Project Gutenberg's Erziehung zur Mannhaftigkeit, by Ludwig Gurlitt

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Title: Erziehung zur Mannhaftigkeit

Author: Ludwig Gurlitt

Release Date: May 30, 2015 [EBook #49085]

Language: German

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Im Original gesperrter Text ist so ausgezeichnet.

Weitere Anmerkungen zur Transkription finden sich am Ende des Buches.


Erziehung zur Mannhaftigkeit


Ludwig Gurlitt

Erziehung zur
Mannhaftigkeit

Berlin W. 50
Concordia Deutsche Verlags-Anstalt, Hermann Ehbock
1906.


Alle Rechte vorbehalten


MEINEN LIEBEN SÖHNEN

Erwin, Helmut, Winfried

gewidmet,

auf daß sie

aufrechte deutsche Männer werden.


VII

Vorwort.

»Erziehung zur Mannhaftigkeit«, keine psychologisch-theoretische Abhandlung und kein Lehrbuch in paragraphos wohl eingeteilt. Lehren kann man nur, was man selbst weiß, kann, hat und beherrscht. Mannhaftigkeit sollten unsere Erzieher sich erst erwerben. Daß das als wünschenswert, ja notwendig, als möglich und allgemein verbindlich erkannt werde, deshalb diese Schrift! Daß sie mangelhaft disponiert, nicht frei von Wiederholungen ist und noch manche andere Kunstfehler hat, das weiß niemand besser als ich: Aber all das schadet nichts, wenn sie nur wirkt, was sie wirken soll: ein Selbstbesinnen, ein Erwachen, ein Sichaufraffen, einen Willen zur Tat aller derer, die Volkserzieher im weitesten Sinne sind.

Ich bemerke ausdrücklich, daß ich diese Schrift in den Bergen geschrieben habe, deshalb fast nur auf meinen eigenen Kopf, nicht auf eine starke Bücherei angewiesen war. Wo ich aber nur immer konnte, zwang mich doch meine verwünschte Ehrlichkeit, die Gewährsleute (Männer darf man nicht mehr sagen, da auch Frauen mitarbeiten) selbst sprechend einzuführen. Ich muß mir diese Tugend nun aber doch endlich abgewöhnen. Sie zerstört mir jedesmal den einheitlichen Stil meiner Arbeiten. Es werden gewiß allerlei sachliche Fehler, falsche Zitate u. dgl. zu finden sein. Ich bitte diese zu entschuldigen, sich darob nicht allzusehr zu entsetzen. Wo man mir Fehler derart nachweist, werde ich sie ausmerzen, falls eine zweite Auflage gebraucht wird.

Ton und Form werden manchen Lesern mißfallen; man wird besonders in Fachkreisen oft den »sittlichen Ernst« vermissen. Zwar kennt und schätzt jeder Philologe das Wort von Horaz, daß man die Wahrheit auch lachend sagen dürfe, aber das besteht, wie so vieles, nur im gelehrten Wissen; das darf man beileibe heute nicht wahr machen wollen!

Plato und Cicero liebten auch den Dialog. Man findet ihn dort anmutig und liebenswürdig, selbst wenn er zur Behandlung wissenschaftlicher, auch philosophisch-ethischer Stoffe verwendet wird; wenn ich dieselbe Form hier zuweilen einflechte, nicht aus Vorsatz undVIII gelehrter Nachahmung, sondern – ita supercilium salit – weil mich der Teufel zwickte, so möge man sich getrost darüber entrüsten.

Ich gebe mich bewußt und mit kühner Ablehnung herkömmlicher Schulmeisternüchternheit genau so, wie ich nun einmal bin. Weshalb sich verleugnen? Zudem gibt es viele verwandt gestimmte Seelen, die mich schon verstehen werden. Auch glaube man ja nicht, daß die Erzieher aus solchen Schriften nichts lernen könnten. Fast täglich laufen bei mir Briefe von Lehrern ein, die mich durch Zustimmung und Zuspruch erfreuen. So schrieb mir dieser Tage einer, der selbst ein achtbarer Schriftsteller ist, als Widmung in sein neuestes Werk: »Dem Verfasser von ›Der Deutsche und seine Schule‹ als meinem am höchsten verehrten Lehrer in Dankbarkeit und Treue gewidmet. Keinem anderen Buche schuldet der Lehrer in mir soviel wie diesem!« – Nutzlos ist also meine Schriftstellerei nicht, so gern man das auch im Lager meiner Gegner behauptet.

Mir ist hier angesichts der Dachsteingletscher so froh, so frisch, so frei, so stolz zumute, daß ich aller Spötter spotte.

Möchte doch von meinem eigenen Behagen und von meinem Lebensmute auch in dieses Buch ein frischer Hauch eindringen! Nichts tut unserer müden und kranken Zeit mehr not, als Zuversicht und froher Kampfesmut.

Ich habe viele alte Schlacken aus Kopf und Brust weggeräumt. Jetzt fühle ich mich nicht, sage ich, »wie neugeboren«; denn Neugeborene sind weinerlich und machen einen traurigen, hilflosen Eindruck, aber rein, wie innerlich frisch gewaschen.

Ich komme mir selbst wieder komplet vor und könnte mich endlich ohne jedes Unbehagen auch wieder im Spiegel besehen, nicht weil ich »schön« wäre, aber weil ich mich innerlich endlich wieder ganz selbst gefunden habe und weil ich mich für einen halbwegs anständigen Kerl halte.

Es geht doch nichts über dieses Kraft- und Glücksgefühl.

Sommerfrische in Altaussee i. Steiermark,
den 10. September 1906.

Ludwig Gurlitt,

Steglitz b. Berlin, Arndtstr. 35, I.


1

I.
Begriffsbestimmung.

»Mit Worten läßt sich wacker streiten.«

(Goethe.)

Vorauf muß ich schleunigst eine genaue Begriffsbestimmung der Mannhaftigkeit geben, sonst ergeht es mir, wie voriges Jahr (1905) in Hamburg auf dem Philologentag, wo ich über Pflege der Persönlichkeit sprach. Da fielen gleich ein Gymnasialdirektor und zwei Geheime – oder waren es gar Wirkliche Geheime? – über mich her und sagten: ich hätte meine Sache schlecht gemacht. Erst hätte ich eine Definition der Persönlichkeit geben müssen. Aha! – Was nämlich eine Persönlichkeit ist, das weiß in Deutschland kaum einer, da muß man, wie mir der Herr Direktor sagte, entweder in Leipzig bei Wundt, dem Professor der Philosophie, studiert oder doch dessen dicke Bücher gelesen haben. Da steht alles drin.

Um diesen Herrn zufrieden zu stellen, würde ich also zu untersuchen haben:

a) Was ist Erziehung? – Erziehung ist die bewußte Beeinflussung älterer Leute auf – – usw.

b) Was ist Mannhaftigkeit? – Mannhaftigkeit ist – –

c) Was heißt Erziehung zu etwas?

usw. das Alphabet durch. Vielleicht gelänge es mir auch, aber ich fürchte, ich würde wenige Leser finden und nichts damit ausrichten.

Vielleicht steht auch schon alles über die Mannhaftigkeit bei Wundt. Da mag man also nachschlagen. Ich kenne die Bücher dieses Herrn, der allen Ernstes ein sehr gelehrter und bedeutender Psychologe sein soll, noch nicht. Sie sind mir auch hier unerreichbar. Ich sitze nämlich in einem steirischen Bauernstübl, rings umgeben von hohem felsigen Gebirg. Im weiten Umkreis keine philosophischen Bücher. Schulferien sind vorbei, also auch nirgends2 ein Mensch, den ich um Rat fragen könnte. Nirgends, soweit ich die Stimme, die rufende, schicke, ein preußischer Gymnasialdirektor, nirgends ein Geheimer oder Wirklicher Geheimer Rat. Eher, glaube ich, könnte ich jetzt hier in den Bergen einen alten Gemsbock greifen.

Und doch soll und will ich weiterleben, weiterdenken, weiterschreiben – sogar über Erziehung zur Mannhaftigkeit schreiben! Versuchen wir es also auf gut Glück, wenn's einmal sein muß, mit unserer eigenen Begriffsbestimmung!

Erst muß ich bemerken, daß mir das Wort Mannhaftigkeit in der Regel zu eng gefaßt zu werden scheint, nämlich fast ausschließlich in Beziehung auf kriegerische und dem verwandte Betätigungen.

Unser Thema hat, was man so zu nennen beliebt, ein »aktuelles Interesse«, denn es hat unseren Kaiser und folglich auch unsere Presse in letzter Zeit beschäftigt.

Anläßlich eines vom Norddeutschen Regattenvereine diesen Sommer (1906) in Cuxhaven veranstalteten Festes sagte nämlich unser Kaiser wörtlich wie folgt:

»Der Sport, den wir betreiben, hat auch einen ernsten Hintergrund, und das ist das zweite, was zu unserer Entwicklung notwendig ist, daß wir Männer, daß wir Charaktere haben, daß unsere Männer sich bewußt sind der Wichtigkeit der deutschen Männlichkeit. Der deutsche Manneswert kann sich bewähren auf verschiedenen Gebieten, im Heere, im Zivildienst, auf der Flotte, im Dienst in den Einzelstaaten, in den Gemeinden, aber am besten wird er ausgebildet, am besten und klarsten wird unseren Deutschen das Auge gemacht, wenn sie auf das Salzwasser kommen. Daher begrüße ich in jedem von Ihnen einen meiner Mitkämpfer und Mitarbeiter an dem Werke, unsere deutschen Männer zu erziehen, damit sie in der Lage sind, mit offenem Blick ihr ganzes Sinnen und Trachten in den Dienst des Vaterlandes zu stellen. Daß unserem Vaterlande eine solche schöne Entwicklung beschieden sein möge, daß unser Segelsport gewinnen und blühen möge, daß Sie ein fröhliches und lustiges Segeln auch in diesem Jahre haben mögen, darauf leere ich mein Glas. Es leben die Segler! Hurra, hurra, hurra!«

Männer setzen Knaben voraus. Wenn wir Männer und Charaktere3 haben wollen, müssen wir sie heranbilden oder wenigstens wachsen lassen. Das ist also eine Sache der Erziehung. Da haben alle Eltern und Lehrer nicht bloß mitzusprechen, sondern auch mitzuhandeln. Das gibt uns ein Recht, die Ratschläge des Kaisers zu prüfen.

Wir unterschätzen gewiß alle weder unser Heer, unsere Marine, noch den Segelsport, erkennen alle sehr wohl die stählende Kraft, die in dem Umgang und Kampfe mit dem Meere liegt, halten aber doch die Frage für berechtigt, ob sich denn wirklich der deutsche Manneswert nur im Heere, im Zivildienst, auf der Flotte, im Dienst der Einzelstaaten, in den Gemeinden bekunden und bewähren kann? Wenn es sich nur um diese Richtung und Ausbildung des Manneswertes handelte, so bedürfte es kaum erneuter und besonderer Anstrengungen. Das deutsche Volk hat sich vor dem Feinde, in Gefahr und Not noch stets bewährt. Auf der weiten Erde steht unser Volksheer in dem Rufe der Unbesieglichkeit. Die staunenswerten Kriegstaten von 1864, 66, 70–71 rechtfertigen dieses Urteil. Nicht minder ruhmeswert ist das, was seit drei Jahren unsere Truppen unter unsagbaren Schwierigkeiten des tropischen Klimas in Afrika leisten.

Ultra posse nemo obligatur – lautet ein alter Rechtssatz. »Über sein Vermögen wird niemand verpflichtet«. Diese Männer aber überbieten fast das menschliche Vermögen und bestehen Heldentaten, während ihr Leib in der Dürre der Wüste schon zu Tode verschmachtet. Ihre Leistungen an Willenskraft sind noch nie übertroffen worden.

Und wahrlich, nicht umsonst versiegt all das kostbare deutsche Blut, fließt all der saure Schweiß unserer Brüder in Afrikas Wüstensand: Mag der volle äußere Erfolg auch noch ausstehen: das eine lehren diese Helden uns und vor allem auch unsere Feinde, daß der Deutsche heute so gut wie jemals für seine Ehre und für seine Pflicht ohne Klagen mannhaft zu leben und zu sterben weiß.

So werden ihre Taten uns den kostbaren Frieden in Europa bewahren helfen, der bedroht war, weil unsere Neider den Wahn verbreiteten, die deutsche Einheit und Kraft gehe in die Brüche, zumal im Heere, das man durch politische Verhetzung und durch moralischen Verfall des Offizierstandes wurmstichig und im innersten Kern krank glaubte.

4

So schnell sinkt ein Volk von seiner Höhe nicht herab, so schnell läßt Art nicht von Art. Was ist denn geschehen im Bösen und Niedrigen, daß wir berechtigt wären, die Söhne der Sieger von Wörth und Sedan für minderwertig zu halten? Kein einziger ernster Vorfall in Heer und Marine, der zu wahrer Besorgnis Anlaß gäbe. Höchstens die Soldatenschinderei; aber die ist unbestreitbar im Abnehmen. Liebeshändel aber und dann und wann ein Jeuchen hat es gewiß nicht minder in dem Musterheere des Großen Fritz gegeben. Auch unsere Sieger von 1870/71 waren in dieser Hinsicht keine Tugendbolde.

Was geschehen könnte, um bei uns die kriegerische Tüchtigkeit von Offizieren und Mannschaften noch zu steigern, darüber müssen wir die Herren vom Fach entscheiden lassen.

Unser Heer, einschließlich natürlich die Marine, ist jedenfalls eine so bewährte Schule zur Mannhaftigkeit, daß es neu erfunden werden müßte, wenn es noch nicht bestände. Es ist die großartigste organisatorische Schöpfung der neuen Welt. Das alte Rom hatte in seiner Glanzzeit etwas Ähnliches, blieb aber doch mit seinem Heere hinter dem zurück, was wir vor Augen haben. Etwas anderes ist es natürlich, ob dieses nach wie vor tapfere Volk in Waffen gewillt sein und bleiben wird, dem Geiste und der politischen Richtung zu dienen, die zurzeit in Deutschland beliebt sind. Auch der russische Soldat ist tapfer und hingebend. Er hat es besonders im letzten Türkenkriege bewiesen. Schlecht regiert, konnte er aber seine Tapferkeit sogar gegen die eigenen Offiziere wenden. Mannhaft sind die Revolutionäre auch, die jetzt Heeresrevolten machen und mit Aufopferung ihres eigenen Lebens Bomben werfen – aber diese Art von Mannhaftigkeit wollen wir uns doch sorgsam vom deutschen Volksleibe halten! Das ist Sache der Regierung und der gesetzgebenden Körperschaften. Und da liegt auch der Schwerpunkt der Frage. Ebensowenig wie an eine bestimmte Regierungsform ist die Tugend der Mannhaftigkeit an irgendeinen Stand oder an irgendein Alter gebunden. Sie ist dem besseren Menschen angeboren, kommt nur in bestimmten Berufen, wie im Heere, am besten zur Ausbildung und am sichtbarsten zum Ausdruck.

Die zahlreichen Beweise von Heldentum, die auch im zivilen Leben vorfallen und wie sie uns die Zeitungen berichten, werden5 leider nicht gesammelt. Eine solche Statistik würde geeignet sein, unser nationales Selbstgefühl stark zu heben.

Wie viele Medaillen für Errettung aus Todesnot und mit eigener Lebensgefahr werden jährlich in Deutschland verteilt? Wie viele Feuerwehrmänner, See- und Bergleute, wie viele Bergführer finden in treuer Ausübung ihres Berufes und aus edelster Hingabe für andere den Tod?

Wir lasen von Knaben, die Heldentaten begingen, um ihre Geschwister oder Freunde zu erretten. Wir lasen vor einigen Jahren, daß bei dem Untergang eines Vergnügungsdampfers in der Elbemündung ein junger Kellner, der dem sinkenden Schiff entronnen war, trotz aller Bitten seiner Braut fünfmal in die Fluten zurückkehrte, um kleine Kinder vor dem Tode zu erretten, bis er selbst in den Wellen den Tod fand. Hätte das vor 3000 Jahren ein junger Spartaner oder Athener geleistet, sein Name lebte noch heute im Munde aller deutschen Kinder. Wir sind nicht umsonst ein »klassisch« gebildetes Volk!

Wenn wir die sozialistischen Blätter lesen, so wird uns darin erzählt, daß nur der Proletarier, der Mann der arbeitenden Klasse, zu so selbstloser Hingabe fähig sei. Richtig ist, daß man dort ein größeres Verständnis für die menschliche Not und einen stärkeren Willen findet, sie zu teilen und mit zu bekämpfen. Werktätige Nächstenliebe ist in den unteren Gesellschaftsschichten, die uns von reaktionslüsternen Nichtkennern als verroht und verkommen gezeichnet werden, gegenwärtig sehr stark entwickelt. Aber nur Partei- und Klassenhaß kann behaupten, daß die oberen kirchlich korrekten Gesellschaftskreise von solcher Gesinnung ganz ausgeschlossen wären. Was Ärzte, barmherzige Schwestern und Pflegerinnen aus vornehmen Häusern auf den Schlachtfeldern, in den Baracken von Cholera- und Typhuskranken allezeit geleistet haben, darf nicht verschwiegen bleiben. Häufig auch lasen wir, daß junge Offiziere Ertrinkende mit eigner Lebensgefahr errettet haben; und daß jeder Offizier, wie Bismarck ihm nachrühmte, seinen Mann aus dem dichtesten Kugelregen herausholt, daran hat sich seitdem auch nichts geändert. Den deutschen Offizier macht uns auch heute noch niemand nach.

Mit den Tätigkeiten, die unser Kaiser besonders erwähnte, sind also die Gelegenheiten, deutschen Manneswert zu bewähren, keineswegs6 erschöpft. Auch auf dem Gebiete der Forschung, der Wissenschaften, Literatur und Kunst werden Heldentaten begangen, die oft unbekannt, aber bewundernswerter sind als der Ansturm eines Offiziers auf eine feindliche Schanze. Der Ritter Frundsberg hatte wohl recht, als er in Worms dem Pfäfflein Martinus Luther sagte, er gehe einen schwereren Gang als er oder sonst ein Kriegsmann je gegangen wäre. Die Frage des Berliner Tageblattes war deshalb berechtigt: »Bedeutet schließlich die Ausbildung der menschlichen Individualität gar nichts mehr gegenüber den Anforderungen, die das staatliche oder kommunale Gemeinwesen an die Fähigkeiten der Menschen stellt?« Und sehr mit Recht wurde auch gesagt: »Unbeschadet des hohen Wertes jener in den öffentlichen Dienst gestellten Tugenden und Fähigkeiten darf man es getrost behaupten, daß in der einseitigen und übertriebenen Wertschätzung jener Betätigungen, die lediglich auf die Entwicklung der materiellen Kräfte in Staat und Gesellschaft abzielen, eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Entwicklung der Kultur im allgemeinen und der deutschen idealgerichteten Geistesbildung im besonderen liegt. Nur in einer harmonischen Ausgleichung der ideellen und materiellen Interessen eines Volkes liegt die sichere Gewähr für seine gedeihliche zukünftige Entwicklung.«

Wie also soll nun unsere Definition lauten?

Unter Mannhaftigkeit verstehen wir den Inbegriff all der Tugenden, die das Wesen eines echten Mannes ausmachen, als da sind: Wahrhaftigkeit, Tapferkeit, Ausdauer, Treue, Edelmut – ach nein, ich sehe, so geht es doch nicht. Was ist lächerlicher, als in dieser Weise das Herrlichste, was Gott erschaffen kann – einen wahren Mann –, auf gelbem Konzeptpapier frei konstruieren wollen? Es geht nicht, geht auch nicht auf dem von den Behörden vorgeschriebenen halbbrüchigen weißen Aktenpapier Nr. F. Es ist mit einer solchen papiernen Tugendsammlung wie mit der Abbildung des Pferdes, das mit allen Pferdekrankheiten behaftet ist: Hahnentritt, Spat, Rotz und grauem Star. So wenig ein solches Pferd je gelebt hat, so wenig gab und gibt es den Mann, der mit allen wahrhaftig männlichen Tugenden behaftet war. Auch der tugendhafte Schüler lebt nicht, der, den zahllosen ihm vorgestellten Mustern gemäß, mild und sanft wie Christus, stark und trotzig wie Bismarck, begeisterungsfähig wie Schiller, ruhig und besonnen wie Moltke ist. Man darf unserm Herrgott nicht ins7 Handwerk pfuschen wollen. Er läßt sich keine Vorschriften machen, das Konzept nicht korrigieren. Mannhaft waren Walther, Luther, Ulrich von Hutten, Lessing, Goethe, Schiller, Bismarck, aber auch Richard Wagner, Beethoven, Moritz von Schwind und der körperlich kleine Menzel – jeder aber mannhaft auf seine Art, keiner ein Komplex bestimmter abstrakter Tugenden.

Ludwig Richter hat uns ein entzückendes Bildchen hinterlassen mit den Versen:

»Marthens Fleiß,
Mariens Glut,
Schön wie Rahel,
Klug wie Ruth,
Mägdlein bestes Heiratsgut.«

Das glaub' ich! Daraus macht eine umsichtige Mama nicht eine, sondern vier gute Partien!

Da wird wohl Unmögliches gefordert: Wer Mariens religiöse Glut hat, dem fehlt Marthens wirtschaftlicher Sinn, wer schön wie Rahel ist, pflegt nicht klug wie Ruth zu sein. – Auch bei den Frauen finden wir selten solch wandelnde Ideale, und wenn sie erscheinen, so sind sie mehr Naturwunder als Erziehungsprodukt. Allzu ideal wünscht man sie auch gar nicht, es würde ihnen damit wohl das Beste, die Individualität, oder – um dieses wahrhaft abscheuliche Wort nicht zu gebrauchen – die schlichte Natürlichkeit und Menschlichkeit verloren gehen. Damit sage ich nichts Ungalantes. Das liegt mir ganz fern, denn ich bin durchaus eines Sinnes mit dem jungen Kommis, der behauptete, daß die Frauen jedenfalls in dieser Branche das Beste sind, was wir haben.

Doch zurück zum Mann. Ich erinnere mich einiger Verse von W. H. Riehl:

»Wer weiß, was er will,
Und will, was er kann,
Und kann, was er soll,
Der ist ein ganzer Mann.«

Das mag man gelten lassen.

Fassen wir das Gemeinsame in den Lebensäußerungen all jener bedeutenden Männer zusammen, so ergibt sich als Merkmal ihrer Mannhaftigkeit das Einsetzen ihrer ganzen Kraft für das, was ihnen8 als edel und erstrebenswert erschien. Aber nein, auch das befriedigt mich noch nicht! Wir müssen noch eine Stufe höher steigen. Das Tun dessen, was edel erscheint, ist ein »Edel-sein-wollen«, also ein Umweg über das Ideal, dem man nachstrebt, wodurch man seine Selbstachtung befriedigen will, nicht der unmittelbare Weg zur eigenen Natur selbst. Mannhaft ist das furchtlose Tun des Notwendigen, ist einfach das Leben, wie man seiner Natur nach leben muß.

Für das Erstrebenswerte hat man bei uns die vage Bezeichnung: ideal. Ich gebrauche dieses Wort nicht gern, weil es durch Mißbrauch um seinen guten Ruf gekommen ist. Die meisten Menschen denken sich heute unter Idealismus irgendeine feine, zarte, duftige, in den Wolken schwebende Sache, die nur für die »ganz Gebildeten« ist. Die Ästheten und altklassisch Humanen haben uns dieses an sich schon undeutsche Wort arg heruntergebracht, indem sie es gar so hoch bringen und dem täglichen Gebrauche entrücken wollten. »Ideal« sind angeblich der junge Poet, der Gymnasialdirektor und seine mit Plato- und Cicerogeist leicht angehauchten Primaner. Den idealen Jüngling denkt man sich blondgelockt und mit schmachtenden, wasserblauen Augen. Den altklassischen Idealismus, mit dem man noch so viel Wesens macht, hat es in der Form, die in unseren Gymnasien ihr Scheinleben führt, selbst niemals gegeben. Die Griechen und nun gar die Römer waren derbreale Völker. Was man aber mit Recht als »ideal« bezeichnen könnte, das ist recht eigentlich eine germanische Kulturfrucht. »Deutsch sein, heißt eine Sache um ihrer selbst willen treiben.« Also heißt deutsch sein, auch ideal sein. Wer eine Sache um ihrer selbst willen treibt, ist von ihrer Notwendigkeit so überzeugt, daß er ihr jedes Opfer zu bringen vermag. Ihr dienen, ist ihm nicht einmal ein Opfer, sondern wahrer Lebensberuf, Befriedigung des innersten Triebes, ist ihm Notwendigkeit und so selbstverständlich, wie dem Baume das Blühen und Früchtetragen selbstverständlich sein mag. Kein Mensch rechnet es dem Apfelbaum als Idealismus an, daß ihm die Äste vor Fruchtbarkeit brechen wollen, auch nicht der Häsin, daß sie jährlich zwei Dutzend Junge wirft, nicht der Henne, daß sie für ihre Küken mit dem Raben auf Tod und Leben kämpft.

Ebensowenig will sich ein Künstler anstaunen lassen, weil er9 für seine Kunst auch hungert, das versteht sich ihm ganz von selbst, – oder ein Offizier, weil er für seine Ehre und sein Vaterland in den Tod geht, oder ein schlichter Lotse, weil er Ertrinkenden Rettung bringt.

Idealismus ist gerade die derbste, handfesteste Sache, ist schweres Hausbackenbrot, nicht Konfekt für Leckermäuler. Bei jedem wahren Idealismus geht es auf Leben und Tod. Mit sentimentalem Gesäusel kommt man ihm nicht nahe; mit all dem beliebten Ei, ei, ei, und Ach, ach, ach trifft man sein Wesen nicht. Wer auf große Kunstwerke in dieser schwächlichen Weise reagiert, der beweist damit nur, daß ihm das Wesen der Kunst überhaupt noch gar nicht aufgegangen ist. Nicht bloß die Schlachten, jede Kulturtat wird mit Blut erkauft. In jedem Werke gibt der wahre Arbeiter und Künstler ein Stück und immer gerade das beste Stück seines Lebens hin. Es ist damit wie mit dem Eierlegen des Schmetterlings. Er lebt dafür und stirbt daran, und daß er beides kann und darf, das macht ihm das Leben lebenswert und den Gedanken an den Tod erträglich. Wer dieserart seine Natur und damit seinen Lebenszweck gefunden hat, der wird in jeder Lebenslage mannhaft sein, er müßte sonst seine Natur geradezu verleugnen.

Auch diese Begriffsbestimmung wird die Theoretiker nicht befriedigen. Am besten wohl, wir bescheiden uns mit diesem Mißerfolg.

Was ein Mann ist, dafür brauchen und haben wir keine vollgültige Definition.

Was ein ganzer Mann ist, das merken wir gleich, wenn er uns einmal entgegentritt. Wenn es Philosophen und Stubengelehrte nicht wissen sollten, so mögen sie ihre Frauen fragen. Die wissen's, wenn vielleicht auch nur e contrario. Vielleicht wissen es sogar auch die Töchterchen schon. Ein junger unverdorbener Bursch weiß es auch. Was nun vollends ein echter deutscher Mann ist, das brauchen wir wirklich nicht erst aus den Büchern zusammenzulesen. Wir tragen es im Herzen, und wir haben es mit eigenem Auge gesehen, jedenfalls wir Älteren. Es ist uns zum freudigen und zugleich tief erschütternden Erlebnis geworden, als wir vor dem greisen Bismarck standen und seine Worte hörten, die uns wie eherne Pfeile ins Herz drangen: jeder Satz ein Glaubensbekenntnis, hinter jedem10 Gedanken die Lebensüberzeugung eines Aufrechten, der sich seine innere Welt selbst erstritten und erbaut hat. An ihm sahen wir lebendig, was uns Ernst Moritz Arndt in seiner für unser Gefühl etwas theatralischen Sprache als das wahre Wesen des Mannes, des deutschen Mannes, vorgezeichnet hat: »Wollt ihr das irdische Paradies wissen?« so fragte er seine deutschen Brüder und gab ihnen die Antwort: »Es heißt Arbeit und Mühe, und Freude und Genuß nach Arbeit und Mühe. Anders wird auf Erden kein glückliches Leben, keine Freude des Herzens, kein Götterstolz der schwellenden Brust gewonnen. Es heißt arbeiten und wirken, streiten und ringen, Mut frisch zu leben und tapfer zu sterben. Weg mit euren Mondgesichtern, eurem seligen Schlaraffenlande, mit allen euren weinerlichen Tugenden und tugendhaften Weinerlichkeiten! Freies Auge, festen Arm, kühnes Wort, freudiges Leben und frischen Tod, das will ich an Männern; die Würde des Geschlechts, den Verstand der Welt, das hohe Ideal der Ewigkeit in Wort und Tat sollen sie aufrechthalten; darum sollen sie gerüstet sein zu Zorn und Tod, zu jedem hohen Gefühl und jedem hohen Opfer.«

Mag uns also mit dieser Erklärung genug sein. Sie ist keine Begriffsbestimmung, aber sie trifft das Wesen der Sache, von der wir handeln.

Im weiteren Verlaufe dieser Darstellung wird dann noch deutlicher hervortreten, was wir unter Mannhaftigkeit verstehen.


11

II.
Begrenzung des Themas.

Die Deutschen zur »Mannhaftigkeit« erziehen, heißt, sie ihrer eignen Natur zuführen. Bismarck, der seine Deutschen wie wenige kannte, teilte die Völker in männliche und weibliche. Den männlichen zählte er die Deutschen zu. Dabei handelt es sich, wie schon gesagt, nicht allein um Tapferkeit vorm Feinde, scheinbar die männlichste aller Tugenden, sondern um die ganze innere Kraft und Beharrlichkeit, um die ruhige, sichere Lebensführung. »Tapfer«, sagt derselbe Bismarck, »sind alle Völker.« Tapfer sind in Wahrheit die Franzosen und nicht minder die Japaner, tapfer die Türken und die Hereros. Einer unserer Afrikaner erzählte mir, daß er nach dem Gefechte tote Hereros gefunden habe, die sich selbst in die Wunden Grasbolzen gestopft hatten, um bis zum letzten Atemzuge mitzukämpfen. Wer also könnte die Tapferkeit dieser »Wilden« noch überbieten? Tapfer sind alle die Völker, die für ihre Freiheit, ihren Glauben, ihren Herd und ihre Heimat kämpfen. Feig sind nur Sklaven, die nichts zu verteidigen haben, was den Einsatz des Lebens lohnte. Je mehr unabhängige, freie Männer ein Volk hat, um so waffengewaltiger und unwiderstehlicher wird es sein. Das wußten die großen Volkserzieher sehr wohl, die vor jetzt hundert Jahren in Preußen aus Leibeigenen freie deutsche Bauern machten.

Eine Erziehung zur Tapferkeit gibt es eigentlich nicht. Schon Sokrates legte sich die Frage zweifelnd vor, ob es möglich sei, aus einem feigen Menschen einen tapferen zu machen. Er erkannte richtig, daß man ihn dahin bringen könne, durch Gewandtheit und Kraft die Gefahren und damit die Furcht zu vermindern. Er war aber der Meinung, daß ein in schwerer Rüstung erprobter Spartaner seinen Mut verlieren würde, wenn man ihn plötzlich leichtbewaffnet mit Pfeil und Bogen auf ein wildes Pferd setzen wollte – und umgekehrt.12 Das ist ganz richtig. Ich beobachte hier die verwegensten Bergsteiger unter den steierischen Bauern, die durch keine Bitten und Vorstellungen dazu zu bringen wären, bei Sturm ein Boot zu besteigen.

Tapfer vor dem Feinde oder im Wogendrang sind die Deutschen und werden es ihrer Natur nach im wesentlichen auch immer bleiben, wenn sie zu Land und zu Wasser eine tüchtige Ausbildung erhalten und wenn sie nicht durch eine ungeschickte Regierung und durch eine ungünstige wirtschaftliche Entwicklung wieder tiefer in eine menschenunwürdige Abhängigkeit gebracht werden. Die Gefahr ist allerdings vorhanden, und die Bahn, in der sich unsere sogenannte Kultur entwickelt, führt unsere Volksmasse eher in die Tiefe, als in die Höhe. Drei starke Mächte untergraben unbewußt und unbeabsichtigt, aber de facto doch die Mannhaftigkeit unseres Volkes: Hierarchie, Bureaukratismus, Kapitalismus.

Mit diesen drei Mächten werden wir uns auch in dieser Schrift herumschlagen müssen. Das sieht aus wie eine Abweichung vom Thema, ist es aber nicht. Kein Erzieher, der den allgemeinen Erziehungsfragen nachgeht, kommt um diese Probleme herum.

Es ist überhaupt ein gar wunderlich Ding mit der Erziehung. Wo immer man ansetzt, um irgendeiner Erziehungsfrage auf den Grund zu gehen, da gerät man sofort in die allgemeinen großen und letzten Fragen der Menschheit, des sozialen und staatlichen Lebens. Man wirft uns pädagogischen Schriftstellern vor, daß wir anmaßend und geschwätzig wären. Mag sein, daß wir es sind, aber es ist fast eine Notwendigkeit, denn unser Studiengebiet ist die gesamte Menschheit, und es hängt darin wie in einem großen Gewebe eines mit allem zusammen.

Ein besonderes Thema aus der ethischen Erziehung herauszugreifen ist, wie ich zu spät einsehe, eigentlich etwas Halbes, Einseitiges, Verkehrtes. Es ist, als wollte einer z. B. über die Gesundheit oder Pflege der menschlichen Hand ein Lehrbuch schreiben, ohne zugleich den gesamten übrigen Leib zu behandeln und ohne Kenntnis alles organischen Lebens und Wachstums. Ist der ganze Leib gesund, so wird es auch die Hand sein oder werden. Dagegen kann die Hand nie gesund sein und werden, wenn der übrige Leib krank ist. Ein Leib ist eben ein geschlossener Organismus. Ebenso ist13 das menschliche Geistesleben eine Einheit, ist ein Volk eine Einheit, ist Volkserziehung ein einheitliches Thema. Wo immer man ansetzt, stets führt die Untersuchung vom Einzelnen ins Allgemeine, und ehe der Schulmann sich versieht, eilt sein Geist und seine Feder aus der Schul- und Kinderstube hinaus in die weite Welt und sucht ringsum, selbst in der alten Geschichte und in entfernten Gegenden, die notwendigen Ergänzungen und Belehrungen.

So wird sich auch dieses Buch, dem ich enge Grenzen und ausschließliche Beschränkung auf das Gebiet der Jugenderziehung zugedacht hatte, auf sein eigenstes Thema nicht beschränken lassen. Vor allem stellt sich immer wieder heraus, daß Jugenderziehung und allgemeine Menschenerziehung nicht zu trennen sind. Schon deshalb nicht, weil nur selbst erzogene Menschen erziehen können, weil jede Erziehungsschrift sich an die Erwachsenen wenden muß und weil notwendige Voraussetzung einer jeden guten Erziehung die rechte Organisation von Staat, Haus, Schule und öffentlichem Leben ist.

Die größten Philosophen und Staatsmänner waren deshalb auch in der Regel zugleich die besten Erzieher ihres Volkes. Bismarck hat für die moralische Erziehung unseres Geschlechtes mehr geleistet als zahlreiche Erzieher von Beruf zusammengenommen. Ebenso Kaiser Wilhelm I. Das Vorbild gilt mehr als die Lehre, »exempla trahunt« sagten die Römer.

Wenn Plato lehrt, der weiseste Philosoph müsse König sein, so müßte der Weiseste zugleich Erzieher sein. Stillschweigend wird das auch durch die Praxis schon anerkannt, denn die Erziehung holt sich ihre geistigen Hilfstruppen nur aus den Regionen der höchsten menschlichen Kraft. Das Tiefste, Edelste, Größte und Schönste, was je gebildet, gedacht und geleistet worden ist, ist uns für unsere Erziehungszwecke eben gut genug. Nichts liegt uns so fern, nichts so hoch, wonach wir Lehrer nicht unsere Hände ausstreckten.

Wir haben ein Recht dazu, denn wir walten in Wahrheit eines königlichen Amtes und unser Reich ist nicht minder groß und schön, als das der Mächtigsten unter den gekrönten Häuptern. Die Berechtigung aber, auch an der Erziehung der Eltern zu arbeiten, wird man uns nicht zugestehen. Dem Prediger ist sie nie bestritten worden. Er hat die höhere Weihe. So auch der Jurist, der den ererbten, nicht immer begründeten Ruf allumfassender Kenntnisse und Fähigkeiten genießt,14 zumal wenn er sich mit dem Scheine eines Staatsmannes zu umkleiden weiß. Dahinter wittert der gewöhnliche Sterbliche eine ganz profunde geistige Kapazität und deutet selbst das Schweigen als ein Siegel tiefer Gedanken. Dabei ist es oft das ganz natürliche Zeugnis geistiger Impotenz. Wir wissen, wie geringschätzig Bismarck über diese Zunft der Völkerlenker dachte. Bauern, Zolleinnehmer und Krämer kamen ihm mit ihnen verglichen als wahre Leuchten vor. Mir erzählte einmal Exzellenz v. Oehlschläger, Bismarck habe ihn zum Unterstaatssekretär mit der Begründung gemacht, daß er ein Jäger (!) sei. Jäger hätten ein gutes Auge und ein gesundes Urteil. Man lese, wie verächtlich auch Maximilian Harden von der Zunft spricht, die die Welt mit so wenig Verstand regiert.

Man wird vielleicht, wie nach dem Schmerzenstage von Tilsit, noch einmal zu der Überzeugung kommen, die Fichte den verzagten Deutschen predigte, daß alles Heil von der Erziehung kommen müsse. »Unsere Verfassung wird man uns machen,« sagte er damals in seinen Reden an die deutsche Nation, »unsere Bündnisse und die Anwendung unserer Streitkräfte wird man uns anzeigen, ein Gesetzbuch wird man uns leihen, selbst Gericht und Urteilsspruch und Ausübung desselben wird man uns bisweilen abnehmen. Mit diesen Sorgen werden wir auf die nächste Zukunft verschont bleiben. Bloß an die Erziehung hat man nicht gedacht: suchen wir ein Geschäft, so laßt uns dieses ergreifen! Es ist zu erwarten, daß man in demselben uns ungestört lassen werde. Ich hoffe, daß ich einige Deutsche überzeugen und sie zur Einsicht bringen werde, daß es allein die Erziehung sei, die uns retten könne vor allen Übeln.«

Wir leben bei allem äußeren Glanze und bei aller Selbstgefälligkeit in Zeiten, die uns durch die schwüle Stimmung an den Niedergang Preußens, an die Vorboten von Jena und Auerstedt erinnern. Jedenfalls ist die Klage Dr. Heinrich Ilgensteins (Blaubuch 1906 Nr. 34) berechtigt, daß seit den Zeiten des seligen Metternich nie so dunkel, so öde, so entwicklungsfeindlich, so gegen das Volk und seine vitalsten Bedürfnisse regiert worden ist. Wo die Staatsinstitute so schmerzlich versagen und aus den Behörden heraus kein befreiendes Wort zu vernehmen ist, wird man wohl wieder nach freien »Männern« Ausschau halten. Vielleicht findet man den einen oder den anderen unter den Lehrern, den berufensten Kulturträgern,15 der sich seiner Mission bewußt wird. Schon der »Rembrandt-Deutsche« sprach die Überzeugung aus, daß wir, um ein einiges Volk zu werden, noch einen zweiten Bismarck brauchten, und das müsse ein pädagogischer (oder, wie er unzutreffend sich ausdrückt, ein philologischer) sein. Vielleicht helfen auch diese Rufe mit, ihn aufzuwecken und zur Tat zu begeistern. Den Lehrer aber hat man leider nie nach seiner Bedeutung bewertet. Deshalb vor allem ist er in der Regel hinter seiner wahren Aufgabe auch weit zurückgeblieben. Jetzt vielleicht noch mehr als in früheren Zeiten. Denn jetzt ist der Lehrer mehr als je – Beamter. Als solcher hat er ein Amt, aber keine Meinung. Der Mensch wird eben schließlich zu dem, wofür man ihn nimmt.

Friedrich der Große, sonst wirklich groß und ehrlich gewillt, ein freidenkendes Volk zu beherrschen, dachte doch so niedrig über die geistigen Ansprüche, die au deutsche Jugenderziehung zu stellen seien, daß er Unteroffiziere dazu glaubte abkommandieren zu können. Das war vielleicht schon ein Fortschritt. Denn der Unterricht lag damals noch in den Händen von Handwerkern, die ihn im Nebenamt betrieben. Der Lehrer rangierte auf dem Lande jahrhundertelang in einer Linie mit den Kuhhirten und den Totengräbern. Sein Gehalt ist auch jetzt noch in Preußen das eines Subalternbeamten, obschon Luther, der große Lehrmeister der protestantischen Welt, gesagt hatte: »Einen fleißigen, frommen Schulmeister oder Magister oder wer es ist, der Knaben getreulich zeucht und lehret, den kann man nimmermehr genug lohnen und mit keinem Gelde bezahlen: noch ist's bei uns so schändlich veracht, als sei es gar nichts, und wollen dennoch Christen sein. Und ich, wenn ich vom Predigtamt und andern Sachen ablassen könnte und müßte, so wollte ich kein Amt lieber haben, denn Schulmeister und Knabenlehrer sein. Denn ich weiß, daß dieses Werk nächst dem Predigtamte das allernützlichste, größeste und beste ist, und weiß dazu noch nicht, welches unter beiden das beste ist.« So also sprach Luther. In unseren Herrscherhäusern aber ist man dem Lehrerstande nicht aufrichtig gewogen, auch heute noch nicht. Ja, heute vielleicht weniger als vordem. Friedrich Wilhelm IV. hielt ihn für verantwortlich für den durch die Aufklärung »verirrten Zeitgeist« und erklärte, daß die Lehrer nicht auf Bildung, sondern auf Gesinnung ihrer Schüler zu halten hätten.

16

Auch unser Kaiser hat die Überzeugung, daß die Sozialdemokratie mit ihrem mangelnden kirchlichen Sinne und ihrer gegen die Regierung ablehnenden Haltung zu solcher Macht nicht hätte gelangen können, wenn die Lehrer ihre »Pflicht« getan hätten. Sie haben auch bisher vom Kaiser kaum noch Beweise der Gnade erhalten. Wir bewegen uns eben noch in den Bahnen der von Friedrich Wilhelm IV. begonnenen Reaktion. Ziel des Schulunterrichtes ist nicht sowohl die freie Entfaltung aller eingeborenen menschlichen Kräfte, als die Heranzüchtung von brauchbaren Beamten und ruhigen Bürgern oder lieber noch – »Untertanen«. Denn daß es bei uns vor dem Gesetze nur noch Bürger, nicht mehr Untertanen gibt, davon will man in den höchsten Regionen nicht viel wissen. Leider lassen sich unsere Zeitgenossen die Freiheiten und Rechte, die ihnen ihre Väter erkämpft haben, in ihrer beschämenden Untertanengesinnung ohne Widerrede wieder wegnehmen. Daher sprechen unsere Zeitungen in unseren konstitutionellen Staaten immer noch von Monarchen und Untertanen und die Leser nehmen es hin ohne Erröten und ohne Erbitterung.

Es steckt eben dem armen, durch Jahrhunderte hindurch so miserabel behandelten Deutschen leider die Bedientengesinnung noch zu tief in den Knochen. Sie lebendig zu erhalten und recht gründlich zu pflegen, scheint man als Hauptaufgabe des Lehrerstandes anzusehen, dem selbst vor allem Gehorsam und Bescheidenheit zur Pflicht gemacht wird. Davon unten mehr! – Unsere Regierungen geben auch heute noch Gesetze für die Volksschulen, ohne deren Lehrer selbst zu hören. Die Erzieher der deutschen Jugend können bis jetzt, wenn sie nur Volksschullehrer sind – »Volk« bedeutet nämlich bei uns noch etwas Niedriges –, in unserem Volksheere nicht einmal Reserveoffizier werden. Das sagt alles![1]. Das beweist, wie niedrig man den Bildungsstand und die moralische Tüchtigkeit dieser Herren einschätzt, die nach meinen Erfahrungen jetzt in ihren besten Vertretern den Vergleich mit unseren Linien- und Gardeoffizieren kaum zu17 scheuen brauchen. Ich bin überzeugt, daß sie ganz besonders tüchtige Offiziere abgeben würden. Denn sie kennen das Volk und haben die Jugend gründlich studiert, viel gründlicher jedenfalls als der adlige Offizier, der vor seiner Dienstzeit mit dem niederen Volke selten in einem lebendigen Verkehr steht. Sie haben auch alle sonstigen geistigen und moralischen Qualitäten dazu. Wer das bezweifelt, der besuche die Verhandlungen dieser Lehrer und höre ihre Vorträge an. Auf den »Kunsterziehungstagen« wußten wir Zuhörer, wenn wir nicht das gedruckte Programm einsahen, nicht, ob da ein Hochschullehrer oder »bloß« ein Volksschullehrer spreche. Unsere Universitätsprofessoren, die jetzt die Volksschullehrer aus persönlichen Beziehungen kennen lernen, sprechen mit großer Anerkennung von ihnen. Prof. Theobald Ziegler aus Straßburg sagte ihnen auf dem Münchener Lehrertag dieses Jahres offen ins Gesicht, daß heute in dem Stande der Volksschullehrer ein höherer Bildungsdrang und idealerer Sinn wohne als in irgendeinem anderen Stande. Das ist auch meine Erfahrung. Und unter diesen mehr als 150 000 deutschen Männern sollte keiner sein, – oder jetzt doch zwei, aber nur zwei – die sich zum Reserveoffizier qualifizieren? Unglaublich! Um so unglaublicher, als unsere von Beamten, Offizieren, Königen und Fürsten mit erhobener Hand und unter Anrufung Gottes beschworenen Verfassungen anordnen, daß vor dem Gesetze jeder Bürger gleich sei, daß Ämter und Ehren nur nach Verdienst und Würdigkeit vergeben werden müssen. Das ist also Gesetz! Man beruhigt sich aber bei uns – weil wir ein militärfrommes und ein doch zu wenig mannhaftes Volk sind – mit der Tatsache, daß hier eine Rechtsbeugung vorliegt, und wenn man die Sache einmal ernstlich zur Sprache bringt, dann fehlt es nie an irgendeiner gesetzwidrigen und unhaltbaren Ausrede. Dazu gehört in unserem Falle die, daß der Volksschullehrer keine »gute Kinderstube« hinter sich habe – und doch läßt man ihn Kinder erziehen? – daß er mithin noch nicht ganz – na sagen wir mal – noch nicht ganz »stubenrein« sei. Der wahre Grund liegt aber wo anders.

Die Lehrer, niedere und selbst höhere, sind eben bei uns noch die Parias der gebildeten Gesellschaft. Wenn wir für unsere Schulen in einer sittlich erregten Sprache reden, dann erheitert man sich über uns. Einen Oberlehrer nimmt man ja schon ernster. Wie aber18 kann ein Mensch, der ein kleiner Beamter ist, jährlich kaum mehr als 1000 Mark zu verzehren hat, wie kann ein solcher Mensch sich erlauben, über allgemeine Kulturfragen, über Politik, Regierungsgeschäfte, Nationalökonomie, soziale Fragen, über Volksleben und nun vollends über Kirchenfragen mitreden zu wollen?

Auch den »höheren« Lehrer möchte man ja am liebsten auf seine Klasse und sein Studierzimmer beschränkt haben. Nur daraus ist die oben schon erwähnte Zurückhaltung dieses Standes in allen großen öffentlichen Kulturfragen zu erklären. Beamtengehorsam macht Schweigen erwünscht. Wer davon abweicht, erregt unangenehmes Aufsehen. Solche Herren kommen mit ihren sehr unerwünschten, sogenannten »ethischen« Fragen, stören mit ihrem unfruchtbaren Gerede den ruhigen Geschäftsgang. (In Deutschland ist jetzt nämlich alles zur bloßen Verwaltungssache heruntergekommen. Ethische Fragen gibt es nicht mehr!) Dazu sind die Lehrer anmaßend, nie zufrieden, für sich selbst maßlos begehrlich, drängen sich in die höheren Stände hinein und wollen vor allem eben immer über Dinge mitreden, von denen sie nichts verstehen. Da gilt der Satz: »Schuster, bleib bei deinem Leisten!« Der Lehrer soll den Kindern nach Anweisung seiner Behörden und unter Aufsicht eines Geistlichen den rechten Glauben, Gottesfurcht, Liebe zum Herrscherhause und dann die verschiedenen Lehrgegenstände beibringen: Schreiben, Lesen, Rechnen, Deutsch, auch Latein, Griechisch, Französisch, Englisch, Geschichte, Erdkunde, Mathematik usw. Hat er damit nicht genug zu tun? Da redet ihm auch niemand hinein. Niemand macht ihm seine Lehren von den lateinischen und griechischen hypothetischen Sätzen streitig. Weshalb also bleibt nicht auch er auf seinem eignen Boden, bei seinen dienstlichen Pflichten?

Nun eben aus dem Grunde, weil es unmöglich ist, über Erziehungsfragen zu sprechen, ohne zugleich Staat und Gesellschaft auf ihren Zustand zu prüfen. Wer Rousseau und Pestalozzi nur ein wenig kennt, weiß das selbst schon.

Ich will aber diese Behauptung doch durch zwei Beispiele noch begründen:

Wir nehmen an, die Lehrer haben sich dahin geeinigt, daß ihre Schüler allwöchentlich ihren arbeitsfreien Nachmittag haben und unter der Leitung eines Herrn bei Jugendspielen oder Jugendwandern19 in der Natur verbringen sollen. Die Eltern gestatten aber ihren Kindern nicht, daran teilzunehmen, weil sie ihre Hilfe im Hause brauchen und weil die Wege aus der Großstadt aufs Land zu weit, zu zeitraubend, zu kostspielig sind. Da werden sich also die Lehrer mit den Problemen der städtischen sozialen Not zu beschäftigen haben.

Das zweite Beispiel: Die Schule ordnet bei einem patriotischen Feste öffentlichen Umzug der Schüler an. Mehrere Eltern reichen ein Gesuch ein, ihre Kinder davon zu dispensieren, da dieses Fest gegen ihre politische Überzeugung verstoße. Gleich steckt man mitten drin in den politischen Streitfragen und in der Untersuchung, wie die Befugnisse der Schule und die des Hauses gegeneinander abzugrenzen seien.

Die Antwort auf diese Beispiele wird lauten: Darüber hat die vorgesetzte Behörde zu entscheiden. Gesetzlich – ja! Aber ist deshalb der Lehrer die Probleme los? Wird er nicht den Beruf in sich fühlen, Konflikte, die entstehen, selbst eingehend bis in die Quellen zu prüfen und sich ein selbständiges Urteil darüber zu bilden? Unterläßt er das, so wird er bald mit seinem Gewissen in Konflikte kommen oder mehr und mehr zur willenlosen Staatsmaschine werden. Wer ihm das zumutet, der entwertet den Lehrerstand und vergeht sich damit am öffentlichen Wohle. Am deutlichsten tritt das in die Erscheinung auf dem religiösen Gebiet. Auch da wollen Kirche und Staat dem Lehrer die Gesinnung vorschreiben, ihm schweigenden Gehorsam zur Pflicht machen. Ein unmögliches Ansinnen. Daran muß der Lehrerstand innerlich zugrunde gehen. Er wird daher aus dem Triebe der Selbstachtung, der Selbsterhaltung, auch aus pflichtgemäßer Fürsorge für die ihm anvertraute Jugend und damit aus patriotisch-nationalem Gewissen in die kirchenpolitische Agitation und Schriftstellerei mit eintreten, in der wir jetzt unseren Volksschullehrerstand tatsächlich finden. Das sind wahrhaftig keine Übertritte in fremdes Gebiet. Da streitet der Lehrer für sein eigenstes Feld und auf diesem. Anders denkt freilich die Geistlichkeit, die stets sehr erregt wird, wenn die Lehrerschaft sich ihrer Gängelung entziehen will. Aus Pastorenfeder stammt jedenfalls auch der köstliche Ausfall, den ich hier als Gesinnungs- und Stilprobe wiedergeben muß:

20

»Schulmeisterei und Schulmeister. Auf die preußische Kultur, die so zart zu sein scheint wie die Blaublümelein, droht wieder einmal ein tötlicher Reif zu fallen. Angst und bange muß es einem werden, wenn man die Klagetöne über die drohende Konfessionalisierung der Volksschulen anhört. Wir entdecken jählings die ungeheuren Segnungen der Simultanschule, deren Licht hell durch das konfessionelle Duster leuchtet, und ziehen den Kriegsmokassin an, um mannhaft für Freiheit des Geistes und Fortschritt einzutreten. Eine würdige Sache ist gefunden, in deren Dienst der mannhafte Hase seine radikalen Raubtierinstinkte austoben kann. Allen voran aber zieht, als Rufer im Streit, der freiheitsdurstige »Schulmann«. Seit die Schulmeister die Schlacht bei Sadowa gewonnen haben, ist ihnen ein gewaltiger Stolz in die Krone gefahren. Es ist mit der Würde des Volkserziehers unvereinbar, die Bälge zu treten oder dem Pastor in den Talar zu helfen. Beim Schweineschlachten vermag auch die größte Wurst den Pädagogen nicht mehr zu locken, der sich sehnt, die Bank des Kollegs zu drücken und Reserveoffizier zu sein. Statt den Bakel zu schwingen, erregt er die Aufmerksamkeit des Schülers und vertieft dessen Interesse; statt der Fibel, deren Titelblatt der stolze Hahn ziert, wälzt er dicke Schmöker, in denen die unverdaulichen und zähen Brocken aus philosophischen Schüsseln zu einem breiten, leicht eingehenden Brei verkocht sind. Er interessiert sich für alles, namentlich wenn es aus zweiter Hand kommt. Er betrachtet die Welt und ihre Probleme mit arrogant-bescheidenem Verständnis. Er begeistert sich für das Wahre, Gute und Schöne und streut mit verschwenderischer Hand Keime des Edlen aus. Und er handhabt den Idealismus wie ein geschickter Wilddieb die Flinte, um jedem individualistischen Bock das Leben auszupusten. Kurz, er wird seinem Kollegen der höheren Observanz, dem Gymnasialobermeier, immer ähnlicher. Den aber packt der bleiche Schreck, er könne mit dem Volksschulmeister verwechselt werden, und darum trachtet er nach faustdicken Titeln: Gymnasialreferendar, Gymnasialassessor, Professor – und begehrt Einlaß in die erhabene vierte Ratsklasse. So flüchtet er auf der Leiter der Würden immer vor dem Rivalen aus der unteren Schicht her – aufwärts; aber schließlich werden beide auf dem höchsten Gipfel der Wertschätzung ankommen, und wenn der Obermeier an die Stelle des Erzengels Gabriel einrückt, wird der Meister der Schule nicht säumen, die Erbschaft Rafaels anzutreten. Heilig sind die Seelen der zu erziehenden Kinder. Heilig, heilig ist die Schule. Heilig, heilig, heilig ist der Pauker. Die Welt ist ein Institut, in der einer immer den andern erzieht, und der liebe Gott ist der Oberschulmeister, obwohl er noch nach veralteten Methoden arbeitet und bei Gelegenheit feste zuhaut.« (Die Funken.)

Man sieht, dem Pfäfflein ist es betrübend, daß ihm der Lehrer über den Kopf zu wachsen droht und sich nicht mehr mit der Ehre begnügt, für ihn den Balg der Orgel zu treten und ihm mit devotem Eifer in den schwarzen Talar zu helfen. Daher die Erregung! Nichts erheiternder als so ein polternder Kapuziner! Ich sehe voraus21 und hoffe, daß die Geistlichkeit und die ihr allzu willfährigen Regierungen an den Lehrern, die jetzt erwacht, organisiert, zum Bewußtsein ihres nationalen und sittlichen Berufes, zugleich auch zum Bewußtsein ihrer Macht gekommen sind, noch ihr blaues Wunder erleben werden. Wir stehen im Anfange einer Entwicklung, die nicht mehr einzuhalten ist. Der Lehrer steigt in dem Maße, wie der Geistliche sinkt. Dies – in Parenthese – meine Überzeugung!

Welches also wird, um die Frage zu wiederholen und endlich auch zu beantworten, welches wird die Begrenzung dieses Themas sein? Nun, am liebsten gar keine. Schulmeisterarroganz weicht, wie wir lasen, vor keiner Schwierigkeit zurück. Es soll also nichts abgewiesen werden, was mit unserem Thema in einem inneren lebendigen Zusammenhang steht. Erschöpfen läßt sich auch bei großer Einschränkung unser Thema nicht, noch weniger zu allgemeiner Zufriedenheit lösen. Schon jetzt wissen es alle Klerikalen, alle bureaukratisch und plutokratisch infizierten Leser, daß es »lauter Unsinn« sein wird, was nun folgt.

Nur eine Beschränkung schließt das Thema leider schon in sich ein: den Ausschluß der Mädchenerziehung. Mir wäre es leid, wenn man daraus falsche Schlüsse zöge, als ob ich diese für minder wichtig als die Knabenerziehung hielte. Es ist auch kein gewollter, kein absichtlicher Ausschluß. Auch Mädchen sollen zu Persönlichkeiten herangezogen werden, am besten gemeinsam mit den Knaben. Zu Männern aber und »mannhaft« wünscht man sie doch nicht.

Mir fällt dabei der Pastor ein, der seiner eben ihm angetrauten Gattin, als sie sich trotz dreimaligen Signales der Bahnglocke den Armen ihrer Mutter nicht entwinden konnte, das stolze Wort zurief: »Luise, sei ein Mann!«

Wer, wie ich, Pestalozzi verehrt, der weiß, daß alle Erziehung in der Kinderstube wurzelt und daß die Mutter die erste und die wirksamste Erzieherin der Kinder ist.

Haben wir tüchtige Mütter, so wächst auch eine tüchtige Jugend heran. Das ist eine alte Weisheit und allen Völkern bekannt. Die Mütter bedürfen keines neuen Ruhmes, sie dürfen stolz sein auf die Ehrennamen, die ihnen die Sprichwörter aller Völker geben. »Muttertreu', sagt der Deutsche, wird täglich neu. – Ist die Mutter noch so arm, gibt sie doch dem Kinde warm. – Wer der Mutter nicht folgen will, muß zuletzt dem Gerichtsdiener folgen.22 – Besser einen reichen Vater verlieren, als eine arme Mutter. – Was der Mutter ans Herz geht, geht dem Vater nur ans Knie. – Im Hindostanschen heißt es: Mutter mein, immer mein, möge reich oder arm ich sein. – Der Venetianer sagt: Mutter, Mutter! Wer sie hat, ruft sie, wer sie nicht hat, vermißt sie. – Der Russe sagt: Das Gebet der Mutter holt vom Meeresgrund herauf. – Tscheche und Lette sagen: Mutterhand ist weich, auch wenn sie schlägt. – Fast alle Völker haben das Sprichwort: Eine Mutter kann eher sieben Kinder ernähren, als sieben Kinder eine Mutter. – Über den Verlust der Mutter sagt ein russisches Sprichwort: Ohne die Mutter sind die Kinder verloren wie die Bienen ohne Stachel.«

(Ich fand diese schöne Zusammenstellung in irgendeiner Tageszeitung, kann leider nicht mehr sagen, in welcher.)

Ich maße mir nicht an, einen Prälaten, Generalsuperintendenten oder Geheimrat irgendeines Kultusministeriums davon zu überzeugen, daß ihre Tätigkeit die Mannestugenden des deutschen Volkes schädige. Ich erwarte und finde es selbstverständlich, daß sie sich darob entrüsten oder wohl lieber mit spöttischem Lächeln daran vorübergehen. Das ist ihr gutes Recht, ebenso wie es mein gutes, mir verfassungsmäßig zustehendes Recht ist, solche Behauptungen nach meiner ehrlichen Überzeugung auszusprechen und zu verfechten.

Als ich mit meinen ersten pädagogischen Schriften hervortrat, hatte ich noch den naiven Wunsch, anders Gesinnte zu überzeugen, und den noch naiveren Glauben, von ihnen gerecht beurteilt zu werden. Beides habe ich seitdem gründlich aufgegeben.

Wenn jetzt einer kommt und sagt mir: »Sie hätten das und das nicht schreiben dürfen; Sie hätten die Sache so und so darstellen müssen,« dann habe ich für solchen Fall eine prächtige »Abfuhr« erfunden. Meine Antwort lautet:

»Mein Herr, Sie befinden sich in einem fundamentalen Irrtum!«

»Na, erlauben Sie mal! Wieso denn?«

»Ja, mein Herr, Sie meinen, daß ich Ihre Ansichten vortragen wollte. Das lag mir völlig fern. Ich wollte nur sagen, was mir richtig scheint. Das haben Sie offenbar nicht beachtet.

Auf recht baldiges Wiedersehen! Meine besten Empfehlungen an Ihre verehrte Frau Gemahlin!«


23

III.
Pädagogische Vorbilder.

Am liebsten freilich würde ich persönlich auf die Erziehungsweisheit der Vergangenheit an dieser Stelle verzichten. An lehrreichen Abhandlungen, an Doktorarbeiten über die Erzieher aller Völker und Zeiten ist kein Mangel. An historischem Wissen fehlt es uns wahrhaftig nicht. Daß auch ich die Pädagogik früherer Jahrhunderte, auch die anderer Völker, einigermaßen kenne, wird man mir glauben. Wenn nicht, so schadet es auch nichts. Man hat jetzt so vortreffliche Handbücher über die Geschichte der Pädagogik, daß einer ja mühelos in einem Monate darin zu einem Kenner werden kann. Verzichten möchte ich, weil wir an sich schon in Überlieferung und in historischer Bildung ersticken. Was wir brauchen, ist die Tat.

Was würde wohl Jesus Sirach dafür gegeben haben, wenn er einen flüchtigen Blick in unsere heutige Erziehungspraxis hätte tun können? Was Habakuk – der einzige von allen kleinen Propheten, zu dem ich von Kindheit an in einem herzlichen Verhältnis stehe; ich sprach freilich seinen Namen früher etwas unkorrekt als Haferkuck aus und stellte ihn mir als einen kleinen neckischen Kobold vor, der sich auf der Tenne und beim Futterkasten im Pferdestall durch Neugier bemerklich machte, daher das frühe Interesse und Verständnis für ihn –. Was würden dessen Kollegen von der »kleinen Prophetie«, deren Namen, aber auch rein nichts als eben diese Namen, seit Luthers Tagen Millionen, nein, ich glaube Milliarden von blonden Bauernkindern kennen und hersagen lernten – Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zephanja, Haggai, Sacharja, Maleachi – ein Lautgeklingel, den Kindern weniger wertvoll als der Spielreim:

Ene mene mink mank
Pinkpank
Use buse packe dich
Eier beier weg! –

24

Was würden also wohl diese schwarzgelockten Hebräer, was die ernsten Griechen, etwa ein Sokrates, ein Plato, Aristoteles, was Cicero, Seneca, der heilige Augustin, was Luther, Goethe, Fichte und andere große Erzieher der Vorzeit darum gegeben haben, wenn sie einen flüchtigen Blick in die heutige Erziehungspraxis hätten tun können?

Wenn man einen dieser Männer gefragt hätte: »Wie sollen die Deutschen im 20. Jahrhundert ihre Kinder erziehen?« so würden sie gewiß – da sie ja eben gescheite Leute waren – wie aus einem Munde jeder in seiner Sprache gerufen haben: »Ja, was woas denn i? Des müssen doch de alloanig wissen!«

Man lege sich einmal selbst die Frage vor: »Wie soll im Jahre 3000 die deutsche Jugend erzogen werden?« Getraut sich irgend jemand dazu nur ein einziges Wort von Bedeutung zu sagen?

Wenn ich heute die Ehre hätte, mit Ernst Moritz Arndt zu sprechen, so würde er fragen, ich antworten, nicht umgekehrt.

»So, ihr habt also endlich ein einiges Deutsches Reich? Famos! Sagen Sie mir: Besteht denn det olle Gymnasium noch immer? Sollt's nicht glauben! Ja, ja, so alte Einrichtungen haben ein zähes Leben. Also geturnt darf jetzt in den deutschen Schulen wieder werden? Na, gottlob! Das muß ich doch meinem Freunde Jahn erzählen. In unserer Zeit galt es einmal für staatsgefährlich. Wird das euren Kindern auch in der Schule erzählt? Denkt man noch an mich, an den großen Befreiungskrieg, an unser herrliches Leipzig? Gelten unsere Namen der deutschen Jugend noch etwas? Oder leben da in höherem Ansehen noch der alte Aristides, der so gerecht war, daß er nicht einmal Staatsgelder defraudierte, Hippias, der sich bestechen ließ, vom Erbfeinde – oder der Erzschelm, der Aristomenes – nee, nee, wie hieß doch der Athener, der sein Vaterland mit Hilfe der Spartaner bekämpfte?«

»Herr Professor, Sie meinen den Alcibiades?«

»Ja ja, ganz recht, Alcibiades. An den liederlichen Burschen habe ich freilich lange nicht mehr gedacht.

Na, und dann die scharmanten Römer? Fabricius, der nicht einmal vor einem Elefanten ausriß, Horatius Cordes, der allein mit einem ganzen Etruskerheere fertig wurde – Herrgott, was konnten die alten Römer schön lügen! Und der eisigkalte Sulla, Marius, der Bluthund, mein alter Schulfreund Cicero, ›Quosque tandem, Catilina‹!25 (Sie sehen, es sitzt noch immer), der lustige und verliebte Ovidius Naso, – der dann im südlichen Rußland so elend einging – seine Amores lasen wir heimlich deutsch – auch der Virgilius, der mit so vollen Backen sang, der alte gemütliche Horatius mit seiner netten Lalage? – alle noch auf dem Posten? Ja? Und trotzdem habt ihr also ein großes Deutsches Reich? Sehen Sie mal an!

Na, Gurlitt, da setzen Sie sich mal her! Sie müssen nun ordentlich erzählen, wie das alles gekommen ist. Aber, bitte, recht genau, recht ausführlich! Sie sind ja Lehrer, also auch die Erziehungsgeschichte! Alles, alles! Es interessiert mich wirklich über die Maßen.«

»Herzlich gerne, aber Sie verzeihen; eigentlich war es meine Absicht mir bei Ihnen, Herr Professor, Rat zu holen.«

»Bei mir?«

»Ja, eine Belehrung darüber, wie wir die deutsche Jugend erziehen sollen, besonders in Rücksicht auf die Mannhaftigkeit. Ich hoffte, daß Sie –«

»Ach, Unsinn, Sie oller Schulmeister! Von mir können Sie da nichts lernen. Jedes Volk, jede Zeit muß eigne Erzieher haben. Oder haben die Athener jemals danach gefragt, wie man in Sparta die Kinder erzog, wie bei den Persern? Oder umgekehrt? Haben sich jene Völker, die Sie immer noch mit Eifer studieren, jemals um fremde oder alte Schulrezepte gekümmert? Nein? Na, sehen Sie!

Erziehen Sie die deutsche Jugend nach den Bedürfnissen und sittlichen Anschauungen Ihrer Tage, sonst wird nichts Vernünftiges daraus. So gut wie jeder einzelne Mensch hat jede Zeitepoche ihr Eigen- und Einzelleben« –

»Gewiß, mein Herr, das verstehe ich wohl, aber wir müssen doch immer die historische Entwicklung berücksichtigen.« –

»Historische Entwicklung? Das ist wohl wieder eine von euren neuen Entdeckungen? Ja, entsprach es denn der historischen Entwicklung, daß Karl der Große den Sachsen eine Religion mit Glaubenssätzen aufzwang, die ihnen so fremd waren, wie die Feigen und Datteln, die aus gleicher Gegend stammen? Entspricht es der historischen Entwicklung, daß ihr eure Jungen immer mit der Kultur von Palästina, Hellas und Rom abspeist und dabei sorglos über Jahrhunderte der Geschichte hinwegspringt? Hat sich mein Freund26 Napoleon um die historische Entwicklung gekümmert, als er die deutschen Staaten zertrümmerte? Ist nicht fast alles wahrhaft Große, ist nicht Luther, ist nicht Christus selbst eben deshalb zunächst verfolgt worden, weil ihr Streben gegen die vermeintliche historische Entwicklung verstieß?«

»Ich wage nicht zu widersprechen, mein sehr verehrter Herr Professor. Es ist in der Tat wohl so, daß alle Neuerungen den bewußten, tatkräftigen Willen eines Reformators voraussetzen und die Außenstehenden meist als Gewaltsamkeiten anmuten. Ich las in diesen Tagen einen pädagogischen Aufsatz über das Thema »Gefahren der Staatsschule für die Pädagogik«[2]. Da fragt grade auch ein neugieriger Schulmann höchst respektlos: »Ist denn die heutige deutsche Volksschule wirklich das Produkt einer Entwicklung, die nie gestört worden ist und nie gestört werden darf?« Und antwortet sich selbst darauf: »Ich glaube vielmehr, alle Fortschritte sind mehr oder minder gewaltsam in sie hineingedrungen. Gerade das letzte Produkt dieser sogenannten Entwicklung, die Verstaatlichung der Schule und der Schulzwang, sind Gewaltstreiche, vielleicht notgedrungene Zugeständnisse der Regierungen gewesen.« Auch haben wir jetzt ein neues Volksschulgesetz erhalten, das gegen den Willen der Lehrerschaft die Volksschule konfessionalisieren soll. Mir will das auch nicht wie eine historisch notwendige Entwicklung vorkommen.«

»Gewiß nicht! Sie sehen, darauf ist nichts zu geben. Historische Entwicklung! Mit dieser Phrase scheint man den Fortschritt der Menschheit hemmen zu wollen. Handelt nur, mein Verehrtester, nach eurer ehrlichen Überzeugung, wie es alle tüchtigen Männer zu allen Zeiten getan haben! Kein Gedanke, kein Wunsch, keine Handlung fällt nur so vom Himmel nieder. Es gibt nichts auf Erden, was nicht diese eure berühmte historische Entwicklung hätte. Alles braucht Zeit zum Keimen, Wachsen und Reifen, auch die Gedanken und Handlungen der Menschen. Wir kennen aber oft diese verborgenen Keime nicht, brauchen uns um sie auch nicht zu kümmern. Beschwert euch doch nicht mit historischen Erwägungen! Für die Einordnung eurer Taten in den geschichtlichen Zusammenhang laßt getrost die27 Historiker der nächsten Generation sorgen! Die werden euch schon beweisen, daß alles so kommen mußte, werden Ihnen sogar das bißchen Ehre und Stolz rauben, das Sie wirklich mit eigenem Kopfe gedacht, mit eigenem Herzen gestrebt hätten. Während Sie sich jetzt vielleicht einbilden, daß Ihre Taten einmal wie eine stolze Säule hervorragen werden, wird man sie später als ein notwendiges schlichtes Glied in einer langen Kette der Entwicklung betrachten lernen.

Ja, ja! daran aber erkenne ich meine lieben Landsleute wieder. Bleiben sich doch immer gleich! Wenn eine Sache nicht theoretisch entwickelt, nicht ins System gebracht und gelehrt begründet ist, dann ist sie für meine Deutschen überhaupt nicht da. Bei ihnen soll alles mit Gelehrsamkeit geschafft werden. Sind also bei euch die Federfuchser noch immer so in Flor? Armes Vaterland! Ich habe diese Kerle mein Lebtag gehaßt. Sie verdarben uns mit ihrer giftigen schwarzen Galläpfeltinte jedesmal was wir mit frischem roten Blute angeregt und erstritten hatten.

Aber genug! Ich verfalle in greisenhaftes Gerede und komme vom Thema ab. – Also: »Erziehung zur Mannhaftigkeit?« Da kann ich leider nur wiederholen, was ich schon gesagt habe: Das müssen Sie besser wissen als ich, denn Sie leben – ich leider nicht mehr – der Lebende aber hat recht. Meine Pädagogik lehrte mich die auf uns lastende Fremdherrschaft: Napoleon war unser Zuchtmeister, unser Erzieher. Wäre er nicht gewesen, hätte er uns nicht mißhandelt, so wäre ich nicht zum Volkserzieher geworden, ebensowenig wie Freiherr vom Stein, wie Scharnhorst, Fichte und die anderen; jedenfalls wäre auf unsere Worte nicht gehört worden. Was nur damals passend war, werden Sie wohl nicht brauchen können. Ich meine: Jede Zeit hat eben ihre besonderen Aufgaben, ihre eigenen politischen und sozialen Bedürfnisse. Danach wird sich auch ihre Pädagogik richten. Es gibt ebensowenig eine allgemein giltige praktische Erziehungslehre, als es eine für alle Zeiten gesetzmäßig festgelegte Wirtschaftslehre, Staatslehre, Politik oder Kunstlehre gäbe. Das wechselnde Leben schafft sich seine wechselnden Bedürfnisse und diesen angepaßt seine stets veränderlichen Kulturformen. Nur die Orthodoxen meinen, eine endgiltig für alle Christen aller Zeiten und Völker festgesetzte28 religiöse Erziehungsweisheit ererbt zu haben. Diesem Wahne opfern sie ihren Einfluß und ihren wahren Beruf, Dolmetscher, Führer und Erzieher der tiefsten, ehrlichsten und strebsamsten Geister zu sein und zu bleiben, wie es seiner Zeit die jüdischen Propheten waren, und leben heute von dem Weihrauch, den ihnen die Gedankenlosen, Müden, Bequemen und Feigen spenden. Der Lebende soll nicht immer von dem Toten lernen wollen; denn – wie gesagt – der Lebende hat recht!

Ewige Wahrheiten! Ob es solche wohl überhaupt gibt? Ich bezweifle es. Nur eine Wahrheit möchte ich für ewig halten, nämlich die, daß alles im ewigen Wechsel ist. Alles fließt! Selbst die Wahrheiten, die für alle Ewigkeit begründet schienen. Sie wissen jetzt, weshalb ich Ihrem Wunsch nicht nachkommen kann. Ich habe viel Dringlicheres zu tun, nämlich Sie auszufragen.

Doch vorher nur noch ein letztes Wort! Bei Lehrern werden Sie über Erziehung zur Mannhaftigkeit wenig finden. Denen ist's immer ums Wissen. Fragen Sie doch lieber bei so alten Haudegen, wie dem Blücher, an, oder, wenn's schon ein Mann von der Feder sein soll, bei dem alten Fichte.

Oder zeigen Sie Ihrer Jugend das Lebensbild unseres Freiherrn vom und zum Stein. Sehen Sie, das war ein ganzer Mann, ein Mann nach meinem Herzen: In seinen Gesinnungen und Grundsätzen immer der Zuverlässige und Unwandelbare; was gut, tapfer, frei, menschlich und christlich deutsch war, hat in Rat und Tat in ihm immer den wärmsten Freund, Verteidiger, Lobredner gefunden; und wenn die Spur seiner äußeren Wirksamkeit, seiner äußeren Werke und Taten vielleicht schon verwischt sein wird, so wird und muß doch sein innerer Schatz, die Liebe, Treue, Hingebung für sein Volk und sein Vaterland, wird das Unsichtbare und Unbewußte, das unsterbliche, unvergängliche Abbild des geistigen Wirkens eines edlen und biedern Mannes noch in dem Enkel und Urenkel des deutschen Volkes fortleben und fortwirken. Oder ist es nicht so?

Gott hatte ein feuriges, gewaltiges, mutiges Herz in seine Brust gelegt, ihn mit einer raschen, blitzschnellen Auffassung, einem kühnen, geschwinden Verstande gerüstet: Geschwindigkeit, Kühnheit, Hastigkeit – das war er selbst. An Wahrhaftigkeit, Redlichkeit, Offenheit hat kein Mensch ihn übertroffen, er sah und wandelte stracks und29 gerade vor sich hin. Das war sein Glaube, daß durch Wahrheit, Einfalt und Redlichkeit alle Dinge allein gewonnen werden sollen und erhalten werden können und daß kein Weg, der irgend krumm sein muß, Segen bringe. Das war sein Spruch: Es darf nichts getan werden, was nicht gerade und offen getan werden kann. Also: offener Weg, hohe Zwecke und reine Mittel zu den Zwecken.

Da haben Sie das lebendige Beispiel, wonach der Erzieher sich richten soll, wenn er Männer erziehen will. Ewig dauere das Gedächtnis des deutschen Biedermanns! Frisch stehe seine Tugend in jeder ernsten Zeit vor euch, damit ihr wißt, wie ihr handeln und leiden sollt, wenn das Vaterland euch aufruft. Ich frage Sie, zeigt man unserer Jugend noch dieses Vorbild?«

»Gewiß, wir zeigen es ihr, wir geben ihr auch gerne einen Einblick in Ihre Schriften, Herr Professor. So las ich jüngst in einem ›Lesebuche für die höheren Schulen Deutschlands‹ von Dr. Alfred Puls, in Gotha bei E. F. Thienemann herausgegeben, Auszüge aus Ihren Werken: »Erinnerungen aus dem äußeren Leben« und »Schriften für und an seine lieben Deutschen« und darin gerade auch Ihre Würdigung des Freiherrn vom Stein.«

»Gut, gut! Das freut mich von Herzen – aber:

Warum denn überhaupt bei uns Alten anfragen? Haben Sie denn inzwischen in Deutschland gar keine Männer erlebt, die Ihrer Jugend als Vorbild dienen könnten? Ich meine eben gerade für die Mannhaftigkeit als Vorbild? Zeitgenossen, Männer, die Ihre politischen und sozialen, kurz alle Ihre kulturellen Verhältnisse selbst kannten und umgestalten halfen? Das wäre doch das Wichtigste!«

»Ach ja, mein Herr, gewiß, Zum Beispiel den Bismarck.«

»Wie heißt der?«

»Fürst Otto von Bismarck, Gründer des neuen Deutschen Reiches und dessen erster Kanzler.«

»So? O, herrlich! Na, erzählen Sie mal!«


Ich möchte nicht dahin verstanden werden, als glaubte ich, wir könnten ganz auf die Lebenserfahrungen und die pädagogische Weisheit früherer Geschlechter verzichten. Ich bin im Gegenteil der Meinung,30 daß es auf unserem Gebiete der Erziehung kaum möglich ist, Gedanken zu finden, die nicht vor uns schon gedacht und sorgfältig begründet worden wären. Es hat bei historischen Rückblicken nur den Übelstand, daß sich jeder immer nur das aussucht, was ihm gerade in seine Gedankenkreise paßt, wodurch jetzt alle jene alten Autoritäten kaum noch Gewicht haben.

Es gibt keinen Menschen, der sich nicht auf Goethe als Kronzeugen beriefe. Da die Erde rund, ein Menschenleben wechselnd und die Gedanken in stetem Flusse sind, so kann es leicht kommen, daß man jemanden, der viel geschrieben hat, immer wieder mit seinen eigenen Worten widerlegt. Ehe eine Zeit für gewisse Gedanken nicht gleichsam reif geworden ist, bleiben sie unverstanden oder doch unbefolgt. Sie brauchen oft ihre hundert Jahre, ehe sie zur Tat werden. So ist es z. B. leicht nachweisbar, daß wir »modernen« Pädagogen zum Teil unbewußt und unbeabsichtigt ganz in Herders Spuren wandeln, also auch in Goethes, der in paedagogicis Herders gelehriger Schüler war. Wer das noch nicht weiß, der lese eine kleine Schrift von Achim von Winterfeld (A. v. Waldberg, »Gesunde Jugenderziehung, Schulreform und Herder als ihr Vorkämpfer«, Leipzig, Felix Dietrich, 1906). Dieser Nachweis ist natürlich nicht neu. Schon der große Germanist und Reformer des deutschen Unterrichts, Dr. Rudolf Hildebrand in Leipzig, war sich seiner Abhängigkeit von Herder bewußt und sagte: »Ich will gleich selbst aussprechen, daß ich keineswegs ganz Neues aufzustellen wähne; doch gewisse Grundgedanken, die in dem wohl noch ziemlich Neuen stecken, durchkämpfen zu helfen, das möchte ich gern,« und weist uns dabei selbst auf Herder, als seinen ersten bedeutsamen Vorgänger hin. Was also Hildebrand und vor ihm Herder für den deutschen Unterricht anstrebten, das deckt sich fast durchaus mit den allermodernsten Wünschen und Vorschlägen »unruhiger Neuerer«.

Ich will das kurz mit Stellen aus Herder belegen, die auch schon längst Rudolf Dietrich (im »Hildebrand-Heft« S. 504) gesammelt hat:

Im Jahre 1769 auf seiner »Fahrt aus Riga in die weite Welt« malte sich Herder das »Ideal einer Schule« aus, das er in seinem »Reisejournal« beschrieb. Hier lesen wir über den Sprachunterricht:

»Alles lebendige Übung. Nur spät, und wenig aufschreiben; aber was aufgeschrieben wird, sei das Lebendigste, Beste, und was am meisten31 der Ewigkeit des Gedächtnisses würdig ist. So lernt man Grammatik aus der Sprache, nicht Sprache aus der Grammatik. So lernt man Stil aus dem Sprechen, nicht sprechen aus dem künstlichen Stil … So wird's Gang, erst sprechen, d. i. denken, sprechen, d. i. erzählen, sprechen, d. i. bewegen zu lernen … Die Sprache soll nicht aus Grammatik, sondern lebendig gelernt werden: nicht fürs Auge und durchs Auge studiert, sondern fürs Ohr und durchs Ohr gesprochen, ein Gesetz, das nicht zu übertreten ist.«

Später, 1796, forderte er (in einer Schulrede über die »Ausbildung der Rede und Sprache in Kindern und Jünglingen«): »die Kunst der Rede und Sprache in Kindern und Jünglingen auszubilden müsse ein Hauptgeschäft der Schulen sein … Denn nur durch Reden lernen wir sprechen … Wahrheit, Wahrheit bilde unsern Ausdruck auch im Ton der Stimme … Die Rede hat ein weites Reich von Gegenständen, Gesinnungen, Leidenschaften, Empfindungen, Zuständen der Seele usf., deren Ausdruck sie zu schaffen und auf die mächtigste angenehmste Weise darzustellen hat. Daß sie dieses zu tun vermöge, dazu gehört Übung. Lesen heißt diese Übung; aber ein Lesen mit Verstand und Herz, ein Lesen im Vortrage jeder Art, und neben ihm eigene Komposition und ein lauter lebendiger Vortrag derselben … Dies laute Lesen, auswendige Vortragen bildet nicht nur die Schreibart, sondern es prägt Formen der Gedanken ein und weckt eigene Gedanken; es gibt dem Gemüt Freude, der Phantasie Nahrung, dem Herzen einen Vorschmack großer Gefühle, und erweckt, wenn dies bei uns möglich ist, einen Nationalcharakter.«[3] – Man staunt, daß es beinahe anderthalbhundert Jahre brauchte, ehe so einleuchtende Gedanken anfangen, Gemeingut der Lehrer zu werden!

Ein zweites Beispiel zum Beweise dafür, daß wir die alten Pädagogen nicht unterschätzen! Der alte Pestalozzi behauptete, daß er während 30 Jahren kein Buch mehr gelesen habe. Jetzt rechnen ihm zwar Gelehrte nach, daß das nicht genau stimme: Er habe doch dann und wann noch gelesen – mag sein. Jedenfalls war er in seinem Denken so selbständig, als ob vor ihm außer etwa Rousseau niemals ein Mensch über Erziehung geschrieben hätte. Er selbst32 verfuhr also ganz unhistorisch, und deshalb vielleicht kam er auch so weit. Deshalb aber waren ihm die Zünftler auch so gram. Schade, daß sie sich ihm nicht mit Haut und Haar verschrieben. Hätten sie es getan, so wären wir heute mit unserem Erziehungs- und Schulwesen viel weiter. Wir hätten dann den ganzen undeutschen Neuhumanismus nicht erlebt, hätten die jetzt vor allen von Professor P. Natorp in Marburg unter Berufung auf Pestalozzis geniale pädagogischen Lehren und Taten wissenschaftlich sicher begründete »Sozialpädagogik« in Deutschland schon durchgeführt; hätten damit eine einheitliche nationale Schule; brauchten nicht erst wieder da einzusetzen, wo Pestalozzi aufhörte.

Unser neuester pädagogischer Kurs geht nämlich endlich, endlich unter der Flagge des »nationalen Humanismus« – man sollte dafür lieber mit zwei guten deutschen Worten der »deutschen Bildung« sagen – Der Weg zur deutschen Bildung führte bekanntlich über Palästina, Athen, Sparta und Rom und kehrte dann im großen Bogen wieder zu Pestalozzi zurück – aus jenen Bahnen, die man vor 100 Jahren eben auf Anraten meiner im übrigen auch von mir hochverehrten engeren Herren Kollegen von der klassischen Philologie betreten hatte, nämlich des großen Latinisten Johann August Ernesti (1707–1781) – der Mann soll den ganzen Cicero auswendig gewußt haben, war deshalb der geborene Erzieher der deutschen Jugend –, der nicht minder großen Gräzisten Christian Gottlob Heyne (1729–1812), Friedrich August Wolf (1759–1824) und anderer großer von Lessing und Winckelmann in den sonnigen Süden entführter Geister. Ach, ja: »Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen.«

Dort suchte man echte Humanität, fand auch so was Ähnliches, es erwies sich aber trotz aller erdenklichen Mühe schließlich doch als unbrauchbar für unsern rauhen und grauen Norden. Das einzusehen bedurfte es leider mehr als dreier Menschenalter. Ein witziger Kopf hat einmal gesagt: »In Deutschland braucht man hundert Jahre, etwas Verkehrtes einzuführen; zweihundert Jahre, es wieder abzuschaffen.« Der Mann scheint recht zu haben. – Außerdem hatte man ja zu Hause schon seine bodenständige echte Menschlichkeit und ›Bildung‹ – Pestalozzi selbst hatte dieses Wort erst geprägt –, und das ist eben auf gut deutsch dasselbe, was so gelehrt33 mit Humanität bezeichnet wird, nur daß man diese heimische Bildung nicht nach Gebühr achtete und trotz Pestalozzis eindringlichen Lehren nicht gehörig pflegte.

Jetzt also macht man in Deutschland zum zweiten Male die überraschende Entdeckung, daß dem deutschen Volke eine deutsche Erziehung und deutsche Bildung angemessen sei. Es geht uns wirklich wie dem Knaben des Märchens, der in die Fremde zog, um das Glück zu suchen. Die Verirrung liegt aber vielleicht weniger bei den Gründern des Gymnasiums, als bei dessen Ausgestaltern, eben bei jenen »Provisoren alles Giftes«. Das Gymnasium hatte es ursprünglich auf ein Allerweltswissen gar nicht abgesehen, auch nicht auf Gelehrtenkultur, sondern auf – Menschenbildung, und zwar mittels der lateinischen Sprache, die eben damals noch als internationale Gelehrtensprache unentbehrlich war.

Ich berufe mich auch hier auf einen als Gelehrten wie als Erzieher und kerndeutschen Mann allseits Anerkannten, den verstorbenen Dr. Rudolf Hildebrand, Professor für Germanistik an der Universität zu Leipzig, den ich schon oben nannte. Dieser drückte vor 20 Jahren schon sein Bedenken gegen das herrschende deutsche Schulwesen in den Worten aus: »Was gerade jetzt zu bessern ist, das ist wohl auch im allgemeinen klar genug, wenn man nur auf die Stimmen hört, die immer lauter ertönen auch aus den Kreisen unbefangenster und wohlwollendster Beobachter, von Leuten, die froh und frei genug stehen im Geiste, um den rechten Weg und das rechte Ziel finden zu helfen. Fast macht das Ganze den Eindruck, daß man beim höheren Unterricht, auf Gymnasien wie Realgymnasien und selbst auf höheren Töchterschulen, bewußt oder unbewußt, gewollt oder ungewollt, und nur vom Zuge der Zeit mitgetrieben, das als Ziel annimmt, daß es da gelte, kleine Gelehrte zu bilden, nicht – Menschen, was noch in meiner Schulzeit auch für das Gymnasium eigentlich das Ziel war aus der Überlieferung des vorigen Jahrhunderts, ja aus dem 16. Jahrhundert her, wie schon in dem alten Stichwort humaniora trefflich und kräftig ausgesprochen ist: ›mehr Mensch‹ zu werden war das Ziel. Das schöne Wort wird ruhig noch mit fortgeführt im Hausrat der gelehrten Schulen, gleicht aber nun wirklich mehr einer alten Kiste, die im Winkel steht mit Sachen aus dem Haushalt der Großeltern. Die Zeit ist da, eigentlich nicht lange34 erst, auf einen verhängnisvollen Irrweg geraten, von dem man wird umkehren müssen, es fragt sich nur, wieviel Schaden der Gesundheit der Nation, der äußeren und der innern, noch geschehen soll bis zur entschlossenen Umkehr. Lasse man die Gelehrsamkeit der Universität, die wahrlich für ihre schwere Arbeit nichts nötiger braucht, als gesunde ganze Menschen, wie unsere Zeit überhaupt, und diese müssen ihr die Gymnasien liefern.«[4]

Freilich, wenn man so früh sein Vaterhaus verläßt, sich in der Fremde herumtreibt und dort sein Herz vertändelt, dann wird man mit der Zeit heimatlos, fremd im eigenen Vaterhause und muß sich nachher bei alten Leuten erkundigen, wie es in älteren Zeiten eigentlich darin gehalten wurde.

Aus diesem Grunde wird es auch hier ohne historische Rückblicke leider nicht ganz abgehen. Es fehlt uns eben eine stetige, ununterbrochene Tradition im Schul- und Erziehungswesen, wie sie meines Wissens die glücklicheren Engländer seit den Zeiten Humes haben.

Den wahren, letzten Grund aber, weshalb ich so scheu an die historischen Vorbilder herangehe, habe ich noch immer nicht verraten. Nun muß er endlich doch ans Licht: »Die Menschen lernen nichts aus der Geschichte – nichts, rein gar nichts!«

So wenig ein junger Mann seine Lebenserfahrung vom Vater und Großvater ererbt, ebensowenig wollen sich ganze Völker von früheren Geschlechtern das Leben vorleben lassen. Jeder Mensch, jedes Volk will seine eigenen Dummheiten machen und am eigenen Schaden klug werden.

(Zwischenruf: »Na, erlauben Sie mal!«)

Was ich hier gesagt habe, habe ich im vollen Ernste gesagt und kann es beweisen:

Vor mehr als 100 Jahren entdeckten Winckelmann, Lessing und Goethe den harmonischen Menschen, den Normal- und Idealmenschen in den altklassischen Hellenen. Hier sahen sie alle menschlichen körperlichen und geistigen Anlagen durch eine gleichmäßige Ausbildung zu herrlicher Entfaltung gebracht. Nun meinst du, liebwerter Mitbürger, natürlich, daß diese schöne Erkenntnis zu einer entsprechenden Tat geführt habe.

35

Ja, das meinst du in deinem törichten Laienverstande. Da kennst du aber die Menschen schlecht, kennst vor allem die geistigen Oberpriester nicht, die bei uns Kultur machen!

»Aber, mein Gott! Sie sagten doch eben selbst, daß man die rechten Vorbilder der Menschheit gefunden habe? Fehlte es vielleicht an einer Anleitung, wie man eine solche menschliche Vollkommenheit erreichen könne?«

»I, Jott bewahre! Man hatte ja die Bücher, in denen genau berichtet wird, wie die Athener, wie die Spartaner ihre Kinder zu schönen, gesunden, heiteren, kunstsinnigen, glücklichen, tapferen, vaterlandsliebenden Männern und Frauen heranbildeten.«

»Hatte man diese Bücher? So richtete man sich also nach ihnen? Erzog die Kinder nach diesen Anweisungen?«

»I, Jott bewahre! Das muß man ganz anders machen. Sehen Sie, mein Lieber: die Griechen sprachen und schrieben doch Griechisch, nicht wahr? Also muß man doch vorerst ihre Sprache, Griechisch, lernen, um diese Anweisungen lesen zu können, nicht wahr? Aber damit nicht genug. Es muß doch auch aus der alten Geschichte erst der Nachweis erbracht werden, daß, wo, wann, wie, warum, wie oft, wo nicht, wann nicht, wie nicht, warum nicht, wie oft nicht diese Tüchtigkeit der altgriechischen Erziehung sich bewährte – nicht wahr? Man mußte doch alle die Männer auf – ides, – iades, – on und – kles gleichsam von Angesicht zu Angesicht kennen lernen, mußte ebenso die Orte, Städte und Felder bei Namen kennen lernen, wo sich ihre Tüchtigkeit bewährte, nicht wahr? Wir können doch nicht weiter kommen, wenn unsere Knaben von Plataeae, Aegospotamoi, Kunaxa, von den Arginusen, vom Eurymedon, von Tanagra, Sphakteria und Kynoskephalae nichts wissen?«

»Ja, aber –«

»Bitte, kein ›ja aber‹! Die Sache ist völlig klar. Es gehört die ganze Zeit, Kraft und Energie einer Jugend dazu, um die alten Sprachen nach jeder Richtung hin und ebenso die alte Geschichte so beherrschen zu lernen, daß man in ihr seine geistige Heimat findet.

Deshalb richtete man ja doch nach griechischem Vorbilde Gymnasien ein. Sie wissen, γυμνὸς heißt nackt, γυμνάσιον heißt ein Ring- oder Turnplatz für nackte Knaben; deshalb nannte man diese36 Schulen humanistische Gymnasien, weil eben in ihnen diese altgriechische allseitige menschliche Ausbildung, diese Harmonie des Lebens erreicht werden sollte.«

»Ja, turnen denn da die Kinder wirklich nackt? Ringen, springen, singen sie darin frisch umher?«

»Nein, das nun eben nicht. Aber die beschäftigen sich doch mit dem Studium jener alten vorbildlichen Welt und das gibt ihnen eine geistige Gymnastik von unschätzbarem – – –«

»Geistige Gymnastik? Also eine Art geistigen Nacktturnens? – – – Gestatten Sie mir gütigst, das für einen kleinen Blödsinn zu erklären.«

»Eine Stählung des Willens, gleichsam ein geistiges Jungbad, ein Sichemporrecken nach idealen Vorbildern« – –

»Bei uns hatte sich mal ein Primaner in der Klasse, wohl nach idealem Vorbilde oder weil's sehr heiß war, Schuh und Strümpfe ausgezogen. Himmel, gab das eine Berammelung! Den ›respektlosen, unsittlichen, verkommenen Burschen‹ hätten sie beinahe ins Zuchthaus gebracht. Und dabei war's doch in der Homerstunde geschehen! Hihihi!« – –

»– Ein unausgesetzter Kampf mit den Schwierigkeiten der Sprachen, in denen die Weisheit und Schönheit jener alten Welt verschlossen liegt – –«

»Und wenn einer heute seine nackte Schönheit zeigen wollte, dann steckt ihr ihn in Arrest? Müßten mal bei so einem echten Sophokles-Direktor die Primaner völlig nackicht antreten! Na, Badehose möchte noch gestattet sein. Hihihi!«

»Bitte, so lassen Sie doch endlich Ihre faden Bierzeitungswitze und ihr läppisches Gelache! – – Die Weisheit, sagte ich, und Schönheit verschlossen liegt – – Und eben durch diesen Kampf endlich ein siegreiches Gelingen, über das dann in den Abschlußprüfungen, dieser unersetzlichen Kraftprobe, Zeugnis abgelegt wird.«

»Ja, sind denn die Geprüften dann, die armen Hasen, die aus den alljährlichen Herbstbürgerjagden zwar noch mit dem Leben davonkommen, aber mit zahlreichen Schroten im Pelze, mit unvergeßlicher Angst im Herzen, sind das dann wirklich nun die glücklichen, gesunden Normalgeschöpfe? Das wäre doch das Entscheidende. Wird man denn wirklich stark, froh, schön, gesund und37 mannhaft, wenn man in Büchern jahrelang nachliest, wie andere dazu gekommen sind? Ich sollte meinen – verzeihen Sie einem Laien eine solche, wohl etwas dreiste Bemerkung – ich sollte meinen, man müßte lieber die Bücher zuschlagen und die Kinder einfach auch nackt umherspringen, sich tummeln und in jedem Wettkampfe üben lassen.«

»Ich bitte Sie, mein Freund, lassen Sie solche törichte und rein barbarische Ketzereien keinen anderen altklassischen Philologen hören, sonst –«

»Ja, – sagen Sie einmal selbst, aber, bitte, ganz ehrlich: habe ich denn nicht recht?«

»Im Vertrauen und ins Ohr gesagt: Ja, natürlich haben Sie in einer gewissen Hinsicht recht, vollkommen recht– gewissermaßen, nur –.«

»Was! Ich habe recht? Ja, zum Donnerwetter noch einmal, weshalb quält und vermurkst man mir denn dann meine armen Buben so elendiglich mit dem alten Schulkram? Weshalb dulden denn das die Eltern? – –«

»Ruhe, Ruhe, mein Lieber! Vergessen Sie nicht, wo wir sind! Wir leben in Deutschland, in Preußen. Wir sind preußische Untertanen, nicht athenische Vollbürger. Die Erziehung unserer Kinder liegt in der Hand des Staates, der mit Umsicht und –«

»Ach was, Umsicht? – mit Unsinn …«

»Mein Verehrtester, seien Sie vorsichtig! Bitte, vergessen Sie nie, daß wir mit Erregung und Leidenschaft in solchen Fragen nicht weiter kommen. Also Ruhe, mein Lieber, Ruhe, Mäßigung, Besonnenheit! Wenn unsere weisen Behörden, beraten von den erfahrensten und gelehrtesten Männern der pädagogischen Wissenschaft, wenn sie, gestützt auf die Erfahrung einer jahrhundertjährigen Schul- und Erziehungspraxis, mit Ihren Kindern so verfahren, so werden Sie sich, als ein schlichter Mann des Volkes, dem doch zu fügen haben, werden nur darauf halten, daß alle Anordnungen der Schule auch stets pünktlich und gewissenhaft –«

»Ja, mein Gott, bin ich denn der Büttel der Schule? Sind es denn meine Kinder oder die Kinder des Kgl. Provinzial-Schulkollegiums!? Wie? Was? – –«

»Mein Herr! Ich muß Sie doch um Mäßigung bitten, muß Sie auch bitten, auf meine Standesehre Rücksicht nehmen zu wollen!«

38

»Auf was für 'n Ding?«

»Auf meine Standesehre! Als staatlich angestellter wissenschaftlicher Lehrer, auch als Vertreter meiner altphilologischen Kollegen muß ich Sie bitten, sehr dringend bitten, alle Bemerkungen zu unterlassen, durch die etwa die Ehre dieses Standes, die auch ich zu vertreten habe, – –«

»Mein werter Herr Oberlehrer, vertreten Sie sich doch, was Sie wollen! Wenn ich aber für meine lieben Buben eintrete, so soll daran kein Mensch ein Ärgernis nehmen. Liegt darin etwa schon eine Herabsetzung Ihrer Person oder Ihres Standes? Ich verstehe Sie tatsächlich nicht. Nichts lag mir ferner, als Sie kränken zu wollen oder nun gar den angesehenen, mit Recht hochangesehenen Lehrerstand herabzusetzen. Die Herren tun ja auch nur schlecht und recht ihre Pflicht, wie der Dienst sie ihnen vorschreibt. An deren Ehre kann doch wohl mein ja vielleicht etwas übereiltes Wort nicht heranreichen. Ist denn diese Ihre Standesehre ein gar so gebrechlich Ding, daß sie ein leiser Hauch aus meinem Munde schon bedrohen kann? Ich denke, Herr Oberlehrer, wir sprechen uns hier offen und ehrlich aus und wollen uns doch gegenseitig nichts weis machen, nicht wahr? Wir brauchen, dachte ich, als deutsche Männer uns gar so zart nicht anzufassen. Die Hauptsache ist doch wohl, daß wir uns gegenseitig verständigen. Und wenn wir hier über Erziehungsgrundsätze verhandeln, so hat das mit der Ehre oder Unehre keines Menschen was zu schaffen, keines einzigen, auch keines Standes. Das erst recht nicht! Aber, Herr Oberlehrer, Sie widersprechen. –«

»Ich breche ab! Ich sehe, Sie sind nicht zu belehren.«

»Na, Sie aber ooch nich, mein verehrtester Herr Ober – Ober – Oberlehrer!! Sie altklassischer Philologe, Sie!«

»Mein Herr, ich verbitte mir alle Injurien!«

»Schon recht, ich gehe ja schon, Sie oller Qu – –«

»Gut! Ich werde mich beim Königlichen Provinzial-Schulkollegium über Sie beschweren, verstehen Sie?«

»Wacker! Tun Sie das! Und fahren Sie fort, meine Knaben fleißig zur Mannhaftigkeit zu erziehen! – zu echten, wahren, klaren, aufrechten deutschen Männern zu erziehen! Adieu!«


39

»Empörend! Es wird wirklich alle Tage unerträglicher. Tagsüber macht man in Tricotagen und frischen Importen und abends hält man einem alten Gymnasialprofessor pädagogische Vorträge.«

Nun möcht ich blos wissen, weshalb unser einer jahrelang studiert, seine Examina gemacht hat, ein Probejahr, fünf hungrige Hilfslehrerjahre und dann zwanzig weitere Jahre unter strenger Aufsicht geschulmeistert hat, wenn jeder Spießer es besser versteht und einem belehrende Vorträge halten will! Leiden aber kann uns niemand.

Unglaublich, was man sich als Lehrer bieten lassen muß! – Was dabei das Schlimmste ist: die Leute haben nicht einmal so unrecht. Noch schlimmer ist nur noch eines: wenn man nämlich versucht, eigenen gerechten Wünschen und denen des Volkes in seinen vernünftigen Vertretern nachzugeben, so bekommt man es mit der Behörde zu tun, die nicht liebt, daß einer sich Extratouren erlaube. Zwar verkündet man von oben herab mit feierlichen Worten, daß der Lehrer sich freier bewegen und nicht eingeengt fühlen solle, zwar haben wir oben Männer von weitestem Blicke – ich nenne nur Matthias und den einflußreichen Wilhelm Münch –, aber, wenn – – wenn man einmal wagt, diese schönen Worte wahr zu machen, dann – dann – – – ja, Bauer, dann ist das ganz anders gemeint! – – Dann –

»Doch birst mein Herz, denn schweigen muß der Mund!«

Nun, es kommt hoffentlich auch ein Tag, der das Reden zur Pflicht machen wird. Ich werde bis dahin mich begnügen, auf Wilhelm Münchs schönes Buch »Eltern, Lehrer und Schüler in der Gegenwart«[5] hinzuweisen. Das ist einer von den wenigen, die nach allen Seiten hin gerecht sein wollen. Was er zum Schutze von uns Lehrern schreibt, das sollte jeder lesen, der überhaupt über uns und unsere Arbeit zu sprechen wagt. Er wird dann erkennen, daß die Vorwürfe, die den Lehrern gemacht werden, deshalb zum großen Teil ungerecht sind, weil diese selbst nur die unfreien Werkzeuge eines höheren Willens sind. Ich muß hier Münch selbst zu Worte kommen lassen, denn was er Seite 58 sagt, das ist Wort für Wort zutreffend und wert, laut in die Lande hineingerufen zu werden.

»Es ist nicht bloß die moralische Situation, die dem Lehrer40 Gefahr bringt, sondern auch die physische. Was es heißt, eine Reihe von Unterrichtsstunden in lebendigem Tempo, mit gleichzeitig voller Aufmerksamkeit auf den Lehrstoff und seine Entwicklung, auf Form und Sprache, auf das äußere Verhalten aller der zahlreichen Schüler, auf die angemessene Heranziehung der einzelnen usw. gut zu geben (und lässig gegebene Stunden werden immer weniger geduldet und seltener gefunden), was es auch heißt, sich überhaupt mit vielen Menschen zugleich in einem inneren Rapport zu fühlen, wie das zwar zunächst anregend, auf die Dauer aber reizend und überreizend wirkt, wer das weiß, der wird billiger urteilen, als es üblich ist. Noch sind – gerade in Preußen und den ihm in Schulsachen sich anschließenden deutschen Staaten – den Lehrern auf den höheren Schulen so viel wöchentliche Unterrichtsstunden auferlegt, daß sie in Verbindung mit der sehr bedeutenden Vor-, Nach- und Nebenarbeit des Amtes und in Verbindung namentlich mit den gegenwärtigen Anforderungen an Straffheit des Unterrichts eine ruhig freie Lebensstimmung nicht leicht bestehen lassen. Die didaktisch tadellosen Stunden, die man nun verlangt, lassen sich um so eher verwirklichen, je weniger dicht sie aufeinander folgen sollen.« (Und doch darf es vorkommen, daß ein einzelner älterer, zudem kranker Lehrer unausgesetzt drei Stunden hintereinander Probelektionen halten muß!?) »Und ebenso kann jene ruhige und freie Stimmung, das Erhabensein über alle Gereiztheit, Ungeduld, Unfreudigkeit eigentlich nur bei einem verhältnismäßig freien, einem nicht allzu unfreien Leben gedeihen.« Vortrefflich!

»Die Ferien sind natürlich der Jugend wegen eingerichtet, die man doch noch nicht immer anspornen, einengen und zwingen will, die zu Zeiten noch sich selbst und ihrem Spiel soll leben dürfen; aber wenn die Ferien nicht da wären, würden die Lehrer alle an nervöser Überreizung zugrunde gehen. (Sehr richtig!) Im ganzen würden minder belastete Lehrer nicht bloß den Stand besser vertreten und heben, sondern auch als um so viel geeignetere Erzieher sich bewähren. Das Erziehen muß man nicht fabrikmäßig betreiben sollen. Jetzt kommt bei der Schulerziehung wirklich viel Fabrikware heraus. (Also doch!) Aber daran sind weder die Werkmeister, noch die einzelnen Arbeiter schuld, sondern die Organisation.«

Wenn also zugestandenermaßen die Organisation nichts taugt,41 so ist es doch wohl Pflicht, diese Organisation zu ändern. Auch sonst erkenne ich aus Münchs Buch, obschon es hier und da auch gegen mich gerichtete Spitzen haben mag, daß er die Berechtigungen unserer Reformvorschläge vielfach zugibt. Er klagt über ›gigantische Einseitigkeiten‹ und über die Heftigkeit der Polemik. Man kann ihm getrost in beiden recht geben und doch bei der alten Taktik verbleiben, die sich bewährt hat. Denn sie hat schon gute Erfolge zu verzeichnen. Wenn die Presse einem so festgefügten Organismus gegenüber, wie es unsere staatliche Schule ist, irgend etwas ausrichten will, so muß sie ihren Angriff mit gesammter Kraft auf deren schwächste Stellen richten. Daß bei einem solchen Sturme unnütz viel geschossen und Hurra gebrüllt wird, ist auch ein Stück allgemeiner Lebenserfahrung, die den weltweisen Münch nicht verwundern sollte.

Zieht man die Summe seiner so ruhig abwägenden Betrachtungen, so gewinnt man die unleugbare Überzeugung, daß er im wesentlichen die Berechtigung unserer Beschwerden anerkennt, daß er seine bedeutende Kraft gerne mit einsetzt, um bessere Zustände herbeizuführen. In welcher Tonart ein jeder seine Musik machen will, das überlasse man getrost seiner eigenen Natur. Besonders würde es nutzlos sein, einen vor Schmerzen Schreienden darüber freundlich belehren zu wollen, daß er zu laut sei.

Ich halte es für einen großen Gewinn unserer neuen Zeit, daß man in ihr wieder Naturlaute zu hören bekommt.

Was mich selbst betrifft, so lege ich mir nur den Zwang auf, den Kampf nicht ins Persönliche hinübergleiten zu lassen, im übrigen bekenne ich mich möglichst wahr, ehrlich und ohne jegliche Pose und glaube, so komme ich am weitesten. Die Gründe werden zwar nicht zwingender, wenn man sie laut vorträgt, aber sie werden dann doch gehört. Und wenn man es mit Schwerhörigen zu tun hat, bleibt einem nichts anderes übrig, als sein Organ anzustrengen.


42

IV.
Befähigungsnachweis.

»Heiße Doktor und Magister gar
Und ziehe schon die dreißig Jahr –«

Meine Leser werden aber gemerkt haben, daß mir trotzdem die Frage Sorge macht, ob ich, da ich eben »nur« Lehrer und Staatsbürger, nicht Staatsmann bin, auch den Beruf dazu habe, in einer so ernsten nationalen und politischen Angelegenheit öffentlich zu sprechen und Kritik zu üben. Daher mein vielleicht vergeblicher Versuch eines Befähigungsnachweises. Der Deutsche braucht einen solchen, sonst ist ihm selbst nicht wohl und sicher zumute. Es ist das ein Stück deutscher Gewissenhaftigkeit, die sich freilich ins Philisterhafte und ins Chinesentum auswächst. Man empfindet auch das Lächerliche und Hemmende dieses Zustandes immer deutlicher und gibt ihm lauten Ausdruck.

»Leider ist es ja wahr,« sagt Heinrich Steinhausen, »daß immer noch Menschen unter uns etwas sein und etwas bedeuten wollen, die keine Berechtigungs- und Abgangszeugnisse aufzuweisen haben, wie das jüngst von Literaten, Schriftstellern, überhaupt Federherren bekannt geworden ist. Aber Ausnahmen bestätigen die Regel und die ist und bleibt: Ohne Schein kein Sein, ohne Schule kein Schein, also ohne Schule kein Sein, sondern das Nichts. Dieser Schluß ist demantfest.« Immer wieder, schreibt die »Neue freie Presse« in Wien, wird der Versuch gemacht, den Spielraum des Talents durch Befähigungsnachweise einzuengen, durch ein System von Prüfungen, durch einen geregelten Stufengang. Der Gewerbsmann will durch die Kautelen des Befähigungsnachweises sich den Konkurrenten vom Halse schaffen, den Lebenskampf, in dem nur der Tüchtigste besteht, mildern. Der Staat erzieht sich durch ein kompliziertes System von Prüfungen seine Beamten, schreibt ihnen43 den Studiengang vor und läßt sie langsam von Stufe zu Stufe vorrücken. Das Leben wird reglementiert und in bestimmte Ordnungen gezwängt. Aber es gibt etwas, was stärker ist als alle diese Beschränkungen: das ist das Talent. Es braucht einen gewissen Spielraum zu seiner Entwicklung, es gedeiht am besten in der Freiheit, mitten im vollen Leben. Gerade die stärksten Talente werden den Drang in sich fühlen, von den markierten Wegen des Lebens abzuweichen und sich durch Gestrüpp und Wildnis einen Weg zu bahnen. Dieser Kampf mit dem Leben, dem man Aug ins Aug blickt, diese Auserprobung aller Kräfte, dieses mutige Ringen erzieht kräftige, energische, kühne Menschen, und solche sind es, die das moderne Leben braucht, dessen Schauplatz so weit geworden ist, dessen Aufgaben so groß und mannigfach sind.

Wir verlangen aber in Deutschland nach wie vor, daß einer erst seine Papiere vorzeige, ehe wir ihn hören und ihm glauben wollen. Die Amerikaner tun das nicht und kommen damit schneller voran. Sie sehen sich den Mann, sehen sich seine Arbeit an und danach urteilen und entscheiden sie.

Keine Frage, daß unser ganzes Berechtigungswesen veraltet und verzopft ist. Dabei wuchert es aber gerade jetzt in beispielloser Üppigkeit. Es werden dadurch eine Menge bester Kräfte lahmgelegt und – was vielleicht noch schlimmer ist – es werden die durch ihre Examen Privilegierten unmäßig überschätzt und dadurch zu selbstbewußt und viel zu einflußreich.

Aus allen Berufsklassen bleiben fähige Köpfe allein deshalb ausgeschlossen, weil sie den üblichen Instanzenweg der Fachbildung nicht durchgemacht haben. Überall steht ihnen der anspruchsvolle Fachmann im Wege, der seine Zeugnisse und sonstigen Papiere in Ordnung hat, dabei aber eine Null sein kann, eine dicke, fette, korrekte, runde Null, und oft auch ist. Die Abgestempelten sind nicht immer die wahrhaft Großen. Es läßt sich auf jedem Gebiete des Kulturlebens nachweisen, daß es in der Regel die Außenstehenden, die Nichtfachmänner sind, die den Fortschritt bringen. Sieht man z. B. die Geschichte der Pädagogik durch, so findet man das mit Staunen bestätigt. Die Bahnbrecher waren fast sämtlich ungeprüfte Leute, ohne Staatsexamina, ohne »Fakultäten«, überhaupt ohne eine amtliche Lehrberechtigung. Man denke an Hume, an Rousseau, denke vor44 allem an Pestalozzi. Dieser seltene Mann, der Theologe, dann Jurist werden wollte, es später als Landwirt versuchte, rief erst im vierzigsten Lebensjahre das entscheidende Wort: »Ich will Schulmeister werden!« – Keine Behörde im heutigen Deutschland würde eine solche »gescheiterte Existenz« mit irgendeinem Lehramte betrauen. Er müßte sein Heil als Literat versuchen und würde auch da schwer Gehör finden, schon weil er keine Examina hinter sich hat.

Heute verzeihen es die waschechten Zünftler dem Literaten nicht, daß er im großen Stile über Erziehung zum deutschen Volke zu sprechen wagt, wenn er vorher »nur« Volksschullehrer war. Der echte Fachmann belächelt solchen Übermut und weist den Gedanken weit von sich, als könne er von einem solchen Menschen etwas lernen. Die Folge ist, daß der selfmademan – außer auf dem rein wirtschaftlichen Gebiete – fast gar nicht vorkommt. Jammerschade! Denn das sind die Besten! Da kommen wir wieder auf unsere Mannhaftigkeit. Es ist unmännlich, feig und kurzsichtig, daß wir stets »Schriftliches« verlangen, um einen Menschen gelten zu lassen. »Auch noch Geschriebenes forderst du Pedant?« Der beste Befähigungsnachweis ist die Tat.

Maximilian Harden war Schauspieler. Darauf wurde er Literat. Auf diesem Boden herrscht noch gottlob freie Konkurrenz. Da kann sich ein Talent seinen Platz noch selbst bestimmen, braucht sich nicht von irgendeinem breitschultrigen Vordermann Licht und Luft und alle Entwicklungsmöglichkeiten rauben zu lassen. Von der Kunstkritik ging er über zur Politik. Heut ist er eine Macht auf beiden Gebieten. Wer hat ihn dazu gestempelt?

Seine Worte finden Widerhall in ganz Deutschland und darüber hinaus. Wen er haßt, der sorge dafür, daß er nur bald in Sicherheit komme, sei er ein Dichter oder ein Minister. Natürlich wurde auch ihm von den zünftigen Zeitungsschreibern arg zugesetzt, aber sie hatten doch keine gesetzlichen Mittel, diesen »Eindringling« von einer Tätigkeit auszuschließen, zu der er – wenn einer – den inneren Beruf hat. Anfangs witzelte man natürlich über den »frechen Preßbengel« – Mannhaftigkeit gilt bei uns bekanntlich als Frechheit – jetzt sehen wir ihn umworben von all den Mächten, die man als »tonangebend, maßgebend, autoritativ« oder wie sonst ehrend bezeichnet.

45

(Große Ursachen – kleine Wirkungen.)

Was uns Harden jüngst mitgeteilt hat, das war für mich mitbestimmend, ja geradezu entscheidend für diese Schrift. Mit Schaudern las ich nämlich die Enthüllungen über die Amtstätigkeit des Herrn von Holstein. Da erfuhren wir, daß ein dem deutschen Volke unbekannter, aber amtlich abgestempelter Mann im Ministerium saß und von da aus das Wetter in Deutschland und Europa machte. Er wünschte auch Krieg mit Frankreich, meinte, daß die Marokkofrage zum Ausbruch Gelegenheit bieten müsse und arbeitete höchst gefährlich auf dieses Ziel hin. Ein dunkler Ehrenmann, nein, ein Giftmischer, der sich

»in Gesellschaft von Adepten
In die schwarze Küche schloß,
Und nach unendlichen Rezepten
Das Widrige zusammengoß.
– – – – – – – – – – – –
Hier war die Arzenei –
Die Patienten starben,
Und niemand fragte, wer genas.

So hat dieser Mann

– – mit höllischen Latwergen
In diesen Tälern, diesen Bergen
Weit schlimmer als die Pest getobt.«

Diesem Manne also hätten wir beinahe einen Krieg mit den verbündeten Engländern und Franzosen zu danken! So Ungeheuerliches wagt bei uns ein angeblich dazu »Beamteter«!

Gut, sagte ich mir, wenn es in Deutschland möglich ist, daß ein einzelner Mann das Leben und Lebensglück von Hunderttausenden, den Bestand unseres Reiches und unseres ganzen Volkes so leichtfertig aufs Spiel zu setzen wagt, wenn er sich durch seine Examina und seine amtliche Tätigkeit den »Befähigungsnachweis« zu einem solchen Verbrechen glaubt erworben zu haben, dann kann ich wahrhaftig mit gutem Gewissen einer Entwicklung unseres öffentlichen Lebens entgegentreten, die solche Gefahren erst möglich macht und aufkommen läßt. Oder muß man sich seine Vaterlandsliebe und das Recht, sie zu betätigen, auch erst auf dem Amte bestätigen und abstempeln lassen?


46

V.
Bedürfnisfrage.

»Das Volk steht auf, der Sturm bricht los,
Wer legt noch die Hände jetzt feig in den Schoß,
Pfui, über dich Buben hinter dem Ofen,
Unter den Schranzen, und unter den Zofen –
Bist doch ein ehrlos, erbärmlicher Wicht!«
Körner.

Viel wichtiger als der Befähigungsnachweis ist die Bedürfnisfrage. Als Bismarck ging, war Frankreich isoliert, heute ist es Deutschland. Der Dreibund hat seine Bedeutung verloren. Darin stimmen alle unsere Politiker, die ein freies Wort wagen, mit bedauerlicher Einstimmigkeit überein. Da man mich als Politiker vielleicht nicht anerkennen wird, so lasse ich andere sprechen, deren Urteil mir am schwersten wiegt, deren Voraussagen ihr Urteil bisher am besten bestätigt haben. Ein solcher ist nach meinen Beobachtungen Carl Peters. Ich lese regelmäßig seine wertvollen politischen Aufsätze, die »Die Finanz-Chronik«, Wochenschrift für finanzielle und wirtschaftliche Interessen, in London erscheinen läßt, und bedauere stets von neuem, daß unserem Staatsdienste seine bedeutende Kraft entzogen ist.

Er schreibt am 1. September: – »Der Schwerpunkt der großen Entscheidungen hat sich in den letzten Jahren mehr und mehr von Berlin nach London verlegt. In der europäischen Politik ist die englisch-französische Entente cordiale jetzt der Rocher de bronze. – – Sie ist heute fester als je. – – Die vereinten Westmächte planen, zurzeit wenigstens, keinen Angriffskrieg gegen uns. Aber sicherlich ist es unbequem für die deutsche Politik, daß wir gegen Westen das alte gute ›divide et impera‹ so gar nicht mehr anwenden können. Die Algeciras-Konferenz ist ein kleines Vorspiel für das, was wir in der kommenden Zeit von internationalen Kongressen zu erwarten haben: ›Einer gegen alle‹ ist stets ein gefährliches Spiel. – – Eine Umwandlung der konservativ-slawischen Großmacht in einen47 liberalen oder gar republikanischen Staat wäre eine direkte Gefahr für unsere internationale Stellung. – – Erst ein konstitutionelles Rußland wird Ernst machen mit der französischen Allianz und mit der britischen Entente. Deshalb war das Wort des britischen Premierministers: ›la Douma est morte; vive la Douma!‹ kein bloßer Einfall, sondern ein wohlüberlegter staatsmännischer Akt. – – Damit wäre dann die Isolierung Deutschlands eine vollendete Tatsache; und unsere Feinde könnten anfangen, von einem Angriffskrieg gegen uns zu träumen. – –

Diesen Möglichkeiten und Gefahren gegenüber haben wir im wesentlichen nur unsere eigene Wehrkraft. Fortdauernd bleibt der alte Friedericianische Grundsatz für uns bestehen: ›toujours en vedette‹; oder, wie Kaiser Wilhelm es faßte: ›Wir müssen unser Pulver trocken halten‹. Das Deutsche Reich, solange es sich selbst treu bleibt, ist so stark, daß selbst das vereinigte Europa es sich zweimal und dreimal überlegen wird, darüber herzufallen. Und wenn das Germanentum (?) einer Koalition aller Weltmächte gegenüber treten müßte: unter allen Umständen würde das Ende stolz und ruhmvoll sein. Und was will eine Nation schließlich mehr! Das Dasein als solches ist nicht gerade ein absolutes Gut, für die Völker ebensowenig wie für die einzelnen.«

All dem muß man leider als richtig zustimmen, nur dem Schlußgedanken nicht, daß Deutschland nicht mehr zu wollen habe, als ein stolzes und ruhmvolles Ende.

Soviel aber ist gewiß. Unsere Zukunft hängt allein von unserer Kraft ab. Wir stehen allein, und nur Eintracht und Mannhaftigkeit können uns beschützen. Damit ist auch die Bedürfnisfrage für eine Erziehung zur Mannhaftigkeit schon beantwortet. Man könnte höchstens sagen, es geschähe schon alles Notwendige, es könne sich nur um eine gewissenhafte Beibehaltung unserer »altbewährten« Praxis handeln. Darauf ist zu antworten, daß sich diese Praxis eben zu unserem Herzeleid nicht bewährt, jedenfalls nicht in vollem Umfang bewährt.

Es kommt nicht allein darauf an, daß wir im Kampfe auf Leben und Tod unseren Mann stehen, sondern viel wünschenswerter ist es, daß wir es als ein starkes Volk gar nicht so weit, zu einer solchen nationalen Pferdekur, kommen lassen. Mit dem »rühmlich Untergehen«48 hat es noch Zeit, das pressiert nicht. Wir wollen doch lieber rühmlich leben. Tun wir das, dann wird uns und anderen der Gedanke an einen Niedergang oder Untergang gar nicht kommen. Der Starke will vom Sterben nichts hören. Erst wenn es einem hier und da zu zwicken anfängt, stellen sich die Todesgedanken ein.

Weshalb waren wir denn zu Bismarcks Tagen so lebensfroh und lebenszuversichtlich? Wir hatten damals kein größeres Heer, keine größere Flotte, keine besseren Waffen, von allem das Gegenteil, aber wir hatten dafür etwas, was alles andere aufwiegt, wir hatten große Männer an der Spitze. Jetzt erkennen wir am eigenen Staatsleibe, was ein Mann vermag, was wahrer Manneswert bedeutet: die Geschichte enthüllt es immer deutlicher, daß das Deutsche Reich die Schöpfung fast des einen Bismarck ist und lehrt uns wieder mit eindringlicher Sprache, daß es nicht die Massen, nicht Konferenzbeschlüsse und politische Organisationen sind, sondern daß es vor allem der klare Wille einzelner Männer ist, der die Welt vorwärts bringt.

Wichtiger noch als Anschaffung neuer Gewehre und neuer Kriegsschiffe ist tatsächlich eine Erziehung der Jugend zur Mannhaftigkeit. Darin hat unser Kaiser recht. Zur Mannhaftigkeit aber in dem Sinne, daß sie freidenkende, selbständig handelnde und mutvoll ihre Überzeugung wagende Männer werden. Wir haben in Deutschland zuviel »Jasager«, zu viele in ihrer Jugend schon gebrochene Existenzen, zu viele treue Diener, zu viele »brave« Beamte, zu wenig Männer.

Hätte Bismarck sich mit dem Ruhme begnügt, ein gehorsamer Fürstendiener zu sein, so hätten wir kein Deutsches Reich. Alle großen Fortschritte der preußisch-deutschen Entwicklung hat er seinem mit Hingabe geliebten königlichen Herrn abtrotzen müssen. Wir haben die Überzeugung, daß heute kein Mann in Deutschland lebt, der ihm in gleicher Stellung einen solchen Mannesstolz nachleben würde. Das ist der springende Punkt! Im Felde versagt kaum einer.

Es leben im deutschen Heere »Leonidasse« und »Pelopidasse« zu Dutzenden, zu Hunderten, ja, ich glaube, zu Tausenden. Sprechen wir doch nicht weiter von einer Tugend, die auch den Mamelucken ziert! Es handelt sich um etwas viel Höheres, als um brutale Gewalt, als um den Mut der Verzweiflung eines in seiner Existenz bedrohten großen Volkes.

49

Wer in dieser Hinsicht eine Kraftprobe mit unserem Volke wagen will, der wird sein blaues Wunder erleben. Aber bei Hof, in den »Ämtern« und in den Parlamenten vermißt man immer schmerzlicher, mit immer lauteren Klagen die Bismarck-Naturen, ja, selbst solche Leute, die Männer wachsen lassen.

Er hat leider wenig Schule gemacht. Genie läßt sich freilich nicht vererben, aber er selbst meinte, daß man in seinem Hause doch wenigstens ein »bißchen Vornehmheit« hätte lernen müssen. Was er darunter verstand, ist leicht ersichtlich: vor allem eben doch Mannhaftigkeit, ein offenes, ehrliches, freimütiges, tapferes Wesen, nicht etwa jene glatte gesellschaftliche Politur, jenes gleißende Nichts, das Walther von der Vogelweide sehr treffend als »geliehene Zucht« bezeichnete.

Man führt uns immer wieder auf den Wahn, als ob sich der Mannhafte nur mit Flinte und Säbel bewähren könne. Ich habe so manchen Ritter des Eisernen Kreuzes als Subalternbeamten kennen gelernt, der nichts mehr von einem Helden an sich hatte, wohl aber jenen Blick und jenes Benehmen, das uns an einen homerischen Vers erinnert (Il. I, 225). Es ist viel leichter, einen Befehl ausführen, dem Willen eines anderen folgen, als sich seine eigenen Gesetze schreiben und mit diesen zur Not einem höheren Willen auch trotzen. Wir finden viele Tausende, die ohne Zögern eine feindliche Stellung stürmen helfen, aber nur wenige darunter, die ihrem Chef offen ihre Überzeugung ins Gesicht sagen. Ja, was gäbe mancher Subalterne dafür, wenn er seinen Geheimrat einmal vor die Pistole laden dürfte! – Ihm aber widersprechen? Lieber nicht. Man hat Weib und Kind, ein Avancement steht in Aussicht, nächstes Jahr ist man mit dem Kronenorden an der Reihe, man mag sich doch nicht von allen Kollegen verachten lassen. Also, – nieder mit dem Ärger, und wenns eine Gallenkolik gibt! Lieber nichts merken lassen, still seinen Dienst tun, Zufriedenheit und Zustimmung heucheln. »Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.« Man tut halt seine sog. Pflicht und sieht nicht nach rechts und links … Oller tüchtiger Beamter!

Ein Fabrikarbeiter kündigt und geht seiner Wege. Wohin soll der entlassene Beamte gehen? Es gibt für ihn kaum einen anderen Weg als den ins Elend.

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Derselbe Geist herrscht überall, wo der Staat der dienstgebende Herr ist. Also auch in der Schule für Lehrer und Schüler.

»Das ist ja eben«, wird man mir zurufen »die hohe, sittliche, bildende, erziehliche Kraft des Staates! Wehe dem, der daran rüttelt! Das sind die Säulen, die unser Reich tragen, das ist die hohe Schule der Zucht und Ordnung. Dadurch ist Preußen und Deutschland groß geworden: das allein kann uns auch in Zukunft erhalten. Das ist unsere Macht, unser Stolz, darum beneiden uns alle Nachbarstaaten, das ist der Fels, an dem alle Bemühungen der Wühler, Nörgler, Aufhetzer, all der gewissenlosen offenen oder versteckten Vaterlandsfeinde elend scheitern werden.«

Ich kenne all diese Behauptungen so gut, weil ich sie selbst lange vertreten habe und sie jetzt von den »Stützen von Thron und Altar« ja täglich wieder hören muß – in allen Tonarten vom freundlich-belehrenden Piano bis zum polternden Furioso, selbst in erregt vibrierendem Prophetentone mit dem Posaunenklang des jüngsten Gerichtes.

»Die Botschaft hör' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.«

Ob unsere nationale Erziehungspraxis im weitesten Sinne gefaßt eine Reform braucht, darüber ist allein unser Volk in seiner Gesamtheit Richter. Und dieses unser Volk spricht immer lauter, immer vernehmlicher seine Unzufriedenheit über den herrschenden Geist unseres öffentlichen Lebens aus, fordert immer lebhafter, daß auch die Schule eine geistige Verjüngung herbeiführen helfe.

Dagegen begnügten sich bisher viele mit der wohlfeilen Auskunft, daß die Unzufriedenheit nur ein Kunstprodukt sei, erzeugt durch Verhetzung der urteilslosen Massen von selten gewissenloser Agitatoren. So denkt vielleicht noch heute der ostelbische Agrarier, so denken unsere »korrekten« Behörden, so denkt der Adel und die ihm verbündete orthodox-konservative Partei. Diese lernen auch aus der Geschichte nichts und wollen aus ihr nichts lernen, selbst wenn sie eine so eindringliche Sprache spricht wie jetzt in Rußland.

Es wird also gut sein, sie über das aufzuklären, was unser Volk – und nicht gerade die Schlechtesten unseres Volkes – jetzt beunruhigt, und was zu Reformen an Haupt und Gliedern immer unaufhaltsamer drängt.

Wir beobachten mit steigender Sorge das Anwachsen der51 Menge von wirtschaftlich und auch innerlich gebrochenen Menschen, die nicht mehr die Kraft, den Mut und den Trieb haben, nach eigener Bestimmung, eigener Überzeugung, eigenen Idealen zu leben. Wir sehen trotz aller Fortschritte im wirtschaftlichen Leben »eine ungeheure Rückständigkeit, sehen in Kirche und Schule eine schlimme Geistesverkrüppelung«, im Rechtswesen das Gegenteil von dem, was Geheimrat Prof. Dr. Gierke unserem Kaiser vortrug, daß nämlich »in der Tiefe des Volksgemütes ein felsenfestes Vertrauen auf die Gerichte unerschüttert« sei, wir sehen, daß die aufrechten und wahrhaften Männer immer weniger zu Wort kommen, daß auch in der Presse Überzeugungstreue und Mannhaftigkeit immer mehr schwinden, um einer glatten und bequemen Gesinnungslosigkeit das Feld zu räumen; sehen eine unheilvolle Trennung des im Formalismus und Bureaukratismus versinkenden amtlichen Lebens vom Privatleben; sehen eine gerade von den herrschenden Kreisen ausgehende Verflachung des Daseins, die unsere Offizierkreise und das feudale Korpsleben zuerst erfaßte und dann immer tiefer auch in die Beamtenkreise und in das begüterte Bürgertum eindrang, sehen eine von den Regierungen begünstigte Klassenwirtschaft, eine gefährlich anwachsende Zersplitterung unseres Volkes nach Konfessionen, Ständen und Kasten, sehen ein unheilvolles Regiment des Buchstaben und der Paragraphen eifrig bei der Arbeit, alles geistige Leben zu nivellieren, alle Persönlichkeit zu erdrücken. Die Menschen werden zu Maschinen herabgewürdigt, werden als Nummern in zahllosen Akten und Listen geführt, werden herz- und geistlos nach »Schema F« abgefertigt. Ein Wald von Vorschriften engt unser Leben ein und wir drohen unter Aktenpapier und in Tintenfluten zu ersticken. Alles das ertragen wir mit wachsendem Unwillen.

Wir sehen, um mit Tacitus zu sprechen, unser Volk in die Knechtschaft hinabgleiten. Byzantinismus, unmännliche Ergebenheit Würden und Titeln gegenüber, Bewunderung des äußeren Scheines, protzenhaftes Verachten aller tiefliegenden geistigen und ethischen Schätze und bei allem großtuerischen Gebahren in entscheidenden Stunden doch Verzagtheit und Feigheit. Wir haben den Eindruck, daß unsere Kultur krank, zumal daß jene berühmten »Stützen« innerlich hohl sind, wir sehen, daß dem Rechtsbewußtsein, dem Wahrheitsbedürfnisse, dem Entwicklungstriebe unseres Volkes von seiten der52 Regierungen und Behörden entgegengearbeitet wird. Wir beklagen es bitter, daß die Regierung das Volksempfinden unausgesetzt verletzt.

Während unser Volk nach Aufklärung, nach Befreiung aus überlebten Geistesfesseln ringt, wird ihm von der Regierung und einem Klassenparlamente ein reaktionäres Schulgesetz aufgenötigt, das »unsere Lehrer durch die mittelalterlichsten Verordnungen zu besseren Drahtpuppen macht«. Wir sehen, daß ein Kultusminister, den man ohne Widerspruch in der Presse »den Feind jeden Fortschrittes, den König der Dunkelmänner, den unvolkstümlichsten und volksfeindlichsten aller Minister« (Das Blaubuch 1906 Nr. 34) nennt, von unserem Kaiser sogar in den Adelstand erhoben wird.

Immer weniger kommt in einem Parlamente, das nur den Großgrundbesitzern und der Geistlichkeit zu Willen ist, der Wunsch unseres Volkes zum Ausdruck. Es ist, als triebe man »oben« geflissentlich das, was man in Österreich als »Justement-Politik« bezeichnet: »Ihr wollt für das Abgeordnetenhaus eine Wahlreform? Wollt darin auch den Mittelstand, den Arbeiterstand, die Intelligenz vertreten sehen? An die Gewehre! Laßt Kanonen auffahren!«

»Die Studenten rufen nach akademischer Freiheit? Gut, aber auch die katholischen Korporationen sollen die Freiheit haben, den Geist der Freiheit zu zerstören. »Ihr Lehrer wollt Aufklärung? Nun gerade nicht! Zurück in eure Seminare und unter geistliche Zucht!«

Nirgends beobachten wir einen Fortschritt unseres Volkes zu politischer Selbständigkeit. Im Gegenteil, wir entwickeln uns rückwärts auf einer Bahn, die zum Absolutismus führt. Immer lauter wird deshalb der Ruf nach Männern, die uns erlösen sollen.

Gibt es in Deutschland denn nur noch Hofschranzen, Ordensjäger, Karrieremacher, Streber, Gedankenlose und Untertanen? Haben wir keinen freien Bürgerstand mehr? Aber das Unerträglichste wird schon schweigend hingenommen. Paraden, Gedächtnisfeiern und anderes Schaugepränge müssen uns ein Glück vorgaukeln, das unserem Herzen fremd ist. In den wichtigsten Fragen, die unser Volk im Innersten seines Wesens treffen, versagt die Mitarbeit der sog. Intelligenz. Man ist angeblich zu guter Patriot, um der Regierung Schwierigkeiten zu machen, in Wahrheit fehlt es an Überzeugungen und an Mannhaftigkeit; es fehlt an dem Willen zur Macht.

Unser gutes deutsches Volk ist schon in Grund und Boden regiert.53 Das sind die Früchte unserer sog. guten Erziehung, die man so ehrend gar nicht benennen dürfte. Nicht Erziehung, sondern Abrichtung! Abrichtung zu stillen Untertanen und untertänigen Beamten. Von Kindheit an zum Schweigen erzogen, zum sog. Anstand, der zumeist gleichbedeutend mit Charakterlosigkeit ist, zur Botmäßigkeit, zur Bewunderung der »vorgesetzten« Einsicht, zum Gehorsam gegen all die staatlichen Machthaber in den Schulen, im Heere, auf dem Amte und der Polizei, und stets geduckt vor Höherstehenden, die den Bestand des Geldbeutels, die soziale Stellung, die öffentliche Wertschätzung des Mannes durch Gunst oder Ungunst eigenmächtig bestimmen! Dazu kommt dann die Kirche, die unter Berufung auf: Römer Kap. 13, 1 (»Eine jegliche Seele sei den höheren Gewalten untergeben; denn es gibt keine Gewalt, außer die von Gott. Die es aber gibt, die sind von Gott geordnet. Wer demnach der Gewalt widersteht, widerstehet Gottes Ordnung.« Vgl. Rußland!) stillen Gehorsam gegen die »Obrigkeit« predigt und die Feigheit noch mit einem Glorienschein umstrahlt.

Als Bismarck das stolze Wort sprach: »Wir Deutsche fürchten Gott, sonst nichts in der Welt«, gab er der Tatsache wahren Ausdruck, daß wir keinem äußeren Feinde im Felde weichen würden.

Nach seinem Rücktritte aus dem Amt wird er seine Meinung wohl eingeschränkt haben. Wir Deutschen fürchten außer Gott, ja oft mehr als Gott, unsere Vorgesetzten und das Urteil unserer Umgebung. Wir fürchten Konflikte mit den Behörden, mit den Gerichten, mit der Polizei, fürchten die Ungnade der »Maßgebenden«, fürchten die Kritik unserer Berufs- und Standesgenossen, fürchten uns sogar vor der Konsequenz unserer eigenen Gedanken und ziehen uns lieber scheu in das Faulbett des Herkommens zurück, als daß wir den Kampf in dem Staube der Arena wagten.

Die notwendigsten Schlachten auf dem Gebiete des Geisteslebens bleiben deshalb ungeschlagen, weil sich nicht genug Kämpfer dazu bereit finden. Uns erschreckt die Riesenaufgabe, daß wir uns eine neue Welt der Gedanken aufrichten müssen. Wir flicken lieber ängstlich an dem alten Bau, als daß wir beherzt zu einem Abbruch und zu dem Neubau des neuen Hauses schritten. Uns hält die Scheu vor der Tradition, die Rücksicht auf alte, zu alte »Ideale« und ihre alten Vertreter, eine unmännliche Pietät davon ab, das Gestrige abzutun54 und heute zu leisten, was uns der Tag gebietet. Wir können eine Scheinkultur nicht sterben lassen, die nur mit Kunstmitteln noch ihr mattes Dasein fristet.

Wie werden unsere Söhne später über uns urteilen? Ich fürchte, wir werden schlecht vor ihnen bestehen.

Wir fühlen ja selbst schon mit Beschämung, wie uns der Wille und die Kraft entschwunden sind, als ein selbstherrliches, mannhaftes Volk unsere Geschicke selbst zu bestimmen. Wir lassen uns regieren und benutzen nicht einmal die uns verfassungsmäßig zustehenden Rechte zur Mitarbeit. Das ist Pflichtversäumnis, denn Rechte sind zugleich Pflichten.

Bei der neuen preußischen Schulvorlage fielen die höheren Lehrer fast ganz aus. Höchst achtbarer Beamtengehorsam und das Bewußtsein, was sie sich als akademisch Gebildete schuldig sind, mag sie zu besonnener Zurückhaltung begeistert haben. Das wird sich an ihnen vielleicht noch rächen; denn man wird im Volke aufhören, sie als Vorkämpfer unserer geistigen Kultur zu schätzen. »Res ad triarios venit!« würde Cäsar sagen. »Die Volksschule vor!« so lautete auch der Schlachtruf. Kampf und Ehre wird also den Herren »Elementarlehrern« allein zufallen.

Erst spät, zu spät, um zu wirken, traten Herren der Hochschule noch ins Feld.

»Sind denn die Gneist und Mommsen ganz ausgestorben?« fragte mit Verwunderung Prof. Paul Natorp (Marburg) in der Frankfurter Zeitung, »geht die Staatsrechtslehrer, die Geschichtslehrer die Sache etwa nichts an? Spüren unsere freigesinnten Theologen nicht, wie sehr die Richtung dieses Entwurfs auch ihrem ganzen Bestreben an den Hals geht? Kann irgendeiner, dem die ›Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre‹ mehr als eine Phrase ist, gleichgültig zusehen, daß die Mächte, die von jeher deren ergrimmteste Gegner gewesen sind, mit dem Durchgehen dieses Entwurfs einen gewaltigen, vielleicht entscheidenden Sieg erringen würden? Oder ist man so kleinmütig geworden, daß man fürchtet, unser einmütiges besonnenes, aber unverblümt deutliches Wort werde im Volke angehört verhallen? Sind nicht die Lehrer der Volksschulen unsere Brüder, unsere nächsten Arbeitsgenossen? Können wir vor der Geschichte die Verantwortung tragen, sie auch55 jetzt wieder im Stich gelassen zu haben? Empfinden wir nicht, daß wir durch Schweigen uns zu Mitschuldigen machen? daß wir die Folgen eines solchen Sieges der Lichtfeinde zu allererst zu spüren bekommen werden? Unsere Hochschulen haben soeben, in im ganzen löblicher Tendenz und erfreulicher Einmütigkeit der Lehrenden und Lernenden, um die ›akademische Freiheit‹ gekämpft; soll die Freiheit ein Privileg der Hochschulen sein? und steht nicht das, worum wir gestritten haben, in höchster Gefahr, wenn erst die größte Provinz des nationalen Bildungswesens sozusagen ohne Schwertstreich in die Hand des Gegners gefallen ist, dessen offen erklärtes, mit zäher Energie und unleugbaren Erfolgen schon längst verfolgtes Ziel die Konfessionalisierung auch der höheren Schulen und der Universität ist?«

Lange meinte ich, meine schlechte Stimmung könnte eine persönliche Schwäche sein: geistige Überanstrengung, dienstlicher Verdruß, gestörte Verdauung, schlechter Schlaf, heruntergekommene Nerven. Aber ich empfing, als ich zum ersten Male meine Klagen laut werden ließ, tausendfach ermutigenden Zuspruch. Ich sehe seitdem, daß selbst meine Widersacher verstummen, daß selbst die Klarsichtigsten in immer wachsenden Kreisen meine Mißstimmung und Besorgnis teilen.

Ich muß auch hierfür Zeugnisse beibringen, sonst beliebt man vielleicht, mir diese Tatsache einfach abzuleugnen. Es genügte freilich auf das Türmer-Jahrbuch zu verweisen, das ein ehrlicher Spiegel der öffentlichen Meinung ist, oder auf die »Zukunft«, die seit Jahren, eher als alle anderen, den Niedergang angezeigt hat. Am 14. Juli 1906 lesen wir dort:

»Das unbehagliche Gefühl, spottschlecht regiert zu werden, die Furcht, von schwer erklommener Höhe mählich herabzugleiten, schleicht von Mond zu Mond schneller durchs Land, und die Presse, die nicht aufhören möchte, Ausdruck der öffentlichen Meinung zu sein, darf sich nicht länger sträuben, der Drängnis eine Zunge zu leihen. Ich will«, fährt Harden fort, »nur fromme Stimmen zitieren; nur aus den letzten Tagen: »Das Maß, in dem die verantwortlichen Männer ihre Haltung nach den Wünschen und Anschauungen des Staatsoberhauptes orientieren, geht gelegentlich über das Notwendige, Richtige und Nützliche hinaus. Dadurch wird nicht nur die Stellung56 der Minister, das Ansehen der Regierung und schließlich die Staatsautorität geschädigt, sondern direkt gegen den Geist des konstitutionellen Systems verstoßen, das selbstbewußte Männer an den verantwortlichen Stellen verlangt. Aus Männern mit eignen Gedanken, eigenem Wollen werden Handlanger eines höheren Willens. Das Staatsgefühl geht zurück und mit ihm, trotz aller hohen und hohlen Worten, die innerliche Achtung vor dem Staat.« (Hannoverscher Courier.) »Der Kaiser wird über die Einzelheiten der innerpreußischen Politik in so mangelhafter Weise unterrichtet, daß für die Zukunft die ernstesten Besorgnisse berechtigt sind.« (Tägliche Rundschau.) »Der Kaiser zwei Tage lang in Hamburg, als Taufpate und als Schiffsprediger, als Kriegsherr und als hoher Gönner des Rennsports, immer um die Elbhöhe herumgefahren und dem Standbild Bismarcks keinen Besuch abgestattet! Millionen treuer Söhne ihres Vaterlandes werden peinlich und schmerzlich empfinden, daß dies möglich werden konnte.« (Deutsche Stimmen, Wochenblatt für die nationalliberale Partei.) »Man wird mit Fug erklären dürfen, daß die Bevölkerung der vielen umfangreichen Mitteilungen über Reisen und Reden der Fürsten allgemach müde wird. Es wäre daher kein Unglück, wenn politische Fürstenbesuche, die sich in den letzten Jahren allzu oft wiederholt haben, einmal geraume Zeit unterblieben. Man ist so ziemlich überall zufrieden, wenn sie vorüber sind, ohne einen Mißklang erfahren oder zurückgelassen zu haben.« (Vossische Zeitung.)

»Endlich!« ruft Harden aus und fährt mit der gleichberechtigten Bemerkung fort: »Wäre vor sechzehn Jahren so gesprochen worden, dann sähe es im deutschen Land heute besser aus. Jetzt genügen so sanfte, in Watte gewickelte Andeutungen nicht mehr. Bleiben auch allzu vereinzelt. Morgen wird da wieder Weihrauch gespendet, wo sich gestern kritisches Bestreben zeigte. Jetzt muß so ernst, so vernehmlich gesprochen werden, daß keine Möglichkeit eines Mißverständnisses bleibt. So, wie es bisher war, kann's nicht weitergehen. Die ganze Methode unserer Politik muß geändert werden. Schnell; jede Woche häuft neue gefährliche Fehler.«

Stets die gleiche Klage, daß es an Männern fehlt. So schreibt H. Ilgenstein im »Blaubuch« 1906, Nr. 34:

»Was uns nottut, das ist eine Revolution der Geister, ein Erwachen,57 ein Wille, eine Kraft. Man tue sich (in gesetzmäßiger Weise) allenthalben zusammen! Man verkünde allerorten, daß man sich für einen Minister bedankt, der bei längerer Tätigkeit denn doch dem Lande eine ernste Gefahr bedeutet. Herr von Studt kommt in das Haus, in dem neben einer volksfeindlichen Majorität auch einige Männer sitzen, denen das Wohl des Vaterlandes am Herzen liegt. Ist keiner unter diesen Männern, der diesem Minister für Geistesknechtung einmal auf gut deutsch die Wahrheit sagt? In den Verwaltungsbehörden unserer Städte herrscht größtenteils eine liberale, durchaus nicht fortschrittsfeindliche Gesinnung. Von diesen könnte den merkwürdigen Sondererlassen des Herrn Ministers doch eine recht gesunde Obstruktion gemacht werden. Erst neulich (Nr. 32 des »Blaubuch«) machten wir auf den widerlichen Unteroffizierston aufmerksam, in dem unter der Ära Studt die Unterrichtsbehörden mit den Lehrern verkehren. Sollte es nicht Pflicht der Gemeinden sein, in deren Dienst die Lehrer stehen, dem Minister es einmal recht klar zu machen, daß selbst preußische Volksschullehrer noch Menschen sind? Wenn alle Faktoren, die sich jetzt nur ›ärgern‹, nur eine Zeitlang auf ihrem Posten wären, dann bliebe dem Dunkelmanne nur noch der Rückzug. Aber vorläufig sind wir noch nicht auf dem Posten.«

Über die Stimmung der deutschen Volksschullehrer, mit der man sich im sog. gebildeten Publikum besser vertraut machen müßte, belehrt der »Bund der deutschen Volkserzieher« unter der Leitung Wilhelm Schwaners. Wenige Deutsche, von den Volksschullehrern abgesehen, lesen dessen »Volkserzieher«, der eine Macht im Volksleben geworden ist. Die Lehrer lesen ihn nach vielen Tausenden und halten zu ihm in begeisterter Hingabe zu Schutz und Trutz.

Ich gebe eine Stimmungsprobe aus dem Hefte 17 des X. Jahrganges (1906), einen Aufruf von Hans Würtz in Altona:

»Der Bund Deutscher Volkserzieher ist eine Gemeinschaft von deutschen Männern und Frauen, die sich zusammengeschlossen haben zu Rat und Tat, zu mutigem Kampfe und ewiger Fehde gegen die Giftmischer des Geistes und der Gesinnung, gegen Tyrannen und gegen Knechtsseelen, gegen die Orthodoxen der Religion, des Rechts und der Hygiene, gegen Papst- und Pfaffentum, gegen Feigheit und Reaktion, gegen Anarchie und Revolution – zum ernsten Streben58 und Tun für die höchsten und herrlichsten Güter unseres Volkes: Wahrung, Erneuerung und Kräftigung echt germanischer Art in Religion, Sitte und Gesamtkultur gegenüber der römischen Scheinkultur, Umwandlung der papiernen Gewissensfreiheit in staatlich anerkannte Freiheit des Wissens und Glaubens, Wertung der Individualität.

Darum finden sich bei uns auf gemeinsamem Boden des Verstehens: die Philosophen und Theosophen, die Mystiker und Wirklichkeitsmenschen, die Abstinenten, Vegetarier und Gemäßigten, die Männer der Tat und die in der Welt der Kunst und Schönheit träumen. Den neuen Frühling des Germanentums wollen wir herbeiführen: darum stellen wir naturgemäß die Tatreligion, die wir in den alten und neuen Schriften unserer germanischen Rasse niedergelegt finden, höher als die offizielle jüdisch-christliche Scheinreligion der Kirchen. Die Religion der deutschen Propheten, der Luther, Lessing, Goethe, Schiller, Kant, Schopenhauer, Nietzsche, Lagarde, Emerson, Friedrich II., Wagner, Bismarck u. a. hat unser Führer in der »Germanenbibel« aufgebaut, und wir Bundesmitglieder haben dieses bahnbrechende Werk zu unserm Hausbuch erhoben. Freunde, laßt euch von Berlin Prospekte der »Germanenbibel« schicken und sorgt für Verbreitung des Werkes, damit unsere Ideen auch auf diesem Wege ins Volk dringen! – – –«

Noch deutlicher und deutscher spricht Wilhelm Schwaner selbst, ein ehemaliger gemaßregelter Lehrer, dem die rechte Kirchengläubigkeit fehlte, ehedem ein harmloses Wiesenbächlein, das man hätte sollen gewähren lassen, jetzt zum reißenden Strom angeschwollen.

»Es ist richtig,« schreibt er in einem Aufsatz über »Schulproletarier« im »Volkserzieher« X, Nr. 17, »daß in Zukunft preußische Volksschullehrer im Gehalt hinter den Schutzleuten zu rangieren haben, obgleich ihnen vor den ehemaligen Sergeanten die Offizierskarriere und der regelrechte Besuch bestimmter Universitäten und damit die Ministerlaufbahn offensteht.

Aber es ist trotz der hundserbärmlichen Entlohnung, insbesondere der meisten Landlehrer, unrichtig, von Schulproletariern zu reden. Denn wenn es schon welche gibt, welche jährlich 720 M. Gehalt beziehen – ich selber habe drei Jahre lang pro anno 600 M. (hört, hört) gehabt, also weniger als ein Großknecht, weniger als59 jeder mittelmäßige Fabrikarbeiter, weniger sogar als eine sechzehnjährige Kontoristin der Großstadt – so sind sie doch noch lange keine Proletarier. Unsere Lehrer haben nämlich, was den unglücklichen Proletariern der roten Partei absolut fehlt, immerhin eine gewisse wissenschaftliche Bildung, und sie haben, was sie gegenüber den Millionären des Kapitals zu Milliardären erhebt, Ideale, unverwüstliche, hohe und heilige Ideale. Gewiß, die stempeln unsere Schulmeister zu Revolutionären des Geistes – eine eingehende Geschichte des Lehrerstandes würde zu überraschenden Entdeckungen führen, wenn es auch den Juristen Studt wenig interessieren mag, was für »Kerle« gerade auf dem von ihm beaufsichtigten Felde Bahnbrecher und Führer geworden sind – aber zu Revolutionären der Straße werden die deutschen Lehrer niemals werden. Obgleich es auch unter ihnen gelegentlich einen richtigen Umreißer geben kann, ähnlich wie die neuere Geschichte einen Anarchisten Johannes Miquel gekannt hat, den der nachmalige Kaiser Wilhelm II. ›seinen Mann‹ nannte.

Seit der beste Teil der Lehrerschaft angefangen hat, sich auf sich selbst zu besinnen, Selbsterziehung zu üben durch Alkohol- und Nikotinabstinenz oder gar durch Fleischenthaltung und vor allem durch sittenstrengen Lebenswandel; seit die Lehrer durch Selbsthilfe und energisches Studium sich die Quellen der Wissenschaft und damit die Tore zum Tempel der Weisheit erschlossen haben; seit wir eine Volkserzieherbewegung kennen und hinter ihr als Rückgrat und Träger in die Zukunft einen Bund, der alle deutschen Gaue überspannt: seitdem, ihr Leute vom ›Vorwärts‹, die ihr als Millionär Paul Singer und als Schloßbesitzer August Bebel ja selber keine Proletarier seid, seitdem ist es mit eurer Hoffnung auf eine rote Avantgarde aus Schulmeisterkreisen ein für allemal vorbei. Es hätte auch noch schlimmer kommen können, als es ja leider Gottes schon ist, so würden wir doch nicht unseren Patriotismus ›revidieren‹. Denn unsere Gesinnung hängt nicht wie die eurige oder wie die der Agrarier, Industriellen, Junker und anderer Sippen vom ›Brotkorb‹ ab, sondern von der Höhe unseres Seelen- und Geisteslebens, das eben lediglich und allein durch uns selbst bestimmt wird! (Mitläufer, Schmarotzer, Feiglinge, Mantelträger, Rückenmärker und dergleichen Gelichter selbstverständlich ausgenommen. Auch60 die Bierbank-, Schnaps- und Weinhelden, die als Lehrer regelmäßig dem kirchlichen Abraham im Schoße sitzen, wie sie als Arbeiter und »Proleten« für die Paule der roten Partei unentbehrlich bleiben, weshalb man ja auch auf den sozialdemokratischen Parteitagen niemals die Alkoholfrage zur Hauptdebatte stellen läßt: zur politischen Revolution haben eben wie zum Verrat Elende des Alkohols nötig.) Uns ›Schulproletariern‹ wird man Gerhart Hauptmann, Hermann Sudermann, Henrik Ibsen und andere nicht so leicht entreißen, wie man aus eurem Zentralorgan die Leute der besseren Feder und des einfachen politischen Anstandes weggebissen hat. Denn bei uns wird ebensowenig die Knute des Despoten je etwas erreichen wie die Phrase des Pöbels. Wir bauen uns eben unsere eigene Welt, die deutsch und pädagogisch ist!«

Ideale, mein lieber Schwaner haben die Sozis auch, nur etwas andere als wir beide. Ich nenne jeden Menschen einen Idealisten, der sich für seine Überzeugung einsperren läßt. Aller andere sog. Idealismus beruht auf Selbsttäuschung.

Und während ich diese Zeilen schreibe – buchstäblich zu verstehen – reicht mir das Sopherl, das mich bedient, einen Brief herein, in dem ich von einer Redaktion aufgefordert werde, über die »Pflege der Willenskraft in der Erziehung« zu schreiben, »als Grundlage einer gesunden deutschen Erziehung, die an die Stelle treten müsse der zur tatenlosen Träumerei verführenden Drillmethode der alten Lernschule«. Der Briefschreiber ist Schuldirektor!

Überall die gleiche Sehnsucht nach einer inneren geistigen Reform. Das Notwendigste aber hat doch wieder Harden gesagt (»Zukunft« 1906 Nr. 38):

»Im Reichstag sitzen gescheite und redliche Männer, die etwas leisten können. Weshalb finden wir, wenn monatelang gedroschen ist, die Tenne leer? Weil dieser Reichstag nicht zur Regierung berufen, sondern nur als Ornament gedacht ist. Weil die Regierenden sich bemühen, ihn schmeichelnd zu überlisten und er selbst in technischem Kleinkram, in Paragraphenflickerei, die jeder Geheimrat besser besorgt, seine Aufgabe sieht. Weil der Wille zur Macht ihm versiegt ist. Die Änderung oder Ablehnung eines Gesetzes, nach Jahren vielleicht die bundesrätliche Zustimmung zu einem Initiativantrag: das kann er erreichen; mehr nicht. Keinen Kanzler noch61 Staatssekretär stürzen; seiner Majorität nie die Wirkensmöglichkeit erobern. ›Wenn die Kerle sich ausgeschimpft haben, sind sie wieder still‹; und die Karre rumpelt, als sei nichts geschehen, ein Stückchen weiter bergab. Wer mag für solchen Preis das Leben einsetzen? Wer sich mutwillig die Exzellenten verfeinden, die er doch nicht vom Thrönchen stoßen kann? Da sie bleiben, solange es dem Kaiser paßt, stellt man sich mit ihnen lieber auf leidlichen Fuß und bekümmert sich eifriger um ihre Umgangsformen als um ihre Leistungsfähigkeit. Dieser Reichstag hat kein Ziel vor, keinen Willen zur Herrschaft in sich; er ist zum Disputierkränzchen geworden und drischt in jedem Herbst wieder dasselbe Stroh. In England, Frankreich, Italien, Spanien, Ungarn, Belgien, Skandinavien, in Österreich und den Balkanstaaten sogar regiert das Parlament, in Rußland heischt es Konventsrechte; in Deutschland redet es den Regierenden ins Handwerk drein und knickert ihnen unklug die Pfennige ab. There's the respect that makes calamity of so long life. Dieser Zustand darf nicht noch länger dauern. Das nächste Ziel politischen Trachtens muß die Sicherung des parliamentary government nach britischem Muster sein.

Übt euch in zähem Widerstand gegen Ungebühr! Warnt das Volk, sein Geld einer schlechten Regierung anzuvertrauen! Und stählt den Willen zur Macht!«

Ganz meine Meinung! Wir witzeln über den unfähigen Reichstag, tuen aber nichts ihn zu stärken. Noch fehlt dem Reichstagsgebäude die Aufschrift. Erträgt das unser lammfrommes Volk noch weitere Jahrzehnte?

In allen großen Kulturfragen unseres Volkes wollen und werden wir uns erlauben mitzureden, werden auch die Amtstätigkeit unserer Beamten öffentlich kritisieren, wenn sie uns gemeingefährlich erscheint. Paul de Lagarde verlangte schon eindringlichst, daß die Beamten für ihre Verfehlungen regreßpflichtig gemacht würden. Was sagt man nun zu folgender ›amtlichen‹ Angelegenheit? Man lese das Buch ›Mein gutes Recht‹ des deutschen Kaufmanns Karl Paasch (Kommissionsverlag von Meyer & Hendeß in Zürich, 1906), den man für verrückt erklärt hat, weil er über deutsches Kolonialwesen die unglaublichsten Dinge veröffentlicht hat. Nach den jüngsten Erfahrungen wird er auch für Unglaubliches jetzt Gehör finden.

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Lehmann-Hohenberg, auch so ein Unbequemer, der in alle dunklen Ecken unseres Reiches hineinleuchtet, nennt in seinem »Rechtshort« (1906, Nr. 13/16) diesen Paasch einen modernen Michael Kohlhaas und ruft, nachdem er den wirklich ganz ungeheuerlichen Fall in großen Zügen dargestellt hat, in Erregung aus: ›Ward je ein Fürst und Volk schändlicher betrogen und verraten!?‹ – – »Hier kann und darf keine Aufklärung gescheut werden! Stecken wir schon mitten in vollster Korruption? Das deutsche Volk hat ein Recht darauf, zu erfahren, wie es hiermit steht, und daß mit stählernem Besen die Stuben unseres Beamtentums ausgefegt werden, wenn die Angaben von Paasch auch nur zu einem Teil auf Wahrheit beruhen.«

Um mich etwas verständlicher zu machen, will ich mit seinen eigenen Worten andeuten, worum es sich handelt, mache dabei auf die Tatsache aufmerksam, daß verwandte Anschauung und Stimmung hervorleuchten aus »den Briefen, die ihn nicht erreichten«. Paasch also schreibt:

»Weil meine geschäftlichen Projekte bei den chinesischen Behörden gute Aufnahme und Beachtung gefunden, weil sie die allerbesten Aussichten auf Erfolg hatten, eben deshalb, und nur deshalb wurde meine Beseitigung beschlossen, v. Brandt und v. Ketteler wollten mit einem Schlage reiche und wenn möglich berühmte Leute werden. Geld, Geld und wieder Geld war das Hauptmotiv für alle Handlungen dieser Herren. Was still und ruhig mit den chinesischen Behörden verhandelt war, was ruhig in den Geheimarchiven der deutschen Gesandtschaft ruhte und bestimmt war, dem Fürsten Bismarck vorgelegt zu werden zur Ehre und zum Vorteil Deutschlands, das wurde von diesen beiden Herren verplempert, verraten und wahrscheinlich einfach verkauft zu ihrem Vorteile …«

»Nachdem das Attentat (!!) auf mich mißlungen war, verfügte Herr v. Brandt plötzlich über Geld und wollte mir kürzlich erst abgeborgte 20 000 Mk. zurückgeben; auch Herr v. Ketteler wollte plötzlich eine ›Erbschaft‹ gemacht haben. Merkwürdig, sehr merkwürdig! …«

»Nachdem bei solcher Lage der Dinge v. Brandt nicht abberufen wurde, da war das ganze Geschäft natürlich für Deutschland verloren. Die Chinesen hatten ja die ganze im Interesse der Hochfinanz ins Werk gesetzte Intrigue durchschaut, ehe ich sie ihnen mündlich63 und schriftlich berichtet hatte. Niemand geringeres als der Vizekönig Li-Hung-Chang hat mir das selbst erzählt. Der Verlust, der für Deutschland daraus entstanden ist, läßt sich annähernd kaum abschätzen. Ich beziffere ihn auf Milliarden. Man denke nur, China hätte derzeit die von mir vorgeschlagenen Projekte ausgeführt, was wären dann die Folgen gewesen? Wir hätten in China auf lange Zeit hinaus festen Fuß gefaßt, nicht auf Grund kriegerischer Ereignisse, sondern in freundschaftlicher Weise, so daß die Chinesen ein Interesse daran gehabt hätten, gerade uns Deutsche im Lande, wenigstens noch für lange Zeit, zu halten. Damals waren wir Deutschen geradezu eine bevorzugte Nation bei den Chinesen, während heute das Gegenteil der Fall sein dürfte. Der Gesandtenmord und die daraus resultierende Chinaexpedition wären uns erspart geblieben, und was sonst noch für Vorteile für uns in ostasiatischen Angelegenheiten erwachsen wären, mag sich ein jeder selbst auskalkulieren, der sich für diese Dinge interessiert.«

Gehen uns diese Dinge wirklich nichts an? Müssen wir Bürger nicht die hohe Zeche bezahlen, bezahlen sogar mit unserem Blute, mit unserer nationalen Ehre?

Ich kann nicht beurteilen, ob Paasch im Rechte, ob er normal oder geistig krank ist, aber ich möchte als Staatsbürger über diese Frage aufgeklärt werden.

Keines der Preßzeugnisse, die ich hier beigebracht habe, entstammt einem sozialistischen Blatte. Keiner der genannten Zeugen würde sich abstreiten lassen, daß es ein guter Patriot sei. Nicht die sind unsere guten Freunde, die über unsere Schwächen schweigen, sondern die, welche es wagen, uns freimütig das zu sagen, was man »die Wahrheit« nennt, also ihre ehrliche, wenn auch tadelnde Überzeugung. Noch eins: Auffallend wie wenig bei uns die aufklärende und fortschrittliche Arbeit der Männer mit der unserer Frauen Schritt hält. Nichts ebenbürtiges haben wir der starken Propaganda der Frauenbewegung innerhalb der letzten zehn Jahre an die Seite zu stellen. Mit dem Kultureifer unserer jungen Damen verglichen macht der gebildete Korpsjüngling eine schlechte Figur. Ideenloser und nüchterner, als diese vermeintliche Blüte der deutschen Nation, deren Umgang jungen kaiserlichen Prinzen gestattet wird, flacher, unmännlicher kann man unmöglich sein. Wenn sie noch64 jugendlich froh und ausgelassen wären! Aber auch das nicht, sondern nur patent und korrekt, schon in jungen Jahren auf Karriere spekulierend, auf Protektion, die das eigene Denken und Arbeiten ersetzen soll. Ihr Mannesmut erschöpft sich auf dem Paukboden bei der Mensur: einer mittelalterlichen, wohl mutstählenden Spielerei, die man anerkennen und sogar begünstigen dürfte, wenn sie nicht mit unseren Staatsgesetzen und mit dem öffentlichen Rechtsbewußtsein in Widerspruch stände – für entsprechende Handlungen kommt nämlich der Arbeiter ins Gefängnis – und wenn sich dabei nicht der Mannesmut des jungen Herren ganz zu verausgaben schiene. Zu diesem zwar blutigen, aber im Grunde doch ungefährlichen Spiele würden sich für angemessene Bezahlung auch Dienstmänner abrichten lassen. Was wir vermissen: eigene, mannhafte Überzeugungen, jugendliche Geistesfrische, den »Zorn der freien Rede«, das begeisterte Eintreten für alle wahren Menschheitsideale, davon finden wir in dieser vornehmen jungen Vertretung der herrschenden Kasten nichts. Da waren die alten Burschenschaften mit ihren Brauseköpfen und dem Überschwang hoher Gefühle doch ganz andere Kerle!

Als jüngst eine Dame in öffentlicher Versammlung wegen sog. »Schürzenpolitik« unfreundliche Worte zu hören bekam, sagte sie entrüstet: »Wir lassen uns von den heutigen Männern Deutschlands nicht mehr verspotten. Wo wir einmal eine wahrhaft mannhafte Tat brauchen, da wenden wir uns an eine – Frau. »Wenn ich«, sagte sie, »auf der Straße elegante Herren mit Zylinder und schwarzen Aktenmappen darum bat, mir als Zeugen bei empörender Pferdequälerei zu dienen, so erhielt ich noch jedesmal die gleiche Antwort: ›Bedaure, gnädige Frau; ich befasse mich nicht gern mit dergleichen. Man hat nur Schererei davon.‹ Wandte ich mich an Damen, so fand ich selten eine Ablehnung.«

Ich muß gestehen, daß ich selbst als Vorstand eines Tierschutzvereins gleiche Erfahrungen nicht selten gemacht habe und der Beifall, der jener Dame gespendet wurde, sprach für die Allgemeingültigkeit ihres Urteils.

Die empörendste Pferdeschinderei gehört in und um Berlin zu den scheinbar unausrottbaren Übeln, die der Mensch als ein Gegebenes ertragen muß. Wenn ich von den noch brutaleren Griechen und Italienern absehe, so kenne ich im übrigen Europa keinen Platz,65 wo sich vor aller Augen rohe und vielfach versoffene Kutscher dergleichen offene Verhöhnung aller Menschlichkeit gestatten. Dies wäre ganz unmöglich, wenn jeder deutsche Mann seine Pflicht täte. Aber da fehlt es eben. Man wendet den Blick ab, will lieber nichts gesehen haben und macht sich durch solche Schwäche zum Mitschuldigen. Es müßte doch wunderbar zugehen, wenn alle gesitteten Leute einer Großstadt unfähig sein sollten, eine solche öffentliche Schmach auszurotten! Aber man begnügt sich bestenfalls mit einer Anzeige bei der Polizei und hat davon – wie ich selbst immer wieder durchmache – tatsächlich viel Schererei. Dazu kommt, daß der bedrohte Kutscher natürlich saugrob wird – denn er lebt noch immer des Wahns, Pferdeschinden wäre sein gutes Kutscherrecht –, das gibt dann noch Beleidigungsklagen und weitere Umständlichkeiten.

Warum ist es denn bei anderen gesitteten Völkern möglich, das Übel abzustellen? So in England, wo ich nie eine Pferdeschinderei gesehen habe? Dort würde eben nicht nur ein Mann, sondern gleich 20, 30, 40 Mann dem Kutscher sofort ihre geballten Fäuste (mit und ohne Glaçé) unter die Nase halten, so daß ihm auch das Schimpfen gleich vergehen sollte. Ein stolzes, gesittetes, selbstherrliches Volk! – Wir werden natürlich auf die Polizei verwiesen, wie Quartaner, die dem Herrn Ordinarius Anzeige zu machen haben. Und diese Polizei? Man betritt mit entblößten Haupte das Wachtzimmer, bietet artig seinen »Schönen guten Morgen« und beginnt schüchtern seinen Vortrag: »Ich wollte mir gestatten, Ihnen usw. … wollen Sie so freundlich sein« usw. … Keiner von den blauen Bären erhebt sich vom Sitze, über die Achsel hin wird man mit kritischem Blicke betrachtet und dann kommt, nachdem anderes Wichtigeres seine gemütliche amtliche Erledigung erfahren, auch der unbequeme Gast zu Verhör.

Dabei haben die Behörden selbst die Bürgerschaft öffentlich zur Mithilfe im Kampfe gegen ein Übel aufgerufen, dessen sie eingestandenermaßen selbst nicht Herr werden. Ein Recht zur Klage haben wir Deutsche deshalb nicht, weil jedes Volk die Polizei, die Kutscher, die Pferdeschinderei hat, die es verdient. Man kann daran – nicht etwa deutsche Gemütsrohheit – wohl aber deutsche Untertanenschwäche studieren.

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Wer kennt nicht Prof. Rudolf von Jerings tapferes Schriftchen »Der Kampf ums Recht«? Für mich bedeutete es eine Entwicklungsstufe in meinem Leben. Es lehrte mich, daß jeder berufen ist, Mitstreiter für das Recht zu sein. Die meisten gebildeten Deutschen drücken sich heute von dieser Pflicht. Diese Drückebergerei, das Nichtsehenwollen, das Ablehnen von jeder Verantwortung, der Mangel an Sozialgefühl, an anderen als rein selbstischen Wünschen, das sind unzweifelhaft Anzeichen der Décadence. Dabei bückt sich die bürgerliche Ehrbarkeit bis tief zum Boden und der Korrekte erfleht sich den kirchlichen Segen für seine armselige Tugendhaftigkeit.

Wann endlich wird sich das deutsche Volk ermannen? Friedrich Hebbel, einer der Mannhaftesten, den je die Erde trug, litt sein Leben lang an der deutschen Demut und Unmännlichkeit. »Das Volk wird nicht bloß geschunden, es ist dahin gebracht, daß es sich selbst schinden muß« (Tagebuch, 12. Febr. 1841); »Ich weiß im Ernst nicht«, schrieb er am 25. Sept. 1840, »wer eher geköpft zu werden verdient: der, welcher bei Shakespeare kalt bleibt, oder der leidenschaftliche Mörder. Aber das Nichts gilt für den Inbegriff aller Tugenden«: – »Die Menschen haben viele absonderliche Tugenden erfunden, aber die absonderlichste von allen ist die Bescheidenheit. Das Nichts glaubt dadurch etwas zu werden, daß es bekennt: ich bin Nichts« (ebenda 19. Okt. 1843). »Er nahm einen Fußtritt hin, aber er mußte von einem gewichsten Stiefel apliziert werden« (13. Okt. 1840).

Man liest jetzt oft Vergleiche zwischen unseren Tagen und der Zeit von Jena und Auerstedt. Ich halte den Vergleich für falsch. Nein, wir leben in einer neuen Metternich-Periode, wieder ist nach glänzender Waffentat dem guten, opferfreudigen Volke sein Lohn ausgeblieben, wieder haben wie damals Hierarchie, Staatsanwälte, Polizei und die ganze schwerlastende Bureaukratie auf den Lebensfrühling ihre Nachtfröste gesandt, wieder dieselbe Entmündigung, Abrichterei, Gängelung und Frommacherei des Volkes, das endlich doch der Kinderstube entwachsen sein dürfte.

Aus der Ära Metternich errettete uns die Revolution von 1848. Wenn nicht Umkehr in der öffentlichen Politik eintritt, scheint mir eine ähnliche Katastrophe nicht ausgeschlossen. Die Mißstimmung wächst von unten auf immer bedrohlicher und ergreift schon Kreise, die noch vor wenigen Jahren bei keinem Kaiserkommerse vermißt wurden.

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Wir wünschen und hoffen, daß es eine rein geistige Revolution sein möge, diese aber sehnen wir herbei, weil sonst das Volk verkommt, weil wir sonst unseren Beruf versäumen, Bahnbrecher und Fackelträger der Menschheit zu sein. Den Ruhm, gehorsame Untertanen und sanfte Schafe der Kirche zu sein, gönnen wir unseren Brüdern in Rußland und Spanien. Der Kurs führt von Luther, Kant, Goethe, Schiller, Hebbel, Nietzsche, de Lagarde, Bismarck auf den Bahnen der Aufklärung zu einer germanischen Gesittung und Kultur. Der Weg nach Rom ist eine Umkehr ins dunkelste Mittelalter. Dort ist keine Kultur zu holen, sondern nur ein cäsarisches Imperium und geistige Entmündigung – ein Cäsareopapismus nach russischem Muster.

Im Jahre 1816 sang Ludwig Uhland ein Lied, das heute im Jahre 1906 nicht weniger Gehör verdient, jedermann kennt es, aber wenigen ist es noch tief ins Herz geschrieben. Wir stehen vor der Gedächtnisfeier von Jena. Da ist es gut, sich auch daran zu erinnern, was auf Jena und Leipzig folgte:

Am 18. Oktober 1816.

1. Wenn heut' ein Geist herniederstiege,
Zugleich ein Sänger und ein Held,
Ein solcher, der im heil'gen Kriege
Gefallen auf dem Siegesfeld,
Der sänge wohl auf deutscher Erde
Ein scharfes Lied, wie Schwertesstreich,
Nicht so, wie ich es künden werde,
Nein! himmelskräftig, donnergleich.
2. Man sprach einmal von Festgeläute,
Man sprach von einem Feuermeer,
Doch was das große Fest bedeute,
Weiß es denn jetzt noch irgendwer?
Wohl müssen Geister niedersteigen,
Von heil'gem Eifer aufgeregt,
Und ihre Wundenmale zeigen,
Daß ihr darein die Finger legt.
3. Ihr Fürsten seid zuerst befraget:
Vergaßt ihr jenen Tag der Schlacht,
An dem ihr auf den Knien laget
Und huldigtet der höhern Macht?
Wenn eure Schmach die Völker lösten,
Wenn ihre Treue sich erprobt,
So ist's an euch, nicht zu vertrösten,
Zu leisten jetzt, was ihr gelobt.
4. Ihr Völker, die ihr viel gelitten,
Vergaßt auch ihr den schwülen Tag?
Das Herrlichste, was ihr erstritten,
Wie kommt's, daß es nicht frommen mag?
Zermalmt habt ihr die fremden Horden,
Doch innen hat sich 's nicht gehellt,
Und Freie seid ihr nicht geworden,
Wenn ihr das Recht nicht festgestellt.
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5. Ihr Weisen, muß man euch berichten,
Die ihr doch alles wissen wollt,
Wie die Einfältigen und Schlichten
Für klares Recht ihr Blut gezollt?
Meint ihr, daß in den heißen Gluten
Die Zeit, ein Phönix, sich erneut
Nur um die Eier auszubruten,
Die ihr geschäftig unterstreut?
6. Ihr Fürstenrät' und Hofmarschälle,
Mit trübem Stern auf kalter Brust,
Die ihr vom Kampf um Leipzigs Wälle
Wohl gar bis heute nichts gewußt:
Vernehmt! an diesem heut'gen Tage
Hielt Gott, der Herr, ein groß' Gericht,
Ihr aber hört nicht, was ich sage,
Ihr glaubt an Geisterstimmen nicht.
7. Was ich gesollt, hab' ich gesungen,
Und wieder schwing' ich mich empor;
Was meinem Blick sich aufgedrungen,
Verkünd' ich dort dem sel'gen Chor:
»Nicht rühmen kann ich, nicht verdammen,
Untröstlich ist's noch allerwärts,
Doch sah ich manches Auge flammen,
Und klopfen hört' ich manches Herz.«

Damit vergleiche man, um sich der Stimmungsgemeinschaft bewußt zu werden, ein modernes Gedicht des Wiener Palamentariers und Schriftstellers Karl Iro:

Entnervt!

Viel deutsches Lärmen und Schreien
Hört man ringsum im Land –
Doch all' die Schreier halten
Beim Schlagen niemals Stand.
Beim Zechen brüllt man sich heiser
Mit deutschem Sing und Sang –
Ruft man zu deutschen Taten
Wird all' den Zechern bang.
Im Geisterkampf der Tage
Ein marklos schwach Geschlecht –
Kein männermutig Streiten
Für Ehr' und deutsches Recht!
Das Tänzeln und Scharwenzeln
Ist jetzt die deutsche Art,
Und Kriechertum und Feigheit,
Die haben sich gepaart!
Sie zeugten im Lotterbette
Den deutschen Volksverrat,
Der geht nun durch die Straßen
Frech schamlos früh und spat.
Wie Stickluft, bleiern und drückend
Liegt's über dem Jammer all',
Kein Aufwärtsjauchzen zur Höhe –
Ein deutscher Sündenfall.
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Bräch' doch ein wildes Wetter
In diese deutsche Nacht,
Bis die Gewissen alle
Zum Mahneramt erwacht.
Und auf den deutschen Wangen
Schamröte wieder glüht,
Wenn die entnervte Masse
Des Stammes Elend sieht. –
Ein heiliges großes Ringen
Tut unserem Volke not,
Ein Reitersäbelklingen
Wie einst bei Gravelott'.
Ein blutig Kämpfen und Streiten
Für Ehre, Hab und Gut
Muß durch die Adern treiben
Das alte Heldenblut!
Und aus dem schaurigen Sterben
Ein neu Geschlecht ersteh'n,
Das seinem deutschen Gotte
Kann frei ins Auge seh'n.
Das wieder groß und edel
Und mannhaft, stolz und stark –
Ein Hüter und ein Schirmer
Der freien deutschen Mark.
Heuerts 1906. (Unverfälschte deutsche Worte. 5. Heft 1906. Wien.)

Es wäre unmännlich und feig, all die Sorgen und Befürchtungen zu verschweigen, die uns heute beunruhigen. Deshalb fort mit allen Bedenken! Es hat jeder Bürger das Recht, »Feuer!« zu rufen und Löscheimer herbeizuschaffen, wenn er aus dem Dachstuhle Rauch aufsteigen sieht. Noch schlagen zwar im deutschen Reichsbau die Flammen nicht empor, aber im Nachbarhause wütet der Brand, und das wissen wir klassisch Gebildeten ja aus Vergil, daß es um unsere Sache geht, wenn die nächste Wand brennt. – Bei uns herrscht jetzt doch auch eine gar schwüle, drückende Luft. Es ist, als ob es heimlich schon unter den Dielen schwele. Wie leicht schlägt die Flamme über, wenn sie so aufgehäuften Zündstoff findet!

Wir alle sind zu Warnern, zu Rettern berufen. – Wo sich andere das Recht nehmen, dem Staat von amtswegen zu schaden, wird niemandem das Recht verwehrt sein, ihm selbst außeramtlich nach seinen Kräften zu nützen. Dort geht es um Gut und Blut, hier vorerst nur um Papier und Druckerschwärze.

Nun besteht aber bei uns zu Lande die Meinung, daß ein Beamter nichts »gegen die Regierung« schreiben dürfe. Ich schreibe nicht gegen, sondern für die Regierung. Wie weit außerdem das gesetzliche Verbot geht, weiß ich nicht. Wohl aber weiß ich, daß z.B. Paul de Lagarde trotz seines Beamtentums mit der rückhaltlosesten Offenheit die Schäden der Staatspolitik beleuchtet hat, weiß freilich auch, daß diesen Mannhaften nicht die Behörden, wohl aber alle Wohlgesinnten mit einem Haß verfolgten, der ihnen ebenso zur Unehre70 gereicht, wie dem Gehaßten zum Nachruhm. Er fragte verwundert, ob es denn ein Unrecht sei, wenn man den Lokomotivführer darauf aufmerksam macht, daß an seiner Maschine ein Schaden sei. Er hat es selbst noch erlebt, daß seine trüben Voraussagen in noch trübere Erfüllung gingen. Jetzt beruft sich jeder gute Patriot schon gerne auf diesen Volkserzieher, der neben Fichte seinen Ehrenplatz hat. Jetzt scheinen selbst seine ehemaligen Kollegen von der Hochschule vergessen zu haben, daß sie ihn zum Einsiedler machten, ihn wie einen Geächteten mieden und wie durch geheime Übereinkunft all seine bedeutenden politischen Arbeiten totschwiegen.

Und wie haben die Zünftler einen Nietzsche behandelt! Stets haben wir das gleiche Bild: »Wenn ein Jagdhund durch die Dorfstraße läuft, kläffen alle Kettenhunde.« »Die ganze Gesellschaft ist verschworen gegen die Mannhaftigkeit des einzelnen,« sagt Emerson. Er muß also in dem angeblich freien Amerika dieselbe trübe Erfahrung gemacht haben. – Wenn wirklich allen Beamten eine Kritik der staatlichen Zustände untersagt wäre, dann wäre die Intelligenz zum großen Teile von einer einschneidenden Mitwirkung ausgeschlossen: denn auch all unsere Hochschullehrer sind Beamte. Vielleicht hätte es die weitere Wirkung, daß die Unsitte, unter Pseudonymen zu schreiben, überhand nähme – eine wenig mannhafte Kampfesweise.

Ich bin so wenig rechtskundig, daß ich mich bloß auf mein Gefühl verlasse. Sollte, was ich in guter Absicht schreibe, in der Meinung, dem Vaterlande nach meinem schwachen, aber ehrlichen Willen zu dienen, mit unseren Gesetzen in Widerspruch geraten, so nehme ich die Folgen auf mich. Ich bilde mir ein, ein gutes Werk zu tun. Von einem dolus – wonach die Juristen immer suchen – wird hier nichts zu finden sein, wohl aber von »Wahrung berechtigter Interessen« eines Jugenderziehers und Staatsbürgers.

Jedoch ich will den Herren Juristen nicht vorgreifen, mich lieber mit dem von Herrn Geheimrat Prof. Dr. Gierke proklamierten »felsenfesten Vertrauen auf unsere Gerichte« ausrüsten.

Ich meine, man darf sich, wenn man seine Überzeugung verfechten will, um den Beifall oder den Widerspruch aller amtlich Gebundenen nicht kümmern. Die sind stets für Ruhe und Sachlichkeit, für eine korrekte Amtsführung, Einhaltung des Instanzenweges, kurz für all das, was den Fortschritt hemmt. Neue Gedanken und71 nun gar eine Kritik des Bestehenden empfinden sie als lästige Ruhestörung, als Übergriff.

Kümmern wir uns also um sie nicht mehr als nötig ist, um ihren schädlichen Einfluß zu brechen! Ob ich zu dieser Arbeit berechtigt und befähigt bin, das soll, soweit es davon Kenntnis nimmt, das deutsche Volk entscheiden, das heißt die, deren Urteil ungebunden ist.


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VI.
Das deutsche Mannesideal in der Geschichte.

Wie jede Sache, so hat auch das deutsche Mannesideal seine geschichtliche Entwicklung. Ohne deren Kenntnis lernt man auch die Gegenwart nicht verstehen. Wenn wir uns also von unseren Vorfahren auch nicht belehren lassen wollen, so wollen wir sie und damit uns selbst doch kennen lernen. Denn unser ganzes Sein und Denken ist aufgebaut auf ererbte Zustände und Anschauungen. Es ist kein durchaus erfreuliches Erbe, das wir antreten mußten: Deutschland war ein viel geplagtes, dürftiges Land. Es galt von ihm, was Herodot von dem athenischen Staate sagt: »Die Armut war ihm Amme.«

Armut, sagt man, stählt die Lebenskräfte, Armut drückt sie aber auch nieder und läßt eine freie Mannesgesinnung nicht leicht aufkommen. Die Armen leben meist in knechtischer Abhängigkeit. Da gilt das alte homerische Wort: »Der Tag der Knechtschaft nehmen dem Manne seinen halben Wert.«

In seinem Aufsatze »Der Deutsche der Zukunft« sagt Prof. A. Lichtwark ganz in diesem Sinne: »Aus den Jahrhunderten der Armut und Beschränktheit, der Hörigkeit und Knechtschaft nach innen und außen haften dem Wesen des Deutschen so viele beklagenswerte Züge an, daß wir als politisch und wirtschaftlich voran gekommenes Geschlecht mit Ruhe und Entschlossenheit nicht nur an die erbarmungslose Ausrottung alter Fehler, sondern vor allen an die Entwicklung alter zurückgebliebenen edlen Kräfte zu gehen haben.«

Um das also zu können, bedürfen wir einer Rückschau und einer Einkehr in unsrer eignen Natur.

Von den alten Germanen wissen wir zu wenig Verläßliches. Wir wollen uns auch in so ferne und so dunkle Gegenden lieber nicht verlieren. Es ist gar zu schwer, entschwundene Zeiten zu verstehen,73 je ferner sie liegen, um so schwerer, um so weniger verlohnt es auch, an sie anzuknüpfen. Bei Wodan und Freia werden wir doch nicht wieder warm. Jene alte Welt hat uns Rom ein für allemal so zertrümmert und so entrückt, daß keine Brücke uns dorthin zurückführen, kein Gedenken uns je dort wieder heimisch machen kann.

Im Mittelalter – um damit zu beginnen – hatte man ein Bildungsideal verkörpert, das vorbildlich erziehliche Kraft hat. Freilich blieb es beschränkt auf den Ritterstand.

Hier sind die edelsten Mannestugenden vereint, noch bereichert, geadelt und gemildert durch den Einfluß des Christentums. Mit der himmlischen Liebe allein wollten aber die lebensfrohen Ritter sich nicht zufrieden geben, und die besten unter ihnen wurden den Zwiespalt ihrer Seele nie los, so oft sie sich auch die bange Frage vorlegten, wie man drei Dinge erwürbe, nämlich Vermögen, Ehre und Gottes Huld, ohne daß eines davon verdürbe. Vielleicht ist die Höhe echt männlicher und dabei menschlicher Bildung nie wieder erreicht, geschweige denn übertroffen worden, wie sie in den besten Vertretern der christlichen Ritterorden verkörpert war. Noch heute empfinden wir den Zauber, der in dem Begriffe echter Ritterlichkeit liegt. Uns tritt dabei vor die Seele das Bild der stattlichen, im Waffenschmuck erglänzenden, körperlich durchgebildeten, in allen Künsten des Kriegshandwerkes, im Jagen, Reiten, Fechten und Schießen gewandten Männer, die ihre rüstige Kraft begeistert in den Dienst der Schwachen stellten, das Gelübde ablegten, ehrbar zu leben, Treue zu pflegen, mildtätig zu sein, Witwen und Waisen zu schützen, jedem Unrecht entgegenzutreten und dabei stets in Haltung und Ton vornehm und bescheiden zu bleiben. Wenn diese Männer zugleich den Frauen in anmutigen Formen huldigten und ihre Feste mit Gesang und Saitenspiel, mit ungekünsteltem Frohsinn würzten, dann muß da wirklich eine Blüte des Mannestums ins Leben getreten sein, mit der wir uns nicht ohne beschämende Sehnsucht beschäftigen können.

Mit Wissenschaft befaßten sich diese Männer freilich nicht. Es war schon viel, wenn einer schreiben und lesen konnte. Aber deshalb waren sie doch nicht ungebildet. Ihre Kenntnisse von Ländern und Leuten erritten sie sich auf ihren endlosen Zügen in Freundes- und Feindesland. Die Welt war damals noch eng. Schon der alte74 Hildebrandt rühmt sich seiner Weitgereistheit und seiner Menschenkenntnis. Ebenso Walther von der Vogelweide. Diese Männer waren gut vertraut mit dem Boden, auf dem sie wirkten und mit den Sitten, Sprachen und Anschauungen der Völker, mit denen sie verkehrten. Ich glaube nicht, daß sie uns den Eindruck der Unbildung machen würden, wenn es möglich wäre, plötzlich einmal in ihre Mitte einzutreten. Man lese nur Walthers Gedichte, um sich mit dem tiefen sittlichen Gehalte und mit dem Umfange ihrer geistigen Interessen bekannt zu machen.

Jedenfalls hatte der junge Adlige sein klar umschriebenes Mannesideal vor Augen und wußte, wohin er zu streben und zu wachsen habe. Der junge Parzival hielt die ersten erzgepanzerten Ritter, die er sah, für Götter. Wie Götter erschienen sie wohl jedem Kinde. Wenn man ihm dann sagte, es könne durch rechte Zucht auch einmal so ein stolzes Wesen werden, dann war dem Leben Ziel und Weg gewiesen.

Deutsche Männer nennt Walther »wolgezogen« und »teutsche zucht«, sagt er, »gat vor in allem«.

Das ritterliche Mannesideal und die ritterliche Zucht blieb selbst in der besten Zeit auf den Stand der Ritter beschränkt. Bürgern und gar Bauern kam es nicht in den Sinn, ein gleiches zu erstreben, auch waren sie durch die Standesschranken davon ausgeschlossen. In den Kreisen der Ritterschaft hielten sich noch die äußeren gesellschaftlichen Formen und das Bewußtsein, durch eine Ahnenreihe den Wert und Adel ererbt zu haben. Der bloße Name genügte, einem ganzen Leben erhöhte Ansprüche und ein gesteigertes Selbstbewußtsein zu geben. Wo innerer Wert fehlte, da mußte oft der Schein aushelfen. Mit der edleren ritterlichen Kultur sank aber und verblaßte auch das edle Mannesideal.

Man beachte nur, welche Sinneswandlungen der Begriff der höfischen Zucht erfahren hat! Aus höfisch wurde im Laufe der Jahrhunderte »höflich« und »hübsch«. Wie eng umgrenzt, wie wenig einem vollen Manneswert angepaßt ist dieses »höflich«, das allein auf die gefällige äußere Form geht und einem Lakaien oder einer jungen Magd ebensogut ansteht wie einem freien Manne! »Hübsch« aber ist noch engeren Umfanges und schon auf die bloße äußere gefällige Erscheinung beschränkt. Nur in dem sächsischen Dialekt bezeichnet75 man als hübsch einen Menschen von angenehmen gesellschaftlichen Formen. Die Sachsen pflegen sehr mit Unrecht belächelt zu werden, wenn sie in diesem Sinne sagen: »S'is e hibscher Mann«. Sie haben sich damit gerade die gute alte Bedeutung treu bewahrt, die wir anderen Deutschen fallen ließen.

Kein Vater sagt aber heute seinem Sohne mit der vollen Überzeugung, ihm das Beste zu geben: »Mein Sohn, werde ein hübscher Mann – oder ein höflicher Mann!« Dem Worte Zucht ist es nicht viel besser ergangen: Es ist auch heruntergekommen. Zucht kommt von ziehen. Es bedeutet also emporziehen, aufziehen, wie man junge Pflanzen, junges Vieh aufzieht. Das geschieht mehr durch Pflege, als durch Gewalt. Mit der Zeit aber gewann der gewalttätige Teil der Bedeutung die Oberhand. Das mag durch die militärische Praxis gekommen sein. Preußen hat daran gewiß seinen guten Anteil. »Straffe Zucht« war das Ziel, dem der Vorgesetzte zustrebte. Das hat mit guten gesellschaftlichen Formen und mit ritterlicher Gesinnung nur noch wenig gemein. Man nennt jetzt Zucht und Disziplin zumeist in einem Atem. Das Wesentliche ist der blinde Gehorsam. Die Rute wurde zur Zuchtrute, das Verbesserungshaus zum Zuchthaus. Heute denkt man kaum noch daran, daß jemand im Zuchthause »erzogen« werden soll. Es ist ausschließlich Strafhaus geworden. Wir wollen deshalb auch auf unsere Kinder Wort und Wesen der »Zucht« ohne Einschränkung nicht anwenden. Das wäre uns zu hart und zu lieblos. Nur im Ausnahmefalle, wenn alle anderen Mittel erschöpft sind, tritt die Züchtigung ein. Dabei sind heute schon Eltern recht zweifelhaft, ob man durch Züchtigungen die Entwicklung edler Männlichkeit fördere. Sie meinen im Gegenteil vielfach mit Walther von der Vogelweide: »Niemand kann mit Gerten Kinderzucht erhärten.«

Ein einheitliches Mannesideal war deshalb der deutschen Jugend nicht beschieden, weil Deutschland keine selbständige einheitliche Kultur hatte.

Die Erziehung lag zumeist in den Händen der Geistlichkeit. Die »Geschorenen« waren aber dem Volke nie ganz geheuer. Man gab sich ihnen weniger aus Überzeugung hin als geblendet vom äußeren Glanze, von den unerschöpflichen Gunst- und Gnadenmitteln, von den lockenden Verheißungen und auch von äußerem Zwange76 bestimmt. Die großartige Organisation der römischen Kirche war natürlich mächtiger als das bürgerliche und kleinstaatliche Leben der Deutschen, die der fremden Kultur lange nichts Gleichwertiges entgegenstellen konnten. Der Geistliche hatte seinen Wert und seine Weihe durch sein Amt, er berief sich auf die höchsten Autoritäten im Himmel und auf Erden. Wer wollte dagegen an? Versuchte man es, so gab es jedesmal einen Kampf auf Leben und Tod. Kirchenbann, oft auch Reichsacht, Krieg und Verdammnis drohten dem Abtrünnigen. Fromme Mütter, nicht aber die Knaben selbst, sahen in glaubensstarken und glaubenseifrigen Priestern nachahmenswerte Vorbilder. Dem echten deutschen Burschen war es allzeit wohler im Wams als in der Kutte und die himmlische Liebe allein genügte auch ihm nicht.

Als Männer aufstanden, die den Kampf gegen die Geschorenen wagten, fanden sie eine begeisterte Jugend hinter sich. Wir lesen kein Sterbenswörtchen, daß Walther in Deutschland zu leiden gehabt hätte, weil er den Pfaffen Lug und Trug vorwarf, die Päpste wegen ihrer Untreue und Doppelzüngigkeit schmähte und Gott selbst zu Hilfe rief gegen das Treiben des zu jungen Papstes.

Nicht Frömmigkeit, sondern Tugend ist es, wonach der deutsche Bürger trachtete. Als das Rittertum zu Grabe gegangen war, da lebte diese bürgerliche Tugend und Tüchtigkeit so kräftig auf, daß sie den offenen Kampf gegen die fremden Lehrmeister wagen durfte. Das neue deutsche Mannesideal hat sich nicht nach den Lehrsätzen der römischen Kirche, sondern im Kampfe gegen diese herausgebildet.

Nicht auf Adelsbriefen und einer langen Ahnenreihe und nicht auf dem geweihten Amte, sondern allein auf seiner Kraft und Tüchtigkeit beruht der Wert des Bürgersmanns. Nur wer etwas taugt, hat Tugend, ist zu brauchen, genießt Achtung und bringt es zu etwas.

Aus diesen Regionen der harten Arbeiter stammen auch all die Männer des XVI. Jahrhunderts, die allein uns heut noch etwas zu sagen haben: Holbein, Dürer, Hans Sachs: harte Arbeiter, Männer der Tat, Bürger von echtem Bürger- und Handwerkerstolze. Die Kraft dieses Geschlechts lag in ihrer inneren Wahrhaftigkeit. Bei ihnen deckte sich Sein und Schein. Sie wollten nichts anderes sein, als77 Meister auf ihrem Arbeitsfelde und gaben ihren Wert sich selbst.

Goethe, selbst gewiß ein Aufrechter, gewillt, sich seine »Geradheit« stets ungebrochen zu erhalten, fand an jenen Männern ein herzliches Wohlgefallen:

»Ihr festes Leben und Männlichkeit,
Ihre innere Kraft und Ständigkeit«

hatten es ihm angetan. Wie aus Eichenholz geschnitzt sind ihre Charakterköpfe, und ebenso fest und sicher war ihre Lebensführung: ein Siegeszug, der über alle Mühsale und Fährlichkeiten des Lebens hinweggeht, wie der Ritter, den Dürer bildete, zwischen Tod und Teufel ohne Bangen und Zagen, Zögern und Klagen, fürbaß reitet. Ihre Bahn ist nicht durch Blut und Vernichtung bezeichnet, nein, wohin ihr Fuß trat, wo ihre Hand zufaßte, da blühte es auf, da erstanden Denkmäler der Kraft, Gesundheit und Schönheit. In ihrem Wesen ist nichts Erborgtes und Unechtes, nichts Verträumtes und Gekünsteltes.

Diese Männer stellten ihre Kraft wohl auch in den Dienst der Großen in Staat und Kirche, aber sie wurden nie Hofmaler, verkauften ihre Arbeiten, nicht aber sich selbst. Sie blieben sich in ihrer Kunst treu, schlicht und wahr, selbst wenn sie Kaiser malten. Nie gewahren wir einen Pinselstrich, der uns wie Phrase, wie eine servile Huldigung, wie eine Selbsterniedrigung anmutet. Wie die Großen der Erde zu diesen Größeren des Geistes standen, dies veranschaulicht die Szene, als Kaiser Maximilian dem Dürer seinen niedergefallenen Pinsel aufhob.

Von gleichem Schrot und Korn wie jene Meister der Kunst war auch Luther, der bürgerliche Prediger, dessen Verdienst darin bestand, daß er den Glauben zu einer mehr bürgerlichen Angelegenheit und damit die Kirche entbehrlicher machte. Wenn wir lesen, wie viele Männer damals ihm anhingen und für ihre Überzeugung ins Exil gegangen sind, wie viele für ihren Glauben gekämpft und gelitten haben, dann ergreift uns Bewunderung und Staunen. Luthers Wort: »Hier steh' ich, ich kann nicht anders«, betrachten wir als die größte Mannestat des ganzen Mittelalters. Daß es ein Germane sprach, das eröffnete den Kampf und Siegeszug der blonden Rassen gegen die dunklen. Damit setzt die geistige Befreiung der nordischen Staaten ein. An diesem Lutherworte haben sich seitdem Millionen germanischer78 Männer und Frauen aufgerichtet, dieses Wort wurde ihnen auch zum Leitmotiv ihrer Erziehung. »Werde ein Mann wie Luther!« Das versteht auch ein Kind. Das heißt: werde ein Mann, der seine Überzeugung gegen eine Welt von Widerständen behauptet. Das Trutzlied: »Ein' feste Burg ist unser Gott«, darin die gewaltigen Worte: »Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr', Kind und Weib: Laß fahren dahin! Sie haben's kein'n Gewinn: Das Reich muß uns doch bleiben«, enthalten ein vollständiges Erziehungsprogramm und können einem ganzen Volke Kraft und Halt geben.

Und woher schöpften jene Männer diese unverwüstliche Kraft? Aus der Wahrhaftigkeit ihres Wesens. Sie holten sich ihre Lebensgesetze nicht aus der Fremde, suchten die Schönheit nicht in Hellas und Rom, die Wahrheit nicht in der Kurie oder bei den Schriftgelehrten, sondern suchten und fanden sie in der Natur und in ihrer eigenen Brust. So schufen sie in ihrer großartig schlichten Natürlichkeit einen germanischen Glauben und eine deutsche Kunst, eine Heimatkunst. Und weil alles so ehrlich, schlicht und wahr, so gesund und selbstverständlich ist, deshalb bleibt es ewig jung und wirkt es auch so unwiderstehlich. Da findet man die Behauptung bestätigt, daß der Deutsche nur sich selbst treu zu bleiben braucht, um mannhaft zu sein. So wie er aber mehr oder etwas anderes sein will, als wozu ihn seine Natur bestimmt hat, wird er unsicher und kraftlos. Alle Wanderungen in fremdes Geistesland, zu denen es uns allezeit verleitet hat, sind auf Kosten der deutschen Mannhaftigkeit gemacht worden. Wir kommen davon wie Seeräuber mit reicher Beute beladen heim, aber wie mit einem inneren Knacks, da wir wohl das fremde Klima nicht vertragen konnten. Selbst wenn wir Bürgersleute uns nur in die »höhere« Gesellschaft unseres eigenen Volkstums begaben, bekam uns das jedesmal schlecht. Wir wissen uns da nicht zu benehmen, werden unsicher und unwahr, entweder demütig und verlegen oder protzenhaft und prahlerisch.

Nicht mit der Flinte oder mit dem Ruder haben diese Männer ihre Mannhaftigkeit betätigt, sie haben viel Höheres und Größeres geleistet. Sie haben den Kampf gegen eine Welt von sichtbaren und unsichtbaren Feinden aufgenommen, gegen die Hölle und den Himmel, gegen Kaiser und Papst. Als Luther in den Saal zu Worms eintrat, wo ein Kranz von Würdenträgern der Kirche und79 des Reiches über ihn richten sollte, da sagte zu dem »Pfäfflein« der Kais. Feldhauptmann Frundsberg mit Recht, daß er einen schwereren Gang mache, als er und sonst ein Ritter je gemacht habe. Da sah die staunende Welt einmal wieder, was ein Mann ist. Gegen eine Schanze anstürmen, einen Seesturm bestehen, das war dem harten Geschlechte des XVI. Jahrhunderts nichts Bewunderungswürdiges mehr. Mut im Felde und auf den Wogen setzte man bei jedem schlichten Bauernburschen und bei dem jüngsten Seemann voraus. Was Luther tat, war etwas viel Größeres, etwas Unerhörtes an Wagemut und Mannhaftigkeit. Nicht Gehorsam vor irgendeinem Machthaber, nicht Unterwürfigkeit unter eine Kirche, die jeden Dienst mit reichstem Lohne vergelten konnte, sondern Trotz allen anerkannten Mächten, Schutz und Lohn allein in der eigenen Brust. So lebte Luther seinem Volke den Mann der unbeugsamen Überzeugung vor, der seinem Gewissen folgt – »und wenn die Welt voll Teufel wär«.

Im konfessionellen Hader und unter der einseitigen Ausbeutung durch herrschsüchtige Geistliche erfuhr aber auch dieses Ideal bald seine Trübungen. In rein germanisch-protestantischen Ländern, wie in Schweden, scheint es sich länger erhalten zu haben. Schiller hat im Wallenstein den Typus des glaubensstarken ritterlichen Protestanten in der Gestalt des schwedischen Oberst Wrangel festgehalten.

Zu ihm spricht Wallenstein die ehrenden Worte:

– – »Er urteilt wie ein Schwed und wie
Ein Protestant. Ihr Lutherischen fechtet
Für eure Bibel, euch ist's um die Sach';
Mit eurem Herzen folgt ihr eurer Fahne. –
Wer zu dem Feinde läuft von euch, der hat
Mit zweien Herrn zugleich den Bund gebrochen.
Von all dem ist die Rede nicht bei uns.«

Worauf dann der erstaunte Ausruf Wrangels:

»Herr Gott im Himmel! Hat man hierzulande
Denn keine Heimat, keinen Herd und Kirche?«

In Deutschland, selbst im protestantischen, verlernte man bald in den Wirren des unglückseligen Dreißigjährigen Krieges die Hingabe für seine religiöse Überzeugung, weil die Fürsten mit der Gesinnung80 ihrer Männer elenden Schacher treibend, eigenmächtig über das Glaubensbekenntnis ihrer Untertanen nach dem Grundsatze: cuius regio eius religio entschieden; weil die Fürsten aus Interessenpolitik ganz nach äußerem Bedarf ihren Glauben wechselten und dann getreue Gefolgschaft ihrer Charakterlosigkeit von dem Volke forderten.

Heute noch wechseln auch protestantische fürstliche Damen, um zu heiraten, ihren Glauben je nach Bedarf und erschüttern durch dieses Beispiel fort und fort das Erziehungsideal lutherischer Gesinnungstreue in ihrem Volke, dem sie Vorbild und Erzieher zu sein den an sich berechtigten Ehrgeiz haben.

Es kommt hinzu, daß sich im Laufe der Jahrhunderte der Inhalt der lutherischen Überzeugungen für Unzählige verflüchtigt hat. Man ehrt diese Überzeugungen noch, teilt sie aber nicht mehr. An überlebten Idealen aber kann man ein Volk, zumal die Jugend nicht aufrichten. Gedanken und Ziele müssen werbende und hinreißende Kraft haben, wenn wir dafür die Jugend begeistern wollen, wenn diese sich mit Leib und Seele in ihren Dienst stellen soll. Gerade sie verlangt das, denn sie folgt mehr der Stimmung als der Überlegung. Was schert sie aber heute, ob z. B. Luther oder Zwingli in der Abendmahlslehre recht hatten? Wer die Probe darauf machen will, wie tief oder wie flach diese und verwandte theologische Streitfragen in der Volksseele wohnen, der versuche einmal einen Kongreß über ein solches Thema zustande zu bringen, einen Kongreß deutscher Männer, Frauen, Jünglinge und Jungfrauen! Ich zweifle an irgendeinem Erfolge. Und dabei bearbeiten die Geistlichen beider Konfessionen unser Volk von der Wiege bis zur Bahre mit allen diesen religiösen Fragen, als ob von ihnen alles Wohl und Wehe in Zeit und Ewigkeit abhinge.

Nicht Luthers Persönlichkeit also, aber die lutherische Lehre und der lutherische Katechismus haben abgewirtschaftet und damit sein Erziehungsideal.

Wir brauchen nur an den Katechismus zu denken, um sofort von einem Grausen überfallen zu werden vor all dem widerlichen pfäffischen Gezänke, vor all der blutrünstigen, düstern und so unsagbar elenden Wirtschaft, die uns daraus in Staat, Schule und Haus erwachsen sind.

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Wir werden später der Frage nicht ausweichen können, wie weit heute die Geistlichkeit noch ihren Beruf als Erzieher zur Mannhaftigkeit erfüllt.

Daß viele Nachfolger Luthers jahrhundertelang als leuchtende Vorbilder ihrer Gemeinde in diesem Sinne gewirkt haben, ist eine historisch anerkannte, unerschütterliche Tatsache. Das deutsche Pastorenhaus in Ehren! Ein wahrer Strom des Segens hat sich von ihm auf unser Volk ergossen. Es ist die Wiege zahlloser führender Männer auf allen Gebieten unseres Kulturlebens geworden – eine wahre Heldenschule für geistige Kämpfer gewesen. Wenn es heute nicht mehr so ist, so liegt die Schuld außer an der Geistlichkeit selbst auch an der völligen Neugestaltung des Geisteslebens, die unsere Kirche ihrer bestimmenden, führenden Macht beraubt hat. Nicht am wenigsten sind es die bösen Lehrer, die ihr diese Wunden geschlagen haben – mehr aus Notwehr als aus Frevelmut.

Die traurigste Zeit der deutschen Geschichte, die zwischen dem Westfälischen Frieden und den Befreiungskriegen liegt, ist eine Schule der Gesinnungsschwäche und aller Lakaientugenden gewesen. Fürsten von Gottes Gnaden in unabsehbarer Menge forderten sklavischen Gehorsam und hielten sich ein Heer von Hofbeamten, Eunuchen der Gesinnung, die wie abgerichtete Hunde nach den Launen Serenissimi spähten und sich zu jedem niedrigsten Dienst hergaben. Der aufrechte Mann hatte damals einen schweren Stand. Französischer Einfluß tat das übrige zur Ertötung jeder männlichen Haltung und Gesinnung. Die Trachten jener Zeit spiegelten ihren sittlichen Tiefstand. Die Männer mit ihren Perücken, Wadenstrümpfen, kleinen Schuhen, ihren gestickten Westen und spitzen Zierdegen suchten in allem französisch à la mode zu sein: elegant, geschmeidig, geistreich, witzend, gesinnungslos. Erziehungsideal selbst der männlichen Jugend war die politesse. Französisch parlieren, die Damen als verliebter Täuberich umgirren, auf der Gitarre klingeln, sentimentale Verslein schmieden. Der Galante stand in höherem Ansehen als der Mannhafte. Kichern statt frohen Lachens, nippen statt herzhaft essen und trinken, stets mit gekrümmtem Rücken ja sagen, nie einmal mannhaft aufrecht stehend auch mit einem offenen Nein trotzen. Daß Männer solcher Sitten keine Bärte tragen, das paßt ganz zum Bilde: Kastraten, Lakeien und allem unmännlichen Volke82 kommt diese Manneszier nicht zu. Man muß sich nur Gemälde jener Zeit betrachten. Auf den Städtebildern fehlt fast nie die stattliche Hofkarosse mit bunten Lakeien hinten auf dem Tritte, auf der Straße die Bürger, die Hüte und Nacken bis zum Boden niederbeugen. Man muß die Huldigungsgedichte lesen, mit denen das Geburtstagsfest Serenissimi oder die glückliche Niederkunft der Landesmutter gefeiert wurde, muß die Widmungen gelehrter Bücher sehen, mit denen, in tiefster Demut ersterbend, selbst die größten Geister jener Zeit ihre Geistesgaben als gehorsamste Diener ihrem Herrn zu Füßen legen zu dürfen submissest und untertänigst bitten und muß den ganzen Schnörkelkram des höfischen Zeremoniells einmal betrachtet haben, mit dem sich diese Halbgötter auf deutschen Fürstenthronen umgaben. Vieles davon lebt noch heute nach, so der häßliche Gruß »Gehorsamster Diener!« und der Unfug, der mit den Titulaturen und Wohlgeboren, Hochwohlgeboren etc. getrieben wird.

»Welche Nation in Europa«, so fragte schon Herder, »hat sich die Anrede der Menschen und Stände aneinander erschwert und verkünstelt wie die deutsche? Nicht nur die langweilig abgeschmackten Titulaturen, mit denen wir ein Spott aller Nationen sind und deren wir dennoch nicht entraten mögen, sondern der ganze Bau unserer öffentlichen Anreden, Zuschriften, Verhandlungen usf. zwingen uns in Knechtsfesseln zu sinnlos heuchelnden Knechtsgebärden. Unsere demütigen Bittschriften und die gnädigen oder allergnädigsten Resolutionen darauf, wer kann sie ohne Lachen, ohne Verdruß und Scham lesen? Und die förmlichen Oppositionen unserer Rechts- und Staatssachen, die Devotion, mit der wir verharren und ersterben, die krausen Züge, die dabei gemalt, die Papierballen, die Menschenleben, die mit und zu dieser unseligen deutschen Kunst verschwendet werden, die kopflose Steifheit, der Formelstolz, die pedantische Grobheit und Seelenschläferei, die daher ganzen Ständen, Kollegien und Ämtern zur zweiten Natur werden, wer kann und darf diesen Wust ausfegen? Und doch ist der gerade Vortrag der Wahrheit so auffallend leichter und lichter, indes die Verkünstelung und Verwirrung so viel Zeit, Mühe, Geld und Papier kostet! Länder, Stände, Städte, Menschen leiden unter dieser langweilig-hochpeinlichen Verkreiselung; wer kann und mag sie ändern? Im gesellschaftlichen Umgange sogar ist jemanden bei seinen Namen zu nennen, Schimpf; Titel und Würden83 bei Männern und Weibern dürfen allein genannt werden; dem Ohr wie dem Auge wollen wir nur in der Livree erscheinen. Wie leicht haben sich andre Nationen dies alte Joch gemacht oder es gar abgeworfen; der Deutsche trägt's geduldig.

Kriechende Gefälligkeit, ein solches Loben, wo nichts zu loben ist, sinnlose Titulatur- und Bücklingsschmeicheleien, die alle gerade Anrede der Menschen und Stände gegeneinander aufheben, die Kanzleien ermüden und den Geschäftsstil nicht nur, sondern oft die gesunde Vernunft verderben, jene süßliche Hingabe, die man (man verzeihe der niedrigsten Sache einen niedrigen Ausdruck) kaum anders als deutsche Hundsfötterei nennen könnte, legen uns treu-devotest zu Füßen der Majestät Dullneß. Die meisten Nationen Europas haben sich diesen Wortpraß erleichtert oder ihn weggeworfen, weil er die Larve knechtischer Falschheit, den Charakter einer Nation abstumpft, jedem Vortrage seine Richtung und Schärfe nimmt, und die ganze Rede in ein »Um den Brei gehn« verwandelt, zu dem wir Deutschen am wenigsten gemacht sind. Und eben wir Deutsche tanzen nicht nur noch in diesem spanischen Mantel, sondern unsre Formularisten setzen in diesen Tanz sogar alle Kunst ihres Geschäftes, so daß sie vor lauter falschen Umschreibungen und Titularbrücken zur Sache, zur Person und Geschäft nicht kommen mögen.«

Dazu damals ewige Kriegswirren, unerschwingliche Steuern für Bestreitung monarchischer Großmannssucht, dazu ferner die Enge des ganzen bürgerlichen und zünftigen Lebens, der Klatsch und die philisterhafte Überwachung jeder Lebensführung, die strenge Zensur jeder geistigen Regung, die Umständlichkeit des Verkehres, all die Schikanen durch Paß-, Zoll- und Grenzzwang. Daß in einer solchen Stickluft aufrechte Männer nur selten gedeihen wollten – wen kann das noch wundern? Man muß sich dieses Bild nur recht anschaulich machen, um die ragenden Größen des Preußen Friedrichs und die geistigen Taten der Männer wie Lessing, Herder, Goethe und Schiller gerecht würdigen zu lernen. Ohne den befreienden Lufthauch, der aus England und Frankreich herüberwehte, wären diese Erscheinungen fast unerklärlich. Auch das alte Griechenland, das Winckelmann entdeckte, half uns aus tiefer Not erlösen. Damals war es wirklich eine Errettung, daß es unserem Volke zeigte,84 wie gesunde und unverbildete Menschen einstmal gelebt haben und glücklich gewesen sind.

Die Sucht nach dem Fremdländischen scheint dem Deutschen im Blute zu liegen. Immer wieder muß ein Reformator erscheinen, der das mühsam eingepflanzte Fremde mit verdoppelter Mühe wieder ausgräbt. Gegen das französische Unkraut kämpfte zuerst und am rücksichtslosesten der Preußenkönig Friedrich Wilhelm I., nach langer Zeit der erste wieder echt deutsch empfindende und handelnde deutsche Fürst. Er hat bekanntlich bei seinem Regierungsantritte als ein junger Mann von 25 Jahren sofort allen kostbaren Prunk der Festlichkeiten, alles leere Gepränge des höfischen Zeremoniells bis auf das Notwendigste beschränkt und ein sehr gesundes Erziehungsprogramm für seinen Sohn aufgestellt mit dem Zwecke: Schaffensfreudigkeit, Kraft, Gesundheit, Sittlichkeit, Zufriedenheit zu erzielen. Deshalb drang er in der Erziehung auf Wahrhaftigkeit, Fleiß, Treue, Sparsamkeit, Einfachheit der Lebensführung, Gewöhnung an Ordnung, Gehorsam und an nützliche Beschäftigung. Auf den blendenden Schimmer einer hoch gesteigerten Schulweisheit gab er nichts. Er ist recht eigentlich der Vater des preußischen Mannesideales, der Schöpfer des preußischen Staates, der sich Schritt für Schritt die Vorherrschaft in Deutschland errungen hat. Seine hohe erziehliche Wirksamkeit erkannte selbst sein oft von ihm arg mißhandelter Sohn, der Große Friedrich, völlig an. Er sagte darüber zu seinem Freunde de Catt: »Welch ein schrecklich strenger Mensch! Aber auch wie gerecht, einsichtig und sorgsam. Sie glauben nicht, welche Ordnung er in alle Zweige der Regierung brachte! Seiner Sorge, Arbeit, Gerechtigkeit und Wirtschaftskunst verdanke ich es, daß ich das habe ausführen können, was ich ausgeführt habe.« – – Die Kraft des strengen und einseitigen Königs lag eben in dieser Einseitigkeit.

Er wagte es, einmal nichts anderes zu sein und scheinen zu wollen, als ein tüchtiger deutscher Mann. Selbst die lateinischen Studien galten ihm als Allotria. Köstliches erzählt darüber wieder sein Sohn: »Als ich noch Kind war und etwas Latein lernte, deklinierte ich eben mensa. Plötzlich trat mein Vater ins Zimmer. ›Was macht ihr da?‹ sagte er. ›Papa, ich dekliniere‹, sagte ich. ›Latein treibst du mit meinem Sohne, du Schurke!‹ Damit brachte er den85 Lehrer mit Stockschlägen aus dem Zimmer. Ich kroch vor Angst unter den Tisch und glaubte sicher zu sein. Aber er holte mich vor und bläute mich durch.«

Eine Illustration zu der Behauptung, daß es uns an einheitlicher Erziehungspraxis allzeit gefehlt hat: der König prügelt Lehrer und Sohn wegen des Lernens von mensa und Tausende von Kindern werden geprügelt, weil sie mensa nicht lernen wollen. Wer handelte nun wohl vernünftiger? Jedenfalls hatte der König seine klaren Grundsätze, die eine bewußte Abkehr von allem Fremden waren.

Der damals am Berliner Hofe beglaubigte französische Gesandte Graf Rottenburg berichtet darüber, der König habe gesagt: »Ein Kind, das einst in einem bestimmten Lande und in einer bestimmten Zeit herrschen soll, muß in nichts anderen als in den hierzu erforderlichen Gegenständen unterrichtet werden. Mögen Dauphins, Prinzen von Wales und Infanten die Weltgeschichte studieren und Latein lernen, mögen sie Zeit und Eifer auf die nicht leicht zu erwerbende Geschicklichkeit verwenden, sich beim ›Aufstehen‹ richtig zu benehmen: in Preußen steht der König allein auf, sobald die Reveille ertönt und geht auch ohne Zeremoniell zu Bett. Er ist nicht so reich wie die Könige von England, Frankreich und Spanien, sondern ein armer König, den das Altertum mit seinen Assyrern, Ägyptern und Römern nichts angeht.« Und nun folgen Worte, die jeder deutsche Erzieher kennen sollte. Sie sind von einer verblüffenden Wahrheit, und ihnen haben wir es in letzter Linie zu danken, daß wir wieder ein starkes, selbstbewußtes Volk geworden sind: »Herodot, Thucydides, Livius und Tacitus wissen nichts von Pommern, Jülich und Berg, auf welche die Hohenzollern Ansprüche haben. Und ihre Sprache! Kann man diese in der Armee oder in der Landwirtschaft gebrauchen? Die antike Pracht geht einen preußischen König nichts an. Denn der soll marschieren, reiten, sich um die Geschäfte kümmern, keine Perücke tragen, sondern deutsch denken und arbeiten.«[6] Zugleich wurde aber stark in Frömmigkeit gemacht.

Auch Friedrich der Große war mit der Jugenderziehung in86 den Lateinschulen keineswegs zufrieden. In ihnen würde nur das Gedächtnis gefüllt mit unbrauchbaren Kenntnissen, während das eigene Denken, Bildung des Urteils nicht geweckt und besonders Bildung einer mannhaften Gesinnung nicht erzielt werde. Mehr als durch Schulinstruktionen wirkte er, indem er seinen Deutschen den Mann der Tat vorlebte. Aber die gute Wirkung, die er damit als nationaler Erzieher gewonnen hatte, wurde wieder stark beeinträchtigt durch seine Hinneigung und Vorliebe für die französische Sprache und für französischen Geschmack überhaupt.

Da mußte wieder ein Lessing kommen, um auch diese Fremdpflanze auszuroden und um nun auf dem gesäuberten Boden freilich wieder eine andere noch von ferner her importierte Kultur zu pflanzen, so daß Schiller spotten konnte:

Kaum hat das kalte Fieber der Gallomanie uns verlassen,
Bricht in der Gräkomanie gar noch ein hitziges aus.

Napoleon, dem grausamen Zuchtmeister, ist es zu danken, daß die Deutschen sich wieder nach einem deutschen Mannesideal umschauten. Dichter, Philosophen, Staatsmänner legten sich die Frage vor, wie die alte germanische Tüchtigkeit wieder erweckt werden könne. Seitdem arbeiteten die Führer, Schöpfer und Sänger der Freiheitskriege an der körperlichen und sittlichen Neugeburt des im läppischen Hofgetändel, in Untertanendemut und in biedermeierischer Philisterseligkeit versunkenen Volkes. Die deutsche Jugend, lenkbar und hingebend wie stets, wenn man ihr hohe Ziele zeigt, folgte ihren Führern mit einer Begeisterung und einer Hingabe, wie sie Deutschland seit den Tagen des Arminius nicht gesehen hatte.

Hier war es zum ersten Male der Gedanke des großen deutschen Vaterlandes, der Stammes- und Blutsgemeinschaft, der dem Mannesideale neuen und tiefsten Gehalt gab. Vordem hatte kein deutscher Fürst, selbst Friedrich der Große nicht an ein deutsches einiges Volk gedacht. Sie alle trieben Lokalpatriotismus. Vordem hatte selbst der Offizier als Lehnsmann nur seinem Herrn gedient. Treue knüpfte ihn an den einen Mann, nicht an seine Landsmänner. In den Glaubenskriegen entschied eine Zeitlang die religiöse Überzeugung, während das Vaterland nichts galt. Darauf wurde die Kriegsführung ein Handwerk. Es galt nicht für ehrenrührig, seinen87 Kriegsherrn zu wechseln. Franzosen dienten im Heere des Großen Friedrich. Deutsche Offiziere waren über die ganze Erde zerstreut. Man konnte nach den Anschauungen jener Zeit, wie der Major von Tellheim in Lessings Minna von Barnhelm, ein Ritter ohne Furcht und Tadel sein, ohne Anhängigkeit an ein Vaterland. Ein deutsches Vaterland also und damit die bewußten vaterländischen Mannestugenden schuf sich das deutsche Volk erst in und durch die Befreiungskriege. Es war neu und zündete auch wie ein neues Evangelium, als Schiller die Worte ins Volk hinausrief:

»Ans Vaterland, ans teure, schließ' dich an!«

Seitdem konnte man sich eine volle Mannespersönlichkeit ohne tiefe Beziehung zum Vaterland kaum mehr denken. Goethe sogar hatte sich gegen den ungerechten Vorwurf zu schützen, daß es ihm an vaterländischer Gesinnung mangele. Wer nicht Patriot war, galt eben nicht als voll, und wenn er ein Goethe wäre.

»Es war plötzlich«, sagt Arndt, »wie durch ein Wunder Gottes ein großes und würdiges Volk erstanden« – »Die Preußen sind dem ganzen deutschen Volke Anführer zur Freiheit gewesen, sie sind ihnen auch ein Muster der Tapferkeit, Zucht, Bescheidenheit und Menschlichkeit, sie sind rechte Krieger Gottes geworden. Jene Begeisterung, womit sie sich dem Tode fürs Vaterland weihten, machte sie auch stark zu jeder hohen Geduld und zu jeder menschlichen Milde: sie waren in der Schlacht wie verzehrendes Feuer und wie erquickender Sonnenschein, wenn die Schwerter ruhten … Daß wir jetzt (1845) frei atmen, daß wir fröhlich zu den Sternen blicken und Gott anbeten: das danken wir nächst Gott diesen Beginnern der deutschen Herrlichkeit. Sie sind uns übrigen Deutschen, wie verschiedene Namen wir auch führen mögen, die glorreichen Vertreter und das erste Beispiel der Freiheit und Ehre geworden« (Schriften für und an seine lieben Deutschen I, Leipzig 1845).

Ich glaube, daß man diese Zeit in ihrer sittlichen Größe trotz Heinrich von Treitschke noch nicht genügend würdigt. Wieviel idealer Schwung, wie große Opferfreudigkeit, welch begeisterte Hingabe des Lebens und aller Lebensgüter flammten in den Jünglingen und Jungfrauen, die sich an Körners und an Arndts Liedern begeisterten und singend und betend in Kampf und Tod gingen! Das88 Mannesideal, das damals geschaffen wurde, hätte nicht wieder versinken dürfen.

Seit der Niederwerfung Napoleons, als die Bundesakte einen losen Verband deutscher Staaten geschaffen hatte, trat immer lebhafter der Wunsch nach Verfassungen hervor, durch die die bürgerlichen Rechte sicher gestellt werden sollten gegenüber der Regierungsgewalt. Man hoffte, daß durch die öffentlichen Verhandlungen eines Landtages eine unendliche Menge von kleinen Interessen in den Kurs des bürgerlichen Lebens kommen und diesem einen größeren Gehalt und Reiz geben würden. Das große Interesse des Staates werde so gewissermaßen in Münze umgesetzt und diese ergieße sich über gewisse Teile der Gesellschaft und belebe ihren Staatsverkehr. Man erhoffte ein reiches blühendes Staatsleben und gedachte dabei an die Form in Rom und an Athens öffentliche Plätze. Gegen eine solche Vorstellung des Bürgerlebens mußte das stille Besorgen seiner Privatgeschäfte als eine wahre Stagnation erscheinen, und in diesem Sinne beklagte man sich auch ewig über den faulen, trägen Zustand der Zeit. »Soll der Untertan«, so sagte man, »sich seinem Staate im rechten Sinne anpassen, so muß er dessen Hauptinteressen kennen; diese müßten großartig und dauernd sein und in dieser bleibenden Richtung muß sich die Teilnahme des Bürgers befinden. Die Regierung muß so eingerichtet sein, daß er Vertrauen zu ihr hat; dieses Vertrauen braucht nicht blind und unbedingt zu sein; er kann mit seinem Urteile ihren Schritten folgen, und sein Herz kann ihr mehr oder weniger Beifall zollen. In diesem mehr oder weniger einstimmenden Gefühle und Urteile der Untertanen wird die Regierung die Leitsterne erkennen und danach steuern können, um so leichter und schneller zu fahren.« (K. Schwartz, Leben des Generals Carl von Clausewitz. Bd. II. Berlin 1878.) Ideal der Zeit wurde der tüchtige und rechtschaffene Bürger, der zugleich warme Teilnahme an den großen Interessen des Landes zeigt, der freimütige Politiker.

Daneben lief eine neue Lehre her, die, von Frankreich ausgehend, vereinzelte Gemüter in Erregung versetzte, die Lehre von der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der Menschen. Zu dem Wunsche, selbsttätig dem Staate, der Gemeinschaft der Brüder zu dienen, gesellte sich der höhere Wunsch, dieses geliebte Vaterland zur Pflegstätte und Heimat der neuen Menschheitsideale zu machen.89 Männer mit freiem vorurteilsfreien Blicke, die sich über Standes- und Klassenvorurteile hinwegsetzten und »modern« empfanden, wollten nun auch mit Hand anlegen an der geistigen und sittlichen Verjüngung ihres Volkes. Aber da kamen sie übel an. So hatten sich die Fürsten und ihre Staatsmänner die Folgen des Freiheitskampfes nicht vorgestellt. Nachdem das Volk ihnen den Feind aus den Landen gejagt hatte, sollte ein jeder Untertan wieder still an seine Arbeit gehen und die Lenkung der politischen Geschicke denen überlassen, die von Gott und kraft ihres Amtes dazu da waren. Die freien deutschen Burschen aber, die sich klüger dünkten und in ihrem jugendlichen Unverstande von einem einigen, freien deutschen Vaterlande schwärmten, hatten hinter eisernen Gittern Zeit, darüber nachzudenken, daß Deutschland für die Verwirklichung ihrer Mannesideale noch nicht reif war. Als die große Hetze losging gegen die Burschenschaftler, liberalen Schriftsteller und alle für ein einiges großes Deutschland begeisterten Schwärmer, hat auch Laube, dessen hundertjähriger Geburtstag soeben in Deutschland festlich begangen wird, neun Monate im Gefängnis zugebracht, nicht für eine gegen den Staat gerichtete Tat, nur für seine deutsche Gesinnung. Aber er hat diese tapfere Gesinnung sein Leben lang bewahrt, ob er sie gleich in jungen Jahren so schwer büßen mußte. Feodor Wehl, der das zutreffendste Bild von Laube entworfen hat, sagt mit warmen Worten: Das junge Deutschland ist ohne Überläufer und Verräter an seiner Sache geblieben. Das ist auch ein Ruhm, und dieser Ruhm schmückt Laube noch besonders, denn er, der später an die Spitze des Wiener Burgtheaters trat, war dort ohne Zweifel vielfach der Versuchung ausgesetzt, ein Liebediener der Macht und ein Abtrünniger seiner demokratischen Gesinnung zu werden. Er ist es nicht geworden, wie sehr er auch von seiner tumultuarischen Jugend sich losgesagt. Ohnmächtig auf politischem Felde, wendete sich seine von Tatkraft strotzende Natur im Beginne der vierziger Jahre der Literatur zu, um den modernen Geist in ihr zum Ausdruck zu bringen. Sein tumultuarisches Wesen wußte eine Zeitlang nicht ein noch aus, wendete sich abenteuerlich nach verschiedenen Zielen, seine eigentliche Bestimmung suchend, sich mit verwegener Zuversicht Bahn schaffend. In all diesem Ringen ist ein Zug hervorstechend, der ihn zum Regieren bestimmt erscheinen läßt: der ungestüme Drang, Positives zu schaffen, gestützt auf ein90 zweifelloses Selbstvertrauen. (Josef Lewinsky in der N. Fr. Presse vom 16. Sept. 1906.)

Laube selbst hebt in seinen Erinnerungen hervor, daß eine politische Verbindung »Junges Deutschland« nie existiert hat, sondern nur eine Erfindung des Herrn v. Tzschoppe in Berlin war, »um eine polizeiliche Handhabe zu gewinnen für seine Bannbulle gegen eine Anzahl junger Schriftsteller, welche der damaligen Reaktion unbequem waren«.

Wienbarg, Heine, Laube, Gutzkow, Theodor Mundt, das waren bekanntlich die feinen Köpfe, gegen die polizeilicher Spürsinn seine Maßregeln ergriff. Was hatten diese Männer im Sinne? Hören wir sie selbst. Laube sagt:

»Es fing an deutlich zu werden, daß eine junge Schriftstellerwelt entstünde, welche außerhalb der traditionellen Bahnen unserer Klassik und Romantik eine Existenz und eine Wirkung hatte. Die erkünstelte Situation, die geschraubte, krankhafte Empfindung wurden plötzlich verspottet, die Wahrheit wurde gesucht, die Wahrheit in den Ausgangspunkten und in den Zielen, im wesentlichen das, was man später Realismus genannt hat. Man nannte es damals ›Junges Deutschland‹.«

Die Reaktion war aber zu stark, um diese junge Pflanze aufkommen zu lassen. Bald wurde es auch wieder still, und der Gedanke an ein großes deutsches Vaterland mußte wieder einschlafen. Vergebens hatte also die deutsche Burschenschaft gesungen, Jahn seine deutsche Turnerschaft ins Leben gerufen: in den großen Kreisen des Volkes Preußen erklangen nur noch lokale und preußisch-patriotische Lieder. »Auch in den deutschen Schulen gab es, mindestens vor 1848, niemals einen wirklichen deutschen Patriotismus. Wie man dort an Stelle großer dichterischer Eindrücke die grammatischen Lehren einer toten Sprache empfing, so an Stelle eines echten, lebendigen, Patriotismus nichts als die Geschichte toter Völker.« So berichtet einer, der die Zeit mit durchlebt hat, L. Passage, und stimmt darin mit Bismarcks Schulerinnerungen überein.

Nie sind brave Männer mit ärgerem Undanke belohnt, nie unwürdiger behandelt worden, als die Deutschen in der Zeit zwischen der Völkerschlacht bei Leipzig und der Revolution von 1848. Unter Metternichs Zucht erstarb alles Leben. Die Staatsmaschine arbeitete91 wieder im alten trägen Gange. Freiherr v. Stein hat einmal die Tätigkeit der damaligen österreichischen Ämter beschrieben und erzählt: »Diese Bureaus beschäftigen sich allein mit der Anwendung eines Systems plumper, verworrener Förmlichkeiten, die jeden Augenblick die freie Tätigkeit des Menschen aufhalten, um an deren Stelle Massen von Papier und die nichtige Dummheit oder Faulheit zu setzen.«

Dieses Bureaugetriebe des Vormärz hemmte jeden Fortschritt, jedes freie geistige Leben. Oder wie sollte man es anders deuten, daß unmittelbar nach einer so beispiellosen nationalen Erhebung, mit der verglichen die griechischen Befreiungskämpfe gegen die Perser eine Armseligkeit sind, jeder Aufschwung, jeder politische, wirtschaftliche, geistige Fortschritt ausbleibt, daß die Zeit krank und müde dahinschleicht und auch die Bestrebungen der Männer, die sich zum Bunde des sog. »Jungen Deutschlands« zusammenfanden, keinen frischeren Zug in das öffentliche Leben bringen können?

Dafür blühte um so üppiger der Weizen der Mucker. In stickiger Kanzleiluft, unter der Obhut von großschnauzigen Polizeibeamten und leisetretenden, nach oben hin kriechend ergebenen, nach unten hin großtuerischen und geheimnisvollen Staatsdienern konnten mannhafte Deutsche nicht gedeihen. Wieder bildete das kleinliche Getriebe der Verwaltungmaschinen, der Klatsch bei Hof und in der »guten« Gesellschaft, das Sinnen und Sorgen um die kleinen täglichen Bedürfnisse, Wünsche, Freuden und Leiden den Inhalt des um seine großen Ziele gebrachten Lebens.

Die wirklich Großen aber, wie Heinrich von Kleist, Friedrich Hebbel und Otto Ludwig blieben sogar unverstanden. Wer Deutschland verlassen und fremde Kultur gesehen hatte, der wollte in die unfreie Heimat nicht wieder zurück. Amerika, England, Frankreich gewannen den Ruf, Länder freier Männer zu sein. Als der derblustige Wiener Dichter Eduard von Bauernfeld von einem Besuche in England heimkehrte, erzählte er darüber in seiner lebhaften Art und sagte laut: »In England ist jeder Kohlenträger gescheiter, als bei uns ein Hofrat.« Als er sich umwendete, stand ein Hofrat Vesque v. Püttlingen hinter ihm und lachte – fast zustimmend, jedenfalls gar nicht beleidigt. Man glaubte auch sonst in Österreich, daß Bauernfeld wohl recht habe.

92

Der deutsche Bürger lebte wie in einem großen Staatsgefängnisse. Wie weit das Mißtrauen und die Verfolgungswut ging, dafür habe ich selbst noch eine Probe gesehen: Mein Vater, der in den Jahren um 1855 in Wien lebte, dann aber nach Gotha übersiedelte, erfuhr erst nach Jahren in Dresden, um 1880 herum, von Fürst Hugo Salm-Reifferscheid, daß alle Briefe, die er aus Gotha an Wiener Freunde schrieb, von der Zensur geöffnet worden seien und daß man seine Wege in Wien selbst überwacht habe. Dabei hat er niemals politisch tätigen Anteil genommen. Der Umstand allein, daß er in Gotha lebte, mochte ihn verdächtig gemacht haben, oder vielleicht, daß er Friedrich Hebbels Freund war?

Kein Wunder, daß viele und oft gerade die Besten dem unfreien Vaterlande für immer den Rücken kehrten. Heinrich Heine gab dieses Vaterland, in dem nur der Korporal und der Büttel Rechte hatten, dem öffentlichen Spott preis. Man sollte ihm heute dafür nicht mehr zürnen. Deutschland und Preußen verdienten den Spott gründlich. Das Volk war zur Ohnmacht verurteilt, der Staat omnipotent und ein gar gestrenger, ungnädiger Herr. Post, Steuer, Polizei, Militär, alles, was Uniform trug, quälte die Bürger unsäglich. Wer nicht schweigend parierte, wurde langsam aber sicher mürbe gemacht.

Der stille, fromme Untertan, der seine Steuern pünktlich zahlte und all die unzähligen Beamten tief und in Demut grüßte, der durfte sein Biedermeierleben in Frieden führen und beschließen. Erziehern, die nur zum flüchtigen Übergang in unserem Jammertale weilten, um dann zu den täglich in Gebet und Lied herbeigerufenen ewigen Freuden einzugehen, solchen pastoralen Schulmeistern war die Erziehung der deutschen Jugend anvertraut! Die Eltern gaben ihren Söhnen als tiefste Lebensweisheit den Spruch mit auf die Wanderschaft: »Mit dem Hute in der Hand kommt man durch das ganze Land«. Bescheidenheit, Demut, Polizistenfurcht wurden wieder die angesehensten Mannestugenden. Erst quälte man die Leute gründlich, dann empfahl man ihnen den Spruch: »Not lehrt beten.« Man wurde wieder recht weinerlich zaghaft und fromm. Von dem guten Lavater hatten die Zeitgenossen gerühmt, daß er selbst durch seinen bei jedem Schritte einsinkenden Gang seine Gottergebenheit zu rührendem Ausdruck gebracht habe. Also knickebeinig93 sollte man durch die deutschen Lande schreiten, um gottgefällig zu sein und bei den Menschen Beifall zu finden.

Zum Glück waren die Jungen gesünder und klüger als ihre Lehrer.

Sie brachten uns eben als Männer die Verfassung von 1848 und damit erst die Möglichkeit, zu einem selbstherrlichen Volke zu werden. Der Wind kam wieder von Westen. »Die Freiheit lag aber damals in der Luft. So einen Vorfrühling hatte man in Deutschland noch nicht erlebt.«

»Die Herzen waren heiß«, läßt Ludwig Thoma im Andreas Vöst seinen alten Revoluzzer sagen, »und der Verstand war nicht immer kühl, aber in den Leuten war mehr Weisheit, als in den trockenen Dienern der Nützlichkeit, die heute die Nase rümpfen und sich das bißchen Freiheit wegstehlen lassen, was ihre Väter errungen haben.«

Die Regierungen haben die Männer von 48 und die Früchte ihrer Revolution bis heute noch nicht aus Überzeugung anerkannt. In Preußen gelten die Achtundvierziger in »maßgebenden« Kreisen noch heute als Unbotmäßige, als dreiste Auflehner gegen die Staatsautorität. Man überläßt den »Reichsfeinden« die Ehrenpflicht, die Gräber der damals gefallenen Bürger zu schmücken.

Wie schwer der Geist der Reaktion auf Deutschland und besonders auch auf Berlin lastete, ist den meisten bekannt, muß aber immer wieder auch an dieser Stelle betont werden, damit wir die traurige geistige Verfassung des damaligen Deutschland und ihre bis heute noch unheilvollen Nachwirkungen richtig einschätzen lernen. In demselben Verlage wie diese Schrift sind »Erinnerungen« von Max Ring erschienen. Dort lesen wir über Berlin in der Reaktionszeit:

»Der Eindruck, den Berlin nach zehnjähriger Abwesenheit auf mich machte, war nichts weniger als erfreulich und angenehm. Gleich auf dem Bahnhof drängten sich mir die Maßregeln der siegreichen Reaktion auf. Eine Abteilung Infanterie und eine Schar der neuen Konstabler empfingen den ankommenden Eisenbahnzug und ließen keinen Reisenden ohne strenge Kontrolle passieren. Wer sich nicht durch seine Papiere als vollkommen unverdächtig legitimieren konnte, wurde zurückgewiesen oder zur nächsten Polizeiwache gebracht. Selbst Frauen und Kinder waren von dieser lästigen Untersuchung nicht ausgenommen. Auch ich mußte mich einem strengen Examen94 unterwerfen und über meine Person die genaueste Auskunft geben. Erst nachdem ich alle Fragen zur Zufriedenheit des betr. Beamten beantwortet hatte und auch meine Zeugnisse sorgfältig geprüft worden waren, erhielt ich die Erlaubnis, den Bahnhof zu verlassen. In einer Droschke fuhr ich nach dem nächsten, wenn auch nicht besten Hotel, wo ich so lange blieb, bis ich eine passende Wohnung gemietet hatte. Seit meiner Abwesenheit fand ich Berlin nicht gerade zu seinem Vorteil verändert und umgewandelt. Es herrschte eine mißmutige, gedrückte Stimmung, eine wahre Belagerungsatmosphäre, eine aller Beschreibung spottende Polizeiwillkür, die sich in dem bekannten, damals allgewaltigen Herrn von Hinkeldey verkörperte.

Die Mehrzahl meiner Freunde hatte teils freiwillig, teils gezwungen die Stadt verlassen. Carriere lebte in München als Privatdozent, Wolfsohn als Rechtsanwalt in Hamburg, Oppenheim, der sich an dem Aufstand in Baden beteiligt hatte, als Flüchtling in Paris. Die beiden Brüder von Behr waren ebenfalls infolge der politischen Ereignisse nach Amerika ausgewandert, wo der ältere, Alfred, sich in New-Orleans als praktischer Arzt, der jüngere, Ottmar, als Landwirt in Texas niederließ. Traube, der durch den Einfluß unseres Lehrers Schönlein eine Stelle als behandelnder Arzt an der Charité auf der Abteilung für Brustkranke erhalten und sich unterdessen verheiratet hatte, war ausschließlich mit seinen Studien und ärztlichen Konsultationen beschäftigt, so daß ich ihn nur selten sah. Bettina von Arnim war verreist und als sie wiederkam, kannte sie mich kaum wieder. So erfuhr ich an mir im vollsten Maße die Wahrheit des alten Sprichwortes: »Les absents ont toujours tort.«

Man lernte sich bescheiden. Und da es mit der Ausgestaltung eines nationalen Staates nichts werden wollte, wurde man entweder flüchtig und »Amerikaner« oder suchte sich eine ideale Welt, ein Weltbürgertum, wurde Kosmopolit nach dem Rezepte:

»Zur Nation euch zu bilden, das hofft ihr Deutsche vergebens.
Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus.«

Der echte deutsche Bürger rühmte sich zugleich seines steifen Rückgrates und bekannte von sich, daß er allzeit »Männerstolz vor Königsthronen« bewahren werde. Schon Schiller hatte im Vorwort zur Rheinischen Thalia (1774) verkündet, er werde schreiben »als Weltbürger, der keinem Fürsten dient«.

95

Es ist kein Zufall, daß unser Kaiser an der nationalen Feier des hundertjährigen Todestages unseres Schiller achtlos vorbeiging. Kein härterer Vorwurf damals für den deutschen Bürger, als ein Höfling, ein Fürstenknecht zu sein. In den Revolutionsjahren bäumte sich dieser Bürgertrotz noch gewaltiger auf. Als der kleine Königsberger Jude Dr. Jacobi gewagt hatte, dem König ins Gesicht zu sagen: »Das ist eben das Unglück, daß Fürsten die Wahrheit nicht hören wollen,« wurde er dafür von seinen Gesinnungsgenossen ebenso lebhaft bewundert, wie von den Königstreuen verspottet und beschimpft.

Bismarck hat die Souveränität wieder hingepflanzt wie einen rocher de bronze, uns ein Deutsches Reich geschaffen, die Kaiserkrone geschmiedet und unseren Hohenzollern aufs Haupt gesetzt. Er konnte all das nur leisten im Kampfe gegen die noch revolutionär gestimmten Parteien. Der Erfolg hat ihm recht gegeben, und durch sein gewaltiges Lebenswerk, seine aufragende Gestalt ist er uns zum edelsten Vertreter germanischer Mannhaftigkeit geworden. Deutschland hatte wieder seinen Heros, an den es glauben, nach dem es sich bilden konnte. Damit aber ging zusammen eine ungerechte Mißachtung jener deutschen Männer, die ihm aus ehrlicher Gesinnung mannhaft entgegentraten und sein Lebenswerk hemmten. Heute lernt man sie gerechter beurteilen und fängt sogar an, sich nach ihren hohen Mannesidealen wieder umzusehen.

Damit kämen wir in die Gegenwart und auf die Frage, welches Mannesideal heute der deutschen Jugend vor den Augen und der Seele stehen mag.

Die Antwort ist nicht leicht zu geben, deshalb nicht, weil uns eben leider ein einheitliches Ideal fehlt. Wir sind nicht so glücklich wie die Engländer, bei denen der Idealmann, der gentleman, schon seit Jahrhunderten eine gegebene Tatsache ist.

Es verlohnt sich, bei dem Anblick dieses Mannestypus, der uns allerorten in den Weg tritt, etwas zu verweilen.

Die Menschheit zerfällt nach dem Urteile jedes einigermaßen gesitteten Engländers in zwei Gruppen, in gentlemen und nicht gentlemen. Dementsprechend in lady und nicht lady. Ein Mensch beträgt sich entweder gentlemanlike oder nicht, ladylike oder nicht – ein Drittes gibt es nicht. Es zweifelt kein Engländer daran, daß96 der gentleman der Idealmann sei. Das ganze Volk erkennt dieses Vorbild an, es ist auch im Prinzip keiner davon ausgeschlossen.

Der Arbeiter entrüstet sich, wenn sich jemand erdreisten sollte, ihn den Ehrennamen eines gentleman abzusprechen, und auch der Lord weiß sich keinen höheren Titel. Der gentleman hat Achtung vor dem Gesetze und noch größere Achtung vor dem Recht der Persönlichkeit. Da er die Eigenart der Menschen achtet, beansprucht er auch für sich ein völliges noli me tangere – und das eben auf Grund seiner Verfassung, die ihm heilig ist.

Das englische Recht, das natürlich nur wenige Deutsche kennen, da es uns ja viel wichtiger ist die Verfassungen von Athen, Sparta und Rom und das corpus iuris zu kennen, das englische Recht ist die großartige nationale Schöpfung dieses freien germanischen Volkes, ist ein Recht, das auf der Achtung der Menschenwürde aufgebaut ist.

Mit lebhafter Zustimmung lese ich die Rede, die Josef Köhler zur Begrüßung der englischen Gäste der International Law Association gehalten hat. (»Der Tag« A. Nr. 510) darin heißt es u. a.: »England hatte das große Glück, sich sein Recht, bürgerliches wie öffentliches, aus angelsächsischen und normannischen Elementen selber schaffen zu dürfen, und wie unser Goethe einmal sagt: ist es ein großer Vorzug einer Kultur, wenn sie, ungehindert durch Einflüsse von außen, ihre eigenen Kräfte voll entfalten kann« – Und weiter: »Ich bewundere das englische Recht wegen seiner Biegsamkeit und seines Anpassungsvermögens; wie es, hierin dem römischen Rechte vergleichbar, mit einem gewissen konservativen Zuge das alte Gefüge beibehielt, dann aber in seinen Ausläufern sich befähigte, allen Anforderungen des vielseitigen Lebens zu entsprechen; wie es, zuerst voller Formeln und Seltsamkeiten, sich seit Mitte vorigen Jahrhunderts immer mehr vereinfachte und sich dem heutigen Wesen anschmiegte. So konnte das englische Recht ein Weltrecht werden und in der Neuen Welt wie in der Alten die Leuchte der Kultur vorantragen; so konnte es, dem genialen Triebe germanischen Denkens entsprechend, immer neue Rechtsgebiete beherrschen; und wie wir England das Parlament verdanken, so verdanken wir ihm die heutige Gestaltung des Erfinder- und Urheberrechtes.

Dem Deutschen aber ist das englische Recht noch namentlich dadurch lehrreich: was wir heutzutage in Deutschland erstreben, die97 schöpferische Kraft der Rechtsprechung, das ist in England schon jahrhundertelang geworden. Das Heil der Rechtspflege liegt da nicht in dem wörtlichen Auslegen der Gesetze, nicht in dem ständigen abgöttischen Sichverbeugen und Sichverneigen vor den gesetzlichen Ausdrücken sondern in dem kühnen Erfassen der im Gesetz und Rechtsleben waltenden Rechtsvernunft. Gerade in dieser Beziehung hat die englische Rechtsprechung Hohes, vielleicht das Höchste erreicht. Sie hat gezeigt, wie unrichtig es ist, eine solche schöpferische Tätigkeit der Gerichte zu scheuen. Welche Fülle von klarer Lebensbeobachtung, von gesundem Sinn, von feinem Takt, von rechtlicher Weisheit und kerniger Kraft ist in den englischen Entscheidungen des 18. und 19. Jahrhunderts niedergelegt! Wie weiß sich hier die Rechtspflege den Bedürfnissen des Falles anzupassen, wie klar und tief alle Geheimnisse des Lebens zu ergründen und allen Einzelheiten gerecht zu werden! Das soll für uns ein ständiges Vorbild sein!«

Wie nur der gentleman ein solches edles Recht schaffen konnte, so konnte auch unter einem solchen Rechte allein der gentleman wachsen und sich erhalten. Denn alle Kraft eines Volkes wurzelt in seinem Rechte. Unser römisch-germanisches Recht macht die Deutschen zu Tausenden rechtlos, unterwirft sie der Tyrannei des Kapitals, und des Buchstabens, der von der Menschenwürde nichts weiß und stumme Unterwerfung des Lebendigen unter das Tote fordert. – Ich könnte kleine Musterproben englischer Rechtssprechung geben, die mit wenigen Strichen den Gegensatz grell anschaulich machen würden. Aber es führt hier zu weit. Genug an der Erkenntnis, daß der gentleman nur möglich ist unter englischem Rechte. Dieses Recht ist wirklich ein Schutz und eine Zuflucht jedes Engländers, der lebhafte Ausdruck des Volksbewußtseins und Volkswillens, ist ein Stück England selbst, nicht Fremdkörper, ist der Stolz der Bürger, nicht sein Spott und Fluch!

Unter diesem Gesetze gedieh auch eine vernünftige Erziehung. Als ich auf diese vor Jahren als vorbildlich hinwies, bespöttelte man die Geschmacklosigkeit, als könnten wir von John Bull etwas lernen. Heute schreibt Wilhelm Münch mit viel tieferer Einsicht: »Selbst das uns so nahe englische Vorbild, von dem wir ja glücklicherweise manches in den letzten Jahrzehnten übernommen haben und hoffentlich98 noch mehr übernehmen werden, kann nicht etwa als ganzes und unbedingt unsere Wahl werden.« Gewiß nicht! Will auch niemand.

Doch zurück zum gentleman!

Der gentleman lügt nie. Eine einzige offenkundige Lüge bringt selbst den Knaben um alle Reputation bei seinen Mitschülern; der gentleman ist nicht laut und vorlaut, hält sich gemessen und würdevoll. Es gehört zum gentleman auch, daß er körperlichem Sporte huldigt, irgendeiner Kirche angehört, Klubs und öffentliche Versammlungen besucht, bestimmte Hüte, Handschuhe, Hosenschnitt nach der Mode, ebenso Stiefel, Bartfrisur u. dgl. habe. Der gentleman führt beim Essen das Messer nicht zum Munde, nimmt keinen Senf zum Hammelbraten, grüßt nicht durch Hutabnehmen, sondern nur mit der Hand. Er hat Tausend kleine Pflichten zu befolgen – aber er trägt diesen beschwerlichen Dienst gern, denn er erkauft sich damit das Köstlichste, was ein Mensch haben kann, Selbstachtung und die Achtung der Mitmenschen. Die politische Überzeugung kommt dabei nicht mit in Rechnung. Man kann liberaler und ebensogut konservativer gentleman sein. Man braucht in England keine Titulaturen; denn es genügt ja, daß man gentleman ist. Dadurch gewinnt der Verkehr seine gefälligen und festen Formen. Kurz, es ist etwas Köstliches mit diesem gentleman. Ein Kind ist leicht zu lenken, wenn das ganze Volk so fest geprägte Begriffe und unwandelbare Formen für das hat, was den Wert des Mannes ausmacht. Ich glaube, diese großartige Kulturleistung – die Herausbildung eines schönen Mannesideals – trägt das Hauptverdienst an allen weiteren kulturellen Errungenschaften der Engländer. Zumal die Erfolge in der Kolonisation fremder Völker dankt England gewiß größtenteils dem gentleman. Man kann in den Augen der Engländer auch als Ausländer gentleman sein, freilich nicht eben leicht. Am sichersten ist schon, ganz englisches Wesen anzunehmen. Und so zwingend ist dieses Erziehungsgebot, daß sich ihm wirklich selbst reife Männer die aus fremden Ländern kommen, willig beugen. Kein Volk der Erde hat dem etwas Gleichwertiges an die Seite zu stellen.


99

VII.
Ergebnis.

Der um die Betätigung seiner mannhaften Triebe betrogene Deutsche wurde immer wieder auf sein Gemütsleben hingewiesen. Man machte ihm weis und er glaubte es schließlich selbst, daß er von Natur mit einem besonderen Beruf nur für diese Seite des Lebens ausgestattet sei. Man behandelte ihn von Staats und Kirchen wegen wie ein krankes Kind, das vom Fenster seines armseligen Kämmerleins aus zusehen muß, wie sich draußen auf der Wiese die gesunden Bengel tummeln und balgen, wie sie singen und springen und sich die reifen Äpfel von den Bäumen schütteln. Trauernd sinkt das kranke Kind in sich zurück, baut sich im Innern seine schöne Märchenwelt und lernt ein Glück in der Selbstbeschränkung und in der Entsagung finden. Es pflanzt sich seine Blümchen auf dem Fensterbrett und fängt sorgsam die matten Sonnenstrahlen auf, die sich bis in diesen versteckten Winkel hereinwagen. So wurde aus dem Deutschen, der von Haus aus ein recht gesunder, handfester Draufgänger war und das Leben sehr praktisch und real zu leben wußte, ein Stubenhocker, ein Betbruder, ein Dichter und Denker. Bescheidenheit und Demut wurden seine Tugenden, die stille, behaglich erwärmte, enge Stube des Kleinstädtchens wurde seine Welt, in der ihm tatsächlich das Herz aufging.

Niemand führt uns in diese Stimmungssphäre besser ein als der schlichte, kindlich-fromme Ludwig Richter, der Verherrlicher des äußerlich engen, aber dabei innerlich tiefen sächsischen Philisterlebens; Richter, der nach seinen eigenen Worten darzustellen trachtet: »in aller Sichtbarkeit der Menschen Lust und Leid und Seligkeit, der Menschen Schwachheit und Torheit, in allem des großen Gottes Güt' und Herrlichkeit«, dem es aber nie in den Sinn kam, Äußerungen menschlichen Wagemutes, Trotzes und Kampfes darzustellen. Sein100 Leben war von einer rührenden Hingabe und Selbstlosigkeit, Schlichtheit und Demut, durchwärmt von einem stillen Glücke und deshalb groß, ja erhaben in seiner Beschränkung. Aber – füge ich hinzu – ein Volk, das seines Sinnes lebte, wäre dem Untergang geweiht.

Der unfreie Deutsche fand vielfach seinen Trost in der Kneipe beim Schoppen Bier. Da sah ihn die weise Behörde auch recht gerne sitzen. Am Stammtisch trank er sich seine Bierleber und sein Bierherz an, wurde satt und genügsam. »Laßt dicke Männer um mich sein,« war noch stets der Wunsch aller Autokraten. Sie lieben die Mageren und Hohläugigen nicht, die zuviel denken. Im Bier ersäuft der Deutsche seinen jugendlichen Tatendrang und jeden Untertanenärger. Beim Biere durfte man große Worte ertönen lassen, denen keine Taten zu folgen brauchten. Beim Biere konstruierte sich der Studio seinen idealen Bierstaat, der zu nichts als zu wackerem Saufen verpflichtete. Bierselig ist die ganze Poesie Victor Scheffels, der immer erst einen tüchtigen Schluck nehmen mußte, ehe seine Muse erwachen wollte. Im Biere erlosch leider auch der Ingrimm des liebenswürdigen Fritz Reuter. Ich schätze ihn unendlich hoch und danke ihm Stunden wahren Glückes – so sinnig, so echt und gesund sind seine Dichtungen –, aber ich kann ihm nicht nachempfinden, daß der so Mißhandelte wieder heiter und zufrieden werden konnte. Ich würde es natürlicher und auch männlicher gefunden haben, wenn er sein Leben der Rache und dem Kampfe für Deutschlands innere Befreiung geweiht hätte. Er war eben auch einer der unzähligen von der eigenen Mutter Germania gebrochenen, um ihr Bestes, ihr mannhaftes Herz, betrogenen Kinder. Auch er lernte schließlich beim Biere lachen und scherzen, während sein edles Herz verblutete.

Es war ein – allerdings vergeblicher – Protest gegen diesen Geist des Entsagens gewesen, der dem deutschen Volk erst aufgezwungen, dann zum Bedürfnis geworden war, als Schiller »in tyrannos« auftrat. Auch sein ganzes Leben war ein Ringen mit den Fesseln des deutschen Kleinmuts, kleinbürgerlicher Selbstgenügsamkeit und ein Trieb, aus den niedrigen Stuben mit ihrem schwülen Dunst und den »engen Gesprächen« hinaus in die freie weite Luft zu kommen.

Er hatte dem Leben wieder Schwung gegeben, den Mut zur Tat, die frohe Lust am Dasein, die Begeisterung zum Heldentod.101 Aber es erging ihm wie noch immer den Deutschen, die mehr und Besseres sein wollten, als still genügsame und fügsame Untertanen. Es erging ihm, wie dem Vogel, der dem Käfig entschlüpft, nun ins Freie eilen will, aber bei jedem frischen Anflug mit dem Kopf an einer harten Glasscheibe anschlägt. Er träumte von den herrlichen Alpen, von dem weiten, lockenden Meere, von dem sonnigen Süden, von einem großen, stolzen Volke, er rief es aus: »Wir wollen frei sein, wie die Väter waren«, aber auch seine Welt blieb eine Traumwelt, ein die ganze Menschheit umfassender Rausch und Freudentaumel, ein himmelstürmender Gedankenbau, dem eine Wirklichkeit nicht entsprechen wollte. Er sah nicht mit Augen all die Herrlichkeit der Erde, der seine Seele erglühte, sah vor allem kein großes stolzes Vaterland und verzehrte seine edle Natur im Kampfe und Kleinkrieg mit körperlichem Leiden, den traurigen Folgen einer echt deutschen Stuben-Erziehung, materieller Not und unzureichender Körperpflege.

Wir Deutschen sind allzeit schlecht erzogen und schlecht behandelt worden. Wir sind noch heute das unfreieste Kulturvolk der Erde. Wir leben noch immer als Untertanen und lassen uns regieren, anstatt daß wir unsere Geschicke selbst leiten lernten. Wir glauben noch, so gut es gehen will, was uns irgendeine Kirchenbehörde als rechte Seelenkost zubereitet, wir lassen uns von Zeit zu Zeit wie ungezogene Kinder bei den Ohren nehmen, lassen uns eine herbe Strafpredigt halten und nehmen sie ohne Trotz entgegen.

Wollen wir unsere besten Männer nennen, – Schiller, Arndt, Jahn, Heine, Reuter, Richard Wagner, Bucher, Miquel, Kinkel, Schurz, Laube etc. –, so müssen wir von Staat und Kirche Verfolgte nennen. Unsere Kultur- und Literaturgeschichten nehmen sich aus wie Kriminalberichte. Die besten Kräfte unseres Volkes müssen immer darauf verwandt werden, uns vor uns selbst zu schützen. Kein Wunder, wenn uns andere Völker zuvorkommen. Wenn wir die größten Namen im Gebiete des deutschen Geisteslebens im XIX. Jahrhundert suchen, so fallen auf die kleine Schweiz mit ihren freiheitlichen Einrichtungen im Verhältnisse weit mehr als auf das große Deutschland. Der größte Pädagoge – Pestalozzi – ein Schweizer, der größte Maler – Böcklin – ein Schweizer, der größte Schriftsteller – Gottfried Keller – ein Schweizer. Ebenso leben wir jetzt auf den wichtigsten Gebieten102 fast schon ausschließlich von Pump: Carlyle, Ruskin, Emerson, Walt Whitman, Björnson, Ibsen, Tolstoi, Gorki gelten uns mehr als unsere schriftstellernden Landsleute.

Und dieses Mal nicht deshalb, weil wir eine Sucht nach dem Fremdländischen hätten – nein, es lebt gerade jetzt in uns der lebhafte, starke Wunsch zur Heimatkunst, zur Selbstbestimmung zu kommen – aber jene fremden Autoren haben uns tatsächlich über unser eigenes Denken und Fühlen, für unsere eigenen geistigen Bedürfnisse mehr zu sagen. Sie sind nicht klüger, aber sie sind innerlich freier, gefestigter, selbstvertrauender.

Wie anders sollte man erklären können, daß z. B. die Erziehungschriften der Schwedin Ellen Key in Deutschland rein verschlungen werden, während hervorragende deutsche Pädagogen kaum Gehör finden. Ellen Key »Essays« sind in 11 Tausend, »Das Jahrhundert des Kindes« in 26 Tausend, »Über Liebe und Ehe« in 28 Tausend Exemplaren bei uns verbreitet. Dagegen haben der im preußischen Ministerium an führender Stelle wirkende Geh. Regierungsrat Dr. Matthias, ebenso wie der gleich anerkannte Pädagoge, Universitätsprofessor Geh. Rat Wilhelm Münch für ihre Werke, die wohl in Fremdsprachen überhaupt nicht übersetzt wurden, in Deutschland nur eine Verbreitung von 1–3 Auflagen, wobei alle höhere Schulen schon selbstverständlich als Abnehmer gelten müssen.

Die Pädagogik der höheren deutschen Lehrer aber, die nicht an leitender Stelle stehen, ist völlig mit Unfruchtbarkeit geschlagen. Sie wagt sich an die Lebensprobleme nicht einmal heran, getraut sich nicht von dem zu sprechen, worum sich doch die ganze Erziehungspraxis und Erziehungsweisheit drehen sollte. Der Erziehungsbeamte versagt eben vollständig:

In früheren Zeiten boten die Abhandlungen, die den Schulprogrammen beigefügt wurden, den Lehrern, die eigene Gedanken hatten, Gelegenheit, diese in die Öffentlichkeit zu bringen.

Wenn wir die Programme lesen, die z. B. der blutjunge Herder veröffentlicht, so staunen wir über den rückhaltlosen Freimut und den geradezu übermütigen Reformationseifer, mit dem er den damals herrschenden Schulbetrieb geißelte. Ich habe aber in den eindringlichsten Lebensbeschreibungen Herders keine Zeugnisse dafür gefunden, daß ihm diese offene Aussprache verübelt worden wäre,103 Feindschaften und Schaden gebracht hätte. Heute sind diese Herderschen Abhandlungen vielleicht die einzigen unter vielen tausenden älterer Zeit, die noch Bedeutung haben und in dem pädagogischen Kampf unserer Tage wieder zu Worte kommen.[7]

Jene Zeit, die der Unkundige sich gerne als geistig unfrei denkt, gestattete selbst dem jüngsten Lehrer das freie Manneswort. Und so erhielt es sich bis an unsere Zeit heran, bis aus Zentralisationsbedürfnis der Beamtencharakter und damit Beamtengehorsam höhere Wertung erhielt, als die mannhafte, wenn auch unbequeme Überzeugung eines selbständigen Kopfes. Da wurde denn die Verfügung erlassen, daß die Programmabhandlungen sich möglichst eng an die Schulaufgaben anzuschließen und vor der Drucklegung einer Begutachtung von seiten des Schulleiters zu unterziehen hätten. Die höhere deutsche Lehrerschaft ließ diese wie andere Demütigungen ohne einen Laut der Klage, ohne ein Wort des Widerspruches über sich ergehen, ließ sich geduldig einen Backzahn nach dem anderen ziehen. Jetzt geht der Oberlehrer mit seinem Manuskripte zum Herrn Direktor, läßt es sich wie ein braver Tertianer durchsehen, und nachdem alle irgend bedenklichen Stellen ausgemerzt sind, setzt der Direktor sein imprimatur darunter. Daher denn die jetzigen Schulprogramme höchst sachlich, ruhig, lehrhaft und höchst langweilig sind: nahrhafte Haferschleimsuppen und gezuckerter Milchgrieß.

Unsere Zeit wird künftigen Geschlechtern trotz aller Betriebsamkeit und staunenswerten Kleinarbeit als pädagogische Wüste erscheinen.

Nur ein Gebiet gibt es, auf dem der Deutsche allzeit frei geschaltet hat. Das ist das der Musik. Da ist er denn auch unbestritten Herr der Erde; da huldigen ihm alle Völker.

In der Musik konnten sich deutscher Freiheits- und Tatendrang ungehemmt ausleben. Beethovens und Wagners gewaltige Trotz- und Siegesfanfaren unterlagen keiner Zensur, da hatte die Macht der Kirche und des Staates keine Handhabe. Töne stehen gottlob noch nicht unter polizeilicher Aufsicht. Da sieht man denn auch, daß wir Deutschen nicht unmännlich, nicht unselbständig, auch nicht Klassizisten sind, daß unser Geistesleben von Hellas und Rom nichts104 in sich aufgenommen hat. In dieser wahrsten, weil von keiner weltlichen oder kirchlichen Macht beschränkten Lebensäußerung der Volksseele bekennt sie sich selbst mit Stolz als selbstherrlich und unerreichbar hochstehend.

Richard Wagner hat das Abiturientenexamen an einem Gymnasium bestanden – aber wann erinnert er wohl auch nur mit einer Note an diese Schulvergangenheit? Das klassische Altertum ist durch seine Seele gezogen, ohne darin irgendeinen Lebenskeim zurückzulassen. Dasselbe gilt übrigens von dem Maler Moritz von Schwind. Auch er blieb völlig immun gegen die klassische Seuche und wurde dadurch der bedeutendste Seelenkünder deutschen Naturempfindens.

Wir Deutschen sind stets gegängelt und irregeführt, und groß sind nur die geworden, die ihre Schule überwanden. Den wenigsten gelang es und gelingt es heute. Es ist ein harter Kampf, wie eine Neugeburt. Wem es aber gelingt, der ist – gerettet.

Anstatt, daß wir von den Erziehungsmächten auf unsere eigene Flur geführt würden, drängte man uns immer und immer wieder in fremde Länder und machte unser Herz heimatlos. Stets sollte uns irgendeine ferne, unbekannte, unverstandene, aber »heilig gesprochene Vergangenheit« das Leben selbst ersetzen. Was aber die Geologen und Biologen längst wissen, das sollten auch Theologen und Pädagogen endlich lernen, daß es nämlich in der Welt keine Rückkehr gibt. Die Griechen wußten es schon, denn Heraklit hatte gelehrt, daß du nie in denselben Fluß steigen kannst. Denselben Sinn hatte wohl auch der Spruch: ρόδον παρέλθὼν μηκέτι ζήτει πάλιν (Wenn du an an einer Rose vorbeigegangen bist, so suche nicht wieder nach ihr) – ein Wort, so tief, daß es des Heraklit würdig scheint.

Wir Deutschen haben aber von den Griechen, die wir zu lieben vorgeben, nie etwas gelernt und sollten in der Schule von ihnen nicht viel anderes lernen als ihre Grammatik, von der sie selbst wenig wußten und über die nachzudenken sie klüglich einigen wenigen Sophisten überließen.

Wir Deutschen lernen überhaupt schwer und, weil in unserer Erziehung keine Einheit und Vernunft herrscht, vergessen wir auch wieder, was wir einmal gelernt haben. So haben wir z. B. die Lehren des Großen Fritz vollständig verloren. Denn der lehrte in Übereinstimmung105 mit seinem großen Lehrer Voltaire religiöse Duldung, Toleranz, Aufklärung und rief Freidenker nach Preußen.

»Kommen Sie in ein Land, wo man Sie liebt, und wo es keine Religionseiferer gibt,« schrieb er an Voltaire, und bei anderer Gelegenheit: »Hier muß jeder nach seiner Fasson selig werden, der Regierung können alle Religionen gleich sein, nur muß jeder ein guter Bürger sein, mehr verlange man nicht von ihm.« Und in dem Fürstenspiegel:

»Ihr Fürsten seid das Haupt der bürgerlichen Religion eures Landes. Diese besteht in Rechtlichkeit und allen sittlichen Tugenden. Es ist eure Pflicht, sie ausüben zu lassen, besonders Menschenliebe, welches die Haupttugend jedes denkenden Wesens ist. Die geistliche Religion überlasset dem höchsten Wesen! Die Politik eines Fürsten verlangt meiner Meinung nach, daß er den Glauben seines Volkes nicht berühre und vielmehr, so gut er kann, die Geistlichkeit seiner Staaten und seine Untertanen zur Sanftmut und Duldung anleite.«

So lehrte man vor 150 Jahren vom Throne herab. Wir aber erhielten ein reaktionäres Volksschulgesetz, den Seminaristen werden Ibsen und andere große Wahrheitskünder als Gesinnungsschädlinge verboten und engherzige Geistliche wollen die jungen Leute allein auf die Bibel, als einzigen Lebensquell, verpflichten. Umsonst hatte Voltaire sich gerühmt:

»Ils condamnaient le pape et voulaient l'imiter.
L'Europe par eux tous fût longtemps désolée.
Ils ont troublé la terre, et je l'ai consolée.
J'ai dit aux disputants l'un sur l'autre acharnés;
Cessez, impertinents, cessez, infortunés!«

106

VIII.
Die Kirchen als Erzieher zur Mannhaftigkeit.

Die tiefsten sittlichen Kräfte des Menschen liegen in seiner Religion. Die Macht, die über den Glauben der Menschen Herr wäre, müßte das Größte auf Erden wirken können. Eine solche Macht hat jederzeit die Kirche angestrebt, die katholische und nicht minder die protestantische, und dabei auf die Hilfe der politischen Mächte vertraut – leider!

Wie weit müßten wir in Deutschland gekommen sein, wenn die Überzeugungen und Regierungsgrundsätze des Großen Friedrich von Preußen allzeit bis heute Beachtung und Nachfolge gefunden hätten! Dieser Weise auf dem Throne sprach als seinen Grundsatz aus: »Die bürgerliche Regierung kräftig zu handhaben und jedem die Freiheit des Gewissens zu lassen. Immer König zu sein und nie den Priester zu spielen, das«, sagte er, »ist das sicherste Mittel, um den Staat vor Stürmen zu bewahren, die den dogmatischen Geist der Theologen fortwährend zu erregen suchen.« Ja, dieser fürchterliche dogmatische Geist der Theologen! Was für unsagbares Leid hat uns der schon auf Erden gebracht! Und das alles aus lauter Liebe und Barmherzigkeit, alles zur größeren Ehre Gottes!

Es ist eine der häufigsten, aber unerwiesensten Behauptungen, daß der Bestand unseres Reiches, die sittliche Wohlfahrt unseres Volkes und vor allem auch seine kriegerische Tüchtigkeit gebunden seien an das, was man mit einem ganz allgemeinen und heute kaum noch definierbaren Worte »den Glauben« nennt. Einen solchen allgemeinen Glauben haben wir in Deutschland nicht mehr. Deshalb kann und darf der Glaube auch von Kirche und Staat nicht zwangsweise gelehrt werden, will man nicht einer rein mittelalterlichen und zudem völlig unfruchtbaren Gewissensvergewaltigung das Wort107 reden. Kein Kaiser oder König ist Herr über unseren Glauben, ebensowenig der Staat oder irgendeines seiner Organe. Schon deshalb nicht, weil ihr eigener Glaube mit menschlichem Irrtum durchsetzt ist. Der heilige Augustin sagte schon: »nihil tum voluntarium est quam religio«, »nichts unterliegt so sehr dem eigenen Willen wie der Glaube«.

Ich berufe mich aber lieber auf Königsworte, an denen bekanntlich nicht gerührt und gerüttelt werden darf. Friedrich der Große schrieb an Voltaire: »Die Priester sind von den ältesten Zeiten an Heuchler und Betrüger gewesen. Welcher Nation und Religion sie auch sein mögen, sie sind vom gleichen Schlage. Immer wollen sie sich eine despotische Gewalt über die Gemüter anmaßen – das macht sie zu Verfolgern derer, welche es wagen, die Wahrheit zu sagen. Sie sind immer bereit, den Bannstrahl zu schleudern, um die Feinde ihres Ehrgeizes zu zerschmettern.« – – An einer anderen Stelle schreibt er mit einem Haß und auch mit einem Mißverständnisse über den Ursprung und das Wesen der christlichen Religion, die fast ebenso erstaunlich sind, wie die Mannhaftigkeit seiner Überzeugung: »Die Gründung der christlichen Religion hat wie die aller Herrschaften einen schwachen Anfang gehabt. Ein Jude, aus der Hefe des Volkes, von zweifelhaftem Ursprünge, der unter die Abgeschmacktheiten der hebräischen Propheten Moralvorschriften mischte, dem man Wunder beilegte und der zum Tode verurteilt wurde, ist der Held dieser Sekte. Zwölf Fanatiker verbreiteten sie. Als die Christen ihre Liebesmahle heimlich einnahmen, wurden die Beherrscher argwöhnisch. Die Frommen trotzten den Verboten des Senats, stürzten Götzenbilder um, und daher entsprangen die Verfolgungen, deren die Kirche sich rühmt. Die Priester sammelten die Gebeine der Hingerichteten, und heilige Betrüger führten die Anrufung der Heiligen ein. Als Konstantin sich der Politik wegen zum Beschützer der Kirche erklärte, sah man neue Dogmen aufsprießen. Man machte Jesus zum Gotte und für den heiligen Geist erfand man das Mittel, dem Beginne des Johannisevangeliums die Worte: ›Im Anfange war das Wort, und das Wort war Gott‹ hinzuzufügen. Dieser Betrug wurde Dogma. Die Betrüger waren Päpste. Die Finsternis ward dichter von Jahrhundert zu Jahrhundert. Ein verwegener Mönch, namens Luther, empörte sich gegen Rom. Nichts ist108 so erbittert und unerbittlich als theologischer Haß. Nach unendlichen Schrecken erlangte Deutschland die Freiheit des Gedankens. Wer sieht nicht, daß die Kirche ein Werk der Menschen ist? Welche erbärmliche Rolle lassen sie ihren Gott spielen! Er schickt seinen einzigen Sohn in die Welt. Dieser Sohn ist Gott. Er opfert sich selbst, um sich mit seiner Kreatur zu versöhnen! Er macht sich zum Menschen, um das verdorbene Menschengeschlecht zu erlösen. Was geht hervor aus einem so großen Opfer? Die Welt bleibt so verdorben wie sie war. Dieser Gott, welcher spricht: ›es werde Licht!‹ sollte er sich unzulänglicher Mittel bedienen? Ein Akt seines Willens genügt, um das Übel aus der Welt zu schaffen, um den Nationen einen Glauben einzuflößen, der ihm gefällt. Nur Bornierte mögen Gott ein Verfahren beilegen, welches seiner unwürdig ist, indem sie ihn ein Werk unternehmen lassen, das ihm nicht gelingt.«

So sprach der größte Denker, der je auf einem deutschen Throne saß. Sollen wir nun seine Worte mißachten oder ihm folgen? Sollen wir alle Glaubensschwankungen unserer Regierungen und Behörden mitmachen?

Jeder Hof findet natürlich in seiner Umgebung Anhänger seiner Überzeugungen. So auch der Große Friedrich.

Geh. Reg.-Rat Dr. Hahn schreibt darüber (Friedrich der Große S. 241): »Es konnte nicht verborgen bleiben, daß die Leugnung der christlichen Wahrheiten in seinem vertrautesten Kreise eine begünstigte Stätte fand und die verrufensten Schänder alles Heiligen, z. B. der berüchtigte Schriftsteller Bahrdt, von ihm mit offenen Armen aufgenommen wurden, auch die frivolsten Verächter des Christentums sich seiner Gunst erfreuten« usw. – Man male sich einmal aus, wie heute unsere Behörden denken, glauben und handeln würden, wenn Friedrich der Große deutscher Kaiser wäre! Ein großes ehrenwertes Volk läßt sich aber in seinem tiefsten und unantastbarsten Wesen durch amtliche Verfügungen nicht treffen und umstimmen.

Die katholische Kirche erklärt mit dreistem Munde: »Wenn Wissenschaft und Forschung in die Bahnen positiven Glaubens gelenkt sind, dann wird dem, was heute von vielen Vertretern einer ungläubigen Wissenschaft erstrebt wird, ein Ziel gesetzt werden können.«

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Demgegenüber ist zu sagen, daß vor der Wissenschaft die christliche Religion überhaupt nicht mehr bestehen kann. Denn die Wissenschaft kann die Gottheit Christi nicht anerkennen.

Der greise Darwin hatte recht, als er schrieb: »Wissenschaft hat mit Christus nichts zu tun, außer insofern, als die Gewöhnung an wissenschaftliche Forschung einen Mann vorsichtig macht, Beweise anzuerkennen.« – »Was mich selbst anbetrifft,« fügte er hinzu, »so glaube ich nicht, daß jemals irgendeine Offenbarung stattgefunden hat. Im betreff eines zukünftigen Lebens muß jedermann für sich selbst zwischen widersprechenden unbestimmten Wahrscheinlichkeiten die Entscheidung treffen.« (Dowe, 5. Juni 1879.)

Wer hat den Glauben? Niemand weiß es; jeder nimmt ihn für sich in Anspruch: Katholik, Protestant, Jude, Heide, Mohammedaner, Buddhist, Dissident, Kirchliche und Unkirchliche. Innerhalb der allein seligmachenden Kirche entschied höher die Inquisition über die Glaubensechtheit. Unzählige starben auf dem Scheiterhaufen, die man heute würde unbehelligt leben lassen. Ihres Unglaubens wegen wurden von der Kirche Galilei verfolgt, Giordano Bruno verbrannt. Unser Protestantismus ist für die Katholiken Unglaube. Wir behaupten: »Der Protestantismus ist nichts anderes als eine andere Form derselben wahren Religion, in der es möglich ist, Gott in demselben Grade zu gefallen, wie in der katholischen Kirche.«

Aber der unfehlbare Papst hat diesen Satz in seinem Syllabus vom 8. Dezember 1864 (§ 3, 18) als Irrtum verdammt.

Kant wurde seines Unglaubens wegen unter Wöllner von der preußischen Regierung an der weiteren Aussprache über Religionsfragen gehindert. Unser Kaiser aber bezeichnet jetzt Kant als einen der von Gott erleuchteten Männer.

Paul de Lagarde sagte (ich zitiere aus dem Gedächtnis): »nur ein Gott Christus geht uns an, der Mensch Christus wäre in hohem Grade langweilig.«

Harnack aber lehrt: »Jesus hat den Menschen die höchste Religion gegeben, nicht weil er Gott war, sondern weil er den Menschen den höchsten Begriff von Gott gegeben hat.«

Delitzsch bekämpft die Lehre, daß die Bibel das Werk göttlicher Offenbarung und einer Verbalinspiration sei. »Unglaube110 ist für die Orthodoxie, was Lessing gelehrt, was Goethe geschrieben hat, Unglaube so ziemlich die ganze moderne Literatur. Als ungläubig wurde Fichte vom sächsischen Konsistorium angeklagt. Nahezu alle großen Denker und Dichter sind des Unglaubens beschuldigt worden. Und vom Standpunkt der Kirche nur mit Recht; denn sie glaubten nicht, was die Kirche geglaubt wissen wollte. In der katholischen Kirche wird in gemessenen Zwischenräumen ein Gelehrter und wieder einer wegen Unglaubens belangt und mit Exkommunikation bedroht, bis er sich »löblich unterwirft«; in der evangelischen Kirche erlebt man Jahr für Jahr Maßnahmen gegen Geistliche, die das Apostolikum nicht buchstäblich nehmen.«

(Vossische Ztg. 1906. Nr. 425.)

Lessing hat seinen Nathan umsonst gedichtet. Noch immer gibt es gebildete Deutsche, die »den rechten Glauben« allein zu besitzen wähnen.

Friedrich Naumann hat buchstäblich recht, wenn er sagt: »Es gibt keinen einheitlichen Glauben mehr, nicht einmal in ein und derselben Konfession. Jeder Kopf glaubt etwas anderes. Ich will nicht sagen,« fährt er fort, »daß heute weniger geglaubt wird, als früher, aber es wird unregelmäßig geglaubt. Die Glaubensbegriffe decken sich nicht mehr … Der vielfältige Glaube ist unbequem zu verwalten, aber er ist wahrhafter als die Einförmigkeit.«

Ein Glaube, der nicht wahrhaftig ist, ist ein Widerspruch in sich, ist geradezu sündhaft, sittenverderbend, männertötend in dem Sinne, daß er ihnen das Mark der mannhaften Gesinnung aufzehrt. Ein solcher Scheinglaube ist schlimmer als gar kein Glaube.

Wenn unsere Kirchen die Kraft nicht mehr haben, ihre Gemeinde zu begeistern, Hingabe an ihre Lehren zu erwecken, dann haben sie sich eben überlebt. Nichts aber ist törichter, als den Menschen einen Vorwurf daraus zu machen, daß sie nicht mehr glauben. Zum Glauben kann man weder sich selbst, noch einen anderen zwingen. Glaube ist nicht einmal lehrbar. Wenn die Gemeinden den Trost nicht mehr suchen, den ihnen die Kirchen geben wollen, dann werden sie sich an andrer Stelle Trost suchen.

»Es ist nun eine offenbare Tatsache, daß die großen Massen der Gemeinden der Kirche entfremdet und voll Haß und Feindschaft gegen die christliche Religion erfüllt sind.« Das ist das Bekenntnis eines111 Protestanten, dessen Zeugnis keinen Zweifel zuläßt, des Vorsitzenden der Berliner Kreissynode.

Sein Bericht hebt hervor, daß die Agitation der Sozialdemokratie für den Massenaustritt aus der Landeskirche anscheinend größeren Erfolg gehabt hat als früher. Im vorigen Jahre wurden 254 Austritte in dieser Diözese gegen 104 im Jahre vorher gezählt. In diesem Jahre sind bis Ende April 458 Austritte teils vollzogen, teils angemeldet.

Syn. D. Stöcker warnt dringend, die gegenwärtige Agitation zum Austritt aus der Kirche zu unterschätzen. Sie habe einen anderen Charakter als die früheren Austrittsbewegungen. Jetzt treten nicht bloß Sozialdemokraten, sondern auch Angehörige bürgerlicher Kreise aus, weil ihnen die Kirchensteuer nach und nach zu hoch erscheint und sie in dieser Beziehung durch die öffentlichen Angriffe auf die Kirchensteuer noch bestärkt werden. Die Sozialdemokraten unter Hinweis auf die erfolglosen Bestrebungen zur Erringung des Wahlrechts für den Landtag – was die Kirche doch nichts angeht –, zum anderen unter Hinweis auf das Schulgesetz und zum dritten auf die Kirchensteuer. »Das sind«, sagte Stöcker, »ganz andere Motive als früher, die Lage ist weit gefährlicher und die einzelnen Punkte sind weit aufreizender als früher. Es kommt schon vor, daß ein Meister zusammen mit 17 oder 18 Gesellen austritt, daß ein ganzes Haus von Familien den Austritt erklärt. Auch die psychologische Situation ist anders als früher; früher hatten die Stadtmissionare bei ihren Besuchen in den Familien der Austretenden noch Erfolg, jetzt aber stoßen sie auf Wut, Haß und Verbitterung. Zweifellos hat die jetzige Bewegung einen viel stärkeren und bösartigeren Charakter als früher. Es ist bedauerlich, daß weite Kreise so zur Kirche stehen, und wer es mit der letzteren wohl meint, sollte sich in Weisheit, Behutsamkeit und Besonnenheit hüten, den Haß gegen die Kirche und die kirchlichen Einrichtungen noch zu schüren und der Agitation noch Nahrung zu geben. Die Sache«, sagte er abschließend, »ist sehr bedenklich und zeigt, daß wir auf der schiefen Ebene des Abfalles des Volkes von der Kirche weit vorgeschritten sind

Das also sind die Wirkungen einer Kirche, die ihre Glaubensgemeinde trösten und beglücken sollte, die mit allen staatlichen112 Mitteln gestützt wird und für die Unsummen erzwungener Steuern verausgabt werden!

Die wahre Ursache dieser Ablehnungen, Mißstimmungen und Austritte aus der Landeskirche sehen die frommen Herren natürlich nicht und suchen sie in Äußerlichkeiten. Das beweist nur, daß sie das deutsche Volk nicht kennen, dasselbe Volk, das vor 400 Jahren mit staunenswertem moralischen Mute von der alleinseligmachenden Kirche zu Luther abfiel, dasselbe Volk, das eben erst in blutigen Kriegen seine sittliche Kraft vor den Blicken aller Welt erprobt hat.

Es war wenigstens ein Versuch, den wahren Problemen auf den Grund zu kommen, als dem unduldsamen Fanatiker Stöcker, der in des Großen Friedrichs Staate nie mehr hätte möglich werden sollen, von dem Syn. Rechnungsrat Burghard (Heiligkreuz) erwidert wurde: »Ich freue mich, daß Herr Stöcker sich in der Behandlung der Gegensätze zwischen Positiven und Liberalen jetzt geändert hat. (Heiterkeit.) Früher wurden wir Liberalen als gleichberechtigte Glieder der Kirche nicht anerkannt, wir waren gut genug, Steuern zu zahlen, im übrigen sollten wir den Mund halten. Jetzt, wo die Not sich zeigt, sollen wir auch mithelfen. Wenn die Agitation auch zum Austritt an das Landtagswahlrecht und das Schulgesetz anknüpft, so hat das wohl darin seinen Grund, daß die Leute sagen: Diejenigen, die uns das Wahlrecht nehmen und das Schulgesetz geben, sind die Hauptstützen der orthodoxen positiven Kirchenpartei. (Sehr richtig!) Hofprediger Stöcker sagt uns, wir sollen beileibe nicht von der Kirchensteuer sprechen. Es ist das ein eigentümliches Verlangen. Nachdem wir Liberalen in der Stadtsynode erklärt haben, daß wir die Verantwortung für die Erhöhung der Kirchensteuer nicht übernehmen, werden wir natürlich nun nicht einfach den Mund halten!«

Als Stöcker darauf sagte, er habe abweichenden Glauben nie als Unglauben bezeichnet und sei viel besser als sein Ruf, quittierten ihm die Hörer, wie die Zeitungen berichteten, hierfür mit »Unruhe« und »Heiterkeit« und das in einer Synodalsitzung! – Wir wissen sehr wohl, weshalb die alten Kirchen leer stehen. Wir wollen es mit den Worten Gustav Frenssens sagen:

»Es geht wieder ein Sehen durch unser Volk, die drei gewaltigen Mächte, die es aus sich selbst erzeugt, die Obrigkeit, die Religion und die Sitte zu verjüngen. Es geht ein Wille und Wunsch113 durchs Volk, zur Natur zu kommen, zu einer schlichten schönen Religion, zur sozialen Gerechtigkeit, zu einem einfachen, edlen, germanischen Menschentum.«

Hören wir noch ein zweites modernes Bekenntnis:

»Jesus hat den modernen Christen weder das Weltbild gegeben, das sie jetzt besitzen, noch den Gottesbegriff, den sie jetzt umfassen, noch den Lebensweg, den sie jetzt gehen. Aber ein Glaube, dem man weder buchstäblich folgen kann, noch im Geiste ganz in sich aufnehmen will, sondern den man nur nach Behagen und Erfordernis gebraucht, dieser Glaube ist nicht mehr eine gottgegebene Religion und das Christentum ist allen denen entbehrlich, die wissen, daß Sünden und Sorgen zum Entwicklungslauf gehören. Das Kreuz ist nicht mehr ihr Sinnbild.« (Ellen Key »der Lebensglaube«.)

Ich kenne auch die Einwände der »Positiven«. Der »Reichsbote« hat mich selbst schon einmal mit seiner Aufklärung beehrt. In einem Aufsatze über »Radikalismus« wurde mit Grausen gemalt, daß durch solchen Subjektivismus die Gesellschaft und der Staat in seine Atome zerfallen müsse. Ein großer Irrtum: England und Nordamerika mit ihrem stark entwickelten Sektenwesen halten geistig besser zusammen als unsere kirchlich zentralisierten Staaten. In jenen glücklichen Ländern läßt man tatsächlich jeden nach seiner Fasson selig werden und erlöst sogar die Schulkinder aus dem Glaubenszwange. Man scheint also dort erkannt zu haben, welche Achtung man der persönlichen Überzeugung eines freien Bürgers schuldig ist, daß ein Mensch nicht den oder jenen Glauben hat, daß vielmehr umgekehrt dieser oder jener Glaube den Menschen habe. Man schafft sich doch seinen Glauben nicht willkürlich, sondern er wächst uns von innen heraus als eine Naturnotwendigkeit. Was aber geht den Staat mein Glaube an? Ich trage ihn ja still in mir herum, niemandem zuleide.

Hat Deutschland irgendeinen Nachteil bisher z. B. von dem Positivismus des Bundes für »freie Denker und ernste Wahrheitssucher« gehabt? (Dr. H. Molenaars Jahrb. Bd. V. »Religion der Menschheit«.) Oder von dem Bunde der Monisten? Liegt Verbrecherisches, Gemeingefährliches in ihren Glaubenssätzen? Man höre und prüfe gerecht:

114

Der Deutsche Monistenbund will die Kultur des einzelnen, des Volkes und der Menschheit fördern, indem er

wissenschaftlich unhaltbare und überwundene Weltanschauungen, vor allem aber ihre Eingriffe in das Einzel- und Gesellschaftsleben bekämpft;

neue Erkenntnisse als Grundlagen einer neuen Weltanschauung verbreitet;

neue Ideale der Lebensführung aufzuweisen und zu verwirklichen strebt.

I. Irrig und kulturhemmend ist jeder Dualismus in der Weltanschauung und Lebensführung. Irrig und kulturhemmend ist im besonderen:

1. die Annahme offenbarter göttlicher Wahrheiten mit absoluter Autorität gegenüber dem menschlichen Forschen nach Wahrheit;

2. die Annahme unbedingter übernatürlicher Kräfte und Gewalten, gedacht als freie Ursachen des natürlichen Weltgeschehens;

3. die Annahme eines himmlischen Jenseits, das Ziel und Vollendung des menschlichen Lebens auf Erden.

II. Unsere neue Weltanschauung ist der Monismus, das ist:

1. die Einsicht, daß die Natur aus sich selbst erklärt werden muß, ohne ein übernatürliches Prinzip;

2. die Erkenntnis, daß alles Geschehen nach ewigen, ehernen, großen Gesetzen verläuft, die in der Natur der Dinge selbst begründet sind;

3. die Gewißheit, daß die Natur einheitlich ist, dieselbe in allem Geschehen und in allen Gestalten.

III. Unser neues Ideal ist die Menschheit, die ihre Stellung in der Natur kennt und auf Grund dieser Kenntnis in ihr Schicksal selbstbestimmend eingreift. Die Anwendung der erkannten Naturgesetze auf die Gestaltung des Einzel- und Gesellschaftswesens soll uns befähigen:

1. durch Selbst-, Haus- und Volkserziehung eine immer größere Zahl gesunder, tüchtiger, vernünftiger und edler Persönlichkeiten heranzubilden;

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2. durch planmäßige Arbeit dieser Persönlichkeiten unser Volks- und Staatsleben auf eine immer höhere Stufe der Freiheit und Ordnung, der Gerechtigkeit und Fürsorge zu erheben;

3. durch bewußte Fortführung ihres allgemeinen Entwicklungsprozesses die menschliche Gattung selbst zu erhalten, zu kräftigen und zu immer höheren Stufen der Naturerkenntnis und Naturbeherrschung, der Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung zu führen.

In den Religionen sieht der Monismus also nicht übernatürliche Offenbarungen, sondern wandelbare Erzeugnisse des Gefühls und Geisteslebens der verschiedenen Völker in den verschiedenen Zeiten. Er erkennt den Wert der Religionen und ihre Bedeutung für die Veredelung der Menschheit völlig an, doch bestreitet er entschieden, daß Religiosität immer und untrennbar mit übernatürlichen Vorstellungen verknüpft sein müsse.

Von den Konfessionen behauptet der Monismus, daß sie durch den Zwang, den sie mit Hilfe staatlichen und gesellschaftlichen Druckes schon auf die Bildung der Jugend ausüben und durch den Zwiespalt, den sie in unser Volksleben hineintragen, vielfach schädigend auf die Entfaltung wahrhaft religiösen Lebens einwirken.

Den Staat betrachtet der Monismus als ein Ergebnis menschlichen Daseinskampfes und Organisationsstrebens. Er sieht in ihm die den einzelnen im Daseinskampfe stärkende Organisation einer verwandtschaftlich oder geschichtlich zu einer Rechts- und Kulturgemeinschaft verbundenen Menschengruppe. Entsprechend dieser hohen Bedeutung des Staates für die Erhaltung und Entwicklung des Volkes gebührt den staatlichen Interessen im allgemeinen der Vorrang vor den individuellen. Das Entwicklungsziel des Staates erblickt der Monismus darin, größtmögliche Freiheit der einzelnen mit möglichst vollkommener Ordnung des Ganzen zu verbinden und so eine Versöhnung von entwicklungskräftigem Individualismus mit echtem ethischen Sozialismus herbeizuführen.

Der Monismus maßt sich nicht an, alle Zweifel beseitigen und eine Lösung aller Welträtsel geben zu können, doch glaubt er eine dem heutigen Stande der Wissenschaft entsprechende Weltanschauung zu vertreten.

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Welcher Ernst, welch hohes sittliches Streben, welche wissenschaftliche Treue, welcher Wille zur Wahrhaftigkeit, welche Duldsamkeit! Es gibt keinen alleinseligmachenden Monismus, keinen Glaubenszwang, keine Ächtung Andersgläubiger; hier wird niemand mit ewiger Verdammnis bedroht, niemandem etwas genommen, keiner vergewaltigt und überlistet, keinem Kinde in der Entschließung vorgegriffen, keinen Manne Umkehr verboten. Ich sehe nichts, was an diesem »Monistenbunde« Tadel verdiente und habe Lust ihm beizutreten.

Dieselbe Erkenntnis haben z. T. unabhängig voneinander eine Reihe tiefer Denker gefunden. Vor allem klar und überzeugend hat sie Ludwig Feuerbach (»Das Wesen des Christentums«) dargestellt. Überall, bei allen Religionen, wies er das gleiche Schauspiel nach: die Selbstdarstellung des Menschen in seinen Göttern. Der Mensch kann eben über sein eigenes Wesen nicht hinaus. »Was dem Menschen Gott ist, das ist sein Geist, seine Seele; Gott ist das offenbare Innere, das ausgesprochene Selbst des Menschen.« Es ist das gleiche, wenn Anatole France sagt: »Die Götter haben den Menschen das Leben zu verdanken, denn ihr Wesen besteht aus den Gedanken und Gefühlen ihrer Anbeter«, oder, wie es Walt Whitman ausdrückt: »Nicht die Religionen schaffen den Menschen, sondern der Mensch die Religionen.« Gleicher Überzeugung lebten Max Stirner und Friedrich Nietzsche, leben Maeterlinck, J. P. Jacobsen, Ellen Key (»Der Lebensglaube«, S. 552, wo man weitere Belege findet) und vor allem auch, es noch weiter ausbauend und tiefer erfassend, Eduard von Hartmann, über dessen Auffassung wir uns am schnellsten belehren lassen durch W. von Schnehen (»Der Volkserzieher«, X. Nr. 19, S. 151): »Ich bin mir bewußt, daß mein wahres Selbst Gott ist, und dieser Tatsache mir bewußt zu werden und danach zu handeln, oder, wie es Schiller ausdrückt, Gott in meinen Willen aufzunehmen, das ist meine wahre Aufgabe, wenn ich als religiöser Mensch leben will. Aber mein Bewußtsein von dieser meiner wesenhaften Einheit mit Gott ist nicht diese Einheit selbst, mein Gedanke an die Gottheit ist nicht schon die Gottheit und die Vorstellung meines Selbst (d. h. mein Ich) nicht das wirkliche Sein dieses Selbst, sondern eben nur dessen mehr oder minder unvollkommenes Spiegelbild im Bewußtsein.«

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»Es ist das der konkrete Monismus im Gegensatz zu dem abstrakten Monismus der Inder und Mystiker, wie des Angelus Silesius, welcher sagte: »Ohne mich kann Gott nicht leben; rufe nicht nach Gott, denn die Quelle ist in dir; wer nicht Gott wird, sieht Gott niemals.« Über diesen konkreten Monismus, dem also Geister wie Spinoza, Lessing, Goethe, Kant, Herder, Schiller, Fichte, Hebbel, Schelling, Schopenhauer, Lange, Fechner vorgearbeitet haben, lese man E. v. Hartmanns »Religion des Geistes« und wie W. v. Schnehen (a. a. O.) lebhaft empfiehlt: Arthur Drews neue Schrift, »Religion des Selbstbewußtseins« (Eugen Diederichs Verlag), die er als »eines der schönsten und tiefsinnigsten Werke der gesamten religiösen Literatur« bezeichnet, die ich selbst aber noch nicht kenne.

Ich glaube, selbst Christus hätte den Monismus gelten lassen. Nicht aber – natürlich – können ihn der Papst und Stöcker gelten lassen.

Das alte Rom bestand jahrhundertelang mit einem ganzen Blumenkorb voll Göttern, auch Griechenland ist nicht an seinen vielen philosophischen und theosophischen Systemen zugrunde gegangen.

Es ist ein Nonsens, 60 Millionen Deutsche, deren jeder seinen eigenen Kopf hat, auf einige Dutzend alter Glaubenssätze verpflichten zu wollen. Gelingt es, so feiern die Heuchelei und die Lüge, der Stumpfsinn und die Gleichgültigkeit wahre Orgien. Davor möge uns ein guter Geist behüten!

Die orthodoxe lutherische Kirche erweist sich nur noch dadurch als kulturfördernd, als sie uns Märtyrer schafft. Nur insofern interessiert sie noch die große Menge der gebildeten Deutschen, zu denen ich auch viele der drei Millionen sozialistischer Arbeiter zähle. Erst wenn ein Theologe nicht bestätigt oder seines Amtes entsetzt wird, gewinnt er für uns Bedeutung. Dann sagen wir uns: »Halt! Das muß ein ganzer Kerl sein, ein Mann der Überzeugung.« Ich selbst fand mit solchen, mit Kalthoff, Steudel, Mauritz u. a. m. sofort Verständigung: ein Blick, ein Handschlag, ein Wort genügte. Die Männer aber mit ihren staatlich appropierten Überzeugungen sehe ich mir viel länger und kritischer an. Je »positiver« einer ist, um so verdächtiger ist er mir. »Ich hab nun mal die Antipathie.«

»Dir, Heinrich, muß es auch so sein.«

Auf der dritten öffentlichen Versammlung des deutschen118 Katholikentages in Essen sprach Graf Galen aus Prag ganz im Geiste der alten römischen Kirche und unter lebhafter Zustimmung aller katholischen Zuhörer:

»Das deutsche Volk ist krank, schwer krank. Wenn nicht baldige Heilung eintritt, dann verfällt das deutsche Volk in Siechtum und ist unrettbar verloren. Wer es mit dem deutschen Volke gut meint und es vor dem sicheren Untergange bewahren will, der muß ein Krankenpfleger werden. Man verlangt die konfessionslose Schule. (Pfui!) Graf Caprivi sagt mit vollem Recht: konfessionslos bedeutet religionslos. (Beifall.) Man verlangt also im Grunde genommen die religionslose Schule. Auf der deutschen Lehrerversammlung in München verlangte Lehrer Hochheimer aus Bremen die Abschaffung der christlichen Schulen. (Pfui!) Und diesem Manne wurde auf der deutschen Lehrerversammlung Beifall gespendet. (Stürmisches Pfui!) Wenn so etwas auf einer deutschen Lehrerversammlung geschehen kann, was soll aus unserer Schule werden?« – Darauf habe ich zu erwidern:

Nein, Herr Graf! Das deutsche Volk war krank und will jetzt aus eigner Kraft gesund werden, will sich frei machen aus einer unerträglichen Gewissensfessel, die es zur Heuchelei, zur Lüge, zum feigen Nachbeten, zum gedanken- und tatenlosen Hindämmern verleitet. Wohin die unmännliche katholische Kirchengläubigkeit führt, das lehren uns die Beispiele von Italien und Spanien. Deutschland ist groß geworden nicht mit und durch Roms Kirche, sondern im Kampfe gegen diese.

Sie berichten mit Entsetzen von Berlin, das Sie spöttisch die Hochburg deutscher Kultur nennen. »Dort wurden«, sagen Sie, »1904 christlichen Eltern 47 200 lebende Kinder geboren, davon wurden 5800 nicht getauft.« Recht so! Wenn die Eltern nicht mehr an die Erbsünde glauben, daß nämlich, wie die Kirche lehrt, »nach dem Falle Adams alle Menschen, die natürlich geboren werden, in Sünden empfangen und geboren werden, … daß auch dieselbe angeborene Seuche und Erbsünde wahrhaftig Sünde sei und verdammet alle unter den ewigen Gotteszorn, die nicht durch die Taufe und den heiligen Geist wiederum neu geboren werden«. – Weiter berichten Sie, daß in Berlin 20 237 Ehen unter Christen geschlossen, davon 7388 nicht kirchlich eingesegnet wurden. Auch daraus lernen119 Sie, Herr Graf, daß die civiliter Getrauten der frohen Zuversicht leben, auch ohne Beihilfe einer Kirche, die sich mit ihren überlebten Dogmen selbst um ihre Verehrung beraubt hat, ein glückliches und gottgefälliges Leben führen zu können. Dabei handeln die Leute nach unserem Staatsgesetze und sind hierin nach biblischer Vorschrift der – von Gott eingesetzten – Obrigkeit Untertan.

Sie fahren fort, Herr Graf: »Es starben 32 000 evangelische und katholische Christen in Berlin, davon wurden nur 17 392 kirchlich beerdigt.« Und Sie knüpfen daran eine schauerlich-schöne Betrachtung: »Mit Schrecken vernahm man im März d. J. von dem großen Unglück in dem Bergwerk Courrières. Was ist aber dieses Unglück zu dem, das über unser deutsches Volk gekommen ist? Hunderttausende sterben bei uns den Hungertod, den geistigen Hungertod. Von 100 Menschen sind 52 ohne geistlichen Beistand gestorben und ohne kirchliche Begleitung beerdigt worden. Sie waren schon tot, noch ehe sie gestorben waren. Tausende Menschen sterben in einer Nacht den geistigen Hungertod.«

Wir sehen daraus. Herr Graf, wie sehr Sie noch im alten Kirchenglauben befangen sind. Sie irren, wenn Sie meinen, daß wir am geistigen Hunger litten, weil wir Ihre zähe Kost verschmähen. Auf geistlichen Beistand verzichten wir Protestanten und Freidenker gerne. Ohne diesen sind Kant, Lessing, Goethe, Schiller, die meisten unserer Geistesheroen gestorben, Männer, von denen selbst Sie in Ihrem kirchlich beengten Denken und Wissen nicht werden behaupten wollen, daß sie schon lebend tot waren. In der Zucht düsteren katholischen Glaubens – vermutlich von Jesuiten – und in der Furcht vor der Hölle mit ihren sieben Stationen, vor ewiger Verdammnis und sonstigen seelischen Qualen auferzogen, ahnen Sie, Herr Graf, gar nicht, wie frei und glücklich, wie geistig gesund und kampfesfroh, wie zuversichtlich fürs Leben und Sterben ein Mensch sein kann, der Gott und die Welt mit seinen hellen gesunden Augen, nicht aber durch eine trübe Pfaffenbrille betrachtet. Sie ahnen nicht, wie überlebt, wie mittelalterlich, wie – wie – wie – nein, ich will es nicht niederschreiben. Weshalb Sie kränken? Sie können nichts dafür. Sie sind einer der Unzähligen, die im Dämmerschein und im Weihrauchdunst einer Kirche leben, die durch ihre bewundernswerte Kenntnis der menschlichen Schwächen und Bedürfnisse eine übermächtige120 Institution geworden ist, die den Geist aber betäubt, anstatt ihn zu erleuchten.

Sie nehmen gewiß auch teil an Umzügen der Bauern zur Fürbitte um Regen oder Sonnenschein. Sie stellen gewiß auch Ihr Haus unter den Schutz des heiligen Florian und ihre Viehherden – falls Sie welche besitzen – in die gnädige Obhut des heiligen Leonhard. Wie uns dabei zumute ist, das können Sie nicht einmal ahnen. Wir stehen kopfschüttelnd da, falten die Hände wahrhaft ergriffen über solche Glaubenskraft und unserer Brust entringt sich der Ausruf der Bewunderung: O sancta simplicitas! Wenn sie nun aber auf uns schmähen, uns beklagen und unseres Vaterlandes Ende voraussagen, weil wir nicht so – so – so – gläubig sind wie Sie, dann müssen wir herzinnigst lachen.

Ich gönne einem jeden seinen Glauben, und wenn es der dickste Köhlerglaube ist, ich kann mit Juden, Mohammedanern und Heiden jeder Farbe im besten Frieden leben; ich würde auch Sie, Herr Graf, unbehelligt lassen, wenn Sie nicht, aus Prag (sprich leider Praha) kommend, sich in Deutschland als Kulturträger aufspielten und uns Aufgeklärte nicht in unseren »heiligsten Empfindungen« (so heißt es doch wohl in Ihrem Kirchenlexikon?) verletzten. Glauben Sie mir, ich spreche im Ernst und mit vollstem Bewußtsein: lieber möchte ich tot als zu Ihrem Glauben verurteilt sein, der mich zurückwerfen würde in vorlutherische Unkultur und mir alles rauben, worauf sich mein Mannesstolz aufbaut; alles rauben, was uns die protestantisch-germanische Geistesarbeit seit einem halben Jahrtausend an höchsten geistigen Lebensgütern errungen hat. Bei Gott, lieber tot als Beichte, Rosenkranzbeten, Messenlesen, Anbetung heiliger Knochen und sonstiger Reliquien, öffentliche Prozessionen durch die Straßen, Knierutschen auf Marterstiegen usw. Ich würde mich schämen, falls ich zu Kreuze gekrochen wäre, mich vor den Meinigen wieder blicken zu lassen. So empfinde ich das, was sie, Herr Graf, für unentbehrlich zum Leben und zum Sterben halten. Ich verzichte gern auf alle Verheißungen Ihrer Kirche, wofern sie mich mit ihren Geistesgaben verschont!

Und was Ihre Besorgnis für Deutschlands Zukunft anlangt, so setze ich Ihnen Überzeugung gegen Überzeugung. Ich sage: Wenn Deutschland zugrunde geht, so geschieht dies nicht durch das, was121 sie »Unglauben« nennen – Deutschland ist ja auch nicht, wie Ihre unfehlbaren Päpste prophezeiten, an der Lutherischen Ketzerei zugrunde gegangen – aber ohne Luther und die übrigen deutschen Ketzer, wie Lessing, Kant, Goethe, Schiller, Hebbel, Bismarck, die auch Sie wenigstens dem Namen nach kennen dürften, hätten wir niemals ein neues Deutsches Reich erlebt – wenn dieses Deutschland zugrunde geht, so geschieht das auch nicht durch die Schuld der Sozialdemokratie, sondern allein durch die Schuld der Ultramontanen, die schon seit vielen Jahrhunderten an allen Übeln Deutschlands die schwerste Schuld tragen und die auch das alte heilige Reich deutscher Nation auf dem Gewissen haben. Dieses wollte protestantisch sein und war es schon bis in die letzten steirischen Bergdörfer hinein, als die schwarzen Sendlinge Roms kamen und die unglückseligen Habsburger dazu begeisterten, »lieber über eine Einöde als über Ketzer zu herrschen«. Sie haben es erreicht!

Ich teile die Überzeugung der Franzosen, bei denen es schon Sprichwort geworden ist: qui mange du pape en meure.

Und wenn ich den Katholizismus jetzt von dem Standpunkte meines Themas aus betrachte, wie muß ich da urteilen?

Erzieht die katholische Kirche zur Mannhaftigkeit? Nein! sie tut es nicht. Sie ertötet sie, ertötet den Trieb der freien Forschung, ertötet das Verantwortlichkeitsbewußtsein, indem sie schweigenden Gehorsam und unbedingten Glauben nach päpstlicher Vorschrift fordert. Der gute Katholik ist verurteilt, seine eignen Vernunfts- und Glaubensregungen zum Schweigen zu bringen, sowie sie mit den Lehren seiner Kirche in Widerspruch geraten. Die Kirche fordert Unterwerfung. Der Mannhafte aber unterwirft sich keiner Gewalt, wenn er ihre Forderungen nicht billigt. Der Mannhafte trägt seinen Richter in der eignen Brust. Er braucht keinen Vormund, wie das Kind, dem man sagen muß, was es zu tun und zu lassen hat, was es lesen darf, was nicht. Den »Index« sehen wir freien Männer als einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Menschen an. Der Index ist eine der Waffen, mit denen der geistige Fortschritt gehemmt wird. Ihm zum Trotze vollzieht sich die kulturelle Mission der aufgeklärten Völker, der Fortschritt, dem die katholische Kirche dann stets langsam folgen muß, um nicht völlig zu erstarren. Sehen wir uns einmal genauer an, welchen Geistes diese Kirche von jeher lebt!

122

Die Knebelung der Presse nahm ihren Anfang schon auf dem Tridentiner Konzil, wo durch ein Dekret Anzeige der Bücher gefordert wurde, in welcher »eine unreine Lehre« vorgetragen wurde.

Leo X. erließ dann eine Verordnung, »daß das, was zur Mehrung des Glaubens und zur Verbreitung der schönen Künste als heilsam und nützlich erfunden wurde« – nämlich die Buchdruckerkunst – »nicht einen entgegengesetzten Gebrauch erlangen und den Christengläubigen anstatt zum Heile, zum Verderben gereicht«. (Act. Conc. Lateran V § 55. 10.)

Demnach wäre der Buch- und Zeitungsdruck nur dazu bestimmt, den gläubigen Katholiken und der katholischen Kirche zu dienen. Denn eine jede Meinung, die von den Lehren der katholischen Kirche abweicht, gilt bekanntlich als Irrtum. Wer nicht gläubiger Katholik ist, wer sich den tyrannischen Befehlen der Kirche nicht beugt, der ist ausgeschlossen von allem Segen, den Gott für die Menschheit bereit hält. So sagt Gregor XVI. in seinem Rundschreiben vom 15. August 1832 wörtlich: »Es ist ein falscher Wahn, man könne in jedem Glauben die ewige Seligkeit erlangen, wenn man nur einen rechtschaffenen und ehrbaren Lebenswandel führt.«

Er beruft sich dabei auf des heiligen Augustinus Worte: »Wo gibt es einen gefährlicheren Tod für die Seele, als die Freiheit des Irrtums?« (Augustin. Ep. 166) und auf Papst Clemens XIII., der in einem Rundschreiben über die Verdammung schädlicher Bücher befahl:

»Man muß mit Kraft einschreiten, wie es die Sache selbst erfordert und mit aller Macht die tödliche Pest so viele schädliche Bücher zu entfernen suchen, denn nimmermehr wird es an Stoff zu neuem Irrtum fehlen, solange nicht die Werkzeuge und Mittel zur Verbreitung der Gottlosigkeit, die schlechten Bücher, im Feuer verbrannt zugrunde gehen« (Lit. Clem. XIII Christianae 5. Nov. 1766).

Als schlecht und verdammungswürdig gelten natürlich alle die Bücher, die sich mit den Lehren der katholischen Kirche nicht decken. Das meiste und beste, was uns seitdem die sog. klassische Literaturperiode und die gelehrte Forschung auf dem Gebiete der Naturerkenntnis, der Religionsgeschichte und der Bibelforschung geleistet haben – die staunenswerte Gedankenarbeit eines ganzen Jahrhunderts – ist der katholischen Kirche zum mindesten verdächtig. Freiheit der Forschung gilt ihr als Freiheit des Irrtums.123 Was braucht denn der Mensch noch zu forschen? Alle Wahrheit steht ja schon in der Bibel, in den päpstlichen Erlassen und in den Beschlüssen der Konzilien. So lesen wir in allen katholischen Lehrbüchern. Ich will irgendein wörtliches Zeugnis anführen, das ich zufällig in Händen habe:

»Die katholische Kirche stützt die Lehre, die sie verkündet, nicht auf Vernunftbeweise und glänzende Demonstrationen, sondern rein auf das Ansehen, welches ihr Jesus Christus gegeben, da er sie auf einen Felsen gründete, den selbst die Pforten der Hölle nicht überwinden werden. Dieses Ansehen ist ohne Vergleich größer und wirksamer, als jeder Vernunftsbeweis, und gibt der Kirche eine Auszeichnung, die sie kennbar und unterscheidbar macht unter allen existierenden christlichen Konfessionen. ›Denn‹, sagt der heilige Augustin, ›es ist unter den Ketzern eine allgemeine Regel, daß sie sich auf die Vernunfteinsicht viel zu gute tun, und sie in Widerspruch zu bringen bemühen mit dem Ansehen der Kirche, das doch so fest begründet ist; sie müssen aber so handeln, weil sie wohl die Lächerlichkeit und die Verachtung sehen, die sie auf sich ziehen würde, wenn man ihr Ansehen mit dem der Kirche vergleichen würde.‹ (118. Brief). ›Alle Ketzer‹, sagt er an einer anderen Stelle, ›betrügen im allgemeinen durch ein stolzes Prahlen mit Wissenschaft, und durch Spöttereien über die Einfalt derjenigen, die da glauben‹.«

Wo der Grundsatz gilt: nihil innovetur, nisi quod traditum est, gibt es keine freie Meinung, keinen Forschertrieb, keine selbstgefundene Überzeugung; denn der Satz heißt zu deutsch: »Keine Neuerung! Nur was überliefert wurde!« oder noch deutlicher und deutscher: Geistiger Stillstand, geistiger Tod!

Es ist ganz im Sinne dieser Kirche, daß der Papst Pius X. jetzt wieder an alle seine Lämmer neue Scheuklappen verteilt. Wie das auf uns geistig freien Deutschen wirkt, sagt mit wenigen Worten das »Blaubuch« (1906 Nr. 32 S. 1266):

»Pius X., der angeblich zur Versöhnung geneigte liberale Papst, der einst mit Wonneschluchzen begrüßte ›schlichte Priester‹, hat eine Enzyklika wider den ›Modernismus‹ geschleudert, die so ziemlich die stärkste Leistung des Obskurantentums ist, die wir in den letzten Jahren erlebt haben. Zeitungen dürfen in den Seminaren nicht mehr124 gelesen werden; nur in seltenen Ausnahmefällen ist es Theologen gestattet, an einer Staatsuniversität zu studieren; die Bischöfe sollen inkorrekte Prediger während ihrer Predigt öffentlich unterbrechen. Kurz, der Katholizismus verdammt sich selbst zur Erstarrung. Und angesichts einer solchen Geistesverfassung des leitenden Mannes sollte es nicht Pflicht sein, die Partei, die diesen Gedankengängen notgedrungen beipflichtet, mit aller Energie zu bekämpfen?«

Wir wissen aber, daß der neue Papst damit nichts fordert, was nicht vor ihm die Kurie schon immer gefordert hatte. Man höre nur, falls weitere Zeugnisse erwünscht sind, wie z. B. Papst Gregor XVI. den Liberalismus und die von diesem erstrebte Preßfreiheit bekämpft (1832), dieselbe Preßfreiheit, die dann Gesetz wurde und mit deren Hilfe wir jedenfalls doch ein großes Deutsches Reich erstritten haben. Er nennt sie »jene verruchte und nie genug zu verwünschende Preßfreiheit, die einige mit so vielem Geschrei zu ertrotzen und weiter auszudehnen suchen, um Schriften jeder Art unter das Volk zu verbreiten« und ergeht sich über sie in Zornesergüssen, die wenig angebracht waren, da wir ohne diese leider noch nicht genügend durchgeführte Preßfreiheit zweifellos in russische Zustände hineingeraten wären. Denn wenn man dem geistigen Wachstum eines Volkes keinen Raum, wenn man dem Volkswillen kein Ventil gibt, dann sind Kesselexplosionen unausbleiblich. Wir haben in Deutschland nicht zuviel, sondern zuwenig Preß- und Redefreiheit.

Maximilian Harden, ein Sachkundiger, schrieb erst jüngst bei seiner Kritik von allerlei betrübenden Zuständen in der deutschen Politik (»Zukunft« 1906, Nr. 38): »Nicht alles kann man unter der Herrschaft eines bis zu völliger Lächerlichkeit veralteten, von Nikolaus' Asiatenstaat überholten Preßgesetzes drucken; selbst der Furchtloseste nicht die Hälfte dessen, was er knirschend vernimmt,« – aber selbst der Gedanke an diese bescheidene Preßfreiheit versetzte schon den heiligen Vater in wilde Ekstase:

»Wir erschaudern, ehrwürdige Brüder,« ruft er aus, »wenn wir betrachten, welche sonderbare Lehren oder vielmehr welche Ungeheuer von Irrtümern wie eine Flut über uns hereinbrechen, Irrtümer, die weithin sich ausbreiten durch einen Schwall von Büchern, Zeitschriften und Flugschriften, die zwar dem Umfange nach klein und125 unbedeutend, aber der darin enthaltenen Bosheit nach desto größer und bedeutender sind; und aus denen, wie wir beweinen müssen, der Fluch über die Erde sich ausgegossen hat. Und doch gibt es, ach! noch Menschen, die sich so weit von der Unverschämtheit dahinreißen lassen, daß sie eigensinnig behaupten, dies von der Preßfreiheit entspringende Zusammenströmen von Irrtümern werde hinreichend wieder ersetzt durch irgendein Buch, das in diesem Sturme der Zeiten zur Verteidigung der Religion und Wahrheit herausgegeben werde. Es ist ja gottlos und allem Rechte entgegen, geflissentlich eine gewisse und überwiegend schlechte Tat zu begehen oder geschehen zu lassen, weil man Hoffnung hat, daß daraus irgend etwas Gutes hervorgehen könnte. Wird wohl auch jemand von gesundem Menschenverstande behaupten, daß man Gifte frei verbreiten, ja öffentlich verkaufen und austragen, ja sogar trinken dürfe, weil man irgendein Mittel besitzt, durch dessen Gebrauch diejenigen, die da Gift getrunken haben, manchmal vielleicht vom Tode gerettet werden könnten?« – Es ist nützlich, sich von Zeit zu Zeit mit Geist und Ton der Kurie auf Grund ihrer eigenen Urkunden vertraut zu machen, damit man sich nicht durch ihre kluge Taktik betören lasse. Fistula dulce canit, volucrem dum decipit auceps!

Während wir Protestanten jedem das Studium aller katholischen Schriften völlig freistellen, verbietet die Kurie unseren katholischen Landsleuten zu lesen, was in unserem Lager erscheint, macht ihnen dadurch eine Verständigung mit uns, einen Einblick in unser geistiges Leben unmöglich, arbeitet also der inneren Verschmelzung und Einigung unseres Volkes entgegen, ja, hält geflissentlich die Kluft offen und preist ausdrücklich noch, daß diese »Sorgfalt des heiligen apostolischen Stuhles, womit er verdächtige und schädliche Bücher zu verdammen und sie den Händen der Gottlosen zu entreißen suchte, zu allen Jahrhunderten sich gleich und beständig geblieben sei; daraus gehe deutlich hervor, wie falsch, wie verwegen, wie beschimpfend für denselben apostolischen Stuhl, ja wie furchtbar an all den ungeheuren Drangsalen des christlichen Volkes die Lehre jener Leute sei, welche nicht bloß die Zensur der Bücher als eine drückende Last verwerfen, sondern sogar so weit in ihrer Bosheit gehen, daß sie behaupten, die Zensur widerspreche allen Rechtsprinzipien, daß sie es auch wagen, der Kirche das Recht abzusprechen, eine solche126 Zensur (nämlich über Bücher von geistlichem und kirchlichem Inhalte) aufzustellen und auszuüben«.

Eine der haltlosesten Behauptungen der katholischen Volksbeglücker ist die, daß der »Unglaube« die Sozialdemokratie, mithin den politischen Zusammenbruch züchte. Das ist natürlich nur ein schlauer Geschäftstrick, um die Regierungen zu gewinnen.

Was geht es überhaupt die Kirche an, ob einer Konservativer oder Sozialdemokrat ist? Ihr Reich sollte doch nicht von dieser Welt sein. Aber sie hält es gerade mit den Mächtigen und Reichen, also mit denen, welchen ihr Herr den Himmel verschlossen hat. Die Behauptung, daß die geistliche Schule in Frankreich ein Schutzmittel gegen die Sozialdemokratie gewesen sei, ist völlig hinfällig, wie I. Tews (Schulkämpfe der Gegenwart, Teubner 1906) mit dem Hinweis lehrt, daß bei den Kammerwahlen im Jahre 1898 unter 584 französischen Abgeordneten 131 Sozialisten waren, während gleichzeitig die deutsche Reichstagswahl von 398 Abgeordneten nur 57 Sozialisten ergab.

Über die hohe sittliche Mission der katholischen Kirche und ihre Erfüllung bekommt man seine eignen Gedanken, wenn man liest, daß in Italien kein Stand mehr Sträflinge liefert als der Geistliche. Im Laufe der letzten zwei Jahre kamen dort 176 Gesalbte hinter Schloß und Riegel: zwei Drittel davon wegen Sittlichkeitsverbrechen, ein Drittel wegen Totschlages, Diebstahls, Veruntreuung usw. (vgl. »Es werde Licht« XXXVII. Jahrgang, Heft 8, S. 256). Solchen Führern ist das sittliche und geistige Wohl des armen Volkes anvertraut! Nirgends, wo ihr Einfluß lebt, sehen wir ein geistiges Aufdämmern, einen neuen Hoffnungsstrahl. Mit ängstlicher Sorge werden da alle die Schranken aufrecht erhalten, in denen der Geist von jeher verkümmerte. Hören wir, wie ein Italiener, der seine Kirche zu retten trachtet, Antonio Fogazzaro, in seinem Roman »Der Heilige« (Deutsch von M. Gagliardi) diese schildert: »Die katholische Kirche«, schreibt er, »fürchtet das Licht der Vernunft, ist in jedem und allem ein Sklave der vergötterten und deshalb despotischen Autorität, ist streng und ablehnend gegen die Draußenstehenden, ist durch irdische Interessen gefesselt, veraltet in Geist und Sprache.«

Eine Erziehung, die nur darauf ausgeht, den Angaben einer127 Autorität ohne Prüfung Glauben zu schenken, hat keinen Beruf in sich, wahre »Männer« heranzubilden. Es gehört kein Mut dazu, für Lehren einzutreten, die mit tausend Klammern verankert sind, ihre Verfechter mit weltlichen Ehren und göttlichen Gnaden beglücken. Wohl aber würde für einen Katholiken Mut dazu gehören, als Reformator gegen veraltete Lehren und Irrlehren, selbst gegen den Willen des Papstes aufzutreten, wie es einst Luther tat. Daß der Kirche jetzt keine solche Kämpfer mehr erstehen wollen, daß sich die aufstrebenden selbständigen Köpfe doch immer wieder unter die unerbittlich strenge Zucht beugen und ducken, daß wir immer wieder von diesem und jenen hören, er habe sich laudabiliter unterworfen – das gereicht der Kirche nicht zum Ruhme. Freilich – die Organisation ist erstaunlich, bewundernswert, aber es ist eine Herrschaft durch Terrorismus.

Wie unfrei der gläubige Katholik ist, das ahnt er selbst nicht, ja er küßt noch die Ketten, die ihn binden. Es ergeht ihm, wie den Haremsfrauen, die einen Arzt beinahe gelyncht hätten, weil er ihnen eine menschenwürdige Freiheit erkämpfen wollte.

Jetzt blasen die Katholiken, die sich in jede politische Lage zu schicken wissen, aus Opportunitätsgründen in Deutschland die Friedensschalmei. »Wir wollen die soziale und konfessionelle Versöhnung. Ja, wir würden es als einen der größten Erfolge unserer Generalversammlungen betrachten, wenn wir ein Zusammengehen mit unseren protestantischen Brüdern, soweit sie auf dem Boden des positiven Christentums stehen, erreichen könnten.« Kein Wunder, daß ihnen bei uns zulande besonders wohl ist, da auf dem Boden unserer Luther, Goethe, Schiller und Bismarck jetzt – Gott sei's geklagt! – Zentrum Trumpf ist. An ihren Grundsätzen aber haben sie trotz dieser versöhnlichen Worte nie etwas geändert. Das Hoch auf den Papst wird natürlich stets vor dem auf den Kaiser ausgebracht, das Telegramm an den Kardinal ist viel wärmer und ehrfurchtsvoller als das an des Kaisers Majestät, in den Ostmarken fährt der Klerus fort, durch Kinder- und Weiberverhetzung jede Kulturarbeit des germanisierenden Staates zu vereiteln; in Bayern stimmte die katholische Partei gegen den nationalen Liberalismus im Bunde mit der Sozialdemokratie und auch sonst bleiben die leitenden Grundsätze sich stets gleich. Wenn in Essen auch geeifert wurde128 gegen die Sozialdemokratie, gegen den Absolutismus der Massen, der von Freiheit redet und die Freiheit gerade derjenigen beschränkt, die von der Freiheit den richtigsten Gebrauch machen würden. »Solange aber«, so wurden wir getröstet, »das katholische Volk sich im öffentlichen Leben betätigt und für eine richtige parlamentarische Vertretung sorgt, so lange braucht das deutsche Volk nichts zu befürchten für seinen Bestand und für seine wirtschaftliche Ordnung, so lange können die Regierungen unbesorgt sein, weil dann die sozialdemokratischen Bäume nicht in den Himmel wachsen.« Fistula dulce canit – –! Trotzdem bleibt es dabei: Erst die Kirche, dann das Vaterland! – »Mögen die Katholiken stets eingedenk sein, daß zur Erteilung und Beaufsichtigung des Religionsunterrichts nur die Kirche befähigt ist!« – »Es galt, die Konfessionsschulen gesetzlich festzulegen, deshalb haben wir schließlich dem Gesetz, als es vom Herrenhaus zurückkam, zugestimmt.« – »Die deutschen Katholiken müssen mit den Katholiken der ganzen Welt nach wie vor den Anspruch aufrecht erhalten, daß ihr höchstes kirchliches Oberhaupt, der Papst, eine volle und wirkliche Unabhängigkeit und Freiheit genieße, welche die unerläßliche Vorbedingung für die Freiheit und Unabhängigkeit der katholischen Kirche ist und können diese Freiheit und Unabhängigkeit erst dann als verbürgt ansehen, wenn ein Zustand hergestellt sein wird, dem auch der Papst selbst seine Zustimmung hat geben können.«

Friedrich der Große wußte, wohin ein solcher Kurs führt. Der Kampf gegen die Hierarchie galt ihm als sein vornehmster Herrscherberuf. Man widerspricht mir? Nun, so höre man ihn selbst: »Meine Hauptbeschäftigung«, schreibt er am 16. Sept. 1770 an Voltaire, »besteht darin, daß ich die Vorurteile bekämpfe und die Köpfe aufkläre,« und am 30. Dezember 1775 schrieb er schon mit größerer Zuversicht an d'Alembert: »Zusehends vermindert sich der Aberglaube. Währt dies nur noch kurze Zeit, so werden die Mönche aus ihren Klöstern zurückkehren und die Vernunft wird sich am hellen Tage zeigen können. Gute Bücher haben endlich den Star gestochen, der die Augen der Pfaffen verfinsterte. Sie schämen sich ihres unsinnigen Gottes und arbeiten heimlich am Sturze des Glaubens.«

Die Kirche will gar nicht »Männer« erziehen. Ihr sind gläubige Weiber, selbst die ältesten Spittelweiber und Almosenempfängerinnen,129 gleich willkommen. Sie zählen nur nach Seelen. Je demütiger und vernichteter die Seele ist, um so besser ist sie, um so lenksamer und widerstandsloser.

Ich hörte einmal auf einer Dampferfahrt nach Rügen, wie ein protestantischer Geistlicher einer trauernden Witwe sagte: »Gott arbeitet am liebsten mit gebrochenen Herzen.« Es ist zwanzig Jahre her, aber ich habe es nicht vergessen. »Mit gebrochenen Herzen«, mit geknickten Persönlichkeiten, mit Lebensmüden und Gescheiterten. Bei diesen findet dann der Geistliche auch seine segensreiche Wirkung. Man lehre uns einen Gott der Gesunden, Frohen, Tapferen und Stolzen! Man zeige uns eine Kirche, in der die Kühnsten ihre größte Erhebung und Stärkung erleben!

Ein Luther wiegt für die Kulturarbeit eine Million frommer Kirchenhämmel auf. Aber die alte Kirche konnte ihn nicht brauchen, weil er eine Persönlichkeit war. Eduard Goldbeck sagt sehr treffend von der »schwarzen Garde« und ihrer Gefolgschaft, die in Essen, 43 000 Mann stark, das Opfer ihres Intellektes zur Schau stellte: »– – Verständnis ist vom Übel, denn vom Verständnis zur Kritik ist nur ein Schritt. Hier weiß jeder: individuelle Anschauungen sind gleichgültig; hier wäre Persönlichkeit nur schädlich; es gilt sich selbst aufzugeben, in der Gesamtheit zu ertrinken – der Machtrausch trägt alle auf ungeheurer Woge dahin – –«

»Wollt ihr in der Kirche Schoß
Alle Gläubigen versammeln,
Macht die Pforten weit und groß,
Statt sie ängstlich zu verrammeln

Das hat Geibel, der Protestant, gesagt, aber er hat es nicht für die Protestanten gesagt. Von dessen Gewaltigen hören wir nur, wenn sie Scheiterhaufen schichten. Der Katholizismus ist klüger; nie hat man in seinem Reiche so laut die Duldsamkeit preisen hören wie dieses Jahr in Essen.« Leider hat, wie ich eben (12. Sept.) lese, nun auch unser Kaiser sich diesen Gedanken zu eigen gemacht und als sein Programm öffentlich verkündet: »– unter Zusammenschluß der Konfessionen, dem Unglauben zu steuern«.

In diesem Bunde unserer Staatsgewalt mit den konservativ-klerikalen Mächten sehen wir mehr Linksstehenden die schwerste Gefahr130 für Deutschlands Zukunft. Dieser Bund macht uns zu »Schwarzsehern«, dieser Bund wird uns nicht Männer erziehen, sondern wird uns entkräften und lähmen: es sei denn, daß im Widerstande gegen ihn neue Kräfte in unserem schon tief erregten und nach Befreiung schmachtenden Volke erstehen. Der Schwerpunkt der Weltgeschichte ist seit Jahrhunderten auf der Flucht vor Rom. Die Linie führt aus Italien über Wien, Wittenberg nach Berlin, und leider jetzt nach London und Nordamerika. Wenn Deutschland aufhört, der Hort freier Forschung und die Pflanzstätte auf sich selbst gestellter unabhängiger Persönlichkeiten zu sein, dann können uns weder Kanonen noch Kriegsschiffe vor dem kulturellen Rückschritt und damit auch vor politischer Machteinbuße bewahren.

Dieses war schon geschrieben, als ich in der »Kölnischen Zeitung« an leitender Stelle einen noch viel schärferen Widerspruch gegen das neue Regierungsprogramm las. Das Blatt sagt:

»Die Liberalen, die in der monarchischen Grundlage die Gewähr des Bestandes und der gedeihlichen Entwicklung unseres Staatswesens erblicken, würden sich einer Pflichtversäumnis schuldig machen, wenn sie es unterließen, zu solchen Kaiserreden in voller Klarheit und, wenn nötig, mit gebührendem Respekt als Sr. Majestät allertreueste Opposition Stellung zu nehmen. Gerade in diesen Kreisen wird der warme Appell des Kaisers an die Mithilfe jedes einzelnen im Volke, die Mahnung daran, daß so wie er jedermann die Pflicht habe, für das Wohl des Vaterlandes zu arbeiten, freudigen Widerhall finden, aber die Mißdeutung der Kaiserworte wird beginnen, wenn es gilt, das Mittel, das der Kaiser dazu angibt, zu benützen. Der Zusammenschluß der Konfessionen zur Bekämpfung des Unglaubens klingt, vielleicht unbeabsichtigt, an einen der hauptsächlichsten Programmpunkte des eben erst verhallten Essener Katholikentages an, wo ein solcher Zusammenschluß als ideale Zukunftstaktik des Ultramontanismus gepriesen wurde. Sollte der politische Konfessionalismus – katholischer oder protestantischer oder beide im Bunde – das Breslauer Kaiserwort dahin auslegen, daß er berufen sei, als Macht im Staate zu gelten, so lehnen wir von vornherein diese Deutung ab und werden sie auf das entschiedenste selbst dann bekämpfen, wenn das kaiserliche Schild sie decken sollte, denn wir erblicken131 in diesem Konfessionalismus, vor allem im katholischen, wie ihn der Ultramontanismus politisch so erfolgreich verkörpert, einen der schlimmsten Feinde des nationalen, modernen Staates; er ist mit diesem staatsrechtlich schlechterdings nicht zu vereinbaren, und da, wo er es praktisch versuchen sollte, muß er der Bahnbrecher der Sozialdemokratie und Revolution werden.« Sehr richtig!!


132

IX.
Der Gebildete.

Der deutsche »Ehrenmann« ist neben dem Gentleman ein achtbarer Philister, der »Kavalier« ein Mann von Standesdünkel und Standesenge, speziell der österreichische Kavalier, zwar von gefälligsten Formen und von großer Liebenswürdigkeit, aber oft ein Mann ohne Grundsätze, Lebemann, bei dem Volke beliebt, weil leichtlebig und gut zum »Hochnehmen«, auch bei aller Lustigkeit oft schon unterwegs zum Bankrott. Der österreichische junge Aristokrat hat jetzt das ganz unglaubliche Bestreben, »décadent« auszusehen. Die Witzblätter übertreiben nicht, wenn sie ihn, wie eine Vogelscheuche, mit krummem Rücken, schlappen Beinen, Hängelippe und müden Augen darstellen. Das ist jetzt das Modernste und Eleganteste. Als ich einen jungen Offizier fragte, wie es meinem ehemaligen Schüler, einem blühenden Bürschchen von damals zwölf Jahren, gehe, sagte er im vollsten Ernste: »Ein vornehmer, décadenter Kavalier!«.

Bei uns will der junge Mann »forsch« sein, will für einen Leutnant in Zivil gelten. Deshalb Brust raus, Nase hoch, Beine stramm durchgedrückt und den stolzen, unzufriedenen Mann gespielt, auf daß man denke, er sei aus einem hohen Haus oder doch von einem feinen »Rement«. So bei den Hohen und denen, die gesellschaftlich hoch hinaus wollen.

Der »bessere« Bürger aber erstrebt »Bildung«. Der schlichtere Bürgersjüngling will ein gebildeter Mensch sein. Das ist heute bei uns wohl das am meisten begehrte Erziehungsergebnis. Das Höchste ist ein Gelehrter und höherer Beamter. Man sieht daraus, daß wir den Stolz, ein Volk der Denker zu sein, tief in der Seele tragen.

Uns fehlt bis heute ein rechtes Wort für die Summen von Eigenschaften, die das Wesen eines echten deutschen Mannes ausmachen.133 Das ist ein großer, sehr schmerzlicher Mangel. Am besten paßt eben noch »Mannhaftigkeit«, nur daß wir diese nicht für uns Deutsche allein in Anspruch nehmen dürfen.

Die Römer erzogen ihre Knaben und Jünglinge zur virtus. In der Schule lernen unsere Kinder, daß virtus Tugend bedeute. Eine vollgültige Übersetzung ist das nicht, wie sich ja überhaupt Wörter der einen Sprache fast nie getreu in die einer anderen übersetzen lassen. Es sind nicht konzentrische Kreise, sondern Kreise, die sich schneiden. Tugend ist weniger und etwas anderes als virtus. Tugend ist stammverwandt mit taugen, bedeutet zunächst Brauchbarkeit. Unser Volk, jahrhundertelang arm, hatte für Müßiggänger keinen Raum. Nur der tüchtige, brauchbare Mensch genoß Achtung. Und das ist bis heute trotz des gesteigerten Wohlstandes gottlob so geblieben. Unsere Erziehung sieht immer noch mehr auf den handgreiflichen Erfolg, auf die Tüchtigkeit zum Erwerb und zur Arbeit überhaupt, als auf die Entwicklung allgemein männlicher Vorzüge. Unsere Schulen sind noch mehr Lehr- und Lern- als Bildungs-, zumal Charakterbildungsstätten. Früh hat übrigens unter dem Einflusse der Kirche das Wort Tugend bei uns einen etwas weichlich-sentimentalen Sinn angenommen, so daß heute einer als »tugendhafter« Jüngling fast mit einer spöttischen Empfindung benannt wird. Man denkt dabei leicht an einen Mangel an männlicher Kraft, denkt etwa an christlich-sittliche Jünglingsvereine. Ein junger Offizier, der auf sich und seine Ehre hält, würde schwerlich dulden, daß man ihn »tugendhaft« nenne. Um den Ruhm der virtus bewarb sich aber jeder Römer, selbst der Anhänger der jeunesse d'oré. Virtus ist Mannesart, virtus umfaßt alle die Eigenschaften, die nach römischem Begriffe das Wesen eines echten Mannes ausmachen, Tapferkeit, Beharrlichkeit, Ruhe, Kraft und Stolz. Der Begriff mag im Laufe der Jahrhunderte in seinen Grenzgebieten auch geschwankt haben, aber im Kern blieb er allezeit unverändert. Die Mannestugenden, die das zähe Bauernvolk, das einen gefaßten Plan nicht wieder fallen ließ – propositi tenax, wie Horaz sagt –, zur Weltherrschaft geführt hatten, ehrte selbst der décadente Epigone, der sie selbst nicht mehr aufbringen konnte. Ein solches Erziehungsideal, das von dem ganzen Volke anerkannt und angestrebt wird, ist, wie wir auch von Rom lernen, ein nationaler Schatz von unberechenbarem Werte.

134

Der akademische Lehrer, der zugleich in der Regel selbstforschender Gelehrter ist, nimmt unter den Erziehern zur Wahrhaftigkeit und damit Mannhaftigkeit – beides ist fast identisch – den ersten Platz ein. »Sein schönstes Vorrecht ist es, daß er nicht nur durch sein Wissen, auch durch seine Persönlichkeit die Seelen der nächsten Generation adelt.« (G. Freytag, Verlorene Handschrift, Bd. 2, S. 80.) Jedes ehrliche Streben nach Erkenntnis schafft neue sittliche Werte. Es ist einerlei, woran ein Forscher arbeitet, ob an der griechischen Grammatik, an der Textkritik eines alten Kirchenvaters, ob an geologischen Problemen, an Erforschung der kleinsten Lebewesen oder den Wundern des Sternenhimmels. Jede Arbeit, die der wahren Erkenntnis dient, trägt ihren Wert und Adel in sich selbst. Deshalb ist aber auch ein Gelehrter, der ein anderes Ziel als die Wahrheit kennt, ein Widerspruch in sich. Deshalb kann die Wissenschaft keinerlei Fesseln ertragen. Wer sie einschränkt, etwa durch Dogmen irgendwelcher Art, durch staatliche oder kirchliche Rücksichten, der geht ihr ans Leben. Eine unfreie Wissenschaft hört auf, Wissenschaft zu sein. Wer über sich einen höheren Richter kennt, als sein wissenschaftliches Gewissen, in dem sich ihm alles offenbart, was göttlich im Menschen ist, der mag ein Ehrenmann, ein Glaubensheld, ein Meister in allen erdenklichen Fertigkeiten und Künsten sein, ein Mann der Wissenschaft ist er nicht. Es gibt auch eine dichterische, künstlerische Wahrheit, auch natürlich eine Wahrhaftigkeit des Glaubens. Niemand hat ein Recht, an der subjektiven Treue ihrer Äußerungen zu zweifeln. Wenn sie sich aber dem wissenschaftlichen Beweise, in den Naturwissenschaften dem Experimente, in der Mathematik der Berechnung, in der Geschichte dem Quellenstudium und Zeit- und Sprachkenntnis entzieht – dann ist es eben keine Wissenschaft mehr. Man muß diese Gebiete des Wissens und Glaubens reinlich scheiden, darf uns aber nicht, wie das alltäglich geschieht, Glaubenssätze als Wissen anpreisen. Ich habe es schon wiederholt ausgesprochen, daß es objektive Heilswahrheiten in keiner Religion gibt, wohl aber subjektive Glaubenswahrheiten, daß Dogma »Meinung« bedeutet, nicht aber Wissen.

Nur in unserem innersten Wesen, das wie alle Natur ein Teil des Göttlichen und zugleich die höchste Offenbarungsform des Seins ist, tragen wir unseren Richter. Die Wissenschaft ist also135 selbstherrlich, ist eine Königin, niemandem dienstbar. Im Mittelalter meinte man, alle anderen Fakultäten seien Mägde der Theologie. Davon sollte heute nicht mehr die Rede sein können. Aber noch immer maßt sich die Kirche über sie Herrenrechte an. Noch immer glaubt auch der Staat berechtigt zu sein, die Wissenschaften und ihre Arbeiter zu überwachen, damit die Forschungsergebnisse nicht in Widerspruch mit dem »wohlverstandenen Interesse des Staates« treten.

Ich bezweifle, daß ehrliche Wissenschaft je schädlich werden kann. Denn da die Wahrheit göttlicher Natur ist, da Gott selbst die Wahrheit ist, so ist jede ernste wissenschaftliche Tätigkeit ein Gottesdienst, jede neue wissenschaftliche Erkenntnis eine Annäherung an Gott.

Höchst überflüssiger-, ja verbrecherischerweise hat die katholische Kirche die Wahrheitssucher auf naturwissenschaftlichem Gebiet »von je gekreuzigt und verbrannt«. Die Welt hat keinen Schaden durch die Erkenntnis erlitten, daß sich die Erde dreht, auch nicht durch Darwins Entwicklungslehren. Sie wird auch Häckels Belehrungen vertragen.

Die Wissenschaft darf überhaupt nicht fragen, ob den geistlichen oder weltlichen Fürsten oder dem Pöbel der Gasse ihre Funde brauchbar und angenehm sind. Sie kennt nur eine Herrin – die Wahrheit. Wenn ihre Ergebnisse durch Mißbrauch in der Hand von urteilslosen oder gewissenlosen Menschen wirklich gemeingefährlich werden, etwa wie Pulver und Dynamit, so mag der Staat Leben und Gut der Bürger vor Gefahren schützen, nicht aber die chemischen Studien verbieten. Wenn unreifen Kindern die Lektüre aufklärender Schriften schadet, so haben wir schon gesetzliche Handhaben, zumal haben die Eltern und Lehrer Mittel, ihre Kinder davor zu schützen. Deshalb muß aber doch jede Forschung, auch die an der Bibel, frei sein und bleiben. Wahrheitssucher sind auch sittlich ernste Menschen. Vor ihnen sollte man sich weniger fürchten als vor einer blindgläubigen und dadurch leicht fanatisierten Menge. – –

»Betrag' dich doch gebildet!« hört man oft die Eltern zu ihren Kindern sagen. Alle, die es irgend erschwingen können geben ihren Kindern eine »höhere Bildung«. Dabei kommt es besonders auf die Art der Schule und in dieser auf das Wissen an, über das die136 Prüfungen verläßliche Auskunft geben. Daß der Deutsche vor allem zum Denken geboren sei, das ist seit dem Reformationszeitalter und mehr noch seit dem Neuhumanismus, den uns Gelehrte schufen, ein Glaubenssatz, von dem sich kein Vertreter der höheren Schulen will abbringen lassen. Ich sehe aber nicht ein, weshalb der deutsche nicht mit gleichem Eifer bauen, malen, dichten, bilden, Handel treiben, Krieg führen, seefahren und zu all dem gleichermaßen erzogen werden soll; sehe nicht ein, weshalb man durch Beschäftigung mit diesen Dingen nicht ebensogut zu »Bildung« gelangen könnte.

Nun hat uns aber gerade in jüngster Zeit Prof. Friedrich Paulsen[8] wieder eingeschärft, daß die höheren Schulen aus dem Bedürfnisse geboren seien, die höheren Stände durch wissenschaftlichen Unterricht zu voller Freiheit und Selbständigkeit des Denkens und Handelns zu erheben. Das ist richtig, ist eine historische Tatsache. Die weitere Folgerung: Demgemäß müsse auch nach wie vor ihre Fundamentalaufgabe bleiben, die Schüler zu wissenschaftlicher Arbeit in elementarer Form anzuleiten, in ihnen den Trieb zu eigener Beobachtung und Sammlung, Untersuchung und Prüfung zu wecken, den Forschertrieb und den Wahrheitssinn zu entwickeln, ließ aber einige Einschränkungen zu.

Damit soll nämlich der Gegensatz scharf gezeichnet sein zu dem rhetorischen Virtuosen, wie ihn die französische, und dem rohen Utilitarier, wie ihn die englische Erziehung angeblich züchte. Gegen den Versuch etwa, mehr künstlerische Kultur oder mehr moralische und sittliche Bildung in unsere Schulen zu tragen, ist damit aber nichts gesagt. Freilich verwahrt sich der Mitberichterstatter auf der Direktorenkonferenz zu Stettin dagegen mit den Worten, daß die höhere Schule weder Theaterschule noch Konservatorium, auch keine Maler- und Bildhauerakademie werden dürfe. Dahinter steckt immer das alte deutsche Urteil, daß Wissen und eben nur das Wissen, nur die wissenschaftliche Anleitung Bildung gebe, daß beides vereint das höchste Lebensziel sei.

Dem Wissenschaftler gegenüber ist aber vom Standpunkte des Künstlers die Frage berechtigt: Wenn unsere höheren Schulen nicht Kunstschulen sein sollen, mit welchem Rechte sind sie denn einseitig137 wissenschaftliche Schulen? Darauf antwortet der Universitätsprofessor Ludwig von Sybel: »Weil der Deutsche lernen soll, unsere Kultur an der Wurzel zu fassen und aus der geistigen Wurzel heraus sie immer neu zu treiben.«[9] Das heißt, weil wir die historische Schulung einseitig überschätzen, weil wir die Jugend immer wieder auf Bücher, statt auf die Natur, auf die Autorität statt auf die Selbstbeobachtung verweisen, weil wir Alexandriner geworden sind und nicht mehr im glücklicheren perikleischen Zeitalter leben. Nicht Gelehrte, freilich auch nicht Künstler, sondern Männer soll uns die Schule heranbilden. Das tut sie bisher in unzureichendem Maße.

Bildung ist eine bloße Lebenszier geworden, ein Ornament, wie schöne Kleider und Orden. Bildung kann man in Deutschland ersitzen. Um für das ganze Leben ein Übergewicht, ein gesteigertes Hochgefühl anderen Sterblichen gegenüber zu haben, muß man »akademisch gebildet« heißen. Der akademisch Gebildete hat seine besonders delikate Ehre und beansprucht eine Ausnahmsbehandlung. »Wer bißchen was is«, läßt deshalb in Deutschland seine Söhne das Abiturientenexamen machen und studieren. Daher die unglückselige Überfüllung der gelehrten Berufe!

Nun wird kein billig denkender Mensch die Verdienste der höheren Schulen in Deutschland verkennen, bei ruhiger Betrachtung aber auch ihre großen Nachteile sehen. Ja, wenn es mit der Selbständigkeit des Denkens und Handelns nur seine Richtigkeit hätte!

Ich erlaube mir auf Grund meiner Erfahrungen daran zu zweifeln. Ich glaube, ohne unsere staatlichen höheren Schulen wären wir im selbständigen Streben und Handeln ein gut Stück weiter gekommen, ohne sie hätten wir mehr Menschen, die Selbstdenker, Selbsthandler, mithin eigenartige Persönlichkeiten wären, mehr Baumeister, weniger Handlanger. Ist es wahr, daß wir seit Luthers Großtat alle freiheitlichen Fortschritte, selbst auf den Gebieten wissenschaftlicher Forschung, dem Auslande, zumal den Engländern, verdanken? Oder muß man eine so offenkundige Tatsache erst ausführlich belegen?

In der wissenschaftlichen Verarbeitung und im Ausbau der neuen Ideen erwies sich Deutschland stets als unübertrefflich – da kam uns deutscher Fleiß, Gründlichkeit und Ehrlichkeit zustatten –, aber es138 mußten uns, wie gewissenhaften Schülern von fremden Lehrmeistern, die großen Probleme erst gestellt werden, ehe wir sie verarbeiten konnten.

Ich bestreite auch, daß heute in unseren höheren Schulen freie Forschung zu Hause sei. Den Schülern werden die mittelalterlichen Glaubensdogmen eingetrichtert, und sie dürfen dabei nicht muxen. Man weicht den großen Lebensfragen, denen schon jedes Kind von gesundem Sinne nachforscht und die das Tagesgespräch am Familientische bilden, in den Schulen mit geflissentlicher Sorgfalt aus. Ich kann mit Beispielen dienen. Als ein Gymnasialoberlehrer ohne jeden bösen Hintergedanken in reinster Herzensunschuld seine Tertianer über den »Unterschied zwischen der jüdischen und ovidischen Schöpfungssage« einen Aufsatz hatte schreiben lassen, kam sein Direktor, ein orthodoxer Protestant, in die Klasse und sagte offen zu den Schülern: »Ihr alle habt einen großen Irrtum begangen. Ovids Darstellung ist Sage, was aber die Bibel über die Schöpfung berichtet, das ist göttliche Offenbarung, nicht Sage.« So ist natürlich auch die sprechende Schlange nicht, die aus der Rippe geschaffene Eva, der Stillstand der Sonne, die Ruhe der Erde, der sprechende Esel Bileams ist überhaupt nichts, was im alten Testamente erzählt wird, Sage oder menschliche Dichtung, sondern alles Gottes Wort, und was unsere Astronomie, Geologie, Biologie, Anthropologie, Religionskunde und all unsere Naturwissenschaften in den letzten 500 Jahren zutage gebracht haben, ist eitel Rauch und Wind. So will es der Gymnasialdirektor, der sich in Festreden über die Freiheit der Forschung ergeht und von irgendwelchem Gewissenszwang in Preußen noch nie etwas verspürt hat. Da ist der Papst ja nicht so päpstlich:

»Die Theologie braucht die neuen Tatsachen der Naturwissenschaften nicht zu fürchten. Sie hat vielmehr alle Ursache, sich in hellem Jubel zu freuen, je gigantischer die Naturforschung fortschreitet. Denn je vollkommener die Menschheit die Natur erkennen lernt, um so mehr wird der Kosmos seinen Zweck erfüllen, die Herrlichkeit dessen zu verkünden, der den Himmel und die Erde erschaffen hat,« sagt der katholische Theologie-Professor Dr. Norbert Peters und wird dafür nicht gemaßregelt. Natürlich glaubt auch jener Herr Direktor nicht an seine Worte. Er meint nur dienstlich gebunden zu sein, die Jugend zu belügen. Da sei ihm dann zum139 Nachdenken ein Wort des Theologie-Professors Otto Baumgarten empfohlen: »Alle anderen Ziele, auch das der Religiosität, müssen dem der Wahrhaftigkeit nachstehen« oder noch ein anderes tiefes und wahres Wort, ebenfalls dessen herrlichem Schriftchen »Über Kindererziehung« (Tübingen, J. C. B. Mohr. 1905, 80 Pf.) entnommen:

»Immer neu muß man die Wirklichkeit auf sich und seine Urteilsbildung einwirken lassen, nicht korrigiert durch Wünsche, Gewöhnungen, Vorurteile, überkommene Heiligtümer. Das gilt besonders gegenüber Menschen, aber auch von Grundsätzen. … Wer sich auf religiöse, sittliche, soziale, politische Grundsätze mit jener Unentwegtheit versteift, die sich als Gesinnungstüchtigkeit, Überzeugungstreue preist, während sie absichtliche Borniertheit und Unzulänglichkeit für neue Erfahrungen und Erlebnisse ist, dem fehlt die volle Wahrheitsliebe, der Wirklichkeitssinn … Dazu gehört, daß man stets offen bleibt für neue Erlebnisse, Eindrücke und Erfahrungen, daß man unabgeschlossen zu jeder Überzeugung hinzusetzt: ›bis auf bessere Belehrung‹, statt die neuen Eindrücke und Erfahrungen zu beugen und zu biegen in die durch die Vorurteile vorgezeichnete Linie.«

Der Lehrer, der sich vor seinen Schülern jene direktorale Belehrung gefallen lassen mußte, schwieg dazu und tat wohl recht daran, denn ein Widerspruch hätte ihn schlecht bekommen können.

Ob es in ganz Deutschland wohl ein Lehrer wagen darf, vor der Klasse an der Gottheit Christi zu zweifeln? Dabei weiß jedermann, daß unsere liberale Theologie selbst von der Kanzel herab ihre neue Überzeugung von dem Menschentum Christi predigt. In der Schule muß festgehalten werden an dem Nicäischen Glaubensbekenntnis, das für die katholischen und evangelischen Kirchen bis heute gleich verpflichtend ist. Danach ist Christus »aus dem Wesen des Vaters, Gott von Gott, Licht von Licht, wahrhaftiger Gott vom wahrhaftigen Gott gezeugt, nicht geschaffen, mit dem Vater wesensgleich«. Dieser Zwang liegt nicht allein auf der Volksschule. Ich frage aber, deckt sich das mit dem Glaubensbewußtsein der deutschen Eltern?

Was würde wohl einem Primaner geschehen, der in seinem Abiturientenaufsatze als seine ehrliche Überzeugung niederschriebe, daß er an Engel nicht glaube, nicht an den Teufel, an eine »Jungfrau« Maria, nicht an einen heiligen Geist, an eine unbefleckte Empfängnis, an eine leibliche Auferstehung, an eine Wiederkehr Christi,140 an ein Fortleben nach dem Tode? Wagt unter den hunderttausenden deutscher Abiturienten auch nur einer eine solche »Ketzerei«? Man höre dann aber die Studenten, wie geringschätzig sie über »Glaubensbekenntnisse« sprechen, die sie als Schüler nachplappern lernten.

Selbständigkeit des Denkens lehren unsere Schulen nicht. Sie sollen und wollen es gar nicht. Ich selbst habe mit angehört, wie in der Eröffnungsrede einer Oberrealschule ein Vertreter der preußischen Regierung mit einer vor Erregung vibrierenden Stimme und in dem Tone strengster Vermahnung an die Lehrer seine Rede abschließend sagte: »Und vor allem, meine verehrten Herren Kollegen, bewahren Sie die Seelen Ihrer Schüler vor dem Zweifel!« Also nicht zweifeln, nicht selbständig forschen lernen sollen die Knaben, sondern gehorsam – glauben: das war der Grundsatz, der Fels, auf dem auch die moderne Oberrealschule in Preußen auferbaut wurde. Ist wissenschaftliche Selbständigkeit des Denkens mit diesem Gebote vereinbar?

Und nun gar – volle Freiheit zu selbständigem Handeln? Daß ich nicht lache! Fragt einmal unsere Schüler, wie sie im Denken und Handeln gebunden sind! Für die Universität freilich, die Paulsen wohl im Sinne hatte, gilt sein Wort: in Beziehung auf unsere Schulen, die Zwangsschulen im schlimmsten Sinne sind, wirken sie wie Spott. Ich komme darauf später wieder zurück. Hier sollte nur ganz allgemein gesagt sein, daß der »Gebildete« in Deutschland weit davon entfernt sein kann, ein im Denken und Handeln selbständiger Mensch zu sein. Man findet z. B. bei den akademisch Gebildeten die nur aus gedankenlosem Nachschwatzen verständliche einmütige Bewunderung der »humanistischen Bildung« und damit einen wahren Rattenkönig von ererbten Schulphrasen: Humanität, formale Bildung, sittliche Größe des Altertums, Einfachheit der antiken Lebensanschauungen und Lebensformen – lauter leere Worte!

Ich kenne keine Zeit der Geschichte, in der die Menschen stärker in oberflächlichen und mechanisch übernommenen Urteilen gesündigt hätten. Die Menge der Eindrücke nötigt zur Hast. Jeder Mensch bekommt seine Marke aufgeklebt, mit der man ihn für alle Zeiten abstempelt. Ein falsches Urteil zu korrigieren, erscheint fast schon unmöglich. Voreingenommenheit, nationale, kirchliche, soziale Beschränktkeit, Parteifanatismus, Mangel an Arbeitskraft und an141 Selbstkritik, Denkfaulheit und Unwissenheit, all diese Schwächen sind am Werke, ein gerechtes Urteil zu hemmen. Friedrich Hebbel, der mit gelehrtem Stumpfsinn sein Lebtag zu kämpfen hatte, sprach das Wort: Es wäre, als ob die Leute statt des Gehirnes eine geballte Faust im Schädel hätten. Früher lasen die Menschen wenig, aber lasen gründlich, früher lernten sie in der Schule weniger, aber sie lernten ihre eigenen Sinne gebrauchen. Unsere Schüler lernen jetzt viele Tausende kritischer Urteile nachsprechen, ohne einen Versuch der Selbstprüfung. Man denke nur an Lessings »dramaturgische Gesetzgebung«, die den Primanern ebenso wie dessen Laokoon eine ganze Menge von Kunstwerken, zumal französischen, als wertlos ein für allemal verleiden, ehe sie diese nur zu sehen bekommen. Wo findet man heute noch selbständiges Urteil der Schüler?!

Für Cicero erwärmt sich pflichtmäßig der Gymnasiallehrer, Voltaire aber weist er ab unter Berufung auf Goethe, der ihm »Tiefe« absprach, und unter Berufung auf Schillers Ausführung, »Voltaire habe als Dichter kein Herz abgedruckt«. Dabei merkt man nicht, daß kaum zwei bedeutendere Männer sich so ähnlich waren wie Cicero und Voltaire, nur daß der Franzose den Römer unendlich und in jeder Beziehung überragt.

Die Phraseologie der altklassischen Humanisten hat vollständig abgewirtschaftet. Man höre nur, was für einen leeren Wortschwall Männer zur Verteidigung ihres alten »Idealismus« aufbieten! So nennt man nämlich den mit altem Bücherstaub gefütterten Dünkel der »humanistisch Gebildeten«.

Herr Prof. M. Schneidewin rettete diesen Idealismus im »Tag« Nr. 463 mit folgender Stilblüte: Es ist eine »Erfahrung, daß die Wucht der Vielseitigkeit des modernen Lebens und seiner tiefwühlenden und hochtönenden Weise des Denkens und Redens kaum erträglich sein würde, wenn der befreiende Durchblick auf die altklassische Einfachheit nicht immer wieder das Verständnis des Verwickelten und Ungeheuren durch Vergegenwärtigung der elementaren Lebenszwecke, die dem allen doch zugrunde liegen, erleichterte«. In diesem Tone geht es natürlich noch weiter. Man lese dazu die vernichtende Kritik, deren Dr. Albert Gruhn dieses »hochtönende« und dabei seichte Geschwätz noch für würdig hält! (»Blätter für deutsche Erziehung« 1906 Heft 7.)

142

Solange es sich nur um Kenntnis des Altertums handelt, ist jede Mühe und jeder Aufwand berechtigt. Da mache ich selbst mit Freuden und Eifer mit. Sobald man mir aber mit dem hohen sittlich-erziehlichen Wert des Altertums für unsere Schuljugend kommt protestiere ich laut. Das ist nicht echte Überzeugung, sondern traditionelle Phrase. Ja, die Päpste, die den Horaz, Plautus, Terenz in der einen Stunde lasen, in der anderen mit gleichem Behagen Boccaccio Dekamerone, die sich im Vatikan schöne griechische Venusbilder aufstellten, denen war es ernst mit der antiken Schwärmerei. Ebenso war es unserem Goethe und Schiller noch ernst damit, jenem als er sang:

»Also, das wäre Verbrechen, daß einst Properz mich begeistert,
Daß Martial sich zu mir auch, der Verwegene gesellt? …«

diesem, als er sich nach den Zeiten zurücksehnte:

»Da man deine Tempel noch bekränzte, Venus Amathusia.«

Aber dem Gymnasialdirektor, der im Pastorenrocke umgeht, der für innere Mission, für den Kampf gegen den Schmutz in Bild und Wort eintritt, den »es stets tief geschmerzt hat, daß sich Goethe so weit vergessen konnte, die Römischen Elegien zu dichten«, der nichts gelten lassen will, was nicht »sittlich« ist, sittlich nämlich in dem Pastorensinne gleichbedeutend mit keusch, der deshalb einen Rousseau, Voltaire, Hebbel, Ibsen u. a. als unsittlich abweist und ihnen Kulturwert abspricht, dieser Herr kann die Antike nicht ehrlich bewundern: denn sein Horaz, sein Ovid, selbst sein Homer, sie alle sind ja in seinem Sinne unsittlich und werden dadurch nicht besser, daß er seinen Schülern die verfänglichen Stellen unterschlägt und ihnen den Horaz zu einer Art heidnischen Kirchenheiligen macht.

Einen solchen Schwindel durchschaut sofort jeder noch nicht ganz um seinen Verstand gebrachte Primaner. Jedenfalls nehme ich das zu seinen Ehren an. Wer Horaz mit Traktätchenfrömmigkeit liest und das Gedicht an Lalage, um daran den tiefen sittlichen Stand des jungen römischen Kaiserreiches anschaulich zu machen, für den hat Horaz nicht gelebt. Der würde sich eine solche geistige Mißhandlung ebenso energisch verbeten haben, als wenn sich jemand daran gemacht hätte, auch an seinem Leibe eine solche Entmannung vorzunehmen.

Alle Sittlichkeitsbestrebungen in Ehren! Ich mache sie zum143 Schutze der unmündigen Jugend selbst mit, aber dann auch reinliche Überzeugungen! Dann weg aus der Schule mit der Verhimmelung antiker Sittengröße! »Zwei Zungen stehen schlecht in einem Munde.« (Walther.) Es ist mir unmöglich geworden, Schriften, die im Geiste unserer alten Gymnasien geschrieben sind, überhaupt noch zu lesen: Ein ewiges Wiederkauen der Gedanken, die nun vor hundert Jahren die Begründer des Neuhumanismus – damals mit ehrlicher Begeisterung – vortrugen. Wie auf Regimentsbefehl lieben diese Freunde des Gymnasiums alle mit gleicher Inbrunst und gleichem Verständnisse den Homer wie den Plato, Sophocles, Cicero und Horaz. Wenn Hunderte von Köpfen so uniform auf die Eindrücke reagieren, so müssen von ihnen 90% gedankenlose Nachbeter sein. Zumal wenn die Herren in ihrer Begeisterung gerade auch in die Geleise der vorgesetzten Behörde geraten, dann regt sich bei mir die Befürchtung, daß mehr Suggestion als eigenes Urteil sie leite. Voltaire, der von Poesie mehr verstand, als ich und die Mehrzahl meiner Herren Kollegen, stellte Tasso und Ariost über Homer, Pindar existierte für ihn nicht, von dem lateinischen Altertum ließ er nur Horaz und Vergil gelten. Schiller schrieb an Körner (1794): »Pindar hat mir nie behagen wollen,« und Körner teilte diese Empfindung (vgl. Popper a. a. O.). Der Franzose Beyle, ein selbständiger Kopf, schreibt: »Viele unter meinen französischen Zeitgenossen bilden sich ein, die Werke Homers und Racines, die Achilles und Agamemnon (die mich zum Gähnen reizen) zu lieben; sie glauben sich selbst zu ehren, indem sie die Alten bewundern. Was mich betrifft, so verliere ich nach und nach alle Vorurteile, die auf der Eitelkeit der Jünglingszeit beruhen. Ich liebe alles, was das Menschenherz schildert; aber das Menschenherz, das ich kenne – –.« Unsere Freunde des Gymnasiums denken mir zu uniform. Ihr Zusammenschluß macht mir gar keinen Eindruck. Diese Männer kämpfen für ihre Position nicht minder als für ihre Überzeugungen. Sie machen auch auf das Publikum keinen Eindruck. »Natürlich!« sagt man sich, »Fuhrherren treten auf gegen Einführung der Eisenbahnen, Bierbrauer eifern gegen Erhöhung der Biersteuer, Gastwirte gegen Verschärfung der Polizeistunde, Gymnasialdirektoren und ihr Anhang wirken für Erhaltung des Gymnasiums.« Diese Herren haben vielfach keine eigene, selbsterworbene Überzeugung, ja, was viel ärger ist, sie wollen sie144 nicht einmal andern Menschen zugestehen. Sie stellen an Andersdenkende das Ansinnen, zu schweigen oder sich ihnen unterzuordnen; sie meinen, wer ihre sog. Ideale nicht teile, dürfe an einem Gymnasium nicht unterrichten. Da gestatte ich mir doch die ernste Frage: »Glauben denn all diese unduldsamen Herren an das in ihren Schulen gelehrte Christentum? Machen sie nicht alle die Andachten feierlich mit, über die sie in den Pausen witzeln?« – Ich bitte um Antwort.

Ich will Zeugnisse gegen das humanistische Gymnasium aus der Blütezeit anführen. Häckel sagt: »Wahre Bildung besteht nicht in totem Wissen und leerem Gedächtniskram, sondern in lebendiger Entwicklung des Gemütes und der Arbeitskraft. Darum aber fehlt so oft den Studierenden und zumal den Hochgelehrten, was man mit Recht den gesunden Menschenverstand nennt. Sie stehen dem Leben meist ratlos gegenüber und befänden sich etwa in der Lage eines Soldaten, der, von einem Feinde angegriffen, erst in seinem Exerzierreglement nachschaut, was er zu tun habe. Fast alle bedeutenden tatkräftigen Männer haben ein beschränktes Wissen gehabt. Die Wissensdressur schwächt ebenso den Geist wie den Willen und macht aus dem Schüler in den meisten Fällen einen guten Räsonneur nach Art Hamlets und sehr oft einen boshaften Jago.« Ein anderer Greis, Geh. Justizrat L. Passage, zitiert diese Worte mit Zustimmung und sagt dazu: »Das damalige Gymnasium (um 1840) mit seiner pedantischen Härte, ein wahres Fegefeuer der Jugend, doch ohne dessen reinigende Kraft; eine wohlorganisierte Anstalt, in der so viele Jungen körperlich und oft auch geistig ruiniert wurden. Denn man belastet nicht ungestraft sein Gedächtnis mit totem Wissen; es nimmt dem Geiste alle ursprüngliche Kraft und entfernt das ganze Leben und Denken von der Natur.«

Nichts seltener bei unseren »Gebildeten« als selbständiges Denken. Selbst unsere Studenten laufen einfach im Trott mit.

Jetzt endlich, wohl zum Teil durch Anregungen von außen her, regt sich bei ihnen der Wille, ihr Leben gleichsam selbst in die Hand zu nehmen. Zu meiner Studentenzeit war man einfach der Sklave alter Sitten und Anschauungen; wer sich dem Sauf- und Raufzwang nicht fügen wollte, war vor Insulten nicht sicher.

Wir machten natürlich mit, heulten mit den Wölfen, obschon wir uns sagen mußten, daß diese »Bildung«, die sich mit wüstem Saufkomment145 verträgt, keine wahre Menschenhöhe bedeutete. Wie der Simplizissimus lehrt, ist sie dem niederen Volke nicht weniger als den wirklich »erzogenen« Menschen schon zum Gespött. Diese ›Bildung‹, die für viele schon mit dem Einjährigenzeugnis abschließt, schafft uns heute schwerlich noch den vorbildlichen Manneswert. – Der deutsche Universitätsprofessor ist verwöhnt: er sieht sich gern als die Blüte Deutschlands gefeiert. Er nimmt auch bis an unsere Zeit heran in Romanen und auf der Bühne eine Ausnahmestellung ein. Der Fachmann aber kann nie allgemeingültiges Vorbild werden. In den letzten Jahrzehnten haben auch der Künstler und der Industrielle dem Gelehrten empfindlich Konkurrenz gemacht: das Bildungsideal hat sich gewandelt. Man scheint bei ihm gerade die rechten Mannestugenden zu vermissen. Wer in das Kleinleben der Universitäten und in den Kleinkrieg der akademischen Literatur tiefere Einblicke getan hat, dem schwindet auch manches von dem Nimbus, mit dem sich die Vertreter der freien Forschung zu bekleiden wußten. Auch da wird mit Wasser gekocht. Auch da oft geschwiegen, wo es Mannespflicht wäre, den Mund weit aufzutun. Wir haben auch unter den Akademikern schon zu viele gesehen, die sich in entscheidenden Fragen laudabiliter unterworfen haben.

Der Gelehrte ist eben bei uns zugleich in erster Linie Beamter. Damit kommen wir auf einen Typus, der heute in Deutschland herrschend und tonangebend ist.

Gewiß, der Gelehrte hatte und hat in Deutschland nach wie vor einen mächtigen Einfluß. Solange unsere Lehrer ihren Stolz darin suchen, Gelehrte zu sein, nehmen sie an dieser Stellung ehrenden Anteil. Aber unser Lehrerstand ist noch jung. Er hat noch seine Not, sich selbständig neben dem der Offiziere und Juristen zu behaupten, hat keine alten gefestigten Formen und Anschauungen, die ihn im öffentlichen Urteil schützen, hat kein äußeres Ansehen, keine äußere Macht als Erbe empfangen: fast muß ein jeder Lehrer in der Öffentlichkeit sich seine geachtete Stellung erst selbst erkämpfen, die man dem jungen Leutnant oder Juristen als selbstverständlich einräumt. Deshalb jetzt der Zusammenschluß der Lehrer. Sie wollen durch Massenwirkung, durch eine Vertretung ihrer Standesinteressen den Wert jedes einzelnen heben, deshalb vor allem auch ihr Streben nach Beamtenqualität. Ob das ein richtiger Weg146 ist? Je mehr die Standes-Kasten- und Herdentriebe gepflegt werden, um so leichter versinkt der einzelne in der großen Masse, um so weniger wird er Lust und Beruf in sich verspüren, seine Eigenart zum Durchbruch zu bringen. Parteiwesen, Kasten-, Cliquen-, Trustwirtschaft – all diese Zusammenschlüsse sind die Pflege des Besten, der Persönlichkeit, feindlich. Dem Lehrerberufe, in dem nur der Mann in seiner Eigenart Großes vermag, ist diese Entwicklung und Pflege des Standesbewußtseins zunächst wohl nötig, auf die Dauer aber gewiß von Schaden. Alle großen Lehrer waren Eigenbrodler. Geist läßt sich nicht uniformieren oder zu gleichen Rationen auf Tausende verteilen. Auch hier gilt das stolze Wort: »Selbst ist der Mann!«

Man wird auch beobachten, daß die zur Vertretung ihrer Standesinteressen vereinigten Berufsarten den einzelnen Mann, der eigene Gedanken und Ziele verfolgt, nicht schützen, sondern lieber als Sonderling fallen lassen oder gar verfolgen. Wo Majoritätsbeschlüsse entscheiden, da gedeihen keine selbständigen Köpfe, noch weniger aber da, wo Gesinnungen und Leistungen amtlich vorgeschrieben werden.

An Stelle der gelehrten Bildung müssen wir in der Erziehung die Mannhaftigkeit als Ziel setzen.


147

X.
Fragen ans Gewissen.

»Sagen Sie, Herr Professor Gurlitt, Sie sind doch selbst klassischer Philologe: Können Sie es mit Ihrem Gewissen verantworten, daß Sie in dieser Weise gegen die Schule eifern, der Sie Ihre eigene Ausbildung verdanken, an der Sie selbst mehr als 20 Jahre gewirkt haben? Können Sie das?«

»Ja – kann ich!«

»Wissen Sie denn, daß Herr Geheimer Regierungsrat Dr. Matthias, Vortragender Rat im Ministerium, den Sie doch selbst so sehr schätzen, wissen Sie, daß der Ihr Treiben verurteilt?«

»So? Tut mir leid. Mir hat er nichts derart gesagt. Im Gegenteil. Er hat mir zu dem Erfolge meiner ersten Broschüre Glück gewünscht und sie in seiner Monatsschrift warm besprechen lassen.«

»Wissen Sie nicht, daß er von ›literarischen Sturmvögeln‹ schrieb, die sich nicht scheuten ins eigene Nest zu hofieren?«

»Ja, das habe ich einmal gelesen, aber nicht auf mich bezogen.«

»Aber es geht auf Sie. Man ist ermächtigt worden, Ihnen das zu sagen.«

»Man? – wer ist das? Wer ist dieser Mann, der zu solchem Botendienste sich hergeben könnte? – Zudem – nein! unmöglich! So spricht kein hochgestellter preußischer Beamter zu einem ohnmächtigen Unterstellten! Der hat andere Mittel, ihm seinen Willen und sein Urteil kund zu tun. Wird wieder gelogen sein, wie so vieles heute.«

»Ja, aber wie wollten Sie sich gegen dieses Urteil, falls es wirklich auf Sie gemünzt wäre, rechtfertigen?«

»Höchst einfach! Erstens ist das Gymnasium nicht mein Nest – nie gewesen. Sie könnten mit gleichem Rechte einem Gefangenen sagen, er solle sein Nest, nämlich das Gefängnis, ehren. Ich mußte148 in das Gymnasium gehen, weil mich meine Eltern dort hinschickten und weil ich sonst in Deutschland nichts hätte erreichen können. Es hat aber niemals ein Mensch danach gefragt, ob ich in diesem angeblichen Neste mich irgend wohl und warm gebettet fühlte. Mein Nest? Sonderbar! Mein Nest ist mein Elternhaus, – auf das lasse ich nichts kommen. Mein Nest ist mein Vaterland, dem ich in Treue diene.

Als ich Lehrer wurde, dachte ich in meiner Einfalt, man könnte da nach eigenen Überzeugungen leben und wirken, dachte nicht, daß in diesem Neste Gesetze herrschen, so streng und unausweichlich wie auf dem Kasernenhofe. Aber auch hier ist es in 25 Jahren niemals irgendeinem Menschen eingefallen, mich zu fragen, wie es mir denn in meinem sog. Neste gefalle. Ich würde ihm geantwortet haben: ›Sehr mäßig‹.

Ich bin dem Gymnasium entwachsen. Ist das so schwer zu verstehen? Muß ich heute noch Hoffnungen und Überzeugungen hegen, die vor 30 Jahren mein Tun bestimmten? Habe ich nicht über meine innere Entwicklung ehrlich Rechenschaft abgelegt? Bin ich denn auf irgendeine Schulgattung eingeschworen? Was für eine Philisterei, von mir zu verlangen, daß ich mein Lebtag überzeugter Gymnasiast sein und bleiben müsse! Hat sich nicht ringsum die ganze Welt gewandelt? Mich geht Deutschland und die deutsche Jugend an, die Schulgattungen aber als bloße Mittel zum Zwecke sind mir Nebensache.

Zweitens: Von Beschmutzen kann gar keine Rede sein. Wohl aber erlaubte ich mir, darauf aufmerksam zu machen, daß in dem schönen Nest viel alter Unrat liegt, und daß es hohe Zeit wird, den alten Schmutz hinauszuschaffen, sonst könnte man mit dem ›Simplizissimus‹ sagen und singen:

›Zum Teufel, wenn nur der Haustürknopf vorne blinkt,
Was schadet's, wenn die Senkgrube hinten rinnt und stinkt?!‹« –

»Aber, lieber Gurlitt, immer wieder dieselben maßlosen Übertreibungen! Ich hatte gedacht. Sie hätten sich jetzt gründlich erholt und Ihre Nerven beruhigt!«

»Danke, ja! Fühle mich wieder recht frisch und kampfeslustig. Ich übertreibe aber gar nicht.«

»Ja doch, schauderhaft übertreiben Sie, jedes Wort ist eine Maßlosigkeit.«

149

»So? Na, dann antworten Sie mir einmal auf zwei Fragen. Aber, bitte, offen und ehrlich, unerbittlich wahrhaftig!«

»Nun, das wäre?«

»Erstens: Erziehen unsere Schulen, wie die englischen, zur Wahrhaftigkeit? Ja oder nein? In England ist ein Schüler geächtet, der einmal lügt. Ist das bei uns ebenso?«

»Jedenfalls erstrebt –«

»Bitte, keine Ausflüchte: ja oder nein? Ist der deutsche Abiturient stets ein Jüngling von unbedingt gefestigter Wahrhaftigkeit? Ja oder nein?«

»Allerdings – – nein!«

»Zweite Frage: Erziehen dieselben Schulen – wie in England – zur Mannhaftigkeit? Ja oder nein? Wäre es der Fall, so müßten wir doch in Deutschland Millionen mannhafter Männer haben. Haben wir das? Gehen bei uns die Geraden, Verläßlichen, Tapferen, Unentwegten, Selbständigen, die echten, schlichten Persönlichkeiten von sicherem Selbstgefühl und von klarem Willen millionenweise um? Ja oder nein?«

»Nein!«

»Also, so folgere ich wohl mit Recht, ist unsere Erziehung in der Schule falsch! Wenn eine Einrichtung gerade das nicht erreicht, was sie erreichen sollte, dann taugt sie nichts. Dann wäre es vielleicht sogar verdienstlicher, in dieses Nest hinein zu hofieren als neue Blumen darin aufzuhäufen, nicht wahr? Na, – ich will Ihnen die Antwort lieber erlassen.

Noch eins: Philologie und deutsche Jugenderziehung sind völlig getrennte Begriffe. Ich bin gerne klassischer Philologe, wünsche meiner Wissenschaft eine starke, blühende Entwicklung auf den Hochschulen, nicht aber in den Knabenschulen. Wissenschaften gehören auf die Universität.

Hofieren!? – das ist kränkend, ehrenrührig und zwingt mich zur Abwehr:

Meine Schrift ›Der Deutsche und sein Vaterland‹, auf die allein wohl der Zeit wegen jenes Urteil gehen kann, ist in 8000 Exemplaren verbreitet, manches einzelne Exemplar haben, wie mir nachgewiesen wurde, 40–60 Leser in Lesevereinen, Leihbibliotheken u. dgl. gelesen. Ich darf annehmen, daß an 100 000 deutsche Männer150 und Frauen mein Buch kennen. Die deutsche Presse hat sich zu 90% mit Wärme und mit vollster Zustimmung darüber ausgesprochen: es wurde selbst in der gegnerischen Presse als eine ›mannhafte Tat‹ bezeichnet. Eine große Anzahl von Männern, deren Namen jeder Deutsche mit Achtung ausspricht, hat mir persönlich in Schrift und Rede seinen Beifall bekundet. Eine große deutsche New Yorker Zeitung brachte über mich einen langen Artikel, der mit den Worten schloß (ich zitiere wieder aus dem Gedächtnis; zur Not wäre aber jene Zeitung gewiß noch zu finden): ›Einen Orden wird Gurlitt für diese Schrift in Preußen nicht bekommen. Wäre aber ich deutscher Kaiser, ich würde diesem Manne für seine Tat den Pour le mérite verleihen.‹

Ich lasse mir meine ehrliche Arbeit nicht verunglimpfen, von niemandem. Sie hat mir schwere Gewissenkämpfe und manche schlaflose Nacht gekostet, hat manch offenen ritterlichen Feind, aber auch eine wahre Meute von versteckten Neidern, Ehrabschneidern, Denunzianten und sonstigen Widersachern gegen mich in Tätigkeit gesetzt, und ich stehe dafür bis heute noch in einem heißen, aber, wie ich doch meine, guten und mannhaften Kampfe.

Hofieren?! Nein, mein Verehrtester, jene Arbeit kam mir aus Kopf und Herzen, nicht aus dem Gedärm.

Auch den Ausdruck ›litterarischer Sturmvogel‹ lasse ich in Beziehung auf mich nicht gelten.

Nur keine erheuchelte Bescheidenheit! Was ich schreibe, schreibt ein Mann, der sein Lebtag angestrengt geistig gearbeitet und der einen in der Wissenschaft geachteten Namen hat. Die geehrtesten Männer aus dem Gebiete der Pädagogik: Münch, Cauer, Lyon, Ziehen u. a. haben sich eingehend mit meinen Arbeiten beschäftigt, wenn zum Teil auch sie bekämpfend. Seit wann aber wird denn mit Kanonen nach Spatzen geschossen? Oder nach Möwen und sonstigen ›Sturmvögeln‹? Herr Matthias selbst hat mich, als er seine Monatsschrift gründete, schriftlich zur Mitarbeit einladen lassen und mir auch mündlich über meine gelehrte Schriftstellerei Ehrendes gesagt.

Sind noch weitere Zeugnisse zu meiner Ehrenrettung nötig? Soeben (27. IX.) lese ich in der »Schul-Reform« (I, Nr. 2), die in Wien erscheint: »In der Zeitschrift ›die Wage‹ Nr. 33 würdigt die151 Führerin der österreichischen Frauenbewegung. Frau Marianne Hainisch, eben von einer Studienreise durch Deutschland heimgekommen, auf der sie dem Schulwesen besondere Beachtung schenkte, die Verdienste der Reformliteratur und nannte Dr. Gurlitts Schriften ›die große Tat eines Lehrers‹.[10] Eine Elite der Lehrerschaft stehe152 in Deutschland an der Spitze der Bewegung, die österreichisch kapitalistische Blätter als uferlose Schwärmerei totschweigen. Dazu bemerkt sie: »Bis vor kurzem mußten wir daran verzweifeln, daß auch Österreich gleich unbefangene und mutige Schulmänner bekomme. Nun – ist dieser Zweifel geschwunden.« Das von Schulmännern herausgegebene Blatt führt diese Darstellung mit Beifall an.

Inzwischen hat sich also das öffentliche Urteil über mein153 Schulgemälde deutlich genug geäußert. Etwa so: »Recht trübes, unerfreuliches Bild. Moderne Richtung, ohne rechten sog. Idealismus, zu düster, zu real, aber immerhin sicher und gut gemalt; verwünscht naturgetreu, von verblüffender Ehrlichkeit.«

Ich meine, mir als einen Malersohne mußte auch so ein Bild, wenn ich alle Kraft zusammennehme, schon gelingen. Die Kritik hatte wirklich keine zu große Mühe, die Natur und Beschaffenheit der angewandten Farbentöne zu erkennen: Semper enim valet dictum, quod cacatum non est pictum – und umgekehrt!

Deshalb nochmals: Jene häßlichen Worte sind nicht auf mich gezielt, sollten sie es aber sein, so treffen sie mich nicht.« – –

»Es haben sich aber doch auch andere Autoritäten gegen Sie erklärt.«

»Natürlich! Nennen Sie mir in der ganzen Welt irgendeine Lehre, gegen die sich nicht Autoritäten erklärt haben! Schrecken Sie noch vor Autoritäten zusammen? O, ihr Kleingläubigen, denen schon ein bloßer Name den Mannesmut raubt!

Widerlegt hat mich niemand. Da sage ich aber mit Luther: ›Es sei denn, daß ich mit Zeugnissen der heiligen Schrift (nein! auf154 die verzichte ich) oder mit öffentlichen, klaren und hellen Gründen und Ursachen überwunden werde, denn ich glaube weder dem Papst, noch Konzilien allein – noch Herrn Prof. Friedrich Paulsen allein –, weil es am Tage und offenbar ist, daß sie öfters geirrt haben und sich selbst widersprechend sind … so kann ich und will ich nichts widerrufen, weil weder sicher noch geraten ist, etwas wider das Gewissen zu tun.‹

Obgleich also schon das schwerste Geschütz gegen den Sturmvogel aufgefahren ist, kommt er sich noch keineswegs erschossen vor.

Ein Mörser, Cauer genannt, machte einen großen Lärm, Qualm und Gestank, war aber nur mit Vogeldunst geladen und konnte ihm die Haut nicht ritzen.

Ein zweiter berühmter Mörser, Paulsen genannt, hatte zwar gute Munition, schoß aber zu vielfachem Staunen ganz daneben.

Ein dritter stattlicher, aber alter Mörser, Kruse, sollte lieber ausrangiert werden als schon unbrauchbar und völlig ausgeschossen.

Ein anderer guter, Münch, wollte mich wohl gar nicht verwunden, sondern wurde an meiner Seite losgeknallt.

Das gleiche gilt von dem wackeren Mörser Lyon.

Daneben ist dann noch mit kleinerem Kaliber, gezogenen und auch recht ungezogenen Geschützen, selbst mit Pistolen, Windbüchsen und Pustrohren fleißig auf mich geschossen worden – dieses nämlich aus dem Versteck hinter dem Gartenzaune hervor, von kleinen Gassenbuben mit Rotznäschen – hat mir alles nichts anhaben können.

Andere waren noch klüger und legten sich nächtlich in den Hinterhalt. Mit treuem Fleiße brachten sie allerlei Netze an, Leimruten, Fußangeln und Selbstschüsse und sperrten so die Futterplätze. Das waren die Korrekten, Gewissenhaften, mit einem Worte die lieben – Frommen. Gott der Herr hat ihrer Hände Werk gesegnet. Gefangen haben sie zwar den »literarischen Sturmvogel« nicht, aber doch erreicht, daß er sein ihm verleidetes »Nest« aufgibt. Er wird sich jetzt einen höheren, freieren Horst suchen. Haben Sie was dagegen?« –

»Niemand wird Ihnen das Recht der freien Meinungsäußerung in Deutschland streitig machen. Wir fordern nur, daß über die155 ernsten Erziehungsfragen ruhig, sachlich und nüchtern verhandelt werde. Wir verabscheuen den demagogischen Ton.«

»Demos, mein Verehrtester, heißt Volk, demagogisch heißt sich ans Volk wendend. Eine Angelegenheit, die jedem im Volke angeht, gehört auch vors Volk.«

»Ja aber Ihre leidenschaftliche Sprache!«

»Muß die Pädagogik nüchtern sein?«

Pestalozzi schrieb über Erziehungsfragen im Tone des Priesters, des Sehers. Manche seiner Schriften haben eine so gehobene Sprache, daß man Oden, Dithyramben zu lesen glaubt: Man denke z. B. an die »Abendstunde eines Einsiedlers«. Sie erinnern mich im Tone an Nietzsches »Also sprach Zarathustra«.

Begeistert und begeisternd schreibt auch Fröbel, schrieben alle, denen die Sache wirklich ans Herz ging. Seit wann ist es Vorschrift und Gesetz, daß der Lehrer ein nüchterner, leidenschaftsloser Mensch sein muß?

»Ja, aber. –«

»Was wollen Sie wieder mit ihrem »ja aber«? Ist es etwa falsch was ich sage? Unser Kaiser hat seinen Deutschen empfohlen ›ja also‹ zu sagen!«

»Ja aber, Sie dürfen nicht übersehen, daß diese Männer in Begeisterung aufbauen wollten, nicht aber einreißen, anschwärzen, nicht das ›Erhabene in den Staub ziehen‹.«

»Das Falsche einreißen ist eine eben so wichtige, ernste auch erhebende Arbeit, wie Neues aufbauen. Erst muß Platz, Raum, Luft geschaffen werden, ehe Neues gedeihen kann. Zudem: hat etwa Herder sanft gesäuselt, als er gegen die Unnatur des Lateinkultus in Deutschland auftrat? Nein, wie ein wilder Gießbach brauste seine Rede dahin, riß alte morsche Baumstämme und Felsblöcke mit sich und übertönte das Klagen und Jammern der Sachlichen, Besonnenen, Maßvollen, ruhig Abwägenden. Hätten nicht Geheime Beschwichtigungsräte was Herder wollte und schuf, wieder leise, leise beiseite geschafft, nicht wieder den alten Boden von allem seinen Schotter und Steingeröll gesäubert, um dann in ›altbewährter Weise‹ ihre exotische Gartenkultur neu herzurichten, hätten sie der Natur Einlaß gewährt, so wäre die heutige Schule kein gekünstelter Ziergarten mit kümmerlichem Spalierobst, mit langen, langweiligen Reihen156 von Orangenbäumen in Holzkübeln, Pflanzen, die reife Früchte nicht bringen können, dann hätten wir jetzt ein Stück echten, schönen deutschen Waldes mit hundertjährigen derben Eichen, Buchen, Kiefern, Fichten, Tannen, Erlen, Eschen – die deutsche Natur ist ja so reich an jeglichem Gewächs. Dann sähe es anders aus in den deutschen Landen!

Aber man war schon vor hundert Jahren lieber besonnen und maßvoll und ließ die leidenschaftlichen Schreier sich ausschreien. Schließlich wird ja wohl jeder matt, müde und still.

Ist aber nicht alles Große auf Erde mit Leidenschaft erstritten worden? Waren Luther, Lessing, Schiller, Freiherr von Stein, Arndt maßvoll?

Euren Ohren tut mein »Gepolter« wehe?

Ich schlafe ein bei eurem matten Gerede.

Muß ich sprechen und schreiben wies euch gefällt? Hat nicht eben eure Mattherzigkeit die Schulen heruntergebracht? Klagt man nicht tausendfach in Deutschland, wie ihr jede lebendige Empfindung, jedes wahre, schlichte Gefühl, jedes Aufjauchzen, jede Sehnsucht, jedes Hoffen und Träumen des Herzens, wie ihr das ganze Leben der Jugend eingefangen in eure klirren Verstandesregeln eingefangen, eingeengt und eingesargt habt?

Klagen nicht deutsche Greise noch, daß ihr ihnen die Jugend geraubt? Nein? Nun, so lest L. Passage »Ein ostpreußisches Jugendleben«,[11] wo ein 81 jähriger Geheimer Justizrat sein Herz ausschüttet und »unter dem Beifalle einer großen Zahl von Männern, zumal Lehrern« diese seine schwere Anklage gegen das deutsche Gymnasium erhebt.

Jetzt kommt man mir mit der vermeintlich vernichtenden Anklage, daß ich, nervös überreizt, das rechte Augenmaß für die Dinge verloren hätte. So druckt die »Staatsbürger Zeitung«, die solange sie unter Dr. Wachlers Leitung stand, ein ernstes, der Wahrheit dienendes Organ war, jetzt aber in Stöckersche Geistesregionen hinabgezogen, den Kampf für den rechten Glauben und eine rechte Verlogenheit rüstig wieder aufgenommen hat. Sie glaubt mich dadurch zu vernichten, daß sie mich, ebenso wie es der gleich157 fromme »Reichsbote« tat, ihren gläubigen Lesern und einer über Deutschlands Wohl wachenden Behörde als einen Roten, einen Sinnesgenossen von Mehring vorstellt.

Wer nämlich nicht mit den bestehenden staatlichen Einrichtungen einverstanden ist, nicht unduldsam, engherzig, kurzsichtig und verlogen, wie jene Muckerblätter selbst, der ist ein Reichsfeind, ein Umstürzler, ein Kulturschädling. Schade, daß die Scheiterhaufen abgeschafft sind. Es sind dadurch diese treuen Diener Christi um die schönsten Lebensfreuden gekommen.

Wenn sich meine Nerven im Dienste für die deutsche Jugenderziehung abgenutzt haben, so sehe ich darin keinen entwürdigenden Vorwurf. Es urteilen aber gerade so hart wie ich über unsere staatlichen Zustände, zumal über unsere Schulen, junge, gesunde, blühende Männer von ungeschwächter Nervenkraft. Ich werde gleich ein Pröbchen davon geben. Wenn Hüter altbewährter Schulweisheit mir sagen, daß meine geistige Kraft erschöpft, und ich nicht mehr im Stande sei, neue Gedanken zu finden, so antworte ich ihnen: Neue Gedanken habe ich bei euch noch niemals gefunden; ihr kaut nun schon seit hundert Jahren denselben Brei, und daß meine Kraft noch nicht ganz erloschen ist, das sollt ihr, wenn ich am Leben bleibe, an euren sog. Idealen und am eigenen Behagen noch schmerzlich empfinden lernen.

Noch fühle ich Kraft in mir, vor allem die Kraft, Unwürdiges von mir abzuschütteln und mir mein Leben nach meinen inneren Gesetzen zu bauen. – Und nun jenes versprochene Stimmungsbildchen eines jungen, kerngesunden deutschen Mannes, der nicht Lehrer, nicht Vater, also persönlich zunächst nicht interessiert ist. Wie er urteilen viele Tausende deutscher Männer und Frauen mit und ohne Nerven.

Man lese also den Artikel von H. Ilgenstein über »Mißhandelte Volkserzieher«, um zu erfahren, wie man in aufgeklärten Kreisen über die Geistesfesselung der Lehrer und Kinder denkt (»Blaubuch« 1906 Nr. 26):

– – »So sind gerade unsere Schulen wahre Brutanstalten für Heuchelei und Verlogenheit. Doch wir wollen nicht mehr. Die Unsittlichkeit eines freien Männern gegen ihre Überzeugung aufgezwungenen Religionsunterrichts stinkt zum Himmel. Wer diese158 Einrichtungen in Schutz nimmt, liefert seine Kinder Männern aus, die es für ersprießlich halten, von ihren Untergebenen unsaubere Handlungen an Reinen und Schuldlosen zu fordern.

Die Brüder im Herrn sagen natürlich: »Wenn der Lehrer nicht unsern Glauben hat, so mag er gehen, wo der Pfeffer wächst; wir halten ihn nicht. Das Vaterland ist weit, und derer, die an der Staatskrippe sichere Futterstellen suchen und dafür gern ihr bißchen Überzeugung drangeben, gibt es in Deutschland weiß Gott genug. Brauchen wir Männer oder brauchen wir Beamte? Gott. Religion. Was für ein Unsinn, wenn es sich um die Erziehung von Untertanen handelt. Ihr erklärt es für unsittlich, mit der Gottessehnsucht werdender Menschen Schacher zu treiben? Habt euch nicht! Wer sagt euch, daß wir Menschen brauchen? Wir brauchen Knechte, Soldaten, Assessoren, Oberlehrer, Schulräte. Wir brauchen Wesen, die befehlen und Wesen, die Ordre parieren. Alles andere ist vom Übel. Was wollt ihr? Lehrer, die sich nicht als Untertanen fühlen, können doch keine Untertanen erziehen. Müssen wir, die Schulräte und Ministerialdirektoren, nicht auch den Pfaffen gehorchen, die im Parlament jede neue Kanone streichen würden, wenn wir euch nicht zwängen, bei den Werdenden immer wieder Reklame für sie zu machen? Geben wir euch deshalb Hungerlöhne, daß ihr euch wie die Reichen gebärdet, die es nicht nötig haben zu dienen? Was Gott ist, das ist in den amtlichen Vorschriften klipp und klar für ewig festgelegt. Wozu der Lärm? Wir verlangen nicht, daß ihr glaubt. Ihr sollt nur andere glauben lehren. Im übrigen seht die Armee: wie herrlich klappt es da mit unserm Gott: »Helm ab zum Gebet! … Fertig!« … Wer nicht fertig ist, wird ins Loch gesteckt.

Viele – sehr viele schon heutzutage – ziehen es natürlich unter diesen Umständen vor, ins Privatlehrerelend zu gehen oder, wenn es nicht zu spät ist, sich nach einem anständigen Berufe umzusehen, wo sie wenigstens vor sich selbst ehrliche Kerle bleiben können. Die meisten aber fügen sich leider noch immer dem auf sie als Beamte ausgeübten Zwange. Aber wer könnte ihnen daraus einen Vorwurf machen? Was soll ein Philologe oder gar ein Elementarlehrer anfangen, wenn er von Ekel erfaßt seinem unerfreulichen Berufe Valet sagt? Es kommt hinzu, daß es draußen im159 praktischen Beruf jenseits aller Behörden durchaus nicht als Empfehlung gilt, ein »gewesener Lehrer« zu sein. Man verbindet eben durch die eigenen Beobachtungen, die man als Kind gemacht hat, mit dem Lehrer unwillkürlich den Begriff persönlicher Unfreiheit, Unselbständigkeit und nicht selten – von der famosen Religionstunde her – den der Heuchelei. So muß der Volkserzieher in Voraussicht der Not, die seiner harrt, sich vor den Karren der triumphierenden Pfaffen spannen. Er mag mit den Zähnen knirschen. Er muß. Er wird geknebelt. Die Pension ist der Köder, die den sonst Berufslosen gefügig macht. So wird er, der uns den Menschen der Zukunft schuldet, zu einem der gefährlichsten Bazillenträger der Reaktion. Von niemanden beneidet, von keinen geliebt, von den Schülern gehaßt und betrogen, wie er die Schüler betrügt, von der Gesellschaft als notwendiges Übel empfunden, so übt er mit Ekel einen Beruf aus, der ihm als freiem Manne ein Stolz und ein Gottesdienst wäre.«

»Übertreibung!« wird man ausrufen.

»Maßlose Übertreibung!« Mag sein. Doch es kommt hier auf die Stimmung an und die ist echt!


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XI.
Der Beamte als Erzieher zur Mannhaftigkeit.

Bei der herrschenden Anbetung des Staates gilt unserem Volke der berufsmäßige Diener des Staates als unentbehrlichste und würdigste Person. Auch der Ehrgeiz des »kleinen« Mannes geht dahin, Beamter zu werden. Es ist das »sichere« Brot, hat auch eine mit dem Amte verbundene sichere Einschätzung und Würde. Der Deutsche trägt seine Beamtenuniform gern. Es kommt ihm nie zum Bewußtsein, daß es eine Tracht der Unfreien sei. Dem Staate dienen gilt ihm als höchste und damit als ehrende Pflicht. Deshalb werden in Deutschland jetzt diejenigen Tugenden am höchsten geschätzt, die ein tüchtiger Beamter braucht. Gehorsam, Pflichttreue, Pünktlichkeit, Amtsverschwiegenheit, Bescheidenheit, Zurückhaltung im politischen Leben, vorbildlich kirchlicher Lebenswandel, Korrektheit. Wie man sieht, eine Reihe trefflicher Tugenden, aber – bei Licht besehen – doch vorwiegend Tugenden von Unfreien, eben von Bediensteten.

Der Beamte hat ein Amt, aber keine Meinung. Er hat seine Pflicht zu tun, dafür wird er bezahlt und dienstlich befördert. Eigene Meinungen hat er am besten für sich zu behalten, höchstens darf er sie – natürlich in angemessen bescheidenem Tone – gegebenen Ortes zur Begutachtung unterbreiten. Man sieht es aber nicht gerne, daß er mit eigenem Kopfe denke. Am angenehmsten ist der Beamte, der seiner Behörde am wenigsten Mühe macht, nie widerspricht, mit seiner Person im verborgenen bleibt, Konflikte vermeidet, gefällige Berichte einreicht und dadurch der Behörde bestätigt, wie doch so weise sie alles eingerichtet hat. Die Staatsmaschine darf halt nicht knarren. Jedes Rädchen hat geräuschlos einzugreifen. Wer sich dazu nicht eignet, der kann gehen. Er ist ja nicht gerufen worden. Unentbehrlich ist keiner. Verstanden? Maximilian161 Harden, der die deutschen Beamten wohl genügend kennt, nennt sie Regierungskommis: boshaft, aber treffend.

Vom deutschen Beamten erwartet man, daß er sich im Dienste zuschanden arbeite. Der »pflichttreue« Beamte kann übrigens auch nie genug bekommen an Arbeit: er läßt sich geduldig, ja mit rührendem Dankesblick, immer neue Bürden aufpacken. »Überbürdet« sind sie, wenn man ihnen glauben darf, Mann für Mann. Der Staat, den ein Preußenkönig selbst einen »Racker« nannte, ist gegen seine Diener unsagbar anspruchsvoll. Er verlangt den ganzen Menschen. Dagegen hat schon Paul de Lagarde lebhaft protestiert. Erst kommt der Mensch, der Gatte, Vater, Freund, Bürger und dann erst der Beamte. Ich kann es nur als unsittlich bezeichnen, wenn jemand mit Haut und Haar in seinem Dienste aufgeht. Ich kenne Beamte, die nicht Zeit gefunden haben – vor lauter Dienstpflichten – sich zu verlieben, zu heiraten und fortzupflanzen. Das sind die Musterbeamten, die Wonne ihrer Vorgesetzten – nur noch Maschinen, höchst »tüchtig und brauchbar«. Schade, daß mit ihrem Leben die Kette abreißt! Oder wollte Gott nicht, daß diese Menschengattung sich auf Erden ausbreite? Dafür winkt ihnen aber auch in der Ferne die Verdienstschnalle oder irgend ein bunter Adler. Der bekannte Schulmann und pädagogische Schriftsteller Geheimrat Wilhelm Münch erzählt einmal, – ich zitiere aus dem Gedächtnis! – er habe an einem Handwagen einen Ziehhund mit so wunderlich scheuen Augen beobachtet. Woher, fragte er sich, kenne ich nur diesen Blick? Ach richtig! Es ist der Blick unserer Kanzlisten. Also »hündisch«? Κυνὸς ὅμματ' ἔχων κραδίην ἐλὰφοιο (»Mit dem Blicke eines Hundes und dem Herzen eines Hirsches«) würde Homer sagen.

Ein hoher Ministerialbeamter klagte einmal vor Freunden, daß ihm ein Schuldirektor in unterwürfiger Haltung für die »Gnade« gedankt habe, ihn »zur Audienz« zu empfangen. »Ich war froh,« schloß er seinen Bericht, »wie der widerlich kriechende Mensch wieder zur Tür hinaus war.« Aber, so frage ich, wer züchtet denn erst diese Demut? Ein Regierungsrat G. erzählte mir, er habe endlich in heftigem Tone es sich verbitten müssen – da freundliche Vorstellungen nichts halfen –, daß der »akademisch« gebildete Unterstellte täglich wie ein Pikkolo durch den Museumssaal gelaufen162 sei, um ihm seinen Überrock aus- oder anzuziehen. »Herr Doktor,« sagte er ihm, »es schickt sich das für einen ›gebildeten‹ Mann nicht, der auf sich hält.«

Als ich vor einem Jahre etwa vor einer Versammlung von Volksschullehrern gegen den erschreckend überhandnehmenden Bureaukratismus mit all seinen Schädigungen sprach, dabei auch der unwürdigen Behandlung erwähnte, die sich der deutsche Lehrer von seinem Vorgesetzten bieten lasse, trat ein Rektor auf und sagte unter vielfachem Beifall: »Jedes Kollegium hat den Direktor, den es verdient. Ich möchte meine Herren als meinesgleichen behandeln, aber sie dulden es nicht. ›Herr Rektor vorn und Herr Rektor hinten‹, besonders eifrig sind dabei die Damen im Lehrerkollegium, die möchten am liebsten für jedes Löschblatt, das sie brauchen, erst den direktoralen Segen haben.«

Reichsgerichtspräsident von Oehlschläger erzählte mir: »Ich hatte einen jungen Lehrer zum Freund; er hatte meinen Sohn unterrichtet. Als er nach Jahren wiederkam, hatte er seinen ›Doktor‹ gemacht und fragte mich, ob er seine Dissertation seinem früheren Schulrat überreichen solle. ›Gewiß, eine solche Aufmerksamkeit wird man Ihnen danken, zumal Sie nicht mehr im Machtgebiete dieses Herrn wirken.‹ In Frack und weißer Binde trat der Herr zur Zeit der Sprechstunde bei dem Schulrat ein. ›Was wollen Sie?‹ donnerte es dem scheu Eintretenden entgegen. ›Nichts‹ war die Antwort und schleuniger Rückzug. Wir haben wohl auch dann und wann einen groben Juristen, aber so etwas halte ich bei uns doch für ausgeschlossen. So muß sich in Preußen nur der höhere Lehrer behandeln lassen.«

Eine andere Geschichte: Ich machte bei dem liberalen und mir persönlich bekannten Schulrat B. Besuch, um für einen Freund, der Direktor werden wollte, Auskünfte zu erbitten. Ich kam natürlich auch, wie zu einem Fürsten, im Frack und mit weißer Binde. Er fertigte mich ruhig, sachlich – aber stehend ab. Zufällig traf ich abends seine Schwägerin. Auf ihre Frage, wie mir's gehe, sage ich: »Schlecht, bin heute von Ihrem Herrn Schwager unhöflich behandelt worden.« – »Darf ich ihm das wieder sagen?« – »Ja, ich bitte darum.« Nach wenigen Tagen: »Ich habe es meinem Schwager bei Tisch erzählt, als mehrere Direktoren und Oberlehrer zugegen waren.«163 – »Nun, und?« – »Mein Schwager schwieg nachdenklich, die anderen Herren aber entsetzten sich über Ihre Anmaßung. Da hätte ein Schulrat viel zu tun, wenn er jedem Auskunft erbittenden Oberlehrer einen Stuhl anbieten sollte.« Recht so, meine verehrten Herren Kollegen! Ich wünsche Ihnen gute Karriere!

Als unser Kaiser den Herren Primanern zum Besuche einer Parade einen Urlaub erteilte, den ihnen die Direktoren nicht gewähren wollten, nahmen diese Herren diese Demütigung schweigend hin, ebenso wiederholte Anordnungen der Polizei, die als unbefugte Übergriffe hätten abgewiesen werden sollen, zumal von Männern, die mit Wärme die Verse deklamieren:

Si fractus illabatur orbis,
inparidum ferient ruinae.

In der Regel wird die Beamtenkriecherei begünstigt. Es liegt System darin. Wir lesen ja allwöchentlich in Hardens »Zukunft« seine gesammelten Byzantiaca.

Unsere Tagespresse gab sich allerlei trüben Besorgnissen hin, als gemeldet wurde, daß der englische Kriegsminister Haldane eine Einladung Kaiser Wilhelms, den großen diesjährigen Manövern beizuwohnen, mit dem Ersuchen beantwortete, davon Abstand zu nehmen und lieber die Einrichtungen des deutschen Generalstabes und einzelner militärischer Anstalten studieren zu dürfen. Dazu bemerkte die »Neue freie Presse« in Wien sehr zutreffend: »Leute, die in der Anschauung groß geworden sind, die Einladung eines Herrschers sei ein Befehl, dem man blindlings zu folgen habe, bezichtigen den Minister des Inselreiches einer Unhöflichkeit.« Ein solcher Gedanke konnte nur in Köpfen entstehen, die sklavischen Gehorsam, nicht aber den Freimut kennen, den englische Männer selbst vor gekrönten Häuptern bewahren. Nach englischer Anschauung bleibt man auch dem Könige gegenüber ein Mensch von freier Selbstbestimmung. Nach der militärischen Anschauung aber bei uns, die in dem Kaiser stets den obersten Kriegsherrn sieht und ihn sich auch am liebsten in Kriegstracht vorstellt, ist jeder seiner Wünsche, selbst jede freundliche Aufforderung, Einladung, Erlaubnis, ein dienstlicher Befehl. Dieser Geist geht durch unser ganzes Heer und von da in das Beamtenleben hinein.

Caprivi hielt sich als Soldat zu dem Gehorsam verpflichtet164 das Amt eines Reichskanzlers zu übernehmen, zu dessen Führung er sich selbst mit Recht die Kraft nicht zutraute. Mit wachsendem Unwillen macht unsere Presse darauf aufmerksam, daß unsere höchsten Staatsämter mit Männern besetzt sind, die sich vorerst als Offiziere fühlen und selbst Ministerposten gleichsam nur im Nebenamt verwalten. Daher denn auch alle großen öffentlichen Kundgebungen sich wie kriegerische Feste ausnehmen: nichts als prunkende Uniformen, glitzernde Helme und schnarrende Stimmen. So bei Eröffnungen von Kunstausstellungen, bei Einweihungen von Kirchen, bei Enthüllungen von Denkmälern für irgendwelche dichtenden oder musizierenden Zivilisten. Ja, sogar die landwirtschaftliche Ausstellung in Schöneberg eröffnete Se. Exzellenz Graf v. Podbielski in Uniform der Ziethenhusaren und legte in strammer militärischer Haltung die Hand an die Kopfbedeckung, wenn er über Maschinen oder über Erzeugnisse der Landwirtschaft Auskunft zu geben hatte. Man lese über das Kapitel »Im Nebenamt Minister« den Aufsatz von Günther v. Vielrogge (»Blaubuch« I, Nr. 36), der der öffentlichen Stimmung einen kräftigen, durchaus zutreffenden Ausdruck gibt.

Als unsere deutschen Journalisten in England waren, gefiel ihnen unter vielem anderen gerade dieses vollständige Fehlen einer Untertanengesinnung. Bei jedem offiziellen Mahle wurde des Königs gedacht, aber das Hoch, das man ihm stehend darbrachte, bestand regelmäßig allein in dem Rufe: »the king!«

So stellen sich freie germanische Männer zu ihrem König. Von all dem unterwürfigen, phrasenhaften und in seiner Übertreibung unwahren Gerede, mit dem man bei uns die regierenden Fürsten und deren Familien bis hinab zu dem Prinzchen in der Wiege huldigt, wendet sich ein Mann von gesunder Selbstachtung mit Unwillen ab. Kann man denn seinen König nur kriechend verehren?

So dürfte also die Hofluft und die davon durchsetzte Luft des gesamten Beamtenheeres für die Entwicklung vorbildlicher Mannesart nicht günstig sein.

Man wird uns zum Gegenbeweise Bismarck nennen. Aber damit widerlegt man uns nicht. Wir wissen zu gut, wie schwer, wie nur mit Aufgabe seiner ganzen Kraft er den Mann aus seiner Beamtenstellung rettete, wissen, daß ihn der Kampf gegen die äußeren165 Feinde nicht annähernd so mitgenommen hat, wie die inneren Kämpfe, wenn seine bessere Einsicht mit dem Gebote des Beamtengehorsams in Konflikt kam, wissen, daß sein Vorsatz, in den Siehlen zu sterben, doch eben nicht durchführbar war, daß er gehen mußte, nicht weil es ihm an Manneswert gebrach, sondern – weil er von dieser Tugend für einen Beamten zuviel hatte.

Seit Bismarck's Rücktritt haben wir lauter pflichttreue Kanzler gehabt. Auch unsere sonstigen hohen und höchsten Beamtenstellen waren und sind mit Männern besetzt, die allen an sie gestellten Anforderungen genügen. Ihre Verdienste erhalten so lebhafte amtliche Anerkennung, wie man es vordem in Preußen nicht gewohnt war.

»Zu Befehl!« ist fast das einzige, was der Unterstellte im Dienste dem Vorgesetzten zu sagen wagt. Das geht so weit, daß selbst vor Gericht die jüngst als Zeugen geladenen Soldaten allen Vorstellungen zum Trotz, anstatt ruhig, sachlich und freimütig zu berichten, stets stramm standen und, die Hand an der Hosennaht, »zu Befehl!« brüllten – Gehorsamsautomaten! – Wer lange Jahre unter dieser Zucht gestanden hat, der wird auch später im Zivil diese Hosennaht nicht wieder los. Sie zieht als eine Art »geistiger Hosennaht« ihre tiefen Furchen in das Gehirn und zerschneidet darin die edlen Zellen, in denen das Selbständigkeits- und Persönlichkeitsbewußtsein seinen Sitz hat. Ehemalige Militärs sollten deshalb in der Regel von solchen Posten ausgeschlossen bleiben, die eigenes Denken und Handeln, eigene Verantwortlichkeit erfordern. Sie sind unersetzlich, wo pünktlicher Gehorsam gebraucht wird.

Sie leisten getreulich, was man von ihnen verlangt und noch darüber hinaus. Weil in letzter Zeit in dem unendlich verwickelten Verwaltungswesen unseres Reiches hier und da sog. »Unregelmäßigkeiten« oder »Unstimmigkeiten« vorgekommen sind oder sein sollen, meinen unsere Zeitungsmänner, die sich vor Gewissenhaftigkeit nicht lassen können, eine Erschütterung altpreußischer Beamtentreue feststellen zu müssen. Davon kann trotz einiger bösen Symptome wohl nicht die Rede sein. Im Gegenteil, wir »verbeamten« immer mehr, freilich im üblen Sinne.

Man hat uns oft den deutschen Beamten als eine der Säulen geschildert, an denen sich das Volk emporranken werde. Ich habe dem jederzeit Beifall gespendet. Allgemach hat sich aber meine166 Meinung geändert. Ich fange an, in der rapid wachsenden Menge von Beamten und in der Verbreitung der Beamtenqualitäten eine Gefahr zu sehen. Wenn wir zu viele Beamte, Untergebene haben, so haben wir damit auch zu viele gebundene, unfreie Intelligenzen und Moralitäten. Es gibt ein sehr lehrreiches Buch des Spaniers Balthasar Gracianus »Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit«, aus dem Originale bekanntlich von Arthur Schopenhauer übersetzt, darin rät der Weltweise (7): Sich vor dem Siege über Vorgesetzte hüten! Denn: alles Übertroffenwerden ist verhaßt, aber seinen Herrn zu übertreffen ist entweder ein dummer oder ein Schicksalsstreich. Stets war die Überlegenheit verabscheut; wieviel mehr die über die Überlegenheit selbst – Verstand ist eben die königliche Eigenschaft, und deshalb jeder Angriff auf ihn ein Majestätsverbrechen. Fürsten sind sie, und wollen es in dem sein, was am meisten auf sich hat, Sie mögen wohl, daß man ihnen hilft, jedoch nicht, daß man sie übertrifft: der ihnen erteilte Rat sehe daher mehr aus wie eine Erinnerung an das, was sie vergessen, als wie ein ihnen aufgestecktes Licht zu dem, was sie nicht finden konnten. Eine glückliche Anleitung zu dieser Feinheit geben uns die Sterne, die, obwohl hellglänzend und Kinder der Sonne, doch nie so verwegen sind, sich mit ihren Strahlen zu messen.

Da haben wir denselben Gedanken, den Heine in die Worte kleidete: »Wer einem König widerspricht, der widerspricht mit Unbedacht.«

Der Kampf gegen einen Vorgesetzten oder eine vorgesetzte Behörde ist – zumal in Preußen – stets aussichtslos, es ist der Kampf des Einzelmenschen gegen eine allmächtige Institution. »Ich kann doch nicht«, sagte Voltaire, »wie er (der Große Friedrich) 150 000 siegreiche Soldaten aufmarschieren lassen.« Sehr richtig. Man gebe mir »100 000 Schnurrbärte« (Voltaires Wort) und dann lerne man meinen Kopf respektieren! Der Beamte ist eine Nummer in der großen Personalliste, ein Rädchen, ein Nagel, eine Schraube an einer Rechenmaschine, jederzeit durch eine neue zu ersetzen. Beamte sind zu gebunden, um sich zu freien Männern ausbilden zu können. Man schreibt ihnen in den wichtigsten Lebensfragen die Gesinnungen vor.

Ich nehme praktische Beispiele. Ein Lehrer muß einer Staatskirche167 angehören. Wenn ein Offizier Dissident wird, muß er den Dienst verlassen. Bekannt ist, daß der Dissident Oberlehrer Dr. Rudolf Penzig von der Regierung als Mitglied der Schuldeputation in Charlottenburg nicht bestätigt worden ist. Sozialdemokraten dürfen nicht Beamte werden. Nun sind aber viele tausende kleiner Beamten geheime Sozialdemokraten und dadurch zu lebenslänglicher Heuchelei gezwungen. Ich halte die Ausschließung der Sozialisten vom öffentlichen Dienste für verfassungswidrig; denn vor dem Gesetze sind alle Bürger gleich. Die Sozialdemokratie verficht ihre Überzeugungen in legaler Weise. Sie ist im Reichstage vertreten, also eine anerkannte Partei. Wenn sie Verfassungsänderungen anstrebt, so ist das ihr gutes Recht. Von oben her plant man und führt man sogar gewaltsam Verfassungsänderungen durch. Bekannt ist, wie C. Bernhard Shaw sich im »Berliner Tageblatt« über diese angeblich staatsgefährliche Partei aussprach: »… sie ist die konservativste, die respektabelste, die moralischste und bürgerlichste Partei Europas. Ihre Parteivertretung im Reichstage ist keine rohe Partei der Tat, sondern eine Kanzel, von der herab Männer von respektablem Alter und mit alten Ideen einer verworfenen kapitalistischen Welt eindrucksvolle Moralpredigten halten« – –

Es ist wirklich nicht einzusehen, inwiefern ein Sozialdemokrat gefährlicher sein sollte als etwa ein Stockkonservativer. Umsturz wünschen im stillen beide, der eine von oben her, der andere von unten her. Das ist der ganze Unterschied. Und wahr bleibt das auch von Bismarck anerkannte Wort, daß die Revolutionen immer von »oben« verschuldet werden. Betrachtet man sie geschichtlich, so stellt man sich als billig denkender Mensch auf die Seite der bedrückten und den Fortschritt verfechtenden Parteien. Freilich, wer im Besitze ist, der meint auch im Rechte zu sein. Als ob altes Recht nicht zu Unrecht werden könnte!

Jedenfalls also sind Beamte, denen die politische Richtung vorgeschrieben wird, in ihren Überzeugungen nicht frei: verstößt einer gegen die staatliche Vorschrift, so muß er sich verleugnen oder seiner Wege gehen, das heißt zumeist mit Frau und Kindern hungern lernen. Eine Anzahl kostbarer Mannestugenden werden im Beamtenleben gepflegt und herangebildet, die köstlichste aber, die freie Ausübung168 religiöser oder politischer Überzeugungen, nicht. Gehorsam ist des Dieners Schmuck.

Dreihundert Lehrer und Lehrerinnen konnten es in Bremen nicht durchsetzen, daß ein Schulinspektor, der sie durch seine bureaukratisch-engherzige Praxis quälte, beseitigt wurde. Im Interesse der Disziplin und amtlichen Autorität mußten diese dreihundert Beamten weiter Unwürdiges ertragen. Der Organismus steht dem Staate höher als die Individuen, das System höher als die lebenden Menschen. Dem Staatsprinzipe werden ernste Überzeugungen und tiefe Empfindungen geopfert. Wenn das nötig ist – was hier nicht untersucht werden soll –, so ist jedenfalls auch das Beamtentum keine Schule zur Pflege und Ausbildung von Mannhaftigkeit.

Einem Sozialdemokraten werden in Preußen amtlich auch die sittlichen Werte abgesprochen, die für das Amt eines Erziehers erforderlich sind. Gewiß, sozialistische Lehren gehören in keine Schule, wie überhaupt jede Politik, auch die kapitalistisch-antidemokratische, ausgeschlossen sein müßte, aber von unseren Lehrern sind schon zahlreiche Sozialdemokraten und es ist gar nicht einzusehen, weshalb ihre politische Überzeugung ihnen als sittlicher Makel angerechnet werden soll. Mit gleichem Rechte hätte man die Revoluzzer von 48, Männer wie Miquel, Richard Wagner, Lothar Bucher als unsittlich bezeichnen dürfen. Sittlichkeit hat mit politischer Parteistellung nichts zu schaffen. Ich erinnere mich im vorigen Jahre eine kleine Broschüre eines Subalternbeamten gelesen zu haben, eines ersichtlich biederen, treuen Menschen, der offen bekannt, er und fast alle die kleinen Beamten, die er persönlich kenne, wären Sozialdemokraten, wagten es nur nicht offen zuzugeben. Sollte Deutschland einmal Republik werden, so wird man den Monarchisten die sittliche Tüchtigkeit absprechen, die Jugend zu lehren, wie etwa im altrepublikanen Rom, wo auf dem Namen König ein Fluch ruhte.

Als überzeugter Anhänger des Königtums, als Gegner der aussichtslosen Sozialdemokratie wünschte ich, daß man auch dieser Partei gegenüber die preußische Devise zu Ehren brächte: suum cuique. Nach der Verfassung sind auch die Sozialisten zu allen Ämtern zuzulassen. Man sieht sie in Amerika, England, Frankreich in einflußreichen Stellen, ohne daß dort die Staaten darüber ins Wanken gerieten. Auch die Zentrummänner galten lange als Reichsfeinde. Jetzt sind169 sie zu Gnaden aufgenommen. Das war ein notwendiger Akt der Gerechtigkeit. Das deutsche Volk hat das Recht, sich seine religiösen Überzeugungen und ebenso seine politischen selbst zu bilden und der Satz iustitia fundamentum regnorum hat sich noch stets bewährt. Die Zurücksetzung der Sozialdemokraten trägt in unsere niederen Volkskreise eine große Erbitterung. Sollten wirklich drei Millionen deutscher Männer, auf deren Beistand der Staat in jeder Not und Gefahr doch rechnen muß, von denen er Steuern an Gut und Blut einfordert, zur friedlichen Mitarbeit an diesem Staate unfähig sein?

Am klügsten von den Sozialdemokraten, wenn sie, wie es tatsächlich viel geschehen mag, auf die Staatskrippe verzichten, um sich den Rest von Freiheit zu retten, den einem deutschen Proletarier Staat und Gesellschaft und die Zucht seiner eigenen strammen Parteiorganisation noch übrig läßt. »Dort, wo der Staat aufhört,« sagt Nietzsche, »da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist.«

Das Verhältnis des Beamten zu seinem Vorgesetzten ist nicht das des Lehnsmannes zu seinem Lehnsherrn. Es entscheidet nicht die persönliche gegenseitige Zuneigung, es ist kein gleichseitiger, allzeit lösbarer Kontrakt zwischen zwei freien Männern. Nicht daß gegenseitige Achtung und Wohlwollen ausgeschlossen wäre. Es gehört aber nicht zum Wesen des Verhältnisses, ist mehr eine freiwillige Zugabe als ein Pflichtgebot. Gegen Mißhandlung kann der Untergebene zwar klagen, aber gegen eine ganze Skala von demütigenden und herabsetzenden Behandlungen ist er machtlos. Dazu kommt unser völlig veraltetes Disziplinargesetz. Dieses, unmittelbar nach dem Revolutionsjahre von 1848 (nämlich am 21. Juli 1852) zur Niederhaltung jeder freiheitlichen Regung erlassen, macht den deutschen Beamten seinen Vorgesetzten gegenüber fast rechtlos. Man braucht nur an die tief beschämenden Kulturbilder zu erinnern, die in jüngster Zeit sich an den Namen Pötter und an Trakehnen knüpfen. Besonders der Fall Pötter, der sich in Pommern abgespielt hat, zeigte dem erstaunten deutschen Zeitungsleser, welche Tyrannei ein Prediger, der Vorgesetzter von Dorfschullehrern ist, auszuüben vermag, belehrte uns, was – um mit dem »Türmer« zu sprechen (1906, Heft 4, S. 523) – »was deutsche Männer, deutsche Jugenderzieher, jahrelang, ohne mit der Wimper zu zucken, an moralischen und körperlichen Mißhandlungen und Beleidigungen wie stumme Hunde hinunterzuwürgen170 imstande sind«. Der ›Türmer‹ spricht mit Recht die Hoffnung aus, »daß unser Lehrerstand es nicht bei der Erkenntnis seiner Bedeutung für Volk und Vaterland bewenden lassen, sondern sich auch der eigenen sozialen und politischen Kraft bewußt werden möge. Geschenkt werde einem heut so leicht nichts, zu den bloß artigen Kindern kommen die Kompottschüsseln zuletzt – oder überhaupt nicht«.

Wenn der deutsche Lehrer oder Kanzlist auf der Bühne oder in Romanen auftritt, so zeigt er sich in einer völlig unmännlichen Haltung, ganz Gehorsam, Unterwürfigkeit seinen Vorgesetzten gegenüber; erscheint als ein innerlich gebrochener oder plump trotziger Mann, der zum Äußersten bereit ist: Demut oder Verzweiflung. Man lacht oder spottet darüber. Die Sache ist aber tiefernst, tieftraurig. Schuld daran ist eben unser Disziplinargesetz, das leider nur wenige Deutsche kennen. Würden sie es kennen, sie müßten sich wie ein Mann dagegen auflehnen; denn es ist hart und finster, ist ein trauriges Erbe mittelalterlicher Unduldsamkeit und Menschenentwürdigung.

Man höre: Wenn sich z. B. ein Lehrer über einen Vorgesetzten beschwert, so ist die Behörde nicht verpflichtet, auch den Lehrer nach Vernehmung des Vorgesetzten noch einmal zu hören, sondern die Aussagen des Vorgesetzten gelten als erwiesene Tatsache.

Wenn ein Vorgesetzter über einen Lehrer Klage führt, so entscheidet die Behörde, ohne vorher den Lehrer auch nur gehört zu haben oder etwa Zeugen des Angeklagten. So kann nach der parteiischen Angabe des Vorgesetzten die vorgesetzte Behörde entscheiden und tut es oft im Interesse der Disziplin und keine Verfügung, kein Gesetz steht dem entgegen. Und so verfährt man nicht etwa nur jungen Dorfschullehrern gegenüber, die bei ihren grünen 20 Lebensjahren und bei ihrer deshalb noch mangelnden Lebenserfahrung eine väterliche Amtsüberwachung ertragen könnten und würden – vorausgesetzt, daß sie tatsächlich väterlich wohlwollend wäre – nein, dasselbe Verfahren kommt in Anwendung gegen Gymnasialprofessoren, die schon ein Vierteljahrhundert der Ehre würdig befunden wurden, deutsche Jünglinge zum Höchsten zu bilden und zu erziehen!

Ohne vorheriges Verhör können auch sie auf die Angaben ihres Vorgesetzten Verweise und andere Strafen bekommen. Erfreulicherweise halten sich unsere Behörden in der Regel nicht so streng an171 den Buchstaben des Gesetzes, daß es in seiner ganzen Härte zur Anwendung kommt. Mir sagte ein namhafter Jurist, daß dieses Gesetz tatsächlich kaum noch zu brauchen wäre. Aber doch bleibt es in Kraft?! Ich mache alle, die es angeht – und eigentlich geht es jeden deutschen Mann an, welchen Standes er immer sei –, auf einen vortrefflichen Aufsatz über »die Reformbedürftigkeit des preußischen Disziplinargesetzes vom 31. Juli 1852« aufmerksam. Er stammt aus der Feder des Berliner Rechtsanwalts Abramczyk, des Syndikus des Berliner Lehrervereins. Der Aufsatz ist in der »Pädagogischen Zeitung«,[12] dem Hauptorgan des deutschen Lehrervereins abgedruckt (34. Jahrg. Nr. 48, 30. Nov. 1905). Wer außerdem die von dem Berliner Stadtlehrer Herrn F. A. Müller (Wilmersdorf, Weimarschestr. 1) in regelmäßigen Jahresberichten gesammelten Disziplinarfälle der Volksschullehrer prüft, der findet sich zu dem Geständnisse gezwungen, daß unter einem solchen Gesetze freie, charakterstarke, ruhige und selbstbewußte Lehrerpersönlichkeiten unmöglich wachsen können. Leider scheint man sich in akademisch gebildeten Kreisen für das Verfassungsleben der alten Spartaner, Athener, Phönizier, Römer und Etrusker, für die Rechtslage auf den Sundainseln oder bei den alten Maias mehr zu interessieren, als für die Rechtslage, den Rechtsschutz und die Gewissensfreiheit der deutschen Volksschullehrer.

Zum Glück erstehen diesen aus den eigenen Reihen tapfere Vorkämpfer, die gern ein Martyrium auf sich nehmen, um die große Sache der deutschen Schule zu retten, die zugleich die Sache des deutschen Volkes ist, Männer, die sich auflehnen gegen den Geist des öden Formalismus, der geistigen und moralischen Knebelung ihres Standes. Wenn die Deutschen mehr Sinn für ethische Probleme hätten und diese wichtigste aller Kulturfragen mit gleichem Ernste studierten wie die Theaterberichte oder Kurszettel, so hätten wir das »Jena« auf dem Schulboden jetzt nicht erlebt und brauchten nicht über erlittenes Unrecht zu klagen.

Die Bremenser voran haben den Kampf gegen diesen Ungeist tapfer aufgenommen. Einer ihrer tüchtigsten Mitkämpfer, Gansberg, ein Lehrer von Gottes Gnaden, hat am 11. Mai 1906 im Bremer »Elternbund« unter stürmischem, lang anhaltendem Beifall seinen172 Protest vorgetragen (»Bremer Nachrichten« vom 13. Mai 1906): »Wir fordern Freiheit und Vertrauen für unsere Arbeit. Wenn aber ein unfruchtbarer bureaukratischer Geist in den Schulen umgeht, dann kann ein so wichtiges kulturelles Werk wie die Schulreform nicht gefördert werden. Wie aber ist dieser Geist, der die freien Regungen der jugendlichen Kräfte zusammenschnürt durch widerliche Rechthaberei und rücksichtslose Draufgängerei, wie ist dieser Geist zu fassen? Nur dadurch, daß man ihn öffentlich brandmarkt. Die Öffentlichkeit hat das größte Interesse daran, zu wissen, was in ihren Schulen vorgeht; alle Staatsbürger und vor allen die Eltern haben die heilige Verpflichtung, sich um den Geist zu kümmern, der unsere Schulen leitet, denn ihnen und nicht der Behörde gehört die Schule. Und wie ich es für meine Aufgabe erachte, die Öffentlichkeit immer mehr noch für die Bedürfnisse der Schulkinder und die Arbeit der Schulreform zu interessieren, so erachte ich es auch für meine unbedingte Pflicht, allgemeine und prinzipielle Schäden unseres Schulwesens öffentlich als solche zu kennzeichnen. Wie aber, wenn nun dieses schädliche System sich zufällig in der Person eines meiner Vorgesetzten verdichtet? Da heißt es: Gehorsam oder – Opfer! Man wird mir Schweigen gebieten. Wie aber wird die Elternschaft sich stellen? Hat sie ein Interesse daran, daß der Verwaltungsapparat ungestört funktioniert? Ich denke, das ist ihr völlig gleichgültig; ich denke, daß ihr das Wohl der Schulkinder über alles geht und daß sie die gesunde Schulatmosphäre doch viel, viel höher einschätzt, als eine geräuschlos arbeitende Verwaltungsmaschinerie. Darum hoffe ich zuversichtlich, daß die Elternschaft in einem solchen Konflikte auch stets auf der Seite derer zu finden sein wird, die für das Wohlergehen der Kinder eintreten!«

Bravo! Das heißt mannhaft gesprochen.

Ich habe in Berlin und in München Protestversammlungen der deutschen Lehrerschaft mit angehört und begreife nicht, wie es möglich sein soll, Männer, die sich gegen den herrschenden Religionsunterricht so ablehnend verhalten, zu diesem noch fernerhin amtlich zu zwingen. Es wird ja natürlich geleistet werden, was und wie die Instruktion es fordert, daß dabei aber zahlreiche Lehrer innerlich gebrochen werden, davon wird die Welt zunächst nichts erfahren.

Allen denen, die sich über den neuen Geist des Unglaubens, der173 Zersetzung und Auflehnung entrüsten, sei gesagt, was sie selbst wissen müssen, daß nicht unsere Volksschullehrer, sondern unsere gesamte Entwicklung, der Fortschritt der Naturwissenschaften, die gelehrten Forschungen der Theologen selbst an dem herrschenden Zustand schuld sind oder – besser gesagt – das Verdienst daran haben. Die meisten, die über unsere Lehrer klagen, kennen die Lage gar nicht. Ich empfehle ihnen zur Probe einmal ein Jahr lang nach irgendeinem staatlich anerkannten Religionsbuch kleinen Kindern den rechten Glauben beizubringen. Ihre Seele würde sich, wofern sie überhaupt eine Seele haben, vor Qualen winden. Es gehört schon ein gehöriger Grad von Untertanen- und Beamtendemut dazu, um mit sittlichem Ernste, mit Wärme und Überzeugungskraft unschuldigen, vertrauensseligen Kindern jahraus jahrein Glaubenssätze als heiligste Kost darzureichen, an die man selbst nicht mehr glauben kann. Ich möchte jedenfalls den dritten Artikel meinen Kindern nicht beibringen müssen, der bekanntlich von der Heiligung handelt und – wie die meisten christlichen Leser nicht mehr wissen werden – also lautet: »Ich glaube an den heiligen Geist, eine heilige, allgemeine, christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden. Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben. Amen.« Dazu nehme man, weil es unsere armen Kinder doch wörtlich lernen, ihre noch ärmeren Lehrer es ihnen beibringen müssen, bis es »fest sitzt« aus Luthers nunmehr bald 400 (!!) Jahre altem Kleinen Katechismus (1529), seine angeblich klare Erklärung: »Was ist das? Ich glaube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten« … Zu dieser Erklärung geben nun die neuen Lehrbücher (so Fürbringer-Bertrams »Biblische Geschichte« 4. Aufl.) wieder eine notwendige Erklärung: »Der heilige Geist hat mich mit dem rechten Vertrauen auf die Erlösung durch Christus erfüllt, mich dadurch aus der Gemeinschaft der Sünden genommen und der heiligen Gemeinschaft mit Gott teilhaftig gemacht und hilft mir, daß ich darin bleibe.« Bitte, mein Verehrtester, machen Sie das einmal einer Klasse von 100–120 Bauernkindern klar und glaublich. Vor allem aber bekennen Sie sich selbst aus ehrlicher Überzeugung dazu.

174

Es sind jetzt 128 Jahre her, daß der sterbende Voltaire auf die Frage, ob er die Göttlichkeit Jesu anerkenne, den Pfarrer mit den Worten abwies: »Mein Gott! Sprecht mir doch nicht von diesem Menschen und laßt mich ruhig sterben!«

Was ist seitdem geschehen, die Göttlichkeit Christi zu erweisen? Nichts! Stets dasselbe Pochen auf Geschichtsquellen: »Es stehet geschrieben«, auf Geschichtsquellen, die sich obendrein als durchaus unzuverlässig erweisen und hundertfach selbst widersprechen. Und dennoch die alte Lehre in Geltung? – stat pro ratione voluntas.

Zur Zeit des Großen Friedrich galt es als ein Verdienst, der Aufklärung seine Kraft zu widmen. Die in ernstester Geistesarbeit gewonnenen Kenntnisse von dem Organismus des Weltalls, der Entwicklung der Erde, der Entstehung des Lebens auf der Erde, die historisch klarere Einsicht in die Stellung des Christentums zum Judentum und den anderen orientalischen Glaubensformen, die Prüfung und Bewertung unserer Glaubensüberlieferung, all das, geleistet unter dem Schutze des Staates und für staatliche Bezahlung, gelehrt in staatlichen Hochschulen, soll trotzdem, wenn es den regierenden Parteien so paßt, als wertloser »Aufkläricht« bespöttelt und beiseite geschoben werden? Gehören zu der wertlosen Aufklärerei etwa auch die Geistestaten des Kopernikus und Galilei? Oder wo sollen wir aufhören, der Wissenschaft zu folgen? Soll vielleicht unser Kaiser die Grenze ziehen? – wie er es ja tatsächlich im Falle der Babel-Bibel-Forschung tun wollte. Hüllen sich nicht die Vertreter der staatlichen Kirchen selbst in den Prunkmantel der Wissenschaft? Gehen sie nicht selbst mit trockenen Schlüssen und »Beweisen« an die ewigen Geheimnisse heran, um dann, sowie sie nicht mehr weiter können, den Glauben anzurufen? Immer wieder kommen sie, uns zu sagen, daß die Wissenschaft noch keines der letzten Rätsel gelöst habe, daß Darwin, Haeckel und die Naturforscher alle uns nichts Dauerndes geben könnten. Das wissen wir auch. Aber das gleiche gilt von der Kirche. Auch der Glaube gibt uns nur menschliches Hoffen und Wähnen. Alle Götter der Erde waren bisher Menschenschöpfung. Die Wissenschaft führt uns jedenfalls weiter und belebt unsere Geisteskräfte. Sie hat für den, der ihr mit Hingabe dient, etwas Befreiendes. Das gleiche kann man von der kirchlichen Bildung nicht sagen. Im Gegenteil.175 Was Ludwig Thoma in seinem die katholischen Kreise tief erregenden Roman Andreas Vöst schreibt, werden Unzählige gern unterschreiben. »Alles Befreiende war dieser klerikalen Bildung genommen. Ohne Fühlung mit der Gegenwart, schöpfte sie aus der Vergangenheit keine lebendigen Kräfte. Mit ängstlichem Bemühen waren die Schranken aufrecht gehalten, in denen von jeher der Geist verkümmerte. – Neun Jahr unter den Händen von Lehrern, die alles in eine Form gießen, wie sollte sich da ein junger Mensch ganz frei halten von ihren Einflüssen? Es war viel, wenn das Wachstum nicht ganz erstickt war.«

Leider gilt das gleiche von der religiösen Seminarerziehung, einem Fegefeuer, durch das unsere evangelischen Volksschullehrer geläutert werden. Ausgedörrt kommen sie daraus hervor, nämlich dürr und trocken an Glauben, aber zugleich heiß vor Verlangen nach wissenschaftlicher Erkenntnis. Wenn Friedrich Paulsen mit Recht sagt, daß nie ein solcher Bildungshunger gesehen worden sei als jetzt in Deutschland, so gilt dieses Lob besonders unseren Volksschullehrern. Hier kommt es nur darauf an, zu sagen, daß unsere Volksschullehrer zu hoch stehen, als daß sie zu einem orthodoxen Religionsunterricht kommandiert werden könnten. Sie kennen die theologische Literatur, haben zum Teil wohl Schriften von Dr. Fr. Strauß, A. Harnack, O. Pfleiderer, B. Weiß, und wenn nicht diese größeren Werke, so doch E. von Hartmanns »Das Christentum des Neuen Testamentes« oder W. von Schnehens »Der moderne Jesuskultus« gelesen (Neuer Frankfurter Verlag, 1906. Preis 1 M.), vielleicht auch dessen Aufsatz »Die jüdische Natur der Lehre Christi« (Der Vâhan VII, 1906, Nr. 12), vor allem auch K. Kalthoff gelesen. Die pädagogischen Fachblätter, zumal Wilhelm Schwaners »Volkserzieher«, lassen keine dieser Erscheinungen unbeachtet und ungewürdigt. Allso gebildete Männer stehen der Bibel völlig frei gegenüber und verdienen deshalb nicht den leisesten Tadel. Man könnte ihnen mit gleichem Rechte vorwerfen, daß sie nicht mehr an die stillstehende Erde, an ein massives Himmelsgewölbe glauben oder daß sie mit der Eisenbahn fahren. Was soll also die Klage, daß sie nicht mehr »rechtgläubig« sind? Rechtgläubig im Sinne Luthers ist heute niemand mehr. Denn auch der Glaube, solange er noch etwas Leben hat, wandelt sich. Der Glaube an Jupiter und Hera freilich ist endgültig fest und – erstorben.

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Hauptschuld an der Mißstimmung trägt der Beamtencharakter und die zu strenge Gängelung der Lehrerschaft. Ich habe schon manch hartes Wort gedruckt, aber noch nie hat jemand gewagt, an meiner Wahrhaftigkeit zu zweifeln, jedenfalls habe ich nichts derart zu hören bekommen. Trotzdem liebe ich es, Zeugen für meine Behauptungen beizubringen. Doppelt genäht hält besser. Gymnasialprof. Dr. Paul Förster, auch kein leichtfertiger Knabe mehr, einer, der im großen Kriege mitgekämpft und im Reichstag Sitz und Stimme gehabt hat, schreibt in seiner Streitschrift »Deutsche Bildung, deutscher Glaube, deutsche Erziehung« (Ernst Wunderlich, 1906 Pr. M. 1,60, geb. M. 2.–): »Unsere Schulen sind die Stätten des Zwanges, der Abrichtung, der Unnatur. Wo aber keine Freiheit herrscht, noch Liebe, noch Natürlichkeit, da kann sich auch keine rechte sittliche Reife herausbilden; mindestens leidet sie an Unfertigkeit, Unselbständigkeit, an dem Mangel durchgebildeter Persönlichkeit! Die Unwahrhaftigkeit aber, aus Gehorsam, Berechnung und Gewöhnung Begeisterung für Dinge zu heucheln, für die sie keine hegen, nehmen sie mit ins Leben hinaus.« Wer uns beide aber der Übertreibung zeihen will, dem seien zum Studium all die Äußerungen von Fachmännern empfohlen, über höhere Schüler gefällt, die durch Einblick in ihre Pennalverbindungsakten einmal ihr Geistesleben näher beobachten konnten. Man findet das jetzt alles in einem sehr ernsten, nützlichen und gerechten Buche von Direktor Dr. Max Nath (Schülerverbindungen und Schülervereine, B. G. Teubner, Leipzig 1906) gesammelt, gesichtet und kritisch verwertet. Da sprechen Direktoren und Lehrer mit Bitterkeit und Entrüstung von den Beobachtungen, die sie machen mußten: »Verflachung und Vernichtung alles tieferen, geistigen Lebens.« – »Tagelang«, ruft der eine aus, »habe ich in dem Wust des vor mir aufgeschichteten Materials nach irgendwelchen Symptomen besseren Strebens, ja auch nur nach Anklängen an geistige Bildung gesucht: ich konnte mir nicht vorstellen, daß eine auch noch so weit von ihrem Ziele abgeirrte Gymnasialjugend nicht wenigstens Spuren von höherer Bildung, und wären es auch ganz unbeträchtliche, durchblicken lassen sollte. – Das alles starrt von einer solchen Öde und Inhaltslosigkeit, ist so bar alles ernsteren Interesses, daß es schwer ist, einem anderen eine Vorstellung davon zu geben, ohne in177 den Verdacht der Übertreibung zu kommen.« – Ein anderer klagt: »Der nichtige Drang, groß zu tun mit Dingen, die dem Schüler noch nicht gestattet sind – schamlose innere Überhebung, Entwöhnung von allen den Empfindungen, welche eine tüchtige Jugend den Erwachsenen gegenüber hat« und fragt, »ob eine so entartete Jugend jemals wieder zu reeller Lauterkeit und Festigkeit der Gesinnung herangebildet werden könne«. Alle Arbeit, alles Mühen, im Unterricht den Schülern die Ideale des Lebens nahezubringen (sic!), ihren wissenschaftlichen Sinn zu wecken, ihre Geisteskräfte zu entwickeln und zu bilden, ihre sittlichen Anschauungen zu reinigen und die Stärke ihres guten Willens zu kräftigen, scheine vergeblich gewesen zu sein. Diese Urteile stammen aus den siebenziger Jahren vorigen Jahrhunderts, wurden also über Jünglinge gefällt, die heute Männer und zum Teil in einflußreichen Stellungen sind. Dieses Scheinwesen findet dann weitere Pflege in den Korps, wo man es mehr auf gute Beziehungen zu irgendeinem einflußreichen Fuchsmajor oder Leibburschen, als auf gelehrte Bildung, fachmännische Schulung und moralisch-sittliches Reifen absieht; das gleiche Scheinwesen trägt man ins amtliche Leben hinüber und beglückt dann, wenn man es zu hoher Stellung gebracht hat, das deutsche Volk mit den Holzfrüchten solcher Unkultur. Man freue sich ehrlich und von Herzen, daß gerade die deutsche Lehrerschaft, die Leute, denen die Zukunft Deutschlands anvertraut ist, diese Scheinkultur nicht mehr mitmachen wollen. Ihr Protest ist ein Gesundungsprozeß, ihr Freiheitsdrang verbürgt uns eine zwar kampfreiche, aber beglückende Zukunft.

Mannhaftigkeit ist ohne Offenheit nicht denkbar. Bismarck hat uns in seiner überragenden Größe das Bild eines Beamten und Staatsmannes vorgelebt, der die Lüge verabscheute und gerade Wege ging. Er hatte damit das ganze Wesen der Diplomatie geändert, die vordem eine Geheimkunst war, auf List, Lug und Trug aufgebaut, die Diplomaten eine elegante, hochangesehene Gaunerzunft, die ihre französische Sprache dazu gebrauchte, ihre Gedanken zu verbergen, stets das Gegenteil von dem zu sagen, was das Herz meinte. Auch das war im Grunde völlig undeutsch.

Der ehrliche Walther von der Vogelweide hatte, jede Doppelzüngigkeit verabscheuend, den Deutschen ins Gewissen geredet:178 Ihre Rede sei ja, ja, nein, nein, ein ehrlich Nein sei ihm lieber als ein erlogenes Ja, ›zwo zungen stan unebene in einem munde.‹ Solche Lehren waren längst vergessen und hätten einem Diplomaten vorbismarckischer Zeit und Schule nur ein überlegenes listiges Lächeln abgelockt. Die Welt, jedenfalls die gut deutsche, hatte gehofft, daß Bismarcks Reckengestalt mit ihrer derben, aber wahrhaft deutschen Rede all dem heimlichen Getuschel und Gemunkel auf den Hintertreppen der Behörden und Gesandtschaftswohnungen ein Ende gemacht hätte, hatte gehofft, wie Bismarck selbst, daß alle, die in seine Schule gingen, von ihm wenigstens »ein bißchen Vornehmheit« lernen würden. Solange er im Amte war, wagten sich auch die lichtscheuen Nachtgestalten nicht in die Nähe seines Adlerblickes. Jetzt aber lesen wir mit wachsendem Unbehagen, daß selbst in den Regionen höchster Politik das alte Intrigenspiel, das Lügen, Betrügen, Spionieren, Denunzieren und Ehrabschneiden wieder üppig in Blüte steht. Was uns Harden über die 30jährige Amtstätigkeit des Herrn von Holstein berichtet, müßte uns als Mythe erscheinen, wenn er nicht so glänzend unterrichtet und wenn von Holsteins Abwehr nicht so kläglich ausgefallen wäre. Hören wir also, wie dieser uns vordem kaum dem Namen nach bekannte, aber einflußreichste deutsche Staatsmann sein Geschäft betrieb! Nur einige Proben! Wem Deutschlands Geschichte und Deutschlands »neuer Kurs« nicht vollständig gleichgültig sind, der hat natürlich schon das Ganze gelesen (»Zukunft« 1906 Nr. 38).

»Nie hatte ein Beamter in einem modernen Staate solche Stellung gehabt. Bis ins ancien régime muß man zurückgehen, um Ähnliches zu schauen. François le Clerc du Tremblay, den die Geschichte als Pater Josef kennt, hat im dunkeln fünfzehn Jahre lang Frankreichs internationale Politik geleitet. Doch der Kapuziner, dem Richelieu blind vertraute, trat immerhin manchmal hervor, ging nach Regensburg auf den Reichstag, verhandelte selbst mit Bernhard von Weimar und hätte gern den Kardinalshut aufs Haupt gesetzt. Daß er bis zu seinem Tode die Graue Eminenz blieb, war nicht sein Verdienst, sondern Urbans des Achten, der dem skrupellosen Politiker den Purpur weigerte. Holstein hat nie in hellem Licht, nie vor einer Hörermenge eine Verhandlung geführt. Er war noch weniger eitel als der Provinzial der Touraine und fühlte sich eigentlich nur179 in seinem Winkel wohl. Da spann er still sein Netz und pries den guten Tag, wenn eine arme Fliege sich drin gefangen hatte. Solche Tage waren nicht selten; denn das Netz war von Jahr zu Jahr größer geworden. Polyphemos (so nannten ihn manche, weil er mit einem Auge kaum noch sah und, wie der Sohn Poseidons, Menschen verschlang), der unheimliche Kyklop, hieß es, weiß alles; nie bleibt ihm verborgen, wer die Räume eines Reichsamtes betritt und was dort dann geredet wird. Er hat, wie weiland der spanische Karl, die Hand über den ganzen Erdboden und ist euch alles in allem. Überwacht die Diplomatie, hat in jeder Hauptstadt seine Agenten und Spione und liefert Geheimberichte, aus denen der Kaiser erfährt, wie seine Botschafter, Gesandten, Räte und Sekretäre arbeiten und sich die Zeit vertreiben. Vorsicht! Einer, dem der nicht traut, ist verloren. Den Kaiser sieht er fast nie (das würde ja auffallen), kann sich dennoch mit besserem Recht aber als jeder Minister rühmen, das Ohr des Monarchen zu haben. Er hat Schloezer aus Rom, Radowitz aus Konstantinopel, den Zarengünstling Werder aus Petersburg, den Prinzen Reuß aus Wien weggebracht und alle durch Leute ersetzt, auf die er sich verlassen konnte … So mächtig war, als so mächtig galt dieser Mann, dessen Name öffentlich nie genannt werden durfte.«

Keine Frage, daß ein solcher Mann an solcher Stelle auf die ganze Beamtenschaft tief korrumpierend wirken mußte. Unfaßbar, daß ein solcher Schädling sich all seinen zahllosen Gegnern zum Trutze, am hellen Tage der deutschen Geschichte, inmitten unseres von tausend Zeitungen bedienten öffentlichen Lebens jahrzehntelang an einflußreichster und verantwortungsvollster Stelle halten konnte. Das beweist uns, daß die Mächte der Finsternis wieder von unseren hohen Regionen Besitz ergriffen haben, daß da Treue und Glauben, Manneswert und Manneswort nicht mehr gelten. Welch Aufrechter getraut sich noch in solche Umgebung, auf so eisglatten Boden?!

Das also ist die hohe Schule für all die »gewissenhaften Beamten«, die sich Führungslisten über ihre Herren Kollegen, geheime Aktenbündel anlegen, die mit verstellter Schrift den Vorgesetzten »schätzbares Material« liefern und mit Anklagen, die der Beschuldigte nie zu hören bekommt, seinen Ruf und seine Stellung untergraben? Natürlich nur »in Wahrung berechtigter Interessen«, »im Dienste der guten Sache«, um als treuer Diener auch über die Amtspflicht180 hinaus dem Staate und dem Herrn »Chef« nützlich zu sein. Vor unsere Phantasie tritt das häßliche Bild einer ganzen Zunft berufsmäßiger Spione, Ehrabschneider, Hintertreppenzuträger, Lügner, Betrüger und Meineidiger, die für ihre schmutzigen Dienste Ehren und Ämter empfangen und mit dem Gelde deutscher Steuerzahler obendrein ein behagliches Leben führen. Werden von oben her so böse Beispiele gegeben, dann darf man sich nicht wundern, wenn korrupte Seelen der »unteren Organe« auch den Bestechungen zugänglich werden und wertvolle Dokumente an Gegner der Regierung ausliefern. Dann hat sie eben jeder, der gut zu zahlen weiß.

Wenn Beamte, die von dem Wohlwollen ihrer Vordermänner und Vorgesetzten alles zu hoffen, von deren Feindschaft alles zu fürchten haben, erst einmal wissen, daß ihnen Zuträgerei und geheime Anzeigen Vorteil bringen, dann ist es aus mit aller Mannhaftigkeit und Offenheit. Wenn den Denunzianten nicht grob die Türen gewiesen werden, wenn nicht – wie das für einen Menschen von normalen Ehrbegriffen selbstverständlich sein müßte – anonyme Anzeigen sofort zerfetzt in den Papierkorb fliegen oder besser noch (da es ja auch Papierkorbplünderer gibt) ins Feuer wandern, dann wanken alle Fundamente des Vertrauens, dann hat der Pfiffigste und Durchtriebenste gewonnenes Spiel und der Aufrechte tut gut, das Feld rechtzeitig zu räumen. Es ist nicht jedermanns Sache, sein Leben dem Kampfe mit Ratten, Schwaben und Wanzen zu weihen.

In unseren Behörden sitzen schon Poloniusnaturen, zu jeder Heuchelei bereit. Wer da Überzeugungen sucht, könnte ebensogut (wie mein alter Lehrer zu sagen pflegte) »Wurscht im Hundestall suchen«. Diese Leute machen alles mit, was verlangt wird. Ich glaube auf Wunsch selbst ein kleines Konfessionswechselchen. Der pflichttreue Beamte weiß, was er sich schuldig ist. Als Bismarck stürzte, sahen wir schon ein beschämendes Stück »deutscher Mannestreue«. Kein Wunder, daß der greise Kanzler ein Menschenverächter wurde.

Als ich jüngst einen hohen Beamten fragte, was ein Herr eines Ministeriums, den ich von Ansehen kannte, für Überzeugungen habe, lachte der Mann hell auf: »Überzeugungen? Mein Gott, sind Sie anspruchsvoll. Der arme Mensch soll auch noch Überzeugungen haben? Die Ware gibt's da oben nicht, da sieht nur jeder zu, daß er nicht falle. Im übrigen wird fortgewurschtelt und man sagt sich: ›Solange ich mitmachen muß, hält die Geschichte wohl noch. Nur181 keinen Spektakel! Und die Presse nicht auf sich aufmerksam machen. Denn dann ist man geliefert‹.«

Das sind unsere »altbewährten Stützen«, von denen muß sich der Untergebene quälen, muß sich das deutsche Volk zureiten lassen!

Im Kolonialamte ist es schon zum Bruch gekommen. Andere Ämter werden folgen. Wo nicht Mannhaftigkeit das Regiment führt, wo nur Beamtengehorsam und dienstliche Gesinnungslosigkeit herrschen und der am besten gedeiht, der am besten zu schweigen, sich zu beugen, anzupassen und Gesinnungen zu heucheln versteht, da »kann die Wohlfahrt nicht gedeihen«.

Unser Kaiser, ehrlich bemüht und tätig um Deutschlands Macht und Zukunft, hat richtig erkannt, daß wir vor allem Männer, Charaktere brauchen. Wir handeln monarchisch und nach dem alten Grundsatze: »Mit Gott für König und Vaterland«, wenn wir ihm sagen, daß nicht sowohl auf dem Salzwasser als in Berlin, bei den hohen und höchsten Behörden der Anfang gemacht werden müßte. Tüchtige Ruderer und Radfahrer, Sportmänner jeder Art, Boxer, Schwimmer, Reiter, verwegene Wagenfahrer hatte man in dem byzantinischen Kaiserreich auch zu einer Zeit, als alle wahrhaft männlichen Tugenden im Volke schon erstorben waren. Tollkühne Seefahrer finden wir unter den chinesischen Piraten, unter griechischen Hammeldieben, unter verbrecherischem Hafengesindel von Neapel und Konstantinopel. Vertrautheit mit dem Meere, zumal von Jugend an gepflegt, sichert uns wahren Manneswert noch nicht. Es ist nur eine seiner Äußerungen und lange nicht die wichtigste.

In unserem Beamtenstaate wird über die tiefsten ethischen Fragen auf dem Verwaltungswege entschieden. Im Reformationszeitalter hat man doch allen Ernstes um jeden Satz des »Glaubens« gestritten und gerungen. Da ging es wirklich um die Sache. Wenn Luther mit Zwingli um das Wörtchen ἔστι heiß debattierte, da lauschte ihnen in ihrer Gewissensnot mit tiefer Spannung und Erregung die Christenheit und spaltete sich in die zwei Lager der Lutherischen und der Reformierten. Von all dem ist ja gar nicht mehr die Rede.

Was würde geschehen, wenn heute durch Ministerialerlaß den Lehrern »bekannt gegeben« würde, daß der Glaube an den heiligen Geist nicht mehr zu halten und den Lehrern deshalb verboten wäre, diesen Teil des christlichen Glaubens den Schülern weiter vorzutragen? Würden die Lehrer eine große Kundgebung veranstalten? Würden182 viele den Dienst aufgeben und lieber mit ihrer Familie darben, als ein solches Opfer ihres Glaubens bringen? Die Religions- und Schulfrage ist keine Gewissensfrage mehr, sondern eine Machtfrage und Verwaltungssache, wird deshalb von Juristen besorgt, die noch nie in ihrem Leben eine Religionsstunde erteilt haben und von denen so mancher wohl schlecht bestehen würde, wenn man ihn in Religion für Untertertia prüfen wollte. Man muß solche Herrn, wie ich das Glück hatte, als flotte Korpsstudenten gekannt und ihre damaligen Glaubensbekenntnisse noch im Gedächtnis haben, um zu wissen, was es mit der Forderung auf sich hat, daß »dem Volke die Religion erhalten bleiben müsse«. Soll und muß das geschehen um des Seelenheils willen der Mühseligen und Beladenen? Ach nein, – aus Staatsräson, damit sie gehorsame Untertanen werden und keine Sozialdemokraten wählen. Wer fragt nach der Überzeugung dieser Menschen? Wen kümmert es, ob sie aus schlauer Berechnung irgendeines materiellen Vorteils wegen oder aus ehrlicher Gewissensnot ihre Stimme für oder gegen den von der Regierung empfohlenen Kandidaten abgeben?

Warum wir also so wenige Männer haben? Weil bei uns Überzeugungen und Ideale verstaatlicht sind und weil die Leute am besten vorwärts kommen, die sich ihren Glauben und ihre politische Gesinnung von der Regierung beziehen. Deshalb haben wir so viele Streber im Lande, einen Menschentypus, den das glückliche England auch nach Carl Peters Zeugnis nicht einmal dem Namen nach kennt. Es ist wohl zu allen Zeiten geheuchelt worden, aber so tief ist man wohl selten in charakterloses Scheinwesen versunken, wie jetzt in unseren herrschenden Kreisen. Von deren sog. Idealen ist auch so gut wie nichts mehr echt und stichhaltig.

Ohne eine tiefgreifende Reform unseres ganzen Staatswesens ist nicht zu helfen. Schon ist unendlich viel versäumt. Nur ein Herkules kann die Arbeit leisten, die vonnöten wäre; nur ein ganzer Mann! Mit Maßnahmen, Verfügungen, sanften Verschiebungen und dem ganzen nun schon zum Spott gewordenen kleinlichen Bureaubetrieb ist nichts mehr auszurichten, am wenigsten aber mit Vertuscheln und mit dem Maulverstopfen unangenehmer Schreier und:

»Wasser tut's freilich nicht!«


183

XII.
Parlamentarier.

Die Wohlanständigkeit unserer Parlamentarier rechnet man ihnen in den Kreisen nicht zum Verdienste an, in denen man, der schön gedrechselten Reden müde endlich Taten sehen möchte. Auf Bismarcks Zunge wohnen Blitz und Donner, auch Eugen Richter traf noch kraftvolle Töne; jetzt ist es fast allein der alte Bebel, der das Blut der Hörer noch in schnelleres Tempo bringt.

Die Sprache der Parlamentarier, rein formell betrachtet, ist jetzt »matt wie Limonade«. Wir möchten wieder einmal andere Wendungen und besseren Stil hören, als: »Ich stehe den trefflichen Bemerkungen des sehr verehrten Herrn Vorredners sehr sympathisch gegenüber, möchte mir nur hinsichtlich des ersten von ihm berührten Punktes eine kleine Abweichung gestatten und sodann eine neue Frage anschneiden, eine Materie, die, wie mir scheint, der Beachtung dieses hohen Hauses wohl wert sein möchte.« – Himbeersauce mit Schlagsahne, aber gefälschte natürlich. Wir brauchten, da bei uns jetzt alle Lebensmittel gefälscht werden, alle – körperliche und geistige –, auch ein Reichsgesundheitsamt für geistige Nährmittel, brauchten das um so viel notwendiger als das für körperliche Ernährung, weil der Geist höher steht als der Leib.

Le stil c'est l'homme. Ist das wahr, dann haben wir in Deutschland wenig Menschen – Männer. Vor allem haben wir dann in unseren »maßgebenden« Kreisen sehr wenige geschulte Köpfe, die schlicht denken und ein kerniges, gesundes, ich möchte sagen: hausbackenes Deutsch sprechen.

Maximilian Harden hat sich wiederholt das Vergnügen gemacht, Stilproben unserer staatlichen Volksführer mit der roten Tinte zu bearbeiten. Wir haben aus dem Munde von Ministern und Staatssekretären reine Tertianerleistungen geliefert bekommen. Das Deutsch184 unserer Behörden ist ja schon immer ungenießbar gewesen. Sollten es spätere Geschlechter einmal ausgraben, so werden sie daran erkennen, daß wir Barbaren waren. Nicht nur häßlich und schlecht, sondern vor allem matt ist die Sprache unserer Behörden, ohne Kern, ohne Mark, ohne Schärfe, ohne Überzeugungskraft. An Stelle der Kraft findet man aber ein vollgemessenes Maß von Grobheit: »Sie haben sich – Sie wollen – widrigenfalls Sie sich … zu gewärtigen haben.« Dafür ist manche teils ergötzliche, teils empörende Probe in der »Zukunft«, im »Blaubuch«, im »Türmer«, im »Volkserzieher« abgedruckt zu finden, den deutschen Blättern, die nach meiner Kenntnis am eifrigsten an der Aufrüttelung des deutschen Mannesstolzes arbeiten.

Es wäre zu wünschen, daß sich unsere Volksvertreter in den Parlamenten weniger um die fade parlamentarische Höflichkeit kümmern wollten! Das deutsche Volk schickt sie nicht nach Berlin, damit sie dort unter sich und mit den Vertretern der Regierungen Höflichkeiten austauschen sollen. Vor allem mögen sie darauf halten, daß sie als Männer und als Vertreter des deutschen Volkes mindestens die Behandlung von Seiten der Regierung erfahren, auf die Griechen, Serben, Rumänen, Magyaren und andere Völker zweiter und dritter Größe für ihre Volksvertreter Anspruch machen.

Jeder Abgeordnete steht da kraft der »Majestät des deutschen Volkes«. Was er an Mißachtung einsteckt, das verwundet nicht ihn allein, sondern auch uns, die wir ihn zu unserem Mundstück erwählt haben.

Ob er ein fehlerfreies Deutsch spricht oder nicht, ob er mir und mich, Sie und Ihnen richtig anwendet oder nicht, das ist ganz gleichgültig. Wir wollen nicht vergessen, daß wohl 90% der Deutschen die Schriftsprache, die eine Kunstsprache ist, nicht sprechen, daß man also kein Recht hat, bei jedem diese Sprache vorauszusetzen. Onkel Bräsig spricht auch missingsch, aber sein Deutsch ist uns lieber als die Wassersuppen vieler akademisch Verbildeten.

Wenn unsere Volksvertreter aus Bescheidenheit sich zuviel bieten lassen, so büßt Deutschland das auch an äußerer Achtung ein. Ich habe mit Ausländern gesprochen, die es rein unbegreiflich fanden, daß sich die Deutschen von ihrer Regierung wie Schulbuben behandeln lassen. Der mühsam errungene Ruhm einer Weltmachtstellung185 geht leicht wieder in die Brüche und alte bösen Urteile oder Vorurteile werden wieder lebendig. Luther sagte in seinen Tischreden: »Es ist keine Nation verachteter, denn die Deutschen. Italiener heißen uns Bestien; Frankreich und England spotten unser, und alle anderen Länder. Wer weiß, was Gott will und wird aus den Deutschen machen; wiewohl wir ein gute Staupe vor Gott wohl verdienet haben.«

Mit den großen Herren muß man deutlich sprechen. Auch dafür ein gut Wörtlein von unserem Doktor Martinus.

Der junge Markgraf Joachim der Andere hat Anno 1532, als er zu Wittenberg gewesen, Doktor Martinum Luther gefragt: »Warum er doch so heftig und so hart wider die großen Herren schriebe?« Darauf hat Doktor Martinus geantwortet: »Gnädiger Herr, wenn Gott das Erdreich will fruchtbar machen, so muß er zuvor lassen vorhergehen einen guten Platzregen mit einem Donner und danach fein mächtig regnen lassen; also fruchtet er das Erdreich durch und durch. Item«, sprach er, »ein weidenes Rütlein kann ich mit einem Messer zerschneiden, aber zu einer harten Eiche muß man eine scharfe Axt und Barten oder Keile haben, man kann sie dennoch kaum spalten; wie denn eine große Eiche von einem Haun nicht fällt.«

Wenn man das matte, fade, feige Gerede der Leute liest, die heute bei uns das große Wort haben, dann ist eine Flucht zu den alten derben Deutschen, zumal aber zu Luther, ein wahres Labsal. Man nennt ihn mit dem Stolze des »Gebildeten« grob und unfein – ja, das war er, aber herzerquickend gesund, echt, wahr und deutlich. Selbst in der Kirche wetterte er gegen die unruhigen Hörer los: »Wollt ihr ja brüllen, brummen, grunzen und murren, so gehet hinaus unter die Kühe und Schweine, die werden euch wohl antworten, aber lasset die Kirche unbehindert!«

Pfui, wie ordinär!

»Einfältig zu predigen«, sagt er ein andermal, »ist eine große Kunst. Christus tut's selber; er redet allein vom Ackerwerk, vom Senfkorn usw. und brauchet eitel grobe, bäuerische Gleichnisse.«

Wir müssen alles daran setzen, den mehr und mehr schwindenden schlichten Bürgerstolz wieder zu heben. Wer einmal holsteinische oder Mecklenburger Höfe besucht hat, der kennt das altgermanische sichere Selbstbewußtsein der Bauern, deren jeder wie ein Fürst auf186 seinem Reiche steht. Ein Gleiches besaß ehedem der deutsche Bürger.

Der Bürgerstolz aber ist uns mit dem Bürgerstande selbst entwichen. Wir haben in den Städten nur noch Einwohner, Seelen, keine Bürger mehr. Deshalb ist die sog. Mittelstandsbewegung nützlich, ja notwendig.

Es gilt immer wieder den Behörden, den Verwaltenden gegenüber den Wert der produktiven Arbeiter jeden Berufes stark zu betonen.

Maler, Bildhauer, Gelehrte, Schulmeister, Arbeiter haben nicht den geringsten Anlaß, sich vor irgendeinem Fürsten oder Beamten zu demütigen. Sie sind es, die Werke schaffen, jene verwerten bloß das Geschaffene. Wollen wir auch hierzu wieder Luthers Urteil hören?

»Bürgermeister, Fürsten, Edelleute können wir entraten; Schulen können wir nicht entraten, denn die müssen die Welt regieren. Man siehet heut, daß kein Potentat und Herr ist, er muß sich von einem Juristen und Theologen regieren lassen. Sie können selbst nichts und schämen sich zu lernen, darum muß es aus den Schulen herfließen.«

Will man die Werte der Leistungen richtig einschätzen, so frage man in der Geschichte an.

Holbein, Dürer, Hans Sachs sind heute noch Machtfaktoren und herrschen mit ihrem Geiste auf dem weiten Erdenrunde. Wer aber kann uns einen der vielen Hunderte von kaiserlichen Hofräten und sonstigen Beamten nennen, die damals mit Standesstolz auf die Farbenschmierer und den verseschmiedenden Schuster herabsahen?

Wir kennen alle Rousseau, Pestalozzi, Fröbel – wer aber im deutschen Volke weiß etwas von den Beamten, die diese Männer von Staats wegen bewachten, zum Teil sogar verfolgten und peinigten? Viel schon, wenn wir noch ihre Namen kennen.

Wie hell leuchten die Namen der Arbeiter auf allen Feldern geistigen Lebens! Wie geachtet leben in dem Andenken der Menschen die Entdecker auf den Gebieten der Wissenschaft und Technik, der Chemie, der Physik, alle Bahnbrecher unter den Naturforschern, Ärzten, alle Schöpfer neuer Werte unter den Künstlern, den Malern, Bildhauern, Architekten, Musikern, Dichtern, Kunstschriftstellern, Lehrern und Predigern: wie selten haben sich Verwaltungsbeamte um die Menschheit gleiche Verdienste erworben! Woher nehmen also187 diese Staatsdiener das Recht und die Anmaßung, unser Volk zu schulmeistern und unwürdig zu behandeln!

Als im vorigen Jahre Prof. Lehmann-Hohenberg im Berliner Architektenhause einen Vortrag über »Reform der deutschen Rechtspflege« hielt, nahmen zwei Polizisten neben dem Redner Platz. Ja, leben wir denn in einem Zuchthaus? Sind alle deutschen Männer unter polizeiliche Aufsicht gestellte entlassene Sträflinge? Muß man das alles schweigend ertragen?

Ich sagte in jener Versammlung selbst, die nur ehrbare stille Bürger und Bürgerinnen, nur Menschen von gesellschaftlicher Kultur besucht haben, daß ich nicht begreifen könne, wie man uns von Staats wegen eine solche Behandlung antue. Engländern dürfte man so etwas nicht bieten.

Die Polizei mag in solchen Fällen vor der Türe warten, ob wir ihre Hilfe wünschen und, falls wir klingeln, hereinkommen, aber recht schnell, recht bescheiden. Das wäre eher ihres Amtes.

Unsere Beamten haben dem Volke zu dienen. Minister ist ein lateinisches Wort und heißt Diener. Man sollte zur Aufklärung des deutschen Volkes diese deutsche Benennung wieder einsetzen: »Kgl. preußischer Diener für Bauwesen etc.«.

Es wird gut sein, in einer Zeit, die das preußische Volk wieder zu den trübsten Besorgnissen nötigt, an die harten Verfolgungen zu erinnern, die treue, edle, fleißige, fromme Vaterlandsfreunde von seiten einer geistlich erleuchteten Regierung zu erdulden hatten. Wir müssen uns mit Proben begnügen, denn sonst entstände uns unter der Feder ein starker Band. Also ein Glanzstück!

Als Lützower Jäger kämpfte Friedrich Fröbel für die Befreiung seines Vaterlandes. Als ihm Körners Tod gemeldet wurde, verband er sich im Felde mit zwei Freunden unter Schwüren, dem heiligen Gedanken treu zu bleiben, deren Erkenntnis ihm im Kriegsgetümmel aufgegangen war, ihr Leben der Erziehung der kleinen Kinder zu weihen, dafür zu arbeiten »daß das Christentum Wahrheit werde«. Er arbeitete dann demgemäß mit beiden Freunden an seiner Schöpfung, dem Kindergarten in Keilhau, und brachte ihn zu Ansehen und zur Blüte.

Seine Grundsätze lauteten: »Alle Erziehung, soll sie Frucht bringen, muß sich auf Religion gründen« – »Alle und jede Erziehung,188 die sich nicht auf die christliche Religion, auf die Religion Jesu gründet, ist mangelhaft und einseitig.« Ich halte diesen Ausspruch selbst für mangelhaft und einseitig, aber einerlei, er beweist jedenfalls Fröbels streng christliches Denken und Fühlen.

Und so sah man denn diesen Mann mit dem reinen Kinderherzen täglich unter Kindern von 3–6 Jahren auf der Wiese spielen und umherhüpfen, daß ihm die langen Haare und die Rockschöße flogen und die Leute stehen blieben, um über den Narr zu lachen. Er aber ließ sich nicht beirren, in den Kinderherzen den Ausgang seiner Lehre und seines Wirkens zu suchen; das Christentum zur Wahrheit zu machen.

Was aber geschah nun? Auf das Revolutionsjahr von 48 folgte die Demagogenverfolgung, und unser lieber, sanfter Fröbel wurde demagogischer oder sozialistischer Tendenzen beschuldigt. Das damalige preußische Unterrichtsministerium von Raumer verbot aus politischen Bedenken die Kindergärten. Fröbel, für sein schönes, frommes, edles Lebenswerk zitternd, bat in seiner Eingabe mit beigelegten Druckschriften, sich über Geist und Ziele seiner Kindergärten besser zu unterrichten. Vergeblich, »das von mir reichlich erwogene Verbot«, schrieb v. Raumer, »der nach Ihrem System eingerichteten und geleiteten Kindergärten« bleibt bestehen! Und die Gründe? »Ihre beiden Systeme stimmen im wesentlichen darin überein, daß sie dem Christentum entschieden abgewandte Theorien zugrunde zu legen beabsichtigen.« – Hat man je von einem gröberen Blödsinn einer hohen Behörde gehört? Freilich, die Kindchen von 3–6 Jahren trugen langes Haar und Sommer und Winter keine Kittel – entsetzlich!

Die Schulen mußten geschlossen werden; Fröbel, bis dahin ein Mann von jugendlicher Frische und unermüdlicher Rüstigkeit, war im tiefsten Lebensnerv getroffen, da er sein Werk dahinsinken sah, und starb bald an gebrochenem Herzen.[13]

So wurden deutsche Männer, die für ihr Volk mit ihrem Herzblute stritten, rangen und litten, von ihrer Regierung behandelt! Wer mochte sich da noch aufrecht erhalten?

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Aber getrost! Es gibt noch einen Richter, dem selbst preußische reaktionäre Minister sich beugen müssen: das Urteil der künftigen Geschlechter, das Zeugnis der Gerechtigkeit, Wahrheit, Mannhaftigkeit.

Das sinnlose Verbot gegen die Kindergärten mußte in den sechziger Jahren aufgehoben werden. An Fröbels Grab sprach Pfarrer Rückert die stolzen Worte, die ihm jetzt die ganze gebildete Welt aus Überzeugung nachspricht: »Hier ruht ein großes, edles Herz von seiner Arbeit. Er hat gearbeitet für die früheste Kindheit und für die späteste Zukunft, gearbeitet auf Hoffnung, und seine Hoffnung war nicht verloren.«

In allen Städten der Erde blühen Fröbelsche Kindergärten auf, ein Strom des Segens ergießt sich von ihnen auf die Kindheit und damit auf die ganze Menschheit, die Ehre des kleinen närrischen Schulmeisterleins, den der Unwille des Ministers mit einem Hauche still machte, ertönt von Mund zu Mund, von Geschlecht zu Geschlecht. Von dem Minister selbst aber gilt, was ich in der neuesten Fröbelbiographie lese: »Er hat sich durch das Verbot der Kindergärten in einer für ihn wenig schmeichelhaften Weise den Ruhm der Unsterblichkeit erworben.«

Wenn man in künftigen Jahrhunderten Fröbels Namen preisen wird, dann, aber auch nur dann, wird man auch den eines engherzigen und beschränkten Ministers nennen, etwa wie man den Namen des Herostratus nennt, der auch einen Tempel, freilich nur einen von kaltem, harten Stein, vernichtete, um sich berühmt – berüchtigt zu machen.

Das sei denen gesagt, die vor jedem Minister in Bewunderung platt auf den Bauch fallen und die im kleinen Schulmeister ein Nichts sehen, eine zum Dienen und Gehorchen bestellte Maschine, ein willenloses Werkzeug höherer behördlicher Einsicht; sei allen denen gesagt, die da meinen, ein Mann sei gerichtet und vernichtet, wenn sich ihm die Gnadensonne des hohen Vorgesetzten entzieht; sei all den Unmännlichen gesagt, die im Leben nie aus der Schulbubengesinnung herauskommen, nicht leben können ohne ein Wohlverhaltungszeugnis ihres Meisters, die verstummen, sowie sich ein Urteil oder Wille von »autoritativer Seite« kund tut; sei all den feigen und kriechenden Schranzen gesagt, die wie hungrige Hunde190 die Ministerien umschleichen und gierig nach Gnadenbrocken schnappen; sei allen denen gesagt, die das stolze Wort des Obersten von Butler noch nicht an sich selbst erlebt haben:

»Ein jeder gibt den Wert sich selbst. Wie hoch ich
Mich selbst anschlagen will, das steht bei mir.
So hoch gestellt ist keiner auf der Erde,
Daß ich mich selber neben ihm verachte.
Den Menschen macht sein Wille groß und klein.
Und weil ich meinem treu bin, muß – – –«

Nun frage man noch, weshalb wir so viele Knechtseligkeit, Lakaiengesinnung, Feigheit und Charakterlosigkeit in Deutschland haben!

Die Frommen und Korrekten sind es, die uns die besten Männer rauben. Der Freigeist Friedrich der Große pflegte nach feilen Kriechern und Speichelleckern, die sich vor seinen Augen entwürdigten, den Krückstock zu werfen. Er sprach die Worte, die man an das noch immer aufschriftlose Reichstagsgebäude anbringen sollte: »Ich will absolument, daß so regieret werde, daß die Leute ins Land kommen und nicht hinauslaufen.« Oder noch zeitgemäßer wäre vielleicht sein zweites Wort von ihm: »Ich finde es unverzeihlich, wenn man in die Gewissen und Bedenken der anderen hineinregieren will.«[14]

Wenn sich selbst ein Fröbel wegen unchristlichen Treibens in Preußen nicht halten konnte, dann war darin nur noch für Mucker und Heuchler Platz.

Sollten jetzt wieder die »Positiven« das Heft in die Hand bekommen, dann dürfte sich positiv mancher überlegen, ob er nicht lieber den Staub von seinen preußischen Pantoffeln schütteln soll, um sich ein besseres – das heißt ein freieres – Land zu suchen, wo er als ehrlicher Mann mit seinem eigenen Glauben unangefochten und ungeschmäht leben und wirken darf.

So denken heute, wie die Zeitungen verraten, viele deutsche Männer, die sich bedroht sehen durch den uns in Aussicht gestellten Zusammenschluß der Konfessionen »zum Kampfe gegen den Unglauben«. Man sollte meinen, es handelte sich um einen Kreuzzug gegen die Mamelucken! Es wäre nicht das erstemal, daß Deutschland191 einen Aderlaß erführe, bei dem wie in der Regel gerade das gesundeste Blut abgeht. In den Kampf für ethische Güter treten natürlich nur die tieferen Naturen ein.

Der stumpfen Masse derer, die, um mit Sallust zu sprechen, ventri et peni ergeben sind, ist es gleichgültig, wer ihnen ihr faules und gedankenloses Leben sichert. Als sich im republikanischen Rom die führenden Männer im hundertjährigen Bürgerkriege gegenseitig erschlagen hatten, konnte, wie Tacitus berichtet, ein Kaiser leicht das erschöpfte und um seine Führer beraubte Volk wie eine scheue Sklavenherde beherrschen: die Catonaturen waren eben sämtlich vernichtet. Eine solche Auslese der Stärksten und Besten, öfters im Laufe der Jahrhundert wiederholt, bringt ein Volk schließlich herunter. Wenn man die Sahne abschöpft, bleibt keine nahrhafte Milch zurück. Nimmt man hinzu, wie viele tapfere und starke Männer in den endlosen Kriegen Deutschlands gefallen sind, so erklärt es sich nach dem Darwinschen Gesetz von der Auslese der Besten, wenn die Qualität des Volkes schließlich heruntergeht.

Wir können tatsächlich nicht einen Mann entbehren: Jeder aufrechte Bürger ist uns lieb und kostbar.

Mit dem armseligen Bündel auf dem Rücken entwichen Germanias verschmähte und verfolgte Kinder in die Fremde; ihre Enkel kehren als recht protzige Milliardäre zu einem Besuche unseres Kaisers zurück. Man achte keinen Menschen gering; es könnte sich strafen. Louis XIV. wies spottend den »kleinen Abbé« ab, der sich dann in österreichischen Diensten als der gewaltige Kriegsheld Prinz Eugen entpuppte. Graf von Moltke wäre uns beinahe als junger Offizier an Dänemark verloren gegangen.

Und wieviel gute Kraft und guter Wille wurde in Deutschland zwar zurückgehalten, aber lahmgelegt! Umgekehrt: wieviel guten Zuwachs verdankt unser Volk, zumal Preußen, der früher geübten religiösen Duldung! Sollte es sich nicht empfehlen, zu dieser Regierungspraxis zurückzukehren? Unsere Schüler lernen aus ihren Geschichtsbüchern, daß religiöse Duldung alte Tradition der preußischen Königspolitik sei. Soll das in Zukunft anders werden?

Es ist Sache unserer Parlamentarier, das freie Manneswort des deutschen Bürgers wieder zu Ehren zu bringen!


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XIII.
Moderne Pädagogik.

»Die Hauptsache ist, daß man eine
Seele habe, die das Wahre liebt und
die es aufnimmt, wo sie es findet.«
Goethe.

Die Menschen sind gewohnt, alles, was sie durch ihr Leben hin getrieben, gedacht und erstrebt haben, als das Natürliche und Notwendige zu betrachten. Jede Abweichung davon erscheint ihnen als sündhaft. Chinesen wollen von ihrem Zopf nicht lassen, Haremfrauen nichts von der Emanzipation des Weibes, nichts von Frauenrechten hören, der Buschmann lehnt das Gewehr ab und bleibt bei Pfeil und Bogen, und unsere guten alten Tanten lassen es sich nicht nehmen, daß der Mensch so erzogen werden müsse, wie sie vor 50 bis 60 Jahren von ihren seligen Eltern erzogen wurden. Sie zweifeln keinen Augenblick daran, daß das die einzig richtige, die Normalerziehung war. Wir, die wir die Früchte dieser Erziehung vor Augen haben, gestatten uns im stillen manchmal einen höchst respektlosen Zweifel.

Nicht jeder freilich ist so ergrimmt über alte Unnatur und Hohlheit der üblichen ererbten Hauserziehung, wie es mein Vater war. Man höre! Eine unberufene Erziehungskünstlerin war ihm in seine häuslichen Herren- und Vaterrechte vorlaut eingebrochen, um seiner Tochter, die sie zu »studentenhaft« fand – sie war nämlich frisch, lustig, derb und unangekränkelt –, in das einzuführen, was der Altenburger Bauer die Kondefitche nennt (conduite). Täglich und stündlich gab es da Ermahnungen: »Ein junges Mädchen darf so laut nicht lachen, darf das nicht sagen, darf soviel nicht essen, darf nicht pfeifen, nicht laufen, nicht über Zäune und auf die Bäume klettern, nicht müßig dasitzen. Es muß französisch fließend sprechen lernen, muß ein Tagebuch führen, muß, muß, muß –« ja, was mußte so ein armes Ding nicht alles?

193

»Denn sieh, meine Liebe, ich habe schon mit zwölf Jahren …, ich habe als erste Schülerin meiner Klasse …, ich habe –« ja, was hatte die gute Tante nicht alles geleistet! Höchst wunderbar, höchst staunenswert! Freilich, das Wichtigste hatte sie leider versäumt, nämlich zu heiraten und Kinder zu gebären, auf die sie den Schatz ihrer Tugenden hätte vererben müssen.

Der Schluß solcher Belehrungen und Vermahnungen war gewöhnlich ein großer Spektakel, Tränenerguß und Verstimmung des ganzen Hauses.

Mein Vater hatte dem lange mit verhaltenem Ärger zugesehen. Endlich aber platzte ihm die Galle und er warf der Tugendpredigerin die Worte ins Gesicht: »Nun aber hat es sein Ende! Hören Sie, was ich Ihnen sagen muß: Das Fürchterlichste, was mir passieren könnte, wäre, daß meine Tochter Ihnen ähnlich würde!« Das half.

Nach diesen Vorbemerkungen wage ich es, sogar vor unsere selbstbewußtesten Väter, Mütter, Tanten, Lehrer, männliche und weibliche Gouvernanten mit unseren modernen Erziehungsketzereien frohgemut hinzutreten.

Ich merke, ich muß eine Vorstellung dieser allgemeinen pädagogischen Anschauungen und Bestrebungen hier erst einschieben, ehe ich von dem Teile, der Erziehung zur Mannhaftigkeit, sprechen kann. Sonst würde ich ganz unverstanden bleiben. Wir müssen also unseren Bau von dem Grunde an neu aufführen.

Die Erziehung ist eben wieder Problem geworden. »Leider!« sagen die Hüter des angeblich bewährten Alten; »gottlob!« sagen wir Zukunftsfrohen.

Unsere Väter wußten, wie man Kinder zu erziehen habe; und wenn sie es selbst nicht genau wußten, so wußte es jedenfalls ganz genau der Herr Gymnasialdirektor oder Volksschulrektor ihres Heimatstädtchens, die staatlich anerkannten Hüter ererbter Erziehungsweisheit und Lehrpraxis.

»Erziehung zu edler Humanität,« sagte der eine, »und zwar auf dem festen Boden altklassischer, christlich-nationaler Bildung«. ›Drei sei einer in ihm, der Hellene, der Christ und der Deutsche!‹ – Nichts einfacher als das! Sehen Sie mich an!«

»Erziehung nach den Geboten der Heilslehre,« sagte der andere als gehorsamer Diener seiner Kirche; denn unsere Volksschullehrer194 waren im Nebenamte und auch in der Gesinnung zumeist Küster und hatte, wie auch viele Gesalbte des Herrn, neben dem schwarzgebundenen und mit goldenem Marterkreuze gezierten Gotteswort in der Regel eine schwanke Haselgerte liegen. In Ausübung der christlichen Nächstenliebe hielten sie sich lieber an das Alte als an das Neue Testament, lieber an Jesus Sirach als an Jesus selbst. Jener empfahl, die bösen Buben überzubiegen und durchzubläuen, Jesus in seiner unendlichen Güte und Menschlichkeit legte bekanntlich den Kindern – guten wie bösen – segnend die Hände aufs Haupt. Man muss halt die Bibel zu lesen und deuten verstehen. Jeder findet darin, was er sucht.

Wer vor diesen Autoritäten nicht bestand, der war für Deutschland so gut wie verloren. Wenn das alte Latein und der kleine Katechismus plus Haselrute nicht weiterhalfen, dann mußte das junge, damals noch so ferne Amerika helfen.

Viele der vermeintlichen Tunichtgute, die dorthin abgeschoben wurden, haben großen Anteil an der erstaunlichen Kulturarbeit, die »drüben« während eines kurzen Jahrhunderts geleistet worden ist.

Erster Fundamentalsatz war: Der Junge muß seine Pflicht tun. Was seine Pflicht sei, das bestimmte ihm der gedruckte Lehrplan und seine Lehrer. Wir Modernen fordern, daß die Pflicht den Kindern nicht mechanisch aufgezwungen, sondern ihren persönlichen Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Kräften angepaßt werde. Wir bekämpfen eine Erziehung, die ihrer kindlichen Natur nicht gemäß ist und ihnen die Arbeit verleidet.

Mit der »verdammten Pflicht und Schuldigkeit« allein ist es nicht gemacht. Auf so rohe Rezepte reagiert das feinere Leben ablehnend und feindlich. Eine Freude, zu sehen, daß die Natur darauf mit Mißerfolgen antwortet. Es ist nicht wahr, daß in der Zeit strengster väterlicher Autorität die Erziehung besonders edle Früchte gezeitigt habe. Im Gegenteil: Familienkonflikte und als Folge gescheiterte Existenzen waren damals eine allgemeine Erscheinung. Gerade in Königsberg und Ostpreußen, wo mißverstandener »Kantischer Geist« am unerbitterlichsten wütete, hatte fast jede Familie ihren häuslichen Krieg mit seinen Opfern. (Vgl. L. Passage a. a. O. oder Fanny Lewalds Roman: »Die Familie Darmer«.)

Kein Erzieher unserer Zeit ist für unsere Forderung früher und195 lebhafter eingetreten als Berthold Otto in Groß-Lichterfelde.[15] Ihn zu hören, verlohnt sich. Denn er spricht keinen Gedanken aus, für den ihm sein wissenschaftliches Gewissen und seine Lebenserfahrung nicht sichere Gewähr gäbe. Deshalb wiegen mir seine Sätze alle so schwer. Es sind Selbstbekenntnisse. Dazu kommt, daß mich meine eigenen Erfahrungen in Haus und Schule vielfach zu gleichen Urteilen geführt haben. Sind wir damit im Rechte, so läßt sich unsere staatliche Schule in ihrer jetzigen Gestalt nicht mehr lange halten.

»Der Zwang,« so lehrt er, »taugt im Unterricht gar nichts; er taugt auch gar nichts, wenn er sich gegen den Lehrer richtet. Ja, man kann kaum im Zweifel darüber sein, daß viele Mißstände in unserem Unterrichtswesen auf dem Zwang beruhen, der auf den Lehrer ausgeübt wird. Darum ist unsere Losung: Keinen Zwang, nicht einmal den Zwang, zwanglos zu unterrichten!« Es gilt ihm, bei der Lehrerschaft wie bei den Eltern die Erkenntnis zu verbreiten, auf der seine ganze Arbeit beruht: »daß das Kind ganz von selber geistig heranwächst zu einem brauchbaren Teil des Volksgeistes, innerhalb dessen es mit uns lebt, daß die ganze Aufgabe des Lehrers vielmehr darin besteht, diese Entwicklung, dieses »Erwachstum« zu beobachten, als es zu beeinflussen; daß es für den Lehrer der höchste Ruhm wäre, wenn er von sich sagen könnte, er habe niemals die Erkenntnisfreude eines Kindes gestört«. Er schilt mit196 Recht auf die Kurzsichtigkeit der Lehrer, wenn sie die Dichtung des Kindes als Lüge auslegen oder Vorstellungsermüdung als Bockbeinigkeit, Interessenüberhastung als Faulheit – alles, wie er sagt, alltägliche Fehler im Unterricht, deshalb doch schleunigst abzustellen. »Ja, die meisten Verurteilungen, die wir unseren Mitmenschen angedeihen lassen, beruhen auf solchen falschen Interpretationen.« Sehr richtig! Deshalb nannten die Griechen das Verzeihen ein Miterkennen (συγγιγνώσκειν), deshalb sagen die Franzosen: Tout comprendre, c'est tout pardonner.

Weiter: »Das Wachstum und die Entwicklung unseres Geistes vollzieht sich fast ausschließlich in seiner Eigenbewegung von Vorstellungen. Wenn diese Erkenntnis allgemein geworden ist, dann – so folgert Otto – hat für die Kinder alle Qual des ›Beibringens‹ ein Ende; dann weiß man eben, daß man damit höchstens das Geistesleben mit einer Anzahl von Fremdkörpern belastet, aber seine Entwicklung niemals fördern, sondern nur hemmen kann, und dann wird man erschrecken vor der Ungeheuerlichkeit, dem heranwachsenden Kinde tagein tagaus, von Stunde zu Stunde vorschreiben zu wollen, womit es sich beschäftigen, was es denken soll.« Zum Glück kann er sich dabei auf Plato berufen, denn das gibt ihm Halt und Schutz den altklassischen Schulorthodoxen gegenüber. Plato sagt nämlich in der Politieia (536 E): »Das freigeborene Kind darf keinen Lehrgegenstand sklavisch erlernen. Der Körper freilich, dem man gewaltsam Strapazen aufnötigt, wird dadurch nicht geschädigt, aber in der Seele haftet keinerlei aufgezwungene Erkenntnis.«

Auch zum sittlichen Handel – und das geht uns hier besonders an – wird man nach B. Ottos Meinung nur durch die Übung im sittlichen Handel erzogen, niemals aber lediglich durch moralistische (»moralinsaure«) Redereien irgendwelcher Art. Er selbst ist der schweigsamste und vielleicht gerade dadurch wirksamste Erzieher. Die »Drönbartels« aber auf Kanzel und Katheder richten erfahrungsgemäß wenig aus. Es sei denn, daß sie Heiterkeitserfolge erzielen.

»Der Lehrer und der Erzieher kann als Persönlichkeit den Zögling begeistern und dann in ihm Begeisterung auch für andere Dinge und Persönlichkeiten entzünden. Aber wem das nicht von selber gelingt, dem hilft auch keine Anweisung dazu.« – »Die197 Gegenwartschule ist eine Zwangsanstalt, in der geistige Leistungen als sittliche Pflicht gefordert werden, die Zukunftsschule wird ein Erkenntnisorgan sein, innerhalb dessen die Kinder im freien Spiel ihrem eignen Triebe folgend ihren Geist an den Aufgaben des Volksgeistes versuchen und so auf die natürlichste Weise dem Volksgeist anpassen können.«

B. Otto hofft auch, daß der Volksgeist an reiner Erkenntnis dereinst reichlichen Zuwachs wieder durch den frischen und unverdorbenen Kindersinn erfahren würde, und beruft sich dabei auf Erfahrungen, die er und seine Anhänger schon jetzt im geistigen Verkehr mit Kindern machen. Bei diesem Verkehr wird, wie er abschließend sagt, »unser Denken klarer, unser Empfinden reiner; Lüge und Phrase weichen vor dem fragenden Kinderauge zurück«.

Hier findet man unbewußte Verwandtschaft mit den Erziehungsreformen des Amerikaners John Dewey, der als Professor der Pädagogik an der Universität in Chicago auch den Kampf gegen die »mittelalterliche Lernschule« zu gunsten einer Lebensschule organisiert hat. Seine Vorträge »school and society« (deutsch von Else Gurlitt: »Schule und öffentliches Leben«, Hermann Walther, Berlin) und mehr noch die praktischen Erfahrungen, die man mit den neuen Methoden in Amerika und England macht, zwingen zu ernster Beachtung.

Auch Dr. Hans Kleinpeter,[16] ein österreichischer Schulreformer, betrachtet die Umgestaltung des Mittelschulunterrichtes auf Grund des Arbeitsprinzips als eine der dringendsten kulturellen Aufgaben der Gegenwart. Denn leider sind wir in dieser Hinsicht jetzt schon anderen Kulturstaaten gegenüber im Rückstande. Amerika und England haben bereits ihren naturwissenschaftlichen Unterricht auf diese neue Grundlage gestellt, Frankreich hat in seinen Realschulen praktische allgemein verbindliche physikalische Schülerübungen eingerichtet, Deutschland hat eine ganz auf diesem Prinzip aufgebaute Privatschule (Wertheim a. M.)[17] und kürzlich hat der198 Magistrat der Stadt München auf Veranlassung des hochverdienten Schulreformers und Schulrates Dr. Kerschensteiner beschlossen, vom Jahre 1907 ab den Unterricht in der achten Volksschulklasse auf diese Grundlage zu stellen.

Schwierigkeiten wird es natürlich wie bei jeder neuen Einführung geben, aber sie werden nicht unüberwindlich sein. Selbst dort, wo Geldmittel zur Errichtung von Schülerwerkstätten fehlen, steht uns ein großes und schönes Laboratorium kostenlos zur Verfügung, das Laboratorium der Natur. Um darin zu arbeiten, bedarf es vor allem der Zeit. Darum überall fort mit dem theoretischen Nachmittagsunterricht! Der Nachmittag muß von 12 Uhr ab frei bleiben (wenn um 8 Uhr begonnen wird), teils für den praktischen Unterricht, teils zu körperlicher Kräftigung oder Erholung.

Eine wichtige unerläßliche Forderung ist auch der obligatorische Zeichenunterricht in allen Klassen; er ist viel wichtiger als der Unterricht in fremden Sprachen.

Mit Utopien also hat man es hier nicht zu tun. Diese Gedanken haben z. T. die Proben schon bestanden. In die öffentlichen Massenschulen werden sie sich allerdings schwer übertragen lassen, aber deshalb sind sie nicht unbrauchbar. Man wird eben darauf zu sinnen haben, wie man sich den hier gesteckten Zielen auch in den öffentlichen Schulen nähern könne. »Wo ein Ziel ist, da ist auch ein Weg,« sagt man in England.

Wenn Kinder eignes Verlangen nach Erkenntnis haben, da soll man sie gewähren lassen und ihnen hilfreich entgegenkommen. Sie wollen ja geistig wachsen, und zwar jedes Kind auf seine Art, nach Maßgabe der ihm angeborenen Kräfte und Triebe. Sie fragen deshalb mehr, als ihnen alle Weisen der Welt beantworten können. Man warte daher, bis diese Wißbegier mit ihren Fragen sich meldet. Dann, aber dann erst belehre man sie!

In der Schule verfährt man anders. Man füttert, überfüttert sie dort geistig, ehe ein Hunger nach Erkenntnis verlangt. Schreien Kinder nach geistigem Brot, dann gebe man ihnen Brot, nicht aber Kuchen, Konfekt oder Medizin. Unsere Schulpädagogik kennt auch diese elementare Diätetik der Seele nicht. Sie ist eben ein Produkt der geschichtlichen Entwicklung, nicht der biologisch-psychologischen Erkenntnis. Sie ist falsch von Grund auf.

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Sie erzieht nur Lüge, weil sie vom Kinde Teilnahme fordert, wo keine da ist, keine da sein kann; sie macht die Kinder träge, weil sie in ihnen den eignen Erkenntnistrieb erstickt; sie macht sie stumm, weil sie ihnen zumutet, über Dinge zu sprechen und in einer Sprache darüber zu sprechen, die ihnen fremd und gleichgültig sind. Sie macht sie zu berechnenden Strebern, weil sie anstatt des Sachinteresses und der selbstlosen Hingabe an das Objekt, den Ehrgeiz, die Sucht nach Anerkennung und äußeren Nutzen setzt; sie nimmt den Kindern ihre natürliche Lebensfreudigkeit, weil sie sie aus ihrer Traum- und Spielwelt, aus ihrem sonnigen Kinderparadies vorzeitig in eine öde Welt von Gesetzen zwingt, von Dogmen und Regeln, die ihnen natürlich das Herz kalt und erstarren machen; sie zerstört ihnen oft sogar das häusliche Glück an der Seite ihrer Eltern und Geschwister, weil sie ihnen eine Menge von Pflichten auferlegt, die ihr junges zartes Gewissen zu schwer belasten und als Schulfurcht andere edle Regungen des Herzens verdrängen; sie nimmt ihnen das Köstlichste, was sie mit ins Leben bekommen, ihre Eigenart, um sie in das langweilige Schulschema einzuzwängen; sie fragt wenig nach Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Stimmungen der Kinder und schätzt die Gebote der Schulorganisation und Schulverwaltung viel zu hoch ein.

Uns Eltern aber sind die Schulen gleichgültig, uns interessieren nur unsere Kinder. Was nützt es uns, wenn die Schulen blühen, unsere Kinder aber verblühen? Was nützen uns die glänzendsten Zeugnisse und die besten Examina, wenn dabei unsere Kinder nicht innerlich erstarken und reifen?

Bildung ist uns nicht die Hauptsache, sondern freie und vielseitige Entfaltung der Persönlichkeit. Bildung ist auch nichts Äußerliches. Man kann Bildung an einen Menschen nicht anwerfen wie Stuck an eine Hausfassade.

Unsere Schulpädagogik glaubt aber jedem jedes zu jeder Stunde nahebringen zu können. Die Sprache selbst verurteilt schon dieses Verfahren. Was man einem nahebringt, das ist und wird nicht dessen Besitz und Eigenstes, das haftet ihm bestenfalls nur äußerlich an und fällt ab, sobald die Natur sich selbständig äußert und entwickelt. Ja, man will in der Schule den Kindern sogar Dinge nahe- oder beibringen, die sie selbst schon besitzen und vielleicht in besserer,200 gewiß für sie und ihr Bedürfnis besserer Qualität, als das, was ihnen mühsam eingepaukt wird: Ich meine da vor allem die Muttersprache und den Sinn für Kunst jeder Art. Und alles das, was derart an die Kinder herangeschleppt wird, müssen sie hinunterwürgen. Warum? Weil es ihre Pflicht ist.

Die Pflichten, die wir der Jugend predigen wollen, lauten anders, etwa so, wie es Ellen Key formiert hat:

»Sich vor dem Unendlichen und Geheimnistiefen innerhalb des irdischen Daseins und jenseits desselben beugen, die echten sittlichen Werte unterscheiden und wählen; von dem Bewußtsein der Solidarität des Menschengeschlechtes durchdrungen sein und von seiner eigenen Pflicht, sich um des Ganzen willen zu einer reichen und starken Persönlichkeit auszubilden; zu großen Vorbildern aufblicken; das Göttliche und Gesetzmäßige im Weltall, im Entwicklungsverlauf, im Menschengeiste anbeten – dies sind die neuen Handlungen der Andacht, die neuen religiösen Gefühle der Ehrfurcht und Liebe, die die Kinder des neuen Jahrhunderts stark, gesund und schön machen werden.«

Mich freut, daß mein Kampf »gegen die Pflichtbanausen« (»Der Deutsche und seine Schule«, Berlin, Wiegandt & Grieben. 2. Auflage 1906 S. 148 ff.) schon einiges Echo gefunden hat. Jetzt lese ich, daß – jedenfalls unabhängig von mir – eben auch Ellen Key diesen Kampf aufgenommen hat. Ihr Werk: »Der Lebensglaube, Betrachtungen über Gott, Welt und Seele« mit dem Inhalte: Das Verschulen des Christentums, Die Umwandlung des Gottesbegriffes, Der Lebensglaube, Das Glück als Pflicht, Die Evolution der Seele als Lebenskunst, Ewigkeit und Unsterblichkeit« (Verlag S. Fischer, Berlin W.) lernte ich erst mit Abschluß dieser Schrift kennen. Was sie über Pflichten sagt, befriedigt nicht sehr.

Sie schreibt neuerdings in dem »Blaubuch« (1906 Nr. 33, S. 1280):

»Nichts zeigt besser, in welchem Grade die Menschen von Phrasen leben und in Phrasen sterben, als daß man meine Behauptung, daß man durch Pflichterfüllung krank an Seele und Körper oder zum Selbstmörder werden kann, als ›Phrase‹ abfertigen zu können glaubte. Daß z. B. Arbeit ohne Rücksicht auf etwas anderes als die Pflichterfüllung unzählige Menschen für immer gebrochen hat, ist doch eine201 so häufige ärztliche Erfahrung, daß dies allein die Notwendigkeit eines individuellen Pflichtmaßes auf diesem Gebiet beweist, gar nicht davon zu reden, wie geistig kraftaussaugend die Überanstrengung werden kann. Eine Ärztin hat kürzlich betont, daß die neuen Begriffe der Arbeitshygiene unserer einstmaligen Bewunderung für ›den Schein der Arbeitslampe in der Nacht‹ unbarmherzig den Garaus gemacht haben. Denn der, für den die Lampe häufig brennt, sitzt bald als ein schlafloser Nervenkranker davor, sich selbst und anderen zur Qual.«

Anders dachte das erste preußische Unterrichtsministerium des Freiherrn von Allenstein und sein Leiter des gelehrten Unterrichtswesens Johannes Schulze, so recht eigentlich der Vater unseres Gymnasialpflichtbegriffes, ein Erbe Hegelscher Allerweltsbildung, ein Schüler des altklassischen und allzu klassischen Philologen Fr. Aug. Wolf, ein Mann, der von 1814–1858, also 40 Jahre lang, gegen die Gesundheit der deutschen Gymnasiasten bei bester Gesinnung doch – gefrevelt hat.

Es ist gut und nützlich, die Wurzeln des Übels kennen zu lernen und im Auge zu behalten. Er schrieb amtlich, daß man »den Schülern der oberen Klassen wohl zumuten kann, sich täglich fünf Stunden hindurch außer der Schulzeit – dabei hatten die Schüler schon täglich sechs Schulstunden! – zu beschäftigen, sei es mit Lösung der ihnen in der Klasse gestellten Aufgaben oder mit frei gewählten Arbeiten, während für die Schüler der unteren Klassen – wieder bei sechs Schulstunden! – drei andere genügen mögen«.

Dieses »genügen mögen« ist köstlich. Man sieht: elf Stunden täglicher Sitzarbeit für die größeren Schüler von 15–20 Jahren, neun Stunden für die kleineren von 8–14 Jahren erscheint ihm als das bescheidenste Pflichtmaß, das er seinem Herzen abzwingen kann. Schauderhaft! Höchst schauderhaft!

Die im Amte stehenden preußischen Lehrer und Direktoren leben vereinzelt noch unter dem Eindrucke und der Nachwirkung dieses krankhaft ausgearteten Pflichtgebotes, dem man die Jugend opferte – körperlich und geistig – und auf das man sich trotzdem »höllisch was« einbildete. Man nannte das Kantschen Geist und meinte dadurch Königgrätz und Sedan gewonnen zu haben. Etwa, auch Roßbach und Leuthen? Noch heute leben unter uns solche202 Pflichtfanatiker, die sich groß dünken, wenn sie ihre Schüler bis zur Erschöpfung an den Schreibtisch fesseln – »zu treuer Pflichterfüllung«. Man muß diese grimmen Herren nur hören, wie sie sich über uns »Modernen« ereifern! Da schreibt einer, der sich als »Abiturient von 1883« vorstellt, aber trotz aller Forschheit in seiner Mannesbrust den Mut nicht findet, sich uns offen zu stellen:

»Der junge Mann soll jetzt nicht mehr zu ernster, strenger Arbeit erzogen werden, sondern wie ein Schmetterling von Blüte zu Blüte flattern, und die Schule soll ihm das bieten, was ihm ›interessant‹ ist. Das ist die moderne ›Waschlappenerziehung‹, die am schärfsten Kritik übt an der altbewährten Einrichtung unserer Gymnasien. Das Abiturium ist der Schlußstein der Gymnasialzeit, es stammt aus der Fichtezeit, als das Bewußtsein der Pflicht zu straffer Erziehung das Volksgewissen durchdrang (und – gestatten Sie Herr Kollege, daß ich Sie unterbreche – und als das System Metternich in Kraft war, das jede leise Regung jugendlicher Frische und Kraft als staatsgefährlich schon im Keime erstickte). Es hat nie jemand der deutschen Wissenschaft den Rang streitig gemacht, solange das humanistische Gymnasium mit seinem Abiturientenexamen die Gebildeten unseres Volkes erzog. (Entschuldigen Sie noch eine Unterbrechung: Auch vor dem Abiturientenexamen stand Deutschland in dem Rufe, der Sitz aller Musen zu sein. Lessing, Herder, Goethe, Schiller, Hebbel, e tutti quanti sind nicht durchs Abiturientenexamen gegangen.) Die reformierten Schulen sollen erst noch ihre Berechtigung nachweisen vor der Geschichte, daß sie die Wissenschaft auf der Höhe halten. (Schulen haben gar nicht die Aufgabe, Wissenschaftler heranzubilden. Dazu sind die Hochschulen da, wie uns oben schon Prof. Dr. Rudolf Hildebrand belehrte.) Mit hygienischen Bedenken aber komme man bitte nicht! (Wirklich nicht!?) Ist unsere Jugend zu schwächlich, um das ernste Arbeiten zu ertragen, dann sind wir überhaupt fertig. (Eine chinesische Anschauung! Vivant examina, vivant, floreant, crescant! pereat inventus!) Ich habe das Abiturientenexamen gemacht, als es noch entscheidend war (heute entscheiden die Klassenleistungen), und – das gehört zu den schönsten Erinnerungen meines Lebens (im Grunde doch ein bescheidener Mann! Da stelle ich an meine Lebenserinnerungen höhere Ansprüche!), das stolze, den Charakter stählende Bewußtsein (das zum Grabe wallenden203 Greisen noch in Träumen den Angstschweiß auf die Stirnen treibt!), sich durchringen zu müssen mit eigner Kraft, nein, das soll unserer vielgefährdeten Jugend keiner nehmen!« (Tägliche Rundschau 1906 Nr. 296.)

»Gut gebrüllt, Löwe!« Aber – wie unklassisch gedacht! Nennen Sie mir einen griechischen Heros auf irgendeinem Gebiete der Kultur, der sich sein Recht, ein Großer zu sein, erst von einer Schulbehörde amtlich bestätigen ließ!

Ich kenne selbst persönlich auch solche Examensfreunde. Es sind meist rein rezeptive Naturen. Der Lehrer sagt es ihnen vor, sie behalten es in einem feinen Herzen und geben es dann nach Befehl wieder reinlich zurück – (eine eigene Passion, ein krankhafter Sport, eine Art geistigen Hürdenreitens!) –. Ich kannte einen, der ließ sich zum Vergnügen immer wieder prüfen, machte seinen Doktor in allen möglichen Fakultäten, bestand alle Prüfungen glänzend, war aber dabei ein Durchschnittsmensch, von dem die Welt keinen weiteren Nutzen gehabt hat. Er ist jetzt tot. Auf seinem Grabstein müßte zu lesen sein: »Er bestand alle Examina mit I! R. i. p!« – Ich wiederhole, was Theodor Fontane sagt (man findet jetzt dessen kostbare Lebensweisheit wie in Gold gefaßt in dem »Fontanebrevier« von Olga und Heinrich Spiero Berlin, F. Fontane & Co. 1905, ein köstliches Büchlein!). Fontane also sagt: »Alles, was mit Grammatik und Examen zusammenhängt, ist nie das Höhere. Waren die Patriarchen examiniert, oder Moses, oder Christus? Die Pharisäer waren examiniert. Und da sehen Sie, was dabei herauskommt.« Das Höhere wollen aber doch wohl »höhere« Schulen leisten?

Auch Arthur Schulz (der Herausgeber der »Blätter für deutsche Erziehung« 1906, Heft 7) führt unseren Freund, der sich um Deutschlands Zukunft willen für Beibehaltung des Abiturientenexamens so sehr erwärmt, kräftig und überzeugend ab. Er verweist auf ein Wort Bismarcks, das wohl schwerer wiegt, als das jenes Musterschülers mit seinem Examenstolze, der für das ganze Leben vorhält. Bismarck sagt: »Wir gehen an unsern Examinibus zugrunde! Die meisten, welche sie bestehen, sind so abgewirtschaftet, daß sie zu eigner Initiative unfähig sind, sich bei allem, was an sie herankommt, möglichst ablehnend verhalten und, was das Schlimmste ist, eine große Meinung von ihrer Fähigkeit haben, weil sie siegend aus allen diesen Examina hervorgegangen sind.«

204

Weiter sagt Schulz über die »Waschlappenerziehung«, die wir nach der Meinung der Gegner erstreben: »Es ist das ein Kniff dieser Herren, stets zu behaupten, wir würden die Jugend nicht zum ernsten Arbeiten erziehen. Wer sich aber nur einigermaßen mit unseren Bestrebungen vertraut gemacht hat, der weiß sehr wohl, daß gerade wir alle Kräfte der Jugend auslösen wollen. Unsere Gegner können oder wollen nicht begreifen, daß außerordentlich viele Anforderungen, die man an die Schüler stellt, von diesen nur deshalb nicht erfüllt werden können, weil man mit den Anforderungen zur unrechten Zeit kommt. Und wenn wir behaupten, daß viele Arbeiten, zur rechten Zeit gefordert, spielend bewältigt werden würden, so sagen sie uns nach, wir wollten gleichsam zum Spielen anleiten. Im Gegenteil!

Wir wünschen, daß möglichst alle Kräfte, die in unsern Kindern schlummern, entwickelt und zu höchsten Anstrengungen gesteigert werden, zu ganz anderen Anstrengungen, als man sich heute träumen läßt. Denn wir wissen, daß jeder, der eine seiner Entwicklung und seinen Kräften angemessene Arbeit unternimmt, diese mit Lust und Liebe, mit Zähigkeit, Geduld und Ausdauer und daher auch mit Erfolg leistet.«

Diese Abwehr schließt mit einer Betrachtung, die den Anbetern des bisher in unsern höheren Schulen herrschenden Erziehungssystems eine bittere Pille sein wird. Nach dem Grundsatz »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen« sieht er sich die ehemaligen Gymnasiasten aus dem Pflichtgebiete der Ära von Allenstein, Joh. Schulze usw. etwas näher an und sagt: »Wenn man schon von Waschlappenerziehung reden will, so hätten wir allen Grund, dieses Wort auf den gegenwärtigen Unterrichtsbetrieb zu beziehen. Denn wenn wir uns die vornehmsten Früchte, die Gymnasiallehrer selber, und ihr Verhalten zu einer der wichtigsten Fragen, nämlich der Religionsfrage, ansehen, welches Urteil sollen wir da fällen? – – Merkt man etwa, daß der Gymnasiallehrerstand in seiner Gesamtheit heute etwas tut, um unser Volk aus der herrschenden Heuchelei und Lüge zu erretten? Wo ist dieser Stand denn geblieben, als der Kampf um den Religionsunterricht tobte? Unwissend, ohnmächtig oder feige hat er diesen Kampf allein den Volksschullehrern überlassen. Auch andere ungeheuer bedeutsame Kämpfe werden heute im öffentlichen Leben ausgefochten. Wo steckt aber dabei der Gymnasiallehrerstand? Ja, ja: ›Waschlappenerziehung‹!«

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Wir brauchen so bitter nicht zu werden, müssen aber doch bei unserer Behauptung verbleiben, daß man Pflichten dem Menschen mit Brutalität nicht aufzwingen darf, weil sie dann weder bekömmlich, noch beglückend und segenbringend sind. Ganz so urteilt eben Ellen Key:

»Die Pflichtmoralisten handeln noch immer nach dem Aberglauben, daß, wenn man nur seine Pflicht erfüllt, Gott schon die Kraft gibt. Der Lebensgläubige weiß, daß wir ein und dieselbe Kraftquelle für Leib und Seele haben und daß die Natur sich ebenso unbarmherzig rächt, ob wir uns nun in Pflichterfüllung oder in Pflichtvergessenheit überanstrengen. Die Natur ist gleichgültig gegen alle a priori ausspintisierte Sittlichkeit. Aber sie begünstigt die Sitten, die in Zusammenhang mit dem lebenserhaltenden und lebensteigernden Willen der Natur stehen. Und sie straft die Sitten, die diesen Willen verletzen.« – – Weiter sagt sie zutreffend:

»Alle haben von Männern gehört, die z. B. am Ladentisch und Schreibpult schlechte Pflichtschüler waren, als sie aber diesen Posten verließen, Gesellschaftswerte wurden. Und was von der Arbeit gilt, das gilt auch auf den übrigen Lebensgebieten. Der heilige Franziskus vermochte die Armut geliebt zu machen, weil er ›sie selbst wie eine Braut liebte.‹ Es gibt unerträgliche Pflichterfüller, die ihre Umgebung nach ein wenig Pflichtvergessenheit seufzen lassen, sowie man bei einem anhaltenden Regen nach Sonne seufzt. Das Leben wird für alle durch die Pflicht Unterdrückten schwühl und ängstlich.«

Soviel wissen also meine Leser jetzt schon: Mein Rezept für eine Erziehung zur Mannhaftigkeit wird nicht eben darin bestehen, daß ich eine harte Schulzucht empfehle und die Eltern bitte, nur auch recht streng darauf zu halten, daß die Kinder ihre Schulaufgaben fleißig machen. Leider beschränkt sich schon vieler Eltern erziehliche Tätigkeit allein darauf, die tyrannische Schule noch zu übertyrannisieren. Vom »Büffeln« wird aber unsere Jugend nicht mannhafter. Die Mannhaftigkeit hat ihren Sitz im Herzen der Menschen, nicht in ihrem Steiße.

Auf die grünen Spielplätze, nicht auf die Hörsäle hinweisend sagte Wellington: »Hier werden unsere Siege erfochten« (oder so ähnlich); kein Grieche und Römer hätte eine tägliche zehnstündige206 Sitzarbeit für das rechte Mittel erklärt, die Jugend zu tüchtigen Männern heranzubilden. Unsere Ärzte verurteilen von Grund aus die nervenzerrüttenden Stubenhockerei, eine der Hauptursachen überreizter und irregeleiteter Sinnlichkeit. Sogar klüger werden die Kinder nicht innerhalb der vier Wände, als wenn sie im Freien sich umsähen. Schon der heilige Bernardus (»Von Zeit zu Zeit hör ich die Alten gern!«) sagte zu denen, die in seinen Orden traten: »Glaubet mir, ich rede aus eigener Erfahrung, ihr werdet in den Wäldern finden, was ihr vergebens in den Büchern gesucht hättet. Die Bäume und Felsen werden euch lehren, was ihr von den geschicktesten Meistern nicht hättet lernen können.«

Mein Ruf wird auch hier sein ähnlich wie der der tapferen Bertha Suttner: »Abrüsten! Den Bakel nieder!«

Zweiter Fundamentsatz alter Erziehung: »Der junge Mensch muß gehorchen lernen!« Gut. Aber wem gehorchen? Den Gesetzen? – Natürlich! Den Behörden? Auch das. Freilich lehrte schon der weise Sokrates seine Jünger, daß es auch veraltete, törichte Gesetze und sehr ungerechte, kurzsichtige Behörden gebe. Es wird also nichts schaden, den jungen Leuten gelegentlich auch mal zu sagen, daß Gesetze und Behörden Menschenwerk sind und daß sie selbst einmal berufen sein werden, beide auf ihren Wert zu prüfen und sie nötigenfalls abändern zu helfen.

»Gehorchen muß vor allen Dingen das Kind den Eltern und Erziehern.« Das werden auch wir heute der Jugend mit aller Eindringlichkeit zur Überzeugung bringen. Vorher wollen wir aber besser dafür sorgen, daß Eltern und Erzieher nicht Unbilliges von den Kindern fordern. Dann wird der Zwang von selbst fortfallen und freiwilliger Gehorsam sich einstellen. Denn das Verhältnis der Kinder zu ihren Erziehern soll auf Liebe und Verehrung, auf gegenseitigem Verständnis aufgebaut sein.

Weil die menschliche Natur unerschöpflich reich ist und keinem Kinde endgültig anzusehen, wohin diese seine Natur es führen will, deshalb fordern wir größte Zurückhaltung. Schumann, der feinsinnige Meister der Töne, sagt: »In jedem Kinde liegt eine wunderbare Tiefe.«

Der Versuch, tausendfach gemacht, die Natur nur nach dem Willen des Erziehers zu richten und zu beugen, hat bestenfalls rein207 äußerlichen Erfolg. Dank erntet der Erzieher selten dafür, je größer seine Anstrengung war, um so weniger. Denn nichts empfindet der Mensch tiefer und schmerzlicher, als einen Eingriff in seine innerste Bestimmung. Die schneidigen Erzieher in Schule und Haus, die Pauker und Krafthuber, gelten uns heute als die schlechtesten.

Es ist höchst lehrreich zu beobachten, wie jetzt auf allen Gebieten der Erziehung, sogar im deutschen Heere, humanere Anschauungen zum Durchbruch kommen – gewiß nicht zum Schaden der Sache, der man dienen will: General Freiherr von der Goltz berichtet in seinem Werke »Von Roßbach bis Jena und Auerstedt«, daß die preußische Truppenausbildung vor Jena allgemein als die beste in Europa galt, daß auch die Manöver, die nach der Katastrophe einstimmig als Spielerei verurteilt wurden, noch kurz vorher weltberühmt waren und allenthalben von den Militärs, auch von den ausländischen, bewundert wurden. An Pflichterfüllung und Gehorsam gebrach es diesen Truppen wahrlich nicht. Was sie innerlich vernichtet hatte, war das Übermaß des Dienstes, oder, um unseren Gewährsmann selbst sprechen zu lassen: »die Strenge in Äußerlichkeiten, den Stampfschritt, das Drillen bis zum Mondschein, die klappernden Gewehrgriffe und die unendlichen Wiederholungen bei den Exerzitien, die man so lange trieb, bis alle Frische fort und der Stumpfsinn erzeugt war«. »Mit solchen äußerlichen Mitteln«, schließt von der Goltz ein Kapitel, das auch für die Lehrer bedeutungsvoll ist, wofern sie verstehen, diese eindringlichen Lehren auf ihr Machtgebiet zu übertragen, »mit äußerlichen Mitteln wird man niemals moralisch erhebend wirken und eine Armee auf der Höhe der Leistungsfähigkeit erhalten. Für ›gute Disziplin‹ wurde das Aufgeben aller Selbständigkeit, die absolute Unterordnung des eigenen Willens unter den Wunsch der Höhergestellten, der Meinung unter die herrschende Strömung gehalten. Die außerordentliche Bevorzugung einzelner bei dem schlechten Avancement der Masse beförderte zugleich ein Strebertum, das verderblich wirkte.« Das also sagt einer unserer ersten Militärschriftsteller und Truppenführer und kennzeichnet damit zugleich den neuen, freieren Geist, der jetzt, gottlob, unser Heerwesen zu durchdringen beginnt.

Wieviel mehr werden auch wir den Schulkindern gegenüber Geduld und Nachsicht üben müssen!

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Wenn man selbst in den preußischen Kaserne gegen das öde Griffekloppen und die stumme absolute Unterordnung des eigenen Willens eifern darf, mit welchem Recht sollten denn Schulen bei einer liebevollen Pflege des Kasernentones verharren?

Was ist es aber anderes, als ein geistiges Griffekloppen, wenn man die Kinder im alten Schuldrill alle über einen Leisten schlägt und auf ihre Schädel mit allem möglichen oder unmöglichen Formelkram und Wissensballast einstürmt? Weg mit dem Gebrest!

Niemand wolle sich aber über unsere Erziehungsgrundsätze allzu sehr verwundern. Denn in früheren Zeiten hat man in Deutschland vielfach so erzogen und unterrichtet, ehe nämlich noch unsere Schulen Staatsmonopol waren. Damals, etwa um die Zeit der großen Pädagogen Ratke und Comenius, Anfang des 18. Jahrhunderts, lag der höhere Unterricht fast nur in den Händen von jungen Hauslehrern, woher wohl der sanftere, geduldigere Ton zu erklären ist. Auch Ratke stellte schon den Grundsatz auf: »Alles ohne Abneigung und Zwang!«

Wir Modernen walten des Erzieheramtes in seinem Geiste, im Geiste eines Comenius, Rousseau, Fröbel, eines Pestalozzi als Menschengärtner, also mit pflegender, milder, schonender Hand.

Auch wir sind auf unsere Weise fromm und gläubig. Gläubig nämlich an die Gutheit der menschlichen Natur, wie vor mehr als 1500 Jahren der gute alte Pelagius, ein britischer Mönch, der von der Erbsünde auch schon nichts wissen wollte und die Lehre vertrat, daß der Mensch, in demselben sündlosen Zustand wie Adam geboren, sündlos bleiben oder doch werden könne. Darin bestehe die sittliche Aufgabe des Menschen, der sich nach Christi Vorbild aus eigener Kraft seine Seligkeit erringen müsse. Die Kirche verwarf diese schöne Lehre. Darunter hat die christliche Menschheit anderthalb Jahrtausende zu leiden gehabt, zumal die Kinder, die, als sündhaft geboren, nun immer durch eine oft recht unsanfte Zucht erst zu Menschen gemacht werden mußten. Man denke an die Mißgriffe der mittelalterlichen klösterlichen Erziehung, die uns niemand erschütternder gezeichnet hat als Gottfried Keller in seinem Bericht über das kleine Meretlein (im »Grünen Heinrich«), das nicht beten wollte und deshalb zu Tode gehetzt wurde; denke auch209 an die Pietistenschulen, in denen man armen Kindern, die noch nicht in rechte »Seelengemeinschaft mit ihrem Heiland« kommen konnten, zur Pflicht machte, »im Gebet mit Gott zu ringen«, und denen man, wenn ihnen auch das nicht recht gelingen wollte, auf die »Seelen kniete«, wie man es sinnig nannte.

Welch ekelhafte Unnatur! Welch brutale Menschenschinderei aus frommem Wahne!

Wir glauben an keine Erbsünde, wohl aber an das Erbgute. Wir haben mit Goethe die Überzeugung von dem Radikalguten der menschlichen Natur und wollen nicht, wie »der Advokat des bösen Geistes« nur auf die Blößen und Schwächen sehen; denn »der Glaube an das Gute ist es, der das Gute lebendig macht; man muß das Gute tun, damit es in der Welt sei«.[18]

Wir sind ferner auch gläubig an die Prädestination, das Recht und die unbezwingbare Kraft der Persönlichkeit.

Fast jeder Tag bringt jetzt so kräftige Kundgebungen zugunsten dieser unserer Erziehungsgrundsätze, daß uns froh zumute wird und siegeszuversichtlich. Aus allen Gauen Deutschlands, ja, aus allen Enden, wo germanischer Geist lebt, dringen die Rufe der Zustimmung und stets neue Anregung, neue Belehrung auf uns ein.

Die Eltern jubeln uns zu, die junge Lehrerschaft ist zumeist schon gewonnen, mehr noch die Studenten, die sich schon von mehreren Hochschulen mit der Bitte an uns gewandt haben, ihnen Vorträge und Lehrkurse über diese Pädagogik zu halten. Besonders lebhaft setzt die Agitation im deutschen Österreich ein. Da hat die Lehrerschaft eine wahre Begeisterung ergriffen. Da fühlt man, daß wir mit diesen Erziehungsgrundsätzen ihnen zugleich ihr bedrohtes Deutschtum schützen helfen. »Schon ist auch weit mehr Frische im höheren (und niederen?) Lehrerstand vorhanden, als sie manche Jahrzehnte hindurch gefunden zu werden pflegte, mehr Gefühl für die Natur der Jugend, mehr Unbefangenheit, mehr Sinn für die berechtigte Freiheit neben der notwendigen Zucht, weniger frühe Greisenhaftigkeit, weniger grämliches Mißgönnen, weniger Beschränkung auf das Fordern und Richten, mehr Bemühen um das Verständnis der210 einzelnen werdenden Persönlichkeit.« So urteilt einer der ruhigsten und menschlichsten Richter, W. Münch (»Menschenart und Jugendbildung«, S. 182). Kurz, wir dürfen hoffen und singen:

Es blüht das tiefste, tiefste Tal,
Das Blühen will nicht enden,
Nun, armes Herz, vergiß der Qual,
Nun muß sich alles, alles wenden!

Schon wird es schwer, alles zu überschauen, was dieser Frühling zutage fördert. »Der Tag« meldet mir heute (24. August) durch die Feder von Ellen Key von »Briefen an Eltern von Deiphobe«, Simions Verlag, Berlin 1906. Das muß nach den Proben, die wir da lesen, ein goldiges Buch sein: »Gehorsam, Ehrfurcht, Demut, Selbstbeherrschung, Aufblicken zu Autoritäten, Geduld, Fleiß, Hilfsbereitschaft u. dgl., was den Kindern seit Jahrtausenden gepredigt oder in sie hineingeprügelt worden ist, all das ergibt sich von selbst, wenn nur die Eltern sich ihren Kindern gegenüber zur Ehrfurcht, Geduld, Demut, Selbstbeherrschung, Entsagung erziehen wollten.«

Richtig! Wer selbst vorbildlich lebt, der braucht sich um die Erziehung und Zukunft seiner Kinder keine Sorgen zu machen. Das weiß auch Peter Rosegger, der in seinem anmutigen Geschichtchen von dem »Mann mit den sechs Händen« erzählt: »Herb sein mit den Kindern und greinen, das trug sich nicht zu, erziehen tat er sie gar nicht, er war bloß selber so, wie er die Kinder haben wollte, und sie taten ihm unwillkürlich nach.« Dieselbe Weisheit trägt er uns bekanntlich auch in seinem unübertrefflichen Geschichtchen von der »Familie ohne Autorität« vor.

Jeder Satz dieser Briefstellerin Deiphobe hat meinen Beifall. Es sind wahre Goldkörner, ist zugleich ein Hagelschauer gegen die ererbte mittelalterliche Menschenabrichterei durch Kirchen- und Schulpfaffen.

Nun noch eine Bemerkung, um ein für allemal Mißverständnissen vorzubeugen! Ein Allheilmittel für alle Gebrechen der menschlichen Seele und des menschlichen Geistes haben auch wir nicht. Wurmstichiges Fallobst findet man unter jedem noch so gehüteten Baume. Uns hat aber eigene Beobachtung und die Wissenschaft der Psychologie und der Psychopathologie gelehrt, daß man moralische und geistige Schwächen und Erkrankungen weder mit harten Reden, noch mit211 ungebrannter Asche heilen kann. Es wird jetzt von den Ärzten in solchen Fällen besonders Ruhe und »allgegenwärtiger Balsam allheilender Natur« empfohlen. Auch wir sind in der Erziehung für ein solches Naturheilverfahren und werden versuchen, nach diesem, soweit es in unseren Kräften liegt, die bestehende Erziehungspraxis umzugestalten – zum Wohle der deutschen Jugend und zum Segen für unser teures Vaterland.

Mit einem Worte also: Wir haben Achtung vor der Natur. Deshalb auch unsere Warnung vor all den Erziehungsrezepten, die ein bestimmtes Ziel vorwegnehmend dieses mit einseitigem Eifer erstreben.

»Mensch,« ruft Pestalozzi aus, »Mensch, Vater deiner Kinder, dränge die Kraft ihres Geistes nicht in weite Fernen, ehe sie durch nahe Übung Stärke erlangt hat und fürchte dich vor Härte und Anstrengung!

Die Kraft der Natur, obwohl sie unwiderstehlich hinführt zur Wahrheit, hat keine Steifigkeit in ihrer Führung; der Schall der Nachtigall tönt im finstern Dunkel und alle Gegenstände der Natur wallen in erquickender Freiheit, nirgends ist ein Schatten einer zudringlichen Ordnungsfolge.

Wäre erzwungene und steife Ordnungsfolge in der Lehrart der Natur, auch sie würde Einseitigkeit bilden, und ihre Wahrheit würde nicht in die Fülle des ganzen Wesens der Menschheit sanft und frei hineinfallen. – – Der Mensch verliert das Gleichgewicht seiner Stärke, die Kraft der Weisheit, wenn sein Geist für einen Gegenstand zu einseitig und gewaltsam hingelenkt ist. Darum ist die Lehrart der Natur nicht gewaltsam. Aber dennoch ist in ihrer Bildung Festigkeit und in ihrer Ordnung ist haushälterische Genauigkeit.«

Da hören wir die tiefe Weisheit des größten pädagogischen Genies, das je gelebt hat, dem sich alle Schulmeister mit und ohne Titel in Demut beugen sollten.

»Und doch«, so wird man fragen, »hier eine Einseitigkeit, nämlich eine Abhandlung über Erziehung zur Mannhaftigkeit? Ist das nicht ein Widerspruch?«

Mit Verlaub – nein! Denn jeder Knabe soll und will ein Mann werden. Ihm dazu behilflich sein, ist nicht nur erlaubt, sondern ist Pflicht des Erziehers. Damit greift er der Natur nicht vor, pfuscht ihr nicht ins Handwerk, sondern leistet ihr nur nützliche Dienste.


212

XIV.
Erziehung zur Tat.

Unsere ganze Erziehung muß jetzt eine Erziehung zur Tat werden, um vorerst ein Gegengewicht zu schaffen gegen die durch Jahrhunderte gepflegte rein verstandsmäßig-abstrakte Erziehung. Das war auch Goethes Wunsch schon. Dahin drängt jetzt unser ganzes öffentliches Leben und die Erkenntnis aller neuen Pädagogen aller Länder. Kein Mensch hat in Deutschland für diese Erkenntnis früher und lebhafter gewirkt als der eminente, noch lange nicht genügend geschätzte Kinderfreund Friedrich Fröbel, der einzige deutsche Erzieher, der den Amerikanern auch heute noch Respekt einflößt und vorbildlich erscheint.

Mit Recht sagte von ihm Dr. Wichard Lange: »Ich erkenne in diesem Mann den dereinstigen Reformator der Erziehung kleiner Kinder im Elternhause sowie den Bildner des weiblichen Geschlechts, um es für seine hohe erziehliche Mission zu befähigen«, aber damit sagt er noch nicht genug. Fröbels Grundsätze, die sich mit denen Pestalozzis vielfach berühren, verdienen noch eine Erweiterung auch auf die Erziehung größerer Kinder. Er klagte, daß die herrschende Erziehung zur Körperträgheit und Denkfaulheit führe; unsägliche Menschenkraft gehe dabei verloren, unsägliche Menschenkraft bleibe dabei unentwickelt. Richtig gewählte Arbeit aber mache das Kind glücklich und artig.

Adele von Portugall, die bei Teubner in der Sammlung »Aus Natur und Geisteswelt« das Lebensbild Fröbels gezeichnet hat, sagt sehr richtig: »Ich glaube nicht, daß ein entsprechend beschäftigtes Kind jemals unartig ist.« Ich möchte aber auch diesen Satz verallgemeinern und sagen: Der entsprechend beschäftigte Mensch, jung oder alt, ist nicht böse und unartig.

213

Das ganze Geheimnis der Erziehung beruht also darin, die Saite der Seele zu finden, die auf die äußeren Anregungen am lebhaftesten anklingt. Dazu gehört nur ruhige, geduldige und feine Beobachtung. Oft ist für ein Menschenleben ein einziger Augenblick entscheidend. Ludwig Richter wurde zum Künstler, als er einen wandernden Maler bei der Arbeit sah: das Bildchen auf dem Tabakpaket seines Vaters war seine erste Vorlage. Wie ein Funke genügt, eine ganze Stadt in Brand zu setzen, so oft ein Wort, eine menschliche Seele zu entzünden. Aber man muß zu warten wissen und auf die armen Kinder nicht einen wahren Feuerregen von Pech und Schwefel herablassen.

Für Kinder ist die entsprechende Beschäftigung zunächst – das selbstgewählte Spiel, die freie, ungebundene Tätigkeit. »Spiel«, sagt Fröbel, »hat hohen Ernst und tiefe Bedeutung. Es ist die höchste Stufe der Kindesentwicklung; Spiel ist das reinste geistige Erzeugnis des Menschen, auf dieser Stufe; es gebiert darum Freude, Friede und Zufriedenheit. Die Quellen alles Guten ruhen in ihm, gehen aus von ihm. Ein Kind, das tüchtig, ausdauernd bis zur körperlichen Ermüdung spielt, wird gewiß auch ein tüchtiger, ausdauernder Fremd- und Eigenwohl mit Aufopferung fördernder Mensch – –« »Friede und Freude, Gesundheit und Lebensfülle findet da in bezug auf das Kind statt, wo die Entwicklung im Einklang mit dem Alleben steht.«

Sehr richtig, aber weshalb wieder nur auf das Kind beschränkt? Diese Wahrheit gilt ganz allgemein: denn die Arbeit des größeren Schülers und des Erwachsenen ist oder sollte auch nichts anderes sein als die Fortsetzung des Spieles. Sie wird das auch, wenn man dem Menschen freie Berufswahl und eine unbeschränkte Entwicklungsfähigkeit gibt. Sowie der Mensch eine ihm entsprechende Beschäftigung findet, ist er dabei fleißig und in jeder Hinsicht mannhaft. Er mutet sich dann selbst mehr zu, als ihm andere zutrauen und von ihm verlangen. Jede Arbeit muß der anderen gleich bewertet werden. Es ist nicht verdienstlicher griechische Grammatik zu lernen, als ein Pferd zu zeichnen. Eines paßt aber nicht für alle. Jeder suche sich sein Gebiet, jeder folge seiner Natur. Sie wird ihn besser leiten als Eltern und Lehrer. Schlechte Psychologen sagen: »Alle Jungen sind von Natur faul und müssen zu Arbeit angehalten werden.« Deshalb hat man von jeher bei der Erziehung214 Gewalt und Strafen angewandt. Ich las eben in den Bekenntnissen des heiligen Augustin, daß auch ihm deshalb der Stock nicht erspart blieb. Ich sage dagegen: »Alle Kinder sind von Natur fleißig« – fleißig freilich nach eigener Wahl; fleißig im Wandern, Schmetterlingfangen, Rudern, Klettern, Reiten, wenn ihr Herz sie dazu treibt, faul in all dem, wenn sie das Verlangen haben, im Robinson zu lesen oder sich einen Pfeil zu schnitzen. Zu lateinischer Grammatik hat noch kein Zehnjähriger einen eigenen Antrieb gehabt. Die Aufgabe ist eben falsch gestellt. Sprachprobleme sind Kindern gleichgültig. Deshalb verschone man sie damit, bis der Wissenstrieb sich meldet.

Unsere Schulerziehung ist deshalb falsch, weil sie diese Forderung nicht genügend befolgt. Gesundheit, Kraft, Mannhaftigkeit können nur aus einer solchen Harmonie des eigenen Lebens mit dem Alleben erwachsen.

In England und Amerika können wir lernen, wie Männer herangebildet werden: nicht sowohl durch gelehrte Vorträge, durch den Anblick der großen Vorbilder in Athen und Rom, durch Stubenfleiß, als durch Körperkultur und moralisch-sittliche Zucht, die von klein auf besonders eben durch das Spiel geübt wird. Bei uns wollte man die sittlichen Kräfte durch strenge Pflichtgebote stählen und setzte auf alle Übergriffe harte Strafen, forderte zumal ein geistiges Arbeitsmaß, das die Gedanken vor unmoralischen Abschweifungen bewahren sollte.

Realschuldirektor Franz Kemény in Budapest hat das amerikanische Erziehungswesen anlässig der Weltausstellung in St. Louis 1904 studiert. Er berichtet über seine Beobachtungen an den österreichischen Unterrichtsminister:

»Um selbst der studierenden Jugend Amerikas auch außerhalb der Schule Gelegenheit zu körperlicher Kurzweil zu bieten, werden dort unter der Leitung und Aufsicht von Schul- und Fachmännern Anstaltssportvereine und Jugendverbände organisiert. An den Hochschulen gibt es drüben ausnahmslos einen, ja selbst mehrere Sportklubs, die sich als stärkstes und sicherstes Bindeglied der Studentenschaft erweisen, der Kartenspielen und »Lumpen« fremd ist.«

Gehorsam aber und Selbstzucht lernen die Kinder dort nicht sowohl an der Arbeit als im Spiele. Auch für diese bekannte Tatsache das Zeugnis von Kemény:

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»Sowohl in den Schulen als in den Vereinen wird innerhalb der Körperkultur ein großes Gewicht auf die moralischen und sittlichen Faktoren gelegt. Der aus Selbstzucht und Unterordnung quellende Gehorsam, die Pflege kameradschaftlicher Tugenden und der Wahrheitsliebe haben edle Spielweise (fair play) zur Folge (umgekehrt!).

So umsichtig im öffentlichen Leben mit der Zeit hausgehalten wird, so verschwenderisch ist man damit in der Schule, wo das Gespenst der geistigen Überbürdung unbekannt ist, da die Lehrpläne nicht mit überflüssigen Einzelheiten überladen sind und das sogenannte elective System (wahlfreies System) bereits von der Mittelstufe aufwärts neben wenigen verbindlichen Unterrichtsfächern die Wahl nach Neigung, Bedürfnis und Zeit freistellt. Der Unterricht beginnt in der Regel um ½9 oder 9 Uhr. Samstag oder Donnerstag sind ganz frei, die Ferien ausgiebig. Die freie Zeit wird fast ausschließlich den Bewegungsspielen und der körperlichen Abhärtung gewidmet.« – Hört! hört!

Dazu lese man als stark kontrastierendes Gegenstück die Darstellung des erbitterten und erfolglosen Kampfes, den deutsche Lehrer gegen geheimes Verbindungswesen der Schüler mit seinem Sauf- und Lumpwesen, seinen Heimlichkeiten, Lügnereien und Ausschweifungen führen.

Es bildet dieses Schattenbild eine Ausnahme, aber immerhin – es besteht in Wirklichkeit, daneben tritt jetzt freilich ein – von der Jugend selbst ausgehender – Heilprozeß, der sich in Wander-, Ruder-, Gesangvereinen u. a. m. äußert. Ich würde den hohen erziehlichen Wert dieser Neuschöpfungen hier eingehend behandeln müssen, wenn diese Aufgabe nicht in dem schon wiederholt genannten Buche von Direktor Nath erschöpfend erfüllt wäre. Dort möge man nachlesen!

Hier muß auch einmal mit aller Schärfe ausgesprochen werden, daß die Schule mit ihren zu hoch geschraubten Ansprüchen an die Nervenkraft der Kinder die Hauptschuld trägt oder doch bisher getragen hat an dem Leiden der Selbstbefleckung, an der nach Aussage unserer Ärzte die Mehrzahl der deutschen Kinder (manche Ärzte sagen etwa 90%) kranken.

Wir dürfen dieser Kardinalfrage nicht länger ausweichen. Sie wird von der Lehrerschaft fast durchgehend falsch beurteilt und falsch216 behandelt. Spricht man von einer nervösen Jugend, so sagt der orthodoxe Schulmann mit einem höhnischen Tone: »Vom Arbeiten wird der Mensch nicht nervös, Arbeit stärkt und kräftigt: die Nervosität wird wohl von etwas anderem herkommen.« Richtig! Sie kommt auch von etwas anderem her, aber dieses andere hat eben wieder seine Ursache in dem langen Sitzen auf harten Bänken, in der geistigen Erschöpfung und Überreizung infolge zu langer geistiger Arbeit. Darüber hat Dr. Liebe sein unumstößlich richtiges ärztliches Gutachten abgegeben (vgl. die Verhandlungen des zweiten allgemeinen deutschen Erziehungstages in Weimar, 1905; Arthur Schulz, Birkenwerder bei Berlin). Weiß man das wirklich noch nicht, daß es keine bessere Verleitung, fast hätte ich gesagt: Anleitung zur Selbstbefleckung gibt als Stubenhockerei und große seelische Erregung, zumal Furcht vor Strafe? Ich habe in der Nervenheilanstalt des Herrn Dr. Starcke in Berka bei Weimar mit diesem auf dem Gebiete der Nervenleiden erfahrenen Ärzte eingehend über dieses Kapitel gesprochen, das jedem Vater heranwachsender Kinder zu denken gibt. Er bestätigte Dr. Liebes Angaben vollständig und äußerte sich mit Entrüstung über den noch immer so gesundheitswidrigen, weil nervenzerrüttenden Schulbetrieb. Darin wären sich doch alle Nervenärzte einig. Es ist eine bekannte Erfahrung, daß auch Gefangene zumeist Onanisten sind und zum großen Teil eben an diesem Laster – die Ärzte sagen lieber Leiden – zugrunde gehen.

Also diese Schädigungen der Gesundheit und der sittlichen Kraft hat die Schule mit ihren übertriebenen Ansprüchen auch zu verantworten und damit eine Fülle gestörten Lebensglückes, die kaum zu ermessen und auszudenken ist. Schwer ringt ein Mensch sich wieder empor zu Gesundheit, Kraft und Mut, der lange Zeit und schon in jungen Jahren so gegen die eigene Natur gefrevelt hat. Vielfach ist auch Selbstmord die Folge solcher Jugendverirrungen und der durch eine gewissenlose Presse genährten Angst vor ihren Folgen. Lauter bekannte, höchst trübe, aber meist scheu verschwiegene Tatsachen!

Wer Männer mit hellem Blick, festem Tritt und frohem Mute erblühen sehen will, der verschließe die Gelehrtenkasernen, in der die Kinder gebückt über den Büchern sitzen und bei erhitzter schlechter Luft sich abängstigen müssen und lasse die Jugend nicht für217 länger als höchstens drei Stunden täglich ein. Auf dem Spielplatze, beim Ball- und Barlaufspiele, beim Wandern, Rudern und Schlittschuhlaufen wird sie Unsittliches vergessen und ihren Willen gegen jede Versuchung stählen. Die geistige Elastizität und körperliche Tüchtigkeit der Amerikaner ist vor allem einer auf wissenschaftlicher Grundlage fußenden rationellen körperlichen Erziehung zuzuschreiben, vermöge welcher die gesunden Kinder zu gesunden Eltern heranwachsen und diese ebensolche Nachkommen zeugen. Dazu bemerkt wieder Kemény:

»Da ich mich seit Jahren mit sexueller Pädagogik befasse, bin ich gelegentlich mit einschlägigen Fragen an dortige Schulmänner herangetreten. Die Sache erschien ihnen neu und fast unbegreiflich; ein Beweis, daß sich ihre Jugend der unsrigen gegenüber in einem glücklicheren und gesünderen Zustand befindet.«

Ich meine, dieser eine Satz, wofern er allgemeingültig ist, beweist die Überlegenheit des amerikanischen Erziehungswesens vor dem unsrigen. Was nützt wohl dem Knaben das Erlernen aller Regeln der lateinischen, griechischen, französischen Grammatik, wenn zugleich sein Körper und seine sittliche Kraft hinschwinden?

Das gleiche gilt natürlich von den Mädchen. Darüber, wenn auch nur andeutend, zu sprechen, liegt auch in meiner Aufgabe: Denn wenn wir Männer haben wollen, brauchen wir vorerst gesunde Mütter. Ich lasse auch hierzu meinem Gewährsmann das Wort über Vorbildliches, was in Amerika geleistet wird (für den schauderhaften Stil des Ungarn bin ich nicht verantwortlich; etwas gebessert habe ich ihn schon): »Körperkultur der Mädchen (insbesondere schwedische Gymnastik und Bewegungsspiele im Freien) ist unerläßlicher Bestandteil der amerikanischen Mädchenschulen sämtlicher Stufen. Es wird dem geradezu eine nationale Bedeutung zugeschrieben. Infolge der außerordentlich verbreiteten Koedukation wird an manchen Schulen sogar der Turnunterricht beiden Geschlechtern gemeinsam erteilt, und zwar, wie es heißt, ohne jede Gefahr.

Die Folgen dieser allgemeinen körperlichen Erziehung der Mädchen zeigen sich in einer seelischen und körperlichen Überlegenheit der amerikanischen Frau vor den Frauen anderer Länder. Der bekannte schöne Wuchs, die natürliche Anmut, die frische Farbe, das selbstbewußte Auftreten, die physische218 Widerstandskraft und die sittliche Kraft dieses Typus finden vorwiegend in der gesunden Jugenderziehung ihre Quelle und ihre Erklärung. Das im Keimen begriffene Mädchenturnen unserer Lande (Österreich) ist jenem gegenüber kaum mehr als ein ängstliches Herumtasten zu nennen.

Die grundlegende Vorbedingung einer jeden richtigen und erfolgreichen Körperkultur ist die Erziehung einer wissenschaftlich gebildeten Turnlehrergilde, die, fern von jedwedem Naturalistenunwesen und von extremem Muskelkultus, ein wohldurchdachtes, stets die ewig unabänderlichen Gesetze der Natur und der Gesundheit berücksichtigendes System befolgt und auch selbst über eine entsprechende allgemeine Bildung verfügt.«

Doch das führt hier zu weit, zu sehr ins Einzelne! –

Ein alter Spruch, den man unseren Schülern oft vorträgt, lautet: Qui proficit in litteris, sed deficit in moribus, plus deficit quam proficit: »Wer im Wissen vorankommt, in den Sitten aber zurück, hat mehr Schaden als Vorteil«. Das wollen wir Lehrer uns selbst besonders vorhalten und danach unsere Erziehungspraxis einrichten.

Gegenüber der deutschen akademischen Trinkunsitte bekannte sich der »Vierte deutsche Abstinententag« (Barmen-, Elberfeld, 6. Oktober 1906) mit aller Entschiedenheit zu der Auffassung, die im Februar 1906 der »Verein abstinenter Juristen des deutschen Sprachgebietes« bekannt hatte. Ich wiederhole daraus, wenn auch nicht wörtlich, einige Sätze, die auch wieder ein Stück Erziehung zur Mannhaftigkeit bedeuten:

Wer der Wahrheit die Ehre geben will, muß bekennen: Wir akademisch gebildeten Männer tragen an dem Alkoholelend in Deutschland die schwerste Schuld. Was in den höheren Kreisen der Gesellschaft geduldet, mit pietätvoller Rücksicht und Schonung gehegt und gepflegt wird, beeilen sich die unteren Klassen nachzuahmen und zu übertreffen. Die schwersten Formen der Alkoholverderbnis in Deutschland wurzeln in der Verblendung und in der Furcht der höheren sozialen Schichten; diese haben weder die Erkenntnis noch den Mut, die Dinge beim rechten Namen zu nennen und unwürdige Zustände aus ihrem eigenen Leben auszurotten.

Die auf dem Trinkzwange beruhenden Trinksitten des Universitätslebens, denen die Männer dieses Standes während ihrer Studienzeit219 fast ausnahmslos huldigen und die sie vielfach in ihr späteres Leben mit hinübernehmen, erzeugen bei dem berechtigten sozialen Ansehen ihrer Träger eine verderbliche Suggestion auf andere Kreise und verhindern viele, das Wesen der Alkoholgefahr richtig zu würdigen.

Die akademischen Trinksitten vergiften also einen großen Teil derer, aus denen sich unsere geistige Elite bilden sollte und wirken durch das böse Beispiel auch auf die anderen Stände verderbenbringend, zunächst auf die Stände der gleichen sozialen Schicht, sodann auch auf das gesamte übrige Volk.

Wer studiert hat, sollte fähig sein, auf den Höhen deutschen Geistes zu leben, sollte seinen deutschen Volksgenossen Führer sein zu idealer Lebenshaltung. Wie viele aber vegetieren nach vollbrachtem Studium in trostloser Mittelmäßigkeit dahin! Der Bierkultus, aus dem die deutsche Hochschule heute noch ein Evangelium macht, weiht unzählige in den empfänglichsten Jahren ihres Lebens dem ewigen Stumpfsinne, stempelt sie für alle Zeiten zu öden Philistern.

Wer studiert hat, sollte anderen an körperlicher Kraft und Schönheit, an Frische und an Lebensfreude voranleuchten. Denn wenigen Volksgenossen wird, wie ihm, die Muße geboten, in der Zeit stärkster Entwicklung den Körper zu stählen, die Sitten zu veredeln: Auch in der Erfüllung der Wehrpflicht sollte er daher einen andern als den gewöhnlichen Platz einnehmen. Wie viele aber legen durch den Trinkzwang des Universitätslebens den Keim zu dauerndem Siechtum! Wie viele gehen umher, vom Biere aufgeschwemmt und verunstaltet, keuchend unter der Last des Fettes, grämlich, aller Lebensfreude bar, ein Spott anderer Stände und Völker.

Wer studiert hat, sollte an gerader, furchtloser und männlicher Gesinnung vorbildlich sein. Jahrelang hat er Zeit, mit den Besten und Tapfersten der Weltgeschichte aller Zeiten im engsten geistigen Verkehr zu stehen. Bei solchem Umgange könnten und sollten ihm Menschenfurcht und knechtischer Geist fremd geworden sein.

Wie viele Studenten aber sehen wir dann im Berufe elendester und verächtlichster Streberei verfallen: einem ewigen Bücken vor den Vorgesetzten, einem unausgesetzten Schielen nach Beförderung, Kriechen nach oben und Treten nach unten!

Wo lernten sie das? Unter anderem doch wohl auch in der Knechtschaft des akademischen Trinkzwanges, dem ihr blühendstes220 Alter unterworfen war: Wer mit 20 Jahren gelernt hat, sich auf eines anderen Befehl mit Bier anzufüllen, bis er es wieder erbrechen muß, der hat damit genug das Opfer des Intellekts und freier Selbstbestimmung gelernt, der mußte Unwürdiges erdulden, gegen das sich schon der rein körperliche Stolz des Jünglings mit aller Macht auflehnen sollte; der Stolz aber wurde ihm dort gewaltsam gebrochen: er lernte, daß es nicht gut tut, stolz zu sein.

Durch die akademischen Trinksitten schädigen also die höheren Stände das Gesamtleben des deutschen Volkes in einer Weise, wie es annähernd kein anderes germanisches Volk heute duldet. Es ist Heuchelei schlimmster Art, sich über Trunksucht der Arbeiter zu entrüsten, solange das Vorbild dieser Trunksucht, die akademische Trinksitte, noch Duldung genießt.

Durch die akademischen Trinksitten seiner höheren Stände wird das deutsche Volk verhindert, in der Welt zu dem Platze völlig aufzusteigen, auf den es Anspruch hat. Die akademischen Trinksitten schädigen unser Ansehen im Auslande, hauptsächlich da, wo wir vor allem Achtung suchen, bei den Germanen des Nordens und des Westens, den Skandinaviern, Engländern und Nordamerikanern. Diese begreifen nicht, weshalb die Brudernation ihre beste Intelligenz so frevelhaft gegen Vernunft, gute Sitte und eigenes Wohl wüsten läßt.

Ein junger Mensch zwischen 18 und 20 Jahren findet selten Kraft, Selbständigkeit und Selbstgefühl genug, um, einem moralischen Zwange entgegen, seiner besseren Erkenntnis zu folgen und einfach zu erklären: »Das tu' ich nicht! Ein freier Mann läßt sich nicht zwingen, auf anderer Befehl sich mit Bier vollzugießen.«

Ehre dem deutschen Kronprinzen, der diesen Mut gefunden hat, freilich in seiner Ausnahmestellung auch als Gesetzgeber auftreten durfte, wo andere zu strengem und stummen Gehorsam verurteilt sind.

Wer unsere Jugend zur Mannhaftigkeit erziehen will, muß sich offen als Gegner des studentischen Trinkzwanges bekennen. Es ist ein Nonsens, junge grüne Pennäler mit dem Spürsinn und der Wachsamkeit von Detektivs in ihrem »außerdienstlichen« Leben zu überwachen, gleichzeitig aber die studentische Trinksitte offen anzuerkennen und als »alter Herr« die Tyrannei des akademischen Bierzwanges zu ertragen, ja, in gehobener Feststimmung sie mitzumachen.

221

Ist die ganze Saufpoesie wirklich von solchem Zauber, daß darüber selbst Greise noch in Wonneschauer verfallen, dann dürfte man es jungen Burschen nicht so sehr verübeln, wenn sie bald gleichen Glückes teilhaftig werden wollen.

In meiner Jugend wußte man tatsächlich noch nicht, welche Verheerungen der Alkohol an der Gesundheit und Kraft unseres Volkes anrichtet und meinte, wenn der Rausch verraucht, dann wäre auch die Sache abgetan.

Jetzt sind wir durch Ärzte und Nationalökonomen besser belehrt, jetzt wissen wir, daß die Trunksucht unser Volk schwerer schädigt als es die blutigsten Kriege vermochten, daß dabei nicht nur Leben und Lebensglück des einzelnen, sondern auch die Gesundheit, Kraft und Ehre des ganzen Volkes auf dem Spiele stehen.

Schon meldet sich in der besseren deutschen Jugend eine heilsame Einsicht, schon gibt es viele studentische Vereine, die den Trinkzwang abgeschafft haben, ebenso allerlei Wanderbünde und sonstige Gruppen junger Leute, die sich zur Mäßigkeit oder Enthaltsamkeit verpflichten. Ich selbst halte es mit Walther von der Vogelweide:

»Ich trunke gerne da man bi der maze schenket,
Und da der unmaze nieman iht gedenket – –
Er hat niht wol getrunken, der sich übertrinket
Wie zimet daz biderbem man, daz ime diu zunge hinket
Von wine? ich waene er houbetsünde und schände zuo ime winket« – –

Wir entsetzen uns jetzt in Deutschland über zunehmende Unsittlichkeit und damit herabgehende Wehrkraft und Rüstigkeit der deutschen Jugend. Ich glaube gerne, daß die Groß- und Fabrikstädte, das enge Zusammenwohnen der Menschen, die nervenzerrüttenden Wirkungen des geräuschvollen Straßen- und Fabriklebens eine Verführung zu Trunk und Unzucht begünstigen und daß die Kinder früher als sonst moralisch infiziert werden. Tacitus würde heute nicht mehr eine sera invenum Venus der Germanen rühmen können.

Welche Abwehr haben wir gegen diesen Verfall der Sitten? Von dem Kampf gegen den Schmutz in Wort und Bild verspreche ich mir keine starke Wirkung. Meine Gedanken fuhren auf andere Bahnen. Ich kann sie hier nur andeuten: Waldschulen, Landerziehungsheime,222 große öffentliche Spielplätze, Verlegung der Schulen ins Freie, eingeschränkte Stundenzahl, dafür körperliche Arbeit im Freien, allerlei maßvoll betriebener Sport, zumal kalte Bäder, Schwimmen, Rudern, regelmäßig wiederkehrende Kinderfeste mit Wettspielen, Wetturnen, Massengesang, sodann Kinderwerkstätten, Pflege der Handarbeit zumal der gärtnerischen, Halten von Haustieren (Kaninchen, Vögel), Ausstellungen von Kinderarbeiten – mit einem Worte: Steigerung des Schaffenstriebes und damit Steigerung der Lebensfreude und des Selbstbewußtseins.

Die Freude sucht den hellen Tag, weicht dem Niedrigen, Gemeinen und Dunklen aus. In Lasterhöhlen herrscht kein Frohsinn, sondern höchstens eine durch Alkohol angefachte scheue Wildheit.

Für die heranwachsende und schon erwachsene Jugend wäre eine Reform unseres ganzen sozialen Lebens zu wünschen. Wir leben in ganz kranken Zuständen. Heute bleiben, weil der Mann zu spät oder überhaupt nicht zur Ehe kommt, 40% der Mädchen besserer Stände ledig. Das ist ganz ungeheuerlich, ist ein Frevel gegen alle Vernunft und gegen die Natur. Es ließe sich ändern und müßte notwendig geändert werden.

Unsere jungen Leute müssen eher zu etwas kommen. Vor 100 Jahren heiratete der junge Deutsche mit 20–25 Jahren. So ist es auch heute noch im glücklichen England. Der Bursche von 17 Jahren hält dort schon Ausschau nach seiner Zukünftigen. Das ist normal und schützt ihn vor tausend Abgründen. Denn das Mädchen nimmt ihn in Zucht. Sie spricht wie Julia:

»Wenn deine Liebe, tugendsam gesinnt,
Vermählung wünscht, dann …«

So kommt über die Jünglingsjahre der poetische Hauch einer jungen und zukunftsfrohen Liebe.

Der deutsche Studio rechnet sich aus, daß er vor dem 35. Jahre keine Frau ernähren kann, daß dann seine Lotte auch gegen 30 Jahre, also schon verblüht sein wird und sieht sich vor, daß er nicht hängen bleibt. Sein Herz sucht dann Ersatz in den niederen Regionen, wo man an Vermählung nicht zu denken braucht.

Will man ernstlich der Prostitution steuern, so muß man die jungen Männer früher zu Erwerb und Stellung kommen lassen. Mit 20–25 Jahren sollte jeder junge Mann selbständig sein. Dazu223 müßten die ganz falschen Schulansprüche, das Phantom der »allgemeinen Bildung« und all die Hemmungen beseitigt werden, die jetzt dem deutschen Jüngling seine Zukunft versperren. Mein Großonkel, Johannes Gurlitt, war mit 23 Jahren (glaub ich) Gymnasialdirektor in Kloster Bergen bei Magdeburg – ging ausgezeichnet! Jetzt läßt man einen geprüften Lehrer von 25 Jahren nur mit Vorsicht unter Assistenz von älteren Lehrern gegen die Sextaner los, mit 30 Jahren wird er denn endlich mit Gottes Hilfe angestellt. Voriges Jahrzehnt kamen viele erst mit 35–40 Jahren dazu und eröffneten ihre Laufbahn mit schon ergrauendem oder kahlem Scheitel und mit erloschenem Herzen. Nachdem ihnen jahrelang der Brotkorb gezeigt und dann wieder entzogen wurde, lernten sie sich vollends den Wünschen der Vorgesetzten willenlos unterordnen. Mit gebrochenem Selbstbewußtsein wie von unten her Geräderte, und im Rückgrat geknickt, traten sie schließlich ihr Amt an, in dem nur gesunde, aufrechte und selbstbewußte Männer Großes leisten können.

So kommt jede Betrachtung zurück auf unsere nötige Erziehungsreform.

In summa; Luft, Licht, Wasser, Bewegung und Spiel im Freien, geselligheiteres Leben, körperliche Anstrengung und gute geistige Anregung – das sind die besten Waffen gegen jede Unsittlichkeit in Schule und Haus und ihre Menschenkraft und Menschenglück zerrüttenden Wirkungen.

Dafür kann man dann getrost einen ganzen Waschkorb voll Schul- und Bücherweisheit in die Rumpelkammer tragen. – –

Noch vor einigen Monaten klagte mir eine Mutter, ihr Sohn (13jähriger Gymnasiast) hätte ihr unter Tränen gesagt: »Ich erlebe im ganzen Jahr keine frohe Stunde.« – Die Schule raubt auch diesem gutartigen, aber etwas langsamen Kinde das Beste, den Sonnenschein, den Frühling des Lebens. Aber getrost. Es soll nicht mehr lange währen. Hören wir, wie die Frühlingsstürme auch schon in Österreich sich erheben (Die Schul-Reform I, Nr. 1):

– – »Was bliebe denn dem Menschen für das Grau des Daseinskampfes übrig, wenn nicht die Erinnerung an den Lenz des Lebens? Und diese Ungebundenheit soll auch schon dem werdenden Menschenkinde vergällt, vergiftet werden, indem man es jahrelang zurechtstreckt und biegt und krumm zieht! Nein, das ist Übereifer, ist224 Unnatur! Wenn das Übel nicht ärgere Folgen schon gezeitigt hat, so verdanken wir das der unverwüstlichen Lebenskraft der Jugend, die viele Püffe verträgt. Aber eine unnütze Behinderung der Entwicklung bleibt es trotz alledem und darum müssen neue Bahnen beschritten werden.

Lassen wir doch auch im Frühling des Lebens fröhlich alle Knospen springen, die so ein Menschlein in sich trägt! Lassen wir es natürlich heranwachsen und okulieren wir nicht immer an dem jungen Stämmchen herum. Wir werden dann an der Fülle eines neuen Geisterfrühlings auch unsere Augenweide haben.

Schon gärt und wächst es allenthalben; alte Formen zerbrechen, neue Bildungen setzen sich durch. Ein Zug der Erneuerung geht durch die Gesellschaft, seit der Geist der Naturforschung von Erkenntnis zu Erkenntnis braust. Lassen wir diese frische Lenzluft doch auch in unsere verstaubten Lehrburgen ein, wo jahrhundertalter Moder lagert! Auch in diese Jugendgefängnisse muß der Ozon des sozialen Zeitalters einströmen. Die Brillen und Schlafmützen der alten Weisheitsgreise gehören schon längst ins kulturhistorische Kabinett. Noch spuken in der Mauerschule die Gespenster der Ägypter und Assyrer herum und das Ichneumon und das Gürteltier führen ihr sagenhaftes Leben weiter in den Schulbüchern, die von einer Jugendreihe zur ändern wandern. Nein, lüften wir da gründlich, damit die bleichen, verdrossenen Hippokratengesichter uns nicht die Freude am kommenden Geistesfrühling, an den vom Schulzwang und aus Formelhaft befreiten Individualitäten, verleiden!«


225

XV.
Stärkung des Selbstbewusstseins.

Selbstbewußtsein hat seine Wurzel in der Kraft.

Alte Herren, denen es mehr um ihre Eitelkeit und um ihre dauernde Wertschätzung, als um einen kräftigen, selbstbewußten deutschen Nachwuchs zu tun ist, klagen über den Mangel an Respekt bei der Jugend. Die Klage ist so alt, wie die Kenntnis der menschlichen Geschichte. Ich will mich hier mit dem Nachweise nicht zu lange aufhalten, erinnere aber alle Bibelfesten an die einschlägigen Bibelstellen und nenne eine Stelle aus dem Kirchenvater Chrisostomus: »Die Eltern beklagen sich oft über die Unbändigkeit der Jugend; aber sie sollen die Dornen ausreißen, ehe sie tiefe Wurzeln geschlagen haben. In dem zarten Alter hätten sie sich ohne Mühe ausrotten lassen; wäre die Aufsicht über die Leidenschaften nicht versäumt worden, sie würden nicht so zugenommen haben und jetzt nicht so schwer zu bestreiten sein.« Auch Walther klagte im Alter, daß die Eltern tölpelhafter Junker, Salomos Lehre mißachtend, die Rute zu sehr gespart hätten. Der Zufall spielt mir ein Regensburger Blatt aus dem Jahre 1832 in die Hände. Das war doch die Zeit unserer Großväter, die wir so oft rühmen hörten. Da aber lesen wir von einer »verwildeten, respektlosen« Jugend und die Ermahnung: »Eltern, Lehrer und Meister! ihr seht die Früchte der heutigen Erziehung; legt nicht die Hände in den Schoß, sondern legt sie ans Werk, erhaltet und rettet, was noch zu erhalten, zu retten ist! Ist einmal die Ehrfurcht, der Gehorsam gegen die geistliche Obrigkeit verletzt, so folgt der Ungehorsam gegen die weltliche von selbst nach, und der Strom des Verderbens, Aufruhr und Empörung möchte dann auch uns ergreifen und in den Abgrund ziehen.«

Ich könnte Zeugnisse aus unserer eigenen Jugendzeit beibringen,226 Zeugnisse, in denen von uns als von einer »entarteten Jugend« gesprochen wird – (und wir waren doch so nette Kerle!).

Die Klagen über wachsende Autoritäts- und Pietätslosigkeit der heutigen Jugend weisen Direktor Evers (Direktoren-Verhandlungen Bd. 51, als Buch: »Auf der Schwelle zweier Jahrhunderte«. Berlin 1898, Weidmann) und Direktor Max Nath (a. a. O. S. 61 ff.) mit Recht ab. Evers schreibt: »Vor allem erscheint mir unsere Jugend viel maßvoller, wohlerzogener, zahmer, verfeinerter schon in den Mittelklassen … Weder in körperlicher noch in sittlicher Hinsicht steht unsere Jugend schlechter, im allgemeinen sogar besser (als früher)« und Nath sagt dazu: »Das sind Worte, die ich freudigen Herzens und aus vollster Überzeugung unterschreibe.« Ebenso hatte bekanntlich auch Paul de Lagarde schon früher gesprochen. Aber immer noch beruft man sich auf Caprivis Wort von der verwilderten Jugend, als ob Caprivi eine Autorität wäre. Ich kenne wenige Menschen, die sich im öffentlichen Leben durch ihre Kurzsichtigkeit so wie er bloßgestellt haben. Man verweist auch auf die zunehmende Zahl von Delikten und Strafen an Jugendlichen niederen Standes. Darauf ist zu sagen: erstens leben wir in latentem Kriegszustande, zweitens ist jene Jugend ihren Autoritäten, den sozialistischen Führern, höchst gehorsam, nur zu gehorsam, drittens, eine übereifrige Polizei, auch numerisch verstärkt, straft für Delikte, die man früher belächelte.

Auf jene Statistiken ist also wenig zu geben.

Es ist vielleicht ein Verdienst der sozialistischen Führer, daß sie die niederen und niedrigsten Volksschichten an Disziplin gewöhnen. Diese großartige Arbeit werden erst spätere Jahrhunderte voll anerkennen. Das Machtwort Bebels verbietet den Sozialisten Gewalttaten – und mit Erfolg! Man spottet über diese strenge Parteizucht: man sollte sie bewundern. Es wird hier durch die Macht der Idee geleistet, was man sonst nur durch eiserne Strenge und Gewalt erreichen konnte. Der Zug von 200 000 Männern, der sich lautlos, ohne jede Störung, in feierlichem Ernst stundenlang als Protest gegen ein veraltetes Wahlgesetz durch die Wiener Straße zog, war nach Zeugnis von Augenzeugen ein ergreifender Anblick.

Wenn Machthaber, Erzieher, Lehrer über Respektlosigkeit der Schutzbefohlenen klagen, dann liegt immer ein Fehler der Leitenden227 zugrunde. Denn der Mensch hat den inneren Drang, sich anzuschließen und unterzuordnen, wo er Kraft und Einsicht, Wohlwollen und Schutz findet. Sind die Untergebenen unzufrieden, dann ist es hohe Zeit, daß die Herrschenden mit sich zu Rate gehen. Ohne Feuer kein Rauch. Wer ehrlich sucht, findet auch den Grund der Unzufriedenheit und findet Mittel der Abhilfe, sofern nicht, wie vor 100 Jahren in Frankreich und heute in Rußland, der rechte Zeitpunkt durch Gedankenlosigkeit und brutalen Egoismus schon versäumt ist.

Nach meinem Urteile, das sich auf eine langjährige Beobachtung begründet, ist unsere jetzige »bessere« Jugend – die anderen kenne ich leider zu wenig – nicht zu respektlos, sondern zu zahm, zu autoritätsgläubig, zu unselbständig im Denken und Handeln. Diese Schwäche teilt sie mit ihren Eltern. Ihre grenzenlose Hochachtung vor Beamteten, Betitelten, Ordengeschmückten und tönenden Namen lähmt all ihr Urteil. Es wird höchste Zeit, daß man dem Volke all diese bewunderten Leute einmal in der Unterhose zeige.

In einem demokratischen Staate, wie Frankreich und den Vereinigten Staaten von Nordamerika oder in England, wo die Ministerien häufig wechseln, und morgen schwarz wird, was heute weiß war, in allen Ländern, wo das Volk zur Mitarbeit an der Regierung nicht nur pro forma, sondern de facto berufen ist, finden wir nichts von diesem Anstaunen der amtlichen Würdenträger. Wenn es bei uns nur öfters vorkäme, daß z. B. ein Ingenieur wie Freycinet, ein Advokat wie Haldane, ein Börsenmakler wie Benteaux Kriegsminister würden oder ein ehemaliger Arbeiter, wie Burns, Arbeitsminister und wenn häufiger Subalternbeamte in höhere Stellen aufrückten, da sie doch nicht selten alle Arbeit leisten, für die die hohen Herren ihre Titel und Orden beziehen, – dann ließe dieser lähmende Respekt vielleicht etwas nach.

Wirksamer freilich, wenn auch betrüblicher, sind die Enthüllungen letzter Jahre, die uns alle Bewunderung in Verwunderung verwandelt haben. Da entringt sich der bescheidenen Untertanenbrust der Ruf: »Na, viel ungeschickter hätt' ich's auch nicht angestellt!« – Das hat also das eine Gute, daß sich das matte Selbstbewußtsein – die saure Frucht von endlosen Erziehungsbemühungen – wieder etwas auffrischt. Ich habe noch das Glück, einige sog.228 Diplomaten persönlich zu kennen. Das wirkt auf die Streckmuskeln des Rückens besonders stärkend.

Mit »einem Tropfen demokratischen Öles« ist schon nichts mehr zu leisten, wir brauchen alle schon einen gehörigen »Schuß« Öl, um zur Selbstbesinnung und zu einer manneswürdigen Selbstachtung zu kommen.

Fast schlimmer noch als der seit Jahrhunderten dem deutschen Untertanen angezüchtete Respekt vor der weisen Obrigkeit ist der vor tönenden Namen der Wissenschaft und der Kunst. Auch da erstirbt jedes eigene Urteil in Demut. Wer in irgendeinem Pünktchen Goethes Meinungen bekämpft, gilt als Barbar oder dreister Umstürzler.

Fast jeder »Gebildete« befindet sich bei uns im Banne des Angelernten. Werturteile über ganze Völker, über politische und sonstige Größen gehen um wie schlechte Kupfermünzen. Wie selten trifft man noch Menschen mit eigenen Köpfen! Die »Bildung«, die Schule mit ihrem von Arthur Bonus so heftig angezweifelten Kulturwerte, nimmt den Menschen alle Höhen und Tiefen. Je »besser« die Schulen, um so flacher die Menschen, die aus ihnen hervorgehen.

Geheimer Justizrat L. Passarge in Jena schreibt in seinem Buche: »Ein ostpreußisches Jugendleben«, als 81jähriger: »In meiner Jugend war fast jeder Mensch ein Original: die Bildung hatte noch nicht alle über einen Kamm geschoren.« Die Überzeugungen waren damals noch nicht im Massenvertrieb von den Regierungen ins Volk geworfene Fabrikware.

Die Wertschätzung eines strebsamen jungen Mannes liegt jetzt in der Hand irgendeines Gewaltigen der Feder: von einer herabsetzenden Kritik eines namhaften Kunstgelehrten erholt sich der Betroffene oft im ganzen Leben nicht wider: denn man traut den überbrachten Worten lieber als dem eigenen Urteile. Ich könnte zu diesem Kapitel die lehrreichsten Einzelbeobachtungen beibringen; aber die Sache bedarf wohl keiner eingehenderen Begründung. Wir alle kennen das Übel schon zur Genüge.

Noch schlimmer aber als der Respekt vor Titeln und Namen ist der von ererbten Lehren und Anschauungen. Es gibt Tausende von solchen gläubig oder nur gedankenlos hingenommenen Scheinwahrheiten, die zu prüfen man sich scheut. Zumal werden eine Menge religiöser Lehren nur deshalb noch ernst genommen, weil sie229 uns irgendein Mensch mit ernster Miene vorgetragen hat. Als Sklave einer anerzogenen Gedankenlosigkeit beansprucht der Unfreie noch die Achtung eines besonnenen, pietätvollen, bescheidenen Menschen. Man sollte ihn lieber feig und unehrlich nennen.

Natürlich leisten auf diesem Gebiete wieder ehemalige Militärs das Stärkste. Diesen Herren ist es zumeist unverständlich, wie ein Mensch zu abweichenden Meinungen kommen könne, da sie in der vermeintlich »tadellosen« Welt leben. Alles, wie's sein muß: Gottesdienst, patriotische Gesinnung, gesellschaftliche Haltung. Geschmack und Urteil – alles in bester Ordnung. Als R. von Egidy ein eigenes Glaubensbekenntnis aussprach, hielt man ihn in seinem Kreise für »einfach verrückt –, war ein tüchtiger Soldat und angenehmer Kamerad. Schade um den Menschen«!

Es wird gut sein, der Jugend, wenn sie in die Jünglingsjahre tritt, zu sagen, daß alle großen geistigen und moralischen Erfolge ein starkes Selbstvertrauen und damit verbunden Mangel an Autoritätsglauben voraussetzen. »Kopernikus hatte keine Furcht vor der Bibel, er hätte sonst die Astronomie nicht reformieren können, Luther fürchtete nicht den Papst, nicht die Mönche und die ganze katholische Kirche – –, Galilei fürchtete weder Bibel noch Aristoteles, sonst hätten alle seine Geisteskräfte nicht hingereicht, die moderne Naturwissenschaft zu begründen« (Popper, Voltaire, Dresden, Carl Reißner. 1905. S. 309) und so sind Descartes, Giordano Bruno, Spinoza, Bayle, Rousseau, Voltaire alle respektlos gewesen gegen die Autoritäten, die sie erst stürzen mußten, um selbst wirken zu können. Voltaire zumal, »der vor nichts in der Welt Furcht hatte und nie auf halbem Wege stehen blieb, der deshalb als Kämpfer, Erwecker, Aufrüttler, Bahnbrecher unübertroffen ist, als Minierer, als Feind jeden hohlen Wesens und falschen Scheines, als der Mann, der jede Maske herunterriß, dessen Schriften Schlachten, und zwar lauter gewonnene Schlachten sind, der alle Bastionen des Mittelalters mürbe schoß und mehr als irgendein andrer Mensch durch die Gesundheit seines Naturells zum Feind alles dumpfen Hinbrütens in geisteszerrüttendem Phantasiespiel wurde« (ebenda S. 310 ff.). Statt des hirn- und herzlosen Respektes, den man heute der Jugend predigt, lehre man sie Achtung vor jedem ehrlich Strebenden, vor jeder selbst erworbenen und mannhaft verteidigten Überzeugung.

230

Man gebe ihr Hebbels und Emersons Schriften in die Hand. Da wird sie Mannhaftigkeit verstehen und lieben lernen. Man nähre ihre Selbstachtung, den Stolz auf ihre Eigenart, den Willen, ihre eigene Persönlichkeit zu entwickeln, zu behaupten und durchzusetzen!

Man lasse Überzeugungen wachsen, man gebe alles Denken frei, man schütze und ehre das freie Wort – und mit Staunen wird man gewahren, wie viele Männer in Deutschland erstehen. Regierungen, Schulen, Eltern und Erzieher sind nicht dazu da, das geistige und sittliche Wachstum zu hemmen, sondern ihm eine freie Entwicklung zu sichern. Kultur wird von der Regierung und Behörden nicht geschaffen, sondern bestenfalls geschützt. Eine Regierung, die sich anmaßt das Geistesleben ihres Volkes in Religion, Wissenschaft und Kunst zu kommandieren, zerstört oft mehr geistige Werke, mehr Menschenglück, mehr Lebens- und Entwicklungskeime als blutige und hartnäckige Kriege, durch die doch auch Kräfte, selbst die edelsten, befreit und entfesselt werden. Nichts demoralisierender für ein Volk als die Stickluft einer Gesindestube, vermischt mit dem Weihrauchdunst der Höflinge und der Klerisei. Das ist wahrhaft männermordend.

Weshalb kommen die Japaner, weshalb die Nordamerikaner so schnell vorwärts? Weil sie Respekt nur vor dem haben, was sie selbst von seinem Werte lebhaft überzeugt, was sie für ihr eigenes Leben brauchen können. Alte, erstorbene Autoritäten gelten ihnen nichts. Sie rufen jeden noch so großen Namen vor den Richterstuhl ihres gesunden Verstandes. In England oder Amerika kann man ein Urteil wie: I dont like Raffael; I dont like Schiller, sehr oft hören und kein Mensch entsetzt sich darüber. In Deutschland muß man Raffael und Schiller bewundern. Wenn das Verständnis dazu nicht langt, dann lügt man eben.

Mit den Namen unserer großen Pädagogen macht man »drüben« gar keinen Eindruck. Wenn man einen dortigen Erzieher sagt: »Aber Herbart, der große Pädagoge, sagt« – so wird die Antwort lauten: »Wer ist Herbart? Ich kenne diesen Menschen nicht. Was er da sagt, ist mir gleichgültig. Es scheint sehr töricht zu sein.«

Keméni sagt bei dieser Gelegenheit: »Frei von jedem Autoritätsglauben ist der Amerikaner in kein einziges Erziehungssystem befangen, sondern prüft, vergleicht, probiert und wählt das Gute dann und daher,231 wo er es eben findet. Er freut sich, wenn er auf dieser Suche von Erfolg begünstigt ist und bekennt das stets mit mannhafter Ehrlichkeit.«

Die Folge dieser »Respektlosigkeit« ist eine große geistige Beweglichkeit und deren Folge wieder: ein gesundes Wachstum und blühender Fortschritt.

Ist erst das Selbstvertrauen gestärkt, dann werden wir in Deutschland endlich auch wieder das zu hören bekommen, was Arndt den »Zorn der freien Rede« nennt.

Eines der handgreiflichsten Anzeichen unserer moralischen Schwäche ist, daß wir kein mannhaftes Wort mehr ertragen können.

Man darf sich nicht einmal mehr entrüsten. Das schickt sich nicht. Man ist widerlich anständig, korrekt, ruhig und sachlich geworden. Das danken wir wieder der Beamtenschaft. Im Dienste ist jedes Pathos untersagt. Da gibt es nichts Hohes, Heiliges, nichts Begeisterndes, Entrüstendes. Da herrschen nur die starren, kühlen amtlichen Maßnahmen, Verfügungen und Akten. Alles findet da seine kühl abgemessene Erledigung. Die Hauptsache: Einhaltung des Instanzenweges und gut geordnete Aktenbündel. Man tut seinen Dienst und schert sich nicht um das, was nicht mit ins Ressort gehört. Für die Stimmung wird »oben« gesorgt. Ehe man nicht weiß, wie diese läuft, ist man empfindungslos. Es ist das die Praxis von Lakaien, die auch beim Servieren nichts hören, nicht lachen und sich nicht ärgern dürfen.

So gewöhnte Menschen begreifen gar nicht, wie man sich erregen kann. Begeisterung nun gar würde einem da bald gelegt werden. Das beste Mittel, man läßt so einen Hitzkopf ein paarmal mehrere Stunden lang im Zimmer des Bureaudieners antichambrieren und ihm dann mit Bedauern melden, daß man wieder nicht zu sprechen sei: Dienstliche Abhaltung, wichtige Sitzung.

Über religiöse Fragen zu sprechen, schickt sich in der deutschen Gesellschaft nicht mehr; Politik schließt man auch lieber aus, weil von irgendeinem Herrn, der der Regierung nahe steht, diese oder jene Bemerkung »unliebsam« empfunden werden könnte. Man fängt leider Gottes im Deutschen Reiche selbst am Biertische wieder zu tuscheln an. Als ich auf der Sommerfrische einem General a. D. meine Ansichten über den »Racker Staat« vortrug, sah er sich232 scheu um und sagte: »Lieber Herr Professor, da drüben sitzt ein Staatsanwalt!« – »Nun, da will ich etwas lauter sprechen!« Der General hatte 1866 und 1870 mit Auszeichnung gekämpft.

Und nun prüfe man unsere Zeitungen! Das Gott Erbarmen! Was wird da mit Ausnahme von wenigen, die der Wahrheit ehrlich zu dienen bestrebt sind, was wird da zusammengelogen!

Wie schlürfen da die geschäftigen Reporter auf Gummischuhen einher, wie leichtfertig »greifen sie heute etwas aus der Luft«, um es morgen zu dementieren.

Wie feig verstecken sich ihre wahren Meinungen! Wie wird da mit »sollte, dürfte, könnte, möchte vielleicht« gearbeitet, damit man nur ja nicht zu fassen ist! Wie versteckt man sich hinter Pseudonymen, um aus dem Hinterhalt zu treffen! Wie fälscht man Empfindungen und Tatsachen je nach Bedarf und nach Bezahlung!

Jüdische Artikelschreiber schwärmen für die fröhliche, selige Weihnachtszeit, machen alle Wonnen des kirchengläubigen Herzens auf dem geduldigen Papiere mit, erglühen für liebenswürdige Prinzen, Prinzeßchen, die sie nie gesehen haben und die ihnen völlig gleichgültig sind, ereifern sich für hohe Gäste ihrer Landesherren, mögen diese auch innen und außen schwarz sein wie der Teufel, dulden keine öffentliche Erregung, obschon sie sie lebhaft teilen, besänftigen jede Lebenswelle, auf daß der Bürger ruhig weiter schlafe und kein Abonnent abspringe, und berichten über Vorstellungen und Konzerte, die sie nicht mitgemacht haben mit erdichteter Begeisterung oder Entrüstung.

»Feil ist in der geschändeten Brust der Gedanke«, man lese weiter bei Schiller im »Spaziergang« nach, was den Zusammenbruch verkündet!

Wenn Wahrhaftigkeit die erste Mannestugend ist, dann hat Graf Tolstoi recht, der den Simplizissimus das beste Blatt in Deutschland nennt. Jedenfalls kann ein künftiger Historiker die Stimmungen des ungebundenen deutschen Volkes nirgends besser studieren als an diesem satirischen Blatte, das, wie die Flugblattliteratur zu Luthers Zeiten, die bestehenden Schäden rückhaltlos aufdeckt und die große geistige Revolution, die kommen muß, erbarmungslos vorbereitet.

Übrigens ist es sogar eine ideale Aufgabe, die Lüge zu bekämpfen und den Heuchlern die Maske vom Gesicht zu reißen. Für dieses233 Verdienst nimmt man manche Roheit, manchen zu plumpen Witz gerne mit in Kauf. In der tapferen Zeitschrift »Das freie Wort« stand jüngst ein bitterböser, aber sehr zutreffender Artikel über die berechtigte »Simplizissimusstimmung«.[19] Man findet dieses Blatt jetzt auch in allen »guten« Familien, in allen vornehmen Restaurants Deutschlands und Österreichs und das gegen den Simpel gerichtete Verbot eines Eisenbahnministers (der nur für guten Bahnverkehr, nicht auch für die politische Erziehung der großen Kleinkinderbewahranstalt Deutschland zu sorgen hätte) hat das Vaterland vor »Reichsverdrossenheit. Nörgelsucht und Schwarzsehern« nicht behüten können.

Überhaupt werden die Leute dadurch nicht vergnügter, daß man ihnen verbietet, ihren Ärger laut werden zu lassen.

»Ruhig, sachlich, objektiv,« sollen auch die Lehrer sein und bleiben. Es geht eben wieder der Ruf durch Deutschland: »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!« Die stille, unendlich mühsame und segensreiche Arbeit, die von unseren Lehrerstande jahraus jahrein geleistet wird, hat ihren Lohn in sich und bedarf keiner lauten Lobpreisung.

Ich mag in meiner Kritik der deutschen Schule zu streng gewesen sein – freilich stimmt mir die Öffentlichkeit und der Erfolg von Tag zu Tag mehr zu – ich mag zu sehr verallgemeinert und vielfach Gutes nicht gekannt und deshalb nicht genannt haben, was hier und da schon gewollt und geleistet wird: das Recht und den Zorn der freien Rede lasse ich mir nicht bestreiten und nehmen. Aber es gibt Zeiten und Stimmungen, in denen diese »innere stille Reform«, wie man es jetzt nennt, nicht ausreicht. Jetzt geben selbst hohe Schulbeamte zu, daß der laute Schrei des Unwillens berechtigt war, daß trotz und zum Teil infolge jenes stillen, geduldigen und fügsamen Lehrfleißes ein unheilvolles »Regiment des Buchstaben234 und der Paragraphen, eine krankhafte Anschwellung des nüchternen Verstandes auf Kosten der Herzens- und Gemütsbildung, der Phantasie, des Anschauungsvermögens, zumal des Wollens und Empfindens, eben eine ganz verkehrte und einseitige Überernährung des Verstandes erzielt worden sei. »(Worte des Dresdner Stadtschulrates Dr. Lyon. Man vergleiche dazu mein Buch: »Der Deutsche und seine Schule«, 2. Aufl. S. 240.)

Ein riesenhaftes Sündenregister der deutschen Schule! Jetzt erkennt man endlich, daß uns das Regiment der Schulkanzlisten »in das niedere Gestrüpp der Kleinigkeitskrämerei« gelenkt hat, daß in der »philisterhaften Enge, in der die Spießer das große Wort hatten« (Worte von Dr. Otto Anthes; s. meine oben genannte Schrift, Vorwort zur zweiten Auflage), keine starken und fröhlichen Menschen, keine Persönlichkeiten wachsen konnten! Also eine staatliche Entmannungsanstalt!?

Ein vernichtendes Verdikt über diese deutsche Schule! Und wenn das wahr ist, auch nur zur Hälfte wahr ist, so soll und darf man sich doch nicht erregen? Ja, beim Himmel, wo wäre denn ein heiliger Zorn am Platze, wenn nicht hier, wo es unserem Volke ans Innerste geht, an das Mark des Lebens? Auch da sollen wir korrekt, ruhig und sachlich bleiben und uns auf unsere Instruktionen beschränken?

Auf einmal wurden uns aber doch von oben her heitere und ermunternde Worte zugerufen: »Kinder, seid doch lustig! Kinder, seht doch: die Sonne geht uns noch täglich auf! Kinder, wir meinen es ja so gut mit euch! Freut euch doch! Wir haben ja das große, herrliche schöne deutsche Vaterland! Wer will da noch trübe sehen? Laßt euch von der modernsten Sorte deutscher Philisterei, von der Nörgelsucht die gute Laune nicht nehmen! Kommt, Kinder, wir wollen hinaus auf die Wiese, in den Wald! Kommt, laßt uns singen, laßt uns baden! Wollt ihr Ruderfahrten machen? Wollt ihr? Alles, alles sei euch gewährt. Nur seid lustig, Kinder, lacht doch! Lacht doch einmal wieder! Wir wollen frohe Menschen, frohe Menschen sehen!«

Staunend hört die Kapelle diese neuen, fremden Worte. »Das war doch früher nicht so?« Sofort werden alle Instrumente neu gestimmt. Auf das Serioso soll also jetzt ein Scherzetto folgen. »Zu Befehl!«

235

Wenn der Meister mit seinem Dirigentenstäbchen auf das Pult schlägt, da horcht die ganze Kapelle aufmerksam auf. »Also los: Scherzetto!« In den Konferenzen wird nun kund getan: »Meine Herren, sorgen Sie dafür, daß die Jugend heiteren Mutes sei!« »Verzeihen, Herr Direktor, aber strenge Pflichterfüllung werden wir doch nach wie vor –« »Bitte, Herr Kollege, wollen Sie nicht vom Thema ablenken. Wir haben es hier mit einer höheren Anweisung zu tun, die sich unserer Kritik entzieht. Dieser Anweisung haben wir Folge zu leisten und ich lege Wert darauf, daß Sie mir bekennen, von dieser Willenskundgebung der hohen vorgesetzten Behörde durch mich Kenntnis erhalten zu haben. Herr Kollege, Sie haben wohl die Güte, diese Tatsache zu Protokoll zu nehmen.« – »Darf ich mir, Herr Direktor, noch eine Frage gestatten?« – »Bitte sehr, Herr Kollege!« – »Tritt diese Verfügung sofort in Kraft oder erst von nächsten Ostern ab?« »Darüber gibt der Wortlaut der Urkunde keine sichere Aufklärung. Es dürfte sich also empfehlen, gleich morgen damit zu beginnen.« Die jüngeren Herren werfen sich beglückte Blicke zu. ›Also morgen! Endlich!‹

Und so geschieht's. Der Leiter der Anstalt selbst, wie in allem auch hierin vorbildlich, tritt gleich nächstenmorgens mit seinem neuen Gesicht an. Sein Antlitz, von fast 50jähriger unerbittlich strenger Pflichterfüllung, von dem düsteren, durch Lebensgrundsätze und Lebensstellung geforderten »sittlichen Ernst« erstarrt und kalt wie ein von Eisspalten zerklüftetes Gletscherfeld, versucht mit einmal heiter, sonnig, glücklich und beglückend zu blicken. Er will lachen und milde schauen, aber sein Gesicht verzieht sich ihm – zur Fratze.

»Mehr Licht, Luft, Sonnenschein in den Schulen!« – »Die Schulfenster auf!« – »Freude an der Schule!« – so tönt es jetzt aus hundert Kehlen. In den Schulprogrammen ergeht man sich in immer neuen Vorschlägen, wie man die Schule zur Pflegestätte der Lebensfreude machen könne. Man plätschert in Humanität!

Sonderbar, daß sie's jetzt auf einmal alle wissen! Sonderbar, daß kein Widerspruch laut wird. Wo stecken denn die bekannten alten knorrigen, überzeugungsstarken Lehrer, die Unentwegten, die ihren »Grundsätzen« treu sind bis in den Tod? Tritt denn keiner hervor und warnt vor der gefährlichen Neuerung? Keiner? Beziehen diese alten Catone sich alle ihre unerschütterlichen Lebens- und236 Erziehungsgrundsätze von oben? Vordem, als nur unangenehme Schulreformer, die Krakeeler der Presse, unerfahrene Probekandidaten und noch nicht »fest Angestellte« das gleiche forderten, da belächelte man doch den »Blödsinn«, jetzt wird der Blödsinn auf einmal zur Weisheit? Sonderbar, höchst sonderbar! Aber richtig, es war ja bei der Kunsterziehung, der Schularztfrage, der Berechtigung der realen Schulen gerade ebenso: wir haben eben doch eine musterhaft geschultes Beamtenheer! Das macht uns kein Volk der Erde nach!

Die Hauptsache aber: Herrscht denn jetzt in unseren Schulen dieser freiere, gesunder Geist? Ja, er fängt an zu herrschen, er fängt aber vorsichtig an.

Und weshalb ich mich nun doch nicht beruhige? Weil die Pflichtfanatiker doch nur zum Schein mitmachen und weil ich eine Umkehr fürchte. Das neue Schulgesetz und die Vormacht der Kirche verheißen uns nichts Gutes. In solcher Luft kann eine innerlich starke Jugend nicht erwachsen. Schon ist die Volksschule den Kirchen ausgeliefert, schon hat sich der Kampf auf die Hochschulen übertragen, die Mittelschulen werden folgen. Daher meine Sorge und Unruhe! – Auch deshalb, weil man alle Lehrziele und Examina beibehält und gegen die Schulreformer noch feindlich vorgeht.

Wenn nämlich Jünglinge, die diese Schulen verlassen hatten, mit unauslöschlichem Ingrimm im Herzen, mit dem Wunsche, nichts mehr von ihr zu hören und zu sehen oder mit dem brennenden Durst nach Rache, Rache für eine geraubte Jugend, für ein geknechtetes Gewissen, für ein gehemmtes moralisches Wachstum hervortraten, was geschah dann?

Man denunzierte diese Jünglinge bei den Behörden, zieh sie der Lüge, hetzte andere ehemalige Schüler gegen sie auf und machte sich und der Mitwelt weis, daß nichts an den Klagen wahr und berechtigt sei. Sanfte Jasager, unausgebackene Semmeln, gefügige und um ihr bißchen Rückgrat schon gebrachte Studenten, feige Bürschchen, die schon auf Karriere spekulieren, haben auch gegen mich in einem Lokalblättchen eine sog. Preßfehde eröffnet (auf die ich natürlich nie mit einem Wörtchen geantwortet habe) und haben sich dabei von einem Amtsbruder mit wertvollem Material und guten Winken bedienen lassen. Es wird zur Aufklärung der Wahrheit nützlich sein, dieses ganze dunkle und ehrenrührige Treiben einmal237 an die Öffentlichkeit zu bringen: zunächst aber habe ich Besseres zu tun.

Wenn meine öffentliche Tätigkeit nichts anderes gewirkt hat, als daß sie vielen jungen Leuten wieder den Mut belebt und die Zunge löst, dann hat sie genug gewirkt.

Wollte ich alle Zeugnisse der Zustimmung, des Zuspruchs und des oft überschwenglichen Dankes mitteilen, den mir gerade junge Leute, Schüler und Studenten, ins Haus schicken, dann würde man erkennen, daß ich ein gutes Wort zur rechten Stunde gesprochen habe.

Wer dem Deutschen, ohne ihn vorlaut, dreist und frech zu machen, sein Selbstbewußtsein belebt, tut etwas Nützliches, Notwendiges.


238

XVI.
Unsere Wünsche.

Das alles schreibe ich nicht als Reichsnörgler und nicht in hoffnungsloser Stimmung, sondern nur zum Nachweise, daß mein Thema »Erziehung zur Mannhaftigkeit« zeitgemäß und dringlich ist, höchst dringlich.

Allerorten, sehen wir, meldet sich ein neues Leben, ein Sehnen nach sittlicher und geistiger Verjüngung. Noch leben in unserem edlen Volk all die Kräfte, die ihm seinen ehrenvollen Bestand und eine große Zukunft sichern. Aber mit der bisherigen Regiererei muß ein Ende gemacht werden, lieber heute als morgen. Geschieht das nicht, dann geht es unhaltbar mit uns bergab, dann geraten wir in eine Art römischen Imperiums mit seinen Prätorianern, seinem Bediententroß, seinem leeren Prunke, seiner zu Statisten degradierten Geistlichkeit, seinem entrechteten Pöbel mit dem Rufe nach »panem et Circenses«, dann müssen uns alle selbständigen Völker, zumal die Amerikaner und Engländer, so weit überholen, daß der Vorsprung nicht wieder einzubringen wäre.

Wir streben nach einer höheren Gesittung, nach einem echt germanischen Kaisertum. Wir wollen eine Jugend heranziehen von verinnerlichtem und mannhaftem Sinnen und Trachten, einen neuen wahrhaften Adel des Geistes, der sich die Tüchtigsten, Ehrlichsten, Mannhaftesten zur Führung erwählt, wollen, nachdem uns die Form des Reiches beschieden ist, darin ein wirklich freies, stolzes, selbstherrliches Volk erblühen sehen.

Unsere Jugend soll erst wieder lernen, für Ideen zu leben und sich für hohe menschliche und nationale Aufgaben zu begeistern.

Mit dem endlosen Schuldrill, den Examennöten, mit der unehrlichen Anbetung von erstorbenen Formeln in Glauben und Politik239 und mit der Anbetung des äußeren Erfolges, mit dem altklassischen Idealitätsschwindel, mit aller brutalen Vergewaltigung der Menschen, mit der feigen Unterwürfigkeit und erlogenen Demut, mit dem Lug- und Trugsystem, durch das sich die überbürdete und gehetzte Jugend mit den sog. Schulpflichten abfindet, mit all dem morschen Plunder wollen wir aufräumen.

Wir müssen den durch Unkraut überwucherten Boden erst wieder urbar machen, auf daß darauf ganze, gesunde, aufrechte Männer erwachsen können. Wir wollen einen heiligen deutschen Zorn erwecken und uns zu einem Tugendbund zusammenschließen, damit »das Gute wirke, wachse, fromme, damit der Tag dem Edlen endlich komme«.

Wir wollen den Mund weit auftun und in unserem Vaterlande laut unserer Rechte, unsere Menschen- und Manneswürde fordern. Vor allem aber wollen wir froher Hoffnung bleiben, uns an den großen Erfahrungen unserer Geschichte aufrichten und die Erziehung unserer Jugend zur Mannhaftigkeit wohlgemut und ohne Verzug in Angriff nehmen.

»Zwar haben wir an Flächenraum verloren, zwar ist der Staat an äußerer Macht und äußerem Glanze gesunken, aber wir wollen und müssen dafür sorgen, daß wir an innerer Macht und innerem Glanze gewinnen,« erklärte Preußens König nach dem Unglückstage von Tilsit. Und Fichte hielt seine »Reden an die deutsche Nation«, um sein Volk zu lehren, wie durch eine sittliche Neugeburt das Vaterland zu retten sei. Heute stehen wir besser, als damals. Weshalb verzagen?

Wenn wir auf Pestalozzi hinweisen, so geschieht das in Übereinstimmung eben mit Fichte, der, erfüllt von dem Gedanken einer Nationalerziehung, auf die Frage: »an welches der wirklichen Welt schon vorliegende Glied die Ausführung der neuen Erziehung sich anknüpfen soll«, die Antwort gab: »an den von Heinrich Pestalozzi erfundenen, vorgeschlagenen und unter dessen Augen schon in glücklicher Ausführung begriffenen Unterrichtsgang.«

Wir wollen, daß uns und unsern Kindern wohl werde auf unserem heimischen Boden.

Wir wollen darauf als Herren leben, nicht als nur Geduldete, als Verfolgte, Gequälte oder Knechte.

Wir wollen gehobenen Hauptes auf den Fluren einherschreiten, die uns unsere Väter mit ihrem Schweiße und Blut erkauft haben.

240

Wir wollen recht tun und Gerechtes erleiden, wollen uns aber von keinem Menschen ausbeuten, schikanieren und verachten lassen, wollen uns vor keinem Menschen beugen und demütigen; am wenigsten uns schikanieren und demütigen lassen von geistigen Flurschützen, die uns auf dem Felde von Kunst, Wissenschaft, Glauben und Erziehung mit ihren amtlichen Verfügungen in den Weg treten und Gehorsam fordern, wo sie dienen sollten. Unsern Kindern soll es in ihrem Vaterlande wohl werden, wie auf dem Schoße ihrer Mutter. Da sollen sie sich sicher und geborgen fühlen – ein jeder mit gleichem Recht, auch der geistig Arme, ja der zumeist; denn die schwachen und zarten Kinder liebt und hegt eine gute Mutter mit besonderer Sorgfalt.

Das Bekenntnis: »Ich bin ein Deutscher«, soll wieder eine Freude und ein Stolz auch für unsere ärmsten Kinder werden.

Ich war einer der ersten Lehrer und bin mir dessen mit Stolz bewußt, der es laut forderte, daß den Schulkindern in Deutschland wieder eine Jugend beschieden sein möge. Mein Ruf hat tausendfaches Echo geweckt. Schulräte und Schulpfaffen haben mir zwar gesagt, es hätte eines solchen Spektakels nicht bedurft; ich hätte ihnen nichts Neues gesagt. Natürlich nicht! Wer kann einem Schulrate etwas Neues sagen? Für diese Herren hatte ich auch nicht gesprochen, wohl aber gegen sie und gegen ihre Praxis und für die deutschen Eltern schulpflichtiger Kinder. Seitdem leben diese Gedanken in unzähligen Herzen und stehen in Zeitungen und Fachblättern in wahrer Blütenpracht. Ich begegne ihnen zu meiner Freude auf Schritt und Tritt: »Nein,« ruft Heinrich Steinhausen, »in der Vaterlandsliebe kann man so wenig unterrichten wie in irgendeiner anderen, sondern sie gedeiht und erblüht im Volke lebendig und kräftig allein aus der Heimatsliebe. Sie den ärmsten und sonst vom Glück des Lebens versäumtesten Kindern selbst zu mehren, zu erhalten und zuzuführen, dazu könnte auch die Schule das Ihre beitragen. Dazu muß aber der Geist der Verdrossenheit, der auf unserem reglementierten, egalisierten, linealisierten Schulbetrieb wie ein Zaum liegt, wieder in die menschenleere Wüste weichen, wo er hingehört, und Schule und Unterricht müssen die Herzen der Kinder mit dem ›sanften Flügel der Freude‹ anwehen. Dann wird ihnen auch die Heimat lieb, und ihre süßen Erinnerungen begleiten und beglücken das ganze241 Leben und ihr braucht um Vaterlandsliebe, die mehr ist als Hurra beim Schmause oder Glase, nicht zu sorgen.« – Also eine völlige Umkremplung des ererbten Schulgeistes – Schulungeistes. »Selbst der jüngste Mensch«, so schreibt eine Erziehungs- und Schulreformerin in ihren Briefen, »muß schon die Achtung für sein Menschentum aus seiner Umgebung herausfühlen können, auf daß er in seinem Menschheitsbewußtsein, seiner eigenen Geisteskraft selbst sicher wachse und werde.« Bravo! Für die Briefschreiberin haben Hebbel und Nietzsche nicht umsonst gelebt. Weiter schreibt sie: »Ihr Weltverbesserer, hört auf das Kind zu quälen und zu verbilden, so werdet ihr am ersten die Welt verbessern! Gib den Menschen sich selbst, so wirst du ihn im besten Sinne der Menschheit geben. – Stärke dem Kinde den Mut zu sich selbst, zu seinem Frohsinn und zu seinen Schmerzen; verschütte dem Kinde seine Tiefen nicht! Überlasse das Kind sich selbst. Aber zuerst zerbrichst du den Willen, und dann verlangst du, daß es etwas Ganzes werde? Glaubt doch, ihr in euren Erbsündengedanken Befangenen, auch an das Erbgute. Lasset sich einen jeden offenbaren!«

»Viel, viel schweigen; schweigen und beobachten, lautlos handeln … Ein unmerkliches, liebevoll vorfühlendes Führen soll die Erziehung sein.« (Briefe an Eltern von Deiphobe.) Wie befreiend diese Worte wirken! Wie wecken sie die Hoffnung, daß demnächst unseren Kindern in Deutschland eine »kraftvoll-strahlende, furchtlos-jauchzende Jugend« beschieden sein, daß Eltern und Erzieher ihnen »ein frohes Schicksal schaffen werde«! Und die Verfasserin hat recht: »der Anfang ist das Entscheidende«.

Das alles ist nicht zu erreichen ohne Kampf gegen die im verborgenen so unheimlich ins Kraut geschossene Mißherrschaft der Hierarchie, des Bureaukratismus und der Plutokratie. Es gilt jetzt, diese Kulturfeinde gründlich kennen zu lernen, um sie mit Erfolg bekämpfen zu können.

Es gilt die Tatsache anzuerkennen und freudig als eine bedeutsame Entwicklungsepoche anzuerkennen, daß wir uns mitten in einer großartigen Reformation des gesamten Geisteslebens befinden; gilt, dieser Erkenntnis gemäß zu handeln. Was dabei herauskommt, wenn man den Köpfen das Denken, den Herzen die Begeisterung, den Händen das Handeln versagt, das lehren uns die traurigsten Kapitel242 unserer Geschichte. Deshalb sehe ich auch in dem reaktionären Schulgesetze eine drohende Gefahr. Es wird die Reihen der Sozialdemokraten um zahllose vordem regierungsfreundliche Mitglieder oder doch Kampfgenossen vermehren und, wie schon ein Stöcker ankündigte, den Austritt aus der Landeskirche beschleunigen helfen. Nicht Reaktion, sondern Aktion brauchen wir. Das hat Staatsminister Graf T. Posadowsky wohl richtig anerkannt, als er in der Reichstagsrede am 12. Dezember 1905 sagte:

»Wir haben im Beginn des 16. Jahrhunderts und am Anfang des 19. Jahrhunderts Perioden gehabt, wo ein großer sittlicher und geistiger Läuterungsprozeß über das deutsche Volk gekommen ist, und dieser geistigen Wiedergeburt des deutschen Volkes in jenen beiden großen Zeitläufen unserer deutschen Geschichte verdanken wir eigentlich, daß wir zu einem deutschen Nationalstaat gekommen sind. Ich hoffe und es tut dringend not, daß das deutsche Volk wieder eine solche geistige und sittliche Wiedergeburt erlebt voll Opferfreudigkeit und Selbstlosigkeit für die großen Aufgaben der Zeit! Dann werden die besitzenden Klassen und wird die bürgerliche Gesellschaft in Deutschland sich den Einfluß und die Schwerkraft erhalten, die sie trotz jeden Wahlrechts in jedem Staate und unter jeder Verfassung besitzen muß und die sie in jedem zivilisierten Staate in der Tat auch besitzt.«

Das war seit langer Zeit das erste verständige Wort, das uns von oben her erklang.

Mit den bekannten Redensarten von den Geistern des Umsturzes, mit Einschüchterungsversuchen und Drohungen komme man uns also nicht! Was wir stürzen wollen, das ist schon längst morsch und faul und muß fallen, damit ein neues Leben möglich werde.

»Jahrelang, jahrhundertlang die Mumie dauern,
Mag das trügende Bild lebender Fülle bestehn,
Bis die Natur erwacht und mit schweren, ehernen Händen
An das hohle Gebäu rühret die Zeit und die Not.«

Es wäre noch viel zu sagen, aber ich muß ein Ende finden! Nur das möchte ich zum Schluß noch mit Nachdruck hervorheben: Mit Gewaltmitteln ist Mannhaftigkeit nicht zu erzielen. Alle die rohen Abhärtungsmittel, eiskalte Abgüsse, das Hinunterwürgen ekelerregender Speisen, die blinde Gehorsamkeit selbst Launen gegenüber,243 das Schicken in dunkle Kammern zur Bekämpfung der Furcht, die Überanstrengung im Arbeiten, bei Märschen und beim Turnen – alle diese Brutalitäten sind zwecklos, ja schädlich und verabscheuungswürdig, vor allem natürlich die Prügelstrafe.

Ich verweise darüber auf das, was ich in meinem Buche »Der Deutsche und seine Schule« S. 49 ff. ausgeführt habe. Jetzt erlebe ich die Freude, zu lesen, daß der Leipziger Lehrerverein den Beschluß gefaßt hat:

»Der Leipziger Lehrerverein strebt die Entfernung der körperlichen Züchtigung aus der Volksschule an und wird dahin wirken, daß durch Gemeinde und Staat Ersatzmittel geboten werden, die trotzdem eine gedeihliche Entwicklung der Volksschule gewährleisten.«

(Vgl. die sehr empfehlenswerte Zeitschrift »Neue Bahnen«, K. Voigtländers Verlag in Leipzig, XVIII, Heft l, Oktober 1906 und darin S. 35 den Aufsatz von Clemens Pönitz, »Prügelstrafe und Schularbeit«.) Vivant sequentes!

Nachtrag und Schlußbetrachtung.

Ich kann mit hellem Lachen schließen: Ein Bundesgenosse ist mir erstanden, der allen Widerspruch niederschlägt. Ein Dank dem Hauptmann von Coepenicum!

Was vermögen alle Erwägungen einer so eindringlichen Sprache gegenüber, wie sie dieser »Volkserzieher« spricht? Ein ganzes deutsches Städtchen sinkt in die Knie vor einem Strolch in Hauptmannsuniform!

»Das Kapitel vom zusammenknickenden Bürgermeister und der aufgestörten Bürgerschaft ist wahrhaftig kein erbaulicher Beitrag zur Geschichte des neuzeitlichen frohen Geistes und selbstbewußter Kraft. Die Köpenicker dürfen sich aber trösten: Schockweise gibt es der untertänigen Beamten in deutschen Städtchen und Städten.

In die groteske Komik vom belagerten Rat und vom entführten Bürgermeister mischt sich hier die Bitterkeit. Du hast es so gewollt, Erziehung zur Subalternität, du hast es gewollt, Geist der Dressur!

Ein Schwindler steckt sich in eine Uniform und zwingt zur Verehrung nieder, wie Geßlers Hut.« – »Die Überrumpelung durch244 einen Menschen, der sich darum immer naiver vorwagt, weil man ihm seine ersten Schritte in angedrillter Untertänigkeit gar so leicht macht. Er ist gewiß selbst in subalternem Geiste aufgewachsen und braucht nur durch Spitzbubenhumor um kleine Schritteshöhe über das subalterne Gefühl sich zu erheben, um Soldaten, Ratsherren und selbst den Stadtobersten, den Bürgermeister, einzuschüchtern.« L. Schönhoff.

Die Schutzleute stehen auf Befehl des schmierigen Hauptmanns selbst Schmiere, und der Soldat erstarrt vor der heiligen Uniform in »eingetrichterter Demut«.

Ein trauriger Triumph preußisch-militärischer Abrichtungskunst! Ein Triumpf der »geistigen Hosennaht«! Jetzt wird mir jeder zustimmen: Wir haben genug an der bisherigen Menschenabrichterei, wir brauchen statt dessen endlich eine:

Erziehung zur Mannhaftigkeit,

sonst wird uns unser ernstes Leben schließlich zum Possenspiel.


Fußnoten

[1] Korrekturzusatz: »Die Zeitungen melden, in Schleswig-Holstein wäre ein Volksschullehrer Reserveoffizier geworden. Man sagt mir zweifelnd, es gäbe wohl sogar einen zweiten solchen Wundermenschen. Muß ich nun obiges streichen? Ich meine, nach dem Sprichworte »Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer« brauchen wir diesen einen Renommier-Offizier ebensowenig anzustaunen wie den bekannten Renommier-Schulze unter den adligen Offizieren der Garderegimenter.

[2] Von Bernhard Riedel in »Neue Bahnen« XVII, 1005/06, Heft 12. S. 567 (Verlag von R. Voigtländer in Leipzig).

[3] Vgl. Joh. Gottfr. v. Herder, Sophron. Gesammelte Schulreden. Herausgegeben durch Joh. Gg. Müller. Tübingen, Cotta 1810. S. 286, 290; 147, 48, 50. 52.

[4] Dem herrlichen Buche entnommen: »Vom deutschen Sprachunterricht in der Schule und von deutscher Erziehung und Bildung überhaupt«. 3. Auflage. Leipzig und Berlin 1887 (Julius Klinkhardt).

[5] Verlag von Alexander Duncker, Berlin 1906. Preis M. 1,50.

[6] F. R. Paulig, »Friedrich der Große«, Frankfurt a. O. Friedrich Paulig. 1902. Kap. I.

[7] Vgl. A. von Winterfeld: »Gesunde Jugenderziehung, Schulreform und Herder als ihr Vorkämpfer« (60 Pf.), 1906, und »Herderworte« (Der moderne Herder) 1,25 M., 1906, Verlag Felix Dietrich, Leipzig.

[8] »Die höheren Schulen Deutschlands und ihr Lehrerstand in deren Verhältnis zum Staat und zur geistigen Kultur«. Vieweg, Braunschweig 1904.

[9] Vortrag, gehalten auf der 13. Jahresversammlung des Gymnasialvereins zu Marburg (Humanist. Gymnas. Jahrg. XV, Heft 4 und 5).

[10] »Der Deutsche und sein Vaterland, politisch-pädagogische Betrachtungen eines Modernen«, Verlag von Wiegand & Grieben in Berlin SW. 11. (Preis Mk. 1,50; gebunden Mk. 2,25.)

Prof. Dr. Ed. Heyck in der Wochenschrift »Deutsche Heimat« (VI. Jahrg. Heft 16): »Jetzt ist innerhalb von kaum vier Monaten die fünfte Auflage erschienen, was genug besagt. Lebhafter Beifall zu dieser mutigen Kritik und These, die mit ihren umfassenden Gesichtspunkten das neue Deutschtum und die vaterländische Zukunft durch eine frische Jugenderziehung und ein gründliches Vergnügungsbad der herkömmlichen Pädagogik gefördert, anstatt gehemmt und verbildet sehen will, ertönt von allen Seiten, auch aus Lehrer- und Fachblättern; falls Ablehnung vorhanden ist, so hält sie sich, soviel wir sehen, schweigsam oder kleinlaut.«

… Das Buch erscheint mir geradezu als ein Zeichen der Zeit. Wenn solche Beobachtungen, Anschauungen und Erkenntnisse, wie sie hier mit überzeugungsvoller Wärme vorgetragen werden, schon aus dem politischen Milieu des Verfassers heraus sich entladen, so berechtigt das wohl zu dem Schluß, daß auch in diesen Kreisen die geistig selbständigen Elemente beginnen, gewisse Zustände als unhaltbar zu empfinden … Die Ausführungen geben reichlich Stoff zum Nachdenken … Kastengeist, Bureaukratie, Bevormundungs- und Berechtigungswesen. Bedientenhaftigkeit und gesinnungsloses Strebertum zählen nach Gurlitts Meinung, die auch die des Türmers ist, zu den schlimmsten Feinden …

Der Türmer.

Der Erfolg dieses Buches ist der eines ernsten Manneswortes, der Widerhall tiefgehender Mahnungen, die der Verfasser an das deutsche Volk richtet, der Erfolg des mutigen Vorkämpfers, der sich nicht scheute, die Wahrheit zu sagen, und das, was viele im stillen mit ihm besorgt und geahnt haben, furchtlos aussprach … Gurlitt wünscht energisch die Beseitigung der an hohen Schulen üblichen »geistigen Überfütterung«.

Regierungsrat Dr. Herm. Muthesius in der Deutschen Monatsschrift.

»Diese Schrift hat mich beinahe eine Nacht gekostet … da ich zu blättern anfing, las ich auch zu Ende … Ich ahnte nicht, daß man schon im konservativen Lager so denkt; da kann ja noch alles gut werden. Und ich wußte auch nicht, daß schon so viel verständige Stimmen vor dem Verfasser ähnliche Gesinnung geäußert haben, wie aus reichlichen wohl verwandten Zitaten hervorgeht … Kurz, ich wünsche dem Buch viele Leser und noch mehr eine gute Wirkung in Höhe, Breite und Tiefe.«

D. Rade in der Christlichen Welt.

Kaum minder günstig nahm die Presse meine zweite Schrift auf: »Der Deutsche und seine Schule« (ebenda, 2. Auflage, 4. und 5. Tausend, 1906. Preis Mk. 2.–, gebunden Mk. 3.–).

Auch hierzu einige Preßstimmen:

»An Reden, Artikeln, Flugschriften und dickleibigen Büchern gegen die sogenannte humanistische Mittelschule fehlt es seit Jahren nicht mehr, und die alte Ausrede, daß nur minderwertige Menschen, Halbgebildete, Banausen nach Reform schreien, ist ja wohl auch längst durch Namen allerersten Ranges widerlegt. Aber der Sturm wurde immer wieder von Uneingeweihten, die Verteidiger des Gymnasiums sagten von ›Unberufenen‹, unternommen, denen die Altphilologen in geschlossener Phalanx nach allen Regeln der antiken Kriegskunst standhielten. Deshalb war alles Sturmlaufen umsonst, und die Sehnsucht nach einem Verräter war groß; jetzt haben wir ihn, den heißgewünschten Ephialtes – jetzt ist der ungleiche Kampf in ein neues Stadium getreten, seit Ludwig Gurlitt aufgetreten.

Sein Buch: »Der Deutsche und seine Schule« ist in mehr als einer Beziehung ein Markstein in der Entwicklung der neuesten deutschen Kultur, in Form und Inhalt, im ganzen Ton, und vollends in den angedeuteten Zielen. Es ist vor allen Dingen ein Ich-Buch.

Kenner der vorliegenden Frage und der einschlägigen Literatur werden wahrscheinlich nach den gegebenen Proben große Gesichtspunkte, Tiefe der Auffassung vermissen; sie werden vielleicht finden, daß Gewichtigeres in zwingenderer Form, mit mehr Zusammenhang und Schärfe vorgetragen wurde. Gewiß, es ist kaum Neues im Buche Gurlitts zu finden; der Gedankengehalt wäre vielleicht auf wenigen Seiten darzustellen gewesen. Aber wer in aller Welt verlangt nach neuen Gesichtspunkten und tief durchdachten Sätzen, wo es gilt, einleuchtende Wahrheiten so laut als nur möglich in die Welt hinauszuschreien, daß auch die Schwerhörigsten, Gleichgültigsten sie hören müssen? Seit Macaulay ist alles Gescheite gegen das Gymnasium vorgebracht worden, aber niemals von so kundiger, so berufener Seite und vielleicht nie in so unmittelbar-anschaulicher, so wirkungsvoll-überzeugender Weise.«

Leon Keller im »Neuen Wiener Tagblatt«.

Der bekannte pädagogische Schriftsteller Oberlehrer Dr. Otto Anthes schreibt in dem »Hauptorgane des deutschen Lehrervereins«, in der »Pädagogischen Zeitung« (4. Januar 1906):

»Es mehren sich die Zeichen, daß die Pädagogik drauf und dran ist, ihr Haupt, das sie nun lange genug in das niedere Gestrüpp der Kleinigkeitskrämerei geduckt hat, wieder zu erheben und in die frische Höhenluft hinaufzuwachsen, in der sie allein gedeihen kann. Sie will nicht mehr ein Handwerk sein wie jedes andere auch, das man ausüben kann, wenn man seine Griffe und Kniffe weg hat; sie will eine freie Kunst werden. Sie strebt aus der philisterhaften Enge, in der die Spießer das große Wort führen, hinaus in die Weite, wo Persönlichkeiten wirken können. Man sieht allmählich ein, daß noch verzweifelt wenig getan ist, wenn man dem jungen Deutschen Lesen und Schreiben und all die anderen schönen Dinge, die zur »Bildung« gehören, in möglichst kurzer Zeit beigebracht hat; es bricht sich wieder die Erkenntnis Bahn, daß die Erziehungskunst berufen ist, dem Vaterland den größten Dienst zu leisten, der ihm geleistet werden kann: daß sie berufen ist, ihm starke und fröhliche Menschen zu schaffen.

Auf dieser Linie marschiert Gurlitts Buch.«

In der »Preußischen Schulzeitung« (10. Februar 1906) fand sich ein nicht minder zustimmender Bericht von Mariaschk, der mit den Worten schließt:

»Möchte der Volksschule auch einmal ein so tapferer Anwalt erstehen, der mit eiserner Faust alle ihre Fesseln zerschlüge: Herrschaft der Kirche, Bevormundung der Lehrer, peinlich detaillierte Lehrpläne usw. und der ihre Pforten einer neuen Lehre und einem freieren Geiste öffnete!«

[11] Leipzig, B. Elisches Nachfolger. 2. Aufl. 1906. 328 Seiten.

[12] R. Scheibes Verlag. Berlin N. 37, Templinerstr. 14.

[13] Erzählt nach Angaben von A. v. Portugall, »Friedrich Fröbel«, Teubners Verlag.

[14] Zitiert nach H. Ilgenstein, »Das Blaubuch«. Bd. I. Nr. 37. S. 1429.

[15] Berthold Otto ist bekanntlich Herausgeber des »Hauslehrer«, er hat uns ferner ein Buch geschenkt »Beiträge zur Psychologie des Unterrichtes«, in dem er »Anregungen und Anleitungen zu einem Unterricht ohne Zwang und Strafe« gibt (Leipzig, Scheffer). Daraus gebe ich oben einige Proben. Allerjüngst ist von ihm ein Buch »Vom Königlichen Amt der Eltern« (ebenda 1906) erschienen. Wichtiger aber noch als diese klare Entwicklung seiner Lehre ist ihre praktische Durchführung, die er selbst erprobt hat. An seinen Kindern nämlich, die nie eine Schule besucht haben, von ihm allein von kleinauf unterrichtet und erzogen worden sind – ohne Zwang und Strafe und zur Freude aller derer, die diese Erziehungsprodukte kennen lernen. Das nenne ich einen Erzieher! Ich habe ihn und seine Arbeiten erst kennen gelernt, als ich selbst schon als Erziehungsreformer hervorgetreten war. Wir haben unabhängig voneinander fast den gleichen Weg gefunden.

[16] Mittelschule und Gegenwart, Entwurf einer neuen Organisation auf zeitgemäßer Grundlage »Wien u. Leipzig 1906. Verl. von Karl Fromme.«

[17] Man lese die Schrift ihres Leiters, des Herrn Dr. E. Kapff: »Die Erziehungsschule. Ein Entwurf zu ihrer Verwirklichung auf Grund des Arbeitsprinzips.« Verlag von Julius Hoffmann, Stuttgart.

[18] A. Frank, Der Lehrplan und die Instruktionen usw., Prag 1904. J. G. Calve. S. 139. Verwandte Stimmen findet man gesammelt von Max Nath, »Schülerverbindungen« usw. Teubner, Leipzig 1906. S. 122.

[19] Lehmann-Hohenberg, der in seinem »Rechtshort« 1906 Nr. 13/16 S. 349 diesen Artikel abdruckt, sagt: »Tiefer angelegte Naturen lachen nicht, sondern schreiten zur Abhilfe.« Gewiß, aber zur Abhilfe bedarf es gesammelter Kraft, die erst geworben werden muß. Dazu hilft auch der Simpel. Wenn L.-H. außerdem behauptet, daß die Zeichnungen »oft ganz miserabel sind«, so irrt sich der mir sonst nahestehende wackere Streiter. Die Zeichnungen sind, rein künstlerisch betrachtet, mit das Beste, was in Deutschland zurzeit geleistet wird. Ich empfehle ihm, einmal die Weimarer Künstler um ihr Urteil zu fragen, sie werden ihm dasselbe sagen.


245

Inhaltsverzeichnis.

Seite
Vorwort VII
I. Begriffsbestimmung 1
II. Begrenzung des Themas 11
III. Pädagogische Vorbilder 23
IV. Befähigungsnachweis 42
V. Bedürfnisfrage 46
VI. Das deutsche Mannesideal in der Geschichte 72
VII. Ergebnis 99
VIII. Die Kirchen als Erzieher zur Mannhaftigkeit 106
IX. Der Gebildete 132
X. Fragen ans Gewissen 147
XI. Der Beamte als Erzieher zur Mannhaftigkeit 160
XII. Parlamentarier 183
XIII. Moderne Pädagogik 192
XIV. Erziehung zur Tat 212
XV. Stärkung des Selbstbewußtseins 225
XVI. Unsere Wünsche 238

Weitere Anmerkungen zur Transkription

Offensichtlich fehlerhafte Zeichensetzung wurde stillschweigend korrigiert.

Setzfehler in lateinischen und griechischen Phrasen wurden nicht korrigiert.

Korrekturen:

S. 16: Schulunterichtes → Schulunterrichtes
Ziel des Schulunterrichtes ist nicht sowohl die freie Entfaltung

S. 27: bischen → bißchen
das bißchen Ehre und Stolz rauben

S. 55: verstumenn → verstummen
daß selbst meine Widersacher verstummen

S. 60: Mensehen → Menschen
Ich nenne jeden Menschen einen Idealisten

S. 67: verströsten → vertrösten
So ist's an euch, nicht zu vertrösten,

S. 96: Assoziation → Association
der englischen Gäste der International Law Association

S. 109: Gallilei → Galilei
wurden von der Kirche Galilei verfolgt

S. 129: verammaln → verrammeln
Statt sie ängstlich zu verrammeln

S. 145: Mannesspflicht → Mannespflicht wo es Mannespflicht wäre, den Mund weit aufzutun.

S. 155: damagogischen → demagogischen
Wir verabscheuen den demagogischen Ton.

S. 158: unsitttlich → unsittlich
Ihr erklärt es für unsittlich,

S. 162: unterichtet → unterrichtet
er hatte meinen Sohn unterrichtet

S. 178: einen → einem
hätten einem Diplomaten vorbismarckischer Zeit

S. 181: Außerungen → Äußerungen
Es ist nur eine seiner Äußerungen

S. 189: tewa → etwa
etwa wie man den Namen des Herostratus nennt

S. 193: Deusche → Deutsche
der Hellene, der Christ und der Deutsche

S. 194: goldenen → goldenem
und mit goldenem Marterkreuze

S. 197: und → and
»school and society«

S. 198: Schülerwerstätten → Schülerwerkstätten
Geldmittel zur Errichtung von Schülerwerkstätten

S. 201: Ein → Eine
Eine Ärztin hat kürzlich betont

S. 206: Arzte → Ärzte
Unsere Ärzte verurteilen von Grund aus

S. 225: törperhafter → tölpelhafter
daß die Eltern tölpelhafter Junker

S. 228: Ol → Öl
schon einen gehörigen »Schuß« Öl






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work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
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Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need, are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Its 501(c)(3) letter is posted at
http://pglaf.org/fundraising.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at
809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
business@pglaf.org.  Email contact links and up to date contact
information can be found at the Foundation's web site and official
page at http://pglaf.org

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     gbnewby@pglaf.org


Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit http://pglaf.org

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
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against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
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Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations.
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works.

Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For thirty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.


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