The Project Gutenberg eBook of Die Wiener Schreckensnacht vom 8. December 1881

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Title: Die Wiener Schreckensnacht vom 8. December 1881

Author: L. Adam

Release date: December 16, 2025 [eBook #77474]

Language: German

Original publication: Wien: Aux Trois François, 1882

Credits: Richard Illner, Alpo Tiilikka and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was produced from images made available by The Austrian National Library)

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE WIENER SCHRECKENSNACHT VOM 8. DECEMBER 1881 ***

Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr verwendete Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert; fremdsprachliche Ausdrücke wurden nicht korrigiert.

Cover picture
Seite 1 Deco.

Die Wiener Schreckensnacht vom 8. December 1881.

Illustrirtes Gedenkheft

mit 24 Illustrationen.

Der Rein-Ertrag ist den Witwen und Waisen der durch die Katastrophe Verunglückten gewidmet.

Preis eines Heftes 50 kr. ö. W.

Nachdruck und Uebersetzungsrecht vorbehalten.

Im Selbstverlage des Verfassers

L. Adam.

AUX TROIS FRANÇOIS

I., Johannesgasse Nr. 10, Ecke der Seilerstätte.

Druck von M. A. Schwarz, Wien, I., Führichgasse 6.

Das Ringtheater am Morgen des 8. December 1881.

Das Ringtheater am Morgen des 8. December 1881.

[S. 5]

Am Morgen des 8. December.

An einem Marientage, einem der schönsten Feiertage der katholischen Kirche, am 8. December, wurden die die Woche über angestrengt thätigen Wiener angelockt, sich an dem schönen aber frischen Wintertage zu erfreuen und einen Spaziergang über den Ring zu machen. Hunderte, die das Ringtheater passirten oder sich daselbst Plätze an der Tagescasse holten, hatten keine Ahnung, dass sie sich Eintrittskarten für das Jenseits gelöst, und freuten sich bereits der Genüsse, die ihrer am Abende warten sollen, da das letzte Offenbach’sche Werk: «Hoffmann’s Erzählungen», zum zweiten Male hätte aufgeführt werden sollen, wenn nicht der Alles lenkende und leitende Schöpfer in seinem unergründlichen Rathschlusse es anders beschlossen hätte.

In dem Gebäude des Ringtheaters selbst herrschte die gewohnte Thätigkeit. Director Jauner in seinem mit fürstlichem Luxus ausgestatteten Appartement, beschäftigte sich, wie an jedem Sonn- und Feiertage, mit der Sichtung und Erledigung der die Woche über eingelaufenen Stücke, welche von den Autoren seiner Beurtheilung unterbreitet wurden. Dessen Secretär, Herr Gisrau, hantirte in seiner Kanzlei. Das Theater selbst war, in Folge der für Mittag anberaumten Matinée zu Gunsten der unter dem Protectorate des Polizeipräsidenten Baron Marx von Marxberg stehenden Unterstützungs-Societät der Polizeibeamten Wiens für ihre Witwen und Waisen, ziemlich belebt. Mitglieder des Männergesangvereines kamen auf die Bühne; es wurde angeordnet und ausgeführt, die Billeteurs waren an ihren Plätzen, kurz es zeigte das Haus ein Leben wie immer. Niemanden beschlich ein Gefühl, als sollte es in kürzester Zeit ganz anders in diesen Räumen zugehen. — Die Matinée war vorüber, das elegante Wien verliess gegen 4 Uhr Nachmittags das Ringtheater. Die Carossen trugen die Herrschaften zur Tafel, die Thore des Theaters wurden geschlossen und das Schauspielhaus zum Empfange des Publikums für die Abendvorstellung hergerichtet.

Gegen ¼ 5 Uhr bemerkte man bereits einige Personen, welche sich an das Thor lehnten, um die Ersten bei der Casse zu sein, wenn aufgesperrt wird, um auf diese Art einen guten Platz hoch oben auf der «Jucheh-Galerie», wie im Volksmunde bisher die letzten Galerien der Wiener Theater genannt werden, zu erhaschen. Zu diesen ersten — drei junge Männer und dem Aeusseren nach zu schliessen eine kunstsinnige Köchin — gesellten sich bald ein Dutzend anderer theaterlustiger Personen, so dass gegen sechs Uhr Abends an 200 Menschen bereits warteten, bis endlich aufgesperrt wurde. Man hörte lachen und [S. 6]schreien, als der Schlüssel im Schlosse rasselte, Alles stiess und drängte, mit fieberhafter Schnelligkeit wurde das Billet gelöst, und eilenden Schrittes die Treppen hinangeeilt, um endlich athemlos den Platz in dem Hause einzunehmen — aus welchem es nur Wenigen gegönnt war, so herauszukommen, wie sie hineingegangen.

Gedränge vor dem Aufsperren.

Gedränge vor dem Aufsperren.

Kaum eine halbe Stunde war seit dem Einlasse des Publikums in das Ringtheater vergangen, man sah die Galerie dicht gefüllt, die «Oberen» fanden bereits an den Toiletten der Logenbesucher eine willkommene Augenweide, um die Zeit bis zum Beginne der Vorstellung auszufüllen, die Sitze im Parterre waren gleichfalls fast bis zur Hälfte besetzt und die Herren von «Unten», [S. 7]der Bühne den Rücken kehrend, richteten ihre Operngläser bald auf dieses oder jenes hübsche Gesicht, welches über die Brüstung der Galerie freundlich und schelmisch hinabblickte auf die jungen und alten Neugierigen, welche die Operngläser nicht abwenden konnten von den niedlichen Grisettengesichtern. Plötzlich wurde ein Lärmen, ein Schreien und Gepolter hinter dem Vorhange vernehmlich, eine Minute lang lauschte das Publikum, es herrschte Todtenstille. Die wenigen im Orchester bereits mit ihren [S. 8]Instrumenten sich beschäftigenden Künstler sprangen plötzlich empor, ein Schrei gellte durch das Haus, der Vorhang flog, von furchtbarer Gewalt bis zur Brüstung der dritten Galerie emporgetrieben, in die Höhe, eine colossale Flammengarbe erhellte mit einem Male den Zuschauerraum: Feuer! Feuer! Diese furchtbaren Worte übertönten den grässlichen Lärm; Alles eilte und drängte, unbekümmert um den Nebenmann, den Thüren zu, das Freie, Gottes freie Himmelsluft zu erreichen, wenn es eine solche noch geben sollte, denn im ersten Momente drängte sich gar manchen der im Theater Anwesenden der Gedanke auf, der Weltuntergang sei gekommen und Feuer und Wasser erfülle den ganzen Raum des Universums! — Bald, nur zu bald hat sich das Bild der Ringstrasse verändert, die Flammen schlugen hoch zum Himmel empor, ein furchtbarer Knall erfolgte, das Gas ist explodirt, und Finsterniss und Glut, Feuer und Rauch erfüllten alle Räume, erstickten und vernichteten Alles, was athmete und lebte.

Feuer! Feuer! Feuer!

Feuer! Feuer! Feuer!

Der Tod entfesselte alle seine Schrecknisse; — mit seinem glühenden Athem überfiel er das blühende Leben heiterer, lachender, fröhlicher Menschen und entsendete gegen sie das Feuer, den Qualm, den Rauch, er verbrennt sie, er erstickt sie, erwürgt sie, zerschmettert ihre Gliedmassen; — in weniger als einer Stunde hat er die Schreckensarbeit gethan, über welche Millionen Menschen schreckensbleich und sprachlos geworden.

Erschüttert und noch unter dem Eindrucke des grässlichen Ereignisses schreite ich mit pochendem Herzen daran, diesen Abend vom 8. December 1881 und die folgenden Tage zu schildern — bis zum Schlusse der Tragödie, der Leichenfeier am 12. December!

Bevor ich jedoch zur weiteren Schilderung der grauenvollen Thatsache übergehe, muss ich einige geschichtliche Daten über die Entstehung des «einstigen» Ringtheaters, früher «Komische Oper», voraussenden. Dieses Schauspielhaus, vom Architekten Emil Ritter v. Förster erbaut und gegenwärtig dem Wiener Stadterweiterungsfonds gehörig, wurde am Samstag den 17. Jänner 1874 eröffnet. Bei der Construction des Hauses war darauf Rücksicht genommen worden, eigene Eingänge und Cassen für die Galerie-Besucher anzulegen. Dieser an und für sich sehr gute Gedanke hatte indessen einen Uebelstand zur Folge, der sich gerade an diesem Unglücks-Donnerstage entsetzlich fühlbar gemacht haben mag. Das Parterre des Zuschauer-Raumes musste in das erste Stockwerk verlegt werden und der Theatersaal selbst erhielt, vom Niveau der Strasse aus bemessen, eine enorme Höhe. Die Stiegen, die zu den oberen Galerien führen, sind, da sie ziemlich bequem ansteigen, von unerhörter Ausdehnung und wer jemals den vierten Stock dieses Hauses erklommen hat, wird die Endlosigkeit dieser Treppen-Anlage im Gedächtnisse behalten haben. Der Zuschauer-Raum war nicht gross; das Parquet hatte etwa 260 Sitzplätze und das ganze Haus fasste circa 2000 Personen. Die Decoration des Innenraumes, die im Wechsel der früheren Directionen unberührt geblieben, hatte unter der letzten Direction eine durchgreifende Verschönerung erfahren. Freundlichere Farben [S. 9]ersetzten die trübe Mattheit der einstigen Ausstattung. Ein prächtiger Kronleuchter, der thatsächlich Tageshelle verbreitete, ergoss sein Licht durch den eleganten Raum. Eine Hoffnung, die sich leider nicht erfüllt hat: dass sich die Katastrophe ohne grossen Verlust an Menschenleben abgespielt hätte, wurzelte in der Thatsache, dass unter allen Wiener Theatern die «Komische Oper» die schlechtesten Galerien hatte. Speciell von der vierten Galerie aus ist die Bühne kaum von den Mittelplätzen zu übersehen gewesen. In Folge dessen waren die oberen Räume jederzeit schlecht besucht, während in anderen Theatern gerade diese Plätze in Sonntags-Vorstellungen überfüllt sind.

Franz Jauner, der letzte Director des Ring-Theaters.

Franz Jauner, der letzte Director des Ring-Theaters.

[S. 10]

Die Komische Oper wurde unter der Direction Albin Swoboda mit dem «Barbier von Sevilla» eröffnet. Die grossen Erwartungen, die man der Begründung dieser Bühne gewidmet, erfüllten sich nicht. Unter der Wirkung des wirthschaftlichen Niederganges schwächte sich die Theilnahme des Publikums bald so erheblich ab, dass das Haus die in seinem Namen ausgesprochen gewesene künstlerische Tendenz völlig verlor und ein Spielball des Zufalls wurde. Den letzten Glanz brachte das erste Auftreten der Patti am 24. März 1875 in die Komische Oper. Mit Mühe und Noth brachte sich das Theater bis zum 30. April fort. Vom 1. Mai desselben Jahres angefangen — an welchem Tage zufälligerweise Herr Jauner die Direction der Hofoper übernahm — bis lange in den Winter hinein blieb es jeder künstlerischen Thätigkeit fern. Dann folgte die bunte Flucht der Directionen, die immer mit grossen Erwartungen begannen und mit der von den Künstlern angerufenen Intervention der Polizei endeten. Taschenspieler, Puppenkünstler, allerlei Curiositäten — ein unerquicklicher Gänsemarsch von unkünstlerischen Schauspielen. Auf denselben Boden, den Salvini geweiht, trat der Fuss des Fructificirers des Hypnotismus: Hansen.

Endlich nach so vielen Enttäuschungen schien auch für dieses Haus, das früher schon den nicht mehr entsprechenden Namen in «Ringtheater» umgewandelt hatte, eine bessere Zeit anbrechen zu wollen. Der glücklichste Empiriker unter den gegenwärtigen Wiener Theaterleitern, Franz Jauner, beschloss, das Theater der Kunst zurückzugeben. Er eröffnete das Haus am 1. October d. J. mit dem «Rattenfänger von Hameln». Wirklich schien sich jetzt die Gunst der Bevölkerung dem neuen Unternehmen zuzuwenden. Aber auch die Direction Jauner enttäuschte manche der Hoffnungen, die man an das Wiederaufleben der vielgeprüften Bühne geknüpft hatte, nur Experimente à la Sarah Bernhardt mit der Monstre-Reclame füllten die Räume des Ringtheaters, und wer kann wissen, welcher Art — ohne das Eingreifen des Verhängnisses — das Schicksal der Direction Jauner gewesen wäre?

«Das Ringtheater brennt.»

In dem kurzen Zeitraume von 6 bis 7 Uhr Abends hat sich das Bild durch die Gewalt des Feuers wesentlich geändert. Die Nachricht: «das Ringtheater brennt», wirkte auf die Bevölkerung wie ein Donnerschlag; die in den Caffeehäusern beim Kartenspiele sitzenden Personen warfen die Kartenblätter von sich, aus den Häusern und Wohnungen eilten die Menschen, durch den hellen Feuerschein aufgeschreckt, auf die Strasse, aus den Vorstädten und Vororten drängte Alles der Stadt zu, und die Tramwaywaggons wurden derart überfüllt, dass Personen sich gleich Gassenjungen rückwärts anklammerten, nur um möglichst rasch dem Brandorte nahe zu sein. Gegen 7 Uhr Abends stauten sich an 10.000 Menschen; von dem Allerhöchsten Hofe erschienen die Herren Erzherzoge Albrecht und Wilhelm, die Löschtrains der städtischen Feuerwehr mit der Dampfspritze, [S. 11]verständigt durch ein Telegramm der Polizei-Direction — welche erst — und das ist das Merkwürdigste — von einem um ¾ 7 Uhr den Schottenring passirenden Diener des Extrablattes, Namens Josef Swoboda, aufmerksam gemacht wurde, dass das Ringtheater brenne. Dieser sah das urplötzliche Erlöschen der elektrischen Sonnen vor dem Portale des Ringtheaters und bemerkte gleichzeitig über den First des Hauses einen blitzähnlichen Feuerstrahl, dem eine lange Rauchwolke folgte, aufblitzen. Wieso es kam, dass der Rayonposten an der Ecke des Schottenringes, der doch den Schlüssel zu dem am Hotel de France angebrachten Feuersignale in der Tasche hatte, kein Aviso von dem [S. 12]Brande gab, kann Niemand wie dieser selbst wissen, und ebenso unerklärlich ist die Thatsache, dass die telegraphische Verbindung des Ringtheaters mit der Feuerwehr erst nach dem Telegramme der Polizei-Direction eintraf. — Alles, was sich einfand, wurde aus dem Munde von Wachleuten mit der Auskunft beruhigt: «Menschenleben sind nicht zu beklagen, das Haus ist vollkommen entleert, es hatte Alles Zeit, das Theater zu verlassen». Viele Personen kehrten nach dieser beruhigenden, officiellen Mittheilung an ihren Spieltisch im Caffeehause oder an ihren Wirthshaustisch zurück, denn, wenn keine Menschen in Gefahr sind, was liegt an einem noch so kostspieligen Bau eines Ringstrassenpalastes. Auch den beiden Herren Erzherzogen wurde von Seite des Polizeirathes Landsteiner die dienstliche Meldung gemacht: «Menschenleben sind nicht in Gefahr, das Haus ist gänzlich entleert».

Ringtheater-Brand.

Ringtheater-Brand.

Auf dem Balcon und der Loggia waren allerdings circa 100 Personen, theils verwundet, theils halberstickt zu bemerken, doch diese retteten ihr Leben entweder durch einen Sprung in das Rettungstuch, oder gelangten, nachdem die als zu kurz befundenen Leitern durch höhere ersetzt wurden, auf diesem Wege in’s Freie. —

Die Brandstätte und Rettungsversuche durch Springtuch und Leitern.

Bevor aber diese Meldungen und Auskünfte ertheilt wurden, spielten sich Scenen ab, welche die berufenen Personen doch zu dem Versuche veranlassen hätte können, in den noch nicht brennenden vorderen Theil des Theatergebäudes mit Fackeln bewaffnet einzudringen, um auf den Stiegen nachzusehen, ob auch thatsächlich kein Besucher des Theaters mehr im Hause wäre. Statt den Brand zu localisiren und sich ausschliesslich mit dem Feuer zu beschäftigen, hätte der Rettung von Menschenleben das Hauptaugenmerk zugewendet werden sollen. Als der Schreckensruf ertönte: «das Ringtheater brennt», spielte sich bereits vor dem Theater ein entsetzliches Schauspiel ab. In rasender Eile hatte die Flamme den Dachstuhl durchbrochen und beleuchtete taghell den Schottenring und Umgebung. Im Innern hat man eine Detonation vernommen, dann war tiefe Finsterniss eingetreten. Während im Theater Alles zu den Ausgängen stürzte und eine unbeschreibliche Verwirrung entstand, strömte eine Menge Menschen gegen das Theater, um Hilfe zu bringen. Was sich in der Umgebung desselben abspielte, entzieht sich thatsächlich jeder Beschreibung. Hinaus und hinein in das brennende Gebäude, dessen Flammen weitum den Himmel roth färbten, stürzten die Menschen. In der Loggia zur linken Hand erschienen beiläufig zwanzig Leute, welche mit gellender Stimme um Hilfe riefen. Die Stimme derjenigen, welche sich um das Theater drängten, antworteten denen oben und in den furchtbaren Wirrwarr hinein schallten die hellen Töne der anrasenden Feuerwehr. «Hilfe für [S. 13]die Menschen in der Loggia! Hilfe, um Gottes willen! Hilfe, um jeden Preis!» Man suchte Leitern von den Feuerwagen herunterzunehmen, aber dieselben erwiesen sich als zu schwach und zu kurz. Glücklicherweise war ein Springtuch vorhanden.

Rettungsversuche mit dem Springtuch.

Rettungsversuche mit dem Springtuch.

«Aushalten! Zuwarten! bis das Springtuch gespannt ist!» schreien die unten. «Hilfe! Hilfe!» schreien die oben. Das Springtuch wird ausgespannt. Einige der Leute oben steigen über die Brüstung, aber die Furcht hält sie noch fest. Da blitzt es in den Fenstern und fahler Feuerschein wird hinter der Loggia sichtbar. Verzweifelt wirft sich ein Mann herab. Er fliegt mit ausgebreiteten Armen und Beinen durch die Luft. Er ist ein schwerer, starker [S. 14]Mann und die Männer, welche das Tuch hielten, haben gut gehalten. Es ist dem kühnen Springer nichts geschehen. Es folgt ihm ein zweiter, ein junger, gewandter Mensch, welcher ebenfalls gut davon kommt; dann ein dritter. Jetzt windet sich eine Frauengestalt aus dem Gedränge oben hervor und betritt die verhängnissvolle Kante. «Muth! Muth! Nur springen!» ruft man unten. Sie wagt den Sprung; weit flattern ihre Kleider — ein grässlicher Anblick — aber sie wird wohlbehalten von dem Tuche aufgefangen. Ein halbwüchsiger Knabe springt jetzt hinab. Es folgt Einer nach dem Anderen! Die Männer meist barhäuptig. Nur drei bleiben oben; jetzt ist eine grosse Leiter herbeigebracht worden, welche man mit aller Geschwindigkeit zusammenstellt. Der Feuerschein im Hintergrunde ist matter geworden. Aber höher und höher schlägt die Lohe vom Dachstuhl gen Himmel. Dichter Qualm kommt aus den oberen Fenstern zum Vorschein. Die aufgescheuchten Tauben flattern mit verzweifeltem Flügelschlag in dem Qualm umher und hoch oben steht in ruhiger Haltung, hell von der Gluth beschienen, Apollo, wie zum Spott, über dem Unglücksgebäude.

Da erschallt von dem rechtsseitigen Fenster neben der grossen Loggia ein Hilferuf. Das Fenster ist aufgerissen worden und ein Dutzend Menschenköpfe kommt zum Vorschein. «Hilfe! Hilfe! Um Gotteswillen!» Man bringt eine Leiter herbei, die wiederum zu kurz ist. Eine qualvolle Viertelstunde vergeht. Jetzt gehen die Männer mit dem Springtuch nach dieser Seite und wieder erschallen die auffordernden Rufe: «Herabspringen!» Ein Mann wagt es zuerst, er ist gerettet; dann eine Gestalt in buntem Theater-Costume! Dann erscheint in dem Fenster eine Leiter; wie dieselbe dahin gekommen, ist ein Räthsel. Zugleich mit der Leiter wird ein Tuch herabgelassen. Jetzt steigen die Menschen die Leiter hinab und von einer ziemlich geringen Höhe lassen sie sich in das Tuch fallen. Ein paar Frauen sind darunter. Nur zwei Knaben, die nicht den Muth haben, zu springen, hocken auf dem Stein-Vorsprung unter dem Fenster. Inzwischen haben auf der Seiten-Loggia die Feuerwehrleute die Leiter angelegt und bringen Einen nach dem Anderen aus der Loggia herab. Ein Mann mit einem weissen Tuch um den Kopf läuft durch die Menge und sucht seine Frau. Er hat den Sprung gewagt und ist unverletzt davongekommen. «Meine Frau ist noch drinnen! Sie ist hochschwanger!» schreit er verzweifelt. «Sind noch Menschen im Gebäude? Sind noch Menschen drinnen?» Die Leute, welche heruntergesprungen sind, versichern, dass auf den Treppen noch Leute liegen. Frauen seien in Ohnmacht gefallen und liegen auf den Treppen. «Das Theater ist geschlossen! — Sie können nicht heraus!» heisst es in der Menge. Das ist aber nicht richtig. Das Theater ist offen; es haben zu verschiedenen Malen Leute sich hineingewagt; aber die Finsterniss drinnen liess nichts erkennen. Eine Frau trägt ein Kind vorüber; sie ist mit demselben herabgesprungen, heisst es; sie geberdet sich wie wahnsinnig.

[S. 15]

Es entspann sich zwischen einen jungen Mädchen dem Berichte des «Wiener Tagblatt» vom 11. December nach ihren eigenen Angaben entnommen, mit Namen Pawlik, bevor dasselbe in das Sprungtuch sich warf, eine Controverse vom Balcon herab mit den Wachleuten, indem sie flehentlichst bat, Leute mit Licht zu senden, denn nur diese können hunderten von Menschen, die den Ausweg nicht finden und festgekeilt in den Stiegenräumen stehen und liegen, Rettung bringen. Diesem Fräulein, als es unten angekommen, schenkte man trotz ihrer verzweifelten Bitte kein Gehör, man entsendet Niemand mit Licht, sondern schrieb blos Name und Adresse des Fräuleins auf und blieb dabei: es wäre kein Mensch mehr im Theater! — Der Wichtigkeit halber citirte ich auch das Blatt, welches wortgetreu die Angaben des Fräulein Pawlik, das in der Familie des Abgeordneten Alfred v. Scene die freundlichste Aufnahme fand, zum Abdrucke brachte, die jedenfalls bei dem sich abspielenden Processe vor dem competenten Gerichte entscheidend in’s Gewicht fallen werden.

Eine Stunde bereits wüthete der furchtbare Brand, die Geretteten, welche unter den Zuschauern blieben, weil sie ihre Freunde oder Verwandten, ihre Eltern oder ihre Kinder, ihre Männer oder Frauen suchten, schrieen unaufhörlich: es sind noch hunderte Leute im Hause auf den Stiegen, welche verbrennen, rettet sie, helft, sendet Leute mit Licht hinauf, welche Worte hundertfach von den Umstehenden wiederholt wurden, bis endlich zwei Polizeibeamte in das Haus mit Fackeln eindringen, während die gesammte Löschmannschaft unaufhörlich Wassermassen in die Flammen sendet. Man wollte von Seite der öffentlichen Functionäre doch endlich Gewissheit haben, ob das Gerücht, dass noch Menschen in dem Hause seien, sich bewahrheite. Plötzlich erscheinen die zwei muthigen Männer wieder an der Unglückspforte; ihre Mienen sind von Schrecken verstört, todtenbleich rapportirten sie den in der Nähe der beiden Herren Erzherzoge stehenden Polizeichefs «dass oben noch eine ganze Menge Personen, ein Knäuel von Menschen liege, Ohnmächtige, Tode, Sterbende, Verwundete, welche so dicht zusammengepresst, zusammengeballt seien, dass man nur mit grösster Anstrengung die einzelnen Körper hervorziehen könne.» Nun mit einem Male änderte sich nach dieser Meldung die Scenerie.

Wie ein elektrischer Funke durchfuhr der Gedanke nach Rettung der Verschmachtenden die Zuhörer dieser Hiobspost; als einer der ersten stürzte todesmuthig unser Oberlandesgerichtsrath und Staatsanwalt Graf Lamezan in das Foyer und nun ging es an die Rettung Derjenigen, die noch zu retten waren! Doch wie entsetzlich Wenige traf man nach einer Stunde des Brandes noch am Leben; verbrannte, erstickte, zertretene, erdrückte und erdrosselte Menschen beförderte man aus dem Hause; zu spät machte man die Entdeckung, dass Menschen, viele viele Menschen in dem Hause und auf den Stiegen seien, und doch hätte man dorthin, wohin man um die Todten gelangen konnte, auch gelangen können, um die Lebenden zu befreien, wenn man um 45 Minuten früher den [S. 16]Versicherungen der Geretteten Glauben geschenkt hätte, dass noch Menschen in dem Hause weilen!

Leichentransport während des Brandes.

Leichentransport während des Brandes.

Die Todesverachtung, der Muth, der dazu gehört, um in das in hellsten Flammen stehende Gebäude zu gelangen, war [S. 17]sicherlich gleich zu Beginn des Brandes in der Brust der braven Männer, die nunmehr ihr Leben in die Schanze schlugen für Cadaver. — Ueber die Scenen, die sich nun im Inneren des Ringtheaters abspielten, erhalten wir genauestens Bericht aus einem Aufsatze des «Neuen Wiener Tagblattes», der nach der Erzählung des Grafen Lamezan niedergeschrieben wurde:

«Es war gegen halb 8 Uhr Abends — so erzählte Graf Lamezan — als ich vor dem brennenden Ringtheater anlangte. Ich hatte, da ich weiss, dass bei solchen Anlässen die Polizei- und Militärwache immer einen engen Cordon schliesst, um den Andrang des Publikums hintanzuhalten, um Neugierige und Unberufene nicht durchzulassen, die Vorsicht gebraucht, meine Beamtenkappe aufzusetzen, um mich so gewissermassen als eine officielle Persönlichkeit zu kennzeichnen. Ich musste aber trotzdem meinen Namen laut in die Menge rufen, um mir Durchgang zu verschaffen. Kaum, dass ich wenige Secunden vor dem brennenden Theater gestanden, kam der Wachmann Ignaz Winkler zu mir heran und meldete mir mit verstörter Miene und unter sichtbarer Aufregung, dass sich droben im Stiegenhause Menschen befänden, von denen er nicht wisse, ob sie vielleicht verbrannt oder ob nicht einige von ihnen noch am Leben seien.

«Führen Sie mich hinauf,» rief ich ihm, rasch entschlossen, zu. Gleichzeitig gab ich einigen Wachleuten und Feuerwehrmännern den Befehl, uns zu begleiten. Wir verfügten uns sodann durch das mit Qualm und Rauch erfüllte Foyer, in welchem eine totale Finsterniss herrschte, von da rechts über die Stiege, die zur ersten Galerie führt. Ueberall herrschte tiefe Finsterniss, Rauch und Hitze erfüllte den Raum, in dem wir uns herum tappend bewegten. So viel konnten wir aber doch mit Gewissheit constatiren, dass sich weder im Foyer, noch auf der Stiege, die zur ersten Galerie führte, Menschen befinden. Es drang auch kein Laut an unser Ohr. Nur das Prasseln der lodernden Flammen hörten wir deutlich, und als wir die Biegung überschritten, welche die Stiege macht, um zu den höheren Galerien zu gelangen, da entfaltete sich vor unseren Augen ein entsetzlicher, Schrecken erregender Anblick; wir sahen im Parterre die hellen Flammen auflodern und ein starker Luftzug peitschte die Flammen durch die Fenster und Thüröffnungen und verliehen diesem Theil des Stiegenhauses eine schreckliche Beleuchtung. Da der Wachmann schon im Hinaufgehen erklärt hatte, dass die Menschenhaufen, die er wahrgenommen, sich im zweiten Stocke befinden, rief ich meinen Begleitern aufmunternd zu: «Nur mir nach, wir müssen hinauf!» Und wieder machte die Stiege eine Biegung und hier herrschte wieder totale Finsterniss, die zumal Denjenigen das Vordringen beträchtlich erschwerte, die so, wie wir Alle, mit den localen Verhältnissen wenig vertraut waren. Ich ersuchte einige Herren, sich schleunigst wieder hinab zu verfügen, unten anzuordnen, dass Wasserschläuche heraufgeleitet werden und gleichzeitig auch Fackeln mitzubringen.

[S. 18]

Trotz der Dunkelheit tappten wir aber im Finstern weiter vorwärts. Bei der Wendung zur dritten Galerie, und zwar bei der ersten Wendung, welche die Stiege macht, stiessen wir bereits auf einen Widerstand und in diesem selben Augenblicke blitzte eine Flamme von dem inneren Raume heraus und das entsetzlichste Schauspiel bot sich unseren Blicken dar, wir sahen vier- bis fünffach übereinandergehäufte Menschenkörper da liegen. Im Nu ward es wieder finster und wir konnten mit den Rettungsarbeiten nicht sofort beginnen. Mein Ruf um Fackeln und um Zuleitung eines Spritzenschlauches verhallte fruchtlos. So schritten wir denn, so gut es eben unter den gegebenen Verhältnissen möglich war, zu unserer Arbeit .... wir begannen mit der Hervorziehung der einzelnen Körper. Mittlerweile kamen auch einige Wachleute mit brennenden Fackeln. Welch’ jämmerlicher Anblick! .... Es war entsetzlich! .... Herzerschütternd und herzzerreissend! Die Menschen waren über einander mit dem Vordertheile ihres Körpers nach abwärts, mit dem unteren Theil nach oben gerichtet und sie lagen über einander und unter einander .... Hie und da bemerkte man das Zucken eines Gliedertheiles, ein Zucken einer Hand, das Zittern eines Fusses, es schien in dem einen oder in dem anderen noch Leben vorhanden zu sein.

Wir wollten nun naturgemäss an die Rettung dieser Menschen schreiten, von denen man die, wenn auch nur leise Vermuthung haben konnte, dass sie sich noch am Leben befänden ... es war vergeblich. Bei dem ersten Versuch zeigte sich, dass die Last, die über diesen noch zuckenden Körpertheilen ruhte, dass die Last der oben aufliegenden Menschenmassen nur das entgegengesetzte Resultat liefern würde, dass man die Körpertheile nämlich durch gewaltsames Hervorziehen förmlich zerreissen müsste. Wir schritten somit zur «Bergung», d. h. zur Beseitigung der obenaufliegenden Personen und unseren Anstrengungen war es in einem Zeitraume von einer halben Stunde bereits gelungen, siebenundachtzig Leichen über die Stiege hinab in den Hofraum der angrenzenden Polizeidirection zu schaffen. Soweit meine Kräfte reichten, habe ich selbst mehr als ein Dutzend Leichen hinabgetragen. Hiedurch war die Stiege bis zum Schnürboden — so weit mussten wir vordringen trotz des dichten Rauchqualmes und der furchtbaren Hitze — freigemacht.

Die vorgefundenen Körper erschienen fast alle äusserlich unversehrt und nur zum kleinen Theile durch Hautabschürfungen und Contusionen entstellt. In den oberen Partien der Stiege, in der Nähe des Schnürbodens nämlich, fanden wir die Leichen vollkommen geschwärzt. Die Art und Weise, wie diese Leichen da über einander gethürmt lagen, die Stellung der Arme und der Beine gaben Zeugniss von dem Grade des Todeskampfes, den diese armen Menschen gekämpft haben müssen .... Der letzte Leichnam, den wir fanden, war ein weiblicher. Die Person lag mit dem Oberkörper nach abwärts, der fast unversehrt war, die Beine jedoch und die Bekleidung waren verbrannt .... Hinter diesem Leichnam, zum Theile schon begraben vom glimmenden [S. 19]Schutt, lagen noch drei grösstentheils schon verkohlte Körper, von deren Kleidung nichts mehr wahrzunehmen war. Ueber diese Leichname hinweg schritt ich noch ungefähr fünf Stufen .... ein weiteres Vordringen war unmöglich. Der Dachstuhl brannte mir lichterloh entgegen, nutzlos wäre es gewesen, noch nach weiteren Leichen zu forschen; man konnte, wie die Situation sich darstellte, doch nur mehr verkohlte Körper vorfinden, die nicht einmal mehr zu einer Agnoscirung geeignet gewesen wären.

Unten angelangt, war mein Erstes, zu fragen, ob die gleichen Arbeiten, wie ich sie mit meinen jeder Todesgefahr spottenden muthvollen Genossen hier auf der rechten Partie des brennenden Hauses unternommen, auch auf der linken Seite in Angriff genommen worden seien. Ich hörte zu meinem Entsetzen, dass in der grenzenlosen Verwirrung im ersten Augenblicke Niemand daran gedacht; jetzt das Gleiche auch hier zu thun, wäre aber eine vergebliche Mühe gewesen, da das Feuer rascher als auf der rechten Seite den linken Tract erfasst hatte.» —

Wahrlich hatte Graf Lamezan recht. Man arbeitete allerorts mit vielen Anstrengungen, aber das Werk ist wenig lohnend, denn nur Todte und immer Todte sind der Preis schwerer gefahrvoller Arbeit. In wenigen Stunden wurden aus dem brennenden Theater 144 Leichen entfernt und in den Hof der nur wenige Häuser weit entfernten k. k. Polizei-Direction getragen, woselbst sie bis zu deren Ueberführung in das k. k. allgemeine Krankenhaus aufbewahrt blieben.

Der Hof der k. k. Polizei-Direction.

Ein Trost wird den armen Hinterbliebenen der Opfer der Ringtheater-Katastrophe allerdings zu Theil, dass die Mehrzahl dieser Personen nicht lebend verbrannt ist, dass sie bereits todt waren, erstickt und erdrückt, als sie von den Flammen erfasst wurden. Ist aber der Feuertod in seiner ganzen Furchtbarkeit nicht tausendmal dem langsamen Hinsterben in dem Kampfe um das Leben, in welchem es keine Sieger gab, vorzuziehen? Aus den Stellungen der Leichen ersah man leider nur zu deutlich, wie gräulich dieser Kampf gewüthet haben mag, welche Qualen die unglücklichen Opfer des Brandes erlitten, welche peinvollen Scenen es abgegeben haben mag. Man fand Männer in fester, fast unlösbarer Umarmung mit den Zähnen in einander verbissen, die Nägel tief in das Fleisch des Anderen gebohrt. Zahlreichen Menschen fehlen die Extremitäten. Abgerissene Füsse, vom Rumpfe getrennte Hände liegen in dem Schutte; viele nicht verbrannte Körper sind zu einer unförmlichen Masse geworden, viele Leichen fand man vollkommen plattgedrückt. Diese Thatsachen machten das Auflesen von Leichen schwer, und vollends unmöglich wurde dieses bei den vollkommen verbrannten. Der ganze Schutt ist mit Asche von menschlichen Körpern gemengt, und wollte man rigoros zu Werke gehen, müsste aller Schutt dem Central-Friedhofe überstellt, eingesegnet und dort beerdigt werden.

[S. 20]

Feuerwehrleute, welche auf den dem Ringtheater gegenüber liegenden Häusern Posto gefasst, um die Wasserstrahlen in den feurigen Krater zu senden, erzählen, dass sie ganz deutlich an der Brüstung oberhalb der zweiten Galerie einen menschlichen Leichnam hängen sahen, der ganz langsam fortbrannte, dessen Fett in die Tiefe träufelte und zischend in die glühende Kohlenmasse fiel.

Der Hof der k. k. Polizeidirection.

Der Hof der k. k. Polizeidirection.

Brennende Leichen in den Galerien.

Man konnte deutlich wahrnehmen, dass sich unten noch eine Menge schauerlich entstellter Leichname befand, welche offenbar bei dem Durchbruche des Mauerwerkes in die Tiefe gestürzt waren. Einen wahrhaft grausigen Anblick haben die zahlreichen [S. 21]Leichen und Leichentheile gewährt, welche an dem blossgelegten Sparrenwerke, an Eisengittern u. dgl. hingen und die von den Flammen förmlich gebraten wurden. Aber der grässlichste Anblick war und wird bleiben, als ich mitten in diesen auflodernden Feuergarben zwei aufrechtstehende Personen, welche sich umschlungen hielten, an eine eiserne Säule gelehnt, erblickte. Ich glaubte mich zu täuschen; ich frug den Feuerwehrmann, ob er es auch sieht, «ja, da hoch oben im dritten Stockwerke» ruft er, «stehen zwei Leichen» — und während wir entsetzt und erstarrt hinblicken, bewegen sich die Beiden, ein Sparren krümmt sich, der Tragbalken [S. 22]baucht sich aus, ... jetzt kracht er nieder — Rauchwolken, das Bild ist verschwunden, nichts als brennende Lohe, Feuerdampf und wüstes Gewoge.

Im Tode vereint. (Brennende Leichen.)

Im Tode vereint. (Brennende Leichen.)

In Mitte der Gräuel spielte sich auch manches groteske Bild ab. Gegenüber dem Ausgange von der Bühne, in der Hessgasse unterm Hausthore war es, wo sich der verzweifelte Director Jauner, umgeben von den Mitgliedern seines Theaters, aufhielt. Es mochte ungefähr halb 8 Uhr gewesen sein, als Theaterarbeiter daran schritten, aus den Wohnungen von Theaterbediensteten Möbel und Bettzeug zu retten. Aus dem zweiten, aus dem dritten Stockwerke wurden Tücher, Teppiche, Matratzen etc. herab auf das Strassenpflaster geworfen. Bilder, Uhren etc. wurden herabgereicht und Alles in das gegenüber liegende Hausthor gelegt, wo Secretär Gisrau händeringend stand und den Moment verwünschte, in dieses Haus eingezogen zu sein. Die aus ihren Garderoben geflüchteten Schauspieler, zum Theile schon im Costüme, Schauspielerinnen, halb entkleidet, mit blossen Armen, eilten jammernd und schreiend die Strasse auf und ab, grellroth von der Feuergluth beleuchtet, die den Himmel zu versengen schien. Von der Schnelligkeit, mit der sich das Feuer verbreitete, mag man sich einen Begriff machen, wenn man erfährt, dass schon eine Viertelstunde nach Ausbruch des Brandes das Dach seiner ganzen Länge nach und die Bühne bis unter die Versenkung hinab in Flammen standen. Jedes Fenster schien die Oeffnung eines glühenden Hochofens zu sein, vor dem die Feuerwehrleute wie Schmiede an der Esse hantirten.

Stimmen aus dem Publikum.

Gegen 10 Uhr Nachts lagen im Hofe des Polizeidirections-Gebäudes bereits 116 Leichen, die aus dem brennenden Theater dorthin geschafft wurden; sämmtliche Todtenträger und k. k. Sanitätswagen der Stadt umlagerten mit ihren Tragbahren das Gebäude längs dem Schottenringe, des Augenblickes gewärtig, die Leichen in das allgemeine Krankenhaus zu schaffen. Um ½ 11 Uhr Nachts schlugen die Flammen, nachdem ein Abnehmen des Brandes bereits wahrgenommen worden war, wieder neuerdings hell empor, die Ursache war der Einsturz des Parterres. Um Mitternacht war die schreckliche Verwüstung gethan. Das ganze Haus im Innern war ausgebrannt. Zuschauerraum und Bühne und die zusammengestürzten Ueberreste bildeten einen riesigen Feuerherd. Gegen 1 Uhr Mitternachts konnte man den Brand als localisirt betrachten und Hunderte von Menschen stürzten sich in das Gebäude, um die Todten endlich aus dem Theater zu entfernen. In Militär-Sanitätswägen wurden nunmehr die Ueberreste der unglücklichen Theaterbesucher vom 8. December en masse vom Platze geführt; eine grässlichere Arbeit wurde seit den Märztagen 1848 von der Bevölkerung Wiens nicht vollführt, als in dieser denkwürdigen Nacht.


Personen, welche im Theater selbst vor Ausbruch des Brandes anwesend waren, erzählen Folgendes, was ich in meiner [S. 23]Eigenschaft als Schilderer dieser grässlichen Nacht mittheilen muss, trotzdem ich voraussetze, dass es heute bekannt ist; aber meine Arbeit gilt der Zukunft, und deshalb muss ich zur Reproducirung von schon Bekanntem schreiten.

Unterm Hausthore.

Unterm Hausthore.

Von einer Dame, welche genau im verhängnissvollen Momente des Eintrittes der Katastrophe ihren Sitz in der dritten Parquetreihe eingenommen hatte, wurde die blitzartige Wirkung dieses furchtbaren Beginnes folgendermassen veranschaulicht: «Ich war eben im Begriffe — erzählt die Dame — mein Opernglas dem Futteral zu entnehmen, als ich plötzlich bemerke, wie der Vorhang in seltsam aufbauschende Bewegung geräth und wie durch [S. 24]einen starken Druck in den Zuschauerraum hineingedrängt wird. Im selben Augenblicke wird unterhalb der Courtine ein Spalt frei und durch diesen Spalt trifft mein entsetzter Blick auf eine Feuerflamme, die vom Bühnenpodium hervorzüngelt.

Augenblicklich ergreife ich meine Begleiterin am Arme und dränge dem mittleren Sitzgange zu — aber schon ist, mit einem Schlage, alles Licht erloschen, dichte Finsterniss umfängt uns, wir werden auf die Parquetstiege hinausgedrängt, ich erfasse mit beiden Händen das Geländer — da fühle ich, entsetzlich, dass meine Verwandte nicht mehr an meinem Arme ist. Ich schreie ihren Namen — sie erwiderte den Ruf, wir erfassen uns wunderbarer Weise nochmals im Finstern, werden widerstandslos fortgedrängt — dem Ausgange zu — und sind gerettet. Hinter uns flammt das Haus».

Ein Besucher der Galerie erzählte nachstehende, ungemein anschauliche Darstellung seiner Erlebnisse: «Es war zehn Minuten vor 7 Uhr. Ich befand mich auf der vierten Galerie um halb 7 Uhr. Der Vorhang war ein wenig gehoben und einige Arbeiter nagelten und richteten noch etwas zum Gaudium des Publikums. Die Musiker sassen bereits im Orchester. Man sah nur durch die kleine Spalte einmal finster, dann wieder grelles elektrisches Licht. Die Galerien waren sehr gut besucht. Auf einmal hebt sich die Courtine in’s Parterre hinein. Man sah Feuer. Alle schrieen Feuer. Die Besonnenen auf der vierten Galerie rufen: «Sitzen bleiben!» Ich war in der Nähe des Nothausganges. Auf einmal wurde Alles finster. Ich tappte zu dem Ausgang. Man schrie und jammerte. Ich lief bis in die dritte Galerie. Da lief schon ein Haufen Leute herauf und schrie: «Unten brennt’s, nicht hinunter!» Verwegene zertrümmerten die Fensterscheiben. Ich blieb vielleicht zehn Secunden auf der dritten Galerie, nicht wissend, was ich machen sollte. Da fasste ich den Entschluss, lieber durch das Feuer zu laufen, als oben bei der schreienden, tobenden Menge zu bleiben, die nicht wusste, was sie machen solle, und wo man sich gegenseitig nicht sehen konnte, weil keine Petroleumlampen angezündet waren. Ich tappte mit vielleicht noch zwei bis drei jungen Leuten, welche mir aber vorgestürzt sind, langsam die rauchige Treppe herunter und brauchte circa eine Minute. Unten angekommen, kannte ich mich nicht aus; ich war bei dem Thore in der Hessgasse.

Es waren dort gegen 20 Leute, meist feines Publikum, Herren und Damen, welche um «Hilfe», «Aufmachen» schrieen, weil das Thor versperrt war. Im Vestibule gab es aber Licht. Nach circa 1 Minute wurde die Thüre durch einen Theaterdiener aufgemacht und wir waren im Freien. Im Hause gegenüber sah ich mehrere Schauspieler und Schauspielerinnen im Costüme als Studenten, Rathsherren u. s. w. Da ereigneten sich Scenen voller Angst und Entsetzen. Man schrie durcheinander. Eine Garderobière oder sonst eine alte Frau rief unaufhörlich: «Meine Kinder werden verbrannt. Wir werden Bettler!» Auf dem Balcon, Ecke der Hessgasse ober dem Gasthause, waren viele Leute, welche [S. 25]um Hilfe riefen. Es wurde ihnen vom Innern des Theaters eine Doppelleiter gereicht. Doch diese war zu kurz, sie liessen sie also fallen. Die Feuerwehr kam vielleicht zwei Minuten nachdem ich mich gerettet hatte. Ich eilte gleich nach Hause, um meine Angehörigen zu verständigen».

Bis gegen 8 Uhr — also nach einer Stunde nach Ausbruch des Brandes — erzählten Personen, welche beim Ausbruche waren, wagten sich noch Personen in das brennende Gebäude, um auf den Treppen nach Todten auszuschauen und Rettungen vorzunehmen. «Es ist Alles gerettet», heisst es in der Meldung, welche ein Polizeirath den anwesenden Erzherzogen Albrecht und Wilhelm, dem Commandirenden Philippovich, und dem in Amtsuniform erschienenen Minister-Präsidenten Taaffe macht.

«Alles gerettet?» fragt Erzherzog Albrecht ungläubig ... «Das Glück!»

Nach fünf Minuten kommt athemlos ein Polizeicommissär und meldet: «Die Stiege von der zweiten zur dritten Galerie ist voll von Todten ...» Grosses Entsetzen erfasst die Menge, welche diese Nachricht vernimmt ... Jetzt will man diese Schreckenskunde kaum glauben. Es ist Alles gerettet ... Die Stiege ist voll von Todten — schreckliche Gegensätze. «Ich gehe hinauf, kaiserliche Hoheit», sagte Polizeirath Landsteiner zum Erzherzog Albrecht, und begibt sich in das Gebäude. Man braucht die Antwort des Polizeirathes nicht abzuwarten, denn schon kommt eine andere Meldung: «Fünfzehn Todte sind im Hofe des Polizeigebäudes, darunter der Garderobier des Theaters, dessen Füsse total verbrannt sind, und der nach kurzem Leiden im Tode Erlösung fand».

«Zwanzig Todte sind im Polizeihaus». «Verbrannt?» fragte Erzherzog Wilhelm.

«Nein ... lauter Erstickte».

Und so gehen die Meldungen fort — immer grösser wird die Zahl der Todten, über die man berichtet ... «Dreissig Todte» lautet die Meldung um halb 9 Uhr, — Neunzig Todte um halb 10 Uhr, 154 um Mitternacht! Im Polizeihause liegen die Leichen, schrecklich verstümmelt von dem Drängen der Menge, die im Kampfe um’s Leben stürmte und tobte; die Kleider vom Leibe gerissen, die nackte Brust voll Wunden von den Nägeln, welche die armen, armen Menschen sich im Todeskampfe beigebracht haben. Das Gesicht schrecklich verzerrt, Schaum vor dem Munde, die Augen weit hervorgestreckt.

Immer mehr häuften sich die Leichen und die Zahl derselben hatte schnell die angegebene Zahl von dreissig überschritten. Die anwesenden Aerzte konnten gar nicht rasch genug die Todtenconstatirungen vornehmen. Die Leichen wurden neben einander gelegt und, als der Raum zu enge zu werden begann, auf einander geschichtet. Alle Anwesenden zitterten vor Erregung, das Herz drohte zu zerspringen vor Aufregung, ergraute Männer weinen laut ... dazu erfüllt das Jammern der Leute, welche ihre Angehörigen suchen, den weiten Raum.

[S. 26]

Die Aerzte constatirten, dass die meisten Menschen an Erstickung gestorben sind, ein grosser Theil fand im Gedränge den Tod. Bis halb zehn Uhr waren nur die Treppen, die zur zweiten Galerie führen, geräumt.

Ein Berichterstatter einer Zeitung folgte dem arbeitenden Personale auf die Treppe. Er schildert uns den Anblick, der sich ihm bot: «Wir schritten durch den seitlichen Gang die Treppe hinan, eine schreckliche Hitze herrschte in dem Raume, die Atmosphäre war von Rauch und Brandgeruch erfüllt. Die Treppe im ersten Stocke war bedeckt von Fetzen, abgerissenen Kleidungsstücken, Hüten, Shawls, Opernguckern u. s. w. Der zweite Stock bot ein Bild des Jammers, des Entsetzens: Leiche auf Leiche. Die Leiber der entseelten Menschen thürmten sich aufeinander; Todesröcheln drang von den oberen Stufen herab; wir wollten weiter vordringen ... der Rauch und die Hitze machten es unmöglich.

Es war unmöglich, zu retten, zu helfen. Machtlos stand man dem schrecklichen Ereignisse gegenüber, gefoltert von dem Bewusstsein, dass weiter oben noch viele Todte aufgehäuft liegen, und was noch schlimmer: viele Sterbende. In athemloser Eile stürzten wir zurück, die Feuerwehrmänner zu holen, welche mit Hilfe ihrer Vorrichtungen den Rauch passiren können. Nun begann die traurige Arbeit, die Todten und die Sterbenden aufzulesen. Dieselbe bot grosse Schwierigkeiten. Es waren nicht gleich genügend Fackeln vorhanden, um die ganze Treppe zu erleuchten; es herrschte Dunkel in diesem Raume, Dunkel dort, wo kaum wenige Schritte entfernt die wilden Flammen toben, Opfer fordernd ohne Zahl ... Ein fürchterliches Gefühl flösste dieses Dunkel ein, der Contrast zwischen dem Feuer drinnen, das solche Verheerungen anrichtet, und dem Dunkel hier auf der Treppe, welches das Rettungswerk hemmte». —

«Es war ¾ auf 7 Uhr und soeben war das zweite Zeichen gegeben worden», erzählt der Schauspieler des Ringtheaters, Herr Nötel, über seine Erlebnisse, «ich war gerade in der Garderobe fertig, hatte mein Tricot und den grünen Frack für meine Rolle angelegt und betrat die Bühne. Ich war ungefähr bis in die Mitte derselben gekommen, als ich einen furchtbaren Schreckensruf hörte. Die Situation wurde mir auch in demselben Momente in entsetzlichster Weise klar.

Ein Arbeiter hatte mit der langen Soffitenstange, welche zum Anzünden der Soffitenbeleuchtung dient, und an deren oberem Ende ein Blechgefäss, mit Spiritus gefüllt, sich befindet, aus dem ein brennender Docht hervorragt, die Soffitenlampen anzuzünden begonnen. Er kam mit dem brennenden Dochte an die Soffitenleinwand, welche zur Decoration im ersten Acte von «Hoffmann’s Erzählungen» gehört. Diese Decoration stellt das Innere einer Schänke dar. Die Soffitenleinwand fing im Momente Feuer und die helllichte Flamme theilte sich sofort dem Schleier mit, der im letzten Acte dieses Stückes als ein Zwischenvorhang hinunterfällt. Der brennbarste Zunder war gefunden. Ich befand [S. 27]mich im Nu in einem Flammenmeere und ich sah, wie der betreffende Arbeiter nach rückwärts sprang.⁠[1]

[1]Einer anderen Version zu Folge war Gas entströmt, welches naturgemäss nach Aufwärts dringt. Da am Dache keine constante Oeffnung ist, sammelte sich das Gas oben an; als die offene Spiritusflamme in die Region des ausgeströmten Gases kam, entzündete sich dasselbe und verbreitete sich, Alles in Brand steckend, im Nu über den ganzen Schnürboden, so dass an ein Löschen gar nicht gedacht werden konnte, weil mit einem Schlage Alles, auch der leere obere Raum, in hellen Flammen stand.

Der Autor.

Es muss durch den plötzlichen und gewaltigen Ausbruch der Flammen ein überaus heftiger Luftzug entstanden sein. Eine hohe Feuersäule stürzte geradezu auf den Vorhang los, der die Bühne vom Zuschauerraume trennt und riss in diesen Vorhang mit dämonischer Gewalt ein breites Loch hinein, und durch diese Oeffnung drängte sich der Feuerstrom hinaus in das Theater, wälzte sich auf die bereits dicht besetzten Galerien und hüllte die Unglücklichen mit seinem Todesmantel ein.

Ich hörte nur einen einzigen, riesigen Schrei, einen einzigen Ruf unsagbarsten Schreckens und furchtbarster Verzweiflung.

Ich wendete mich nach rückwärts und stiess auf den Director Jauner. Wir eilten Beide auf die rückwärtige Theaterstiege, die aus Stein gefügt ist, stürzten beim rückwärtigen Eingang auf die Strasse hinaus und liefen, was wir konnten, nach dem vorderen, auf der Ringstrasse gelegenen Haupteingange des Theaters, um die vordere Hauptstiege zu gewinnen. Wir wollten sehen, ob das Publikum sich gerettet habe. Das Foyer und die Hauptstiege waren leer und einen Augenblick lang lebten wir in der Hoffnung, dass es Allen gelungen sei, dem Verderben zu entrinnen.

Trügerische Hoffnung! Bald sollte mir die schreckliche Gewissheit klar werden.

Jauner war zusammengebrochen und von einem Herrn, von dem ich nachträglich hörte, dass es der schwedische Consul Kendler gewesen, ohnmächtig fortgetragen worden. Ich selbst eilte wieder nach dem rückwärtigen Eingange, um mich über die Theaterstiege in die Garderoben zu begeben. Ich wollte nachsehen, ob hier nicht zu helfen, nicht zu retten wäre. Die Garderoben waren alle intact. Ich konnte mich meiner Tricots und meines grünen Fracks entledigen und kam nun auf den Gang. Hier hörte ich Hilferufe. Choristinnen stürzten geschminkt und in ihren Costümen die Treppe hinunter; mehrere von ihnen, die ihre Theatertoilette noch nicht beendet hatten, waren blos mit Hemd und Unterrock bekleidet. Ich wies die Schreienden und Jammernden nach dem sicheren Ausgange hin und begegnete dem Feuerinspector Nitsche, der im obersten Stockwerke des Theatergebäudes wohnt. Seine Wohnung war natürlich im höchsten Grade gefährdet, wir liefen hinauf, Nitsche fand seine Frau ohnmächtig, nahm sie auf den Rücken und trug sie fort. Ich selbst ergriff die beiden Kinder der Nitsche’schen Eheleute und eilte ihm nach.

[S. 28]

Im zweiten Stocke angelangt, sah ich Flammen aus dem Theaterraume auf die Stiege hinausbrechen. Die eiserne Thüre, welche hier die Stiege von der Bühne abschliesst, war offen und da drang Feuer und Qualm hinaus. Mit einem Ruck stiess ich die Thüre zu und wir waren in Sicherheit, denn nun war das Feuermeer der Bühne von der Stiege abgeschlossen.

Auf der Stiege.

Auf der Stiege.

Noch einmal drang ich auf die Theaterstiege bis in den dritten Stock. Hier bot sich mir der erste entsetzliche Anblick. Auch vom dritten Stock führt eine eiserne Thüre in den Bühnenraum. Eingezwickt in diese Thüre fand ich die Leiche eines Garderobiers. Der Unglückliche war offenbar zu dem rettenden Ausgange geeilt, hatte noch die Kraft gehabt, die Thüre aufzustossen, war aber, erstickt von Qualm, niedergestürzt und die wieder zuschnappende Thüre hatte die Leiche in die Stellung eingezwängt, in der ich sie fand.

Endlich war ich überzeugt, dass in dem rückwärtigen Theile des brennenden Gebäudes Niemand mehr vorhanden war. Die [S. 29]Theaterarbeiter waren mit grösstem Muthe so lange als möglich auf der Bühne geblieben und hatten die Flucht der im Theater selbst beschäftigten Personen beschützt. Im Orchester waren, als die Katastrophe ausbrach, erst wenige Musiker anwesend und diese versuchten sich durch den unteren Gang zu retten.⁠[2]

[2] Was nur zweien gelungen.

Der Autor.

Ich trat nun abermals in’s Freie und begegnete hier dem Herrn Polizeirath Landsteiner. Auf dem kleinen Rasenplatze hinter dem Abgeordnetenhause, wo der Zugang zu den Galerien desselben ist, standen die Herren Erzherzoge Albrecht und Wilhelm, zu denen ich geführt wurde, um ihnen zu erzählen, was ich gesehen und was ich erlebt.

Hier erst erfuhr ich die ganze Grösse des Unglücks. Die Feuerwehr war von vorne in die Logengänge und in die Gänge hinter den Galerien eingedrungen und hatte da massenhaft Todte gefunden. Der Qualm muss sich aus diesen Räumen mittlerweile wahrscheinlich dadurch, dass die Fenster gesprungen waren, verzogen haben, wodurch das Eindringen in dieselben möglich wurde».


Das ist die Erzählung des Schauspielers über den Untergang seines Theaters.

Ein Arzt erzählte: «Das Schauspiel, das der Hof des Polizeigebäudes ungefähr eine Viertelstunde nach Beginn der Katastrophe bot, war folgendes: Es kamen zuerst drei bis vier Leute aus dem Publikum, die offenbar im Herunterrennen über die letzten Absätze der Treppen und im Durchzwängen durch die Eingangsthüre sich leichte Verletzungen und Abschürfungen zugezogen und sich dabei auch die Kleider zerrissen hatten. Während wir diese Wenigen verbanden, wurde der Ruf laut: «Verwundete kommen!» Man brachte zuerst drei Körper, über die die anwesenden Aerzte sich warfen, in’s Rettungszimmer. Aber man kann sagen, dass von Secunde zu Secunde die Zahl der herübergeschafften Menschen wuchs.

Und als in diesem Augenblicke der Raum des kleinen Rettungszimmers absolut unzulänglich war, wurde sofort die Verfügung getroffen, dass alle Herübergebrachten im Hofe der Reihe nach nebeneinander niedergelegt wurden. Bald wurden die Aerzte gewahr, dass man es nur mit Todten zu thun habe. Und zwar wurden unendlich wenig Brandwunden constatirt, hingegen waren die meisten Leichen vom Rauch geschwärzt und theils verkohlt, dadurch, dass sie bereits als Todte durch brennende Räume hindurchgetragen wurden. Der Tod wurde bei den meisten durch Ersticken herbeigeführt, und konnte man deutlich erkennen, wie die Menschen aneinander dicht gedrängt, die Arme im Ellbogengelenk gebeugt, in dieser Situation erstickt waren.

Die Hauptarbeit der Aerzte, unter denen sich Polizei-Arzt Dr. Marktbreiter, Jurie, Anthofer, Schiff, Bauer, Kohn, Lustgarten, nebst vielen Anderen befanden, musste sich darauf beschränken, [S. 30]die geradezu unvergleichlich heldenmüthigen Feuerwehrmänner, Rauchfangkehrer und Sicherheitswachleute, welche fast unter den colossalsten Anstrengungen aus Feuer, Rauch, Hitze und niederdonnerndem Gebälke die Leichen mit unglaublicher Todesverachtung heraustrugen, zu laben, und zu zwingen, eine kurze Zeit zu rasten, denn diese braven Männer, und unter ihnen Allen voran der Staatsanwalt Graf Lamezan, den ich selbst unzählige Male Leichen in den Polizeihof tragen und sofort wieder in das brennende Gebäude zurückeilen sah, sie wollten von Ruhe nichts hören, sie riefen Alle: «Wir müssen in’s Haus, wir haben keine Zeit, im dritten und vierten Stock verbrennen sie.» Statthaltereirath Karajan, der gegen 9 Uhr erschien und der die grosse Anzahl von Leichen im Polizeihofe liegen sah (es waren zu jener Stunde bereits über achtzig da), verfügte sich von da sofort in’s allgemeine Krankenhaus, um für genügenden Platz in der, für derlei Katastrophen unzulänglichen Leichenkammer zu sorgen. Gleichzeitig wurden aus den Kasernen sämmtliche Tragbahren requirirt, auf denen nun der Reihe nach der traurige Zug in die Alserstrasse hinauswanderte.»

Soweit die Erzählungen von Augenzeugen.

Ein Bild des Jammers bot in der Nacht auch noch das Thor des allgemeinen Krankenhauses, wohin die Leichen gebracht worden. Die Direction des Krankenhauses durfte die sofortige Agnoscirung der Leichen über stricten Befehl des Polizei-Präsidiums in der Nacht nicht vornehmen lassen. Das Thor war geschlossen, aber bis gegen Mitternacht standen weinende Menschen dort, welche Einlass begehrten und zurückgewiesen wurden, oder welchen, wenn man sie schon einliess, vom Portier gesagt wurde, dass sie am nächsten Morgen wiederkommen sollten. Eine junge Frau, welche ihren Gatten suchte, schluchzte herzzerreissend vor dem diensthabenden Secundararzte; ein ältlicher Herr, dessen Sohn sich im Ringtheater befunden haben sollte, weinte, dass ihm die Thränen über den grauen Bart rannen; hunderte Verzweifelte flehten mit aufgehobenen Händen, ihnen Zutritt zu den Leichen zu gewähren. Alles vergebens.

Vor dem Thore draussen begann die Menge zu murren ob dieser Verordnung, zumal sich Aller, welche sahen, was da vorging, eine unbeschreibliche Aufregung bemächtigte. Von Minute zu Minute fast wurde eine Todtenbahre herbeigetragen. Jedesmal rüttelten die Träger heftig an der Klinke, dass es unheimlich im Thorbogen widerhallte.

«Die Todten begehren Einlass», flüsterten die Wartenden und traten scheu zur Seite, wenn die Bahre vorüberkam. Ein grässlicher Brandgeruch entströmte den meisten derselben.

«Ist’s ein Todter?» fragte immer der Portier.

«Es gibt keine Lebendigen da, woher wir kommen,» lautete die dumpfe Antwort der Träger und sie verschwanden mit ihrer verhüllten Last im Dunkel des Gartens.

Viele Personen wollten ihnen nachstürzen, aber man verwehrte es ihnen.

[S. 31]

Wien ist vor Schreck betäubt! Dieses ist die richtige Bezeichnung des Gefühlszustandes der Bevölkerung. Als seit 5 Uhr Morgens die Zeitungen die Nachricht in die Familien brachten, was im Herzen der Stadt vorging, ertönte ein Schrei des Schreckens und — der Entrüstung gegen Himmel! Allerorts hat man dies schreckliche Feuer am Horizonte der Stadt gesehen, in den Vororten Wiens, soweit die Tramway ihr Netz ausdehnt, hatte man schon Kunde am Abend, dass das Ringtheater brenne, dass aber kein Menschenleben zu beklagen sei, wie die Sicherheitswache männiglich kund und zu wissen that, der darum frug. Was sind Millionen Gulden Verlust für Wien, Nichts, und tausendmal weniger als Nichts gegen den Verlust eines einzigen Menschenlebens auf so grauenerregende Art. Das gute Herz der Wiener wollte schier brechen, als die Zeitungen selbst eingestanden, 300 Menschenleichen sind bis zum Schlusse der Blätter aus den Flammen geschafft worden! Allerorts widerhallten die vom Tagblatte an der Spitze gebrachten Worte: Grauenhafte, furchtbare, entsetzliche Katastrophe! «Wahr ist’s» hörte man sagen, «kein so grauenvolles, niederschmetterndes, beschämendes Ereigniss hat unsere Stadt seit Jahrzehnten betroffen!» Der Eindruck, den die Schilderung allein machte, war erschütternd bis in’s Mark hinein, und der helle Tag beleuchtete schreckensbleiche, bestürzte Menschen, die alle Arbeit, alle Pflichten vergassen und hinein in die Stadt rannten und eilten, sich an die Waggons der Tramway anklammerten, weil sie keinen Platz mehr finden konnten, nur um möglichst rasch den Ort des Schreckens zu erreichen. Unser Zeichner skizzirte ein Bild einer solchen Völkerwanderung durch eine Linie am Morgen des Unglückes, Freitag den 9. December 1881, als es zur Gewissheit wurde, dass Menschen während des Brandes im Ringtheater waren, ohne dass man zu deren Rettung auch nur eine einzige Fackel rechtzeitig entzündet hätte!

Völkerwanderung durch die Linie.

Die Frage um die Entstehungsursache bildete das Hauptgespräch der Hunderttausende, die tagsüber das Ringtheater besichtigten. Ich benütze die Erzählung des jungen Komikers Lindau vom Ringtheater, die folgendermassen lautet:

Als das Feuer ausgebrochen war, wurden sofort die Gasflammen abgelöscht ... Die Feuermasse, welche sich von der Bühne über den Zuschauerraum ergoss, erleuchtete denselben, beleuchtete die drängenden, stossenden, stürmenden, schreienden, jammernden, entsetzten Massen, welche den Ausgängen zustürzten in wilder Flucht. Auf den Treppen herrschte Dunkel, man hatte die Oellampen, welche vorhanden waren, nicht angezündet. Auf den engen, dunklen Treppen nun tobte ein wilder Kampf — ein Kampf um’s eigene Leben, der zum Kampfe gegen das fremde Leben werden musste.

Viele Leute gelangen von der Treppe glücklich bis zum neuen Foyer; von der Strasse draussen weht durch die offenen [S. 32]Fenster des Balcons frische würzige Luft ... ein Hoffnungsstrahl für die fast Sterbenden, für die Halbtodten. Die Glücklichen, die zuerst das Foyer erreicht, stürzen auf den Balcon. Hier herrscht noch Sicherheit — für wie lange? Wer weiss es? Die Leute auf dem Balcon hörten das Knistern der Flammen, sie sehen, wie der Himmel sich immer mehr roth färbt, sie fühlen den heissen Dunst aus dem Innern des brennenden Theaters auf sie eindringen, immer mehr füllt sich der Balcon; wem es möglich ist, sucht sich ein Plätzchen. Es dauerte lange, bis das «einzige» Rettungstuch kam; eine peinvolle Ewigkeit. Da fasst sich Einer ein Herz, er ruft den vor dem brennenden Theater angesammelten Menschenmassen [S. 33]zu: «Ich springe hinunter ohne Tuch» ... Die Menge trennt sich nicht. Tausende Arme werden emporgestreckt, um den Mann aufzufangen, der den kühnen Sprung wagt ... er springt und gelangt in Sicherheit. Ihm folgten Andere rasch; fast Alle, die kühn genug waren, vom Balcon herabzuspringen, kamen in Sicherheit und trugen blos einige leichte Abschürfungen davon.

Völkerwanderung durch die Linie.

Völkerwanderung durch die Linie.

Da springt ein Mann hinunter — ein stark gebauter, untersetzter Mensch, er hat das Malheur, mit dem Opernglasriemen an dem Geländer hängen zu bleiben, aber er reisst sich los und lässt sich zu Boden fallen; zerschunden und blutend wird er von der Menge aufgenommen — er heisst Friedrich und ist in der Oelfabriks-Gesellschaft bedienstet. Im Café Mocca, wohin der Mann gebracht wird, erhält er einen Verband auf seine leichte Wunde.

Endlich kommt das ersehnte Falltuch, es nimmt viele Menschen, zumeist Weiber, auf, welche heil in Sicherheit kommen.

Aber die Anderen? Die Hunderte auf der Treppe? Wer rettet die? Sie ersticken oder werden zerdrückt, wenn es ihnen nicht gelingt, sich in’s Freie zu retten über die Nothtreppen. Das Dunkel erschwert, wie schon erwähnt, das Vorwärtskommen, die Verwirrung und der Jammer sind unbeschreiblich.

Ein junger Mann, der sich gerettet, erzählt halb sinnlos, er habe seine Cousine verloren. «Bis zum zweiten Stock habe ich mich bei ihr erhalten, in dem Gedränge wurden wir getrennt ... ich habe sie noch von Weitem liegen gesehen, sie ist gewiss todt ... ich Unglücklicher, sie wurde mir von den Eltern anvertraut .. sie ist erst seit zwei Tagen in Wien». Man sucht den trostlosen Mann zu beruhigen, vergebens, er schreit und weint und ruft den Namen Minna, Minna unzählige Male, er bestürmt alle Commissäre, natürlich fruchtlos; er läuft zur Polizei, da kann man ihm keine Auskunft geben; er besichtigt die Todten und die Verwundeten, sie ist nicht darunter; er gibt ihren Namen an, Niemand kennt ihn. «Vielleicht ist sie mit den fünf Verwundeten in’s Krankenhaus gebracht worden?» meint ein Commissär. «Nein, nein», ruft er, «sie war so weit oben, sie ist todt, todt!»

Die aufgeregte Menschenmenge, das heisst halb Wien, wollte, sei es aus Theilnahme, sei es aus sträflicher Neugierde, die Leichname der Verbrannten sehen. Alles nun drängte und belagerte das Polizeigebäude, um — nach einer affichirten Kundmachung — Einlasscertificate behufs Agnoscirung der im anatomischen Gebäude im allgemeinen Krankenhause ausgestellten Leichname der Verbrannten zu begehren. Von vielen solchen leichtfertigen Personen wurden der Polizeibehörde Namen von Leuten bekanntgegeben, die gar nicht vermisst wurden, nur um Einlass zu erlangen und so kam es, dass die Liste der Vermissten in erschreckender Weise wuchs. Das Unglück war leider ohnedies gross genug und wurde durch dieses sträfliche Vorgehen seitens des Publikums für den Moment noch grösser gemacht. Das Portal des allgemeinen Krankenhauses bot einen merkwürdigen Anblick. Um dasselbe schaarten sich tausende Einlassbegehrende, eine doppelte Reihe Infanterie-Soldaten [S. 34]bildete einen Kreis um das Thor und es durfte nur Jener passiren, der die behördliche Legitimation vorweisen konnte.

Am 9. December Abends spielte sich auch ein officieller Act der Pietät ab, der verzeichnet zu werden verdient. Das hohe Haus der Abgeordneten sah sich veranlasst, die Katastrophe vom Schottenring in die Discussion zu ziehen, und ich bringe diesen Sitzungsbericht als ehrendes Angedenken für die Verunglückten und für unser Parlament.

Das Portal des allgemeinen Krankenhauses.

Das Portal des allgemeinen Krankenhauses.

Das Parlament soll seine Arbeiten sistiren — so beantragt die Vereinigte Linke, welche überdies eine gemeinsame Interpellation mit der Rechten vereinbart .... Das Unglück führt die Menschen zusammen.

[S. 35]

In der am 9. December Abends abgehaltenen Sitzung des Clubs der Vereinigten Linken constatirte der Vorsitzende Dr. Herbst, dass diese Sitzung vor dem entsetzlichen Unglück einberufen worden sei, welches die Bewohner Wiens getroffen. An die Wiederaufnahme der parlamentarischen Arbeiten wollte man bei der Ergriffenheit aller Abgeordneten, die auch den Tod eines Collegen (des Abgeordneten Pengowski) zu beklagen hatten, erst dann wieder denken, wenn alle jene Unglücklichen, welche das Opfer der Katastrophe geworden sind, zur Ruhe bestattet sein werden.

Abgeordneter Friedmann beantragte die Einsetzung eines Comités zur Vorbereitung von Anträgen, durch welche ein Gesetz geschaffen werden soll, betreffend die Sicherheitsvorkehrungen für Theater und andere öffentliche Orte gegen Feuersgefahr.

Abgeordneter Schaup sagte: Dieser Gegenstand gehört in die Competenz der Landtage.

Vorsitzender Dr. Herbst meinte: Die Partei müsse bei jedem Schritte, den sie in dieser Angelegenheit thue, mit grösster Vorsicht zu Werke gehen. Sie dürfe sich nicht dem Scheine aussetzen, als wollte sie aus diesem namenlosen Unglücke politisches Capital schlagen und sie dürfte auch nichts thun, wodurch die ohnedies aufgeregte Bevölkerung noch mehr aufgeregt werden könnte.

Abgeordneter Dr. Weitlof theilt mit, dass er und die übrigen Vertreter der Stadt Wien bereits zum Entschlusse gekommen seien, in der nächsten Sitzung eine Interpellation einzubringen. Die Einsetzung eines Comités nach dem Antrage Friedmann hätte vorläufig keinen Zweck. Unter allgemeiner Zustimmung constatirte der Redner, welch’ peinlichen Eindruck es in allen Kreisen machte, dass am 9. December, unmittelbar nach der furchtbaren Katastrophe, in den Theatern gespielt wurde.

Abgeordneter Löblich meinte, es dürfte sich weniger darum handeln, neue Vorkehrungen für die Sicherheit zu treffen, als vielmehr darum, dass die bestehenden Vorkehrungen in Zukunft besser überwacht werden.

Abgeordneter Alter wünscht, dass in dieser Angelegenheit gemeinsam mit der Rechten vorgegangen werde. Der Club möge sich dahin aussprechen, dass der Vorstand mit den übrigen Clubs ein Einvernehmen pflege.

Abgeordneter Eduard Suess sagte: In dieser entsetzlichen Angelegenheit denkt Keiner von uns daran, seinen oppositionellen Standpunkt hervorzukehren, denn wir sind Alle überzeugt, dass Graf Taaffe in dem grossen Unglücke Alles nur Mögliche thun werde. Redner ist der Ansicht, dass man die Rechte auffordern soll, sich einer Interpellation der Vereinigten Linken anzuschliessen, durch welche die Regierung aufgefordert würde, legislative und administrative Massregeln zu ergreifen, um, soweit dies durch menschliche Voraussicht erreicht werden kann, die Bevölkerung Wiens und alle übrigen Bewohner des Reiches vor einem ähnlichen Vorkommnisse zu bewahren.

Abgeordneter Schaup stellt den Antrag, zwei Mitglieder des Clubs an den Obmann des Executiv-Comités der Rechten, Grafen [S. 36]Hohenwart, abzusenden, welche ihm die Anschauungen des Clubs mittheilen und zu einen gemeinsamen Schritt des ganzen Hauses einladen sollen.

Abgeordneter Dr. Edlbacher erklärt unter allgemeiner Zustimmung, der Club selbst müsse der Auffassung entgegentreten, als ob er irgend eine politische Demonstration beabsichtige. Hierauf wurde einstimmig beschlossen, die angeregte Interpellation gutzuheissen und den Grafen Hohenwart hievon sogleich durch die Abgeordneten Sturm und Ed. Suess in Kenntniss zu setzen. Das Executiv-Comité der Rechten, welches eben versammelt war, erklärte sich mit dem Vorgehen der Linken sofort einverstanden. Letztere setzte ein Comité, bestehend aus den Abgeordneten Suess, Sturm und Tomaszczuk, ein. Bezüglich des Antrages Friedmann wird beschlossen, erst nach erfolgter Interpellations-Beantwortung sich zu entscheiden. Die sodann im Club der Linken erschienenen Abgeordneten Hohenwart und Heinrich Clam theilten mit, dass die vom Abgeordneten Ed. Suess entworfene Interpellation mit geringen Abänderungen die Zustimmung der Rechten gefunden habe. Es wurde hierauf vereinbart, dass die Interpellation vom Abgeordneten Eduard Suess, den Vorständen der Vereinigten Linken und den Obmännern der vier Clubs der Rechten am 10. eingebracht und von sämmtlichen Mitgliedern des Hauses unterzeichnet werden soll. Die Abgeordneten erwarten, dass die Interpellation sofort beantwortet wird.

Der Gemeinderath und die Katastrophe.

Auch die Väter unserer Stadt haben in feierlicher Weise ihre Beileidskundgebung dargethan.

Unter dem Eindrucke der entsetzlichen Katastrophe des 3. Decembers versammelte sich am 9. December der Gemeinderath zu einer Sitzung, um eine der Stadtvertretung würdige Kundgebung zu erlassen. Die Mitglieder des Gemeinderathes waren lange vor Beginn der Sitzung erschienen. Es fanden früher Besprechungen der Clubobmänner statt, um bezüglich der in der Finanzsection zu stellenden Anträge über die Unterstützung der Hinterbliebenen unbemittelter Opfer der Katastrophe eine Einigung zu erzielen. Gemeinderath Dr. Mandl hatte den Antrag vorbereitet, dass von Seiten der Stadt jene Leichen, welche nicht reclamirt werden, dann die Leichentheile, bezüglich deren eine Agnoscirung unmöglich ist, in einem gemeinsamen Grabe feierlich auf Kosten der Gemeinde bestattet werden mögen. Der Antrag konnte, indem die vorhergegangene Sitzung nur der Beileids- und Trauerkundgebung gewidmet war, nicht in Verhandlung gezogen werden, aber von Seite des Bürgermeisters wurde die Durchführung des Antrages zugesagt.

Präcise fünf Uhr erschien der Bürgermeister Dr. v. Newald, begleitet von dem Vicebürgermeister Uhl und den Schriftführern Bärtl und Dr. Landsteiner.

Bürgermeister Dr. v. Newald erklärte die Sitzung für eröffnet und richtete folgende Ansprache an die Versammlung:

[S. 37]

«Meine Herren!

Es gibt Momente, in welchen es schwer fällt, dem überwältigenden Gefühle, welches die Herzen von Tausenden durchzittert, Ausdruck zu geben. Ein solcher ist wohl der, in welchem ich zu Ihnen spreche. Erschüttert von der Katastrophe des gestrigen Tages, sind wir Alle ausser Stande, die Grösse der schmerzlichen Theilnahme in Worte zu fassen, welche uns und die gesammte Bevölkerung Wiens in diesem Augenblicke erfüllt. Zu jeder Zeit hat der Gemeinderath der Stadt Wien bei ausserordentlichen Unglücksfällen in thatkräftiger Weise eingegriffen, und glaube ich deshalb gewiss nur in Ihrem Sinne und nach Ihren Intentionen zu handeln, wenn ich die Finanzsection ersuche, die erforderlichen Anträge zur Linderung des Schmerzes und der Noth der betreffenden Familien schleunigst dem Gemeinderathe vorzulegen. (Zustimmung.)

Seine kaiserliche Hoheit Kronprinz Rudolf hat folgendes Telegramm an mich gerichtet: «Meiner Frau und mein innigstes Beileid zu der schweren Katastrophe, die gestern Wien getroffen hat».

Wir Alle sprechen hiermit Ihren kaiserlichen Hoheiten für diesen neuen Beweis des erhebenden Wohlwollens für unsere Stadt den ehrerbietigsten Dank aus».

Zeitungsausträger.

In der Bevölkerung gährte eine gewaltige Aufregung; die halbe Million Einwohner der Vororte und Vorstädte wallte in den Nachmittagsstunden in unübersehbaren Reihen nach dem Schottenringe; Personen, die vielleicht ein Decennium die innere Stadt nicht betraten, sie kamen, durch die Schreckensnachricht allamirt, nach der Stadt, und der Ring bot ein groteskes Bild der Bewohner der Residenzstadt an der Donau. Die Aufregung erlangte ihren Höhepunkt zur Zeit der Ausgabe der Abendblätter. Ich liefere eine Skizze der Erstürmung eines harmlos seines Weges wandernden Zeitungsausträgers, der von einem Rudel Menschen überfallen wurde und seiner Bürde im Nu enthoben war; galt es doch endlich einmal die Liste der Todten und Vermissten zu durchfliegen! Die Ueberraschung war eine peinliche, die erste Liste war mit weit mehr als hundert Agnoscirten ausgestattet und eine ebenso hohe Zahl enthielt die Namenliste der Vermissten — also ebenfalls Todter.

Es wurden harte Anklagen gegen unsere öffentlichen Institute laut, herbe Worte erpresste der Schmerz und nicht selten schallte der Vorwurf an mein Ohr, dass immer und immer der Aermste, der nur über wenig Geld verfügen kann, zum Opfer falle, denn vom Parterre und den Logen sind Wenige verunglückt, sondern das Gros derselben recrutirt sich aus den Besuchern der billigeren Plätze auf den Galerien.

Zeitungsausträger.

Zeitungsausträger.

Die Listen entfesselten den Strom der Betrachtungen und der herbsten, abfälligsten Kritiken. Allerorts frug man sich: Wie [S. 38]so es möglich geworden, wie so es gekommen, dass erst nach 35 Minuten des Ausbruches des Feuers darauf gedacht worden ist, dass Menschenleben noch gerettet werden könnten? Wer war es, der eine solche Autorität genoss, dass man seinen Worten unbedingt Glauben schenkte, als er versicherte, Niemand befindet sich im Theater, Niemand in den Garderoben, Niemand auf der Bühne und in Zuschauerraum, so dass die Feuerwehr viel später den Versuch machte, das Innere des Theaters zu betreten, trotzdem die Leute über die Balcons springen mussten? Wer ist der Urheber dieses Gerüchtes, das so vielen heiteren, friedlichen Menschen auf so grässliche Art das Leben kostete? Denn wäre man, [S. 39]statt das Feuer zu löschen, allsogleich eingedrungen, die Verlustliste existirte vielleicht gar nicht, oder doch nur sehr — sehr reducirt. Hat es an Wackeren gefehlt, die bereit gewesen wären, einzudringen? Gewiss nicht, denn wie ich früher gezeigt, hatten sie den Muth, nachdem der Brand die grösste Ausdehnung gewonnen, einzudringen, um Leichname zu Tage zu fördern! Alle, alle Opfer sind diesem schrecklichen Gerüchte zuzuschreiben, und jenen Personen in Amt und Stellung, die «diesem» Gerüchte auf’s Wort glaubten und die Rettungsversuche unterliessen — sie sind, wenn auch nur moralisch, dafür verantwortlich, denn eine böse Absicht ist ja von Vornherein auszuschliessen. — Warum haben die Oellampen, die doch von Seite des vorsorglichen Stadtbauamtes angeordnet waren, nicht gebrannt, als das Gas verlöscht wurde? Wären die Leichen gleich Hekatomben vor einer Stiegenabsatzmauer zu finden gewesen, wenn ein rettendes Oelflämmchen den dem Erstickungstode Nahen die Treppe gezeigt hätte? Nein, und tausendmal nein, es wären vielleicht einzelne Menschen zertreten worden, aber zu Hunderten und Hunderten wären sie niemals um’s Leben gekommen! War die Antwort Jauner’s auf die Anfrage des Herrn Ministerpräsidenten, der im Auftrage Sr. Majestät unseres allergnädigsten Kaisers einen Bericht an diesen absenden musste, wirklich convenirend, dass die Oellämpchen in Reparatur sind, alle, nicht ein einziges ausgenommen, befänden sich in Reparatur? Wem erzählt man das, und wer soll’s glauben, der Kaiser und das Volk? Dort, wo man einer Sarah Bernhardt 6.000 Francs allabendlich auszahlte, soll man auf die in Reparatur befindlichen Lämpchen warten müssen, und nicht stets eine gleiche oder dreifache Zahl allabendlich in Bereitschaft haben? Die Bevölkerung wagt es heute nicht mehr, das Theater zu besuchen, denn dieses Vergnügen kann das Leben kosten, wenn Zufälligkeiten, wie im Ringtheater, zusammentreffen.

Selbst ich, der ich mir vorgenommen, objectiv die Thatsachen der Schreckensnacht in diesem Büchlein wiederzugeben, falle aus meiner Rolle und die Hand erzittert, der Gedanke verwirrt sich, die Zornesader schwillt bei dem Gedanken, dass vielleicht zehn Liter Oel und um 200 fl. Lampen hunderten Menschen hätten das Leben retten können!

Im Corridor des Todes.

Im Corridor des Todes.

Im Corridor des Todes.

Die zweite Leidensstation bildete für den im Dienste der Publicistik wirkenden Menschen der Besuch des Anatomiegebäudes im allgemeinen Krankenhause. — Der Berichterstatter am Schlachtfelde sieht der Gräuel und Entsetzen gewiss mehr; aber das Bewusstsein: sie alle starben als Männer und Helden für ihr Vaterland, für Gott und Kaiser, sie zogen in die Schlacht mit dem Gefühle in der Brust, nicht jede Kugel trifft und wenn auch — was weiter — stärkt seine Nerven, stählt seinen Sinn. Aber wir friedlichen Menschen, denen die Sinne zu schwinden drohen, wenn [S. 40]vor unseren Augen ein Tramwaywaggon einen Menschen rädert, wir — ich meine den Zeichner dieser Illustrationen und meine Wenigkeit — wir haben eine Leidensstation vor uns, indem wir die grässlich verstümmelten Leichenreihen abschreiten müssen, um Notizen und Skizzen zu machen mit blutendem Herzen — und ich schäme mich nicht, es auszusprechen — mit Thränen in den Augen — Thränen der tiefsten Wehmuth, des Schmerzes und des Mitleidens! Da lagen sie Alle vor mir, Männer, Frauen, Jungfrauen, Jünglinge und Kinder, schwarz und starr. Da zur rechten Hand eine wohlgenährte weibliche Gestalt, ihre Figur ist mit einem silberdurchwirkten Theaterschleier überdeckt, ein grellrother mit schimmernden Borten eingefasster Rock, das Knie des rechten [S. 41]Fusses in feinen Strumpf eingehüllt, ist noch ganz unversehrt, während der andere Fuss, ausgestreckt, ohne Vorderfuss, blos den halbverbrannten Knochen des Schien- und Wadenbeines ohne Strumpf präsentirt, um welchen, an einer Spagatschnürchen befestigt, eine Blechmarke mit Nr. 87 hängt! Das Gesicht aufgedunsen und russgeschwärzt, die Hände an die Augen gepresst, die Kleider zerrissen und eine blendend weisse Brust den Blicken präsentirend — da lag das ausgelöschte Leben, noch nicht agnoscirt, mit Nummer 87 versehen! — Ihre Nachbarin zur Rechten, ruht ohne Hände und Füsse neben ihr, das Haupthaar ist weggebrannt sammt der Kopfhaut, nur das Mieder aus blauer Seide ist unverletzt und zwängt den Körper in die ihm verliehene Form. Die Blechmarke ist in Ermanglung von Extremitäten an das Schnürband des Mieders befestiget! Die Gestalten weiter abwärts, die in einer endlosen Reihe daliegen auf einem mit Kalk übertünchten schräg an die Wand gelehnten langen Bretterladen, sind mehr oder minder arg verbrannt und fast unkenntlich; bei Einigen ist durch die furchtbare Gluthhitze, der sie höchst wahrscheinlich ausgesetzt waren, der Bauch aufgesprungen und die Gedärme hiedurch blosgelegt worden, welche brannten! Arme, arme Frauen! Ihr dem zarten Geschlechte angehörend, warum musstet gerade Ihr in diesen Raume des Todes in der Majorität vertreten sein? — Hier die beiden Knaben, die man nicht zu trennen wagte — der kleinere ruht auf dem Steinpflaster des Corridors, in dem wir uns befinden, der grössere ist über ihn gebeugt und hält ihn fest umschlungen, fest presst er ihn an sein Herz für die Ewigkeit. Hier eine krampfhaft die geballten Hände in die Luft streckende Gestalt eines nahezu sechs Schuh hohen Mannes; er hat den rauchgeschwärzten Kopf unnatürlich verdreht; auf seiner Brust ruht seine Brieftasche aufgeschlagen, auf deren einen Seite das Bildniss eines circa 8jährigen Mädchens in photographischer Ausführung ruht, frisch und schön, als hätte es nicht den Brand im Ringtheater mitgemacht. Dort ruht Einer an der Wand, die Hände ober dem Kopf gefaltet haltend, den Kopf sanft nach rechts geneigt, als schliefe er im Schatten einer Linde an einem heissen Sommertage. — Meine Feder versagt mir den Dienst, mein Gemüth ist krank, ich fühle mich zu schwach für den Reporterdienst. Ein Leichenfeld, auf welchem Frauen, Mädchen und Kinder in solcher Zahl liegen, könnte selbst ein Wereschagin nicht naturgetreuer wiedergeben und der Leser mag aus unseren Skizzen den Schluss ziehen, dass wir geleistet, was menschlich fühlende Wesen nur immer leisten konnten.

Frauenleichen.

Wir verlassen gebrochen und gebeugt die Stelle, an der nur der eine Trost herrscht, dass die Leiden Derjenigen, die hieher gebettet wurden, nur kurz gewesen sein können.

In den Sälen des Anatomiegebäudes begannen die fünf Sectionen der dort am 9. December um 2 Uhr Nachmittags eingetroffenen [S. 42]Commission mit der polizeilichen Beschau der Agnoscirten. Die Zahl derselben belief sich Abends 8 Uhr auf circa 180. Im Ganzen wurden circa 100 Todte beschaut. Jeder derselben ward in dem Locale der betreffenden Section auf die grosse Marmorplatte gelegt und dann eine genaue Beschreibung seiner Person, sowie der Kleider vorgenommen. Die bei den Leichen vorgefundenen Werthsachen, wie Uhren, Geldbeträge u. s. w., nahm die Commission in Verwahrung. Es war bereits halb neun Uhr Abends vorüber, als die beiden letzten Sectionen, welchen die Commissäre Köllner, Bauer und Buresch als Vertreter der Polizei angehörten, ihre Arbeiten beendigt hatten.

Frauenleichen.

Frauenleichen.

Am 10. December um 8 Uhr wird mit der polizeilichen Beschau fortgefahren und gleichzeitig die gerichtliche Agnoscirung der [S. 43]bisher beschauten Leichen begonnen werden. Zu diesem Behufe hatten Jene, welche die einzelnen Todten zu erkennen erklärten, sich vor der gerichtlichen Commission einzufinden, und zwar jeder derselben mit zwei Zeugen, welche gleich ihm eidlich die Identität des betreffenden Verunglückten behaupten können. Diese gesetzlich vorgeschriebene Massregel erscheint in diesem Falle um so gebotener, als bezüglich mancher der agnoscirten Todten gerechte Bedenken obwalten, ob sie thatsächlich mit jenen Personen, für die man sie seitens der Agnoscirenden ausgegeben, identisch sind.

Agnoscirung.

Agnoscirung.

Während die Sectionen ihres traurigen Amtes walteten, war draussen in den Gängen, auf deren Steinfliessen die Menge der grässlich entstellten Leichen lag, ein unaufhörliches Gedränge, [S. 44]aus welchem jeden Augenblick die Jammerrufe Derjenigen ertönten, welche hier umherirrten, um ihre vermissten Angehörigen aufzusuchen. Dabei machte sich, wie überhaupt in dem ganzen Anatomie-Gebäude, ein jede Brust beklemmender intensiver Geruch nach verbranntem Fleische bemerkbar.

In den Ruinen.

Der 10. December gestaltete sich nicht minder aufregend für Wien und die Wiener. In der Nacht vom 9. auf den 10. brach abermals das bereits in Abnahme und als «gedämpft» bezeichnete Feuer aus. Helle Flammen schlugen klafterhoch empor. Die Feuerwehr, da nur mehr eine Spritze auf dem Platze verblieb, konnte dem Umsichgreifen des Brandes nicht Herr werden, die Schubleitern waren wieder zu kurz gewesen und man arbeitete mit später eingetroffenen Löschtrains bis gegen Morgens, um der Zerstörungswuth des Elementes Einhalt zu thun. Es sind nunmehr die Appartements des Directors vernichtet, und eine Stiege stürzte in den glühenden Krater. Es stehen nur mehr die vier Wände des einst so herrlich ausgestatteten Theaters.

Nachdem die Befürchtung ausgesprochen wurde, dass die Mauern einstürzen könnten, zog eine Abtheilung Cavallerie auf, um das immer mehr zuströmende Publikum aufzuhalten und einer eintretenden Katastrophe vorzubeugen. — Das Interesse des Tages absorbirten immer die Todten; selbst im Schoosse des Gemeinderathes entspann sich ein heftiger Kampf, auf welche Art das Begräbniss der Opfer des 8. December stattfinden soll. Gemeinderath Lueger wollte die 200 Särge über die Ringstrasse getragen sehen, damit man den Todten gebührende Ehre bezeige; dessen Gegner hingegen beantragten die Ueberführung der Särge mit den Cadavern der Besucher des Ringtheaters bei Nacht und wenn möglich bei Nebel, um die unteren Classen der Bevölkerung nicht aufzureizen. Der Vorschlag Dr. Lueger’s wurde verworfen und der Gegenantrag angenommen, und zwar soll das Leichenbegängniss am Montag den 12. December 1881 am Centralfriedhofe selbst stattfinden und die nichtagnoscirten Leichen auf Kosten der Commune Wien zur letzten Ruhe in ein gemeinsames Grab bestattet werden. Ein feierliches Requiem soll in der St. Stefanskirche die Ceremonie eröffnen, bei welchem sich die Spitzen der Behörden, Parlamente, Gesellschaften und Vereine einfinden werden. Sämmtliche Angehörige der Verbrannten sind speciell einzuladen, und nach dem Centralfriedhofe zu geleiten, meldete man aus dem Rathhause.

Graf Taaffe, der Ministerpräsident, hat an diesem Tage zur Bevölkerung gesprochen, und seine Worte widerhallten in den Herzen der Wiener nicht. Er hatte über das grösste Unglück, das Wien seit vielen Jahren getroffen, und das, wenn man die besonderen Verhältnisse in Betracht zieht, in der Geschichte unserer Stadt überhaupt ohne Beispiel dasteht, eine eigene Ansicht.

[S. 45]

In den Ruinen.

In den Ruinen.

Er hat zu einer in Trauer gehüllten Stadt, zu einer Bevölkerung, in deren Herzen die Ruhe nicht einzukehren vermag, gesprochen. Das Leben hat seine trüben Stunden, man kann darüber nicht hinwegkommen, aber das Unglück im Ringtheater erscheint in eigener Gestalt, es ist, als ob der Wahnsinn alle Dämonen losgelassen hätte. Immer und immer stellt sich die Frage ein, ob es denn nicht möglich gewesen wäre, das Unglück zu verhüten oder es doch in seinem Umfange wesentlich zu begrenzen. Der Minister antwortete — bevor noch das Abgeordnetenhaus seine Interpellation, die aus einem Meere von Thränen emporgetaucht, [S. 46]eingebracht hat — und sprach von einem furchtbaren Versäumnisse — einem Versäumnisse, welches ebensowenig gutzumachen ist, als es möglich ist, die verflossene Stunde zurück zu erkaufen; — das riesengrosse Leichentuch, das über Wien liegt, hat Graf Taaffe nicht gehoben, seine Rede erwärmte die Schreckensstarre nicht und wird sie niemals erwärmen können, denn seine Worte kamen nicht vom Herzen und gingen nicht zum Herzen; er hat ein besseres Herz als Mensch, denn als Staatsmann, und nicht der Mensch, sondern der Staatsmann hat gesprochen.

Ein Beispiel von der aufgeregten Stimmung dieser Tage lieferte das in Wien coursirende Gerücht, dass die Truppen in den Casernen consignirt und in Marschbereitschaft gehalten würden. Die Wiener Zeitungen, allen voran das Tagblatt und die Wiener Allgemeine Zeitung, thaten aber auch ihr Möglichstes, um die Bevölkerung noch mehr aufzuregen. Um ein Bild von deren Stimmung zu entwerfen, muss ich die betreffende Zeitung selbst reden lassen. In mehr als 100.000 Exemplaren wurde folgender Aufsatz verbreitet.

«Von Schauer und Schauder ist unser Herz erfasst, und erstarrt von unaussprechlichem Leid. Auf den qualenreichen Tag des Todes folgt der furchtbare Tag der Beerdigung: Wir stehen vor dem Leichenbegängnisse der Todten vom Schottenring.

Alles, was Ausdruck gibt dem Gefühle der unermesslichen Trauer, an der die ganze civilisirte Welt Theil nimmt, muss ausgeführt werden, nichts darf verabsäumt werden, nichts verkleinert. Sollte man glauben, dass in solchen Tagen des Elends es nothwendig ist, den Ruf auszustossen: Ehret die Todten!

Es ist nothwendig. Leider, leider! Die Vertretung der Wiener Bürgerschaft, der Gemeinderath, will in grosser Majorität, von der nur wenige zur Einstimmigkeit fehlen, ein grossartiges Leichenbegängniss veranstalten. Andere aber wollten kein feierliches Leichenbegängniss; in aller Heimlichkeit wollten sie all’ die Leichen der Nichtagnoscirten hinausführen lassen. Auf welcher Seite ist das richtige Gefühl, die verständige Auffassung, auf welcher Seite trägt man Rechnung dem Herzen von Wien? Was geschieht? Nein, was ist geschehen? Man wollte bereits eine vollendete Thatsache schaffen; man wollte, dass alle die Nicht-Agnoscirten in aller Stille hinausgeführt werden nach dem Centralfriedhofe, zu abendlicher Stunde, im Dunkel, ohne dass Wien davon erst etwas erfährt. Was da geschehen, ist keine Unbegreiflichkeit allein, es ist weit mehr, und Wien sagt sich selbst, was es ist. Wir erheben lauten Protest gegen die heimliche Bestattung der Todten. Wir verlangen die letzte Ehre für die Todten!

Umsonst bemühen wir uns, ausfindig zu machen, wieso man auf diesen Gedanken gerathen konnte, der Stadt Wien nach dem Tage seiner Schande in Folge der unverantwortlichen Nachlässigkeit diverser Organe, auch noch einen Tag von Fühllosigkeit und Rohheit aufzubürden. Fürchtet Ihr Euch etwa vor dem Leichenzuge? Denkt Ihr vielleicht an eine Parallele? Wisst Ihr Euch zu erinnern an das Massenbegräbniss der Opfer vom [S. 47]13. März 1848? Ihr wisst Euch zu erinnern, und da Ihr es wisst, müsst Ihr auch zugestehen, dass es keine friedlichere Trauerdemonstration in den wildbewegten Tagen gegeben hat, als es eben jene gewesen. Vergesst nicht, dass Ihr selbst mit der modernen Ordnung der Dinge aus jenen Tagen herausgewachsen seid, Ihr selbst könntet nicht mit stolzen Schritten durch das neue Wien wandern, wenn es nicht jene Tage gegeben! Oder glaubt Ihr, dass unsere prunkende Ringstrasse nur für das Glück bestimmt ist und nicht mit demselben Rechte für das Unglück? Dort wo der Festzug der Stadt Wien in blitzender Pracht geführt worden, dort muss auch der Trauerzug der Stadt Wien seine Bahn finden. Schafft Sühne! Oder glauben die Herren, dass sich solche Ereignisse wegwischen lassen wie mit einem Schwamme? Oder, dass sich das Urtheil mildern lässt durch Verheimlichung der Thatsache? Ist denn das um des Himmels willen möglich? Lässt sich da noch etwas vertuschen?

Eine grosse Verantwortung vor dem öffentlichen Gewissen laden sich Alle auf, welche meinen, dieses öffentliche Gewissen liesse sich irgendwie beruhigen. Wir schlagen uns ja Alle an die Brust, wir sagen es ja offen und vernehmlich: Wir Alle sind schuld und wir wollen Asche streuen auf unser Haupt und hinten hergehen hinter den hunderten von Särgen! Oder glaubt Ihr, dass die Schuld geringer wird, wenn wir das Haupt verhüllen und feige zu Hause bleiben?

Es war ein furchtbarer Festtag, der achte December. Wir haben einen traurigen Sonntag — den Tag, an dem das Leichenbegängniss stattfinden sollte. Der verdienstvolle Antragsteller auf eine Leichenfeier der Stadt, Dr. Lueger, proponirte selbst den Montag als den Tag der Trauerfeierlichkeit. Wir schlagen vor, dass Wien ihn zu einem Trauertage öffentlich declarire durch Sperrung der Gewölbe überall dort, wo der Leichenzug vorbeigehen wird. Er wird nicht mehr vorübergehen, er ist schon besorgt durch die scheue Angst Derjenigen, denen das Herz abgeht für das umermessliche Leid der Stadt Wien. So muss denn in anderer Weise für diese Trauerfeier gesorgt werden. Und wenn es ein einziger Leichnam ist, dem wir Alle folgen, wir wollen Wiens Herzensehre retten,» schrieb das Tagblatt.

Särgetransport.

In den Strassen Wien’s sah es aber auch ganz merkwürdig aus. Aller Welt las man den Kummer, die Niedergeschlagenheit von den blassen Gesichtern herab. Galt es doch, um den verbrannten Freund oder Bekannten zu trauern, und den nun verwaist Dastehenden mit Rath und That zu helfen. Die Passanten blieben oft stehen, wenn sich durch die Strassen ein unheimliches Gepolter vernehmlich machte, man konnte bestimmt darauf rechnen, dass wieder ein Zug letzter transportabler Wohnhäuser dem allgemeinen Krankenhause zugeführt werde. Unser Bild ist grausig, aber lebenswahr, leider nur zu lebenswahr.

[S. 48]

Am Abend des 10. December lief die Frist des Unterstandes für die nicht agnoscirten Opfer des Ringstrassenbrandes ab; man beschloss ja, diese nicht erkannten, nicht erkannt werden könnenden menschlichen Ueberreste in der Stille der Nacht, während Wien schläft — wenn es vor Aufregung und Mitleid schlafen kann, auf den Centralfriedhof zu expediren. Die Namenlosen bekommen ihre Nummer und das ist auch eine ordnungsmässige Leistung.

Särgetransport.

Särgetransport.

Der schwarze Tod hat wenige Tage gewüthet und sich bei dem Wiener ein gewisses Ansehen, einen gewissen Respect zu verschaffen gewusst. Viele hundert Menschenleben hat er im Zeitraume von kaum einer Stunde hinweggefegt, und dieses verdienstvolle Genie macht nicht einmal Anspruch auf Auszeichnung für seine verdienstliche Leistung der Massentödtung in kürzester Zeit. [S. 49]Der Rasenplatz nächst dem Leichenhofe im allgemeinen Krankenhause ist der Ausstellung seiner Erzeugnisse allerdings gratis zur Verfügung gestellt worden. An einem hübschen Hintergrunde fehlt es auch nicht, der Narrenthurm ist die geeignetste Staffage für diese Ausstellung des Todes; der Narrenthurm für die Lebenden rechts und die langgestreckte Façade des Gebäudes, allwo durch Vivisectionen auch Jahr aus und Jahr ein Lebende zerschnitten werden, links. Einige Stufen aus diesem Gebäude führen in den Hof respective Garten, allwo die Todten lagern. In mehreren Reihen standen da an die 200 Särge aneinandergereiht, die Deckel vorne abgehoben, oder doch zurückgezogen, damit die schwarzen Gesichter der Armen zu erkennen wären.

Ich kam gegen Mittag aus dem Innern des Krankenhauses dorthin. Man passirte den letzten Hof und ein Thor, wo das Militär-Spalier Unberufene am Weitergehen verhinderte. Dann gelangte man plötzlich auf den Absatz einer der vorhin erwähnten Treppen und überschaute mit Einem Blick die Sargreihen mit den schwarzen Todten. Ich gestehe, dass ich im ersten Momente entsetzt zurückprallte. Vor meinen Augen verloren die Linien der Sargreihen die feste Richtung, sie geriethen in Bewegung und mit ihnen die schwarzen Köpfe und Rümpfe. Ich glaubte, die weissschimmernden Gebisse schnappen, die wildgereckten Gliedmassen jene Kampfbewegung vollenden zu sehen, in der sie der Tod unterbrochen. Die gebräunten, losgelösten Gliedmassen, zu Hauf geschichtet auf Bretter-Unterlagen, schienen auseinander zu stieben und im wirbelnden Lufttanze die einsam in Hobelspäne gebetteten Rümpfe erreichen zu wollen, um sich einzufügen, wohin sie gehörten: in die klaffenden Achselhöhlen und entblössten Schenkelpfannen. Die klare heitere Mittagssonne schien auf den grausigen Spuk herab, und ich dachte noch: Wie kann die Sonne in die Hölle scheinen? ... Mir war auch, als ob viele Menschen unten sich über die schwarzen Todten bückten, und dabei zuckte eine Kindheitserinnerung mir durch den Kopf, ein rauchiges Bild im Hausflur, das jüngste Gericht darstellend, wo dunkle Oberkörper aus der Erde tauchen, verzweifelt die Arme schwingend und die Fäuste ballend ...

Die Särge im Narrenhofe.

Es gelang mir, das aus Schauder und Entsetzen sich herauskrampfende Unwohlsein niederzukämpfen. Ich dachte an die Unglücksnacht vom Donnerstag, als ich Leiche auf Leiche aus dem brennenden Hause tragen und im Hofe der Polizeidirection aufschichten sah, und ich sprach mir selbst zu, wie unmöglich jetzt am hellen Mittag das grässlicher sein könne, was ich zuletzt nächtlicher Weile bei Glühschein der Fackeln gesehen. Ich stieg hinab mitten unter die Todten. Jetzt lagen sie wieder ruhig da. Es gibt eine Ruhe, die blos versteinerte Bewegung ist. Man findet sie ausgedrückt in den Verschütteten von Pompeji, man findet sie hier hinter den schwarzen Masken, die der Brand über die Gesichter der Todten geworfen. Die Männer sind fast ausnahmslos in wüthendem Kampfe und Grimme dem Tode unterlegen; [S. 50]die Frauen sanft, ergebungsvoll, zerfleischt von Anderen, aber nicht selbst zerfleischend, geduldig und im Tode noch so milde blickend, als wäre der letzte Blick nicht in undurchdringliche Nacht, sondern auf das Antlitz eines geliebten Wesens gefallen.

Die Särge im Narrenhofe.

Die Särge im Narrenhofe.

Mit dem Grauen war es nun vorbei. An seine Stelle trat ein neuerliches Mitleid und unsagbare Trauer. Da lag in drei Särgen nebeneinander die Familie Pawlik: Vater, Mutter und Tochter; der Mann noch mit schirmend erhobener rechter Hand, die linke Hand mit ausgespreitzten Fingern nach den Angehörigen tappend. Alle Drei haben sehr entstellte, schwarze Gesichter. [S. 51]Unweit davon lag Max Ritter v. Bittner, ein junger hübscher Mann, wenig entstellt. Er hält beide Hände vor die halbgeöffneten Augen. In derselben Reihe befand sich der Leichnam des Handelsakademikers Duschinsky. Sein ohnehin starker Leib ist aufgebläht und das Gesicht zur schauerlichen Fratze geworden. Das Ehepaar Professor Löw zeigt schmerzhafte Mienen, aber nicht jene grauenvolle Gliederbewegung, wie hundert andere Leichen. Es gibt solche, welche in dem schwarzen Gesichte die Zähne fletschen und in den bacchantisch geschwungenen Händen noch die Fetzen halten, welche sie Anderen vom Leibe gerissen. In vielen geöffneten Augen ist noch die wahnsinnige Todesangst festgebannt. Nur bei wenigen Leichen ist es gelungen, die emporgereckten Gliedmassen in den Sarg hineinzuzwängen.

Reihenweise lagen auch die nackten, gedörrten Rümpfe im Sonnenschein da. Eine Tragbahre enthielt den kopflosen Leichnam eines Verbrannten, dessen Leib vorne geborsten ist. Nichts von seiner Kleidung war übrig geblieben, nur seine lederne Geldtasche hatte dem Feuer getrotzt und sie lag der Agnoscirung wegen neben der Mumie ihres Eigenthümers ....

Es gibt eine Grenze in der Berichterstattung. Ich kann nicht niederschreiben, was ich Alles gesehen habe in den zweihundert Särgen und auf den Brettern und auf den Bahren: vielleicht vermag es der neben mir seines Amtes waltende Zeichner.

Wenige Glückliche sind dem Elemente entronnen. Hier eine Scene des Wiederfindens einer bereits todt Geglaubten.

Mit diesem Eindrucke schloss der Tag des 10. December.

Wiedergefunden.

Sonntag den 11. December 1881 wurden die ersten Gräber für die Opfer des Ringtheaterbrandes am Centralfriedhofe geöffnet, die Mutter Erde nahm sie freudig auf, ihnen die ewige Ruhe verleihend, der sie so bald nicht bedurft hätten.

Wie zu Allerseelen, so trüb und traurig war der Tag; der Anblick der Stadt glich einem Trauerhause. Zahllose Wagen fuhren mit weinenden schwarzgekleideten Insassen durch die Strassen, Kränze in allen Dimensionen wurden Strass’ auf Strass’ ab gefahren und getragen. Wenn ein solcher Trauerwagen vorbeirollte, zog es förmlich die Hand zum Hute. Wie viel Schmerz schleppte sich da hinaus zur Begräbnissstätte! Am Centralfriedhofe gähnten schon vom frühen Morgen an 65 frische Gräber um die Leichen Derjenigen aufzunehmen, welche durch ihre Anverwandten zur letzten Ruhe geleitet wurden.

Die Tragödie des fluchbeladenen Hauses, wie man das Ereigniss in Wien nannte, nahte sich ihrem Ende. Noch brennen hunderte von menschlichen Körpern in dem grossen Flammengrabe am Schottenring, aber der Mensch entriss selbst den Flammen die Körper einer grossen Anzahl Todter und für diese öffnete sich die Erde an diesem Tage, um diese in sich aufzunehmen. Die Schollen Erde, welche von den die Särge Begleitenden hinabgeworfen [S. 52]wurden, hallten dumpf grollend herauf zur Oberwelt. Schlaft ruhig, ihr erstbegrabenen Märtyrer der furchtbaren Versäumniss! Ihr seid die Opfer für eine bessere Zukunft der Hinterbliebenen. Wesshalb bei diesen ersten fünfundsechzig Todten keine officielle Persönlichkeit am Friedhof anwesend war, ist mir nicht gut verständlich. Sind sie denn durch eigenes Verschulden um’s Leben gekommen, oder haben sie ihr Leben eingebüsst, vertrauend auf den persönlichen Schutz, der jedem Staatsbürger garantirt wird? Wesshalb die Absentirung der officiellen Persönlichkeiten? Sie hätten da weinen gehört, wie sie noch niemals, niemals, niemals weinen gehört haben können.

Wiedergefunden.

Wiedergefunden.

An der Ostseite der Leichenhalle, auf dem Podium aus schwarzem Marmor, über welchem mit goldenen Lettern Hiob’s [S. 53]Worte zu lesen sind: «Gott hat’s gegeben, Gott hat’s genommen», standen die Functionäre zur Trauerfeierlichkeit bereit; die Rabbiner und Cantoren in ritueller Tracht, die Mitglieder des Tempelchores, brennende Kerzen tragend, im Halbkreise. Da öffneten sich auf ein gegebenes Zeichen die hohen Flügelthüren, vier Männer brachten einen schwarzverhängten Sarg in den Saal und liessen ihn auf dem Podium nieder. Hinter dem Sarge schritten in resignirtem Schmerze die Eltern dieses ersten Todten — des Handelsakademikers Leopold Duschinsky. In der Menge entstand eine Bewegung unendlichen Schmerzes und als Rabbiner Schmiedel (aus Fünfhaus) mit Hiob’s ergebungsvollem Spruche seine Rede einleitete, brach Alles in lautes Weinen aus. Ein alter Mann an der Thüre brach ohnmächtig zusammen; es war Herr Kreissl, der unglückliche Schwiegervater des Dr. Groag. Rabbiner Schmiedel sagte:

«Alle Eure Brüder, das ganze Haus Israel, beweinen den grossen Brand, den Gott angezündet hat. (Grosse Bewegung.) Unzählige Male stand ich schon auf dieser Trauerstätte, jedesmal mit von Theilnahme erfülltem Herzen. Aber so bis in’s innerste Mark hinein erschüttert war mein Herz noch niemals wie heute, denn eine grosse Stadt mit Hunderttausenden von Bewohnern trägt heute Trauer, kaum Eine Familie ist in dieser Stadt, die nicht einen Angehörigen oder einen Freund vermisst. Ach, an der Stätte des Schauers hörte man so häufig Worte, gleich jenen, welche zu dem jammernden Patriarchen gesprochen wurden: «Ist das vielleicht das Kleid, das Dein Kind getragen hat?» (Grosse Bewegung; lautes, minutenlanges Schluchzen.) Sind das vielleicht die Züge seines Antlitzes, welche mitten im verzweifelten Kampfe noch unentstellt geblieben sind? Und mitten in diesem aufgethürmten Leichenberge von entseelten Leichen war dieser junge Mann hier der Erste, der aufgefunden wurde, gestern noch ein blühender, von Kraft und Gesundheit strotzender Jüngling, der einzige Sohn, die einzige Freude seiner gottgesegneten Eltern. Sein Vater erkannte das Kleid seines Sohnes. Gleich dem Patriarchen sprach er: «Mein Sohn ist zerrissen worden.»

Nach der Grabrede hoben die Leichenbestatter den Sarg und brachten ihn nach dem für ihn bestimmten Grabe. Drei Schollen warf der Vater, drei Schollen die Mutter dem todten Sohne in’s Grab — das waren die ersten Schollen. Zwei andere Särge: sie bargen die Leichen des Doctor Jaques Groag und seiner Gattin Clementine. Die Einsegnung wurde von Dr. Jellinek vorgenommen. Nachdem Prediger Jellinek dem Ehepaare Groag einen warmen Nachruf gehalten hatte, fuhr er in seiner Todtenrede fort:

«An diesen Särgen fühle ich mich verpflichtet, als Lehrer des Judenthums, als Lehrer der Religion der Milde und Liebe, eine ernste Mahnung zu richten an Alle ohne Unterschied, eine Mahnung, die tief in die Herzen eindringen möge: Lasset uns die Todten ehren; wir wollen nicht die Trauer, die unsere Residenz erfüllt, entweihen, bannen wir aus unseren Herzen jeden [S. 54]Groll, erheben wir keine Anklage, weisen wir zurück jede Beschuldigung! Mögen die Todten ruhen, möge kein Hass sich erheben, kein Groll unseren Schmerz entwürdigen. Liebe und Versöhnung möge die Bewohner unserer Stadt ohne Unterschied der Confession mit einander verbinden! Wir sehen es ja, wie hinfällig jedes Menschenleben ist! Lasset uns also die Todten ehren, die Trauer nicht entweihen; Liebe, Milde und Versöhnung seien es, die von den Särgen sich erheben und die Gemüther beruhigen; Friede und Ruhe den Dahingeschiedenen, Friede und Trost den Hinterbliebenen, Versöhnung Allen in unserer Stadt! Das ist der dreifach gewundene Kranz des Friedens, des Trostes und der Versöhnung, den ich als Lehrer der Religion auf diese Särge hinterlege!»

In ununterbrochener Reihe wurden dann noch siebzehn Leichen, und von 1 bis 3 Uhr fünfundvierzig Leichen, je acht auf einmal, eingesegnet und bestattet.


Weniger zahlreich waren Sonntags die Separatleichenbegängnisse der Angehörigen christlicher Confession. In der Spitalscapelle wurden eingesegnet und dann nach dem Centralfriedhofe zur Beerdigung überführt:

Vormittags: Richard Fischer, Carl Seidler.

Nachmittags: Victor Ranagl, Therese Hein, Carl Rigal, Leopoldine und Maria Seifert, Anna und Caroline Schatten, Camillo Schmeidel, Florian Hofstetter, Hildegard Wach, Johann Strommer.

Während der Leichenfeier dieser Opfer spielten sich in den Aufbahrungskammern und in der Capelle wahrhaft herzbrechende Jammerscenen ab. Besonders als die Leiche Camillo Schmeidel’s in die Capelle getragen wurde und der «Wiener Männergesangverein», dessen Mitglied der Verunglückte war, Reissiger’s erschütterndes «Nachtlied» anstimmte, ertönte aus der grossen Schaar der Leidtragenden lautes Schluchzen, so dass kein Auge trocken blieb. Fast im selben Augenblicke brachen drinnen in der Aufbewahrungskammer zwei Frauen an dem Sarge ihrer Schwester, welcher gleichfalls der unselige Abend des 8. December den Tod gebracht, halb ohnmächtig zusammen.

Hohenlohe und Tewele.

Und also schloss der Schmerzens-Sonntag, der 11. December 1881, reich an erschütternden Scenen, aber noch reicher an Thränen! — Einer Episode sei noch Erwähnung gethan. Der Director des Carltheaters, Herr Tewele, versuchte es, die Theater-Directoren Wiens zu bewegen, die Theater an diesen traurigen Tagen zu schliessen, um, während Wien in Jammer, Schmerz und [S. 55]Thränen aufgelöst ist, nicht Komödie spielen zu lassen. Die Theater-Directoren unserer Vorstadt-Bühnen hatten zugesagt: Tewele möge dem ersten Obersthofmeister Sr. Majestät Kaiser Franz Josef I., Fürst Hohenlohe-Schillingsfürst, sein Anliegen vortragen; was die kaiserlichen Theater thun, werden sie auch thun. Die Audienz fand statt, die Bitte, Seitens Tewele vorgebracht, wurde vom Obersthofmeister — abgeschlagen. So kam es, dass Wien, mit Ausnahme des Carltheaters, an diesen Tagen Komödien spielte, an denen die Leichen der Opfer eines Theaterbrandes agnoscirt und — die ersten Todten in die Grube gesenkt wurden. Ueber Befehl Sr. Majestät des Kaisers blieben die Wiener Theater am Montag den 12. December geschlossen. Nur in dem Tingl-Tangl, genannt Danzer’s Orpheum, jodelte man, als ganz Wien weinte.

Hohenlohe und Tewele.

Hohenlohe und Tewele.

[S. 56]

Leichenfeier im Stephansdome.

Der 12. December 1881. — Die Politik ruht, Streit und Hader der Parteien im Parlamente ruhen, diese selbst vertagen ihre Sitzungen, Wien, das lebensfrohe Wien trägt Trauer. Vom Dome zu St. Stephan tönen schwer und bang die Glocken und gegen das Riesenthor drängt sich Alles, was Einladungen zu dem grossen Requiem erhielt, und Infanterie und Cavallerie hielt Jene ferne, welchen von Seite des löblichen Gemeinderathes der Reichs-Haupt- und Residenzstadt keine specielle «Parte» zugestellt wurde. — Doch Kritik zu üben ist nicht meine Sache. Wir Alle stehen noch zu sehr unter dem Eindrucke, den die Trauer von Tausenden auch auf die Nichtbetroffenen ausübt. Da umstanden die Lenker, Schirmer und Hüter des Volkswohles den Katafalk, die wahrhaftige Trauer spiegelte sich in ihren Gesichtern ab, denn trotz ihrer Grösse und Stellung fühlten sie sich an diesem denkwürdigen 12. December klein und unbedeutend vor dem unbegreiflichen Etwas, was wir mit «Zufall» bezeichnen wollen. Jedes Licht, das den Katafalk in zehnfachen Reihen umstand, versinnlichte ihnen ein Menschenleben, das jählings von dem Sturme ausgeblasen wurde, weil weder Schutz noch Schirm dasselbe bewahrte!

Schiller’s herrliches Lied von der Glocke fand hier leider keine Anwendung. Der Bürgermeister von Wien, der Vater der Stadt, er mag wohl die Häupter seiner Lieben gezählt haben, und siehe ihm fehlten viele, viele, viele theure Häupter, an deren Sarge er nun trauernd stand. — Wie wenig grossstädtisch dieser Schiller doch damals gedacht, als er im Verlaufe seines Gedichtes die Glocke «um eines Todten» willen klagen lässt, hatte man an diesem 12. December Gelegenheit zu beachten. Einen Todten! Für wie Viele haben die Glocken zu St. Stephan an diesem Tage geklungen und geklagt? Und ihr Klang, den die Winde hinaustrugen bis vor das Weichbild der Stadt, kann den Jammer nicht zum Schweigen bringen, von dem Wien, die lebensfrohe Stadt, voll ist. — Und hätten alle Glocken des Landes mit ihrem ehernen Schalle die Luft erzittern gemacht, hätten alle Kanonen in Oesterreichs Arsenalen, Festungen und auf Oesterreichs Schiffen ihren Flammenmund geöffnet, der Schrei einer einzigen Mutter, die am Grabe ihres Kindes weint, hätte alle übertönt, ja selbst das leise Wimmern eines Kindes, das die Eltern verloren, hätte sie Alle verstummen gemacht. — Man wollte nicht getröstet sein; die, die geliebt wurden, sind nicht mehr, und keine, wenn auch noch so aufrichtige Trauer kann sie uns wiedergeben. — Auf den Katafalk zu St. Stephan stützte ein Mann in Kummer und Trauer sein Haupt, das berufen ist, einst die Krone Oesterreichs zu tragen. Der Sohn ersetzte den in den Schreckenstagen ferne von Wien weilenden Vater, und an diesem Tage dürfte er kennen gelernt haben, was es heisst, an der Spitze einer Bevölkerung zu stehen! —

[S. 57]

Vor dem Riesenthore der Stephanskirche grenzte die Sicherheitswache ein weites Carré ab, um das sich lautlos, ohne Drängen und Hasten, wie man es sonst bei solchen Gelegenheiten sieht, eine grosse Menschenmenge gruppirte. Das Tageslicht war so glanzlos, die Fenster rundum waren von Menschen in dunkler Kleidung besetzt, dazu die schwarze Wagenburg, die hinter der Kirche aufgefahren war, das gab ungewollt ein den traurigen Anlass bezeichnendes, düsteres Bild.

Um 10 Uhr klangen alle Glocken in dumpfem Tone zusammen, die ernste Feier begann, welche die Spitzen der Bevölkerung Wiens ihren einem furchtbaren Geschicke erlegenen Mitbürgern brachten. Die Staffage des trüben Bildes bildeten keine Neugierigen; es waren Theilnehmende. Die spaliermachende Menschenmenge fehlte auf den Strassen; wer eben auf dem Wege war, den der Zug passirte, der hielt an in seinem geschäftigen Treiben, bis der lange, lange Wagenzug vorüber war. Wien hat sich ruhig verhalten, der Würde des Tages angemessen.

Der Gottesdienst, der in der Stephanskirche am 12. December abgehalten wurde, wird für immer denkwürdig bleiben. Die Stadt Wien, das Land, das Kaiserhaus, haben ihre tiefe unauslöschliche Trauer in wahrhaft erhebender Weise zum Ausdrucke gebracht. Der ehrwürdige Dom hat niemals eine solche Menschenmenge gefasst, wie an diesem Tage. Aufrichtige Andacht beherrschte jeden Einzelnen der viel tausendköpfigen Gemeinde, was die Grabesstille in dem weiten Raume dargethan. Jede Note der Kirchenmusik, jedes Wort des Priesters wurde bis in die entlegensten Winkel gehört. Die höchsten Ehren erwies die Kirche den bürgerlichen Opfern dieses bürgerlichen Dramas; solche Ehren werden sonst nur den allervornehmsten Spitzen der geistlichen und weltlichen Hierarchie erwiesen. Die höchsten Würdenträger der Kirche functionirten bei der solennsten Feier der Neuzeit — der Sohn des Landesvaters, Kronprinz Erzherzog Rudolf, und die Erzherzoge Carl Ludwig, Rainer, Albrecht, Wilhelm, Carl Salvator und Johann Salvator wohnten dem Requiem in tiefer Ergriffenheit bei.

In der Mitte der Kirche erhob sich ein hoher Katafalk, reich mit Kränzen geschmückt, von Kerzen in vielen Reihen umgeben. Die Diener der «Pietät» umgaben denselben und Sicherheitswachleute en parade bildeten Spalier. Der Hochaltar im Presbyterium, die Seitenwände desselben und die Bänke waren schwarz decorirt, und die ganze Kirche feierlichst beleuchtet.

Das Presbyterium, wo in den Seitenbänken Leidtragende Platz nahmen, war überfüllt. Unter den Anwesenden befanden sich die Vice-Präsidenten des Abgeordnetenhauses, Fürst Lobkowitz und Gödel-Lannoy, der Präsident des Herrenhauses Graf Trauttmannsdorff, der Bürgermeister der Stadt Wien Dr. v. Newald und der Vicebürgermeister Uhl, der Ministerpräsident Graf Taaffe, der Reichs-Kriegsminister Graf Bylandt-Rheidt, ferner die Minister Welsersheimb, Dunajewski und Ziemialkowski, Herrenhausmitglied [S. 58]Gögl, zahlreiche Mitglieder des Abgeordnetenhauses, unter Anderen Professor Suess, Dr. Rechbauer, Clumecky, Dr. Russ, Graf Hohenwart, Dr. Rieger, Dr. Jaques, Graf Coronini, Fürst Liechtenstein, der Statthalter Freiherr v. Possinger, der Oberststallmeister G. d. C. Prinz Emerich Thurn-Taxis, G. d. C. Graf Pejacsevic und die sämmtlichen übrigen dienstfreien Generale der Wiener Garnison; der Gemeinderath war sehr stark vertreten; man sah ferner den Director Jahn von der Hofoper und Angehörige anderer Theater. Der Kronprinz und die Erzherzoge wurden von dem Fürst-Erzbischof Cölestin Josef und dem Weihbischof Dr. Angerer unter Assistenz der geistlichen Alumnen empfangen und zum Hochaltar geleitet, in dessen unmittelbarer Nähe die Mitglieder des kaiserlichen Hauses Platz nahmen.

Der Chor brachte das Gottfried Breuer’sche Requiem zur Aufführung. Das Todtenamt wurde vom Fürst-Erzbischof celebrirt; den Rundgang am Schlusse vollführte der Weihbischof. Um 10 Uhr war das Requiem zu Ende; das gesammte Domcapitel geleitete den Kronprinzen und die Erzherzoge zum Ausgang.

Die grosse, schweigsame Menschenmenge verliess hierauf die Kirche in derselben musterhaften Ordnung, in welcher sie gekommen war. Die tiefe Stille wurde plötzlich durch lautes Gekreische einer Frauenstimme unterbrochen, welches schrill und verletzend vom Thore her durch die Kirche drang und grosse Aufregung hervorrief. Man wusste anfänglich nicht, ob es ein Singen oder ein lautes Wehklagen oder ein gellendes Lachen war. Vor dem Thore erfuhr ich, dass zwei leidtragende Frauen ihren wilden Schmerz auf solche Art geäussert hatten, dass dieselben mit sanfter Gewalt aus der Kirche entfernt, gelabt und mittelst Wagen fortgebracht wurden. Einige erzählten die schreckliche Version, eine dieser Frauen sei in ein Gelächter ausgebrochen, welches den Eindruck beginnenden Wahnsinns machte.

Die Trauerfeier auf dem Central-Friedhofe.

Die grossartige Trauerfeier, welche die Stadt Wien den Opfern des unseligen Brandes veranstaltete, hat Tausende dem weiten Leichenfelde zugeführt, auf dem Wien seine Todten der Erde übergibt. Von allen Eingängen her strömte die Menge dem Raume bei den Arcaden zu, welcher schon zeitig Morgens durch Sicherheitswache und Militär abgesperrt wurde. Der für die Feier bestimmte Raum war vor den Arcaden gewählt worden. Die 93 Särge, welche im Halbkreise längs der Arcadenbogen, und zwar mit den Hauptenden erhaben auf einem mit schwarzem Tuche bedeckten Podium aufgestellt waren, hatte man mit Kränzen bedeckt.

In der Mitte des Platzes hatte man ein prachtvolles Castrum doloris errichtet, an welchem mit Sorgfalt alle Symbole der [S. 59]einzelnen Confessionen vermieden wurden. Ein Zelt aus schwarzem Tuche mit Silberverzierung erhob sich über dem reich mit Blumen und Kränzen geschmückten Castrum doloris, im Hintergrunde flatterte eine riesige Trauerfahne. Neben dem Katafalk brannten [S. 60]auf langen Reihen von silbernen Candelabern unzählige Lichter. Vor dem Castrum doloris hat man ein mit schwarzem Tuche bedecktes Podium errichtet, von welchem die Redner sprechen sollen.

Die Trauerfeier auf dem Central-Friedhofe.

Die Trauerfeier auf dem Central-Friedhofe.

Eine gleichfalls mit schwarzem Tuche überdeckte riesige Tribüne nimmt die Kränze auf, welche von allen Seiten einlaufen. Allen voran liegt ein colossaler, prachtvoller Kranz aus Theerosen, Veilchen, Camelien, Hyazinthen und Tulpen. Die Schleife trägt die Inschrift: «Erzherzog Karl Ludwig und Erzherzogin Maria Theresia». Ihn umgibt eine schwere Last von Kränzen; die Schleifen tragen folgende Inschriften:

«Erzherzog Karl Ludwig und Erzherzogin Maria Theresia»; «Das Haus der Abgeordneten»; «Den unglücklichen Opfern — das Ringtheater»; «Den Verunglückten — der Schubertbund»; «Der Kaufmännische Verein seinem treuen Mitgliede»; «Das Infanterie-Regiment Baron Kuhn Nr. 17, gewidmet von den Feldwebeln»; «Ihren Commilitonen — die «Deutsche Lesehalle» an der technischen Hochschule»; «Das Burgtheater den unglücklichen Opfern des Ringtheaters»; Kränze von den Angehörigen auf den einzelnen Särgen in unmittelbarer Entfernung vom Katafalk; ein Kranz mit schwarz-roth-goldenen Schleifen: «Der Deutsch-österreichische Leseverein den verunglückten Commilitonen»; «Der Touristen-Club».

An den Särgen und um den Katafalk sammelte sich eine nach Tausenden zählende Menschenmenge an. Herzzerreissend war der Jammer der Hinterbliebenen an den Särgen. Die Feder ist ausser Stande, all die entsetzlichen und jammervollen Scenen zu beschreiben, deren Schauplatz der Raum vor den Arcaden war. Ein Vater, dessen einer Sohn in den Sarg gebettet war, während der andere noch in dem grossen Feuergrabe auf dem Schottenringe ruhte, sank halbohnmächtig auf dem Sarge nieder, der die Leiche barg. Sein Jammer war herzzerreissend, und Tausende weinten und schluchzten mit ihm. Kinder weinten am Sarge der Eltern, Väter und Mütter am Sarge der Kinder, Brüder und Schwestern, Freunde und Bekannte sanken vor den Särgen auf die Knie. Die schrecklichste Scene ereignete sich während der Einsegnung der Leichen durch den griechischen Priester. Eine Frau fand den Sarg eines theuren Todten. Sie begann zu weinen und zu jammern. Ihr Schmerz äusserte sich aber bald in lauten Ausrufen, unter denen nur der Ruf: «Feuer!» verständlich war. Sie begann zu kreischen, zu rasen — sie war wahnsinnig geworden! Sechs Männer waren kaum im Stande, die Unglückliche wegzutragen, welche sofort den Aerzten übergeben wurde.

Es hiesse in dem ungeheuren Schmerze wühlen, der die Stadt Wien zu einem grossen Trauerhause macht, wollte ich all’ den herzzerreissenden Jammer, all’ die Aeusserungen des masslosesten Schmerzes schildern, deren Zeuge ich war.

Gegen 11 Uhr intonirte die hinter dem Katafalk aufgestellte Militär-Capelle den Beethoven’schen Trauermarsch. Düster und feierlich zogen die Klänge durch die Hallen der Arcaden [S. 61]und hallten schaurig an den Wänden der im Hintergrunde gelegenen Friedhofsgebäude wieder.

Der Zug der Priester erschien und nahm seinen Platz vor dem Katafalk ein, wo sich die Mitglieder des Abgeordnetenhauses, die Generalität, die Spitzen der Behörden und Corporationen, sowie der Bürgermeister mit dem Gemeinderathe der Stadt Wien versammelt hatten.

Der Todten-Choral, unter dessen Klängen die Priester der katholischen, griechischen, protestantischen und israelitischen Kirchengemeinde nahten, wurde von den Mitgliedern des Opernhauses gesungen. Auch die Sänger fanden kaum die Kraft, ihre Stimme zu erheben, und viele derselben weinten laut.

Vor dem Castrum doloris begann Propst Marschall die Einsegnung nach katholischem Ritus. Nach den ersten Gebeten und Absingung der Busspsalmen schritt der Propst im bischöflichen Ornate die lange Reihe der Särge ab, um die Einsegnung vorzunehmen. Er wurde von dem Obmanne der Friedhofs-Commission, Gemeinderath Nikola, welchem eine schwarze Trauerfahne vorgetragen wurde, geleitet.

Das «Dies irae, dies illa», welches der Chor anstimmte, hat wohl niemals eine grossartigere Wirkung auf die Gemüther hervorgebracht, als an diesem Tage, und wie ein Schauer lief es durch die schluchzende Menge, als in einem der folgenden kirchlichen Gesänge die Worte des Propheten erschallten: «Judicavit saeculum per ignem».

Nach dem Propst Marschall trat der griechische Priester an den Katafalk, um nach seinem Ritus die Einsegnung vorzunehmen.

Hierauf trat der evangelische Pfarrer Formey an den Katafalk und sprach:

«Vor wenigen Tagen noch die wandelnden Bilder frischen, frohen Lebens, des fröhlichen Lebensmuthes, und nun verbrannter, verkohlter, zertretener Staub, eine formlose, verwesende Masse; nun der Boden eingebrochen unter ihren Füssen, der so fest und unzerbrechlich hielt, und nun das Grab bereitet, das grosse, düstere Schlafgemach zum grossen ewigen Schlafe, aus dem die Stimme der irdischen Liebe nimmer wiederhallt. «Ach wie so gar nichts sind alle Menschen», sagt der Psalmist. «Aber der feste Grund Gottes besteht», ruft der Apostel Paulus seinem Jünger Timotheus zu, und hat dieses Siegel: «Der Herr kennt die Seinen, Amen.» Der feste Grund Gottes, das ist das ewige Ufer, das ist das Vaterland und der Heimatsstrand, wohin die Feuerwogen des Todes und der Vernichtung nicht mehr reichen, wo kein Leid mehr ist, und kein solches herzzerreissendes Geschrei, sondern wo Friede die Fülle ist. Der feste Grund Gottes, das ist das unverbrennbare Haus da oben, das Vaterhaus, darin die vielen Wohnungen sind für jede nach Gottes Bild geschaffene Menschenseele. Das ewige Vaterherz, das sich auch diesen ernsten Opfern gegenüber so herrlich rechtfertigt, wird seinen soeben und so schrecklich heimgerufenen Kindern dort oben seine Worte erklären: «Ich habe dich doch je und [S. 62]je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen, darum habe ich dich wie einen Brand aus dem Feuer gerissen, aus lauter Liebe». Ja der feste Grund Gottes besteht und hat dieses Siegel, wenn er es auch gleichsam mit dem eisernen, glühenden Scepter seiner Allmacht beigedrückt hat, das Siegel: «Der Herr kennt die Seinen!» Er kennt unsere Gedanken von ferne; er kennt eines jeden Herzens Ein- und Ausgang; er kennt und weiss auch am Besten, wie und wann es seinen Kindern gut ist, aus dieser Zeitlichkeit zu scheiden. Ja der feste Grund Gottes besteht und hat dieses Siegel: «Der Herr kennt die Seinen!» Er kennt auch, was wir nicht mehr zu erkennen vermögen; er kennt jedes Einzelnen entstelltes Theil, das wir nun übergeben wollen dem Schosse des Grabes, Staub zu Staub, Erde zu Erde, Asche zu Asche! Er kennt es und wird es behüten durch seine heiligen Engel bis zum Tage der Auferstehung in der Herrlichkeit! Und so wollen wir uns beugen unter seiner allmächtigen Hand! Er hat uns zerrissen die theuersten Bande, er hat uns geschlagen Wunden an Wunden, die lebenslang noch bluten werden, er wird uns auch wieder verbinden, er wird uns auch wieder heilen. Wir wollen uns ergeben und beruhigen in seinen unerforschlichen, aber guten und weisen Willen. Möge er sie Alle, die wir mit kühler Erde zudecken müssen, grüssen und gnädig aufnehmen. Unsere Thränen sind getrocknet, weinet nicht, Ihr Lieben, wir sind im Frieden. Amen!

So lasst uns denn beten: Herr unser Gott! Du Herr über Leben und Tod, du in Christo, unser allbarmherziger Vater! Du hast über deine Kinder entschieden. Wir übergeben ihr unsterbliches wie ihr sterbliches Theil nun in deine treue Hand, wir geben sie dir, du wirst es wohl machen. Herr, segne sie und behüte sie! Herr lasse nun dein Angesicht leuchten über ihnen und sei ihnen gnädig! Herr, erhebe dein Angesicht auf sie und schenke ihnen nun den ewigen Frieden!»

Sodann trat Pfarrer Kanka hervor, um einige Worte zu sprechen.

Es sprachen noch der protestantische Prediger Schack und Dr. Witz; sodann wurden Trauerchöre vorgetragen und hielten der israelitische Seelsorger Dr. Jellinek und Dr. Güdemann Reden. Die Rede des Predigers Jellinek lautet:

«Kein Feuer, und loderte es noch so gewaltig, vermag die Nacht aufzuhellen, welche diese Särge einhüllt. Wie hiess der Todte, dessen Asche oder Leichnam jeder einzelne Sarg in sich birgt? Wir wissen es nicht! Welcher Familie ist er entsprossen? Wir kennen sie nicht! In welcher Confession ward er geboren? Niemand antwortet uns darauf. Und doch, welche innige Theilnahme und welche tiefe Trauer verbreiten diese namenlosen Särge, nicht blos in unserer Residenz, sondern überall, wohin die Botschaft gedrungen ist, dass eine Stätte der Lust und Freude in einen rauchenden Altar sich verwandelte, auf welchem Hunderte von Menschen den Tod gefunden haben, den gemeinsamen Tod, einen grauenhaften Tod. Niemand fragt nach ihrem Namen und Rang, nach ihrer Herkunft und Religion; es waren Gatten, [S. 63]Gattinnen, Väter, Mütter, Söhne, Töchter, Jünglinge, Jungfrauen, denen Licht, Luft und Leben plötzlich qual- und angstvoll genommen wurden. Und dieser gemeinsame Tod ist es, der diesen Brandopfern ein gemeinsames Grab bereitet. Das Leben trennte sie von einander, der Tod vereinigte sie, und verbunden im Tode soll die Erde zum ewigen Frieden sie aufnehmen. O, möge nicht vergebens ein gemeinsamer Tod sie ereilt, ein gemeinsames Grab sie aufgenommen haben! Möge derselbe Allen, welche von ihm Kunde erhielten, eine ernste Mahnung sein, pünktlich, streng und gewissenhaft das zu thun, was übernommene Pflichten und gewählter Beruf ihnen auferlegen; denn jede, auch die geringste Pflicht in der untergeordnetsten Lebensstellung ist heilig, jede auch die geringste Vernachlässigung derselben kann Verheerung und Vernichtung anrichten; möge aus dem thränenfeuchten Staube, den diese Särge in sich bergen, und aus der gemeinsamen Erde, in welcher sie ruhen werden, der Baum des religiösen Friedens und der confessionellen Eintracht nicht blos im Tode, sondern auch im bewegten Leben emporspriessen; möge unserer Stadt, wie sie musterhaft durch ihre Wohlthätigkeit ohne Unterschied der Confession ist, auch allen Städten und Staaten vom heutigen Tage an voranleuchten durch edle Brüderlichkeit, welcher keine Sprache fremd ist, keine Confession fernsteht; dann wird der Feuerschein in der Nacht des 8. December nicht blos zerstört und getödtet, sondern auch in einer Zeit der Racenkämpfe und der confessionellen Zwietracht Frieden gestiftet und den Brudersinn belebt haben.

Friede den Nahen, Friede den Fernen, spricht Gott, ich heile den Schmerz, lindere die Trauer, tröste die Betrübten, richte auf die Gebeugten.»

Nach Dr. Jellinek trat Bürgermeister Dr. v. Newald vor, um folgende Worte zu sprechen:

«Von tiefem Schmerze durchdrungen, vom Gram gebeugt, erfüllen wir in diesem feierlichen Augenblicke eine heilige Liebespflicht und vertrauen die irdischen Ueberreste der Opfer eines entsetzlichen Unglücks der Erde an. So wie sie gleichzeitig und gemeinsam von dem schrecklichen Tode ereilt wurden, so werden sie gemeinsam in Ein Grab zur ewigen Ruhe, zum ewigen Schlafe gebettet. An dem gemeinsamen Grabe werden Kinder ihre verlorenen Eltern, Eltern ihre Kinder, der Gatte den Gatten beweinen, und jede Thräne, die dort fliesst, jede Liebesgabe, welche der Einzelne dem Einzelnen weiht, sie werden Allen gemeinsam, die darin im Todesschlafe ruhen. An diesem Grabe trauert die Bevölkerung Wiens, trauert Oesterreich, trauert die ganze Welt. So mächtig und allgewaltig sich der Schmerz erweist, so unvergänglich wird die Trauer sein. Nimmer werden Die vergessen werden, welche dort ruhen; sorgsam soll ihr Grab gepflegt und an jedem wiederkehrenden Todestage geschmückt werden. Ein Denkmal soll sich über ihnen erheben zum Troste für die Hinterbliebenen, zur mahnenden Erinnerung für ewige Zeiten. Amen.»

[S. 64]

Nach den Trauerreden, welche einen tiefen Eindruck machten, folgte die Uebertragung der Särge in die Gruft, und zwar versenkte man zunächst drei derselben, auf welche der Bürgermeister Schollen Erde warf, womit er symbolisch sämmtlichen Opfern die letzte Ehre erwies. Andere Trauergäste folgten diesem Beispiele, und damit war die imposante Trauerfeier zu Ende; erschüttert verliessen die Theilnehmer das öde Feld des Todes.

Streuen auch wir Blumen auf das Grab der December-Gefallenen, errichten wir ihnen in unserem Herzen ein dauerndes Monument. Es war so viel Jugend, so viel Lebenshoffnung darunter. Gewiss, mancher von den Todten wäre, hätte das Geschick ihm längeres Leben vergönnt, vielleicht auf Irrwege gerathen, hätte die Hoffnung der Seinen getäuscht. Aber weitaus die Meisten wären gewiss brav und wacker geblieben, wie sie es waren, wären gute Bürger, tapfere Soldaten, ehrliche Kaufleute, wackere Handwerker, brave Gattinnen und Mütter geworden, sie hätten sich sicherlich bewährt, jeder in seinem Stande und auf seinem Platze. Aber das Schicksal hat es anders gewollt. Die Parze hat einen Bündel Lebensfäden auf einmal durchschnitten. Wien war an diesem Tage eine einzige Familie, die Stadt ein einziges grosses Trauerhaus, aus dem man an einem Tage 673 Todte trug!

Der Wohlthätigkeitssinn Wien’s manifestirte sich wieder auf das Glänzendste. Die grossen Blätter unserer Stadt eröffneten Sammlungen, und Wien, Oesterreich, ja Europa hörten und befolgten ihren Ruf. Bedeutende Summen wurden von Hoch und Nieder, von Arm und Reich gespendet, und nur eine Spende sei hier erwähnt, nämlich die eines schlichten Bürgers, der 135.000 fl. allein für die Hinterbliebenen der Opfer des Ring-Theaterbrandes spendete. Ehre, Dank und Anerkennung allen Spendern! Doch Oesterreichs Bürger hätten nicht für Hinterlassene von plötzlich dahingeschiedenen Familienvätern zu sammeln gebraucht, wenn die Segnungen der Lebensversicherung bereits in Fleisch und Blut des Volkes übergegangen wären. Möge das grässliche Drama vom Schottenringe nicht ohne Nutzanwendung für die Bevölkerung sein. Die moralischen Folgen der Ringtheater-Katastrophe brauche ich wohl nicht nochmals an’s Licht zu stellen, sie sind leicht erklärlich, wenn man die Bilder der Trauer und des Schmerzes an seinem geistigen Auge vorüberziehen lässt. Die Schattenseiten der Civilisation hatten sich mit einem Male den Blicken geoffenbart, die Wahrnehmung drängte sich dem Bewusstsein auf, dass das Gefühl unserer Sicherheit nur ein trügerischer Traum sei, dass unser Glück, unsere Arbeit, unser Besitz und unser Leben fortwährend von den schrecklichsten Gefahren umlagert sind, und wir gleich Strohhalmen vom Winde erfasst, hinweggefegt werden können. Streuen wir Blumen auf das Grab Derjenigen, die für unser zukünftiges Wohl ihr Leben einbüssten.

F. Brandt.

NACHDRUCK und ÜBERSETZUNGSRECHT vorbehalten

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