das stell ich dann auf eine Staffelei; ganz ohne dich kann ich nicht sein. Ach, wie werd ich mich nach euch sehnen, vielleicht auf der Reise schon und dann in Kessin ganz gewiss. Es soll ja keine Garnison haben, nicht einmal einen Stabsarzt, und ein Glueck, dass es wenigstens ein Badeort ist. Vetter Briest, und daran will ich mich aufrichten, dessen Mutter und Schwester immer nach Warnemuende gehen - nun, ich sehe doch wirklich nicht ein, warum der die lieben Verwandten nicht auch einmal nach Kessin hin dirigieren sollte. Dirigieren, das klingt ohnehin so nach Generalstab, worauf er, glaub ich, ambiert. Und dann kommt er natuerlich mit und wohnt bei uns. Uebrigens haben die Kessiner, wie mir neulich erst wer erzaehlt hat, ein ziemlich grosses Dampfschiff, das zweimal die Woche nach Schweden hinueberfaehrt. Und auf dem Schiff ist dann Ball (sie haben da natuerlich auch Musik), und er tanzt sehr gut ..." "Wer?" "Nun, Dagobert." "Ich dachte, du meintest Innstetten. Aber jedenfalls ist es an der Zeit, endlich zu wissen, was er schreibt ... Du hast ja den Brief noch in der Tasche." "Richtig. Den haett ich fast vergessen." Und sie oeffnete den Brief und ueberflog ihn. "Nun, Effi, kein Wort? Du strahlst nicht und lachst nicht einmal, und er schreibt doch immer so heiter und unterhaltlich und gar nicht vaeterlich weise." "Das wuerde ich mir auch verbitten. Er hat sein Alter, und ich habe meine Jugend. Und ich wuerde ihm mit den Fingern drohen und ihm sagen: 'Geert, ueberlege, was besser ist.'" "Und dann wuerde er dir antworten: 'Was du hast, Effi, das ist das Bessere.' Denn er ist nicht nur ein Mann der feinsten Formen, er ist auch gerecht und verstaendig und weiss recht gut, was Jugend bedeutet. Er sagt sich das immer und stimmt sich auf das Jugendliche hin, und wenn er in der Ehe so bleibt, so werdet ihr eine Musterehe fuehren." "Ja, das glaube ich auch, Mama. Aber kannst du dir vorstellen, und ich schaeme mich fast, es zu sagen, ich bin nicht so sehr fuer das, was man eine Musterehe nennt." "Das sieht dir aehnlich. Und nun sage mir, wofuer bist du denn eigentlich?" "Ich bin... nun, ich bin fuer gleich und gleich und natuerlich auch fuer Zaertlichkeit und Liebe. Und wenn es Zaertlichkeit und Liebe nicht sein koennen, weil Liebe, wie Papa sagt, doch nur ein Papperlapapp ist (was ich aber nicht glaube), nun, dann bin ich fuer Reichtum und ein vornehmes Haus, ein ganz vornehmes, wo Prinz Friedrich Karl zur Jagd kommt, auf Elchwild oder Auerhahn, oder wo der alte Kaiser vorfaehrt und fuer jede Dame, auch fuer die jungen, ein gnaediges Wort hat. Und wenn wir dann in Berlin sind, dann bin ich fuer Hofball und Galaoper, immer dicht neben der grossen Mittelloge." "Sagst du das so bloss aus Uebermut und Laune?" "Nein, Mama, das ist mein voelliger Ernst. Liebe kommt zuerst, aber gleich hinterher kommt Glanz und Ehre, und dann kommt Zerstreuung - ja, Zerstreuung, immer was Neues, immer was, dass ich lachen oder weinen muss. Was ich nicht aushalten kann, ist Langeweile." "Wie bist du da nur mit uns fertig geworden?" "Ach, Mama, wie du nur so was sagen kannst. Freilich, wenn im Winter die liebe Verwandtschaft vorgefahren kommt und sechs Stunden bleibt oder wohl auch noch laenger, und Tante Gundel und Tante Olga mich mustern und mich naseweis finden - und Tante Gundel hat es mir auch mal gesagt -, ja, da macht sich's mitunter nicht sehr huebsch, das muss ich zugeben. Aber sonst bin ich hier immer gluecklich gewesen, so gluecklich." Und waehrend sie das sagte, warf sie sich heftig weinend vor der Mama auf die Knie und kuesste ihre beiden Haende. "Steh auf, Effi. Das sind so Stimmungen, die ueber einen kommen, wenn man so jung ist wie du und vor der Hochzeit steht und vor dem Ungewissen. Aber nun lies mir den Brief vor, wenn er nicht was ganz Besonderes enthaelt oder vielleicht Geheimnisse." "Geheimnisse", lachte Effi und sprang in ploetzlich veraenderter Stimmung wieder auf. "Geheimnisse! Ja, er nimmt immer einen Anlauf, aber das meiste koennte ich auf dem Schulzenamt anschlagen lassen, da, wo immer die landraetlichen Verordnungen stehen. Nun, Geert ist ja auch Landrat." "Lies, lies." "Liebe Effi! ... So faengt es naemlich immer an, und manchmal nennt er mich auch seine 'kleine Eva'." "Lies, lies ... Du sollst ja lesen." "Also: Liebe Effi! Je naeher wir unsrem Hochzeitstage kommen, je sparsamer werden Deine Briefe. Wenn die Post kommt, suche ich immer zuerst nach Deiner Handschrift, aber wie Du weisst (und ich hab es ja auch nicht anders gewollt), in der Regel vergeblich. Im Hause sind jetzt die Handwerker, die die Zimmer, freilich nur wenige, fuer Dein Kommen herrichten sollen. Das Beste wird wohl erst geschehen, wenn wir auf der Reise sind. Tapezierer Madelung, der alles liefert, ist ein Original, von dem ich Dir mit naechstem erzaehle, vor allem aber, wie gluecklich ich bin ueber Dich, ueber meine suesse kleine Effi. Mir brennt hier der Boden unter den Fuessen, und dabei wird es in unserer guten Stadt immer stiller und einsamer. Der letzte Badegast ist gestern abgereist; er badete zuletzt bei neun Grad, und die Badewaerter waren immer froh, wenn er wieder heil heraus war. Denn sie fuerchteten einen Schlaganfall, was dann das Bad in Misskredit bringt, als ob die Wellen hier schlimmer waeren als woanders. Ich juble, wenn ich denke, dass ich in vier Wochen schon mit Dir von der Piazzetta aus nach dem Lido fahre oder nach Murano hin, wo sie Glasperlen machen und schoenen Schmuck. Und der schoenste sei fuer Dich. Viele Gruesse den Eltern und den zaertlichsten Kuss Dir von Deinem Geert." Effi faltete den Brief wieder zusammen, um ihn in das Kuvert zu stecken. "Das ist ein sehr huebscher Brief", sagte Frau von Briest, "und dass er in allem das richtige Mass haelt, das ist ein Vorzug mehr." "Ja, das rechte Mass, das haelt er." "Meine liebe Effi, lass mich eine Frage tun; wuenschtest du, dass der Brief nicht das richtige Mass hielte, wuenschtest du, dass er zaertlicher waere, vielleicht ueberschwenglich zaertlich?" "Nein, nein, Mama. Wahr und wahrhaftig nicht, das wuensche ich nicht. Da ist es doch besser so." "Da ist es doch besser so. Wie das nun wieder klingt. Du bist so sonderbar. Und dass du vorhin weintest. Hast du was auf deinem Herzen? Noch ist es Zeit. Liebst du Geert nicht?" "Warum soll ich ihn nicht lieben? Ich liebe Hulda, und ich liebe Bertha, und ich liebe Hertha. Und ich liebe auch den alten Niemeyer. Und dass ich euch liebe, davon spreche ich gar nicht erst. Ich liebe alle, die's gut mit mir meinen und guetig gegen mich sind und mich verwoehnen. Und Geert wird mich auch wohl verwoehnen. Natuerlich auf seine Art. Er will mir ja schon Schmuck schenken in Venedig. Er hat keine Ahnung davon, dass ich mir nichts aus Schmuck mache. Ich klettere lieber, und ich schaukle mich lieber, und am liebsten immer in der Furcht, dass es irgendwo reissen oder brechen und ich niederstuerzen koennte. Den Kopf wird es ja nicht gleich kosten." "Und liebst du vielleicht auch deinen Vetter Briest?" "Ja, sehr. Der erheitert mich immer." "Und haettest du Vetter Briest heiraten moegen?" "Heiraten? Um Gottes willen nicht. Er ist ja noch ein halber Junge. Geert ist ein Mann, ein schoener Mann, ein Mann, mit dem ich Staat machen kann und aus dem was wird in der Welt. Wo denkst du hin, Mama." "Nun, das ist recht, Effi, das freut mich. Aber du hast noch was auf der Seele." "Vielleicht." "Nun, sprich." "Sieh, Mama, dass er aelter ist als ich, das schadet nichts, das ist vielleicht recht gut: Er ist ja doch nicht alt und ist gesund und frisch und so soldatisch und so schneidig. Und ich koennte beinah sagen, ich waere ganz und gar fuer ihn, wenn er nur ... ja, wenn er nur ein bisschen anders waere." "Wie denn, Effi?" "Ja, wie. Nun, du darfst mich nicht auslachen. Es ist etwas, was ich erst ganz vor kurzem aufgehorcht habe, drueben im Pastorhause. Wir sprachen da von Innstetten, und mit einem Male zog der alte Niemeyer seine Stirn in Falten, aber in Respekts- und Bewunderungsfalten, und sagte: 'Ja, der Baron! Das ist ein Mann von Charakter, ein Mann von Prinzipien.'" "Das ist er auch, Effi." "Gewiss. Und ich glaube, Niemeyer sagte nachher sogar, er sei auch ein Mann von Grundsaetzen. Und das ist, glaub ich, noch etwas mehr. Ach, und ich... ich habe keine. Sieh, Mama, da liegt etwas, was mich quaelt und aengstigt. Er ist so lieb und gut gegen mich und so nachsichtig, aber ... ich fuerchte mich vor ihm." Fuenftes Kapitel Die Hohen-Cremmer Festtage lagen zurueck; alles war abgereist, auch das junge Paar, noch am Abend des Hochzeitstages. Der Polterabend hatte jeden zufriedengestellt, besonders die Mitspielenden, und Hulda war dabei das Entzuecken aller jungen Offiziere gewesen, sowohl der Rathenower Husaren wie der etwas kritischer gestimmten Kameraden vom Alexanderregiment. Ja, alles war gut und glatt verlaufen, fast ueber Erwarten. Nur Bertha und Hertha hatten so heftig geschluchzt, dass Jahnkes plattdeutsche Verse so gut wie verlorengegangen waren. Aber auch das hatte wenig geschadet. Einige feine Kenner waren sogar der Meinung gewesen, das sei das Wahre; Steckenbleiben und Schluchzen und Unverstaendlichkeit - in diesem Zeichen (und nun gar, wenn es so huebsche rotblonde Krauskoepfe waeren) werde immer am entschiedensten gesiegt. Eines ganz besonderen Triumphes hatte sich Vetter Briest in seiner selbstgedichteten Rolle ruehmen duerfen. Er war als Demuthscher Kommis erschienen, der in Erfahrung gebracht, die junge Braut habe vor, gleich nach der Hochzeit nach Italien zu reisen, weshalb er einen Reisekoffer abliefern wolle. Dieser Koffer entpuppte sich natuerlich als eine Riesenbonbonniere von Hoevel. Bis um drei Uhr war getanzt worden, bei welcher Gelegenheit der sich mehr und mehr in eine hoechste Champagnerstimmung hineinredende alte Briest allerlei Bemerkungen ueber den an manchen Hoefen immer noch ueblichen Fackeltanz und die merkwuerdige Sitte des Strumpfbandaustanzens gemacht hatte, Bemerkungen, die nicht abschliessen wollten und, sich immer mehr steigernd, am Ende so weit gingen, dass ihnen durchaus ein Riegel vorgeschoben werden musste. "Nimm dich zusammen, Briest", war ihm in ziemlich ernstem Ton von seiner Frau zugefluestert worden; "du stehst hier nicht, um Zweideutigkeiten zu sagen, sondern um die Honneurs des Hauses zu machen. Wir haben eben eine Hochzeit und nicht eine Jagdpartie." Worauf Briest geantwortet, er saehe darin keinen so grossen Unterschied; uebrigens sei er gluecklich. Auch der Hochzeitstag selbst war gut verlaufen. Niemeyer hatte vorzueglich gesprochen, und einer der alten Berliner Herren, der halb und halb zur Hofgesellschaft gehoerte, hatte sich auf dem Rueckweg von der Kirche zum Hochzeitshaus dahin geaeussert, es sei doch merkwuerdig, wie reich gesaet in einem Staate wie der unsrige die Talente seien. "Ich sehe darin einen Triumph unserer Schulen und vielleicht mehr noch unserer Philosophie. Wenn ich bedenke, dass dieser Niemeyer, ein alter Dorfpastor, der anfangs aussah wie ein Hospitalit ... ja, Freund, sagen Sie selbst, hat er nicht gesprochen wie ein Hofprediger? Dieser Takt und diese Kunst der Antithese, ganz wie Koegel, und an Gefuehl ihm noch ueber. Koegel ist zu kalt. Freilich, ein Mann in seiner Stellung muss kalt sein. Woran scheitert man denn im Leben ueberhaupt? Immer nur an der Waerme." Der noch unverheiratete, aber wohl eben deshalb zum vierten Male in einem "Verhaeltnis" stehende Wuerdentraeger, an den sich diese Worte gerichtet hatten, stimmte selbstverstaendlich zu. "Nur zu wahr, lieber Freund", sagte er. "Zuviel Waerme! ... ganz vorzueglich ... Uebrigens muss ich Ihnen nachher eine Geschichte erzaehlen." Der Tag nach der Hochzeit war ein heller Oktobertag. Die Morgensonne blinkte; trotzdem war es schon herbstlich frisch, und Briest, der eben gemeinschaftlich mit seiner Frau das Fruehstueck genommen, erhob sich von seinem Platz und stellte sich, beide Haende auf dem Ruecken, gegen das mehr und mehr verglimmende Kaminfeuer. Frau von Briest, eine Handarbeit in Haenden, rueckte gleichfalls naeher an den Kamin und sagte zu Wilke, der gerade eintrat, um den Fruehstueckstisch abzuraeumen: "Und nun, Wilke, wenn Sie drin im Saal, aber das geht vor, alles in Ordnung haben, dann sorgen Sie, dass die Torten nach drueben kommen, die Nusstorte zu Pastors und die Schuessel mit kleinen Kuchen zu Jahnkes. Und nehmen Sie sich mit den Glaesern in acht. Ich meine die duenngeschliffenen." Briest war schon bei der dritten Zigarette, sah sehr wohl aus und erklaerte, nichts bekomme einem so gut wie eine Hochzeit, natuerlich die eigene ausgenommen. "Ich weiss nicht, Briest, wie du zu solcher Bemerkung kommst. Mir war ganz neu, dass du darunter gelitten haben willst. Ich wuesste auch nicht warum." "Luise, du bist eine Spielverderberin. Aber ich nehme nichts uebel, auch nicht einmal so was. Im uebrigen, was wollen wir von uns sprechen, die wir nicht einmal eine Hochzeitsreise gemacht haben. Dein Vater war dagegen. Aber Effi macht nun eine Hochzeitsreise. Beneidenswert. Mit dem Zehnuhrzug ab. Sie muessen jetzt schon bei Regensburg sein, und ich nehme an, dass er ihr - selbstverstaendlich ohne auszusteigen - die Hauptkunstschaetze der Walhalla herzaehlt. Innstetten ist ein vorzueglicher Kerl, aber er hat so was von einem Kunstfex, und Effi, Gott, unsere arme Effi, ist ein Naturkind. Ich fuerchte, dass er sie mit seinem Kunstenthusiasmus etwas quaelen wird." "Jeder quaelt seine Frau. Und Kunstenthusiasmus ist noch lange nicht das Schlimmste." "Nein, gewiss nicht; jedenfalls wollen wir darueber nicht streiten; es ist ein weites Feld. Und dann sind auch die Menschen so verschieden. Du, nun ja, du haettest dazu getaugt. Ueberhaupt haettest du besser zu Innstetten gepasst als Effi. Schade, nun ist es zu spaet." "Ueberaus galant, abgesehen davon, dass es nicht passt. Unter allen Umstaenden aber, was gewesen ist, ist gewesen. Jetzt ist er mein Schwiegersohn, und es kann zu nichts fuehren, immer auf Jugendlichkeiten zurueckzuweisen." "Ich habe dich nur in eine animierte Stimmung bringen wollen." "Sehr guetig. Uebrigens nicht noetig. Ich bin in animierter Stimmung." "Und auch in guter?" "Ich kann es fast sagen. Aber du darfst sie nicht verderben. Nun, was hast du noch? Ich sehe, dass du was auf dem Herzen hast." "Gefiel dir Effi? Gefiel dir die ganze Geschichte? Sie war so sonderbar, halb wie ein Kind, und dann wieder sehr selbstbewusst und durchaus nicht so bescheiden, wie sie's solchem Manne gegenueber sein muesste. Das kann doch nur so zusammenhaengen, dass sie noch nicht recht weiss, was sie an ihm hat. Oder ist es einfach, dass sie ihn nicht recht liebt? Das waere schlimm. Denn bei all seinen Vorzuegen, er ist nicht der Mann, sich diese Liebe mit leichter Manier zu gewinnen." Frau von Briest schwieg und zaehlte die Stiche auf dem Kanevas. Endlich sagte sie: "Was du da sagst, Briest, ist das Gescheiteste, was ich seit drei Tagen von dir gehoert habe, deine Rede bei Tisch mit eingerechnet. Ich habe auch so meine Bedenken gehabt. Aber ich glaube, wir koennen uns beruhigen." "Hat sie dir ihr Herz ausgeschuettet?" "So moecht ich es nicht nennen. Sie hat wohl das Beduerfnis zu sprechen, aber sie hat nicht das Beduerfnis, sich so recht von Herzen auszusprechen, und macht vieles in sich selber ab; sie ist mitteilsam und verschlossen zugleich, beinah versteckt; ueberhaupt ein ganz eigenes Gemisch." "Ich bin ganz deiner Meinung. Aber wenn sie dir nichts gesagt hat, woher weisst du's?" "Ich sagte nur, sie habe mir nicht ihr Herz ausgeschuettet. Solche Generalbeichte, so alles von der Seele herunter, das liegt nicht in ihr. Es fuhr alles bloss ruckweise und ploetzlich aus ihr heraus, und dann war es wieder vorueber. Aber gerade weil es so ungewollt und wie von ungefaehr aus ihrer Seele kam, deshalb war es mir so wichtig." "Und wann war es denn und bei welcher Gelegenheit?" "Es werden jetzt gerade drei Wochen sein, und wir sassen im Garten, mit allerhand Ausstattungsdingen, grossen und kleinen, beschaeftigt, als Wilke einen Brief von Innstetten brachte. Sie steckte ihn zu sich, und ich musste sie eine Viertelstunde spaeter erst erinnern, dass sie ja einen Brief habe. Dann las sie ihn, aber verzog kaum eine Miene. Ich bekenne dir, dass mir bang ums Herz dabei wurde, so bang, dass ich gern eine Gewissheit haben wollte, so viel, wie man in diesen Dingen haben kann." "Sehr wahr, sehr wahr." "Was meinst du damit?" "Nun, ich meine nur ... Aber das ist ja ganz gleich. Sprich nur weiter; ich bin ganz Ohr." "Ich fragte also rundheraus, wie's stuende, und weil ich bei ihrem eigenen Charakter einen feierlichen Ton vermeiden und alles so leicht wie moeglich, ja beinah scherzhaft nehmen wollte, so warf ich die Frage hin, ob sie vielleicht den Vetter Briest, der ihr in Berlin sehr stark den Hof gemacht hatte, ob sie den vielleicht lieber heiraten wuerde ..." "Und?" "Da haettest du sie sehen sollen. Ihre naechste Antwort war ein schnippisches Lachen. Der Vetter sei doch eigentlich nur ein grosser Kadett in Leutnantsuniform. Und einen Kadetten koenne sie nicht einmal lieben, geschweige heiraten. Und dann sprach sie von Innstetten, der ihr mit einem Male der Traeger aller maennlichen Tugenden war." "Und wie erklaerst du dir das?" "Ganz einfach. So geweckt und temperamentvoll und beinahe leidenschaftlich sie ist, oder vielleicht auch, weil sie es ist, sie gehoert nicht zu denen, die so recht eigentlich auf Liebe gestellt sind, wenigstens nicht auf das, was den Namen ehrlich verdient. Sie redet zwar davon, sogar mit Nachdruck und einem gewissen Ueberzeugungston, aber doch nur, weil sie irgendwo gelesen hat, Liebe sei nun mal das Hoechste, das Schoenste, das Herrlichste. Vielleicht hat sie's auch bloss von der sentimentalen Person, der Hulda, gehoert und spricht es ihr nach. Aber sie empfindet nicht viel dabei. Wohl moeglich, dass es alles mal kommt, Gott verhuete es, aber noch ist es nicht da." "Und was ist da? Was hat sie?" "Sie hat nach meinem und auch nach ihrem eigenen Zeugnis zweierlei: Vergnuegungssucht und Ehrgeiz. "Nun, das kann passieren. Da bin ich beruhigt." "Ich nicht. Innstetten ist ein Karrieremacher - von Streber will ich nicht sprechen, das ist er auch nicht, dazu ist er zu wirklich vornehm -, also Karrieremacher, und das wird Effis Ehrgeiz befriedigen." "Nun also. Das ist doch gut." "Ja, das ist gut! Aber es ist erst die Haelfte. Ihr Ehrgeiz wird befriedigt werden, aber ob auch ihr Hang nach Spiel und Abenteuer? Ich bezweifle. Fuer die stuendliche kleine Zerstreuung und Anregung, fuer alles, was die Langeweile bekaempft, diese Todfeindin einer geistreichen kleinen Person, dafuer wird Innstetten sehr schlecht sorgen. Er wird sie nicht in einer geistigen Ode lassen, dazu ist er zu klug und zu weltmaennisch, aber er wird sie auch nicht sonderlich amuesieren. Und was das Schlimmste ist, er wird sich nicht einmal recht mit der Frage beschaeftigen, wie das wohl anzufangen sei. Das wird eine Weile so gehen, ohne viel Schaden anzurichten, aber zuletzt wird sie's merken, und dann wird es sie beleidigen. Und dann weiss ich nicht, was geschieht. Denn so weich und nachgiebig sie ist, sie hat auch was Rabiates und laesst es auf alles ankommen." In diesem Augenblick trat Wilke vom Saal her ein und meldete, dass er alles nachgezaehlt und alles vollzaehlig gefunden habe; nur von den feinen Weinglaesern sei eins zerbrochen, aber schon gestern, als das Hoch ausgebracht wurde - Fraeulein Hulda habe mit Leutnant Nienkerken zu scharf angestossen. "Versteht sich, von alter Zeit her immer im Schlaf, und unterm Holunderbaum ist es natuerlich nicht besser geworden. Eine alberne Person, und ich begreife Nienkerken nicht." "Ich begreife ihn vollkommen." "Er kann sie doch nicht heiraten." "Nein." "Also zu was?" "Ein weites Feld, Luise." Dies war am Tage nach der Hochzeit. Drei Tage spaeter kam eine kleine gekritzelte Karte aus Muenchen, die Namen alle nur mit zwei Buchstaben angedeutet. "Liebe Mama! Heute vormittag die Pinakothek besucht. Geert wollte auch noch nach dem andern hinueber, das ich hier nicht nenne, weil ich wegen der Rechtschreibung in Zweifel bin, und fragen mag ich ihn nicht. Er ist uebrigens engelsgut gegen mich und erklaert mir alles. Ueberhaupt alles sehr schoen, aber anstrengend. In Italien wird es wohl nachlassen und besser werden. Wir wohnen in den 'Vier Jahreszeiten', was Geert veranlasste, mir zu sagen, draussen sei Herbst, aber er habe in mir den Fruehling. Ich finde es sehr sinnig. Er ist ueberhaupt sehr aufmerksam. Freilich, ich muss es auch sein, namentlich wenn er was sagt oder erklaert. Er weiss uebrigens alles so gut, dass er nicht einmal nachzuschlagen braucht. Mit Entzuecken spricht er von Euch, namentlich von Mama. Hulda findet er etwas zierig; aber der alte Niemeyer hat es ihm ganz angetan. Tausend Gruesse von Eurer ganz berauschten, aber auch etwas mueden Effi." Solche Karten trafen nun taeglich ein, aus Innsbruck, aus Verona, aus Vicenza, aus Padua, eine jede fing an: "Wir haben heute vormittag die hiesige beruehmte Galerie besucht", oder wenn es nicht die Galerie war, so war es eine Arena oder irgendeine Kirche "Santa Maria" mit einem Zunamen. Aus Padua kam, zugleich mit der Karte, noch ein wirklicher Brief. "Gestern waren wir in Vicenza. Vicenza muss man sehen wegen des Palladio; Geert sagte mir, dass in ihm alles Moderne wurzele. Natuerlich nur in bezug auf Baukunst. Hier in Padua (wo wir heute frueh ankamen) sprach er im Hotelwagen etliche Male vor sich hin: 'Er liegt in Padua begraben', und war ueberrascht, als er von mir vernahm, dass ich diese Worte noch nie gehoert haette. Schliesslich aber sagte er, es sei eigentlich ganz gut und ein Vorzug, dass ich nichts davon wuesste. Er ist ueberhaupt sehr gerecht. Und vor allem ist er engelsgut gegen mich und gar nicht ueberheblich und auch gar nicht alt. Ich habe noch immer das Ziehen in den Fuessen, und das Nachschlagen und das lange Stehen vor den Bildern strengt mich an. Aber es muss ja sein. Ich freue mich sehr auf Venedig. Da bleiben wir fuenf Tage, ja vielleicht eine ganze Woche. Geert hat mir schon von den Tauben auf dem Markusplatz vorgeschwaermt, und dass man sich da Tueten mit Erbsen kauft und dann die schoenen Tiere damit fuettert. Es soll Bilder geben, die das darstellen, schoene blonde Maedchen, 'ein Typus wie Hulda', sagte er. Wobei mir denn auch die Jahnkeschen Maedchen einfallen. Ach, ich gaebe was drum, wenn ich mit ihnen auf unserem Hof auf einer Wagendeichsel sitzen und unsere Tauben fuettern koennte. Die Pfauentaube mit dem starken Kropf duerft ihr aber nicht schlachten, die will ich noch wiedersehen. Ach, es ist so schoen hier. Es soll auch das Schoenste sein. Eure glueckliche, aber etwas muede Effi." Frau von Briest, als sie den Brief vorgelesen hatte, sagte: "Das arme Kind. Sie hat Sehnsucht." "Ja", sagte Briest, "sie hat Sehnsucht. Diese verwuenschte Reiserei ..." "Warum sagst du das jetzt? Du haettest es ja hindern koennen. Aber das ist so deine Art, hinterher den Weisen zu spielen. Wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, decken die Ratsherren den Brunnen zu." "Ach, Luise, komme mir doch nicht mit solchen Geschichten. Effi ist unser Kind, aber seit dem 3. Oktober ist sie Baronin Innstetten. Und wenn ihr Mann, unser Herr Schwiegersohn, eine Hochzeitsreise machen und bei der Gelegenheit jede Galerie neu katalogisieren will, so kann ich ihn daran nicht hindern. Das ist eben das, was man sich verheiraten nennt." "Also jetzt gibst du das zu. Mir gegenueber hast du's immer bestritten, immer bestritten, dass die Frau in einer Zwangslage sei." "Ja, Luise, das hab ich. Aber wozu das jetzt. Das ist wirklich ein zu weites Feld." Sechstes Kapitel Mitte November - sie waren bis Capri und Sorrent gekommen - lief Innstettens Urlaub ab, und es entsprach seinem Charakter und seinen Gewohnheiten, genau Zeit und Stunde zu halten. Am 14. frueh traf er denn auch mit dem Kurierzug in Berlin ein, wo Vetter Briest ihn und die Cousine begruesste und vorschlug, die zwei bis zum Abgang des Stettiner Zuges noch zur Verfuegung bleibenden Stunden zum Besuch des St.-Privat-Panoramas zu benutzen und diesem Panoramabesuch ein kleines Gabelfruehstueck folgen zu lassen. Beides wurde dankbar akzeptiert. Um Mittag war man wieder auf dem Bahnhof und nahm hier, nachdem, wie herkoemmlich, die gluecklicherweise nie ernst gemeinte Aufforderung, "doch auch mal herueberzukommen", ebenso von Effi wie von Innstetten ausgesprochen worden war, unter herzlichem Haendeschuetteln Abschied voneinander. Noch als der Zug sich schon in Bewegung setzte, gruesste Effi vom Coupe aus. Dann machte sie sich's bequem und schloss die Augen; nur von Zeit zu Zeit richtete sie sich wieder auf und reichte Innstetten die Hand. Es war eine angenehme Fahrt, und puenktlich erreichte der Zug den Bahnhof Klein-Tantow, von dem aus eine Chaussee nach dem noch zwei Meilen entfernten Kessin hinueberfuehrte. Bei Sommerzeit, namentlich waehrend der Bademonate, benutzte man statt der Chaussee lieber den Wasserweg und fuhr auf einem alten Raddampfer das Fluesschen Kessine, dem Kessin selbst seinen Namen verdankte, hinunter; am 1. Oktober aber stellte der "Phoenix", von dem seit langem vergeblich gewuenscht wurde, dass er in einer passagierfreien Stunde sich seines Namens entsinnen und verbrennen moege, regelmaessig seine Fahrten ein, weshalb denn auch Innstetten bereits von Stettin aus an seinen Kutscher Kruse telegrafiert hatte: "Fuenf Uhr Bahnhof Klein-Tantow. Bei gutem Wetter offener Wagen." Und nun war gutes Wetter, und Kruse hielt in offenem Gefaehrt am Bahnhof und begruesste die Ankommenden mit dem vorschriftsmaessigen Anstand eines herrschaftlichen Kutschers. "Nun, Kruse, alles in Ordnung?" "Zu Befehl, Herr Landrat." "Dann, Effi, bitte, steig ein." Und waehrend Effi dem nachkam und einer von den Bahnhofsleuten einen kleinen Handkoffer vorn beim Kutscher unterbrachte, gab Innstetten Weisung, den Rest des Gepaecks mit dem Omnibus nachzuschicken. Gleich danach nahm auch er seinen Platz, bat, sich Populaer machend, einen der Umstehenden um Feuer und rief Kruse zu: "Nun vorwaerts, Kruse." Und ueber die Schienenweg, die vielgleisig an der Uebergangsstelle lagen, ging es in Schraeglinie den Bahndamm hinunter und gleich danach an einem schon an der Chaussee gelegenen Gasthaus vorueber, das den Namen "Zum Fuersten Bismarck" fuehrte. Denn an ebendieser Stelle gabelte der Weg und zweigte, wie rechts nach Kessin, so links nach Varzin hin ab. Vor dem Gasthof stand ein mittelgrosser, breitschultriger Mann in Pelz und Pelzmuetze, welch letztere er, als der Herr Landrat vorueberfuhr, mit vieler Wuerde vom Haupte nahm. "Wer war denn das?" sagte Effi, die durch alles, was sie sah, aufs hoechste interessiert und schon deshalb bei bester Laune war. "Er sah ja aus wie ein Starost, wobei ich freilich bekennen muss, nie einen Starosten gesehen zu haben." "Was auch nicht schadet, Effi Du hast es trotzdem sehr gut getroffen. Er sieht wirklich aus wie ein Starost und ist auch so was. Er ist naemlich ein halber Pole, heisst Golchowski, und wenn wir hier Wahl haben oder eine Jagd, dann ist er obenauf. Eigentlich ein ganz unsicherer Passagier, dem ich nicht ueber den Weg traue und der wohl viel auf dem Gewissen hat. Er spielt sich aber auf den Loyalen hin aus, und wenn die Varziner Herrschaften hier vorueberkommen, moechte er sich am liebsten vor den Wagen werfen. Ich weiss, dass er dem Fuersten auch widerlich ist. Aber was hilft's? Wir duerfen es nicht mit ihm verderben, weil wir ihn brauchen. Er hat hier die ganze Gegend in der Tasche und versteht die Wahlmache wie kein anderer, gilt auch fuer wohlhabend. Dabei leiht er auf Wucher, was sonst die Polen nicht tun; in der Regel das Gegenteil." "Er sah aber gut aus." "Ja, gut aussehen tut er. Gut aussehen tun die meisten hier. Ein huebscher Schlag Menschen. Aber das ist auch das Beste, was man von ihnen sagen kann. Eure maerkischen Leute sehen unscheinbarer aus und verdriesslicher, und in ihrer Haltung sind sie weniger respektvoll, eigentlich gar nicht, aber ihr Ja ist Ja und Nein ist Nein, und man kann sich auf sie verlassen. Hier ist alles unsicher." "Warum sagst du mir das? Ich muss nun doch hier mit ihnen leben." "Du nicht, du wirst nicht viel von ihnen hoeren und sehen. Denn Stadt und Land sind hier sehr verschieden, und du wirst nur unsere Staedter kennenlernen, unsere guten Kessiner." "Unsere guten Kessiner. Ist es Spott, oder sind wie wirklich so gut?" "Dass sie wirklich gut sind, will ich nicht gerade behaupten, aber sie sind doch anders als die andern; ja, sie haben gar keine Aehnlichkeit mit der Landbevoelkerung hier." "Und wie kommt das?" "Weil es eben ganz andere Menschen sind, ihrer Abstammung nach und ihren Beziehungen nach. Was du hier landeinwaerts findest, das sind sogenannte Kaschuben, von denen du vielleicht gehoert hast, slawische Leute, die hier schon tausend Jahre sitzen und wahrscheinlich noch viel laenger. Alles aber, was hier an der Kueste hin in den kleinen See- und Handelsstaedten wohnt, das sind von weither Eingewanderte, die sich um das kaschubische Hinterland wenig kuemmern, weil sie wenig davon haben und auf etwas ganz anderes angewiesen sind. Worauf sie angewiesen sind, das sind die Gegenden, mit denen sie Handel treiben, und da sie das mit aller Welt tun und mit aller Welt in Verbindung stehen, so findest du zwischen ihnen auch Menschen aus aller Welt Ecken und Enden. Auch in unserem guten Kessin, trotzdem es eigentlich nur ein Nest ist." Aber das ist ja entzueckend, Geert. Du sprichst immer von Nest, und nun finde ich, wenn du nicht uebertrieben hast, eine ganz neue Welt hier. Allerlei Exotisches. Nicht wahr, so was Aehnliches meintest du doch?" Er nickte. "Eine ganz neue Welt, sag ich, vielleicht einen Neger oder einen Tuerken oder vielleicht sogar einen Chinesen." "Auch einen Chinesen. Wie gut du raten kannst. Es ist moeglich, dass wir wirklich noch einen haben, aber jedenfalls haben wir einen gehabt; jetzt ist er tot und auf einem kleinen eingegitterten Stueck Erde begraben, dicht neben dem Kirchhof. Wenn du nicht furchtsam bist, will ich dir bei Gelegenheit mal sein Grab zeigen; es liegt zwischen den Duenen, bloss Strandhafer drumrum und dann und wann ein paar Immortellen, und immer hoert man das Meer. Es ist sehr schoen und sehr schauerlich." "Ja, schauerlich, und ich moechte wohl mehr davon wissen. Aber doch lieber nicht, ich habe dann immer gleich Visionen und Traeume und moechte doch nicht, wenn ich diese Nacht hoffentlich gut schlafe, gleich einen Chinesen an mein Bett treten sehen." "Das wird er auch nicht." "Das wird er auch nicht. Hoer, das klingt ja sonderbar, als ob es doch moeglich waere. Du willst mir Kessin interessant machen, aber du gehst darin ein bisschen weit. Und solche fremde Leute habt ihr viele in Kessin?" "Sehr viele. Die ganze Stadt besteht aus solchen Fremden, aus Menschen, deren Eltern oder Grosseltern noch ganz woanders sassen." "Hoechst merkwuerdig. Bitte, sag mir mehr davon. Aber nicht wieder was Gruseliges. Ein Chinese, find ich, hat immer was Gruseliges." "Ja, das hat er", lachte Geert. "Aber der Rest ist, Gott sei Dank, von ganz anderer Art, lauter manierliche Leute, vielleicht ein bisschen zu sehr Kaufmann, ein bisschen zu sehr auf ihren Vorteil bedacht und mit Wechseln von zweifelhaftem Wert immer bei der Hand. Ja, man muss sich vorsehen mit ihnen. Aber sonst ganz gemuetlich. Und damit du siehst, dass ich dir nichts vorgemacht habe, will ich dir nur so eine kleine Probe geben, so eine Art Register oder Personenverzeichnis." "Ja, Geert, das tu." "Da haben wir beispielsweise keine fuenfzig Schritt von uns, und unsere Gaerten stossen sogar zusammen, den Maschinen- und Baggermeister Macpherson, einen richtigen Schotten und Hochlaender." "Und traegt sich auch noch so?" "Nein, Gott sei Dank nicht, denn es ist ein verhutzeltes Maennchen, auf das weder sein Clan noch Walter Scott besonders stolz sein wuerden. Und dann haben wir in demselben Haus, wo dieser Macpherson wohnt, auch noch einen alten Wundarzt, Beza mit Namen, eigentlich bloss Barbier; der stammt aus Lissabon, gerade daher, wo auch der beruehmte General de Meza herstammt - Meza, Beza, du hoerst die Landesverwandtschaft heraus. Und dann haben wir flussaufwaerts am Bollwerk - das ist naemlich der Kai, wo die Schiffe liegen - einen Goldschmied namens Stedingk, der aus einer alten schwedischen Familie stammt; ja, ich glaube, es gibt sogar Reichsgrafen, die so heissen, und des weiteren, und damit will ich dann vorlaeufig abschliessen, haben wir den guten alten Doktor Hannemann, der natuerlich ein Daene ist und lange in Island war und sogar ein kleines Buch geschrieben hat ueber den letzten Ausbruch des Hekla oder Krabla." "Das ist ja aber grossartig, Geert. Das ist ja wie sechs Romane, damit kann man ja gar nicht fertig werden. Es klingt erst spiessbuergerlich und ist doch hinterher ganz apart. Und dann muesst ihr ja doch auch Menschen haben, schon weil es eine Seestadt ist, die nicht bloss Chirurgen oder Barbiere sind oder sonst dergleichen. Ihr muesst doch auch Kapitaene haben, irgendeinen fliegenden Hollaender oder ..." "Da hast du ganz recht. Wir haben sogar einen Kapitaen, der war Seeraeuber unter den Schwarzflaggen." "Kenn ich nicht. Was sind Schwarzflaggen?" "Das sind Leute weit dahinten in Tonkin und an der Suedsee ... Seit er aber wieder unter Menschen ist, hat er auch wieder die besten Formen und ist ganz unterhaltlich." "Ich wuerde mich aber doch vor ihm fuerchten." "Was du nicht noetig hast, zu keiner Zeit, und auch dann nicht, wenn ich ueber Land bin oder zum Tee beim Fuersten, denn zu allem andern, was wir haben, haben wir ja Gott sei Dank auch Rollo ..." "Rollo?" "Ja, Rollo. Du denkst dabei, vorausgesetzt, dass du bei Niemeyer oder Jahnke von dergleichen gehoert hast, an den Normannenherzog, und unserer hat auch so was. Es ist aber bloss ein Neufundlaender, ein wunderschoenes Tier, das mich liebt und dich auch lieben wird. Denn Rollo ist ein Kenner. Und solange du den um dich hast, so lange bist du sicher und kann nichts an dich heran, kein Lebendiger und kein Toter. Aber sieh mal den Mond da drueben. Ist es nicht schoen?" Effi, die, still in sich versunken, jedes Wort halb aengstlich, halb begierig eingesogen hatte, richtete sich jetzt auf und sah nach rechts hinueber, wo der Mond, unter weissem, aber rasch hinschwindendem Gewoelk, eben aufgegangen war. Kupferfarben stand die grosse Scheibe hinter einem Erlengehoelz und warf ihr Licht auf eine breite Wasserflaeche, die die Kessine hier bildete. Oder vielleicht war es auch schon ein Haff, an dem das Meer draussen seinen Anteil hatte. Effi war wie benommen. "Ja, du hast recht, Geert, wie schoen; aber es hat zugleich so was Unheimliches. In Italien habe ich nie solchen Eindruck gehabt, auch nicht, als wir von Mestre nach Venedig hinueberfuhren. Da war auch Wasser und Sumpf und Mondschein, und ich dachte, die Bruecke wuerde brechen; aber es war nicht so gespenstig. Woran liegt es nur? Ist es doch das Noerdliche?" Innstetten lachte. "Wir sind hier fuenfzehn Meilen noerdlicher als in Hohen-Cremmen, und eh der erste Eisbaer kommt, musst du noch eine Weile warten. Ich glaube, du bist nervoes von der langen Reise und dazu das St.-Privat-Panorama und die Geschichte von dem Chinesen." "Du hast mir ja gar keine erzaehlt." "Nein, ich hab ihn nur eben genannt. Aber ein Chinese ist schon an und fuer sich eine Geschichte ..." "Ja", lachte sie. "Und jedenfalls hast du's bald ueberstanden. Siehst du da vor dir das kleine Haus mit dem Licht? Es ist eine Schmiede. Da biegt der Weg. Und wenn wir die Biegung gemacht haben, dann siehst du schon den Turm von Kessin oder richtiger beide..." "Hat es denn zwei?" "Ja, Kessin nimmt sich auf. Es hat jetzt auch eine katholische Kirche." Eine halbe Stunde spaeter hielt der Wagen an der ganz am entgegengesetzten Ende der Stadt gelegenen landraetlichen Wohnung, einem einfachen, etwas altmodischen Fachwerkhaus, das mit seiner Front auf die nach den Seebaedern hinausfuehrende Hauptstrasse, mit seinem Giebel aber auf ein zwischen der Stadt und den Duenen liegendes Waeldchen, das die "Plantage" hiess, herniederblickte. Dies altmodische Fachwerkhaus war uebrigens nur Innstettens Privatwohnung, nicht das eigentliche Landratsamt, welches letztere, schraeg gegenueber, an der anderen Seite der Strasse lag. Kruse hatte nicht noetig, durch einen dreimaligen Peitschenknips die Ankunft zu vermelden; laengst hatte man von Tuer und Fenstern aus nach den Herrschaften ausgeschaut, und ehe noch der Wagen heran war, waren bereits alle Hausinsassen auf dem die ganze Breite des Buergersteigs einnehmenden Schwellstein versammelt, vorauf Rollo, der im selben Augenblick, wo der Wagen hielt, diesen zu umkreisen begann. Innstetten war zunaechst seiner jungen Frau beim Aussteigen behilflich und ging dann, dieser den Arm reichend, unter freundlichem Gruss an der Dienerschaft vorueber, die nun dem jungen Paar in den mit praechtigen alten Wandschraenken umstandenen Hausflur folgte. Das Hausmaedchen, eine huebsche, nicht mehr ganz jugendliche Person, die ihre stattliche Fuelle fast ebenso gut kleidete wie das zierliche Muetzchen auf dem blonden Haar, war der gnaedigen Frau beim Ablegen von Muff und Mantel behilflich und bueckte sich eben, um ihr auch die mit Pelz gefuetterten Gummistiefel auszuziehen. Aber ehe sie noch dazu kommen konnte, sagte Innstetten: "Es wird das beste sein, ich stelle dir gleich hier unsere gesamte Hausgenossenschaft vor, mit Ausnahme der Frau Kruse, die sich - ich vermute sie wieder bei ihrem unvermeidlichen schwarzen Huhn - nicht gerne sehen laesst." Alles laechelte. "Aber lassen wir Frau Kruse ... Dies hier ist mein alter Friedrich, der schon mit mir auf der Universitaet war ... Nicht wahr, Friedrich, gute Zeiten damals ... Und dies hier ist Johanna, maerkische Landsmaennin von dir, wenn du, was aus Pasewalker Gegend stammt, noch fuer voll gelten lassen willst, und dies ist Christel, der wir mittags und abends unser leibliches Wohl anvertrauen und die zu kochen versteht, das kann ich dir versichern. Und dies hier ist Rollo. Nun, Rollo, wie geht's?" Rollo schien nur auf diese spezielle Ansprache gewartet zu haben, denn im selben Augenblick, wo er seinen Namen hoerte, gab er einen Freudenblaff, richtete sich auf und legte die Pfoten auf seines Herrn Schulter. "Schon gut, Rollo, schon gut. Aber sieh da, das ist die Frau; ich hab ihr von dir erzaehlt und ihr gesagt, dass du ein schoenes Tier seist und sie schuetzen wuerdest." Und nun liess Rollo ab und setzte sich vor Innstetten nieder, zugleich neugierig zu der jungen Frau aufblickend. Und als diese ihm die Hand hinhielt, umschmeichelte er sie. Effi hatte waehrend dieser Vorstellungsszene Zeit gefunden, sich umzuschauen. Sie war wie gebannt von allem, was sie sah, und dabei geblendet von der Fuelle von Licht. In der vorderen Flurhaelfte brannten vier, fuenf Wandleuchter, die Leuchten selbst sehr primitiv, von blossem Weissblech, was aber den Glanz und die Helle nur noch steigerte. Zwei mit roten Schleiern bedeckte Astrallampen, Hochzeitsgeschenk von Niemeyer, standen auf einem zwischen zwei Eichenschraenken angebrachten Klapptisch, in Front davon das Teezeug, dessen Laempchen unter dem Kessel schon angezuendet war. Aber noch viel, viel anderes und zum Teil sehr Sonderbares kam zu dem allen hinzu. Quer ueber den Flur fort liefen drei die Flurdecke in ebenso viele Felder teilende Balken; an dem vordersten hing ein Schiff mit vollen Segeln, hohem Hinterdeck und Kanonenluken, waehrend weiterhin ein riesiger Fisch in der Luft zu schwimmen schien. Effi nahm ihren Schirm, den sie noch in Haenden hielt, und stiess leis an das Ungetuem an, so dass es sich in eine langsam schaukelnde Bewegung setzte. "Was ist das, Geert?" fragte sie. "Das ist ein Haifisch." "Und ganz dahinten das, was aussieht wie eine grosse Zigarre vor einem Tabaksladen?" "Das ist ein junges Krokodil. Aber das kannst du dir alles morgen viel besser und genauer ansehen; jetzt komm und lass uns eine Tasse Tee nehmen. Denn trotz aller Plaids und Decken wirst du gefroren haben. Es war zuletzt empfindlich kalt." Er bot nun Effi den Arm, und waehrend sich die beiden Maedchen zurueckzogen und nur Friedrich und Rollo folgten, trat man, nach links hin, in des Hausherrn Wohn- und Arbeitszimmer ein. Effi war hier aehnlich ueberrascht wie draussen im Flur; aber ehe sie sich darueber aeussern konnte, schlug Innstetten eine Portiere zurueck, hinter der ein zweites, etwas groesseres Zimmer, mit Blick auf Hof und Garten, gelegen war. "Das, Effi, ist nun also dein. Friedrich und Johanna haben es, so gut es ging, nach meinen Anordnungen herrichten muessen. Ich finde es ganz ertraeglich und wuerde mich freuen, wenn es dir auch gefiele." Sie nahm ihren Arm aus dem seinigen und hob sich auf die Fussspitzen, um ihm einen herzlichen Kuss zu geben. "Ich armes kleines Ding, wie du mich verwoehnst. Dieser Fluegel und dieser Teppich, ich glaube gar, es ist ein tuerkischer, und das Bassin mit den Fischchen und dazu der Blumentisch. Verwoehnung, wohin ich sehe." "Ja, meine liebe Effi, das musst du dir nun schon gefallen lassen, dafuer ist man jung und huebsch und liebenswuerdig, was die Kessiner wohl auch schon erfahren haben werden, Gott weiss woher. Denn an dem Blumentisch wenigstens bin ich unschuldig. Friedrich, wo kommt der Blumentisch her?" "Apotheker Gieshuebler ... Es liegt auch eine Karte bei." "Ah, Gieshuebler, Alonzo Gieshuebler", sagte Innstetten und reichte lachend und in beinahe ausgelassener Laune die Karte mit dem etwas fremdartig klingenden Vornamen zu Effi hinueber. "Gieshuebler, von dem hab ich dir zu erzaehlen vergessen - beilaeufig, er fuehrt auch den Doktortitel, hat's aber nicht gern, wenn man ihn dabei nennt, das aergere, so meint er, die richtigen Doktoren bloss, und darin wird er wohl recht haben. Nun, ich denke, du wirst ihn kennenlernen, und zwar bald; er ist unsere beste Nummer hier, Schoengeist und Original und vor allem Seele von Mensch, was doch immer die Hauptsache bleibt. Aber lassen wir das alles und setzen uns und nehmen unsern Tee. Wo soll es sein? Hier bei dir oder drin bei mir? Denn eine weitere Wahl gibt es nicht. Eng und klein ist meine Huette." Sie setzte sich ohne Besinnen auf ein kleines Ecksofa. "Heute bleiben wir hier, heute bist du bei mir zu Gast. Oder lieber so: den Tee regelmaessig bei mir, das Fruehstueck bei dir; dann kommt jeder zu seinem Recht, und ich bin neugierig, wo mir's am besten gefallen wird." "Das ist eine Morgen- und Abendfrage." "Gewiss. Aber wie sie sich stellt, oder richtiger, wie wir uns dazu stellen, das ist es eben." Und sie lachte und schmiegte sich an ihn und wollte ihm die Hand kuessen. "Nein, Effi, um Himmels willen nicht, nicht so. Mir liegt nicht daran, die Respektsperson zu sein, das bin ich fuer die Kessiner. Fuer dich bin ich ..." "Nun was?" "Ach lass. Ich werde mich hueten, es zu sagen." Siebentes Kapitel Es war schon heller Tag, als Effi am andern Morgen erwachte. Sie hatte Muehe, sich zurechtzufinden. Wo war sie? Richtig, in Kessin, im Hause des Landrats von Innstetten, und sie war seine Frau, Baronin Innstetten. Und sich aufrichtend, sah sie sich neugierig um; am Abend vorher war sie zu muede gewesen, um alles, was sie da halb fremdartig, halb altmodisch umgab, genauer in Augenschein zu nehmen. Zwei Saeulen stuetzten den Deckenbalken, und gruene Vorhaenge schlossen den alkovenartigen Schlafraum, in welchem die Betten standen, von dem Rest des Zimmers ab; nur in der Mitte fehlte der Vorhang oder war zurueckgeschlagen, was ihr von ihrem Bett aus eine bequeme Orientierung gestattete. Da, zwischen den zwei Fenstern, stand der schmale, bis hoch hinaufreichende Trumeau, waehrend rechts daneben, und schon an der Flurwand hin, der grosse schwarze Kachelofen aufragte, der noch (soviel hatte sie schon am Abend vorher bemerkt) nach alter Sitte von aussen her geheizt wurde. Sie fuehlte jetzt, wie seine Waerme herueberstroemte. Wie schoen es doch war, im eigenen Hause zu sein; soviel Behagen hatte sie waehrend der ganzen Reise nicht empfunden, nicht einmal in Sorrent. Aber wo war Innstetten? Alles still um sie her, niemand da. Sie hoerte nur den Ticktackschlag einer kleinen Penduele und dann und wann einen dumpfen Ton im Ofen, woraus sie schloss, dass vom Flur her ein paar neue Scheite nachgeschoben wuerden. Allmaehlich entsann sie sich auch, dass Geert am Abend vorher von einer elektrischen Klingel gesprochen hatte, nach der sie dann auch nicht lange mehr zu suchen brauchte; dicht neben ihrem Kissen war der kleine weisse Elfenbeinknopf, auf den sie nun leise drueckte. Gleich danach erschien Johanna. "Gnaedige Frau haben befohlen." "Ach, Johanna, ich glaube, ich habe mich verschlafen. Es muss schon spaet sein." "Eben neun." "Und der Herr ...", es wollte ihr nicht gluecken, so ohne ,weiteres von ihrem "Mann" zu sprechen ..., "der Herr, er muss sehr leise gemacht haben; ich habe nichts gehoert." "Das hat er gewiss. Und gnaed'ge Frau werden fest geschlafen haben. Nach der langen Reise ..." "Ja, das hab ich. Und der Herr, ist er immer so frueh auf?" Immer, gnaed'ge Frau. Darin ist er streng; er kann das lange sch1afen nicht leiden, und wenn er drueben in sein Zimmer tritt, da muss der Ofen warm sein, und der Kaffee darf auch nicht auf sich warten lassen." "Da hat er also schon gefruehstueckt?" "Oh, nicht doch, gnaed'ge Frau ... der gnaed'ge Herr..." Effi fuehlte, dass sie die Frage nicht haette tun und die Vermutung, Innstetten koenne nicht auf sie gewartet haben, lieber nicht haette aussprechen sollen. Es lag ihr denn auch daran, diesen ihren Fehler, so gut es ging, wieder auszugleichen, und als sie sich erhoben und vor dem Trumeau Platz genommen hatte, nahm sie das Gespraech wieder auf und sagte: "Der Herr hat uebrigens ganz recht. Immer frueh auf, das war auch Regel in meiner Eltern Haus. Wo die Leute den Morgen verschlafen, da gibt es den ganzen Tag keine Ordnung mehr. Aber der Herr wird es so streng mit mir nicht nehmen; eine ganze Weile hab ich diese Nacht nicht schlafen koennen und habe mich sogar ein wenig geaengstigt." "Was ich hoeren muss, gnaed'ge Frau! Was war es denn?" "Es war ueber mir ein ganz sonderbarer Ton, nicht laut, aber doch sehr eindringlich. Erst klang es, wie wenn lange Schleppenkleider ueber die Diele hinschleiften, und in meiner Erregung war es mir ein paarmal, als ob ich kleine weisse Atlasschuhe saehe. Es war, als tanze man oben, aber ganz leise." Johanna, waehrend das Gespraech so ging, sah ueber die Schulter der jungen Frau fort in den hohen, schmalen Spiegel hinein, um die Mienen Effis besser beobachten zu koennen. Dann sagte sie: "Ja, das ist oben im Saal. Frueher hoerten wir es in der Kueche auch. Aber jetzt hoeren wir es nicht mehr; wir haben uns daran gewoehnt." "Ist es denn etwas Besonderes damit?" "O Gott bewahre, nicht im geringsten. Eine Weile wusste man nicht recht, woher es kaeme, und der Herr Prediger machte ein verlegenes Gesicht, trotzdem Doktor Gieshuebler immer nur darueber lachte. Nun aber wissen wir, dass es die Gardinen sind. Der Saal ist etwas multrig und stockig, und deshalb stehen immer die Fenster auf, wenn nicht gerade Sturm ist. Und da ist denn fast immer ein starker Zug oben und fegt die alten weissen Gardinen, die ausserdem viel zu lang sind, ueber die Dielen hin und her. Das klingt dann so wie seidne Kleider oder auch wie Atlasschuhe, wie die gnaed'ge Frau eben bemerkte." "Natuerlich ist es das. Aber ich begreife nur nicht, warum dann die Gardinen nicht abgenommen werden. Oder man koennte sie ja kuerzer machen. Es ist ein so sonderbares Geraeusch, das einem auf die Nerven faellt. Und nun, Johanna, bitte, geben Sie mir noch das kleine Tuch, und tupfen Sie mir die Stirn. Oder nehmen Sie lieber den Rafraichisseur aus meiner Reisetasche ... Ach, das ist schoen und erfrischt mich. Nun werde ich hinuebergehen. Er ist doch noch da, oder war er schon aus?" "Der gnaed'ge Herr war schon aus, ich glaube, drueben auf dem Amt. Aber seit einer Viertelstunde ist er zurueck. Ich werde Friedrich sagen, dass er das Fruehstueck bringt." Und damit verliess Johanna das Zimmer, waehrend Effi noch einen Blick in den Spiegel tat und dann ueber den Flur fort, der bei der Tagesbeleuchtung viel von seinem Zauber vom Abend vorher eingebuesst hatte, bei Geert eintrat. Dieser sass an seinem Schreibtisch, einem etwas schwerfaelligen Zylinderbuero, das er aber, als Erbstueck aus dem elterlichen Hause, nicht missen mochte. Effi stand hinter ihm und umarmte und kuesste ihn, noch eh euch von seinem Platz erheben konnte. "Schon?" "Schon, sagst du. Natuerlich um mich zu verspotten." Innstetten schuettelte den Kopf. "Wie werd ich das?" Effi fand aber ein Gefallen daran, sich anzuklagen, und wollte von den Versicherungen ihres Mannes, dass sein "schon" ganz aufrichtig gemeint gewesen sei, nichts hoeren. "Du musst von der Reise her wissen, dass ich morgens nie habe warten lassen. Im Laufe des Tages, nun ja, da ist es etwas anderes. Es ist wahr, ich bin nicht sehr puenktlich, aber ich bin keine Langschlaeferin. Darin, denk ich, haben mich die Eltern gut erzogen." "Darin? In allem, meine suesse Effi." "Das sagst du so, weil wir noch in den Flitterwochen sind ... aber nein, wir sind ja schon heraus. Um Himmels willen, Geert, daran habe ich noch gar nicht gedacht, wir sind ja schon ueber sechs Wochen verheiratet, sechs Wochen und einen Tag. Ja, das ist etwas anderes, da nehme ich es nicht mehr als Schmeichelei, da nehme ich es als Wahrheit." In diesem Augenblick trat Friedrich ein und brachte den Kaffee. Der Fruehstueckstisch stand in Schraeglinie vor einem Meinen, rechtwinkligen Sofa, das gerade die eine Ecke des Wohnzimmers ausfuellte. Hier setzten sich beide. "Der Kaffee ist ja vorzueglich", sagte Effi, waehrend sie zugleich das Zimmer und seine Einrichtung musterte. "Das ist noch Hotelkaffee oder wie der bei Bottegone ... erinnerst du dich noch, in Florenz, mit dem Blick auf den Dom. Davor muss ich der Mama schreiben, solchen Kaffee haben wir in Hohen-Cremmen nicht. Ueberhaupt, Geert, ich sehe nun erst, wie vornehm ich mich verheiratet habe. Bei uns konnte alles nur so gerade passieren." "Torheit, Effi. Ich habe nie eine bessere Hausfuehrung gesehen als bei euch." "Und dann, wie du wohnst. Als Papa sich den neuen Gewehrschrank angeschafft und ueber seinem Schreibtisch einen Bueffelkopf und dicht darunter den alten Wrangel angebracht hatte (er war naemlich mal Adjutant bei dem Alten), da dacht er wunder was er getan; aber wenn ich mich hier umsehe, daneben ist unsere ganze Hohen-Cremmener Herrlichkeit ja bloss duerftig und alltaeglich. Ich weiss gar nicht, womit ich das alles vergleichen soll; schon gestern abend, als ich nur so fluechtig darueber hinsah, kamen mir allerhand Gedanken." "Und welche, wenn ich fragen darf?" "Ja, welche. Du darfst aber nicht drueber lachen. Ich habe mal ein Bilderbuch gehabt, wo ein persischer oder indischer Fuerst (denn er trug einen Turban) mit untergeschlagenen Beinen auf einem roten Seidenkissen sass, und in seinem Ruecken war ausserdem noch eine grosse rote Seidenrolle, die links und rechts ganz bauschig zum Vorschein kam, und die Wand hinter dem indischen Fuersten starrte von Schwertern und Dolchen und Parderfellen und Schilden und langen tuerkischen Flinten. Und sieh, ganz so sieht es hier bei dir aus, und wenn du noch die Beine unterschlaegst, ist die Aehnlichkeit vollkommen." "Effi, du bist ein entzueckendes, liebes Geschoepf. Du weisst gar nicht, wie sehr ich's finde und wie gern ich dir in jedem Augenblick zeigen moechte, dass ich's finde." "Nun, dazu ist ja noch vollauf Zeit; ich bin ja erst siebzehn und habe noch nicht vor zu sterben." "Wenigstens nicht vor mir. Freilich, wenn ich dann stuerbe, naehme ich dich am liebsten mit. Ich will dich keinem andern lassen; was meinst du dazu?" "Das muss ich mir doch noch ueberlegen. Oder lieber, lassen wir's ueberhaupt. Ich spreche nicht gern von Tod, ich bin fuer Leben. Und nun sage mir, wie leben wir hier? Du hast mir unterwegs allerlei Sonderbares von Stadt und Land erzaehlt, aber wie wir selber hier leben werden, davon kein Wort. Dass hier alles anders ist als in Hohen-Cremmen und Schwantikow, das seh ich wohl, aber wir muessen doch in dem 'guten Kessin', wie du's immer nennst, auch etwas wie Umgang und Gesellschaft haben koennen. Habt ihr denn Leute von Familie in der Stadt?" "Nein, meine liebe Effi; nach dieser Seite hin gehst du grossen Enttaeuschungen entgegen. In der Naehe haben wir ein paar Adlige, die du kennenlernen wirst, aber hier in der Stadt ist gar nichts." "Gar nichts? Das kann ich nicht glauben. Ihr seid doch bis zu dreitausend Menschen, und unter dreitausend Menschen muss es doch ausser so kleinen Leuten wie Barbier Beza (so hiess er ja wohl) doch auch noch eine Elite geben, Honoratioren oder dergleichen." Innstetten lachte. "Ja, Honoratioren, die gibt es. Aber bei Licht besehen ist es nicht viel damit. Natuerlich haben wir einen Prediger und einen Amtsrichter und einen Rektor und einen Lotsenkommandeur, und von solchen beamteten Leuten findet sich schliesslich wohl ein ganzes Dutzend zusammen, aber die meisten davon: gute Menschen und schlechte Musikanten. Und was dann noch bleibt, das sind bloss Konsuln." "Bloss Konsuln. Ich bitte dich, Geert, wie kannst du nur sagen 'bloss Konsuln'. Das ist doch etwas sehr Hohes und Grosses, und ich moecht beinah sagen Furchtbares. Konsuln, das sind doch die mit dem Rutenbuendel, draus, glaub ich, ein Beil heraussah." "Nicht ganz, Effi Die heissen Liktoren." "Richtig, die heissen Liktoren. Aber Konsuln ist doch auch etwas sehr Vornehmes und Hochgesetzliches. Brutus war doch ein Konsul." "Ja, Brutus war ein Konsul. Aber unsere sind ihm nicht sehr aehnlich und begnuegen sich damit, mit Zucker und Kaffee zu handeln oder eine Kiste mit Apfelsinen aufzubrechen, und verkaufen dir dann das Stueck pro zehn Pfennige." "Nicht moeglich." "Sogar gewiss. Es sind kleine, pfiffige Kaufleute, die, wenn fremdlaendische Schiffe hier einlaufen und in irgendeiner Geschaeftsfrage nicht recht aus noch ein wissen, dann mit ihrem Rat zur Hand sind, und wenn sie diesen Rat gegeben und irgendeinem hollaendischen oder portugiesischen Schiff einen Dienst geleistet haben, so werden sie zuletzt zu beglaubigten Vertretern solcher fremder Staaten, und gerade so viele Botschafter und Gesandte, wie wir in Berlin haben, so viele Konsuln haben wir auch in Kessin, und wenn irgendein Festtag ist, und es gibt hier viele Festtage, dann werden alle Wimpel gehisst, und haben wir gerade eine grelle Morgensonne, so siehst du an solchem Tag ganz Europa von unsern Daechern flaggen und das Sternenbanner und den chinesischen Drachen dazu." "Du bist in einer spoettischen Laune, Geert, und magst auch wohl recht haben. Aber ich, fuer meine kleine Person, muss dir gestehen, dass ich dies alles entzueckend finde und dass unsere havellaendischen Staedte daneben verschwinden. Wenn sie da Kaisers Geburtstag feiern, so flaggt es immer bloss schwarz und weiss und allenfalls ein bisschen rot dazwischen, aber das kann sich doch nicht vergleichen mit der Welt von Flaggen, von der du sprichst. Ueberhaupt, wie ich dir schon sagte, ich finde immer wieder und wieder, es hat alles so was Fremdlaendisches hier, und ich habe noch nichts gehoert und gesehen, was mich nicht in eine gewisse Verwunderung gesetzt haette, gleich gestern abend das merkwuerdige Schiff draussen im Flur und dahinter der Haifisch und das Krokodil und hier dein eigenes Zimmer. Alles so orientalisch, und ich muss es wiederholen, alles wie bei einem indischen Fuersten ..." "Meinetwegen. Ich gratuliere, Fuerstin ..." "Und dann oben der Saal mit seinen langen Gardinen, die ueber die Diele hinfegen." "Aber was weisst du denn von dem Saal, Effi?" "Nichts, als was ich dir eben gesagt habe. Wohl eine Stunde lang, als ich in der Nacht aufwachte, war es mir, als ob ich Schuhe auf der Erde schleifen hoerte und als wuerde getanzt und fast auch wie Musik. Aber alles ganz leise. Und das hab ich dann heute frueh an Johanna erzaehlt, bloss um mich zu entschuldigen, dass ich hinterher so lange geschlafen. Und da sagte sie mir, das sei von den langen Gardinen oben im Saal. Ich denke, wir machen kurzen Prozess damit und schneiden die Gardinen etwas ab oder schliessen wenigstens die Fenster; es wird ohnehin bald stuermisch genug werden. Mitte November ist ja die Zeit." Innstetten sah in einer kleinen Verlegenheit vor sich hin und schien schwankend, ob er auf all das antworten solle. Schliesslich entschied er sich fuer Schweigen. "Du hast ganz recht, Effi, wir wollen die langen Gardinen oben kuerzer machen. Aber es eilt nicht damit, um so weniger, als es nicht sicher ist, ob es hilft. Es kann auch was anderes sein, im Rauchfang oder der Wurm im Holz oder ein Iltis. Wir haben naemlich hier Iltisse. Jedenfalls aber, eh wir Aenderungen vornehmen, musst du dich in unserem Hauswesen erst umsehen, natuerlich unter meiner Fuehrung; in einer Viertelstunde zwingen wir's. Und dann machst du Toilette, nur ein ganz klein wenig, denn eigentlich bist du so am reizendsten - Toilette fuer unseren Freund Gieshuebler; es ist jetzt zehn vorueber, und ich muesste mich sehr in ihm irren, wenn er nicht um elf oder doch spaetestens um die Mittagsstunde hier antreten und dir seinen Respekt devotest zu Fuessen legen sollte. Das ist naemlich die Sprache, drin er sich ergeht. Uebrigens, wie ich dir schon sagte, ein kapitaler Mann, der dein Freund werden wird, wenn ich ihn und dich recht kenne." Achtes Kapitel Elf war es laengst vorueber; aber Gieshuebler hatte sich noch immer nicht sehen lassen. "Ich kann nicht laenger warten", hatte Geert gesagt, den der Dienst abrief. "Wenn Gieshuebler noch erscheint, so sei moeglichst entgegenkommend, dann wird es vorzueglich gehen; er darf nicht verlegen werden; ist er befangen, so kann er kein Wort finden oder sagt die sonderbarsten Dinge; weisst du ihn aber in Zutrauen und gute Laune zu bringen, dann redet er wie ein Buch. Nun, du wirst es schon machen. Erwarte mich nicht vor drei; es gibt drueben allerlei zu tun. Und das mit dem Saal oben wollen wir noch ueberlegen; es wird aber wohl am besten sein, wir lassen es beim alten." Damit ging Innstetten und liess seine junge Frau allein. Diese sass, etwas zurueckgelehnt, in einem lauschigen Winkel am Fenster und stuetzte sich, waehrend sie hinaussah, mit ihrem linken Arm auf ein kleines Seitenbrett, das aus dem Zylinderbuero herausgezogen war. Die Strasse war die Hauptverkehrsstrasse nach dem Strand hin, weshalb denn auch in Sommerzeit ein reges Leben hier herrschte, jetzt aber, um Mitte November, war alles leer und still, und nur ein paar arme Kinder, deren Eltern in etlichen ganz am aeussersten Rand der "Plantage" gelegenen Strohdachhaeusern wohnten, klappten in ihren Holzpantinen an dem Innstettenschen Hause vorueber. Effi empfand aber nichts von dieser Einsamkeit, denn ihre Phantasie war noch immer bei den wunderlichen Dingen, die sie, kurz vorher, waehrend ihrer Umschau haltenden Musterung im Hause gesehen hatte. Diese Musterung hatte mit der Kueche begonnen, deren Herd eine moderne Konstruktion aufwies, waehrend an der Decke hin, und zwar bis in die Maedchenstube hinein, ein elektrischer Draht lief - beides vor kurzem erst hergerichtet. Effi war erfreut gewesen, als ihr Innstetten davon erzaehlt hatte, dann aber waren sie von der Kueche wieder in den Flur zurueck- und von diesem in den Hof hinausgetreten, der in seiner ersten Haelfte nicht viel mehr als ein zwischen zwei Seitenfluegeln hinlaufender ziemlich schmaler Gang war. In diesen Fluegeln war alles untergebracht, was sonst noch zu Haushalt und Wirtschaftsfuehrung gehoerte, rechts Maedchenstube, Bedientenstube, Rollkammer, links eine zwischen Pferdestall und Wagenremise gelegene, von der Familie Kruse bewohnte Kutscherwohnung. Ueber dieser, in einem Verschlag, waren die Huehner einlogiert, und eine Dachklappe ueber dem Pferdestall bildete den Aus- und Einschlupf fuer die Tauben. All dies hatte sich Effi mit vielem Interesse angesehen, aber dies Interesse sah sich doch weit ueberholt, als sie, nach ihrer Rueckkehr vom Hof ins Vorderhaus, unter Innstettens Fuehrung die nach oben fuehrende Treppe hinaufgestiegen war. Diese war schief, baufaellig, dunkel; der Flur dagegen, auf den sie muendete, wirkte beinah heiter, weil er viel Licht und einen guten landschaftlichen Ausblick hatte: nach der einen Seite hin, ueber die Daecher des Stadtrandes und die "Plantage" fort, auf eine hoch auf einer Duene stehende hollaendische Windmuehle, nach der anderen Seite hin auf die Kessine, die hier, unmittelbar vor ihrer Einmuendung, ziemlich breit war und einen stattlichen Eindruck machte. Diesem Eindruck konnte man sich unmoeglich entziehen, und Effi hatte denn auch nicht gesaeumt, ihrer Freude lebhaften Ausdruck zu geben. "Ja, sehr schoen, sehr malerisch", hatte Innstetten, ,ohne weiter darauf einzugehen, geantwortet und dann eine mit ihren Fluegeln etwas schief haengende Doppeltuer geoeffnet, die nach rechts hin in den sogenannten Saal fuehrte. Dieser lief durch die ganze Etage; Vorder- und Hinterfenster standen offen, und die mehr erwaehnten langen Gardinen bewegten sich in dem starken Luftzug hin und her. In der Mitte der einen Laengswand sprang ein Kamin vor mit einer grossen Steinplatte, waehrend an der Wand gegenueber ein paar blecherne Leuchter hingen, jeder mit zwei Lichtoeffnungen, ganz so wie unten im Flur, aber alles stumpf und ungepflegt. Effi war einigermassen enttaeuscht, sprach es auch aus und erklaerte, statt des oeden und aermlichen Saals doch lieber die Zimmer an der gegenuebergelegenen Flurseite sehen zu wollen. "Da ist nun eigentlich vollends nichts", hatte Innstetten geantwortet, aber doch die Tueren geoeffnet. Es befanden sich hier vier einfenstrige Zimmer, alle gelb getuencht, gerade wie der Saal und ebenfalls ganz leer. Nur in einem standen drei Binsenstuehle, die durchgesessen waren, und an die Lehne des einen war ein kleines, nur einen halber Finger langes Bildchen geklebt, das einen Chinesen darstellte, blauer Rock mit gelben Pluderhosen und einen flachen Hut auf dem Kopf. Effi sah es und sagte: "Was soll der Chinese?" Innstetten selbst schien von dem Bildchen ueberrascht und versicherte, dass er es nicht wisse. "Das hat Christel angeklebt oder Johanna. Spielerei. Du kannst sehen, es ist aus einer Fibel herausgeschnitten." Effi fand es auch und war nur verwundert, dass Innstetten alles so ernsthaft nahm, als ob es doch etwas sei. Dann hatte sie noch einmal einen Blick in den Saal getan und sich dabei dahin geaeussert, wie es doch eigentlich schade sei, dass das alles leerstehe. "Wir haben unten ja nur drei Zimmer, und wenn uns wer besucht, so wissen wir nicht aus noch ein. Meinst du nicht, dass man aus dem Saal zwei huebsche Fremdenzimmer machen koennte? Das waere so was fuer die Mama; nach hinten heraus koennte sie schlafen und haette den Blick auf den Fluss und die beiden Molen, und vorn haette sie die Stadt und die hollaendische Windmuehle. In Hohen-Cremmen haben wir noch immer bloss eine Bockmuehle. Nun sage, was meinst du dazu? Naechsten Mai wird doch die Mama wohl kommen." Innstetten war mit allem einverstanden gewesen und hatte nur zum Schluss gesagt: "Alles ganz gut. Aber es ist doch am Ende besser, wir logieren die Mama drueben ein, auf dem Landratsamt; die ganze erste Etage steht da leer, geradeso wie hier, und sie ist da noch mehr fuer sich." Das war so das Resultat des ersten Umgangs im Hause gewesen; dann hatte Effi drueben ihre Toilette gemacht, nicht ganz so schnell, wie Innstetten angenommen, und nun sass sie in ihres Gatten Zimmer und beschaeftigte sich in ihren Gedanken abwechselnd mit dem kleinen Chinesen oben und mit Gieshuebler, der noch immer nicht kam. Vor einer Viertelstunde war freilich ein kleiner, schiefschultriger und fast schon so gut wie verwachsener Herr in einem kurzen eleganten Pelzrock und einem hohen, sehr glatt gebuersteten Zylinder an der anderen Seite der Strasse vorbeigegangen und hatte nach ihrem Fenster hinuebergesehen. Aber das konnte Gieshuebler wohl nicht gewesen sein! Nein, dieser schiefschultrige Herr, der zugleich etwas so Distinguiertes hatte, das musste der Herr Gerichtspraesident gewesen sein, und sie entsann sich auch wirklich, in einer Gesellschaft bei Tante Therese mal einen solchen gesehen zu haben, bis ihr mit einem Male einfiel, dass Kessin bloss einen Amtsrichter habe. Waehrend sie diesen Betrachtungen noch nachging, wurde der Gegenstand derselben, der augenscheinlich erst eine Morgen- oder vielleicht auch eine Ermutigungspromenade um die Plantage herum gemacht hatte, wieder sichtbar, und eine Minute spaeter erschien Friedrich, um Apotheker Gieshuebler anzumelden. "Ich lasse sehr bitten." Der armen jungen Frau schlug das Herz, weil es das erste Mal war, dass sie sich als Hausfrau und noch dazu als erste Frau der Stadt zu zeigen hatte. Friedrich half Gieshuebler den Pelzrock ablegen und oeffnete dann wieder die Tuer. Effi reichte dem verlegen Eintretenden die Hand, die dieser mit einem gewissen Ungestuem kuesste. Die junge Frau schien sofort einen grossen Eindruck auf ihn gemacht zu haben. "Mein Mann hat mir bereits gesagt ... Aber ich empfange Sie hier in meines Mannes Zimmer ... er ist drueben auf dem Amt und kann jeden Augenblick zurueck sein ... Darf ich Sie bitten, bei mir eintreten zu wollen?" Gieshuebler folgte der voranschreitenden Effi ins Nebenzimmer, wo diese auf einen der Fauteuils wies, waehrend sie sich selbst ins Sofa setzte. "Dass ich Ihnen sagen koennte, welche Freude Sie mir gestern durch die schoenen Blumen und Ihre Karte gemacht haben. Ich hoerte sofort auf, mich hier als eine Fremde zu fuehlen, und als ich dies Innstetten aussprach, sagte er mir, wir wuerden ueberhaupt gute Freunde sein." "Sagte er so? Der gute Herr Landrat. Ja, der Herr Landrat und Sie, meine gnaedigste Frau, da sind, das bitte ich sagen zu duerfen, zwei liebe Menschen zueinander gekommen. Denn wie Ihr Herr Gemahl ist, das weiss ich, und wie Sie sind, meine gnaedigste Frau, das sehe ich." "Wenn Sie nur nicht mit zu freundlichen Augen sehen. Ich bin so sehr jung. Und Jugend ..." "Ach, meine gnaedigste Frau, sagen Sie nichts gegen die Jugend. Die Jugend, auch in ihren Fehlern ist sie noch schoen und liebenswuerdig, und das Alter, auch in seinen Tugenden taugt es nicht viel. Persoenlich kann ich in dieser Frage freilich nicht mitsprechen, vom Alter wohl, aber von der Jugend nicht, denn ich bin eigentlich nie jung gewesen. Personen meines Schlages sind nie jung. Ich darf wohl sagen, das ist das traurigste von der Sache. Man hat keinen rechten Mut, man hat kein Vertrauen zu sich selbst, man wagt kaum, eine Dame zum Tanz aufzufordern, weil man ihr eine Verlegenheit ersparen will, und so gehen die Jahre hin, und man wird alt, und das Leben war arm und leer." Effi gab ihm die Hand. "Ach, Sie duerfen so was nicht sagen. Wir Frauen sind gar nicht so schlecht." "O nein, gewiss nicht ..." "Und wenn ich mir so zurueckrufe", fuhr Effi fort, "was ich alles erlebt habe ... viel ist es nicht, denn ich bin wenig herausgekommen und habe fast immer auf dem Lande gelebt ... aber wenn ich es mir zurueckrufe, so finde ich doch, dass wir immer das lieben, was liebenswert ist. Und dann sehe ich doch auch gleich, dass Sie anders sind als andere, dafuer haben wir Frauen ein scharfes Auge. Vielleicht ist es auch der Name, der in Ihrem Falle mitwirkt. Das war immer eine Lieblingsbehauptung unseres alten Pastors Niemeyer; der Name, so liebte er zu sagen, besonders der Taufname, habe was geheimnisvoll Bestimmendes, und Alonzo Gieshuebler, so mein ich, schliesst eine ganz neue Welt vor einem auf, ja, fast moecht ich sagen duerfen, Alonzo ist ein romantischer Name, ein Preziosaname." Gieshuebler laechelte mit einem ganz ungemeinen Behagen und fand den Mut, seinen fuer seine Verhaeltnisse viel zu hohen Zylinder, den er bis dahin in der Hand gedreht hatte, beiseite zu stellen. "Ja, meine gnaedigste Frau, da treffen Sie's." "Oh, ich verstehe. Ich habe von den Konsuln gehoert, deren Kessin so viele haben soll, und in dem Hause des spanischen Konsuls hat Ihr Herr Vater mutmasslich die Tochter eines seemaennischen Kapitanos kennengelernt, wie ich annehme, irgendeine schoene Andalusierin. Andalusierinnen sind immer schoen." "Ganz wie Sie vermuten, meine Gnaedigste. Und meine Mutter war wirklich eine schoene Frau, so schlecht es mir persoenlich zusteht, die Beweisfuehrung zu uebernehmen. Aber als Ihr Herr Gemahl vor drei Jahren hierherkam, lebte sie noch und hatte noch ganz die Feueraugen. Er wird es mir bestaetigen. Ich persoenlich bin mehr ins Gieshueblersche geschlagen, Leute von wenig Exterieur, aber sonst leidlich im Stande. Wir sitzen hier schon in der vierten Generation, volle hundert Jahre, und wenn es einen Apothekeradel gaebe..." "So wuerden Sie ihn beanspruchen duerfen. Und ich meinerseits nehme ihn fuer bewiesen an und sogar fuer bewiesen ohne jede Einschraenkung. Uns aus den alten Familien wird das am leichtesten, weil wir, so wenigstens bin ich von meinem Vater und auch von meiner Mutter her erzogen, jede gute Gesinnung, sie komme, woher sie wolle, mit Freudigkeit gelten lassen. Ich bin eine geborene Briest und stamme von dem Briest ab, der am Tag vor der Fehrbelliner Schlacht den Ueberfall von Rathenow ausfuehrte, wovon Sie vielleicht einmal gehoert haben..." "O gewiss, meine Gnaedigste, das ist ja meine Spezialitaet." "Eine Briest also. Und mein Vater, da reichen keine hundert Male, dass er zu mir gesagt hat: Effi (so heisse ich naemlich), Effi hier sitzt es, bloss hier, und als Froben das Pferd tauschte, da war er von Adel, und als Luther sagte, 'hier stehe ich', da war er erst recht von Adel. Und ich denke, Herr Gieshuebler, Innstetten hatte ganz recht, als er mir versicherte, wir wurden gute Freundschaft halten." Gieshuebler haette nun am liebsten gleich eine Liebeserklaerung gemacht und gebeten, dass er als Cid oder irgend sonst ein Campeador fuer sie kaempfen und sterben koenne. Da dies alles aber nicht ging und sein Herz es nicht mehr aushalten konnte, so stand er auf, suchte nach seinem Hut, den er auch gluecklicherweise gleich fand, und zog sich, nach wiederholtem Handkuss, rasch zurueck, ohne weiter ein Wort gesagt zu haben. Neuntes Kapitel So war Effis erster Tag in Kessin gewesen. Innstetten gab ihr noch eine halbe Woche Zeit, sich einzurichten und die verschiedensten Briefe nach Hohen-Cremmen zu schreiben, an die Mama, an Hulda und die Zwillinge; dann aber hatten die Stadtbesuche begonnen, die zum Teil (es regnete gerade so, dass man sich diese Ungewoehnlichkeit schon gestatten konnte) in einer geschlossenen Kutsche gemacht wurden. Als man damit fertig war, kam der Landadel an die Reihe. Das dauerte laenger, da sich bei den meist grossen Entfernungen an jedem Tag nur eine Visite machen liess. Zuerst war man bei den Borckes in Rothenmoor, dann ging es nach Morgnitz, Dabergotz und Kroschentin, wo man bei den Ahlemanns, den Jatzkows und den Grasenabbs den pflichtschuldigen Besuch abstattete. Noch ein paar andere folgten, unter denen auch der alte Baron von Gueldenklee auf Papenhagen war. Der Eindruck, den Effi empfing, war ueberall derselbe: mittelmaessige Menschen von meist zweifelhafter Liebenswuerdigkeit, die, waehrend sie vorgaben, ueber Bismarck und die Kronprinzessin zu sprechen, eigentlich nur Effis Toilette musterten, die von einigen als zu praetentioes fuer eine so jugendliche Dame, von andern als zuwenig dezent fuer eine Dame von gesellschaftlicher Stellung befunden wurde. Man merke doch an allem die Berliner Schule: Sinn fuer Aeusserliches und eine merkwuerdige Verlegenheit und Unsicherheit bei Beruehrung grosser Fragen. In Rothenmoor bei den Borckes und dann auch bei den Familien in Morgnitz und Dabergotz war sie fuer "rationalistisch angekraenkelt", bei den Grasenabbs in Kroschentin aber rundweg fuer eine "Atheistin" erklaert worden. Allerdings hatte die alte Frau von Grasenabb, eine Sueddeutsche (geborene Stiefel von Stiefelstein), einen schwachen Versuch gemacht, Effi wenigstens fuer den Deismus zu retten; Sidonie von Grasenabb aber, eine dreiundvierzigjaehrige alte Jungfer, war barsch dazwischengefahren: "Ich sage dir, Mutter, einfach Atheistin, kein Zollbreit weniger, und dabei bleibt es", worauf die Alte, die sich vor ihrer eigenen Tochter fuerchtete, klueglich geschwiegen hatte. Die ganze Tournee hatte so ziemlich zwei Wochen gedauert, und es war am 2. Dezember, als man zu schon spaeter Stunde von dem letzten dieser Besuche nach Kessin zurueckkehrte. Dieser letzte Besuch hatte den Gueldenklees auf Papenhagen gegolten, bei welcher Gelegenheit Innstetten dem Schicksal nicht entgangen war, mit dem alten Gueldenklee politisieren zu muessen. "Ja, teuerster Landrat, wenn ich so den Wechsel der Zeiten bedenke! Heute vor einem Menschenalter oder ungefaehr so lange, ja, da war auch ein 2. Dezember, und der gute Louis und Napoleonsneffe - wenn er so was war und nicht eigentlich ganz woanders herstammte -, der kartaetschte damals auf die Pariser Kanaille. Na, das mag ihm verziehen sein, fuer so was war er der rechte Mann, und ich halte zu dem Satz: 'Jeder hat es gerade so gut und so schlecht, wie er's verdient.' Aber dass er nachher alle Schaetzung verlor und Anno siebzig so mir nichts, dir nichts auch mit uns anbinden wollte, sehen Sie, Baron, das war, ja wie sag ich, das war eine Insolenz. Es ist ihm aber auch heimgezahlt worden. Unser Alter da oben laesst sich nicht spotten, der steht zu uns." "Ja", sagte Innstetten, der klug genug war, auf solche Philistereien anscheinend ernsthaft einzugehen, "der Held und Eroberer von Saarbruecken wusste nicht, was er tat. Aber Sie duerfen nicht zu streng mit ihm persoenlich abrechnen. Wer ist am Ende Herr in seinem Hause? Niemand. Ich richte mich auch schon darauf ein, die Zuegel der Regierung in andere Haende zu legen, und Louis Napoleon, nun, der war vollends ein Stueck Wachs in den Haenden seiner katholischen Frau, oder sagen wir lieber, seiner jesuitischen Frau." "Wachs in den Haenden seiner Frau, die ihm dann eine Nase drehte. Natuerlich, Innstetten, das war er. Aber damit wollen Sie diese Puppe doch nicht etwa retten? Er ist und bleibt gerichtet. An und fuer sich ist es uebrigens noch gar nicht mal erwiesen", und sein Blick suchte bei diesen Worten etwas aengstlich nach dem Auge seiner Ehehaelfte, "ob nicht Frauenherrschaft eigentlich als ein Vorzug gelten kann; nur freilich, die Frau muss danach sein. Aber wer war diese Frau? Sie war ueberhaupt keine Frau, im guenstigsten Fall war sie eine Dame, das sagt alles; 'Dame' hat beinah immer einen Beigeschmack. Diese Eugenie - ueber deren Verhaeltnis zu dem juedischen Bankier ich hier gern hingehe, denn ich hasse Tugendhochmut - hatte was vom Cafe chantant, und wenn die Stadt, in der sie lebte, das Babel war, so war sie das Weib von Babel. Ich mag mich nicht deutlicher ausdruecken, denn ich weiss", und er verneigte sich gegen Effi, "was ich deutschen Frauen schuldig bin. Um Vergebung, meine Gnaedigste, dass ich diese Dinge vor Ihren Ohren ueberhaupt beruehrt habe." So war die Unterhaltung gegangen, nachdem man vorher von Wahl, Nobiling und Raps gesprochen hatte, und nun sassen Innstetten und Effi wieder daheim und plauderten noch eine halbe Stunde. Die beiden Maedchen im Hause waren schon zu Bett, denn es war nah an Mitternacht. Innstetten, in kurzem Hausrock und Saffianschuhen, ging auf und ab; Effi war noch in ihrer Gesellschaftstoilette; Faecher und Handschuhe lagen neben ihr. "Ja", sagte Innstetten, waehrend er sein Aufundabschreiten im Zimmer unterbrach, "diesen Tag muessten wir nun wohl eigentlich feiern, und ich weiss nur noch nicht, womit. Soll ich dir einen Siegesmarsch vorspielen oder den Haifisch draussen in Bewegung setzen oder dich im Triumph ueber den Flur tragen? Etwas muss doch geschehen, denn du musst wissen, das war nun heute die letzte Visite." "Gott sei Dank war sie's", sagte Effi. "Aber das Gefuehl, dass wir nun Ruhe haben, ist, denk ich, gerade Feier genug. Nur einen Kuss koenntest du mir geben. Aber daran denkst du nicht. Auf dem ganzen weiten Weg nicht geruehrt, frostig wie ein Schneemann. Und immer nur die Zigarre." "Lass, ich werde mich schon bessern und will vorlaeufig nur wissen, wie stehst du zu dieser ganzen Umgangs- und Verkehrsfrage? Fuehlst du dich zu dem einen oder andern hingezogen? Haben die Borckes die Grasenabbs geschlagen oder umgekehrt, oder haeltst du's mit dem alten Gueldenklee? Was er da ueber die Eugenie sagte, machte doch einen sehr edlen und reinen Eindruck." "Ei, sieh, Herr von Innstetten, auch medisant! Ich lerne Sie von einer ganz neuen Seite kennen." "Und wenn's unser Adel nicht tut", fuhr Innstetten fort, ohne sich stoeren zu lassen, "wie stehst du zu den Kessiner Stadthonoratioren? Wie stehst du zur Ressource? Daran haengt doch am Ende Leben und Sterben. Ich habe dich da neulich mit unserem reserveleutnantlichen Amtsrichter sprechen sehen, einem zierlichen Maennchen, mit dem sich vielleicht durchkommen liesse, wenn er nur endlich von der Vorstellung loskoennte, die Wiedereroberung von Le Bourget durch sein Erscheinen in der Flanke zustande gebracht zu haben. Und seine Frau! Sie gilt als die beste Bostonspielerin und hat auch die huebschesten Anlegemarken. Also nochmals, Effi, wie wird es werden in Kessin? Wirst du dich einleben? Wirst du populaer werden und mir die Majoritaet sichern, wenn ich in den Reichstag will? Oder bist du fuer Einsiedlertum, fuer Abschluss von der Kessiner Menschheit, so Stadt wie Land?" "Ich werde mich wohl fuer Einsiedlertum entschliessen, wenn mich die Mohrenapotheke nicht herausreisst. Bei Sidonie werd ich dadurch freilich noch etwas tiefer sinken, aber darauf muss ich es ankommen lassen; dieser Kampf muss eben gekaempft werden. Ich steh und falle mit Gieshuebler. Es klingt etwas komisch, aber er ist wirklich der einzige, mit dem sich ein Wort reden laesst, der einzige richtige Mensch hier." "Das ist er", sagte Innstetten. "Wie gut du zu waehlen verstehst." "Haette ich sonst dich?" sagte Effi und haengte sich an seinen Arm. Das war am 2. Dezember. Eine Woche spaeter war Bismarck in Varzin, und nun wusste Innstetten, dass bis Weihnachten, und vielleicht noch darueber hinaus, an ruhige Tage fuer ihn gar nicht mehr zu denken sei. Der Fuerst hatte noch von Versailles her eine Vorliebe fuer ihn und lud ihn, wenn Besuch da war, haeufig zu Tisch, aber auch allein, denn der jugendliche, durch Haltung und Klugheit gleich ausgezeichnete Landrat stand ebenso in Gunst bei der Fuerstin. Zum 14. erfolgte die erste Einladung. Es lag Schnee, weshalb Innstetten die fast zweistuendige Fahrt bis an den Bahnhof, von wo noch eine Stunde Eisenbahn war, im Schlitten zu machen vorhatte. "Warte nicht auf mich, Effi. Vor Mitternacht kann ich nicht zurueck sein; wahrscheinlich wird es zwei oder noch spaeter. Ich stoere dich aber nicht. Gehab dich wohl, und auf Wiedersehen morgen frueh." Und damit stieg er ein, und die beiden isabellfarbenen Graditzer jagten im Fluge durch die Stadt hin und dann landeinwaerts auf den Bahnhof zu. Das war die erste lange Trennung, fast auf zwoelf Stunden. Arme Effi. Wie sollte sie den Abend verbringen? Frueh zu Bett, das war gefaehrlich, dann wachte sie auf und konnte nicht wieder einschlafen und horchte auf alles. Nein, erst recht muede werden und dann ein fester Schlaf, das war das beste. Sie schrieb einen Brief an die Mama und ging dann zu Frau Kruse, deren gemuetskranker Zustand - sie hatte das schwarze Huhn oft bis in die Nacht hinein auf ihrem Schoss - ihr Teilnahme einfloesste. Die Freundlichkeit indessen, die sich darin aussprach, wurde von der in ihrer ueberheizten Stube sitzenden und nur still und stumm vor sich hinbruetenden Frau keinen Augenblick erwidert, weshalb Effi, als sie wahrnahm, dass ihr Besuch mehr als Stoerung wie als Freude empfunden wurde, wieder ging und nur noch fragte, ob die Kranke etwas haben wolle. Diese lehnte aber alles ab. Inzwischen war es Abend geworden, und die Lampe brannte schon. Effi stellte sich ans Fenster ihres Zimmers und sah auf das Waeldchen hinaus, auf dessen Zweigen der glitzernde Schnee lag. Sie war von dem Bilde ganz in Anspruch genommen und kuemmerte sich nicht um das, was hinter ihr in dem Zimmer vorging. Als sie sich wieder umsah, bemerkte sie, dass Friedrich still und geraeuschlos ein Kuvert gelegt und ein Kabarett auf den Sofatisch gestellt hatte. "Ja so, Abendbrot ... Da werd ich mich nun wohl setzen muessen." Aber es wollte nicht schmecken, und so stand sie wieder auf und las den an die Mama geschriebenen Brief noch einmal durch. Hatte sie schon vorher ein Gefuehl der Einsamkeit gehabt, so jetzt doppelt. Was haette sie darum gegeben, wenn die beiden Jahnkeschen Rotkoepfe jetzt eingetreten waeren oder selbst Hulda. Die war freilich immer so sentimental und beschaeftigte sich meist nur mit ihren Triumphen; aber so zweifelhaft und anfechtbar diese Triumphe waren, sie haette sich in diesem Augenblick doch gern davon erzaehlen lassen. Schliesslich klappte sie den Fluegel auf, um zu spielen; aber es ging nicht. "Nein, dabei werd ich vollends melancholisch; lieber lesen." Und so suchte sie nach einem Buch. Das erste, was ihr zu Haenden kam, war ein dickes rotes Reisehandbuch, alter Jahrgang, vielleicht schon aus Innstettens Leutnantstagen her. "Ja, darin will ich lesen; es gibt nichts Beruhigenderes als solche Buecher. Das Gefaehrliche sind bloss immer die Karten; aber vor diesem Augenpulver, das ich hasse, werd ich mich schon hueten." Und so schlug sie denn auf gut Glueck auf: Seite 153. Nebenan hoerte sie das Ticktack der Uhr und draussen Rollo, der, seit es dunkel war, seinen Platz in der Remise aufgegeben und sich, wie jeden Abend, so auch heute wieder, auf die grosse geflochtene Matte, die vor dem Schlafzimmer lag, ausgestreckt hatte. Das Bewusstsein seiner Naehe minderte das Gefuehl ihrer Verlassenheit, ja, sie kam fast in Stimmung, und so begann sie denn auch unverzueglich zu lesen. Auf der gerade vor ihr aufgeschlagenen Seite war von der "Eremitage", dem bekannten markgraeflichen Lustschloss in der Naehe von Bayreuth, die Rede; das lockte sie, Bayreuth, Richard Wagner, und so las sie denn: Unter den Bildern in der Eremitage nennen wir noch eins, das nicht durch seine Schoenheit, wohl aber durch sein Alter und durch die Person, die es darstellt, ein Interesse beansprucht. Es ist dies ein stark nachgedunkeltes Frauenportraet, kleiner Kopf, mit herben, etwas unheimlichen Gesichtszuegen und einer Halskrause, die den Kopf zu tragen scheint. Einige meinen, es sei eine alte Markgraefin aus dem Ende des fuenfzehnten Jahrhunderts, andere sind der Ansicht, es sei die Graefin von Orlamuende; darin aber sind beide einig, dass es das Bildnis der Dame sei, die seither in der Geschichte der Hohenzollern unter dem Namen der "weissen Frau" eine gewisse Beruehmtheit erlangt hat. "Das hab ich gut getroffen", sagte Effi, waehrend sie das Buch beiseite schob; "ich will mir die Nerven beruhigen, und das erste, was ich lese, ist die Geschichte von der 'weissen Frau', vor der ich mich gefuerchtet habe, solange ich denken kann. Aber da nun das Gruseln mal da ist, will ich doch auch zu Ende lesen." Und sie schlug wieder auf und las weiter: ... Ebendies alte Portraet (dessen Original in der Hohenzollernschen Familiengeschichte solche Rolle spielt) spielt als Bild auch eine Rolle in der Spezialgeschichte des Schlosses Eremitage, was wohl damit zusammenhaengt, dass es an einer dem Fremden unsichtbaren Tapetentuer haengt, hinter der sich eine vom Souterrain her hinauffuehrende Treppe befindet. Es heisst, dass, als Napoleon hier uebernachtete, die "weisse Frau" aus dem Rahmen herausgetreten und auf sein Bett zugeschritten sei. Der Kaiser, entsetzt auffahrend, habe nach seinem Adjutanten gerufen und bis an sein Lebensende mit Entruestung von diesem "maudit chateau" gesprochen. "Ich muss es aufgeben, mich durch Lektuere beruhigen zu wollen", sagte Effi. "Lese ich weiter, so komm ich gewiss noch nach einem Kellergewoelbe, wo der Teufel auf einem Weinfass davongeritten ist. Es gibt, glaub ich, in Deutschland viel dergleichen, und in einem Reisehandbuch muss es sich natuerlich alles zusammenfinden. Ich will also lieber wieder die Augen schliessen und mir, so gut es geht, meinen Polterabend vorstellen: die Zwillinge, wie sie vor Traenen nicht weiterkonnten, und dazu den Vetter Briest, der, als sich alles verlegen anblickte, mit erstaunlicher Wuerde behauptete, solche Traenen oeffneten einem das Paradies. Er war wirklich scharmant und immer so uebermuetig ... Und nun ich! Und gerade hier. Ach, ich tauge doch gar nicht fuer eine grosse Dame. Die Mama, ja, die haette hierhergepasst, die haette, wie's einer Landraetin zukommt, den Ton angegeben, und Sidonie Grasenabb waere ganz Huldigung gegen sie gewesen und haette sich ueber ihren Glauben oder Unglauben nicht gross beunruhigt. Aber ich ... ich bin ein Kind und werd es auch wohl bleiben. Einmal hab ich gehoert, das sei ein Glueck. Aber ich weiss doch nicht, ob das wahr ist. Man muss doch immer dahin passen, wohin man nun mal gestellt ist." In diesem Augenblick kam Friedrich, um den Tisch abzuraeumen. "Wie spaet ist es, Friedrich?" "Es geht auf neun, gnaed'ge Frau." "Nun, das laesst sich hoeren. Schicken Sie mir Johanna." "Gnaed'ge Frau haben befohlen." "Ja, Johanna. Ich will zu Bett gehen. Es ist eigentlich noch frueh. Aber ich bin so allein. Bitte, tun Sie den Brief erst ein, und wenn Sie wieder da sind, nun, dann wird es wohl Zeit sein. Und wenn auch nicht." Effi nahm die Lampe und ging in ihr Schlafzimmer hinueber. Richtig, auf der Binsenmatte lag Rollo. Als er Effi kommen sah, erhob er sich, um den Platz freizugeben, und strich mit seinem Behang an ihrer Hand hin. Dann legte er sich wieder nieder. Johanna war inzwischen nach dem Landratsamt hinuebergegangen, um da den Brief einzustecken. Sie hatte sich drueben nicht sonderlich beeilt, vielmehr vorgezogen, mit der Frau Paaschen, des Amtsdieners Frau, ein Gespraech zu fuehren. Natuerlich ueber die junge Frau. "Wie ist sie denn?" fragte die Paaschen. "Sehr jung ist sie." "Nun, das ist kein Unglueck, eher umgekehrt. Die Jungen, und das ist eben das Gute, stehen immer bloss vorm Spiegel und zupfen und stecken sich was vor und sehen nicht viel und hoeren nicht viel und sind noch nicht so, dass sie draussen immer die Lichtstuempfe zaehlen und einem nicht goennen, dass man einen Kuss kriegt, bloss weil sie selber keinen mehr kriegen." "Ja", sagte Johanna, "so war meine vorige Madam, und ganz ohne Not. Aber davon hat unsere Gnaed'ge nichts." "Ist er denn sehr zaertlich?" "Oh, sehr. Das koennen Sie doch wohl denken." "Aber dass er sie so allein laesst ..." "Ja, liebe Paaschen, Sie duerfen nicht vergessen ... der Fuerst. Und dann, er ist ja doch am Ende Landrat. Und vielleicht will er auch noch hoeher." "Gewiss will er. Und er wird auch noch. Er hat so was. Paaschen sagt es auch immer, und er kennt seine Leute." Waehrend dieses Ganges drueben nach dem Amt hinueber war wohl eine Viertelstunde vergangen, und als Johanna wieder zurueck war, sass Effi schon vor dem Trumeau und wartete. "Sie sind lange geblieben, Johanna." "Ja, gnaed'ge Frau ... Gnaed'ge Frau wollen entschuldigen ... Ich traf drueben die Frau Paaschen, und da hab ich mich ein wenig verweilt. Es ist so still hier. Man ist immer froh, wenn man einen Menschen trifft, mit dem man ein Wort sprechen kann. Christel ist eine sehr gute Person, aber sie spricht nicht, und Friedrich ist so dusig und auch so vorsichtig und will mit der Sprache nie recht heraus. Gewiss, man muss auch schweigen koennen, und die Paaschen, die so neugierig und so ganz gewoehnlich ist, ist eigentlich gar nicht nach meinem Geschmack; aber man hat es doch gern, wenn man mal was hoert und sieht." Effi seufzte. "Ja, Johanna, das ist auch das beste ..." "Gnaed'ge Frau haben so schoenes Haar, so lang und so seidenweich." "Ja, es ist sehr weich. Aber das ist nicht gut, Johanna. Wie das Haar ist, ist der Charakter." "Gewiss, gnaed'ge Frau. Und ein weicher Charakter ist doch besser als ein harter. Ich habe auch weiches Haar." "Ja, Johanna. Und Sie haben auch blondes. Das haben die Maenner am liebsten." "Ach, das ist doch sehr verschieden, gnaed'ge Frau. Manche sind doch auch fuer das schwarze." "Freilich", lachte Effi, "das habe ich auch schon gefunden. Es wird wohl an was anderem liegen. Aber die, die blond sind, die haben auch immer einen weissen Teint, Sie auch, Johanna, und ich moechte mich wohl verwetten, dass Sie viel Nachstellung haben. Ich bin noch sehr jung, aber das weiss ich doch auch. Und dann habe ich eine Freundin, die war auch so blond, ganz flachsblond, noch blonder als Sie, und war eine Predigertochter ..." "Ja, denn ..." "Aber ich bitte Sie, Johanna, was meinen Sie mit 'ja denn'? Das klingt ja ganz anzueglich und sonderbar, und Sie werden doch nichts gegen Predigerstoechter haben ... Es war ein sehr huebsches Maedchen, was selbst unsere Offiziere - wir hatten naemlich Offiziere, noch dazu rote Husaren - auch immer fanden, und verstand sich dabei sehr gut auf Toilette, schwarzes Sammetmieder und eine Blume, Rose oder auch Heliotrop, und wenn sie nicht so vorstehende grosse Augen gehabt haette ... ach, die haetten Sie sehen sollen, Johanna, wenigstens so gross (und Effi zog unter Lachen an ihrem rechten Augenlid), so waere sie geradezu eine Schoenheit gewesen. Sie hiess Hulda, Hulda Niemeyer, und wir waren nicht einmal so ganz intim; aber wenn ich sie jetzt hier haette und sie da saesse, da in der kleinen Sofaecke, so wollte ich bis Mitternacht mit ihr plaudern oder noch laenger. Ich habe solche Sehnsucht, und...", und dabei zog sie Johannas Kopf dicht an sich heran, "... ich habe solche Angst." "Ach, das gibt sich, gnaed'ge Frau, die hatten wir alle." "Die hattet ihr alle? Was soll das heissen, Johanna?" "... Und wenn die gnaed'ge Frau wirklich solche Angst haben, so kann ich mir ja ein Lager hier machen. Ich nehme die Strohmatte und kehre einen Stuhl um, dass ich eine Kopflehne habe, und dann schlafe ich hier, bis morgen frueh oder bis der gnaed'ge Herr wieder da ist." "Er will mich nicht stoeren. Das hat er mir eigens versprochen." "Oder ich setze mich bloss in die Sofaecke." "Ja, das ginge vielleicht. Aber nein, es geht auch nicht. Der Herr darf nicht wissen, dass ich mich aengstige, das liebt er nicht. Er will immer, dass ich tapfer und entschlossen bin, so wie er. Und das kann ich nicht; ich war immer etwas anfaellig ... Aber freilich, ich sehe wohl ein, ich muss mich bezwingen und ihm in solchen Stuecken und ueberhaupt zu Willen sein ... Und dann habe ich ja auch Rollo. Der liegt ja vor der Tuerschwelle." Johanna nickte zu jedem Wort und zuendete dann das Licht an, das auf Effis Nachttisch stand. Dann nahm sie die Lampe. "Befehlen gnaed'ge Frau noch etwas?" "Nein, Johanna. Die Laeden sind doch fest geschlossen?" "Bloss angelegt, gnaed'ge Frau. Es ist sonst so dunkel und so stickig." "Gut, gut." Und nun entfernte sich Johanna; Effi aber ging auf ihr Bett zu und wickelte sich in ihre Decken. Sie liess das Licht brennen, weil sie gewillt war, nicht gleich einzuschlafen, vielmehr vorhatte, wie vorhin ihren Polterabend, so jetzt ihre Hochzeitsreise zu rekapitulieren und alles an sich vorueberziehen zu lassen. Aber es kam anders, wie sie gedacht, und als sie bis Verona war und nach dem Hause der Julia Capulet suchte, fielen ihr schon die Augen zu. Das Stuempfchen Licht in dem kleinen Silberleuchter brannte allmaehlich nieder, und nun flackerte es noch einmal auf und erlosch. Effi schlief eine Weile ganz fest. Aber mit einem Male fuhr sie mit einem lauten Schrei aus ihrem Schlaf auf, ja, sie hoerte selber noch den Aufschrei und auch, wie Rollo draussen anschlug - "wau, wau", klang es den Flur entlang, dumpf und selber beinahe aengstlich. Ihr war, als ob ihr das Herz stillstaende; sie konnte nicht rufen, und in diesem Augenblick huschte was an ihr vorbei, und die nach dem Flur hinausfuehrende Tuer sprang auf. Aber ebendieser Moment hoechster Angst war auch der ihrer Befreiung, denn statt etwas Schrecklichem kam jetzt Rollo auf sie zu, suchte mit seinem Kopf nach ihrer Hand und legte sich, als er diese gefunden, auf den vor ihrem Bett ausgebreiteten Teppich nieder. Effi selber aber hatte mit der anderen Hand dreimal auf den Knopf der Klingel gedrueckt, und keine halbe Minute, so war Johanna da, barfuessig, den Rock ueber dem Arm und ein grosses kariertes Tuch ueber Kopf und Schulter geschlagen. "Gott sei Dank, Johanna, dass Sie da sind." "Was war denn, gnaed'ge Frau? Gnaed'ge Frau haben getraeumt." "Ja, getraeumt. Es muss so was gewesen sein ... aber es war doch auch noch was anderes." - "Was denn, gnaed'ge Frau?" "Ich schlief ganz fest, und mit einem Male fuhr ich auf und schrie ... vielleicht, dass es ein Alpdruck war ... Alpdruck ist in unserer Familie, mein Papa hat es auch und aengstigt uns damit, und nur die Mama sagt immer, er solle sich nicht so gehenlassen; aber das ist leicht gesagt ... Ich fuhr also auf aus dem Schlaf und schrie, und als ich mich umsah, so gut es eben ging in dem Dunkel, da strich was an meinem Bett vorbei, gerade da, wo Sie jetzt stehen, Johanna, und dann war es weg. Und wenn ich mich recht frage, was es war ...""Nun, was denn, gnaed'ge Frau?" "Und wenn ich mich recht frage ... ich mag es nicht sagen, Johanna ... aber ich glaube, der Chinese." "Der von oben?" Und Johanna versuchte zu lachen. "Unser kleiner Chinese, den wir an die Stuhllehne geklebt haben, Christel und ich? Ach, gnaed'ge Frau haben getraeumt, und wenn Sie schon wach waren, so war es doch alles noch aus dem Traum." "Ich wuerd es glauben. Aber es war genau derselbe Augenblick, wo Rollo draussen anschlug, der muss es also auch gesehen haben, und dann flog die Tuer auf, und das gute, treue Tier sprang auf mich los, als ob es mich zu retten kaeme. Ach, meine liebe Johanna, es war entsetzlich. Und ich so allein und so jung. Ach, wenn ich doch wen hier haette, bei dem ich weinen koennte. Aber so weit von Hause ... Ach, von Hause ..." "Der Herr kann jede Stunde kommen." "Nein, er soll nicht kommen; er soll mich nicht so sehen. Er wuerde mich vielleicht auslachen, und das koennt ich ihm nie verzeihen. Denn es war so furchtbar, Johanna ... Sie muessen nun hierbleiben ... Aber lassen Sie Christel schlafen und Friedrich auch. Es soll es keiner wissen." "Oder vielleicht kann ich auch die Frau Kruse holen; die schlaeft doch nicht, die sitzt die ganze Nacht da." "Nein, nein, die ist selber so was. Das mit dem schwarzen Huhn, das ist auch sowas; die darf nicht kommen. Nein, Johanna, Sie bleiben allein hier. Und wie gut, dass Sie die Laeden nur angelegt. Stossen Sie sie auf, recht laut, dass ich einen Ton hoere, einen menschlichen Ton ... ich muss es so nennen, wenn es auch sonderbar klingt ... und dann machen Sie das Fenster ein wenig auf, dass ich Luft und Licht habe." Johanna tat, wie ihr geheissen, und Effi fiel in ihre Kissen zurueck und bald danach in einen lethargischen Schlaf. Zehntes Kapitel Innstetten war erst sechs Uhr frueh von Varzin zurueckgekommen und hatte sich, Rollos Liebkosungen abwehrend, so leise wie moeglich in sein Zimmer zurueckgezogen. Er machte sich's hier bequem und duldete nur, dass ihn Friedrich mit einer Reisedecke zudeckte. "Wecke mich um neun!" Und um diese Stunde war er denn auch geweckt worden. Er stand rasch auf und sagte: "Bring das Fruehstueck!" "Die gnaedige Frau schlaeft noch." "Aber es ist ja schon spaet. Ist etwas passiert?" "Ich weiss es nicht; ich weiss nur, Johanna hat die Nacht ueber im Zimmer der gnaedigen Frau schlafen muessen." "Nun, dann schicke Johanna." Diese kam denn auch. Sie hatte denselben rosigen Teint wie immer, schien sich also die Vorgaenge der Nacht nicht sonderlich zu Gemuete genommen zu haben. "Was ist das mit der gnaed'gen Frau? Friedrich sagt mir, es Sei was passiert und Sie haetten drueben geschlafen." "Ja, Herr Baron. Gnaed'ge Frau klingelte dreimal ganz rasch hintereinander, dass ich gleich dachte, es bedeutet was. Und so war es auch. Sie hat wohl getraeumt, aber vielleicht war es auch das andere." "Welches andere?" "Ach, der gnaed'ge Herr wissen ja." "Ich weiss nichts. Jedenfalls muss ein Ende damit gemacht werden. Und wie fanden Sie die Frau?" "Sie war wie ausser sich und hielt das Halsband von Rollo, der neben dem Bett der gnaed'gen Frau stand, fest umklammert. Und das Tier aengstigte sich auch." "Und was hatte sie getraeumt oder meinetwegen auch, was hatte sie gehoert oder gesehen? Was sagte sie?" "Es sei so hingeschlichen, dicht an ihr vorbei." "Was? Wer?" "Der von oben. Der aus dem Saal oder aus der kleinen Kammer." "Unsinn, sag ich. Immer wieder das alberne Zeug; ich mag davon nicht mehr hoeren. Und dann blieben Sie bei der Frau?" "Ja, gnaed'ger Herr. Ich machte mir ein Lager an der Erde dicht neben ihr. Und ich musste ihre Hand halten, und dann schlief sie ein." "Und sie schlaeft noch?" "Ganz fest." "Das ist mir aengstlich, Johanna. Man kann sich gesund schlafen, aber auch krank. Wir muessen sie wecken, natuerlich vorsichtig, dass sie nicht wieder erschrickt. Und Friedrich soll das Fruehstueck nicht bringen; ich will warten, bis die gnaed'ge Frau da ist. Und machen Sie's geschickt." Eine halbe Stunde spaeter kam Effi. Sie sah reizend aus, ganz blass, und stuetzte sich auf Johanna. Als sie aber Innstettens ansichtig wurde, stuerzte sie auf ihn zu und umarmte und kuesste ihn. Und dabei liefen ihr die Traenen uebers Gesicht. "Ach, Geert, Gott sei Dank, dass du da bist. Nun ist alles wieder gut. Du darfst nicht wieder fort, du darfst mich nicht wieder allein lassen." "Meine liebe Effi ... Stellen Sie hin, Friedrich, ich werde schon alles zurechtmachen ... Meine liebe Effi, ich lasse dich ja nicht allein aus Ruecksichtslosigkeit oder Laune, sondern weil es so sein muss; ich habe keine Wahl, ich bin ein Mann im Dienst, ich kann zum Fuersten oder auch zur Fuerstin nicht sagen: Durchlaucht, ich kann nicht kommen, meine Frau ist so allein, oder meine Frau fuerchtet sich. Wenn ich das sagte, wuerden wir in einem ziemlich komischen Licht dastehen, ich gewiss und du auch. Aber nimm erst eine Tasse Kaffee." Effi trank, was sie sichtlich belebte. Dann ergriff sie wieder ihres Mannes Hand und sagte: "Du sollst recht haben; ich sehe ein, das geht nicht. Und dann wollen wir ja auch hoeher hinauf. Ich sage wir, denn ich bin eigentlich begieriger danach als du ..." "So sind alle Frauen", lachte Innstetten. "Also abgemacht; du nimmst die Einladungen an nach wie vor, und ich bleibe hier und warte auf meinen 'hohen Herrn', wobei mir Hulda unterm Holunderbaum einfaellt. Wie's ihr wohl gehen mag?" "Damen wie Hulda geht es immer gut. Aber was wolltest du noch sagen?" "Ich wollte sagen, ich bleibe hier und auch allein, wenn es sein muss. Aber nicht in diesem Hause. Lass uns die Wohnung wechseln. Es gibt so huebsche Haeuser am Bollwerk, eins zwischen Konsul Martens und Konsul Gruetzmacher und eins am Markt, gerade gegenueber von Gieshuebler; warum koennen wir da nicht wohnen? Warum gerade hier? Ich habe, wenn wir Freunde und Verwandte zum Besuch hatten, oft gehoert, dass in Berlin Familien ausziehen wegen Klavierspiel oder wegen Schwaben oder wegen einer unfreundlichen Portiersfrau; wenn das um solcher Kleinigkeiten willen geschieht ..." "Kleinigkeiten? Portiersfrau? Das sage nicht ..." "Wenn das um solcher Dinge willen moeglich ist, so muss es doch auch hier moeglich sein, wo du Landrat bist und die Leute dir zu Willen sind und viele selbst zu Dank verpflichtet. Gieshuebler wuerde uns gewiss dabei behilflich sein, wenn auch nur um meinetwegen, denn er wird Mitleid mit mir haben. Und nun sage, Geert, wollen wir dies verwunschene Haus aufgeben, dies Haus mit dem ..." "... Chinesen, willst du sagen. Du siehst, Effi, man kann das furchtbare Wort aussprechen, ohne dass er erscheint. Was du da gesehen hast oder was da, wie du meinst, an deinem Bett vorueberschlich, das war der kleine Chinese, den die Maedchen oben an die Stuhllehne geklebt haben; ich wette, dass er einen blauen Rock anhatte und einen ganz flachen Deckelhut mit einem blanken Knopf oben." Sie nickte. "Nun, siehst du, Traum, Sinnestaeuschung. Und dann wird dir Johanna wohl gestern abend was erzaehlt haben, von der Hochzeit hier oben ..." "Nein." "Desto besser." "Kein Wort hat sie mir erzaehlt. Aber ich sehe doch aus dem allen, dass es hier etwas Sonderbares gibt. Und dann das Krokodil; es ist alles so unheimlich." "Den ersten Abend, als du das Krokodil sahst, fandest du's maerchenhaft ..." "Ja, damals ..." "... Und dann, Effi, kann ich hier nicht gut fort, auch wenn es moeglich waere, das Haus zu verkaufen oder einen Tausch zu machen. Es ist damit ganz wie mit einer Absage nach Varzin hin. Ich kann hier in der Stadt die Leute nicht sagen lassen, Landrat Innstetten verkauft sein Haus, weil seine Frau den aufgeklebten kleinen Chinesen als Spuk an ihrem Bett gesehen hat. Dann bin ich verloren, Effi. Von solcher Laecherlichkeit kann man sich nie wieder erholen." "Ja, Geert, bist du denn so sicher, dass es so was nicht gibt?" "Will ich nicht behaupten. Es ist eine Sache, die man glauben und noch besser nicht glauben kann. Aber angenommen, es gaebe dergleichen, was schadet es? Dass in der Luft Bazillen herumfliegen, von denen du gehoert haben wirst, ist viel schlimmer und gefaehrlicher als diese ganze Geistertummelage. Vorausgesetzt, dass sie sich tummeln, dass so was wirklich existiert. Und dann bin ich ueberrascht, solcher Furcht und Abneigung gerade bei dir zu begegnen, bei einer Briest Das ist ja, wie wenn du aus einem kleinen Buergerhause stammtest. Spuk ist ein Vorzug, wie Stammbaum und dergleichen, und ich kenne Familien, die sich ebensogern ihr Wappen nehmen liessen als ihre 'weisse Frau', die natuerlich auch eine schwarze sein kann." Effi schwieg. "Nun, Effi. Keine Antwort?" "Was soll ich antworten? Ich habe dir nachgegeben und mich willig gezeigt, aber ich finde doch, dass du deinerseits teilnahmsvoller sein koenntest. Wenn du wuesstest, wie mir gerade danach verlangt. Ich habe sehr gelitten, wirklich sehr, und als ich dich sah, da dacht ich, nun wuerd ich frei werden von meiner Angst. Aber du sagst mir bloss, dass du nicht Lust haettest, dich laecherlich zu machen, nicht vor dem Fuersten und auch nicht vor der Stadt. Das ist ein geringer Trost. Ich finde es wenig und um so weniger, als du dir schliesslich auch noch widersprichst und nicht bloss persoenlich an diese Dinge zu glauben scheinst, sondern auch noch einen adligen Spukstolz von mir forderst. Nun, den hab ich nicht. Und wenn du von Familien sprichst, denen ihr Spuk soviel wert sei wie ihr Wappen, so ist das Geschmackssache: Mir gilt mein Wappen mehr. Gott sei Dank haben wir Briests keinen Spuk. Die Briests waren immer sehr gute Leute, und damit haengt es wohl zusammen." Der Streit haette wohl noch angedauert und vielleicht zu einer ersten ernstlichen Verstimmung gefuehrt, wenn Friedrich nicht eingetreten waere, um der gnaedigen Frau einen Brief zu uebergeben. "Von Herrn Gieshuebler. Der Bote wartet auf Antwort." Aller Unmut auf Effis Antlitz war sofort verschwunden; schon bloss Gieshueblers Namen zu hoeren tat Effi wohl, und ihr Wohlgefuehl steigerte sich, als sie jetzt den Brief musterte. Zunaechst war es gar kein Brief, sondern ein Billett, die Adresse "Frau Baronin von Innstetten, geb. von Briest" in wundervoller Kanzleihandschrift und statt des Siegels ein aufgeklebtes rundes Bildchen, eine Lyra, darin ein Stab steckte. Dieser Stab konnte aber auch ein Pfeil sein. Sie reichte das Billett ihrem Mann, der es ebenfalls bewunderte. "Nun lies aber." Und nun loeste Effi die Oblate und las: "Hochverehrteste Frau, gnaedigste Frau Baronin! Gestatten Sie mir, meinem respektvollsten Vormittagsgruss eine ganz gehorsamste Bitte hinzufuegen zu duerfen. Mit dem Mittagszug wird eine vieljaehrige liebe Freundin von mir, eine Tochter unserer Guten Stadt Kessin, Fraeulein Marietta Trippelli, hier eintreffen und bis morgen frueh unter uns weilen. Am 17. will sie in Petersburg sein, um daselbst bis Mitte Januar zu konzertieren. Fuerst Kotschukoff oeffnet ihr auch diesmal wieder sein gastliches Haus. In ihrer immer gleichen Guete gegen mich hat die Trippelli mir zugesagt, den heutigen Abend bei mir zubringen und einige Lieder ganz nach meiner Wahl (denn sie kennt keine Schwierigkeiten) vortragen zu wollen. Koennten sich Frau Baronin dazu verstehen, diesem Musikabend beizuwohnen? Sieben Uhr. Ihr Herr Gemahl, auf dessen Erscheinen ich mit Sicherheit rechne, wird meine gehorsamste Bitte unterstuetzen. Anwesend nur Pastor Lindequist (der begleitet) und natuerlich die verwitwete Frau Pastorin Trippel. In vorzueglicher Ergebenheit A. Gieshuebler." "Nun -", sagte Innstetten, "ja oder nein?" "Natuerlich ja. Das wird mich herausreissen. Und dann kann ich doch meinem lieben Gieshuebler nicht gleich bei seiner ersten Einladung einen Korb geben." "Einverstanden. Also Friedrich, sagen Sie Mirambo, der doch wohl das Billett gebracht haben wird, wir wuerden die Ehre haben." Friedrich ging. Als er fort war, fragte Effi: "Wer ist Mirambo?" "Der echte Mirambo ist Raeuberhauptmann in Afrika -Tanganjika-See, wenn deine Geographie so weit reicht -, unserer aber ist bloss Gieshueblers Kohlenprovisor und Faktotum und wird heute abend in Frack und baumwollenen Handschuhen sehr wahrscheinlich aufwarten." Es war ganz ersichtlich, dass der kleine Zwischenfall auf Effi guenstig eingewirkt und ihr ein gut Teil ihrer Leichtlebigkeit zurueckgegeben hatte, Innstetten aber wollte das Seine tun, diese Rekonvaleszens zu steigern. "Ich freue mich, dass du ja gesagt hast und so rasch und ohne Besinnen, und nun moecht ich dir noch einen Vorschlag machen, um dich ganz wieder in Ordnung zu bringen. Ich sehe wohl, es schleicht dir von der Nacht her etwas nach, das zu meiner Effi nicht passt, das durchaus wieder fort muss, und dazu gibt es nichts Besseres als frische Luft. Das Wetter ist prachtvoll, frisch und milde zugleich, kaum dass ein Lueftchen geht; was meinst du, wenn wir eine Spazierfahrt machten, aber eine lange, nicht bloss so durch die Plantage hin, und natuerlich im Schlitten und das Gelaeut auf und die weissen Schneedecken, und wenn wir dann um vier zurueck sind, dann ruhst du dich aus, und um sieben sind wir bei Gieshuebler und hoeren die Trippelli." Effi nahm seine Hand. "Wie gut du bist, Geert, und wie nachsichtig. Denn ich muss dir ja kindisch oder doch wenigstens sehr kindlich vorgekommen sein; erst das mit meiner Angst und dann hinterher, dass ich dir einen Hausverkauf, und was noch schlimmer ist, das mit dem Fuersten ansinne. Du sollst ihm den Stuhl vor die Tuer setzen - es ist zum Lachen. Denn schliesslich ist er doch der Mann, der ueber uns entscheidet. Auch ueber mich. Du glaubst gar nicht, wie ehrgeizig ich bin. Ich habe dich eigentlich bloss aus Ehrgeiz geheiratet. Aber du musst nicht solch ernstes Gesicht dabei machen. Ich liebe dich ja ... wie heisst es doch, wenn man einen Zweig abbricht und die Blaetter abreisst? Von Herzen mit Schmerzen, ueber alle Massen." Und sie lachte hell auf. "Und nun sage mir", fuhr sie fort, als Innstetten noch immer schwieg, wo soll es hingehen?" "Ich habe mir gedacht, nach der Bahnstation, aber auf einem Umweg, und dann auf der Chaussee zurueck. Und auf der Station essen wir oder noch besser bei Golchowski, in dem Gasthof 'Zum Fuersten Bismarck', dran wir, wenn du dich vielleicht erinnerst, am Tag unserer Ankunft vorueberkamen. Solch Vorsprechen wirkt immer gut, und ich habe dann mit dem Starosten von Effis Gnaden ein Wahlgespraech, und wenn er auch persoenlich nicht viel taugt, seine Wirtschaft haelt er in Ordnung und seine Kueche noch besser. Auf Essen und Trinken verstehen sich die Leute hier." Es war gegen elf, dass sie dies Gespraech fuehrten. Um zwoelf hielt Kruse mit dem Schlitten vor der Tuer, und Effi stieg ein. Johanna wollte Fusssack und Pelze bringen, aber Effi hatte nach allem, was noch auf ihr lag, so sehr das Beduerfnis nach frischer Luft, dass sie alles zurueckwies und nur eine doppelte Decke nahm. Innstetten aber sagte zu Kruse: "Kruse, wir wollen nun also nach dem Bahnhof, wo wir zwei beide heute frueh schon mal waren. Die Leute werden sich wundern, aber es schadet nichts. Ich denke, wir fahren hier an der Plantage entlang und dann links auf den Kroschentiner Kirchturm zu. Lassen Sie die Pferde laufen. Um eins muessen wir am Bahnhof sein." Und so ging die Fahrt. Ueber den weissen Daechern der Stadt stand der Rauch, denn die Luftbewegung war gering. Auch Utpatels Muehle drehte sich nur langsam, und im Fluge fuhren sie daran vorueber, dicht am Kirchhofe hin, dessen Berberitzenstraeucher ueber das Gitter hinauswuchsen und mit ihren Spitzen Effi streiften, so dass der Schnee auf ihre Reisedecke fiel. Auf der anderen Seite des Weges war ein eingefriedeter Platz, nicht viel groesser als ein Gartenbeet, und innerhalb nichts sichtbar als eine junge Kiefer, die mitten daraus hervorragte. "Liegt da auch wer begraben?" fragte Effi. "Ja, der Chinese." Effi fuhr zusammen; es war ihr wie ein Stich. Aber sie hatte doch Kraft genug, sich zu beherrschen, und fragte mit anscheinender Ruhe: "Unserer?" "Ja, unserer. Auf dem Gemeindekirchhof war er natuerlich nicht unterzubringen, und da hat denn Kapitaen Thomsen, der so was wie sein Freund war, diese Stelle gekauft und ihn hier begraben lassen. Es ist auch ein Stein da mit Inschrift. Alles natuerlich vor meiner Zeit. Aber es wird noch immer davon gesprochen." "Also ist es doch was damit. Eine Geschichte. Du sagtest schon heute frueh so was. Und es wird am Ende das beste sein, ich hoere, was es ist. Solange ich es nicht weiss, bin ich, trotz aller guten Vorsaetze, noch immer ein Opfer meiner Vorstellungen. Erzaehle mir das Wirkliche. Die Wirklichkeit kann mich nicht so quaelen wie meine Phantasie." "Bravo, Effi Ich wollte nicht davon sprechen. Aber nun macht es sich so von selbst, und das ist gut. Uebrigens ist es eigentlich gar nichts." "Mir gleich; gar nichts oder viel oder wenig. Fange nur an." "Ja, das ist leicht gesagt. Der Anfang ist immer das schwerste, auch bei Geschichten. Nun, ich denke, ich beginne mit Kapitaen Thomsen." "Gut, gut." "Also Thomsen, den ich dir schon genannt habe, war viele Jahre lang ein sogenannter Chinafahrer, immer mit Reisfracht zwischen Schanghai und Singapur, und mochte wohl schon sechzig sein, als er hier ankam. Ich weiss nicht, ob er hier geboren war oder ob er andere Beziehungen hier hatte. Kurz und gut, er war nun da und verkaufte sein Schiff, einen alten Kasten, draus er nicht viel herausschlug, und kaufte sich ein Haus, dasselbe, drin wir jetzt wohnen. Denn er war draussen in der Welt ein vermoegender Mann geworden. Und von daher schreibt sich auch das Krokodil und der Haifisch und natuerlich auch das Schiff ... Also Thomsen war nun da, ein sehr adretter Mann (so wenigstens hat man mir gesagt) und wohlgelitten. Auch beim Buergermeister Kirstein, vor allem bei dem damaligen Pastor in Kessin, einem Berliner, der kurz vor Thomsen auch hierhergekommen war und viel Anfeindung hatte." "Glaub ich. Ich merke das auch; sie sind hier so streng und selbstgerecht. Ich glaube, das ist pommersch." "Ja und nein, je nachdem. Es gibt auch Gegenden, wo sie gar nicht streng sind und wo's drunter und drueber geht... Aber sieh nur, Effi, da haben wir gerade den Kroschentiner Kirchturm dicht vor uns. Wollen wir nicht den Bahnhof aufgeben und lieber bei der alten Frau von Grasenabb vorfahren? Sidonie, wenn ich recht berichtet bin, ist nicht zu Hause. Wir koennten es also wagen ..." "Ich bitte dich, Geert, wo denkst du hin? Es ist ja himmlisch, so hinzufliegen, und ich fuehle ordentlich, wie mir so frei wird und wie alle Angst von mir abfaellt. Und nun soll ich das alles aufgeben, bloss um den alten Leuten eine Stippvisite zu machen und ihnen sehr wahrscheinlich eine Verlegenheit zu schaffen. Um Gottes willen nicht. Und dann will ich vor allem auch die Geschichte hoeren. Also wir waren bei Kapitaen Thomsen, den ich mir als einen Daenen oder Englaender denke, sehr sauber, mit weissen Vatermoerdern und ganz weisser Waesche ..." "Ganz richtig. So soll er gewesen sein. Und mit ihm war eine junge Person von etwa zwanzig, von der einige sagen, sie sei seine Nichte gewesen, aber die meisten sagen, seine Enkelin, was uebrigens den Jahren nach kaum moeglich. Und ausser der Enkelin oder der Nichte war da auch noch ein Chinese, derselbe, der da zwischen den Duenen liegt und an dessen Grab wir eben voruebergekommen sind." "Gut, gut." "Also dieser Chinese war Diener bei Thomsen, und Thomsen hielt so grosse Stuecke auf ihn, dass er eigentlich mehr Freund als Diener war. Und das ging so Jahr und Tag. Da mit einem Male hiess es, Thomsens Enkelin, die, glaub ich, Nina hiess, solle sich, nach des Alten Wunsch, verheiraten, auch mit einem Kapitaen. Und richtig, so war es auch. Es gab eine grosse Hochzeit im Hause, der Berliner Pastor tat sie zusammen, und Mueller Utpatel, der ein Konventikler war, und Gieshuebler, dem man in der Stadt in kirchlichen Dingen auch nicht recht traute, waren geladen und vor allem viele Kapitaene mit ihren Frauen und Toechtern. Und wie man sich denken kann, es ging hoch her. Am Abend aber war Tanz, und die Braut tanzte mit jedem und zuletzt auch mit dem Chinesen. Da mit einemmal hiess es, sie sei fort, die Braut naemlich. Und sie war auch wirklich fort, irgendwohin, und niemand weiss, was da vorgefallen. Und nach vierzehn Tagen starb der Chinese; Thomsen kaufte die Stelle, die ich dir gezeigt habe, und da wurd er begraben. Der Berliner Pastor aber soll gesagt haben, man haette ihn auch ruhig auf dem christlichen Kirchhof begraben koennen, denn der Chinese sei ein sehr guter Mensch gewesen und geradesogut wie die anderen. Wen er mit den 'anderen' eigentlich gemeint hat, sagte mir Gieshuebler, das wisse man nicht recht." "Aber ich bin in dieser Sache doch ganz und gar gegen den Pastor; so was darf man nicht aussprechen, weil es gewagt und unpassend ist. Das wuerde selbst Niemeyer nicht gesagt haben." "Und das ist auch dem armen Pastor, der uebrigens Trippel hiess, sehr verdacht worden, so dass es eigentlich ein Glueck war, dass er drueberhin starb, sonst haette er seine Stelle verloren. Denn die Stadt, trotzdem sie ihn gewaehlt, war doch auch gegen ihn, geradeso wie du, und das Konsistorium natuerlich erst recht." "Trippel, sagst du? Dann haengt er am Ende mit der Frau Pastor Trippel zusammen, die wir heute abend sehen sollen?" "Natuerlich haengt er mit der zusammen. Er war ihr Mann und ist der Vater von der Trippelli." Effi lachte. "Von der Trippelli! Nun sehe ich erst klar in allem. Dass sie in Kessin geboren, schrieb ja schon Gieshuebler; aber ich dachte, sie sei die Tochter von einem italienischen Konsul. Wir haben ja so viele fremdlaendische Namen hier. Und nun ist sie gut deutsch und stammt von Trippel. Ist sie denn so vorzueglich, dass sie wagen konnte, sich so zu italienisieren?" "Dem Mutigen gehoert die Welt. Uebrigens ist sie ganz tuechtig. Sie war ein paar Jahre lang in Paris bei der beruehmten Viardot, wo sie auch den russischen Fuersten kennenlernte, denn die russischen Fuersten sind sehr aufgeklaert, ueber kleine Standesvorurteile weg, und Kotschukoff und Gieshuebler - den sie uebrigens 'Onkel' nennt, und man kann fast von ihm sagen, er sei der geborene Onkel -, diese beiden sind es recht eigentlich, die die kleine Marie Trippel zu dem gemacht haben, was sie jetzt ist. Gieshuebler war es, durch den sie nach Paris kam, und Kotschukoff hat sie dann in die Trippelli transponiert." "Ach, Geert, wie reizend ist das alles, und welch Alltagsleben habe ich doch in Hohen-Cremmen gefuehrt! Nie was Apartes." Innstetten nahm ihre Hand und sagte: "So darfst du nicht sprechen, Effi. Spuk, dazu kann man sich stellen, wie man will. Aber huete dich vor dem Aparten oder was man so das Aparte nennt. Was dir so verlockend erscheint - und ich rechne auch ein Leben dahin, wie's die Trippelli fuehrt -, das bezahlt man in der Regel mit seinem Glueck. Ich weiss wohl, wie sehr du dein Hohen-Cremmen liebst und daran haengst, aber du spottest doch auch oft darueber und hast keine Ahnung davon, was stille Tage, wie die Hohen-Cremmer, bedeuten." "Doch, doch", sagte sie. "Ich weiss es wohl. Ich hoere nur gern einmal von etwas anderem, und dann wandelt mich die Lust an, mit dabeizusein. Aber du hast ganz recht. Und eigentlich hab ich doch eine Sehnsucht nach Ruh und Frieden." Innstetten drohte ihr mit dem Finger. "Meine einzig liebe Effi, das denkst du dir nun auch wieder so aus. Immer Phantasien, mal so, mal so." Elftes Kapitel Die Fahrt verlief ganz wie geplant. Um ein Uhr hielt der Schlitten unten am Bahndamm vor dem Gasthaus "Zum Fuersten Bismarck", und Golchowski, gluecklich, den Landrat bei sich zu sehen, war beflissen, ein vorzuegliches Dejeuner herzurichten. Als zuletzt das Dessert und der Ungarwein aufgetragen wurden, rief Innstetten den von Zeit zu Zeit erscheinenden und nach der Ordnung sehenden Wirt heran und bat ihn, sich mit an den Tisch zu setzen und ihnen was zu erzaehlen. Dazu war Golchowski denn auch der rechte Mann; auf zwei Meilen in der Runde wurde kein Ei gelegt, von dem er nicht wusste. Das zeigte sich auch heute wieder. Sidonie Grasenabb, Innstetten hatte recht vermutet, war, wie vorige Weihnachten, so auch diesmal wieder auf vier Wochen zu "Hofpredigers" gereist; Frau von Palleske, so hiess es weiter, habe ihre Jungfer wegen einer fatalen Geschichte Knall und Fall entlassen muessen, und mit dem alten Fraude steh es schlecht - es werde zwar in Kurs gesetzt, er sei bloss ausgeglitten, aber es sei ein Schlaganfall gewesen, und der Sohn, der in Lissa bei den Husaren stehe, werde jede Stunde erwartet. Nach diesem Geplaenkel war man dann, zu Ernsthafterem uebergehend, auf Varzin gekommen. "Ja", sagte Golchowski, "wenn man sich den Fuersten so als Papiermueller denkt! Es ist doch alles sehr merkwuerdig; eigentlich kann er die Schreiberei nicht leiden und das bedruckte Papier erst recht nicht, und nun legt er doch selber eine Papiermuehle an." "Schon recht, lieber Golchowski", sagte Innstetten, "aber aus solchen Widerspruechen kommt man im Leben nicht heraus. Und da hilft auch kein Fuerst und keine Groesse." "Nein, nein, da hilft keine Groesse." Wahrscheinlich, dass sich dies Gespraech ueber den Fuersten noch fortgesetzt haette, wenn nicht in ebendiesem Augenblicke die von der Bahn her herueberklingende Signalglocke einen bald eintreffenden Zug angemeldet haette. Innstetten sah nach der Uhr. "Welcher Zug ist das, Golchowski?" "Das ist der Danziger Schnellzug; er haelt hier nicht, aber ich gehe doch immer hinauf und zaehle die Wagen, und mitunter steht auch einer am Fenster, den ich kenne. Hier, gleich hinter meinem Hofe, fuehrt eine Treppe den Damm hinauf, Waerterhaus 417 ..." "Oh, das wollen wir uns zunutze machen", sagte Effi. "Ich sehe so gern Zuege ..." "Dann ist es die hoechste Zeit, gnaed'ge Frau." Und so machten sich denn alle drei auf den Weg und stellten sich, als sie oben waren, in einem neben dem Waerterhaus gelegenen Gartenstreifen auf, der jetzt freilich unter Schnee lag, aber doch eine freigeschaufelte Stelle hatte. Der Bahnwaerter stand schon da, die Fahne in der Hand. Und jetzt jagte der Zug ueber das Bahnhofsgeleise hin und im naechsten Augenblick an dem Haeuschen und an dem Gartenstreifen vorueber. Effi war so erregt, dass sie nichts sah und nur dem letzten Wagen, auf dessen Hoehe ein Bremser sass, ganz wie benommen nachblickte. "Sechs Uhr fuenfzig ist er in Berlin", sagte Innstetten, "und noch eine Stunde spaeter, so koennen ihn die Hohen-Cremmer, wenn der Wind so steht, in der Ferne vorbeiklappern hoeren. Moechtest du mit, Effi?" Sie sagte nichts. Als er aber zu ihr hinueberblickte, sah er, dass eine Traene in ihrem Auge stand. Effi war, als der Zug vorbeijagte, von einer herzlichen Sehnsucht erfasst worden. So gut es ihr ging, sie fuehlte sich trotzdem wie in einer fremden Welt. Wenn sie sich eben noch an dem einen oder andern entzueckt hatte, so kam ihr doch gleich nachher zum Bewusstsein, was ihr fehlte. Da drueben lag Varzin, und da nach der anderen Seite hin blitzte der Kroschentiner Kirchturm auf und weithin der Morgenitzer, und da sassen die Grasenabbs und die Borckes, nicht die Bellings und nicht die Briests. "Ja, die!" Innstetten hatte ganz recht gehabt mit dem raschen Wechsel ihrer Stimmung, und sie sah jetzt wieder alles, was zuruecklag, wie in einer Verklaerung. Aber so gewiss sie voll Sehnsucht dem Zug nachgesehen, sie war doch andererseits viel zu beweglichen Gemuets, um lange dabei zu verweilen, und schon auf der Heimfahrt, als der rote Ball der niedergehenden Sonne seinen Schimmer ueber den Schnee ausgoss, fuehlte sie sich wieder freier; alles erschien ihr schoen und frisch, und als sie, nach Kessin zurueckgekehrt, fast mit dem Glockenschlag sieben in den Gieshueblerschen Flur eintrat, war ihr nicht bloss behaglich, sondern beinah uebermuetig zu Sinn, wozu die das Haus durchziehende Baldrian- und Veilchenwurzelluft das ihrige beitragen mochte. Puenktlich waren Innstetten und Frau erschienen, aber trotz dieser Puenktlichkeit immer noch hinter den anderen Geladenen zurueckgeblieben; Pastor Lindequist, die alte Frau Trippel und die Trippelli selbst waren schon da. Gieshuebler - im blauen Frack mit mattgoldenen Knoepfen, dazu Pincenez an einem breiten, schwarzen Bande, das wie ein Ordensband auf der blendendweissen Piqueweste lag -, Gieshuebler konnte seiner Erregung nur mit Muehe Herr werden. "Darf ich die Herrschaften miteinander bekannt machen: Baron und Baronin Innstetten, Frau Pastor Trippel, Fraeulein Marietta Trippelli." Pastor Lindequist, den alle kannten, stand laechelnd beiseite. Die Trippelli, Anfang der Dreissig, stark maennlich und von ausgesprochen humoristischem Typus, hatte bis zu dem Momente der Vorstellung den Sofaehrenplatz innegehabt. Nach der Vorstellung aber sagte sie, waehrend sie auf einen in der Naehe stehenden Stuhl mit hoher Lehne zuschritt: "Ich bitte Sie nunmehro, gnaed'ge Frau, die Buerden und Faehrlichkeiten Ihres Amtes auf sich nehmen zu wollen. Denn von 'Faehrlichkeiten'" - und sie wies auf das Sofa - "wird sich in diesem Falle wohl sprechen lassen. Ich habe Gieshuebler schon vor Jahr und Tag darauf aufmerksam gemacht, aber leider vergeblich; so gut er ist, so eigensinnig ist er auch." "Aber Marietta ..." "Dieses Sofa naemlich, dessen Geburt um wenigstens fuenfzig Jahre zurueckliegt, ist noch nach einem altmodischen Versenkungsprinzip gebaut, und wer sich ihm anvertraut, ohne vorher einen Kissenturm untergeschoben zu haben, sinkt ins Bodenlose, jedenfalls aber gerade tief genug, um die Knie wie ein Monument aufragen zu lassen." All dies wurde seitens der Trippelli mit ebensoviel Bonhomie wie Sicherheit hingesprochen, in einem Ton, der ausdruecken sollte: "Du bist die Baronin Innstetten, ich bin die Trippelli." Gieshuebler liebte seine Kuenstlerfreundin enthusiastisch und dachte hoch von ihren Talenten; aber all seine Begeisterung konnte ihn doch nicht blind gegen die Tatsache machen, dass ihr von gesellschaftlicher Feinheit nur ein bescheidenes Mass zuteil geworden war. Und diese Feinheit war gerade das, was er persoenlich kultivierte. "Liebe Marietta", nahm er das Wort, "Sie haben eine so reizend heitere Behandlung solcher Fragen; aber was mein Sofa betrifft, so haben Sie wirklich unrecht, und jeder Sachverstaendige mag zwischen uns entscheiden. Selbst ein Mann wie Fuerst Kotschukoff ..." "Ach, ich bitt Sie, Gieshuebler, lassen Sie doch den. Immer Kotschukoff. Sie werden mich bei der gnaed'gen Frau hier noch in den Verdacht bringen, als ob ich bei diesem Fuersten - der uebrigens nur zu den kleineren zaehlt und nicht mehr als tausend Seelen hat, das heisst hatte (frueher, wo die Rechnung noch nach Seelen ging) -, als ob ich stolz waere, seine tausendundeinste Seele zu sein. Nein, es liegt wirklich anders; 'immer freiweg', Sie kennen meine Devise, Gieshuebler. Kotschukoff ist ein guter Kamerad und mein Freund, aber von Kunst und aehnlichen Sachen versteht er gar nichts, von Musik gewiss nicht, wiewohl er Messen und Oratorien komponiert - die meisten russischen Fuersten, wenn sie Kunst treiben, fallen ein bisschen nach der geistlichen oder orthodoxen Seite hin -, und zu den vielen Dingen, von denen er nichts versteht, gehoeren auch unbedingt Einrichtungs- und Tapezierfragen. Er ist gerade vornehm genug, um sich alles als schoen aufreden zu lassen, was bunt aussieht und viel Geld kostet." Innstetten amuesierte sich, und Pastor Lindequist war in einem allersichtlichsten Behagen. Die gute alte Trippel aber geriet ueber den ungenierten Ton ihrer Tochter aus einer Verlegenheit in die andere, waehrend Gieshuebler es fuer angezeigt hielt, eine so schwierig werdende Unterhaltung zu kupieren. Dazu waren etliche Gesangspiecen das beste. Dass Marietta Lieder von anfechtbarem Inhalt waehlen wuerde, war nicht anzunehmen, und selbst wenn dies sein sollte, so war ihre Vortragskunst so gross, dass der Inhalt dadurch geadelt wurde. "Liebe Marietta", nahm er also das Wort, "ich habe unser kleines Mahl zu acht Uhr bestellt. Wir haetten also noch dreiviertel Stunden, wenn Sie nicht vielleicht vorziehen, waehrend Tisch ein heitres Lied zu singen oder vielleicht erst, wenn wir von Tisch aufgestanden sind ..." "Ich bitte Sie, Gieshuebler! Sie, der Mann der Aesthetik. Es gibt nichts Unaesthetischeres als einen Gesangsvortrag mit vollem Magen. Ausserdem - und ich weiss, Sie sind ein Mann der ausgesuchten Kueche, ja Gourmand -, ausserdem schmeckt es besser, wenn man die Sache hinter sich hat. Erst Kunst und dann Nusseis, das ist die richtige Reihenfolge." "Also ich darf Ihnen die Noten bringen, Marietta?" "Noten bringen. Ja, was heisst das, Gieshuebler? Wie ich Sie kenne, werden Sie ganze Schraenke voll Noten haben, und ich kann Ihnen doch nicht den ganzen Bock und Bote vorspielen. Noten! Was fuer Noten, Gieshuebler, darauf kommt es an. Und dann, dass es richtig liegt, Altstimme ..." "Nun, ich werde schon bringen." Und er machte sich an einem Schrank zu schaffen, ein Fach nach dem anderen herausziehend, waehrend die Trippelli ihren Stuhl weiter links um den Tisch herum schob, so dass sie nun dicht neben Effi sass. "Ich bin neugierig, was er bringen wird", sagte sie. Effi geriet dabei in eine kleine Verlegenheit. "Ich moechte annehmen", antwortete sie befangen, "etwas von Gluck, etwas ausgesprochen Dramatisches ... Ueberhaupt, mein gnaediges Fraeulein, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, ich bin ueberrascht zu hoeren, dass Sie lediglich Konzertsaengerin sind. Ich daechte, dass Sie, wie wenige, fuer die Buehne berufen sein muessten. Ihre Erscheinung, Ihre Kraft, Ihr Organ ... ich habe noch so wenig derart kennengelernt, immer nur auf kurzen Besuchen in Berlin ... und dann war ich noch ein halbes Kind. Aber ich daechte, 'Orpheus' oder 'Chrimhild' oder die 'Vestalin'." Die Trippelli wiegte den Kopf und sah in Abgruende, kam aber zu keiner Entgegnung, weil eben jetzt Gieshuebler wieder erschien und ein halbes Dutzend Notenhefte vorlegte, die seine Freundin in rascher Reihenfolge durch die Hand gleiten liess. "'Erlkoenig' ... ah, bah; 'Baechlein, lass dein Rauschen sein ...' Aber Gieshuebler, ich bitte Sie, Sie sind ein Murmeltier, Sie haben sieben Jahre lang geschlafen ... Und hier Loewesche Balladen; auch nicht gerade das Neueste. 'Glocken von Speyer' ... Ach, dies ewige Bim-Bam, das beinah einer Kulissenreisserei gleichkommt, ist geschmacklos und abgestanden. Aber hier, 'Ritter Olaf' ... nun, das geht." Und sie stand auf, und waehrend der Pastor begleitete, sang sie den "Olaf" mit grosser Sicherheit und Bravour und erntete allgemeinen Beifall. Es wurde dann noch aehnlich Romantisches gefunden, einiges aus dem "Fliegenden Hollaender" und aus "Zampa", dann der "Heideknabe", lauter Sachen, die sie mit ebensoviel Virtuositaet wie Seelenruhe vortrug, waehrend Effi von Text und Komposition wie benommen war. Als die Trippelli mit dem "Heideknaben" fertig war, sagte sie: "Nun ist es genug", eine Erklaerung, die so bestimmt von ihr abgegeben wurde, dass weder Gieshuebler noch ein anderer den Mut hatte, mit weiteren Bitten in sie zu dringen. Am wenigsten Effi Diese sagte nur, als Gieshueblers Freundin wieder neben ihr sass: "Dass ich Ihnen doch sagen koennte, mein gnaedigstes Fraeulein, wie dankbar ich Ihnen bin! Alles so schoen, so sicher, so gewandt. Aber eines, wenn Sie mir verzeihen, bewundere ich fast noch mehr, das ist die Ruhe, womit Sie diese Sachen vorzutragen wissen. Ich bin so leicht Eindruecken hingegeben, und wenn ich die kleinste Gespenstergeschichte hoere, so zittere ich und kann mich kaum wieder zurechtfinden. Und Sie tragen das so maechtig und erschuetternd vor und sind selbst ganz heiter und guter Dinge." "Ja, meine gnaedigste Frau, das ist in der Kunst nicht anders. Und nun gar erst auf dem Theater, vor dem ich uebrigens gluecklicherweise bewahrt geblieben bin. Denn so gewiss ich mich persoenlich gegen seine Versuchungen gefeit fuehle - es verdirbt den Ruf, also das Beste, was man hat. Im uebrigen stumpft man ab, wie mir Kolleginnen hundertfach versichert haben. Da wird vergiftet und erstochen, und der toten Julia fluestert Romeo einen Kalauer ins Ohr oder wohl auch eine Malice, oder er drueckt ihr einen kleinen Liebesbrief in die Hand." "Es ist mir unbegreiflich. Und um bei dem stehenzubleiben, was ich Ihnen diesen Abend verdanke, beispielsweise bei dem Gespenstischen im 'Olaf', ich versichere Ihnen, wenn ich einen aengstlichen Traum habe oder wenn ich glaube, ueber mir hoerte ich ein leises Tanzen oder Musizieren, waehrend doch niemand da ist, oder es schleicht wer an meinem Bett vorbei, so bin ich ausser mir und kann es tagelang nicht vergessen." "Ja, meine gnaedige Frau, was Sie da schildern und beschreiben, das ist auch etwas anderes, das ist ja wirklich oder kann wenigstens etwas Wirkliches sein. Ein Gespenst, das durch die Ballade geht, da graule ich mich gar nicht, aber ein Gespenst, das durch meine Stube geht, ist mir, geradeso wie andern, sehr unangenehm. Darin empfinden wir also ganz gleich." "Haben Sie denn dergleichen auch einmal erlebt?" "Gewiss. Und noch dazu bei Kotschukoff. Und ich habe mir auch ausbedungen, dass ich diesmal anders schlafe, vielleicht mit der englischen Gouvernante zusammen. Das ist naemlich eine Quaekerin, und da ist man sicher." "Und Sie halten dergleichen fuer moeglich?" "Meine gnaedigste Frau, wenn man so alt ist wie ich und viel rumgestossen wurde und in Russland war und sogar auch ein halbes Jahr in Rumaenien, da haelt man alles fuer moeglich. Es gibt so viel schlechte Menschen, und das andere findet sich dann auch, das gehoert dann sozusagen mit dazu." Effi horchte auf. "Ich bin", fuhr die Trippelli fort, "aus einer sehr aufgeklaerten Familie (bloss mit Mutter war es immer nicht so recht), und doch sagte mir mein Vater, als das mit dem Psychographen aufkam: 'Hoere, Mane, das ist was.' Und er hat recht gehabt, es ist auch was damit. Ueberhaupt, man ist links und rechts umlauert, hinten und vorn. Sie werden das noch kennenlernen." In diesem Augenblick trat Gieshuebler heran und bot Effi den Arm, Innstetten fuehrte Marietta, dann folgten Pastor Lindequist und die verwitwete Trippel. So ging man zu Tisch. Zoelftes Kapitel Es war spaet, als man aufbrach. Schon bald nach zehn hatte Effi zu Gieshuebler gesagt, es sei nun wohl Zeit; Fraeulein Trippelli, die den Zug nicht versaeumen duerfe, muesse ja schon um sechs von Kessin aufbrechen; die danebenstehende Trippelli aber, die diese Worte gehoert, hatte mit der ihr eigenen ungenierten Beredsamkeit gegen solche zarte Ruecksichtnahme protestiert. "Ach, meine gnaedigste Frau, Sie glauben, dass unsereins einen regelmaessigen Schlaf braucht, das trifft aber nicht zu; was wir regelmaessig brauchen, heisst Beifall und hohe Preise. Ja, lachen Sie nur. Ausserdem (so was lernt man) kann ich auch im Coupe schlafen, in jeder Situation und sogar auf der linken Seite, und brauche nicht einmal das Kleid aufzumachen. Freilich bin ich auch nie eingepresst; Brust und Lunge muessen immer frei sein und vor allem das Herz. Ja, meine gnaedigste Frau, das ist die Hauptsache. Und dann das Kapitel Schlaf ueberhaupt - die Menge tut es nicht, was entscheidet, ist die Qualitaet; ein guter Nicker von fuenf Minuten ist besser als fuenf Stunden unruhige Rumdreherei, mal links, mal rechts. Uebrigens schlaeft man in Russland wundervoll, trotz des starken Tees. Es muss die Luft machen oder das spaete Diner oder weil man so verwoehnt wird. Sorgen gibt es in Russland nicht; darin - im Geldpunkt sind beide gleich - ist Russland noch besser als Amerika." Nach dieser Erklaerung der Trippelli hatte Effi von allen Mahnungen zum Aufbruch Abstand genommen, und so war Mitternacht herangekommen. Man trennte sich heiter und herzlich und mit einer gewissen Vertraulichkeit. Der Weg von der Mohrenapotheke bis zur landraetlichen Wohnung war ziemlich weit; er kuerzte sich aber dadurch, dass Pastor Lindequist bat, Innstetten und Frau eine Strecke begleiten zu duerfen; ein Spaziergang unterm Sternenhimmel sei das beste, um ueber Gieshueblers Rheinwein hinwegzukommen. Unterwegs wurde man natuerlich nicht muede, die verschiedensten Trippelliana heranzuziehen; Effi begann mit dem, was ihr in Erinnerung geblieben, und gleich nach ihr kam der Pastor an die Reihe. Dieser, ein Ironikus, hatte die Trippelli, wie nach vielem sehr Weltlichen, so schliesslich auch nach ihrer kirchlichen Richtung gefragt und dabei von ihr in Erfahrung gebracht, dass sie nur eine Richtung kenne, die orthodoxe. Ihr Vater sei freilich ein Rationalist gewesen, fast schon ein Freigeist, weshalb er auch den Chinesen am liebsten auf dem Gemeindekirchhof gehabt haette; sie ihrerseits sei aber ganz entgegengesetzter Ansicht, trotzdem sie persoenlich des grossen Vorzugs geniesse, gar nichts zu glauben. Aber sie sei sich in ihrem entschiedenen Nichtglauben doch auch jeden Augenblick bewusst, dass das ein Spezialluxus sei, den man sich nur als Privatperson gestatten koenne. Staatlich hoere der Spass auf, und wenn ihr das Kultusministerium oder gar ein Konsistorialregiment unterstuende, so wuerde sie mit unnachsichtiger Strenge vorgehen. "Ich fuehle so was von einem Torquemada in mir." Innstetten war sehr erheitert und erzaehlte seinerseits, dass er etwas so Heikles, wie das Dogmatische, geflissentlich vermieden, aber dafuer das Moralische desto mehr in den Vordergrund gestellt habe. Hauptthema sei das Verfuehrerische gewesen, das bestaendige Gefaehrdetsein, das in allem oeffentlichen Auftreten liege, worauf die Trippelli leichthin und nur mit Betonung der zweiten Satzhaelfte geantwortet habe: "Ja, bestaendig gefaehrdet; am meisten die Stimme." Unter solchem Geplauder war, ehe man sich trennte, der Trippelli-Abend noch einmal an ihnen voruebergezogen, und erst drei Tage spaeter hatte sich Gieshueblers Freundin durch ein von Petersburg aus an Effi gerichtetes Telegramm noch einmal in Erinnerung gebracht. Es lautete: Madame la Baronne d'Innstetten, nee de Briest. Bien arrivee. Prince K. a la gare. Plus epris de moi que jamais. Mille fois merci de votre bon accueil. Compliments empresses a Monsieur le Baron. Marietta Trippelli. Innstetten war entzueckt und gab diesem Entzuecken lebhafteren Ausdruck, als Effi begreifen konnte. "Ich verstehe dich nicht, Geert." "Weil du die Trippelli nicht verstehst. Mich entzueckt die Echtheit; alles da, bis auf das Puenktchen ueberm i." "Du nimmst also alles als eine Komoedie?" "Aber als was sonst? Alles berechnet fuer dort und fuer hier, fuer Kotschukoff und fuer Gieshuebler. Gieshuebler wird wohl eine Stiftung machen, vielleicht auch bloss ein Legat fuer die Trippelli." Die musikalische Soiree bei Gieshuebler hatte Mitte Dezember stattgefunden, gleich danach begannen die Vorbereitungen fuer Weihnachten, und Effi, die sonst schwer ueber diese Tage hingekommen waere, segnete es, dass sie selber einen Hausstand hatte, dessen Ansprueche befriedigt werden mussten. Es galt nachsinnen, fragen, anschaffen, und das alles liess truebe Gedanken nicht aufkommen. Am Tage vor Heiligabend trafen Geschenke von den Eltern aus Hohen-Cremmen ein, und mit in die Kiste waren allerhand Kleinigkeiten aus dem Kantorhause gepackt: wunderschoene Reinetten von einem Baum, den Effi und Jahnke vor mehreren Jahren gemeinschaftlich okuliert hatten, und dazu braune Puls- und Kniewaermer von Bertha und Hertha. Hulda schrieb nur wenige Zeilen, weil sie, wie sie sich entschuldigte, fuer X noch eine Reisedecke zu stricken habe. "Was einfach nicht wahr ist", sagte Effi. "Ich wette, X. existiert gar nicht. Dass sie nicht davon lassen kann, sich mit Anbetern zu umgeben die nicht da sind!" Und so kam Heiligabend heran. Innstetten selbst baute auf fuer seine junge Frau, der Baum brannte, und ein kleiner Engel schwebte oben in Lueften Auch eine Krippe war da mit huebschen Transparenten und Inschriften, deren eine sich in leiser Andeutung auf ein dem Innstettenschen Hause fuer naechstes Jahr bevorstehendes Ereignis bezog. Effi las es und erroetete. Dann ging sie auf Innstetten zu, um ihm zu danken, aber eh sie dies konnte, flog, nach altpommerschem Weihnachtsbrauch, ein Julklapp in den Hausflur: eine grosse Kiste, drin eine Welt von Dingen steckte. Zuletzt fand man die Hauptsache, ein zierliches, mit allerlei japanischen Bildchen ueberklebtes Morsellenkaestchen, dessen eigentlichem Inhalt auch noch ein Zettelchen beigegeben war. Es hiess da: Drei Koenige kamen zum Heiligenchrist, Mohrenkoenig einer gewesen ist - Ein Mohrenapothekerlein Erscheinet heute mit Spezerein, Doch statt Weihrauch und Myrrhen, die nicht zur Stelle, Bringt er Pistazien- und Mandel-Morselle. Effi las es zwei-, dreimal und freute sich darueber. "Die Huldigungen eines guten Menschen haben doch etwas besonders Wohltuendes. Meinst du nicht auch, Geert?" "Gewiss meine ich das. Es ist eigentlich das einzige, was einem Freude macht oder wenigstens Freude machen sollte. Denn jeder steckt noch so nebenher in allerhand dummem Zeuge drin. Ich auch. Aber freilich, man ist, wie man ist." Der erste Feiertag war Kirchtag, am zweiten war man bei Borckes draussen, alles zugegen, mit Ausnahme von Grasenabbs, die nicht kommen wollten, weil Sidonie nicht da sei, was man als Entschuldigung allseitig ziemlich sonderlich fand. Einige tuschelten sogar: "Umgekehrt; gerade deshalb haetten sie kommen sollen." Am Silvester war Ressourcenball, auf dem Effi nicht fehlen durfte und auch nicht wollte, denn der Ball gab ihr Gelegenheit, endlich einmal die ganze Stadtflora beisammen zu sehen. Johanna hatte mit den Vorbereitungen zum Ballstaate fuer ihre Gnaed'ge vollauf zu tun, Gieshuebler, der, wie alles, so auch ein Treibhaus hatte, schickte Kamelien, und Innstetten, so knapp bemessen die Zeit fuer ihn war, fuhr am Nachmittage noch ueber Land nach Papenhagen, wo drei Scheunen abgebrannt waren. Es war ganz still im Hause. Christel, beschaeftigungslos, hatte sich schlaefrig eine Fussbank an den Herd gerueckt, und Effi zog sich in ihr Schlafzimmer zurueck, wo sie sich, zwischen Spiegel und Sofa, an einen kleinen, eigens zu diesem Zweck zurechtgemachten Schreibtisch setzte, um von hier aus an die Mama zu schreiben, der sie fuer Weihnachtsbrief und Weihnachtsgeschenke bis dahin bloss in einer Karte gedankt, sonst aber seit Wochen keine Nachricht gegeben hatte. Kessin, 31. Dezember. Meine liebe Mama! Das wird nun wohl ein langer Schreibebrief werden, denn ich habe - die Karte rechnet nicht - lange nichts von mir hoeren lassen. Als ich das letztemal schrieb, steckte ich noch in den Weihnachtsvorbereitungen, jetzt liegen die Weihnachtstage schon zurueck. Innstetten und mein guter Freund Gieshuebler hatten alles aufgeboten, mir den Heiligen Abend so angenehm wie moeglich zu machen, aber ich fuehlte mich doch ein wenig einsam und bangte mich nach Euch. Ueberhaupt, soviel Ursache ich habe, zu danken und froh und gluecklich zu sein, ich kann ein Gefuehl des Alleinseins nicht ganz loswerden, und wenn ich mich frueher, vielleicht mehr als noetig, ueber Huldas ewige Gefuehlstraene mokiert habe, so werde ich jetzt dafuer bestraft und habe selber mit dieser Traene zu kaempfen. Denn Innstetten darf es nicht sehen. Ich bin aber sicher, dass das alles besser werden wird, wenn unser Hausstand sich mehr belebt, und das wird der Fall sein, meine liebe Mama. Was ich neulich andeutete, das ist nun Gewissheit, und Innstetten bezeugt mir taeglich seine Freude darueber. Wie gluecklich ich selber im Hinblick darauf bin, brauche ich nicht erst zu versichern, schon weil ich dann Leben und Zerstreuung um mich her haben werde oder, wie Geert sich ausdrueckt, ein "liebes Spielzeug". Mit diesem Wort wird er wohl recht haben, aber er sollte es lieber nicht gebrauchen, weil es mir immer einen kleinen Stich gibt und mich daran erinnert, wie jung ich bin und dass ich noch halb in die Kinderstube gehoere. Diese Vorstellung verlaesst mich nicht (Geert meint, es sei krankhaft) und bringt es zuwege, dass das, was mein hoechstes Glueck sein sollte, doch fast noch mehr eine bestaendige Verlegenheit fuer mich ist. Ja, meine liebe Mama, als die guten Flemmingschen Damen sich neulich nach allem moeglichen erkundigten, war mir zumut, als stuende ich schlecht vorbereitet in einem Examen, und ich glaube auch, dass ich recht dumm geantwortet habe. Verdriesslich war ich auch. Denn manches, was wie Teilnahme aussieht, ist doch bloss Neugier und wirkt um so zudringlicher, als ich ja noch lange, bis in den Sommer hinein, auf das frohe Ereignis zu warten habe. Ich denke, die ersten Julitage. Dann musst Du kommen, oder noch besser, sobald ich einigermassen wieder bei Wege bin, komme ich, nehme hier Urlaub und mache mich auf nach Hohen-Cremmen. Ach, wie ich mich darauf freue und auf die havellaendische Luft - hier ist es fast immer rauh und kalt -, und dann jeden Tag eine Fahrt ins Luch, alles rot und gelb, und ich sehe schon, wie das Kind die Haende danach streckt, denn es wird doch wohl fuehlen, dass es eigentlich da zu Hause ist. Aber das schreibe ich nur Dir. Innstetten darf nicht davon wissen, und auch Dir gegenueber muss ich mich wie entschuldigen, dass ich mit dem Kinde nach Hohen-Cremmen will und mich heute schon anmelde, statt Dich, meine liebe Mama, dringend und herzlich nach Kessin hin einzuladen, das ja doch jeden Sommer fuenfzehnhundert Badegaeste hat und Schiffe mit allen moeglichen Flaggen und sogar ein Duenenhotel. Aber dass ich so wenig Gastlichkeit zeige, das macht nicht, dass ich ungastlich waere, so sehr bin ich nicht aus der Art geschlagen, das macht einfach unser landraetliches Haus, das, soviel Huebsches und Apartes es hat, doch eigentlich gar kein richtiges Haus ist, sondern nur eine Wohnung fuer zwei Menschen, und auch das kaum, denn wir haben nicht einmal ein Esszimmer, was doch genant ist, wenn ein paar Personen zu Besuch sich einstellen. Wir haben freilich noch Raeumlichkeiten im ersten Stock, einen grossen Saal und vier kleine Zimmer, aber sie haben alle etwas wenig Einladendes, und ich wuerde sie Rumpelkammer nennen, wenn sich etwas Geruempel darin vorfaende; sie sind aber ganz leer, ein paar Binsenstuehle abgerechnet, und machen, das mindeste zu sagen, einen sehr sonderbaren Eindruck. Nun wirst Du wohl meinen, das alles sei ja leicht zu aendern. Aber es ist nicht zu aendern; denn das Haus, das wir bewohnen, ist ... ist ein Spukhaus; da ist es heraus. Ich beschwoere Dich uebrigens, mir auf diese meine Mitteilung nicht zu antworten, denn ich zeige Innstetten immer Eure Briefe, und er waere ausser sich, wenn er erfuehre, dass ich Dir das geschrieben. Ich haette es auch nicht getan, und zwar um so weniger, als ich seit vielen Wochen in Ruhe geblieben bin und aufgehoert habe, mich zu aengstigen; aber Johanna sagt mir, es kaeme immer mal wieder, namentlich wenn wer Neues im Hause erschiene. Und ich kann Dich doch einer solchen Gefahr oder, Wenn das zuviel gesagt ist, einer solchen eigentuemlichen und unbequemen Stoerung nicht aussetzen! Mit der Sache selber will ich Dich heute nicht behelligen, jedenfalls nicht ausfuehrlich. Es ist eine Geschichte von einem alten Kapitaen, einem sogenannten Chinafahrer, und seiner Enkelin, die mit einem hiesigen jungen Kapitaen eine kurze Zeit verlobt war und an ihrem Hochzeitstage ploetzlich verschwand. Das moechte hingehn. Aber was wichtiger ist, ein junger Chinese, den ihr Vater aus China mit zurueckgebracht hatte und der erst der Diener und dann der Freund des Alten war, der starb kurze Zeit danach und ist an einer einsamen Stelle neben dem Kirchhof begraben worden. Ich bin neulich da voruebergefahren, wandte mich aber rasch ab und sah nach der andern Seite, weil ich glaube, ich haette ihn sonst auf dem Grabe sitzen sehen. Denn ach, meine liebe Mama, ich habe ihn einmal wirklich gesehen, oder es ist mir wenigstens so vorgekommen, als ich fest schlief und Innstetten auf Besuch beim Fuersten war. Es war schrecklich; ich moechte so was nicht wieder erleben. Und in ein solches Haus, so huebsch es sonst ist (es ist sonderbarerweise gemuetlich und unheimlich zugleich), kann ich Dich doch nicht gut einladen. Und Innstetten, trotzdem ich ihm schliesslich in vielen Stuecken zustimmte, hat sich dabei, soviel moechte ich sagen duerfen, auch nicht ganz richtig benommen. Er verlangte von mir, ich solle das alles als Alten-Weiber-Unsinn ansehn und darueber lachen, aber mit einemmal schien er doch auch wieder selber daran zu glauben und stellte mir zugleich die sonderbare Zumutung, einen solchen Hausspuk als etwas Vornehmes und Altadliges anzusehen. Das kann ich aber nicht und will es auch nicht. Er ist in diesem Punkt, so guetig er sonst ist, nicht guetig und nachsichtig genug gegen mich. Denn dass es etwas damit ist, das weiss ich von Johanna und weiss es auch von unserer Frau Kruse. Das ist naemlich unsere Kutscherfrau, die mit einem schwarzen Huhn bestaendig in einer ueberheizten Stube sitzt. Dies allein schon ist aengstlich genug. Und nun weisst Du, warum ich kommen will, wenn es erst soweit ist. Ach, waere es nur erst soweit. Es sind so viele Gruende, warum ich es wuensche. Heute abend haben wir Silvesterball, und Gieshuebler - der einzige nette Mensch hier, trotzdem er eine hohe Schulter hat oder eigentlich schon etwas mehr -, Gieshuebler hat mir Kamelien geschickt. Ich werde doch vielleicht tanzen. Unser Arzt sagt, es wuerde mir nichts schaden, im Gegenteil. Und Innstetten, was mich fast ueberraschte, hat auch eingewilligt. Und nun gruesse und kuesse Papa und all die andern Lieben. Glueckauf zum neuen Jahr. Deine Effi. Dreizehntes Kapitel Der Silvesterball hatte bis an den fruehen Morgen gedauert, und Effi war ausgiebig bewundert worden, freilich nicht ganz so anstandslos wie das Kamelienbukett, von dem man wusste, dass es aus dem Gieshueblerschen Treibhaus kam. Im uebrigen blieb auch nach dem Silvesterball alles beim alten, kaum dass Versuche gesellschaftlicher Annaeherung gemacht worden waeren, und so kam es denn, dass der Winter als recht lange dauernd empfunden wurde. Besuche seitens der benachbarten Adelsfamilien fanden nur selten statt, und dem pflichtschuldigen Gegenbesuch ging in einem halben Trauerton jedesmal die Bemerkung voraus: "Ja, Geert, wenn es durchaus sein muss, aber ich vergehe vor Langeweile." Worte, denen Innstetten nur immer zustimmte. Was an solchen Besuchsnachmittagen ueber Familie, Kinder, auch Landwirtschaft gesagt wurde, mochte gehen; wenn dann aber die kirchlichen Fragen an die Reihe kamen und die mitanwesenden Pastoren wie kleine Paepste behandelt wurden oder sich auch wohl selbst als solche ansahen, dann riss Effi der Faden der Geduld, und sie dachte mit Wehmut an Niemeyer, der immer zurueckhaltend und anspruchslos war, trotzdem es bei jeder groesseren Feierlichkeit hiess, er habe das Zeug, an den "Dom" berufen zu werden. Mit den Borckes, den Flemmings, den Grasenabbs, so freundlich die Familien, von Sidonie Grasenabb abgesehen, gesinnt waren - es wollte mit allen nicht so recht gehen, und es haette mit Freude, Zerstreuung und auch nur leidlichem Sich-behaglich-Fuehlen manchmal recht schlimm gestanden, wenn Gieshuebler nicht gewesen waere. Der sorgte fuer Effi wie eine kleine Vorsehung, und sie wusste es ihm auch Dank. Natuerlich war er neben allem andern auch ein eifriger und aufmerksamer Zeitungsleser, ganz zu schweigen, dass er an der Spitze des Journalzirkels stand, und so verging denn fast kein Tag, wo nicht Mirambo ein grosses weisses Kuvert gebracht haette mit allerhand Blaettern und Zeitungen, in denen die betreffenden Stellen angestrichen waren, meist eine kleine, feine Bleistiftlinie, mitunter aber auch dick mit Blaustift und ein Ausrufungs- oder Fragezeichen daneben. Und dabei liess er es nicht bewenden; er schickte auch Feigen und Datteln, Schokoladentafeln in Satineepapier und ein rotes Baendchen drum, und wenn etwas besonders Schoenes in seinem Treibhaus bluehte, so brachte er es selbst und hatte dann eine glueckliche Plauderstunde mit der ihm so sympathischen jungen Frau, fuer die er alle schoenen Liebesgefuehle durch- und nebeneinander hatte, die des Vaters und Onkels, des Lehrers und Verehrers. Effi war geruehrt von dem allen und schrieb oefters darueber nach Hohen-Cremmen, so dass die Mama sie mit ihrer "Liebe zum Alchimisten" zu necken begann; aber diese wohlgemeinten Neckereien verfehlten ihren Zweck, ja beruehrten sie beinahe schmerzlich, weil ihr, wenn auch unklar, dabei zum Bewusstsein kam, was ihr in ihrer Ehe eigentlich fehlte: Huldigungen, Anregungen, kleine Aufmerksamkeiten. Innstetten war lieb und gut, aber ein Liebhaber war er nicht. Er hatte das Gefuehl, Effi zu lieben, und das gute Gewissen, dass es so sei, liess ihn von besonderen Anstrengungen absehen. Es war fast zur Regel geworden, dass er sich, wenn Friedrich die Lampe brachte, aus seiner Frau Zimmer in sein eigenes zurueckzog. "Ich habe da noch eine verzwickte Geschichte zu erledigen." Und damit ging er. Die Portiere blieb freilich zurueckgeschlagen, so dass Effi das Blaettern in dem Aktenstueck oder das Kritzeln seiner Feder hoeren konnte, aber das war auch alles. Rollo kam dann wohl und legte sich vor sie hin auf den Kaminteppich, als ob er sagen wolle: "Muss nur mal wieder nach dir sehen; ein anderer tut's doch nicht." Und dann beugte sie sich nieder und sagte leise: "Ja, Rollo, wir sind allein." Um neun erschien dann Innstetten wieder zum Tee, meist die Zeitung in der Hand, sprach vom Fuersten, der wieder viel Aerger habe, zumal ueber diesen Eugen Richter, dessen Haltung und Sprache ganz unqualifizierbar seien, und ging dann die Ernennungen und Ordensverleihungen durch, von denen er die meisten beanstandete. Zuletzt sprach er von den Wahlen, und dass es ein Glueck sei, einem Kreis vorzustehen, in dem es noch Respekt gaebe. War er damit durch, so bat er Effi, dass sie was spiele, aus Lohengrin oder aus der Walkuere, denn er war ein Wagnerschwaermer. Was ihn zu diesem hinuebergefuehrt hatte, war ungewiss; einige sagten, seine Nerven, denn so nuechtern er schien, eigentlich war er nervoes; andere schoben es auf Wagners Stellung zur Judenfrage. Wahrscheinlich hatten beide recht. Um zehn war Innstetten dann abgespannt und erging sich in ein paar wohlgemeinten, aber etwas mueden Zaertlichkeiten, die sich Effi gefallen liess, ohne sie recht zu erwidern. So verging der Winter, der April kam, und in dem Garten hinter dem Hof begann es zu gruenen, worueber sich Effi freute; sie konnte gar nicht abwarten, dass der Sommer komme mit seinen Spaziergaengen am Strand und seinen Badegaesten. Wenn sie so zurueckblickte, der Trippelli-Abend bei Gieshuebler und dann der Silvesterball, ja, das ging, das war etwas Huebsches gewesen; aber die Monate, die dann gefolgt waren, die hatten doch viel zu wuenschen uebriggelassen, und vor allem waren sie so monoton gewesen, dass sie sogar mal an die Mama geschrieben hatte: "Kannst Du Dir denken, Mama, dass ich mich mit unsrem Spuk beinah ausgesoehnt habe? Natuerlich die schreckliche Nacht, wo Geert drueben beim Fuersten war, die moechte ich nicht noch einmal durchmachen, nein, gewiss nicht; aber immer das Alleinsein und so gar nichts erleben, das hat doch auch sein Schweres, und wenn ich dann in der Nacht aufwache, dann horche ich mitunter hinauf, ob ich nicht die Schuhe schleifen hoere, und wenn alles still bleibt, so bin ich fast wie enttaeuscht und sage mir: Wenn es doch nur wiederkaeme, nur nicht zu arg und nicht zu nah." Das war im Februar, dass Effi so schrieb, und nun war beinahe Mai. Drueben in der Plantage belebte sich's schon wieder, und man hoerte die Finken schlagen. Und in derselben Woche war es auch, dass die Stoerche kamen, und einer schwebte langsam ueber ihr Haus hin und liess sich dann auf einer Scheune nieder, die neben Utpatels Muehle stand. Das war seine alte Raststaette. Auch ueber dies Ereignis berichtete Effi, die jetzt ueberhaupt haeufiger nach Hohen-Cremmen schrieb, und es war in demselben Brief, dass es am Schluss hiess: "Etwas, meine liebe Mama, haette ich beinah vergessen: den neuen Landwehrbezirkskommandeur, den wir nun schon beinah vier Wochen hier haben. Ja, haben wir ihn wirklich? Das ist die Frage, und eine Frage von Wichtigkeit dazu, sosehr Du darueber lachen wirst und auch lachen musst, weil Du den gesellschaftlichen Notstand nicht kennst, in dem wir uns nach wie vor befinden. Oder wenigstens ich, die ich mich mit dem Adel hier nicht gut zurechtfinden kann. Vielleicht meine Schuld. Aber das ist gleich. Tatsache bleibt: Notstand, und deshalb sah ich, durch all diese Winterwochen hin, dem neuen Bezirkskommandeur wie einem Trost- und Rettungsbringer entgegen. Sein Vorgaenger war ein Greuel, von schlechten Manieren und noch schlechteren Sitten, und zum Ueberfluss auch noch immer schlecht bei Kasse. Wir haben all die Zeit ueber unter ihm gelitten, Innstetten noch mehr als ich, und als wir Anfang April hoerten, Major von Crampas sei da, das ist naemlich der Name des neuen, da fielen wir uns in die Arme, als koenne uns nichts Schlimmes mehr in diesem lieben Kessin passieren. Aber, wie schon kurz erwaehnt, es scheint, trotzdem er da ist, wieder nichts werden zu wollen. Crampas ist verheiratet, zwei Kinder von zehn und acht Jahren, die Frau ein Jahr aelter als er, also sagen wir fuenfundvierzig. Das wuerde nun an und fuer sich nicht viel schaden, warum soll ich mich nicht mit einer muetterlichen Freundin wundervoll unterhalten koennen? Die Trippelli war auch nahe an Dreissig, und es ging ganz gut. Aber mit der Frau von Crampas, uebrigens keine Geborene, kann es nichts werden. Sie ist immer verstimmt, beinahe melancholisch (aehnlich wie unsere Frau Kruse, an die sie mich ueberhaupt erinnert), und das alles aus Eifersucht. Er, Crampas, soll naemlich ein Mann vieler Verhaeltnisse sein, ein Damenmann, etwas, was mir immer laecherlich ist und mir auch in diesem Falle laecherlich sein wuerde, wenn er nicht um eben solcher Dinge willen ein Duell mit einem Kameraden gehabt haette. Der linke Arm wurde ihm dicht unter der Schulter zerschmettert, und man sieht es sofort, trotzdem die Operation, wie mir Innstetten erzaehlt (ich glaube, sie nennen es Resektion, damals noch von Wilms ausgefuehrt), als ein Meisterstueck der Kunst geruehmt wurde. Beide, Herr und Frau von Crampas, waren vor vierzehn Tagen bei uns, um uns ihren Besuch zu machen; es war eine sehr peinliche Situation, denn Frau von Crampas beobachtete ihren Mann so, dass er in eine halbe und ich in eine ganze Verlegenheit kam. Dass er selbst sehr anders sein kann, ausgelassen und uebermuetig, davon ueberzeugte ich mich, als er vor drei Tagen mit Innstetten allein war und ich, von meinem Zimmer her, dem Gang ihrer Unterhaltung folgen konnte. Nachher sprach auch ich ihn. Vollkommener Kavalier, ungewoehnlich gewandt. Innstetten war waehrend des Krieges in derselben Brigade mit ihm, und sie haben sich im Norden von Paris bei Graf Groeben oefter gesehen. Ja, meine liebe Mama, das waere nun also etwas gewesen, um in Kessin ein neues Leben beginnen zu koennen; er, der Major, hat auch nicht die pommerschen Vorurteile, trotzdem er in Schwedisch-Pommern zu Hause sein soll. Aber die Frau! Ohne sie geht es natuerlich nicht, und mit ihr erst recht nicht." Effi hatte ganz recht gehabt, und es kam wirklich zu keiner weiteren Annaeherung mit dem Crampasschen Paar. Man sah sich mal bei der Borckeschen Familie draussen, ein andermal ganz fluechtig auf dem Bahnhof und wenige Tage spaeter auf einer Boots- und Vergnuegungsfahrt, die nach einem am Breitling gelegenen grossen Buchen- und Eichenwald, der "Der Schnatermann" hiess, gemacht wurde; es kam aber ueber kurze Begruessungen nicht hinaus, und Effi war froh, als Anfang Juni die Saison sich ankuendigte. Freilich fehlte es noch an Badegaesten, die vor Johanni ueberhaupt nur in Einzelexemplaren einzutreffen pflegten, aber schon die Vorbereitungen waren eine Zerstreuung. In der Plantage wurden Karussell und Scheibenstaende hergerichtet, die Schiffersleute kalfaterten und strichen ihre Boote, jede kleine Wohnung erhielt neue Gardinen, die Zimmer, die feucht lagen, also den Schwamm unter der Diele hatten, wurden ausgeschwefelt und dann gelueftet. Auch in Effis eigener Wohnung, freilich um eines anderen Ankoemmlings als der Badegaeste willen, war alles in einer gewissen Erregung; selbst Frau Kruse wollte mittun, so gut es ging. Aber davor erschrak Effi lebhaft und sagte: "Geert, dass nur die Frau Kruse nichts anfasst; da kann nichts werden, und ich aengstige mich schon gerade genug." Innstetten versprach auch alles, Christel und Johanna haetten ja Zeit genug, und um seiner jungen Frau Gedanken ueberhaupt in eine andere Richtung zu bringen, liess er das Thema der Vorbereitungen ganz fallen und fragte statt dessen, ob sie schon bemerkt habe, dass drueben ein Badegast eingezogen sei, nicht gerade der erste, aber doch einer der ersten. "Ein Herr?" "Nein, eine Dame, die schon frueher hier war, jedesmal in derselben Wohnung. Und sie kommt immer so frueh, weil sie's nicht leiden kann, wenn alles schon so voll ist." "Das kann ich ihr nicht verdenken. Und wer ist es denn?" "Die verwitwete Registrator Rode." "Sonderbar. Ich habe mir Registratorwitwen immer arm gedacht." "Ja", lachte Innstetten, "das ist die Regel. Aber hier hast du eine Ausnahme. Jedenfalls hat sie mehr als ihre Witwenpension. Sie kommt immer mit viel Gepaeck, unendlich viel mehr, als sie gebraucht, und scheint ueberhaupt eine ganz eigene Frau, wunderlich, kraenklich und namentlich schwach auf den Fuessen. Sie misstraut sich deshalb auch und hat immer eine aeltliche Dienerin um sich, die kraeftig genug ist, sie zu schuetzen oder sie zu tragen, wenn ihr was passiert. Diesmal hat sie eine neue. Aber doch wieder eine ganz ramassierte Person, aehnlich wie die Trippelli, nur noch staerker." "Oh, die hab ich schon gesehen. Gute braune Augen, die einen treu und zuversichtlich ansehen. Aber ein klein bisschen dumm." - "Richtig, das ist sie." Das war Mitte Juni, dass Innstetten und Effi dies Gespraech hatten. Von da ab brachte jeder Tag Zuzug, und nach dem Bollwerk hin spazierengehen, um daselbst die Ankunft des Dampfschiffes abzuwarten, wurde, wie immer um diese Zeit, eine Art Tagesbeschaeftigung fuer die Kessiner. Effi freilich, weil Innstetten sie nicht begleiten konnte, musste darauf verzichten, aber sie hatte doch wenigstens die Freude, die nach dem Strand und dem Strandhotel hinausfuehrende, sonst so menschenleere Strasse sich beleben zu sehen, und war denn auch, um immer wieder Zeuge davon zu sein, viel mehr als sonst in ihrem Schlafzimmer, von dessen Fenstern aus sich alles am besten beobachten liess. Johanna stand dann neben ihr und gab Antwort auf ziemlich alles, was sie wissen wollte; denn da die meisten alljaehrlich wiederkehrende Gaeste waren, so konnte das Maedchen nicht bloss die Namen nennen, sondern mitunter auch eine Geschichte dazu geben. Das alles war unterhaltlich und erheiternd fuer Effi. Gerade am Johannistag aber traf es sich, dass kurz vor elf Uhr vormittags, wo sonst der Verkehr vom Dampfschiff her am buntesten vorueberflutete, statt der mit Ehepaaren, Kindern und Reisekoffern besetzten Droschken aus der Mitte der Stadt her ein schwarz verhangener Wagen (dem sich zwei Trauerkutschen anschlossen) die zur Plantage fuehrende Strasse herunterkam und vor dem der landraetlichen Wohnung gegenueber gelegenen Hause hielt. Die verwitwete Frau Registrator Rode war naemlich drei Tage vorher gestorben, und nach Eintreffen der in aller Kuerze benachrichtigten Berliner Verwandten war seitens ebendieser beschlossen worden, die Tote nicht nach Berlin hin ueberzufuehren, sondern auf dem Kessiner Duenenkirchhof begraben zu wollen. Effi stand am Fenster und sah neugierig auf die sonderbar feierliche Szene, die sich drueben abspielte. Die zum Begraebnis von Berlin her Eingetroffenen waren zwei Neffen mit ihren Frauen, alle gegen Vierzig, etwas mehr oder weniger, und von beneidenswert gesunder Gesichtsfarbe. Die Neffen, in gutsitzenden Fracks, konnten passieren, und die nuechterne Geschaeftsmaessigkeit, die sich in ihrem gesamten Tun ausdrueckte, war im Grunde mehr kleidsam als stoerend. Aber die beiden Frauen! Sie waren ganz ersichtlich bemueht, den Kessinern zu zeigen, was eigentlich Trauer sei, und trugen denn auch lange, bis an die Erde reichende schwarze Kreppschleier, die zugleich ihr Gesicht verhuellten. Und nun wurde der Sarg, auf dem einige Kraenze und sogar ein Palmwedel lagen, auf den Wagen gestellt, und die beiden Ehepaare setzten sich in die Kutschen. In die erste - gemeinschaftlich mit dem einen der beiden leidtragenden Paare - stieg auch Lindequist, hinter der zweiten Kutsche aber ging die Hauswirtin und neben dieser die stattliche Person, die die Verstorbene zur Aushilfe mit nach Kessin gebracht hatte. Letztere war sehr aufgeregt und schien durchaus ehrlich darin, wenn dies Aufgeregtsein auch vielleicht nicht gerade Trauer war; der sehr heftig schluchzenden Hauswirtin aber, einer Witwe, sah man dagegen fast allzu deutlich an, dass sie sich bestaendig die Moeglichkeit eines Extrageschenkes berechnete, trotzdem sie in der bevorzugten und von anderen Wirtinnen auch sehr beneideten Lage war, die fuer den ganzen Sommer vermietete Wohnung noch einmal vermieten zu koennen. Effi, als der Zug sich in Bewegung setzte, ging in ihren hinter dem Hof gelegenen Garten, um hier, zwischen den Buchsbaumbeeten, den Eindruck des Lieb- und Leblosen, den die ganze Szene drueben auf sie gemacht hatte, wieder loszuwerden. Als dies aber nicht gluecken wollte, kam ihr die Lust, statt ihrer eintoenigen Gartenpromenade lieber einen weiteren Spaziergang zu machen, und zwar um so mehr, als ihr der Arzt gesagt hatte, viel Bewegung im Freien sei das Beste, was sie bei dem, was ihr bevorstaende, tun koenne. Johanna, die mit im Garten war, brachte ihr denn auch Umhang, Hut und Entoutcas, und mit einem freundlichen "Guten Tag" trat Effi aus dem Hause heraus und ging auf das Waeldchen zu, neben dessen breitem chaussierten Mittelweg ein schmalerer Fusssteig auf die Duenen und das am Strand gelegene Hotel zulief. Unterwegs standen Baenke, von denen sie jede benutzte, denn das Gehen griff sie an, und um so mehr, als inzwischen die heisse Mittagsstunde herangekommen war. Aber wenn sie sass und von ihrem bequemen Platz aus die Wagen und die Damen in Toilette beobachtete, die da hinausfuhren, so belebte sie sich wieder. Denn Heiteres sehen, war ihr wie Lebensluft. Als das Waeldchen aufhoerte, kam freilich noch eine allerschlimmste Wegstelle - Sand und wieder Sand, und nirgends eine Spur von Schatten; aber gluecklicherweise waren hier Bohlen und Bretter gelegt, und so kam sie, wenn auch erhitzt und muede, doch in guter Laune bei dem Strandhotel an. Drinnen im Saal wurde schon gegessen, aber hier draussen um sie her war alles still und leer, was ihr in diesem Augenblick denn auch das liebste war. Sie liess sich ein Glas Sherry und eine Flasche Biliner Wasser bringen und sah auf das Meer hinaus, das im hellen Sonnenlichte schimmerte, waehrend es am Ufer in kleinen Wellen brandete. "Da drueben liegt Bornholm und dahinter Wisby, wovon mir Jahnke vor Zeiten immer Wunderdinge vorschwaermte. Und hinter Wisby kommt Stockholm, wo das Stockholmer Blutbad war, und dann kommen die grossen Stroeme und dann das Nordkap und dann die Mitternachtssonne." Und im Augenblick erfasste sie eine Sehnsucht, das alles zu sehen. Aber dann gedachte sie wieder dessen, was ihr so nahe bevorstand, und sie erschrak fast. "Es ist eine Suende, dass ich so leichtsinnig bin und solche Gedanken habe und mich wegtraeume, waehrend ich doch an das naechste denken muesste. Vielleicht bestraft es sich auch noch, und alles stirbt hin, das Kind und ich. Und der Wagen und die zwei Kutschen, die halten dann nicht drueben vor dem Hause, die halten dann bei uns ... Nein, nein, ich mag hier nicht sterben, ich will hier nicht begraben sein, ich will nach Hohen-Cremmen. Und Lindequist, so gut er ist - aber Niemeyer ist mir lieber; er hat mich getauft und eingesegnet und getraut, und Niemeyer soll mich auch begraben." Und dabei fiel eine Traene auf ihre Hand. Dann aber lachte sie wieder. "Ich lebe ja noch und bin erst siebzehn, und Niemeyer ist siebenundfuenfzig." In dem Esssaal hoerte sie das Geklapper des Geschirrs. Aber mit einem Male war es ihr, als ob die Stuehle geschoben wuerden; vielleicht stand man schon auf, und sie wollte jede Begegnung vermeiden. So erhob sie sich auch ihrerseits rasch wieder von ihrem Platz, um auf einem Umweg nach der Stadt zurueckzukehren. Dieser Umweg fuehrte sie dicht an dem Duenenkirchhof vorueber, und weil der Torweg des Kirchhofs gerade offenstand, trat sie ein. Alles bluehte hier, Schmetterlinge flogen ueber die Graeber hin, und hoch in den Lueften standen ein paar Moewen. Es war so still und schoen, und sie haette hier gleich bei den ersten Graebern verweilen moegen; aber weil die Sonne mit jedem Augenblick heisser niederbrannte, ging sie hoeher hinauf, auf einen schattigen Gang zu, den Haengeweiden und etliche an den Graebern stehende Trauereschen bildeten. Als sie bis an das Ende dieses Ganges gekommen, sah sie zur Rechten einen frisch aufgeworfenen Sandhuegel, mit vier, fuenf Kraenzen darauf, und dicht daneben eine schon ausserhalb der Baumreihe stehende Bank, darauf die gute, robuste Person sass, die an der Seite der Hauswirtin dem Sarge der verwitweten Registratorin als letzte Leidtragende gefolgt war. Effi erkannte sie sofort wieder und war in ihrem Herzen bewegt, die gute, treue Person, denn dafuer musste sie sie halten, in sengender Sonnenhitze hier vorzufinden. Seit dem Begraebnis waren wohl an zwei Stunden vergangen. "Es ist eine heisse Stelle, die Sie sich da ausgesucht haben", sagte Effi, "viel zu heiss. Und wenn ein Unglueck kommen soll, dann haben Sie den Sonnenstich." "Das waere auch das beste." "Wie das?" - "Dann waer ich aus der Welt." "Ich meine, das darf man nicht sagen, auch wenn man ungluecklich ist oder wenn einem wer gestorben ist, den man liebhatte. Sie hatten sie wohl sehr lieb?" "Ich? Die? I, Gott bewahre." "Sie sind aber doch sehr traurig. Das muss doch einen Grund haben." "Den hat es auch, gnaedigste Frau." "Kennen Sie mich?" "Ja. Sie sind die Frau Landraetin von drueben. Und ich habe mit der Alten immer von Ihnen gesprochen. Zuletzt konnte sie nicht mehr, weil sie keine rechte Luft mehr hatte, denn es sass ihr hier und wird wohl Wasser gewesen sein; aber solange sie noch reden konnte, redete sie immerzu. Es war ne richtige Berlinsche ..." - "Gute Frau?" "Nein; wenn ich das sagen wollte, muesst ich luegen. Da liegt sie nun, und man soll von einem Toten nichts Schlimmes sagen, und erst recht nicht, wenn er so kaum seine Ruhe hat. Na, die wird sie ja wohl haben! Aber sie taugte nichts und war zaenkisch und geizig, und fuer mich hat sie auch nicht gesorgt. Und die Verwandtschaft, die da gestern von Berlin gekommen ... gezankt haben sie sich bis in die sinkende Nacht ... na, die taugt auch nichts, die taugt erst recht nichts. Lauter schlechtes Volk, happig und gierig und hartherzig, und haben mir barsch und unfreundlich und mit allerlei Redensarten meinen Lohn ausgezahlt, bloss weil sie mussten und weil es bloss noch sechs Tage sind bis zum Vierteljahresersten. Sonst haette ich nichts gekriegt oder bloss halb oder bloss ein Viertel. Nichts aus freien Stuecken. Und einen eingerissenen Fuenfmarkschein haben sie mir gegeben, dass ich nach Berlin zurueckreisen kann; na, es reicht so gerade fuer die vierte Klasse, und ich werde wohl auf meinem Koffer sitzen muessen. Aber ich will auch gar nicht; ich will hier sitzen bleiben und warten, bis ich sterbe ... Gott, ich dachte nun mal Ruhe zu haben und haette auch ausgehalten bei der Alten. Und nun ist es wieder nichts und soll mich wieder rumstossen lassen. Und kattolsch bin ich auch noch. Ach, ich hab es satt und laeg am liebsten, wo die Alte liegt, und sie koennte meinetwegen weiterleben ... Sie haette gerne noch weitergelebt; solche Menschenschikanierer, die nich mal Luft haben, die leben immer am liebsten." Rollo, der Effi begleitet hatte, hatte sich mittlerweile vor die Person hingesetzt, die Zunge weit heraus, und sah sie an. Als sie jetzt schwieg, erhob er sich, ging einen Schritt vor und legte seinen Kopf auf ihre Knie. Mit einem Male war die Person wie verwandelt. "Gott, das bedeutet mir was. Das is ja 'ne Kreatur, die mich leiden kann, die mich freundlich ansieht und ihren Kopf auf meine Knie legt. Gott, das ist lange her, dass ich so was gehabt habe. Nu, mein Alterchen, wie heisst du denn? Du bist ja ein Prachtkerl." - "Rollo", sagte Effi. "Rollo; das ist sonderbar. Aber der Name tut nichts. Ich habe auch einen sonderbaren Namen, das heisst Vornamen. Und einen andern hat unsereins ja nicht." "Wie heissen Sie denn?" - "Ich heisse Roswitha." "Ja, das ist selten, das ist ja ..." "Ja, ganz recht, gnaedige Frau, das ist ein kattolscher Name. Und das kommt auch noch dazu, dass ich eine Kattolsche bin. Aus'n Eichsfeld. Und das Kattolsche, das macht es einem immer noch schwerer und saurer. Viele wollen keine Kattolsche, weil sie so viel in die Kirche rennen. 'Immer in die Beichte; und die Hauptsache sagen sie doch nich' - Gott, wie oft hab ich das hoeren muessen, erst als ich in Giebichenstein im Dienst war und dann in Berlin. Ich bin aber eine schlechte Katholikin und bin ganz davon abgekommen, und vielleicht geht es mir deshalb so schlecht; ja, man darf nich von seinem Glauben lassen und muss alles ordentlich mitmachen." "Roswitha", wiederholte Effi den Namen und setzte sich zu ihr auf die Bank. "Was haben Sie nun vor?" "Ach, gnaed'ge Frau, was soll ich vorhaben. Ich habe gar nichts vor. Wahr und wahrhaftig, ich moechte hier sitzen bleiben und warten, bis ich tot umfalle. Das waere mir das liebste. Und dann wuerden die Leute noch denken, ich haette die Alte so geliebt wie ein treuer Hund und haette von ihrem Grab nicht weggewollt und waere da gestorben. Aber das ist falsch, fuer solche Alte stirbt man nicht; ich will bloss sterben, weil ich nicht leben kann." "Ich will Sie was fragen, Roswitha. Sind Sie, was man so 'kinderlieb' nennt? Waren Sie schon mal bei kleinen Kindern?" "Gewiss war ich. Das ist ja mein Bestes und Schoenstes. Solche alte Berlinsche - Gott verzeih mir die Suende, denn sie ist nun tot und steht vor Gottes Thron und kann mich da verklagen -, solche Alte, wie die da, ja, das ist schrecklich, was man da alles tun muss, und steht einem hier vor Brust und Magen, aber solch kleines, liebes Ding, solch Dingelchen wie ne Puppe, das einen mit seinen Guckaeugelchen ansieht, ja, das ist was, da geht einem das Herz auf. Als ich in Halle war, da war ich Amme bei der Frau Salzdirektorin, und in Giebichenstein, wo ich nachher hinkam, da hab ich Zwillinge mit der Flasche grossgezogen; ja, gnaed'ge Frau, das versteh ich, da drin bin ich wie zu Hause." "Nun, wissen Sie was, Roswitha, Sie sind eine gute, treue Person, das seh ich Ihnen an, ein bisschen gradezu, aber das schadet nichts, das sind mitunter die Besten, und ich habe gleich ein Zutrauen zu Ihnen gefasst. Wollen Sie mit zu mir kommen? Mir ist, als haette Gott Sie mir geschickt. Ich erwarte nun bald ein Kleines, Gott gebe mir seine Hilfe dazu, und wenn das Kind da ist, dann muss es gepflegt und abgewartet werden und vielleicht auch gepaeppelt. Man kann das ja nicht wissen, wiewohl ich es anders wuensche. Was meinen Sie, wollen Sie mit zu mir kommen? Ich kann mir nicht denken, dass ich mich in Ihnen irre." Roswitha war aufgesprungen und hatte die Hand der jungen Frau ergriffen und kuesste sie mit Ungestuem. "Ach, es ist doch ein Gott im Himmel, und wenn die Not am groessten ist, ist die Hilfe am naechsten. Sie sollen sehn, gnaed'ge Frau, es geht; ich bin eine ordentliche Person und habe gute Zeugnisse. Das koennen Sie sehn, wenn ich Ihnen mein Buch bringe. Gleich den ersten Tag, als ich die gnaed'ge Frau sah, da dacht ich: 'Ja, wenn du mal solchen Dienst haettest.' Und nun soll ich ihn haben. O du lieber Gott, o du heil'ge Jungfrau Maria, wer mir das gesagt haette, wie wir die Alte hier unter der Erde hatten und die Verwandten machten, dass sie wieder fortkamen, und mich hier sitzenliessen." "Ja, unverhofft kommt oft, Roswitha, und mitunter auch im Guten. Und nun wollen wir gehen. Rollo wird schon ungeduldig und laeuft immer auf das Tor zu." Roswitha war gleich bereit, trat aber noch einmal an das Grab, brummelte was vor sich hin und machte ein Kreuz. Und dann gingen sie den schattigen Gang hinunter und wieder auf das Kirchhofstor zu. Drueben lag die eingegitterte Stelle, deren weisser Stein in der Nachmittagssonne blinkte und blitzte. Effi konnte jetzt ruhiger hinsehen. Eine Weile noch fuehrte der Weg zwischen Duenen hin, bis sie, dicht vor Utpatels Muehle, den Aussenrand des Waeldchens erreichte. Da bog sie links ein, und unter Benutzung einer schraeglaufenden Allee, die die "Reeperbahn" hiess, ging sie mit Roswitha auf die landraetliche Wohnung zu. Vierzehntes Kapitel Keine Viertelstunde, so war die Wohnung erreicht. Als beide hier in den kuehlen Flur traten, war Roswitha beim Anblick all des Sonderbaren, das da herumhing, wie befangen; Effi aber liess sie nicht zu weiteren Betrachtungen kommen und sagte: "Roswitha, nun gehen Sie da hinein. Das ist das Zimmer, wo wir schlafen. Ich will erst zu meinem Mann nach dem Landratsamt hinueber - das grosse Haus da neben dem kleinen, in dem Sie gewohnt haben - und will ihm sagen, dass ich Sie zur Pflege haben moechte bei dem Kinde. Er wird wohl mit allem einverstanden sein, aber ich muss doch erst seine Zustimmung haben. Und wenn ich die habe, dann muessen wir ihn ausquartieren, und Sie schlafen mit mir in dem Alkoven. Ich denke, wir werden uns schon vertragen." Innstetten, als er erfuhr, um was sich's handle, sagte rasch und in guter Laune: "Das hast du recht gemacht, Effi, und wenn ihr Gesindebuch nicht zu schlimme Sachen sagt, so nehmen wir sie auf ihr gutes Gesicht hin. Es ist doch, Gott sei Dank, selten, dass einen das taeuscht." Effi war sehr gluecklich, so wenig Schwierigkeiten zu begegnen, und sagte: "Nun wird es gehen. Ich fuerchte mich jetzt nicht mehr." "Um was, Effi?" "Ach, du weisst ja ... Aber Einbildungen sind das schlimmste, mitunter schlimmer als alles." Roswitha zog in selbiger Stunde noch mit ihren paar Habseligkeiten in das landraetliche Haus hinueber und richtete sich in dem kleinen Alkoven ein. Als der Tag um war, ging sie frueh zu Bett und schlief, ermuedet wie sie war, gleich ein. Am andern Morgen erkundigte sich Effi - die seit einiger Zeit (denn es war gerade Vollmond) wieder in Aengsten lebte -, wie Roswitha geschlafen und ob sie nichts gehoert habe. "Was?" fragte diese. "Oh, nichts. Ich meine nur so; so was, wie wenn ein Besen fegt oder wie wenn einer ueber die Diele schlittert." Roswitha lachte, was auf ihre junge Herrin einen besonders guten Eindruck machte. Effi war fest protestantisch erzogen und wuerde sehr erschrocken gewesen sein, wenn man an und in ihr was Katholisches entdeckt haette; trotzdem glaubte sie, dass der Katholizismus uns gegen solche Dinge "wie da oben" besser schuetze; ja, diese Betrachtung hatte bei dem Plan, Roswitha ins Haus zu nehmen, ganz erheblich mitgewirkt. Man lebte sich schnell ein, denn Effi hatte ganz den liebenswuerdigen Zug der meisten maerkischen Landfraeulein, sich gern allerlei kleine Geschichten erzaehlen zu lassen, und die verstorbene Frau Registratorin und ihr Geiz und ihre Neffen und ihre Frauen boten einen unerschoepflichen Stoff. Auch Johanna hoerte dabei gerne zu. Diese, wenn Effi bei den drastischen Stellen oft laut lachte, laechelte freilich und verwunderte sich im stillen, dass die gnaedige Frau an all dem dummen Zeug soviel Gefallen finde; diese Verwunderung aber, die mit einem starken Ueberlegenheitsgefuehl Hand in Hand ging, war doch auch wieder ein Glueck und sorgte dafuer, dass keine Rangstreitigkeiten aufkommen konnten. Roswitha war einfach die komische Figur, und Neid gegen sie zu hegen waere fuer Johanna nichts anderes gewesen, wie wenn sie Rollo um seine Freundschaftsstellung beneidet haette. So verging eine Woche, plauderhaft und beinahe gemuetlich, weil Effi dem, was ihr persoenlich bevorstand, ungeaengstigter als frueher entgegensah. Auch glaubte sie nicht, dass es so nahe sei. Den neunten Tag aber war es mit dem Plaudern und den Gemuetlichkeiten vorbei; da gab es ein Laufen und Rennen, Innstetten selbst kam ganz aus seiner gewohnten Reserve heraus, und am Morgen des 3. Juli stand neben Effis Bett eine Wiege. Doktor Hannemann patschelte der jungen Frau die Hand und sagte: "Wir haben heute den Tag von Koeniggraetz; schade, dass es ein Maedchen ist. Aber das andere kann ja nachkommen, und die Preussen haben viele Siegestage." Roswitha mochte wohl Aehnliches denken, freute sich indessen vorlaeufig ganz uneingeschraenkt ueber das, was da war, und nannte das Kind ohne weiteres "Luett-Annie", was der jungen Mutter als ein Zeichen galt. Es muesse doch wohl eine Eingebung gewesen sein, dass Roswitha gerade auf diesen Namen gekommen sei. Selbst Innstetten wusste nichts dagegen zu sagen, und so wurde von Klein Annie gesprochen, lange bevor der Tauftag da war. Effi, die von Mitte August an bei den Eltern in Hohen-Cremmen sein wollte, haette die Taufe gern bis dahin verschoben. Aber es liess sich nichts tun; Innstetten konnte nicht Urlaub nehmen, und so wurde denn der 15. August, trotzdem es der Napoleonstag war (was denn auch von seiten einiger Familien beanstandet wurde), fuer diesen Taufakt festgesetzt, natuerlich in der Kirche. Das sich anschliessende Festmahl, weil das landraetliche Haus keinen Saal hatte, fand in dem grossen Ressourcen-Hotel am Bollwerk statt, und der gesamte Nachbaradel war geladen und auch erschienen. Pastor Lindequist liess Mutter und Kind in einem liebenswuerdigen und allseitig bewunderten Toaste leben, bei welcher Gelegenheit Sidonie von Grasenabb zu ihrem Nachbar, einem adligen Assessor von der strengen Richtung, bemerkte: "Ja, seine Kasualreden, das geht. Aber seine Predigten kann er vor Gott und Menschen nicht verantworten; er ist ein Halber, einer von denen, die verworfen sind, weil sie lau sind. Ich mag das Bibelwort hier nicht woertlich zitieren." Gleich danach nahm auch der alte Herr von Borcke das Wort, um Innstetten leben zu lassen. "Meine Herrschaften, es sind schwere Zeiten, in denen wir leben, Auflehnung, Trotz, Indisziplin wohin wir blicken. Aber solange wir noch Maenner haben, und ich darf hinzusetzen, Frauen und Muetter (und hier verbeugte er sich mit einer eleganten Handbewegung gegen Effi) ... solange wir noch Maenner haben wie Baron Innstetten, den ich stolz bin, meinen Freund nennen zu duerfen, so lange geht es noch, so lange haelt unser altes Preussen noch. Ja, meine Freunde, Pommern und Brandenburg, damit zwingen wir's und zertreten dem Drachen der Revolution das giftige Haupt. Fest und treu, so siegen wir. Die Katholiken, unsere Brueder, die wir, auch wenn wir sie bekaempfen, achten muessen, haben den 'Felsen Petri', wir aber haben den 'Rocher de bronce'. Baron Innstetten, er lebe hoch!" Innstetten dankte ganz kurz. Effi sagte zu dem neben ihr sitzenden Major von Crampas, das mit dem "Felsen Petri" sei wahrscheinlich eine Huldigung gegen Roswitha gewesen; sie werde nachher an den alten Justizrat Gadebusch herantreten und ihn fragen, ob er nicht Ihrer Meinung sei. Crampas nahm diese Bemerkung unerklaerlicherweise fuer Ernst und riet von einer Anfrage bei dem Justizrat ab, was Effi ungemein erheiterte. "Ich habe Sie doch fuer einen besseren Seelenleser gehalten." "Ach, meine Gnaedigste, bei schoenen jungen Frauen, die noch nicht achtzehn sind, scheitert alle Lesekunst." "Sie verderben sich vollends, Major. Sie koennen mich eine Grossmutter nennen, aber Anspielungen darauf, dass ich noch nicht achtzehn bin, das kann Ihnen nie verziehen werden." Als man von Tisch aufgestanden war, kam der Spaetnachmittagsdampfer die Kessine herunter und legte an der Landungsbruecke, gegenueber dem Hotel, an. Effi sass mit Crampas und Gieshuebler beim Kaffee, alle Fenster auf, und sah dem Schauspiel drueben zu. "Morgen frueh um neun fuehrt mich dasselbe Schiff den Fluss hinauf, und zu Mittag bin ich in Berlin, und am Abend bin ich in Hohen-Cremmen, und Roswitha geht neben mir und haelt das Kind auf dem Arm. Hoffentlich schreit es nicht. Ach, wie mir schon heute zumute ist! Lieber Gieshuebler, sind Sie auch mal so froh gewesen, Ihr elterliches Haus wiederzusehen?" "Ja, ich kenne das auch, gnaedigste Frau. Nur bloss, ich brachte kein Anniechen mit, weil ich keins hatte." "Kommt noch", sagte Crampas. "Stossen Sie an, Gieshuebler; Sie sind der einzige vernuenftige Mensch hier." "Aber, Herr Major, wir haben ja bloss noch den Kognak." "Desto besser." Fuenfzehntes Kapitel Mitte August war Effi abgereist, Ende September war sie wieder in Kessin. Manchmal in den zwischenliegenden sechs Wochen hatte sie's zurueckverlangt; als sie aber wieder da war und in den dunklen Flur eintrat, auf den nur von der Treppenstiege her ein etwas fahles Licht fiel, wurde ihr mit einemmal wieder bang, und sie sagte leise: "Solch fahles, gelbes Licht gibt es in Hohen-Cremmen gar nicht." Ja, ein paarmal waehrend ihrer Hohen-Cremmer Tage hatte sie Sehnsucht nach dem "verwunschenen Hause" gehabt, alles in allem aber war ihr doch das Leben daheim voller Glueck und Zufriedenheit gewesen. Mit Hulda freilich, die's nicht verwinden konnte, noch immer auf Mann oder Braeutigam warten zu muessen, hatte sie sich nicht recht stellen koennen, desto besser dagegen mit den Zwillingen, und mehr als einmal, wenn sie mit ihnen Ball oder Krocket gespielt hatte, war ihr's ganz aus dem Sinn gekommen, ueberhaupt verheiratet zu sein. Das waren dann glueckliche Viertelstunden gewesen. Am liebsten aber hatte sie wie frueher auf dem durch die Luft fliegenden Schaukelbrett gestanden und in dem Gefuehl "jetzt stuerz ich" etwas eigentuemlich Prickelndes, einen Schauer suesser Gefahr empfunden. Sprang sie dann schliesslich von der Schaukel ab, so begleitete sie die beiden Maedchen bis an die Bank vor dem Schulhause und erzaehlte, wenn sie dasassen, dem alsbald hinzukommenden Jahnke von ihrem Leben in Kessin, das halb hanseatisch und halb skandinavisch und jedenfalls sehr anders als in Schwantikow und Hohen-Cremmen sei. Das waren so die taeglichen kleinen Zerstreuungen, an die sich gelegentlich auch Fahrten in das sommerliche Luch schlossen, meist im Jagdwagen; allem voran aber standen fuer Effi doch die Plaudereien, die sie beinahe jeden Morgen mit der Mama hatte. Sie sassen dann oben in der luftigen grossen Stube, Roswitha wiegte das Kind und sang in einem thueringischen Platt allerlei Wiegenlieder, die niemand recht verstand, vielleicht sie selber nicht; Effi und Frau von Briest aber rueckten ans offene Fenster und sahen, waehrend sie sprachen, auf den Park hinunter, auf die Sonnenuhr oder auf die Libellen, die beinahe regungslos ueber dem Tisch standen, oder auch auf den Fliesengang, wo Herr von Briest neben dem Treppenvorbau sass und die Zeitungen las. Immer wenn er umschlug, nahm er zuvor den Kneifer ab und gruesste zu Frau und Tochter hinauf. Kam dann das letzte Blatt an die Reihe, das in der Regel der "Anzeiger fuers Havelland" war, so ging Effi hinunter, um sich entweder zu ihm zu setzen oder um mit ihm durch Garten und Park zu schlendern. Einmal bei solcher Gelegenheit traten sie, von dem Kiesweg her, an ein kleines, zur Seite stehendes Denkmal heran, das schon Briests Grossvater zur Erinnerung an die Schlacht von Waterloo hatte aufrichten lassen, eine verrostete Pyramide mit einem gegossenen Bluecher in Front und einem dito Wellington auf der Rueckseite. "Hast du nun solche Spaziergaenge auch in Kessin", sagte Briest, "und begleitet dich Innstetten auch und erzaehlt dir allerlei?" "Nein, Papa, solche Spaziergaenge habe ich nicht. Das ist ausgeschlossen denn wir haben bloss einen kleinen Garten hinter dem Haus, der eigentlich kaum ein Garten ist, bloss ein paar Buchsbaumrabatten und Gemuesebeete mit drei, vier Obstbaeumen drin. Innstetten hat keinen Sinn dafuer und denkt wohl auch nicht sehr lange mehr in Kessin zu bleiben." "Aber Kind, du musst doch Bewegung haben und frische Luft, daran bist du doch gewoehnt." "Hab ich auch. Unser Haus liegt an einem Waeldchen, das sie die Plantage nennen. Und da geh ich denn viel spazieren und Rollo mit mir." "Immer Rollo", lachte Briest. "Wenn man's nicht anders wuesste, so sollte man beinah glauben, Rollo sei dir mehr ans Herz gewachsen als Mann und Kind." "Ach, Papa, das waere ja schrecklich, wenn's auch freilich -soviel muss ich zugeben - eine Zeit gegeben hat, wo's ohne Rollo gar nicht gegangen waere. Das war damals ... nun, du weisst schon ... Da hat er mich so gut wie gerettet, oder ich habe mir's wenigstens eingebildet, und seitdem ist er mein guter Freund und mein ganz besonderer Verlass. Aber er ist doch bloss ein Hund. Und erst kommen doch natuerlich die Menschen." "Ja, das sagt man immer, aber ich habe da doch so meine Zweifel. Das mit der Kreatur, damit hat's doch seine eigene Bewandtnis, und was da das Richtige ist, darueber sind die Akten noch nicht geschlossen. Glaube mir, Effi, das ist auch ein weites Feld. Wenn ich mir so denke, da verunglueckt einer auf dem Wasser oder gar auf dem schuelbrigen Eis, und solch ein Hund, sagen wir, so einer wie dein Rollo, ist dabei, ja, der ruht nicht eher, als bis er den Verunglueckten wieder an Land hat. Und wenn der Verunglueckte schon tot ist, dann legt er sich neben den Toten hin und blafft und winselt so lange, bis wer kommt, und wenn keiner kommt, dann bleibt er bei dem Toten liegen, bis er selber tot ist. Und das tut solch Tier immer. Und nun nimm dagegen die Menschheit! Gott, vergib mir die Suende, aber mitunter ist mir's doch, als ob die Kreatur besser waere als der Mensch." "Aber, Papa, wenn ich das Innstetten wiedererzaehlte ...""Nein, das tu lieber nicht, Effi ..." "Rollo wuerde mich ja natuerlich retten, aber Innstetten wuerde mich auch retten. Er ist ja ein Mann von Ehre." "Das ist er." "Und liebt mich." "Versteht sich, versteht sich. Und wo Liebe ist, da ist auch Gegenliebe. Das ist nun mal so. Mich wundert nur, dass er nicht mal Urlaub genommen hat und ruebergeflitzt ist. Wenn man eine so junge Frau hat ..." Effi erroetete, weil sie geradeso dachte. Sie mochte es aber nicht einraeumen. "Innstetten ist so gewissenhaft und will, glaub ich, gut angeschrieben sein und hat so seine Plaene fuer die Zukunft; Kessin ist doch bloss eine Station. Und dann am Ende, ich lauf ihm ja nicht fort. Er hat mich ja. Wenn man zu zaertlich ist ... und dazu der Unterschied der Jahre ... da laecheln die Leute bloss." "Ja, das tun sie, Effi. Aber darauf muss man's ankommen lassen. Uebrigens sage nichts darueber, auch nicht zu Mama. Es ist so schwer, was man tun und lassen soll. Das ist auch ein weites Feld." Gespraeche wie diese waren waehrend Effis Besuch im elterlichen Hause mehr als einmal gefuehrt worden, hatten aber gluecklicherweise nicht lange nachgewirkt, und ebenso war auch der etwas melancholische Eindruck rasch verflogen, den das erste Wiederbetreten ihres Kessiner Hauses auf Effi gemacht hatte. Innstetten zeigte sich voll kleiner Aufmerksamkeiten, und als der Tee genommen und alle Stadt- und Liebesgeschichten in heiterster Stimmung durchgesprochen waren, haengte sich Effi zaertlich an seinen Arm, um drueben ihre Plaudereien mit ihm fortzusetzen und noch einige Anekdoten von der Trippelli zu hoeren, die neuerdings wieder mit Gieshuebler in einer lebhaften Korrespondenz gestanden hatte, was immer gleichbedeutend mit einer neuen Belastung ihres nie ausgeglichenen Kontos war. Effi war bei diesem Gespraech sehr ausgelassen, fuehlte sich ganz als junge Frau und war froh, die nach der Gesindestube hin ausquartierte Roswitha auf unbestimmte Zeit los zu sein. Am anderen Morgen sagte sie: "Das Wetter ist schoen und mild, und ich hoffe, die Veranda nach der Plantage hinaus ist noch in gutem Stande, und wir koennen uns ins Freie setzen und da das Fruehstueck nehmen. In unsere Zimmer kommen wir ohnehin noch frueh genug, und der Kessiner Winter ist wirklich um vier Wochen zu lang." Innstetten war sehr einverstanden. Die Veranda, von der Effi gesprochen und die vielleicht richtiger ein Zelt genannt worden waere, war schon im Sommer hergerichtet worden, drei, vier Wochen vor Effis Abreise nach Hohen-Cremmen, und bestand aus einem grossen, gedielten Podium, vorn offen, mit einer maechtigen Markise zu Haeupten, waehrend links und rechts breite Leinwandvorhaenge waren, die sich mit Hilfe von Ringen an einer Eisenstange hin und her schieben liessen. Es war ein reizender Platz, den ganzen Sommer ueber von allen Badegaesten, die hier vorueber mussten, bewundert. Effi hatte sich in einen Schaukelstuhl gelehnt und sagte, waehrend sie das Kaffeebrett von der Seite her ihrem Manne zuschob: "Geert, du koenntest heute den liebenswuerdigen Wirt machen; ich fuer mein Teil find es so schoen in diesem Schaukelstuhl, dass ich nicht aufstehen mag. Also strenge dich an, und wenn du dich recht freust, mich wieder hier zu haben, so werd ich mich auch zu revanchieren wissen." Und dabei zupfte sie die weisse Damastdecke zurecht und legte ihre Hand darauf, die Innstetten nahm und kuesste. "Wie bist du nur eigentlich ohne mich fertig geworden?" "Schlecht genug, Effi." "Das sagst du so hin und machst ein betruebtes Gesicht, und ist doch eigentlich alles nicht wahr." "Aber Effi ... "Was ich dir beweisen will. Denn wenn du ein bisschen Sehnsucht nach deinem Kinde gehabt haettest - von mir selber will ich nicht sprechen, was ist man am Ende solchem hohen Herrn, der so lange Jahre Junggeselle war und es nicht eilig hatte ..." "Nun?" "Ja, Geert, wenn du nur ein bisschen Sehnsucht gehabt haettest, so haettest du mich nicht sechs Wochen mutterwindallein in Hohen-Cremmen sitzen lassen wie eine Witwe, und nichts da als Niemeyer und Jahnke und mal die Schwantikower. Und von den Rathenowern ist niemand gekommen, als ob sie sich vor mir gefuerchtet haetten oder als ob ich zu alt geworden sei." "Ach, Effi, wie du nur sprichst. Weisst du, dass du eine kleine Kokette bist?" "Gott sei Dank, dass du das sagst. Das ist fuer euch das Beste, was man sein kann. Und du bist nichts anderes als die anderen, wenn du auch so feierlich und ehrsam tust. Ich weiss es recht gut, Geert ... Eigentlich bist du ..." "Nun, was?" "Nun, ich will es lieber nicht sagen. Aber ich kenne dich recht gut; du bist eigentlich, wie der Schwantikower Onkel mal sagte, ein Zaertlichkeitsmensch und unterm Liebesstern geboren, und Onkel Belling hatte ganz recht, als er das sagte. Du willst es bloss nicht zeigen und denkst, es schickt sich nicht und verdirbt einem die Karriere. Hab ich's getroffen?" Innstetten lachte. "Ein bisschen getroffen hast du's. Weisst du was, Effi, du kommst mir ganz anders vor. Bis Anniechen da war, warst du ein Kind. Aber mit einemmal ..." "Nun?" "Mit einemmal bist du wie vertauscht. Aber es steht dir, du gefaellst mir sehr, Effi. Weisst du was?" "Nun?" "Du hast was Verfuehrerisches." "Ach, mein einziger Geert, das ist ja herrlich, was du da sagst; nun wird mir erst recht wohl ums Herz ... Gib mir noch eine halbe Tasse ... Weisst du denn, dass ich mir das immer gewuenscht habe? Wir muessen verfuehrerisch sein, sonst sind wir gar nichts ..." "Hast du das aus dir?" "Ich koennt es wohl auch aus mir haben. Aber ich hab es von Niemeyer ..." "Von Niemeyer! O du himmlischer Vater, ist das ein Pastor. Nein, solche gibt es hier nicht. Aber wie kam denn der dazu? Das ist ja, als ob es irgendein Don Juan oder Herzensbrecher gesprochen haette." "Ja, wer weiss", lachte Effi ... "Aber kommt da nicht Crampas? Und vom Strand her. Er wird doch nicht gebadet haben? Am 27. September ..." "Er macht oefter solche Sachen. Reine Renommisterei." Derweilen war Crampas bis in naechste Naehe gekommen und gruesste. "Guten Morgen", rief Innstetten ihm zu. "Nur naeher, nur naeher." Crampas trat heran. Er war in Zivil und kuesste der in ihrem Schaukelstuhl sich weiter wiegenden Effi die Hand. "Entschuldigen Sie mich, Major, dass ich so schlecht die Honneurs des Hauses mache; aber die Veranda ist kein Haus, und zehn Uhr frueh ist eigentlich gar keine Zeit. Da wird man formlos oder, wenn Sie wollen, intim. Und nun setzen Sie sich, und geben Sie Rechenschaft von Ihrem Tun. Denn an Ihrem Haar (ich wuenschte Ihnen, dass es mehr waere) sieht man deutlich, dass Sie gebadet haben." Er nickte. "Unverantwortlich", sagte Innstetten, halb ernst-, halb scherzhaft. "Da haben Sie nun selber vor vier Wochen die Geschichte mit dem Bankier Heinersdorf erlebt, der auch dachte, das Meer und der grandiose Wellenschlag wuerden ihn um seiner Million willen respektieren. Aber die Goetter sind eifersuechtig untereinander, und Neptun stellte sich ohne weiteres gegen Pluto oder doch wenigstens gegen Heinersdorf." Crampas lachte. "Ja, eine Million Mark! Lieber Innstetten, wenn ich die haette, da haett ich es am Ende nicht gewagt; denn so schoen das Wetter ist, das Wasser hatte nur neun Grad. Aber unsereins mit seiner Million Unterbilanz, gestatten Sie mir diese kleine Renommage, unsereins kann sich so was ohne Furcht vor der Goetter Eifersucht erlauben. Und dann muss einen das Sprichwort troesten: 'Wer fuer den Strick geboren ist, kann im Wasser nicht umkommen.'" "Aber, Major, Sie werden sich doch nicht etwas so Urprosaisches, ich moechte beinah sagen, an den Hals reden wollen. Allerdings glauben manche, dass ... ich meine das, wovon Sie eben gesprochen haben ... dass ihn jeder mehr oder weniger verdiene. Trotzdem, Major ... fuer einen Major ..." "Ist es keine herkoemmliche Todesart. Zugegeben, meine Gnaedigste. Nicht herkoemmlich und in meinem Fall auch nicht einmal sehr wahrscheinlich - also alles bloss Zitat oder noch richtiger facon de parler. Und doch steckt etwas Aufrichtiggemeintes dahinter, wenn ich da eben sagte, die See werde mir nichts anhaben. Es steht mir naemlich fest, dass ich einen richtigen und hoffentlich ehrlichen Soldatentod sterben werde. Zunaechst bloss Zigeunerprophezeiung, aber mit Resonanz im eigenen Gewissen." Innstetten lachte. "Das wird seine Schwierigkeiten haben, Crampas, wenn Sie nicht vorhaben, beim Grosstuerken oder unterm chinesischen Drachen Dienst zu nehmen. Da schlaegt man sich jetzt herum. Hier ist die Geschichte, glauben Sie mir, auf dreissig Jahre vorbei, und wer seinen Soldatentod sterben will ..." "Der muss sich erst bei Bismarck einen Krieg bestellen. Weiss ich alles, Innstetten. Aber das ist doch fuer Sie eine Kleinigkeit. Jetzt haben wir Ende September; in zehn Wochen spaetestens ist der Fuerst wieder in Varzin, und da er ein liking fuer Sie hat - mit der volkstuemlicheren Wendung will ich zurueckhalten, um nicht direkt vor Ihren Pistolenlauf zu kommen -, so werden Sie einem alten Kameraden von Vionville her doch wohl ein bisschen Krieg besorgen koennen. Der Fuerst ist auch nur ein Mensch, und Zureden hilft." Effi hatte waehrend dieses Gespraechs einige Brotkuegelchen gedreht, wuerfelte damit und legte sie zu Figuren zusammen, um so anzuzeigen, dass ihr ein Wechsel des Themas wuenschenswert waere. Trotzdem schien Innstetten auf Crampas scherzhafte Bemerkungen antworten zu wollen, was denn Effi bestimmte, lieber direkt einzugreifen. "Ich sehe nicht ein, Major, warum wir uns mit Ihrer Todesart beschaeftigen sollen; das Leben ist uns naeher und zunaechst auch eine viel ernstere Sache." Crampas nickte. "Das ist recht, dass Sie mir recht geben. Wie soll man hier leben? Das ist vorlaeufig die Frage, das ist wichtiger als alles andere. Gieshuebler hat mir darueber geschrieben, und wenn es nicht indiskret und eitel waere, denn es steht noch allerlei nebenher darin, so zeigte ich Ihnen den Brief ... Innstetten braucht ihn nicht zu lesen, der hat keinen Sinn fuer dergleichen ... beilaeufig eine Handschrift wie gestochen und Ausdrucksformen, als waere unser Freund statt am Kessiner Alten Markt an einem altfranzoesischen Hofe erzogen worden. Und dass er verwachsen ist und weisse Jabots traegt wie kein anderer Mensch mehr - ich weiss nur nicht, wo er die Plaetterin hernimmt -, das passt alles so vorzueglich. Nun, also Gieshuebler hat mir von Plaenen fuer die Ressourcenabende geschrieben und von einem Entrepreneur namens Crampas. Sehen Sie, Major, das gefaellt mir besser als der Soldatentod oder gar der andere." "Mir persoenlich nicht minder. Und es muss ein Prachtwinter werden, wenn wir uns der Unterstuetzung der gnaedigen Frau versichert halten duerften. Die Trippelli kommt." "Die Trippelli? Dann bin ich ueberfluessig." "Mitnichten, gnaedigste Frau. Die Trippelli kann nicht von Sonntag bis wieder Sonntag singen, es waere zuviel fuer sie und fuer uns; Abwechslung ist des Lebens Reiz, eine Wahrheit, die freilich jede glueckliche Ehe zu widerlegen scheint." "Wenn es glueckliche Ehen gibt, die meinige ausgenommen ...", und sie reichte Innstetten die Hand. "Abwechslung also", fuhr Crampas fort. "Und diese fuer uns und unsere Ressource zu gewinnen, deren Vizevorstand zu sein ich zur Zeit die Ehre habe, dazu braucht es aller bewaehrten Kraefte. Wenn wir uns zusammentun, so muessen wir das ganze Nest auf den Kopf stellen. Die Theaterstuecke sind schon ausgesucht: 'Krieg im Frieden', 'Monsieur Herkules', 'Jugendliebe' von Wildbrandt, vielleicht auch 'Euphrosyne' von Gensichen. Sie die Euphrosyne, ich der alte Goethe. Sie sollen staunen, wie gut ich den Dichterfuersten tragiere ... wenn 'tragieren' das richtige Wort ist." "Kein Zweifel. Hab ich doch inzwischen aus dem Brief meines alchimistischen Geheimkorrespondenten erfahren, dass Sie neben vielem anderen gelegentlich auch Dichter sind. Anfangs habe ich mich gewundert. ..." "Denn Sie haben es mir nicht angesehen." "Nein. Aber seit ich weiss, dass Sie bei neun Grad baden, bin ich anderen Sinnes geworden ... neun Grad Ostsee, das geht ueber den kastalischen Quell ..." "Dessen Temperatur unbekannt ist." "Nicht fuer mich; wenigstens wird mich niemand widerlegen. Aber nun muss ich aufstehen. Da kommt ja Roswitha mit Luett-Annie." Und sie erhob sich rasch und ging auf Roswitha zu, nahm ihr das Kind aus dem Arm und hielt es stolz und gluecklich in die Hoehe. Sechzehntes Kapitel Die Tage waren schoen und blieben es bis in den Oktober hinein. Eine Folge davon war, dass die halbzeltartige Veranda draussen zu ihrem Recht kam, so sehr, dass sich wenigstens die Vormittagsstunden regelmaessig darin abspielten. Gegen elf kam dann wohl der Major, um sich zunaechst nach dem Befinden der gnaedigen Frau zu erkundigen und mit ihr ein wenig zu medisieren, was er wundervoll verstand, danach aber mit Innstetten einen Ausritt zu verabreden, oft landeinwaerts, die Kessine hinauf bis an den Breitling, noch haeufiger auf die Molen zu. Effi, wenn die Herren fort waren, spielte mit dem Kind oder durchblaetterte die von Gieshuebler nach wie vor ihr zugeschickten Zeitungen und Journale, schrieb auch wohl einen Brief an die Mama oder sagte: "Roswitha, wir wollen mit Annie spazierenfahren", und dann spannte sich Roswitha vor den Korbwagen und fuhr, waehrend Effi hinterherging, ein paar hundert Schritt in das Waeldchen hinein, auf eine Stelle zu, wo Kastanien ausgestreut lagen, die man nun auflas, um sie dem Kind als Spielzeug zu geben. In die Stadt kam Effi wenig; es war niemand recht da, mit dem sie haette plaudern koennen, nachdem ein Versuch, mit der Frau von Crampas auf einen Umgangsfuss zu kommen, aufs neue gescheitert war. Die Majorin war und blieb menschenscheu. Das ging so wochenlang, bis Effi ploetzlich den Wunsch aeusserte, mit ausreiten zu duerfen; sie habe nun mal die Passion, und es sei doch zuviel verlangt, bloss um des Geredes der Kessiner willen auf etwas zu verzichten, das einem so viel wert sei. Der Major fand die Sache kapital, und Innstetten, dem es augenscheinlich weniger passte so wenig, dass er immer wieder hervorhob, es werde sich kein Damenpferd finden lassen -, Innstetten musste nachgeben, als Crampas versicherte, das solle seine Sorge sein. Und richtig, was man wuenschte, fand sich auch, und Effi war selig, am Strand hinjagen zu koennen, jetzt wo "Damenbad" und "Herrenbad" keine scheidenden Schreckensworte mehr waren. Meist war auch Rollo mit von der Partie, und weil es sich ein paarmal ereignet hatte, dass man am Strand zu rasten oder auch eine Strecke Wegs zu Fuss zu machen wuenschte, so kam man ueberein, sich von entsprechender Dienerschaft begleiten zu lassen, zu welchem Behufe des Majors Bursche, ein alter Treptower Ulan, der Knut hiess, und Innstettens Kutscher Kruse zu Reitknechten umgewandelt wurden, allerdings ziemlich unvollkommen, indem sie, zu Effis Leidwesen, in eine Phantasielivree gesteckt wurden, darin der eigentliche Beruf beider noch nachspukte. Mitte Oktober war schon heran, als man, so herausstaffiert, zum erstenmal in voller Kavalkade aufbrach, in Front Innstetten und Crampas, Effi zwischen ihnen, dann Kruse und Knut und zuletzt Rollo, der aber bald, weil ihm das Nachtrotten missfiel, allen vorauf war. Als man das jetzt oede Strandhotel passiert und bald danach, sich rechts haltend, auf dem von einer maessigen Brandung ueberschaeumten Strandwege den diesseitigen Molendamm erreicht hatte, verspuerte man Lust, abzusteigen und einen Spaziergang bis an den Kopf der Mole zu machen. Effi war die erste aus dem Sattel. Zwischen den beiden Steindaemmen floss die Kessine breit und ruhig dem Meere zu, das wie eine sonnenbeschienene Flaeche, darauf nur hier und da eine leichte Welle kraeuselte, vor ihnen lag. Effi war noch nie hier draussen gewesen, denn als sie vorigen November in Kessin eintraf, war schon Sturmzeit, und als der Sommer kam, war sie nicht mehr imstande, weite Gaenge zu machen. Sie war jetzt entzueckt, fand alles gross und herrlich, erging sich in kraenkenden Vergleichen zwischen dem Luch und dem Meer und ergriff, sooft die Gelegenheit dazu sich bot, ein Stueck angeschwemmtes Holz, um es nach links hin in die See oder nach rechts hin in die Kessine zu werfen. Rollo war immer gluecklich, im Dienste seiner Herrin sich nachstuerzen zu koennen; mit einemmal aber wurde seine Aufmerksamkeit nach einer ganz anderen Seite hin abgezogen, und sich vorsichtig, ja beinahe aengstlich vorwaerts schleichend, sprang er ploetzlich auf einen in Front sichtbar werdenden Gegenstand zu, freilich vergeblich, denn im selben Augenblick glitt von einem sonnenbeschienenen und mit gruenem Tang ueberwachsenen Stein eine Robbe glatt und geraeuschlos in das nur etwa fuenf Schritt entfernte Meer hinunter. Eine kurze Weile noch sah man den Kopf, dann tauchte auch dieser unter. Alle waren erregt, und Crampas phantasierte von Robbenjagd und dass man das naechste Mal die Buechse mitnehmen muesse, "denn die Dinger haben ein festes Fell". "Geht nicht", sagte Innstetten; "Hafenpolizei." "Wenn ich so was hoere", lachte der Major. "Hafenpolizei! Die drei Behoerden, die wir hier haben, werden doch wohl untereinander die Augen zudruecken koennen. Muss denn alles so furchtbar gesetzlich sein? Gesetzlichkeiten sind langweilig." Effi klatschte in die Haende. "Ja, Crampas, Sie kleidet das, und Effi, wie Sie sehen, klatscht Ihnen Beifall. Natuerlich; die Weiber schreien sofort nach einem Schutzmann, aber von Gesetz wollen sie nichts wissen." "Das ist so Frauenrecht von alter Zeit her, und wir werden's nicht aendern, Innstetten." "Nein", lachte dieser, "und ich will es auch nicht. Auf Mohrenwaesche lasse ich mich nicht ein. Aber einer wie Sie, Crampas, der unter der Fahne der Disziplin grossgeworden ist und recht gut weiss, dass es ohne Zucht und Ordnung nicht geht, ein Mann wie Sie, der sollte doch eigentlich so was nicht reden, auch nicht einmal im Spass. Indessen, ich weiss schon, Sie haben einen himmlischen Kehr-mich-nicht-Drang und denken, der Himmel wird nicht gleich einstuerzen. Nein, gleich nicht. Aber mal kommt es." Crampas wurde einen Augenblick verlegen, weil er glaubte, das alles sei mit einer gewissen Absicht gesprochen, was aber nicht der Fall war. Innstetten hielt nur einen seiner kleinen moralischen Vortraege, zu denen er ueberhaupt hinneigte. "Da lob ich mir Gieshuebler", sagte er einlenkend, "immer Kavalier und dabei doch Grundsaetze." Der Major hatte sich mittlerweile wieder zurechtgefunden und sagte in seinem alten Ton: "Ja, Gieshuebler; der beste Kerl von der Welt und, wenn moeglich, noch bessere Grundsaetze. Aber am Ende woher? Warum? Weil er einen 'Verdruss' hat. Wer gerade gewachsen ist, ist fuer Leichtsinn. Ueberhaupt ohne Leichtsinn ist das ganze Leben keinen Schuss Pulver wert." "Nun hoeren Sie, Crampas, gerade so viel kommt mitunter dabei heraus." Und dabei sah er auf des Majors linken, etwas gekuerzten Arm. Effi hatte von diesem Gespraech wenig gehoert. Sie war dicht an die Stelle getreten, wo die Robbe gelegen, und Rollo stand neben ihr. Dann sahen beide, von dem Stein weg, auf das Meer und warteten, ob die "Seejungfrau" noch einmal sichtbar werden wuerde. Ende Oktober begann die Wahlkampagne, was Innstetten hinderte, sich ferner an den Ausfluegen zu beteiligen und auch Crampas und Effi haetten jetzt um der lieben Kessiner willen wohl verzichten muessen, wenn nicht Knut und Kruse als eine Art Ehrengarde gewesen waeren. So kam es, dass sich die Spazierritte bis in den November hinein fortsetzten Ein Wetterumschlag war freilich eingetreten, ein andauern der Nordwest trieb Wolkenmassen heran, und das Meer schaeumte maechtig, aber Regen und Kaelte fehlten noch und so waren diese Ausfluege bei grauem Himmel und laermender Brandung fast noch schoener, als sie vorher bei Sonnenschein und stiller See gewesen waren. Rollo jagte vorauf, dann und wann von der Gischt ueberspritzt, und der Schleier von Effis Reithut flatterte im Wind. Dabei zu sprechen war fast unmoeglich; wenn man dann aber, vom Meer fort, in die schutzgebenden Duenen oder noch besser in den weiter zurueckgelegenen Kiefernwald einlenkte, so wurd es still, Effis Schleier flatterte nicht mehr, und die Enge des Wegs zwang die beiden Reiter dicht nebeneinander. Das war dann die Zeit, wo man - schon um der Knorren und Wurzeln willen im Schritt reitend - die Gespraeche, die der Brandungslaerm unterbrochen hatte, wieder aufnehmen konnte. Crampas, ein guter Causeur, erzaehlte dann Kriegs- und Regimentsgeschichten, auch Anekdoten und kleine Charakterzuege von Innstetten, der mit seinem Ernst und seiner Zugeknoepftheit in den uebermuetigen Kreis der Kameraden nie recht hineingepasst habe, so dass er eigentlich immer mehr respektiert als geliebt worden sei. "Das kann ich mir denken", sagte Effi, "ein Glueck nur, dass der Respekt die Hauptsache ist." "Ja, zu seiner Zeit. Aber er passt doch nicht immer. Und zu dem allen kam noch eine mystische Richtung, die mitunter Anstoss gab, einmal weil Soldaten ueberhaupt nicht sehr fuer derlei Dinge sind, und dann weil wir die Vorstellung unterhalten, vielleicht mit Unrecht, dass er doch nicht ganz so dazu staende, wie er's uns einreden wollte." "Mystische Richtung?" sagte Effi. "Ja, Major, was verstehen Sie darunter? Er kann doch keine Konventikel abgehalten und den Propheten gespielt haben. Auch nicht einmal den aus der Oper ... ich habe seinen Namen vergessen." "Nein, so weit ging er nicht. Aber es ist vielleicht besser, davon abzubrechen. Ich moechte nicht hinter seinem Ruecken etwas sagen, was falsch ausgelegt werden koennte. Zudem sind es Dinge, die sich sehr gut auch in seiner Gegenwart verhandeln lassen. Dinge, die nur, man mag wollen oder nicht, zu was Sonderbarem aufgebauscht werden, wenn er nicht dabei ist und nicht jeden Augenblick eingreifen und uns widerlegen oder meinetwegen auch auslachen kann." "Aber das ist ja grausam, Major. Wie koennen Sie meine Neugier so auf die Folter spannen. Erst ist es was, und dann ist es wieder nichts. Und Mystik! Ist er denn ein Geisterseher?" "Ein Geisterseher! Das will ich nicht gerade sagen. Aber er hatte eine Vorliebe, uns Spukgeschichten zu erzaehlen. Und wenn er uns dann in grosse Aufregung versetzt und manchen auch wohl geaengstigt hatte, dann war es mit einem Male wieder, als habe er sich ueber alle die Leichtglaeubigen bloss mokieren wollen. Und kurz und gut, einmal kam es, dass ich ihm auf den Kopf zusagte: 'Ach was, Innstetten, das ist ja alles bloss Komoedie. Mich taeuschen Sie nicht. Sie treiben Ihr Spiel mit uns. Eigentlich glauben Sie's gradsowenig wie wir, aber Sie wollen sich interessant machen und haben eine Vorstellung davon, dass Ungewoehnlichkeiten nach oben hin besser empfehlen. In hoeheren Karrieren will man keine Alltagsmenschen. Und da Sie so was vorhaben, so haben Sie sich was Apartes ausgesucht und sind bei der Gelegenheit auf den Spuk gefallen.'" Effi sagte kein Wort, was dem Major zuletzt bedruecklich wurde. "Sie schweigen, gnaedigste Frau." "Ja." "Darf ich fragen warum? Hab ich Anstoss gegeben? Oder finden Sie's unritterlich, einen abwesenden Freund, ich muss das trotz aller Verwahrungen einraeumen, ein klein wenig zu hecheln? Aber da tun Sie mir trotz alledem Unrecht. Das alles soll ganz ungeniert seine Fortsetzung vor seinen Ohren haben, und ich will ihm dabei jedes Wort wiederholen, was ich jetzt eben gesagt habe." "Glaub es." Und nun brach Effi ihr Schweigen und erzaehlte, was sie alles in ihrem Hause erlebt und wie sonderlich sich Innstetten damals dazu gestellt habe. "Er sagte nicht ja und nicht nein, und ich bin nicht klug aus ihm geworden." "Also ganz der alte", lachte Crampas. "So war er damals auch schon, als wir in Liancourt und dann spaeter in Beauvais mit ihm in Quartier lagen. Er wohnte da in einem alten bischoeflichen Palast - beilaeufig, was Sie vielleicht interessieren wird, war es ein Bischof von Beauvais, gluecklicherweise 'Cochon' mit Namen, der die Jungfrau von Orleans zum Feuertod verurteilte -, und da verging denn kein Tag, das heisst keine Nacht, wo Innstetten nicht Unglaubliches erlebt hatte. Freilich immer nur so halb. Es konnte auch nichts sein. Und nach diesem Prinzip arbeitet er noch, wie ich sehe." "Gut, gut. Und nun ein ernstes Wort, Crampas, auf das ich mir eine ernste Antwort erbitte: Wie erklaeren Sie sich dies alles?" "Ja, meine gnaedigste Frau ..." "Keine Ausweichungen, Major. Dies alles ist sehr wichtig fuer mich. Er ist Ihr Freund, und ich bin Ihre Freundin. Ich will wissen, wie haengt dies zusammen? Was denkt er sich dabei?" "Ja, meine gnaedigste Frau, Gott sieht ins Herz, aber ein Major vom Landwehrbezirkskommando, der sieht in gar nichts. Wie soll ich solche psychologischen Raetsel loesen? Ich bin ein einfacher Mann." "Ach, Crampas, reden Sie nicht so toericht. Ich bin zu jung, um eine grosse Menschenkennerin zu sein; aber ich muesste noch vor der Einsegnung und beinah vor der Taufe stehen, um Sie fuer einen einfachen Mann zu halten. Sie sind das Gegenteil davon, Sie sind gefaehrlich ..." "Das Schmeichelhafteste, was einem guten Vierziger mit einem a.D. auf der Karte gesagt werden kann. Und nun also, was sich Innstetten dabei denkt ..." Effi nickte. "Ja, wenn ich durchaus sprechen soll, er denkt sich dabei, dass ein Mann wie Landrat Baron Innstetten, der jeden Tag Ministerialdirektor oder dergleichen werden kann (denn glauben Sie mir, er ist hoch hinaus), dass ein Mann wie Baron Innstetten nicht in einem gewoehnlichen Hause wohnen kann, nicht in einer solchen Kate, wie die landraetliche Wohnung, ich bitte um Vergebung, gnaedigste Frau, doch eigentlich ist. Da hilft er denn nach. Ein Spukhaus ist nie was Gewoehnliches ... Das ist das eine." "Das eine? Mein Gott, haben Sie noch etwas?" "Ja." "Nun denn, ich bin ganz Ohr. Aber wenn es sein kann, lassen Sie's was Gutes sein." "Dessen bin ich nicht ganz sicher. Es ist etwas Heikles, beinah Gewagtes, und ganz besonders vor Ihren Ohren, gnaedigste Frau." "Das macht mich nur um so neugieriger." "Gut denn. Also Innstetten, meine gnaedigste Frau, hat ausser seinem brennenden Verlangen, es koste, was es wolle, ja, wenn es sein muss, unter Heranziehung eines Spuks, seine Karriere zu machen, noch eine zweite Passion: Er operiert naemlich immer erzieherisch, ist der geborene Paedagog, und haette, links Basedow und rechts Pestalozzi (aber doch kirchlicher als beide), eigentlich nach Schnepfenthal oder Bunzlau hingepasst." "Und will er mich auch erziehen? Erziehen durch Spuk?" "Erziehen ist vielleicht nicht das richtige Wort. Aber doch erziehen auf einem Umweg." "Ich verstehe Sie nicht." "Eine junge Frau ist eine junge Frau, und ein Landrat ist ein Landrat. Er kutschiert oft im Kreise umher, und dann ist das Haus allein und unbewohnt. Aber solch Spuk ist wie ein Cherub mit dem Schwert ..." "Ah, da sind wir wieder aus dem Wald heraus", sagte Effi. "Und da ist Utpatels Muehle. Wir muessen nur noch an dem Kirchhof vorueber." Gleich danach passierten sie den Hohlweg zwischen dem Kirchhof und der eingegitterten Stelle, und Effi sah nach dem Stein und der Tanne hinueber, wo der Chinese lag. Siebzehntes Kapitel Es schlug zwei Uhr, als man zurueck war. Crampas verabschiedete sich und ritt in die Stadt hinein, bis er vor seiner am Marktplatz gelegenen Wohnung hielt. Effi ihrerseits kleidete sich um und versuchte zu schlafen; es wollte aber nicht gluecken, denn ihre Verstimmung war noch groesser als ihre Muedigkeit. Dass Innstetten sich seinen Spuk parat hielt, um ein nicht ganz gewoehnliches Haus zu bewohnen, das mochte hingehen, das stimmte zu seinem Hange, sich von der grossen Menge zu unterscheiden; aber das andere, dass er den Spuk als Erziehungsmittel brauchte, das war doch arg und beinahe beleidigend. Und "Erziehungsmittel", darueber war sie sich klar, sagte nur die kleinere Haelfte; was Crampas gemeint hatte, war viel, viel mehr, war eine Art Angelapparat aus Kalkuel. Es fehlte jede Herzensguete darin und grenzte schon fast an Grausamkeit. Das Blut stieg ihr zu Kopf, und sie ballte ihre kleine Hand und wollte Plaene schmieden; aber mit einem Male musste sie wieder lachen. "Ich Kindskopf! Wer buergt mir denn dafuer, dass Crampas recht hat! Crampas ist unterhaltlich, weil er medisant ist, aber er ist unzuverlaessig und ein blosser Haselant, der schliesslich Innstetten nicht das Wasser reicht." In diesem Augenblick fuhr Innstetten vor, der heute frueher zurueckkam als gewoehnlich. Effi sprang auf, um ihn schon im Flur zu begruessen, und war um so zaertlicher, je mehr sie das Gefuehl hatte, etwas gutmachen zu muessen. Aber ganz konnte sie das, was Crampas gesagt hatte, doch nicht verwinden, und inmitten ihrer Zaertlichkeiten und waehrend sie mit anscheinendem Interesse zuhoerte, klang es in ihr immer wieder: "Also Spuk aus Berechnung, Spuk, um dich in Ordnung zu halten." Zuletzt indessen vergass sie's und liess sich unbefangen von ihm erzaehlen. Inzwischen war Mitte November herangekommen, und der bis zum Sturm sich steigernde Nordwester stand anderthalb Tage lang so hart auf die Molen, dass die mehr und mehr zurueckgestaute Kessine das Bollwerk ueberstieg und in die Strassen trat. Aber nachdem sich's ausgetobt, legte sich das Unwetter, und es kamen noch ein paar sonnige Spaetherbsttage. "Wer weiss, wie lange sie dauern", sagte Effi zu Crampas, und so beschloss man, am naechsten Vormittag noch einmal auszureiten; auch Innstetten, der einen freien Tag hatte, wollte mit. Es sollte zunaechst wieder bis an die Mole gehen; da wollte man dann absteigen, ein wenig am Strand promenieren und schliesslich im Schutz der Duenen, wo's windstill war, ein Fruehstueck nehmen. Um die festgesetzte Stunde ritt Crampas vor dem landraetlichen Hause vor; Kruse hielt schon das Pferd der gnaedigen Frau, die sich rasch in den Sattel hob und noch im Aufsteigen Innstetten entschuldigte, der nun doch verhindert sei: Letzte Nacht wieder grosses Feuer in Morgenitz - das dritte seit drei Wochen, also angelegt -, da habe er hingemusst, sehr zu seinem Leidwesen, denn er habe sich auf diesen Ausritt, der wohl der letzte in diesem Herbst sein werde, wirklich gefreut. Crampas sprach sein Bedauern aus, vielleicht nur, um was zu sagen, vielleicht aber auch aufrichtig, denn so ruecksichtslos er im Punkte chevaleresker Liebesabenteuer war, so sehr war er auch wieder guter Kamerad. Natuerlich alles ganz oberflaechlich. Einem Freunde helfen und fuenf Minuten spaeter ihn betruegen, das waren Dinge, die sich mit seinem Ehrbegriff sehr wohl vertrugen. Er tat das eine und das andere mit unglaublicher Bonhomie. Der Ritt ging wie gewoehnlich durch die Plantage hin. Rollo war wieder vorauf, dann kamen Crampas und Effi, dann Kruse. Knut fehlte. "Wo haben Sie Knut gelassen?" "Er hat einen Ziegenpeter." "Merkwuerdig", lachte Effi. "Eigentlich sah er schon immer so aus." "Sehr richtig. Aber Sie sollten ihn jetzt sehen! Oder doch lieber nicht. Ziegenpeter ist ansteckend, schon bloss durch Anblick." "Glaub ich nicht." "Junge Frauen glauben vieles nicht." "Und dann glauben sie wieder vieles, was sie besser nicht glaubten." "An meine Adresse?" "Nein." "Schade." "Wie dies 'schade' Sie kleidet. Ich glaube wirklich, Major, Sie hielten es fuer ganz in Ordnung, wenn ich Ihnen eine Liebeserklaerung machte." "So weit will ich nicht gehen. Aber ich moechte den sehen, der sich dergleichen nicht wuenschte. Gedanken und Wuensche sind zollfrei." "Das fragt sich. Und dann ist doch immer noch ein Unterschied zwischen Gedanken und Wuenschen. Gedanken sind in der Regel etwas, das noch im Hintergrund liegt, Wuensche aber liegen meist schon auf der Lippe." "Nur nicht gerade diesen Vergleich." "Ach, Crampas, Sie sind ... Sie sind ..." "Ein Narr." "Nein. Auch darin uebertreiben Sie wieder. Aber Sie sind etwas anderes. In Hohen-Cremmen sagten wir immer, und ich mit, das Eitelste, was es gaebe, das sei ein Husarenfaehnrich von achtzehn ..." "Und jetzt?" "Und jetzt sag ich, das Eitelste, was es gibt, ist ein Landwehrbezirksmajor von zweiundvierzig." "... wobei die zwei Jahre, die Sie mir gnaedigst erlassen, alles wiedergutmachen - kuess' die Hand." "Ja, kuess' die Hand. Das ist so recht das Wort, das fuer Sie passt. Das ist wienerisch. Und die Wiener, die hab ich kennengelernt in Karlsbad, vor vier Jahren, wo sie mir vierzehnjaehrigem Dinge den Hof machten. Was ich da alles gehoert habe!" "Gewiss nicht mehr, als recht war." "Wenn das zutraefe, waere das, was mir schmeicheln soll, ziemlich ungezogen ... Aber sehen Sie da die Bojen, wie die schwimmen und tanzen. Die kleinen roten Fahnen sind eingezogen. Immer wenn ich diesen Sommer die paar Mal, wo ich mich bis an den Strand hinauswagte, die roten Fahnen sah, sagte ich mir: Da liegt Vineta, da muss es liegen, das sind die Turmspitzen ..." "Das macht, weil Sie das Heinesche Gedicht kennen." "Welches?" "Nun, das von Vineta." "Nein, das kenne ich nicht; ich kenne ueberhaupt nur wenig. Leider." "Und haben doch Gieshuebler und den Journalzirkel! Uebrigens hat Heine dem Gedicht einen anderen Namen gegeben, ich glaube 'Seegespenst' oder so aehnlich. Aber Vineta hat er gemeint. Und er selber - verzeihen Sie, wenn ich Ihnen so ohne weiteres den Inhalt hier wiedergebe -, der Dichter also, waehrend er die Stelle passiert, liegt auf einem Schiffsdeck und sieht hinunter und sieht da schmale, mittelalterliche Strassen und trippelnde Frauen in Kapotthueten, und alle haben ein Gesangbuch in Haenden und wollen zur Kirche, und alle Glocken laeuten. Und als er das hoert, da fasst ihn eine Sehnsucht, auch mit in die Kirche zu gehen, wenn auch bloss um der Kapotthuete willen, und vor Verlangen schreit er auf und will sich hinunterstuerzen. Aber im selben Augenblick packt ihn der Kapitaen am Bein und ruft ihm zu: 'Doktor, sind Sie des Teufels?" "Das ist ja allerliebst. Das moecht ich lesen. Ist es lang?" "Nein, es ist eigentlich kurz, etwas laenger als 'Du hast Diamanten und Perlen' oder 'Deine weichen Lilienfinger' ...", und er beruehrte leise ihre Hand. "Aber lang oder kurz, welche Schilderungskraft, welche Anschaulichkeit! Er ist mein Lieblingsdichter, und ich kann ihn auswendig, sowenig ich mir sonst, trotz gelegentlich eigener Versuendigungen, aus der Dichterei mache. Bei Heine liegt es aber anders: Alles ist Leben, und vor allem versteht er sich auf die Liebe, die doch die Hauptsache bleibt. Er ist uebrigens nicht einseitig darin ..." "Wie meinen Sie das?" "Ich meine, er ist nicht bloss fuer die Liebe ..." "Nun, wenn er diese Einseitigkeit auch haette, das waere am Ende noch nicht das schlimmste. Wofuer ist er denn sonst noch?" "Er ist auch sehr fuer das Romantische, was freilich gleich nach der Liebe kommt und nach Meinung einiger sogar damit zusammenfaellt. Was ich aber nicht glaube. Denn in seinen spaeteren Gedichten, die man denn auch die 'romantischen' genannt hat, oder eigentlich hat er es selber getan, in diesen romantischen Dichtungen wird in einem fort hingerichtet, allerdings vielfach aus Liebe. Aber doch meist aus anderen groeberen Motiven, wohin ich in erster Reihe die Politik. die fast immer groeblich ist, rechne. Karl Stuart zum Beispiel traegt in einer dieser Romanzen seinen Kopf unterm Arm, und noch fataler ist die Geschichte vom Vitzliputzli ..." "Von wem?" "Vom Vitzliputzli. Vitzliputzli ist naemlich ein mexikanischer Gott, und als die Mexikaner zwanzig oder dreissig Spanier gefangengenommen hatten, mussten diese zwanzig oder dreissig dem Vitzliputzli geopfert werden. Das war da nicht anders, Landessitte, Kultus, und ging auch alles im Handumdrehen, Bauch auf, Herz raus ..." "Nein, Crampas, so duerfen Sie nicht weitersprechen. Das ist indezent und degoutant zugleich. Und das alles so ziemlich in demselben Augenblick, wo wir fruehstuecken wollen." "Ich fuer meine Person sehe mich dadurch unbeeinflusst und stelle meinen Appetit ueberhaupt nur in Abhaengigkeit vom Menue." Waehrend dieser Worte waren sie, ganz wie's das Programm wollte, vom Strand her bis an eine schon halb im Schutz der Duenen aufgeschlagene Bank, mit einem aeusserst primitiven Tisch davor, gekommen, zwei Pfosten mit einem Brett darueber. Kruse, der voraufgeritten, hatte hier bereits serviert; Teebroetchen und Aufschnitt von kaltem Braten, dazu Rotwein und neben der Flasche zwei huebsche, zierliche Trinkglaeser, klein und mit Goldrand, wie man sie in Badeorten kauft oder von Glashuetten als Erinnerung mitbringt. Und nun stieg man ab. Kruse, der die Zuegel seines eigenen Pferdes um eine Krueppelkiefer geschlungen hatte, ging mit den beiden anderen Pferden auf und ab, waehrend sich Crampas und Effi, die durch eine schmale Duenenoeffnung einen freien Blick auf Strand und Mole hatten, vor dem gedeckten Tisch niederliessen. Ueber das von den Sturmtagen her noch bewegte Meer goss die schon halb winterliche Novembersonne ihr fahles Licht aus, und die Brandung ging hoch. Dann und wann kam ein Windzug und trieb den Schaum bis dicht an sie heran. Strandhafer stand umher, und das helle Gelb der Immortellen hob sich, trotz der Farbenverwandtschaft, von dem gelben Sand, darauf sie wuchsen, scharf ab. Effi machte die Wirtin. "Es tut mir leid, Major, Ihnen diese Broetchen in einem Korbdeckel praesentieren zu muessen ..." "Ein Korbdeckel ist kein Korb ..." "... indessen Kruse hat es so gewollt. Da bist du ja auch, Rollo. Auf dich ist unser Vorrat aber nicht eingerichtet. Was machen wir mit Rollo?" "Ich denke, wir geben ihm alles; ich meinerseits schon aus Dankbarkeit. Denn sehen Sie, teuerste Effi ..." Effi sah ihn an. Denn sehen Sie, gnaedigste Frau, Rollo erinnert mich wieder an das, was ich Ihnen noch als Fortsetzung oder Seitenstueck zum Vitzliputzli erzaehlen wollte - nur viel pikanter, weil Liebesgeschichte. Haben Sie mal von einem gewissen Pedro dem Grausamen gehoert?" "So dunkel." "Eine Art Blaubartskoenig." "Das ist gut. Von so einem hoert man immer am liebsten, und ich weiss noch, dass wir von meiner Freundin Hulda Niemeyer, deren Namen Sie ja kennen, immer behaupteten, sie wisse nichts von Geschichte, mit Ausnahme der sechs Frauen von Heinrich dem Achten, diesem englischen Blaubart, wenn das Wort fuer ihn reicht. Und wirklich, diese sechs kannte sie auswendig. Und dabei haetten Sie hoeren sollen, wie sie die Namen aussprach, namentlich den von der Mutter der Elisabeth - so schrecklich verlegen, als waere sie nun an der Reihe ... Aber nun bitte, die Geschichte von Don Pedro ..." "Nun also, an Don Pedros Hofe war ein schoener, schwarzer spanischer Ritter, der das Kreuz von Kalatrava - was ungefaehr soviel bedeutet wie Schwarzer Adler und Pour-le-merite zusammengenommen - auf seiner Brust trug. Dies Kreuz gehoerte mit dazu, das mussten sie immer tragen, und dieser Kalatravaritter, den die Koenigin natuerlich heimlich liebte ..." "Warum natuerlich?" "Weil wir in Spanien sind." "Ach so." "Und dieser Kalatravaritter, sag ich, hatte einen wunderschoenen Hund, einen Neufundlaender, wiewohl es die noch gar nicht gab, denn es war grade hundert Jahre vor der Entdeckung von Amerika. Einen wunderschoenen Hund also, sagen wir wie Rollo ..." Rollo schlug an, als er seinen Namen hoerte, und wedelte mit dem Schweif. "Das ging so machen Tag. Aber das mit der heimlichen Liebe, die wohl nicht ganz heimlich blieb, das wurde dem Koenig doch zuviel, und weil er den schoenen Kalatravaritter ueberhaupt nicht recht leiden mochte - denn er war nicht bloss grausam, er war auch ein Neidhammel, oder wenn das Wort fuer einen Koenig und noch mehr fuer meine liebenswuerdige Zuhoererin, Frau Effi, nicht recht passen sollte, wenigstens ein Neidling -, so beschloss er, den Kalatravaritter fuer die heimliche Liebe heimlich hinrichten zu lassen." "Kann ich ihm nicht verdenken." "Ich weiss doch nicht, meine Gnaedigste. Hoeren Sie nur weiter. Etwas geht schon, aber es war zuviel; der Koenig, find ich, ging um ein Erkleckliches zu weit. Er heuchelte naemlich, dass er dem Ritter wegen seiner Kriegs- und Heldentaten ein Fest veranstalten wolle, und da gab es denn eine lange, lange Tafel, und alle Granden des Reichs sassen an dieser Tafel, und in der Mitte sass der Koenig, und ihm gegenueber war der Platz fuer den, dem dies alles galt, also fuer den Kalatravaritter, fuer den an diesem Tage zu Feiernden. Und weil der, trotzdem man schon eine ganze Weile seiner gewartet hatte, noch immer nicht kommen wollte, so musste schliesslich die Festlichkeit ohne ihn begonnen werden, und es blieb ein leerer Platz - ein leerer Platz gerade gegenueber dem Koenig." "Und nun?" "Und nun denken Sie, meine gnaedigste Frau, wie der Koenig, dieser Pedro, sich eben erheben will, um gleisnerisch sein Bedauern auszusprechen, dass sein 'lieber Gast' noch immer fehle, da hoert man auf der Treppe draussen einen Aufschrei der entsetzten Dienerschaften, und ehe noch irgendwer weiss, was geschehen ist, jagt etwas an der langen Festtafel entlang, und nun springt es auf den Stuhl und setzt ein abgeschlagenes Haupt auf den leergebliebenen Platz, und ueber ebendieses Haupt hinweg starrt Rollo auf sein Gegenueber, den Koenig. Rollo hatte seinen Herrn auf seinem letzten Gang begleitet, und im selben Augenblick, wo das Beil fiel, hatte das treue Tier das fallende Haupt gepackt, und da war er nun, unser Freund Rollo, an der langen Festtafel und verklagte den koeniglichen Moerder." Effi war ganz still geworden. Endlich sagte sie: "Crampas, das ist in seiner Art sehr schoen, und weil es sehr schoen ist, will ich es Ihnen verzeihen. Aber Sie koennten doch Besseres und zugleich mir Lieberes tun, wenn Sie mir andere Geschichten erzaehlten. Auch von Heine. Heine wird doch nicht bloss von Vitzliputzli und Don Pedro und Ihrem Rollo - denn meiner haette so was nicht getan - gedichtet haben. Komm, Rollo! Armes Tier, ich kann dich gar nicht mehr ansehen, ohne an den Kalatravaritter zu denken, den die Koenigin heimlich liebte ... Rufen Sie, bitte, Kruse, dass er die Sachen hier wieder in die Halfter steckt, und wenn wir zurueckreiten, muessen Sie mir was anderes erzaehlen, ganz was anderes." Kruse kam. Als er aber die Glaeser nehmen wollte, sagte Crampas: "Kruse, das eine Glas, das da, das lassen Sie stehen. Das werde ich selber nehmen." "Zu Befehl, Herr Major." Effi, die dies mit angehoert hatte, schuettelte den Kopf. Dann lachte sie. "Crampas, was faellt Ihnen nur eigentlich ein? Kruse ist dumm genug, ueber die Sache nicht weiter nachzudenken, und wenn er darueber nachdenkt, so findet er gluecklicherweise nichts. Aber das berechtigt Sie doch nicht, dies Glas, dies Dreissigpfennigglas aus der Josefinenhuette ..." "Dass Sie so spoettisch den Preis nennen, laesst mich seinen Wert um so tiefer empfinden." "Immer derselbe. Sie haben so viel von einem Humoristen, aber doch von ganz sonderbarer Art. Wenn ich Sie recht verstehe, so haben Sie vor - es ist zum Lachen, und ich geniere mich fast, es auszusprechen -, so haben Sie vor, sich vor der Zeit auf den Koenig von Thule hin auszuspielen." Er nickte mit einem Anflug von Schelmerei. "Nun denn, meinetwegen. Jeder traegt seine Kappe; Sie wissen, welche. Nur das muss ich Ihnen doch sagen duerfen, die Rolle, die Sie mir dabei zudiktieren, ist mir zu wenig schmeichelhaft. Ich mag nicht als Reimwort auf Ihren Koenig von Thule herumlaufen. Behalten Sie das Glas, aber bitte, ziehen Sie nicht Schluesse daraus, die mich kompromittieren. Ich werde Innstetten davon erzaehlen." "Das werden Sie nicht tun, meine gnaedigste Frau." "Warum nicht?" "Innstetten ist nicht der Mann, solche Dinge so zu sehen, wie sie gesehen sein wollen." Sie sah ihn einen Augenblick scharf an. Dann aber schlug sie verwirrt und fast verlegen die Augen nieder. Achtzehntes Kapitel Effi war unzufrieden mit sich und freute sich, dass es nunmehr feststand, diese gemeinschaftlichen Ausfluege fuer die ganze Winterdauer auf sich beruhen zu lassen. Ueberlegte sie, was waehrend all dieser Wochen und Tage gesprochen, beruehrt und angedeutet war, so fand sie nichts, um dessentwillen sie sich direkte Vorwuerfe zu machen gehabt haette. Crampas war ein kluger Mann, welterfahren, humoristisch, frei, frei auch im Guten, und es waere kleinlich und kuemmerlich gewesen, wenn sie sich ihm gegenueber aufgesteift und jeden Augenblick die Regeln strengen Anstandes befolgt haette. Nein, sie konnte sich nicht tadeln, auf seinen Ton eingegangen zu sein, und doch hatte sie ganz leise das Gefuehl einer ueberstandenen Gefahr und beglueckwuenschte sich, dass das alles nun mutmasslich hinter ihr laege. Denn an ein haeufigeres Sichsehen en famille war nicht wohl zu denken, das war durch die Crampasschen Hauszustaende so gut wie ausgeschlossen, und Begegnungen bei den benachbarten adligen Familien, die freilich fuer den Winter in Sicht standen, konnten immer nur sehr vereinzelt und sehr fluechtige sein. Effi rechnete sich dies alles mit wachsender Befriedigung heraus und fand schliesslich, dass ihr der Verzicht auf das, was sie dem Verkehr mit dem Major verdankte, nicht allzu schwer ankommen wuerde. Dazu kam noch, dass Innstetten ihr mitteilte, seine Fahrten nach Varzin wuerden in diesem Jahre fortfallen: der Fuerst gehe nach Friedrichsruh, das ihm immer lieber zu werden scheine; nach der einen Seite hin bedauere er das, nach der anderen sei es ihm lieb - er koenne sich nun ganz seinem Hause widmen, und wenn es ihr recht waere, so wollten sie die italienische Reise, an der Hand seiner Aufzeichnungen, noch einmal durchmachen. Eine solche Rekapitulation sei eigentlich die Hauptsache, dadurch mache man sich alles erst dauernd zu eigen, und selbst Dinge, die man nur fluechtig gesehen und von denen man kaum wisse, dass man sie in seiner Seele beherberge, kaemen einem durch solche nachtraeglichen Studien erst voll zu Bewusstsein und Besitz. Er fuehrte das noch weiter aus und fuegte hinzu, dass ihn Gieshuebler, der den ganzen "italienischen Stiefel" bis Palermo kenne, gebeten habe, mit dabeisein zu duerfen. Effi, der ein ganz gewoehnlicher Plauderabend ohne den "italienischen Stiefel" (es sollten sogar Fotografien herumgereicht werden) viel, viel lieber gewesen waere, antwortete mit einer gewissen Gezwungenheit; Innstetten indessen, ganz erfuellt von seinem Plan, merkte nichts und fuhr fort: "Natuerlich ist nicht bloss Gieshuebler zugegen, auch Roswitha und Annie muessen dabeisein, und wenn ich mir dann denke, dass wir den Canale grande hinauffahren und hoeren dabei ganz in der Ferne die Gondoliere singen, waehrend drei Schritt von uns Roswitha sich ueber Annie beugt und 'Buhkueken von Halberstadt' oder so was Aehnliches zum besten gibt, so koennen das schoene Winterabende werden, und du sitzt dabei und strickst mir eine grosse Winterkappe. Was meinst du dazu, Effi?" Solche Abende wurden nicht bloss geplant, sie nahmen auch ihren Anfang, und sie wuerden sich aller Wahrscheinlichkeit nach ueber viele Wochen hin ausgedehnt haben, wenn nicht der unschuldige, harmlose Gieshuebler, trotz groesster Abgeneigtheit gegen zweideutiges Handeln, dennoch im Dienste zweier Herren gestanden haette. Der eine, dem er diente, war Innstetten, der andere war Crampas, und wenn er der Innstettenschen Aufforderung zu den italienischen Abenden, schon um Effis willen, auch mit aufrichtigster Freude Folge leistete, so war die Freude, mit der er Crampas gehorchte, doch noch eine groessere. Nach einem Crampasschen Plan naemlich sollte noch vor Weihnachten "Ein Schritt vom Wege" aufgefuehrt werden, und als man vor dem dritten italienischen Abend stand, nahm Gieshuebler die Gelegenheit wahr, mit Effi, die die Rolle der Ella spielen sollte, darueber zu sprechen. Effi war wie elektrisiert; was wollten Padua, Vicenza daneben bedeuten! Effi war nicht fuer Aufgewaermtheiten; Frisches war es, wonach sie sich sehnte, Wechsel der Dinge. Aber als ob eine Stimme ihr zugerufen haette: "Sieh dich vor!", so fragte sie doch, inmitten ihrer freudigen Erregung: "Ist es der Major, der den Plan aufgebracht hat?" "Ja. Sie wissen, gnaedigste Frau, dass er einstimmig in das Vergnuegungskomitee gewaehlt wurde. Wir duerfen uns endlich einen huebschen Winter in der Ressource versprechen. Er ist ja wie geschaffen dazu." "Und wird er auch mitspielen?" "Nein, das hat er abgelehnt. Ich muss sagen, leider. Denn er kann ja alles und wuerde den Arthur von Schmettwitz ganz vorzueglich geben. Er hat nur die Regie uebernommen." "Desto schlimmer." "Desto schlimmer?" wiederholte Gieshuebler. "Oh, Sie duerfen das nicht so feierlich nehmen; das ist nur so eine Redensart, die eigentlich das Gegenteil bedeutet. Auf der anderen Seite freilich, der Major hat so was Gewaltsames, er nimmt einem die Dinge gern ueber den Kopf fort. Und man muss dann spielen, wie er will, und nicht, wie man selber will." Sie sprach noch so weiter und verwickelte sich immer mehr in Widersprueche. Der "Schritt vom Wege" kam wirklich zustande, und gerade weil man nur noch gute vierzehn Tage hatte (die letzte Woche vor Weihnachten war ausgeschlossen), so strengte sich alles an, und es ging vorzueglich; die Mitspielenden, vor allem Effi, ernteten reichen Beifall. Crampas hatte sich wirklich mit der Regie begnuegt, und so streng er gegen alle anderen war, so wenig hatte er auf den Proben in Effis Spiel hineingeredet. Entweder waren ihm von seiten Gieshueblers Mitteilungen ueber das mit Effi gehabte Gespraech gemacht worden, oder er hatte es auch aus sich selber bemerkt, dass Effi beflissen war, sich von ihm zurueckzuziehen. Und er war klug und Frauenkenner genug, um den natuerlichen Entwicklungsgang, den er nach seinen Erfahrungen nur zu gut kannte, nicht zu stoeren. Am Theaterabend in der Ressource trennte man sich spaet, und Mitternacht war vorueber, als Innstetten und Effi wieder zu Hause bei sich eintrafen. Johanna war noch auf, um behilflich zu sein, und Innstetten, der auf seine junge Frau nicht wenig eitel war, erzaehlte Johanna, wie reizend die gnaedige Frau ausgesehen und wie gut sie gespielt habe. Schade, dass er nicht vorher daran gedacht, Christel und sie selber und auch die alte Unke, die Kruse, haetten von der Musikgalerie her sehr gut zusehen koennen; es seien viele dagewesen. Dann ging Johanna, und Effi, die muede war, legte sich nieder. Innstetten aber, der noch plaudern wollte, schob einen Stuhl heran und setzte sich an das Bett seiner Frau, diese freundlich ansehend und ihre Hand in der seinen haltend. "Ja, Effi, das war ein huebscher Abend. Ich habe mich amuesiert ueber das huebsche Stueck. Und denke dir, der Dichter ist ein Kammergerichtsrat, eigentlich kaum zu glauben. Und noch dazu aus Koenigsberg. Aber worueber ich mich am meisten gefreut, das war doch meine entzueckende kleine Frau, die allen die Koepfe verdreht hat." "Ach, Geert, sprich nicht so. Ich bin schon gerade eitel genug." "Eitel genug, das wird wohl richtig sein. Aber doch lange nicht so eitel wie die anderen. Und das ist zu deinen sieben Schoenheiten ..." "Sieben Schoenheiten haben alle." "... Ich habe mich auch bloss versprochen, du kannst die Zahl gut mit sich selbst multiplizieren." "Wie galant du bist, Geert. Wenn ich dich nicht kennte, koennt ich mich fuerchten. Oder lauert wirklich was dahinter?" "Hast du ein schlechtes Gewissen? Selber hinter der Tuer gestanden?" "Ach, Geert, ich aengstige mich wirklich." Und sie richtete sich im Bett in die Hoeh und sah ihn starr an. "Soll ich noch nach Johanna klingeln, dass sie uns Tee bringt? Du hast es so gern vor dem Schlafengehen." Er kuesste ihr die Hand. "Nein, Effi. Nach Mitternacht kann auch der Kaiser keine Tasse Tee mehr verlangen, und du weisst, ich mag die Leute nicht mehr in Anspruch nehmen als noetig. Nein, ich will nichts, als dich ansehen und mich freuen, dass ich dich habe. So manchmal empfindet man's doch staerker, welchen Schatz man hat. Du koenntest ja auch so sein wie die arme Frau Crampas; das ist eine schreckliche Frau, gegen keinen freundlich, und dich haette sie vom Erdboden vertilgen moegen." "Ach, ich bitte dich, Geert, das bildest du dir wieder ein. Die arme Frau! Mir ist nichts aufgefallen." "Weil du fuer derlei keine Augen hast. Aber es war so, wie ich dir sage, und der arme Crampas war wie befangen dadurch und mied dich immer und sah dich kaum an. Was doch ganz unnatuerlich ist; denn erstens ist er ueberhaupt ein Damenmann, und nun gar Damen wie du, das ist seine besondere Passion. Und ich wette auch, dass es keiner besser weiss als meine kleine Frau selber. Wenn ich daran denke, wie, Pardon, das Geschnatter hin und her ging, wenn er morgens in die Veranda kam oder wenn wir am Strande ritten oder auf der Mole spazierengingen. Es ist, wie ich dir sage, er traute sich heute nicht, er fuerchtete sich vor seiner Frau. Und ich kann es ihm nicht verdenken. Die Majorin ist so etwas wie unsere Frau Kruse, und wenn ich zwischen beiden waehlen muesste, ich wuesste nicht wen." "Ich wuesst es schon; es ist doch ein Unterschied zwischen den beiden. Die arme Majorin ist ungluecklich, die Kruse ist unheimlich." "Und da bist du doch mehr fuer das Unglueckliche?" "Ganz entschieden." "Nun hoere, das ist Geschmackssache. Man merkt, dass du noch nicht ungluecklich warst. Uebrigens hat Crampas ein Talent, die arme Frau zu eskamotieren. Er erfindet immer etwas, sie zu Hause zu lassen." "Aber heute war sie doch da." "Ja, heute. Da ging es nicht anders. Aber ich habe mit ihm eine Partie zu Oberfoerster Ring verabredet, er, Gieshuebler und der Pastor, auf den dritten Feiertag, und da haettest du sehen sollen, mit welcher Geschicklichkeit er bewies, dass sie, die Frau, zu Hause bleiben muesse." "Sind es denn nur Herren?" "O bewahre. Da wuerd ich mich auch bedanken. Du bist mit dabei und noch zwei, drei andere Damen, die von den Guetern ungerechnet." "Aber dann ist es doch auch haesslich von ihm, ich meine von Crampas, und so was bestraft sich immer." "Ja, mal kommt es. Aber ich glaube, unser Freund haelt zu denen, die sich ueber das, was kommt, keine grauen Haare wachsen lassen." "Haeltst du ihn fuer schlecht?" "Nein, fuer schlecht nicht. Beinah im Gegenteil, jedenfalls hat er gute Seiten. Aber er ist so'n halber Pole, kein rechter Verlass, eigentlich in nichts, am wenigsten mit Frauen. Eine Spielernatur. Er spielt nicht am Spieltisch, aber er hasardiert im Leben in einem fort, und man muss ihm auf die Finger sehen." "Es ist mir doch lieb, dass du mir das sagst. Ich werde mich vorsehen mit ihm." "Das tu. Aber nicht zu sehr; dann hilft es nichts. Unbefangenheit ist immer das beste, natuerlich das allerbeste ist Charakter und Festigkeit und, wenn ich solch steifleinenes Wort brauchen darf, eine reine Seele." Sie sah ihn gross an. Dann sagte sie: "Ja, gewiss. Aber nun sprich nicht mehr, und noch dazu lauter Dinge, die mich nicht recht froh machen koennen. Weisst du, mir ist, als hoerte ich oben das Tanzen. Sonderbar, dass es immer wiederkommt. Ich dachte, du haettest mit dem allem nur so gespasst." "Das will ich doch nicht sagen, Effi. Aber so oder so, man muss nur in Ordnung sein und sich nicht zu fuerchten brauchen." Effi nickte und dachte mit einem Male wieder an die Worte, die ihr Crampas ueber ihren Mann als "Erzieher" gesagt hatte. Der Heilige Abend kam und verging aehnlich wie das Jahr vorher; aus Hohen-Cremmen kamen Geschenke und Briefe; Gieshuebler war wieder mit einem Huldigungsvers zur Stelle, und Vetter Briest sandte eine Karte: Schneelandschaft mit Telegrafenstangen, auf deren Draht geduckt ein Voegelchen sass. Auch fuer Annie war aufgebaut: ein Baum mit Lichtern, und das Kind griff mit seinen Haendchen danach. Innstetten, unbefangen und heiter, schien sich seines haeuslichen Gluecks zu freuen und beschaeftigte sich viel mit dem Kinde. Roswitha war erstaunt, den gnaedigen Herrn so zaertlich und zugleich so aufgeraeumt zu sehen. Auch Effi sprach viel und lachte viel, es kam ihr aber nicht aus innerster Seele. Sie fuehlte sich bedrueckt und wusste nur nicht, wen sie dafuer verantwortlich machen sollte, Innstetten oder sich selber. Von Crampas war kein Weihnachtsgruss eingetroffen; eigentlich war es ihr lieb, aber auch wieder nicht, seine Huldigungen erfuellten sie mit einem gewissen Bangen, und seine Gleichgueltigkeiten verstimmten sie; sie sah ein, es war nicht alles so, wie's sein sollte. "Du bist so unruhig", sagte Innstetten nach einer Weile. "Ja. Alle Welt hat es so gut mit mir gemeint, am meisten du; das bedrueckt mich, weil ich fuehle, dass ich es nicht verdiene." "Damit darf man sich nicht quaelen, Effi. Zuletzt ist es doch so: Was man empfaengt, das hat man auch verdient." Effi hoerte scharf hin, und ihr schlechtes Gewissen liess sie selber fragen, ob er das absichtlich in so zweideutiger Form gesagt habe. Spaet gegen Abend kam Pastor Lindequist, um zu gratulieren und noch wegen der Partie nach der Oberfoersterei Uvagla hin anzufragen, die natuerlich eine Schlittenpartie werden muesse. Crampas habe ihm einen Platz in seinem Schlitten angeboten, aber weder der Major noch sein Bursche, der, wie alles, auch das Kutschieren uebernehmen solle, kenne den Weg, und so wuerde es sich vielleicht empfehlen, die Fahrt gemeinschaftlich zu machen, wobei dann der landraetliche Schlitten die Tete zu nehmen und der Crampassche zu folgen haette. Wahrscheinlich auch der Gieshueblersche. Denn mit der Wegkenntnis Mirambos, dem sich unerklaerlicherweise Freund Alonzo, der doch sonst so vorsichtig, anvertrauen wolle, stehe es wahrscheinlich noch schlechter als mit der des sommersprossigen Treptower Ulanen. Innstetten, den diese kleinen Verlegenheiten erheiterten, war mit Lindequists Vorschlag durchaus einverstanden und ordnete die Sache dahin, dass er puenktlich um zwei Uhr ueber den Marktplatz fahren und ohne alles Saeumen die Fuehrung des Zuges in die Hand nehmen werde. Nach diesem Uebereinkommen wurde denn auch verfahren, und als Innstetten Punkt zwei Uhr den Marktplatz passierte, gruesste Crampas zunaechst von seinem Schlitten aus zu Effi hinueber und schloss sich dann dem Innstettenschen an. Der Pastor sass neben ihm. Gieshueblers Schlitten, mit Gieshuebler selbst und Doktor Hannemann, folgte, jener in einem eleganten Bueffelrock und Marderbesatz, dieser in einem Baerenpelz, dem man ansah, dass er wenigstens dreissig Dienstjahre zaehlte. Hannemann war naemlich in seiner Jugend Schiffschirurgus auf einem Groenlandfahrer gewesen. Mirambo sass vorn, etwas aufgeregt wegen Unkenntnis im Kutschieren, ganz wie Lindequist vermutet hatte. Schon nach zwei Minuten war man an Utpatels Muehle vorbei. Zwischen Kessin und Uvagla (wo der Sage nach ein Wendentempel gestanden) lag ein nur etwa tausend Schritt breiter, aber wohl anderthalb Meilen langer Waldstreifen, der an seiner rechten Laengsseite das Meer, an seiner linken, bis weit an den Horizont hin, ein grosses, ueberaus fruchtbares und gut angebautes Stueck Land hatte. Hier, an der Binnenseite, flogen jetzt die drei Schlitten hin, in einiger Entfernung ein paar alte Kutschwagen vor sich, in denen aller Wahrscheinlichkeit nach andere nach der Oberfoersterei hin eingeladene Gaeste sassen. Einer dieser Wagen war an seinen altmodisch hohen Raedern deutlich zu erkennen, es war der Papenhagensche. Natuerlich. Gueldenklee galt als der beste Redner des Kreises (noch besser als Borcke, ja selbst besser als Grasenabb) und durfte bei Festlichkeiten nicht leicht fehlen. Die Fahrt ging rasch - auch die herrschaftlichen Kutscher strengten sich an und wollten sich nicht ueberholen lassen -, so dass man schon um drei vor der Oberfoersterei hielt. Ring, ein stattlicher, militaerisch dreinschauender Herr von Mitte Fuenfzig, der den ersten Feldzug in Schleswig noch unter Wrangel und Bonin mitgemacht und sich bei Erstuermung des Danewerks ausgezeichnet hatte, stand in der Tuer und empfing seine Gaeste, die, nachdem sie abgelegt und die Frau des Hauses begruesst hatten, zunaechst vor einem langgedeckten Kaffeetisch Platz nahmen, auf dem kunstvoll aufgeschichtete Kuchenpyramiden standen. Die Oberfoersterin, eine von Natur sehr aengstliche, zum mindesten aber sehr befangene Frau, zeigte sich auch als Wirtin so, was den ueberaus eitlen Oberfoerster, der fuer Sicherheit und Schneidigkeit war, ganz augenscheinlich verdross. Zum Glueck kam sein Unmut zu keinem Ausbruch, denn von dem, was seine Frau vermissen liess, hatten seine Toechter desto mehr, bildhuebsche Backfische von vierzehn und dreizehn, die ganz nach dem Vater schlugen. Besonders die aeltere, Cora, kokettierte sofort mit Innstetten und Crampas, und beide gingen auch darauf ein. Effi aergerte sich darueber und schaemte sich dann wieder, dass sie sich geaergert habe. Sie sass neben Sidonie von Grasenabb und sagte: "Sonderbar, so bin ich auch gewesen, als ich vierzehn war." Effi rechnete darauf, dass Sidonie dies bestreiten oder doch wenigstens Einschraenkungen machen wuerde. Statt dessen sagte diese: "Das kann ich mir denken." "Und wie der Vater sie verzieht", fuhr Effi halb verlegen und nur, um doch was zu sagen, fort. Sidonie nickte. "Da liegt es. Keine Zucht. Das ist die Signatur unserer Zeit." Effi brach nun ab. Der Kaffee war bald genommen, und man stand auf, um noch einen halbstuendigen Spaziergang in den umliegenden Wald zu machen, zunaechst auf ein Gehege zu, drin Wild eingezaeunt war. Cora oeffnete das Gatter, und kaum, dass sie eingetreten, so kamen auch schon die Rehe auf sie zu. Es war eigentlich reizend, ganz wie ein Maerchen. Aber die Eitelkeit des jungen Dinges, das sich bewusst war, ein lebendes Bild zu stellen, liess doch einen reinen Eindruck nicht aufkommen, am wenigsten bei Effi. "Nein", sagte sie zu sich selber, "so bin ich doch nicht gewesen. Vielleicht hat es mir auch an Zucht gefehlt, wie diese furchtbare Sidonie mir eben andeutete, vielleicht auch anderes noch. Man war zu Haus zu guetig gegen mich, man liebte mich zu sehr. Aber das darf ich doch wohl sagen, ich habe mich nie geziert. Das war immer Huldas Sache. Darum gefiel sie mir auch nicht, als ich diesen Sommer sie wiedersah. Auf dem Rueckwege vom Wald nach der Oberfoersterei begann es zu schneien. Crampas gesellte sich zu Effi und sprach ihr sein Bedauern aus, dass er noch nicht Gelegenheit gehabt habe, sie zu begruessen. Zugleich wies er auf die grossen, schweren Schneeflocken, die fielen, und sagte: "Wenn das so weitergeht, so schneien wir hier ein." "Das waere nicht das Schlimmste. Mit dem Eingeschneitwerden verbinde ich von langer Zeit her eine freundliche Vorstellung, eine Vorstellung von Schutz und Beistand." "Das ist mir neu, meine gnaedigste Frau." "Ja", fuhr Effi fort und versuchte zu lachen, "mit den Vorstellungen ist es ein eigen Ding, man macht sie sich nicht bloss nach dem, was man persoenlich erfahren hat, auch nach dem, was man irgendwo gehoert oder ganz zufaellig weiss. Sie sind so belesen, Major, aber mit einem Gedicht - freilich keinem Heineschen, keinem 'Seegespenst' und keinem 'Vitzliputzli' - bin ich Ihnen, wie mir scheint, doch voraus. Dies Gedicht heisst die 'Gottesmauer', und ich hab es bei unserm Hohen-Cremmer Pastor vor vielen, vielen Jahren, als ich noch ganz klein war, auswendig gelernt." "Gottesmauer", wiederholte Crampas. "Ein huebscher Titel, und wie verhaelt es sich damit?" "Eine kleine Geschichte, nur ganz kurz. Da war irgendwo Krieg, ein Winterfeldzug, und eine alte Witwe, die sich vor dem Feinde maechtig fuerchtete, betete zu Gott, er moege doch 'eine Mauer um sie bauen', um sie vor dem Landesfeinde zu schuetzen. Und da liess Gott das Haus einschneien, und der Feind zog daran vorueber." Crampas war sichtlich betroffen und wechselte das Gespraech. Als es dunkelte, waren alle wieder in der Oberfoersterei zurueck. Neunzehntes Kapitel Gleich nach sieben ging man zu Tisch, und alles freute sich, dass der Weihnachtsbaum, eine mit zahllosen Silberkugeln bedeckte Tanne, noch einmal angesteckt wurde. Crampas, der das Ringsche Haus noch nicht kannte, war helle Bewunderung. Der Damast, die Weinkuehler, das reiche Silbergeschirr, alles wirkte herrschaftlich, weit ueber oberfoersterliche Durchschnittsverhaeltnisse hinaus, was darin seinen Grund hatte, dass Rings Frau, so scheu und verlegen sie war, aus einem reichen Danziger Kornhaendlerhause stammte. Von daher ruehrten auch die meisten der ringsumher haengenden Bilder: der Kornhaendler und seine Frau, der Marienburger Remter und eine gute Kopie nach dem beruehmten Memlingschen Altarbild in der Danziger Marienkirche. Kloster Olivia war zweimal da, einmal in Oel und einmal in Kork geschnitzt. Ausserdem befand sich ueber dem Buefett ein sehr nachgedunkeltes Portraet des alten Nettelbeck, das noch aus dem bescheidenen Mobiliar des erst vor anderthalb Jahren verstorbenen Ringschen Amtsvorgaengers herruehrte. Niemand hatte damals bei der gewoehnlich stattfindenden Auktion das Bild des Alten haben wollen, bis Innstetten, der sich ueber diese Missachtung aergerte, darauf geboten hatte. Da hatte sich denn auch Ring patriotisch besonnen, und der alte Kolbergverteidiger war der Oberfoersterei verblieben. Das Nettelbeckbild liess ziemlich viel zu wuenschen uebrig; sonst aber verriet alles, wie schon angedeutet, eine beinahe an Glanz streifende Wohlhabenheit, und dem entsprach denn auch das Mahl, das aufgetragen wurde. Jeder hatte mehr oder weniger seine Freude daran, mit Ausnahme Sidoniens. Diese sass zwischen Innstetten und Lindequist und sagte, als sie Coras ansichtig wurde: "Da ist ja wieder dies unausstehliche Balg, diese Cora. Sehen Sie nur, Innstetten, wie sie die kleinen Weinglaeser praesentiert, ein wahres Kunststueck, sie koennte jeden Augenblick Kellnerin werden. Ganz unertraeglich. Und dazu die Blicke von Ihrem Freund Crampas! Das ist so die rechte Saat! Ich frage Sie, was soll dabei herauskommen?" Innstetten, der ihr eigentlich zustimmte, fand trotzdem den Ton, in dem das alles gesagt wurde, so verletzend herbe dass er spoettisch bemerkte: "Ja, meine Gnaedigste, was dabei herauskommen soll? Ich weiss es auch nicht" - worauf sich Sidonie von ihm ab- und ihrem Nachbarn zur Linken zuwandte: "Sagen Sie, Pastor, ist diese vierzehnjaehrige Kokette schon im Unterricht bei Ihnen?" "Ja, mein gnaediges Fraeulein." "Dann muessen Sie mir die Bemerkung verzeihen, dass Sie sie nicht in die richtige Schule genommen haben. Ich weiss wohl, es haelt das heutzutage sehr schwer, aber ich weiss auch, dass die, denen die Fuersorge fuer junge Seelen obliegt, es vielfach an dem rechten Ernst fehlen lassen. Es bleibt dabei, die Hauptschuld tragen die Eltern und Erzieher." Lindequist, denselben Ton anschlagend wie Innstetten, antwortete, dass das alles sehr richtig, der Geist der Zeit aber zu maechtig sei. "Geist der Zeit!" sagte Sidonie. "Kommen Sie mir nicht damit. Das kann ich nicht hoeren, das ist der Ausdruck hoechster Schwaeche, Bankrotterklaerung. Ich kenne das; nie scharf zufassen wollen, immer dem Unbequemen aus dem Wege gehen. Denn Pflicht ist unbequem. Und so wird nur allzuleicht vergessen, dass das uns anvertraute Gut auch mal von uns zurueckgefordert wird. Eingreifen, lieber Pastor, Zucht. Das Fleisch ist schwach, gewiss, aber ..." In diesem Augenblick kam ein englisches Roastbeef, von dem Sidonie ziemlich ausgiebig nahm, ohne Lindequists Laecheln dabei zu bemerken. Und weil sie's nicht bemerkte, so durfte es auch nicht wundernehmen, dass sie mit viel Unbefangenheit fortfuhr: "Es kann uebrigens alles, was Sie hier sehen, nicht wohl anders sein; alles ist schief und verfahren von Anfang an. Ring, Ring - wenn ich nicht irre, hat es drueben in Schweden oder da herum mal einen Sagenkoenig dieses Namens gegeben. Nun sehen Sie, benimmt er sich nicht, als ob er von dem abstamme? Und seine Mutter, die ich noch gekannt habe, war eine Plaettfrau in Koeslin." "Ich kann darin nichts Schlimmes finden." "Schlimmes finden? Ich auch nicht. Und jedenfalls gibt es Schlimmeres. Aber soviel muss ich doch von Ihnen, als einem geweihten Diener der Kirche, gewaertigen duerfen, dass Sie die gesellschaftlichen Ordnungen gelten lassen. Ein Oberfoerster ist ein bisschen mehr als ein Foerster, und ein Foerster hat nicht solche Weinkuehler und solch Silberzeug; das alles ist ungehoerig und zieht dann solche Kinder gross wie dies Fraeulein Cora." Sidonie, jedesmal bereit, irgendwas Schreckliches zu prophezeien, wenn sie, vom Geist ueberkommen, die Schalen ihres Zorns ausschuettete, wuerde sich auch heute bis zum Kassandrablick in die Zukunft gesteigert haben, wenn nicht in ebendiesem Augenblick die dampfende Punschbowle - womit die Weihnachtsreunions bei Ring immer abschlossen - auf der Tafel erschienen waere, dazu Krausgebackenes, das, geschickt uebereinandergetuermt, noch weit ueber die vor einigen Stunden aufgetragene Kaffeekuchenpyramide hinauswuchs. Und nun trat auch Ring selbst, der sich bis dahin etwas zurueckgehalten hatte, mit einer gewissen strahlenden Feierlichkeit in Aktion und begann die vor ihm stehenden Glaeser, grosse geschliffene Roemer, in virtuosem Bogensturz zu fuellen, ein Einschenkekunststueck, das die stets schlagfertige Frau von Padden, die heute leider fehlte, mal als "Ringsche Fuellung en cascade" bezeichnet hatte. Rotgolden woelbte sich dabei der Strahl, und kein Tropfen durfte verlorengehen. So war es auch heute wieder. Zuletzt aber, als jeder, was ihm zukam, in Haenden hielt - auch Cora, die sich mittlerweile mit ihrem rotblonden Wellenhaar auf "Onkel Crampas'" Schoss gesetzt hatte -, erhob sich der alte Papenhagner, um, wie herkoemmlich bei Festlichkeiten der Art, einen Toast auf seinen lieben Oberfoerster auszubringen. Es gaebe viele Ringe, so etwa begann er, Jahresringe, Gardinenringe, Trauringe, und was nun gar - denn auch davon duerfe sich am Ende wohl sprechen lassen - die Verlobungsringe angehe, so sei gluecklicherweise die Gewaehr gegeben, dass einer davon in kuerzester Frist in diesem Hause sichtbar werden und den Ringfinger (und zwar hier in einem doppelten Sinne den Ringfinger) eines kleinen huebschen Paetschelchens zieren werde... "Unerhoert", raunte Sidonie dem Pastor zu. "Ja, meine Freunde", fuhr Gueldenklee mit gehobener Stimme fort, "viele Ringe gibt es, und es gibt sogar eine Geschichte, die wir alle kennen, die die Geschichte von den 'drei Ringen' heisst, eine Judengeschichte, die, wie der ganze liberale Krimskrams, nichts wie Verwirrung und Unheil gestiftet hat und noch stiftet. Gott bessere es. Und nun lassen Sie mich schliessen, um Ihre Geduld und Nachsicht nicht ueber Gebuehr in Anspruch zu nehmen. Ich bin nicht fuer diese drei Ringe, meine Lieben, ich bin vielmehr fuer einen Ring, fuer einen Ring, der so recht ein Ring ist, wie er sein soll, ein Ring, der alles Gute, was wir in unsrem altpommerschen Kessiner Kreise haben, alles, was noch mit Gott fuer Koenig und Vaterland einsteht - und es sind ihrer noch einige (lauter Jubel) -, an diesem seinem gastlichen Tisch vereinigt sieht. Fuer diesen Ring bin ich. Er lebe hoch!" Alles stimmte ein und umdraengte Ring, der, solange das dauerte, das Amt des "Einschenkens en cascade" an den ihm gegenuebersitzenden Crampas abtreten musste; der Hauslehrer aber stuerzte von seinem Platz am unteren Ende der Tafel an das Klavier und schlug die ersten Takte des Preussenliedes an, worauf alles stehend und feierlich einfiel: "Ich bin ein Preusse ... will ein Preusse sein." "Es ist doch etwas Schoenes", sagte gleich nach der ersten Strophe der alte Borcke zu Innstetten, "so was hat man in anderen Laendern nicht." "Nein", antwortete Innstetten, der von solchem Patriotismus nicht viel hielt, "in anderen Laendern hat man was anderes." Man sang alle Strophen durch, dann hiess es, die Wagen seien vorgefahren, und gleich danach erhob sich alles, um die Pferde nicht warten zu lassen. Denn diese Ruecksicht "auf die Pferde" ging auch im Kreise Kessin allem anderen vor. Im Hausflur standen zwei huebsche Maegde, Ring hielt auf dergleichen, um den Herrschaften beim Anziehen ihrer Pelze behilflich zu sein. Alles war heiter angeregt, einige mehr als das, und das Einsteigen in die verschiedenen Gefaehrte schien sich schnell und ohne Stoerung vollziehen zu sollen, als es mit einemmal hiess, der Gieshueblersche Schlitten sei nicht da. Gieshuebler selbst war viel zu artig, um gleich Unruhe zu zeigen oder gar Laerm zu machen; endlich aber, weil doch wer das Wort nehmen musste, fragte Crampas, was es denn eigentlich sei. "Mirambo kann nicht fahren", sagte der Hofknecht; "das linke Pferd hat ihn beim Anspannen vor das Schienbein geschlagen. Er liegt im Stall und schreit." Nun wurde natuerlich nach Doktor Hannemann gerufen, der denn auch hinausging und nach fuenf Minuten mit echter Chirurgenruhe versicherte: ja, Mirambo muesse zurueckbleiben; es sei vorlaeufig in der Sache nichts zu machen als stilliegen und kuehlen. Uebrigens von Bedenklichem keine Rede. Das war nun einigermassen ein Trost, aber schaffte doch die Verlegenheit, wie der Gieshueblersche Schlitten zurueckzufahren sei, nicht aus der Welt, bis Innstetten erklaerte, dass er fuer Mirambo einzutreten und das Zwiegestirn von Doktor und Apotheker persoenlich gluecklich heimzusteuern gedenke. Lachend und unter ziemlich angeheiterten Scherzen gegen den verbindlichsten aller Landraete, der sich, um hilfreich zu sein, sogar von seiner jungen Frau trennen wolle, wurde dem Vorschlag zugestimmt, und Innstetten, mit Gieshuebler und dem Doktor im Fond, nahm jetzt wieder die Tete. Crampas und Lindequist folgten unmittelbar. Und als gleich danach auch Kruse mit dem landraetlichen Schlitten vorfuhr, trat Sidonie laechelnd an Effi heran und bat diese, da ja nun ein Platz frei sei, mit ihr fahren zu duerfen. "In unserer Kutsche ist es immer so stickig; mein Vater liebt das. Und ausserdem, ich moechte so gerne mit Ihnen plaudern. Aber nur bis Quappendorf. Wo der Morgnitzer Weg abzweigt, steig ich aus und muss dann wieder in unseren unbequemen Kasten. Und Papa raucht auch noch." Effi war wenig erfreut ueber diese Begleitung und haette die Fahrt lieber allein gemacht; aber ihr blieb keine Wahl, und so stieg denn das Fraeulein ein, und kaum dass beide Damen ihre Plaetze genommen hatten, so gab Kruse den Pferden auch schon einen Peitschenknips, und von der oberfoersterlichen Rampe her, von der man einen praechtigen Ausblick auf das Meer hatte, ging es die ziemlich steile Duene hinunter auf den Strandweg zu, der, eine Meile lang, in beinahe gerader Linie bis an das Kessiner Strandhotel und von dort aus, rechts einbiegend, durch die Plantage hin in die Stadt fuehrte. Der Schneefall hatte schon seit ein paar Stunden aufgehoert, die Luft war frisch, und auf das weite dunkelnde Meer fiel der matte Schein der Mondsichel. Kruse fuhr hart am Wasser hin, mitunter den Schaum der Brandung durchschneidend, und Effi, die etwas froestelte, wickelte sich fester in ihren Mantel und schwieg noch immer und mit Absicht. Sie wusste recht gut, dass das mit der "stickigen Kutsche" bloss ein Vorwand gewesen und dass sich Sidonie nur zu ihr gesetzt hatte, um ihr etwas Unangenehmes zu sagen. Und das kam immer noch frueh genug. Zudem war sie wirklich muede, vielleicht von dem Spaziergange im Walde, vielleicht auch von dem oberfoersterlichen Punsch, dem sie, auf Zureden der neben ihr sitzenden Frau von Flemming, tapfer zugesprochen hatte. Sie tat denn auch, als ob sie schliefe, schloss die Augen und neigte den Kopf immer mehr nach links. "Sie sollten sich nicht so sehr nach links beugen, meine gnaedigste Frau. Faehrt der Schlitten auf einen Stein, so fliegen Sie hinaus. Ihr Schlitten hat ohnehin kein Schutzleder und, wie ich sehe, auch nicht einmal die Haken dazu." "Ich kann die Schutzleder nicht leiden; sie haben so was Prosaisches. Und dann, wenn ich hinausfloege, mir waer es recht, am liebsten gleich in die Brandung. Freilich ein etwas kaltes Bad, aber was tut's ... Uebrigens, hoeren Sie nichts?" "Nein." "Hoeren Sie nicht etwas wie Musik?" "Orgel?" "Nein, nicht Orgel. Da wuerd ich denken, es sei das Meer. Aber es ist etwas anderes, ein unendlich feiner Ton, fast wie menschliche Stimme ..." "Das sind Sinnestaeuschungen", sagte Sidonie, die jetzt den richtigen Einsetzmoment gekommen glaubte. "Sie sind nervenkrank. Sie hoeren Stimmen. Gebe Gott, dass Sie auch die richtige Stimme hoeren." "Ich hoere ... nun, gewiss, es ist Torheit, ich weiss, sonst wuerd ich mir einbilden, ich haette die Meerfrauen singen hoeren ... Aber, ich bitte Sie, was ist das? Es blitzt ja bis hoch in den Himmel hinauf. Das muss ein Nordlicht sein." "Ja", sagte Sidonie. "Gnaedigste Frau tun ja, als ob es ein Weltwunder waere. Das ist es nicht. Und wenn es dergleichen waere, wir haben uns vor Naturkultus zu hueten. Uebrigens ein wahres Glueck, dass wir ausser Gefahr sind, unsern Freund Oberfoerster, diesen eitelsten aller Sterblichen, ueber dies Nordlicht sprechen zu hoeren. Ich wette, dass er sich einbilden wuerde, das tue ihm der Himmel zu Gefallen, um sein Fest noch festlicher zu machen. Er ist ein Narr. Gueldenklee konnte Besseres tun, als ihn feiern. Und dabei spielt er sich auf den Kirchlichen aus und hat auch neulich eine Altardecke geschenkt. Vielleicht, dass Cora daran mitgestickt hat. Diese Unechten sind schuld an allem, denn ihre Weltlichkeit liegt immer obenauf und wird denen mit angerechnet, die's ernst mit dem Heil ihrer Seele meinen." "Es ist so schwer, ins Herz zu sehen!" "Ja. Das ist es. Aber bei manchem ist es auch ganz leicht." Und dabei sah sie die junge Frau mit beinahe ungezogener Eindringlichkeit an. Effi schwieg und wandte sich ungeduldig zur Seite. "Bei manchem, sag ich, ist es ganz leicht", wiederholte Sidonie, die ihren Zweck erreicht hatte und deshalb ruhig laechelnd fortfuhr. "Und zu diesen leichten Raetseln gehoert unser Oberfoerster. Wer seine Kinder so erzieht, den beklag ich, aber das eine Gute hat es, es liegt bei ihm alles klar da. Und wie bei ihm selbst, so bei den Toechtern. Cora geht nach Amerika und wird Millionaerin oder Methodistenpredigerin; in jedem Fall ist sie verloren. Ich habe noch keine Vierzehnjaehrige gesehen ..." In diesem Augenblick hielt der Schlitten, und als sich beide Damen umsahen, um in Erfahrung zu bringen, was es denn eigentlich sei, bemerkten sie, dass rechts von ihnen, in etwa dreissig Schritt Abstand, auch die beiden anderen Schlitten hielten - am weitesten nach rechts der von Innstetten gefuehrte, naeher heran der Crampassche. "Was ist?" fragte Effi. Kruse wandte sich halb herum und sagte: "Der Schloon, gnaed'ge Frau." "Der Schloon? Was ist das? Ich sehe nichts." Kruse wiegte den Kopf hin und her, wie wenn er ausdruecken wollte, dass die Frage leichter gestellt als beantwortet sei. Worin er auch recht hatte. Denn was der Schloon sei, das war nicht so mit drei Worten zu sagen. Kruse fand aber in seiner Verlegenheit alsbald Hilfe bei dem gnaedigen Fraeulein, das hier mit allem Bescheid wusste und natuerlich auch mit dem Schloon. "Ja, meine gnaedigste Frau", sagte Sidonie, "da steht es schlimm. Fuer mich hat es nicht viel auf sich, ich komme bequem durch; denn wenn erst die Wagen heran sind, die haben hohe Raeder, und unsere Pferde sind ausserdem daran gewoehnt. Aber mit solchem Schlitten ist es was anderes; die versinken im Schloon, und Sie werden wohl oder uebel einen Umweg machen muessen." "Versinken! Ich bitte Sie, mein gnaedigstes Fraeulein, ich sehe noch immer nicht klar. Ist denn der Schloon ein Abgrund oder irgendwas, drin man mit Mann und Maus zugrunde gehen muss? Ich kann mir so was hierzulande gar nicht denken." "Und doch ist es so was, nur freilich im kleinen; dieser Schloon ist eigentlich bloss ein kuemmerliches Rinnsal, das hier rechts vom Gothener See herunterkommt und sich durch die Duenen schleicht. Und im Sommer trocknet es mitunter ganz aus, und Sie fahren dann ruhig drueber hin und wissen es nicht einmal." "Und im Winter?" "Ja, im Winter, da ist es was anderes; nicht immer, aber doch oft. Da wird es dann ein Sog." "Mein Gott, was sind das nur alles fuer Namen und Woerter!" "... Da wird es ein Sog, und am staerksten immer dann, wenn der Wind nach dem Lande hin steht. Dann drueckt der Wind das Meerwasser in das kleine Rinnsal hinein, aber nicht so, dass man es sehen kann. Und das ist das Schlimmste von der Sache, darin steckt die eigentliche Gefahr. Alles geht naemlich unterirdisch vor sich, und der ganze Strandsand ist dann bis tief hinunter mit Wasser durchsetzt und gefuellt. Und wenn man dann ueber solche Sandstelle weg will, die keine mehr ist, dann sinkt man ein, als ob es ein Sumpf oder ein Moor waere." "Das kenn ich", sagte Effi lebhaft. "Das ist wie in unsrem Luch", und inmitten all ihrer Aengstlichkeit wurde ihr mit einem Male ganz wehmuetig freudig zu Sinn. Waehrend das Gespraech noch so ging und sich fortsetzte, war Crampas aus seinem Schlitten ausgestiegen und auf den am aeussersten Fluegel haltenden Gieshueblerschen zugeschritten, um hier mit Innstetten zu verabreden, was nun wohl eigentlich zu tun sei. Knut, so meldete er, wolle die Durchfahrt riskieren, aber Knut sei dumm und verstehe nichts von der Sache; nur solche, die hier zu Hause seien, muessten die Entscheidung treffen. Innstetten - sehr zu Crampas' Ueberraschung - war auch fuers "Riskieren", es muesse durchaus noch mal versucht werden ... er wisse schon, die Geschichte wiederholte sich jedesmal: Die Leute hier haetten einen Aberglauben und vorweg eine Furcht, waehrend es doch eigentlich wenig zu bedeuten habe. Nicht Knut, der wisse nicht Bescheid, wohl aber Kruse solle noch einmal einen Anlauf nehmen und Crampas derweilen bei den Damen einsteigen (ein kleiner Ruecksitz sei ja noch da), um bei der Hand zu sein, wenn der Schlitten umkippe. Das sei doch schliesslich das Schlimmste, was geschehen koenne. Mit dieser Innstettenschen Botschaft erschien jetzt Crampas bei den beiden Damen und nahm, als er lachend seinen Auftrag ausgefuehrt hatte, ganz nach empfangener Order den kleinen Sitzplatz ein, der eigentlich nichts als eine mit Tuch ueberzogene Leiste war, und rief Kruse zu: "Nun, vorwaerts, Kruse." Dieser hatte denn auch die Pferde bereits um hundert Schritte zurueckgezoppt und hoffte, scharf anfahrend, den Schlitten gluecklich durchbringen zu koennen; im selben Augenblick aber, wo die Pferde den Schloon auch nur beruehrten, sanken sie bis ueber die Knoechel in den Sand ein, so dass sie nur mit Muehe nach rueckwaerts wieder heraus konnten. "Es geht nicht", sagte Crampas, und Kruse nickte. Waehrend sich dies abspielte, waren endlich auch die Kutschen herangekommen, die Grasenabbsche vorauf, und als Sidonie, nach kurzem Dank gegen Effi, sich verabschiedet und dem seine tuerkische Pfeife rauchenden Vater gegenueber ihren Rueckplatz eingenommen hatte, ging es mit dem Wagen ohne weiteres auf den Schloon zu; die Pferde sanken tief ein, aber die Raeder liessen alle Gefahr leicht ueberwinden, und ehe eine halbe Minute vorueber war, trabten auch schon die Grasenabbs drueben weiter. Die andern Kutschen folgten. Effi sah ihnen nicht ohne Neid nach. Indessen nicht lange, denn auch fuer die Schlittenfahrer war in der zwischenliegenden Zeit Rat geschafft worden, und zwar einfach dadurch, dass sich Innstetten entschlossen hatte, statt aller weiteren Forcierung das friedlichere Mittel eines Umwegs zu waehlen. Also genau das, was Sidonie gleich anfangs in Sicht gestellt hatte. Vom rechten Fluegel her klang des Landrats bestimmte Weisung herueber, vorlaeufig diesseits zu bleiben und ihm durch die Duenen hin bis an eine weiter hinauf gelegene Bohlenbruecke zu folgen. Als beide Kutscher, Knut und Kruse, so verstaendigt waren, trat der Major, der, um Sidonie zu helfen, gleichzeitig mit dieser ausgestiegen war, wieder an Effi heran und sagte: "Ich kann Sie nicht allein lassen, gnaed'ge Frau." Effi war einen Augenblick unschluessig, rueckte dann aber rasch von der einen Seite nach der anderen hinueber, und Crampas nahm links neben ihr Platz. All dies haette vielleicht missdeutet werden koennen, Crampas selbst aber war zu sehr Frauenkenner, um es sich bloss in Eitelkeit zurechtzulegen. Er sah deutlich, dass Effi nur tat, was nach Lage der Sache das einzig Richtige war. Es war unmoeglich fuer sie, sich seine Gegenwart zu verbitten. Und so ging es denn im Fluge den beiden anderen Schlitten nach, immer dicht an dem Wasserlauf hin, an dessen anderem Ufer dunkle Waldmassen aufragten. Effi sah hinueber und nahm an, dass schliesslich an dem landeinwaerts gelegenen Aussenrand des Waldes hin die Weiterfahrt gehen wuerde, genau also den Weg entlang, auf dem man in frueher Nachmittagsstunde gekommen war. Innstetten aber hatte sich inzwischen einen anderen Plan gemacht, und im selben Augenblick, wo sein Schlitten die Bohlenbruecke passierte, bog er, statt den Aussenweg zu waehlen, in einen schmaleren Weg ein, der mitten durch die dichte Waldmasse hindurchfuehrte. Effi schrak zusammen. Bis dahin waren Luft und Licht um sie her gewesen, aber jetzt war es damit vorbei, und die dunklen Kronen woelbten sich ueber ihr. Ein Zittern ueberkam sie, und sie schob die Finger fest ineinander, um sich einen Halt zu geben Gedanken und Bilder jagten sich, und eines dieser Bilder war das Muetterchen in dem Gedichte, das die "Gottesmauer" hiess, und wie das Muetterchen, so betete auch sie jetzt, dass Gott eine Mauer um sie her bauen moege. Zwei, drei Male kam es auch ueber ihre Lippen, aber mit einemmal fuehlte sie, dass es tote Worte waren. Sie fuerchtete sich und war doch zugleich wie in einem Zauberbann und wollte auch nicht heraus. "Effi", klang es jetzt leise an ihr Ohr, und sie hoerte, dass seine Stimme zitterte. Dann nahm er ihre Hand und loeste die Finger, die sie noch immer geschlossen hielt, und ueberdeckte sie mit heissen Kuessen. Es war ihr, als wandle sie eine Ohnmacht an. Als sie die Augen wieder oeffnete, war man aus dem Wald heraus, und in geringer Entfernung vor sich hoerte sie das Gelaeut der vorauseilenden Schlitten. Immer vernehmlicher klang es, und als man, dicht vor Utpatels Muehle, von den Duenen her in die Stadt einbog, lagen rechts die kleinen Haeuser mit ihren Schneedaechern neben ihnen. Effi blickte sich um, und im naechsten Augenblick hielt der Schlitten vor dem landraetlichen Hause. Zwanzigstes Kapitel Innstetten, der Effi, als er sie aus dem Schlitten hob, scharf beobachtete, aber doch ein Sprechen ueber die sonderbare Fahrt zu zweien vermieden hatte, war am anderen Morgen frueh auf und suchte seiner Verstimmung, die noch nachwirkte, so gut es ging, Herr zu werden. "Du hast gut geschlafen?" sagte er, als Effi zum Fruehstueck kam. "Ja." "Wohl dir. Ich kann dasselbe von mir nicht sagen. Ich traeumte, dass du mit dem Schlitten im Schloon verunglueckt seist, und Crampas muehte sich, dich zu retten; ich muss es so nennen, aber er versank mit dir." "Du sprichst das alles so sonderbar, Geert. Es verbirgt sich ein Vorwurf dahinter, und ich ahne, weshalb." "Sehr merkwuerdig." "Du bist nicht einverstanden damit, dass Crampas kam und uns seine Hilfe anbot." "Uns?" "Ja, uns. Sidonien und mir. Du musst durchaus vergessen haben, dass der Major in deinem Auftrag kam. Und als er mir erst gegenuebersass, beilaeufig jaemmerlich genug auf der elenden schmalen Leiste, sollte ich ihn da ausweisen, als die Grasenabbs kamen und mit einem Male die Fahrt weiterging? Ich haette mich laecherlich gemacht, und dagegen bist du doch so empfindlich. Erinnere dich, dass wir unter deiner Zustimmung viele Male gemeinschaftlich spazierengeritten sind, und nun sollte ich nicht gemeinschaftlich mit ihm fahren? Es ist falsch, so hiess es bei uns zu Haus, einem Edelmanne Misstrauen zu zeigen." "Einem Edelmanne", sagte Innstetten mit Betonung. "Ist er keiner? Du hast ihn selbst einen Kavalier genannt, sogar einen perfekten Kavalier." "Ja", fuhr Innstetten fort, und seine Stimme wurde freundlicher, trotzdem ein leiser Spott noch darin nachklang. "Kavalier, das ist er, und ein perfekter Kavalier, das ist er nun schon ganz gewiss. Aber Edelmann! Meine liebe Effi, ein Edelmann sieht anders aus. Hast du schon etwas Edles an ihm bemerkt? Ich nicht." Effi sah vor sich hin und schwieg. "Es scheint, wir sind gleicher Meinung. Im uebrigen, wie du schon sagtest, bin ich selber schuld; von einem Fauxpas mag ich nicht sprechen, das ist in diesem Zusammenhang kein gutes Wort. Also selber schuld, und es soll nicht wieder vorkommen, soweit ich's hindern kann. Aber auch du, wenn ich dir raten darf, sei auf deiner Hut. Er ist ein Mann der Ruecksichtslosigkeiten und hat so seine Ansichten ueber junge Frauen. Ich kenne ihn von frueher." "Ich werde mir deine Worte gesagt sein lassen. Nur soviel, ich glaube, du verkennst ihn." "Ich verkenne ihn nicht." "Oder mich", sagte sie mit einer Kraftanstrengung und versuchte seinem Blick zu begegnen. "Auch dich nicht, meine liebe Effi Du bist eine reizende kleine Frau, aber Festigkeit ist nicht eben deine Spezialitaet." Er erhob sich, um zu gehen. Als er bis an die Tuer gegangen war, trat Friedrich ein, um ein Gieshueblersches Billett abzugeben, das natuerlich an die gnaedige Frau gerichtet war. Effi nahm es. "Eine Geheimkorrespondenz mit Gieshueb1er", sagte sie; "Stoff zu neuer Eifersucht fuer meinen gestrengen Herrn. Oder nicht?" "Nein, nicht ganz, meine liebe Effi. Ich begehe die Torheit, zwischen Crampas und Gieshuebler einen Unterschied zu machen. Sie sind sozusagen nicht von gleichem Karat; nach Karat berechnet man naemlich den reinen Goldeswert, unter Umstaenden auch der Menschen. Mir persoenlich, um auch das noch zu sagen, ist Gieshueblers weisses Jabot, trotzdem kein Mensch mehr Jabots traegt, erheblich lieber als Crampas' rot-blonder Sappeurbart. Aber ich bezweifle, dass dies weiblicher Geschmack ist." "Du haeltst uns fuer schwaecher, als wir sind." "Eine Troestung von praktisch ausserordentlicher Geringfuegigkeit. Aber lassen wir das. Lies lieber." Und Effi las: "Darf ich mich nach der gnaed'gen Frau Befinden erkundigen? Ich weiss nur, dass Sie dem Schloon gluecklich entronnen sind; aber es blieb auch durch den Wald immer noch Faehrlichkeit genug. Eben kommt Doktor Hannemann von Uvagla zurueck und beruhigt mich ueber Mirambo; gestern habe er die Sache fuer bedenklicher angesehen, als er uns habe sagen wollen, heute nicht mehr. Es war eine reizende Fahrt. - In drei Tagen feiern wir Silvester. Auf eine Festlichkeit wie die vorjaehrige muessen wir verzichten; aber einen Ball haben wir natuerlich, und Sie erscheinen zu sehen wuerde die Tanzwelt begluecken und nicht am wenigsten Ihren respektvollst ergebenen Alonzo G." Effi lachte. "Nun, was sagst du?" "Nach wie vor nur das eine, dass ich dich lieber mit Gieshuebler als mit Crampas sehe." "Weil du den Crampas zu schwer und den Gieshuebler zu leicht nimmst." Innstetten drohte ihr scherzhaft mit dem Finger. Drei Tage spaeter war Silvester. Effi erschien in einer reizenden Balltoilette, einem Geschenk, das ihr der Weihnachtstisch gebracht hatte; sie tanzte aber nicht, sondern nahm ihren Platz bei den alten Damen, fuer die, ganz in der Naehe der Musikempore, die Fauteuils gestellt waren. Von den adligen Familien, mit denen Innstettens vorzugsweise verkehrten, war niemand da, weil kurz vorher ein kleines Zerwuerfnis mit dem staedtischen Ressourcenvorstand, der, namentlich seitens des alten Gueldenklee, mal wieder "destruktiver Tendenzen" beschuldigt worden war, stattgefunden hatte; drei, vier andere adlige Familien aber, die nicht Mitglieder der Ressource, sondern immer nur geladene Gaeste waren und deren Gueter an der anderen Seite der Kessine lagen, waren aus zum Teil weiter Entfernung ueber das Flusseis gekommen und freuten sich, an dem Fest teilnehmen zu koennen. Effi sass zwischen der alten Ritterschaftsraetin von Padden und einer etwas juengeren Frau von Titzewitz. Die Ritterschaftsraetin, eine vorzuegliche alte Dame, war in allen Stuecken ein Original und suchte das, was die Natur, besonders durch starke Backenknochenbildung, nach der wendisch-heidnischen Seite hin fuer sie getan hatte, durch christlich-germanische Glaubensstrenge wieder in Ausgleich zu bringen. In dieser Strenge ging sie so weit, dass selbst Sidonie von Grasenabb eine Art Esprit fort neben ihr war, wogegen sie freilich - vielleicht weil sich die Radegaster und die Swantowiter Linie des Hauses in ihr vereinigten - ueber jenen alten Paddenhumor verfuegte, der von langer Zeit her wie ein Segen auf der Familie ruhte und jeden, der mit derselben in Beruehrung kam, auch wenn es Gegner in Politik und Kirche waren, herzlich erfreute. "Nun, Kind", sagte die Ritterschaftsraetin, "wie geht es Ihnen denn eigentlich?" "Gut, gnaedigste Frau; ich habe einen sehr ausgezeichneten Mann." "Weiss ich. Aber das hilft nicht immer. Ich hatte auch einen ausgezeichneten Mann. Wie steht es hier? Keine Anfechtungen?" Effi erschrak und war zugleich wie geruehrt. Es lag etwas ungemein Erquickliches in dem freien und natuerlichen Ton, in dem die alte Dame sprach, und dass es eine so fromme Frau war, das machte die Sache nur noch erquicklicher. "Ach, gnaedigste Frau ..." "Da kommt es schon. Ich kenne das. Immer dasselbe. Darin aendern die Zeiten nichts. Und vielleicht ist es auch recht gut so. Denn worauf es ankommt, meine liebe junge Frau, das ist das Kaempfen. Man muss immer ringen mit dem natuerlichen Menschen. Und wenn man sich dann so unter hat und beinah schreien moechte, weil's weh tut, dann jubeln die lieben Engel!" "Ach, gnaedigste Frau. Es ist oft recht schwer." "Freilich ist es schwer. Aber je schwerer, desto besser. Darueber muessen Sie sich freuen. Das mit dem Fleisch, das bleibt, und ich habe Enkel und Enkelinnen, da seh ich es jeden Tag. Aber im Glauben sich unterkriegen, meine liebe Frau, darauf kommt es an, das ist das Wahre. Das hat uns unser alter Martin Luther zur Erkenntnis gebracht, der Gottesmann. Kennen Sie seine Tischreden?" "Nein, gnaedigste Frau." "Die werde ich Ihnen schicken." In diesem Augenblick trat Major Crampas an Effi heran und bat, sich nach ihrem Befinden erkundigen zu duerfen. Effi war wie mit Blut uebergossen; aber ehe sie noch antworten konnte, sagte Crampas: "Darf ich Sie bitten, gnaedigste Frau, mich den Damen vorstellen zu wollen?" Effi nannte nun Crampas' Namen, der seinerseits schon vorher vollkommen orientiert war und in leichtem Geplauder alle Paddens und Titzewitze, von denen er je gehoert hatte, Revue passieren liess. Zugleich entschuldigte er sich, den Herrschaften jenseits der Kessine noch immer nicht seinen Besuch gemacht und seine Frau vorgestellt zu haben; aber es sei sonderbar, welche trennende Macht das Wasser habe. Es sei dasselbe wie mit dem Canal La Manche ... "Wie?" fragte die alte Titzewitz. Crampas seinerseits hielt es fuer unangebracht, Aufklaerungen zu geben, die doch zu nichts gefuehrt haben wuerden, und fuhr fort: "Auf zwanzig Deutsche, die nach Frankreich gehen, kommt noch nicht einer, der nach England geht. Das macht das Wasser; ich wiederhole, das Wasser hat eine scheidende Kraft." Frau von Padden, die darin mit feinem Instinkt etwas Anzuegliches witterte, wollte fuer das Wasser eintreten, Crampas aber sprach mit immer wachsendem Redefluss weiter und lenkte die Aufmerksamkeit der Damen auf ein schoenes Fraeulein von Stojentin, "das ohne Zweifel die Ballkoenigin" sei, wobei sein Blick uebrigens Effi bewundernd streifte. Dann empfahl er sich rasch unter Verbeugung gegen alle drei. "Schoener Mann", sagte die Padden. "Verkehrt er in Ihrem Hause?" "Fluechtig." "Wirklich", wiederholte die Padden, "ein schoener Mann. Ein bisschen zu sicher. Und Hochmut kommt vor dem Fall ... Aber sehen Sie nur, da tritt er wirklich mit der Grete Stojentin an. Eigentlich ist er doch zu alt; wenigstens Mitte Vierzig." "Er wird vierundvierzig." "Ei, ei, Sie scheinen ihn ja gut zu kennen." Es kam Effi sehr zupass, dass das neue Jahr gleich in seinem Anfang allerlei Aufregungen brachte. Seit Silvesternacht ging ein scharfer Nordost, der sich in den naechsten Tagen fast bis zum Sturm steigerte, und am 3. Januar nachmittags hiess es, dass ein Schiff draussen mit der Einfahrt nicht zustande gekommen und hundert Schritt vor der Mole gescheitert sei; es sei ein englisches, von Sunderland her, und soweit sich erkennen lasse, sieben Mann an Bord; die Lotsen koennten beim Ausfahren, trotz aller Anstrengung, nicht um die Mole herum, und vom Strand aus ein Boot abzulassen, daran sei nun vollends nicht zu denken, die Brandung sei viel zu stark. Das klang traurig genug. Aber Johanna, die die Nachricht brachte, hatte doch auch Trost bei der Hand: Konsul Eschrich, mit dem Rettungsapparat und der Raketenbatterie, sei schon unterwegs, und es wuerde gewiss gluecken; die Entfernung sei nicht voll so weit wie Anno 75, wo's doch auch gegangen, und sie haetten damals sogar den Pudel mit gerettet, und es waere ordentlich ruehrend gewesen, wie sich das Tier gefreut und die Kapitaensfrau und das liebe kleine Kind, nicht viel groesser als Anniechen, immer wieder mit seiner roten Zunge geleckt habe. "Geert, da muss ich mit hinaus, das muss ich sehen", hatte Effi sofort erklaert, und beide waren aufgebrochen, um nicht zu spaet zu kommen, und hatten denn auch den rechten Moment abgepasst; denn im Augenblick, als sie von der Plantage her den Strand erreichten, fiel der erste Schuss, und sie sahen ganz deutlich, wie die Rakete mit dem Fangseil unter dem Sturmgewoelk hinflog und ueber das Schiff hinweg jenseits niederfiel. Alle Haende regten sich sofort an Bord, und nun holten sie mit Hilfe der kleinen Leine das dickere Tau samt dem Korb heran, und nicht lange, so kam der Korb in einer Art Kreislauf wieder zurueck, und einer der Matrosen, ein schlanker, bildhuebscher Mensch mit einer wachsleinenen Kappe, war geborgen an Land und wurde neugierig ausgefragt, waehrend der Korb aufs neue seinen Weg machte, zunaechst den zweiten und dann den dritten heranzuholen und so fort. Alle wurden gerettet, und Effi haette sich, als sie nach einer halben Stunde mit ihrem Manne wieder heimging, in die Duenen werfen und sich ausweinen moegen. Ein schoenes Gefuehl hatte wieder Platz in ihrem Herzen gefunden, und es beglueckte sie unendlich, dass es so war. Das war am 3. gewesen. Schon am 5. kam ihr eine neue Aufregung, freilich ganz anderer Art. Innstetten hatte Gieshuebler, der natuerlich auch Stadtrat und Magistratsmitglied war, beim Herauskommen aus dem Rathaus getroffen und im Gespraech mit ihm erfahren, dass seitens des Kriegsministeriums angefragt worden sei, wie sich die Stadtbehoerden eventuell zur Garnisonsfrage zu stellen gedaechten. Bei noetigem Entgegenkommen, also bei Bereitwilligkeit zu Stall- und Kasernenbauten, koennten ihnen zwei Schwadronen Husaren zugesagt werden. "Nun, Effi, was sagst du dazu?" Effi war wie benommen. All das unschuldige Glueck ihrer Kinderjahre stand mit einemmal wieder vor ihrer Seele, und im Augenblick war es ihr, als ob rote Husaren - denn es waren auch rote wie daheim in Hohen-Cremmen - so recht eigentlich die Hueter von Paradies und Unschuld seien. Und dabei schwieg sie noch immer. "Du sagst ja nichts, Effi." "Ja, sonderbar, Geert. Aber es beglueckt mich so, dass ich vor Freude nichts sagen kann. Wird es denn auch sein? Werden sie denn auch kommen?" "Damit hat's freilich noch gute Wege, ja, Gieshuebler meinte sogar, die Vaeter der Stadt, seine Kollegen, verdienten es gar nicht. Statt einfach ueber die Ehre, und wenn nicht ueber die Ehre, so doch wenigstens ueber den Vorteil einig und gluecklich zu sein, waeren sie mit allerlei 'Wenns' und 'Abers' gekommen und haetten geknausert wegen der neuen Bauten: Ja, Pefferkuechler Michelsen habe sogar gesagt, es verderbe die Sitten der Stadt, und wer eine Tochter habe, der moege sich vorsehen und Gitterfenster anschaffen. "Es ist nicht zu glauben. Ich habe nie manierlichere Leute gesehen als unsere Husaren; wirklich, Geert. Nun, du weisst es ja selbst. Und nun will dieser Michelsen alles vergittern. Hat er denn Toechter?" "Gewiss; sogar drei. Aber sie sind saemtlich hors concours." Effi lachte so herzlich, wie sie seit langem nicht mehr gelacht hatte. Doch es war von keiner Dauer, und als Innstetten ging und sie allein liess, setzte sie sich an die Wiege des Kindes, und ihre Traenen fielen auf die Kissen. Es brach wieder ueber sie herein, und sie fuehlte, dass sie wie eine Gefangene sei und nicht mehr heraus koenne. Sie litt schwer darunter und wollte sich befreien. Aber wiewohl sie starker Empfindungen faehig war, so war sie doch keine starke Natur; ihr fehlte die Nachhaltigkeit, und alle guten Anwandlungen gingen wieder vorueber. So trieb sie denn weiter, heute, weil sie's nicht aendern konnte, morgen, weil sie's nicht aendern wollte. Das Verbotene, das Geheimnisvolle hatte seine Macht ueber sie. So kam es, dass sie sich, von Natur frei und offen, in ein verstecktes Komoedienspiel mehr und mehr hineinlebte. Mitunter erschrak sie, wie leicht es ihr wurde. Nur in einem blieb sie sich gleich: Sie sah alles klar und beschoenigte nichts. Einmal trat sie spaetabends vor den Spiegel in ihrer Schlafstube; die Lichter und Schatten flogen hin und her, und Rollo schlug draussen an, und im selben Augenblick war es ihr, als saehe ihr wer ueber die Schulter. Aber sie besann sich rasch. "Ich weiss schon, was es ist; es war nicht der", und sie wies mit dem Finger nach dem Spukzimmer oben. "Es war was anderes ... mein Gewissen ... Effi, du bist verloren." Es ging aber doch weiter so, die Kugel war im Rollen, und was an einem Tage geschah, machte das Tun des andern zur Notwendigkeit. Um die Mitte des Monats kamen Einladungen aufs Land. Ueber die dabei innezuhaltende Reihenfolge hatten sich die vier Familien, mit denen Innstettens vorzugsweise verkehrten, geeinigt: Die Borckes sollten beginnen, die Flemmings und Grasenabbs folgten, die Gueldenklees schlossen ab. Immer eine Woche dazwischen. Alle vier Einladungen kamen am selben Tag; sie sollten ersichtlich den Eindruck des Ordentlichen und Wohlerwogenen machen, auch wohl den einer besonderen freundschaftlichen Zusammengehoerigkeit. "Ich werde nicht dabeisein, Geert, und du musst mich der Kur halber, in der ich nun seit Wochen stehe, von vornherein entschuldigen." Innstetten lachte. "Kur. Ich soll es auf die Kur schieben. Das ist das Vorgebliche; das Eigentliche heisst: du willst nicht." "Nein, es ist doch mehr Ehrlichkeit dabei, als du zugeben willst. Du hast selbst gewollt, dass ich den Doktor zu Rate ziehe. Das hab ich getan, und nun muss ich doch seinem Rat folgen. Der gute Doktor, er haelt mich fuer bleichsuechtig, sonderbar genug, und du weisst, dass ich jeden Tag von dem Eisenwasser trinke. Wenn du dir ein Borckesches Diner dazu vorstellst, vielleicht mit Presskopf und Aal in Aspik, so musst du den Eindruck haben, es waere mein Tod. Und so wirst du dich doch zu deiner Effi nicht stellen wollen. Freilich, mitunter ist es mir ..." "Ich bitte dich, Effi ..." "... Uebrigens freu ich mich, und das ist das einzige Gute dabei, dich jedesmal, wenn du faehrst, eine Strecke Wegs begleiten zu koennen, bis an die Muehle gewiss oder bis an den Kirchhof oder auch bis an die Waldecke, da, wo der Morgnitzer Querweg einmuendet. Und dann steig ich ab und schlendere wieder zurueck. In den Duenen ist es immer am schoensten." Innstetten war einverstanden, und als drei Tage spaeter der Wagen vorfuhr, stieg Effi mit auf und gab ihrem Manne das Geleit bis an die Waldecke. "Hier lass halten, Geert. Du faehrst nun links weiter, ich gehe rechts bis an den Strand und durch die Plantage zurueck. Es ist etwas weit, aber doch nicht zu weit. Doktor Hannemann sagt mir jeden Tag, Bewegung sei alles, Bewegung und frische Luft. Und ich glaube beinah, dass er recht hat. Empfiehl mich all den Herrschaften; nur bei Sidonie kannst du schweigen." Die Fahrten, auf denen Effi ihren Gatten bis an die Waldecke begleitete, wiederholten sich allwoechentlich; aber auch in der zwischenliegenden Zeit hielt Effi darauf, dass sie der aerztlichen Verordnung streng nachkam. Es verging kein Tag, wo sie nicht ihren vorgeschriebenen Spaziergang gemacht haette, meist nachmittags, wenn sich Innstetten in seine Zeitungen zu vertiefen begann. Das Wetter war schoen, eine milde, frische Luft, der Himmel bedeckt. Sie ging in der Regel allein und sagte zu Roswitha: "Roswitha, ich gehe nun also die Chaussee hinunter und dann rechts an den Platz mit dem Karussell; da will ich auf dich warten, da hole mich ab. Und dann gehen wir durch die Birkenallee oder durch die Reeperbahn wieder zurueck. Aber komme nur, wenn Annie schlaeft. Und wenn sie nicht schlaeft, so schicke Johanna. Oder lass es lieber ganz; es ist nicht noetig, ich finde mich schon zurecht." Den ersten Tag, als es so verabredet war, trafen sie sich auch wirklich. Effi sass auf einer an einem langen Holzschuppen sich hinziehenden Bank und sah nach einem niedrigen Fachwerkhaus hinueber, gelb mit schwarzgestrichenen Balken, einer Wirtschaft fuer kleine Buerger, die hier ihr Glas Bier tranken oder Solo spielten. Es dunkelte noch kaum, die Fenster aber waren schon hell, und ihr Lichtschimmer fiel auf die Schneemassen und etliche zur Seite stehende Baeume. "Sieh, Roswitha, wie schoen das aussieht." Ein paar Tage wiederholte sich das. Meist aber, wenn Roswitha bei dem Karussell und dem Holzschuppen ankam, war niemand da, und wenn sie dann zurueckkam und in den Hausflur eintrat, kam ihr Effi schon entgegen und sagte: "Wo du nur bleibst, Roswitha, ich bin schon lange wieder hier." In dieser Art ging es durch Wochen hin. Das mit den Husaren hatte sich wegen der Schwierigkeiten, die die Buergerschaft machte, so gut wie zerschlagen; aber da die Verhandlungen noch nicht geradezu abgeschlossen waren und neuerdings durch eine andere Behoerde, das Generalkommando, gingen, so war Crampas nach Stettin berufen worden, wo man seine Meinung in dieser Angelegenheit hoeren wollte. Von dort schrieb er den zweiten Tag an Innstetten: "Pardon, Innstetten, dass ich mich auf franzoesisch empfohlen. Es kam alles so schnell. Ich werde uebrigens die Sache hinauszuspinnen suchen, denn man ist froh, einmal draussen zu sein. Empfehlen Sie mich der gnaedigen Frau, meiner liebenswuerdigen Goennerin." Er las es Effi vor. Diese blieb ruhig. Endlich sagte sie: "Es ist recht gut so." "Wie meinst du das?" "Dass er fort ist. Er sagt eigentlich immer dasselbe. Wenn er wieder da ist, wird er wenigstens voruebergehend was Neues zu sagen haben." Innstettens Blick flog scharf ueber sie hin. Aber er sah nichts, und sein Verdacht beruhigte sich wieder. "Ich will auch fort", sagte er nach einer Weile, "sogar nach Berlin; vielleicht kann ich dann, wie Crampas, auch mal was Neues mitbringen. Meine liebe Effi will immer gern was Neues hoeren; sie langweilt sich in unserm guten Kessin. Ich werde gegen acht Tage fort sein, vielleicht noch einen Tag laenger. Und aengstige dich nicht ... es wird ja wohl nicht wiederkommen ... du weisst schon, das da oben ... Und wenn doch, du hast ja Rollo und Roswitha." Effi laechelte vor sich hin, und es mischte sich etwas von Wehmut mit ein. Sie musste des Tages gedenken, wo Crampas ihr zum erstenmal gesagt hatte, dass er mit dem Spuk und ihrer Furcht eine Komoedie spiele. Der grosse Erzieher! Aber hatte er nicht recht? War die Komoedie nicht am Platz? Und allerhand Widerstreitendes, Gutes und Boeses, ging ihr durch den Kopf. Den dritten Tag reiste Innstetten ab. Ueber das, was er in Berlin vorhabe, hatte er nichts gesagt. Einundzwanzigstes Kapitel Innstetten war erst vier Tage fort, als Crampas von Stettin wieder eintraf und die Nachricht brachte, man haette hoeheren Orts die Absicht, zwei Schwadronen nach Kessin zu legen, endgueltig fallenlassen; es gaebe so viele kleine Staedte, die sich um eine Kavalleriegarnison, und nun gar um Bluechersche Husaren, bewuerben, dass man gewohnt sei, bei solchem Anerbieten einem herzlichen Entgegenkommen, aber nicht einem zoegernden zu begegnen. Als Crampas das mitteilte, machte der Magistrat ein ziemlich verlegenes Gesicht; nur Gieshuebler, weil er der Philisterei seiner Kollegen eine Niederlage goennte, triumphierte. Seitens der kleinen Leute griff beim Bekanntwerden der Nachricht eine gewisse Verstimmung Platz, ja selbst einige Konsuls mit Toechtern waren momentan unzufrieden; im ganzen aber kam man rasch ueber die Sache hin, vielleicht weil die nebenherlaufende Frage, was Innstetten in Berlin vorhabe, die Kessiner Bevoelkerung oder doch wenigstens die Honoratiorenschaft der Stadt mehr interessierte. Diese wollte den ueberaus wohl gelittenen Landrat nicht gern verlieren, und doch gingen darueber ganz ausschweifende Geruechte, die von Gieshuebler, wenn er nicht ihr Erfinder war, wenigstens genaehrt und weiterverbreitet wurden. Unter anderem hiess es, Innstetten wuerde als Fuehrer einer Gesandtschaft nach Marokko gehen, und zwar mit Geschenken, unter denen nicht bloss die herkoemmliche Vase mit Sanssouci und dem Neuen Palais, sondern vor allem auch eine grosse Eismaschine sei. Das letztere erschien mit Ruecksicht auf die marokkanischen Temperaturverhaeltnisse so wahrscheinlich, dass das Ganze geglaubt wurde. Effi hoerte auch davon. Die Tage, wo sie sich darueber erheitert haette, lagen noch nicht allzuweit zurueck; aber in der Seelenstimmung, in der sie sich seit Schluss des Jahres befand, war sie nicht mehr faehig, unbefangen und ausgelassen ueber derlei Dinge zu lachen. Ihre Gesichtszuege hatten einen ganz anderen Ausdruck angenommen, und das halb ruehrend, halb schelmisch Kindliche, was sie noch als Frau gehabt hatte, war hin. Die Spaziergaenge nach dem Strand und der Plantage, die sie, waehrend Crampas in Stettin war, aufgegeben hatte, nahm sie nach seiner Rueckkehr wieder auf und liess sich auch durch unguenstige Witterung nicht davon abhalten. Es wurde wie frueher bestimmt, dass ihr Roswitha bis an den Ausgang der Reeperbahn oder bis in die Naehe des Kirchhofs entgegenkommen solle, sie verfehlten sich aber noch haeufiger als frueher. "Ich koennte dich schelten, Roswitha, dass du mich nie findest. Aber es hat nichts auf sich; ich aengstige mich nicht mehr, auch nicht einmal am Kirchhof, und im Wald bin ich noch keiner Menschenseele begegnet." Es war am Tage vor Innstettens Rueckkehr von Berlin, dass Effi das sagte. Roswitha machte nicht viel davon und beschaeftigte sich lieber damit, Girlanden ueber den Tueren anzubringen; auch der Haifisch bekam einen Fichtenzweig und sah noch merkwuerdiger aus als gewoehnlich. Effi sagte: "Das ist recht, Roswitha; er wird sich freuen ueber all das Gruen, wenn er morgen wieder da ist. Ob ich heute wohl noch gehe? Doktor Hannemann besteht darauf und meint in einem fort, ich naehme es nicht ernst genug, sonst muesste ich besser aussehen; ich habe aber keine rechte Lust heut, es nieselt, und der Himmel ist so grau." "Ich werde der gnaed'gen Frau den Regenmantel bringen." "Das tu! Aber komme heute nicht nach, wir treffen uns ja doch nicht", und sie lachte. "Wirklich, du bist gar nicht findig, Roswitha. Und ich mag nicht, dass du dich erkaeltest, und alles um nichts." Roswitha blieb denn auch zu Haus, und weil Annie schlief, ging sie zu Kruses, um mit der Frau zu plaudern. "Liebe Frau Kruse", sagte sie, "Sie wollten mir ja das mit dem Chinesen noch erzaehlen. Gestern kam die Johanna dazwischen, die tut immer so vornehm, fuer die ist so was nichts. Ich glaube aber doch, dass es was gewesen ist, ich meine mit dem Chinesen und mit Thomsens Nichte, wenn es nicht seine Enkelin war." Die Kruse nickte. "Entweder", fuhr Roswitha fort, "war es eine unglueckliche Liebe (die Kruse nickte wieder), oder es kann auch eine glueckliche gewesen sein, und der Chinese konnte es bloss nicht aushalten, dass es alles mit einemmal so wieder vorbei sein sollte. Denn die Chinesen sind doch auch Menschen, und es wird wohl alles ebenso mit ihnen sein wie mit uns." "Alles", versicherte die Kruse und wollte dies eben durch ihre Geschichte bestaetigen, als ihr Mann eintrat und sagte: "Mutter, du koenntest mir die Flasche mit dem Lederlack geben; ich muss doch das Sielenzeug blank haben, wenn der Herr morgen wieder da ist; der sieht alles, und wenn er auch nichts sagt, so merkt man doch, dass er's gesehen hat." "Ich bringe es Ihnen raus, Kruse", sagte Roswitha. "Ihre Frau will mir bloss noch was erzaehlen; aber es ist gleich aus, und dann komm ich und bring es." Roswitha, die Flasche mit dem Lack in der Hand, kam denn auch ein paar Minuten danach auf den Hof hinaus und stellte sich neben das Sielenzeug, das Kruse eben ueber den Gartenzaun gelegt hatte. "Gott", sagte er, waehrend er ihr die Flasche aus der Hand nahm, "viel hilft es ja nicht, es nieselt in einem weg, und die Blaenke vergeht doch wieder. Aber ich denke, alles muss seine Ordnung haben." "Das muss es. Und dann, Kruse, es ist ja doch auch ein richtiger Lack, das kann ich gleich sehen, und was ein richtiger Lack ist, der klebt nicht lange, der muss gleich trocknen. Und wenn es dann morgen nebelt oder nass faellt, dann schadet es nichts mehr. Aber das muss ich doch sagen, das mit dem Chinesen ist eine merkwuerdige Geschichte." Kruse lachte. "Unsinn is es, Roswitha. Und meine Frau, statt aufs Richtige zu sehen, erzaehlt immer so was, un wenn ich ein reines Hemd anziehen will, fehlt ein Knopp. Un so is es nu schon, solange wir hier sind. Sie hat immer bloss solche Geschichten in ihrem Kopp und dazu das schwarze Huhn. Un das schwarze Huhn legt nich mal Eier. Un am Ende, wovon soll es auch Eier legen? Es kommt ja nich ,raus, und vons blosse Kikeriki kann doch so was nich kommen. Das is von keinem Huhn nich zu verlangen." "Hoeren Sie, Kruse, das werde ich Ihrer Frau wiedererzaehlen. Ich habe Sie immer fuer einen anstaendigen Menschen gehalten, und nun sagen Sie so was wie das da von Kikeriki. Die Mannsleute sind doch immer noch schlimmer, als man denkt. Un eigentlich muesst ich nu gleich den Pinsel hier nehmen und Ihnen einen schwarzen Schnurrbart anmalen." "Nu, von Ihnen, Roswitha, kann man sich das schon gefallen lassen", und Kruse, der meist den Wuerdigen spielte, schien in einen mehr und mehr schaekrigen Ton uebergehen zu wollen, als er ploetzlich der gnaedigen Frau ansichtig wurde, die heute von der anderen Seite der Plantage herkam und in ebendiesem Augenblicke den Gartenzaun passierte. "Guten Tag, Roswitha, du bist ja so ausgelassen. Was macht denn Annie?" "Sie schlaeft, gnaed'ge Frau." Aber Roswitha, als sie das sagte, war doch rot geworden und ging, rasch abbrechend, auf das Haus zu, um der gnaedigen Frau beim Umkleiden behilflich zu sein. Denn ob Johanna da war, das war die Frage. Die steckte jetzt viel auf dem "Amt" drueben, weil es zu Haus weniger zu tun gab, und Friedrich und Christel waren ihr zu langweilig und wussten nie was. Annie schlief noch. Effi beugte sich ueber die Wiege, liess sich dann Hut und Regenmantel abnehmen und setzte sich auf das kleine Sofa in ihrer Schlafstube. Das feuchte Haar strich sie langsam zurueck, legte die Fuesse auf einen niedrigen Stuhl, den Roswitha herangeschoben, und sagte, waehrend sie sichtlich das Ruhebehagen nach einem ziemlich langen Spaziergang genoss: "Ich muss dich darauf aufmerksam machen, Roswitha, dass Kruse verheiratet ist." "Ich weiss, gnaed'ge Frau." "Ja, was weiss man nicht alles und handelt doch, als ob man es nicht wuesste. Das kann nie was werden." "Es soll ja auch nichts werden, gnaed'ge Frau ..." "Denn wenn du denkst, sie sei krank, da machst du die Rechnung ohne den Wirt. Die Kranken leben am laengsten. Und dann hat sie das schwarze Huhn. Vor dem huete dich, das weiss alles und plaudert alles aus. Ich weiss nicht, ich habe einen Schauder davor. Und ich wette, dass das alles da oben mit dem Huhn zusammenhaengt." "Ach, das glaub ich nicht. Aber schrecklich ist es doch. Und Kruse, der immer gegen seine Frau ist, kann es mir nicht ausreden." "Was sagte der?" "Er sagte, es seien bloss Maeuse." "Nun, Maeuse, das ist auch gerade schlimm genug. Ich kann keine Maeuse leiden. Aber ich sah ja deutlich, wie du mit dem Kruse schwatztest und vertraulich tatst, und ich glaube sogar, du wolltest ihm einen Schnurrbart anmalen. Das ist doch schon sehr viel. Und nachher sitzt du da. Du bist ja noch eine schmucke Person und hast so was. Aber sieh dich vor, soviel kann ich dir bloss sagen. Wie war es denn eigentlich das erstemal mit dir? Ist es so, dass du mir's erzaehlen kannst?" "Ach, ich kann schon. Aber schrecklich war es. Und weil es so schrecklich war, drum koennen gnaed'ge Frau auch ganz ruhig sein, von wegen dem Kruse. Wem es so gegangen ist wie mir, der hat genug davon und passt auf. Mitunter traeume ich noch davon, und dann bin ich den andern Tag wie zerschlagen. Solche grausame Angst ..." Effi hatte sich aufgerichtet und stuetzte den Kopf auf ihren Arm. "Nun erzaehle. Wie kann es denn gewesen sein? Es ist ja mit euch, das weiss ich noch von Hause her, immer dieselbe Geschichte ..." "Ja, zuerst is es wohl immer dasselbe, und ich will mir auch nicht einbilden, dass es mit mir was Besonderes war, ganz und gar nicht. Aber wie sie's mir dann auf den Kopf zusagten und ich mit einem Male sagen musste: 'ja, es ist so', ja, das war schrecklich. Die Mutter, na, das ging noch, aber der Vater, der die Dorfschmiede hatte, der war streng und wuetend, und als er's hoerte, da kam er mit einer Stange auf mich los, die er eben aus dem Feuer genommen hatte, und wollte mich umbringen. Und ich schrie laut auf und lief auf den Boden und versteckte mich, und da lag ich und zitterte und kam erst wieder nach unten, als sie mich riefen und sagten, ich solle nur kommen. Und dann hatte ich noch eine juengere Schwester, die wies immer auf mich hin und sagte 'Pfui'. Und dann, wie das Kind kommen sollte, ging ich in eine Scheune nebenan, weil ich mir's bei uns nicht getraute. Da fanden mich fremde Leute halb tot und trugen mich ins Haus und in mein Bett. Und den dritten Tag nahmen sie mir das Kind fort, und als ich nachher fragte, wo es sei, da hiess es, es sei gut aufgehoben. Ach, gnaedigste Frau, die heil'ge Mutter Gottes bewahre Sie vor solchem Elend." Effi fuhr auf und sah Roswitha mit grossen Augen an. Aber sie war doch mehr erschrocken als empoert. "Was du nur sprichst! Ich bin ja doch eine verheiratete Frau. So was darfst du nicht sagen, das ist ungehoerig, das passt sich nicht." "Ach, gnaedigste Frau ..." "Erzaehle mir lieber, was aus dir wurde. Das Kind hatten sie dir genommen. Soweit warst du ..." "Und dann, nach ein paar Tagen, da kam wer aus Erfurt, der fuhr bei dem Schulzen vor und fragte, ob da nicht eine Amme sei. Da sagte der Schulze 'ja'. Gott lohne es ihm, und der fremde Herr nahm mich gleich mit, und von da an hab ich bessere Tage gehabt; selbst bei der Registratorin war es doch immer noch zum Aushalten, und zuletzt bin ich zu Ihnen gekommen, gnaedigste Frau. Und das war das Beste, das Allerbeste." Und als sie das sagte, trat sie an das Sofa heran und kuesste Effi die Hand. "Roswitha, du musst mir nicht immer die Hand kuessen, ich mag das nicht. Und nimm dich nur in acht mit dem Kruse. Du bist doch sonst eine so gute und verstaendige Person ... Mit einem Ehemann ... das tut nie gut." "Ach, gnaed'ge Frau, Gott und seine Heiligen fuehren uns wunderbar, und das Unglueck, das uns trifft, das hat doch auch sein Glueck. Und wen es nicht bessert, dem is nich zu helfen ... Ich kann eigentlich die Mannsleute gut leiden ..." "Siehst du, Roswitha, siehst du." "Aber wenn es mal wieder so ueber mich kaeme, mit dem Kruse, das is ja nichts, und ich koennte nicht mehr anders, da lief ich gleich ins Wasser. Es war zu schrecklich. Alles. Und was nur aus dem armen Wurm geworden is? Ich glaube nicht, dass es noch lebt; sie haben es umkommen lassen, aber ich bin doch schuld." Und sie warf sich vor Annies Wiege nieder und wiegte das Kind hin und her und sang in einem fort ihr "Buhkueken von Halberstadt". "Lass", sagte Effi. "Singe nicht mehr; ich habe Kopfweh. Aber bringe mir die Zeitungen. Oder hat Gieshuebler vielleicht die Journale geschickt?" "Das hat er. Und die Modezeitung lag obenauf. Da haben wir drin geblaettert, ich und Johanna, eh sie rueber ging. Johanna aergert sich immer, dass sie so was nicht haben kann. Soll ich die Modezeitung bringen?" "Ja, die bringe und bring auch die Lampe." Roswitha ging, und Effi, als sie allein war, sagte: "Womit man sich nicht alles hilft? Eine huebsche Dame mit einem Muff und eine mit einem Halbschleier; Modepuppen. Aber es ist das Beste, mich auf andre Gedanken zu bringen." Im Laufe des andern Vormittags kam ein Telegramm von Innstetten, worin er mitteilte, dass er erst mit dem zweiten Zug kommen, also nicht vor Abend in Kessin eintreffen werde. Der Tag verging in ewiger Unruhe; gluecklicherweise kam Gieshuebler im Laufe des Nachmittags und half ueber eine Stunde weg. Endlich um sieben Uhr fuhr der Wagen vor, Effi trat hinaus, und man begruesste sich. Innstetten war in einer ihm sonst fremden Erregung, und so kam es, dass er die Verlegenheit nicht sah, die sich in Effis Herzlichkeit mischte. Drinnen im Flur brannten die Lampen und Lichter, und das Teezeug, das Friedrich schon auf einen der zwischen den Schraenken stehenden Tische gestellt hatte, reflektierte den Lichterglanz. "Das sieht ja ganz so aus wie damals, als wir hier ankamen. Weisst du noch, Effi?" Sie nickte. "Nur der Haifisch mit seinem Fichtenzweig verhaelt sich heute ruhiger, und auch Rollo spielt den Zurueckhaltenden und legt mir nicht mehr die Pfoten auf die Schulter. Was ist das mit dir, Rollo?" Rollo strich an seinem Herrn vorbei und wedelte. "Der ist nicht recht zufrieden, entweder mit mir nicht oder mit andern. Nun, ich will annehmen, mit mir. Jedenfalls lass uns eintreten." Und er trat in sein Zimmer und bat Effi, waehrend er sich aufs Sofa niederliess, neben ihm Platz zu nehmen. "Es war so huebsch in Berlin, ueber Erwarten; aber in all meiner Freude habe ich mich immer zurueckgesehnt. Und wie gut du aussiehst! Ein bisschen blass und ein bisschen veraendert, aber es kleidet dich." Effi wurde rot. "Und nun wirst du auch noch rot. Aber es ist, wie ich dir sage. Du hattest so was von einem verwoehnten Kind, mit einemmal siehst du aus wie eine Frau." "Das hoer ich gern, Geert, aber ich glaube, du sagst es nur so." "Nein, nein, du kannst es dir gutschreiben, wenn es etwas Gutes ist ..." "Ich daechte doch." "Und nun rate, von wem ich dir Gruesse bringe." "Das ist nicht schwer, Geert. Ausserdem, wir Frauen, zu denen ich mich, seitdem du wieder da bist, ja rechnen darf (und sie reichte ihm die Hand und lachte), wir Frauen, wir raten leicht. Wir sind nicht so schwerfaellig wie ihr." "Nun, von wem?" "Nun, natuerlich von Vetter Briest. Er ist ja der einzige, den ich in Berlin kenne, die Tanten abgerechnet, die du nicht aufgesucht haben wirst und die viel zu neidisch sind, um mich gruessen zu lassen. Hast du nicht auch gefunden, alle alten Tanten sind neidisch?" "Ja, Effi, das ist wahr. Und dass du das sagst, das ist ganz meine alte Effi wieder. Denn du musst wissen, die alte Effi, die noch aussah wie ein Kind, nun, die war auch nach meinem Geschmack. Gradeso wie die jetzige gnaed'ge Frau." "Meinst du? Und wenn du dich zwischen beiden entscheiden solltest ..." "Das ist eine Doktorfrage, darauf lasse ich mich nicht ein. Aber da bringt Friedrich den Tee. Wie hat's mich nach dieser Stunde verlangt! Und hab es auch ausgesprochen, sogar zu deinem Vetter Briest, als wir bei Dressel sassen und in Champagner dein Wohl tranken ... Die Ohren muessen dir geklungen haben ... Und weisst du, was dein Vetter dabei sagte?" "Gewiss was Albernes. Darin ist er gross." "Das ist der schwaerzeste Undank, den ich all mein Lebtag erlebt habe. 'Lassen wir Effi leben', sagte er, 'meine schoene Cousine ... Wissen Sie, Innstetten, dass ich Sie am liebsten fordern und totschiessen moechte? Denn Effi ist ein Engel, und Sie haben mich um diesen Engel gebracht.' Und dabei sah er so ernst und wehmuetig aus, dass man's beinah haette glauben koennen." "Oh, diese Stimmung kenne ich an ihm. Bei der wievielten wart ihr?" "Ich hab es nicht mehr gegenwaertig, und vielleicht haette ich es auch damals nicht mehr sagen koennen. Aber das glaub ich, dass es ihm ganz ernst war. Und vielleicht waere es auch das Richtige gewesen. Glaubst du nicht, dass du mit ihm haettest leben koennen?" "Leben koennen. Das ist wenig, Geert. Aber beinah moecht ich sagen, ich haette auch nicht einmal mit ihm leben koennen." "Warum nicht? Er ist wirklich ein liebenswuerdiger und netter Mensch und auch ganz gescheit." "Ja, das ist er ..." "Aber ..." "Aber er ist dalbrig. Und das ist keine Eigenschaft, die wir Frauen lieben, auch nicht einmal dann, wenn wir noch halbe Kinder sind, wohin du mich immer gerechnet hast und vielleicht, trotz meiner Fortschritte, auch jetzt noch rechnest. Das Dalbrige, das ist nicht unsre Sache. Maenner muessen Maenner sein." "Gut, dass du das sagst. Alle Teufel, da muss man sich ja zusammennehmen. Und ich kann von Glueck sagen, dass ich von so was, das wie Zusammennehmen aussieht oder wenigstens ein Zusammennehmen in Zukunft fordert, so gut wie direkt herkomme ... Sag, wie denkst du dir ein Ministerium?" "Ein Ministerium? Nun, das kann zweierlei sein. Es koennen Menschen sein, kluge, vornehme Herren, die den Staat regieren, und es kann auch bloss ein Haus sein, ein Palazzo, ein Palazzo Strozzi oder Pitti oder, wenn die nicht passen, irgendein andrer. Du siehst, ich habe meine italienische Reise nicht umsonst gemacht." "Und koenntest du dich entschliessen, in solchem Palazzo zu wohnen? Ich meine in solchem Ministerium?" "Um Gottes willen, Geert, sie haben dich doch nicht zum Minister gemacht? Gieshuebler sagte so was. Und der Fuerst kann alles. Gott, der hat es am Ende durchgesetzt, und ich bin erst achtzehn." Innstetten lachte. "Nein, Effi, nicht Minister, so weit sind wir noch nicht. Aber vielleicht kommen noch allerhand Gaben in mir heraus, und dann ist es nicht unmoeglich." "Also jetzt noch nicht, noch nicht Minister?" "Nein. Und wir werden, die Wahrheit zu sagen, auch nicht einmal in einem Ministerium wohnen, aber ich werde taeglich ins Ministerium gehen, wie ich jetzt in unser Landratsamt gehe, und werde dem Minister Vortrag halten und mit ihm reisen, wenn er die Provinzialbehoerden inspiziert. Und du wirst eine Ministerialraetin sein und in Berlin leben, und in einem halben Jahre wirst du kaum noch wissen, dass du hier in Kessin gewesen bist und nichts gehabt hast als Gieshuebler und die Duenen und die Plantage." Effi sagte kein Wort, und nur ihre Augen wurden immer groesser; um ihre Mundwinkel war ein nervoeses Zucken, und ihr ganzer zarter Koerper zitterte. Mit einem Male aber glitt sie von ihrem Sitz vor Innstetten nieder, umklammerte seine Knie und sagte in einem Ton, wie wenn sie betete: "Gott sei Dank!" Innstetten verfaerbte sich. Was war das? Etwas, was seit Wochen fluechtig, aber doch immer sich erneuernd ueber ihn kam, war wieder da und sprach so deutlich aus seinem Auge, dass Effi davor erschrak. Sie hatte sich durch ein schoenes Gefuehl, das nicht viel was andres als ein Bekenntnis ihrer Schuld war, hinreissen lassen und dabei mehr gesagt, als sie sagen durfte. Sie musste das wieder ausgleichen, musste was finden, irgendeinen Ausweg, es koste, was es wolle. "Steh auf, Effi. Was hast du?" Effi erhob sich rasch. Aber sie nahm ihren Platz auf dem Sofa nicht wieder ein, sondern schob einen Stuhl mit hoher Lehne heran, augenscheinlich weil sie nicht Kraft genug fuehlte, sich ohne Stuetze zu halten. "Was hast du?" wiederholte Innstetten. "Ich dachte, du haettest hier glueckliche Tage verlebt. Und nun rufst du 'Gott sei Dank', als ob dir hier alles nur ein Schrecknis gewesen waere. War ich dir ein Schrecknis? Oder war es was andres? Sprich?" "Dass du noch fragen kannst, Geert", sagte sie, waehrend sie mit einer aeussersten Anstrengung das Zittern ihrer Stimme zu bezwingen suchte. "Glueckliche Tage! Ja, gewiss, glueckliche Tage, aber doch auch andre. Nie bin ich die Angst hier ganz losgeworden, nie. Noch keine vierzehn Tage, dass es mir wieder ueber die Schulter sah, dasselbe Gesicht, derselbe fahle Teint. Und diese letzten Naechte, wo du fort warst, war es auch wieder da, nicht das Gesicht, aber es schlurrte wieder, und Rollo schlug wieder an, und Roswitha, die's auch gehoert, kam an mein Bett und setzte sich zu mir, und erst, als es schon daemmerte, schliefen wir wieder ein. Es ist ein Spukhaus, und ich hab es auch glauben sollen, das mit dem Spuk -denn du bist ein Erzieher. Ja, Geert, das bist du. Aber lass es sein, wie's will, soviel weiss ich, ich habe mich ein ganzes Jahr lang und laenger in diesem Hause gefuerchtet, und wenn ich von hier fortkomme, so wird es, denke ich, von mir abfallen, und ich werde wieder frei sein." Innstetten hatte kein Auge von ihr gelassen und war jedem Worte gefolgt. Was sollte das heissen: "du bist ein Erzieher"? Und dann das andere, was vorausging: "und ich hab es auch glauben sollen, das mit dem Spuk". Was war das alles? Wo kam das her? Und er fuehlte seinen leisen Argwohn sich wieder regen und fester einnisten. Aber er hatte lange genug gelebt, um zu wissen, dass alle Zeichen truegen und dass wir in unsrer Eifersucht, trotz ihrer hundert Augen, oft noch mehr in die Irre gehen als in der Blindheit unseres Vertrauens. Es konnte ja so sein, wie sie sagte. Und wenn es so war, warum sollte sie nicht ausrufen: "Gott sei Dank!" Und so, rasch alle Moeglichkeiten ins Auge fassend, wurde er seines Argwohns wieder Herr und reichte ihr die Hand ueber en Tisch hin: "Verzeih mir, Effi, aber ich war so sehr ueberrascht von dem allen. Freilich wohl meine Schuld. Ich bin immer zu sehr mit mir beschaeftigt gewesen. Wir Maenner sind alle Egoisten. Aber das soll nun anders werden. Ein Gutes hat Berlin gewiss: Spukhaeuser gibt es da nicht. Wo sollen die auch herkommen? Und nun lass uns hinuebergehen, dass ich Annie sehe; Roswitha verklagt mich sonst als einen unzaertlichen Vater." Effi war unter diesen Worten allmaehlich ruhiger geworden, und das Gefuehl, aus einer selbstgeschaffenen Gefahr sich gluecklich befreit zu haben, gab ihr die Spannkraft und gute Haltung wieder zurueck. Zweiundzwanzigstes Kapitel Am andern Morgen nahmen beide gemeinschaftlich ihr etwas verspaetetes Fruehstueck. Innstetten hatte seine Missstimmung und Schlimmeres ueberwunden, und Effi lebte so ganz dem Gefuehl ihrer Befreiung, dass sie nicht bloss die Faehigkeit einer gewissen erkuenstelten Laune, sondern fast auch ihre fruehere Unbefangenheit wiedergewonnen hatte. Sie war noch in Kessin, und doch war ihr schon zumute, als laege es weit hinter ihr. "Ich habe mir's ueberlegt, Effi", sagte Innstetten, "du hast nicht so ganz unrecht mit allem, was du gegen unser Haus hier gesagt hast. Fuer Kapitaen Thomsen war es gerade gut genug, aber nicht fuer eine junge verwoehnte Frau; alles altmodisch, kein Platz. Da sollst du's in Berlin besser haben, auch einen Saal, aber einen andern als hier, und auf Flur und Treppe hohe bunte Glasfenster, Kaiser Wilhelm mit Zepter und Krone oder auch was Kirchliches, heilige Elisabeth oder Jungfrau Maria. Sagen wir Jungfrau Maria, das sind wir Roswitha schuldig." Effi lachte. "So soll es sein. Aber wer sucht uns eine Wohnung? Ich kann doch nicht Vetter Briest auf die Suche schicken. Oder gar die Tanten! Die finden alles gut genug." "Ja, das Wohnungssuchen. Das macht einem keiner zu Dank. Ich denke, da musst du selber hin." "Und wann meinst du?" "Mitte Maerz." "Oh, das ist viel zu spaet, Geert, dann ist ja alles fort. Die guten Wohnungen werden schwerlich auf uns warten!" "Ist schon recht. Aber ich bin erst seit gestern wieder hier und kann doch nicht sagen 'reise morgen'. Das wuerde mich schlecht kleiden und passt mir auch wenig; ich bin froh, dass ich dich wiederhabe." "Nein", sagte sie, waehrend sie das Kaffeegeschirr, um eine aufsteigende Verlegenheit zu verbergen, ziemlich geraeuschvoll zusammenrueckte, "nein, so soll's auch nicht sein, nicht heut und nicht morgen, aber doch in den naechsten Tagen. Und wenn ich etwas finde, so bin ich rasch wieder zurueck. Aber noch eins, Roswitha und Annie muessen mit. Am schoensten waer es, du auch. Aber ich sehe ein, das geht nicht. Und ich denke, die Trennung soll nicht lange dauern. Ich weiss auch schon, wo ich miete ..." "Nun?" "Das bleibt mein Geheimnis. Ich will auch ein Geheimnis haben. Damit will ich dich dann ueberraschen." In diesem Augenblick trat Friedrich ein, um die Postsachen abzugeben. Das meiste war Dienstliches und Zeitungen. "Ah, da ist auch ein Brief fuer dich", sagte Innstetten. "Und wenn ich nicht irre, die Handschrift der Mama." Effi nahm den Brief. "Ja, von der Mama. Aber das ist ja nicht der Friesacker Poststempel; sieh nur, das heisst ja deutlich Berlin." "Freilich", lachte Innstetten. "Du tust, als ob es ein Wunder waere. Die Mama wird in Berlin sein und hat ihrem Liebling von ihrem Hotel aus einen Brief geschrieben." "Ja", sagte Effi, "so wird es sein. Aber ich aengstige mich doch beinah und kann keinen rechten Trost darin finden, dass Hulda Niemeyer immer sagte: Wenn man sich aengstigt, ist es besser, als wenn man hofft. Was meinst du dazu?" "Fuer eine Pastorstochter nicht ganz auf der Hoehe. Aber nun lies den Brief. Hier ist ein Papiermesser." Effi schnitt das Kuvert auf und las: "Meine liebe Effi. Seit 24 Stunden bin ich hier in Berlin; Konsultationen bei Schweigger. Als er mich sieht, beglueckwuenscht er mich, und als ich erstaunt ihn frage, wozu, erfahre ich, dass Ministerialdirektor Wuellersdorf bei ihm gewesen und ihm erzaehlt habe: Innstetten sei ins Ministerium berufen. Ich bin ein wenig aergerlich, dass man dergleichen von einem Dritten erfahren muss. Aber in meinem Stolz und meiner Freude sei Euch verziehen. Ich habe es uebrigens immer gewusst (schon als 1. noch bei den Rathenowern war), dass etwas aus ihm werden wuerde. Nun kommt es Dir zugute. Natuerlich muesst Ihr eine Wohnung haben und eine andere Einrichtung. Wenn Du, meine liebe Effi, glaubst, meines Rates dabei beduerfen zu koennen, so komme, so rasch es Dir Deine Zeit erlaubt. Ich bleibe acht Tage hier in Kur, und wenn es nicht anschlaegt, vielleicht noch etwas laenger; Schweigger drueckt sich unbestimmt darueber aus. Ich habe eine Privatwohnung in der Schadowstrasse genommen; neben dem meinigen sind noch Zimmer frei. Was es mit meinem Auge ist, darueber muendlich; vorlaeufig beschaeftigt mich nur Eure Zukunft. Briest wird unendlich gluecklich sein, er tut immer so gleichgueltig gegen dergleichen, eigentlich haengt er aber mehr daran als ich. Gruesse Innstetten, kuesse Annie, die Du vielleicht mitbringst. Wie immer Deine Dich zaertlich liebende Mutter Luise von B." Effi legte den Brief aus der Hand und sagte nichts. Was sie zu tun habe, das stand bei ihr fest; aber sie wollte es nicht selber aussprechen. Innstetten sollte damit kommen, und dann wollte sie zoegernd ja sagen. Innstetten ging auch wirklich in die Falle. "Nun, Effi, du bleibst so ruhig." "Ach, Geert, es hat alles so seine zwei Seiten. Auf der einen Seite beglueckt es mich, die Mama wiederzusehen, und vielleicht sogar schon in wenigen Tagen. Aber es spricht auch so vieles dagegen." "Was?" "Die Mama, wie du weisst, ist sehr bestimmt und kennt nur ihren eignen Willen. Dem Papa gegenueber hat sie alles durchsetzen koennen. Aber ich moechte gern eine Wohnung haben, die nach meinem Geschmack ist, und eine neue Einrichtung, die mir gefaellt." Innstetten lachte. "Und das ist alles?" "Nun, es waere grade genug. Aber es ist nicht alles." Und nun nahm sie sich zusammen und sah ihn an und sagte: "Und dann, Geert, ich moechte nicht gleich wieder von dir fort." "Schelm, das sagst du so, weil du meine Schwaeche kennst. Aber wir sind alle so eitel, und ich will es glauben. Ich will es glauben und doch zugleich auch den Heroischen spielen, den Entsagenden. Reise, sobald du's fuer noetig haeltst und vor deinem Herzen verantworten kannst." "So darfst du nicht sprechen, Geert. Was heisst das 'vor meinem Herzen verantworten'. Damit schiebst du mir, halb gewaltsam, eine Zaertlichkeitsrolle zu, und ich muss dir dann aus reiner Kokettene sagen: 'Ach, Geert, dann reise ich nie.' Oder doch so etwas Aehnliches." Innstetten drohte ihr mit dem Finger. "Effi, du bist mir zu fein. Ich dachte immer, du waerst ein Kind, und ich sehe nun, dass du das Mass hast wie alle andern. Aber lassen wir das, oder wie dein Papa immer sagte: 'Das ist ein zu weites Feld.' Sage lieber, wann willst du fort?" "Heute haben wir Dienstag. Sagen wir also Freitag mittag mit dem Schiff. Dann bin ich am Abend in Berlin." "Abgemacht. Und wann zurueck?" "Nun, sagen wir Montag abend. Das sind dann drei Tage." "Geht nicht. Das ist zu frueh. In drei Tagen kannst du's nicht zwingen. Und so rasch laesst dich die Mama auch nicht fort." "Also auf Diskretion." "Gut." Und damit erhob sich Innstetten, um nach dem Landratsamte hinueberzugehen. Die Tage bis zur Abreise vergingen wie im Fluge. Roswitha war sehr gluecklich. "Ach, gnaedigste Frau, Kessin, nun ja ... aber Berlin ist es nicht. Und die Pferdebahn. Und wenn es dann so klingelt und man nicht weiss, ob man links oder rechts soll, und mitunter ist mir schon gewesen, als ginge alles grad ueber mich weg. Nein, so was ist hier nicht. Ich glaube, manchen Tag sehen wir keine sechs Menschen. Und immer bloss die Duenen und draussen die See. Und das rauscht und rauscht, aber weiter ist es auch nichts." "Ja, Roswitha, du hast recht. Es rauscht und rauscht immer, aber es ist kein richtiges Leben. Und dann kommen einem allerhand dumme Gedanken. Das kannst du doch nicht bestreiten, das mit dem Kruse war nicht in der Richtigkeit." "Ach, gnaedigste Frau ..." "Nun, ich will nicht weiter nachforschen. Du wirst es natuerlich nicht zugeben. Und nimm nur nicht zu wenig Sachen mit. Deine Sachen kannst du eigentlich ganz mitnehmen und Annies auch." "Ich denke, wir kommen noch mal wieder." "Ja, ich. Der Herr wuenscht es. Aber ihr koennt vielleicht dableiben, bei meiner Mutter. Sorge nur, dass sie Anniechen nicht zu sehr verwoehnt. Gegen mich war sie mitunter streng, aber ein Enkelkind ..." "Und dann ist Anniechen ja auch so zum Anbeissen. Da muss ja jeder zaertlich sein." Das war am Donnerstag, am Tag vor der Abreise. Innstetten war ueber Land gefahren und wurde erst gegen Abend zurueckerwartet. Am Nachmittag ging Effi in die Stadt, bis auf den Marktplatz, und trat hier in die Apotheke und bat um eine Flasche Sal volatile. "Man weiss nie, mit wem man reist", sagte sie zu dem alten Gehilfen, mit dem sie auf dem Plauderfusse stand und der sie anschwaermte wie Gieshuebler selbst. "Ist der Herr Doktor zu Hause?" fragte sie weiter, als sie das Flaeschchen eingesteckt hatte. "Gewiss, gnaedige Frau; er ist hier nebenan und liest die Zeitungen." "Ich werde ihn doch nicht stoeren?" "Oh, nie." Und Effi trat ein. Es war eine kleine, hohe Stube, mit Regalen ringsherum, auf denen allerlei Kolben und Retorten standen; nur an der einen Wand befanden sich alphabetisch geordnete, vorn mit einem Eisenringe versehene Kaesten, in denen die Rezepte lagen. Gieshuebler war beglueckt und verlegen. "Welche Ehre. Hier unter meinen Retorten. Darf ich die gnaedige Frau auffordern, einen Augenblick Platz zu nehmen?" "Gewiss, lieber Gieshuebler. Aber auch wirklich nur einen Augenblick. Ich will Ihnen adieu sagen." "Aber meine gnaedigste Frau, Sie kommen ja doch wieder. Ich habe gehoert, nur auf drei, vier Tage ..." "Ja, lieber Freund, ich soll wiederkommen, und es ist sogar verabredet, dass ich spaetestens in einer Woche wieder in Kessin bin. Aber ich koennte doch auch nicht wiederkommen. Muss ich Ihnen sagen, welche tausend Moeglichkeiten es gibt ... Ich sehe, Sie wollen mir sagen, dass ich noch zu jung sei ..., auch Junge koennen sterben. Und dann so vieles andre noch. Und da will ich doch lieber Abschied nehmen von Ihnen, als waer es fuer immer." "Aber meine gnaedigste Frau ..." "Als waer es fuer immer. Und ich will Ihnen danken, lieber Gieshuebler. Denn Sie waren das Beste hier; natuerlich, weil Sie der Beste waren. Und wenn ich hundert Jahre alt wuerde, so werde ich Sie nicht vergessen. Ich habe mich hier mitunter einsam gefuehlt, und mitunter war mir so schwer ums Herz, schwerer, als Sie wissen koennen; ich habe es nicht immer richtig eingerichtet; aber wenn ich Sie gesehen habe, vom ersten Tag an, dann habe ich mich immer wohler gefuehlt und auch besser." "Aber meine gnaedigste Frau." "Und dafuer wollte ich Ihnen danken. Ich habe mir eben ein Flaeschchen mit Sal volatile gekauft; im Coupe sind mitunter so merkwuerdige Menschen und wollen einem nicht mal erlauben, dass man ein Fenster aufmacht; und wenn mir dann vielleicht - denn es steigt einem ja ordentlich zu Kopf, ich meine das Salz - die Augen uebergehen, dann will ich an Sie denken. Adieu, lieber Freund, und gruessen Sie Ihre Freundin, die Trippelli. Ich habe in den letzten Wochen oefter an sie gedacht und an Fuerst Kotschukoff. Ein eigentuemliches Verhaeltnis bleibt es doch. Aber ich kann mich hineinfinden ... Und lassen Sie einmal von sich hoeren. Oder ich werde schreiben." Damit ging Effi. Gieshuebler begleitete sie bis auf den Platz hinaus. Er war wie benommen, so sehr, dass er ueber manches Raetselhafte, was sie gesprochen, ganz hinwegsah. Effi ging wieder nach Haus. "Bringen Sie mir die Lampe, Johanna", sagte sie, "aber in mein Schlafzimmer. Und dann eine Tasse Tee. Ich hab es so kalt und kann nicht warten, bis der Herr wieder da ist." Beides kam. Effi sass schon an ihrem kleinen Schreibtisch, einen Briefbogen vor sich, die Feder in der Hand. "Bitte, Johanna, den Tee auf den Tisch da." Als Johanna das Zimmer wieder verlassen hatte, schloss Effi sich ein, sah einen Augenblick in den Spiegel und setzte sich dann wieder. Und nun schrieb sie: "Ich reise morgen mit dem Schiff, und dies sind Abschiedszeilen. Innstetten erwartet mich in wenigen Tagen zurueck, aber ich komme nicht wieder ... Warum ich nicht wiederkomme, Sie wissen es ... Es waere das beste gewesen, ich haette dies Stueck Erde nie gesehen. Ich beschwoere Sie, dies nicht als einen Vorwurf zu fassen; alle Schuld ist bei mir. Blick ich auf Ihr Haus ..., Ihr Tun mag entschuldbar sein, nicht das meine. Meine Schuld ist sehr schwer, aber vielleicht kann ich noch heraus. Dass wir hier abberufen wurden, ist mir wie ein Zeichen, dass ich noch zu Gnaden angenommen werden kann. Vergessen Sie das Geschehene, vergessen Sie mich. Ihre Effi." Sie ueberflog die Zeilen noch einmal, am fremdesten war ihr das "Sie"; aber auch das musste sein; es sollte ausdruecken, dass keine Bruecke mehr da sei. Und nun schob sie die Zeilen in ein Kuvert und ging auf ein Haus zu, zwischen dem Kirchhof und der Waldecke. Ein duenner Rauch stieg aus dem halb eingefallenen Schornstein. Da gab sie die Zeilen ab. Als sie wieder zurueck war, war Innstetten schon da, und sie setzte sich zu ihm und erzaehlte ihm von Gieshuebler und dem Sal volatile. Innstetten lachte. "Wo hast du nur dein Latein her, Effi?" Das Schiff, ein leichtes Segelschiff (die Dampfboote gingen nur sommers), fuhr um zwoelf. Schon eine Viertelstunde vorher waren Effi und Innstetten an Bord; auch Roswitha und Annie. Das Gepaeck war groesser, als es fuer einen auf so wenige Tage geplanten Ausflug geboten schien. Innstetten sprach mit dem Kapitaen; Effi, in einem Regenmantel und hellgrauem Reisehut, stand auf dem Hinterdeck, nahe am Steuer, und musterte von hier aus das Bollwerk und die huebsche Haeuserreihe, die dem Zuge des Bollwerks folgte. Gerade der Landungsbruecke gegenueber lag Hoppensacks Hotel, ein drei Stock hohes Gebaeude, von dessen Giebeldach eine gelbe Flagge, mit Kreuz und Krone darin, schlaff in der stillen, etwas nebeligen Luft herniederhing. Effi sah eine Weile nach der Flagge hinauf, liess dann aber ihr Auge wieder abwaerts gleiten und verweilte zuletzt auf einer Anzahl von Personen, die neugierig am Bollwerk herumstanden. In diesem Augenblick wurde gelaeutet. Effi war ganz eigen zumut; das Schiff setzte sich langsam in Bewegung, und als sie die Landungsbruecke noch einmal musterte, sah sie, dass Crampas in vorderster Reihe stand. Sie erschrak bei seinem Anblick und freute sich doch auch. Er seinerseits, in seiner ganzen Haltung veraendert, war sichtlich bewegt und gruesste ernst zu ihr hinueber, ein Gruss, den sie ebenso, aber doch zugleich in grosser Freundlichkeit erwiderte; dabei lag etwas Bittendes in ihrem Auge. Dann ging sie rasch auf die Kajuete zu, wo sich Roswitha mit Annie schon eingerichtet hatte. Hier in dem etwas stickigen Raum blieb sie, bis man aus dem Fluss in die weite Bucht des Breitling eingefahren war; da kam Innstetten und rief sie nach oben, dass sie sich an dem herrlichen Anblick erfreue, den die Landschaft gerade an dieser Stelle bot. Sie ging dann auch hinauf. Ueber dem Wasserspiegel hingen graue Wolken, und nur dann und wann schoss ein halb umschleierter Sonnenblick aus dem Gewoelk hervor. Effi gedachte des Tages, wo sie, vor jetzt Fuenfvierteljahren, im offenen Wagen am Ufer ebendieses Breitlings hin entlanggefahren war. Eine kurze Spanne Zeit, und das Leben oft so still und einsam. Und doch, was war alles seitdem geschehen! So fuhr man die Wasserstrasse hinauf und war um zwei an der Station oder doch ganz in Naehe derselben. Als man gleich danach das Gasthaus des "Fuersten Bismarck" passierte, stand auch Golchowski wieder in der Tuer und versaeumte nicht, den Herrn Landrat und die gnaedige Frau bis an die Stufen der Boeschung zu geleiten. Oben war der Zug noch nicht angemeldet, und Effi und Innstetten schritten auf dem Bahnsteig auf und ab. Ihr Gespraech drehte sich um die Wohnungsfrage; man war einig ueber den Stadtteil, und dass es zwischen dem Tiergarten und dem Zoologischen Garten sein muesse. "Ich will den Finkenschlag hoeren und die Papageien auch", sagte Innstetten, und Effi stimmte ihm zu. Nun aber hoerte man das Signal, und der Zug lief ein; der Bahnhofsinspektor war voller Entgegenkommen, und Effi erhielt ein Coupe fuer sich. Noch ein Haendedruck, ein Wehen mit dem Tuch, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Dreiundzwanzigstes Kapitel Auf dem Friedrichstrassen-Bahnhof war ein Gedraenge; aber trotzdem, Effi hatte schon vom Coupe aus die Mama erkannt und neben ihr den Vetter Briest. Die Freude des Wiedersehens war gross, das Warten in der Gepaeckhalle stellte die Geduld auf keine allzu harte Probe, und nach wenig mehr als fuenf Minuten rollte die Droschke neben dem Pferdebahngleise hin in die Dorotheenstrasse hinein und auf die Schadowstrasse zu, an deren naechstgelegener Ecke sich die "Pension" befand. Roswitha war entzueckt und freute sich ueber Annie, die die Haendchen nach den Lichtern ausstreckte. Nun war man da. Effi erhielt ihre zwei Zimmer, die nicht, wie erwartet, neben denen der Frau von Briest, aber doch auf demselben Korridor lagen, und als alles seinen Platz und Stand hatte und Annie in einem Bettchen mit Gitter gluecklich untergebracht war, erschien Effi wieder im Zimmer der Mama, einem kleinen Salon mit Kamin, drin ein schwaches Feuer brannte; denn es war mildes, beinah warmes Wetter. Auf dem runden Tische mit gruener Schirmlampe waren drei Kuverts gelegt, und auf einem Nebentischchen stand das Teezeug. "Du wohnst ja reizend, Mama", sagte Effi, waehrend sie dem Sofa gegenueber Platz nahm, aber nur um sich gleich danach an dem Teetisch zu schaffen zu machen. "Darf ich wieder die Rolle des Teefraeuleins uebernehmen?" "Gewiss, meine liebe Effi Aber nur fuer Dagobert und dich selbst. Ich meinerseits muss verzichten, was mir beinah schwerfaellt." "Ich verstehe, deiner Augen halber. Aber nun sage mir, Mama, was ist es damit? In der Droschke, die noch dazu so klapperte, haben wir immer nur von Innstetten und unserer grossen Karriere gesprochen, viel zuviel, und das geht nicht so weiter; glaube mir, deine Augen sind mir wichtiger, und in einem finde ich sie, Gott sei Dank, ganz unveraendert, du siehst mich immer noch so freundlich an wie frueher." Und sie eilte auf die Mama zu und kuesste ihr die Hand. "Effi, du bist so stuermisch. Ganz die alte." "Ach nein, Mama. Nicht die alte. Ich wollte, es waere so. Man aendert sich in der Ehe." Vetter Briest lachte. "Cousine, ich merke nicht viel davon; du bist noch huebscher geworden, das ist alles. Und mit dem Stuermischen wird es wohl auch noch nicht vorbei sein." "Ganz der Vetter", versicherte die Mama; Effi selbst aber wollte davon nichts hoeren und sagte: "Dagobert, du bist alles, nur kein Menschenkenner. Es ist sonderbar. Ihr Offiziere seid keine guten Menschenkenner, die jungen gewiss nicht. Ihr guckt euch immer nur selber an oder eure Rekruten, und die von der Kavallerie haben auch noch ihre Pferde. Die wissen nun vollends nichts." "Aber Cousine, wo hast du denn diese ganze Weisheit her? Du kennst ja keine Offiziere. Kessin, so habe ich gelesen, hat ja auf die ihm zugedachten Husaren verzichtet, ein Fall, der uebrigens einzig in der Weltgeschichte dasteht. Und willst du von alten Zeiten sprechen? Du warst ja noch ein halbes Kind, als die Rathenower zu euch herueberkamen." "Ich koennte dir erwidern, dass Kinder am besten beobachten. Aber ich mag nicht, das sind ja alles bloss Allotria. Ich will wissen, wie's mit Mamas Augen steht." Frau von Briest erzaehlte nun, dass es der Augenarzt fuer Blutandrang nach dem Gehirn ausgegeben habe. Daher kaeme das Flimmern. Es muesse mit Diaet gezwungen werden; Bier, Kaffee, Tee - alles gestrichen und gelegentlich eine lokale Blutentziehung, dann wuerde es bald besser werden. "Er sprach so von vierzehn Tagen. Aber ich kenne die Doktorangaben; vierzehn Tage heisst sechs Wochen, und ich werde noch hier sein, wenn Innstetten kommt und ihr in eure neue Wohnung einzieht. Ich will auch nicht leugnen, dass das das Beste von der Sache ist und mich ueber die mutmasslich lange Kurdauer schon vorweg troestet. Sucht euch nur recht was Huebsches. Ich habe mir Landgrafen- oder Keithstrasse gedacht, elegant und doch nicht allzu teuer. Denn ihr werdet euch einschraenken muessen. Innstettens Stellung ist sehr ehrenvoll, aber sie wirft nicht allzuviel ab. Und Briest klagt auch. Die Preise gehen herunter, und er erzaehlt mir jeden Tag, wenn nicht Schutzzoelle kaemen, so muesste er mit einem Bettelsack von Hohen-Cremmen abziehen. Du weisst, er uebertreibt gern. Aber nun lange zu, Dagobert, und wenn es sein kann, erzaehle uns was Huebsches. Krankheitsberichte sind immer langweilig, und die liebsten Menschen hoeren bloss zu, weil es nicht anders geht. Effi wird wohl auch gern eine Geschichte hoeren, etwas aus den Fliegenden Blaettern oder aus dem Kladderadatsch. Er soll aber nicht mehr so gut sein." "Oh, er ist noch ebensogut wie frueher. Sie haben immer noch Strudelwitz und Prudelwitz, und da macht es sich von selber." "Mein Liebling ist Karlchen Miessnick und Wippchen von Bernau." "Ja, das sind die Besten. Aber Wippchen, der uebrigens - Pardon, schoene Cousine - keine Kladderadatschfigur ist, Wippchen hat gegenwaertig nichts zu tun, es ist ja kein Krieg mehr. Leider. Unsereins moechte doch auch mal an die Reihe kommen und hier diese schreckliche Leere", und er strich vom Knopfloch nach der Achsel hinueber, "endlich loswerden." "Ach, das sind ja bloss Eitelkeiten. Erzaehle lieber. Was ist denn jetzt dran?" "Ja, Cousine, das ist ein eigen Ding. Das ist nicht fuer jedermann. Jetzt haben wir naemlich die Bibelwitze." "Die Bibelwitze? Was soll das heissen? ... Bibel und Witze gehoeren nicht zusammen." "Eben deshalb sagte ich, es sei nicht fuer jedermann. Aber ob zulaessig oder nicht, sie stehen jetzt hoch im Preis. Modesache, wie Kiebitzeier." "Nun, wenn es nicht zu toll ist, so gib uns eine Probe. Geht es?" "Gewiss geht es. Und ich moechte sogar hinzusetzen duerfen, du triffst es besonders gut. Was jetzt naemlich kursiert, ist etwas hervorragend Feines, weil es als Kombination auftritt und in die einfache Bibelstelle noch das dativisch Wrangelsche mit einmischt. Die Fragestellung - alle diese Witze treten naemlich in Frageform auf - ist uebrigens in vorliegendem Falle von grosser Simplizitaet und lautet: 'Wer war der erste Kutscher?' Und nun rate." "Nun, vielleicht Apollo." "Sehr gut. Du bist doch ein Daus, Effi. Ich waere nicht darauf gekommen. Aber trotzdem, du triffst damit nicht ins Schwarze." "Nun, wer war es denn?" "Der erste Kutscher war 'Leid'. Denn schon im Buche Hiob heisst es: 'Leid soll mir nicht widerfahren', oder auch 'wieder fahren' in zwei Woertern und mit einem e." Effi wiederholte kopfschuettelnd den Satz, auch die Zubemerkung, konnte sich aber trotz aller Muehe nicht drin zurechtfinden; sie gehoerte ganz ausgesprochen zu den Bevorzugten, die fuer derlei Dinge durchaus kein Organ haben, und so kam denn Vetter Briest in die nicht beneidenswerte Situation, immer erneut erst auf den Gleichklang und dann auch wieder auf den Unterschied von 'widerfahren' und 'wieder fahren' hinweisen zu muessen. "Ach, nun versteh ich. Und du musst mir verzeihen, dass es so lange gedauert hat. Aber es ist wirklich zu dumm." "Ja, dumm ist es", sagte Dagobert kleinlaut. "Dumm und unpassend und kann einem Berlin ordentlich verleiden. Da geht man nun aus Kessin fort, um wieder unter Menschen zu sein, und das erste, was man hoert, ist ein Bibelwitz. Auch Mama schweigt, und das sagt genug. Ich will dir aber doch den Rueckzug erleichtern ..." "Das tu, Cousine." "... den Rueckzug erleichtern und es ganz ernsthaft als ein gutes Zeichen nehmen, dass mir, als erstes hier, von meinem Vetter Dagobert gesagt wurde: 'Leid soll mir nicht widerfahren.' Sonderbar, Vetter, so schwach die Sache als Witz ist, ich bin dir doch dankbar dafuer." Dagobert, kaum aus der Schlinge heraus, versuchte ueber Effis Feierlichkeit zu spoetteln, liess aber ab davon, als er sah, dass es sie verdross. Bald nach zehn Uhr brach er auf und versprach, am anderen Tage wiederzukommen, um nach den Befehlen zu fragen. Und gleich nachdem er gegangen, zog sich auch Effi in ihre Zimmer zurueck. Am andern Tage war das schoenste Wetter, und Mutter und Tochter brachen frueh auf, zunaechst nach der Augenklinik, wo Effi im Vorzimmer verblieb und sich mit dem Durchblaettern eines Albums beschaeftigte. Dann ging es nach dem Tiergarten und bis in die Naehe des "Zoologischen", um dort herum nach einer Wohnung zu suchen. Es traf sich auch wirklich so, dass man in der Keithstrasse, worauf sich ihre Wuensche von Anfang an gerichtet hatten, etwas durchaus Passendes ausfindig machte, nur dass es ein Neubau war, feucht und noch unfertig. "Es wird nicht gehen, liebe Effi", sagte Frau von Briest, "schon einfach Gesundheitsruecksichten werden es verbieten. Und dann, ein Geheimrat ist kein Trockenwohner." Effi, so sehr ihr die Wohnung gefiel, war um so einverstandener mit diesem Bedenken, als ihr an einer raschen Erledigung ueberhaupt nicht lag, ganz im Gegenteil: "Zeit gewonnen, alles gewonnen", und so war ihr denn ein Hinausschieben der ganzen Angelegenheit eigentlich das Liebste, was ihr begegnen konnte. "Wir wollen diese Wohnung aber doch im Auge behalten, Mama, sie liegt so schoen und ist im wesentlichen das, was ich mir gewuenscht habe." Dann fuhren beide Damen in die Stadt zurueck, assen im Restaurant, das man ihnen empfohlen, und waren am Abend in der Oper, wozu der Arzt unter der Bedingung, dass Frau von Briest mehr hoeren als sehen wolle, die Erlaubnis gegeben hatte. Die naechsten Tage nahmen einen aehnlichen Verlauf; man war aufrichtig erfreut, sich wiederzuhaben und nach so langer Zeit wieder ausgiebig miteinander plaudern zu koennen. Effi, die sich nicht bloss auf Zuhoeren und Erzaehlen, sondern, wenn ihr am wohlsten war, auch auf Medisieren ganz vorzueglich verstand, geriet mehr als einmal in ihren alten Uebermut, und die Mama schrieb nach Hause, wie gluecklich sie sei, das "Kind" wieder so heiter und lachlustig zu finden; es wiederhole sich ihnen allen die schoene Zeit von vor fast zwei Jahren, wo man die Ausstattung besorgt habe. Auch Vetter Briest sei ganz der alte. Das war nun auch wirklich der Fall, nur mit dem Unterschied, dass er sich seltener sehen liess als vordem und auf die Frage nach dem "Warum" anscheinend ernsthaft versicherte: "Du bist mir zu gefaehrlich, Cousine." Das gab dann jedesmal ein Lachen bei Mutter und Tochter, und Effi sagte: "Dagobert, du bist freilich noch sehr jung, aber zu solcher Form des Courmachers doch nicht mehr jung genug." So waren schon beinahe vierzehn Tage vergangen. Innstetten schrieb immer dringlicher und wurde ziemlich spitz, fast auch gegen die Schwiegermama, so dass Effi einsah, ein weiteres Hinausschieben sei nicht mehr gut moeglich und es muesse nun wirklich gemietet werden. Aber was dann? Bis zum Umzug nach Berlin waren immer noch drei Wochen, und Innstetten drang auf rasche Rueckkehr. Es gab also nur ein Mittel: Sie musste wieder eine Komoedie spielen, musste krank werden. Das kam ihr aus mehr als einem Grunde nicht leicht an; aber es musste sein, und als ihr das feststand, stand ihr auch fest, wie die Rolle, bis in die kleinsten Einzelheiten hinein, gespielt werden muesse. "Mama, Innstetten, wie du siehst, wird ueber mein Ausbleiben empfindlich. Ich denke, wir geben also nach und mieten heute noch. Und morgen reise ich. Ach, es wird mir so schwer, mich von dir zu trennen." Frau von Briest war einverstanden. "Und welche Wohnung wirst du waehlen?" "Natuerlich die erste, die in der Keithstrasse, die mir von Anfang an so gut gefiel und dir auch. Sie wird wohl noch nicht ganz ausgetrocknet sein, aber es ist ja das Sommerhalbjahr, was einigermassen ein Trost ist. Und wird es mit der Feuchtigkeit zu arg und kommt ein bisschen Rheumatismus, so hab ich ja schliesslich immer noch Hohen-Cremmen." "Kind, beruf es nicht; ein Rheumatismus ist mitunter da, man weiss nicht wie." Diese Worte der Mama kamen Effi sehr zupass. Sie mietete denselben Vormittag noch und schrieb eine Karte an Innstetten, dass sie den naechsten Tag zurueckwolle. Gleich danach wurden auch wirklich die Koffer gepackt und alle Vorbereitungen getroffen. Als dann aber der andere Morgen da war, liess Effi die Mama an ihr Bett rufen und sagte: "Mama, ich kann nicht reisen. Ich habe ein solches Reissen und Ziehen, es schmerzt mich ueber den ganzen Ruecken hin, und ich glaube beinah, es ist ein Rheumatismus. Ich haette nicht gedacht, dass das so schmerzhaft sei." "Siehst du, was ich dir gesagt habe; man soll den Teufel nicht an die Wand malen. Gestern hast du noch leichtsinnig darueber gesprochen, und heute ist es schon da. Wenn ich Schweigger sehe, werde ich ihn fragen, was du tun sollst." "Nein, nicht Schweigger. Der ist ja ein Spezialist. Das geht nicht, und er koennte es am Ende uebelnehmen, in so was anderem zu Rate gezogen zu werden. Ich denke, das beste ist, wir warten es ab. Es kann ja auch voruebergehen. Ich werde den ganzen Tag ueber von Tee und Sodawasser leben, und wenn ich dann transpiriere, komm ich vielleicht drueber hin." Frau von Briest drueckte ihre Zustimmung aus, bestand aber darauf, dass sie sich gut verpflege. Dass man nichts geniessen muesse, wie das frueher Mode war, das sei ganz falsch und schwaeche bloss; in diesem Punkt stehe sie ganz zu der jungen Schule: tuechtig essen. Effi sog sich nicht wenig Trost aus diesen Anschauungen, schrieb ein Telegramm an Innstetten, worin sie von dem "leidigen Zwischenfall" und einer aergerlichen, aber doch nur momentanen Behinderung sprach, und sagte dann zu Roswitha: "Roswitha, du musst mir nun auch Buecher besorgen; es wird nicht schwerhalten, ich will alte, ganz alte." "Gewiss, gnaed'ge Frau. Die Leihbibliothek ist ja gleich hier nebenan. Was soll ich besorgen?" "Ich will es aufschreiben, allerlei zur Auswahl, denn mitunter haben sie nicht das eine, was man grade haben will." Roswitha brachte Bleistift und Papier, und Effi schrieb auf: Walter Scott, Ivanhoe oder Quentin Durward; Cooper, Der Spion; Dickens, David Copperfield; Willibald Alexis, Die Hosen des Herrn von Bredow. Roswitha las den Zettel durch und schnitt in der anderen Stube die letzte Zeile fort; sie genierte sich ihret- und ihrer Frau wegen, den Zettel in seiner urspruenglichen Gestalt abzugeben. Ohne besondere Vorkommnisse verging der Tag. Am andern Morgen war es nicht besser und am dritten auch nicht. "Effi, das geht so nicht laenger. Wenn so was einreisst, dann wird man's nicht wieder los; wovor die Doktoren am meisten warnen und mit Recht, das sind solche Verschleppungen." Effi seufzte. "Ja, Mama, aber wen sollen wir nehmen? Nur keinen jungen; ich weiss nicht, aber es wuerde mich genieren." "Ein junger Doktor ist immer genant, und wenn er es nicht ist, desto schlimmer. Aber du kannst dich beruhigen; ich komme mit einem ganz alten, der mich schon behandelt hat, als ich noch in der Heckerschen Pension war, also vor etlichen zwanzig Jahren. Und damals war er nah an Fuenfzig und hatte schoenes graues Haar, ganz kraus. Er war ein Damenmann, aber in den richtigen Grenzen. Aerzte, die das vergessen, gehen unter, und es kann auch nicht anders sein; unsere Frauen, wenigstens die aus der Gesellschaft, haben immer noch einen guten Fond." "Meinst du? Ich freue mich immer, so was Gutes zu hoeren. Denn mitunter hoert man doch auch andres. Und schwer mag es wohl oft sein. Und wie heisst denn der alte Geheimrat? Ich nehme an, dass es ein Geheimrat ist." "Geheimrat Rummschuettel." Effi lachte herzlich. "Rummschuettel! Und als Arzt fuer jemanden, der sich nicht ruehren kann." "Effi, du sprichst so sonderbar. Grosse Schmerzen kannst du nicht haben." "Nein, in diesem Augenblick nicht; es wechselt bestaendig." Am anderen Morgen erschien Geheimrat Rummschuettel. Frau von Briest empfing ihn, und als er Effi sah, war sein erstes Wort: "Ganz die Mama." Diese wollte den Vergleich ablehnen und meinte, zwanzig Jahre und drueber seien doch eine lange Zeit; Rummschuettel blieb aber bei seiner Behauptung, zugleich versichernd: nicht jeder Kopf praege sich ihm ein, aber wenn er ueberhaupt erst einen Eindruck empfangen habe, so bleibe der auch fuer immer. "Und nun, meine gnaedigste Frau von Innstetten, wo fehlt es, wo sollen wir helfen?" "Ach, Herr Geheimrat, ich komme in Verlegenheit, Ihnen auszudruecken, was es ist. Es wechselt bestaendig. In diesem Augenblick ist es wie weggeflogen. Anfangs habe ich an Rheumatisches gedacht, aber ich moecht beinah glauben, es sei eine Neuralgie, Schmerzen den Ruecken entlang, und dann kann ich mich nicht aufrichten. Mein Papa leidet an Neuralgie, da hab ich es frueher beobachten koennen. Vielleicht ein Erbstueck von ihm." "Sehr wahrscheinlich", sagte Rummschuettel, der den Puls gefuehlt und die Patientin leicht, aber doch scharf beobachtet hatte. "Sehr wahrscheinlich, meine gnaedigste Frau." Was er aber still zu sich selber sagte, das lautete: "Schulkrank und mit Virtuositaet gespielt; Evastochter comme il faut." Er liess jedoch nichts davon merken, sondern sagte mit allem wuenschenswerten Ernst: "Ruhe und Waerme sind das Beste, was ich anraten kann. Eine Medizin, uebrigens nichts Schlimmes, wird das Weitere tun." Und er erhob sich, um das Rezept aufzuschreiben: Aqua Amygdalarum amararum eine halbe Unze, Syrupus florum Aurantii zwei Unzen. "Hiervon, meine gnaedigste Frau, bitte ich Sie, alle zwei Stunden einen halben Teeloeffel voll nehmen zu wollen. Es wird Ihre Nerven beruhigen. Und worauf ich noch dringen moechte: keine geistigen Anstrengungen, keine Besuche, keine Lektuere." Dabei wies er auf das neben ihr liegende Buch. "Es ist Scott." "Oh, dagegen ist nichts einzuwenden. Das beste sind Reisebeschreibungen. Ich spreche morgen wieder vor." Effi hatte sich wundervoll gehalten, ihre Rolle gut durchgespielt. Als sie wieder allein war - die Mama begleitete den Geheimrat -, schoss ihr trotzdem das Blut zu Kopf; sie hatte recht gut bemerkt, dass er ihrer Komoedie mit einer Komoedie begegnet war. Er war offenbar ein ueberaus lebensgewandter Herr, der alles recht gut sah, aber nicht alles sehen wollte, vielleicht weil er wusste, dass dergleichen auch mal zu respektieren sein koenne. Denn gab es nicht zu respektierende Komoedien, war nicht die, die er selber spielte, eine solche? Bald danach kam die Mama zurueck, und Mutter und Tochter ergingen sich in Lobeserhebungen ueber den feinen alten Herrn, der trotz seiner beinah Siebzig noch etwas Jugendliches habe. "Schicke nur gleich Roswitha nach der Apotheke ... Du sollst aber nur alle drei Stunden nehmen, hat er mir draussen noch eigens gesagt. So war er schon damals, er verschrieb nicht oft und nicht viel; aber immer Energisches, und es half auch gleich." Rummschuettel kam den zweiten Tag und dann jeden dritten, weil er sah, welche Verlegenheit sein Kommen der jungen Frau bereitete. Dies nahm ihn fuer sie ein, und sein Urteil stand ihm nach dem dritten Besuch fest: "Hier liegt etwas vor, was die Frau zwingt, so zu handeln, wie sie handelt." Ueber solche Dinge den Empfindlichen zu spielen, lag laengst hinter ihm. Als Rummschuettel seinen vierten Besuch machte, fand er Effi auf, in einem Schaukelstuhl sitzend, ein Buch in der Hand, Annie neben ihr. "Ah, meine gnaedigste Frau! Hocherfreut. Ich schiebe es nicht auf die Arznei; das schoene Wetter, die hellen, frischen Maerztage, da faellt die Krankheit ab. Ich beglueckwuensche Sie. Und die Frau Mama?" "Sie ist ausgegangen, Herr Geheimrat, in die Keithstrasse, wo wir gemietet haben. Ich erwarte nun innerhalb weniger Tage meinen Mann, den ich mich, wenn in unserer Wohnung erst alles in Ordnung sein wird, herzlich freue, Ihnen vorstellen zu koennen. Denn ich darf doch wohl hoffen, dass Sie auch in Zukunft sich meiner annehmen werden." Er verbeugte sich. "Die neue Wohnung", fuhr sie fort, "ein Neubau, macht mir freilich Sorge. Glauben Sie, Herr Geheimrat, dass die feuchten Waende ..." "Nicht im geringsten, meine gnaedigste Frau. Lassen Sie drei, vier Tage lang tuechtig heizen und immer Tueren und Fenster auf, da koennen Sie's wagen, auf meine Verantwortung. Und mit Ihrer Neuralgie, das war nicht von solcher Bedeutung. Aber ich freue mich Ihrer Vorsicht, die mir Gelegenheit gegeben hat, eine alte Bekanntschaft zu erneuern und eine neue zu machen." Er wiederholte seine Verbeugung, sah noch Annie freundlich in die Augen und verabschiedete sich unter Empfehlungen an die Mama. Kaum dass er fort war, so setzte sich Effi an den Schreibtisch und schrieb: "Lieber Innstetten! Eben war Rummschuettel hier und hat mich aus der Kur entlassen. Ich koennte nun reisen, morgen etwa; aber heut ist schon der 24., und am 28. willst Du hier eintreffen. Angegriffen bin ich ohnehin noch. Ich denke, Du wirst einverstanden sein, wenn ich die Reise ganz aufgebe. Die Sachen sind ja ohnehin schon unterwegs, und wir wuerden, wenn ich kaeme, in Hoppensacks Hotel wie Fremde leben muessen. Auch der Kostenpunkt ist in Betracht zu ziehen, die Ausgaben werden sich ohnehin haeufen; unter anderem ist Rummschuettel zu honorieren, wenn er uns auch als Arzt verbleibt. Uebrigens ein sehr liebenswuerdiger alter Herr. Er gilt aerztlich nicht fuer ersten Ranges, 'Damendoktor', sagen seine Gegner und Neider. Aber dies Wort umschliesst doch auch ein Lob; es kann eben nicht jeder mit uns umgehen. Dass ich von den Kessinern nicht persoenlich Abschied nehme, hat nicht viel auf sich. Bei Gieshuebler war ich. Die Frau Majorin hat sich immer ablehnend gegen mich verhalten, ablehnend bis zur Unart; bleibt noch der Pastor und Doktor Hannemann und Crampas. Empfiehl mich letzterem. An die Familien auf dem Lande schicke ich Karten; Gueldenklees, wie Du mir schreibst, sind in Italien (was sie da wollen, weiss ich nicht), und so bleiben nur die drei andern. Entschuldige mich, so gut es geht. Du bist ja der Mann der Formen und weisst das richtige Wort zu treffen. An Frau Von Padden, die mir am Silvesterabend so ausserordentlich gut gefiel, schreibe ich vielleicht selber noch und spreche ihr mein Bedauern aus. Lass mich in einem Telegramm wissen, ob Du mit allem einverstanden bist. Wie immer Deine Effi." Effi brachte selber den Brief zur Post, als ob sie dadurch die Antwort beschleunigen koenne, und am naechsten Vormittag traf denn auch das erbetene Telegramm von Innstetten ein: "Einverstanden mit allem." Ihr Herz jubelte, sie eilte hinunter und auf den naechsten Droschkenstand zu: "Keithstrasse Ic." Und erst die Linden und dann die Tiergartenstrasse hinunter flog die Droschke, und nun hielt sie vor der neuen Wohnung. Oben standen die den Tag vorher eingetroffenen Sachen noch bunt durcheinander, aber es stoerte sie nicht, und als sie auf den breiten, aufgemauerten Balkon hinaustrat, lag jenseits der Kanalbruecke der Tiergarten vor ihr, dessen Baeume schon ueberall einen gruenen Schimmer zeigten. Darueber aber ein klarer blauer Himmel und eine lachende Sonne. Sie zitterte vor Erregung und atmete hoch auf. Dann trat sie vom Balkon her wieder ueber die Tuerschwelle zurueck, hob den Blick und faltete die Haende. "Nun, mit Gott, ein neues Leben! Es soll anders werden." Vierundzwanzigstes Kapitel Drei Tage danach, ziemlich spaet, um die neunte Stunde, traf Innstetten in Berlin ein. Alles war am Bahnhof: Effi, die Mama, der Vetter; der Empfang war herzlich, am herzlichsten von seiten Effis, und man hatte bereits eine Welt von Dingen durchgesprochen, als der Wagen, den man genommen, vor der neuen Wohnung in der Keithstrasse hielt. "Ach, da hast du gut gewaehlt, Effi", sagte Innstetten, als er in das Vestibuel eintrat, "kein Haifisch, kein Krokodil und hoffentlich auch kein Spuk." "Nein, Geert, damit ist es nun vorbei. Nun bricht eine andere Zeit an, und ich fuerchte mich nicht mehr und will auch besser sein als frueher und dir mehr zu Willen leben." Alles das fluesterte sie ihm zu, waehrend sie die teppichbedeckte Treppe bis in den zweiten Stock hinanstiegen. Der Vetter fuehrte die Mama. Oben fehlte noch manches, aber fuer einen wohnlichen Eindruck war doch gesorgt, und Innstetten sprach seine Freude darueber aus. "Effi, du bist doch ein kleines Genie"; aber diese lehnte das Lob ab und zeigte auf die Mama, die habe das eigentliche Verdienst. "Hier muss es stehen", so habe es unerbittlich geheissen, und immer habe sie's getroffen, wodurch natuerlich viel Zeit gespart und die gute Laune nie gestoert worden sei. Zuletzt kam auch Roswitha, um den Herrn zu begruessen, bei welcher Gelegenheit sie sagte, Fraeulein Annie liesse sich fuer heute entschuldigen - ein kleiner Witz, auf den sie stolz war und mit dem sie auch ihren Zweck vollkommen erreichte. Und nun nahmen sie Platz um den schon gedeckten Tisch, und als Innstetten sich ein Glas Wein eingeschenkt und "auf glueckliche Tage" mit allen angestossen hatte, nahm er Effis Hand und sagte: "Aber Effi, nun erzaehle mir, was war das mit deiner Krankheit?" "Ach, lassen wir doch das, nicht der Rede wert; ein bisschen schmerzhaft und eine rechte Stoerung, weil es einen Strich durch unsere Plaene machte. Aber mehr war es nicht, und nun ist es vorbei. Rummschuettel hat sich bewaehrt, ein feiner, liebenswuerdiger alter Herr, wie ich dir, glaub ich, schon schrieb. In seiner Wissenschaft soll er nicht gerade glaenzen, aber Mama sagt, das sei ein Vorzug. Und sie wird wohl recht haben, wie in allen Stuecken. Unser guter Doktor Hannemann war auch kein Licht und traf es doch immer. Und nun sag, was macht Gieshuebler und die anderen alle?" "Ja, wer sind die anderen alle? Crampas laesst sich der gnaed'gen Frau empfehlen ..." "Ah, sehr artig." "Und der Pastor will dir desgleichen empfohlen sein; nur die Herrschaften auf dem Lande waren ziemlich nuechtern und schienen auch mich fuer deinen Abschied ohne Abschied verantwortlich machen zu wollen. Unsere Freundin Sidonie war sogar spitz, und nur die gute Frau von Padden, zu der ich eigens vorgestern noch hinueberfuhr, freute sich aufrichtig ueber deinen Gruss und deine Liebeserklaerung an sie. Du seist eine reizende Frau, sagte sie, aber ich sollte dich gut hueten. Und als ich ihr erwiderte, du faendest schon, dass ich mehr ein Erzieher als ein Ehemann sei, sagte sie halblaut und beinahe wie abwesend: 'Ein junges Laemmchen, weiss wie Schnee.' Und dann brach sie ab." Vetter Briest lachte. "'Ein junges Laemmchen, weiss wie Schnee.' Da hoerst du's, Cousine." Und er wollte sie zu necken fortfahren, gab es aber auf, als er sah, dass sie sich verfaerbte. Das Gespraech, das meist zurueckliegende Verhaeltnisse beruehrte, spann sich noch eine Weile weiter, und Effi erfuhr zuletzt aus diesem und jenem, was Innstetten mitteilte, dass sich von dem ganzen Kessiner Hausstand nur Johanna bereit erklaert habe, die Uebersiedlung nach Berlin mitzumachen. Sie sei natuerlich noch zurueckgeblieben, werde aber in zwei, drei Tagen mit dem Rest der Sachen eintreffen; er sei froh ueber ihren Entschluss, denn sie sei immer die Brauchbarste gewesen und von einem ausgesprochenen grossstaedtischen Schick. Vielleicht ein bisschen zu sehr. Christel und Friedrich haetten sich beide fuer zu alt erklaert, und mit Kruse zu verhandeln, habe sich von vornherein verboten. "Was soll uns ein Kutscher hier?" schloss Innstetten. "Pferd und Wagen, das sind tempi passati, mit diesem Luxus ist es in Berlin vorbei. Nicht einmal das schwarze Huhn haetten wir unterbringen koennen. Oder unterschaetze ich die Wohnung?" Effi schuettelte den Kopf, und als eine kleine Pause eintrat, erhob sich die Mama; es sei bald elf, und sie habe noch einen weiten Weg, uebrigens solle sie niemand begleiten, der Droschkenstand sei ja nah - ein Ansinnen, das Vetter Briest natuerlich ablehnte. Bald darauf trennte man sich, nachdem noch ein Rendezvous fuer den anderen Vormittag verabredet war. Effi war ziemlich frueh auf und hatte - die Luft war beinahe sommerlich warm - den Kaffeetisch bis nahe an die geoeffnete Balkontuer ruecken lassen, und als Innstetten nun auch erschien, trat sie mit ihm auf den Balkon hinaus und sagte: "Nun, was sagst du? Du wolltest den Finkenschlag aus dem Tiergarten hoeren und die Papageien aus dem Zoologischen. Ich weiss nicht, ob beide dir den Gefallen tun werden, aber moeglich ist es. Hoerst du wohl? Das kam von drueben, drueben aus dem kleinen Park. Es ist nicht der eigentliche Tiergarten, aber doch beinah." Innstetten war entzueckt und von einer Dankbarkeit, als ob Effi ihm das alles persoenlich herangezaubert habe. Dann setzten sie sich, und nun kam auch Annie. Roswitha verlangte, dass Innstetten eine grosse Veraenderung an dem Kinde finden solle, was er denn auch schliesslich tat. Und dann plauderten sie weiter, abwechselnd ueber die Kessiner und die in Berlin zu machenden Visiten und ganz zuletzt auch ueber eine Sommerreise. Mitten im Gespraech aber mussten sie abbrechen, um rechtzeitig beim Rendezvous erscheinen zu koennen. Man traf sich, wie verabredet, bei Helms, gegenueber dem Roten Schloss, besuchte verschiedene Laeden, ass bei Hiller und war bei guter Zeit wieder zu Haus. Es war ein gelungenes Beisammensein gewesen. Innstetten herzlich froh, das grossstaedtische Leben wieder mitmachen und auf sich wirken lassen zu koennen. Tags darauf, am 1. April, begab er sich in das Kanzlerpalais, um sich einzuschreiben (eine persoenliche Gratulation unterliess er aus Ruecksicht), und ging dann aufs Ministerium, um sich da zu melden. Er wurde auch angenommen, trotzdem es ein geschaeftlich und gesellschaftlich sehr unruhiger Tag war, ja, sah sich seitens seines Chefs durch besonders entgegenkommende Liebenswuerdigkeit ausgezeichnet. Er wisse, was er an ihm habe, und sei sicher, ihr Einvernehmen nie gestoert zu sehen. Auch im Hause gestaltete sich alles zum Guten. Ein aufrichtiges Bedauern war es fuer Effi, die Mama, nachdem diese, wie gleich anfaenglich vermutet, fast sechs Wochen lang in Kur gewesen, nach Hohen-Cremmen zurueckkehren zu sehen, ein Bedauern, das nur dadurch einigermassen gemildert wurde, dass sich Johanna denselben Tag noch in Berlin einstellte. Das war immerhin was, und wenn die huebsche Blondine dem Herzen Effis auch nicht ganz so nahe stand wie die ganz selbstsuchtslose und unendlich gutmuetige Roswitha, so war sie doch gleichmaessig angesehen, ebenso bei Innstetten wie bei ihrer jungen Herrin, weil sie sehr geschickt und brauchbar und der Maennerwelt gegenueber von einer ausgesprochenen und selbstbewussten Reserviertheit war. Einem Kessiner on dit zufolge liessen sich die Wurzeln ihrer Existenz auf eine laengst pensionierte Groesse der Garnison Pasewalk zurueckfuehren, woraus man sich auch ihre vornehme Gesinnung, ihr schoenes blondes Haar und die besondere Plastik ihrer Gesamterscheinung erklaeren wollte. Johanna selbst teilte die Freude, die man allerseits ueber ihr Eintreffen empfand, und war durchaus einverstanden damit, als Hausmaedchen und Jungfer, ganz wie frueher, den Dienst bei Effi zu uebernehmen, waehrend Roswitha, die der Christel in beinahe Jahresfrist ihre Kochkuenste so ziemlich abgelernt hatte, dem Kuechendepartement vorstehen sollte. Annies Abwartung und Pflege fiel Effi selber zu, worueber Roswitha freilich lachte. Denn sie kannte die jungen Frauen. Innstetten lebte ganz seinem Dienst und seinem Haus. Er war gluecklicher als vordem in Kessin, weil ihm nicht entging, dass Effi sich unbefangener und heiterer gab. Und das konnte sie, weil sie sich freier fuehlte. Wohl blickte das Vergangene noch in ihr Leben hinein, aber es aengstigte sie nicht mehr oder doch um vieles seltener und voruebergehender, und alles, was davon noch in ihr nachzitterte, gab ihrer Haltung einen eigenen Reiz. In jeglichem, was sie tat, lag etwas Wehmuetiges, wie eine Abbitte, und es haette sie gluecklich gemacht, dies alles noch deutlicher zeigen zu koennen. Aber das verbot sich freilich. Das gesellschaftliche Leben der grossen Stadt war, als sie waehrend der ersten Aprilwochen ihre Besuche machten, noch nicht vorueber, wohl aber im Erloeschen, und so kam es fuer sie zu keiner rechten Teilnahme mehr daran. In der zweiten Haelfte des Mai starb es dann ganz hin, und mehr noch als vorher war man gluecklich, sich in der Mittagsstunde, wenn Innstetten von seinem Ministerium kam, im Tiergarten treffen oder nachmittags einen Spaziergang nach dem Charlottenburger Schlossgarten machen zu koennen. Effi sah sich, wenn sie die lange Front zwischen dem Schloss und den Orangeriebaeumen auf und ab schritt, immer wieder die massenhaft dort stehenden roemischen Kaiser an, fand eine merkwuerdige Aehnlichkeit zwischen Nero und Titus, sammelte Tannenaepfel, die von den Trauertannen gefallen waren, und ging dann, Arm in Arm mit ihrem Manne, bis auf das nach der Spree hin einsam gelegene "Belvedere" zu. "Da drin soll es auch einmal gespukt haben", sagte sie. "Nein, bloss Geistererscheinungen." "Das ist dasselbe." "Ja, zuweilen", sagte Innstetten. "Aber eigentlich ist doch ein Unterschied. Geistererscheinungen werden immer gemacht - wenigstens soll es hier in dem 'Belvedere' so gewesen sein, wie Vetter Briest erst gestern noch erzaehlte -, Spuk aber wird nie gemacht, Spuk ist natuerlich." "Also glaubst du doch dran?" "Gewiss glaub ich dran. Es gibt so was. Nur an das, was wir in Kessin davon hatten, glaub ich nicht recht. Hat dir denn Johanna schon ihren Chinesen gezeigt?" "Welchen?" "Nun, unsern. Sie hat ihn, ehe sie unser altes Haus verliess, oben von der Stuhllehne abgeloest und ihn ins Portemonnaie gelegt. Als ich mir neulich ein Markstueck bei ihr wechselte, hab ich ihn gesehen. Und sie hat es mir auch verlegen bestaetigt." "Ach, Geert, das haettest du mir nicht sagen sollen. Nun ist doch wieder so was in unserm Hause." "Sag ihr, dass sie ihn verbrennt." "Nein, das mag ich auch nicht, und das hilft auch nichts. Aber ich will Roswitha bitten ..." "Um was? Ah, ich verstehe schon, ich ahne, was du vorhast. Die soll ein Heiligenbild kaufen und es dann auch ins Portemonnaie tun. Ist es so was?" Effi nickte. "Nun, tu, was du willst. Aber sag es niemandem." Effi meinte dann schliesslich, es lieber doch lassen zu wollen, und unter allerhand kleinem Geplauder, in welchem die Reiseplaene fuer den Sommer mehr und mehr Platz gewannen, fuhren sie bis an den "Grossen Stern" zurueck und gingen dann durch die Korso-Allee und die breite Friedrich-Wilhelm-Strasse auf ihre Wohnung zu. Sie hatten vor, schon Ende Juli Urlaub zu nehmen und ins bayerische Gebirge zu gehen, wo gerade in diesem Jahr wieder die Oberammergauer Spiele stattfanden. Es liess sich aber nicht tun; Geheimrat von Wuellesdorf, den Innstetten schon von frueher her kannte und der jetzt sein Spezialkollege war, erkrankte ploetzlich, und Innstetten musste bleiben und ihn vertreten. Erst Mitte August war alles wieder beglichen und damit die Reisemoeglichkeit gegeben; es war aber nun zu spaet geworden, um noch nach Oberammergau zu gehen, und so entschied man sich fuer einen Aufenthalt auf Ruegen. "Zunaechst natuerlich Stralsund, mit Schill, den du kennst, und mit Scheele, den du nicht kennst und der den Sauerstoff entdeckte, was man aber nicht zu wissen braucht. Und dann von Stralsund nach Bergen und dem Rugard, von wo man, wie mir Wuellersdorf sagte, die ganze Insel uebersehen kann, und dann zwischen dem Grossen und Kleinen Jasmunder-Bodden hin, bis nach Sassnitz. Denn nach Ruegen reisen heisst nach Sassnitz reisen. Binz ginge vielleicht auch noch, aber da sind - ich muss Wuellersdorf noch einmal zitieren - so viele kleine Steinchen und Muschelschalen am Strand, und wir wollen doch baden." Effi war einverstanden mit allem, was von seiten Innstettens geplant wurde, vor allem auch damit, dass der ganze Hausstand auf vier Wochen aufgeloest und Roswitha mit Annie nach Hohen-Cremmen, Johanna aber zu ihrem etwas juengeren Halbbruder reisen sollte, der bei Pasewalk eine Schneidemuehle hatte. So war alles gut untergebracht. Mit Beginn der naechsten Woche brach man denn auch wirklich auf, und am selben Abend noch war man in Sassnitz. Ueber dem Gasthaus stand "Hotel Fahrenheit". "Die Preise hoffentlich nach Reaumur", setzte Innstetten, als er den Namen las, hinzu, und in bester Laune machten beide noch einen Abendspaziergang an dem Klippenstrand hin und sahen von einem Felsenvorsprung aus auf die stille, vom Mondschein ueberzitterte Bucht. Effi war entzueckt. "Ach, Geert, das ist ja Capri, das ist ja Sorrent. Ja, hier bleiben wir. Aber natuerlich nicht im Hotel; die Kellner sind mir zu vornehm, und man geniert sich, um eine Flasche Sodawasser zu bitten ..." "Ja, lauter Attaches. Es wird sich aber wohl eine Privatwohnung finden lassen." "Denk ich auch. Und wir wollen gleich morgen danach aussehen." Schoen wie der Abend war der Morgen, und man nahm das Fruehstueck im Freien. Innstetten empfing etliche Briefe, die schnell erledigt werden mussten, und so beschloss Effi, die fuer sie freigewordene Stunde sofort zur Wohnungssuche zu benutzen. Sie ging erst an einer eingepferchten Wiese, dann an Haeusergruppen und Haferfeldern vorueber und bog zuletzt in einen Weg ein, der schluchtartig auf das Meer zulief. Da, wo dieser Schluchtenweg den Strand traf, stand ein von hohen Buchen ueberschattetes Gasthaus, nicht so vornehm wie das Fahrenheitsche, mehr ein blosses Restaurant, in dem, der fruehen Stunde halber, noch alles leer war. Effi nahm an einem Aussichtspunkt Platz, und kaum dass sie von dem Sherry, den sie bestellt, genippt hatte, so trat auch schon der Wirt an sie heran, um halb aus Neugier und halb aus Artigkeit ein Gespraech mit ihr anzuknuepfen. "Es gefaellt uns sehr gut hier", sagte sie, "meinem Manne und mir; welch praechtiger Blick ueber die Bucht, und wir sind nur in Sorge wegen einer Wohnung." "Ja, gnaedigste Frau, das wird schwerhalten ..." "Es ist aber schon spaet im Jahr ..." "Trotzdem. Hier in Sassnitz ist sicherlich nichts zu finden, dafuer moecht ich mich verbuergen; aber weiterhin am Strand, wo das naechste Dorf anfaengt, Sie koennen die Daecher von hier aus blinken sehen, da moecht es vielleicht sein." "Und wie heisst das Dorf?" "Crampas." Effi glaubte nicht recht gehoert zu haben. "Crampas", wiederholte sie mit Anstrengung. "Ich habe den Namen als Ortsnamen nie gehoert ... Und sonst nichts in der Naehe?" "Nein, gnaedigste Frau. Hier herum nichts. Aber hoeher hinauf, nach Norden zu, da kommen noch wieder Doerfer, und in dem Gasthause, das dicht neben Stubbenkammer liegt, wird man Ihnen gewiss Auskunft geben koennen. Es werden dort von solchen, die gerne noch vermieten wollen, immer Adressen abgegeben." Effi war froh, das Gespraech allein gefuehrt zu haben, und als sie bald danach ihrem Manne Bericht erstattet und nur den Namen des an Sassnitz angrenzenden Dorfes verschwiegen hatte, sagte dieser: "Nun, wenn es hier herum nichts gibt, so wird es das beste sein, wir nehmen einen Wagen (wodurch man sich beilaeufig einem Hotel immer empfiehlt) und uebersiedeln ohne weiteres da hoeher hinauf, nach Stubbenkammer hin. Irgendwas Idyllisches mit einer Geissblattlaube wird sich da wohl finden lassen, und finden wir nichts, so bleibt uns immer noch das Hotel selbst. Eins ist schliesslich wie das andere." Effi war einverstanden, und gegen Mittag schon erreichten sie das neben Stubbenkammer gelegene Gasthaus, von dem Innstetten eben gesprochen, und bestellten daselbst einen Imbiss. "Aber erst nach einer halben Stunde; wir haben vor, zunaechst noch einen Spaziergang zu machen und uns den Herthasee anzusehen. Ein Fuehrer ist doch wohl da?" Dies wurde bejaht, und ein Mann von mittleren Jahren trat alsbald an unsere Reisenden heran. Er sah so wichtig und feierlich aus, als ob er mindestens ein Adjunkt bei dem alten Herthadienst gewesen waere. Der von hohen Baeumen umstandene See lag ganz in der Naehe, Binsen saeumten ihn ein, und auf der stillen, schwarzen Wasserflaeche schwammen zahlreiche Mummeln. "Es sieht wirklich nach so was aus", sagte Effi, "nach Herthadienst." "Ja, gnaed'ge Frau ... Dessen sind auch noch die Steine Zeugen." "Welche Steine?" "Die Opfersteine." Und waehrend sich das Gespraech in dieser Weise fortsetzte, traten alle drei vom See her an eine senkrechte, abgestochene Kies- und Lehmwand heran, an die sich etliche glattpolierte Steine lehnten, alle mit einer flachen Hoehlung und etlichen nach unten laufenden Rinnen. "Und was bezwecken die?" "Dass es besser abliefe, gnaed'ge Frau." "Lass uns gehen", sagte Effi, und den Arm ihres Mannes nehmend, ging sie mit ihm wieder auf das Gasthaus zurueck, wo nun, an einer Stelle mit weitem Ausblick auf das Meer, das vorher bestellte Fruehstueck aufgetragen wurde. Die Bucht lag im Sonnenlicht vor ihnen, einzelne Segelboote glitten darueber hin, und um die benachbarten Klippen haschten sich die Moewen. Es war sehr schoen, auch Effi fand es; aber wenn sie dann ueber die glitzernde Flaeche hinwegsah, bemerkte sie, nach Sueden zu, wieder die hell aufleuchtenden Daecher des langgestreckten Dorfes, dessen Name sie heute frueh so sehr erschreckt hatte. Innstetten, wenn auch ohne Wissen und Ahnung dessen, was in ihr vorging, sah doch deutlich, dass es ihr an aller Lust und Freude gebrach. "Es tut mir leid, Effi, dass du der Sache nicht recht froh wirst. Du kannst den Herthasee nicht vergessen und noch weniger die Steine." Sie nickte. "Es ist so, wie du sagst. Und ich muss dir bekennen, ich habe nichts in meinem Leben gesehen, was mich so traurig gestimmt haette. Wir wollen das Wohnungssuchen ganz aufgeben; ich kann hier nicht bleiben." "Und gestern war es dir noch der Golf von Neapel und alles moegliche Schoene." "Ja, gestern." "Und heute? Heute keine Spur mehr von Sorrent?" "Eine Spur noch, aber auch nur eine Spur; es ist Sorrent, als ob es sterben wollte." "Gut dann, Effi", sagte Innstetten und reichte ihr die Hand. "Ich will dich mit Ruegen nicht quaelen, und so geben wir's denn auf. Abgemacht. Es ist nicht noetig, dass wir uns an Stubbenkammer anklammern oder an Sassnitz oder da weiter hinunter. Aber wohin?" "Ich denke, wir bleiben noch einen Tag und warten das Dampfschiff ab, das, wenn ich nicht irre, morgen von Stettin kommt und nach Kopenhagen hinueberfaehrt. Da soll es ja so vergnueglich sein, und ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich nach etwas Vergnueglichem sehne. Hier ist mir, als ob ich in meinem ganzen Leben nicht mehr lachen koennte und ueberhaupt nie gelacht haette, und du weisst doch, wie gern ich lache." Innstetten zeigte sich voll Teilnahme mit ihrem Zustand, und das um so lieber, als er ihr in vielem recht gab. Es war wirklich alles schwermuetig, so schoen es war. Und so warteten sie denn das Stettiner Schiff ab und trafen am dritten Tag in aller Fruehe in Kopenhagen ein, wo sie auf Kongens Nytorv Wohnung nahmen. Zwei Stunden spaeter waren sie schon im Thorwaldsen-Museum, und Effi sagte: "Ja, Geert, das ist schoen, und ich bin gluecklich, dass wir uns hierher auf den Weg gemacht haben." Bald danach gingen sie zu Tisch und machten an der Table d'hote die Bekanntschaft einer ihnen gegenuebersitzenden juetlaendischen Familie, deren bildschoene Tochter, Thora von Penz, ebenso Innstettens wie Effis beinah bewundernde Aufmerksamkeit sofort in Anspruch nahm. Effi konnte sich nicht satt sehen an den grossen blauen Augen und dem flachsblonden Haar, und als man sich nach anderthalb Stunden von Tisch erhob, wurde seitens der Penzschen Familie - die leider, denselben Tag noch, Kopenhagen wieder verlassen musste - die Hoffnung ausgesprochen, das junge preussische Paar mit naechstem in Schloss Aggerhuus (eine halbe Meile vom Limfjord) begruessen zu duerfen, eine Einladung, die von den Innstettens auch ohne langes Zoegern angenommen wurde. So vergingen die Stunden im Hotel. Aber damit war es nicht genug des Guten an diesem merkwuerdigen Tag, von dem Effi denn auch versicherte, dass er im Kalender rot angestrichen werden muesse. Der Abend brachte, das Mass des Gluecks voll zu machen, eine Vorstellung im Tivoli-Theater: eine italienische Pantomime, Arlequin und Colombine. Effi war wie berauscht von den kleinen Schelmereien, und als sie spaet am Abend nach ihrem Hotel zurueckkehrten, sagte sie: "Weisst du, Geert, nun fuehl ich doch, dass ich allmaehlich wieder zu mir komme. Von der schoenen Thora will ich gar nicht erst sprechen; aber wenn ich bedenke, heute vormittag Thorwaldsen und heute abend diese Colombine ..." "... Die dir im Grunde doch noch lieber war als Thorwaldsen..." "Offen gestanden, ja. Ich habe nun mal den Sinn fuer dergleichen. Unser gutes Kessin war ein Unglueck fuer mich. Alles fiel mir da auf die Nerven. Ruegen beinah auch. Ich denke, wir bleiben noch ein paar Tage hier in Kopenhagen, natuerlich mit Ausflug nach Frederiksborg und Helsingoer, und dann nach Juetland hinueber; ich freue mich aufrichtig, die schoene Thora wiederzusehen, und wenn ich ein Mann waere, so verliebte ich mich in sie." Innstetten lachte. "Du weisst noch nicht, was ich tue." "Waer mir schon recht. Dann gibt es einen Wettstreit, und du sollst sehen, dann hab ich auch noch meine Kraefte." "Das brauchst du mir nicht erst zu versichern." So verlief denn auch die Reise. Drueben in Juetland fuhren sie den Limfjord hinauf, bis Schloss Aggerhuus, wo sie drei Tage bei der Penzschen Familie verblieben, und kehrten dann mit vielen Stationen und kuerzeren und laengeren Aufenthalten in Viborg, Flensburg, Kiel ueber Hamburg (das ihnen ungemein gefiel) in die Heimat zurueck - nicht direkt nach Berlin in die Keithstrasse, wohl aber vorher nach Hohen-Cremmen, wo man sich nun einer wohlverdienten Ruhe hingeben wollte, fuer Innstetten bedeutete das nur wenige Tage, da sein Urlaub abgelaufen war, Effi blieb aber noch eine Woche laenger und sprach es aus, erst zum dritten Oktober, ihrem Hochzeitstag, wieder zu Hause eintreffen zu wollen. Annie war in der Landluft praechtig gediehen, und was Roswitha geplant hatte, dass sie der Mama in Stiefelchen entgegenlaufen sollte, das gelang auch vollkommen. Briest gab sich als zaertlicher Grossvater, warnte vor zuviel Liebe, noch mehr vor zuviel Strenge, und war in allem der alte. Eigentlich aber galt all seine Zaertlichkeit doch nur Effi, mit der er sich in seinem Gemuet immer beschaeftigte, zumeist auch, wenn er mit seiner Frau allein war. "Wie findest du Effi?" "Lieb und gut wie immer. Wir koennen Gott nicht genug danken, eine so liebenswuerdige Tochter zu haben. Und wie dankbar sie fuer alles ist und immer so gluecklich, wieder unter unserm Dach zu sein." "Ja", sagte Briest, "sie hat von dieser Tugend mehr, als mir lieb ist. Eigentlich ist es, als waere dies hier immer noch ihre Heimstaette. Sie hat doch den Mann und das Kind, und der Mann ist ein Juwel, und das Kind ist ein Engel, aber dabei tut sie, als waere Hohen-Cremmen immer noch die Hauptsache fuer sie, und Mann und Kind kaemen gegen uns beide nicht an. Sie ist eine praechtige Tochter, aber sie ist es mir zu sehr. Es aengstigt mich ein bisschen. Und ist auch ungerecht gegen Innstetten. Wie steht es denn eigentlich damit?" "Ja, Briest, was meinst du?" "Nun, ich meine, was ich meine, und du weisst auch was. Ist sie gluecklich? Oder ist da doch irgendwas im Wege? Von Anfang an war mir's so, als ob sie ihn mehr schaetze als liebe. Und das ist in meinen Augen ein schlimm Ding. Liebe haelt auch nicht immer vor, aber Schaetzung gewiss nicht. Eigentlich aergern sich die Weiber, wenn sie wen schaetzen muessen; erst aergern sie sich, und dann langweilen sie sich, und zuletzt lachen sie." "Hast du so was an dir selber erfahren?" "Das will ich nicht sagen. Dazu stand ich nicht hoch genug in der Schaetzung. Aber schrauben wir uns nicht weiter, Luise. Sage, wie steht es?" "Ja, Briest, du kommst immer auf diese Dinge zurueck. Da reicht ja kein dutzendmal, dass wir darueber gesprochen und unsere Meinungen ausgetauscht haben, und immer bist du wieder da mit deinem Alleswissenwollen und fragst dabei so schrecklich naiv, als ob ich in alle Tiefen saehe. Was hast du nur fuer Vorstellungen von einer jungen Frau und ganz speziell von deiner Tochter? Glaubst du, dass das alles so plan daliegt? Oder dass ich ein Orakel bin (ich kann mich nicht gleich auf den Namen der Person besinnen) oder dass ich die Wahrheit sofort klipp und klar in den Haenden halte, wenn mir Effi ihr Herz ausgeschuettet hat? Oder was man wenigstens so nennt. Denn was heisst ausschuetten? Das Eigentliche bleibt doch zurueck. Sie wird sich hueten, mich in ihre Geheimnisse einzuweihen. Ausserdem, ich weiss nicht, von wem sie's hat, sie ist ... ja, sie ist eine sehr schlaue kleine Person, und diese Schlauheit an ihr ist um so gefaehrlicher, weil sie so sehr liebenswuerdig ist." "Also das gibst du doch zu ... liebenswuerdig. Und auch gut?" "Auch gut. Das heisst voll Herzensguete. Wie's sonst steht, da bin ich mir doch nicht sicher; ich glaube, sie hat einen Zug, den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen und sich zu troesten, er werde wohl nicht allzu streng mit ihr sein." "Meinst du?" "Ja, das meine ich. Uebrigens glaube ich, dass sich vieles gebessert hat. Ihr Charakter ist, wie er ist, aber die Verhaeltnisse liegen seit ihrer Uebersiedlung um vieles guenstiger, und sie leben sich mehr und mehr ineinander ein. Sie hat mir so was gesagt, und was mir wichtiger ist, ich hab es auch bestaetigt gefunden, mit Augen gesehen." "Nun, was sagte sie?" "Sie sagte: 'Mama, es geht jetzt besser. Innstetten war immer ein vortrefflicher Mann, so einer, wie's nicht viele gibt, aber ich konnte nicht recht an ihn heran, er hatte so was Fremdes. Und fremd war er auch in seiner Zaertlichkeit. Ja, dann am meisten; es hat Zeiten gegeben, wo ich mich davor fuerchtete." "Kenn ich, kenn' ich." "Was soll das heissen, Briest? Soll ich mich gefuerchtet haben, oder willst du dich gefuerchtet haben? Ich finde beides gleich laecherlich ..." "Du wolltest von Effi erzaehlen." "Nun also, sie gestand mir, dass dies Gefuehl des Fremden sie verlassen habe, was sie sehr gluecklich mache. Kessin sei nicht der rechte Platz fuer sie gewesen, das spukige Haus und die Menschen da, die einen zu fromm, die andern zu platt; aber seit ihrer Uebersiedlung nach Berlin fuehle sie sich ganz an ihrem Platz. Er sei der beste Mensch, etwas zu alt fuer sie und zu gut fuer sie, aber sie sei nun ueber den Berg. Sie brauchte diesen Ausdruck, der mir allerdings auffiel." "Wieso? Er ist nicht ganz auf der Hoehe, ich meine der Ausdruck. Aber ..." "Es steckt etwas dahinter. Und sie hat mir das auch andeuten wollen." "Meinst du?" "Ja, Briest; du glaubst immer, sie koenne kein Wasser trueben. Aber darin irrst du. Sie laesst sich gern treiben, und wenn die Welle gut ist, dann ist sie auch selber gut. Kampf und Widerstand sind nicht ihre Sache." Roswitha kam mit Annie, und so brach das Gespraech ab. Dies Gespraech fuehrten Briest und Frau an demselben Tag, wo Innstetten von Hohen-Cremmen nach Berlin hin abgereist war, Effi auf wenigstens noch eine Woche zuruecklassend. Er wusste, dass es nichts Schoeneres fuer sie gab, als so sorglos in einer weichen Stimmung hintraeumen zu koennen, immer freundliche Worte zu hoeren und die Versicherung, wie liebenswuerdig sie sei. Ja, das war das, was ihr vor allem wohltat, und sie genoss es auch diesmal wieder in vollen Zuegen und aufs dankbarste, trotzdem jede Zerstreuung fehlte; Besuch kam selten, weil es seit ihrer Verheiratung, wenigstens fuer die junge Welt, an dem rechten Anziehungspunkt gebrach, und selbst die Pfarre und die Schule waren nicht mehr das, was sie noch vor Jahr und Tag gewesen waren. Zumal im Schulhaus stand alles halb leer. Die Zwillinge hatten sich im Fruehjahr an zwei Lehrer in der Naehe von Genthin verheiratet, grosse Doppelhochzeit mit Festbericht im "Anzeiger fuers Havelland", und Hulda war in Friesack zur Pflege einer alten Erbtante, die sich uebrigens, wie gewoehnlich in solchen Faellen, um sehr viel langlebiger erwies, als Niemeyers angenommen hatten. Hulda schrieb aber trotzdem immer zufriedene Briefe, nicht weil sie wirklich zufrieden war (im Gegenteil), sondern weil sie den Verdacht nicht aufkommen lassen wollte, dass es einem so ausgezeichneten Wesen anders als sehr gut ergehen koenne. Niemeyer, ein schwacher Vater, zeigte die Briefe mit Stolz und Freude, waehrend der ebenfalls ganz in seinen Toechtern lebende Jahnke sich herausgerechnet hatte, dass beide junge Frauen am selben Tage, und zwar am Weihnachtsheiligabend, ihre Niederkunft halten wuerden. Effi lachte herzlich und drueckte dem Grossvater in spe zunaechst den Wunsch aus, bei beiden Enkeln zu Gevatter geladen zu werden, liess dann aber die Familienthemata fallen und erzaehlte von "Kjoebenhavn" und Helsingoer, vom Limfjord und Schloss Aggerhuus und vor allem von Thora von Penz, die, wie sie nur sagen koenne, "typisch skandinavisch" gewesen sei, blauaeugig, flachsen und immer in einer roten Plueschtaille, wobei sich Jahnke verklaerte und einmal ueber das andere sagte: "Ja, so sind sie; rein germanisch, viel deutscher als die Deutschen." An ihrem Hochzeitstag, dem dritten Oktober, wollte Effi wieder in Berlin sein. Nun war es der Abend vorher, und unter dem Vorgeben, dass sie packen und alles zur Rueckreise vorbereiten wolle, hatte sie sich schon verhaeltnismaessig frueh auf ihr Zimmer zurueckgezogen. Eigentlich lag ihr aber nur daran, allein zu sein; so gern sie plauderte, so hatte sie doch auch Stunden, wo sie sich nach Ruhe sehnte. Die von ihr im Oberstock bewohnten Zimmer lagen nach dem Garten hinaus; in dem kleineren schliefen Roswitha und Annie, die Tuer nur angelehnt, in dem groesseren, das sie selber innehatte, ging sie auf und ab; die unteren Fensterfluegel waren geoeffnet, und die kleinen weissen Gardinen bauschten sich in dem Zug, der ging, und fielen dann langsam ueber die Stuhllehne, bis ein neuer Zugwind kam und sie wieder frei machte. Dabei war es so hell, dass man die Unterschriften unter den ueber dem Sofa haengenden und in schmale Goldleisten eingerahmten Bildern deutlich lesen konnte: "Der Sturm auf Dueppel, Schanze V" und daneben: "Koenig Wilhelm und Graf Bismarck auf der Hoehe von Lipa". Effi schuettelte den Kopf und laechelte. "Wenn ich wieder hier bin, bitt ich mir andere Bilder aus; ich kann so was Kriegerisches nicht leiden." Und nun schloss sie das eine Fenster und setzte sich an das andere, dessen Fluegel sie offenliess. Wie tat ihr das alles so wohl. Neben dem Kirchturm stand der Mond und warf sein Licht auf den Rasenplatz mit der Sonnenuhr und den Heliotropbeeten. Alles schimmerte silbern, und neben den Schattenstreifen lagen weisse Lichtstreifen, so weiss, als laege Leinwand auf der Bleiche. Weiterhin aber standen die hohen Rhabarberstauden wieder, die Blaetter herbstlich gelb, und sie musste des Tages gedenken, nun erst wenig ueber zwei Jahre, wo sie hier mit Hulda und den Jahnkeschen Maedchen gespielt hatte. Und dann war sie, als der Besuch kam, die kleine Steintreppe neben der Bank hinaufgestiegen, und eine Stunde spaeter war sie Braut. Sie erhob sich und ging auf die Tuer zu und horchte: Roswitha schlief schon und Annie auch. Und mit einem Male, waehrend sie das Kind so vor sich hatte, traten ungerufen allerlei Bilder aus den Kessiner Tagen wieder vor ihre Seele: das landraetliche Haus mit seinem Giebel und die Veranda mit dem Blick auf die Plantage, und sie sass im Schaukelstuhl und wiegte sich; und nun trat Crampas an sie heran, um sie zu begruessen, und dann kam Roswitha mit dem Kinde, und sie nahm es und hob es hoch in die Hoehe und kuesste es. "Das war der erste Tag; da fing es an." Und waehrend sie dem nachhing, verliess sie das Zimmer, drin die beiden schliefen, und setzte sich wieder an das offene Fenster und sah in die stille Nacht hinaus. "Ich kann es nicht loswerden", sagte sie. "Und was das schlimmste ist und mich ganz irre macht an mir selbst ..." In diesem Augenblick setzte die Turmuhr drueben ein, und Effi zaehlte die Schlaege. "Zehn ... Und morgen um diese Stunde bin ich in Berlin. Und wir sprechen davon, dass unser Hochzeitstag sei, und er sagt mir Liebes und Freundliches und vielleicht Zaertliches. Und ich sitze dabei und hoere es und habe die Schuld auf meiner Seele." Und sie stuetzte den Kopf auf ihre Hand und starrte vor sich hin und schwieg. "Und ich habe die Schuld auf meiner Seele", wiederholte sie. "Ja, da hab ich sie. Aber lastet sie auch auf meiner Seele? Nein. Und das ist es, warum ich vor mir selbst erschrecke. Was da lastet, das ist etwas ganz anderes - Angst, Todesangst und die ewige Furcht: Es kommt doch am Ende noch an den Tag. Und dann ausser der Angst ... Scham. Ich schaeme mich. Aber wie ich nicht die rechte Reue habe, so hab ich auch nicht die rechte Scham. Ich schaeme mich bloss von wegen dem ewigen Lug und Trug; immer war es mein Stolz, dass ich nicht luegen koenne und auch nicht zu luegen brauche, luegen ist so gemein, und nun habe ich doch immer luegen muessen, vor ihm und vor aller Welt, im grossen und im kleinen, und Rummschuettel hat es gemerkt und hat die Achseln gezuckt, und wer weiss, was er von mir denkt, jedenfalls nicht das Beste. Ja, Angst quaelt mich und dazu Scham ueber mein Luegenspiel. Aber Scham ueber meine Schuld, die hab ich nicht oder doch nicht so recht oder doch nicht genug, und das bringt mich um, dass ich sie nicht habe. Wenn alle Weiber so sind, dann ist es schrecklich, und wenn sie nicht so sind, wie ich hoffe, dann steht es schlecht um mich, dann ist etwas nicht in Ordnung in meiner Seele, dann fehlt mir das richtige Gefuehl. Und das hat mir der alte Niemeyer in seinen guten Tagen noch, als ich noch ein halbes Kind war, mal gesagt: auf ein richtiges Gefuehl, darauf kaeme es an, und wenn man das habe, dann koenne einem das Schlimmste nicht passieren, und wenn man es nicht habe, dann sei man in einer ewigen Gefahr, und das, was man den Teufel nenne, das habe dann eine sichere Macht ueber uns. Um Gottes Barmherzigkeit willen, steht es so mit mir?" Und sie legte den Kopf in ihre Arme und weinte bitterlich. Als sie sich wieder aufrichtete, war sie ruhiger geworden und sah wieder in den Garten hinaus. Alles war so still, und ein leiser, feiner Ton, wie wenn es regnete, traf von den Platanen her ihr Ohr. So verging eine Weile. Herueber von der Dorfstrasse klang ein Geplaerr: der alte Nachtwaechter Kulicke rief die Stunden ab, und als er zuletzt schwieg, vernahm sie von fernher, aber immer naeher kommend, das Rasseln des Zuges, der auf eine halbe Meile Entfernung an Hohen-Cremmen vorueberfuhr. Dann wurde der Laerm wieder schwaecher, endlich erstarb er ganz, und nur der Mondschein lag noch auf dem Grasplatz, und nur auf die Platanen rauschte es nach wie vor wie leiser Regen nieder. Aber es war nur die Nachtluft, die ging. Fuenfundzwanzigstes Kapitel Am andern Abend war Effi wieder in Berlin, und Innstetten empfing sie am Bahnhof, mit ihm Rollo, der, als sie plaudernd durch den Tiergarten hinfuhren, nebenher trabte. "Ich dachte schon, du wuerdest nicht Wort halten." "Aber Geert, ich werde doch Wort halten, das ist doch das erste." "Sage das nicht. Immer Wort halten ist sehr viel. Und mitunter kann man auch nicht. Denke doch zurueck. Ich erwartete dich damals in Kessin, als du die Wohnung mietetest, und wer nicht kam, war Effi." "Ja, das war was anderes." Sie mochte nicht sagen "ich war krank", und Innstetten hoerte drueber hin. Er hatte seinen Kopf auch voll anderer Dinge, die sich auf sein Amt und seine gesellschaftliche Stellung bezogen. "Eigentlich, Effi, faengt unser Berliner Leben nun erst an. Als wir im April hier einzogen, damals ging es mit der Saison auf die Neige, kaum noch, dass wir unsere Besuche machen konnten, und Wuellersdorf, der einzige, dem wir naherstanden - nun, der ist leider Junggeselle. Von Juni an schlaeft dann alles ein, und die heruntergelassenen Rollos verkuenden einem schon auf hundert Schritt 'Alles ausgeflogen'; ob wahr oder nicht, macht keinen Unterschied ... Ja, was blieb da noch? Mal mit Vetter Briest sprechen, mal bei Hiller essen, das ist kein richtiges Berliner Leben. Aber nun soll es anders werden. Ich habe mir die Namen aller Raete notiert, die noch mobil genug sind, um ein Haus zu machen. Und wir wollen es auch, wollen auch ein Haus machen, und wenn der Winter dann da ist, dann soll es im ganzen Ministerium heissen: 'Ja, die liebenswuerdigste Frau, die wir jetzt haben, das ist doch die Frau von Innstetten.'" "Ach, Geert, ich kenne dich ja gar nicht wieder, du sprichst ja wie ein Courmacher." "Es ist unser Hochzeitstag, und da musst du mir schon was zugute halten." Innstetten war ernsthaft gewillt, auf das stille Leben, das er in seiner landraetlichen Stellung gefuehrt, ein gesellschaftlich angeregteres folgen zu lassen, um seinet- und noch mehr um Effis willen; es liess sich aber anfangs nur schwach und vereinzelt damit an, die rechte Zeit war noch nicht gekommen, und das Beste, was man zunaechst von dem neuen Leben hatte, war genauso wie waehrend des zurueckliegenden Halbjahres ein Leben im Hause. Wuellersdorf kam oft, auch Vetter Briest, und waren die da, so schickte man zu Gizickis hinauf, einem jungen Ehepaar, das ueber ihnen wohnte. Gizicki selbst war Landgerichtsrat, seine kluge, aufgeweckte Frau ein Fraeulein von Schmettau. Mitunter wurde musiziert, kurze Zeit sogar ein Whist versucht; man gab es aber wieder auf, weil man fand, dass eine Plauderei gemuetlicher waere. Gizickis hatten bis vor kurzem in einer kleinen oberschlesischen Stadt gelebt, und Wuellersdorf war sogar, freilich vor einer Reihe von Jahren schon, in den verschiedensten kleinen Nestern der Provinz Posen gewesen, weshalb er denn auch den bekannten Spottvers: Schrimm Ist schlimm, Rogasen Zum Rasen, Aber weh dir nach Samter Verdammter - mit ebensoviel Emphase wie Vorliebe zu zitieren pflegte. Niemand erheiterte sich dabei mehr als Effi, was dann meistens Veranlassung wurde, kleinstaedtische Geschichten in Huelle und Fuelle folgen zu lassen. Auch Kessin mit Gieshuebler und der Trippelli, Oberfoerster Ring und Sidonie Grasenabb kam dann wohl an die Reihe, wobei sich Innstetten, wenn er guter Laune war, nicht leicht genugtun konnte. "Ja", so hiess es dann wohl, "unser gutes Kessin! Das muss ich zugeben, es war eigentlich reich an Figuren, obenan Crampas, Major Crampas, ganz Beau und halber Barbarossa, den meine Frau, ich weiss nicht, soll ich sagen unbegreiflicher- oder begreiflicherweise, stark in Affektion genommen hatte ..." "Sagen wir begreiflicherweise", warf Wuellersdorf ein, "denn ich nehme an, dass er Ressourcenvorstand war und Komoedie spielte, Liebhaber oder Bonvivants. Und vielleicht noch mehr, vielleicht war er auch ein Tenor." Innstetten bestaetigte das eine wie das andere, und Effi suchte lachend darauf einzugehen, aber es gelang ihr nur mit Anstrengung, und wenn dann die Gaeste gingen und Innstetten sich in sein Zimmer zurueckzog, um noch einen Stoss Akten abzuarbeiten, so fuehlte sie sich immer aufs neue von den alten Vorstellungen gequaelt, und es war ihr zu Sinn, als ob ihr ein Schatten nachginge. Solche Beaengstigungen blieben ihr auch. Aber sie kamen doch seltener und schwaecher, was bei der Art, wie sich ihr Leben gestaltete, nicht wundernehmen konnte. Die Liebe, mit der ihr nicht nur Innstetten, sondern auch fernerstehende Personen begegneten, und nicht zum wenigsten die beinah zaertliche Freundschaft, die die Ministerin, eine selbst noch junge Frau, fuer sie an den Tag legte - all das liess die Sorgen und Aengste zurueckliegender Tage sich wenigstens mindern, und als ein zweites Jahr ins Land gegangen war und die Kaiserin, bei Gelegenheit einer neuen Stiftung, die "Frau Geheimraetin" mit ausgewaehlt und in die Zahl der Ehrendamen eingereiht, der alte Kaiser Wilhelm aber auf dem Hofball gnaedige, huldvolle Worte an die schoene junge Frau, von der er schon gehoert habe, gerichtet hatte, da fiel es allmaehlich von ihr ab. Es war einmal gewesen, aber weit, weit weg, wie auf einem andern Stern, und alles loeste sich wie ein Nebelbild und wurde Traum. Die Hohen-Cremmener kamen dann und wann auf Besuch und freuten sich des Gluecks der Kinder, Annie wuchs heran - "schoen wie die Grossmutter", sagte der alte Briest -, und wenn es an dem klaren Himmel eine Wolke gab, so war es die, dass es, wie man nun beinahe annehmen musste, bei Klein Annie sein Bewenden haben werde; Haus Innstetten (denn es gab nicht einmal Namensvettern) stand also mutmasslich auf dem Aussterbeetat. Briest, der den Fortbestand anderer Familien obenhin behandelte, weil er eigentlich nur an die Briests glaubte, scherzte mitunter darueber und sagte: "Ja, Innstetten, wenn das so weitergeht, so wird Annie seinerzeit wohl einen Bankier heiraten (hoffentlich einen christlichen, wenn's deren dann noch gibt), und mit Ruecksicht auf das alte freiherrliche Geschlecht der Innstetten wird dann Seine Majestaet Annies Haute-finance-Kinder unter dem Namen 'von der Innstetten' im Gothaischen Kalender, oder was weniger wichtig ist, in der preussischen Geschichte fortleben lassen." - Ausfuehrungen, die von Innstetten selbst immer mit einer kleinen Verlegenheit, von Frau von Briest mit Achselzucken, von Effi dagegen mit Heiterkeit aufgenommen wurden. Denn so adelsstolz sie war, so war sie's doch nur fuer ihre Person, und ein eleganter und welterfahrener und vor allem sehr, sehr reicher Bankierschwiegersohn waere durchaus nicht gegen ihre Wuensche gewesen. Ja, Effi nahm die Erbfolgefrage leicht, wie junge, reizende Frauen das tun; als aber eine lange, lange Zeit - sie waren schon im siebenten Jahr in ihrer neuen Stellung - vergangen war, wurde der alte Rummschuettel, der auf dem Gebiet der Gynaekologie nicht ganz ohne Ruf war, durch Frau von Briest doch schliesslich zu Rate gezogen. Er verordnete Schwalbach. Weil aber Effi seit letztem Winter auch an katarrhalischen Affektionen litt und ein paarmal sogar auf Lunge hin behorcht worden war, so hiess es abschliessend: "Also zunaechst Schwalbach, meine Gnaedigste, sagen wir drei Wochen, und dann ebensolange Ems. Bei der Emser Kur kann aber der Geheimrat zugegen sein. Bedeutet mithin alles in allem drei Wochen Trennung. Mehr kann ich fuer Sie nicht tun, lieber Innstetten." Damit war man denn auch einverstanden, und zwar sollte Effi, dahin ging ein weiterer Beschluss, die Reise mit einer Geheimraetin Zwicker zusammen machen, wie Briest sagte, "zum Schutz dieser letzteren", worin er nicht ganz unrecht hatte, da die Zwicker, trotz guter Vierzig, eines Schutzes erheblich beduerftiger war als Effi Innstetten, der wieder viel mit Vertretung zu tun hatte, beklagte, dass er, von Schwalbach gar nicht zu reden, wahrscheinlich auch auf gemeinschaftliche Tage in Ems werde verzichten muessen. Im uebrigen wurde der 24. Juni (Johannistag) als Abreisetag festgesetzt, und Roswitha half der gnaedigen Frau beim Packen und Aufschreiben der Waesche. Effi hatte noch immer die alte Liebe fuer sie, war doch Roswitha die einzige, mit der sie von all dem Zurueckliegenden, von Kessin und Crampas, von dem Chinesen und Kapitaen Thomsens Nichte frei und unbefangen reden konnte. "Sage, Roswitha, du bist doch eigentlich katholisch. Gehst du denn nie zur Beichte?" "Nein." "Warum nicht?" "Ich bin frueher gegangen. Aber das Richtige hab ich doch nicht gesagt." "Das ist sehr unrecht. Dann freilich kann es nicht helfen." "Ach, gnaedigste Frau, bei mir im Dorf machten es alle so. Und welche waren, die kicherten bloss." "Hast du denn nie empfunden, dass es ein Glueck ist, wenn man etwas auf der Seele hat, dass es runter kann?" "Nein, gnaedigste Frau. Angst habe ich wohl gehabt, als mein Vater damals mit dem gluehenden Eisen auf mich loskam; ja, das war eine grosse Furcht, aber weiter war es nichts." "Nicht vor Gott?" "Nicht so recht, gnaedigste Frau. Wenn man sich vor seinem Vater so fuerchtet, wie ich mich gefuerchtet habe, dann fuerchtet man sich nicht so sehr vor Gott. Ich habe bloss immer gedacht, der liebe Gott sei gut und werde mir armem Wurm schon helfen." Effi laechelte und brach ab und fand es auch natuerlich, dass die arme Roswitha so sprach, wie sie sprach. Sie sagte aber doch: "Weisst du, Roswitha, wenn ich wiederkomme, muessen wir doch noch mal ernstlich drueber reden. Es war doch eigentlich eine grosse Suende." "Das mit dem Kinde und dass es verhungert ist? Ja, gnaedigste Frau, das war es. Aber ich war es ja nicht, das waren ja die anderen ... Und dann ist es auch schon so sehr lange her." Sechsundzwanzigstes Kapitel Effi war nun schon in die fuenfte Woche fort und schrieb glueckliche, beinahe uebermuetige Briefe, namentlich seit ihrem Eintreffen in Ems, wo man doch unter Menschen sei, das heisst unter Maennern, von denen sich in Schwalbach nur ausnahmsweise was gezeigt habe. Geheimraetin Zwicker, ihre Reisegefaehrtin, habe freilich die Frage nach dem Kurgemaessen dieser Zutat aufgeworfen und sich aufs entschiedenste dagegen ausgesprochen, alles natuerlich mit einem Gesichtsausdruck, der so ziemlich das Gegenteil versichert habe; die Zwicker sei reizend, etwas frei, wahrscheinlich sogar mit einer Vergangenheit, aber hoechst amuesant, und man koenne viel, sehr viel von ihr lernen; nie habe sie sich, trotz ihrer Fuenfundzwanzig, so als Kind gefuehlt, wie nach der Bekanntschaft mit dieser Dame. Dabei sei sie so belesen, auch in fremder Literatur, und als sie, Effi beispielsweise neulich von Nana gesprochen und dabei gefragt habe, ob es denn wirklich so schrecklich sei, habe die Zwicker geantwortet: "Ach, meine liebe Baronin, was heisst schrecklich? Da gibt es noch ganz anderes." - "Sie schien mich auch", so schloss Effi ihren Brief, "mit diesem 'anderen' bekannt machen zu wollen. Ich habe es aber abgelehnt, weil ich weiss, dass Du die Unsitte unserer Zeit aus diesem und aehnlichem herleitest, und wohl mit Recht. Leicht ist es mir aber nicht geworden. Dazu kommt noch, dass Ems in einem Kessel liegt. Wir leiden hier ausserordentlich unter der Hitze." Innstetten hatte diesen letzten Brief mit geteilten Empfindungen gelesen, etwas erheitert, aber doch auch ein wenig missmutig. Die Zwicker war keine Frau fuer Effi, der nun mal ein Zug innewohnte, sich nach links hin treiben zu lassen; er gab es aber auf, irgendwas in diesem Sinne zu schreiben, einmal weil er sie nicht verstimmen wollte, mehr noch, weil er sich sagte, dass es doch nichts helfen wuerde. Dabei sah er der Rueckkehr seiner Frau mit Sehnsucht entgegen und beklagte des Dienstes nicht bloss "immer gleichgestellte", sondern jetzt, wo jeder Ministerialrat fort war oder fort wollte, leider auch auf Doppelstunden gestellte Uhr. Ja, Innstetten sehnte sich nach Unterbrechung von Arbeit und Einsamkeit, und verwandte Gefuehle hegte man draussen in der Kueche, wo Annie, wenn die Schulstunden hinter ihr lagen, ihre Zeit am liebsten verbrachte, was insoweit ganz natuerlich war, als Roswitha und Johanna nicht nur das kleine Fraeulein in gleichem Masse liebten, sondern auch untereinander nach wie vor auf dem besten Fusse standen. Diese Freundschaft der beiden Maedchen war ein Lieblingsgespraech zwischen den verschiedenen Freunden des Hauses, und Landgerichtsrat Gizicki sagte dann wohl zu Wuellersdorf: "Ich sehe darin nur eine neue Bestaetigung des alten Weisheitssatzes: 'Lasst fette Leute um mich sein'; Caesar war eben ein Menschenkenner und wusste, dass Dinge wie Behaglichkeit und Umgaenglichkeit eigentlich nur beim Embonpomt sind." Von einem solchen liess sich denn nun bei beiden Maedchen auch wirklich sprechen, nur mit dem Unterschied, dass das in diesem Falle nicht gut zu umgehende Fremdwort bei Roswitha schon stark eine Beschoenigung, bei Johanna dagegen einfach die zutreffende Bezeichnung war. Diese letztere durfte man naemlich nicht eigentlich korpulent nennen, sie war nur prall und drall und sah jederzeit mit einer eigenen, ihr uebrigens durchaus kleidenden Siegermiene gradlinig und blauaeugig ueber ihre Normalbueste fort. Von Haltung und Anstand getragen, lebte sie ganz in dem Hochgefuehl, die Dienerin eines guten Hauses zu sein, wobei sie das Ueberlegenheitsbewusstsein ueber die halb baeuerisch gebliebene Roswitha in einem so hohen Masse hatte, dass sie, was gelegentlich vorkam, die momentan bevorzugte Stellung dieser nur belaechelte. Diese Bevorzugung - nun ja, wenn's dann mal so sein sollte, war eine kleine liebenswuerdige Sonderbarkeit der gnaedigen Frau, die man der guten alten Roswitha mit ihrer ewigen Geschichte "von dem Vater mit der gluehenden Eisenstange" schon goennen konnte. "Wenn man sich besser haelt, so kann dergleichen nicht vorkommen." Das alles dachte sie, sprach's aber nicht aus. Es war eben ein freundliches Miteinanderleben. Was aber wohl ganz besonders fuer Frieden und gutes Einvernehmen sorgte, das war der Umstand, dass man sich nach einem stillen Uebereinkommen in die Behandlung und fast auch Erziehung Annies geteilt hatte. Roswitha hatte das poetische Departement, die Maerchen- und Geschichtenerzaehlung, Johanna dagegen das des Anstands, eine Teilung, die hueben und drueben so fest gewurzelt stand, dass Kompetenzkonflikte kaum vorkamen, wobei der Charakter Annies, die eine ganz entschiedene Neigung hatte, das vornehme Fraeulein zu betonen, allerdings mithalf, eine Rolle, bei der sie keine bessere Lehrerin als Johanna haben konnte. Noch einmal also: Beide Maedchen waren gleichwertig in Annies Augen. In diesen Tagen aber, wo man sich auf die Rueckkehr Effis vorbereitete, war Roswitha der Rivalin mal wieder um einen Pas voraus, weil ihr, und zwar als etwas ihr Zustaendiges, die ganze Begruessungsangelegenheit zugefallen war. Diese Begruessung zerfiel in zwei Hauptteile: Girlande mit Kranz und dann, abschliessend, Gedichtvortrag. Kranz und Girlande - nachdem man ueber "W." oder "E. v. I." eine Zeitlang geschwankt - hatten zuletzt keine sonderlichen Schwierigkeiten gemacht ("W", in Vergissmeinnicht geflochten, war bevorzugt worden), aber desto groessere Verlegenheit schien die Gedichtfrage heraufbeschwoeren zu sollen und waere vielleicht ganz unbeglichen geblieben, wenn Roswitha nicht den Mut gehabt haette, den von einer Gerichtssitzung heimkehrenden Landgerichtsrat auf der zweiten Treppe zu stellen und ihm mit einem auf einen "Vers" gerichteten Ansinnen mutig entgegenzutreten. Gizicki, ein sehr guetiger Herr, hatte sofort alles versprochen, und noch am selben Spaetnachmittag war seitens seiner Koechin der gewuenschte Vers, und zwar folgenden Inhalts, abgegeben worden: Mama, wir erwarten dich lange schon, Durch Wochen und Tage und Stunden, Nun gruessen wir dich von Flur und Balkon Und haben Kraenze gewunden. Nun lacht Papa voll Freudigkeit, Denn die gattin- und mutterlose Zeit Ist endlich von ihm genommen, Und Roswitha lacht und Johanna dazu, Und Annie springt aus ihrem Schuh Und ruft: willkommen, willkommen. Es versteht sich von selbst, dass die Strophe noch an demselben Abend auswendig gelernt, aber doch nebenher auch auf ihre Schoenheit beziehungsweise Nichtschoenheit kritisch geprueft worden war. Das Betonen von Gattin und Mutter, so hatte sich Johanna geaeussert, erscheine zunaechst freilich in der Ordnung; aber es laege doch auch etwas darin, was Anstoss erregen koenne, und sie persoenlich wuerde sich als "Gattin und Mutter" dadurch verletzt fuehlen. Annie, durch diese Bemerkung einigermassen geaengstigt, versprach, das Gedicht am andern Tag der Klassenlehrerin vorlegen zu wollen, und kam mit dem Bemerken zurueck, das Fraeulein sei mit "Gattin und Mutter" durchaus einverstanden, aber desto mehr gegen "Roswitha und Johanna" gewesen - worauf Roswitha erklaert hatte: Das Fraeulein sei eine dumme Gans; das kaeme davon, wenn man zuviel gelernt habe. Es war an einem Mittwoch, dass die Maedchen und Annie das vorstehende Gespraech gefuehrt und den Streit um die bemaengelte Zeile beigelegt hatten. Am andern Morgen - ein erwarteter Brief Effis hatte noch den mutmasslich erst in den Schluss der naechsten Woche fallenden Ankunftstag festzustellen- ging Innstetten auf das Ministerium. Jetzt war Mittag heran, die Schule aus, und als Annie, ihre Mappe auf dem Ruecken, eben vom Kanal her auf die Keithstrasse zuschritt, traf sie Roswitha vor ihrer Wohnung. "Nun lass sehen", sagte Annie, "wer am ehesten von uns die Treppe heraufkommt." Roswitha wollte von diesem Wettlauf nichts wissen, aber Annie jagte voran, geriet, oben angekommen, ins Stolpern und fiel dabei so ungluecklich, dass sie mit der Stirn auf den dicht an der Treppe befindlichen Abkratzer aufschlug und stark blutete. Roswitha, muehevoll nachkeuchend, riss jetzt die Klingel, und als Johanna das etwas veraengstigte Kind hereingetragen hatte, beratschlagte man, was nun wohl zu machen sei. "Wir wollen nach dem Doktor schicken ... wir wollen nach dem gnaedigen Herrn schicken ... des Portiers Lene muss ja jetzt auch aus der Schule wieder da sein." Es wurde aber alles wieder verworfen, weil es zu lange dauere, man muesse gleich was tun, und so packte man denn das Kind aufs Sofa und begann mit kaltem Wasser zu kuehlen. Alles ging auch gut, so dass man sich zu beruhigen begann. "Und nun wollen wir sie verbinden", sagte schliesslich Roswitha. "Da muss ja noch die lange Binde sein, die die gnaedige Frau letzten Winter zuschnitt, als sie sich auf dem Eis den Fuss verknickt hatte ..." "Freilich, freilich", sagte Johanna, "bloss wo die Binde hernehmen? ... Richtig, da faellt mir ein, die liegt im Naehtisch. Er wird wohl zu sein, aber das Schloss ist Spielerei; holen Sie nur das Stemmeisen, Roswitha, wir wollen den Deckel aufbrechen." Und nun wuchteten sie auch wirklich den Deckel ab und begannen in den Faechern herumzukramen, oben und unten, die zusammengerollte Binde jedoch wollte sich nicht finden lassen. "Ich weiss aber doch, dass ich sie gesehen habe", sagte Roswitha, und waehrend sie halb aergerlich immer weiter suchte, flog alles, was ihr dabei zu Haenden kam, auf das breite Fensterbrett: Naehzeug, Nadelkissen, Rollen mit Zwirn und Seide, kleine vertrocknete Veilchenstraeusschen, Karten, Billetts, zuletzt ein kleines Konvolut von Briefen, das unter dem dritten Einsatz gelegen hatte, ganz unten, mit einem roten Seidenfaden umwickelt. Aber die Binde hatte man noch immer nicht. In diesem Augenblick trat Innstetten ein. "Gott", sagte Roswitha und stellte sich erschrocken neben das Kind. "Es ist nichts, gnaediger Herr; Annie ist auf das Kratzeisen gefallen ... Gott, was wird die gnaedige Frau sagen. Und doch ist es ein Glueck, dass sie nicht mit dabei war." Innstetten hatte mittlerweile die vorlaeufig aufgelegte Kompresse fortgenommen und sah, dass es ein tiefer Riss, sonst aber ungefaehrlich war. "Es ist nicht schlimm", sagte er; "trotzdem, Roswitha, wir muessen sehen, dass Rummschuettel kommt. Lene kann ja gehen, die wird jetzt Zeit haben. Aber was in aller Welt ist denn das da mit dem Naehtisch?" Und nun erzaehlte Roswitha, wie sie nach der gerollten Binde gesucht haetten; aber sie wolle es nun aufgeben und lieber eine neue Leinwand schneiden. Innstetten war einverstanden und setzte sich, als bald danach beide Maedchen das Zimmer verlassen hatten, zu dem Kind. "Du bist so wild, Annie, das hast du von der Mama. Immer wie ein Wirbelwind. Aber dabei kommt nichts heraus oder hoechstens so was." Und er wies auf die Wunde und gab ihr einen Kuss. "Du hast aber nicht geweint, das ist brav, und darum will ich dir die Wildheit verzeihen ... Ich denke, der Doktor wird in einer Stunde hier sein; tu nur alles, was er sagt, und wenn er dich verbunden hat, so zerre nicht und ruecke und druecke nicht daran, dann heilt es schnell, und wenn die Mama dann kommt, dann ist alles wieder in Ordnung oder doch beinah. Ein Glueck ist es aber doch, dass es noch bis naechste Woche dauert, Ende naechster Woche, so schreibt sie mir; eben habe ich einen Brief von ihr bekommen; sie laesst dich gruessen und freut sich, dich wiederzusehen." "Du koenntest mir den Brief eigentlich vorlesen, Papa." "Das will ich gern." Aber eh er dazu kam, kam Johanna, um zu sagen, dass das Essen aufgetragen sei. Annie, trotz ihrer Wunde, stand mit auf, und Vater und Tochter setzten sich zu Tisch. Siebenundzwanzigstes Kapitel Innstetten und Annie sassen sich eine Weile stumm gegenueber; endlich als ihm die Stille peinlich wurde, tat er ein paar Fragen ueber die Schulvorsteherin und welche Lehrerin sie eigentlich am liebsten habe. Annie antwortete auch, aber ohne rechte Lust, weil sie fuehlte, dass Innstetten wenig bei der Sache war. Es wurde erst besser, als Johanna nach dem zweiten Gericht ihrem Anniechen zufluesterte, es gaebe noch was. Und wirklich, die gute Roswitha, die dem Liebling an diesem Unglueckstag was schuldig zu sein glaubte, hatte noch ein uebriges getan und sich zu einer Omelette mit Apfelschnitten aufgeschwungen. Annie wurde bei diesem Anblicke denn auch etwas redseliger, und ebenso zeigte sich Innstettens Stimmung gebessert, als es gleich danach klingelte und Geheimrat Rummschuettel eintrat. Ganz zufaellig. Er sprach nur vor, ohne jede Ahnung, dass man nach ihm geschickt und um seinen Besuch gebeten habe. Mit den aufgelegten Kompressen war er zufrieden. "Lassen Sie noch etwas Bleiwasser holen und Annie morgen zu Hause bleiben. Ueberhaupt Ruhe." Dann fragte er noch nach der gnaedigen Frau und wie die Nachrichten aus Ems seien; er werde den andern Tag wiederkommen und nachsehen. Als man von Tisch aufgestanden und in das nebenan gelegene Zimmer - dasselbe, wo man mit so viel Eifer und doch vergebens nach dem Verbandstueck gesucht hatte - eingetreten war, wurde Annie wieder auf das Sofa gebettet. Johanna kam und setzte sich zu dem Kind, waehrend Innstetten die zahllosen Dinge, die bunt durcheinandergewuerfelt noch auf dem Fensterbrett umher wieder in den Naehtisch einzuraeumen begann. Dann und wann wusste er sich nicht recht Rat und musste fragen. "Wo haben die Briefe gelegen, Johanna?" "Ganz zuunterst", sagte diese, "hier in diesem Fach." Und waehrend so Frage und Antwort ging, betrachtete Innstetten etwas aufmerksamer als vorher das kleine, mit einem roten Faden zusammengebundene Paket, das mehr aus einer Anzahl zusammengelegter Zettel als auch Briefen zu bestehen schien. Er fuhr, als waere es ein Spiel Karten, mit dem Daumen und Zeigefinger an der Seite des Paeckchens hin, und einige Zeilen, eigentlich nur vereinzelte Worte, flogen dabei an seinem Auge vorueber. Von deutlichem Erkennen konnte keine Rede sein, aber es kam ihm doch so vor, als habe er die Schriftzuege schon irgendwo gesehen. Ob er nachsehen solle? "Johanna, Sie koennten uns den Kaffee bringen. Annie trinkt auch eine halbe Tasse. Der Doktor hat's nicht verboten, und was nicht verboten ist, ist erlaubt." Als er das sagte, wand er den roten Faden ab und liess, waehrend Johanna das Zimmer verliess, den ganzen Inhalt des Paeckchens rasch durch die Finger gleiten. Nur zwei, drei Briefe waren adressiert: "An Frau Landrat von Innstetten." Er erkannte jetzt auch die Handschrift; es war die des Majors. Innstetten wusste nichts von einer Korrespondenz zwischen Crampas und Effi, und in seinem Kopf begann sich alles zu drehen. Er steckte das Paket zu sich und ging in sein Zimmer zurueck. Etliche Minuten spaeter, und Johanna, zum Zeichen, dass der Kaffee da sei, klopfte leise an die Tuer. Innstetten antwortete auch, aber dabei blieb es; sonst alles still. Erst nach einer Viertelstunde hoerte man wieder sein Aufundabschreiten auf dem Teppich. "Was nur Papa hat?" sagte Johanna zu Annie. "Der Doktor hat ihm doch gesagt, es sei nichts." Das Aufundabschreiten nebenan wollte kein Ende nehmen. Endlich erschien Innstetten wieder im Nebenzimmer und sagte: "Johanna, achten Sie auf Annie und dass sie ruhig auf dem Sofa bleibt. Ich will eine Stunde gehen oder vielleicht zwei." Dann sah er das Kind aufmerksam an und entfernte sich. "Hast du gesehen, Johanna, wie Papa aussah?" "Ja, Annie. Er muss einen grossen Aerger gehabt haben. Er war ganz blass. So hab ich ihn noch nie gesehen." Es vergingen Stunden. Die Sonne war schon unter, und nur ein roter Widerschein lag noch ueber den Daechern drueben, als Innstetten wieder zurueckkam. Er gab Annie die Hand, fragte, wie's ihr gehe, und ordnete dann an, dass ihm Johanna die Lampe in sein Zimmer bringe. Die Lampe kam auch. In dem gruenen Schirm befanden sich halb durchsichtige Ovale mit Fotografien, allerlei Bildnisse seiner Frau, die noch in Kessin, damals, als man den Wichertschen "Schritt vom Wege" aufgefuehrt hatte, fuer die verschiedenen Mitspielenden angefertigt waren. Innstetten drehte den Schirm langsam von links nach rechts und musterte jedes einzelne Bildnis. Dann liess er ab davon, oeffnete, weil er es schwuel fand, die Balkontuer und nahm schliesslich das Briefpaket wieder zur Hand. Es schien, dass er gleich beim ersten Durchsehen ein paar davon ausgewaehlt und obenauf gelegt hatte. Diese las er jetzt noch einmal mit halblauter Stimme. "Sei heute nachmittag wieder in den Duenen, hinter der Muehle. Bei der alten Adermann koennen wir uns ruhig sprechen, das Haus ist abgelegen genug. Du musst Dich nicht um alles so bangen. Wir haben auch ein Recht. Und wenn Du Dir das eindringlich sagst, wird, denke ich, alle Furcht von Dir abfallen. Das Leben waere nicht des Lebens wert, wenn das alles gelten sollte, was zufaellig gilt. Alles Beste liegt jenseits davon. Lerne Dich daran freuen." "...Fort, so schreibst Du, Flucht. Unmoeglich. Ich kann meine Frau nicht im Stich lassen, zu allem andern auch noch in Not. Es geht nicht, und wir muessen es leicht nehmen, sonst sind wir arm und verloren. Leichtsinn ist das Beste, was wir haben. Alles ist Schicksal. Es hat so sein sollen. Und moechtest Du, dass es anders waere, dass wir uns nie gesehen haetten?" Dann kam der dritte Brief. "...Sei heute noch einmal an der alten Stelle. Wie sollen meine Tage hier verlaufen ohne Dich! In diesem oeden Nest. Ich bin ausser mir, und nur darin hast Du recht: Es ist die Rettung, und wir muessen schliesslich doch die Hand segnen, die diese Trennung ueber uns verhaengt." Innstetten hatte die Briefe kaum wieder beiseite geschoben, als draussen die Klingel ging. Gleich danach meldete Johanna: "Geheimrat Wuellersdorf." Wuellersdorf trat ein und sah auf den ersten Blick, dass etwas vorgefallen sein muesse. "Pardon, Wuellersdorf", empfing ihn Innstetten, "dass ich Sie gebeten habe, noch gleich heute bei mir vorzusprechen. Ich stoere niemand gern in seiner Abendruhe, am wenigsten einen geplagten Ministerialrat. Es ging aber nicht anders. Ich bitte Sie, machen Sie sich's bequem. Und hier eine Zigarre." Wuellersdorf setzte sich. Innstetten ging wieder auf und ab und waere bei der ihn verzehrenden Unruhe gern in Bewegung geblieben, sah aber, dass das nicht gehe. So nahm er denn auch seinerseits eine Zigarre, setzte sich Wuellersdorf gegenueber und versuchte ruhig zu sein. "Es ist", begann er, "um zweier Dinge willen, dass ich Sie habe bitten lassen: erst um eine Forderung zu ueberbringen und zweitens um hinterher, in der Sache selbst, mein Sekundant zu sein; das eine ist nicht angenehm und das andere noch weniger. Und nun Ihre Antwort." "Sie wissen, Innstetten, Sie haben ueber mich zu verfuegen. Aber eh ich die Sache kenne, verzeihen Sie mir die naive Vorfrage: Muss es sein? Wir sind doch ueber die Jahre weg, Sie, um die Pistole in die Hand zu nehmen, und ich, um dabei mitzumachen. Indessen missverstehen Sie mich nicht, alles dies soll kein Nein sein. Wie koennte ich Ihnen etwas abschlagen. Aber nun sagen Sie, was ist es?" "Es handelt sich um einen Galan meiner Frau, der zugleich mein Freund war oder doch beinah." Wuellersdorf sah Innstetten an. "Innstetten, das ist nicht moeglich." "Es ist mehr als moeglich, es ist gewiss. Lesen Sie." Wuellersdorf flog drueber hin. "Die sind an Ihre Frau gerichtet?" "Ja. Ich fand sie heut in ihrem Naehtisch." "Und wer hat sie geschrieben?" "Major Crampas." "Also Dinge, die sich abgespielt, als Sie noch in Kessin waren?" Innstetten nickte. "Liegt also sechs Jahre zurueck oder noch ein halb Jahr laenger." "Ja." Wuellersdorf schwieg. Nach einer Weile sagte Innstetten: "Es sieht fast so aus, Wuellersdorf, als ob die sechs oder sieben Jahre einen Eindruck auf Sie machten. Es gibt eine Verjaehrungstheorie, natuerlich, aber ich weiss doch nicht, ob wir hier einen Fall haben, diese Theorie gelten zu lassen." "Ich weiss es auch nicht", sagte Wuellersdorf. "Und ich bekenne Ihnen offen, um diese Frage scheint sich hier alles zu drehen." Innstetten sah ihn gross an. "Sie sagen das in vollem Ernst?" "In vollem Ernst. Es ist keine Sache, sich in jeu d'esprit oder in dialektischen Spitzfindigkeiten zu versuchen." "Ich bin neugierig, wie Sie das meinen. Sagen Sie mir offen, wie stehen Sie dazu?" "Innstetten, Ihre Lage ist furchtbar, und Ihr Lebensglueck ist hin. Aber wenn Sie den Liebhaber totschiessen, ist Ihr Lebensglueck sozusagen doppelt hin, und zu dem Schmerz ueber empfangenes Leid kommt noch der Schmerz ueber getanes Leid. Alles dreht sich um die Frage, muessen Sie's durchaus tun? Fuehlen Sie sich so verletzt, beleidigt, empoert, dass einer weg muss, er oder Sie? Steht es so?" "Ich weiss es nicht." "Sie muessen es wissen." Innstetten war aufgesprungen, trat ans Fenster und tippte voll nervoeser Erregung an die Scheiben. Dann wandte er sich rasch wieder, ging auf Wuellersdorf zu und sagte: "Nein, so steht es nicht." "Wie steht es denn?" "Es steht so, dass ich unendlich ungluecklich bin; ich bin gekraenkt, schaendlich hintergangen, aber trotzdem, ich bin ohne jedes Gefuehl von Hass oder gar von Durst nach Rache. Und wenn ich mich frage, warum nicht, so kann ich zunaechst nichts anderes finden als die Jahre. Man spricht immer von unsuehnbarer Schuld; vor Gott ist es gewiss falsch, aber vor den Menschen auch. Ich haette nie geglaubt, dass die Zeit, rein als Zeit, so wirken koenne. Und dann als zweites: Ich liebe meine Frau, ja, seltsam zu sagen, ich liebe sie noch, und so furchtbar ich alles finde, was geschehen, ich bin so sehr im Bann ihrer Liebenswuerdigkeit, eines ihr eigenen heiteren Scharmes, dass ich mich, mir selbst zum Trotz, in meinem letzten Herzenswinkel zum Verzeihen geneigt fuehle." Wuellersdorf nickte. "Kann ganz folgen, Innstetten, wuerde mir vielleicht ebenso gehen. Aber wenn Sie so zu der Sache stehen und mir sagen: 'Ich liebe diese Frau so sehr, dass ich ihr alles verzeihen kann', und wenn wir dann das andere hinzunehmen, dass alles weit, weit zurueckliegt, wie ein Geschehnis auf einem andern Stern, ja, wenn es so liegt, Innstetten, so frage ich, wozu die ganze Geschichte?" "Weil es trotzdem sein muss. Ich habe mir's hin und her ueberlegt. Man ist nicht bloss ein einzelner Mensch, man gehoert einem Ganzen an, und auf das Ganze haben wir bestaendig Ruecksicht zu nehmen, wir sind durchaus abhaengig von ihm. Ginge es, in Einsamkeit zu leben, so koennt ich es gehen lassen; ich truege dann die mir aufgepackte Last, das rechte Glueck waere hin, aber es muessen so viele leben ohne dies 'rechte Glueck', und ich wuerde es auch muessen und - auch koennen. Man braucht nicht gluecklich zu sein, am allerwenigsten hat man einen Anspruch darauf, und den, der einem das Glueck genommen hat, den braucht man nicht notwendig aus der Welt zu schaffen. Man kann ihn, wenn man weltabgewandt weiterexistieren will, auch laufen lassen. Aber im Zusammenleben mit den Menschen hat sich ein Etwas gebildet, das nun mal da ist und nach dessen Paragraphen wir uns gewoehnt haben, alles zu beurteilen, die andern und uns selbst. Und dagegen zu verstossen geht nicht; die Gesellschaft verachtet uns, und zuletzt tun wir es selbst und koennen es nicht aushalten und jagen uns die Kugel durch den Kopf. Verzeihen Sie, dass ich Ihnen solche Vorlesung halte, die schliesslich doch nur sagt, was sich jeder selber hundertmal gesagt hat. Aber freilich, wer kann was Neues sagen! Also noch einmal, nichts von Hass oder dergleichen, und um eines Glueckes willen, das mir genommen wurde, mag ich nicht Blut an den Haenden haben; aber jenes, wenn Sie wollen, uns tyrannisierende Gesellschafts-Etwas, das fragt nicht nach Scharm und nicht nach Liebe und nicht nach Verjaehrung. Ich habe keine Wahl. Ich muss." "Ich weiss doch nicht, Innstetten ..." Innstetten laechelte. "Sie sollen selbst entscheiden, Wuellersdorf. Es ist jetzt zehn Uhr. Vor sechs Stunden, diese Konzession will ich Ihnen vorweg machen, hatt' ich das Spiel noch in der Hand, konnt' ich noch das eine und noch das andere, da war noch ein Ausweg. Jetzt nicht mehr, jetzt stecke ich in einer Sackgasse. Wenn Sie wollen, so bin ich selber schuld daran; ich haette mich besser beherrschen und bewachen, alles in mir verbergen, alles im eignen Herzen auskaempfen sollen. Aber es kam mir zu ploetzlich, zu stark, und so kann ich mir kaum einen Vorwurf machen, meine Nerven nicht geschickter in Ordnung gehalten zu haben. Ich ging zu Ihnen und schrieb Ihnen einen Zettel, und damit war das Spiel aus meiner Hand. Von dem Augenblick an hatte mein Unglueck und, was schwerer wiegt, der Fleck auf meiner Ehre einen halben Mitwisser und nach den ersten Worten, die wir hier gewechselt, hat es einen ganzen. Und weil dieser Mitwisser da ist, kann ich nicht mehr zurueck." "Ich weiss doch nicht", wiederholte Wuellersdorf. "Ich mag nicht gerne zu der alten abgestandenen Phrase greifen, aber doch laesst sich's nicht besser sagen: Innstetten, es ruht alles in mir wie in einem Grabe." "Ja, Wuellersdorf, so heisst es immer. Aber es gibt keine Verschwiegenheit. Und wenn Sie's wahrmachen und gegen andere die Verschwiegenheit selber sind, so wissen Sie es, und es rettet mich nicht vor Ihnen, dass Sie mir eben Ihre Zustimmung ausgedrueckt und mir sogar gesagt haben: ich kann Ihnen in allem folgen. Ich bin, und dabei bleibt es, von diesem Augenblick an ein Gegenstand Ihrer Teilnahme (schon nicht etwas sehr Angenehmes), und jedes Wort, das Sie mich mit meiner Frau wechseln hoeren, unterliegt Ihrer Kontrolle, Sie moegen wollen oder nicht, und wenn meine Frau von Treue spricht oder, wie Frauen tun, ueber eine andere zu Gericht sitzt, so weiss ich nicht, wo ich mit meinen Blicken hin soll. Und ereignet sich's gar, dass ich in irgendeiner ganz alltaeglichen Beleidigungssache zum Guten rede, "weil ja der dolus fehle" oder so was Aehnliches, so geht ein Laecheln ueber Ihr Gesicht, oder es zuckt wenigstens darin, und in Ihrer Seele klingt es: 'Der gute Innstetten, er hat doch eine wahre Passion, alle Beleidigungen auf ihren Beleidigungsgehalt chemisch zu untersuchen, und das richtige Quantum Stickstoff findet er nie. Er ist noch nie an einer Sache erstickt.' ... Habe ich recht, Wuellersdorf, oder nicht?" Wuellersdorf war aufgestanden. "Ich finde es furchtbar, dass Sie recht haben, aber Sie haben recht. Ich quaele Sie nicht laenger mit meinem 'Muss es sein?'. Die Welt ist einmal, wie sie ist, und die Dinge verlaufen nicht, wie wir wollen, sondern wie die andern wollen. Das mit dem 'Gottesgericht', wie manche hochtrabend versichern, ist freilich ein Unsinn, nichts davon, umgekehrt, unser Ehrenkultus ist ein Goetzendienst, aber wir muessen uns ihm unterwerfen, solange der Goetze gilt." Innstetten nickte. Sie blieben noch eine Viertelstunde miteinander, und es wurde festgestellt, Wuellersdorf solle noch denselben Abend abreisen. Ein Nachtzug ging um zwoelf. Dann trennten sie sich mit einem kurzen: "Auf Wiedersehen in Kessin." Achtundzwanzigstes Kapitel Am andern Abend, wie verabredet, reiste Innstetten. Er benutzte denselben Zug, den am Tag vorher Wuellersdorf benutzt hatte, und war bald nach fuenf Uhr frueh auf der Bahnstation, von wo der Weg nach Kessin links abzweigte. Wie immer, solange die Saison dauerte, ging auch heute, gleich nach Eintreffen des Zuges, das mehrerwaehnte Dampfschiff, dessen erstes Laeuten Innstetten schon hoerte, als er die letzten Stufen der vom Bahndamm hinabfuehrenden Treppe erreicht hatte. Der Weg bis zur Anlegestelle war keine drei Minuten; er schritt darauf zu und begruesste den Kapitaen, der etwas verlegen war, also im Laufe des gestrigen Tages von der ganzen Sache schon gehoert haben musste, und nahm dann seinen Platz in der Naehe des Steuers. Gleich danach loeste sich das Schiff vom Brueckensteg los; das Wetter war herrlich, helle Morgensonne, nur wenig Passagiere an Bord. Innstetten gedachte des Tages, als er, mit Effi von der Hochzeitsreise zurueckkehrend, hier am Ufer der Kessine hin in offenem Wagen gefahren war ein grauer Novembertag damals, aber er selber froh im Herzen; nun hatte sich's verkehrt: Das Licht lag draussen, und der Novembertag war in ihm. Viele, viele Male war er dann des Weges hier gekommen, und der Frieden, der sich ueber die Felder breitete, das Zuchtvieh in den Koppeln, das aufhorchte, wenn er vorueberfuhr, die Leute bei der Arbeit, die Fruchtbarkeit der Aecker, das alles hatte seinem Sinne wohlgetan, und jetzt, in hartem Gegensatz dazu, war er froh, als etwas Gewoelk heranzog und den lachenden blauen Himmel leise zu trueben begann. So fuhren sie den Fluss hinab, und bald nachdem sie die praechtige Wasserflaeche des Breitling passiert, kam der Kessiner Kirchturm in Sicht und gleich danach auch das Bollwerk und die lange Haeuserreihe mit Schiffen und Booten davor. Und nun waren sie heran. Innstetten verabschiedete sich von dem Kapitaen und schritt auf den Steg zu, den man, bequemeren Aussteigens halber, herangerollt hatte. Wuellersdorf war schon da. Beide begruessten sich, ohne zunaechst ein Wort zu sprechen, und gingen dann, quer ueber den Damm, auf den Hoppensackschen Gasthof zu, wo sie unter einem Zeltdach Platz nahmen. "Ich habe mich gestern frueh hier einquartiert", sagte Wuellersdorf, der nicht gleich mit den Sachlichkeiten beginnen wollte. "Wenn man bedenkt, dass Kessin ein Nest ist, ist es erstaunlich, ein so gutes Hotel hier zu finden. Ich bezweifle nicht, dass mein Freund, der Oberkellner, drei Sprachen spricht; seinem Scheitel und seiner ausgeschnittnen Weste nach koennen wir dreist auf vier rechnen ... Jean, bitte, wollen Sie uns Kaffee und Kognak bringen." Innstetten begriff vollkommen, warum Wuellersdorf diesen Ton anschlug, war auch damit einverstanden, konnte aber seiner Unruhe nicht ganz Herr werden und zog unwillkuerlich die Uhr. "Wir haben Zeit", sagte Wuellersdorf. "Noch anderthalb Stunden oder doch beinah. Ich habe den Wagen auf acht ein Viertel bestellt; wir fahren nicht laenger als zehn Minuten." "Und wo?" "Crampas schlug erst ein Waldeck vor, gleich hinter dem Kirchhof. Aber dann unterbrach er sich und sagte: 'Nein, da nicht.' Und dann haben wir uns ueber eine Stelle zwischen den Duenen geeinigt. Hart am Strand; die vorderste Duene hat einen Einschnitt, und man sieht aufs Meer." Innstetten laechelte. "Crampas scheint sich einen Schoenheitspunkt ausgesucht zu haben. Er hatte immer die Allueren dazu. Wie benahm er sich?" "Wundervoll." "Uebermuetig? Frivol?" "Nicht das eine und nicht das andere. Ich bekenne Ihnen offen, Innstetten, dass es mich erschuetterte. Als ich Ihren Namen nannte, wurde er totenblass und rang nach Fassung, und um seine Mundwinkel sah ich ein Zittern. Aber all das dauerte nur einen Augenblick, dann hatte er sich wieder gefasst, und von da an war alles an ihm wehmuetige Resignation. Es ist mir ganz sicher, er hat das Gefuehl, aus der Sache nicht heil herauszukommen, und will auch nicht. Wenn ich ihn richtig beurteile, er lebt gern und ist zugleich gleichgueltig gegen das Leben. Er nimmt alles mit und weiss doch, dass es nicht viel damit ist." "Wer wird ihm sekundieren? Oder sag ich lieber, wen wird er mitbringen?" "Das war, als er sich wieder gefunden hatte, seine Hauptsorge. Er nannte zwei, drei Adlige aus der Naehe, liess sie dann aber wieder fallen, sie seien zu alt und zu fromm, er werde nach Treptow hin telegrafieren an seinen Freund Buddenbrook. Und der ist auch gekommen, famoser Mann, schneidig und doch zugleich wie ein Kind. Er konnte sich nicht beruhigen und ging in groesster Erregung auf und ab. Aber als ich ihm alles gesagt hatte, sagte er geradeso wie wir: 'Sie haben recht, es muss sein!'" Der Kaffee kam. Man nahm eine Zigarre, und Wuellersdorf war wieder darauf aus, das Gespraech auf mehr gleichgueltige Dinge zu lenken. "Ich wundere mich, dass keiner von den Kessinern sich einfindet, Sie zu begruessen. Ich weiss doch, dass Sie sehr beliebt gewesen sind. Und nun gar Ihr Freund Gieshuebler..." Innstetten laechelte. "Da verkennen Sie die Leute hier an der Kueste; halb Philister und halb Pfiffici, nicht sehr nach meinem Geschmack; aber eine Tugend haben sie, sie sind alle sehr manierlich. Und nun gar mein alter Gieshuebler. Natuerlich weiss jeder, um was sich's handelt; aber eben deshalb huetet man sich, den Neugierigen zu spielen." In diesem Augenblick wurde von links her ein zurueckgeschlagener Chaisewagen sichtbar, der, weil es noch vor der bestimmten Zeit war, langsam herankam. "Ist das unser?" fragte Innstetten. "Mutmasslich." Und gleich danach hielt der Wagen vor dem Hotel, und Innstetten und Wuellersdorf erhoben sich. Wuellersdorf trat an den Kutscher heran und sagte: "Nach der Mole." Die Mole lag nach der entgegengesetzten Strandseite, rechts statt links, und die falsche Weisung wurde nur gegeben, um etwaigen Zwischenfaellen, die doch immerhin moeglich waren, vorzubeugen. Im uebrigen, ob man sich nun weiter draussen nach rechts oder links zu halten vorhatte, durch die Plantage musste man jedenfalls, und so fuehrte denn der Weg unvermeidlich an Innstettens alter Wohnung vorueber. Das Haus lag noch stiller da als frueher; ziemlich vernachlaessigt sah's in den Parterreraeumen aus; wie mocht es erst da oben sein! Und das Gefuehl des Unheimlichen, das Innstetten an Effi so oft bekaempft oder auch wohl belaechelt hatte, jetzt ueberkam es ihn selbst, und er war froh, als sie dran vorueber waren. "Da hab ich gewohnt", sagte er zu Wuellersdorf. "Es sieht sonderbar aus, etwas oed und verlassen." "Mag auch wohl. In der Stadt galt es als ein Spukhaus, und wie's heute daliegt, kann ich den Leuten nicht unrecht geben." "Was war es denn damit?" "Ach, dummes Zeug: alter Schiffskapitaen mit Enkelin oder Nichte, die eines schoenen Tages verschwand, und dann ein Chinese, der vielleicht ein Liebhaber war, und auf dem Flur ein kleiner Haifisch und ein Krokodil, beides an Strippen und immer in Bewegung. Wundervoll zu erzaehlen, aber nicht jetzt. Es spukt einem doch allerhand anderes im Kopf." "Sie vergessen, es kann auch alles glatt ablaufen." "Darf nicht. Und vorhin, Wuellersdorf, als Sie von Crampas sprachen, sprachen Sie selber anders davon." Bald danach hatte man die Plantage passiert, und der Kutscher wollte jetzt rechts einbiegen auf die Mole zu. "Fahren Sie lieber links. Das mit der Mole kann nachher kommen." Und der Kutscher bog links in eine breite Fahrstrasse ein, die hinter dem Herrenbade grade auf den Wald zulief. Als sie bis auf dreihundert Schritt an diesen heran waren, liess Wuellersdorf den Wagen halten, und beide gingen nun, immer durch mahlenden Sand hin, eine ziemlich breite Fahrstrasse hinunter, die die hier dreifache Duenenreihe senkrecht durchschnitt. Ueberall zur Seite standen dichte Bueschel von Strandhafer, um diesen herum aber Immortellen und ein paar blutrote Nelken. Innstetten bueckte sich und steckte sich eine der Nelken ins Knopfloch. "Die Immortellen nachher." So gingen sie fuenf Minuten. Als sie bis an die ziemlich tiefe Senkung gekommen waren, die zwischen den beiden vordersten Duenenreihen hinlief, sahen sie, nach links hin, schon die Gegenpartei: Crampas und Buddenbrook und mit ihnen den guten Doktor Hannemann, der seinen Hut in der Hand hielt, so dass das weisse Haar im Winde flatterte. Innstetten und Wuellersdorf gingen die Sandschlucht hinauf, Buddenbrook kam ihnen entgegen. Man begruesste sich, worauf beide Sekundanten beiseite traten, um noch ein kurzes sachliches Gespraech zu fuehren. Es lief darauf hinaus, dass man a tempo avancieren und auf zehn Schritt Distanz feuern solle. Dann kehrte Buddenbrook an seinen Platz zurueck; alles erledigte sich rasch; und die Schuesse fielen. Crampas stuerzte. Innstetten, einige Schritte zuruecktretend, wandte sich ab von der Szene. Wuellersdorf aber war auf Buddenbrook zugeschritten, und beide warteten jetzt auf den Ausspruch des Doktors, der die Achseln zuckte. Zugleich deutete Crampas durch eine Handbewegung an, dass er etwas sagen wollte. Wuellersdorf beugte sich zu ihm nieder, nickte zustimmend zu den paar Worten, die kaum hoerbar von des Sterbenden Lippen kamen, und ging dann auf Innstetten zu. "Crampas will Sie noch sprechen, Innstetten. Sie muessen ihm zu Willen sein. Er hat keine drei Minuten Leben mehr." Innstetten trat an Crampas heran. "Wollen Sie ..." Das waren seine letzten Worte. Noch ein schmerzlicher und doch beinah freundlicher Schimmer in seinem Antlitz, und dann war es vorbei. Neunundzwanzigstes Kapitel Am Abend desselben Tages traf Innstetten wieder in Berlin ein. Er war mit dem Wagen, den er innerhalb der Duenen an dem Querwege zurueckgelassen hatte, direkt nach der Bahnstation gefahren, ohne Kessin noch einmal zu beruehren, dabei den beiden Sekundanten die Meldung an die Behoerden ueberlassend. Unterwegs (er war allein im Coupe) hing er, alles noch mal ueberdenkend, dem Geschehenen nach; es waren dieselben Gedanken wie zwei Tage zuvor, nur dass sie jetzt den umgekehrten Gang gingen und mit der Ueberzeugtheit von seinem Recht und seiner Pflicht anfingen, um mit Zweifeln daran aufzuhoeren. "Schuld, wenn sie ueberhaupt was ist, ist nicht an Ort und Stunde gebunden und kann nicht hinfaellig werden von heute auf morgen. Schuld verlangt Suehne; das hat einen Sinn. Aber Verjaehrung ist etwas Halbes, etwas Schwaechliches, zum mindesten was Prosaisches." Und er richtete sich an dieser Vorstellung auf und wiederholte sich's, dass es gekommen sei, wie's habe kommen muessen. Aber im selben Augenblick, wo dies fuer ihn feststand, warf er's auch wieder um. "Es muss eine Verjaehrung geben, Verjaehrung ist das einzig Vernuenftige; ob es nebenher auch noch prosaisch ist, ist gleichgueltig; das Vernuenftige ist meist prosaisch. Ich bin jetzt fuenfundvierzig. Wenn ich die Briefe fuenfundzwanzig Jahre spaeter gefunden haette, so waer ich siebzig. Dann haette Wuellersdorf gesagt: 'Innstetten, seien Sie kein Narr.' Und wenn es Wuellersdorf nicht gesagt haette, so haette es Buddenbrook gesagt, und wenn auch der nicht, so ich selbst. Dies ist mir klar. Treibt man etwas auf die Spitze, so uebertreibt man und hat die Laecherlichkeit. Kein Zweifel. Aber wo faengt es an? Wo liegt die Grenze? Zehn Jahre verlangen noch ein Duell, und da heisst es Ehre, und nach elf Jahren oder vielleicht schon bei zehnundeinhalb heisst es Unsinn. Die Grenze, die Grenze. Wo ist sie? War sie da? War sie schon ueberschritten? Wenn ich mir seinen letzten Blick vergegenwaertige, resigniert und in seinem Elend doch noch ein Laecheln, so hiess der Blick: 'Innstetten, Prinzipienreiterei ... Sie konnten es mir ersparen und sich selber auch.' Und er hatte vielleicht recht. Mir klingt so was in der Seele. Ja, wenn ich voll toedlichem Hass gewesen waere, wenn mir hier ein tiefes Rachegefuehl gesessen haette ... Rache ist nichts Schoenes, aber was Menschliches und hat ein natuerlich menschliches Recht. So aber war alles einer Vorstellung, einem Begriff zuliebe, war eine gemachte Geschichte, halbe Komoedie. Und diese Komoedie muss ich nun fortsetzen und muss Effi wegschicken und sie ruinieren und mich mit ... Ich musste die Briefe verbrennen, und die Welt durfte nie davon erfahren. Und wenn sie dann kam, ahnungslos, so musste ich ihr sagen: 'Da ist dein Platz', und musste mich innerlich von ihr scheiden. Nicht vor der Welt. Es gibt so viele Leben, die keine sind, und so viele Ehen, die keine sind ... dann war das Glueck hin, aber ich haette das Auge mit seinem Frageblick und mit seiner stummen, leisen Anklage nicht vor mir." Kurz vor zehn hielt Innstetten vor seiner Wohnung. Er stieg die Treppen hinauf und zog die Glocke; Johanna kam und oeffnete. "Wie steht es mit Annie?" "Gut, gnaed'ger Herr. Sie schlaeft noch nicht ... Wenn der gnaed'ge Herr ..." "Nein, nein, das regt sie bloss auf. Ich sehe sie lieber morgen frueh. Bringen Sie mir ein Glas Tee, Johanna. Wer war hier?" "Nur der Doktor." Und nun war Innstetten wieder allein. Er ging auf und ab, wie er's zu tun liebte. "Sie wissen schon alles; Roswitha ist dumm, aber Johanna ist eine kluge Person. Und wenn sie's nicht mit Bestimmtheit wissen, so haben sie sich's zurechtgelegt und wissen es doch. Es ist merkwuerdig, was alles zum Zeichen wird und Geschichten ausplaudert, als waere jeder mit dabeigewesen." Johanna brachte den Tee. Innstetten trank. Er war nach der Ueberanstrengung todmuede und schlief ein. Innstetten war zu guter Zeit auf. Er sah Annie, sprach ein paar Worte mit ihr, lobte sie, dass sie eine gute Kranke sei, und ging dann aufs Ministerium, um seinem Chef von allem Vorgefallenen Meldung zu machen. Der Minister war sehr gnaedig. "Ja, Innstetten, wohl dem, der aus allem, was das Leben uns bringen kann, heil herauskommt; Sie hat's getroffen." Er fand alles, was geschehen, in der Ordnung und ueberliess Innstetten das Weitere. Erst spaet nachmittags war Innstetten wieder in seiner Wohnung, in der er ein paar Zeilen von Wuellersdorf vorfand. "Heute frueh wieder eingetroffen. Eine Welt von Dingen erlebt: Schmerzliches, Ruehrendes; Gieshuebler an der Spitze. Der liebenswuerdigste Bucklige, den ich je gesehen. Von Ihnen sprach er nicht allzuviel, aber die Frau, die Frau! Er konnte sich nicht beruhigen, und zuletzt brach der kleine Mann in Traenen aus. Was alles vorkommt. Es waere zu wuenschen, dass es mehr Gieshuebler gaebe. Es gibt aber mehr andere. Und dann die Szene im Hause des Majors ... furchtbar. Kein Wort davon. Man hat wieder mal gelernt: aufpassen. Ich sehe Sie morgen. Ihr W." Innstetten war ganz erschuettert, als er gelesen. Er setzte sich und schrieb seinerseits ein paar Briefe. Als er damit zu Ende war, klingelte er: "Johanna, die Briefe in den Kasten." Johanna nahm die Briefe und wollte gehen. "... Und dann, Johanna, noch eins: Die Frau kommt nicht wieder. Sie werden von anderen erfahren, warum nicht. Annie darf nichts wissen, wenigstens jetzt nicht. Das arme Kind. Sie muessen es ihr allmaehlich beibringen, dass sie keine Mutter mehr hat. Ich kann es nicht. Aber machen Sie's gescheit. Und dass Roswitha nicht alles verdirbt." Johanna stand einen Augenblick ganz wie benommen da. Dann ging sie auf Innstetten zu und kuesste ihm die Hand. Als sie wieder draussen in der Kueche war, war sie von Stolz und Ueberlegenheit ganz erfuellt, ja beinah von Glueck. Der gnaedige Herr hatte ihr nicht nur alles gesagt, sondern am Schluss auch noch hinzugesetzt: "Und dass Roswitha nicht alles verdirbt." Das war die Hauptsache, und ohne dass es ihr an gutem Herzen und selbst an Teilnahme mit der Frau gefehlt haette, beschaeftigte sie doch, ueber jedes andere hinaus, der Triumph einer gewissen Intimitaetsstellung zum gnaedigen Herrn. Unter gewoehnlichen Umstaenden waere ihr denn auch die Herauskehrung und Geltendmachung dieses Triumphes ein leichtes gewesen, aber heute traf sich's so wenig guenstig fuer sie, dass ihre Rivalin, ohne Vertrauensperson gewesen zu sein, sich doch als die Eingeweihtere zeigen sollte. Der Portier unten hatte naemlich, so ziemlich um dieselbe Zeit, wo dies spielte, Roswitha in seine kleine Stube hineingerufen und ihr gleich beim Eintreten ein Zeitungsblatt zum Lesen zugeschoben. "Da, Roswitha, das ist was fuer Sie; Sie koennen es mir nachher wieder runterbringen. Es ist bloss das Fremdenblatt; aber Lene ist schon hin und holt das Kleine Journal. Da wird wohl schon mehr drinstehen; die wissen immer alles. Hoeren Sie, Roswitha, wer so was gedacht haette." Roswitha, sonst nicht allzu neugierig, hatte sich doch nach dieser Ansprache so rasch wie moeglich die Hintertreppe hinaufbegeben und war mit dem Lesen gerade fertig, als Johanna dazukam. Diese legte die Briefe, die ihr Innstetten eben gegeben, auf den Tisch, ueberflog die Adressen oder tat wenigstens so (denn sie wusste laengst, an wen sie gerichtet waren) und sagte mit gut erkuenstelter Ruhe: "Einer ist nach Hohen-Cremmen." "Das kann ich mir denken", sagte Roswitha. Johanna war nicht wenig erstaunt ueber diese Bemerkung. "Der Herr schreibt sonst nie nach Hohen-Cremmen." "Ja, sonst. Aber jetzt ... Denken Sie sich, das hat mir eben der Portier unten gegeben." Johanna nahm das Blatt und las nun halblaut eine mit einem dicken Tintenstrich markierte Stelle: "Wie wir kurz vor Redaktionsschluss von gut unterrichteter Seite her vernehmen, hat gestern frueh in dem Badeort Kessin in Hinterpommern ein Duell zwischen dem Ministerialrat v. I. (Keithstrasse) und dem Major von Crampas stattgefunden. Major von Crampas fiel. Es heisst, dass Beziehungen zwischen ihm und der Raetin, einer schoenen und noch sehr jungen Frau, bestanden haben sollen." "Was solche Blaetter auch alles schreiben", sagte Johanna, die verstimmt war, ihre Neuigkeit ueberholt zu sehen. "Ja", sagte Roswitha. "Und das lesen nun die Menschen und verschimpfieren mir meine liebe, arme Frau. Und der arme Major. Nun ist er tot." "Ja, Roswitha, was denken Sie sich eigentlich? Soll er nicht tot sein? Oder soll lieber unser gnaediger Herr tot sein?" "Nein, Johanna, unser gnaed'ger Herr, der soll auch leben, alles soll leben. Ich bin nicht fuer Totschiessen und kann nicht mal das Knallen hoeren. Aber bedenken Sie doch, Johanna, das ist ja nun schon eine halbe Ewigkeit her, und die Briefe, die mir gleich so sonderbar aussahen, weil sie die rote Strippe hatten und drei- oder viermal umwickelt und dann eingeknotet und keine Schleife - die sahen ja schon ganz gelb aus, so lange ist es her. Wir sind ja nun schon ueber sechs Jahre hier, und wie kann man wegen solcher alten Geschichten ..." "Ach, Roswitha, Sie reden, wie Sie's verstehen. Und bei Licht besehen sind Sie schuld. Von den Briefen kommt es her. Warum kamen Sie mit dem Stemmeisen und brachen den Naehtisch auf, was man nie darf; man darf kein Schloss aufbrechen, was ein anderer zugeschlossen hat." "Aber, Johanna, das ist doch wirklich zu schlecht von Ihnen, mir so was auf den Kopf zuzusagen, und Sie wissen doch, dass Sie schuld sind und dass Sie wie naerrisch in die Kueche stuerzten und mir sagten, der Naehtisch muesse aufgemacht werden, da waere die Bandage drin, und da bin ich mit dem Stemmeisen gekommen, und nun soll ich schuld sein. Nein, ich sage ..." "Nun, ich will es nicht gesagt haben, Roswitha. Nur, Sie sollen mir nicht kommen und sagen: der arme Major. Was heisst der arme Major! Der ganze arme Major taugte nichts; wer solchen rotblonden Schnurrbart hat und immer wribbelt, der taugt nie was und richtet bloss Schaden an. Und wenn man immer in vornehmen Haeusern gedient hat ... aber das haben Sie nicht, Roswitha, das fehlt Ihnen eben ... dann weiss man auch, was sich passt und schickt und was Ehre ist, und weiss auch, dass, wenn so was vorkommt, dann geht es nicht anders, und dann kommt das, was man eine Forderung nennt, und dann wird einer totgeschossen." "Ach, das weiss ich auch; ich bin nicht so dumm, wie Sie mich immer machen wollen. Aber wenn es so lange her ist ..." "Ja, Roswitha, mit Ihrem ewigen 'so lange her'; daran sieht man ja eben, dass Sie nichts davon verstehen. Sie erzaehlen immer die alte Geschichte von Ihrem Vater mit dem gluehenden Eisen und wie er damit auf Sie losgekommen, und jedesmal, wenn ich einen gluehenden Bolzen eintue, muss ich auch wirklich immer an Ihren Vater denken und sehe immer, wie er Sie wegen des Kindes, das ja nun tot ist, totmachen will. Ja, Roswitha, davon sprechen Sie in einem fort, und es fehlt bloss noch, dass Sie Anniechen auch die Geschichte erzaehlen, und wenn Anniechen eingesegnet wird, dann wird sie's auch gewiss erfahren, und vielleicht denselben Tag noch; und das aergert mich, dass Sie das alles erlebt haben, und Ihr Vater war doch bloss ein Dorfschmied und hat Pferde beschlagen oder einen Radreifen belegt, und nun kommen Sie und verlangen von unserm gnaed'gen Herrn, dass er sich das alles ruhig gefallen laesst, bloss weil es so lange her ist. Was heisst lange her? Sechs Jahre ist nicht lange her. Und unsre gnaed'ge Frau - die aber nicht wiederkommt, der gnaed'ge Herr hat es mir eben gesagt -, unsre gnaed'ge Frau wird erst sechsundzwanzig, und im August ist ihr Geburtstag, und da kommen Sie mir mit 'lange her'. Und wenn sie sechsunddreissig waere, ich sage Ihnen, bis sechsunddreissig muss man erst recht aufpassen, und wenn der gnaed'ge Herr nichts getan haette, dann haetten ihn die vornehmen Leute 'geschnitten'. Aber das Wort kennen Sie gar nicht, Roswitha, davon wissen Sie nichts." "Nein, davon weiss ich nichts, will auch nicht; aber das weiss ich, Johanna, dass Sie in den gnaed'gen Herrn verliebt sind." Johanna schlug eine krampfhafte Lache auf. "Ja, lachen Sie nur. Ich seh es schon lange. Sie haben so was. Und ein Glueck, dass unser gnaed'ger Herr keine Augen dafuer hat ... Die arme Frau, die arme Frau." Johanna lag daran, Frieden zu schliessen. "Lassen Sie's gut sein, Roswitha. Sie haben wieder Ihren Koller; aber ich weiss schon, den haben alle vom Lande." "Kann schon sein." "Ich will jetzt nur die Briefe forttragen und unten sehen, ob der Portier vielleicht schon die andere Zeitung hat. Ich habe doch recht verstanden, dass er Lene danach geschickt hat? Und es muss auch mehr darin stehen; das hier ist ja so gut wie gar nichts." Dreissigstes Kapitel Effi und die Geheimraetin Zwicker waren seit fast drei Wochen in Ems und bewohnten daselbst das Erdgeschoss einer reizenden kleinen Villa. In ihrem zwischen ihren zwei Wohnzimmern gelegenen gemeinschaftlichen Salon mit Blick auf den Garten stand ein Palisanderfluegel, auf dem Effi dann und wann eine Sonate, die Zwicker dann und wann einen Walzer spielte; sie war ganz unmusikalisch und beschraenkte sich im wesentlichen darauf, fuer Niemann als Tannhaeuser zu schwaermen. Es war ein herrlicher Morgen; in dem kleinen Garten zwitscherten die Voegel, und aus dem angrenzenden Hause, drin sich ein "Lokal" befand, hoerte man, trotz der fruehen Stunde, bereits das Zusammenschlagen der Billardbaelle. Beide Damen hatten ihr Fruehstueck nicht im Salon selbst, sondern auf einem ein paar Fuss hoch aufgemauerten und mit Kies bestreuten Vorplatz eingenommen, von dem aus drei Stufen nach dem Garten hinunterfuehrten; die Markise, ihnen zu Haeupten, war aufgezogen, um den Genuss der frischen Luft in nichts zu beschraenken, und sowohl Effi wie die Geheimraetin waren ziemlich emsig bei ihrer Handarbeit. Nur dann und wann wurden ein paar Worte gewechselt. "Ich begreife nicht", sagte Effi, "dass ich schon seit vier Tagen keinen Brief habe; er schreibt sonst taeglich. Ob Annie krank ist? Oder er selbst?" Die Zwicker laechelte: "Sie werden erfahren, liebe Freundin, dass er gesund ist, ganz gesund." Effi fuehlte sich durch den Ton, in dem dies gesagt wurde, wenig angenehm beruehrt und schien antworten zu wollen, aber in ebendiesem Augenblicke trat das aus der Umgegend von Bonn stammende Hausmaedchen, das sich von Jugend an daran gewoehnt hatte, die mannigfachsten Erscheinungen des Lebens an Bonner Studenten und Bonner Husaren zu messen, vom Salon her auf den Vorplatz hinaus, um hier den Fruehstueckstisch abzuraeumen. Sie hiess Afra. "Afra", sagte Effi, "es muss doch schon neun sein; war der Postbote noch nicht da?" "Nein, noch nicht, gnaed'ge Frau." "Woran liegt es?" "Natuerlich an dem Postboten; er ist aus dem Siegenschen und hat keinen Schneid. Ich hab's ihm auch schon gesagt, das sei die 'reine Lodderei'. Und wie ihm das Haar sitzt; ich glaube, er weiss gar nicht, was ein Scheitel ist." "Afra, Sie sind mal wieder zu streng. Denken Sie doch: Postbote, und so tagaus, tagein bei der ewigen Hitze ..." "Ist schon recht, gnaed'ge Frau. Aber es gibt doch andere, die zwingen's; wo's drinsteckt, da geht es auch." Und waehrend sie noch so sprach, nahm sie das Tablett geschickt auf ihre fuenf Fingerspitzen und stieg die Stufen hinunter, um durch den Garten hin den naeheren Weg in die Kueche zu nehmen. "Eine huebsche Person", sagte die Zwicker. "Und so quick und kasch, und ich moechte fast sagen, von einer natuerlichen Anmut. Wissen Sie, liebe Baronin, dass mich diese Afra... uebrigens ein wundervoller Name, und es soll sogar eine heilige Afra gegeben haben, aber ich glaube nicht, dass unsere davon abstammt ..." "Und nun, liebe Geheimraetin, vertiefen Sie sich wieder in Ihr Nebenthema, das diesmal Afra heisst, und vergessen darueber ganz, was Sie eigentlich sagen wollten ..." "Doch nicht, liebe Freundin, oder ich finde mich wenigstens wieder zurueck. Ich wollte sagen, dass mich diese Afra ganz ungemein an die stattliche Person erinnert, die ich in Ihrem Hause ..." "Ja, Sie haben recht. Es ist eine Aehnlichkeit da. Nur, unser Berliner Hausmaedchen ist doch erheblich huebscher und namentlich ihr Haar viel schoener und voller. Ich habe so schoenes flachsenes Haar, wie unsere Johanna hat, ueberhaupt noch nicht gesehen. Ein bisschen davon sieht man ja wohl, aber solche Fuelle ..." Die Zwicker laechelte. "Das ist wirklich selten, dass man eine junge Frau mit solcher Begeisterung von dem flachsenen Haar ihres Hausmaedchens sprechen hoert. Und nun auch noch von der Fuelle! Wissen Sie, dass ich das ruehrend finde? Denn eigentlich ist man doch bei der Wahl der Maedchen in einer bestaendigen Verlegenheit. Huebsch sollen sie sein, weil es jeden Besucher, wenigstens die Maenner, stoert, eine lange Stakete mit griesem Teint und schwarzen Raendern in der Tueroeffnung erscheinen zu sehen, und ein wahres Glueck, dass die Korridore meistens so dunkel sind. Aber nimmt man wieder zu viel Ruecksicht auf solche Hausrepraesentation und den sogenannten ersten Eindruck, und schenkt man wohl gar noch einer solchen huebschen Person eine weisse Taendelschuerze nach der andern, so hat man eigentlich keine ruhige Stunde mehr und fragt sich, wenn man nicht zu eitel ist und nicht zu viel Vertrauen zu sich selber hat, ob da nicht Remedur geschaffen werden muesse. Remedur war naemlich ein Lieblingswort von Zwicker, womit er mich oft gelangweilt hat; aber freilich, alle Geheimraete haben solche Lieblingsworte." Effi hoerte mit sehr geteilten Empfindungen zu. Wenn die Geheimraetin nur ein bisschen anders gewesen waere, so haette dies alles reizend sein koennen, aber da sie nun mal war, wie sie war, so fuehlte sich Effi wenig angenehm von dem beruehrt, was sie sonst vielleicht einfach erheitert haette. "Das ist schon recht, liebe Freundin, was Sie da von den Geheimraeten sagen. Innstetten hat sich auch dergleichen angewoehnt, lacht aber immer, wenn ich ihn daraufhin ansehe, und entschuldigt sich hinterher wegen der Aktenausdruecke. Ihr Herr Gemahl war freilich schon laenger im Dienst und ueberhaupt wohl aelter ..." "Um ein geringes", sagte die Geheimraetin spitz und ablehnend. "Und alles in allem kann ich mich in Befuerchtungen, wie Sie sie aussprechen, nicht recht zurechtfinden. Das, was man gute Sitte nennt, ist doch immer noch eine Macht ..." "Meinen Sie?" Und ich kann mir namentlich nicht denken, dass es gerade Ihnen, liebe Freundin, beschieden gewesen sein solle, solche Sorgen und Befuerchtungen durchzumachen. Sie haben, Verzeihung, dass ich diesen Punkt hier so offen beruehre, gerade das, was die Maenner einen 'Scharm' nennen, Sie sind heiter, fesselnd, anregend, und wenn es nicht indiskret ist, so moecht ich angesichts dieser Ihrer Vorzuege wohl fragen duerfen, stuetzt sich das, was Sie da sagen, auf allerlei Schmerzliches, das Sie persoenlich erlebt haben?" "Schmerzliches?" sagte die Zwicker. "Ach, meine liebe, gnaedigste Frau, Schmerzliches, das ist ein zu grosses Wort, auch dann noch, wenn man vielleicht wirklich manches erlebt hat. Schmerzlich ist einfach zuviel, viel zuviel. Und dann hat man doch schliesslich auch seine Hilfsmittel und Gegenkraefte. Sie duerfen dergleichen nicht zu tragisch nehmen." "Ich kann mir keine rechte Vorstellung von dem machen, was Sie anzudeuten belieben. Nicht, als ob ich nicht wuesste, was Suende sei, das weiss ich auch; aber es ist doch ein Unterschied, ob man so hineingeraet in allerlei schlechte Gedanken oder ob einem derlei Dinge zur halben oder auch wohl zur ganzen Lebensgewohnheit werden. Und nun gar im eigenen Hause ..." "Davon will ich nicht sprechen, das will ich nicht so direkt gesagt haben, obwohl ich, offen gestanden, auch nach dieser Seite hin voller Misstrauen bin oder, wie ich jetzt sagen muss, war; denn es liegt ja alles zurueck. Aber da gibt es Aussengebiete. Haben Sie von Landpartien gehoert?" "Gewiss. Und ich wollte wohl, Innstetten haette mehr Sinn dafuer ..." "Ueberlegen Sie sich das, liebe Freundin. Zwicker sass immer in Saatwinkel. Ich kann Ihnen nur sagen, wenn ich das Wort hoere, gibt es mir noch jetzt einen Stich ins Herz. Ueberhaupt diese Vergnuegungsorte in der Umgegend unseres lieben alten Berlin! Denn ich liebe Berlin trotz alledem. Aber schon die blossen Namen der dabei in Frage kommenden Ortschaften umschliessen eine Welt von Angst und Sorge. Sie laecheln. Und doch, sagen Sie selbst, liebe Freundin, was koennen Sie von einer grossen Stadt und ihren Sittlichkeitszustaenden erwarten, wenn Sie beinah unmittelbar vor den Toren derselben (denn zwischen Charlottenburg und Berlin ist kein rechter Unterschied mehr), auf kaum tausend Schritte zusammengedraengt, einem Pichelsberg, einem Pichelsdorf und einem Pichelswerder begegnen. Dreimal Pichel ist zuviel. Sie koennen die ganze Welt absuchen, das finden Sie nicht wieder." Effi nickte. "Und das alles", fuhr die Zwicker fort, "geschieht am gruenen Holz der Havelseite. Das alles liegt nach Westen zu, da haben Sie Kultur und hoehere Gesittung. Aber nun gehen Sie, meine Gnaedigste, nach der anderen Seite hin, die Spree hinauf. Ich spreche nicht von Treptow und Stralau, das sind Bagatellen, Harmlosigkeiten, aber wenn Sie die Spezialkarte zur Hand nehmen wollen, da begegnen Sie neben mindestens sonderbaren Namen wie Kiekebusch, wie Wuhlheide - Sie haetten hoeren sollen, wie Zwicker das Wort aussprach - Namen von geradezu brutalem Charakter, mit denen ich Ihr Ohr nicht verletzen will. Aber natuerlich sind das gerade die Plaetze, die bevorzugt werden. Ich hasse diese Landpartien, die sich das Volksgemuet als eine Kremserpartie mit 'Ich bin ein Preusse' vorstellt, in Wahrheit aber schlummern hier die Keime einer sozialen Revolution. Wenn ich sage 'soziale Revolution', so meine ich natuerlich moralische Revolution, alles andere ist bereits wieder ueberholt, und schon Zwicker sagte mir noch in seinen letzten Tagen: 'Glaube mir, Sophie, Saturn frisst seine Kinder.' Und Zwicker, welche Maengel und Gebrechen er haben mochte, das bin ich ihm schuldig, er war ein philosophischer Kopf und hatte ein natuerliches Gefuehl fuer historische Entwicklung ... Aber ich sehe, meine liebe Frau von Innstetten, so artig sie sonst ist, hoert nur noch mit halbem Ohr zu; natuerlich, der Postbote hat sich drueben blicken lassen, und da fliegt denn das Herz hinueber und nimmt die Liebesworte vorweg aus dem Brief heraus ... Nun, Boeselager, was bringen Sie?" Der Angeredete war mittlerweile bis an den Tisch herangetreten und packte aus: mehrere Zeitungen, zwei Friseuranzeigen und zuletzt auch einen grossen eingeschriebenen Brief an Frau Baronin von Innstetten, geb. von Briest. Die Empfaengerin unterschrieb, und nun ging der Postbote wieder. Die Zwicker aber ueberflog die Friseuranzeigen und lachte ueber die Preisermaessigung von Shampooing. Effi hoerte nicht hin; sie drehte den ihrerseits empfangenen Brief zwischen den Fingern und hatte eine ihr unerklaerliche Scheu, ihn zu oeffnen. Eingeschrieben und mit zwei grossen Siegeln und ein dickes Kuvert. Was bedeutete das? Poststempel: "Hohen-Cremmen", und die Adresse von der Handschrift der Mutter. Von Innstetten, es war der fuenfte Tag, keine Zeile. Sie nahm eine Stickschere mit Perlmuttergriff und schnitt die Laengsseite des Briefes langsam auf. Und nun harrte ihrer eine neue Ueberraschung. Der Briefbogen, ja, das waren eng beschriebene Zeilen von der Mama, darin eingelegt aber waren Geldscheine mit einem breiten Papierstreifen drumherum, auf dem mit Rotstift, und zwar von des Vaters Hand, der Betrag der eingelegten Summe verzeichnet war. Sie schob das Konvolut zurueck und begann zu lesen, waehrend sie sich in den Schaukelstuhl zuruecklehnte. Aber sie kam nicht weit, die Zeilen entfielen ihr, und aus ihrem Gesicht war alles Blut fort. Dann bueckte sie sich und nahm den Brief wieder auf. "Was ist Ihnen, liebe Freundin? Schlechte Nachrichten?" Effi nickte, gab aber weiter keine Antwort und bat nur, ihr ein Glas Wasser reichen zu wollen. Als sie getrunken, sagte sie: "Es wird voruebergehen, liebe Geheimraetin, aber ich moechte mich doch einen Augenblick zurueckziehen ... Wenn Sie mir Afra schicken koennten." Und nun erhob sie sich und trat in den Salon zurueck, wo sie sichtlich froh war, einen Halt gewonnen und sich an dem Palisanderfluegel entlangfuehlen zu koennen. So kam sie bis an ihr nach rechts hin gelegenes Zimmer, und als sie hier, tappend und suchend, die Tuer geoeffnet und das Bett an der Wand gegenueber erreicht hatte, brach sie ohnmaechtig zusammen. Einunddreissgstes Kapitel Minuten vergingen. Als Effi sich wieder erholt hatte, setzte sie sich auf einen am Fenster stehenden Stuhl und sah auf die stille Strasse hinaus. Wenn da doch Laerm und Streit gewesen waere; aber nur der Sonnenschein lag auf dem chaussierten Wege und dazwischen die Schatten, die das Gitter und die Baeume warfen. Das Gefuehl des Alleinseins in der Welt ueberkam sie mit seiner ganzen Schwere. Vor einer Stunde noch eine glueckliche Frau, Liebling aller, die sie kannten, und nun ausgestossen. Sie hatte nur erst den Anfang des Briefes gelesen, aber genug, um ihre Lage klar vor Augen zu haben. Wohin? Sie hatte keine Antwort darauf, und doch war sie voll tiefer Sehnsucht, aus dem herauszukommen, was sie hier umgab, also fort von dieser Geheimraetin, der das alles bloss ein "interessanter Fall" war und deren Teilnahme, wenn etwas davon existierte, sicher an das Mass ihrer Neugier nicht heranreichte. "Wohin?" Auf dem Tisch vor ihr lag der Brief; aber ihr fehlte der Mut, weiterzulesen. Endlich sagte sie: "Wovor bange ich mich noch? Was kann noch gesagt werden, das ich mir nicht schon selber sagte? Der, um den all dies kam, ist tot, eine Rueckkehr in mein Haus gibt es nicht, in ein paar Wochen wird die Scheidung ausgesprochen sein, und das Kind wird man dem Vater lassen. Natuerlich. Ich bin schuldig, und eine Schuldige kann ihr Kind nicht erziehen. Und wovon auch? Mich selbst werde ich wohl durchbringen. Ich will sehen, was die Mama darueber schreibt, wie sie sich mein Leben denkt." Und unter diesen Worten nahm sie den Brief wieder, um auch den Schluss zu lesen. "... Und nun Deine Zukunft, meine liebe Effi. Du wirst Dich auf Dich selbst stellen muessen und darfst dabei, soweit aeussere Mittel mitsprechen, unserer Unterstuetzung sicher sein. Du wirst am besten in Berlin leben (in einer grossen Stadt vertut sich dergleichen am besten) und wirst da zu den vielen gehoeren, die sich um freie Luft und lichte Sonne gebracht haben. Du wirst einsam leben, und wenn Du das nicht willst, wahrscheinlich aus Deiner Sphaere herabsteigen muessen. Die Welt, in der Du gelebt hast, wird Dir verschlossen sein. Und was das Traurigste fuer uns und fuer Dich ist (auch fuer Dich, wie wir Dich zu kennen vermeinen) - auch das elterliche Haus wird Dir verschlossen sein, wir koennen Dir keinen stillen Platz in Hohen-Cremmen anbieten, keine Zuflucht in unserem Hause, denn es hiesse das, dies Haus von aller Welt abschliessen, und das zu tun, sind wir entschieden nicht geneigt. Nicht weil wir zu sehr an der Welt hingen und ein Abschiednehmen von dem, was sich 'Gesellschaft' nennt, uns als etwas unbedingt Unertraegliches erschiene; nein, nicht deshalb, sondern einfach, weil wir Farbe bekennen und vor aller Welt, ich kann Dir das Wort nicht ersparen, unsere Verurteilung Deines Tuns, des Tuns unseres einzigen und von uns so sehr geliebten Kindes, aussprechen wollen ..." Effi konnte nicht weiterlesen; ihre Augen fuellten sich mit Traenen, und nachdem sie vergeblich dagegen angekaempft hatte, brach sie zuletzt in ein heftiges Schluchzen und Weinen aus, darin sich ihr Herz erleichterte. Nach einer halben Stunde klopfte es, und auf Effis "Herein" erschien die Geheimraetin. "Darf ich eintreten?" "Gewiss, liebe Geheimraetin", sagte Effi, die jetzt, leicht zugedeckt und die Haende gefaltet, auf dem Sofa lag. "Ich bin erschoepft und habe mich hier eingerichtet, so gut es ging. Darf ich Sie bitten, sich einen Stuhl zu nehmen." Die Geheimraetin setzte sich so, dass der Tisch, mit einer Blumenschale darauf, zwischen ihr und Effi war. Effi zeigte keine Spur von Verlegenheit und aenderte nichts in ihrer Haltung, nicht einmal die gefalteten Haende. Mit einem Male war es ihr vollkommen gleichgueltig, was die Frau dachte; nur fort wollte sie. "Sie haben eine traurige Nachricht empfangen, liebe gnaedigste Frau ..." "Mehr als traurig", sagte Effi. "Jedenfalls traurig genug, um unserem Beisammensein ein rasches Ende zu machen. Ich muss noch heute fort." "Ich moechte nicht zudringlich erscheinen, aber ist es etwas mit Annie?" "Nein, nicht mit Annie. Die Nachrichten kamen ueberhaupt nicht aus Berlin, es waren Zeilen meiner Mama. Sie hat Sorgen um mich, und es liegt mir daran, sie zu zerstreuen, oder wenn ich das nicht kann, wenigstens an Ort und Stelle zu sein." "Mir nur zu begreiflich, so sehr ich es beklage, diese letzten Emser Tage nun ohne Sie verbringen zu sollen. Darf ich Ihnen meine Dienste zur Verfuegung stellen?" Ehe Effi darauf antworten konnte, trat Afra ein und meldete, dass man sich eben zum Lunch versammle. Die Herrschaften seien alle sehr in Aufregung: Der Kaiser kaeme wahrscheinlich auf drei Wochen, und am Schluss seien grosse Manoever, und die Bonner Husaren kaemen auch. Die Zwicker ueberschlug sofort, ob es sich verlohnen wuerde, bis dahin zu bleiben, kam zu einem entschiedenen "Ja" und ging dann, um Effis Ausbleiben beim Lunch zu entschuldigen. Als gleich danach auch Afra gehen wollte, sagte Effi: "Und dann, Afra, wenn Sie frei sind, kommen Sie wohl noch eine Viertelstunde zu mir, um mir beim Packen behilflich zu sein. Ich will heute noch mit dem Siebenuhrzug fort." "Heute noch? Ach, gnaedigste Frau, das ist doch aber schade. Nun fangen ja die schoenen Tage erst an." Effi laechelte. Die Zwicker, die noch allerlei zu hoeren hoffte, hatte sich nur mit Muehe bestimmen lassen, der "Frau Baronin" beim Abschied nicht das Geleit zu geben. Auf einem Bahnhof, so hatte Effi versichert, sei man immer so zerstreut und nur mit seinem Platz und seinem Gepaeck beschaeftigt; gerade Personen, die man liebhabe, von denen naehme man gern vorher Abschied. Die Zwicker bestaetigte das, trotzdem sie das Vorgeschuetzte darin sehr wohl herausfuehlte; sie hatte hinter allen Tueren gestanden und wusste gleich, was echt und unecht war. Afra begleitete Effi zum Bahnhof und liess sich fest versprechen, dass die Frau Baronin im naechsten Sommer wiederkommen wolle; wer mal in Ems gewesen, der komme immer wieder. Ems sei das Schoenste, ausser Bonn. Die Zwicker hatte sich mittlerweile zum Briefschreiben niedergesetzt, nicht an dem etwas wackligen Rokokosekretaer im Salon, sondern draussen auf der Veranda, an demselben Tisch, an dem sie kaum zehn Stunden zuvor mit Effi das Fruehstueck genommen hatte. Sie freute sich auf den Brief, der einer befreundeten, zur Zeit in Reichenhall weilenden Berliner Dame zugute kommen sollte. Beider Seelen hatten sich laengst gefunden und gipfelten in einer der ganzen Maennerwelt geltenden starken Skepsis; sie fanden die Maenner durchweg weit zurueckbleibend hinter dem, was billigerweise gefordert werden koenne, die sogenannten "forschen" am meisten. "Die, die vor Verlegenheit nicht wissen, wo sie hinsehen sollen, sind, nach einem kurzen Vorstudium, immer noch die besten, aber die eigentlichen Don Juans erweisen sich jedesmal als eine Enttaeuschung. Wo soll es am Ende auch herkommen." Das waren so Weisheitssaetze, die zwischen den zwei Freundinnen ausgetauscht wurden. Die Zwicker war schon auf dem zweiten Bogen und fuhr in ihrem mehr als dankbaren Thema, das natuerlich "Effi" hiess, eben wie folgt fort: "Alles in allem war sie sehr zu leiden, artig, anscheinend offen, ohne jeden Adelsduenkel (oder doch gross in der Kunst, ihn zu verbergen) und immer interessiert, wenn man ihr etwas Interessantes erzaehlte, wovon ich, wie ich Dir nicht zu versichern brauche, den ausgiebigsten Gebrauch machte. Nochmals also, reizende junge Frau, fuenfundzwanzig oder nicht viel mehr. Und doch habe ich dem Frieden nie getraut und traue ihm auch in diesem Augenblick noch nicht, ja, jetzt vielleicht am wenigsten. Die Geschichte heute mit dem Briefe - da steckt eine wirkliche Geschichte dahinter. Dessen bin ich so gut wie sicher. Es waere das erste Mal, dass ich mich in solcher Sache geirrt haette. Dass sie mit Vorliebe von den Berliner Modepredigern sprach und das Mass der Gottseligkeit jedes einzelnen feststellte, das und der gelegentliche Gretchenblick, der jedesmal versicherte, kein Waesserchen trueben zu koennen - alle diese Dinge haben mich in meinem Glauben ... Aber da kommt eben unsere Afra, von der ich Dir, glaube ich, schon schrieb, eine huebsche Person, und packt mir ein Zeitungsblatt auf den Tisch, das ihr, wie sie sagt, unsere Frau Wirtin fuer mich gegeben habe; die blau angestrichene Stelle. Nun verzeih, wenn ich diese Stelle erst lese ... Nachschrift. Das Zeitungsblatt war interessant genug und kam wie gerufen. Ich schneide die blau angestrichene Stelle heraus und lege sie diesen Zeilen bei. Du siehst daraus, dass ich mich nicht geirrt habe. Wer mag nur der Crampas sein? Es ist unglaublich - erst selber Zettel und Briefe schreiben und dann auch noch die des anderen aufbewahren! Wozu gibt es Oefen und Kamine? Solange wenigstens, wie dieser Duellunsinn noch existiert, darf dergleichen nicht vorkommen; einem kommenden Geschlecht kann diese Briefschreibepassion (weil dann gefahrlos geworden) vielleicht freigegeben werden. Aber so weit sind wir noch lange nicht. Uebrigens bin ich voll Mitleid mit der jungen Baronin und finde, eitel wie man nun mal ist, meinen einzigen Trost darin, mich in der Sache selbst nicht getaeuscht zu haben. Und der Fall lag nicht so ganz gewoehnlich. Ein schwaecherer Diagnostiker haette sich doch vielleicht hinters Licht fuehren lassen. Wie immer Deine Sophie." Zweiunddreissigstes Kapitel Drei Jahre waren vergangen, und Effi bewohnte seit fast ebenso langer Zeit eine kleine Wohnung in der Koeniggraetzer Strasse, zwischen Askanischem Platz und Halleschem Tor: ein Vorder- und Hinterzimmer und hinter diesem die Kueche mit Maedchengelass, alles so durchschnittsmaessig und alltaeglich wie nur moeglich. Und doch war es eine apart huebsche Wohnung, die jedem, der sie sah, angenehm auffiel, am meisten vielleicht dem alten Geheimrat Rummschuettel, der, dann und wann vorsprechend, der armen jungen Frau nicht bloss die nun weit zurueckliegende Rheumatismus- und Neuralgiekomoedie sondern auch alles, was seitdem sonst noch vorgekommen war, laengst verziehen hatte, wenn es fuer ihn der Verzeihung ueberhaupt bedurfte. Denn Rummschuettel kannte noch ganz anderes. Er war jetzt ausgangs Siebzig, aber wenn Effi, die seit einiger Zeit ziemlich viel kraenkelte, ihn brieflich um seinen Besuch bat, so war er am anderen Vormittag auch da und wollte von Entschuldigungen, dass es so hoch sei, nichts wissen. "Nur keine Entschuldigungen, meine liebe gnaedigste Frau; denn erstens ist es mein Metier, und zweitens bin ich gluecklich und beinahe stolz, die drei Treppen so gut noch steigen zu koennen. Wenn ich nicht fuerchten muesste, Sie zu belaestigen - denn ich komme doch schliesslich als Arzt und nicht als Naturfreund und Landschaftsschwaermer -, so kaeme ich wohl noch oefter, bloss um Sie zu sehen und mich hier etliche Minuten an Ihr Hinterfenster zu setzen. Ich glaube, Sie wuerdigen den Ausblick nicht genug." "O doch, doch", sagte Effi; Rummschuettel aber liess sich nicht stoeren und fuhr fort: "Bitte, meine gnaedigste Frau, treten Sie hier heran, nur einen Augenblick, oder erlauben Sie mir, dass ich Sie bis an das Fenster fuehre. Wieder ganz herrlich heute. Sehen Sie doch nur die verschiedenen Bahndaemme, drei, nein, vier, und wie es bestaendig darauf hin und her gleitet ... und nun verschwindet der Zug da wieder hinter einer Baumgruppe. Wirklich herrlich. Und wie die Sonne den weissen Rauch durchleuchtet! Waere der Matthaeikirchhof nicht unmittelbar dahinter, so waere es ideal." "Ich sehe gern Kirchhoefe." "Ja, Sie duerfen das sagen. Aber unsereins! Unsereinem kommt unabweislich immer die Frage, koennten hier nicht vielleicht einige weniger liegen? Im uebrigen, meine gnaedigste Frau, bin ich mit Ihnen zufrieden und beklage nur, dass Sie von Ems nichts wissen wollen; Ems bei Ihren katarrhalischen Affektionen, wuerde Wunder ..." Effi schwieg. "Ems wuerde Wunder tun. Aber da Sie's nicht moegen (und ich finde mich darin zurecht), so trinken Sie den Brunnen hier. In drei Minuten sind Sie im Prinz Albrechtschen Garten, und wenn auch die Musik und die Toiletten und all die Zerstreuungen einer regelrechten Brunnenpromenade fehlen, der Brunnen selbst ist doch die Hauptsache." Effi war einverstanden, und Rummschuettel nahm Hut und Stock. Aber er trat noch einmal an das Fenster heran. "Ich hoere von einer Terrassierung des Kreuzbergs sprechen, Gott segne die Stadtverwaltung, und wenn dann erst die kahle Stelle da hinten mehr in Gruen stehen wird ... Eine reizende Wohnung. Ich koennte Sie fast beneiden ... Und was ich schon laengst einmal sagen wollte, meine gnaedige Frau, Sie schreiben mir immer einen so liebenswuerdigen Brief. Nun, wer freute sich dessen nicht? Aber es ist doch jedesmal eine Muehe ... Schicken Sie mir doch einfach Roswitha." Effi dankte ihm, und so schieden sie. "Schicken Sie mir doch einfach Roswitha ..." hatte Rummschuettel gesagt. Ja, war denn Roswitha bei Effi? War sie denn statt in der Keith- in der Koeniggraetzer Strasse? Gewiss war sie's, und zwar sehr lange schon, gerade so lange, wie Effi selbst in der Koeniggraetzer Strasse wohnte. Schon drei Tage vor diesem Einzug hatte sich Roswitha bei ihrer lieben gnaedigen Frau sehen lassen, und das war ein grosser Tag fuer beide gewesen, so sehr, dass dieses Tages hier noch nachtraeglich gedacht werden muss. Effi hatte damals, als der elterliche Absagebrief aus Hohen-Cremmen kam und sie mit dem Abendzug von Ems nach Berlin zurueckreiste, nicht gleich eine selbstaendige Wohnung genommen, sondern es mit einem Unterkommen in einem Pensionat versucht. Es war ihr damit auch leidlich geglueckt. Die beiden Damen, die dem Pensionat vorstanden, waren gebildet und voll Ruecksicht und hatten es laengst verlernt, neugierig zu sein. Es kam da so vieles zusammen, dass ein Eindringenwollen in die Geheimnisse jedes einzelnen viel zu umstaendlich gewesen waere. Dergleichen hinderte nur den Geschaeftsgang. Effi, die die mit den Augen angestellten Kreuzverhoere der Zwicker noch in Erinnerung hatte, fuehlte sich denn auch von dieser Zurueckhaltung der Pensionsdamen sehr angenehm beruehrt; als aber vierzehn Tage vorueber waren, empfand sie doch deutlich, dass die hier herrschende Gesamtatmosphaere, die physische wie die moralische, nicht wohl ertragbar fuer sie sei. Bei Tisch waren sie meist zu sieben, und zwar ausser Effi und der einen Pensionsvorsteherin (die andere leitete draussen das Wirtschaftliche) zwei die Hochschule besuchende Englaenderinnen, eine adelige Dame aus Sachsen, eine sehr huebsche galizische Juedin, von der niemand wusste, was sie eigentlich vorhatte, und eine Kantorstochter aus Polzin in Pommern, die Malerin werden wollte. Das war eine schlimme Zusammensetzung, und die gegenseitigen Ueberheblichkeiten, bei denen die Englaenderinnen merkwuerdigerweise nicht absolut obenan standen, sondern mit der vom hoechsten Malergefuehl erfuellten Polzinerin um die Palme rangen, waren unerquicklich; dennoch waere Effi, die sich passiv verhielt, ueber den Druck, den diese geistige Atmosphaere uebte, hinweggekommen, wenn nicht, rein physisch und aeusserlich, die sich hinzugesellende Pensionsluft gewesen waere. Woraus sich diese eigentlich zusammensetzte, war vielleicht ueberhaupt unerforschlich, aber dass sie der sehr empfindlichen Effi den Atem raubte, war nur zu gewiss, und so sah sie sich, aus diesem aeusserlichen Grunde, sehr bald schon zur Aus- und Umschau nach einer anderen Wohnung gezwungen, die sie denn auch in verhaeltnismaessiger Naehe fand. Es war dies die vorgeschilderte Wohnung in der Koeniggraetzer Strasse. Sie sollte dieselbe zu Beginn des Herbstvierteljahres beziehen, hatte das Noetige dazu beschafft und zaehlte waehrend der letzten Septembertage die Stunden bis zur Erloesung aus dem Pensionat. An einem dieser letzten Tage - sie hatte sich eine Viertelstunde zuvor aus dem Esszimmer zurueckgezogen und gedachte sich eben auf einem mit einem grossblumigen Wollstoff ueberzogenen Seegrassofa auszuruhen - wurde leise an ihre Tuer geklopft. "Herein." Das eine Hausmaedchen, eine kraenklich aussehende Person von Mitte Dreissig, die durch bestaendigen Aufenthalt auf dem Korridor des Pensionats den hier lagernden Dunstkreis ueberallhin in ihren Falten mitschleppte, trat ein und sagte: Die gnaedige Frau moechte entschuldigen, aber es wolle sie jemand sprechen. "Wer?" "Eine Frau." "Und hat sie ihren Namen genannt?" "Ja, Roswitha." Und siehe da, kaum dass Effi diesen Namen gehoert hatte, so schuettelte sie den Halbschlaf von sich und sprang auf und lief auf den Korridor hinaus, um Roswitha bei beiden Haenden zu fassen und in ihr Zimmer zu ziehen. "Roswitha. Du. Ist das eine Freude. Was bringst du? Natuerlich was Gutes. Ein so gutes altes Gesicht kann nur was Gutes bringen. Ach, wie gluecklich ich bin, ich koennte dir einen Kuss geben; ich haette nicht gedacht, dass ich noch solche Freude haben koennte. Mein gutes altes Herz, wie geht es dir denn? Weisst du noch, wie's damals war, als der Chinese spukte? Das waren glueckliche Zeiten. Ich habe damals gedacht, es waeren unglueckliche, weil ich das Harte des Lebens noch nicht kannte. Seitdem habe ich es kennengelernt. Ach, Spuk ist lange nicht das Schlimmste! Komm, meine gute Roswitha, komm, setz dich hier zu mir und erzaehle mir ... Ach, ich habe solche Sehnsucht. Was macht Annie?" Roswitha konnte kaum reden und sah sich in dem sonderbaren Zimmer um, dessen grau und verstaubt aussehende Waende in schmale Goldleisten gefasst waren. Endlich aber fand sie sich und sagte, dass der gnaedige Herr nun wieder aus Glatz zurueck sei; der alte Kaiser habe gesagt, sechs Wochen in solchem Falle sei gerade genug, und auf den Tag, wo der gnaedige Herr wieder da sein wuerde, darauf habe sie bloss gewartet, wegen Annie, die doch eine Aufsicht haben muesse. Denn Johanna sei wohl eine sehr propre Person, aber sie sei doch noch zu huebsch und beschaeftige sich noch zu viel mit sich selbst und denke vielleicht Gott weiss was alles. Aber nun, wo der gnaedige Herr wieder aufpassen und in allem nach dem Rechten sehen koenne, da habe sie sich's doch antun wollen und mal sehen, wie's der gnaedigen Frau gehe ... "Das ist recht, Roswitha ..." Und habe mal sehen wollen, ob der gnaedigen Frau was fehle und ob sie sie vielleicht brauche, dann wolle sie gleich hierbleiben und beispringen und alles machen und dafuer sorgen, dass es der gnaedigen Frau wieder gutgehe. Effi hatte sich in die Sofaecke zurueckgelehnt und die Augen geschlossen. Aber mit eins richtete sie sich auf und sagte: "Ja, Roswitha, was du da sagst, das ist ein Gedanke; das ist was. Denn du musst wissen, ich bleibe hier nicht in dieser Pension, ich habe da weiterhin eine Wohnung gemietet und auch Einrichtung besorgt, und in drei Tagen will ich da einziehen. Und wenn ich da mit dir ankaeme und zu dir sagen koennte: 'Nein, Roswitha, da nicht, der Schrank muss dahin und der Spiegel da', ja, das waere was, das sollte mir schon gefallen. Und wenn wir dann muede von all der Plackerei waeren, dann sagte ich: 'Nun, Roswitha, gehe da hinueber und hole uns eine Karaffe Spatenbraeu, denn wenn man gearbeitet hat, dann will man doch auch trinken, und wenn du kannst, so bring uns auch etwas Gutes aus dem Habsburger Hof mit, du kannst ja das Geschirr nachher wieder herueberbringen' - ja, Roswitha, wenn ich mir das denke, da wird mir ordentlich leichter ums Herz. Aber ich muss dich doch fragen, hast du dir auch alles ueberlegt? Von Annie will ich nicht sprechen, an der du doch haengst, sie ist ja fast wie dein eigen Kind - aber trotzdem, fuer Annie wird schon gesorgt werden, und die Johanna haengt ja auch an ihr. Also davon nichts. Aber bedenke, wie sich alles veraendert hat, wenn du wieder zu mir willst. Ich bin nicht mehr wie damals; ich habe jetzt eine ganz kleine Wohnung genommen, und der Portier wird sich wohl nicht sehr um dich und um mich bemuehen. Und wir werden eine sehr kleine Wirtschaft haben, immer das, was wir sonst unser Donnerstagessen nannten, weil da reingemacht wurde. Weisst du noch? Und weisst du noch, wie der gute Gieshuebler mal dazukam und sich zu uns setzen musste, und wie er dann sagte: So was Delikates habe er noch nie gegessen. Du wirst dich noch erinnern, er war immer so schrecklich artig, denn eigentlich war er doch der einzige Mensch in der Stadt, der von Essen was verstand. Die andern fanden alles schoen." Roswitha freute sich ueber jedes Wort und sah schon alles in bestem Gange, bis Effi wieder sagte: "Hast du dir das alles ueberlegt? Denn du bist doch - ich muss das sagen, wiewohl es meine eigne Wirtschaft war -, du bist doch nun durch viele Jahre hin verwoehnt, und es kam nie darauf an, wir hatten es nicht noetig, sparsam zu sein; aber jetzt muss ich sparsam sein, denn ich bin arm und habe nur, was man mir gibt, du weisst, von Hohen-Cremmen her. Meine Eltern sind sehr gut gegen mich, soweit sie's koennen, aber sie sind nicht reich. Und nun sage, was meinst du?" "Dass ich naechsten Sonnabend mit meinem Koffer anziehe, nicht am Abend, sondern gleich am Morgen, und dass ich da bin, wenn das Einrichten losgeht. Denn ich kann doch ganz anders zufassen wie die gnaedige Frau." "Sage das nicht, Roswitha. Ich kann es auch. Wenn man muss, kann man alles." "Und dann, gnaedigste Frau, Sie brauchen sich wegen meiner nicht zu fuerchten, als ob ich mal denken koennte: 'fuer Roswitha ist das nicht gut genug'. Fuer Roswitha ist alles gut, was sie mit der gnaedigen Frau teilen muss, und am liebsten, wenn es was Trauriges ist. Ja, darauf freue ich mich schon ordentlich. Dann sollen Sie mal sehen, das verstehe ich. Und wenn ich es nicht verstuende, dann wollte ich es schon lernen. Denn, gnaedige Frau, das hab' ich nicht vergessen, als ich da auf dem Kirchhof sass, mutterwindallein, und bei mir dachte, nun waere es doch wohl das beste, ich laege da gleich mit in der Reihe. Wer kam da? Wer hat mich da bei Leben erhalten? Ach, ich habe so viel durchzumachen gehabt. Als mein Vater damals mit der gluehenden Stange auf mich loskam ..." "Ich weiss schon, Roswitha ..." "Ja, das war schlimm genug. Aber als ich da auf dem Kirchhof sass, so ganz arm und verlassen, das war doch noch schlimmer. Und da kam die gnaedige Frau. Und ich will nicht selig werden, wenn ich das vergesse." Und dabei stand sie auf und ging aufs Fenster zu. "Sehen Sie, gnaedige Frau, den muessen Sie doch auch noch sehen." Und nun trat auch Effi heran. Drueben, auf der anderen Seite der Strasse, sass Rollo und sah nach den Fenstern der Pension hinauf. Wenige Tage danach bezog Effi, von Roswitha unterstuetzt, ihre Wohnung in der Koeniggraetzer Strasse, darin es ihr von Anfang an gefiel. Umgang fehlte freilich, aber sie hatte waehrend ihrer Pensionstage von dem Verkehr mit Menschen so wenig Erfreuliches gehabt, dass ihr das Alleinsein nicht schwerfiel, wenigstens anfaenglich nicht. Mit Roswitha liess sich allerdings kein aesthetisches Gespraech fuehren, auch nicht mal sprechen ueber das, was in der Zeitung stand; aber wenn es einfach menschliche Dinge betraf und Effi mit einem "ach, Roswitha, mich aengstigt es wieder ..." ihren Satz begann, dann wusste die treue Seele jedesmal gut zu antworten und hatte immer Trost und meist auch Rat. Bis Weihnachten ging es vorzueglich; aber der Heiligabend verlief schon recht traurig, und als das neue Jahr herankam, begann Effi ganz schwermuetig zu werden. Es war nicht kalt, nur grau und regnerisch, und wenn die Tage kurz waren, so waren die Abende desto laenger. Was tun? Sie las, sie stickte, sie legte Patience, sie spielte Chopin, aber diese Notturnos waren auch nicht angetan, viel Licht in ihr Leben zu tragen, und wenn Roswitha mit dem Teebrett kam und ausser dem Teezeug auch noch zwei Tellerchen mit einem Ei und einem in kleine Scheiben geschnittenen Wiener Schnitzel auf den Tisch setzte, sagte Effi, waehrend sie das Piano schloss: "Ruecke heran, Roswitha. Leiste mir Gesellschaft." Roswitha kam denn auch. "Ich weiss schon, die gnaedige Frau haben wieder zuviel gespielt; dann sehen Sie immer so aus und haben rote Flecke. Der Geheimrat hat es doch verboten." "Ach, Roswitha, der Geheimrat hat leicht verbieten, und du hast es auch leicht, all das nachzusprechen. Aber was soll ich denn machen? Ich kann doch nicht den ganzen Tag am Fenster sitzen und nach der Christuskirche hin uebersehen. Sonntags, beim Abendgottesdienst, wenn die Fenster beleuchtet sind, sehe ich ja immer hinueber; aber es hilft mir auch nichts, mir wird dann immer noch schwerer ums Herz." "Ja, gnaedige Frau, dann sollten Sie mal hineingehen. Einmal waren Sie ja schon drueben." "O schon oefters. Aber ich habe nicht viel davon gehabt. Er predigt ganz gut und ist ein sehr kluger Mann, und ich waere froh, wenn ich das Hundertste davon wuesste. Aber es ist doch alles bloss, wie wenn ich ein Buch lese; und wenn er dann so laut spricht und herumficht und seine schwarzen Locken schuettelt, dann bin ich aus meiner Andacht heraus." "Heraus?" Effi lachte. "Du meinst, ich war noch gar nicht drin. Und es wird wohl so sein. Aber an wem liegt das? Das liegt doch nicht an mir. Er spricht immer soviel vom Alten Testament. Und wenn es auch ganz gut ist, es erbaut mich nicht. Ueberhaupt all das Zuhoeren; es ist nicht das Rechte. Sieh, ich muesste so viel zu tun haben, dass ich nicht ein noch aus wuesste. Das waere was fuer mich. Da gibt es so Vereine, wo junge Maedchen die Wirtschaft lernen, oder Naehschulen oder Kindergaertnerinnen. Hast du nie davon gehoert?" "Ja, ich habe mal davon gehoert. Anniechen sollte mal in einen Kindergarten." "Nun, siehst du, du weisst es besser als ich. Und in solchen Verein, wo man sich nuetzlich machen kann, da moechte ich eintreten. Aber daran ist gar nicht zu denken; die Damen nehmen mich nicht an und koennen es auch nicht. Und das ist das schrecklichste, dass einem die Welt so zu ist und dass es sich einem sogar verbietet, bei Gutem mit dabeizusein. Ich kann nicht mal armen Kindern eine Nachhilfestunde geben ..." "Das waere auch nichts fuer Sie, gnaedige Frau; die Kinder haben immer so fettige Stiefel an, und wenn es nasses Wetter ist'- das ist dann solch Dunst und Schmook, das halten die gnaedige Frau gar nicht aus." Effi laechelte. "Du wirst wohl recht haben, Roswitha; aber es ist schlimm, dass du recht hast, und ich sehe daran, dass ich noch zu viel von dem alten Menschen in mir habe und dass es mir noch zu gut geht." Davon wollte aber Roswitha nichts wissen. "Wer so gut ist wie gnaedige Frau, dem kann es gar nicht zu gut gehen. Und Sie muessen nur nicht immer so was Trauriges spielen, und mitunter denke ich mir, es wird alles noch wieder gut, und es wird sich schon was finden." Und es fand sich auch was. Effi, trotz der Kantorstochter aus Polzin, deren Kuenstlerduenkel ihr immer noch als etwas Schreckliches vorschwebte, wollte Malerin werden, und wiewohl sie selber darueber lachte, weil sie sich bewusst war, ueber eine unterste Stufe des Dilettantismus nie hinauskommen zu koennen, so griff sie doch mit Passion danach, weil sie nun eine Beschaeftigung hatte, noch dazu eine, die, weil still und geraeuschlos, ganz nach ihrem Herzen war. Sie meldete sich denn auch bei einem ganz alten Malerprofessor, der in der maerkischen Aristokratie sehr bewandert und zugleich so fromm war, dass ihm Effi von Anfang an ans Herz gewachsen erschien. Hier, so gingen wohl seine Gedanken, war eine Seele zu retten, und so kam er ihr, als ob sie seine Tochter gewesen waere, mit einer ganz besonderen Liebenswuerdigkeit entgegen. Effi war sehr gluecklich darueber, und der Tag ihrer ersten Malstunde bezeichnete fuer sie einen Wendepunkt zum Guten Ihr armes Leben war nun nicht so arm mehr, und Roswitha triumphierte, dass sie recht gehabt und sich nun doch etwas gefunden habe. Das ging so Jahr und Tag und darueber hinaus. Aber dass sie nun wieder eine Beruehrung mit den Menschen hatte, wie sie's beglueckte, so liess es auch wieder den Wunsch in ihr entstehen, dass diese Beruehrungen sich erneuern und mehren moechten. Sehnsucht nach Hohen-Cremmen erfasste sie mitunter mit einer wahren Leidenschaft, und noch leidenschaftlicher sehnte sie sich danach, Annie wiederzusehen. Es war doch ihr Kind, und wenn sie dem nachhing und sich gleichzeitig der Trippelli erinnerte, die mal gesagt hatte, die Welt sei so klein, und in Mittelafrika koenne man sicher sein, ploetzlich einem alten Bekannten zu begegnen, so war sie mit Recht verwundert, Annie noch nie getroffen zu haben. Aber auch das sollte sich eines Tages aendern. Sie kam aus der Malstunde, dicht am Zoologischen Garten, und stieg, nahe dem Halteplatz, in einen die lange Kurfuerstenstrasse passierenden Pferdebahnwagen ein. Es war sehr heiss, und die herabgelassenen Vorhaenge, die bei dem starken Luftzuge, der ging, hin und her bauschten, taten ihr wohl. Sie lehnte sich in die dem Vorderperron zugekehrte Ecke und musterte eben mehrere in eine Glasscheibe eingebrannte Sofas, blau mit Quasten und Puscheln daran, als sie - der Wagen war gerade in einem langsamen Fahren - drei Schulkinder aufspringen sah, die Mappen auf dem Ruecken, mit kleinen spitzen Hueten, zwei blond und ausgelassen, die dritte dunkel und ernst. Es war Annie. Effi fuhr heftig zusammen, und eine Begegnung mit dem Kinde zu haben, wonach sie sich doch so lange gesehnt, erfuellte sie jetzt mit einer wahren Todesangst. Was tun? Rasch entschlossen oeffnete sie die Tuer zu dem Vorderperron, auf dem niemand stand als der Kutscher, und bat diesen, sie bei der naechsten Haltestelle vorn absteigen zu lassen. "Is verboten, Fraeulein", sagte der Kutscher; sie gab ihm aber ein Geldstueck und sah ihn so bittend an, dass der gutmutige Mensch anderen Sinnes wurde und vor sich hin sagte: "Sind soll es eigentlich nich; aber es wird ja woll mal gehen." Und als der Wagen hielt, nahm er das Gitter aus, und Effi sprang ab. Noch in grosser Erregung kam Effi nach Hause. "Denke dir, Roswitha, ich habe Annie gesehen." Und nun erzaehlte sie von der Begegnung in dem Pferdebahnwagen. Roswitha war unzufrieden, dass Mutter und Tochter keine Wiedersehensszene gefeiert hatten, und liess sich nur ungern ueberzeugen, dass das in Gegenwart so vieler Menschen nicht wohl angegangen sei. Dann musste Effi erzaehlen, wie Annie ausgesehen habe, und als sie das mit muetterlichem Stolz getan, sagte Roswitha: "Ja, sie ist so halb und halb. Das Huebsche und, wenn ich es sagen darf, das Sonderbare, das hat sie von der Mama; aber das Ernste, das ist ganz der Papa. Und wenn ich mir so alles ueberlege, ist die doch wohl mehr wie der gnaedige Herr." "Gott sei Dank!" sagte Effi. "Na, gnaed'ge Frau, das ist nu doch auch noch die Frage. Und da wird ja wohl mancher sein, der mehr fuer die Mama ist." "Glaubst du, Roswitha? Ich glaube es nicht." "Na, na, ich lasse mir nichts vormachen, und ich glaube, die gnaedige Frau weiss auch ganz gut, wie's eigentlich ist und was die Maenner am liebsten haben." "Ach, sprich nicht davon, Roswitha." Damit brach das Gespraech ab und wurde auch nicht wieder aufgenommen. Aber Effi, wenn sie's auch vermied, grade ueber Annie mit Roswitha zu sprechen, konnte die Begegnung in ihrem Herzen doch nicht verwinden und litt unter der Vorstellung, vor ihrem eigenen Kind geflohen zu sein. Es quaelte sie bis zur Beschaemung, und das Verlangen nach einer Begegnung mit Annie steigerte sich bis zum Krankhaften. An Innstetten schreiben und ihn darum bitten, das war nicht moeglich. Ihrer Schuld war sie sich wohl bewusst, sie naehrte das Gefuehl davon mit einer halb leidenschaftlichen Geflissentlichkeit; aber inmitten ihres Schuldbewusstseins fuehlte sie sich andererseits auch von einer gewissen Auflehnung gegen Innstetten erfuellt. Sie sagte sich, er hatte recht und noch einmal und noch einmal, und zuletzt hatte er doch unrecht. Alles Geschehene lag so weit zurueck, ein neues Leben hatte begonnen; er haette es koennen verbluten lassen, statt dessen verblutete der arme Crampas. Nein, an Innstetten schreiben, das ging nicht; aber Annie wollte sie sehen und sprechen und an ihr Herz druecken, und nachdem sie's tagelang ueberlegt hatte, stand ihr fest, wie's am besten zu machen sei. Gleich am andern Vormittag kleidete sie sich sorgfaeltig in ein dezentes Schwarz und ging auf die Linden zu, sich hier bei der Ministerin melden zu lassen. Sie schickte ihre Karte herein, auf der nur stand: Effi von Innstetten geb. von Briest. Alles andere war fortgelassen, auch die Baronin. "Exzellenz lassen bitten", und Effi folgte dem Diener bis in ein Vorzimmer, wo sie sich niederliess und trotz der Erregung, in der sie sich befand, den Bilderschmuck an den Waenden musterte. Da war zunaechst Guido Renis Aurora, gegenueber aber hingen englische Kupferstiche, Stiche nach Benjamin West, in der bekannten Aquatinta-Manier von viel Licht und Schatten. Eines der Bilder war Koenig Lear im Unwetter auf der Heide. Effi hatte ihre Musterung kaum beendet, als die Tuer des angrenzenden Zimmers sich oeffnete und eine grosse, schlanke Dame von einem sofort fuer sie einnehmenden Ausdruck auf die Bittstellerin zutrat und ihr die Hand reichte. "Meine liebe, gnaedigste Frau", sagte sie, "welche Freude fuer mich, Sie wiederzusehen ..." Und waehrend sie das sagte, schritt sie auf das Sofa zu und zog Effi, waehrend sie selber Platz nahm, zu sich nieder. Effi war bewegt durch die sich in allem aussprechende Herzensguete. Keine Spur von Ueberheblichkeit oder Vorwurf, nur menschlich schoene Teilnahme. "Womit kann ich Ihnen dienen?" nahm die Ministerin noch einmal das Wort. Um Effis Mund zuckte es. Endlich sagte sie. "Was mich herfuehrt, ist eine Bitte, deren Erfuellung Exzellenz vielleicht moeglich machen. Ich habe eine zehnjaehrige Tochter, die ich seit drei Jahren nicht gesehen habe und gern wiedersehen moechte." Die Ministerin nahm Effis Hand und sah sie freundlich an. "Wenn ich sage, in drei Jahren nicht gesehen, so ist das nicht ganz richtig. Vor drei Tagen habe ich sie wiedergesehen." Und nun schilderte Effi mit grosser Lebendigkeit die Begegnung, die sie mit Annie gehabt hatte. "Vor meinem eigenen Kinde auf der Flucht. Ich weiss wohl, man liegt, wie man sich bettet, und ich will nichts aendern in meinem Leben. Wie es ist, so ist es recht; ich habe es nicht anders gewollt. Aber das mit dem Kinde, das ist doch zu hart, und so habe ich denn den Wunsch, es dann und wann sehen zu duerfen, nicht heimlich und verstohlen, sondern mit Wissen und Zustimmung aller Beteiligten." "Unter Wissen und Zustimmung aller Beteiligten", wiederholte die Ministerin Effis Worte. "Das heisst also unter Zustimmung Ihres Herrn Gemahls. Ich sehe, dass seine Erziehung dahin geht, das Kind von der Mutter fernzuhalten, ein Verfahren, ueber das ich mir kein Urteil erlaube. Vielleicht, dass er recht hat; verzeihen Sie mir diese Bemerkung, gnaedige Frau." Effi nickte. "Sie finden sich selbst in der Haltung Ihres Herrn Gemahls zurecht und verlangen nur, dass einem natuerlichen Gefuehl, wohl dem schoensten unserer Gefuehle (wenigstens wir Frauen werden uns darin finden), sein Recht werde. Treff ich es darin?" "In allem." "Und so soll ich denn die Erlaubnis zu gelegentlichen Begegnungen erwirken, in Ihrem Hause, wo Sie versuchen koennen, sich das Herz Ihres Kindes zurueckzuerobern." Effi drueckte noch einmal ihre Zustimmung aus, waehrend die Ministerin fortfuhr: "Ich werde also tun, meine gnaedigste Frau, was Ich tun kann. Aber wir werden es nicht eben leicht haben. Ihr Herr Gemahl, verzeihen Sie, dass ich ihn nach wie vor so nenne, ist ein Mann der nicht nach Stimmungen und Laune, sondern nach Grundsaetzen handelt und diese fallenzulassen oder auch nur momentan aufzugeben, wird ihn hart ankommen. Laeg' es nicht so, so waere seine Handlungs- und Erziehungsweise laengst eine andere gewesen. Das, was hart fuer Ihr Herz ist, haelt er fuer richtig." "So meinen Exzellenz vielleicht, es waere besser, meine Bitte zurueckzunehmen?" "Doch nicht. Ich wollte nur das Tun Ihres Herrn Gemahls erklaeren, um nicht zu sagen rechtfertigen, und wollte zugleich die Schwierigkeiten andeuten, auf die wir aller Wahrscheinlichkeit nach stossen werden. Aber ich denke, wir zwingen es trotzdem. Denn wir Frauen, wenn wir's klug einleiten und den Bogen nicht ueberspannen, wissen mancherlei durchzusetzen. Zudem gehoert Ihr Herr Gemahl zu meinen besonderen Verehrern, und er wird mir eine Bitte, die ich an ihn richte, nicht wohl abschlagen. Wir haben morgen einen kleinen Zirkel, auf dem ich ihn sehe, und uebermorgen frueh haben Sie ein paar Zeilen von mir, die Ihnen sagen werden, ob ich's klug, das heisst gluecklich eingeleitet oder nicht. Ich denke, wir siegen in der Sache, und Sie werden Ihr Kind wiedersehen und sich seiner freuen. Es soll ein sehr schoenes Maedchen sein. Nicht zu verwundern." Dreiunddreissigstes Kapitel Am zweitfolgenden Tage trafen, wie versprochen, einige Zeilen ein, und Effi las: "Es freut mich, liebe gnaedige Frau, Ihnen gute Nachricht geben zu koennen. Alles ging nach Wunsch; Ihr Herr Gemahl ist zu sehr Mann von Welt, um einer Dame eine von ihr vorgetragene Bitte abschlagen zu koennen; zugleich aber - auch das darf ich Ihnen nicht verschweigen -, ich sah deutlich, dass sein 'Ja' nicht dem entsprach, was er fuer klug und recht haelt. Aber kritteln wir nicht, wo wir uns freuen sollen. Ihre Annie, so haben wir es verabredet, wird ueber Mittag kommen, und ein guter Stern stehe ueber Ihrem Wiedersehen." Es war mit der zweiten Post, dass Effi diese Zeilen empfing, und bis zu Annies Erscheinen waren mutmasslich keine zwei Stunden mehr. Eine kurze Zeit, aber immer noch zu lang, und Effi schritt in Unruhe durch beide Zimmer und dann wieder in die Kueche, wo sie mit Roswitha von allem moeglichen sprach: von dem Efeu drueben an der Christuskirche, naechstes Jahr wuerden die Fenster wohl ganz zugewachsen sein, von dem Portier, der den Gashahn wieder so schlecht zugeschraubt habe (sie wuerden doch noch naechstens in die Luft fliegen), und dass sie das Petroleum doch lieber wieder aus der grossen Lampenhandlung Unter den Linden als aus der Anhaltstrasse holen solle - von allem moeglichen sprach sie, nur von Annie nicht, weil sie die Furcht nicht aufkommen lassen wollte, die trotz der Zeilen der Ministerin, oder vielleicht auch um dieser Zeilen willen, in ihr lebte. Nun war Mittag. Endlich wurde geklingelt, schuechtern, und Roswitha ging, um durch das Guckloch zu sehen. Richtig, es war Annie. Roswitha gab dem Kinde einen Kuss, sprach aber sonst kein Wort, und ganz leise, wie wenn ein Kranker im Hause waere, fuehrte sie das Kind vom Korridor her erst in die Hinterstube und dann bis an die nach vorn fuehrende Tuer. "Da geh hinein, Annie." Und unter diesen Worten, sie wollte nicht stoeren, liess sie das Kind allein und ging wieder auf die Kueche zu. Effi stand am andern Ende des Zimmers, den Ruecken gegen den Spiegelpfeiler, als das Kind eintrat. "Annie!" Aber Annie blieb an der nur angelehnten Tuer stehen, halb verlegen, aber halb auch mit Vorbedacht, und so eilte denn Effi auf das Kind zu, hob es in die Hoehe und kuesste es. "Annie, mein suesses Kind, wie freue ich mich. Komm, erzaehle mir", und dabei nahm sie Annie bei der Hand und ging auf das Sofa zu, um sich da zu setzen. Annie stand aufrecht und griff, waehrend sie die Mutter immer noch scheu ansah, mit der Linken nach dem Zipfel der herabhaengenden Tischdecke. "Weisst du wohl, Annie, dass ich dich einmal gesehen habe?" "Ja, mir war es auch so." "Und nun erzaehle mir recht viel. Wie gross du geworden bist! Und das ist die Narbe da; Roswitha hat mir davon erzaehlt. Du warst immer so wild und ausgelassen beim Spielen. Das hast du von deiner Mama, die war auch so. Und in der Schule? Ich denke mir, du bist immer die Erste, du siehst mir so aus, als muesstest du eine Musterschuelerin sein und immer die besten Zensuren nach Hause bringen. Ich habe auch gehoert, dass dich das Fraeulein von Wedelstaedt so gelobt haben soll. Das ist recht; ich war auch so ehrgeizig, aber ich hatte nicht solche gute Schule. Mythologie war immer mein Bestes. Worin bist du denn am besten?" "Ich weiss es nicht." "Oh, du wirst es schon wissen. Das weiss man. Worin hast du denn die beste Zensur?" "In der Religion." "Nun, siehst du, da weiss ich es doch. Ja, das ist sehr schoen; ich war nicht so gut darin, aber es wird wohl auch an dem Unterricht gelegen haben. Wir hatten bloss einen Kandidaten." "Wir hatten auch einen Kandidaten." "Und der ist fort?" Annie nickte. "Warum ist er fort?" "Ich weiss es nicht. Wir haben nun wieder den Prediger." "Den ihr alle sehr liebt." "Ja; zwei aus der ersten Klasse wollen auch uebertreten." "Ah, ich verstehe; das ist schoen. Und was macht Johanna?" "Johanna hat mich bis vor das Haus begleitet ..." "Und warum hast du sie nicht mit heraufgebracht?" "Sie sagte, sie wolle lieber unten bleiben und an der Kirche drueben warten." "Und da sollst du sie wohl abholen?" "Ja." "Nun, sie wird da hoffentlich nicht ungeduldig werden. Es ist ein kleiner Vorgarten da, und die Fenster sind schon halb von Efeu ueberwachsen, als ob es eine alte Kirche waere." "Ich moechte sie aber doch nicht gerne warten lassen ..." "Ach, ich sehe, du bist sehr ruecksichtsvoll, und darueber werde ich mich wohl freuen muessen. Man muss es nur richtig einteilen ... Und nun sage mir noch, was macht Rollo?" "Rollo ist sehr gut. Aber Papa sagt, er wuerde so faul; er liegt immer in der Sonne." "Das glaub ich. So war er schon, als du noch ganz klein warst ... Und nun sage mir, Annie - denn heute haben wir uns ja bloss so mal wiedergesehen -, wirst du mich oefter besuchen?" "O gewiss, wenn ich darf." "Wir koennen dann in dem Prinz Albrechtschen Garten spazierengehen." "O gewiss, wenn ich darf." "Oder wir gehen zu Schilling und essen Eis, Ananas- oder Vanilleeis, das ass ich immer am liebsten." "O gewiss, wenn ich darf." Und bei diesem dritten "wenn ich darf" war das Mass voll; Effi sprang auf, und ein Blick, in dem es wie Empoerung aufflammte, traf das Kind. "Ich glaube, es ist die hoechste Zeit, Annie; Johanna wird sonst ungeduldig." Und sie zog die Klingel. Roswitha, die schon im Nebenzimmer war, trat gleich ein. "Roswitha, gib Annie das Geleit bis drueben zur Kirche. Johanna wartet da. Hoffentlich hat sie sich nicht erkaeltet. Es sollte mir leid tun. Gruesse Johanna." Und nun gingen beide. Kaum aber, dass Roswitha draussen die Tuer ins Schloss gezogen hatte, so riss Effi, weil sie zu ersticken drohte, ihr Kleid auf und verfiel in ein krampfhaftes Lachen. "So also sieht ein Wiedersehen aus", und dabei stuerzte sie nach vorn, oeffnete die Fensterfluegel und suchte nach etwas, das ihr beistehe. Und sie fand auch was in der Not ihres Herzens. Da neben dem Fenster war ein Buecherbrett, ein paar Baende von Schiller und Koerner darauf, und auf den Gedichtbuechern, die alle gleiche Hoehe hatten, lag eine Bibel und ein Gesangbuch. Sie griff danach, weil sie was haben musste, vor dem sie knien und beten konnte, und legte Bibel und Gesangbuch auf den Tischrand, gerade da, wo Annie gestanden hatte, und mit einem heftigen Ruck warf sie sich davor nieder und sprach halblaut vor sich hin: "O du Gott im Himmel, vergib mir, was ich getan; ich war ein Kind ... Aber nein, nein, ich war kein Kind, ich war alt genug, um zu wissen, was ich tat. Ich hab es auch gewusst, und ich will meine Schuld nicht kleiner machen, ... aber das ist zuviel. Denn das hier, mit dem Kinde, das bist nicht du, Gott, der mich strafen will, das ist er, bloss er! Ich habe geglaubt, dass er ein edles Herz habe, und habe mich immer klein neben ihm gefuehlt; aber jetzt weiss ich, dass er es ist, er ist klein. Und weil er klein ist, ist er grausam. Alles, was klein ist, ist grausam. Das hat er dem Kinde beigebracht, ein Schulmeister war er immer, Crampas hat ihn so genannt, spoettisch damals, aber er hat recht gehabt. '0 gewiss, wenn ich darf.' Du brauchst nicht zu duerfen; ich will euch nicht mehr, ich hasse euch, auch mein eigen Kind. Was zuviel ist, ist zuviel. Ein Streber war er, weiter nichts. - Ehre, Ehre, Ehre ... und dann hat er den armen Kerl totgeschossen, den ich nicht einmal liebte und den ich vergessen hatte, weil ich ihn nicht liebte. Dummheit war alles, und nun Blut und Mord. Und ich schuld. Und nun schickt er mir das Kind, weil er einer Ministerin nichts abschlagen kann, und ehe er das Kind schickt, richtet er's ab wie einen Papagei und bringt ihm die Phrase bei 'wenn ich darf'. Mich ekelt, was ich getan; aber was mich noch mehr ekelt, das ist eure Tugend. Weg mit euch. Ich muss leben, aber ewig wird es ja wohl nicht dauern." Als Roswitha wiederkam, lag Effi am Boden, das Gesicht abgewandt, wie leblos. Vierunddreissigstes Kapitel Rummschuettel, als er gerufen wurde, fand Effis Zustand nicht unbedenklich. Das Hektische, das er seit Jahr und Tag an ihr beobachtete, trat ihm ausgesprochener als frueher entgegen, und was schlimmer war, auch die ersten Zeichen eines Nervenleidens waren da. Seine ruhig freundliche Weise aber, der er einen Beisatz von Laune zu geben wusste, tat Effi wohl, und sie war ruhig, solange Rummschuettel um sie war. Als er schliesslich ging, begleitete Roswitha den alten Herrn bis in den Vorflur und sagte: "Gott, Herr Geheimrat, mir ist so bange; wenn es nu mal wiederkommt, und es kann doch; Gott - da hab' ich ja keine ruhige Stunde mehr. Es war aber doch auch zuviel, das mit dem Kind. Die arme gnaedige Frau. Und noch so jung, wo manche erst anfangen." "Lassen Sie nur, Roswitha. Kann noch alles wieder werden. Aber sie muss fort. Wir wollen schon sehen. Andere Luft, andere Menschen." Den zweiten Tag danach traf ein Brief in Hohen-Cremmen ein, der lautete: "Gnaedigste Frau! Meine alten freundschaftlichen Beziehungen zu den Haeusern Briest und Belling und nicht zum wenigsten die herzliche Liebe, die ich zu Ihrer Frau Tochter hege, werden diese Zeilen rechtfertigen. Es geht so nicht weiter. Ihre Frau Tochter, wenn nicht etwas geschieht, das sie der Einsamkeit und dem Schmerzlichen ihres nun seit Jahren gefuehrten Lebens entreisst, wird schnell hinsiechen. Eine Disposition zu Phtisis war immer da, weshalb ich schon vorjahren Ems verordnete; zu diesem alten Uebel hat sich nun ein neues gesellt: Ihre Nerven zehren sich auf. Dem Einhalt zu tun, ist ein Luftwechsel noetig. Aber wohin? Es wuerde nicht schwer sein, in den schlesischen Baedern eine Auswahl zu treffen, Salzbrunn gut, und Reinerz, wegen der Nervenkomplikation, noch besser. Aber es darf nur Hohen-Cremmen sein. Denn, meine gnaedigste Frau, was Ihrer Frau Tochter Genesung bringen kann, ist nicht Luft allein; sie siecht hin, weil sie nichts hat als Roswitha. Dienertreue ist schoen, aber Elternliebe ist besser. Verzeihen Sie einem alten Manne dies Sicheinmischen in Dinge, die jenseits seines aerztlichen Berufes liegen. Und doch auch wieder nicht, denn es ist schliesslich auch der Arzt, der hier spricht und seiner Pflicht nach, verzeihen Sie dies Wort, Forderungen stellt ... Ich habe so viel vom Leben gesehen ... aber nichts mehr in diesem Sinne. Mit der Bitte, mich Ihrem Herrn Gemahl empfehlen zu wollen, in vorzueglicher Ergebenheit Doktor Rummschuettel." Frau von Briest hatte den Brief ihrem Manne vorgelesen; beide sassen auf dem schattigen Steinfliesengang, den Gartensaal im Ruecken, das Rondell mit der Sonnenuhr vor sich. Der um die Fenster sich rankende wilde Wein bewegte sich leise in dem Luftzug, der ging, und ueber dem Wasser standen ein paar Libellen im hellen Sonnenschein. Briest schwieg und trommelte mit dem Finger auf dem Teebrett. "Bitte, trommle nicht; sprich lieber." "Ach, Luise, was soll ich sagen. Dass ich trommle, sagt gerade genug. Du weisst seit Jahr und Tag, wie ich darueber denke. Damals, als Innstettens Brief kam, ein Blitz aus heiterem Himmel, damals war ich deiner Meinung. Aber das ist nun schon wieder eine halbe Ewigkeit her; soll ich hier bis an mein Lebensende den Grossinquisitor spielen? Ich kann dir sagen, ich hab es seit langem satt ..." "Mache mir keine Vorwuerfe, Briest; ich liebe sie so wie du, vielleicht noch mehr, jeder hat seine Art. Aber man lebt doch nicht bloss in der Welt, um schwach und zaertlich zu sein und alles mit Nachsicht zu behandeln, was gegen Gesetz und Gebot ist und was die Menschen verurteilen und, vorlaeufig wenigstens, auch noch - mit Recht verurteilen." "Ach was. Eins geht vor." "Natuerlich, eins geht vor; aber was ist das eine?" "Liebe der Eltern zu ihren Kindern. Und wenn man gar bloss eines hat ..." "Dann ist es vorbei mit Katechismus und Moral und mit dem Anspruch der 'Gesellschaft'." "Ach, Luise, komme mir mit Katechismus, soviel du willst; aber komme mir nicht mit 'Gesellschaft'." "Es ist sehr schwer, sich ohne Gesellschaft zu behelfen." "Ohne Kind auch. Und dann glaube mir, Luise, die 'Gesellschaft', wenn sie nur will, kann auch ein Auge zudruecken. Und ich stehe so zu der Sache: Kommen die Rathenower, so ist es gut, und kommen sie nicht, so ist es auch gut. Ich werde ganz einfach telegrafieren: 'Effi komm.' Bist du einverstanden?" Sie stand auf und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. "Natuerlich bin ich's. Du solltest mir nur keinen Vorwurf machen. Ein leichter Schritt ist es nicht. Und unser Leben wird von Stund an ein anderes." "Ich kann's aushalten. Der Raps steht gut, und im Herbst kann ich einen Hasen hetzen. Und der Rotwein schmeckt mir noch. Und wenn ich das Kind erst wieder im Hause habe, dann schmeckt er mir noch besser ... Und nun will ich das Telegramm schicken." Effi war nun schon ueber ein halbes Jahr in Hohen-Cremmen; sie bewohnte die beiden Zimmer im ersten Stock, die sie schon frueher, wenn sie zu Besuch da war, bewohnt hatte; das groessere war fuer sie persoenlich hergerichtet, nebenan schlief Roswitha. Was Rummschuettel von diesem Aufenthalt und all dem andern Guten erwartet hatte, das hatte sich auch erfuellt, soweit sich's erfuellen konnte. Das Huesteln liess nach, der herbe Zug, der das so guetige Gesicht um ein gut Teil seines Liebreizes gebracht hatte, schwand wieder hin, und es kamen Tage, wo sie wieder lachen konnte. Von Kessin und allem, was da zuruecklag, wurde wenig gesprochen, mit alleiniger Ausnahme von Frau von Padden und natuerlich von Gieshuebler, fuer den der alte Briest eine lebhafte Vorliebe hatte. "Dieser Alonzo, dieser Preciosaspanier, der einen Mirambo beherbergt und eine Trippelli grosszieht - ja, das muss ein Genie sein, das lass ich mir nicht ausreden." Und dann musste sich Effi bequemen, ihm den ganzen Gieshuebler, mit dem Hut in der Hand und seinen endlosen Artigkeitsverbeugungen, vorzuspielen, was sie, bei dem ihr eigenen Nachahmungstalent, sehr gut konnte, trotzdem aber ungern tat, weil sie's allemal als ein Unrecht gegen den guten und lieben Menschen empfand. - Von Innstetten und Annie war nie die Rede, wiewohl feststand, dass Annie Erbtochter sei und Hohen-Cremmen ihr zufallen wuerde. Ja, Effi lebte wieder auf, und die Mama, die nach Frauenart nicht ganz abgeneigt war, die ganze Sache, so schmerzlich sie blieb, als einen interessanten Fall anzusehen, wetteiferte mit ihrem Manne in Liebes- und Aufmerksamkeitsbezeugungen. "Solchen Winter haben wir lange nicht gehabt", sagte Briest. Und dann erhob sich Effi von ihrem Platz und streichelte ihm das spaerliche Haar aus der Stirn. Aber so schoen das alles war, auf Effis Gesundheit hin angesehen, war es doch alles nur Schein, in Wahrheit ging die Krankheit weiter und zehrte still das Leben auf. Wenn Effi - die wieder, wie damals an ihrem Verlobungstag mit Innstetten, ein blau und weiss gestreiftes Kittelkleid mit einem losen Guertel trug - rasch und elastisch auf die Eltern zutrat, um ihnen einen guten Morgen zu bieten, so sahen sich diese freudig verwundert an, freudig verwundert, aber doch auch wehmuetig, weil ihnen nicht entgehen konnte, dass es nicht die helle Jugend, sondern eine Verklaertheit war, was der schlanken Erscheinung und den leuchtenden Augen diesen eigentuemlichen Ausdruck gab. Alle, die schaerfer zusahen, sahen dies, nur Effi selbst sah es nicht und lebte ganz dem Gluecksgefuehle, wieder an dieser fuer sie so freundlich friedreichen Stelle zu sein, in Versoehnung mit denen, die sie immer geliebt hatte und von denen sie immer geliebt worden war, auch in den Jahren ihres Elends und ihrer Verbannung. Sie beschaeftigte sich mit allerlei Wirtschaftlichem und sorgte fuer Ausschmueckung und kleine Verbesserungen im Haushalt. Ihr Sinn fuer das Schoene liess sie darin immer das Richtige treffen. Lesen aber und vor allem die Beschaeftigung mit den Kuensten hatte sie ganz aufgegeben. "Ich habe davon so viel gehabt, dass ich froh bin, die Haende in den Schoss legen zu koennen." Es erinnerte sie auch wohl zu sehr an ihre traurigen Tage. Sie bildete statt dessen die Kunst aus, still und entzueckt auf die Natur zu blicken, und wenn das Laub von den Platanen fiel, wenn die Sonnenstrahlen auf dem Eis des kleinen Teiches blitzten oder die ersten Krokus aus dem noch halb winterlichen Rondell aufbluehten - das tat ihr wohl, und auf all das konnte sie stundenlang blicken und dabei vergessen, was ihr das Leben versagt, oder richtiger wohl, um was sie sich selbst gebracht hatte. Besuch blieb nicht ganz aus, nicht alle stellten sich gegen sie; ihren Hauptverkehr aber hatte sie doch in Schulhaus und Pfarre. Dass im Schulhaus die Toechter ausgeflogen waren, schadete nicht viel, es wuerde nicht mehr so recht gegangen sein; aber zu Jahnke selbst - der nicht bloss ganz Schwedisch-Pommern, sondern auch die Kessiner Gegend als skandinavisches Vorland ansah und bestaendig darauf bezuegliche Fragen stellte -, zu diesem alten Freunde stand sie besser denn je. "Ja, Jahnke, wir hatten ein Dampfschiff, und wie ich Ihnen, glaub' ich, schon einmal schrieb oder vielleicht auch schon mal erzaehlt habe, beinahe waer ich wirklich ,rueber nach Wisby gekommen. Denken Sie sich, beinahe nach Wisby. Es ist komisch, aber ich kann eigentlich von vielem in meinem Leben sagen, 'beinah'." "Schade, schade", sagte Jahnke. "Ja, freilich schade. Aber auf Ruegen bin ich wirklich umhergefahren. Und das waere so was fuer Sie gewesen, Jahnke. Denken Sie sich, Arkona mit einem grossen Wendenlagerplatz, der noch sichtbar sein soll; denn ich bin nicht hingekommen; aber nicht allzuweit davon ist der Herthasee mit weissen und gelben Mummeln. Ich habe da viel an Ihre Hertha denken muessen ..." "Nun, ja, ja, Hertha ... Aber Sie wollten von dem Herthasee sprechen ..." "Ja, das wollt' ich ... Und denken Sie sich, Jahnke, dicht an dem See standen zwei grosse Opfersteine, blank und noch die Rinnen drin, in denen vordem das Blut ablief. Ich habe von der Zeit an einen Widerwillen gegen die Wenden." "Ach, gnaed'ge Frau verzeihen. Aber das waren ja keine Wenden. Das mit den Opfersteinen und mit dem Herthasee, das war ja schon viel, viel frueher, ganz vor Christum natum; reine Germanen, von denen wir alle abstammen ..." "Versteht sich", lachte Effi, "von denen wir alle abstammen, die Jahnkes gewiss und vielleicht auch die Briests." Und dann liess sie Ruegen und den Herthasee fallen und fragte nach seinen Enkeln und welche ihm lieber waeren; die von Bertha oder die von Hertha Ja, Effi stand gut zu Jahnke. Aber trotz seiner intimen Stellung zu Herthasee, Skandinavien und Wisby war er doch nur ein einfacher Mann, und so konnte es nicht ausbleiben, dass der vereinsamten jungen Frau die Plaudereien mit Niemeyer um vieles lieber waren. Im Herbst, solange sich im Parke promenieren liess, hatte sie denn auch die Huelle und Fuelle davon; mit dem Eintreten des Winters aber kam eine mehrmonatige Unterbrechung, weil sie das Predigerhaus selbst nicht gern betrat; Frau Pastor Niemeyer war immer eine sehr unangenehme Frau gewesen und schlug jetzt vollends hohe Toene an, trotzdem sie nach Ansicht der Gemeinde selber nicht ganz einwandfrei war. Das ging so den ganzen Winter durch, sehr zu Effis Leidwesen. Als dann aber, Anfang April, die Straeucher einen gruenen Rand zeigten und die Parkwege rasch abtrockneten, da wurden auch die Spaziergaenge wieder aufgenommen. Einmal gingen sie auch wieder so. Von fernher hoerte man den Kuckuck, und Effi zaehlte, wie viele Male er rief. Sie hatte sich an Niemeyers Arm gehaengt und sagte: "Ja, da ruft der Kuckuck. Ich mag ihn nicht befragen. Sagen Sie, Freund, was halten Sie vom Leben?" "Ach, liebe Effi, mit solchen Doktorfragen darfst du mir nicht kommen. Da musst du dich an einen Philosophen wenden oder ein Ausschreiben an eine Fakultaet machen. Was ich vom Leben halte? Viel und wenig. Mitunter ist es recht viel, und mitunter ist es recht wenig." "Das ist recht, Freund, das gefaellt mir; mehr brauch' ich nicht zu wissen." Und als sie das so sagte, waren sie bis an die Schaukel gekommen. Sie sprang hinauf mit einer Behendigkeit wie in ihren juengsten Maedchentagen, und ehe sich noch der Alte, der ihr zusah, von seinem halben Schreck erholen konnte, huckte sie schon zwischen den zwei Stricken nieder und setzte das Schaukelbrett durch ein geschicktes Auf- und Niederschnellen ihres Koerpers in Bewegung. Ein paar Sekunden noch, und sie flog durch die Luft, und bloss mit einer Hand sich haltend, riss sie mit der andern ein kleines Seidentuch von Brust und Hals und schwenkte es wie in Glueck und Uebermut. Dann liess sie die Schaukel wieder langsam gehen und sprang herab und nahm wieder Niemeyers Arm. "Effi, du bist doch noch immer, wie du frueher warst." "Nein. Ich wollte, es waere so. Aber es liegt ganz zurueck, und ich hab es nur noch einmal versuchen wollen. Ach, wie schoen es war, und wie mir die Luft wohltat; mir war, als floeg ich in den Himmel. Ob ich wohl hineinkomme? Sagen Sie mir's Freund, Sie muessen es wissen. Bitte, bitte ..." Niemeyer nahm ihren Kopf in seine zwei alten Haende und gab ihr einen Kuss auf die Stirn und sagte: "Ja, Effi, du wirst." Fuenfunddreissigstes Kapitel Effi war den ganzen Tag draussen im Park, weil sie das Luftbeduerfnis hatte; der alte Friesacker Doktor Wiesike war auch einverstanden damit, gab ihr aber in diesem Stueck doch zu viel Freiheit, zu tun, was sie wolle, so dass sie sich waehrend der kalten Tage im Mai heftig erkaeltete: Sie wurde fiebrig, hustete viel, und der Doktor, der sonst jeden dritten Tag herueberkam, kam jetzt taeglich und war in Verlegenheit, wie er der Sache beikommen solle, denn die Schlaf- und Hustenmittel, nach denen Effi verlangte, konnten ihr des Fiebers halber nicht gegeben werden. "Doktor", sagte der alte Briest, "was wird aus der Geschichte? Sie kennen sie ja von klein auf, haben sie geholt. Mir gefaellt das alles nicht; sie nimmt sichtlich ab, und die roten Flecke und der Glanz in den Augen, wenn sie mich mit einem Male so fragend ansieht. Was meinen Sie? Was wird? Muss sie sterben?" Wiesike wiegte den Kopf langsam hin und her. "Das will ich nicht sagen, Herr von Briest Dass sie so fiebert, gefaellt mir nicht. Aber wir werden es schon wieder runter kriegen, dann muss sie nach der Schweiz oder nach Mentone. Reine Luft und freundliche Eindruecke, die das Alte vergessen machen ..." "Lethe, Lethe." "Ja, Lethe", laechelte Wiesike. "Schade, dass uns die alten Schweden, die Griechen, bloss das Wort hinterlassen haben und nicht zugleich auch die Quelle selbst ..." "Oder wenigstens das Rezept dazu; Waesser werden ja jetzt nachgemacht. Alle Wetter, Wiesike, das waer ein Geschaeft, wenn wir hier so ein Sanatorium anlegen koennten: Friesack als Vergessenheitsquelle. Nun, vorlaeufig wollen wir's mit der Riviera versuchen. Mentone ist ja wohl Riviera? Die Kornpreise sind zwar in diesem Augenblicke wieder schlecht, aber was sein muss, muss sein. Ich werde mit meiner Frau darueber sprechen." Das tat er denn auch und fand sofort seiner Frau Zustimmung, deren in letzter Zeit - wohl unter dem Eindruck zurueckgezogenen Lebens - stark erwachte Lust, auch mal den Sueden zu sehen, seinem Vorschlage zu Hilfe kam. Aber Effi selbst wollte nichts davon wissen. "Wie gut ihr gegen mich seid. Und ich bin egoistisch genug, ich wuerde das Opfer auch annehmen, wenn ich mir etwas davon verspraeche. Mir steht es aber fest, dass es mir bloss schaden wuerde." "Das redest du dir ein, Effi." "Nein. Ich bin so reizbar geworden; alles aergert mich. Nicht hier bei euch. Ihr verwoehnt mich und raeumt mir alles aus dem Wege. Aber auf einer Reise, da geht das nicht, da laesst sich das Unangenehme nicht so beiseite tun; mit dem Schaffner faengt es an, und mit dem Kellner hoert es auf. Wenn ich mir die sueffisanten Gesichter bloss vorstelle, so wird mir schon ganz heiss. Nein, nein, lasst mich hier. Ich mag nicht mehr weg von Hohen-Cremmen, hier ist meine Stelle. Der Heliotrop unten auf dem Rondell, um die Sonnenuhr herum, ist mir lieber als Mentone." Nach diesem Gespraech liess man den Plan wieder fallen, und Wiesike, soviel er sich von Italien versprochen hatte, sagte: "Das muessen wir respektieren, denn das sind keine Launen; solche Kranken haben ein sehr feines Gefuehl und wissen mit merkwuerdiger Sicherheit, was ihnen hilft und was nicht. Und was Frau Effi da gesagt hat von Schaffner und Kellner, das ist doch auch eigentlich ganz richtig, und es gibt keine Luft, die so viel Heilkraft haette, den Hotelaerger (wenn man sich ueberhaupt darueber aergert) zu balancieren. Also lassen wir sie hier; wenn es nicht das beste ist, so ist es gewiss nicht das schlechteste." Das bestaetigte sich denn auch. Effi erholte sich, nahm um ein geringes wieder zu (der alte Briest gehoerte zu den Wiegefanatikern) und verlor ein gut Teil ihrer Reizbarkeit. Dabei war aber ihr Luftbeduerfnis in einem bestaendigen Wachsen, und zumal wenn Westwind ging und graues Gewoelk am Himmel zog, verbrachte sie viele Stunden im Freien. An solchen Tagen ging sie wohl auch auf die Felder hinaus und ins Luch, oft eine halbe Meile weit, und setzte sich, wenn sie muede geworden, auf einen Huerdenzaun und sah, in Traeume verloren, auf die Ranunkeln und roten Ampferstauden, die sich im Winde bewegten. "Du gehst immer so allein", sagte Frau von Briest. "Unter unseren Leuten bist du sicher; aber es schleicht auch so viel fremdes Gesindel umher." Das machte doch einen Eindruck auf Effi, die an Gefahr nie gedacht hatte, und als sie mit Roswitha allein war, sagte sie: "Dich kann ich nicht gut mitnehmen, Roswitha; du bist zu dick und nicht mehr fest auf den Fuessen." "Nu, gnaed'ge Frau, so schlimm ist es doch noch nicht. Ich koennte ja doch noch heiraten." "Natuerlich", lachte Effi. "Das kann man immer noch. Aber weisst du, Roswitha, wenn ich einen Hund haette, der mich begleitete. Papas Jagdhund hat gar kein Attachement fuer mich, Jagdhunde sind so dumm, und er ruehrt sich immer erst, wenn der Jaeger oder der Gaertner die Flinte vom Riegel nimmt. Ich muss jetzt oft an Rollo denken." "Ja", sagte Roswitha, "so was wie Rollo haben sie hier gar nicht. Aber damit will ich nichts gegen 'hier' gesagt haben. Hohen-Cremmen ist sehr gut." Es war drei, vier Tage nach diesem Gespraeche zwischen Effi und Roswitha, dass Innstetten um eine Stunde frueher in sein Arbeitszimmer trat als gewoehnlich. Die Morgensonne, die sehr hell schien, hatte ihn geweckt, und weil er fuehlen mochte, dass er nicht wieder einschlafen wuerde, war er aufgestanden, um sich an eine Arbeit zu machen, die schon seit geraumer Zeit der Erledigung harrte. Nun war es eine Viertelstunde nach acht, und er klingelte. Johanna brachte das Fruehstueckstablett, auf dem neben der Kreuzzeitung und der Norddeutschen Allgemeinen auch noch zwei Briefe lagen. Er ueberflog die Adressen und erkannte an der Handschrift, dass der eine vom Minister war. Aber der andere? Der Poststempel war nicht deutlich zu lesen, und das "Sr. Wohlgeboren Herrn Baron von Innstetten" bezeugte eine glueckliche Unvertrautheit mit den landesueblichen Titulaturen. Dem entsprachen auch die Schriftzuege von sehr primitivem Charakter. Aber die Wohnungsangabe war wieder merkwuerdig genau: W. Keithstrasse I C, zwei Treppen hoch. Innstetten war Beamter genug, um den Brief von "Exzellenz" zuerst zu erbrechen. "Mein lieber Innstetten! Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu koennen, dass Seine Majestaet Ihre Ernennung zu unterzeichnen geruht haben, und gratuliere Ihnen aufrichtig dazu." Innstetten war erfreut ueber die liebenswuerdigen Zeilen des Ministers, fast mehr als ueber die Ernennung selbst. Denn was das Hoeherhinaufklimmen auf der Leiter anging, so war er seit dem Morgen in Kessin, wo Crampas mit einem Blick, den er immer vor Augen hatte, Abschied von ihm genommen, etwas kritisch gegen derlei Dinge geworden. Er mass seitdem mit anderem Mass, sah alles anders an. Auszeichnung, was war es am Ende? Mehr als einmal hatte er waehrend der ihm immer freudloser dahinfliessenden Tage einer halbvergessenen Ministerialanekdote aus den Zeiten des aelteren Ladenberg her gedenken muessen, der, als er nach langem Warten den Roten Adlerorden empfing, ihn wuetend und mit dem Ausruf beiseite warf: "Da liege, bis du schwarz wirst." Wahrscheinlich war er dann hinterher auch "schwarz" geworden, aber um viele Tage zu spaet und sicherlich ohne rechte Befriedigung fuer den Empfaenger. Alles, was uns Freude machen soll, ist an Zeit und Umstaende gebunden, und was uns heute noch beglueckt, ist morgen wertlos. Innstetten empfand das tief, und so gewiss ihm an Ehren und Gunstbezeugungen von oberster Stelle her lag, wenigstens gelegen hatte, so gewiss stand ihm jetzt fest, es kaeme bei dem glaenzenden Schein der Dinge nicht viel heraus, und das, was man "das Glueck" nenne, wenn's ueberhaupt existiere, sei was anderes als dieser Schein. "Das Glueck, wenn mir recht ist, liegt in zweierlei: darin, dass man ganz da steht, wo man hingehoert (aber welcher Beamte kann das von sich sagen), und zum zweiten und besten in einem behaglichen Abwickeln des ganz Alltaeglichen, also darin, dass man ausgeschlafen hat und dass die neuen Stiefel nicht druecken. Wenn einem die 720 Minuten eines zwoelfstuendigen Tages ohne besonderen Aerger vergehen, so laesst sich von einem gluecklichen Tage sprechen." In einer Stimmung, die derlei schmerzlichen Betrachtungen nachhing, war Innstetten auch heute wieder. Er nahm nun den zweiten Brief. Als er ihn gelesen, fuhr er ueber seine Stirn und empfand schmerzlich, dass es ein Glueck gebe, dass er es gehabt, aber dass er es nicht mehr habe und nicht mehr haben koenne. Johanna trat ein und meldete: "Geheimrat Wuellersdorf." Dieser stand schon auf der Tuerschwelle. "Gratuliere, Innstetten." "Ihnen glaub ich's; die anderen werden sich aergern. Im uebrigen ..." "Im uebrigen. Sie werden doch in diesem Augenblick nicht kritteln wollen." "Nein. Die Gnade Seiner Majestaet beschaemt mich, und die wohlwollende Gesinnung des Ministers, dem ich das alles verdanke, fast noch mehr." "Aber ..." "Aber ich habe mich zu freuen verlernt. Wenn ich es einem anderen als Ihnen sagte, so wuerde solche Rede fuer redensartlich gelten. Sie aber, Sie finden sich darin zurecht. Sehen Sie sich hier um; wie leer und oede ist das alles. Wenn die Johanna eintritt, ein sogenanntes Juwel, so wird mir angst und bange. Dieses Sich-in-Szene-Setzen (und Innstetten ahmte Johannas Haltung nach), diese halb komische Buestenplastik, die wie mit einem Spezialanspruch auftritt, ich weiss nicht, ob an die Menschheit oder an mich - ich finde das alles so trist und elend, und es waere zum Totschiessen, wenn es nicht so laecherlich waere." "Lieber Innstetten, in dieser Stimmung wollen Sie Ministerialdirektor werden?" "Ah, bah. Kann es anders sein? Lesen Sie, diese Zeilen habe ich eben bekommen." Wuellersdorf nahm den zweiten Brief mit dem unleserlichen Poststempel, amuesierte sich ueber das "Wohlgeboren" und trat dann ans Fenster, um bequemer lesen zu koennen. "Gnaed'ger Herr! Sie werden sich wohl am Ende wundern, dass ich Ihnen schreibe, aber es ist wegen Rollo. Anniechen hat uns schon voriges Jahr gesagt: Rollo waere jetzt so faul; aber das tut hier nichts, er kann hier so faul sein, wie er will, je fauler, je besser. Und die gnaed'ge Frau moechte es doch so gern. Sie sagt immer, wenn sie ins Luch oder ueber Feld geht: 'Ich fuerchte mich eigentlich, Roswitha, weil ich da so allein bin; aber wer soll mich begleiten? Rollo, ja, das ginge; der ist mir auch nicht gram. Das ist der Vorteil, dass sich die Tiere nicht so drum kuemmern.' Das sind die Worte der gnaed'gen Frau, und weiter will ich nichts sagen und den gnaed'gen Herrn bloss noch bitten, mein Anniechen zu gruessen. Und auch die Johanna. Von Ihrer treu ergebenen Dienerin Roswitha Gellenhagen" "Ja", sagte Wuellersdorf, als er das Papier wieder zusammenfaltete, "die ist uns ueber." "Finde ich auch." "Und das ist auch der Grund, dass Ihnen alles andere so fraglich erscheint." "Sie treffen's. Es geht mir schon lange durch den Kopf, und diese schlichten Worte mit ihrer gewollten oder vielleicht auch nicht gewollten Anklage haben mich wieder vollends aus dem Haeuschen gebracht. Es quaelt mich seit Jahr und Tag schon, und ich moechte aus dieser ganzen Geschichte heraus; nichts gefaellt mir mehr; je mehr man mich auszeichnet, je mehr fuehle ich, dass dies alles nichts ist. Mein Leben ist verpfuscht, und so hab ich mir im stillen ausgedacht, ich muesste mit all den Strebungen und Eitelkeiten ueberhaupt nichts mehr zu tun haben und mein Schulmeistertum, was ja wohl mein Eigentliches ist, als ein hoeherer Sittendirektor verwenden koennen. Es hat ja dergleichen gegeben. Ich muesste also, wenn's ginge, solche schrecklich beruehmte Figur werden, wie beispielsweise der Doktor Wichern im Rauhen Hause zu Hamburg gewesen ist, dieser Mirakelmensch, der alle Verbrecher mit seinem Blick und seiner Froemmigkeit baendigte ..." "Hm, dagegen ist nichts zu sagen; das wuerde gehen." "Nein, es geht auch nicht. Auch das nicht mal. Mir ist eben alles verschlossen. Wie soll ich einen Totschlaeger an seiner Seele packen? Dazu muss man selber intakt sein. Und wenn man's nicht mehr ist und selber so was an den Fingerspitzen hat, dann muss man wenigstens vor seinen zu bekehrenden Confratres den wahnsinnigen Buesser spielen und eine Riesenzerknirschung zum besten geben koennen." Wuellersdorf nickte. Nun, sehen Sie, Sie nicken. Aber das alles kann ich nicht mehr. Den Mann im Buesserhemd bring ich nicht mehr heraus und den Derwisch oder Fakir, der unter Selbstanklagen sich zu Tode tanzt, erst recht nicht. Und da hab ich mir denn, weil das alles nicht geht, als ein Bestes herausgekluegelt: weg von hier, weg und hin unter lauter pechschwarze Kerle, die von Kultur und Ehre nichts wissen. Diese Gluecklichen! Denn gerade das, dieser ganze Krimskrams ist doch an allem schuld. Aus Passion, was am Ende gehen moechte, tut man dergleichen nicht. Also blossen Vorstellungen zuliebe ... Vorstellungen! ... Und da klappt denn einer zusammen, und man klappt selber nach. Bloss noch schlimmer." "Ach was, Innstetten, das sind Launen, Einfaelle. Quer durch Afrika, was soll das heissen? Das ist fuer 'nen Leutnant, der Schulden hat. Aber ein Mann wie Sie! Wollen Sie mit einem roten Fes einem Palaver praesidieren oder mit einem Schwiegersohn von Koenig Mtesa Blutfreundschaft schliessen? Oder wollen Sie sich in einem Tropenhelm, mit sechs Loechern oben, am Kongo entlangtasten, bis Sie bei Kamerun oder da herum wieder herauskommen? Unmoeglich!" "Unmoeglich? Warum? Und wenn unmoeglich, was dann?" "Einfach hierbleiben und Resignation ueben. Wer ist denn unbedrueckt? Wer sagte nicht jeden Tag: 'Eigentlich eine sehr fragwuerdige Geschichte.' Sie wissen, ich habe auch mein Paeckchen zu tragen, nicht gerade das Ihrige, aber nicht viel leichter. Es ist Torheit mit dem Im-Urwald-Umherkriechen oder In-einem-Termitenhuegel-Naechtigen; wer's mag, der mag es, aber fuer unserem ist es nichts. In der Bresche stehen und aushalten, bis man faellt, das ist das beste. Vorher aber im kleinen und kleinsten so viel herausschlagen wie moeglich und ein Auge dafuer haben, wenn die Veilchen bluehen oder das Luisendenkmal in Blumen steht oder die kleinen Maedchen mit hohen Schnuerstiefeln ueber die Korde springen. Oder auch wohl nach Potsdam fahren und in die Friedenskirche gehen, wo Kaiser Friedrich liegt und wo sie jetzt eben anfangen, ihm ein Grabhaus zu bauen. Und wenn Sie da stehen, dann ueberlegen Sie sich das Leben von dem, und wenn Sie dann nicht beruhigt sind, dann ist Ihnen freilich nicht zu helfen." "Gut, gut. Aber das Jahr ist lang, und jeder einzelne Tag ... und dann der Abend." "Mit dem ist immer noch am ehesten fertig zu werden. Da haben wir 'Sardanapal' oder 'Coppelia' mit der del Era, und wenn es damit aus ist, dann haben wir Siechen. Nicht zu verachten. Drei Seidel beruhigen jedesmal. Es gibt immer noch viele, sehr viele, die zu der ganzen Sache nicht anders stehen wie wir, und einer, dem auch viel verquer gegangen war, sagte mir mal: 'Glauben Sie mir, Wuellersdorf, es geht ueberhaupt nicht ohne 'Hilfskonstruktionen'.' Der das sagte, war ein Baumeister und musste es also wissen. Und er hatte recht mit seinem Satz. Es vergeht kein Tag, der mich nicht an die 'Hilfskonstruktionen' gemahnte." Wuellersdorf, als er sich so expektoriert, nahm Hut und Stock. Innstetten aber, der sich bei diesen Worten seines Freundes seiner eigenen voraufgegangenen Betrachtungen ueber das "kleine Glueck" erinnert haben mochte, nickte halb zustimmend und laechelte vor sich hin. "Und wohin gehen Sie nun, Wuellersdorf? Es ist noch zu frueh fuer das Ministerium." "Ich schenk es mir heute ganz. Erst noch eine Stunde Spaziergang am Kanal hin bis an die Charlottenburger Schleuse und dann wieder zurueck. Und dann ein kleines Vorsprechen bei Huth, Potsdamer Strasse, die kleine Holztreppe vorsichtig hinauf. Unten ist ein Blumenladen." "Und das freut Sie? Das genuegt Ihnen?" "Das will ich nicht gerade sagen. Aber es hilft ein bisschen. Ich finde da verschiedene Stammgaeste, Fruehschoppler, deren Namen ich klueglich verschweige. Der eine erzaehlt dann vom Herzog von Ratibor, der andere vom Fuerstbischof Kopp und der dritte wohl gar von Bismarck. Ein bisschen faellt immer ab. Dreiviertel stimmt nicht, aber wenn es nur witzig ist, krittelt man nicht lange dran herum und hoert dankbar zu." Und damit ging er. Sechsunddreissigstes Kapitel Der Mai war schoen, der Juni noch schoener, und Effi, nachdem ein erstes schmerzliches Gefuehl, das Rollos Eintreffen in ihr geweckt hatte, gluecklich ueberwunden war, war voll Freude, das treue Tier wieder um sich zu haben. Roswitha wurde belobt, und der alte Briest erging sich seiner Frau gegenueber in Worten der Anerkennung fuer Innstetten, der ein Kavalier sei, nicht kleinlich und immer das Herz auf dem rechten Fleck gehabt habe. "Schade, dass die dumme Geschichte dazwischenfahren musste. Eigentlich war es doch ein Musterpaar." Der einzige, der bei dem Wiedersehen ruhig blieb, war Rollo selbst, weil er entweder kein Organ fuer Zeitmass hatte oder die Trennung als eine Unordnung ansah, die nun einfach wieder behoben sei. Dass er alt geworden, wirkte wohl auch mit dabei. Mit seinen Zaertlichkeiten blieb er sparsam, wie er beim Wiedersehen sparsam mit seinen Freudenbezeugungen gewesen war, aber in seiner Treue war er womoeglich noch gewachsen. Er wich seiner Herrin nicht von der Seite. Den Jagdhund behandelte er wohlwollend, aber doch als ein Wesen auf niederer Stufe. Nachts lag er vor Effis Tuer auf der Binsenmatte, morgens, wenn das Fruehstueck im Freien genommen wurde, neben der Sonnenuhr, immer ruhig, immer schlaefrig, und nur wenn sich Effi vom Fruehstueckstisch erhob und auf den Flur zuschritt und hier erst den Strohhut und dann den Sonnenschirm vom Staender nahm, kam ihm seine Jugend wieder, und ohne sich darum zu kuemmern, ob seine Kraft auf eine grosse oder kleine Probe gestellt werden wuerde, jagte er die Dorfstrasse hinauf und wieder herunter und beruhigte sich erst, wenn sie zwischen den ersten Feldern waren. Effi, der freie Luft noch mehr galt als landschaftliche Schoenheit, vermied die kleinen Waldpartien und hielt meist die grosse, zunaechst von uralten Ruestern und dann, wo die Chaussee begann, von Pappeln besetzte grosse Strasse, die nach der Bahnhofsstation fuehrte, wohl eine Stunde Wegs. An allem freute sie sich, atmete beglueckt den Duft ein, der von den Raps- und Kleefeldern herueberkam, oder folgte dem Aufsteigen der Lerchen und zaehlte die Ziehbrunnen und Troege, daran das Vieh zur Traenke ging. Dabei klang ein leises Laeuten zu ihr herueber. Und dann war ihr zu Sinn, als muesse sie die Augen schliessen und in einem suessen Vergessen hinuebergehen. In Naehe der Station, hart an der Chaussee, lag eine Chausseewalze. Das war ihr taeglicher Rastplatz, von dem aus sie das Treiben auf dem Bahndamm verfolgen konnte; Zuege kamen und gingen, und mitunter sah sie zwei Rauchfahnen, die sich einen Augenblick wie deckten und dann nach links und rechts hin wieder auseinandergingen, bis sie hinter Dorf und Waeldchen verschwanden. Rollo sass dann neben ihr, an ihrem Fruehstueck teilnehmend, und wenn er den letzten Bissen aufgefangen hatte, fuhr er, wohl um sich dankbar zu bezeigen, irgendeine Ackerfurche wie ein Rasender hinauf und hielt nur inne, wenn ein paar beim Brueten gestoerte Rebhuehner dicht neben ihm aus einer Nachbarfurche aufflogen. "Wie schoen dieser Sommer! Dass ich noch so gluecklich sein koennte, liebe Mama, vor einem Jahr haette ich's nicht gedacht" - das sagte Effi jeden Tag, wenn sie mit der Mama um den Teich schritt oder einen Fruehapfel vom Zweig brach und tapfer einbiss. Denn sie hatte die schoensten Zaehne. Frau von Briest streichelte ihr dann die Hand und sagte: "Werde nur erst wieder gesund, Effi, ganz gesund; das Glueck findet sich dann; nicht das alte, aber ein neues. Es gibt Gott sei Dank viele Arten von Glueck. Und du sollst sehen, wir werden schon etwas finden fuer dich." "Ihr seid so gut. Und eigentlich hab ich doch auch euer Leben geaendert und euch vor der Zeit zu alten Leuten gemacht." "Ach, meine liebe Effi, davon sprich nicht. Als es kam, da dacht ich ebenso. Jetzt weiss ich, dass unsere Stille besser ist als der Laerm und das laute Getriebe von vordem. Und wenn du so fortfaehrst, koennen wir noch reisen. Als Wiesike Mentone vorschlug, da warst du krank und reizbar und hattest, weil du krank warst, ganz recht mit dem, was du von den Schaffnern und Kellnern sagtest; aber wenn du wieder festere Nerven hast, dann geht es, dann aergert man sich nicht mehr, dann lacht man ueber die grossen Allueren und das gekraeuselte Haar. Und dann das blaue Meer und weisse Segel und die Felsen ganz mit rotem Kaktus ueberwachsen - ich habe es noch nicht gesehen, aber ich denke es mir so. Und ich moechte es wohl kennenlernen." So verging der Sommer, und die Sternschnuppennaechte lagen schon zurueck. Effi hatte waehrend dieser Naechte bis ueber Mitternacht hinaus am Fenster gesessen und sich nicht muede sehen koennen. "Ich war immer eine schwache Christin; aber ob wir doch vielleicht von da oben stammen und, wenn es hier vorbei ist, in unsere himmlische Heimat zurueckkehren, zu den Sternen oben oder noch drueber hinaus! Ich weiss es nicht, ich will es auch nicht wissen, ich habe nur die Sehnsucht." Arme Effi, du hattest zu den Himmelwundern zu lange hinaufgesehen und darueber nachgedacht, und das Ende war, dass die Nachtluft und die Nebel, die vom Teich her aufstiegen, sie wieder aufs Krankenbett warfen, und als Wiesike gerufen wurde und sie gesehen hatte, nahm er Briest beiseite und sagte: "Wird nichts mehr; machen Sie sich auf ein baldiges Ende gefasst." Er hatte nur zu wahr gesprochen, und wenige Tage danach, es war noch nicht spaet und die zehnte Stunde noch nicht heran, da kam Roswitha nach unten und sagte zu Frau von Briest: "Gnaedigste Frau, mit der gnaedigen Frau oben ist es schlimm; sie spricht immer so still vor sich hin, und mitunter ist es, als ob sie bete, sie will es aber nicht wahrhaben, und ich weiss nicht, mir ist, als ob es jede Stunde vorbei sein koennte." "Will sie mich sprechen?" "Sie hat es nicht gesagt. Aber ich glaube, sie moechte es. Sie wissen ja, wie sie ist; sie will Sie nicht stoeren und aengstlich machen. Aber es waere doch wohl gut." "Es ist gut, Roswitha", sagte Frau von Briest, "ich werde kommen." Und ehe die Uhr noch einsetzte, stieg Frau von Briest die Treppe hinauf und trat bei Effi ein. Das Fenster stand offen, und sie lag auf einer Chaiselongue, die neben dem Fenster stand. Frau von Briest schob einen kleinen schwarzen Stuhl mit drei goldenen Staebchen in der Ebenholzlehne heran, nahm Effis Hand und sagte: "Wie geht es dir, Effi? Roswitha sagt, du seiest so fiebrig." "Ach, Roswitha nimmt alles so aengstlich. Ich sah ihr an, sie glaubt, ich sterbe. Nun, ich weiss nicht. Aber sie denkt, es soll es jeder so aengstlich nehmen wie sie selbst." "Bist du so ruhig ueber Sterben, liebe Effi?" "Ganz ruhig, Mama." "Taeuschst du dich darin nicht? Alles haengt am Leben und die Jugend erst recht. Und du bist noch so jung, liebe Effi." Effi schwieg eine Weile. Dann sagte sie: "Du weisst, ich habe nicht viel gelesen, und Innstetten wunderte sich oft darueber, und es war ihm nicht recht." Es war das erste Mal, dass sie Innstettens Namen nannte, was einen grossen Eindruck auf die Mama machte und dieser klar zeigte, dass es zu Ende sei. "Aber ich glaube", nahm Frau von Briest das Wort, "du wolltest mir was erzaehlen." "Ja, das wollte ich, weil du davon sprachst, ich sei noch so jung. Freilich bin ich noch jung. Aber das schadet nichts. Es war noch in gluecklichen Tagen, da las mir Innstetten abends vor; er hatte sehr viele Buecher, und in einem hiess es: Es sei wer von einer froehlichen Tafel abgerufen worden, und am anderen Tag habe der Abgerufene gefragt, wie's denn nachher gewesen sei. Da habe man ihm geantwortet: 'Ach, es war noch allerlei; aber eigentlich haben Sie nichts versaeumt.' Sieh, Mama, diese Worte haben sich mir eingepraegt - es hat nicht viel zu bedeuten, wenn man von der Tafel etwas frueher abgerufen wird." Frau von Briest schwieg. Effi aber schob sich etwas hoeher hinauf und sagte dann: "Und da ich nun mal von alten Zeiten und auch von Innstetten gesprochen habe, muss ich dir doch noch etwas sagen, liebe Mama." "Du regst dich auf, Effi." "Nein, nein; etwas von der Seele heruntersprechen, das regt mich nicht auf, das macht still. Und da wollte ich dir denn sagen: Ich sterbe mit Gott und Menschen versoehnt, auch versoehnt mit ihm." "Warst du denn in deiner Seele in so grosser Bitterkeit mit ihm? Eigentlich, verzeih mir, meine liebe Effi, dass ich das jetzt noch sage, eigentlich hast du doch euer Leid heraufbeschworen." Effi nickte. "Ja, Mama. Und traurig, dass es so ist. Aber als dann all das Schreckliche kam, und zuletzt das mit Annie, du weisst schon, da hab ich doch, wenn ich das laecherliche Wort gebrauchen darf, den Spiess umgekehrt und habe mich ganz ernsthaft in den Gedanken hineingelebt, er sei schuld, weil er nuechtern und berechnend gewesen sei und zuletzt auch noch grausam. Und da sind Verwuenschungen gegen ihn ueber meine Lippen gekommen." "Und das bedrueckt dich jetzt?" "Ja. Und es liegt mir daran, dass er erfaehrt, wie mir hier in meinen Krankheitstagen, die doch fast meine schoensten gewesen sind, wie mir hier klargeworden, dass er in allem recht gehandelt. In der Geschichte mit dem armen Crampas - ja, was sollte er am Ende anders tun? Und dann, womit er mich am tiefsten verletzte, dass er mein eigen Kind in einer Art Abwehr gegen mich erzogen hat, so hart es mir ankommt und so weh es mir tut, er hat auch darin recht gehabt. Lass ihn das wissen, dass ich in dieser Ueberzeugung gestorben bin. Es wird ihn troesten, aufrichten, vielleicht versoehnen. Denn er hatte viel Gutes in seiner Natur und war so edel, wie jemand sein kann, der ohne rechte Liebe ist." Frau von Briest sah, dass Effi erschoepft war und zu schlafen schien oder schlafen wollte. Sie erhob sich leise von ihrem Platz und ging. Indessen kaum dass sie fort war, erhob sich auch Effi und setzte sich an das offene Fenster, um noch einmal die kuehle Nachtluft einzusaugen. Die Sterne flimmerten, und im Park regte sich kein Blatt. Aber je laenger sie hinaushorchte, je deutlicher hoerte sie wieder, dass es wie ein feines Rieseln auf die Platanen niederfiel. Ein Gefuehl der Befreiung ueberkam sie. "Ruhe, Ruhe." Es war einen Monat spaeter, und der September ging auf die Neige. Das Wetter war schoen, aber das Laub im Park zeigte schon viel Rot und Gelb, und seit den Aequinoktien, die die drei Sturmtage gebracht hatten, lagen die Blaetter ueberallhin ausgestreut. Auf dem Rondell hatte sich eine kleine Veraenderung vollzogen, die Sonnenuhr war fort, und an der Stelle, wo sie gestanden hatte, lag seit gestern eine weisse Marmorplatte, darauf stand nichts als "Effi Briest" und darunter ein Kreuz. Das war Effis letzte Bitte gewesen: "Ich moechte auf meinem Stein meinen alten Namen wiederhaben; ich habe dem andern keine Ehre gemacht." Und es war ihr versprochen worden. Ja, gestern war die Marmorplatte gekommen und aufgelegt worden, und angesichts der Stelle sassen nun wieder Briest und Frau und sahen darauf hin und auf den Heliotrop, den man geschont und der den Stein jetzt einrahmte. Rollo lag daneben, den Kopf in die Pfoten gesteckt. Wilke, dessen Gamaschen immer weiter wurden, brachte das Fruehstueck und die Post, und der alte Briest sagte: "Wilke, bestelle den kleinen Wagen. Ich will mit der Frau ueber Land fahren." Frau von Briest hatte mittlerweile den Kaffee eingeschenkt und sah nach dem Rondell und seinem Blumenbeet. "Sieh, Briest, Rollo liegt wieder vor dem Stein. Es ist ihm doch noch tiefer gegangen als uns. Er frisst auch nicht mehr." "Ja, Luise, die Kreatur. Das ist ja, was ich immer sage. Es ist nicht so viel mit uns, wie wir glauben. Da reden wir immer von Instinkt. Am Ende ist es doch das beste." "Sprich nicht so. Wenn du so philosophierst ... nimm es mir nicht uebel, Briest, dazu reicht es bei dir nicht aus. Du hast deinen guten Verstand, aber du kannst doch nicht an solche Fragen ..." "Eigentlich nicht." "Und wenn denn schon ueberhaupt Fragen gestellt werden sollen, da gibt es ganz andere, Briest, und ich kann dir sagen, es vergeht kein Tag, seit das arme Kind da liegt, wo mir solche Fragen nicht gekommen waren ..." "Welche Fragen?" "Ob wir nicht doch vielleicht schuld sind?" "Unsinn, Luise. Wie meinst du das?" "Ob wir sie nicht anders in Zucht haetten nehmen muessen. Gerade wir. Denn Niemeyer ist doch eigentlich eine Null, weil er alles in Zweifel laesst. Und dann, Briest, so leid es mir tut ... deine bestaendigen Zweideutigkeiten ... und zuletzt, womit ich mich selbst anklage, denn ich will nicht schadlos ausgehen in dieser Sache, ob sie nicht doch vielleicht zu jung war?" Rollo, der bei diesen Worten aufwachte, schuettelte den Kopf langsam hin und her, und Briest sagte ruhig: "Ach, Luise, lass ... das ist ein zu weites Feld." *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, EFFI BRIEST *** This file should be named 7effi10.txt or 7effi10.zip Corrected EDITIONS of our eBooks get a new NUMBER, 7effi11.txt VERSIONS based on separate sources get new LETTER, 7effi10a.txt Project Gutenberg eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the US unless a copyright notice is included. Thus, we usually do not keep eBooks in compliance with any particular paper edition. We are now trying to release all our eBooks one year in advance of the official release dates, leaving time for better editing. Please be encouraged to tell us about any error or corrections, even years after the official publication date. Please note neither this listing nor its contents are final til midnight of the last day of the month of any such announcement. The official release date of all Project Gutenberg eBooks is at Midnight, Central Time, of the last day of the stated month. A preliminary version may often be posted for suggestion, comment and editing by those who wish to do so. Most people start at our Web sites at: http://gutenberg.net or http://promo.net/pg These Web sites include award-winning information about Project Gutenberg, including how to donate, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter (free!). Those of you who want to download any eBook before announcement can get to them as follows, and just download by date. This is also a good way to get them instantly upon announcement, as the indexes our cataloguers produce obviously take a while after an announcement goes out in the Project Gutenberg Newsletter. http://www.ibiblio.org/gutenberg/etext04 or ftp://ftp.ibiblio.org/pub/docs/books/gutenberg/etext04 Or /etext03, 02, 01, 00, 99, 98, 97, 96, 95, 94, 93, 92, 92, 91 or 90 Just search by the first five letters of the filename you want, as it appears in our Newsletters. Information about Project Gutenberg (one page) We produce about two million dollars for each hour we work. The time it takes us, a rather conservative estimate, is fifty hours to get any eBook selected, entered, proofread, edited, copyright searched and analyzed, the copyright letters written, etc. Our projected audience is one hundred million readers. If the value per text is nominally estimated at one dollar then we produce $2 million dollars per hour in 2002 as we release over 100 new text files per month: 1240 more eBooks in 2001 for a total of 4000+ We are already on our way to trying for 2000 more eBooks in 2002 If they reach just 1-2% of the world's population then the total will reach over half a trillion eBooks given away by year's end. The Goal of Project Gutenberg is to Give Away 1 Trillion eBooks! This is ten thousand titles each to one hundred million readers, which is only about 4% of the present number of computer users. Here is the briefest record of our progress (* means estimated): eBooks Year Month 1 1971 July 10 1991 January 100 1994 January 1000 1997 August 1500 1998 October 2000 1999 December 2500 2000 December 3000 2001 November 4000 2001 October/November 6000 2002 December* 9000 2003 November* 10000 2004 January* The Project Gutenberg Literary Archive Foundation has been created to secure a future for Project Gutenberg into the next millennium. We need your donations more than ever! As of February, 2002, contributions are being solicited from people and organizations in: Alabama, Alaska, Arkansas, Connecticut, Delaware, District of Columbia, Florida, Georgia, Hawaii, Illinois, Indiana, Iowa, Kansas, Kentucky, Louisiana, Maine, Massachusetts, Michigan, Mississippi, Missouri, Montana, Nebraska, Nevada, New Hampshire, New Jersey, New Mexico, New York, North Carolina, Ohio, Oklahoma, Oregon, Pennsylvania, Rhode Island, South Carolina, South Dakota, Tennessee, Texas, Utah, Vermont, Virginia, Washington, West Virginia, Wisconsin, and Wyoming. We have filed in all 50 states now, but these are the only ones that have responded. As the requirements for other states are met, additions to this list will be made and fund raising will begin in the additional states. Please feel free to ask to check the status of your state. In answer to various questions we have received on this: We are constantly working on finishing the paperwork to legally request donations in all 50 states. If your state is not listed and you would like to know if we have added it since the list you have, just ask. While we cannot solicit donations from people in states where we are not yet registered, we know of no prohibition against accepting donations from donors in these states who approach us with an offer to donate. International donations are accepted, but we don't know ANYTHING about how to make them tax-deductible, or even if they CAN be made deductible, and don't have the staff to handle it even if there are ways. Donations by check or money order may be sent to: Project Gutenberg Literary Archive Foundation PMB 113 1739 University Ave. Oxford, MS 38655-4109 Contact us if you want to arrange for a wire transfer or payment method other than by check or money order. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation has been approved by the US Internal Revenue Service as a 501(c)(3) organization with EIN [Employee Identification Number] 64-622154. Donations are tax-deductible to the maximum extent permitted by law. As fund-raising requirements for other states are met, additions to this list will be made and fund-raising will begin in the additional states. We need your donations more than ever! You can get up to date donation information online at: http://www.gutenberg.net/donation.html *** If you can't reach Project Gutenberg, you can always email directly to: Michael S. Hart Prof. Hart will answer or forward your message. We would prefer to send you information by email. **The Legal Small Print** (Three Pages) ***START**THE SMALL PRINT!**FOR PUBLIC DOMAIN EBOOKS**START*** Why is this "Small Print!" statement here? You know: lawyers. They tell us you might sue us if there is something wrong with your copy of this eBook, even if you got it for free from someone other than us, and even if what's wrong is not our fault. So, among other things, this "Small Print!" statement disclaims most of our liability to you. It also tells you how you may distribute copies of this eBook if you want to. *BEFORE!* YOU USE OR READ THIS EBOOK By using or reading any part of this PROJECT GUTENBERG-tm eBook, you indicate that you understand, agree to and accept this "Small Print!" statement. If you do not, you can receive a refund of the money (if any) you paid for this eBook by sending a request within 30 days of receiving it to the person you got it from. If you received this eBook on a physical medium (such as a disk), you must return it with your request. ABOUT PROJECT GUTENBERG-TM EBOOKS This PROJECT GUTENBERG-tm eBook, like most PROJECT GUTENBERG-tm eBooks, is a "public domain" work distributed by Professor Michael S. Hart through the Project Gutenberg Association (the "Project"). Among other things, this means that no one owns a United States copyright on or for this work, so the Project (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth below, apply if you wish to copy and distribute this eBook under the "PROJECT GUTENBERG" trademark. Please do not use the "PROJECT GUTENBERG" trademark to market any commercial products without permission. To create these eBooks, the Project expends considerable efforts to identify, transcribe and proofread public domain works. Despite these efforts, the Project's eBooks and any medium they may be on may contain "Defects". Among other things, Defects may take the form of incomplete, inaccurate or corrupt data, transcription errors, a copyright or other intellectual property infringement, a defective or damaged disk or other eBook medium, a computer virus, or computer codes that damage or cannot be read by your equipment. LIMITED WARRANTY; DISCLAIMER OF DAMAGES But for the "Right of Replacement or Refund" described below, [1] Michael Hart and the Foundation (and any other party you may receive this eBook from as a PROJECT GUTENBERG-tm eBook) disclaims all liability to you for damages, costs and expenses, including legal fees, and [2] YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE OR UNDER STRICT LIABILITY, OR FOR BREACH OF WARRANTY OR CONTRACT, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR INCIDENTAL DAMAGES, EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH DAMAGES. If you discover a Defect in this eBook within 90 days of receiving it, you can receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending an explanatory note within that time to the person you received it from. If you received it on a physical medium, you must return it with your note, and such person may choose to alternatively give you a replacement copy. If you received it electronically, such person may choose to alternatively give you a second opportunity to receive it electronically. THIS EBOOK IS OTHERWISE PROVIDED TO YOU "AS-IS". NO OTHER WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, ARE MADE TO YOU AS TO THE EBOOK OR ANY MEDIUM IT MAY BE ON, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR A PARTICULAR PURPOSE. Some states do not allow disclaimers of implied warranties or the exclusion or limitation of consequential damages, so the above disclaimers and exclusions may not apply to you, and you may have other legal rights. INDEMNITY You will indemnify and hold Michael Hart, the Foundation, and its trustees and agents, and any volunteers associated with the production and distribution of Project Gutenberg-tm texts harmless, from all liability, cost and expense, including legal fees, that arise directly or indirectly from any of the following that you do or cause: [1] distribution of this eBook, [2] alteration, modification, or addition to the eBook, or [3] any Defect. DISTRIBUTION UNDER "PROJECT GUTENBERG-tm" You may distribute copies of this eBook electronically, or by disk, book or any other medium if you either delete this "Small Print!" and all other references to Project Gutenberg, or: [1] Only give exact copies of it. Among other things, this requires that you do not remove, alter or modify the eBook or this "small print!" statement. You may however, if you wish, distribute this eBook in machine readable binary, compressed, mark-up, or proprietary form, including any form resulting from conversion by word processing or hypertext software, but only so long as *EITHER*: [*] The eBook, when displayed, is clearly readable, and does *not* contain characters other than those intended by the author of the work, although tilde (~), asterisk (*) and underline (_) characters may be used to convey punctuation intended by the author, and additional characters may be used to indicate hypertext links; OR [*] The eBook may be readily converted by the reader at no expense into plain ASCII, EBCDIC or equivalent form by the program that displays the eBook (as is the case, for instance, with most word processors); OR [*] You provide, or agree to also provide on request at no additional cost, fee or expense, a copy of the eBook in its original plain ASCII form (or in EBCDIC or other equivalent proprietary form). [2] Honor the eBook refund and replacement provisions of this "Small Print!" statement. [3] Pay a trademark license fee to the Foundation of 20% of the gross profits you derive calculated using the method you already use to calculate your applicable taxes. If you don't derive profits, no royalty is due. Royalties are payable to "Project Gutenberg Literary Archive Foundation" the 60 days following each date you prepare (or were legally required to prepare) your annual (or equivalent periodic) tax return. Please contact us beforehand to let us know your plans and to work out the details. WHAT IF YOU *WANT* TO SEND MONEY EVEN IF YOU DON'T HAVE TO? Project Gutenberg is dedicated to increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine readable form. The Project gratefully accepts contributions of money, time, public domain materials, or royalty free copyright licenses. Money should be paid to the: "Project Gutenberg Literary Archive Foundation." If you are interested in contributing scanning equipment or software or other items, please contact Michael Hart at: hart@pobox.com [Portions of this eBook's header and trailer may be reprinted only when distributed free of all fees. Copyright (C) 2001, 2002 by Michael S. Hart. Project Gutenberg is a TradeMark and may not be used in any sales of Project Gutenberg eBooks or other materials be they hardware or software or any other related product without express permission.] *END THE SMALL PRINT! FOR PUBLIC DOMAIN EBOOKS*Ver.02/11/02*END*