The Project Gutenberg eBook of Pilgerreise zur seligen Ewigkeit

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Title: Pilgerreise zur seligen Ewigkeit

Author: John Bunyan

Illustrator: H. Barmführ

Release date: May 23, 2023 [eBook #70845]

Language: German

Original publication: Germany: Verlag der St.-Johannis-Druckerei, 1922

Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK PILGERREISE ZUR SELIGEN EWIGKEIT ***

Anmerkungen zur Transkription

Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1922 so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr verwendete Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert; fremdsprachliche Ausdrücke wurden nicht korrigiert.

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Original-Einband
Johann Bunyan.

Pilgerreise
zur seligen Ewigkeit

von Johann Bunyan.

Nebst kurzer Lebensbeschreibung
des Verfassers.

Dekoration, Titelseite

Mit 15 Originalzeichnungen von H. Barmführ.

Verlagssignet

Verlag der St.-Johannis-Druckerei,
Dinglingen (Baden).

 St.-Johannis-Druckerei, Dinglingen (Baden). 
1922.

Inhalt.

Seite
 
Aus Bunyans Leben
1.
Der Weg zur engen Pforte
2.
Der Weg zum Frieden
3.
Der Berg der Beschwerde
4.
Das Tal der Demut und der Todesschatten
5.
Ein treuer Gefährte und ein frömmelnder Schwätzer
6.
Der Markt der Eitelkeit und die Treue bis in den Tod
7.
Ein neuer Begleiter und die Gefahren an der Silbergrube
8.
Nach großer Freude eine schwere Verirrung
9.
Bei den Hirten auf den lieblichen Bergen
10.
Die Geschichte von Kleinglaube
11.
Durch einen falschen Apostel betört. Über den bezauberten Grund
12.
Durch die Fluten der letzten Trübsal und Eingang in die himmlische Stadt
1.
Christin schickt sich zur Pilgerreise an
2.
Wer da anklopft, dem wird aufgetan
3.
In Anfechtung und im Hause des Auslegers
4.
Belehrungen und Erfahrungen unter dem Geleit eines treuen Führers
5.
Der Aufenthalt im Palast Prachtvoll
6.
Im Tal der Demut und der Todesschatten
7.
Redlich, ein treuer Mitpilger
8.
In der Herberge des Gajus und auf dem Eitelkeitsmarkt
9.
Die Zerstörung der Zweifelsburg und auf den lieblichen Bergen
10.
Über den bezauberten Grund und der Abruf aus dieser Welt
Inhaltsverzeichnis, Deko

[S. 5]

Kopfstück, Einleitung

Aus Bunyans Leben.

D

Das Jahr 1628, in dem Johann Bunyan geboren wurde, war ein sehr bewegtes. Während auf dem Festland katholische und protestantische Fürsten und Völker einander bekämpften, begann in England eine Bewegung der strengprotestantischen und republikanischen Partei gegen das Staatskirchentum, das noch viel Katholisches beibehalten hatte, und gegen die königliche Willkürherrschaft. Die Wellen dieser kirchlichen und politischen Stürme werden wir im folgenden auch in Bunyans Lebensschifflein schlagen sehen. Die Revolution und ihre Folgen spiegeln sich gewissermaßen in den Stürmen seines innern und äußern Lebens wider.

Johann Bunyan war der Sohn sehr armer Eltern. Sein Vater, Thomas Bunyan, war ein herumziehender Kesselflicker und Pfannenschmied, bewohnte jedoch in dem Dörfchen Elstow, unweit der Stadt Bedford im Herzen von England, eine armselige Hütte. Die Mutter hieß Margarete geb. Bentley und stammte ebenfalls aus Elstow. Von seinen Brüdern ist uns nichts Näheres aufbehalten. Eine sorgfältige Erziehung hat Johann nicht genossen; doch erkennt es der Sohn dankbar an, daß seine Eltern ihn nach Bedford zur Schule schickten, damit er lesen und schreiben lernte, um später dem Vater in seinem Handwerk behilflich zu sein. Im übrigen wuchs er auf in der Ausgelassenheit und Roheit einer zuchtlosen Jugend, wobei das in der Schule Gelernte bald vergessen wurde. In dieser Zeit scheint er nicht nur der Verführte, sondern der Rädelsführer seiner Altersgenossen in allen tollen Streichen, wie Beraubung der Obstgärten und Wilddieberei, gewesen zu sein, die ihm öffentliche Strafe zuzogen. Er selbst schildert[S. 6] sein damaliges Leben mit folgenden Worten: „Was mein natürliches Leben angeht, so war es in jener Zeit, da ich ohne Gott in der Welt lebte, in der Tat nach dem Lauf dieser Welt und nach dem Geist, der zu dieser Zeit sein Werk hat in den Kindern des Unglaubens. Es war meine Freude, vom Teufel gefangen zu sein zu seinem Willen. Ich war voll aller Ungerechtigkeit, welche auch so kräftig wirkte, beides, in meinem Herzen und Leben, daß ich von Kind auf nur wenige meinesgleichen im Fluchen, Schwören, Lügen und Lästern des heiligen Namens Gottes hatte.“

Doch auch in dieser Zeit der größten Entfernung von Gott waren religiöse Gefühle in ihm nicht ganz erstorben, und seine Sünden bereiteten ihm je und je Gewissensbisse. Schon in seinem zehnten Lebensjahr wurde er von schreckhaften Träumen und von dem Gedanken an die Qualen der Hölle beängstigt. Diese Bilder beunruhigten ihn oft mitten in seinen Spielen und unter seinen Kameraden so sehr, daß er ganz niedergeschlagen war. Zu einer Sinnesänderung kam es indessen nicht, im Gegenteil suchte er diese Eindrücke zu betäuben und sich nur noch mehr seinen Lustbarkeiten hinzugeben. — Wie er sich in dieser Zeit zum Worte Gottes verhielt, sagt er selbst: „In diesen Tagen waren mir die Gedanken an geistliche Dinge sehr verdrießlich. Ich konnte es selbst nicht leiden noch ertragen, daß andre sie hegten. Sah ich Leute in christlichen Büchern lesen, so fühlte ich mich in ihrer Gesellschaft wie in einem Gefängnis.“

An Bewahrungen, die ihn aus seinem Schlummer hätten aufwecken sollen, ließ es Gott auch nicht fehlen. Zweimal war er dem Ertrinken nahe, das eine Mal im Ousefluß bei Bedford, das andre Mal in einer Meeresbucht. In seiner Tollkühnheit schlug er eines Tages eine Otter, die über den Weg glitt; da sie nun betäubt war, riß er ihr mit dem Stock den Rachen auf und brach ihr mit bloßer Hand die Giftzähne aus, ohne eine Verletzung davonzutragen. Diese Barmherzigkeit Gottes machte damals zwar wenig Eindruck auf ihn, weckte jedoch in ihm das Gefühl, daß er nicht völlig von Gott dahingegeben sei.

Mit ungefähr 17 Jahren ließ er sich als Soldat anwerben und diente, wie es scheint, in der Parlamentsarmee, die im Kampfe stand gegen Karl I. aus dem Geschlecht der Stuart. Bei der Belagerung von Leicester durfte er wieder offensichtlich die schützende Hand Gottes über sich erfahren. Er sollte nämlich eines Tages an einer gefahrvollen Stelle Schildwache stehen, da bat[S. 7] ihn ein Kamerad dringend, an seiner Statt den Posten beziehen zu dürfen, und kurz nach der Ablösung wurde dieser von einer Kugel getötet. Aber auch diese wunderbare Erhaltung seines Lebens ließ den jungen Bunyan damals noch gleichgültig und kalt.

Bald darauf trat er aus dem Heeresdienst aus und kehrte in seine Heimat zurück, ohne im geringsten sein Leben zu ändern. Vielmehr vernachlässigte er seinen Beruf und kam nach und nach in drückende Armut. Um diese Zeit, er war nun etwa 20 Jahre alt, verheiratete er sich auf den Rat seiner Freunde, welche meinten, daß diese Veränderung eine günstige Wirkung auf seinen bisherigen Lebenswandel ausüben würde. Seine Frau war ein armes Waisenmädchen, so arm, daß sie ihm an irdischem Gut nichts weiter ins Haus brachte als eine Schüssel und einen Löffel. Doch besaß sie auch noch zwei Bücher: „Des gemeinen Mannes Fußpfad zum Himmel“ und „Die Übung in der Gottseligkeit“, welche ihr gottseliger Vater ihr bei seinem Tode hinterlassen hatte. In diesen beiden Büchern pflegte er dann und wann mit ihr zu lesen und fand darin manches, was ihm wohlgefiel. Seine Frau erzählte ihm auch oft von ihrem frommen Vater und wie er das Laster sowohl in seinem Hause als unter seinen Nachbarn getadelt und andre davor gewarnt habe und wie heilig und rechtschaffen er in Worten und Werken gewesen sei.

Diese Bücher und die Ermahnungen seiner Frau wirkten doch so weit auf sein Herz, daß er sich bemühte, wenigstens die äußern Gebräuche der Religion zu beobachten. Daher ging er Sonntags zweimal in die Kirche und konnte auch ganz andächtig singen und beten, wie es die andern taten. Kaum war aber der Gottesdienst vorbei, so nahmen ihn die Spiele auf dem Rasenplatz wieder völlig in Anspruch. Unter den lustigen Gesellen war er bei Tanz und Spiel wie immer der erste.

Nachdrücklicher schlug an sein Gewissen eine Predigt über die Sonntagsfeier und Sonntagsentheiligung. Es kam ihm vor, als ob der Geistliche gerade gegen ihn gepredigt hätte. Noch nie hatte er so deutlich gefühlt, was Sündenschuld ist; er ging aus der Predigt nach Hause mit einer schweren Last auf dem Gemüt. Doch auch dieser Eindruck ging bald vorüber und wurde von seinem alten Leichtsinn verdrängt. Noch am selben Tag wurde er aus demselben aufgeschreckt, denn eine Stimme vom Himmel schien ihm zuzurufen: „Willst du deine Sünden verlassen und in den Himmel oder deine Sünden behalten und in die Hölle fahren?“ Hierüber außerordentlich erstaunt, blickte er zum Himmel[S. 8] empor, und es war ihm, wie er selbst berichtet, als ob der Herr Jesus sehr unwillig auf ihn herniederschaute. Aber Bunyan verschloß seine Augen dem Licht, und nachdem er zu dem Schluß gekommen war, für ihn sei die Gnadenzeit vorbei, entschloß er sich, das Glück dieser Welt und die Lust der Sünde in vollen Zügen weiter zu genießen.

So finden wir ihn denn etwa einen Monat später fluchend und schwörend an dem Fenster einer Nachbarin. Diese Frau, die selbst in einem schlechten Ruf stand, wies ihn ernstlich darüber zurecht und sagte, er fluche so fürchterlich, daß sie zittere, ihn anzuhören; er sei der gottloseste Flucher, den sie in ihrem Leben gesehen habe, und er werde noch die ganze Jugend des Dorfes verderben. — Was viele Predigten nicht vermocht hätten, das bewirkte die Strafrede dieser Frau. Tief beschämt schlug er die Augen nieder; er wünschte wieder ein kleines Kind zu werden, daß sein Vater ihn reden lehren könnte, ohne zu fluchen. Von dieser Zeit an hörte er auf zu fluchen. Bald darauf wurde er mit einem frommen Mann bekannt, der ihn auf die Heilige Schrift hinwies. Bunyan fing nun an, die Bibel zu lesen, in welcher ihn hauptsächlich das Geschichtliche anzog, während z. B. die apostolischen Briefe für sein Verständnis noch ein Buch waren mit sieben Siegeln.

So begann er denn wirklich, sein Leben zu bessern und nach den Geboten Gottes zu leben, und es tat ihm leid, wenn er es nicht getan. Selbst das Tanzen, von jeher sein Lieblingsvergnügen, vermochte er nach und nach aufzugeben. Auf diese Weise beruhigte er sich und glaubte Gott zu gefallen. Die Veränderung in Bunyans Leben fiel auch den Nachbarn auf. Sie hielten ihn für einen wahrhaft frommen Menschen. Dieses Urteil der Leute schmeichelte ihm, und er war stolz auf seine Frömmigkeit.

Bunyan nähert sich den Frauen, um zuzuhören.

Während Bunyan in diesem selbstzufriedenen und selbstgerechten Sinn dahinlebte, führte ihn eines Tages sein Beruf nach Bedford; da sah er in einer der Straßen dieser Stadt drei oder vier Frauen, welche sich über göttliche Dinge unterhielten. Er, der gern über religiöse Dinge schwatzte, aber wohl auch von einem unbewußten Bedürfnis getrieben, näherte sich diesen Frauen, um zuzuhören. Sie sprachen von dem Werk Gottes in ihren Herzen, von der neuen Geburt und wie sie von ihrem natürlichen Elend überzeugt worden seien. Sie erzählten einander, wie der Herr ihre Seelen heimgesucht, mit welchen Trostesworten und Verheißungen Er sie erfrischt habe. Sie sagten auch, welche Anfechtungen[S. 9] des Teufels sie erfahren und wie sie unter seinen Anläufen erhalten geblieben seien. Sie sprachen von dem noch immer in ihrem Herzen steckenden Kleinglauben und sündlichen Wesen, von dem Hang zur Eigengerechtigkeit, welche sie als unzulänglich und unrein verwarfen. — Dies waren nun freilich für unsern Bunyan unbekannte Dinge. Aber ein Stachel davon blieb in seinem Herzen zurück. Es ward ihm bewußt, daß ihm bei aller seiner vermeintlichen und gutgemeinten Frömmigkeit die Notwendigkeit, von neuem geboren zu werden, nie eingefallen war und daß er weder[S. 10] von dem Troste Gottes noch von der Betrüglichkeit seines eigenen Herzens etwas wußte. Er ging wieder an sein Geschäft. Die Worte jener Frauen gingen ihm so sehr zu Herzen, weil sie ihn nicht nur davon überzeugten, daß ihm die Merkmale eines wahrhaft frommen Menschen fehlten, sondern weil er erkannte, wie glückselig der Zustand desjenigen sein müsse, der diese Merkmale habe. Es ward ihm daher Bedürfnis, seine Schritte wieder dorthin zu lenken, und je mehr er dies tat, desto klarer wurde er sich über seinen wirklichen Seelenzustand. Mit einer wahren Begierde las er nun die Bibel. Besonders waren es die Briefe des Apostels Paulus, die Gegenstand seines eifrigsten Forschens wurden. Das vornehmste Ziel, nach dem er strebte, war das Heil seiner Seele. Darauf war sein Sinn so ernstlich gerichtet, daß weder Vergnügungen noch Vorteile noch Überredungen oder Drohungen ihn wieder davon abzuziehen vermochten.

Gerade in dieser Zeit des Suchens nach Licht und Wahrheit geriet er in eine große Gefahr dadurch, daß er mit den Angehörigen einer Sekte, Ranters genannt, in Berührung kam, welche über alles Gesetz und Gebot hinaus zu sein meinten und die Freiheit des Fleisches predigten. Aber Gott erhielt ihn in Seiner Furcht und ließ ihn solche verführerischen Grundsätze nicht annehmen.

Trotz seines ernstlichen Suchens und Betens gingen noch etwa zwei Jahre darüber hin, bis er endlich zum Frieden kam. Doch es würde zu weit führen, über all die Kämpfe und Versuchungen ausführlich zu berichten, die er zu bestehen hatte. Es stiegen Befürchtungen in bezug auf die Gnadenwahl in ihm auf, oder daß der Tag des Heils für ihn schon vorbei sein könnte. Verkehrte Auffassung gewisser Bibelstellen und gotteslästerliche Eingebung des bösen Feindes quälten und verwirrten ihn so sehr, daß er sich zeitweise wie in einem Zustand der Verzweiflung befand.

Auch jetzt wieder waren es jene edlen Frauen, die sich seiner liebreich annahmen und ihn mit ihrem Seelsorger Johann Gifford, dem Baptistenprediger in Bedford, in Verbindung brachten. Gifford war selbst einen ähnlichen Weg von Sünden und Verirrungen und schmerzlichen Kämpfen geführt worden und hatte endlich den Frieden gefunden. Um so mehr war er der Mann, der Bunyan verstehen und ihm als Ratgeber dienen konnte. Was er nebst Gott diesem treuen Zeugen zu danken hatte, das zeigt er uns in seiner „Pilgerreise“, wo er dem christlichen Wandersmann den „Evangelisten“ als Ratgeber und Leiter beigesellt hat.

[S. 11]

Noch ein andres Mittel diente zu seiner Aufrichtung: Bunyan hatte ein Verlangen, die Erfahrung irgendeines gottseligen Mannes der Vergangenheit zu lesen. Nun fügte es Gott, daß ihm nach einiger Zeit ein Buch von Martin Luther in die Hände kam; es war seine „Erklärung des Briefes an die Galater“. Bunyan fand in diesem Buch seine eigene Lage und Erfahrung so ausführlich und gründlich behandelt, als ob dasselbe aus seinem Herzen geschrieben worden wäre. Er fand, daß Luther da sehr ernstlich von den Versuchungen und ihrer Entstehung, von Anfechtungen zur Hoffnungslosigkeit, zur Lästerung usw. handle und zeige, wie sowohl das Gesetz Moses als auch der Teufel, der Tod und die Hölle die Hand dabei im Spiel hätten. Dieses Buch dünkte ihn nächst der Heiligen Schrift das passendste für ein angefochtenes Menschenkind zu sein.

Bei alledem war er von seinen schweren Anfechtungen noch nicht frei, und wenn er auch eine Zeitlang den Frieden Gottes in seinem Herzen empfand, so glich doch dieses bald darauf wieder einem bewegten Meer. Aber zuletzt ging alles vorüber, und die Sonne der Gerechtigkeit ging in seiner Seele auf. Jetzt fielen die Fesseln in Wirklichkeit von seinen Füßen; er war von seiner Trübsal und von seinen Ketten erlöst; seine Versuchungen verloren sich ebenfalls. Nun ging er frohlockend seinen Weg, indem er sich der Gnade und Liebe Gottes erfreute.

Bald darauf schloß er sich der Baptistengemeinde in Bedford an. Das war etwa ums Jahr 1653, als er ungefähr 25 Jahre alt war. Um diese Zeit besserte sich auch Bunyans äußeres Fortkommen; er war nicht mehr in Gefahr, für einen Zigeuner gehalten zu werden, sondern stand bald in großer Achtung bei seinen Mitbürgern. Seinen Wohnsitz hatte er noch in seinem mit Stroh bedeckten Häuschen in Elstow, wo ihm Gott zwei Kinder beschert hatte: Marie, seine blinde Tochter, die er zärtlich liebte, und Elisabeth, die eine im Jahr 1650, die andre im Jahr 1654. In Johann Gifford besaß er einen geistesverwandten und einsichtsvollen Lehrer, und das war gut, denn seine Seelenkämpfe hatten noch nicht ihr volles Ende erreicht. Geistliche und leibliche Anfechtungen stürmten immer wieder auf ihn ein. Indessen behielt die Glaubenszuversicht endlich die Oberhand.

Der Gemeinde kam es bald zum Bewußtsein, daß Bunyan Gaben besitze, durch die er seinen Mitmenschen zum Segen werden könnte, und sie ernannte ihn zu ihrem Diakon oder Armenpfleger. Nicht lange nachher wurde er von der Gemeinde zum[S. 12] Prediger oder Evangelisten bestimmt. Mit der Übernahme dieses Amtes (1655) vollzog sich auch seine Übersiedlung nach Bedford.

Wie gering aber Bunyan damals von sich selbst hielt, sagte er mit folgenden Worten: „Ich konnte im Anfang gar nicht glauben, daß es möglich sei, daß Gott durch mich zu dem Herzen eines Menschen reden werde.“ — In den ersten Zeiten seines Predigtamts sprach er hauptsächlich von dem Verderben und dem Fluch der Sünde. Dies konnte er um so besser, als damals noch vielfach die Schrecken des Gesetzes und seine Sündenschuld schwer auf seinem Gewissen ruhten. Er bekennt selbst: „Ich kann mit Wahrheit und ohne Verstellung sagen, daß wenn ich hinging zu predigen, so ging ich voll Schuldgefühl und Schrecken, selbst bis zur Kanzeltür, und da erst wurde mir die Last abgenommen, so daß ich so lange im Gemüt frei war, bis ich mein Amt ausgerichtet hatte.“ — So fuhr er etwa zwei Jahre lang fort. Danach wurde er mit dauerndem Trost und Frieden erfüllt. Darum predigte er nun nicht mehr so sehr von den Schrecken der Sünde und des Gesetzes, sondern suchte Jesus Christus in dem Reichtum Seiner erlösenden Wirksamkeit und in Seinen Segnungen zu schildern; denn „ich predigte immer, was ich erfahren hatte“. Später ward er besonders von dem Geheimnis der Vereinigung mit Christus überzeugt, darum erklärte er seinen Zuhörern auch diesen Teil der evangelischen Wahrheit.

Sein Ruf als Prediger erscholl bald in die umliegenden Ortschaften, so daß von allen Seiten Hunderte herbeiströmten, um ihn zu hören. Nebenbei setzte er sein Handwerk als Kesselflicker mit großem Fleiß fort und war zu diesem Zweck nicht selten auf der Wanderschaft begriffen. Dabei predigte er, wo ihm Gelegenheit geboten wurde: in Wäldern, Scheunen oder auf Rasenplätzen, zuweilen auch in einer Kirche. Was für eine Macht von seiner Predigt ausging, zeigt uns folgendes Beispiel: Eines Tages sollte er in einer Dorfkirche bei Cambridge predigen. Unter Cromwells Protektorat durften auch die Baptisten die öffentlichen Kirchen benützen. Eine große Schar Zuhörer hatte sich schon auf dem Kirchhof versammelt. Da ritt eben ein Student vorüber. Er sieht die Menschenmenge und fragt, was es da gebe. Man teilt ihm mit, die Leute wollten einen gewissen Bunyan, einen Kesselflicker, predigen hören. Das ist dem Studenten interessant. Er steigt vom Pferd, gibt einem Knaben sechs Kreuzer, daß er ihm das Pferd halte, und sagt, er müsse des Kesselflickers Gewäsche auch hören, das gebe ja einen köstlichen Spaß. Er geht in die[S. 13] Kirche. Aber das Wort Gottes aus dem Munde des Kesselflickers ergriff den jungen Studenten so, daß er von da an jede Gelegenheit benützte, Bunyan zu hören, und später ein gesegneter Prediger des Evangeliums wurde.

Ernennung zum Prediger.

Fünf Jahre lang hatte Bunyan als Laienprediger gewirkt. Unter der Herrschaft Oliver Cromwells und seines Sohnes Richard hatte es für ihn als Baptist keine Gefahr, zu predigen, wenn er auch die Feindschaft mancher Geistlichen reichlich zu fühlen bekam, die mit bitterm Neid verächtlich auf den neuen eifrigen Prediger[S. 14] herabsahen und es ihrerseits an Verleumdungen der schwärzesten Art nicht fehlen ließen.

In diese Zeit fällt auch der Anfang seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Durch sein erstes Büchlein, das er schrieb: „Beleuchtung einiger evangelischen Wahrheiten“ geriet er jedoch in lange Streitigkeiten mit den Quäkern, die sich auch in Bedford angesiedelt hatten.

Am 29. Mai 1660 zog Karl II., der sich nach der Enthauptung seines Vaters, des unglücklichen Karl I., nach Frankreich geflüchtet hatte, wieder als König in London ein. Noch während seiner Verbannung zu Breda in Holland hatte er eine Proklamation an das englische Volk erlassen, worin er versprach, daß „die schwachen und zarten Gewissen volle Freiheit in der Religionsübung haben sollten und daß man niemand beunruhigen oder zur Rede stellen werde wegen seiner von der Staatskirche abweichenden Religionsmeinungen, sofern dieselben nicht den Reichsfrieden stören“. Aber die Hoffnungen von religiöser Freiheit, welche manche auf die Wiederherstellung der Monarchie gesetzt haben mochten, gingen nicht in Erfüllung. Die alten Strafgesetze gegen alle, die sich nicht zur bischöflichen Kirche hielten, traten wieder in Kraft, ja, sie wurden sogar noch verschärft und durch neue vermehrt. So konnten die Versammlungen der Baptisten nur noch im geheimen stattfinden, und zwar oft in den Stunden der Nacht und an abgelegenen Orten. Auch Johann Bunyan setzte mit großer Treue seine gesegnete Tätigkeit fort. Einmal soll er, um nicht entdeckt zu werden, als Fuhrmann verkleidet in weißem Kittel mit der Peitsche in der Hand nach einem Dorf gefahren sein, um in einer abgelegenen Scheune das Evangelium zu verkündigen. Eine Zeitlang entgingen Bunyan und seine Freunde dem wachsamen Auge der Polizei.

Gefängnis zu Bedford.

Anfang Oktober 1660 erließ die in Bedford versammelte Behörde den Befehl, daß beim öffentlichen Gottesdienst die Liturgie der Kirche Englands gelesen werden müsse. Bunyan, als ihr nicht angehörig, dachte nicht daran, daß dieser Erlaß auch ihn angehe; es lag ihm fern, demselben Folge zu leisten. Da fand sich ein Verräter, der ihn bei der Regierung anzeigte. Es war am 12. November, da war er ersucht worden, in dem benachbarten Dorfe Samsell zu predigen, und er war im Begriff, über das Wort zu sprechen: Glaubst du an den Sohn Gottes? (Joh. 9, 35.) Ein benachbarter Friedensrichter hatte aber schon von der Versammlung gehört, welche da abgehalten werden sollte.[S. 15] Bunyans Freunde, welche es vernommen, rieten ihm, die Zeit zu benützen und zu entfliehen. Bunyan aber dachte: „Wenn ich fliehe, was werden meine glaubensschwachen Brüder sagen? Werden sie nicht gleicherweise die Flucht ergreifen? Werden sie nicht sagen, ich habe ihnen bloße Worte ohne Werke gepredigt?“ — So war er denn entschlossen zu bleiben und sein Amt auszurichten. Kaum aber hatte der Gottesdienst begonnen, so traten die Gerichtsdiener herein mit dem Haftbefehl. Auf seine Bitte durfte Bunyan noch einige Worte an die Gemeinde richten, und dann wurde er ins Gefängnis nach Bedford abgeführt. Im Januar 1661 fanden die vierteljährlichen Sitzungen des Gerichtshofes statt. Die Anklageakten, welche hierauf gegen Bunyan verfaßt und ihm vorgelesen wurden, lauteten also: „Daß Johann Bunyan aus Bedford, Landmann, seit einiger Zeit teuflischer- und verderblicherweise sich vom öffentlichen Gottesdienst ferngehalten und dagegen ein gesetzwidriger Versammlungshalter sei, zur großen Zertrennung und Zerstörung der guten Untertanen dieses Königreichs, entgegen dem Gesetz unsers souveränen Herrn und Königs“ usw. Das Verhör bewegte sich um die Verpflichtung zum Besuch des staatskirchlichen Gottesdienstes, um die englische Liturgie und um Bunyans Befugnis zum Predigen. Der Angeklagte gab zu, daß er Versammlungen gehalten habe, um zu beten und zu ermahnen, weigerte sich jedoch entschieden, das Versprechen abzulegen, daß[S. 16] er, wenn in Freiheit gesetzt, nicht mehr predigen wolle. Der Richter drang mit allerlei Vorstellungen in ihn, um ihn dazu zu bewegen, aber umsonst. „Nun denn,“ sagte der Richter, „so höre dein Urteil: Du mußt wieder zurück in dein Gefängnis und dort noch weitere drei Monate liegen; und dann, wenn du dich weigerst, in die Kirche (d i. die bischöfliche Staatskirche) zu gehen und dem Gottesdienst derselben beizuwohnen, wie auch dein Predigen zu lassen, so steht dir Landesverweisung in Aussicht; und solltest du dich dann ohne besondere Erlaubnis des Königs im Lande wieder sehen lassen, so geht’s dir an den Hals.“ Bunyan antwortete: „Ich habe nichts weiter zu sagen; wenn ich heute aus dem Gefängnis käme, so würde ich morgen wieder das Evangelium predigen mit Gottes Hilfe.“

Nach Ablauf der drei Monate war Bunyan nun sehr gespannt, zu erfahren, was aus ihm werden würde. Er hatte schon die Predigt vorbereitet, die er bei seiner Hinrichtung vor versammeltem Volk zu halten gedachte. Es kam jedoch nicht so weit. Ebensowenig wagte man es, ihn in die Verbannung zu schicken; aber zwölf Jahre hindurch wurde er gefangengehalten. Das Gefängnis stand auf der Brücke, welche über den Fluß bei Bedford führte. Es war eine unwirtliche Behausung, ein Ort, welchen Bunyan selbst zu Anfang seiner „Pilgerreise des Christen“ eine „Höhle“ nennt. Aber eben dieses Gefängnis ward durch Bunyan ein Haus der Ermahnung und des Trostes. Außer ihm waren noch viele andre um ihres Bekenntnisses willen hier eingekerkert, und er versäumte es nicht, sie zu unterweisen und mit ihnen zu beten. Außer den Mitgefangenen kamen noch viele aus der ganzen Umgegend herbei, um ihn zu besuchen und sich von ihm in ihren Zweifeln und mancherlei Gewissensfragen geistlichen Rat zu holen. — Mochte auch seine Haft keine strenge sein, so drückte ihn doch die Trennung von seiner zweiten Gattin und seinen vier Kindern besonders schwer. Seine erste Frau war nach schwerer Krankheit vor seiner Verhaftung gestorben. Nicht imstande, durch sein Handwerk etwas zu verdienen, lernte er Litzen häkeln, Schnüre und Schnürgeflechte verfertigen, die er an der Tür seines Gefängnisses verkaufen durfte, wobei oft seine geliebte blinde Tochter an seiner Seite stand.

Die Stille seiner Zelle benützte er auch, um sich vollends in Wort und Geist der Heiligen Schrift zu vertiefen; von hier aus sind seine wichtigsten Schriften hervorgegangen. Seine dichterischen Gefängnisbetrachtungen, seine unter dem Titel: „Überschwengliche[S. 17] Gnade“ verfaßte Lebensbeschreibung, sein Glaubensbekenntnis und insonderheit „Die Pilgerreise des Christen“ haben diesen Ursprung. Viele andre Bücher wurden von Bunyan während seiner Gefangenschaft geschrieben, und alle seine schriftstellerischen Werke zusammen umfassen nicht weniger als 60 größere und kleinere Bände. Auf diese Weise konnte er als Gefangener eine viel weitere Wirksamkeit gewinnen, als er vorher in seiner Freiheit durch sein Predigen hatte ausüben können.

Bunyan als Schriftsteller im Gefängnis zu Bedford.

Der Herr gab ihm auch solche Gunst in den Augen des Gefängniswärters,[S. 18] daß dieser ihm eine Zeitlang viel Freiheit ließ. Er durfte bei seiner Familie sein und zuweilen sogar in den umliegenden Dörfern und Wäldern predigen. Man sagt, daß viele der Baptistengemeinden in der Umgegend von Bedford ihre Entstehung seinen damaligen mitternächtlichen Predigten verdanken. Im Jahr 1666 kam er, da er für kurze Zeit in Freiheit gesetzt ward, bis nach London. Aber eines Tages wurde er, eben im Begriff, eine Versammlung zu halten, als ein Gegner der Staatskirche wiederum festgenommen und in strengere Haft zurückgeführt. Diese Strenge aber ließ allmählich wieder nach, so daß er Monate hindurch regelmäßig die Versammlungen seiner Brüder in Bedford besuchen konnte, ja er wurde sogar im Oktober 1671, da er noch im Gefängnis war, zum Prediger der Baptistenkirche in Bedford gewählt. Seine öftere Abwesenheit kam indes zu den Ohren der ihn verfolgenden Geistlichen. Von London wurde ein Beamter nach Bedford entsandt, der sich von der Wahrheit jener Gerüchte überzeugen sollte. Mitten in der Nacht meldete sich dieser beim Gefängniswärter, um seine Untersuchung vorzunehmen. In derselben Nacht befand sich Bunyan bei seiner Familie, war aber so unruhig, daß er nicht schlafen konnte, und sagte deshalb zu seiner Frau, er müsse sogleich zurückkehren. Er tat es auch, und der Kerkermeister war sehr unzufrieden, daß er zu einer solch ungelegenen Zeit zurückkam. Kurz darauf erschien der Beamte und fragte: „Sind alle Gefangenen gut verwahrt?“ „Ja.“ „Ist Johann Bunyan in seiner Zelle?“ „Ja.“ „Ich wünsche ihn zu sehen.“ Er wurde gerufen, erschien, und alles war recht. Nachdem der Beamte das Gefängnis verlassen hatte, sagte der Wärter zu Bunyan: „Ihr möget ausgehen, wann es Euch beliebt, denn Ihr wißt besser, wann Ihr zurückkommen müßt, als ich es Euch sagen kann.“

Endlich erließ Karl II. im Jahr 1672 die sogenannte Indulgenzakte, welche den Dissenters Befreiung aus dem Gefängnis und für ihre Privatversammlungen Duldung gewährte. Die nähern Umstände, denen Bunyan seine Freiheit verdankte, sind erst in neuerer Zeit bekannt geworden. In der Schlacht bei Worcester, in welcher das schottische Heer durch Cromwell beinahe aufgerieben worden und Karl II., damals noch Kronprätendent, in persönliche Lebensgefahr geraten war, hatte derselbe nach vierzigtägiger Flucht endlich einen Mann gefunden, der ihn auf den Schultern in ein Boot rettete; dies war ein Quäker. Zwanzig Jahre später erschien dieser Quäker vor dem König, der ihn sogleich[S. 19] wieder erkannte und ihm seine Verwunderung bezeugte, daß er niemals bei ihm um eine Belohnung eingekommen sei. Der Quäker gedachte der Tausende seiner Glaubensgenossen, die in den Gefängnissen schmachteten, und bat für sie; doch nicht für sie allein, sondern auch für die andern, die um ihres Gewissens willen verfolgt waren. Der Name Bunyan wurde mit genannt. Karl II., welcher bei all seinen Fehlern doch ein dankbares Herz hatte, ließ eine Verordnung ausgehen, durch welche die gefangenen Dissenters, welche sich keiner politischen Vergehen schuldig gemacht hatten, in Freiheit gesetzt wurden. Diese Verordnung trug das Datum vom 15. März 1672.

Als Bunyan das Gefängnis von Bedford verließ, war er 44 Jahre alt. Zum ersten, was er nach seiner Befreiung tat, gehörte ein Gesuch an die Behörde um ungehinderte Predigt und freie Versammlungsstätten in der Grafschaft Bedford und den benachbarten Grafschaften. Seinen Bemühungen verdankten 25 Prediger ihre Anstellung, 31 Versammlungsstätten ihre ungestörte Benützung. Als Seelsorger ging er unermüdlich den einzelnen nach und hielt hin und her Erbauungsstunden. Auch seine Feder war bald wieder in voller Tätigkeit, und er schrieb Werke, durch die sein Gedächtnis im Segen bleibt. Überhaupt suchte er das Reich Christi zu fördern, soviel er nur vermochte, und von den Baptistengemeinden seiner Gegend, deren Leiter er nun eigentlich war, erhielt er den Ehrennamen „Bischof Bunyan“. Dieser Bischof hielt es nicht unter seiner Würde, sein früheres Handwerk bis an sein Lebensende fortzuführen. Er blieb auch in seiner bescheidenen Wohnung. Sein Studierzimmer war kaum größer als seine Gefängniszelle. Ein Schuppen hinter dem Haus diente ihm als Werkstatt.

Bunyans Ruf nahm immer zu. Auf seinen Wanderpredigten kam er auch jährlich einmal nach London. Dort wurden seine Predigten so hoch geschätzt, daß zu einer Morgenandacht um 7 Uhr sich einmal an einem Werktag mitten im Winter mehr als 1200 Zuhörer einstellten. Ein andermal, an einem Sonntag, hatten sich mehr als 3000 Personen eingefunden; viele mußten wegen Platzmangel wieder umkehren. Unter denen, die zu seinen Predigten herbeiströmten, fand man Hohe und Niedrige, Gelehrte und Ungelehrte. Der berühmte Theologe Dr. Johann Owen, der schon unter Cromwell in hohem Ansehen gestanden hatte, setzte sich, sooft er Gelegenheit hatte, gern zu den Füßen des ungelehrten, aber beredten Kesselflickers, um seinen glühenden, herzergreifenden[S. 20] Ansprachen zu lauschen. Als König Karl II. dies hörte, fragte er den gelehrten Doktor, wie doch ein Mann von seiner hohen Bildung und großen Gelehrsamkeit sich herablassen könne, einen Kesselflicker predigen zu hören. Darauf erwiderte Owen: „Königliche Majestät, wenn ich des Kesselflickers Predigtgabe bekommen könnte, wollte ich gern all meine Gelehrsamkeit dagegen eintauschen.“

Mehr als einmal wurde Bunyan gebeten, sich in der Weltstadt dauernd niederzulassen. Doch weder die Aussicht auf ein größeres Arbeitsfeld noch viel weniger auf ein höheres Einkommen konnten ihn bestimmen, seine Bedforder Gemeinde zu verlassen.

Nach Jahr und Tag regten sich auch die alten Feinde wieder. Ja, sie brachten es dahin, daß Bunyan noch einmal ins Gefängnis mußte; diesmal jedoch nur auf sechs Monate. Durch Vermittlung angesehener Männer, des Dr. Owen, des berühmten Kaplans Cromwell und des Bischofs von Lincoln, wurde er befreit. Ob Bunyan den 1. Teil seiner „Pilgerreise“ während dieser oder der 12jährigen Gefangenschaft geschrieben hat, ist ungewiß; in Druck kam er erst im Jahr 1678, während der 2. Teil sieben Jahre später, zu Anfang des Jahres 1685, erschien.

Im Jahr 1682 hatte Bunyans Gemeinde zu Bedford wiederum viel Verfolgung zu leiden. Eine Zeitlang wurde sie aus ihrem Versammlungshaus vertrieben und mußte unter freiem Himmel zusammenkommen. In demselben Jahr war es, daß er sein treffliches Büchlein: „Der heilige Krieg“ herausgab, worin er den Kampf des Christen gegen Sünde, Welt und Teufel sinnbildlich darzustellen versucht. Als nach Karls II. Tod (3. Februar 1685) König Jakob II., welcher die protestantische Kirche Englands mit Gewalt wieder katholisch machen wollte, den Thron bestieg, wurden die Verfolgungen wieder besonders heftig. Bunyan entkam oft nur mit knapper Not der äußersten Lebensgefahr. Er wurde von seinen Feinden überall scharf bewacht; doch rettete ihn der Herr diesmal aus aller Gefahr, nur daß ihm hie und da wilde Rotten ins Haus brachen und ihn seiner sauer erworbenen Habe teilweise beraubten.

Bunyans Grabmal in London.

Zu Anfang des Jahres 1688 wurde Bunyan von einer heftigen Krankheit ergriffen, erholte sich aber wieder so weit, daß er noch ein besonderes Liebeswerk auszurichten imstande war, das freilich sein letztes auf Erden sein sollte. Einer seiner Freunde nämlich, der in der Stadt Reading wohnte, hatte gedroht, seinen eigenen Sohn zu enterben, und schon nahte sein Ende, ohne daß[S. 21] eine Versöhnung zwischen Vater und Sohn zustande gekommen war. Der Sohn war darüber sehr bekümmert und bat Bunyan, sich für ihn bei seinem Vater zu verwenden und eine Versöhnung zu bewirken. Da unternahm der treue Knecht Gottes bereitwillig die weite Reise nach Reading zu Pferd, und es gelang ihm, die Liebe zwischen Vater und Sohn wieder herzustellen. Darauf ritt er nach London zurück. Allein unterwegs wurde er von heftigem Regen befallen und völlig durchnäßt. Ganz durchfroren und erstarrt von Nässe kam er in dem Hause eines Freundes in London an. Hier predigte er zwar noch am Sonntag, dem 19. August, aber schon am Dienstag wurde er von heftigem Fieber ergriffen. Zehn Tage später, am 31. August 1688, durfte dieser treue Zeuge seines Herrn nach einem vielbewegten Leben eingehen in die Ruhe des Volkes Gottes. Seine letzten Worte waren: „Weinet nicht über mich, sondern über euch selbst. Ich gehe zu dem Vater unsers Herrn Jesus Christus, der mich, ob ich gleich ein großer Sünder bin, durch die Mittlerschaft Seines geliebten Sohnes aufnehmen wird; dort werden wir, hoffe ich, bald wieder zusammenkommen,[S. 22] um das neue Lied zu singen und in alle Ewigkeit selig zu sein.“ Er stand im 60. Jahr seines Lebens. Auch von ihm kann mit Recht gesagt werden: „Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben; sie ruhen von ihrer Arbeit, und ihre Werke folgen ihnen nach“ (Offenb. 14, 13).

Seine sterbliche Hülle wurde auf dem Friedhof in Finsbury (dem Bunhillkirchhof) beigesetzt, wo auch Watt, Owen und Wesley ruhen. Ein würdiges Denkmal mit seinem Bildnis bezeichnet heute noch seine Grabstätte, und durch die vor uns liegende „Pilgerreise“ redet er noch zu uns, wiewohl er gestorben ist.

Schlussvignette, Einleitung

Pilgerreise
zur seligen Ewigkeit.

Verzierung 1, S. 23

Erster Teil:
Der Pilger.

Verzierung 2, S. 23

[S. 25]

Kopfstück, Kapitel I, 1

Erstes Kapitel.
Der Weg zur engen Pforte.

A

Als ich durch die Wüste dieser Welt wanderte, kam ich an einen Ort, wo eine Höhle war[1]; ich legte mich daselbst zum Schlafen nieder und hatte nun, als ich schlief, einen Traum. Siehe, ich sah an einem Ort einen Mann stehen in einem unflätigen und zerrissenen Kleid[2], sein Antlitz von seinem Hause abgewandt[3], mit einem Buch in der Hand und einer großen Last auf seinem Rücken[4]. Ich sah zu und ward gewahr, daß er das Buch öffnete und darin las, und während er las, weinte und zitterte er, und da er sich nicht länger halten konnte, brach er in den Angstschrei aus: „Was soll ich tun?“ (Apostelg. 2, 37; 9, 6.)

In diesem Zustand ging er nach Hause und suchte die Angst seines Herzens solange als möglich vor seiner Familie zu verbergen. Aber er konnte nicht lange schweigen, denn seine Unruhe zwang ihn, vor Frau und Kindern sein Herz auszuschütten, indem er sagte: „Ach meine liebe Frau und ihr, meine teuren Kinder, ich bin verloren, denn eine schwere Bürde lastet auf mir! Überdies wurde mir auch für gewiß berichtet, daß Feuer vom Himmel diese unsre Stadt[5] verzehren wird (2. Petr. 3, 7). Dabei werden wir alle, ich, du, meine teure Frau, und ihr, meine süßen Kindlein, elendiglich umkommen, wenn wir nicht beizeiten einen Weg zu unsrer Rettung finden.“

Durch diese Rede wurden die Seinen sehr bestürzt, nicht weil sie glaubten, daß das wahr sei, was er sagte, sondern[S. 26] weil sie dachten, es seien ihm verrückte Gedanken in den Kopf gestiegen. Da gerade die Nacht hereinbrach und sie hofften, der Schlaf werde ihn wieder zu sich selber bringen, drängten sie ihn, sich zur Ruhe zu begeben. Allein die Nacht war so unruhig für ihn wie der Tag; statt zu schlafen, brachte er sie mit Seufzen und Weinen zu. Als ihn nun die Seinen am Morgen fragten, wie es ihm gehe, antwortete er: „Ach, es wird nur ärger, immer ärger!“ und fing aufs neue an, zu ihnen zu reden wie tags zuvor; aber er fand kein Gehör. In der Meinung, seine Seelenangst durch barsches und mürrisches Wesen vertreiben zu können, spotteten sie sein und schalten ihn einen Toren; dann wieder bekümmerten sie sich gar nicht um ihn. Er zog sich daher in sein Kämmerlein zurück, um für sie inbrünstig zu beten und sein eigenes Elend zu beklagen. Er ging auch bisweilen hinaus in die Felder und las oder betete dabei und verbrachte auf diese Weise einige Tage. So sah ich ihn eines Tages im Feld umhergehen, seiner Gewohnheit nach in seinem Buche lesend, während er in tiefer Bekümmernis wie zuvor ausrief: „Was soll ich tun, daß ich selig werde?“ (Apostelg. 16, 30.)

Ich sah auch, daß er bald hierhin, bald dorthin blickte, als wollte er davonlaufen; er blieb jedoch stehen, ungewiß, wie mir schien, welchen Weg er einschlagen solle. Ich sah dann, daß ein Mann namens Evangelist sich ihm näherte und ihn fragte, warum er denn so schreie. „Ach Herr,“ antwortete er, „ich ersehe aus dem Buch in meiner Hand, daß ich verurteilt bin zu sterben und danach vor Gericht zu erscheinen (Hebr. 9, 27), und finde nun, daß ich weder zu dem ersten willig, noch zu dem andern geschickt bin[6].“

Hierauf sprach der Evangelist: „Warum bist du denn nicht willig zu sterben, da doch dieses Leben von so vielen Übeln und Plagen begleitet ist?“ — „Weil ich fürchte,“ antwortete der Mann, „die auf meinem Rücken liegende Last werde mich noch tiefer hinabdrücken als in das Grab, ja mich in die Hölle hinunterstoßen, und, Herr, wenn ich nicht einmal geschickt bin, ins Gefängnis zu gehen, so werde ich noch viel weniger geschickt sein, vor dem Richter zu erscheinen und die Vollziehung der Strafe zu ertragen. Daran dachte ich und mußte deshalb so sehr weinen und rufen.“

[S. 27]

„Wenn es so mit dir steht,“ sagte der Evangelist, „warum bleibst du denn hier stehen?“ — „Ach,“ erwiderte er, „ich weiß ja nicht, wohin ich mich wenden soll!“ Der Evangelist gab ihm hierauf ein Blatt Papier, auf welchem geschrieben stand: „Entfliehe dem zukünftigen Zorn!“ (Matth. 3, 7) Der Mann las diese Worte, und den Evangelisten ängstlich anblickend, fragte er: „Wohin soll ich denn fliehen?“ Der Evangelist wies mit dem Finger über ein sehr weites Feld hin und sprach: „Siehst du dort jene kleine enge Pforte[7]?“ — „Nein,“ antwortete der Mann. „Siehst du auch nicht jenes scheinende Licht[8]?“ fragte der andre. Er sagte: „Ich meine, ich sehe es.“ — „Gut,“ fuhr der Evangelist fort, „behalte nun jenes Licht im Auge und gehe geradeswegs darauf zu, so wirst du bald die Pforte finden. Wenn du dort anklopfen wirst, wird man dir sagen, was du weiter zu tun hast.“

Ich sah nun, daß der Mann zu laufen anfing. Als er aber nahe an seinem Hause vorbeikam und seine Frau und Kinder ihn sahen, riefen sie ihm nach, er solle wieder umkehren; allein er hielt sich die Ohren zu und lief weiter[9], indem er ausrief: „Leben, Leben, ewiges Leben!“ Er sah auch nicht einmal hinter sich[10], sondern eilte geradezu durch die Ebene hin.

Nun kamen auch die Nachbarn herbei, und als diese ihn so laufen sahen, ließen die einen ihren Spott über ihn aus, andre drohten ihm, und etliche schrien ihm nach, er solle wieder zurückkehren. Unter diesen Leuten waren ihrer zwei, die entschlossen sich, ihm nachzulaufen und ihn mit Gewalt zurückzuholen, der eine hieß Störrig, der andre Willig. Der Mann war ihnen zwar schon eine gute Strecke voraus, allein da sie sich einmal vorgenommen hatten, ihm nachzusetzen, führten sie ihren Vorsatz auch aus und hatten ihn in kurzer Zeit eingeholt. Da sprach der Mann: „Liebe Nachbarn, warum kommt ihr mir nach?“ Sie erwiderten: „Dich zu bewegen, mit uns wieder umzukehren.“ Er aber antwortete: „Das kann auf keinen Fall geschehen. Ihr wohnt[S. 28] in der Stadt Verderben, die ja auch mein Geburtsort ist; ich weiß aber gewiß, wenn ihr dort sterbet, es sei früher oder später, so werdet ihr tiefer hinabsinken als in das Grab, in einen Ort, der mit Feuer und Schwefel brennt. Darum besinnt euch nicht lang, liebe Nachbarn, und geht mit mir!“

Störrig. Was sagst du? Wir sollten mit dir gehen und allen unsern Freunden und Vergnügungen den Rücken kehren?

„Ja,“ erwiderte Christ — denn so hieß er — „deshalb, weil alles, was ihr verlassen werdet, nicht wert ist, mit dem Geringsten verglichen zu werden, was mir in Aussicht steht[11]. Wollt ihr nun mit mir gehen, werdet ihr alles dessen gleicherweise auch teilhaftig werden; denn wo ich hingehe, da ist kein Mangel, sondern volle Genüge[12]. Kommt, und ihr werdet finden, daß ich wahr geredet habe.“

Störrig. Was für Güter sind es denn eigentlich, die du suchst und um derentwillen du die ganze Welt verlässest, sie zu erlangen?

Christ. Ich suche ein unvergängliches und unbeflecktes und unverwelkliches Erbe, das behalten wird im Himmel (1. Petr. 1, 4), welches denen ganz gewiß zufallen wird, die ernstlich danach trachten[13]. Hier ist ein Buch; überzeugt euch selbst, wenn ihr wollt!

Störrig. Ach, geh weg mit deinem Buch! Willst du mit uns zurück oder nicht?

Christ. Daran ist nicht zu denken, da ich nun einmal meine Hand an den Pflug gelegt habe[14].

Störrig. So komm denn, Nachbar Willig, und laß uns ohne ihn wieder nach Hause gehen; es gibt eben eine Art verschrobener Köpfe, die, wenn sie einmal einen tollen Gedanken gefaßt haben, sich damit weiser dünken denn sieben, die da Sitten lehren (Spr. 26, 16).

Willig. Behandle diese Sache nur nicht so geringschätzig, mein Freund! Wenn dem so ist, wie der gute Christ da sagt, so sind die Güter, wonach er trachtet, besser als die, die wir besitzen. Ich bin daher willens, mit meinem Nachbar zu ziehen.

„Siehst du dort jene kleine enge Pforte?“ (S. 27.)

[S. 30]

Störrig. Was sagst du? Noch ein Narr mehr? Ich rate dir, wieder mit mir umzukehren. Wer weiß, wohin dich dieser hirnkranke Mensch noch führen wird! Kehr um, kehr um und sei gescheit!

Christ. Nein, geselle dich nur zu mir, Nachbar Willig! All das Gute, von dem ich euch sagte, werden wir dort antreffen und noch viel Herrlicheres dazu. Glaubst du mir nicht, so lies doch selbst einmal in diesem Buch, und siehe, die Wahrheit alles darin Gesagten[15] ist mit dem Blute dessen bekräftigt, der es gemacht hat (Hebr. 9, 17-22).

Willig. Wohlan, Nachbar Störrig, mein Entschluß steht also fest; ich will mit diesem guten Mann gehen, und sein Los soll das meine sein. Aber, mein lieber Freund Christ, weißt du auch sicher den Weg zu dem Ort, auf dem wir hinzukommen trachten?

Christ. Durch einen Mann, namens Evangelist, bin ich belehrt worden, daß ich nach einer kleinen Pforte, die vor uns liegt, hineilen soll. Dort werden wir weitere Anweisung über den Weg bekommen.

Willig. Komm denn, mein lieber Nachbar, wir wollen gehen! — So gingen die beiden miteinander.

Störrig. Und ich will wieder nach Hause gehen, denn mit solchen verrückten Schwärmern will ich mich nicht aufhalten.

Ich sah dann in meinem Traum, nachdem Störrig weggegangen war, daß Christ und Willig über die Ebene hingingen. Dabei entspann sich folgendes Gespräch unter ihnen:

Christ. Nun, lieber Nachbar, wie steht’s mit dir? Ich bin froh, daß du dich hast bewegen lassen, mit mir zu gehen. Hätte Störrig die Macht und den Schrecken der Dinge, die noch unsichtbar sind, auch so gefühlt wie ich, er würde uns nicht so leichthin den Rücken gekehrt haben.

Willig. Hör, Nachbar Christ, da wir nun beide hier ganz allein sind, so erzähle mir doch weiter, was für Güter es eigentlich sind, die wir suchen, und wie wir derselben teilhaftig werden können.

Christ. Es sind himmlische Güter, die kann man besser[S. 31] im Herzen begreifen, als mit der Zunge davon reden; doch weil du ein so großes Verlangen danach hast, sie kennenzulernen, so will ich dir davon aus meinem Buch vorlesen.

Willig. Glaubst du denn, daß die Worte, die in deinem Buch stehen, auch gewißlich wahr sind?

Christ. Ja gewiß, denn es kommt von dem, der nicht lügen kann[16].

Willig. Nun, das ist gut. Was sind’s aber für Güter?

Christ. Es ist ein ewigwährendes Königreich, in dem wir immerdar wohnen sollen[17], und ein ewiges Leben, das wir ererben können[18].

Willig. Das ist köstlich; und was noch mehr?

Christ. Dort empfangen wir Kronen der Ehren[19] und Kleider[20], darin wir leuchten wie die Sonne des Himmels[21].

Willig. O wie herrlich! Und was noch mehr?

Christ. Da wird kein Leid noch Geschrei noch Schmerz mehr sein, denn der König dieses Ortes wird abwischen alle Tränen von unsern Augen (Offenb. 21, 4).

Willig. Und was werden wir allda für Gesellschaft finden?

Christ. Wir werden dort umgeben sein von den Seraphim und Cherubim, so herrlichen Geschöpfen, bei deren Anblick unsre Augen wie geblendet sein werden. Auch werden wir dort zusammenkommen mit Tausenden und aber Tausenden, die alle vor uns zu diesem Ort eingegangen sind. Da ist keiner unter ihnen, der noch Übels tut, sondern alle gehen einher in Liebe und Heiligkeit; sie wandeln im Lichte des Angesichtes Gottes und stehen in Seiner Gegenwart, Seines ewigen Wohlgefallens sich erfreuend. Mit einem Wort: Dort werden wir schauen die Ältesten mit ihren goldenen Kronen (Offenb. 4, 4), die reinen Jungfrauen mit ihren goldenen Harfen (Offenb. 14, 1-5), all die Märtyrer, die aus Liebe zu dem Herrn jenes Ortes und um der Wahrheit[S. 32] willen sich von der Welt entzweisägen, auf dem Scheiterhaufen verbrennen, von wilden Tieren zerreißen und in die Tiefe des Meeres werfen ließen (Hebr. 11, 33-40) — nun sind sie alle glückselig und überkleidet mit Unsterblichkeit gleichwie mit einem Gewand (2. Kor. 5, 2-4).

Willig. Man wird schon entzückt, wenn man von diesen Dingen nur hört; allein, wenn man diese Herrlichkeiten wirklich erlangen kann, wie können wir ihrer teilhaftig werden?

Christ. Das hat der Herr, der Herrscher dieses Landes, in diesem Buch gesagt; und wenn wir wahrhaftig danach Verlangen tragen, so wird uns das alles aus Gnaden und umsonst zuteil werden[22].

Willig. Ich freue mich, mein lieber Reisegefährte, von alledem zu hören; komm, wir wollen unsre Schritte beschleunigen!

Christ. Ich kann nicht so rasch gehen, wie ich wohl möchte, denn die Last, die ich auf dem Rücken habe, hindert mich daran.

Hierauf sah ich in meinem Traum, daß, nachdem sie miteinander zu reden aufgehört, sie zu einem morastigen Sumpf kamen, der mitten in der Ebene war, und wie sie beide, da sie darauf nicht achthatten, plötzlich hineinfielen. Der Name des Sumpfes war Verzagtheit. Nachdem sie nun eine Weile darin umhergewatet und vom Schlamm schon über und über beschmutzt waren, fing Christ an, wegen seiner Last auf dem Rücken zu versinken.

„Ach, Nachbar Christ,“ rief Willig, „wo bist du denn nun?“

Christ erwiderte: „Wahrlich, ich weiß es nicht!“

Da wurde Willig sehr aufgebracht und sagte in ärgerlichem Ton zu seinem Gefährten: „Ist dies die Glückseligkeit, von der du mir so viel vorgeredet hast? Haben wir am Anfang unsrer Reise schon so viel Unglück, was haben wir noch ferner zu erwarten, bis wir am Ende unsres Weges sind? Komme ich hier noch mit dem Leben davon, so magst du meinetwegen jenes schöne Land allein in Besitz nehmen.“ Und hiermit setzte er ein- oder zweimal alle Kraft ein und[S. 33] arbeitete sich so mit großer Mühe aus dem Schlamm heraus, und zwar an der Seite des Sumpfes, die seinem Hause am nächsten lag, und machte sich eiligst davon. Christ sah ihn nie wieder.

So lag nun Christ allein im Sumpf der Verzagtheit und wälzte sich hin und her. Er arbeitete mit aller Macht, aus dem Morast herauszukriechen, und zwar nach der Seite zu, die seinem Hause abgekehrt und der engen Pforte zunächst lag. Wegen der schweren Last auf seinem Rücken gelang es ihm jedoch nicht ganz, festen Boden zu gewinnen. Doch ich sah in meinem Traum, wie ein Mann namens Beistand zu ihm kam und ihn fragte, was er denn da mache.

„Herr,“ sagte Christ, „ein Mann namens Evangelist hieß mich diesen Weg gehen und wies mich nach der engen Pforte dort, um dem zukünftigen Zorn zu entrinnen; nun bin ich auf dem Weg dahin hier hereingefallen.“

Beistand. „Warum gabst du nicht acht auf die Fußtapfen[23]?“

Christ antwortete: „Mich überkam solche Furcht, daß ich den nächsten Weg einschlug, und so geriet ich in den Sumpf.“

„Nun, so gib mir deine Hand!“ sagte Beistand. Christ tat es, und er zog ihn heraus; danach stellte er ihn auf einen festen Grund und hieß ihn seines Weges weitergehen[24].

Ich selbst trat nun zu dem, der ihn herausgezogen, und sprach zu ihm: „Herr, weshalb wird wohl dieser Sumpf, der auf dem Weg von der Stadt Verderben zu jener Pforte liegt, nicht wegsam gemacht, damit die armen Reisenden um so sicherer dahin gelangen könnten?“

Er antwortete: „Dieser sumpfige Pfuhl ist ein Ort, der nie ausgeräumt werden kann, denn er ist der Abflußort, in welchen der Abschaum und Unflat, der durch die Erkenntnis der Sünde entsteht, beständig abfließt; darum heißt er auch der Sumpf der Verzagtheit. Denn wenn dem Sünder über seinen verlorenen Zustand die Augen aufgehen, so steigen in seiner Seele viel Furcht und viele Zweifel und allerlei beängstigende Sorgen auf. Die fließen nun alle an dieser Stelle zusammen. Und das ist die Ursache, weshalb dieser Boden so schlecht ist.

[S. 34]

Es ist aber des Königs Wille nicht, daß dieser Ort so bleibe[25]. Seine Arbeiter sind auch unter Anleitung königlicher Feldmesser schon seit mehr als 1900 Jahren damit beschäftigt, um dies Stück Land wegsam zu machen. Ja, soviel ich weiß,“ sagte er, „sind hier wohl schon zum wenigsten 20000, ja Millionen Karren voll der besten Unterweisungen zu allen Zeiten und aus allen Orten des Königreiches herbeigeschafft und eingefüllt worden, um womöglich diese Stelle zu bessern. (Die Sachverständigen sagen nämlich, daß dies die besten Materialien seien, dem Ort einen guten Grund zu geben.) Allein er ist immer noch der Sumpf der Verzagtheit und wird es bleiben, wenn sie auch alles getan haben, was sie konnten.

Es sind zwar unter Anleitung des Gesetzgebers gute und sichere Fußtapfen sogar mitten durch den Pfuhl gelegt worden; aber um die Zeit, in der dieser Ort seinen Unflat und seine bösen Dünste am meisten aufsteigen läßt, was bei eintretendem Witterungswechsel zu geschehen pflegt, so sind diese Spuren kaum sichtbar. Und wenn sie auch wahrgenommen werden, so werden die Leute oft von Schwindel ergriffen und tun Fehltritte. Die Folge davon ist, daß sie sehr beschmutzt werden. Doch der Weg ist gut, wenn man einmal durch die enge Pforte eingegangen ist.“

Ich sah nun, daß Willig mittlerweile wieder zu Hause angelangt war und daß seine Nachbarn ihn bald besuchten. Einige nannten ihn einen verständigen Mann, weil er wieder umgekehrt sei; andre hießen ihn einen Toren, weil er sich mit Christ in Gefahr begeben habe; etliche aber spotteten seiner als über einen Feigling und sprachen: „Hätten wir wie du dieses Wagestück einmal unternommen, dann würden wir’s um einiger Schwierigkeiten willen wahrlich nicht so schnell aufgegeben haben.“ — So saß denn Willig ganz kleinlaut unter ihnen. Endlich aber faßte er sich doch wieder ein Herz, da ließen sie denn auch von ihm ab und fingen an, ihren Spott über den armen Christ loszulassen und sich hinter seinem Rücken über ihn lustig zu machen. Soviel, was Willig betrifft.

[S. 35]

Als Christ nun einsam weiterwanderte, ward er in der Ferne jemand gewahr, der quer über das Feld schreitend auf ihn zukam. Sie trafen gerade da zusammen, als jeder des andern Weg überschreiten wollte. Es war ein Herr mit Namen Weltklug aus der Stadt Fleischesklugheit, einer sehr großen Stadt, nahe bei dem Ort gelegen, da Christ herkam. Dieser Mann, mit dem Christ zusammentraf, hatte bereits von ihm gehört. Christs Abreise aus der Stadt Verderben hatte nämlich in der ganzen Gegend Aufsehen erregt und war nicht nur in der Stadt, da er gewohnt, sondern auch in andern Orten zum Stadtgespräch geworden. Da Herr Weltklug in diesem schwer beladenen, tiefgebeugten Wanderer Christ zu erkennen glaubte, redete er ihn also an:

„Ei, wohin, mein Freund, mit dieser schweren Last?“

Christ. Ja, schwer ist sie, so schwer, als nur jemals ein armes Geschöpf eine getragen hat. Und weil du mich fragst: Wohin? so will ich dir sagen, daß ich nach der engen Pforte dort wandere, denn dort soll mir, wie ich belehrt bin, ein Weg gezeigt werden, auf dem ich meine schwere Bürde loswerde.

Weltklug. Hast du nicht Frau und Kinder?

Christ. Ja, ich bin aber mit dieser Bürde so beladen, daß ich jetzt die Freude, die ich früher an ihnen hatte, nicht mehr haben kann. Ich habe wohl Frau und Kinder, doch ist es mir, als hätte ich keine (1. Kor. 7, 29).

Weltklug. Willst du mir folgen, wenn ich dir einen Rat gebe?

Christ. Sehr gerne, wenn er gut ist! Denn guter Rat ist’s gerade, was ich nötig habe.

Weltklug. So will ich dir denn raten, daß du dich selbst von deiner Bürde sogleich losmachst; denn eher hast du keine Ruhe im Herzen, keine Freude über die Güter, mit denen Gott dich gesegnet hat.

Christ. Das ist es eben, was ich suche. Ich möchte dieser Bürde los sein, aber ich selbst vermag das nicht, und in der ganzen Gegend kann mich niemand davon erlösen, darum habe ich auch den Weg nach der engen Pforte eingeschlagen.

Weltklug. Wer hat dir diesen Weg gewiesen?

Christ. Ein edler, würdiger Mann; sein Name ist, wie ich mich erinnere, Evangelist.

[S. 36]

Weltklug. Verwünsche ihn für seinen Rat! Gibt es doch in der ganzen, weiten Welt keinen beschwerlichern und gefährlichern Weg als diesen; das wirst du finden, wenn du seinem Rat weiter folgst. Du hast, wie ich merke, schon etwas davon erfahren; denn ich sehe die Spuren vom Sumpf der Verzagtheit noch an dir. Doch ist dies nur der Anfang von den Trübsalen dieses Weges, welche derer warten, die ihn gehen. Höre auf mich, ich bin älter als du. Auf diesem Weg, den du nun gehst, wirst du nichts als Beschwerden, Schmerzen, Hunger, Blöße, Schwert, Löwen, Drachen, Finsternis, kurz, den Tod selbst und wer weiß was noch alles antreffen. Daß es sich so verhält, das haben viele bezeugt. Da es dir noch an Erfahrung fehlt, solltest du auf den Rat älterer Männer hören und dich nicht durch einen Fremden verführen lassen.

Christ. Ach Herr, diese Bürde auf meinem Rücken ist für mich viel schrecklicher als alles, was du genannt hast. Wahrlich, was mir auch begegnen mag, es soll mich nicht kümmern, wenn ich nur dieser Bürde loswerde.

Weltklug. Wie kamst du denn zu dieser Last?

Christ. Durch das Lesen dieses Buches.

Weltklug. Hab’ mir’s doch gedacht! Es ist dir eben gegangen wie andern schwachen Menschen auch, die sich mit zu hohen Dingen abgeben und dann in solchen verzweifelten Zustand geraten. Die Verwirrung treibt diese Leute, wie auch dich, solche verzweifelte Abenteuer zu unternehmen, um — sie wissen selbst nicht was, zu erlangen.

Christ. Ich weiß wohl, was ich erlangen möchte: Erleichterung von meiner schweren Bürde.

Weltklug. Aber warum suchst du Erleichterung auf diesem Weg, der augenscheinlich mit so vielen Gefahren verbunden ist, besonders da ich dich (wenn du mich nur geduldig anhören wolltest) anweisen könnte, wie du das, wonach du verlangst, erreichen kannst, ohne dich den Gefahren auszusetzen, denen du auf diesem Wege selbst in die Arme läufst? Die Hilfe ist ganz nahe zu haben; und überdies will ich noch das hinzufügen, daß du anstatt Ungemach Ruhe und Frieden und viele Freunde finden wirst.

Christ. O entdecke mir bitte dieses Geheimnis!

Weltklug. Gewiß! Dort in jener Stadt — sie heißt Sittsamkeit — wohnt ein Herr namens Gesetzlich, ein sehr[S. 37] erfahrener und berühmter Mann, der die Kunst besitzt, die Leute von solchen Bürden wie die deine zu befreien. Ich kann dir versichern, daß er auf diese Weise schon viel Gutes gestiftet hat; ja überhaupt hat er die Geschicklichkeit, auch die zu heilen, die durch ihre Last schon ein wenig im Kopf gelitten haben. Geh zu ihm, er wird dir schnell helfen. Sein Haus ist kaum ein Büchsenschuß weit von hier. Solltest du ihn selbst aber nicht zu Hause antreffen, so ist doch sein Sohn Höflich da, ein zuvorkommender junger Mann, ebenso geschickt wie der alte Herr selbst. Dort, sage ich dir, kannst du von deiner Last befreit werden. Und solltest du dann nicht gern in deinen Geburtsort zurückkehren, wozu ich dir allerdings auch nicht raten würde, so magst du deine Familie in diese Stadt kommen lassen, wo du um einen mäßigen Preis eines der leerstehenden Häuser kaufen kannst. Auch die Lebensmittel sind dort gut und wohlfeil, und was deinen Aufenthalt noch angenehmer gestalten wird, ist, daß du bei ehrbaren Nachbarn in gutem Ruf und Ansehen stehen wirst.

Christ dachte ob dieser Rede eine Weile nach, kam aber bald zu dem Entschluß: Wenn das wahr ist, was dieser Herr sagt, so tue ich am besten daran, seinem Rat zu folgen; so fragte er: „Und welcher Weg führt mich zu dieses trefflichen Mannes Haus?“

Weltklug. Siehst du dort jenen Berg[26]?

Christ. Jawohl, ganz gut!

Weltklug. Dahin mußt du deinen Weg nehmen; das erste Haus, zu dem du gelangst, ist das seine.

Christ kehrte sich nun von seinem Weg ab und begab sich nach dem Hause des Herrn Gesetzlich, daß ihm allda geholfen werden möchte. Aber je näher er dem Berg kam, desto höher erschien er ihm, ja gewaltige Felsen hingen so drohend über den Weg her, daß Christ, ihren Einsturz befürchtend, nicht weiterzugehen wagte. Seine Bürde erschien ihm jetzt drückender, als da er noch auf seinem ersten Wege war. Dazu brachen Feuerflammen aus dem Berg hervor[27], daß Christ bange war, er möchte davon verzehrt werden. Er zagte und bebte vor Furcht, und Reue stieg in ihm auf, Herrn Weltklugs Rat befolgt zu haben.

Als er nun so dastand, sah er den Evangelisten ihm[S. 38] entgegenkommen; bei dessen Anblick wurde er schamrot. Der Evangelist kam immer näher, sah ihn mit zorniger und ernster Miene an und begann also mit ihm zu reden:

„Was tust du hier, Christ?“ Zitternd stand Christ vor ihm, ohne ein Wort zu erwidern.

„Bist du nicht der Mann,“ fuhr der Evangelist fort, „den ich vor der der Stadt Verderben in Jammer stehend fand?“

Christ. Ja, Herr, ich bin es.

Evangelist. Habe ich dir nicht den Weg zur engen Pforte gewiesen?

Christ. Jawohl, werter Herr.

Evangelist. Wie kommt es denn, daß du so bald abgewichen bist? Du bist ja nicht mehr auf diesem Weg.

Christ. Ich traf, sobald ich aus dem Sumpf der Verzagtheit gekommen war, mit einem Herrn zusammen, der mich bewog, nach der Stadt, die vor mir lag, abzubiegen. Er redete mir ein, ich würde daselbst einen Mann finden, der mich von meiner Bürde erlösen könnte.

Evangelist. Was war das für ein Mann?

Christ. Er schien ein vornehmer Herr zu sein und redete mir viel zu und brachte es am Ende so weit, daß ich seinem Rat folgte; so kam ich denn hierher. Da ich aber den Berg erblickte und ihn so über den Weg hangen sah, stand ich plötzlich still, damit er nicht etwa auf mein Haupt herabstürze.

Evangelist. Was sagte dieser Herr?

Christ. Er fragte mich, wohin ich ginge, und ich sagte es ihm.

Evangelist. Was fragte er noch weiter?

Christ. Er fragte, ob ich Familie hätte. Ich antwortete: „Ja, ich bin jetzt aber so mit meiner Bürde, die ich auf dem Rücken habe, beladen, daß ich an ihr nicht mehr wie vormals Freude haben kann.“

Evangelist. Und was sagte er darauf?

Christ. Er empfahl mir, in aller Eile mich meiner Bürde zu entledigen. Ich erwiderte, daß es eben das wäre, was ich suchte, und eben darum sei ich auf dem Weg nach jener Pforte, um dort weiter unterwiesen zu werden, wie ich zu dem Ort meiner Erlösung kommen könnte. Er sagte mir, daß er mir einen bessern Weg zeigen wolle, der auch kürzer[S. 39] sei und nicht mit so viel Mühsalen verbunden wie der, welchen du mir gewiesen. Der Weg würde mich zu dem Hause eines Herrn bringen, der es verstände, solche Lasten abzunehmen. Ich glaubte ihm und wandte mich von jenem Weg ab auf diesen, damit ich vielleicht desto eher von meiner Bürde könnte befreit werden. Als ich aber hierher kam und die Dinge sah, wie sie wirklich sind, stand ich bestürzt still vor der Gefahr, die mir drohte. Nun aber weiß ich nicht, was ich tun soll.

Da sprach der Evangelist: „Bleib einen Augenblick stehen, damit ich dir Gottes Wort kundtun kann.“ Zitternd blieb Christ stehen, und der Evangelist sagte: „Sehet zu, daß ihr den nicht abweiset, der da redet. Denn so jene nicht entflohen sind, die Ihn abwiesen, da Er auf Erden redete, viel weniger wir, so wir den abweisen, der vom Himmel redet“ (Hebr. 12, 25). Weiter sprach er: „Der Gerechte wird des Glaubens leben. Wer aber weichen wird, an dem wird Meine Seele kein Gefallen haben“ (Hebr. 10, 38). Er wendete dies auch sofort an und sagte: „Du bist der Mann, der in dies Elend hineinrennt; du hast angefangen, den Rat des Allerhöchsten zu verwerfen und deinen Fuß abzuwenden vom Pfad des Friedens und dies sogar auf die Gefahr hin, ewig zu verderben.“

„Weh mir!“ rief Christ, „ich bin verloren!“ und wie tot fiel er zu Boden. Aber der Evangelist, da er das sah, griff ihn bei seiner rechten Hand und sprach: „Alle Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben (Matth. 12, 31) und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“ (Joh. 20, 27). Diese Worte riefen Christ ins Leben zurück; zitternd richtete er sich auf, und der Evangelist fuhr fort:

Gib nun mit größerm Ernst acht auf das, was ich dir jetzt sage. Ich will dir auch sagen, wer der war, der dich verführte, und wer der ist, zu dem er dich sandte. Der Mann, der dir begegnete, heißt Weltklug und ist mit Recht also genannt, und zwar weil seine Lippen nur die Lehren dieser Welt verkündigen[28], wie er sich deshalb auch zu der Kirche der Stadt Sittsamkeit oder Moral hält; und ferner, weil er jene Lehren allen andern vorzieht, da sie ihm nicht[S. 40] das Kreuz auferlegen[29], und weil er fleischlich ist, sucht er meine Wege, obgleich sie recht sind, zu verkehren. — Was den Rat dieses Mannes betrifft, so sind darin drei Stücke, die du gänzlich verwerfen mußt:

Erstlich mußt du seinen Rat verwerfen, dadurch er dich von dem Weg abbrachte, auf den ich dich geführt hatte; auch deine eigene Einwilligung in diesen Rat mußt du verabscheuen, denn das heißt den Rat Gottes verwerfen, und das um eines Weltweisen willen. Der Herr spricht: „Ringet danach, daß ihr durch die enge Pforte eingehet!“ (Luk. 13, 24), die Pforte nämlich, dahin ich dich sende; „denn die Pforte ist eng, die zum Leben führt; und wenige sind ihrer, die sie finden“ (Matth. 7, 14). Von dieser engen Pforte und dem Weg, der dahin führt, hat dieser gottlose Mensch dich abwendig gemacht und dich beinahe ins Verderben gebracht; laß dir’s daher herzlich leid sein, daß du dich von ihm hast verleiten lassen, und verabscheue dich selbst, ihm Gehör gegeben zu haben.

Zum andern mußt du auch darum seinen Rat verwerfen, weil er bemüht war, dir das Kreuz verhaßt zu machen[30], das du doch höher zu achten hast als alle Schätze Ägyptens[31]; denn der König der Herrlichkeit spricht: „Wer sein Leben will behalten, der wird’s verlieren“ (Mark. 8, 34. 35) und: „So jemand zu Mir kommt und haßt nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigen Leben, der kann nicht Mein Jünger sein“ (Luk. 14, 26; vgl. Joh. 12, 25; Matth. 10, 37-39). Deshalb sage ich dir: Wenn dich jemand bereden will, daß das dein Tod sei, was, wie die Wahrheit selber spricht, dein ewiges Leben sein wird, so mußt du eine solche Lehre verwerfen.

Zum dritten mußt du es verabscheuen, daß er deinen Fuß auf einen Weg lenkte, der zur Knechtschaft des Todes führt, und mußt bedenken, zu wem er dich sandte, und wie unvermögend derselbe ist, dir deine Bürde abzunehmen.

Der Mann, zu dem er dich gesandt, Erleichterung zu[S. 41] erlangen, heißt Gesetzlich; er ist der Sohn der Sklavin oder Magd, die nun dienstbar ist mit ihren Kindern (lies Gal. 4, 21-27), und bedeutet auf eine geheimnisvolle Weise den Berg Sinai, von dem du gefürchtet hast, er werde dir aufs Haupt fallen. So sie nun mit ihren Kindern dienstbar ist, wie kannst du erwarten, durch sie frei zu werden? Dieser Gesetzlich ist nicht imstande, dich von deiner Last zu erlösen. Es ist noch niemals ein Mensch durch ihn von seiner Last befreit worden, und es wird auch nimmermehr geschehen; denn durch des Gesetzes Werk kann keiner seiner Last loswerden[32]. Darum ist Herr Weltklug der Wahrheit fern und Herr Gesetzlich ein Betrüger, und sein Sohn Höflich ist, so freundlich er sich auch gibt, ein Heuchler und kann dir nicht helfen. Glaube mir, hinter all der Prahlerei jener törichten Leute liegt nichts andres als die Absicht, dich um dein Heil zu bringen, indem sie dich von dem rechten Weg ableiten, auf welchen ich dich gebracht habe.

Nach diesen Worten erhob der Evangelist seine Stimme und rief den Himmel zur Bekräftigung und zum Zeugen dessen an, was er gesagt hatte, und alsbald kam eine Stimme und Feuer aus dem Berge, unter dem der arme Christ stand, heraus, daß ihm die Haare zu Berg standen. Die Stimme aber redete also: „Die mit des Gesetzes Werken umgehen, die sind unter dem Fluch. Denn es steht geschrieben: Verflucht sei jedermann, der nicht bleibt in alledem, das geschrieben steht in dem Buch des Gesetzes, daß er’s tue!“ (Gal. 3, 10.)

Christ erwartete nun nichts andres als den Tod und begann sehr kläglich zu jammern und verfluchte die Zeit, in der er sich mit Herrn Weltklug eingelassen hatte. Er nannte sich wohl tausendmal einen Narren, daß er auf seinen Rat achtgehabt. Er ward auch tief beschämt, wenn er bedachte, daß die Vorspiegelungen dieses Herrn Weltklug, eines ganz fleischlich gesinnten Menschen, eine solche Macht auf ihn ausüben konnten, ihn vom rechten Weg abzubringen. Lange wagte Christ nicht aufzublicken. Endlich fragte er:

„Herr, was meinst du, ist noch Hoffnung da für mich? Kann ich wohl wieder umkehren und auf die enge Pforte zugehen? Werde ich wohl um meines Fehltritts willen nun[S. 42] aufgegeben und dort mit Schanden abgewiesen werden? Ich bereue es tief, auf den Rat jenes Mannes gehört zu haben. Kann mir die Sünde noch vergeben werden?“

Der Evangelist antwortete: „Deine Missetat ist groß, denn du hast zwiefältig gesündigt: Du hast den guten Weg verlassen und den verbotenen betreten. Wohl wird dich der Mann an der engen Pforte aufnehmen, denn er ist den Menschen sehr geneigt. Hüte dich aber, weiche nicht wieder ab, damit du nicht umkommst auf dem Weg, denn Gottes Zorn wird bald entbrennen“ (Ps. 2, 12).

Der strenge Blick des Evangelisten hatte sich gemildert, und da Christ sich entschlossen zeigte, nach der engen Pforte zurückzuwandern, küßte er ihn und gab ihm seinen Segen.

Ohne Verweilen eilte Christ nun davon und redete mit niemand, der ihm begegnete, blieb auch nicht stehen, um jemand zu antworten. Er lief wie einer, der auf verbotenem Grund und Boden sich befindet, und fühlte sich solange unsicher, bis er wieder auf dem Weg war, den er auf Herrn Weltklugs Rat verlassen hatte.

Es gibt im Leben ein Herzeleid, das ist wie die weite Welt so weit,
Das ist wie Bergeslasten schwer, das ist so tief wie das tiefe Meer.
Das ist das tiefe Herzeleid, wenn um die Sünde die Seele schreit,
Wenn die Träne rinnt um der Sünde Last, wenn um die Sünde die Wang’
erblaßt.
Und dieses tiefe Herzeleid, das heilt kein Balsam dieser Zeit,
Das stillt kein Zauber von Lieb’ und Lust, das tötet kein Tod in der
Menschenbrust.
Und für das bittre Herzeleid hat unser Mittler Sein Herz geweiht:
Durch Christi Blut und Gerechtigkeit wird uns gestillt dies
Herzeleid.

Fußnoten:

[1] Das Gefängnis zu Bedford.

[2] Wir sind allesamt wie die Unreinen, und alle unsre Gerechtigkeit ist wie ein unflätig Kleid (Jes. 64, 5).

[3] Wer nicht absagt allem, was er hat, kann nicht Mein Jünger sein (Luk 14, 33).

[4] Meine Sünden gehen über mein Haupt; wie eine schwere Last sind sie mir zu schwer geworden (Ps. 38, 5).

[5] Die Welt.

[6] Wer wird aber den Tag Seiner Zukunft erleiden können, und wer wird bestehen, wenn er wird erscheinen? (Mal. 3, 2)

[7] Gehet ein durch die enge Pforte! Die Pforte ist eng, und der Weg ist schmal, der zum Leben führt; und wenige sind ihrer, die ihn finden (Matth. 7, 13. 14).

[8] Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege (Ps. 119, 105); siehe auch 2. Petr. 1, 19.

[9] So jemand zu Mir kommt und hasset nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigen Leben, der kann nicht Mein Jünger sein (Luk. 14, 26).

[10] Errette deine Seele und sieh nicht hinter dich; auch stehe nicht in dieser ganzen Gegend! (1. Mos. 19, 17.)

[11] Unsre Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen wichtige Herrlichkeit (2. Kor. 4, 17).

[12] Ich bin gekommen, daß sie das Leben und volle Genüge haben sollen (Joh. 10, 11).

[13] Nun aber begehren sie eines bessern, nämlich eines himmlischen. Darum schämt sich Gott ihrer nicht, zu heißen ihr Gott; denn Er hat ihnen eine Stadt zubereitet (Hebr. 11, 16).

[14] Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes (Luk. 9, 62).

[15] Jesus spricht: Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß Ich für die Wahrheit zeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der höret Meine Stimme (Joh. 18, 37).

[16] Gott ist nicht ein Mensch, daß Er lüge (4. Mos. 23, 19).

[17] Es kam einer in des Himmels Wolken wie eines Menschen Sohn ..., Seine Gewalt ist ewig, die nicht vergeht und Sein Königreich hat kein Ende (Dan. 7, 13. 14).

[18] Das ist die Verheißung, die Er uns verheißen hat: das ewige Leben (1. Joh 2, 25).

[19] Ihr werdet, wenn erscheinen wird der Erzhirte, die unverwelkliche Krone der Ehren empfangen (1. Petr. 5, 4).

[20] Wer überwindet, der soll mit weißen Kleidern angetan werden (Offenb. 3, 5).

[21] Die Gerechten werden leuchten wie die Sonne in ihres Vaters Reich (Matth. 13, 43).

[22] Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! und die ihr nicht Geld habt, kommet her, kaufet und esset! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst, beides Wein und Milch! (Jes. 55, 1.) Wer zu Mir kommt, den werde Ich nicht hinausstoßen (Joh. 6, 87). Wen dürstet, der komme, und wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst (Offenb. 22, 17).

[23] Dies sind die Verheißungen der Gnade, auf denen die Seele, auch bei der größten Betrübnis über sich selbst, fußen kann!

[24] Er zog mich aus der grausamen Grube und aus dem Schlamm und stellte meine Füße auf einen Fels, daß ich gewiß treten kann (Ps. 40, 3).

[25] Stärket die müden Hände und erquicket die strauchelnden Knie! Gott kommt und wird euch helfen. Es wird daselbst eine Bahn sein und ein Weg, welcher der heilige Weg heißen wird, daß kein Unreiner darauf gehen darf; und derselbe wird für sie sein, daß man darauf gehe, daß auch die Toren nicht irren mögen (Jes. 35, 3. 4. 8).

[26] Der Berg Sinai.

[27] Der ganze Berg Sinai (bei der Gesetzgebung) rauchte, darum daß der Herr herab auf den Berg fuhr mit Feuer (2. Mos. 19, 18).

[28] Sie sind von der Welt; darum reden sie von der Welt, und die Welt hört sie (1. Joh. 4, 5).

[29] Sie wollen sich angenehm machen nach dem Fleisch, nur damit sie nicht mit dem Kreuz Christi verfolgt werden (Gal. 6, 12).

[30] Viele wandeln, und sind die Feinde des Kreuzes Christi (Phil. 3, 18).

[31] Mose erwählte viel lieber, mit dem Volk Gottes Ungemach zu leiden, denn die zeitliche Ergötzung der Sünde zu haben, und achtete die Schmach Christi für größern Reichtum denn die Schätze Ägyptens; denn er sah an die Belohnung (Hebr. 11, 25. 26).

[32] Wir wissen, daß der Mensch durch des Gesetzes Werke nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus (Gal. 2, 16).

Schlussvignette, Kapitel I, 2

[S. 43]

Kopfstück, Kapitel I, 2

Zweites Kapitel.
Der Weg zum Frieden.

I

In kurzem hatte nun Christ die Pforte erreicht. Über ihr bemerkte er mit großer Freude die Inschrift: „Klopfet an, so wird euch aufgetan!“ (Matth. 7, 7) und indem er zu wiederholten Malen anklopfte, sprach er bei sich selbst:

Wird Er mir auftun Seine Gnadentür?
Wird Er den schnöden Knecht nicht von sich weisen?
Ach, dürft’ ich eingehn, wahrlich für und für
Wollt’ ich die Größe der Erbarmung preisen!

Endlich erschien ein ehrwürdiger Mann an der Pforte, namens Gutwillig, der fragte, wer da wäre, von wannen er käme und was er begehre.

Christ antwortete: „Hier ist ein armer, beladener Sünder. Ich komme aus der Stadt Verderben, reise aber nach dem Berg Zion, um dem zukünftigen Zorn zu entrinnen. Da der Weg, wie ich belehrt bin, durch diese Pforte geht, so bitte ich dich, lieber Herr, mir den Eingang zu gestatten.“

„Von Herzen gern,“ sagte Gutwillig, der Pförtner, und somit öffnete er ihm die Pforte. Als Christ nun eintreten wollte, zog ihn der andre beim Arm schnell herein.

„Was soll das bedeuten?“ fragte Christ. Jener antwortete: „Sieh dort in geringer Entfernung liegt ein festes Schloß, das von Beelzebub, der Teufel Obersten, befehligt wird; von dort aus schießt er und die, welche bei ihm sind, gerade dann seine feurigen Pfeile[33] nach den Pilgrimen ab,[S. 44] wenn sie im Begriff sind, zu der engen Pforte einzugehen, um sie womöglich noch vor ihrem Eintritt zu töten.“ Christ bemerkte diese Gefahr erst, als er sich schon gerettet sah, und sprach: „Ich freue mich mit Zittern.“

Als er nun eingetreten war, fragte Gutwillig: „Wer hat dich denn hierher gewiesen?“

Christ. Der Evangelist hieß mich hierhin gehen und anklopfen, wie ich denn nun auch getan. Er sagte, daß du, Herr, mir weisen werdest, was ich weiter tun müsse.

Gutwillig. Da ist eine offene Tür vor dir, und niemand kann sie zuschließen (Offenb. 3, 8).

Christ. Nun fange ich an, die Frucht meines gewagten Unternehmens zu ernten.

Gutwillig. Aber wie kommt’s, daß du allein bist?

Christ. Weil von meinen Nachbarn niemand wie ich die drohende Gefahr erkannte.

Gutwillig. Wußten einige um deine Herreise?

Christ. Ja, meine Frau und meine Kinder sahen es zuerst, daß ich wegzog, und riefen mir nach, ich sollte wieder umkehren; auch etliche meiner Nachbarn schrien mir nach; aber ich hielt mir die Ohren zu und setzte meinen Weg fort.

Gutwillig. Ist dir niemand von ihnen nachgelaufen, dich zur Umkehr zu überreden?

Christ. Störrig und Willig holten mich allerdings ein; als sie aber sahen, daß sie nichts bei mir ausrichten konnten, kehrte Störrig spottend wieder um, während Willig noch eine kleine Strecke mit mir ging.

Gutwillig. Warum ist er den Weg nicht weiter mit dir gezogen?

Christ. Wir kamen miteinander bis an den Sumpf Verzagtheit, in den wir beide fielen; darüber verlor Nachbar Willig gänzlich den Mut, daß er es mit mir nicht weiter wagen wollte. Deshalb arbeitete er sich an der Seite, die nach seinem Hause zuging, heraus und sagte zu mir, ich möge seinetwegen das herrliche Land nur allein in Besitz nehmen; also ging er seines und ich ging meines Weges, er seinem Nachbar Störrig nach, ich zu dieser Pforte.

„Ach, der arme Mann!“ sprach Gutwillig, „achtete er die himmlische Herrlichkeit so gering, daß er, um sie zu erlangen, nicht wert hält, einige Beschwerden auf sich zu nehmen?“

Christ an der Pforte (S. 43.).

[S. 46]

„Wahrlich,“ sagte Christ, „ich habe, was Willig betrifft, die Wahrheit gesagt, und wenn ich von mir die Wahrheit reden soll, so steht’s mit mir auch nicht besser. Es ist wahr, er kehrte nach seinem Hause zurück, ich aber bin zur Seite abgewichen auf den Weg des Todes. Und dazu ließ ich mich durch die sinnlichen Vorstellungen eines Herrn Weltklug bewegen.“

Gutwillig. O mit dem bist du zusammengetroffen? Der wollte dich ohne Zweifel zu bereden suchen, dich bei Herrn Gesetzlich nach Erleichterung umzusehen. Sie sind beide rechte Betrüger. Aber folgtest du denn seinem Rat?

Christ. Ja, leider! Ich ging, um Herrn Gesetzlich aufzusuchen; als ich aber an den Berg kam, der bei seinem Hause liegt, glaubte ich, er würde auf mich herunterstürzen, und so war ich gezwungen, stillzustehen.

Gutwillig. Dieser Berg hat schon manchem den Tod gebracht und wird noch vielen den Tod bringen[34]. Wohl dir, daß du entronnen und nicht von ihm zerschmettert worden bist!

Christ. Ja, ich weiß in der Tat nicht, was dort aus mir geworden, wenn nicht gerade der Evangelist mir wieder begegnet wäre, als ich in meiner Verwirrung weder ein noch aus wußte. Aber Gottes Gnade war es, die ihn mir wieder zuführte; denn ohne die würde ich nimmermehr hierhergekommen sein. So bin ich denn nun hier, ich, der ich eher den Tod unter jenem Berg verdient hätte, als hier zu stehen und mit meinem Herrn zu reden. Doch, o welch eine Gnade für mich, daß ich dennoch hier eingelassen worden bin!

Gutwillig. Wir weisen niemand zurück, der hierher kommt, was er auch früher Böses getan haben mag; es wird keiner hinausgestoßen[35]. — Komm darum eine kleine Strecke mit mir, lieber Christ, ich will dir den Weg zeigen, den du zu gehen hast. Siehst du wohl da gleich vor dir jenen schmalen Weg? Das ist der Weg, den du gehen mußt. Er ist gebahnt von den Patriarchen und Propheten, von Christus und Seinen Aposteln, und er ist so gerade, wie ihn nur eine Richtschnur machen kann. Das ist der Weg, den wandle!

„Gibt es aber keine Abwege und Krümmungen,“ fragte Christ, „die den Wanderer irremachen können?“

[S. 47]

„Es stoßen viele Wege daran,“ sagte Gutwillig, „aber sie sind krumm und breit[36], während der rechte Weg gerade und schmal ist, und daran kannst du den rechten Weg vom verkehrten wohl unterscheiden.“ —

Ich sah nun in meinem Traum, daß Christ ihn noch weiter fragte, ob er ihn nicht von der Last auf seinem Rücken befreien könne; denn bis dahin hätte er durch kein Mittel sich ihrer entledigen können.

„Habe nur noch ein wenig Geduld,“ sagte der Pförtner, „bald wirst du an eine Stelle kommen, wo die Last ohne dein Zutun von deinem Rücken fallen wird.“

Hierauf gürtete Christ seine Lenden und machte sich reisefertig. Gutwillig sprach noch zu ihm, wenn er jetzt von der Pforte aus eine kleine Strecke zurückgelegt haben werde, finde er das Haus des Auslegers; an dessen Tür solle er anklopfen, und der werde ihn herrliche Dinge sehen lassen. Darauf nahm Christ Abschied von dem freundlichen Pförtner, und dieser wünschte ihm eine glückliche Reise und befahl ihn dem Schutz Gottes.

Christ setzte also seinen Weg fort, bis er zu dem Haus des Auslegers kam. Hier klopfte er einmal über das andre an, bis endlich jemand ans Tor kam und fragte, wer da sei.

„Herr,“ sagte Christ, „hier ist ein Reisender, dem durch einen Bekannten des gütigen Herrn dieses Hauses geraten worden ist, hier sich unterweisen zu lassen. Ich wünsche daher mit dem Hausherrn zu sprechen.“ Dies wurde dem Herrn gemeldet, der auch nach einer kleinen Weile herauskam und Christ fragte, was sein Begehr sei.

„Herr,“ sagte Christ, „ich bin ein Mann, der aus der Stadt Verderben kommt, und ich gehe nach dem Berg Zion. Von dem Mann, der an der Pforte am Eingang dieses Weges steht, ist mir gesagt worden, daß, wenn ich hier vorspräche, du mir herrliche Dinge zeigen würdest, die mir für meine Reise sehr dienlich wären.“

Da sprach der Ausleger: „Komm herein! Ich will dir zeigen, was dir von Nutzen sein wird.“ Er befahl seinem Diener, ein Licht anzuzünden, hieß Christ ihm folgen und führte ihn zu einem besondern Zimmer, welches sein Diener aufschloß. Als dies geschehen war, sah Christ das[S. 48] Bild eines ehrwürdigen Mannes an der Wand hangen, und es war also beschaffen: Seine Augen waren gen Himmel erhoben, das Buch der Bücher hatte er in seiner Hand, das Gesetz der Wahrheit war auf seinen Lippen, und der Welt hatte er den Rücken gewandt; so stand er da wie einer, der eifrig mahnt und bittet, und über seinem Haupt hing eine goldene Krone.

Christ fragte: „Was soll dieses Bild darstellen?“

Ausleger: Der Mann ist einer aus Tausenden; er kann mit dem Apostel sagen: „Ob ihr gleich zehntausend Zuchtmeister hättet in Christus, so habt ihr doch nicht viele Väter; denn ich habe euch gezeugt in Christus Jesus durchs Evangelium“ (1. Kor. 4, 15) und: „Meine lieben Kinder, welche ich abermals mit Ängsten gebäre, bis daß Christus in euch eine Gestalt gewinne“ (Gal. 4, 19). Daß du ihn mit gen Himmel gerichteten Augen siehst, das Buch der Bücher in seiner Hand und das Gesetz der Wahrheit auf seinen Lippen, will andeuten, daß es sein Werk ist, nicht allein dunkle Dinge zu erkennen, sondern sie auch den Sündern auszulegen. Deshalb siehst du ihn auch stehen wie einer, der die Leute eindringlich ermahnt und bittet[37]. Daß du siehst, daß er die Welt hinter sich hat und daß über seinem Haupt eine Krone hängt, soll andeuten, daß er aus Liebe zum Herrn die Güter dieser Welt geringschätzt und verschmäht in der Gewißheit, der Herrlichkeit in jener Welt teilhaftig zu werden. — Ich habe dich nun dies Bild zuerst sehen lassen, weil der Mann, den es darstellt, der einzige ist, welchem der Herr des Orts, wohin du gehst, die Vollmacht gegeben hat, dein Führer zu sein an all den schwierigen Stellen, an welche du auf deinem Wege kommen kannst. Habe also genau acht auf das, was ich dir gezeigt habe, und drücke dieses Bild tief in dein Herz und denke daran, wenn du auf deiner Reise mit solchen zusammentriffst, welche vorgeben, dich recht zu leiten, daß deren Weg in den Tod hinabführt.

Hierauf nahm ihn der Ausleger bei der Hand und führte ihn in einen geräumigen, mehr im Innern des Hauses gelegenen Saal, welcher voller Staub war, da er niemals ausgekehrt worden war. Nachdem Christ sich hier eine Weile umgesehen hatte, rief der Ausleger einen Diener, dem er[S. 49] den Befehl gab, den Saal auszukehren. Als dieser nun zu kehren anfing, erhob sich ein so übermäßiger Staub, daß Christ beinahe erstickt wäre. Der Ausleger gebot hierauf einer Magd, Wasser zu bringen und den Fußboden zu besprengen, und sobald dies geschehen war, konnte man ihn mit Leichtigkeit auskehren und säubern.

„Was bedeutet nun das?“ fragte Christ.

„Dieser Saal,“ erklärte der Ausleger, „stellt das menschliche Herz dar, solange es noch nicht durch die süße Gnade des Evangeliums geheiligt ist. Der Staub ist die angeborene Sünde, das inwendige Verderben, das den ganzen Menschen verunreinigt. Jener, der zuerst kehrte, ist das Gesetz; diese, die das Wasser brachte und sprengte, das Evangelium. Wie bei der Bemühung des erstern sich ein gewaltiger Staub erhob, der die Reinigung des Saales unmöglich machte[38], du aber fast ersticktest, so macht das Gesetz, anstatt das Herz von der Sünde zu reinigen, dieselbe vielmehr lebendig[39] und kräftig[40] und bewirkt, daß sie mächtiger werde in dem Herzen[41], indem es die Sünde zwar aufdeckt und verbietet, aber keine Kraft gibt, sie zu überwinden.

Dagegen, wie die Jungfrau den Saal mit Wasser besprengte, worauf er sich leicht reinigen ließ, so wird, wenn das Evangelium mit seinen sanften, himmlischen Kräften in das Herz dringt, die Sünde besiegt und unterworfen, die Seele wird durch den Glauben gereinigt[42] und somit zubereitet, daß der König der Herrlichkeit in ihr Wohnung machen kann[43].“

Ferner sah ich in meinem Traum, daß der Ausleger Christ bei der Hand faßte und in ein kleines Gemach zog, in welchem zwei Kinder saßen. Das ältere hieß Begierde, das andre Geduld. Begierde erschien höchst unzufrieden und mürrisch, Geduld aber ganz ruhig und freundlich. Christ fragte nun: „Aus welchem Grund ist Begierde so[S. 50] unzufrieden?“ „Der Erzieher der Kinder,“ sagte der Ausleger, „hat ihnen kostbare Geschenke versprochen, die sie zu Anfang des nächsten Jahres erhalten sollen. Begierde will sich nicht auf die Zukunft vertrösten lassen, sie verlangt alles sogleich zu haben; Geduld hingegen wartet mit Freuden.“

Nun sah ich, wie jemand zu Begierde hereinkam und ihr eine Menge kostbarer Dinge überbrachte, welche sie mit großer Hast und mit spöttischem Lächeln annahm, da ihre stille Nachbarin leer ausging. Ich sah aber eine Weile zu und siehe, es währte nicht lange, da hatte sie schon alles vergeudet und durchgebracht, und es blieb nichts übrig als ein Häufchen alter Lumpen.

Da sprach Christ zum Ausleger: „Erkläre mir doch dieses deutlicher!“

Ausleger. Diese beiden Kinder sind Sinnbilder. Begierde ist ein Bild der Kinder dieser Welt, und Geduld ist ein Bild der Kinder der zukünftigen Welt. Wie du gesehen hast, daß Begierde alles in diesem Jahr, d. h. in dieser Welt haben will, so tun die Kinder dieser Welt, sie wollen ihr Gutes schon heute, in diesem Leben dahinnehmen; sie können nicht warten bis zum nächsten Jahr, das ist bis in die zukünftige Welt, wo ihr Teil von Gott zugemessen ist. Das Sprichwort: „Ein Vogel in der Hand ist besser als eine Taube auf dem Dach“ gilt bei ihnen mehr als die Zeugnisse Gottes von den Gütern der zukünftigen Welt. Wie du aber Begierde siehst alles in kurzer Zeit durchbringen und nichts andres übrigbehalten als Lappen und Lumpen, so wird es auch mit allen solchen Menschen gehen am Ende dieser Welt.

„Nun sehe ich,“ sagte Christ, „daß Geduld allein weise ist, und zwar aus verschiedenen Gründen, einmal, weil ihr Herz nach den besten Gütern trachtet, und zum andern, weil sie dann im Besitz der Herrlichkeit ist, wenn die andre in Elend und Schmach dasitzt.“

Ausleger. Ja, so ist’s, und wir können noch hinzufügen, daß die Herrlichkeit der zukünftigen Welt nimmer vergeht, während die Schätze dieser Welt im Nu vorbei sind. Deshalb hat Begierde keine Ursache, über Geduld zu lachen, darum daß sie ihr Gutes zuerst empfangen hat; vielmehr könnte Geduld über Begierde lachen, weil sie ihr Gutes zuletzt empfängt; denn das Erste muß dem Letzten weichen,[S. 51] das Letzte aber hört nimmer auf, da ihm kein andres folgt. Darum muß derjenige, der sein Teil zuerst genießt, notwendig eine Zeit haben, es zu verbrauchen; wer aber sein Teil zuletzt hat, der wird es für immer besitzen. Darum wird zu dem reichen Mann gesagt: „Du hast dein Gutes empfangen in deinem Leben, und Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun aber wird er getröstet, und du wirst gepeinigt“ (Luk. 16, 25).

Christ rief aus: „Nun sehe ich, daß es nicht ratsam ist, nach gegenwärtigen Gütern zu trachten, sondern zu warten auf die zukünftigen!“

Darauf sprach der Ausleger: „Da hast du recht gesagt; denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig (2. Kor. 4, 18). Obschon dies nun also ist, so stehen doch die zeitlichen Dinge und die fleischlichen Lüste in naher Beziehung zueinander, während die zukünftigen Dinge und der fleischliche Sinn einander stets fremd bleiben. Daher schließen auch die ersten beiden so schnell Freundschaft miteinander, die letztern aber lassen sich nimmer vereinen.“

Nun sah ich in meinem Traum, daß der Ausleger Christ bei der Hand nahm und ihn in einen Raum führte, wo ein Feuer an einer Mauer brannte, welches ein daneben Stehender mit Wasser auszulöschen bemüht war. Es wollte ihm aber nicht gelingen, vielmehr loderte das Feuer immer kräftiger empor.

Christ fragte: „Was soll das bedeuten?“

Der Ausleger erwiderte: „Dies Feuer bedeutet das Werk der Gnade im Menschen, welches der arge Feind, der Teufel, so sehr er sich bemüht, nicht auszulöschen vermag. Die Ursache davon sollst du gleich sehen.“ Bei diesen Worten führte er ihn an die hintere Seite der Mauer, wo dem Feuer gegenüber eine Öffnung zu bemerken war, durch welche ein Mann aus einem Gefäß, das er in seiner Hand hielt, beständig, aber unbemerkt Öl in das Feuer goß.

Christ fragte: „Was bedeutet dieses?“

Der Ausleger antwortete: „So unterhält Christus ohne Aufhören durch das Öl Seiner Gnade das Werk, welches Er im Herzen angefangen hat, daher die Gläubigen, ungeachtet alles dessen, was der Teufel wider sie vornimmt, oft ein süßes, ihnen selbst unerklärliches Gefühl des Friedens empfinden.[S. 52] Daß du aber den Mann hinter der Mauer stehen sahst, das Feuer zu erhalten, soll dir andeuten, wie eine angefochtene Seele sich zuweilen für verlassen hält, obwohl der himmlische Freund ihr unsichtbar nahe steht[44].“

Dann sah ich, wie der Ausleger ihn wieder bei der Hand nahm und ihn an einen anmutigen Ort brachte, wo ein prachtvoller Palast erbaut war, dessen Anblick Christ große Freude bereitete. Auf dessen Zinne sah er auch Leute in goldenen Gewändern wandeln. Er fragte den Ausleger: „Dürfen wir wohl dort hineingehen?“ Der Ausleger nahm ihn bei der Hand und ging mit ihm bis vor die Tür des Palastes. Daselbst hatte sich eine große Menge Menschen versammelt, ohne sich jedoch hineinzuwagen, da der Eingang von einer bewaffneten Schar versperrt wurde, die darauf bedacht war, jedem, der hindurchgehen wollte, das Leben zu nehmen. Nahe bei dem Tor saß ein Mann an einem Tisch, mit einem Buch und dem Schreibzeug vor sich, um die Namen derer aufzuschreiben, die sich den Eingang erkämpfen wollten. Das setzte Christ in Erstaunen. Lange wagte sich niemand heran, da jeder aus Furcht vor den Gewappneten zurückbebte, als plötzlich ein rüstiger Mann an den Tisch des Schreibers trat mit den Worten: „Schreibe meinen Namen auf!“ Als das geschehen war, sah Christ, daß der Mann sich einen Helm aufsetzte, sein Schwert zog und sich gerade nach dem Tor wendete. Er stürzte sich auf die gerüsteten Männer zu, die sich mit tödlichem Grimm wider ihn setzten. Allein dem Mann entfiel der Mut durchaus nicht, sondern er schlug und stieß um sich mit wildem Ungestüm. Manche Wunden empfangend und austeilend, kämpfte er sich durch alle hindurch und drang in den Palast vor[45]. Aus dem Innern, sowie von der Zinne des Palastes erscholl mit lieblicher Stimme der Zuruf:

Herein! herein!
Die Kron’ der Ehren wartet dein!

Er ging hinein und wurde alsbald mit goldenen Kleidern geschmückt.

Christ lächelte und sprach: „Ich glaube zu verstehen, was das sagen will; laß mich nun, Herr, von hinnen ziehen!“

[S. 53]

„Nein,“ sagte der Ausleger, „warte noch ein wenig, ich habe dir noch etwas zu zeigen, dann magst du deinen Weg fortsetzen.“ Und nun nahm er ihn noch einmal bei der Hand und führte ihn in einen finstern Raum, wo ein Mann in einem eisernen Käfig saß, der die Augen niederschlug, die Hände rang und sich gebärdete, als wollte ihm das Herz brechen. Als Christ nun fragte, was das zu bedeuten habe, gebot ihm der Ausleger, sich selber mit diesem Mann zu unterreden.

„Wer bist du, Unglücklicher?“ rief Christ voll Entsetzen.

„Ich bin, was ich ehemals nicht war,“ sagte der Gefangene.

„Was warst du denn ehemals?“ fragte Christ.

Der Mann antwortete: „Ich war ehemals in meinen und auch andrer Leute Augen ein eifriger Bekenner der Wahrheit; ich hielt mich würdig für die himmlische Stadt, die ich für meine wahre Heimat ansah.“

Christ fragte: „Und was bist du denn jetzt?“

„Jetzt bin ich,“ antwortete er, „ein Mann der Verzweiflung, in Verzweiflung gebannt, wie in diesen eisernen Käfig. Ich kann nicht hinaus, ach, ich kann nicht mehr hinaus!“

„Aber wie kamst du in diesen Zustand?“ fragte Christ.

Er antwortete: „Ich ließ nach zu wachen und zu beten, ich ließ meinen Begierden die Zügel schießen; ich sündigte gegen das Licht des Wortes und gegen Gottes Güte. Ich habe den Geist Gottes betrübt, und Er ist von mir gewichen; ich habe den Teufel herausgefordert, und er ist zu mir gekommen. Ich habe Gott zum Zorn gereizt, und Er hat mich verlassen; mein Herz ist verhärtet, und ich finde keinen Raum zur Buße.“

„Ist denn keine Hoffnung mehr für diesen Unglücklichen?“ fragte Christ, sich zu dem Ausleger wendend.

„Frage ihn selbst,“ entgegnete dieser, und Christ wandte sich an den Gefangenen: „Mußt du denn in diesem Käfig der Verzweiflung verschlossen bleiben? Ist für dich keine Hoffnung?“

„Für mich ist keine Hoffnung mehr,“ sagte der Gefangene.

„O,“ versetzte Christ, „der Sohn des Hochgelobten ist sehr barmherzig!“

[S. 54]

„Ja,“ antwortete er, „aber ich habe Ihn aufs neue gekreuzigt[46]; ich habe Ihn verachtet, Seine Gerechtigkeit verworfen; ich habe Sein Blut für unrein geachtet und den Geist der Gnade geschmäht[47]. Dadurch habe ich mich selbst von allen Verheißungen der Gnade ausgeschlossen, und es bleibt mir nichts übrig als ein schreckliches Warten des Gerichts und des Feuereifers, der mich als einen Widersacher verzehren wird“ (Hebr. 10, 27).

Christ fragte weiter: „Was hat dich denn verleitet, dich selbst in diesen Zustand zu bringen?“

„Schnöde Lust, irdische Freude und Vorteile dieser Welt, bei deren Genuß ich mir viel Ergötzen versprach. Allein jedes von diesen Dingen nagt nun an meinem Herzen wie ein Wurm, der nicht stirbt, und brennt in mir wie ein Feuer, das ewig nicht erlischt.“

Christ sprach: „Aber kannst du jetzt nicht noch Buße tun und umkehren?“

Er antwortete: „Gott läßt mich keinen Raum mehr finden zur Buße. Sein Wort gibt mir nicht mehr Mut zum Glauben, ja Er selbst hat mich in diesen eisernen Käfig eingeschlossen, und kein Mensch in der ganzen Welt kann mir daraus helfen. O Ewigkeit! Furchtbare Ewigkeit! Wie werde ich ringen, ohne Aufhören ringen mit der Pein der ewigen Verdammnis!“

„Vergiß es nie, was du hier gesehen hast,“ sagte der Ausleger zu Christ mit großem Ernst. „Laß dir das Elend dieses Mannes zur beständigen Warnung dienen!“

„Ja, das ist furchtbar!“ rief Christ aus. „Gott helfe mir wachen und beten und nüchtern sein und gebe mir Kraft, die Sünde zu meiden! Aber, Herr, ist es jetzt nicht hohe Zeit, meine Reise fortzusetzen?“

„Warte noch ein wenig, nur eines sollst du noch sehen, dann magst du deines Weges gehen,“ sprach der Ausleger, indem er Christs Hand ergriff und ihn in die Kammer führte, wo ein Mann aus dem Bett stieg und im Begriff war, unter Zittern und Beben seine Kleider anzulegen.

[S. 55]

Da fragte Christ: „Warum zittert dieser Mann so?“

Der Ausleger befahl diesem, den Grund seiner Angst Christ zu entdecken. Hierauf hob der Mann also an: Diese Nacht, als ich schlief, träumte ich, und siehe, der Himmel war schwarz wie die Nacht; es erhob sich ein unerhörtes Donnern und Blitzen, daß ich in große Bestürzung und Todesangst kam. Darauf sah ich, wie der Wind die Wolken pfeilschnell vor sich her trieb. Plötzlich erscholl der Ton einer Posaune vom Himmel herab, und in den Wolken erschien der Herr, umgeben von den Heerscharen des Himmels, die alle, wie auch der Himmel selbst, in flammendem Feuer standen. Eine Stimme rief: „Stehet auf, ihr Toten, und kommt zum Gericht[48]!“ und im Augenblick zerrissen die Felsen, die Gräber taten sich auf, und die Toten, die darin waren, kamen heraus. Einige erschienen in Freude und Wonne und hoben ihre Häupter auf, die andern aber standen in großer Schmach und Schande und suchten sich unter den Bergen zu verstecken. Da öffnete der Herr, der auf der Wolke saß, ein Buch und gebot der Welt, vor Ihm zu erscheinen[49]. Vor Ihm her aber machte ein verzehrendes Feuer Raum, wie zwischen einem Richter und den Verklagten, die vor den Schranken stehen. Dann hörte ich denen, die den Herrn in der Wolke umgaben, verkünden: „Sammelt das Unkraut, die Spreu und die Stoppeln und werfet sie in den brennenden Pfuhl[50]!“ Und sogleich tat sich der bodenlose Abgrund gerade vor meinen Füßen auf, und dicker Rauch und glühende Hitze fuhren mit erschrecklichem Getöse heraus. „Sammelt den Weizen in Meine Scheuern!“ (Luk. 3, 17; Matth. 13, 30) rief der Herr, und alsbald sah ich viele emporgehoben und hingerückt in den Wolken[51]; ich aber blieb dahinten. Ich wollte mich verbergen, aber vergebens, denn der Herr heftete Seine Augen unverwandt auf mich; alle meine Sünden traten vor meine Seele, mein Gewissen richtete und verdammte mein ganzes Leben. Darauf erwachte ich aus meinem Traum.

[S. 56]

Christ fragte: „Was aber erschreckte dich denn so bei diesem Gesicht?“

Der Mann antwortete: „Nun, ich dachte, der Tag des Gerichts wäre gekommen, und dazu war ich nicht bereit. Das aber erschreckte mich am meisten, daß die Engel ihrer viel emportrugen und mich stehen ließen. Auch öffnete gerade an dem Ort, da ich stand, der Hölle Grund den Rachen. Dabei quälte mich mein Gewissen, und das Auge des Richters war, wie mich dünkte, beständig mit Unwillen und Zorn auf mich gerichtet.“

„Hast du nun dies alles wohl beachtet?“ sprach der Ausleger zu Christ.

„Ja, und ich spüre ebensoviel Furcht als Hoffnung,“ antwortete dieser.

„So fasse denn,“ sagte jener, „alle diese Dinge wohl zu Herzen; laß sie dir wie ein Stachel sein in deiner Seite, daß sie dich vorwärtstreiben auf dem Weg, den du zu gehen hast.“

Christ gürtete jetzt seine Lenden und schickte sich zur Weiterreise an. Der Ausleger sprach: „Der Tröster möge allezeit bei dir sein und dich, mein guter Christ, auf dem Weg geleiten, der zur himmlischen Stadt führt!“

Also trat Christ nun seine Wanderung an, indem er sagte:

Seltsame Dinge waren hier zu schaun!
Ich bin gestärkt, doch regt sich Furcht und Graun.
Gewalt’ge Kämpfe stehen mir bevor.
Nur vorwärts bis zu Zions Tor!
Du Geist des Herrn, ich fleh’ zu Dir,
O neige Deine Kraft zu mir!

Nun sah ich in meinem Traum, daß zu beiden Seiten des Weges, auf dem Christ wandern mußte, eine Mauer sich hinzog, und diese hatte den Namen Heil[52]. Auf diesem Pfad lief Christ weiter, doch nicht ohne große Beschwerde wegen der Last, die er auf seinem Rücken hatte, bis er an eine Anhöhe kam, auf welcher ein Kreuz stand und etwas weiter unten ein Grab zu sehen war. Ich sah nun im Traum, daß gerade, als Christ zum Kreuze hinkam, die Bürde sich von seinen Schultern löste und den Berg[S. 58] hinabrollte, bis sie in der Öffnung des Grabes verschwand, und ich sah sie nicht mehr. Da ward es Christ wohl, und mit fröhlichem Herzen sagte er: „Er hat mir Ruhe gegeben durch Sein Leiden — und Leben durch Seinen Tod[53]!“ Er blieb eine Weile still und verwundert stehen, denn er war voller Erstaunen darüber, daß das Anschauen des Kreuzes ihn von seiner Last befreit hatte[54]. Er versank wieder und wieder in die Betrachtung des Kreuzes, und Tränen des Dankes und der Liebe flossen ihm die Wangen herab.

Als Christ zum Kreuze hinkam, löste sich die Bürde von seinen Schultern (S. 56.).

Als er nun so dastand, aufschauend und in Tränen zerflossen, traten zu ihm drei leuchtende Gesandte, ihn mit den Worten grüßend: „Friede sei mit dir!“ Darauf hob der erste an: „Deine Sünden sind dir vergeben!“ (Mark. 2, 5) Der zweite zog ihm seine unreinen, zerlumpten Kleider aus und zog ihm Feierkleider an[55]. Der dritte machte ein Kennzeichen an seine Stirn[56] und überreichte ihm ein Zeugnis[57] mit einem Siegel darauf[58]. Dieses Siegel sollte ihm auf seiner Reise zum Trost und an der himmlischen Pforte zur sichern Aufnahme dienen. Die Engel verließen ihn wieder. Christ hüpfte vor Freuden und zog singend seines Weges.

Komm zum Kreuz mit deinen Lasten,
Müder Pilger du!
Bei dem Kreuze kannst du rasten,
Da ist Ruh’.
Unter des Gerichtes Ruten
Sieh am Kreuzesstamm
Für dich dulden und verbluten
Gottes Lamm!
[S. 59]
An dem Kreuze trug der Reine
Deiner Sünde Lohn;
Sieh, wie liebt dich dieser Eine,
Gottes Sohn!
Da stillt Er dein heiß Verlangen,
Heilet deinen Schmerz:
Frieden wirst du da empfangen,
Müdes Herz!
Trost, Vergebung, ew’ges Leben
Fließt vom Kreuz dir zu;
Bei dem Kreuz wird dir gegeben
Himmelsruh’!

Fußnoten:

[33] Feurige Pfeile Satans, das sind unreine, böse, gotteslästerliche Gedanken, die er in den Herzen der Menschen erregt, um sie in allerlei Sünde, namentlich auch in Verzagtheit und Zweifel, ja in Verzweiflung zu stürzen.

[34] Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid von der Gnade gefallen (Gal. 5, 4).

[35] Wer zu Mir kommt, den werde Ich nicht hinausstoßen (Joh. 6, 37).

[36] Der Weg ist breit, der zur Verdammnis abführt; und ihrer sind viele, die darauf wandeln (Matth. 7, 13).

[37] So sind wir nun Botschafter an Christi Statt, denn Gott vermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi Statt: Lasset euch versöhnen mit Gott! (2. Kor. 5, 20.)

[38] Was dem Gesetz unmöglich war, das tat Gott und sandte Seinen Sohn (Röm. 8, 3).

[39] Ich lebte weiland ohne Gesetz; da aber das Gebot kam, ward die Sünde wieder lebendig (Röm. 7, 9).

[40] Da wir im Fleisch waren, da waren die sündlichen Lüste, welche durchs Gesetz sich erregten, kräftig in unsern Gliedern, dem Tode Frucht zu bringen (Röm. 7, 5).

[41] Das Gesetz ist neben eingekommen, auf daß die Sünde mächtiger würde. Wo aber die Sünde mächtig geworden ist, da ist doch die Gnade viel mächtiger geworden (Röm. 5, 20).

[42] Christus hat geliebt die Gemeinde und hat sich selbst für sie gegeben und hat sie gereinigt durch das Wasserbad im Wort (Eph. 5, 25. 26).

[43] Wer Mich liebt, der wird Mein Wort halten; und Mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen (Joh. 14, 23).

[44] Siehe, Er steht hinter unsrer Wand (Hohesl. 2, 9). Und Er hat zu mir gesagt: Laß dir an Meiner Gnade genügen; denn Meine Kraft ist den Schwachen mächtig (2. Kor. 12, 9).

[45] Wir müssen durch viel Trübsale in das Reich Gottes gehen (Apostelg. 14, 22).

[46] Es ist unmöglich, die, so einmal erleuchtet sind und geschmeckt haben die himmlische Gabe und teilhaftig geworden sind des Heiligen Geistes, wo sie abfallen, wiederum zu erneuern zur Buße, als die sich selbst den Sohn Gottes wiederum kreuzigen und für Spott halten (Hebr. 6, 4. 6).

[47] Wenn jemand das Gesetz Moses bricht, der muß sterben. Wieviel, meint ihr, ärgere Strafe wird der verdienen, der den Sohn Gottes mit Füßen tritt und das Blut des Testaments unrein achtet, durch welches er geheiligt ist, und den Geist der Gnade schmäht? (Hebr. 10, 28. 29).

[48] Es kommt die Stunde, in welcher alle, die in den Gräbern sind, werden Seine Stimme hören, und werden hervorgehen, die da Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Übels getan haben, zur Auferstehung des Gerichts (Joh. 5, 28. 29).

[49] Ich sah die Toten, beide, groß und klein, stehen vor Gott, und Bücher wurden aufgetan. Und ein andres Buch ward aufgetan, welches ist das Buch des Lebens. Und die Toten wurden gerichtet nach der Schrift in den Büchern, nach ihren Werken (Offenb. 2, 12).

[50] Also wird es am Ende der Welt gehen: die Engel werden ausgehen und die Bösen von den Gerechten scheiden und werden sie in den Feuerofen werfen; da wird Heulen und Zähneklappen sein (Matth. 13, 49. 50).

[51] Dem Herrn entgegen in der Luft, und werden also bei den Herrn sein allezeit (1. Thess. 4, 17).

[52] Deine Mauern sollen Heil und deine Tore Lob heißen (Jes. 60, 18).

[53] Er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf Ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch Seine Wunden sind wir geheilt. Darum will Ich Ihm große Menge zur Beute geben, darum daß Er Sein Leben in den Tod gegeben hat (Jes. 53, 5. 12).

[54] Wie Mose in der Wüste eine Schlange erhöht hat — wer von einer Schlange gebissen wurde und sah die eherne Schlange an, der blieb leben — also mußte des Menschen Sohn erhöht werden, auf daß alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben (Joh. 3, 14. 15).

[55] Siehe, Ich habe deine Sünde von dir genommen und habe dich mit Feierkleidern angezogen (Sach. 3, 4) und: Er hat mich anzgezogen mit Kleidern des Heils und mit dem Rock der Gerechtigkeit gekleidet (Jes. 61, 10).

[56] Wer überwindet, auf den will Ich schreiben den Namen meines Gottes und den Namen des neuen Jerusalem und Meinen Namen, den neuen (Offenb. 3, 12).

[57] Der Heilige Geist gibt Zeugnis unserm Geist, daß wir Gottes Kinder sind (Röm. 8, 16).

[58] Durch Christus seid ihr, da ihr gläubig wurdet, versiegelt worden mit den Heiligen Geist der Verheißung (Eph. 1, 13).

Schlussvignette, Kapitel I, 2

[S. 60]

Kopfstück, Kapitel I, 3

Drittes Kapitel.
Der Weg der Beschwerde.

N

Nun sah ich in meinem Traum, wie Christ, als er also fröhlich seines Weges zog, in ein Tal kam. Dort erblickte er etwas abseits vom Weg drei schlafende Männer mit Fesseln an ihren Füßen. Der eine von ihnen hieß Albern, der andre Träge und der dritte Eigendünkel. Als Christ sie so daliegen sah, trat er näher zu ihnen hin, ob er sie vielleicht aufwecken könnte, und rief ihnen mit lauter Stimme zu: „Ihr seid gleich denen, die oben auf dem Mastbaum schlafen (Spr. 23, 34), mitten im ungestümen Meer, über einer Tiefe, die keinen Grund hat. Wacht auf und kommt her! Wenn ihr wollt, so will ich euch helfen, von euren Fesseln loszukommen; denn wenn der, welcher umhergeht wie ein brüllender Löwe und sucht, welchen er verschlinge (1. Petr. 5, 8), über euch kommt, so werdet ihr gewiß ein Raub seiner Zähne werden.“ Bei diesen Worten schlugen sie ihre schlaftrunkenen Augen auf und antworteten ihm, ein jeder nach seiner Weise. Albern sprach: „Ich sehe keine Gefahr;“ Träge wollte nur noch ein wenig länger schlummern, und Eigendünkel sagte trotzig: „Jeder muß auf seinen eigenen Füßen stehen.“ Sie legten sich alle drei gleich wieder zum Schlafen nieder, und Christ ging seines Wegs. Gleichwohl verdroß es ihn, wenn er daran dachte, daß Menschen, die in solcher Gefahr schweben, die Güte dessen, der sich aus freien Stücken ihnen zu helfen erbot, so wenig achteten, indem er sie aufgeweckt, ihnen einen guten Rat gegeben und beim Entledigen der Fesseln behilflich sein wollte. Während er noch darüber betrübt war, bemerkte er mit Erstaunen, wie über die Mauer, die sich zur Linken des Wegs hinzog, zwei Männer herüberstiegen und eiligen Schrittes sich ihm näherten. Der eine hieß Werkheilig,[S. 61] der andre Heuchler. Diese machten sich nun an Christ heran, der sie also anredete:

„Woher kommt ihr, meine Herren, und wohin geht eure Reise?“

Sie antworteten: „Wir sind im Lande der Hoffart geboren und wandern um des Ruhmes willen nach dem Berg Zion.“

„Warum seid ihr nicht durch die enge Pforte, die am Anfang dieses Weges steht, hereingekommen?“ fragte Christ. „Wißt ihr nicht, daß geschrieben steht: Wer nicht zur Tür hineingeht, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und ein Mörder?“ (Joh. 10, 1.)

„In unserm Lande,“ erwiderten sie, „gilt der Eingang durch die Pforte für einen großen Umweg; bei uns ist es gebräuchlich, den kürzesten Weg einzuschlagen und dann über die Mauer zu steigen — so machten wir’s auch.“

Christ. „Aber fürchtet ihr euch denn nicht, den Willen des Herrn, zu dessen Stadt wir reisen, so sehr zu verletzen?“

„Damit beunruhige dich nicht,“ sagten sie mit sichtlicher Verachtung; „wir handeln nach einem guten alten Brauch unsers Landes und können es mit vielen Zeugnissen beweisen, daß man es schon länger als tausend Jahre so gehalten hat.“

„Aber,“ fragte Christ, „wird eure Gewohnheit vor dem Gesetz bestehen können?“

„Da sie ein mehr als tausendjähriges Alter für sich hat,“ erwiderten jene, „wird sie vor einem unparteiischen Richter ohne Zweifel als gesetzlich gelten. Was sollte wohl darauf ankommen, auf welche Weise man diesen Weg erreicht, wenn man ihn nur wirklich betritt. Du, soweit wir merken, bist zwar durch die Pforte gekommen und bist gleichwohl nur auf dem Weg und nicht weiter als wir auch, die wir nun von der Seite über die Mauer hergekommen sind. Inwiefern sollten wir dir in etwas nachstehen?“

„Der Unterschied zwischen uns ist bedeutend genug,“ erwiderte Christ. „Ich wandle nach der Richtschnur des Meisters, ihr nach eurem eigenen Rat. Schon jetzt geltet ihr vor dem Herrn als Diebe; wie könnt ihr am Ende des Weges als treu erfunden werden? Ihr habt von euch selber, ohne Seine Leitung, den Weg betreten, und ebenso werdet ihr durch euch selbst, ohne Seine Gnade, ihn wieder verlieren.“

[S. 62]

Hierauf wußten sie nichts weiter zu sagen als: er möge sich um sich selbst bekümmern.

Ich sah dann, wie sie alle drei ihres Weges wanderten, ohne viel miteinander zu sprechen. Die beiden Männer sagten zu Christ: „Aber meine doch ja nicht, daß wir die Gesetze und Verordnungen weniger gewissenhaft beobachten als du. Nein, du hast durchaus nichts vor uns voraus als das Kleid, das du trägst, das dir, wie wir denken, einer deiner Nachbarn gab, um die Schande deiner Blöße zu decken.“

Aber Christ antwortete: „Durch Gesetze und Verordnungen werdet ihr, die ihr nicht durch die Pforte hereingekommen seid, nicht selig werden. Das Kleid, das ich trage, habe ich von dem Herrn des Orts empfangen, wohin ich gehe, und zwar, wie ihr recht saget, um meine Blöße zu decken, denn ich hatte vorher nichts als Lumpen, und so trage ich es als ein Zeichen Seiner besondern Güte gegen mich. Daneben ist mir dies sehr tröstlich auf meiner Pilgerschaft, denn ich denke: Wenn ich einmal zu den Toren der Stadt kommen werde, so wird der Herr mich gewiß anerkennen, weil ich mit Seinem Rock bekleidet bin, den Er mir an jenem Tage, da Er mich der Lumpen entledigte, aus freier Gnade schenkte. Überdies habe ich noch ein Zeichen an meiner Stirn, darauf ihr vielleicht noch nicht geachtet habt, welches mir von einem der Vertrautesten meines Herrn an eben dem Tag, da mir die Last von den Schultern fiel, aufgedrückt wurde. Dazu kann ich euch noch sagen, daß Er mir damals ein besiegeltes Zeugnis gab, das mich, so oft ich es lese, trösten wird auf dem Weg, den ich wandle. Auch ist mir befohlen, solches an der himmlischen Pforte abzugeben, daß ich gewiß hineingehen darf. Ich bezweifle, daß ihr eins von diesen Dingen habt. Ihr könnt sie nicht haben, weil ihr nicht zur Pforte hereingekommen seid.“

Auf dies alles aber gaben sie keine Antwort, sondern sahen einander an und lachten. Unterdessen gingen sie miteinander weiter, Christ war ihnen jedoch allezeit etwas voraus. Er sprach nur noch mit sich selbst, bald mit Seufzen und bald mit getrostem Mut; auch las er oft in dem Zeugnis, das ihm jenes leuchtende Wesen gegeben hatte, wodurch er sehr erquickt ward.

Die drei Wanderer erreichten nun den Berg der Beschwerde, wo der schmale Weg steil bergan führte, während[S. 63] zur Rechten und zur Linken breite Wege sich bequem in der Ebene hinzogen. Christ war keinen Augenblick in Zweifel, welchen Weg er zu nehmen habe; er trank aus der Quelle[59], die am Fuß des Berges hervorsprudelte, und stieg singend den Berg hinan:

Den Berg hinan! Ist er auch noch so steil,
Er schreckt mich nicht zurück vom ew’gen Heil.
Der schmale, steile Pfad geht himmelwärts,
Der breite, leichte Weg zu ew’gem Schmerz.

Die andern beiden kamen unterdessen auch an den Fuß des Berges, sie konnten sich jedoch nicht entschließen, einen so beschwerlichen Weg zu nehmen, zumal da man hier zwei andre bequeme Wege zur Auswahl hatte, die, wie sie hofften, mit dem Weg, auf dem Christ wandelte, zusammentreffen würden. Der eine Weg hieß Gefahr, der andre Verderben. Nun trennten sich die beiden Wanderer, der eine wählte den Weg der Gefahr, der ihn in einen undurchdringlichen Wald führte; der andre betrat den Weg des Verderbens, auf dem er in finstere Gebirge hineingeriet, wo er strauchelte und fiel und nie wieder aufstand[60].

Als ich meine Blicke wieder Christ zuwandte, sah ich, wie er den Berg hinauflief; aber vom Laufen kam er bald zum Gehen und vom Gehen zum Klettern auf Händen und Knien, denn der Weg wurde immer steiler. Sehr erwünscht war es ihm, als er etwa in halber Höhe des Berges eine anmutige Laube bemerkte, die vom Herrn des Berges zur Erquickung der müden Wanderer allda errichtet worden war. Darein trat Christ und setzte sich nieder, etwas auszuruhen. Wie er so dasaß, zog er sein Zeugnis aus seinem Busen und las zu seiner Stärkung darin. Er betrachtete auch eine Weile mit Wohlgefallen sein Gewand, das er erhalten, als er beim Kreuz gestanden. Endlich versank er in einen tiefen Schlaf, wobei ihm das Zeugnis aus der Hand fiel. Schon hatte sich der Tag geneigt, als ihn jemand aufweckte und ihm zurief: „Gehe hin zur Ameise, du Fauler; siehe ihre Weise an und lerne!“ (Spr. 6, 6) Beschämt fuhr er auf, eilte hinweg und hielt in seinem Lauf nicht mehr inne, bis er die Spitze des Berges erreicht hatte.

[S. 64]

Als er nun hier oben stand, kamen ihm zwei Männer in großer Eile entgegengelaufen. Der eine hieß Furchtsam, der andre Mißtrauisch. Christ sprach zu ihnen:

„Was macht ihr, meine Herren; warum lauft ihr den verkehrten Weg?“

Furchtsam antwortete, daß sie auf der Reise nach der Stadt Zion gewesen und dazu diesen beschwerlichen Berg heraufgestiegen wären. „Aber,“ sagte er, „je weiter wir auf diesem Weg gekommen, desto größere Gefahren sind uns begegnet, deshalb kehren wir um und gehen nun zurück.“

„Ja,“ setzte Mißtrauisch hinzu, „gerade vor uns lagen ein paar Löwen im Weg. Ob sie schliefen oder wachten, wissen wir nicht. Wir konnten aber nicht anders denken, als daß sie uns in Stücke zerreißen würden, wenn wir in ihre Nähe kämen.“

„Ihr setzt mich in Schrecken!“ rief Christ den Fliehenden zu. „Wohin soll ich mich wenden, um sicher zu sein? Gehe ich zurück in meine Heimat, so komme ich dort gewiß um, da die Stadt Verderben ein Raub des Feuers und Schwefels werden soll. Erreiche ich aber die himmlische Stadt, so bin ich geborgen. Ich muß es wagen. Umkehren ist doch nichts andres als Tod und Verderben; vorwärtsgehen, da ist zwar Furcht des Todes, aber danach ein ewiges Leben. Wohlan, ich setze meinen Weg fort!“ Und so geschah’s. Mißtrauisch aber und Furchtsam liefen den Berg wieder hinunter.

Wie nun Christ seinen Weg weiterzog, fing er gleichwohl an über das nachzudenken, was jene zwei Männer ihm gesagt hatten. Im Bewußtsein der nahen Gefahr bedurfte er einer Stärkung und suchte deshalb nach dem Zeugnis. Er fühlte danach, aber siehe, er fand es nicht. Er suchte mit steigender Angst, aber vergebens! Er wußte zuerst gar nicht, was er anfangen sollte, denn es fehlte ihm ja gerade das, was ihm schon so oft zu großem Trost gewesen war. Und dieses Zeugnis sollte er ja an der himmlischen Pforte vorzeigen. Als er nun so ganz bestürzt und bekümmert dastand, fiel ihm endlich ein, daß er in der Laube geschlafen hatte[61].[S. 65] Tiefe Reue erfüllte ihn, er fiel auf seine Knie und bat Gott, daß Er ihm diese Torheit vergeben möge. Darauf kehrte er wieder um, sein Zeugnis zu suchen.

Wer aber vermag die Betrübnis zu schildern, die Christ auf dem ganzen Rückweg im Herzen empfand! Bald seufzte er, bald weinte er, aber am meisten schalt er sich selbst wegen seiner Torheit, an jenem Ort, der nur zu einer kurzen Erholung von seiner Müdigkeit bereitet war, dem Schlaf sich überlassen zu haben. So ging er zurück, auf dem ganzen Weg sorgfältig bald auf die eine, bald auf die andre Seite blickend mit dem heißen Verlangen, den verlorenen Brief wiederzufinden. Er lief, bis er der Laube ansichtig wurde. Ihr Anblick aber erneuerte ihm seine Traurigkeit um so mehr, da er ihm zu Gemüte führte, wie er so übel getan, daß er dort geschlafen hatte.

„Ach, ich elender Mensch!“ rief Christ aus, „der ich schlafen konnte, da es noch Tag war[62]; der ich schlafen konnte, da ich in einer so gefährlichen Lage war; daß ich das zur Bequemlichkeit des Fleisches benutzte, was der Herr zur Erquickung des Geistes der Pilgrime bestimmt hat! Wie viele Tritte habe ich nun vergeblich getan! So ist es den Kindern Israel ergangen um ihrer Sünden willen; von den Grenzen Kanaans mußten sie zurückwandern zum Schilfmeer; ich nun muß mit Schmerzen diesen Weg zurücklegen, den ich hätte mit Freuden tun können, wenn ich mich nicht diesem sündlichen Schlaf hingegeben hätte. Wie weit könnte ich nun schon sein! Nun muß ich diesen Weg dreimal gehen, den ich sonst nur einmal hätte zu ziehen brauchen. Und nun überfällt mich auch noch die Nacht; denn der Tag hat sich schon geneigt. Ach, hätte ich doch nicht geschlafen!“

So erreichte er die Laube wieder, wo er erst eine Zeitlang saß und weinte. Endlich sah er sich bekümmert nach der Schrift um und erblickte sie unter der Bank; zitternd vor Verlangen ergriff er sie und steckte sie in seinen Busen. Wer kann die Freude des Pilgers beschreiben, da er sein Zeugnis wieder hatte! Es war ja die Versicherung seines Lebens und seiner Aufnahme in den ersehnten Hafen. Er[S. 66] dankte Gott, der ihm die Augen auf die rechte Stelle gelenkt, und mit Freudentränen machte er sich wieder auf den Weg.

So hurtig er jedoch den Berg hinaufstieg, so ging die Sonne doch unter, ehe er den Gipfel erreicht hatte; und aufs neue über die Sünde seines Schlafs trauernd, brach er in die Worte aus: „O du sündlicher Schlaf, um deinetwillen überfällt mich die Nacht! Ich muß wandern ohne das Licht der Sonne; Finsternis muß den Schritt meiner Füße bedecken; und ich muß das Schreien der geängsteten Kreaturen wegen meines Sündenschlafes hören!“ Jetzt gedachte er auch dessen, was Mißtrauisch und Furchtsam ihm erzählt hatten; wie sie sich vor dem Anblick der Löwen entsetzt hätten. Und so sprach er zu sich selbst: „Diese Tiere gehen des Nachts auf ihren Raub aus, wenn sie mir allhier im Finstern begegnen, wie sollte ich entkommen, daß ich nicht von ihnen in Stücke zerrissen werde?“

Unter solchen Gedanken ging er seines Weges fort. Doch während er seinen unglückseligen Fehltritt beklagte, hob er seine Augen auf und siehe, da stand gleich vor ihm ein stattlicher Palast, der Prachtvoll hieß. Er verdoppelte seine Schritte, um hier womöglich noch Herberge zu finden. Er war aber nicht weit gegangen und an einen sehr engen Weg gekommen, der nicht mehr fern von der Wohnung des Pförtners war, als er sah, daß zwei Löwen ihm den Weg versperrten. „Nun stoße ich auf die Gefahr, durch welche Mißtrauisch und Furchtsam sich haben zurücktreiben lassen,“ dachte er. (Die Löwen waren angekettet, aber er sah die Ketten nicht.) Voll Angst blieb er stehen, und da er nichts vor sich sah als den Tod unter den Zähnen dieser reißenden Tiere, war er im Begriff, umzukehren. Dies bemerkte der Pförtner, dessen Name Wachsam war, von seinem Häuschen aus und rief ihm deshalb zu: „Ist deine Kraft so gering[63]? Fürchte dich nicht vor den Löwen! Sie sind an Ketten und liegen deshalb hier, um den Glauben der Pilger zu prüfen. Halte dich mitten auf dem Weg, und sie werden dir kein Leid tun.“

Zitternd ging er vorwärts, indem er sich genau nach dem Rat des Pförtners in der Mitte hielt; die Löwen brüllten ihn an, aber sie verletzten ihn nicht, und jauchzend vor Freude[S. 68] klatschte er in die Hände und eilte der Türe zu, an der der Pförtner stand.

Die Löwen waren angekettet, aber er sah die Ketten nicht (S. 66.).

„Herr, was ist das für ein Haus?“ fragte er. „Kann ich wohl diese Nacht hier Herberge finden?“

„Dieses Haus,“ so antwortete der Pförtner, „hat der Herr des Berges erbaut, und zwar zur Ruhe und Sicherheit der Pilgrime. Aber woher kommst du, und wohin geht dein Weg?“

Christ. Ich komme von der Stadt Verderben und wandere nach dem Berg Zion; aber da die Sonne untergegangen ist, möchte ich, wenn es sein kann, hier übernachten.

Pförtner. Wie heißest du?

Christ. Jetzt ist mein Name Christ; vorher hieß ich Gnadenlos. Ich bin aus dem Geschlecht Japhets, den Gott in den Hütten Sems will wohnen lassen (1. Mos. 9, 27).

Pförtner. Aber warum kommst du so spät? Die Sonne ist ja schon untergegangen.

Christ. Ich wäre schon eher gekommen, wenn ich elender Mensch nicht in der Laube, die an der Seite des Berges steht, eingeschlafen wäre. Ja, ich wäre gleichwohl noch früher hier gewesen, aber ich verlor im Schlaf mein Zeugnis. Ich war schon auf dem Gipfel des Berges, da ich es erst vermißte, und so war ich genötigt, mit betrübtem Herzen zu dem Ort zurückzugehen, wo ich geschlafen hatte. Da fand ich endlich wieder, was ich verloren hatte, und so bin ich denn jetzt hier angekommen.

„Wohlan,“ sagte der Pförtner, „ich werde eine von den Jungfrauen dieses Hauses rufen, die dich, wofern ihr deine Aussage genügt, nach der Sitte unsers Hauses bei den übrigen Gliedern der Familie einführen wird.“ Der Pförtner Wachsam schellte, und sogleich erschien Einsicht, eine edle Jungfrau, an der Haustür und fragte, was man verlange.

„Dieser Mann,“ sagte der Pförtner, „ist auf der Reise von der Stadt Verderben nach dem Berg Zion, aber da er müde ist und die Dunkelheit ihn überfallen hat, so wünscht er hier zu übernachten. Ich sagte ihm, ich wollte dich rufen. So möge es dir belieben, mit ihm selber zu reden und danach zu tun, was dich nach den Regeln unsers Hauses gut dünkt.“

Sie fragte ihn, von wannen er komme und wohin er[S. 69] wolle, auch wie er auf diesen Weg gekommen, was er auf dem Weg gesehen und was ihm begegnet wäre. Er beantwortete all diese Fragen und erzählte seine Erlebnisse. Endlich erkundigte sie sich auch nach seinem Namen. Er heiße Christ, gab er zur Antwort, und seine Freude, hier übernachten zu dürfen, sei um so größer, weil er erfahren, daß dieses Haus von dem Herrn des Berges zur Erquickung und Sicherheit der Pilger erbaut sei.

Da lächelte sie, wobei aber ihre Augen feucht wurden, und sie sprach nach einer kurzen Pause: „Ich will noch zwei oder drei von meinen Hausgenossen herbeirufen.“ Hierauf eilte sie zur Tür und rief Weisheit, Gottesfurcht und Liebe heraus. Diese nun führten ihn nach einer kurzen Unterredung bei den übrigen Familiengliedern ein. Manche von ihnen kamen und hießen ihn schon auf der Schwelle des Hauses willkommen und sprachen: „Komm herein, du Gesegneter des Herrn! (1. Mos. 24, 31.) Dies Haus ist von dem Herrn des Berges in der Absicht erbaut, um Pilger, wie du einer bist, darin zu bewirten.“ Da verbeugte er sich und folgte ihnen nach ins Haus. Als er eingetreten war und sich niedergesetzt hatte, reichten sie ihm einen Labetrunk und beschlossen, die Zeit, während das Abendbrot bereitet würde, zur gegenseitigen Erbauung zu benützen. Gottesfurcht, Weisheit und Liebe wurden dazu ausersehen, und so entspann sich folgendes Gespräch:

Gottesfurcht. Also, lieber Christ, da wir nun einmal die Freude haben, dich für diese Nacht in unserm Haus zu beherbergen, so laß uns, um die Zeit recht auszukaufen, zu unser aller Nutz und Frommen von dem sprechen, was du auf deiner Pilgerfahrt bisher erfahren hast.

Christ. Von Herzen gern! Wie wohl tut mir eure Teilnahme an meinem Ergehen!

Gottesfurcht. Was hat dich zuerst bewogen, solch ein Pilgerleben zu erwählen?

Christ. Ich ward durch einen Mark und Bein durchdringenden Warnungsruf, der an mein Ohr drang, aus meiner Vaterstadt vertrieben. Ich hörte nämlich von dem unvermeidlichen Verderben, das mich treffen würde, wenn ich daselbst verbliebe.

Gottesfurcht. Wie kam es denn, daß du bei deiner Auswanderung gerade auf diesen Weg gelenkt wurdest?

[S. 70]

Christ. Ich sehe da Gottes Hand darin; denn als ich so voll Furcht vor dem Verderben auszog, wußte ich nicht, wo ich mich hinwenden sollte. Als ich noch zitternd und weinend dastand, da kam zur rechten Stunde ein Mann, namens Evangelist, zu mir, dieser wies mich zur engen Pforte, die ich sonst nie gefunden hätte. So kam ich auf den Weg, der gerade zu diesem Haus führt.

Gottesfurcht. Aber kamst du nicht auch zu dem Haus des Auslegers?

Christ. Ja, und dort habe ich Dinge gesehen, die sich unauslöschlich in meinem Herzen eingeprägt haben, besonders dreierlei, nämlich wie Christus dem Satan zum Trutz das Werk Seiner Gnade im Herzen unterhält; wie ein Mensch sich durch seine Sünde aller Hoffnung der göttlichen Gnade verlustig gemacht; und dann den Traum dessen, der in seinem Schlaf meinte, der Tag des Gerichts sei gekommen.

Gottesfurcht. Hörtest du ihn seinen Traum erzählen?

Christ. Ja, das war ein schreckenvoller Traum: es schnitt mir durchs Herz, als er ihn erzählte, aber dennoch bin ich froh, ihn gehört zu haben.

Gottesfurcht. Ist das alles, was du im Haus des Auslegers gesehen?

Christ. Nein, er nahm mich bei der Hand und brachte mich zu einem stattlichen Palast; hier sah ich, wie dessen Bewohner in goldenen Kleidern einhergingen und wie ein tapferer Mann kam, der seinen Weg gerade durch die bewaffnete Schar nahm, die ihm am Tor den Eingang versperrte, und wie er aufgefordert wurde, einzutreten und die ewige Herrlichkeit in Besitz zu nehmen. Beim Anblick alles dessen war mein Herz davon ganz hingenommen, und ich wäre in dem Hause dieses guten Mannes gern noch lange verblieben, doch ich hatte ja noch einen weiten Weg vor mir.

Gottesfurcht. Und was hast du sonst noch auf dem Weg gesehen?

Christ. Ich war nur eine kleine Strecke weitergekommen, da sah ich einen, der blutend an einem Holz hing. Dessen Anblick genügte schon, daß sich die Bürde, unter der ich bis dahin seufzend einherging, von meinen Schultern löste und herabfiel. Es war ein Wunder vor meinen Augen, denn ich hatte dergleichen zuvor niemals gesehen. Und wie ich so dastand und Ihn ansah — denn ich konnte meinen Blick von[S. 71] Ihm nicht abwenden — da war ich plötzlich von drei leuchtenden Gestalten umgeben. Eine von ihnen sagte: „Deine Sünden sind dir vergeben!“ Die andre zog mir meine Lumpen aus und gab mir dieses gestickte Kleid, das du mich jetzt tragen siehst. Die dritte drückte mir das Zeichen auf, das ich auf meiner Stirn habe, und gab mir dieses besiegelte Zeugnis. (Hiermit griff er mit seiner Hand in den Busen, das Zeugnis vorzeigend.)

Gottesfurcht. Sahst du nicht noch mehr als das?

Christ. Das, was ich bereits erzählt habe, ist wohl das Beste. Doch sah ich allerdings auch noch andres, nämlich drei Männer: Albern, Träge und Eigendünkel, nicht weit ab vom Weg, den ich kam, schlafend, und sie lagen da mit Fesseln an den Füßen. Aber meinst du wohl, daß ich sie hätte wirklich aufwecken können? Ich sah auch, wie Werkheilig und Heuchler über die Mauer hereinstiegen, um, wie sie vorgaben, nach Zion zu gehen. Sie hatten sich aber beide bald verirrt, wie ich es ihnen vorher sagte. Sie hatten es aber nicht glauben wollen. Über dies alles war es keine geringe Anstrengung, diesen Berg zu ersteigen, und ebenso gefahrvoll, an den Löwen vorüberzukommen. Und fürwahr, wäre dieser treue Mann, der Pförtner, der an der Tür steht, nicht gewesen, so weiß ich nicht, ob ich mich nicht am Ende doch noch zur Umkehr entschlossen hätte. Jetzt aber danke ich Gott, daß ich nun soweit bin, und euch danke ich für die freundliche Aufnahme.

Nun hielt es Weisheit für gut, an Christ einige Fragen zur Beantwortung zu richten.

Weisheit. Denkst du nicht noch zuweilen an deine Landsleute, von denen du ausgezogen bist?

Christ. Ja, aber mit großer Scham und Abscheu. Wahrlich, wenn ich nach dem Lande, von welchem ich ausgegangen bin, Verlangen getragen hätte, hätte ich ja Gelegenheit gehabt, wieder umzukehren; aber ich begehre eines bessern, nämlich eines himmlischen Vaterlands (Hebr. 11, 15. 16).

Weisheit. Trägst du aber nicht noch manches von deinem alten Wesen an dir?

Christ. Ja, aber ganz gegen meinen Willen; besonders meine geheimen fleischlichen Gedanken, an denen alle meine Landsleute, so wie ich, sich ergötzten, aber jetzt sind mir alle diese Dinge eine Qual, und wenn ich könnte, wie ich wollte,[S. 72] so würde ich sie ganz und gar aus meinem Herzen verbannen. Aber, wenn ich das Gute tun will, so finde ich, daß mir das Böse anhangt (lies Römer 7, 15-21).

Weisheit. Ist dir’s nicht zuweilen, als wenn die Dinge überwunden wären, die dich zu andern Zeiten in Verwirrung bringen?

Christ. Dies ist nur selten; aber das sind glückselige Stunden, in denen ich dieses erfahre.

Weisheit. Erinnerst du dich wohl, wodurch dir bisweilen deine Anfechtungen als überwunden erscheinen?

Christ. Ja, nämlich wenn ich daran gedenke, was ich am Kreuz sah; wenn ich das Kleid betrachte, mit dem der Herr mich beschenkt hat; auch wenn ich in die Schrift blicke, die ich in meinem Busen trage; oder wenn ich an den Ort gedenke, wohin ich wandere: dann ist mir’s, als seien alle Anfechtungen überwunden.

Weisheit. Und warum ist dein Verlangen nach dem Berg Zion so groß?

Christ. Wie kannst du wohl so fragen? O da hoffe ich den zu sehen, der tot am Kreuz hing und nun lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit; da hoffe ich Befreiung von allem dem, was mich jetzt quält und anficht; da ist kein Tod mehr; da werde ich in der lieblichsten, edelsten Gemeinschaft leben. Mich verlangt bei dem Herrn zu sein, den ich liebe, der mich von meiner Last befreit hat; ich bin der Krankheit meines Herzens müde. Ich sehne mich dahin, wo ich nicht mehr sterben werde, wo ich unter denen wandeln darf, die ohne Unterlaß rufen: „Heilig, heilig, heilig ist Gott der Herr!“ (Offenb. 4, 8)

Unter diesem Gespräch hatte sich Liebe Christ genähert und fragte ihn: „Hast du Familie? Bist du verheiratet?“

Christ antwortete: „Ich habe eine Frau und vier Kinder.“

Liebe. Aber warum hast du sie nicht mitgebracht?

„O,“ rief Christ, indem ihm Tränen in die Augen traten, „wie gern hätte ich das getan! Aber sie waren alle sehr gegen meine Reise eingenommen.“

Liebe. Du hättest ihnen doch zureden, hättest ihnen die große Gefahr, wenn sie zurückblieben, zeigen sollen.

Christ. Das tat ich auch; ich erzählte ihnen, wie Gott mir kund getan, daß unsre Stadt zerstört werden soll; aber es war ihnen lächerlich, und sie glaubten mir nicht.

[S. 73]

Liebe. Hast du denn auch zu Gott gerufen, daß Er deine Worte an ihnen segnen wolle?

Christ. Ja, mit heißem Flehen; denn du mußt wissen, daß meine Frau und meine armen Kinder mir sehr teuer waren.

Liebe. Entdecktest du ihnen auch deine Traurigkeit, deine Furcht vor dem Untergang? denn der Untergang eurer Stadt stand dir wohl deutlich genug vor Augen.

Christ. Ja, nur allzu deutlich. Sie sahen mich trostlos weinen und zittern vor den Gerichten, die über unserm Haupt schwebten; aber dies alles bewog sie nicht, mit mir zu fliehen.

Liebe. Aber was hatten sie denn einzuwenden, daß sie nicht mit dir gingen?

Christ. Was soll ich sagen? Meine Frau fürchtete, diese Welt zu verlieren, und meine Kinder waren den törichten Lüsten der Jugend ergeben; so ließen sie sich bald durch dieses, bald durch jenes zurückhalten, und ich mußte allein gehen.

Liebe. Hast du sie etwa durch ein eitles Leben abgeschreckt, deinen Ermahnungen zu folgen?

Christ. Ich kann zwar mein Leben nicht loben, denn ich bin mir manches Fehltritts bewußt. Ich weiß auch, daß ein Mensch durch seinen Wandel leicht niederreißen kann, was er durch heilsame Lehren und ernste Vorstellungen in andern zu ihrem Besten aufzubauen trachtet. Aber das darf ich sagen: ich hütete mich auf das äußerste, irgend etwas Unziemliches zu tun, was sie von dieser Reise hätte abhalten können. Ja, eben deshalb sagten sie, ich sei allzu ängstlich und entsage manchem, worin sie nichts Übles sehen könnten. Wenn sie irgend etwas an mir zurückgeschreckt hat, so war es meine große Furcht, wider Gott zu sündigen oder meinem Nächsten irgendein Unrecht zu tun.

Liebe. Allerdings, so ist es schon von alters her gewesen, denn Kain erwürgte seinen Bruder, weil seine Werke böse waren, und die seines Bruders gerecht (1. Joh. 3, 12); und wenn deine Frau und deine Kinder daran Anstoß genommen haben, so zeigen sie, daß sie sich nicht mit Gott versöhnen lassen wollen, und deine Seele ist rein von ihrem Blut[64].

[S. 74]

Unter solchen Gesprächen war die Zeit des Abendessens herbeigekommen, zu welchem Christ mit viel Liebe eingeladen wurde. Es war eine Tafel mit auserlesenen Gerichten und reinem Wein, darin keine Hefe war[65], und alle Reden, die sie über Tisch führten, handelten von dem Herrn des Berges, nämlich, was Er getan, warum Er solches getan, und zu welchem Zweck Er dies Haus erbaut habe. Aus dem, was sie sagten, konnte ich merken, daß Er ein großer Kriegsheld gewesen und mit dem gestritten und den überwunden, der des Todes Gewalt hatte[66], jedoch nicht ohne eigene große Gefahr. „Darum habe ich Ihn auch,“ sagte Christ, „desto lieber. Denn wie ich’s sagen höre und wohl glaube, so hat Er es getan, indem Er dabei Sein kostbares Blut vergoß. Was aber alle Seine Werke der Gnade mit Herrlichkeit krönte, ist, daß Er solches aus reiner Liebe zu den Menschen tat.“

Überdem waren einige unter den Hausgenossen, die Ihn gesehen und mit Ihm geredet hatten, seit Er am Kreuz gestorben war; und diese hatten es aus Seinem eigenen Mund vernommen, daß Er den armen Pilgern mit solcher Liebe zugetan wäre, wie sie vom Aufgang bis zum Niedergang nicht gefunden werde. Dazu gaben sie auch einen Beweis für das, was sie behaupteten, nämlich, daß Er sich zum Heil der Armen selbst entäußert habe Seiner Herrlichkeit[67], und daß sie Ihn hätten sagen hören, Er wolle nicht allein wohnen auf dem Berg Zion[68]. Ja, sie fügten noch dies bei, daß Er viel Pilger zu Fürsten gemacht, obwohl sie von Natur als Bettler geboren waren und ihr Anfang und Ursprung nur Staub war[69].

Das Gespräch dauerte bis tief in die Nacht, und nachdem sie sich dem Schutze des Herrn befohlen, begaben sie sich zur Ruhe. Den Pilger führten sie in eine geräumige, obere Kammer, deren Fenster sich gegen Sonnenaufgang öffneten. Der Name der Kammer war Friede. Nach sanfter Ruhe erwachte er bei Tagesanbruch und sang:

[S. 75]

Wie wohl ist mir in Jesu Lieb’ und Sorgen!
In Seiner Treu’ gebettet und geborgen
Läßt Er mich durch Vergebung meiner Sünden
Auf Erden schon des Himmels Pforte finden.

Er wollte von dannen ziehen, aber die Freunde baten ihn, zuvor noch die Merkwürdigkeiten ihres Hauses in Augenschein zu nehmen, und führten ihn zuerst in das Archiv, wo sie ihm unter andern Urkunden von höchstem Alter den Stammbaum des Herrn zeigten, woraus zu ersehen war, daß Er der Sohn des Alten der Tage sei, von Ewigkeit geboren[70]. Hier waren auch ausführlich Seine Taten verzeichnet, sowie die Namen vieler Hunderte, die Er in Seinen Dienst genommen, und wie Er sie in Wohnungen versetzt, die weder durch die Länge der Zeit noch durch die Vergänglichkeit der Natur zerstört werden können[71].

Auch einige der denkwürdigen Taten lasen sie ihm vor, die etliche von Seinen Dienern vollbracht hatten, wie sie Königreiche bezwungen, Gerechtigkeit gewirkt, Verheißungen erlangt, der Löwen Rachen verstopft, des Feuers Kraft ausgelöscht, des Schwertes Schärfe entronnen, kräftig geworden aus der Schwachheit, stark geworden im Streit und der Fremden Heere daniedergelegt (Hebr. 11, 33. 34).

In andern Urkunden des Hauses zeigten sie ihm, wie geneigt der Herr sei, jeden in Seine Gnade aufzunehmen, wenn er auch früher Ihn und Seine Sache auf das ärgste beschimpft hätte. Viele andre Dinge lernte hier Christ noch kennen: Altes und Neues, aus der Vergangenheit und Gegenwart, Drohungen und Verheißungen, die ihre gewisse Erfüllung haben, die einen zum Schrecken und Entsetzen der Feinde, die andern zum Trost und zur Erquickung der Pilger.

Am folgenden Tag führten sie ihn in die Rüstkammer und zeigten ihm alle Arten von Waffen, die der Herr für die Pilgrime bereitet hatte, wie Schwerter, Schilde, Helme, Brustharnische und Beinschienen, die nicht veralten; und dies alles in solcher Menge, daß man damit so viel Menschen zum Dienst des Herrn hätte ausrüsten können, als Sterne am Himmel sind (lies Eph. 6, 10-18).

[S. 76]

Sie zeigten ihm auch einige Werkzeuge, damit etliche Seiner Knechte wunderbare Dinge ausgerichtet hatten, so den Stab Moses; den Hammer und Nagel, womit Jael den Sisera erschlug; die Krüge, Posaunen und Fackeln, damit Gideon und seine Schar die Midianiter in die Flucht jagte. Sie zeigten ihm Samgars Ochsenstecken, mit welchem er sechshundert Philister schlug, wie auch den Eselskinnbacken, womit Simson eine so mächtige Tat verrichtete; ihm ward auch die Schleuder und der Stein gezeigt, womit David den Riesen Goliath getötet, desgleichen das Schwert, damit der Herr dermaleinst den Menschen der Sünde töten wird an dem Tag, an welchem Er sich zur Beute aufmachen wird. Noch manche andre herrliche Dinge durfte er sehen, über welche alle Christ sich hoch erfreute. Nachdem dies geschehen, begaben sie sich wieder zur Ruhe.

Ich sah dann in meinem Traum, daß er des Morgens sich anschickte, weiterzureisen. Sie aber baten ihn, noch bis zum folgenden Tag zu bleiben. „Denn dann,“ sagten sie, „wollen wir dir, wenn es nur helles Wetter ist, die lieblichen Berge zeigen, was noch viel zu deiner Stärkung auf der Pilgrimschaft beitragen wird, weil sie dem ersehnten Hafen noch näher liegen als der Ort, wo du jetzt weilst.“ Er willigte ein und blieb.

Am andern Morgen führten sie ihn auf die Zinne des Hauses und hießen ihn gegen Süden ausschauen. Er tat also und siehe, in weiter Ferne erblickte er eine äußerst liebliche Gebirgsgegend, geschmückt mit Wäldern, Weinbergen, den anmutigsten Baum- und Blumengärten, Bächen und Springbrunnen — ein herrliches Bild[72].

Christ fragte nach dem Namen des Landes. „Dies ist,“ sagten sie, „Immanuels Land, welches ebenso, wie dieser Berg, allen Pilgrimen gemeinschaftlich gehört und für sie bestimmt ist, und wenn du dahin kommst, wirst du von dort schon das Tor der himmlischen Stadt sehen, wie es dir auch die Hirten, die dort leben, weisen werden.“

Nun war die Stunde des Abschieds gekommen; doch ehe sie den Pilger entließen, gingen sie noch mit ihm in die Rüstkammer. Als er nun dahin kam, ward er von Kopf bis[S. 77] zu Fuß ausgerüstet mit erprobten Waffen für die Kämpfe, die er auf dem Weg zu bestehen haben würde.

In voller Rüstung trat er nun mit seinen Freunden aus dem Haus. Bei der Pforte fragte er den Pförtner, ob er keinen Pilger habe vorübergehen sehen.

Er antwortete: „Ja.“

„Kanntest du ihn nicht?“ fragte Christ.

Er sprach: „Ich fragte nach seinem Namen, und er sagte mir, er heiße Getreu.“

„O,“ rief Christ aus mit freudigem Erstaunen, „den kenne ich; das ist mein Landsmann, mein nächster Nachbar gewesen; er kommt aus der Stadt Verderben. Wie weit mag er wohl schon voraus sein?“

„Er wird jetzt unten am Berg angekommen sein,“ erwiderte der Pförtner.

„Der Herr sei mit dir, lieber Freund!“ sprach Christ zu dem Pförtner, „und segne dich reichlich für all das Gute, das du mir erwiesen hast!“

Er wollte nun Abschied nehmen, aber Bescheidenheit, Gottesfurcht, Liebe und Weisheit wollten ihm bis hinunter an den Fuß des Berges das Geleit geben. So gingen sie miteinander fort, indem sie ihre früheren Gespräche wieder aufnahmen, bis sie dahin kamen, wo der Berg steil abfällt.

Da sagte Christ: „So beschwerlich es war, diesen Berg zu ersteigen, so gefährlich scheint es mir, wieder hinabzukommen.“

„Ja,“ sprach hierauf Weisheit, „es fällt dem Menschen schwer, in das Tal der Demut hinabzugehen, wie du jetzt tust, ohne bisweilen anzustoßen oder zu straucheln, darum haben wir dich bis hinunter begleiten wollen.“

Christ ging sehr vorsichtig, aber dennoch glitt er ein- oder zweimal aus.

Als sie am Fuß des Berges angekommen waren, beschenkten ihn die treuen Freunde mit Brot und Wein und getrockneten Trauben und ließen ihn dann seines Weges gehen.

Steil und dornig ist der Pfad, der uns zur Vollendung leitet;
Selig ist, wer ihn betrat und zur Ehre Jesu streitet;
Selig, wer den Lauf vollbringt und nicht kraftlos niedersinkt!
[S. 78]
Überschwenglich ist der Lohn der bis in den Tod Getreuen,
Die der Lust der Welt entflohn, ihrem Heiland ganz sich weihen,
Deren Hoffnung unverrückt nach der Siegeskrone blickt.
Den am Kreuz wir bluten sahn, der hat uns den Lohn errungen
Und zu Seines Himmels Höhn sich vom Staub emporgeschwungen.
Sieger in der Todesnacht, sprach Er selbst: „Es ist vollbracht!“
Auf denn, Mitgenossen, geht mutig durch die kurze Wüste!
Seht auf Jesus, wacht und fleht, daß Gott selbst zum Kampf uns rüste;
Der im Schwachen mächtig ist, gibt uns Sieg durch Jesus Christ!

Fußnoten:

[59] Sie werden weder hungern noch dürsten, sie wird keine Hitze noch Sonne stechen; denn ihr Erbarmer wird sie führen und wird sie an die Wasserquellen leiten (Jes. 49, 10).

[60] Der Gottlosen Weg ist wie Dunkel; sie wissen nicht, wo sie fallen werden (Spr. 4, 19).

[61] Ich habe wider dich, daß du die erste Liebe verlässest. Gedenke, wovon du gefallen bist und tue Buße! So du nicht wirst wachen, werde Ich über dich kommen wie ein Dieb, und wirst nicht wissen, welche Stunde Ich über dich kommen werde (Offenb. 2, 4. 5; 3, 3).

[62] Lasset uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasset uns wachen und nüchtern sein. Denn die da schlafen, die schlafen des Nachts; wir aber, die wir des Tages sind, sollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung zur Seligkeit (1. Thess. 5, 6-8).

[63] Wie seid ihr so furchtsam? Wie, daß ihr keinen Glauben habt? (Mark. 4, 40.)

[64] Wo du den Gottlosen warnst und er sich nicht bekehrt von seinem gottlosen Wesen und Weg so wird er um seiner Sünde willen sterben; aber du hast deine Seele errettet (Hes. 3, 19).

[65] Der Herr Zebaoth wird auf diesem Berg ein fettes Mahl machen, ein Mahl von reinem Wein, von Fett, von Mark, von Wein, darin keine Hefe ist (Jes. 25, 6).

[66] Christus hat durch den Tod die Macht genommen dem, der des Todes Gewalt hatte, das ist dem Teufel, und erlöste die, so durch Furcht des Todes im ganzen Leben Knechte sein mußten (Hebr. 2, 14. 15).

[67] Ihr wisset die Gnade unsers Herrn Jesus Christus, daß, ob Er wohl reich ist, ward Er doch arm um euretwillen, auf daß ihr durch Seine Armut reich würdet (2. Kor. 8, 9) und: Er entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an; Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tod am Kreuz (Phil. 2, 7. 8).

[68] Wo Ich bin, da soll Mein Diener auch sein (Joh. 12, 26).

[69] Er hebt auf den Dürftigen aus dem Staub und erhöht den Armen aus dem Kot, daß Er ihn setze unter die Fürsten und den Stuhl der Ehre erben lasse (1. Sam. 2, 8).

[70] Jesus Christus ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor allen Kreaturen (Kol. 1, 15), welche Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist (Micha 5, 1).

[71] In Meines Vaters Hause sind viele Wohnungen, und Ich will wiederkommen und euch zu Mir nehmen, auf daß ihr seid, wo Ich bin (Joh. 14, 2. 3).

[72] Der Gerechte wird in der Höhe wohnen, und Felsen werden seine Feste und Schutz sein. Sein Brot wird ihm gegeben, sein Wasser hat er gewiß (Jes. 33, 16).

Schlussvignette, Kapitel I, 3

[S. 79]

Kopfstück, Kapitel I, 4

Viertes Kapitel.
Das Tal der Demut und der Todesschatten.

W

Wie ich in meinem Traum sah, wanderte nun Christ durch das Tal der Demut. Er hatte erst eine kleine Strecke des Weges zurückgelegt, als er den Engel des Abgrunds, der Apollyon heißt (Offenb. 9, 11), durch das Feld auf ihn zukommen sah. Christ geriet hierüber in sehr große Angst. Sollte er zurückfliehen oder standhalten? So bange es ihm war, so erkannte er es doch für das beste, sein Heil im Kampf und nicht in der Flucht zu suchen, da sein Rücken, unbeschirmt, wie er war, leicht mit den feurigen Pfeilen dieses Bösewichtes durchbohrt werden konnte. Er entschloß sich, es mit ihm zu wagen und das Feld zu behaupten. „Denn,“ sagte er zu sich selbst, „hätte ich auch weiter nichts als meines Lebens Rettung im Auge, so würde es doch das beste sein, nicht zu fliehen.“

So ging er denn voran, und Apollyon kam auf ihn zu. Er war ein Ungeheuer, schauerlich anzusehen. Er war mit Schuppen bedeckt gleich einem Fisch — und das ist sein Stolz —, er hatte Flügel wie ein Drache, Füße wie ein Bär; aus seinem Bauch kam Feuer und Rauch, und sein Maul war gleich eines Löwen Rachen. Er sah Christ an mit einem Blick von Grausamkeit und Verachtung und begann also ihn auszufragen:

„Wo kommst du her, und wo willst du hin?“

Christ sprach: „Ich komme von der Stadt Verderben, von dem Ort alles Übels, und wandere nach der Stadt Zion.“

[S. 80]

Apollyon. Also bist du mein Untertan; denn dies ganze Land ist mein; ich bin sein Fürst und Gott. Warum entläufst du so deinem König? Hoffte ich nicht, daß du mir noch nützlich sein könntest, mit einem Schlag schmetterte ich dich zu Boden!

Christ. Ich bin allerdings in deinem Reich geboren, aber dein Dienst war hart, und von deinem Sold konnte man nicht leben; denn der Tod ist der Sünde Sold (Röm. 6, 23). Deswegen, da ich zu reiferen Jahren kam, wünschte ich sehnlichst eine Veränderung.

Apollyon. Kein Fürst oder Herr läßt seine Untertanen so leichthin gehen, und auch ich werde, daß du es nur eben weißt, dich nicht so leichten Kaufes preisgeben. Daß du dich über den Dienst und Sold beklagst, so sei nur zufrieden und kehre wieder mit mir um, denn was unser Land darbietet, das sollst du haben!

Christ. Ich habe mich schon einem andern Herrn, nämlich dem König aller Könige, zugesagt; wie kann ich mich nun als ehrlicher Mann so leicht wieder zu dir kehren?

Apollyon. Du wirst erfahren, was man im Sprichwort sagt: du wirst vom Regen in die Traufe kommen; denn es ist an der Tagesordnung, daß die, so sich als Seine Diener ausgeben, Ihm nach kurzer Zeit wieder entlaufen und zu mir zurückkehren[73]. Tue du auch also, und alles wird noch gut werden.

Christ. Ich habe Ihm mein Wort gegeben, ich habe Ihm den Eid der Treue geschworen, verließe ich Ihn nun, so verdiente ich ja als ein Abtrünniger, als ein Verräter den Tod.

Apollyon. Ganz dasselbe hast du mir getan, und doch will ich alles übersehen, wenn du jetzt wieder zurückkehrst.

Christ. Was ich dir zugesagt habe, das habe ich als ein Unmündiger getan; auch kann mein Herr, unter dessen Fahne ich nun stehe, mich dieses Versprechens entbinden, sowie Er mir alles vergeben kann, was ich als dein Knecht getan habe. Aber ich sage dir’s offen, du Verderber Apollyon, Sein Dienst, Sein Sold, Seine Diener, Seine Herrschaft, Sein Volk und Sein Land, das alles ist mir viel lieber, als was du mir bietest. Darum laß ab von mir! Es bleibt dabei: Ich bin Sein Diener, und Ihm will ich folgen.

Apollyon kam auf ihn zu, ein Ungeheuer, schauerlich anzusehen (S. 79.).

[S. 82]

Apollyon. Aber bedenke nur einmal bei kaltem Blut, was dir auf dem Wege noch alles begegnen kann. Es wird dir nicht unbekannt sein, daß Seine Diener meist ein schlimmes Ende nehmen, weil sie wider mich handeln und meine Wege verlassen[74]. Wie viele von ihnen sind schon eines schmählichen Todes gestorben! Du hältst es für besser, Ihm zu dienen als mir, und siehe, Er hat noch niemals Seine Stadt verlassen, um einen einzigen Seiner Diener aus meinen Händen zu erretten. Aber alle Welt weiß es, wie oft ich schon meine treuen Diener durch List oder Gewalt aus Seiner Hand befreit habe, und so will ich auch dich freimachen.

Christ. Wenn Er mit Seiner Hilfe eine Weile verzieht, tut Er es nur in der Absicht, die Liebe und Treue der Seinen zu prüfen. Was du ein schlimmes Ende nennst, das halten sie für eine besondere Gnade ihres Herrn; denn nach gegenwärtiger Erlösung verlangen sie nicht so sehr, sie warten einer himmlischen Verklärung, wenn der Herr kommen wird in Seiner Herrlichkeit und alle heiligen Engel mit Ihm[75].

Apollyon. Du bist Ihm ja in Seinem Dienst schon untreu gewesen, wie magst du nur auf Belohnung hoffen?

Christ. Worin, Apollyon, bin ich Ihm untreu gewesen?

Apollyon. Schon am Anfang deiner Reise bist du mutlos geworden und im Sumpf der Verzagtheit beinahe versunken. Du hast verkehrte Wege betreten, um deiner Bürde entledigt zu werden, da du doch ruhig die Hilfe deines Fürsten hättest erwarten sollen. Du bist in einen Sündenschlaf verfallen und hast das Köstlichste verloren, das du besaßest; du warest im Begriff umzukehren, da du die Löwen erblicktest; erzählst du von deiner Reise und all deinen Erfahrungen, so strebst du innerlich nur nach dem Lob der Menschen.

Christ. Dies alles ist wahr, und noch viel mehr, was dir entgangen ist; aber der König, den ich ehre und dem ich diene, ist gnädig, und es ist viel Vergebung bei Ihm. Überdies haben mich all diese Gebrechen schon in deinem Lande beherrscht, wo ich sie eingesogen habe; ich habe unter dieser Last geseufzt und geweint, und mein Herr hat mir Vergebung und Frieden geschenkt.

„Ich bin ein Feind dieses Königs,“ schrie der Satansengel[S. 83] in grimmiger Wut, „ich hasse Ihn, Seine Gesetze und Sein Volk; ich bin gekommen, mit dir zu kämpfen!“

Christ sagte: „Hüte dich, Apollyon, und siehe wohl zu, was du tust, denn ich bin auf des Königs Heerstraße und auf dem Weg der Heiligung, darum laß ab von mir!“

Da stellte sich Apollyon quer über den ganzen Weg und sagte: „Ich habe nicht die geringste Furcht. Bereite dich zum Tode! denn ich schwöre es beim Abgrund der Hölle: Du sollst nicht weiterkommen, hier sollst du dein Leben enden!“ Und sogleich schoß er ihm einen feurigen Pfeil nach der Brust; aber Christ hielt ihm den Schild entgegen und entging der Gefahr. Rasch zog er nun das Schwert zum Kampf, während der Feind auf ihn eindrang und ihn mit Pfeilen, wie mit einem Hagelwetter, überschüttete. Christ kämpfte tapfer, bis er, an Haupt, Hand und Fuß verwundet, endlich zurückweichen mußte.

Apollyon setzte den Kampf desto heftiger fort, doch faßte auch Christ wieder Mut und widerstand ihm mannhaft. Stundenlang dauerte dieser heiße Kampf, und durch die erhaltenen Wunden schon sehr geschwächt, war Christ schließlich fast ganz erschöpft. Der Feind, diesen Vorteil wahrnehmend, drang auf ihn ein, begann mit ihm zu ringen und warf ihn mit furchtbarer Gewalt auf die Erde nieder, wobei ihm das Schwert aus der Hand fiel. Siegesgewiß sprach Apollyon: „Jetzt bekomme ich dich sicher!“ indem er ihn beinahe erdrückte, so daß Christ an seinem Leben verzagte. Aber bevor der Satansengel zu seinem letzten Schlag ausholen konnte, um mit seinem Opfer ein Ende zu machen, wurde Christ von Gott gestärkt, daß er seine Hand schnell nach dem Schwert ausstrecken und es ergreifen konnte. Triumphierend rief er aus: „Freue dich nicht, mein Feind, daß ich daniederliege; ich werde wieder aufkommen!“ (Micha 7, 8) — und in demselben Augenblick gab er ihm einen Stoß, worauf der Feind, wie zum Tode verwundet, zurückwich. Als Christ dies sah, rief er ihm nochmals zu: „In dem allem überwinden wir weit um deswillen, der uns geliebt hat“ (Röm. 8, 37). Alsbald breitete Apollyon seine Drachenflügel aus und floh davon, und Christ sah ihn nicht wieder[76].

[S. 84]

Wer es nicht selbst wie ich mit angesehen und angehört, kann sich nicht vorstellen, welch ein gellendes Geheul und erschreckendes Gebrüll Apollyon während des Kampfes erhob — gleich einem Drachen schrie er; während Christ aus dem Innersten seines Herzens tiefes Seufzen und Klagen vernehmen ließ. Erst als er gewahr wurde, daß er mit seinem zweischneidigen Schwert Apollyon verwundet habe, blickte er fröhlich zum Himmel auf. Das war aber auch der furchtbarste Kampf, den ich je gesehen.

Nachdem nun alles überstanden war, sprach Christ: „Ich will dem Herrn danken, der mich erlöst hat von des Löwen Rachen, der mir Kraft gegeben, gegen den Verderber zu streiten.“ Er erhob deshalb seine Stimme und fing an zu singen:

„Der alte Fürst des Abgrunds, zornentbrannt,
Hat seinen Engel wider mich gesandt;
Mit Höllenkräften furchtbar angetan,
Flog er einher, verrannte mir die Bahn.
Ich war verloren! Herr, wer ist wie Du?
Du hörtest mein Gebet, Du kamst herzu.
Du gabst das gute Schwert mir in die Hand,
Dir sei der Ruhm! Du hast mein Leid gewandt!“

Von unsichtbarer Hand wurden ihm nun Blätter gereicht vom Baum des Lebens, welche er auf seine im Kampf erhaltenen Wunden legte; und alsbald war er geheilt. Er ruhte ein wenig und erquickte sich an den Gaben, die er kurz vor dem Kampf erhalten hatte: an Brot und Wein. Neugestärkt ging er dann mit gezücktem Schwert weiter, denn er erwartete jeden Augenblick einen neuen Angriff. Jedoch er kam ohne weitern Kampf durch das Tal.

An dessen Ende schloß sich noch ein andres an, das Tal der Todesschatten, und Christ mußte notwendig auch hindurchgehen, zumal der Weg zur himmlischen Stadt mitten durch dasselbe führte. Dies Tal ist einer Einöde gleich. Der Prophet Jeremia beschreibt es also: „Es ist eine Wüste, ein wildes, ungebahntes Land, dürr und finster, da niemand wandelt noch ein Mensch wohnt“ (Jer. 2, 6). Wie wir sehen werden, hatte Christ allhier noch einen schwereren Stand als im Kampf mit Apollyon.

Am Eingang dieses Tales nun begegneten ihm zwei Männer, die aufs eiligste zurückflohen. Sie stammten von[S. 85] jenen Männern ab, die einstmals dem Gelobten Land ein böses Geschrei machten (lies 4. Mose 13).

„Wohin so eilig?“ redete Christ sie an.

„Zurück, zurück!“ riefen sie, „wenn dir dein Leben lieb ist, so komm mit uns!“

Christ fragte: „Weshalb? Was gibt’s denn?“

Sie antworteten: „Du fragst noch? Wir gingen denselben Weg wie du, so weit als wir nur wagen durften. Aber es fehlte nicht viel, so hätte es kein Umkehren mehr gegeben. Nur noch ein wenig weiter und wir wären verloren gewesen und hätten dir diese Nachricht nicht überbringen können.“

„Aber was ist euch denn begegnet?“ fragte Christ.

„Wir waren schon beinahe im Tal der Todesschatten,“ sagten sie, „aber zum Glück sahen wir vor uns hin und entdeckten die Gefahr.“

Christ fragte: „Was habt ihr denn da gesehen?“

Sie sprachen: „O das Tal selbst ist schwarz wie die Nacht; Gespenster, Feldteufel und Drachen des Abgrunds schwärmen da herum; man hört ein beständiges Geschrei und Geheul wie von vielen Tausenden, die in Ketten und Banden liegen[77]; finstere Wetterwolken verbergen den Himmel, und ohne Unterlaß breitet der Tod seine Fittiche darüber aus. Kurz, es ist ein wahrer Schreckensort, in dem alles wüst durcheinanderliegt[78].“

„Durch all das, was ihr da sagt,“ versetzte Christ, „wird es mir zur Gewißheit, daß dies eben der Weg ist, der zum Lande des Friedens führt[79].“

„Nun, mag es auch der deine sein, unser Weg ist es nicht!“ Mit diesen Worten eilten sie zurück, und Christ ging mit gezücktem Schwert voran in der Erwartung eines plötzlichen Angriffs.

Ich sah nun in meinem Traum, daß sich zur rechten Seite des Tales ein tiefer Abgrund entlangzog, derselbe, in welchen zu allen Zeiten ein Blinder den andern gestürzt hat und beide elend umgekommen sind. Links aber war ein gefährlicher[S. 86] Pfuhl voller Schlamm und Morast, in welchem selbst ein guter Mensch, wenn er hineinfällt, keinen Grund finden kann. Das ist der, darein König David versank, und er würde ohne Zweifel darin umgekommen sein, wenn nicht der, der da mächtig ist, ihn herausgezogen hätte[80].

Was Christ besonders ins Gedränge brachte, war, daß der Weg hier so schmal wurde, daß man kaum den Sumpf vermeiden konnte, ohne in den Abgrund zu stürzen, und hinwiederum, wollte er sich vor dem Abgrund hüten, so stand er in Gefahr, in den Schlamm zu geraten; außerdem umgab ihn eine so dichte Finsternis, daß er oft nicht wußte, wohin er seinen Fuß setzen sollte. So ging Christ bekümmert fort, und ich hörte ihn ganz kläglich seufzen.

In der Mitte des Tales öffnete sich der Schlund der Hölle und spie, furchtbar brausend, Feuer und Rauch aus. Was sollte Christ hier beginnen? Das Schwert konnte ihn diesmal nicht retten; er mußte es in die Scheide stecken und eine andre Waffe ergreifen: die Waffe des anhaltenden Gebets[81]. So hörte ich ihn schreien: „O Herr, errette meine Seele!“ (Ps. 116, 4.) So ging er eine große Strecke weiter, während die Feuerflammen ihn umzischten und bald ein herzzerreißendes Klagegeschrei, bald ein entsetzliches Brausen in seine Ohren schallte. Oft meinte er, jetzt solle er in Stücke zerrissen oder wie Kot auf der Gasse zertreten werden.

Plötzlich war es ihm, als ob er von einer ganzen Schar von Feinden verfolgt würde. Da stand er eine Weile still und erwog, was zu tun sei. Sollte er umkehren oder nicht? Aber er bedachte, daß er doch wohl schon die Hälfte dieses furchtbaren Tales zurückgelegt haben müsse, und erinnerte sich daran, wie mancher Gefahr er nun schon siegreich begegnet sei, und, sagte er sich, ist nicht vielleicht der Rückweg noch gefährlicher als der vor mir liegende Teil. — Er beschloß, vorwärts zu gehen. Die Feinde rückten näher und näher heran; sie hatten ihn beinahe erreicht, als er plötzlich mit gewaltiger Stimme ausrief: „Ich gehe einher in der Kraft des Herrn Herrn!“ (Ps. 71, 16) — und die Feinde entflohen für immer.

In dieser ganzen Zeit war Christ so bestürzt, daß er[S. 87] seine eigene Stimme nicht mehr erkannte. Als er am Schlund des feurigen Pfuhles vorüberging, schlich ihm ein Bösewicht nach und raunte ihm abscheuliche Lästerungen ins Ohr. Er hielt dies für die Stimme seines eigenen Herzens, und da er nun den gelästert zu haben meinte, an dem sonst seine ganze Seele hing, so versetzte ihn dies in die tiefste Betrübnis. So gern er diese Lästerstimme zum Schweigen gebracht hätte, so wenig vermochte er es. Aber es fehlte ihm an der rechten Besonnenheit, sich die Ohren zuzuhalten, da er sich des Ursprungs jener Lästerungen nicht bewußt war.

Völlig trostlos war er eine beträchtliche Strecke gegangen, als er auf einmal eine menschliche Stimme vor ihm die Worte sagen hörte: „Ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn Du bist bei mir“ (Ps. 23, 4). Darüber ward er sehr froh, und zwar aus folgenden Gründen:

1. weil er daraus schließen konnte, daß auch noch andre, die den Herrn fürchteten, ebensowohl wie er in diesem Tal wären;

2. weil er um so mehr erkennen konnte, daß Gott mit ihnen sei auch in dieser Finsternis, in diesem Elend. „Warum,“ sagte er sich, „sollte Er nicht gleichfalls mit mir sein, ob ich es wohl nicht spüre[82]?“

3. weil er nun hoffen durfte, bald einen Gefährten zu finden, sobald er ihn nur eingeholt haben werde.

So ging er denn weiter und rief dem Wanderer nach, der vor ihm ging. Der wußte aber nicht, was er antworten sollte, da er sich gleichfalls einsam glaubte. Allmählich brach der Tag an, und Christ lobte den Herrn: „Er hat aus der Finsternis den Morgen gemacht!“ (Amos 5, 8.)

Als es nun völlig Tag geworden war, konnte er sich nicht enthalten, sich doch einmal nach den Gefahren umzusehen, durch die er in der Finsternis gegangen war. Jetzt erkannte er erst die Tiefe des Abgrunds auf der einen und den bodenlosen Sumpf auf der andern Seite. Er sah nun auch, welch ein schmaler Pfad zwischen beiden hindurchführte. In weiter Ferne erblickte er noch die Kobolde, Feldteufel und Drachen des Abgrunds; denn bei des Tages Anbruch kamen sie nicht in seine Nähe, allein sie wurden ihm doch offenbar,[S. 88] wie geschrieben steht: „Er öffnet die finstern Gründe und bringt heraus das Dunkel an das Licht“ (Hiob 12, 22).

Mit tiefer innerer Bewegung sah er sich aus den Gefahren dieses schauerlichen Weges, denen er ausgesetzt war, errettet. Nun ging auch die Sonne auf — eine neue große Gnade für Christ! Denn war der erste Teil des Tales schon gefahrvoll gewesen, so war der zweite womöglich noch gefährlicher. Von hier bis zum Ende des Tales waren den Pilgern so viele Fallstricke, Netze und Schlingen gelegt, es waren so viele tiefe Löcher, Gruben und schlüpfrige Stellen auf dem Weg, daß es unmöglich gewesen wäre, im Finstern durchzukommen, und hätte er tausend Leben gehabt, er hätte sie alle verloren. Aber nun ging die Sonne auf, und Christ rief frohlockend: „Seine Leuchte scheint über meinem Haupt, und bei Seinem Lichte gehe ich in der Finsternis“ (Hiob 29, 3).

In diesem Lichte erreichte er das Ende des Tales. Da lagen Gebeine, Asche und verstümmelte Menschenleiber — alles von Pilgern, die in frühern Zeiten den gleichen Weg gezogen waren. Während ich darüber nachsann, was doch dies bedeuten möchte, bemerkte ich unweit davon eine Höhle, in der früher ein gewaltiger Riese, namens Heide[83], und jetzt ein andrer Riese, Papst mit Namen, hauste, welche durch ihre Gewalt und Tyrannei die Pilger grausam getötet hatten, wovon noch deren Blut, Gebeine und Asche zeugten.

Zu meinem Erstaunen kam Christ jedoch ohne große Gefahr dort glücklich vorbei; denn Heide war ja schon seit langem tot, und obwohl der andre noch am Leben war, so war er wegen seines hohen Alters und der mancherlei heftigen Anfälle, die er in den jüngern Jahren erlitten, so siech und schwach geworden, daß er jetzt kaum etwas andres zu tun vermochte, als am Eingang seiner Höhle zu sitzen und hinter den vorüberziehenden Pilgern zähneknirschend und Verwünschungen murmelnd die Faust zu schütteln, aus Ärger, weil er nicht mehr fortkommen konnte.

Christ ging also unbehelligt seinen Weg, wußte aber nicht, was er von dem alten Mann, der da in der Höhle saß, denken sollte, und zwar um so weniger, als er ihm zurief: „Ihr werdet nicht eher klug werden, bevor eurer noch viel mehr verbrannt werden.“ Christ aber schwieg still,[S. 89] schaute ihn beherzt an und ging, ohne daß ihm etwas widerfuhr, an ihm vorbei, indem er sang:

„Rüstet euch, ihr Christenleute!
Die Feinde suchen euch zur Beute,
Ja, Satan selbst hat eu’r begehrt.
Wappnet euch mit Gottes Worte
Und kämpfet frisch an jedem Orte,
Damit ihr bleibet unversehrt.
Ist auch der Feind gar schnell,
Hier ist Immanuel.
Hosianna!
Der Starke fällt
Durch diesen Held,
Und wir behalten mit das Feld.“

Fußnoten:

[73] Es sind schon etliche umgewandt dem Satan nach (1. Tim. 5, 15).

[74] Fürchte dich vor der keinem, das du leiden wirst! Siehe, der Teufel wird etliche von euch ins Gefängnis werfen, auf daß ihr versucht werdet, und werdet Trübsal haben (Offenb. 2, 10).

[75] Wenn aber Christus, euer Leben, sich offenbaren wird, dann werdet ihr auch offenbar werden mit Ihm in der Herrlichkeit (Kol. 3, 4).

[76] Widerstehet dem Teufel, so flieht er von euch (Jak. 4, 7).

[77] Die da sitzen mußten in Finsternis und Dunkel, gefangen im Zwang und Eisen, darum daß sie Gottes Geboten ungehorsam gewesen waren und das Gesetz des Höchsten geschändet hatten (Ps. 107, 10. 11).

[78] Es ist ein Land, da es stockfinster ist und da keine Ordnung ist, und wenn’s hell wird, so ist es wie Finsternis (Hiob 10, 22).

[79] Wir sind nicht von denen, die da weichen und verdammt werden, sondern von denen, die da glauben und die Seele erretten (Hebr. 10, 39).

[80] Ich versinke in tiefem Schlamm, da kein Grund ist; errette mich aus dem Kot, daß ich nicht versinke und das Loch der Grube nicht über mir zusammengehe (Ps. 69, 3. 15. 16).

[81] Betet stets in allem Anliegen mit Bitten und Flehen im Geist und wachet dazu mit allem Anhalten und Flehen! (Eph. 6, 18.)

[82] Es hoffen auf Dich, die Deinen Namen kennen; denn Du verlässest nicht, die Dich, Herr, suchen (Ps. 9, 11).

[83] Das römische Heidentum mit seinen Christenverfolgungen.

Schlussvignette, Kapitel I, 4

[S. 90]

Kopfstück, Kapitel I, 5

Fünftes Kapitel.
Ein treuer Gefährte und ein frömmelnder Schwätzer.

D

Der Weg führte nun Christ über eine kleine Anhöhe, die zu dem Zweck aufgeworfen war, damit die Pilger von hier aus den Weg vor sich übersehen konnten. Als er daselbst Umschau hielt, erblickte er Getreu in einiger Entfernung seines Weges wandeln. Mit lauter Stimme rief er ihm nach, er möge ein wenig warten. Getreu wandte sich um nach ihm, und Christ rief abermals, so laut er konnte: „Warte, warte doch, bis ich zu dir komme!“

„Nein,“ antwortete Getreu, „es gilt mein Leben, der Bluträcher ist hinter mir!“

Das spornte Christ um so mehr an, alle seine Kräfte anzustrengen, und es gelang ihm, Getreu einzuholen, ja ihm zuvorzukommen. So war der Letzte zum Ersten geworden, und er konnte ein selbstgefälliges Lächeln nicht verbergen, daß er seinem Bruder den Vorrang abgewonnen hatte. Aber unerwartet strauchelte er, fiel zur Erde nieder und mußte warten, bis Getreu ihm wieder aufhalf, worauf sie in brüderlicher Eintracht weiterzogen und sich von dem unterhielten, was ihnen auf ihrer Reise begegnet war. Christ fing also an:

„Mein herzlich geliebter Bruder Getreu, ich bin sehr glücklich darüber, daß ich dich eingeholt habe und daß Gott unsre Herzen so gleichgesinnt hat, daß wir als Gefährten diesen lieblichen Pfad miteinander wandeln können.“

[S. 91]

Getreu. Ich hatte gehofft, mein teurer Freund, ich würde schon von unsrer Stadt aus deine Gesellschaft haben; aber du warst mir in kurzer Zeit weit vorgekommen, und ich mußte diesen bangen Weg ganz allein gehen.

Christ. Wie lange bist du nach meiner Abreise noch in der Stadt Verderben geblieben?

Getreu. Bis ich nicht länger bleiben konnte; denn man hörte von nichts anderm mehr, als daß unsre Stadt in kurzer Frist mit Feuer vom Himmel vertilgt werden sollte.

Christ. Davon redet man?

Getreu. Ja, es war eine lange Zeit in jedermanns Mund.

Christ. Und doch entfloh niemand als du der Gefahr?

Getreu. Obschon, wie gesagt, ein großes Gerede davon war, mochten die meisten doch nicht recht daran glauben; denn ich hörte manche von dir und deiner verzweifelten Reise, wie sie deine Pilgerschaft nannten, sehr verächtlich reden. Aber ich glaubte es und glaube es auch noch, daß der Untergang unsrer Stadt durch Feuer und Schwefel vom Himmel erfolgen wird, und darum habe ich die Flucht ergriffen.

Christ. Hast du auch etwas von unserm Nachbar Willig gehört?

Getreu. Ja, er sei bis an den Sumpf der Verzagtheit mit dir gegangen. Man sagte, er sei auch hineingefallen, und obwohl er es leugnen wollte, glaube ich es doch, weil er von dem Schlamm noch ganz überzogen war.

Christ. Was sagten die Nachbarn zu ihm?

Getreu. Er ist seit seiner Rückkehr allen zum Gespött geworden und kann kaum noch Arbeit finden. Es steht jetzt siebenmal schlimmer um ihn, als wenn er nie aus der Stadt gegangen wäre.

Christ. Aber warum sind sie so sehr wider ihn, da ja auch sie den Weg verlästern, den er verlassen hat?

Getreu. O, sie sagen: „An den Galgen mit ihm; er ist ein Abtrünniger, er ist seinem Bekenntnis nicht treu geblieben!“ Und ich meine, Gott hat wohl selbst seine Feinde gegen ihn erweckt und ihn zum Sprichwort gemacht, weil er den Weg verlassen hat[84].

[S. 92]

Christ. Hast du nie mit ihm gesprochen, ehe du weggingst?

Getreu. Ich bin ihm einmal auf der Straße begegnet; aber er sah, als schämte er sich vor mir, nach der entgegengesetzten Seite, und ich konnte ihn nicht sprechen.

Christ. Ich hatte anfangs gute Hoffnung für diesen Mann; aber nun fürchte ich, daß er bei dem Untergang der Stadt mit umkommen wird, denn es ist ihm widerfahren das wahre Sprichwort: „Der Hund frißt wieder, was er gespien hat, und die Sau wälzt sich nach der Schwemme wieder im Kot“ (2. Petr. 2, 22).

Getreu. Das fürchte ich auch, aber wer kann es hindern?

Christ. Lassen wir ihn, lieber Getreu! Sprechen wir nun lieber von dem, was uns selbst näher angeht. Erzähle mir doch, was dir auf dem Weg begegnet ist; denn ich bin überzeugt, daß dir mancherlei widerfahren, wo nicht, wär’s ein Wunder.

Getreu. An dem Sumpf der Verzagtheit kam ich glücklich vorüber, in welchen du, wie ich merkte, gefallen bist, und erreichte wohlbehalten die Pforte; nur begegnete mir eine Person, namens Wollust, durch die ich in nicht geringe Gefahr geriet.

Christ. Es war gut, daß du ihr entflohst. Auch Joseph wurde hart von ihr bedrängt, und er entfloh ihr wie du[85], aber fast hätte es ihn das Leben gekostet. Was hat sie dir getan?

Getreu. Du kannst dir kaum einen Begriff davon machen, außer du habest es selber erfahren, welch eine schmeichlerische Zunge sie hat. Sie drang sehr in mich, mit ihr zu gehen, und versprach mir alle möglichen Freuden.

Christ. Ja, aber sicherlich nicht die Freude eines guten Gewissens.

Getreu. Du weißt wohl, was ich meine, lauter sinnliche und fleischliche Freuden.

Christ. Gott sei Dank, daß du ihr entgangen bist! „Ihr Mund ist eine tiefe Grube; wem der Herr ungnädig ist, der fällt hinein“ (Spr. 22, 14).

[S. 93]

Getreu. Jawohl, aber ich weiß noch nicht, ob ich ihr ganz entronnen bin.

Christ. Wie? Ich denke doch, daß du in ihr Begehren nicht gewilligt hast.

Getreu. Nein, nicht daß ich mich befleckt hätte! Denn ich erinnerte mich eines alten Spruches, den ich einstmals gelesen, welcher also lautet: „Ihre Füße laufen zum Tod hinunter; ihre Gänge führen ins Grab“ (Spr. 5, 5). Darum schloß ich meine Augen, um nicht von ihrem Blick bezaubert zu werden. Darüber spottete sie, und ich ging meines Weges.

Christ. Hast du weiter keine Gefahr bestanden?

Getreu. Am Fuß des Berges der Beschwerde redete mich ein sehr bejahrter Mann an und fragte, wer ich sei und wohin ich wandere. Ich sagte, ich sei ein Pilger und reise nach der himmlischen Stadt. „Du scheinst mir ein ehrlicher Mann zu sein,“ sprach er, „willst du nicht bei mir wohnen? Ich würde dir einen guten Lohn geben.“ Ich fragte ihn nach seinem Namen und seinem Wohnort. „Ich heiße Alter Mensch,“ sagte er, „und wohne in der Stadt Betrug.“ Ich fragte ihn nach seinem Geschäft und nach dem Lohn, den er geben wolle. „Mein Geschäft,“ erwiderte er, „sind allerlei Ergötzungen, der Lohn ist dieser, daß du mich einmal beerben sollst.“ Weiter fragte ich ihn nach seinem Hauswesen und nach seinen Dienstboten. Sein Haus, antwortete er, werde erhalten durch all die Kostbarkeiten der Welt, und seine Dienerschaft bestehe aus seinen eigenen Kindern. „Wie viele Kinder hast du denn?“ fragte ich ihn. „Ich habe nur drei Töchter,“ antwortete er, „sie heißen: Fleischeslust, Augenlust und Hoffärtiges Leben (1. Joh. 2, 16), und wenn du willst, kann ich dir eine von ihnen zur Frau geben.“ Ich fragte ihn endlich: „Wie lange soll ich bei dir wohnen?“ Er erwiderte, solange er selbst lebe.

Christ. Und wie bist du zuletzt von ihm losgekommen?

Getreu. Anfangs war ich ziemlich geneigt, mit ihm zu gehen, denn sein Vorschlag schien mir ganz annehmbar. Indem ich aber so mit ihm redete, sah ich auf seine Stirn, und da stand geschrieben: „Ziehet den alten Menschen mit seinen Werken aus!“ (Kol. 3, 9)

Christ. Und wie geschah dir dann?

Getreu. Wie Feuer drangen mir diese Worte in das[S. 94] Herz, und ich wußte nun: was er auch sagen, wie er auch schmeicheln mochte, er würde mich, wenn ich mit ihm ginge, als Sklaven verkaufen. Deshalb sagte ich ihm, er möge seine Worte nur sparen, denn ich sei nicht willens, auch nur die Schwelle seines Hauses zu betreten. Darauf verhöhnte er mich und drohte, mir jemand nachzuschicken, der mir den Weg sauer machen solle. Da ich mich umwandte, ihn zu verlassen, fiel er mit mörderischer Gewalt über mich her, als wollte er mich gar zerreißen. Wie ich seinen Händen entronnen bin, weiß ich nicht. Ich hatte etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt, als ich sah, daß mir jemand mit Windeseile nachgelaufen kam. Gerade bei der Laube holte er mich ein.

Christ. Ach, das war eben der Ort, wo ich vom Schlaf überfallen ward und das Zeugnis aus meinem Busen verlor.

Getreu. Aber, lieber Bruder, laß mich noch ausreden! Sobald der Mann mich eingeholt hatte, schlug er mich zu Boden, daß ich wie tot dalag. Doch, als ich wieder ein wenig zu mir selber kam, fragte ich ihn, warum er so mit mir umginge. „Fluchwürdiger Sünder,“ so rief er mit Donnerstimme, „immer noch steigen arge Gedanken aus deinem Herzen auf, immer noch liebst du die Lust dieser Welt. Du bist ein Kind des Todes!“ — „Ich elender Mensch!“ rief ich laut in der Angst meines Herzens, „wer wird mich erlösen von dem Leib dieses Todes? (Röm. 7, 24.) O laß Gnade für Recht ergehen!“ — „Ich weiß nichts von Gnade,“ erwiderte er und hätte mich ohne Zweifel umgebracht, wäre nicht jemand gekommen, der ihm gebot, von mir abzulassen.

Christ. Wer war denn das?

Getreu. Ich kannte Ihn anfangs nicht. Aber da Er an mir vorüberging, erblickte ich Wundenmale an Seinen Händen und in Seiner Seite, woraus ich schloß, daß es unser Herr gewesen, und also stieg ich den Hügel hinan.

Christ. Der dich einholte, war Mose, der Mann des Gesetzes. Er schont keines Menschen und weiß nichts von Gnade gegen diejenigen, die das Gesetz übertreten.

Getreu. Ich weiß es wohl, ich habe ihn schon mehr als einmal gesehen. Er war es, der zu mir kam, als ich noch sorglos in meinem Haus wohnte, und sagte, er wollte mir das Haus über dem Kopf niederbrennen, wenn ich noch länger säumte.

[S. 95]

Christ. Aber sahst du das Haus auf der Spitze des Berges nicht, an dessen Seite dir Mose begegnete?

Getreu. Ja, ich sah auch zwei schlafende Löwen davor. Da aber die Sonne noch hoch stand, ging ich bei dem Pförtner vorüber und den Berg hinunter.

Christ. Das hat mir der Pförtner wohl gesagt, daß er dich habe vorbeigehen sehen; aber du hättest ein wenig da verweilen sollen, denn man sieht dort seltene, unvergeßliche Dinge. Aber bist du niemand begegnet im Tal der Demut?

Getreu. Ja, ich traf einen gewissen Unzufrieden, der mich wieder gern mit zurückgenommen hätte. „In diesem ganzen Tal,“ sagte er, „findest du keine Ehre, ja, wenn du töricht genug bist, durch dieses Tal zu gehen, so beleidigst du alle deine Freunde: Stolz, Übermut, Eigendünkel, Menschenruhm; denn ich kenne sie wohl.“

Christ. Und was gabst du ihm zur Antwort?

Getreu. „Diese alle haben wohl Anspruch auf Verwandtschaft mit mir,“ sagte ich, „denn sie waren auch in der Tat meine Verwandten nach dem Fleisch; aber seit ich ein Pilgrim geworden bin, haben sie mich verleugnet, und ich habe sie aufgegeben. Überdies hast du dieses Tal völlig falsch dargestellt; denn Demut kommt vor der Ehre, und Hochmut kommt vor dem Fall (Spr. 16, 18). Deshalb will ich lieber durch dieses Tal zu der Ehre gelangen, welche von den weisesten Leuten für Ehre gehalten wird, als das zu erwählen, was du am meisten wert erachtest.“

Christ. Trafst du sonst niemand in diesem Tal?

Getreu. Ja, einen namens Scham; aber niemand trägt seinen Namen weniger mit Recht als er. Denn alle andern, die ich auf meiner Pilgerschaft getroffen, ließen sich doch endlich von mir abweisen; aber mit diesem frechen Scham konnte man wirklich zu keinem Ende kommen.

Christ. Wieso? Was sagte er denn zu dir?

Getreu. Ja, der wollte von Religion überhaupt nichts wissen. „Es ist,“ sagte er, „für einen Mann durchaus eine entehrende Sache, sich um das Christentum zu kümmern; ein zartes Gewissen ist etwas Unmännliches; wer über alle seine Worte und Werke wachen und seine edle Freiheit verleugnen wollte, würde sich zum Spott und Gelächter der Welt machen.“ „Von jeher,“ sagte er, „sind nicht viel Mächtige, nicht viel[S. 96] Reiche oder Weise diesen Weg gegangen[86], welcher vernünftige Mensch möchte denn auch alles an eine ungewisse Zukunft setzen[87]! Die Pilgrime sind jederzeit die geringsten, unwissendsten und verachtetsten Leute gewesen.“ In dieser Weise ließ er sich noch über vieles andere gegen mich aus, was ich nicht alles wiederholen mag. Unter anderm sagte er noch: „Schämen sollte man sich, unter einer Predigt zu weinen und dann seufzend und schluchzend nach Hause zu kommen; den Nachbar um eines kleinen Fehlers willen um Verzeihung zu bitten und das wiederzuerstatten, was man ihm entwendet.“ Er sagte auch: „Durch das Christentum wird man der vornehmen Welt und ihren höhern Genüssen — wie er deren Laster nannte — entfremdet, indem man mit geringen Leuten Brüderschaft macht — und das ist doch fürwahr eine Schande.“

Christ. Nun, was antwortetest du hierauf?

Getreu. Anfangs wußte ich nicht, was ich sagen sollte. Ja, er setzte mir so zu, daß mir das Blut ins Gesicht stieg, und er hätte mich beinahe überwunden. Endlich gedachte ich des Spruches: „Was hoch ist unter den Menschen, das ist ein Greuel vor Gott“ (Luk. 16, 15). Scham aber, so sagte ich mir, redet nur von Menschen und nicht von Gott und Gottes Wort, und am Jüngsten Tag wird das Urteil zum Leben oder zum Tod sich nicht nach den stolzen Geistern der Welt richten, sondern nach der Weisheit und dem Gesetz des Höchsten. Was Gott für gut erklärt, dachte ich, das ist gut und wenn alle Welt dawider wäre. Indem ich nun wohl erkannte, daß Gottesfurcht und ein zartes Gewissen der Herr liebt, daß die, welche in den Augen der Welt für Narren gelten, die Weisesten sind im Reich Gottes, und daß der Arme, der Christus liebt, reicher als der angesehenste Mann ist, der Ihn haßt, so rief ich in der Kraft des Herrn: „Scham, weiche von mir, du Feind meiner Seligkeit! Sollte ich dir nachgeben gegen den Willen des Herrn! Wie dürfte ich Ihm bei Seiner Wiederkunft ins Angesicht schauen[88]? Wollte ich mich jetzt der Wege des Herrn und Seiner Diener schämen,[S. 97] wie könnte ich dann auf den verheißenen Segen hoffen?“ — Aber dieser Scham war in der Tat ein widerwärtiger Geselle; nur mit großer Mühe konnte ich mich von ihm losmachen; immer wieder aufs neue drängte er sich heran, um mir etwas Nachteiliges gegen die Bekenner des Evangeliums ins Ohr zu flüstern, bis ich ihm endlich offen erklärte, daß alle seine Mühe vergeblich sei, denn was ihm so schlecht scheine, darin sehe ich die größte Herrlichkeit. Da ich mich dieses zudringlichen Gefährten entledigt sah, fing ich zu singen an:

Mitten in die Welt voll Streit ist der Christ gestellet,
Feindesmacht von jeder Seit’ sucht, wie sie ihn fället.
Doch es gilt ein Wörtlein hier auch dem schwächsten Kinde,
Schreib es tief ins Herze dir: Überwinde!
Überwinde, wenn die Lust kommt zu deinem Herzen!
O man siegt nicht unbewußt, kämpfen ist nicht scherzen.
Groß ist deiner Feinde Zahl, und sie nahn geschwinde;
Wär’s des Tags zehntausendmal: Überwinde!

Christ. Es freut mich, lieber Bruder, daß du diesem Taugenichts so männlich Widerstand getan, denn er trägt, wie du sagst, seinen Namen ganz mit Unrecht. Er heißt Scham und ist doch so unverschämt, daß er uns auf der Straße nachläuft und uns vor den Leuten zu beschämen sucht, indem er das Wahre und Gute in den Kot zieht. Wäre er also nicht unverschämt, müßte er sich solches Tuns enthalten. Aber laß uns ihm nur kräftig widerstehen, denn trotz all seiner Prahlerei wird er sich doch nur bei Toren Gehör verschaffen können. „Die Weisen,“ sagt Salomo, „werden Ehre erben; aber wenn die Narren hoch kommen, werden sie doch zuschanden“ (Spr. 3, 35).

Getreu. Ich denke, wir müssen wider diesen Scham den um Beistand anrufen, welcher will, daß wir auf Erden mutig für die Wahrheit kämpfen.

Christ. Du hast recht. Aber sage mir noch: Ist dir in jenem Tal sonst nichts zugestoßen?

Getreu. Nein, ich hatte den ganzen übrigen Weg Sonnenschein; so auch im Tal der Todesschatten.

Christ. Wohl dir! Mir ist es ganz anders ergangen. Ich hatte schon beim Eintritt in das Tal einen langen, furchtbaren Kampf mit Apollyon zu bestehen. Schon verzagte ich an meinem Leben, da er mich zu Boden schmetterte und mir das Schwert aus der Hand flog. Apollyon triumphierte.[S. 98] Aber ich rief an den Herrn, und Er erhörte mich und half mir aus aller meiner Not. Im Tal der Todesschatten hatte ich fast den halben Weg kein Licht. Da dachte ich oftmals, ich werde umkommen; aber zuletzt brach der Tag an, die Sonne ging auf, und ich konnte das Ende des Tales ohne große Gefahr erreichen.

Ich sah nun in meinem Traum, daß Getreu, als er seitwärts blickte, einen Mann namens Schwätzer gewahr wurde, der in einiger Entfernung neben ihnen herging (denn die Straße war hier breit). Es war ein großer Mann, dessen Gestalt aber würdiger in der Ferne als in der Nähe erschien. Getreu redete ihn also an:

„Wohin, Freund? Gehst du auch nach der himmlischen Stadt?“

Schwätzer. Ja, dahin geht auch mein Weg.

Getreu. Schön, ich hoffe, du wirst uns gute Gesellschaft leisten.

Schwätzer. Sehr gern will ich mit euch wandern.

Getreu. So komm denn und laß uns heilsame Gespräche führen!

Schwätzer. Mit euch von heilsamen Dingen zu reden, das tue ich sehr gerne wie mit jedem andern, und ich bin froh, mit jemand zusammengetroffen zu sein, der also gesinnt ist. Denn ich muß sagen, es gibt nur wenige, die ihre Zeit auf Reisen so wohl anwenden. Die meisten wollen nur von unnützen Dingen reden, und das ist mir immer sehr lästig gewesen.

Getreu. Das ist allerdings betrübend. Denn wo gibt es einen edlern Gegenstand des Gesprächs als Gott und göttliche Dinge?

Schwätzer. Äußerst treffend, und — ich setze hinzu — was ist so angenehm, so heilsam als dies? Besonders für einen Menschen, der an wunderbaren Dingen seine Freude hat. Redet jemand gern von der Geschichte oder von den geheimen Kräften der Natur oder von Wundern und Zeichen, wo soll er solches wohl so nett aufgezeichnet, so lieblich und schön beschrieben finden als in der Heiligen Schrift?

Getreu. Das ist wahr. Aber der Zweck unsers Gesprächs muß sein, dadurch erbaut und gebessert zu werden.

Schwätzer. Das ist es ja, was ich sage. Es ist sehr fruchtbringend, von diesen Dingen zu reden, denn so lernt[S. 99] man vieles kennen wie zum Beispiel die Eitelkeit der irdischen und den Vorzug der himmlischen Güter. Dies nur im allgemeinen; im besondern lernt man dadurch die Notwendigkeit der neuen Geburt, die Unzulänglichkeit unsrer Werke, wie nötig uns die Gerechtigkeit Christi ist usw. Außerdem kann man durch Gespräche lernen, was Buße sei, was Glaube, Gebet, Geduld und dergleichen. Dadurch kann man auch die großen Verheißungen und Tröstungen des Evangeliums kennenlernen; ferner, wie man falsche Meinungen widerlegt, die Wahrheit verficht und die Unwissenden unterrichtet.

Getreu. Dies ist alles wahr, und ich freue mich, es von dir zu hören.

Schwätzer. Ach, der Mangel hieran ist ja eben die Ursache, daß so wenige verstehen, wie notwendig der Glaube und das Werk der Gnade in der Seele des Menschen zum ewigen Leben sei und daß so viele in ihrer Unwissenheit in den Werken des Gesetzes leben, durch welche ein Mensch das Himmelreich durchaus nicht erlangen kann.

Getreu. Aber, erlaube mir, himmlische Erkenntnis dieser Dinge ist eine Gabe Gottes, die niemand durch menschliche Bemühung, noch weniger durch bloße Gespräche erlangt.

Schwätzer. Das weiß ich recht gut. Denn es kann kein Mensch etwas nehmen, es werde ihm denn von oben gegeben (Joh. 3, 27). Es ist alles aus Gnaden, nicht aus den Werken. Das könnte ich dir wohl mit hundert Stellen aus der Schrift beweisen.

Getreu. Gut, aber was ist es nun, wovon wir reden wollen?

Schwätzer. Was du nun willst: Ich will dir von himmlischen oder irdischen Dingen sagen, von Sittenlehre oder Evangelium, von geistlichen oder weltlichen Dingen, aus der Vergangenheit oder Zukunft, von fremden Ländern oder von unserm Vaterland, von wesentlichen oder unwesentlichen Dingen — doch so, daß alles zu unserm Nutzen gereiche.

Hierüber verwunderte Getreu sich höchlich; er trat zu Christ, der die ganze Zeit allein gegangen war, und sagte leise zu ihm: „Welch einen wackern Gefährten haben wir bekommen! Wahrlich, das ist ein ausgezeichneter Pilgrim!“

Christ erwiderte lächelnd: „Dieser Mann, von dem du so eingenommen bist, wird mit seiner gewandten Zunge noch viele, die ihn nicht kennen, hinter das Licht führen.“

[S. 100]

„Kennst du ihn denn?“ fragte Getreu.

„Ob ich ihn kenne? Ja, besser, als er sich selbst kennt,“ antwortete Christ.

Getreu. So sage mir, was ist es für ein Mann?

Christ. Er heißt Schwätzer. Ich wundere mich, daß du ihn nicht kennst, er wohnt ja in unsrer Stadt, die allerdings von großem Umfang ist.

Getreu. Wessen Sohn ist er denn, und wo wohnt er?

Christ. Er ist der Sohn eines gewissen Redselig. Er wohnt in der Schwatzgasse und ist allgemein bekannt unter dem Namen Schwätzer in der Schwatzgasse, und trotz seiner gewandten Zunge ist er doch ein erbärmlicher Mensch.

Getreu. Ei, mir scheint er doch ein sehr angenehmer Mann zu sein.

Christ. So scheint er allen, die ihn nicht kennen. Unter den Leuten gibt er sich gar fromm, aber zu Hause ist er ein gehässiger, widerwärtiger Mensch. Er ist wie die Bilder, die sich von fern hübsch ausnehmen, in der Nähe aber mißfallen.

Getreu. Du scherzest wohl nur, denn du hast vorhin gelächelt.

Christ. Das sei ferne, daß ich bei so etwas scherzen oder gar jemand fälschlich beschuldigen sollte! Ich will dir aber noch mehr von ihm sagen. Dies ist ein Mann für jede Gesellschaft und für jedes Gespräch. So wie er jetzt mit dir redet, so wird er auch reden, wenn er in der Bierstube sitzt, und je mehr es ihm in den Kopf steigt, desto besser fließt seine Rede. Das Christentum hat keinen Raum in seinem Herzen noch in seinem Hause noch in seinem Wandel; alles, was er davon besitzt, liegt ihm auf der Zunge, und seine Frömmigkeit besteht in nichts anderm, als daß er davon schwatzt.

Getreu. Wenn dem so ist, dann habe ich mich in diesem Mann sehr getäuscht.

Christ. Gewiß. Erinnere dich nur der Sprüche: „Sie sagen’s wohl und tun’s nicht“ (Matth. 23, 3) und: „Das Reich Gottes steht nicht in Worten, sondern in Kraft“ (1. Kor. 4, 20). Er spricht wohl vom Gebet, von Buße und Glauben und von der neuen Geburt; aber er versteht nichts weiter, als davon zu sprechen, denn in seinem Herzen hat er nichts davon erfahren. Ich habe ihn zu Hause sowie draußen[S. 101] beobachtet; und ich weiß, daß es wahr ist, was ich von ihm sage. Wahre Gottesfurcht ist in seinem Hause nicht zu finden, weder Gebet noch Bußfertigkeit über die Sünde. Er gilt bei allen, die ihn kennen, als eine Schmach und ein Schandfleck des Christentums, das um seinetwillen in jenem ganzen Teil der Stadt, wo er wohnt, verlästert wird. Das Volk sagt von ihm: „Ein Teufel im Hause und ein Heiliger draußen.“ Seine arme Familie muß das in reichem Maß erfahren. Er ist ein harter Geizhals; er schilt mit dem Gesinde und ist so unvernünftig in seinen Forderungen, daß man ihm nichts recht machen kann. „Mit einem Türken,“ sagt man, „kann man eher zusammen leben als mit ihm.“ Diesem Schwätzer soll es auch nicht darauf ankommen, seinen Nächsten zu überlisten, zu betrügen und zu übervorteilen. Um in einer Sache zu seinem Ziel zu kommen, da ist ihm kein Mittel zu schlecht. Seine Söhne hat er so erzogen, daß sie jetzt schon in seinen Fußtapfen wandeln, und wenn er bei einem von ihnen eine närrische Schüchternheit findet — so nennt er das erste Erwachen des Gewissens —, so heißt er ihn einen Narren und Dummkopf und läßt ihn eine Zeitlang seine Verachtung fühlen. Kurz, nach meinen Beobachtungen hat er durch seinen gottlosen Lebenswandel viel Ärgernis hervorgerufen und manchen dadurch zu Fall gebracht, und ich befürchte, er wird noch vielen, wenn Gott es nicht verhütet, zum Verderben gereichen.

Getreu. Deinen Worten, lieber Bruder, muß ich wohl Glauben schenken, nicht allein, weil du als Augenzeuge sprichst, sondern auch, weil du von diesem Menschen nur, wie einem Christen geziemt, urteilst; nicht in böser Absicht, sondern um der Wahrheit willen.

Christ. Hätte ich ihn nicht besser gekannt als du, so würde ich vielleicht anfangs wie du von ihm geredet haben. Ja, hätte ich dies Urteil über ihn aus dem Munde von Feinden des Evangeliums, so hätte ich dasselbe für eine Verleumdung gehalten — denn solches mußten ja die Frommen zu aller Zeit über sich ergehen lassen —; aber nein, aller dieser Dinge und noch vieler andrer, um die ich genau weiß, kann ich ihn überführen. Über dies alles sind die Frommen mit ihm übel daran und schämen sich seiner. Sie können ihn weder Bruder noch Freund heißen. Wenn sie seinen Namen nur nennen hören, werden sie schamrot.

[S. 102]

Getreu. Ich sehe wohl, daß Reden und Tun zweierlei ist, und ich will es künftig besser unterscheiden.

Christ. Gewiß ist dies zweierlei, so verschieden auch Seele und Leib voneinander sind. Denn gleichwie der Leib ohne die Seele nur ein toter Körper ist, so gibt auch dem Reden allein das Tun die Kraft und das Wesen. Die Seele des Christentums offenbart sich in der Ausübung desselben. „Ein reiner und unbefleckter Gottesdienst vor Gott, dem Vater, ist der: die Waisen und Witwen in ihrer Trübsal besuchen und sich von der Welt unbefleckt erhalten“ (Jak. 1, 27). Darauf achtet Schwätzer nicht; hören und reden, meint er, macht einen guten Christen, und so betrügt er seine eigene Seele. Das Hören gleicht dem ausgestreuten Samen, und über religiöse Dinge reden können, ist kein Beweis dafür, daß in Wahrheit Früchte im Herzen und im Leben sind[89]. Laß es uns tief zu Herzen nehmen, daß die Menschen am Tag der Rechenschaft nach ihren Werken gerichtet werden. Es wird nicht gefragt werden: „Was habt ihr geglaubt? Was habt ihr geredet?“ sondern: „Seid ihr Täter des Wortes gewesen?“ Und danach wird das Urteil gefällt. Das Ende der Welt wird mit einer Ernte verglichen, und du weißt, daß man in der Ernte nichts andres als Früchte erwartet[90]. Nicht als könnte Gott etwas wohlgefallen, was nicht aus dem Glauben kommt; ich will nur zeigen, wie völlig bedeutungslos das Bekenntnis eines Schwätzers an jenem Tag sein wird.

Getreu. Das erinnert mich daran, was Mose von den reinen und unreinen Tieren sagt: „Alles, was die Klauen spaltet und wiederkäut unter den Tieren, das sollt ihr essen. Was aber wiederkäut und hat Klauen und spaltet sie doch nicht, das ist euch unrein, und ihr sollt’s nicht essen“ (3. Mos. 11, 3. 4; 5. Mos. 14, 6 ff.). Der Hase käut wieder, ist aber gleichwohl unrein, denn er spaltet die Klauen nicht — ein treffendes Abbild eines Schwätzers. Er käut wieder, d. h. er sammelt sich einige Kenntnisse auf religiösem Gebiet, um sie in seinen Reden wiederzugeben; aber er spaltet die Klauen nicht: er scheidet sich nicht von dem Weg der Sünder, sondern[S. 103] er bleibt unrein wie der Hase, dessen Fuß dem eines Hundes oder Bären gleicht.

Christ. Du hast meines Erachtens das rechte evangelische Verständnis von diesem Text. Laß mich noch etwas hinzufügen. Paulus nennt einen solchen Menschen ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle (1. Kor. 13, 1), das sind, wie er es an einem andern Ort erklärt (1. Kor. 14, 7), Dinge, die einen Laut von sich geben und doch nicht leben; das will sagen: ein solcher Mensch ist ohne wahren Glauben, ohne die Gnade des Evangeliums; er wird deshalb auch nicht in das Himmelreich unter die Kinder des Lebens aufgenommen, und wenn er gleich mit Engelzungen redete.

Getreu. So gern ich anfangs mit ihm sprach, so müde bin ich jetzt seiner geworden. Wie kommen wir von ihm los?

Christ. Tue, was ich dir jetzt sage, und du wirst sehen, daß er deine Gesellschaft bald satt hat, es sei denn, Gott rühre sein Herz und wandle es um.

Getreu. Nun, was soll ich denn tun?

Christ. Gehe zu ihm und fang ein ernstes Gespräch mit ihm an über die Kraft der Gottseligkeit und frage ihn geradezu, wenn er eingewilligt hat — und das wird er ohne weiteres tun — ob sich die Gottseligkeit auch in seinem Herzen, in seinem Hause und in seinem Wandel finde.

Getreu wendete sich nun wieder an den Schwätzer und sprach zu ihm: „Nun, wie geht es dir?“

Schwätzer. Ich danke, recht wohl. Wir hätten in dieser Zeit ein langes Gespräch führen können.

Getreu. Willst du, so können wir jetzt ein Gespräch beginnen, und wenn ich den Gegenstand vorschlagen darf, so möchte ich die Frage aufwerfen: Wie offenbart sich das Werk der seligmachenden Gnade Gottes im Herzen der Menschen?

Schwätzer. Wir haben also, wie ich sehe, von der Kraft einer Sache zu reden. Gewiß, eine sehr gute Frage, die ich gern beantworten will. Ich will die Sache kurz so fassen: Erstens, wo die Gnade Gottes im Herzen ist, da erhebt sich ein großes Geschrei gegen die Sünde. Zweitens —

Getreu. Ich bitte, laß uns eins nach dem andern erwägen. Es scheint mir richtiger, wenn man sagt: Da erhebt sich in der Seele ein großer Abscheu vor der Sünde.

[S. 104]

Schwätzer. Ei, was ist denn für ein Unterschied zwischen einem großen Geschrei gegen die Sünde und einem großen Abscheu davor?

Getreu. O ein sehr großer! Es kann ein Mensch wohl aus bloßer Weltklugheit gegen die Sünde viel Redens machen; verabscheuen aber kann er sie nur durch die Kraft der göttlichen Gnade. Ich habe gar manchen schon von der Kanzel herab gegen die Sünde schreien hören, die er aber nichtsdestoweniger in seinem Herzen, in seinem Hause und in seinem Wandel sehr wohl duldete. Josephs Gebieterin schrie mit lauter Stimme, als wäre sie sehr heilig; und doch war sie eine Ehebrecherin. Manche schreien wider die Sünde, wie eine Mutter, die ihr Kind auf dem Schoß wegen seiner Unart schilt und es dann sogleich wieder herzt und küßt.

Schwätzer. Du liegst auf der Lauer, das merke ich wohl.

Getreu. O nein, ich will nur die Sachen ins rechte Licht stellen. Was aber war die zweite Äußerung der Gnade, von der du reden wolltest?

Schwätzer. Große Erkenntnis der Geheimnisse des Evangeliums.

Getreu. Dieses Kennzeichen hättest du zuerst nennen sollen, aber auch dann wäre es falsch gewesen; denn Erkenntnis, ja große Erkenntnis in den Geheimnissen des Evangeliums kann man erlangen, ohne daß deshalb ein Werk der Gnade in der Seele sein müßte. Ja, man kann alle Erkenntnis haben und doch nichts sein und mithin auch kein Kind Gottes (1. Kor. 13, 2). Als Christus Seine Jünger gefragt hatte: „Habt ihr dies verstanden?“ und sie antworteten: „Ja,“ da fügte Er hinzu: „So ihr solches wisset, selig seid ihr, so ihr’s tut“ (Joh. 13, 12. 17). Er legt den Segen nicht auf das Wissen, sondern auf das Tun. Es gibt eine Erkenntnis, die nicht von der Tat begleitet wird; es gibt Knechte, die ihres Herrn Willen wissen und nicht danach tun (Luk. 12, 47). Es mag einer Erkenntnis haben wie ein Engel, ohne doch deshalb ein Christ zu sein. Darum ist dein Kennzeichen falsch. Das Wissen gefällt Schwätzern und Prahlern; das Tun gefällt Gott. Nicht als könnte ein Herz ohne die Gnade gut sein, ohne die es immer verfinstert bleibt; aber es gibt eben zweierlei Erkenntnis. Es gibt eine Erkenntnis, die in bloßer äußerer Betrachtung besteht, und eine Erkenntnis, die von Gnade, Glaube und Liebe begleitet[S. 105] ist, wodurch der Mensch getrieben wird, den Willen Gottes von Herzen zu tun. Die erste genügt dem Schwätzer, der wahre Christ gibt sich ohne die andre nicht zufrieden. Seine Bitte ist: „Unterweise mich, daß ich bewahre Dein Gesetz und halte es von ganzem Herzen!“ (Ps. 11, 34.)

Schwätzer. Du liegst schon wieder auf der Lauer, das dient nicht zur Erbauung.

Getreu. So gib ein andres Kennzeichen der Gnade an!

Schwätzer. Nein, ich sehe, wir stimmen doch nicht miteinander überein.

Getreu. Gut, so will ich ein Zeichen angeben.

Schwätzer. Das steht dir frei.

Getreu. Das Werk der Gnade im Herzen offenbart sich dem, der es an sich selbst erfährt, und denen, die um ihn sind. Wer es an sich selbst erfährt, dem offenbart es sich so: Er kommt dadurch zur Erkenntnis der Sünde, besonders der Unreinheit seines ganzen Wesens[91]; er erkennt die Sünde des Unglaubens[92], die ihn allein schon verdammen müßte[93], wenn er nicht Gnade bei Gott findet durch den Glauben an Jesus Christus. Diese Überzeugung und dieses Gefühl erweckt in ihm Traurigkeit und Scham über die Sünde. Aber nun wird der Seligmacher der Welt seiner Seele geoffenbart[94], sowie die Notwendigkeit einer Vereinigung mit Ihm für das ganze Leben[95]; es regt sich ein Hungern und Dürsten nach Ihm, das eine große Verheißung hat[96]. So stark nun sein Glaube an seinen Heiland ist, so stark ist seine Freude, sein Friede, seine Liebe zur Heiligung, so stark das Verlangen, Ihn noch mehr kennenzulernen und Ihm zu dienen in dieser Welt. Aber dennoch ist der Mensch selten fähig, das Werk der Gnade in sich selbst zu erkennen, teils wegen der noch anklebenden Sünde, teils weil die Augen des Gemüts noch nicht das rechte Licht haben. Deswegen wird bei dem, der solches Werk in sich hat, ein sehr gesundes Urteil erfordert, ehe er fest und sicher schließen kann, daß dies ein Werk der Gnade ist.

[S. 106]

Bei andern offenbart es sich zuerst durch ein solches Bekenntnis des Glaubens an Christus, dem man es ansieht, daß es aus eigener Erfahrung kommt; dann durch ein Leben, das dem Bekenntnis gemäß ist, nämlich durch einen heiligen Wandel in der Welt, der sich als Frucht seines geheiligten Herzens ebenso in seinem Hause wie auch überhaupt im Umgang mit andern Menschen erweist, so daß man die Sünde und sich selbst um der Sünde willen im Herzen verabscheut, sie in seiner Familie unterdrückt und Gerechtigkeit in der Welt zu fördern sucht, und zwar nicht durch bloßes Sprechen, wie ein Heuchler und Schwätzer tut, sondern indem man im Glauben und in der Liebe sich der Herrschaft des göttlichen Wortes willig unterwirft[97]. Hast du etwas zu dieser kurzen Beschreibung des Gnadenwerks und seiner Offenbarung einzuwenden, so sage es; wo nicht, so erlaube mir eine zweite Frage.

Schwätzer. Meine Sache ist jetzt nicht, zu tadeln, sondern zu hören; ich erwarte deine zweite Frage.

Getreu. Hast du das, was in dem ersten Teil beschrieben wurde, an dir selbst erfahren, und gibt dein Wandel Zeugnis davon? Oder steht dein Christentum nur in Worten und auf der Zunge und nicht in der Tat und in der Wahrheit? Willst du mir darauf antworten, so sage nicht mehr — ich bitte dich —, als wozu Gott im Himmel amen sagen und was dein Gewissen rechtfertigen kann. „Denn darum ist einer nicht tüchtig, daß er sich selbst lobt, sondern daß ihn der Herr lobt“ (2. Kor. 10, 18). Dazu ist es eine große Gottlosigkeit, dich für einen Christen auszugeben, wenn dein Leben und alle deine Nachbarn dich Lügen strafen.

Bei dieser Frage errötete der Schwätzer; er faßte sich aber wieder und sagte: Du kommst jetzt auf Erfahrung, auf Gewissen und auf Gott selbst; ich muß dir gestehen: diese Wendung des Gesprächs ist mir unerwartet; du willst mich wie ein Kind ausfragen, aber ich fühle mich durchaus nicht aufgelegt, auf solche Fragen zu antworten, und ich kann dich nicht als meinen Richter anerkennen. Aber sage mir doch, wie kommst du dazu, solche Fragen an mich zu richten?

Getreu. Weil ich sehe, daß du nichts hast als einiges Wissen. Aber ich will die volle Wahrheit sagen: ich habe[S. 107] gehört, daß dein ganzes Christentum im Schwatzen besteht und daß dein ganzer Wandel das Bekenntnis deines Mundes Lügen straft. Man sagt, daß du ein Schandfleck unter den Christen bist, daß du dem Christentum durch deinen ungöttlichen Wandel schadest, daß du schon manchen durch dein gottloses Wesen verführt hast und ihrer noch mehr in gleicher Gefahr stehen. Dein Christentum vertrage sich auch ganz gut mit Saufgelagen, Geiz, Unzucht, Schwören und Lügen und schlechter Gesellschaft. Das Sprichwort, daß eine Hure aller Frauen Schandfleck ist, paßt auf dich: Du bist ein Schandfleck aller Gläubigen!

Schwätzer. Da du auf Gerüchte merkst und so rasch einen aburteilst, so muß ich dich für einen grämlichen, trübsinnigen Menschen halten, mit dem man nicht reden kann, und darum: Lebe wohl!

„Sagte ich es dir nicht voraus?“ sprach Christ, indem er zu Getreu trat, „deine Worte und seine Gelüste konnten nicht zusammen stimmen. Er hat lieber deine Gesellschaft als sein sündliches Leben verlassen. Laß ihn gehen; den Schaden trägt er selber davon. Er hat es uns erspart, uns von ihm loszusagen, denn bleibt er, wie er jetzt ist, so wäre er nur ein Schandfleck für uns gewesen, und der Apostel sagt: ‚Tue dich von solchen!‘“ (1. Tim. 6, 5)

Getreu. Ich bin doch froh, daß ich dieses Gespräch mit ihm hatte. Ich habe ihm offen und ohne Rückhalt die Wahrheit gesagt, vielleicht denkt er doch einmal daran zurück, wo nicht, so bin ich wenigstens rein von seinem Blut.

Christ. Du hast wohlgetan, daß du so deutlich mit ihm sprachst. Dieser Offenheit bedient man sich in unsern Tagen nur zu selten, und deshalb sind viele Menschen gegen das Christentum so widrig gesinnt. Denn eben diese schwatzhaften Toren, deren Leben von ihrem Bekenntnis so sehr absticht, sind es, welche, in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen, der Welt ein Ärgernis geben, auf das Volk Gottes Schande bringen und die Aufrichtigen betrüben. Möchte nur jeder gegen solche Schwätzer so vorgehen! Entweder sie fingen ein Leben an, wie es sich für Christen ziemt, oder es würde ihnen in der Gemeinschaft der Heiligen der Boden unter den Füßen brennen, daß sie es in deren Mitte nicht mehr länger aushielten.

Hierauf stimmte Getreu ein Lied an und sang:

[S. 108]

Mein Gott, ach lehre mich erkennen
Den Selbstbetrug und Heuchelschein,
Nach Christi Namen mich zu nennen
Und doch nicht Christi Glied zu sein!
Ach, wirk in mir zu Deinem Ruhm,
Mein Gott, das wahre Christentum!
Hilf, daß ich Dir allein ergeben,
Der Sünde abgestorben sei;
Laß mich mir sterben, Dir nur leben,
Und mach in mir, Herr, alles neu!
Ach, wirk in mir zu Deinem Ruhm,
Mein Gott, das wahre Christentum!

Fußnoten:

[84] Also spricht der Herr: Sie sollen zum Fluch, zum Wunder, zum Hohn und zum Spott werden, darum daß sie Meinen Worten nicht gehorchen (Jer. 29, 17-19).

[85] Joseph sprach zu der Versucherin: Wie sollte ich denn ein solch großes Übel tun und wider Gott sündigen? und er gehorchte ihr nicht, sondern floh und lief zum Haus hinaus (1. Mos. 39, 7-12).

[86] Sehet an, liebe Brüder, eure Berufung: nicht viel Weise nach dem Fleisch, nicht viel Gewaltige, nicht viel Edle sind berufen, sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt (1. Kor., 26. 27).

[87] Dieser Welt Weisheit ist Torheit bei Gott (1. Kor. 3, 19).

[88] Wer sich Mein und Meiner Worte schämt unter diesem ehebrecherischen und sündigen Geschlecht, des wird sich auch des Menschen Sohn schämen, wenn Er kommen wird in der Herrlichkeit Seines Vaters mit den heiligen Engeln (Mark. 8, 38).

[89] Das aber in das gute Land gesät ist, das ist, wenn jemand das Wort hört und versteht es und dann auch Frucht bringt (Matth. 13, 23).

[90] Um der Ernte Zeit will Ich zu den Schnittern sagen: Sammelt das Unkraut, daß man es verbrenne; aber den Weizen sammelt Mir in Meine Scheuer. Die Ernte ist das Ende der Welt (Matth. 13, 30. 39).

[91] Ich elender Mensch! wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes? (Röm. 7, 24.)

[92] Er wird die Welt strafen um die Sünde, daß sie nicht glauben an Mich (Joh. 16, 9).

[93] Wer nicht glaubt, der wird verdammt werden (Mark. 16, 16).

[94] Es ist in keinem andern Heil, ist auch kein andrer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, darin wir sollen selig werden (Apostelg. 4, 12).

[95] Ich will Mich mit dir verloben in Ewigkeit (Hos. 2, 21) und: Ich lebe aber; doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir (Gal. 2, 20).

[96] Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden (Matth. 5, 6) und Ich will dem Durstigen geben von dem Brunnen des lebendigen Wassers umsonst (Offenb. 21, 6).

[97] Liebet ihr Mich, so haltet Meine Gebote (Joh. 14, 15).

Schlussvignette, Kapitel I, 5

[S. 109]

Kopfstück, Kapitel I, 6

Sechstes Kapitel.
Der Markt der Eitelkeit und die Treue bis in den Tod.

F

Fröhlich wanderten die Pilger ihres Weges weiter. Sie kamen nun durch eine Wildnis, deren Öde sie jedoch über ihrem brüderlichen Gespräch fast vergaßen. Gegen das Ende dieser wüsten Gegend rief Getreu: „O wer kommt denn dort?“ Christ wandte sich um und sprach: „Das ist ja der Evangelist, mein treuer Freund!“ — „Auch mein lieber Freund,“ versetzte Getreu, „denn er war es, der mich zur engen Pforte hinwies.“ In kurzem hatte sie der Evangelist erreicht und grüßte sie: „Friede sei mit euch, meine Geliebten!“

„Willkommen, willkommen, mein lieber Evangelist!“ rief Christ mit großer Freude. „O wie treu, wie unermüdlich hast du für mein ewiges Wohl gesorgt!“

„Tausendmal willkommen!“ rief Getreu, „wie herrlich ist es für arme Pilgrime, wenn sie mit dir pilgern können, du lieber Evangelist!“

„Wie ist es euch in dieser Zeit ergangen, meine Freunde? Was ist euch alles begegnet, und wie habt ihr euch verhalten?“ fragte der Evangelist.

Sie erzählten ihm alles, was ihnen begegnet war und unter welchen Gefahren sie diese Gegend erreicht hatten.

„Ich freue mich sehr,“ sprach der Evangelist, „nicht daß ihr mit so vielen Versuchungen zu kämpfen hattet, sondern daß ihr als Sieger bestanden seid, und daß ihr, ungeachtet mancher Schwachheit, euren Weg bis auf diesen Tag fortgesetzt habt. Ja, ich freue mich sehr um meinet-, sowie[S. 110] um euretwillen. Ich habe gesät, und ihr habt geschnitten, und es kommt der Tag, daß, wenn anders ihr beharrt bis ans Ende, beide, der da sät und der da schneidet, sich miteinander freuen werden (Joh. 4, 36); denn zu seiner Zeit werdet ihr ernten, so ihr nicht müde werdet (Gal. 6, 9). Die Krone wird euch vorgehalten; die unverwelkliche Krone des Lebens; so laufet nun also, daß ihr sie ergreifet! (1. Kor. 9, 24.) Manche treten in die Laufbahn, und nachdem sie eine Weile gelaufen, kommt ein andrer ihnen zuvor und nimmt ihre Krone hinweg. Haltet darum, was ihr habt, daß niemand eure Krone nehme! (Offenb. 3, 11.) Noch habt ihr den Kampf mit dem Argen nicht ausgekämpft; ihr habt noch nicht bis aufs Blut widerstanden in dem Kämpfen wider die Sünde (Hebr. 12, 4). Laßt das Himmelreich euch immer vor Augen sein und glaubt festiglich an die unsichtbaren Dinge! Laßt nichts von alledem, was von dieser Welt ist, bei euch Eingang finden! Vor allem wachet wohl über euer eigenes Herz und seine Begierden, denn das Herz ist ein trotziges und verzagtes Ding. Macht euer Angesicht wie einen Kieselstein; denn alle Gewalt im Himmel und auf Erden steht euch zur Seite.“

Christ dankte für diese Ermunterung. „Wie würden wir uns freuen,“ sprach er, „wenn du uns auf unserm Weg auch fernerhin behilflich sein würdest und uns zusprächest; und weil du, wie wir wohl wissen, ein Prophet bist, so sage uns doch, was für Gefahren uns noch bevorstehen und wie wir sie überwinden können!“ Getreu stimmte von ganzem diese Bitte ein, und der Evangelist sprach zu ihnen:

„Meine Söhne, ihr wißt aus dem Wort der Wahrheit des Evangeliums, daß ihr durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen müßt (Apostelg. 14, 22) und daß Bande und Trübsal allerorten euer warten (Apostelg. 20, 23). Darum dürft ihr nicht erwarten, daß ihr auf eurem Pilgerweg lang ohne Trübsal irgendeiner Art bleiben werdet. Ihr habt bereits die Wahrheit dieser Zeugnisse erfahren, und es wird sogleich noch mehr folgen. Ihr seid beinahe aus dieser Wildnis heraus und werdet nun in eine Stadt kommen, wo die Feinde euch sehr bedrängen, ja euch nach dem Leben stehen werden, und ohne Zweifel wird wenigstens einer von euch das Bekenntnis dessen, an dem ihr haltet, mit seinem Blut besiegeln;[S. 111] aber seid getreu bis an den Tod, so wird der König euch die Krone des Lebens geben (Offenb. 2, 10). Welcher von euch beiden hier stirbt, wenn auch eines gewaltsamen Todes und vielleicht unter furchtbaren Qualen, dem ist doch das bessere Los zugefallen als seinem Gefährten, denn er darf eher in die himmlische Stadt eingehen und entgeht vielen Gefahren, die dem andern bevorstehen. Wenn ihr nun dermaleinst in die Stadt kommt und sich an euch erfüllt, was ich euch zuvor gesagt, so gedenkt an euren Freund! Seid nun männlich und seid stark und befehlet Gott eure Seelen als dem treuen Schöpfer in guten Werken!“ (1. Petr. 4, 19.)

Ich sah in meinem Traum, daß sich, sobald sie am Ende der Wüste waren, vor ihnen eine Stadt ausbreitete mit Namen Eitelkeit. Das ganze Jahr hindurch wird hier ein Markt abgehalten — wohlbekannt unter dem Namen Eitelkeitsmarkt. Er heißt so, weil die Stadt, darin er gehalten wird, weniger wiegt als nichts[98] und weil alles, was dahin kommt und dort feilgehalten wird, nichts denn Eitelkeit ist nach den Worten des Weisen: „Es ist alles ganz eitel!“ (Pred. 1, 2)[99] Dieser Markt ist nicht eine Einrichtung neuerer Zeit, er besteht schon sehr lange. Laß mich dir etwas von seiner Entstehung erzählen.

Es sind nun ungefähr fünftausend Jahre her, da wanderten auch Pilgrime, gleich diesen beiden redlichen Männern, nach der himmlischen Stadt; und da Beelzebub, Apollyon und Legion mit seinen Genossen merkten, daß ihr Weg durch diese Stadt führte, beschlossen sie, hier einen Markt einzurichten, wo das ganze Jahr hindurch alle Arten von Tand feilstehen sollten, wie Häuser, Ländereien, Gewerbe, Ämter, Würden, Beförderungen, Titel, Landschaften, Königreiche, Lustbarkeiten, Vergnügungen und Genüsse aller Art, wie Dirnen, Weiber, Gatten, Kinder, Herrschaften, Dienstboten, Leben, Blut, Leiber und Seelen, Silber, Gold, Perlen, Edelsteine und wer weiß was noch alles! Ja, noch mehr, auf diesem Jahrmarkt sind allezeit zu sehen Gaukeleien, Betrügereien, Glückspiele, Schauspiele, Narrenteidinge, Affen, Schelme und Schurken und allerlei derart. Ferner gibt’s, und alles umsonst, zu sehen[S. 112] Diebereien, Mordtaten, Ehebruch, Meineide, sämtlich in blutroter Farbe.

Und wie man es schon auf unbedeutenden Jahrmärkten antrifft, daß man bestimmte Waren in bestimmten Straßen haben kann, so hat man auch hier gewisse Plätze, Straßen und Gassen — das sind die verschiedenen Länder und Reiche —, wo die Waren dieses Jahrmarktes am leichtesten zu bekommen sind. Es gibt hier eine englische Straße, eine französische, eine italienische, eine spanische, eine deutsche, und in jeder werden bestimmte Arten von Eitelkeiten vorzugsweise verkauft. Und gleichwie auf andern Märkten etwas ist, was der wichtigste und hauptsächlichste Artikel ist, so fanden auf diesem Markt die Waren aus Rom besonders starken Absatz. Nur die Engländer und etliche andre Völker haben keinen großen Gefallen daran.

Mitten nun durch die Stadt, wo dieser Jahrmarkt gehalten wird, geht der Weg zur himmlischen Stadt; und wer also nach dem Berg Zion reisen und nicht hier durch diese Stadt ziehen wollte, der müßte die Welt räumen (1. Kor. 5, 10)[100]. Selbst der Herr der Herrlichkeit, da Er auf Erden wandelte, mußte den Weg zu Seinem eigenen Land durch diesen Ort nehmen, und zwar gerade an einem Markttag. Beelzebub, der Vorsteher des Jahrmarkts, lud Ihn ein, etwas von seinen Eitelkeiten zu kaufen, ja Er sollte alles zum Geschenk haben, wenn Er ihm Ehre erweisen wollte. Und weil Er von so hoher Abkunft war, führte Ihn der Satan von Straße zu Straße und zeigte Ihm in kurzer Zeit alle Reiche der Welt, ob der Hochgelobte nicht zu bewegen wäre, etwas von seinen Eitelkeiten zu kaufen. Aber der Herr hatte nicht Gefallen an dieser Ware; Er verließ die Stadt, ohne auch nur einen Heller an eine dieser Eitelkeiten verwandt zu haben. (Lies Matth. 4, 1-11.) Dieser Markt also besteht seit uralter Zeit und ist sehr groß.

Die Pilger nun mußten, wie gesagt, notwendig über diesen Jahrmarkt kommen. Kaum hatten sie die ersten Schritte in die Stadt getan, als alle Marktleute, ja die ganze Einwohnerschaft sich erregte und mit großem Tumult auf sie zuströmte, und das aus verschiedenen Gründen.

Die Pilger auf dem Eitelkeitsmarkt (S. 112.).

Erstens: Ihrer fremdartigen Kleider wegen wurden sie[S. 114] von dem Volk mit Erstaunen angegafft, aller Augen richteten sich auf sie; einige sagten: „Es sind Narren,“ andre: „Tollhäusler,“ wieder andre: „Ausländer“[101].

Zum andern: Gleichwie sie sich über ihre Kleidung verwunderten, so sehr fiel ihnen ihre Sprache auf. Sie redeten natürlich die Sprache Kanaans; die aber hier Markt hielten, waren Kinder dieser Welt. So kamen sie von einem Ende des Marktes bis zum andern den Leuten fremd und unverständlich vor[102].

Drittens: Was den Kaufleuten am unbegreiflichsten erschien, war, daß sie die Waren nicht der geringsten Aufmerksamkeit wert achteten, und wenn man sie anhielt, etwas zu kaufen, so hielten sie sich die Ohren zu und beteten: „Wende meine Augen ab, daß sie nicht nach Eitlem sehen!“ (Ps. 119, 37), und sie blickten in die Höhe, zum Zeichen, daß ihr Wandel im Himmel wäre[103].

Da jemand spöttisch die Frage an sie richtete, was sie denn kaufen wollten, und sie mit Festigkeit und Ernst erwiderten: „Wir kaufen Wahrheit“ (Spr. 23, 23), so brach von allen Seiten der bitterste Spott und Hohn gegen sie los; und einige riefen den andern zu, sie ins Angesicht zu schlagen. Kurz, alle Ordnung des Jahrmarkts verkehrte sich in ein entsetzliches Getümmel. Die Sache wurde vor den Obersten des Marktes gebracht, der sogleich einige seiner vertrautesten Freunde abschickte, die Fremden, die einen solchen Auflauf veranlaßt hätten, zu verhören.

So wurden die Pilger festgenommen und vor Gericht geführt.

„Woher kommt ihr? Wohin geht eure Reise? Und warum erscheint ihr in so ungewöhnlicher Tracht?“ Dies waren die Fragen, die man ihnen im Verhör vorlegte.

„Wir sind Gäste und Fremdlinge auf Erden,“ antworteten sie; „wir wandern nach unsrer Heimat, nach dem himmlischen Jerusalem. Weder den Einwohnern der Stadt noch den Marktleuten haben wir Veranlassung gegeben, uns so zu mißhandeln und aufzuhalten; ausgenommen, daß wir einem, der uns fragte, was wir kaufen wollten, die Antwort gaben: Wir kaufen Wahrheit.“

[S. 115]

Diese Aussage war ausreichend, um auch die Richter zu überzeugen, daß sie nichts andres seien als tolle und verrückte Leute, die einzig und allein beabsichtigten, den ganzen Markt in Verwirrung zu bringen.

Daher legte man von neuem Hand an sie; sie wurden geschlagen, mit Kot beworfen und in ein Gefängnis gelegt, wo sie, den Augen des Volkes ausgesetzt, eine Zeitlang der Gegenstand des allgemeinen Hohnes, der ausgesuchtesten Bosheit waren. Und der Oberste des Marktes weidete sich an diesem Schauspiel. Indes blieben aber die Pilger geduldig, vergalten nicht Scheltwort mit Scheltwort, sondern segneten dagegen (1. Petr. 3, 9); sie übten Güte für erlittenes Unrecht, so daß einige besonnene Männer, die weniger vom Vorurteil befangen waren als die andern und die Geduld der Fremdlinge mit Bewunderung beobachtet hatten, sich ihrer gegen die erbitterte Menge annahmen. Nun aber wandte sich deren Zorn auch gegen diese Bessergesinnten. „Ihr seid,“ so rief man ihnen zu, „ebenso nichtsnutzig wie die beiden da am Pranger und wohl ihre geheimen Verbündeten und verdient die gleiche Strafe!“

„Es sind,“ erwiderten jene, „soviel wir sehen können, redliche und friedliche Männer, die niemand etwas zuleide tun. Mancher ist auf unserm Markt, der eher ins Gefängnis, ja an den Schandpfahl gehörte als diese Männer, die man so schändlich mißhandelt.“

Eine Weile noch fiel Rede auf Gegenrede, währenddessen sich die Pilger ruhig und besonnen verhielten. Aber bald kam es von Worten zu Händeln und blutigen Auftritten, und es entstand die größte Verwirrung.

Hierauf mußten die armen Pilger aufs neue vor ihren Richtern erscheinen; sie wurden hart verklagt, daß sie die Ursache am letzten Aufruhr auf dem Jahrmarkt wären; man stäupte sie in grausamer Weise, man legte sie in Ketten und führte sie den Markt auf und ab, zum abschreckenden Beispiel für andre und zu verhindern, daß jemand für sie spräche oder sich ihnen anschlösse. Sie benahmen sich dabei so ruhig und trugen die Schande mit so viel Sanftmut und Ergebung, daß mehrere auf dem Markt — indes nur eine geringe Zahl im Vergleich mit der Menge — für sie gewonnen wurden. Dies setzte die andern in desto größere Wut, und sie beschlossen den Tod der Fremdlinge. Darum drohten sie ihnen, daß Pranger und Ketten für sie zu gelinde Strafen[S. 116] seien, daß sie vielmehr sterben sollten, und zwar um des angerichteten Schadens willen und weil sie alles Volk auf dem Markt erregt hätten. Man führte sie wieder in das Gefängnis zurück und legte ihre Füße in den Stock, bis das Urteil über sie gefällt sein würde.

Hier gedachten sie der Worte ihres treuen Freundes, des Evangelisten, die so genau in Erfüllung gegangen waren, und wurden dadurch nicht wenig in ihrem Glauben gestärkt. Es wurde ihnen auch ganz gewiß, daß einer von ihnen hier sterben werde; einer sagte es dem andern zum Trost, daß das Los dessen, der hier sein Leben lassen werde, das schönste sei, und jeder wünschte heimlich, daß es ihm selbst zuteil werden möchte. Doch, indem sie sich der allweisen Führung dessen überließen, der alle Dinge regiert, blieben sie mit völliger Ergebung in ihrer gegenwärtigen Lage und sahen ruhig der Entscheidung entgegen.

Nachdem nun eine gelegene Zeit gekommen war, wurden sie im Beisein ihrer Feinde und Ankläger vor das Gericht gestellt, dessen Vorsitzender Gotthaß war. Die Anklage gegen beide war dem Wesen nach ein und dieselbe. Man beschuldigte sie, sie seien Feinde und Störer des Handels, sie hätten Unruhen und Spaltungen in der Stadt erregt, ja eine Anzahl der Einwohner, dem Gesetz ihres Fürsten zum Trotz, für ihre gefährlichen Grundsätze gewonnen.

Getreu verantwortete sich nun hierauf zuerst und sprach: „Ich habe mich nur gegen das gesetzt, was sich selbst gegen den Allerhöchsten aufgeworfen hat. Störung und Unruhe mache ich nicht, denn ich bin ein Mann des Friedens. Sind etliche für uns gewonnen worden, so geschah es durch die Erkenntnis unsrer Unschuld und Redlichkeit, und sie haben sich nur vom Schlechten zum Bessern gewendet. Was den König betrifft, von dem ihr redet, so spreche ich ihm und allen seinen Dienern hiermit öffentlich Hohn, ist er doch Beelzebub, der Feind unsers Herrn.“

Hierauf wurde ausgerufen, wer etwas zugunsten seines Königs und Herrn gegen diesen Gefangenen vor den Schranken vorzubringen habe, solle sogleich auftreten und sein Zeugnis ablegen. Da traten drei Zeugen herzu, nämlich Neid, Aberglaube und Schmeichler.

Man fragte sie, ob sie den Gefangenen kennten und was sie für ihren König und Herrn zu sagen hätten.

[S. 117]

Da trat Neid vor und sprach: „Mein Herr, ich kenne diesen Mann schon lange und will es auf meinen Eid vor diesem hochwürdigen Gericht bezeugen, daß er —“

„Halt!“ rief der Richter, „man lasse ihn zuerst schwören!“ Es geschah, und Neid fuhr fort: „Mein Herr, dieser Mann ist trotz seines schönen Namens einer der schlechtesten Menschen in unserm Land. Er achtet weder Fürsten noch Volk, weder Gesetz noch Sitte. Er benützt jede Gelegenheit, um jedermann seine verderblichen Ansichten beizubringen, die er Grundsätze des Glaubens und der Heiligkeit nennt. Ich habe ihn einmal selbst sagen hören, das Christentum und die Sitten unsrer Stadt Eitelkeit ständen einander schnurstracks gegenüber, und es sei schlechthin unmöglich, beide zu vereinigen. Indem er also spricht, Herr Richter, verdammt er nicht allein alle unsre löblichen Handlungen, nein, er verdammt somit auch uns selbst, die wir sie tun.“

„Hast du sonst noch etwas gegen ihn zu sagen?“ fragte der Richter.

„Mein Herr,“ erwiderte Neid, „ich hätte allerdings noch mehr zu sagen, fürchte jedoch der Versammlung lästig zu werden. Allein, falls das Zeugnis der übrigen Herren noch nicht zur Verurteilung des Angeklagten hinreichen sollte, werde ich das meine weiter auszuführen wissen.“ So ward ihm befohlen abzutreten.

Darauf wurde Aberglaube hereingerufen. Der Richter befahl ihm, den Gefangenen anzusehen und sein Zeugnis wider ihn für seinen Herrn und König kundzutun. Nachdem er den Eid abgelegt, begann er also:

„Herr Richter, ich stehe zwar in keiner nähern Bekanntschaft mit diesem Mann, wünsche ihn auch nicht näher kennenzulernen; dies jedoch weiß ich gewiß, daß er eine wahre Pest für unsre Stadt ist. Ich habe neulich mit ihm gesprochen und es selbst aus seinem Mund gehört, daß unser Gottesdienst wertlos sei, daß wir dadurch das Wohlgefallen Gottes nicht erlangen können. Was folgt hieraus deutlicher, mein Herr, als daß wir unsre Gottesverehrungen umsonst darbringen, daß wir noch in unsern Sünden sind und endlich ewig verdammt werden? Dies ist es, was ich zu sagen habe.“

Hierauf mußte Schmeichler vortreten, und nachdem er den Eid geleistet, ward er aufgefordert, zugunsten seines Herrn und Königs gegen den Gefangenen zu sprechen.

[S. 118]

„Mein Herr Richter und ihr verehrte Herren!“ sagte er, „ich habe diesen Kerl schon lange gekannt und ihn Dinge sagen hören, die nicht zu dulden sind. Er hat Beelzebub, unsern erhabenen Fürsten, gelästert und verächtlich gesprochen von seinen ehrenwerten Freunden, als da sind: Herr Altermensch, Herr Fleischeslust, Herr Üppig, Herr Ruhmsucht, der alte Herr Unzucht, der edle Herr Geizhals und alle unsre übrigen Edelleute. Auch hatte er die Frechheit, zu sagen: wenn alle von seiner Gesinnung wären, so würde keiner von diesen edlen Herren länger in der Stadt geduldet werden. Ja, er hat sich erdreistet, auch dich, mein edler Herr, seinen Richter, einen gottlosen Buben zu schelten und in der verächtlichsten Weise von dir zu reden, sowie auch die meisten vom Adel in unsrer Stadt mit den gemeinsten Schimpfnamen zu belegen.“

Nachdem Schmeichler seine Rede vollendet, wandte sich der Richter an den Gefangenen, der vor der Anklagebank stand, und sprach: „Du Abtrünniger, du Ketzer, du Verräter, hörst du, was diese edlen Herren wider dich zeugen?“

„Darf ich einige Worte zu meiner Verteidigung sprechen?“ fragte Getreu.

„Schweig, Bube!“ so schrie der Richter mit Zorn, „du verdienst nicht länger zu leben, du verdienst auf der Stelle den Tod. Doch — damit jedermann meine Großmut erkenne — laß hören, was du zu sagen hast!“

„Was zuerst die Anklage des Herrn Neid betrifft,“ sprach Getreu mit ruhigem Ernst, „so habe ich gesagt: Wenn eine Regel, ein Gesetz, eine Sitte oder ein Volk gegen Gottes Wort streitet, so läuft solches dem wahren Christentum schnurstracks entgegen. Ist dies unrecht, so überführe man mich meines Irrtums, und ich bin bereit, öffentlich zu widerrufen.

Was zweitens Herrn Aberglaube und seine Anklage betrifft, so habe ich gesagt, daß zur Verehrung Gottes ein von Gott gewirkter Glaube erforderlich ist; dieser aber kann nur aus einer göttlichen Offenbarung des Willens Gottes hervorgehen. Alles, was sich nun in die Gottesverehrung hineingedrängt hat und nicht mit der göttlichen Offenbarung übereinstimmt, kann nur durch einen bloß menschlichen Glauben geübt werden, der uns nicht zum ewigen Leben dient.

[S. 119]

Endlich in bezug auf Herrn Schmeichler erkläre ich (indem ich mich seiner Schimpfworte enthalte), daß der Fürst dieser Stadt samt allen seinen Anhängern, die eben genannt wurden, eher in der Hölle als in dieser Stadt zu sein verdienten. Der Herr, mein Gott, sei mir gnädig!“

Hierauf wandte sich der Richter an die Geschworenen, die der ganzen Verhandlung aufmerksam beigewohnt hatten: „Meine Herren Geschworenen, ihr seht hier diesen Menschen, um deswillen ein so großer Aufruhr in der Stadt entstanden ist. Ihr habt auch gehört, was diese ehrenwerten Herren wider ihn gezeugt haben; seine Erwiderung, sein Geständnis habt ihr vernommen. Eure Sache ist es nun, ihn zum Tod zu verdammen oder ihn freizusprechen. Doch erscheint es angemessen, euch zuerst unser Gesetz vorzuhalten.

Zu den Zeiten Pharaos des Großen, des Dieners unsers Fürsten, ward ein Gesetz gegeben, daß, wenn Leute von einer andern Religion sich vermehren, alle ihre Knäblein im Wasser sollen ertränkt werden, damit sie nicht zu mächtig würden.

Ebenso ward ein Gesetz erlassen zu den Zeiten Nebukadnezars des Großen, eines andern Dieners unsers Fürsten, daß ein jeder, der nicht niederfiele, sein goldenes Bild anzubeten, in den glühenden Ofen geworfen werden sollte.

Desgleichen ward ein Gesetz ausgegeben in den Tagen des Darius, daß wer in dreißig Tagen etwas bitten würde von irgendeinem Gott oder Menschen, ohne von dem König Darius allein, solle den Löwen vorgeworfen werden.

Dieser Rebell nun hat alle diese Gesetze ihrem wesentlichen Inhalt nach gebrochen, nicht allein in Gedanken — schon das dürfte man nicht dulden — sondern auch in Wort und Tat, was schlechterdings nicht ungestraft bleiben darf.

Was das Gesetz Pharaos betrifft, so war dieses bloß auf die Vermutung hin gegeben, um dadurch einem Unheil vorzubeugen, das Verbrechen selbst lag noch gar nicht vor. Was das zweite und dritte Gesetz betrifft, so seht ihr, daß er wider unsre Religion streitet, und wegen des Hochverrats, den er eingestanden, verdient er den Tod.“

Dann zog sich das Geschworenengericht zurück. Es war zusammengesetzt aus den Herren Blindmann, Übelgesinnt, Boshaft, Lüstling, Schlüpfrig, Hitzkopf, Hochmut, Feindselig, Lügner, Grausam, Finsterling und Unversöhnlich.

[S. 120]

Jeder von ihnen gab sein besonderes Urteil gegen den Angeklagten ab, und hernach beschlossen sie einstimmig, ihn vor dem Richter für schuldig zu erklären.

Herr Blindmann, der den Vorsitz hatte, sagte: „Ich sehe deutlich, daß dieser Mensch ein Ketzer ist.“

Herr Übelgesinnt sprach: „Weg mit einem solchen Kerl von der Erde!“

„Recht so!“ sagte Herr Bosheit, „denn schon sein Blick ist mir unerträglich.“

Herr Lüstling sprach: „Ich habe ihn nie leiden können!“

„Auch ich nicht,“ versetzte Herr Schlüpfrig, „denn er hat mein Tun immer verdammt.“

„Hängt ihn! Hängt ihn!“ rief Herr Hitzkopf.

„Er ist ein jämmerlicher Bube!“ sagte Herr Hochmut.

„Mein Innerstes empört sich gegen ihn!“ schrie Herr Feindselig.

„Ein Landstreicher ist er!“ sagte Herr Lügner.

Herr Grausam stimmte dahin, daß das Hängen viel zu gut für einen solchen Menschen sei.

„Wir müssen ihn aus dem Weg räumen!“ rief Herr Finsterling.

„Und sollte ich auch die ganze Welt zum Lohn haben,“ sagte Herr Unversöhnlich, „ich könnte mich nun und nimmer mit ihm aussöhnen. Darum laßt uns ohne weiteres auf seine Hinrichtung antragen!“

Wirklich wurde Getreu zum Tod verurteilt. Während man ihn nach seinem Gefängnis abführte, sannen die Herren nur darauf, wie man ihn auf die qualvollste Weise zu Tode bringen könne.

Der Verurteilte wurde nun hinausgeführt, um mit ihm nach ihrem Gesetz zu verfahren. Zuerst wurde er gegeißelt, darauf mit Fäusten geschlagen, mit Messern gestochen und gesteinigt. Der Leichnam wurde mit Schwertern zerhauen und auf dem Scheiterhaufen zu Asche verbrannt.

So starb Getreu den Märtyrertod.

Ich ward aber gewahr, daß über der Menschenmenge, die sich zu der Hinrichtung versammelt hatte, ein feuriger Wagen mit Rossen stand, der auf Getreu wartete; dieser nahm ihn, sobald seine Feinde die Hinrichtung vollzogen, auf und führte ihn unter Posaunenschall durch die Wolken zu der Pforte des Himmels.

[S. 121]

Christ wurde in sein Gefängnis zurückgeführt, wo er noch eine Zeitlang ausharren mußte. Der Herr aber, der alle Dinge, auch die Wut der Feinde, nach dem Rat Seines Willens lenkt, schickte es so, daß Christ ihnen entkam und seines Weges weiterziehen konnte. Alsbald hob er an zu singen:

Wohl dir, du Kind der Treue,
Du hast und trägst davon
Voll Danks und ohne Reue
Den Sieg und Ehrenkron’;
Gott gibt dir selbst die Palmen
In deine rechte Hand,
Und du singst Freudenpsalmen
Dem, der dein Leid gewandt!

Fußnoten:

[98] Menschen sind ja nichts; sie wiegen weniger denn nichts, soviel ihrer ist (Ps. 62, 10).

[99] Ich sah an alles Tun, das unter der Sonne geschieht; und siehe, es war alles eitel und Haschen nach Wind (Pred. 1, 14).

[100] Jesus betete: Ich bitte nicht, daß Du sie von der Welt nehmest, sondern daß Du sie bewahrest vor dem Übel (Joh. 17, 15).

[101] Wir sind ein Schauspiel geworden der Welt; wir sind Narren um Christi willen (1. Kor. 4, 9. 10).

[102] Die Welt kennt euch nicht; denn sie kennt Ihn nicht (1. Joh. 3, 1).

[103] Unser Wandel ist im Himmel, von dannen wir auch warten des Heilands Jesu Christi, des Herrn (Phil. 3, 20).

[S. 122]

Kopfstück, Kapitel I, 7

Siebtes Kapitel.
Ein neuer Begleiter und die Gefahren an der Silbergrube.

I

Ich sah nun in meinem Traum, daß Christ nicht allein weiterzog, denn es gesellte sich einer zu ihm mit Namen Hoffnungsvoll; das war er geworden durch die Beobachtung des stillen Duldens der beiden Pilger bei aller Schmach und Verfolgung, das männliche Bekenntnis des Getreu, das er im Angesicht des Todes ablegte. Und wie das Blut der Märtyrer immer der Same der Kirche gewesen ist, so erhoben sich aus der Asche des Getreu neue Bekenner des Herrn. Er schloß mit Christ einen Bruderbund und bot sich ihm zum Begleiter an, indem er versicherte, in kurzer Zeit würden ihm noch viele andre folgen.

Sie hatten erst eine kleine Strecke Weges zurückgelegt, als sie einen Mann einholten, der vor ihnen herging; er hieß Nebenwege. „Was für ein Landsmann bist du, lieber Herr?“ redeten sie ihn an, „und wohin geht deine Reise?“

„Ich komme aus der Stadt Schönwort und bin auf dem Weg nach der himmlischen Stadt,“ erwiderte er, ohne aber seinen Namen zu nennen.

„Aus Schönwort[104]?“ entgegnete Christ, „kann von dort auch etwas Gutes kommen?“

Nebenwege. Nun, das will ich meinen.

Christ. Bitte, wie soll ich dich denn anreden, mein Herr?

[S. 123]

Nebenwege. Ich bin dir fremd, wie du es mir bist. Gehst du diesen Weg mit mir, so soll mir deine Gesellschaft lieb sein; wo nicht, muß ich mich auch zufrieden geben.

Christ. Von Schönwort meine ich schon gehört zu haben; es soll, wie ich mich erinnere, ein wohlhabender Ort sein.

Nebenwege. Ja, das kann ich dir versichern, und ich habe dort manche reiche Verwandte.

Christ. Bitte, wer sind denn deine Verwandten dort, wenn ich fragen darf?

Nebenwege. O beinahe die ganze Stadt und insonderheit Herr von Rückwärts, Herr von Wetterfahne, Herr von Schönwort, von dessen Ahnen die Stadt ihren Namen bekommen hat, ebenso Herr Glatt, Herr Achselträger, Herr Allerweltsfreund und unser Pfarrer, Herr Zweizüngig, meiner Mutter Bruder; kurz und gerade heraus gesagt: ich bin ein Mann geworden von sehr gutem Stande, obschon mein Großvater nur ein Bootsmann war, der nach dem einen Ufer hinsah, wenn er nach dem andern ruderte, und auch mir selbst hat dieser Beruf den größten Teil meines Vermögens eingebracht.

Christ. Bist du verheiratet?

Nebenwege. Ja, und zwar habe ich eine sehr tugendreiche Frau. Sie ist die Tochter einer ebenfalls sehr tugendreichen Mutter, und ihre Großmutter war Frau Falschheit; sie stammt also aus einer sehr vornehmen Familie und hat einen so hohen Grad von Bildung erlangt, daß sie ebensogut mit Fürsten als mit Bauern umzugehen weiß. Unser Christentum ist allerdings nicht das strengste; allein dies zeigt sich nur in zwei nebensächlichen Punkten: Wir fahren niemals gegen Wind und Strom und sind immer nur dann eifrig, wenn das Christentum in silbernen Pantoffeln geht; wir bekennen uns dazu, wenn die Sonne scheint und alles Volk uns zujauchzt.

Christ wendete sich zu Hoffnungsvoll, indem er ihm zuflüsterte: „Es fällt mir ein, daß dies ein gewisser Nebenwege von Schönwort sein muß. Ist er es, so haben wir an ihm einen argen Schelm, wie’s nur einen in der ganzen Gegend geben kann.“

„Frage ihn doch,“ sagte Hoffnungsvoll, „seines Namens sollte er sich ja nicht schämen.“

[S. 124]

„Du redest ja,“ sagte Christ, sich wieder zu jenem wendend, „wie einer, der klüger ist als die ganze Welt. Trügt mich nicht alles, so meine ich dich zu kennen; bist du nicht Herr Nebenwege aus Schönwort?“

Nebenwege. Dies ist nicht mein Name; allerdings werde ich spottweise von denen so genannt, die mich nicht leiden können; ich muß diese Schmach dulden wie viele gute Leute vor mir.

Christ. Hast du aber den Leuten nie Veranlassung gegeben, dich also zu heißen?

Nebenwege. Nein, niemals! Das einzige, was mir etwa einen solchen Schimpfnamen hätte zuziehen können, ist dies, daß ich so glücklich gewesen bin, in meinen Ansichten mit dem Geist der Zeit jedesmal übereinzustimmen, wodurch ich allerdings immer gewonnen habe. Was mir nun auf diese Weise zugefallen ist, sehe ich als einen Segen an; aber sicherlich sollten boshafte Menschen mich deswegen nicht mit Schmach belegen.

Christ. Dachte ich mir’s doch, daß du der Mann wärest, von dem ich habe reden hören; und, um dir meine Meinung offen zu gestehen, so fürchte ich, daß dieser Name bei dir mehr zutrifft, als du es wohl vor uns zugeben willst.

Nebenwege. Nun, bildest du dir dies ein, so kann ich nicht helfen; doch du wirst finden, daß ich ein guter Gefährte bin, willst du mich als solchen annehmen.

Christ. Wenn du mit uns gehen willst, mußt du gegen Wind und Wetter kämpfen, was, wie ich gemerkt, nicht deine Absicht ist. Du mußt dem Christentum ebenso treu bleiben, wenn es im Bettlergewand als wenn es in Silberpantoffeln einhergeht, und dich zu ihm halten, ob es in Ketten und Banden liegt oder ob die Menge des Volkes ihm auf der Straße zujauchzt.

Nebenwege. Du darfst mir nichts aufbürden und dich nicht zum Herrn aufwerfen über meinen Glauben. Laß mir meine Freiheit, und ich will mit euch gehen.

Christ. Nicht einen Schritt weiter, es sei denn, daß du unserm Beispiel folgst, wie ich es dir vorschlage.

Nebenwege. Meinen alten Grundsätzen gedenke ich nicht untreu zu werden, sind sie doch harmlos und vorteilhaft. Wollt ihr mich nicht mit euch ziehen lassen, so tue ich wie vorher und gehe allein, bis mich jemand einholt, der mit meiner Gesellschaft zufrieden ist.

[S. 125]

Ich sah nun in meinem Traum, daß Christ und Hoffnungsvoll ihn verließen und in einiger Entfernung vor ihm hergingen. Als aber einer von ihnen sich umwandte, sah er, daß drei Männer dem Herrn Nebenwege eiligst nachkamen und ihn mit tiefer Verbeugung begrüßten, deren Gruß er mit gleicher Höflichkeit erwiderte. Die Namen dieser Männer waren: Herr Haltwelt, Herr Geldlieb und Herr Sparmann. Sie erkannten einander sogleich als Schulkameraden, denn sie waren miteinander bei einem gewissen Herrn Greifmann zur Schule gegangen, einem Schulmeister im Marktflecken Gewinnsucht in der Grafschaft Habsucht, die im Norden liegt. Dieser Lehrer unterwies sie in der Kunst, etwas an sich zu raffen, es sei durch Gewalt oder durch Betrug oder Schmeichelei oder mit Lügen oder auch unter dem Schein, ein gutes Werk dabei zu tun. Und diese vier Herren hatten es in dieser Kunst ihres Lehrers selbst auch zur Meisterschaft gebracht, daß jeder von ihnen einer solchen Schule hätte vorstehen können.

Nach der gegenseitigen Begrüßung sprach Herr Geldlieb zu Herrn Nebenwege: „Wer sind diese vor uns?“ denn Christ und Hoffnungsvoll gingen nur in geringer Entfernung voraus.

Nebenwege. Das sind entfernte Landsleute von uns, die auf ihre besondere Weise eine Pilgerreise machen.

Geldlieb. Ei, warum warten sie nicht auf uns, daß wir uns ihrer Gesellschaft hätten erfreuen können? Denn wir sind doch allesamt Pilgrime.

Nebenwege. Ja, das sind wir wohl; aber diese Männer sind so streng, sie hängen so sehr an ihren eigenen Begriffen; sie schätzen die Meinungen andrer so gering, daß sie den Allerbesten, wenn er nicht in allen Dingen mit ihnen übereinstimmt, aus ihrer Gesellschaft stoßen.

Sparmann. Das ist schlimm; wir lesen von gewissen Menschen, die allzu gerecht und deshalb so streng sind, daß sie alle verdammen, nur sich selbst nicht. Aber sage mir, in was für Punkten stimmtet ihr nicht überein?

Nebenwege. Nach ihrer schroffen Art meinen sie jedem Wetter Trotz bieten zu müssen; ich dagegen bin dafür, Wind und Wetter abzuwarten. Sie wollen für Gottes Sache alles wagen; ich suche jeden Vorteil zu benutzen, um Leben und Vermögen sicherzustellen. Sie halten an ihren Grundsätzen[S. 126] fest, und wenn sie alle Menschen gegen sich hätten; aber ich stelle mich in Religionssachen so, wie Zeit und Umstände und eigene Sicherheit es erfordern. Sie halten es mit dem Christentum auch im Bettlergewand und unter Verachtung; ich aber bekenne mich nur dann zu ihm, wenn es in goldenen Pantoffeln im Sonnenschein einhergeht und Beifall erntet.

Haltwelt. Ganz recht! Dabei bleibe nur, mein werter Herr Nebenwege! Ich kann den nicht anders als für einen Toren erklären, der das, was er sich bewahren könnte, dennoch verliert. Laß uns klug sein wie die Schlangen! Heu muß man machen, solange die Sonne scheint. Im Winter liegt die Biene still; wenn die Blumen blühen, da regt sie sich. Gott schickt zuweilen Regen, zuweilen Sonnenschein. Sind sie töricht genug, im Regen zu wandern, so wollen wir auf günstiges Wetter warten. Ich muß gestehen, diejenige Religion ist mir die liebste, bei welcher wir die Gaben Gottes, mit denen Er uns gesegnet hat, bewahren können. Wer sich von seinem gesunden Menschenverstand leiten läßt, muß erkennen, daß Gott, da Er uns einmal die Güter dieses Lebens reichlich mitteilt, auch haben will, daß wir sie um Seinetwillen genießen sollen. Abraham und Salomo wurden reich bei ihrer Religion, und Hiob sagt, daß dem Gerechten Silber in Fülle zufallen soll (Hiob 22, 25, a. Übers.). Aber dann muß man nicht sein wie diese Männer, die du uns beschreibst.

Sparmann. Ich denke, wir sind hierüber alle einig und brauchen also kein Wort weiter zu verlieren.

Geldlieb. Nein, das brauchen wir nicht, denn wer weder der Schrift noch der Vernunft glaubt — und beide sind auf unsrer Seite —, der kennt weder seine Freiheit, noch sorgt er für sein Wohl.

Nebenwege. Meine Brüder, erlaubt mir, euch zur Verkürzung des Weges und zur Bewahrung vor allerlei Bösem eine Frage vorzulegen. Ich setze den Fall, ein Mann, sei es ein Geistlicher oder ein Geschäftsmann, sähe sich in die günstige Lage versetzt, irdischer Güter teilhaftig zu werden, könnte sie aber nicht anders erlangen, als daß er den Schein eines außerordentlichen Eifers für gewisse Punkte des Christentums annähme, die ihm sonst völlig gleichgültig wären; könnte er sich nicht dieses Mittels bedienen und dabei dennoch ein ehrlicher Mann bleiben?

[S. 127]

Geldlieb. Ich sehe deiner Frage wohl auf den Grund, und es möge mir erlaubt sein, daß ich versuche, darauf eine gründliche Antwort zu geben. Zuerst in Hinsicht des Geistlichen. Stellt euch einen würdigen Mann vor, der nur ein sehr geringes Einkommen hat und sein Augenmerk deshalb auf eine fettere Pfründe richtet. Er hat Hoffnung, sie zu erlangen, jedoch nur so, daß er sein Amt eifriger verwalte, noch viel öfter und häufiger predige und der neuen Gemeinde zuliebe einige seiner Grundsätze aufgebe. Hier sehe ich in der Tat nicht, warum ein Mann, vorausgesetzt, daß er einen Ruf habe, nicht dies, ja noch weit mehr tun und dabei doch ein ehrlicher Mann bleiben könne, denn:

1. Sein Verlangen nach einem größern Einkommen ist gesetzmäßig; dies ist unwidersprechlich, denn die göttliche Vorsehung bietet es ihm dar. Darum mag er es zu erlangen suchen, ohne sich ein Gewissen daraus zu machen.

2. Sein Verlangen nach einem größern Einkommen macht ihn überdies zu einem fleißigern, eifrigern Prediger, also auch zu einem bessern Menschen, der seine Pflicht treuer erfüllt, was ja dem Willen Gottes vollkommen gemäß ist.

3. Wenn er seiner künftigen Gemeinde zuliebe einige seiner bisherigen Grundsätze aufgibt, so zeigt er ein großes Maß von Selbstverleugnung, ein einnehmendes, nachgiebiges Wesen, wodurch er offenbar desto geschickter zu seinem Amt wird.

4. Aus diesem allem schließe ich, daß ein Geistlicher, der ein kleines Einkommen mit einem größern vertauscht, deswegen nicht für gewinnsüchtig gelten kann. Im Gegenteil, da er sich dabei mehr vervollkommnet, muß er als ein solcher angesehen werden, der seiner Bestimmung treu bleibt und die Gelegenheit zum Guten ergreift, die Gott ihm darbietet.

Was nun den zweiten Teil der Frage betrifft, so denke man sich einen Geschäftsmann, der nur ein kleines Geschäft und kärgliches Auskommen hat, fände aber dadurch, daß er fromm würde, Gelegenheit, sein Geschäft auszudehnen, einflußreiche Freunde zu erwerben, vielleicht eine reiche Frau zu bekommen oder eine ausgedehntere, bessere Kundschaft für seinen Laden zu erlangen: dies könnte ich für durchaus zulässig erklären.

Hier meine Gründe:

1. Frömmigkeit, möge sie entspringen, woraus sie will, ist immer eine Tugend.

[S. 128]

2. Es ist nicht gegen das Gesetz, eine reiche Frau zu nehmen oder sich um bessere Kunden zu bemühen.

3. Erlangt er dies durch Frommwerden, so erlangt er etwas Gutes durch Gutes, indem er selbst gut wird. So hat er dann eine gute Frau, gute Kunden und guten Gewinn, und zwar infolge seiner Frömmigkeit. Wer könnte dies für etwas andres als für ein rechtes, Gott wohlgefälliges Streben halten?

Mit allgemeinem Beifall nahm man Herrn Geldliebs so gründliche Antwort auf die Frage des Herrn Nebenwege auf. Sie kamen dadurch zu dem Schluß, so zu handeln, sei sehr weise und vorteilhaft. Diese Antwort schien auch allen unwiderleglich zu sein, so beschlossen sie, da Christ und Hoffnungsvoll noch nicht allzuweit voraus waren, sich sogleich mit dieser Frage an sie zu machen, sobald sie sie würden eingeholt haben, und das um so mehr, da sie Herrn Nebenwege früher widersprochen hatten. So riefen sie ihnen nach, und jene blieben stehen, bis sie zu ihnen kamen. Unterdessen beschlossen die Nachkommenden, daß nicht Herr Nebenwege, sondern der alte Herr Haltwelt ihnen die Frage vorlegen sollte, weil sie fürchteten, die Besprechung würde, wenn sie Herr Nebenwege führte, eine zu erregte werden.

So kamen sie denn heran, und nach kurzer Begrüßung legte Herr Haltwelt Christ und seinem Gefährten die Frage vor und forderte sie auf, wenn sie könnten, darauf zu antworten.

Christ. Selbst ein Anfänger im wahren Christentum kann tausend solcher Fragen beantworten. Soll man Christus nicht um des Brotes willen nachfolgen[105], wie dies doch offenbar ist, so ist es ja wahrhaft abscheulich, Ihn als Larve vorzunehmen, um die Welt zu gewinnen. Auch ist nie jemand dieser Meinung gewesen als Heiden, Heuchler, Teufel und Zauberer.

1. Heiden. Die Heiden Hemor und Sichem hatten ihre Augen auf die Töchter und das Vieh des Patriarchen Jakob geworfen. Da sie dies unter keiner andern Bedingung erlangen konnten, als daß sie die Beschneidung annahmen, so[S. 129] sagten sie zu ihren Volksgenossen: „Wenn wir alles, was männlich unter uns ist, beschneiden, gleichwie sie beschnitten sind, so wird ihr Vieh und ihre Güter und alles, was sie haben, unser sein.“ Töchter und Vieh wollten sie haben: die Religion sollte nur das Mittel sein, dazu zu gelangen. (Lies 1. Mose 34, 20-24.)

2. Heuchler. Die heuchlerischen Pharisäer waren derselben Religion zugetan. Sie wendeten lange Gebete vor und fraßen dabei der Witwen Häuser. Ihr Lohn war desto schwerere Verdammnis (Luk. 20, 47).

3. Teufel. Judas, den der Herr einen Teufel nannte (Joh. 6, 70), hatte denselben Sinn. Er war fromm um des Beutels willen, den er trug; aber er wurde verworfen als ein Kind des Verderbens.

4. Ebenso Simon der Zauberer, der die Gabe des Heiligen Geistes um schnöden Gewinnes willen begehrte; das Urteil aber aus des Petrus Mund über ihn war: „Daß du verdammt werdest mit deinem Geld!“ (Apostelg. 8, 18-23).

5. Auch kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß der Mensch, welcher um irdischer Vorteile willen fromm wird, ebenso um irdischer Vorteile willen der Frömmigkeit wieder entsagt. Wie Judas die Welt liebte, als er ein Bekenner Christi wurde, ebenso verkaufte er hernach seine Frömmigkeit und seinen Herrn und Meister um der Welt willen. Wer also diese Frage bejaht, wie ihr getan habt, und wer jene Antwort als gültig anerkennt, der ist heidnisch, heuchlerisch, ja teuflisch gesinnt; und euer Lohn wird sein nach euren Werken.

Bei dieser Antwort sahen sie einander mit sichtbarer Bestürzung an und konnten kein Wort darauf finden. Hoffnungsvoll stimmte Christ vollkommen bei, und so entstand eine große Stille unter ihnen. Herr Nebenwege und seine Genossen wußten nun keinen andern Rat, als langsamer zu gehen, um der unangenehmen Gesellschaft loszuwerden.

„Verstummen diese Männer,“ sagte Christ zu seinem Gefährten, „schon vor dem Urteil der Menschen, die doch Erde und Asche sind, wie wollen sie vor dem Richterspruch Gottes bestehen, der ein verzehrendes Feuer ist?“

Christ und Hoffnungsvoll eilten nun voraus, und in kurzer Frist erreichten sie ein angenehmes Gefilde namens Ruhe, wo es den Pilgrimen innig wohl ward. Aber diese[S. 130] Ebene war sehr schmal, so daß sie geschwind darüber waren. Nun war am Ausgang des Gefildes ein kleiner Hügel, den man Gewinn hieß, und in dem Hügel eine Silbergrube. Viele Pilgrime, die vor ihnen des Weges gekommen waren, hatten sich nach dem Hügel hinlocken lassen, um die Silbergrube zu sehen, denn es war eine Seltenheit. Als sie sich aber zu nahe an den Rand des Schachtes gewagt hatten, war der betrügliche Grund unter ihren Füßen gewichen, und sie waren rettungslos in die unergründliche Tiefe hinabgestürzt. Andre wurden hier wenigstens so gelähmt, daß sie ihr Leben lang nicht wieder zu rechter Kraft kommen konnten.

Ich sah dann in meinem Traum, daß ein wenig vom Weg ab, der Silbergrube gegenüber, einer namens Demas[106] stand, gleich einem vornehmen Herrn, der die Vorübergehenden einlud, herzukommen und zu sehen.

„Kommt herüber,“ rief er auch Christ und Hoffnungsvoll zu, „ich habe euch etwas zu zeigen!“

„Was ist denn dort so Bedeutendes,“ antwortete Christ, „um uns von dem Wege nach Zion abwenden zu können?“

Demas. Hier ist ein Silberbergwerk und Leute, die darin nach Schätzen graben: hier könnt ihr mit wenig Mühe euch reich machen!

Hoffnungsvoll. Komm, Freund Christ, wir wollen hingehen und es uns ansehen!

Christ. Ich komme nicht; ich habe früher schon viel von diesem Ort gehört und weiß, daß ihrer viele da ums Leben gekommen sind. Dazu ist der Reichtum nur ein Fallstrick für die, die ihm nachjagen, und ist sehr hinderlich auf der Pilgerreise[107].

Da rief Christ dem Demas zu: „Ist dieser Ort nicht gefährlich? Ist er nicht schon manchem ein Hindernis auf seiner Pilgerfahrt geworden[108]?“

„Man muß sich nur vorsehen,“ entgegnete Demas, indem er errötete.

„Nicht um einen Schritt,“ sagte Christ, „wollen wir uns der Silbermine nähern, sondern still unsern Weg fortsetzen.“

[S. 131]

Hoffnungsvoll. Was gilt’s! wenn Nebenwege kommt und dieselbe Einladung erhält, so wird er sich gewiß verführen lassen, dahin zu gehen, um zu sehen.

Christ. Ohne Zweifel; denn seine Grundsätze stimmen zu dem Weg, und ich fürchte sehr für ihn.

Demas rief ihnen nun nochmals zu: „Wollt ihr denn nicht herüberkommen, um die herrlichen Dinge zu sehen?“

Christ aber antwortete ihm rund heraus: „Du bist ein Feind der rechten Wege des Herrn; du bist deines Abfalls wegen schon gerichtet, warum willst du uns in gleiche Verdammnis stürzen? Wenden wir uns jetzt vom Wege ab, so werden wir einst vor dem Herrn, unserm König, mit Schanden dastehen müssen, wo wir doch mit Freudigkeit vor Ihm erscheinen sollten.“

„Ei,“ beteuerte Demas, „ich bin ja euer Bruder. Wartet ein wenig, so will ich mit euch gehen!“

„Wie heißest du?“ fragte Christ. „Bist du nicht Demas?“

Demas. Ja, ich bin es, aber ich bin Abrahams Sohn.

Christ. Ich kenne dich wohl. Gehasi ist dein Urgroßvater gewesen (lies 2. Kön. 5, 20-27) und Judas dein Vater, und du bist in ihre Fußtapfen getreten. Deine Worte sind nichts als teuflischer Trug. Dein Vater hat als ein Verräter am Strang geendet, und du verdienst kein besseres Los. Sei versichert, wenn wir zum König kommen, dann werden wir Ihm von deinem Verhalten Nachricht geben.

Und so zogen sie ihres Weges weiter.

Indessen war Nebenwege mit seinen Genossen nachgekommen, und auf den ersten Wink gingen sie sämtlich zu Demas hinüber. Ob sie nun in den Schacht gestürzt sind, als sie über dessen Rand blickten, oder ob sie hinabgestiegen sind, um nach Schätzen zu graben, oder ob sie durch die gewöhnlich aufsteigenden Dämpfe erstickt wurden — ich weiß es nicht, aber sie alle haben den Weg nach Zion nie wieder betreten.

Christ hob an zu singen:

Was ist die Erde mit ihren vergänglichen Schätzen?
Seelen voll himmlischen Hungers und Durstes zu letzen,
Sind sie zu klein, Göttliche Güter allein
Können uns dauernd ergötzen.

Auf der andern Seite dieses Gefildes angekommen, sahen die Pilger hart an der Straße ein altes Denkmal stehen von[S. 132] seltsamer Gestalt. Es schien eine Frau zu sein, die in die Gestalt einer Säule verwandelt war. Sie blieben davor stehen und betrachteten es lange, ohne seine Bedeutung zu erraten. Endlich entdeckte Hoffnungsvoll ganz oben eine Inschrift von ungewöhnlicher Schreibart. Da er aber kein Gelehrter war, so rief er Christ (denn dieser war ein Gelehrter) herbei, doch einmal zuzusehen, ob er nicht diese Schriftzeichen entziffern könnte. Christ kam, und nachdem er ein wenig buchstabiert hatte, las er folgende Worte: „Gedenket an Lots Weib!“ (Luk. 17, 32.)

Nun erkannten sie, daß das die Salzsäule wäre, in welche Lots Weib verwandelt worden, weil sie mit begierigem Herzen nach Sodom zurückgeblickt hatte, daraus sie zu ihrer Errettung floh (1. Mos. 19, 26).

„O mein Bruder,“ rief Christ bewegt aus, „ist das Auffinden der Salzsäule gerade jetzt nach des Demas Einladung, den Hügel Gewinn zu besehen, nicht eine wunderbare Fügung! Wären wir seiner Lockung gefolgt, wie du wolltest: wir wären ebenso wie dieses Weib zu einem warnenden Denkmal geworden.“

Mit tiefer Beschämung sprach Hoffnungsvoll: „Ich erkenne meine große Torheit, und ich muß die Gnade des Herrn preisen, der mich nicht hingab in meines Herzens Gelüste und die Strafe noch aufschob, die ich ebensowohl wie dieses Weib verdient habe.“

„Wir wollen es unserm Herzen tief einprägen, was wir hier sehen,“ sagte Christ. „Dieses Weib entging einem Strafgericht, denn sie kam nicht in Sodom um; aber sie fiel in ein andres, denn sie wurde, wie wir sehen, in eine Salzsäule verwandelt.“

„Ja,“ versetzte Hoffnungsvoll, „sie soll uns ein warnendes Beispiel der göttlichen Strafgerichte sein. Gleicherweise wurden Korah, Dathan und Abiram mit den 250 Männern, die mit ihnen in ihrer Sünde umkamen, zu einem warnenden Zeichen (4. Mos. 26, 9. 10). Aber wie können nur Demas und seine Gefährten so ruhig nach diesen Schätzen suchen, da dieses Weib, weil sie nach ihren Gütern bloß zurückblickte (denn wir lesen nicht, daß sie auch nur einen Schritt vom Wege abwich), in eine Salzsäule verwandelt worden ist? Zumal da sie dieses Denkmal sehen müssen, sobald sie nur ihre Augen aufheben.“

[S. 133]

„Allerdings,“ erwiderte Christ, „muß man sich darüber verwundern. Ihr Herz ist schon ganz verhärtet, und ich weiß sie mit nichts anderm zu vergleichen als mit Dieben, die selbst noch vor den Augen des Richters, ja unter dem Galgen stehlen. Von den Einwohnern zu Sodom wird gesagt, daß sie böse waren und sehr wider den Herrn sündigten. Und o wie gütig war Er gegen diese Menschen gewesen! Das Land war ja vor der Zerstörung gleich einem Garten des Herrn. Darum entbrannte Sein Zorn desto furchtbarer, und Er ließ Feuer und Schwefel auf sie herabregnen. So werden alle, die angesichts solch warnender Beispiele in ihren Sünden fortfahren, ein desto schwereres Gericht empfangen.“

Hoffnungsvoll. Du hast ohne Zweifel die Wahrheit gesagt, und o welche Gnade ist es, daß wir, besonders aber ich, nicht selbst ein solches Denkmal des göttlichen Zorns geworden sind! Wir wollen nicht aufhören, Gott dafür zu danken, in Seiner Furcht zu wandeln und allewege an Lots Weib zu denken.

Ringe recht, wenn Gottes Gnade
Dich nun ziehet und bekehrt,
Daß dein Geist sich ganz entlade
Von der Last, die ihn beschwert.
Nimm mit Furcht ja deiner Seele,
Deines Heils mit Zittern wahr;
Denn des Weges zu verfehlen,
Schwebst du stündlich in Gefahr.
Liegt nicht alle Welt im Bösen?
Steht nicht Sodom in der Glut?
Seele, wer soll dich erlösen?
Eilen, eilen ist hier gut.
Eile, wo du dich erretten
Und nicht mit verderben willst;
Mach dich los von allen Ketten,
Flieh als ein gejagtes Wild!
Lauf der Welt doch aus den Händen,
Dring ins stille Zoar ein; (1. Mos. 19, 22. 23)
Eil, den Lauf wohl zu vollenden,
Mache dich von allem rein!

Fußnoten:

[104] Wenn er seine Stimme holdselig macht, so glaube ihm nicht; denn es sind sieben Greuel in seinem Herzen (Spr. 26, 25).

[105] Jesus sprach zu dem Volk, das Ihm nachfolgte: Wahrlich, wahrlich, Ich sage euch, ihr suchet Mich darum, weil ihr von den Broten gegessen habt und satt geworden seid. Bemühet euch nicht um vergängliche Speise, sondern um die, welche bleibt zum ewigen Leben, die der Menschensohn euch geben wird (Joh. 6, 26. 27, a. Übers.).

[106] Der Apostel Paulus schreibt: Demas hat mich verlassen und diese Welt liebgewonnen (2. Tim. 4, 10).

[107] Die da reich werden wollen, die fallen in Versuchung und Stricke und viel törichte und schädliche Lüste, welche versenken die Menschen ins Verderben und Verdammnis (1. Tim. 6, 9).

[108] Das unter die Dornen gesät ist, das ist, wenn jemand das Wort Gottes hört, und der Betrug des Reichtums erstickt das Wort, und er bringt nicht Frucht (Matth. 13, 22).

Schlussvignette, Kapitel I, 7

[S. 134]

Kopfstück, Kapitel I, 8

Achtes Kapitel.
Nach großer Freude eine schwere Verirrung.

A

Auf ihrem Wege kamen nun die Pilger an einen herrlichen Strom. Der König David nennt ihn Gottes Brünnlein[109] und Johannes den Strom des lebendigen Wassers[110]. Der Weg zog sich gerade am Ufer dieses Stromes entlang. Hier wanderten Christ und sein Gefährte mit großer Wonne, und durch jeden Trunk aus diesem Wasser des Lebens ward ihr ermatteter Geist sehr erquickt. Auf beiden Seiten des Stromes standen Fruchtbäume aller Art, deren Blätter das Blut der erhitzten Wanderer kühlten. Grüne, das ganze Jahr mit Lilien prangende Wiesen begleiteten den Strom, hier konnten sich die Pilgrime zum Schlafe niederlegen und im Frieden ruhen[111]. Wachten sie auf, so aßen sie von den Früchten der Lebensbäume und tranken von dem Wasser des Stromes. Das taten sie viele Tage und Nächte. Dabei sangen sie:

Wie herrlich ist’s, ein Schäflein Christi werden
Und in der Huld des treusten Hirten stehn!
Kein höhrer Stand ist auf der ganzen Erden,
Als unverrückt dem Lamme nachzugehn.
Was alle Welt nicht geben kann,
Das trifft ein solches Schaf bei seinem Hirten an.
Hier findet es die angenehmsten Auen,
Hier wird ihm stets ein frischer Quell entdeckt;
[S. 135]
Kein Auge kann die Gnaden überschauen,
Die es allhier in reicher Menge schmeckt.
Hier wird ein Leben mitgeteilt,
Das unaufhörlich ist und nie vorübereilt.
Doch ist dies nur der Vorschmack größrer Freuden,
Es folget nach die lange Ewigkeit!
Da wird das Lamm die Seinen herrlich weiden,
Wo der kristallne Strom das Wasser beut;
Da siehet man erst klar und frei,
Wie schön und auserwählt ein Schäflein Christi sei!

Nach diesen Tagen der Erquickung traten die Pilger ihre Reise wieder an (denn sie hatten ihr Ziel noch nicht erreicht); nachdem sie noch einmal gegessen und getrunken, brachen sie auf.

Jetzt sah ich in meinem Traum, daß, noch ehe sie weit gegangen waren, sich auf einmal der Weg von dem Strom immer weiter entfernte und dabei rauh und immer rauher wurde, was die beiden Wanderer mit Traurigkeit, ja mit Verdruß erfüllte; denn ihre Füße waren von dem vielen Gehen empfindlich geworden. Gleichwohl durften sie nicht vom Weg abweichen und wanderten, wenn auch sehr entmutigt[112], doch still weiter, indem sie sich nach einem angenehmern sehnten. Sie bemerkten bald, daß sich an der linken Seite der Straße eine Wiese — Abwegswiese genannt — hinzog, auf welche ein Steg hinüberführte.

„Liegt diese Wiese längs des Weges,“ sagte Christ, „so laß uns hinübergehen!“ Er trat an den Steg und bemerkte einen Fußpfad, der auf der andern Seite des Zaunes immer der Straße entlang zu laufen schien. „Das ist ja, wie ich’s wünsche,“ rief er, „da drüben gehen wir besser; komm, lieber Hoffnungsvoll, wir wollen es versuchen.“

„Aber wie, wenn dieser Pfad von unserm Weg abführen sollte?“ versetzte Hoffnungsvoll.

„O nein!“ sagte Christ. „Das fürchte ich nicht. Sieh nur, geht er nicht beständig neben dem Weg her?“

So ließ sich Hoffnungsvoll von seinem Gefährten überreden und folgte ihm über den Steg. Sie gingen auf diesem Fußpfad allerdings angenehmer, auch erblickten sie bald einen Mann, namens Selbstvertrauen, der denselben Pfad eingeschlagen hatte. „Wohin geht dieser Fußpfad?“ riefen sie ihm nach.

[S. 136]

„Nach der Pforte des Himmels,“ antwortete er.

„Siehst du?“ sagte Christ, „habe ich es dir nicht gesagt? Nun wissen wir doch, daß wir auf dem rechten Weg sind.“

Nun folgten sie ihrem Führer; aber die Nacht überfiel sie, und es wurde so finster, daß sie ihn nicht mehr sehen konnten. Zu ihrem Entsetzen hörten sie ihn bald darauf in eine tiefe Grube hinabstürzen, in der er elendiglich umkam. Der Fürst dieses Landes hatte die Grube machen lassen, um all die ruhmredigen Narren hier zu Fall zu bringen. Christ und sein Gefährte riefen, erhielten aber nichts zur Antwort als das Ächzen des Sterbenden.

„Ach, wo sind wir hingeraten?“ klagte Hoffnungsvoll, und Christ wußte vor Scham nichts zu erwidern. Indes hatte sich ein furchtbares Wetter zusammengezogen, das sich Donner und Blitz und Regengüssen über die Pilgrime entlud.

„Ach,“ seufzte Hoffnungsvoll, „daß ich auf meinem Weg geblieben wäre!“

„Wer konnte denken,“ sagte Christ, „daß dieser Weg uns irreführen würde?“

„Mir wollte er von Anfang nicht gefallen,“ erwiderte Hoffnungsvoll, „wie ich dir auch bemerklich machte. Jedoch wollte ich dir nicht widerstehen, denn du bist älter als ich.“

Christ. O lieber Bruder, zürne mir nicht! Es ist mir sehr leid, daß ich dich vom Weg ab in eine so große Gefahr geführt habe. Vergib mir, ich hatte nichts Böses im Sinn.

Hoffnungsvoll. Sei ruhig, lieber Bruder, ich vergebe dir, und ich glaube, es soll uns noch zum Besten dienen.

Christ. Du bist barmherzig; aber wir dürfen hier nicht stehenbleiben; wir wollen versuchen zurückzugehen.

Hoffnungsvoll. Aber, lieber Bruder, laß mich vorangehen!

Christ. Nein, erlaube mir, vorauszugehen, damit, wenn uns irgendeine Gefahr droht, sie mich zuerst treffe; denn durch meine Schuld haben wir uns beide vom Weg entfernt.

Hoffnungsvoll. Nein, du sollst nicht vorangehen; denn weil dein Gemüt in Unruhe ist, so könnte es dich leicht wieder vom Weg abführen.

Kaum hatten sie versucht, den Rückweg anzutreten, da hörten sie zu ihrer Ermutigung eine Stimme, die ihnen zurief:[S. 137]Richte dein Herz auf die gebahnte Straße; darauf du gewandelt hast, und kehre wieder um!“ (Jer. 31, 21.)

Indes war aber das Wasser sehr angewachsen, und der Weg wurde äußerst gefährlich. Ich dachte dabei: „Wieviel leichter ist es doch, den guten Weg zu verlassen, als ihn wieder zu erreichen!“

Gleichwohl wagten sie den Rückweg, aber es war schon so finster und die Flut schon so hoch, daß sie oft in der äußersten Lebensgefahr schwebten. Alle ihre Mühe, den Steg in der Nacht wieder zu erreichen, war umsonst. Endlich fanden sie einen kleinen Zufluchtsort, wo sie bis zum Tagesanbruch aushalten wollten, und da sie sehr ermüdet waren, wurden sie bald vom Schlaf übermannt.

Nicht weit von der Stelle, wo sie lagen, war eine Burg, Zweifelsburg genannt, die der Riese Verzweiflung bewohnte, auf dessen Grund und Boden die Pilgrime jetzt schliefen. Am frühen Morgen erhob sich der Riese, um nach seiner Gewohnheit sein Gebiet zu durchstreifen, und bald gewahrte er die schlafenden Fremden.

Mit grimmiger und barscher Stimme hieß er sie aufstehen und fragte sie: „Wer seid ihr, und was habt ihr hier zu tun?“

Zitternd schlugen sie ihre Augen auf. „Wir sind Pilgrime,“ sagten sie, „und haben den Weg verloren.“

„Ihr habt euch an mir vergangen, rief der Riese; denn mein Gebiet habt ihr betreten, mit mir müßt ihr nun gehen!“

Sie waren sich ihrer Schuld wohl bewußt und fanden daher keine Kraft in sich, dem Gewaltigen zu widerstehen, der sie vor sich her in seine Burg trieb, wo er sie in einen finstern, schmutzigen Kerker warf. Hier lagen sie vier Tage, ohne einen Bissen Brot, ohne einen Trunk Wasser zu genießen. Kein Lichtstrahl drang in ihre Finsternis; kein Mensch fragte, wie es ihnen gehe. Sie waren hier in übler Lage, dazu fern von Freunden und Bekannten[113]. Christ war ganz untröstlich, weil sein Rat zu einem so schrecklichen Ausgang geführt hatte.

Der Riese Verzweiflung hatte eine Frau, mit Namen Mißtrauen. Als sie sich zur Ruhe begeben hatten, erzählte er ihr, wie er zwei Pilgrime, die sein Gebiet betreten,[S. 138] eingefangen und in den Kerker geworfen habe. „Was meinst du, was soll ich nun mit ihnen tun?“ fragte er sie. Die Frau erkundigte sich, was das für Leute wären, woher sie kämen und wohin sie reisten. Nachdem sie dies erfahren, riet sie ihm, den Männern zuerst einmal mit einer tüchtigen Tracht Prügel aufzuwarten. In der Frühe des andern Morgens begab sich der Riese also nach dem Rat seiner Frau, mit einer Keule von wildem Apfelholz bewaffnet, zu seinen Gefangenen und jagte sie im Kerker herum, als ob sie Hunde wären, obwohl sie ihn nicht mit einem einzigen Wort beleidigt hatten. Danach fiel er über sie her und schlug sie so entsetzlich, daß sie auf dem Boden liegenblieben, ohne sich rühren zu können. Darauf verschloß er den Kerker wieder und überließ sie ihrem Jammer. Sie brachten denn auch den ganzen Tag nur mit Seufzen und Klagen hin.

In der folgenden Nacht besprachen sich der Riese und seine Frau weiter über die Gefangenen, und als letztere erfuhr, daß sie noch am Leben wären, riet sie ihm, dieselben zu bereden, sich selbst das Leben zu nehmen.

Am Morgen fand sich der Riese wieder bei den Unglücklichen ein, und da er sie noch sehr an den Wunden des vorigen Tages leiden sah, riet er ihnen, einem so elenden Leben durch Messer, Strick oder Gift ein Ende zu machen, denn aus diesem Gefängnis würden sie nie wieder herauskommen. Sie wagten es, ihn um Befreiung zu bitten, aber mit gräßlichen Gebärden, brüllend wie ein Löwe, fiel er über sie her und hätte sie ohne Zweifel umgebracht, wenn er nicht plötzlich von heftigen Krämpfen, wie er sie zuweilen bei Sonnenschein bekommt, befallen worden wäre. Dadurch war er des Gebrauchs seiner Hand für eine Zeitlang beraubt und zog sich deshalb zurück, sie ihren Gedanken überlassend. Die Gefangenen beratschlagten nun miteinander, ob es das beste wäre, seinem Rat zu folgen oder nicht, und begannen darüber folgendes Gespräch:

„Bruder,“ sagte Christ, „was sollen wir tun? Wir führen jetzt ein jämmerliches Leben. Ist es nicht besser, augenblicklich zu sterben als so zu leben? Der Tag müsse verloren sein, darin ich geboren bin. Warum bin ich nicht gestorben von Mutterleibe an? (Hiob 3, 3. 11.) Viel lieber ist mir das Grab als dieser Kerker. Soll uns dieser Riese noch länger peinigen?“

„Wer seid ihr, und was habt ihr hier zu tun?“ (S. 137..)

[S. 140]

Hoffnungsvoll. Allerdings, unsre Lage ist entsetzlich, und der Tod, der uns daraus erlöste, wäre uns willkommen; aber laß uns wohl bedenken, daß der Herr des Landes, dahin wir gehen, gesagt hat: „Du sollst nicht töten!“ Keinem andern dürfen wir das Leben nehmen, noch weniger aber dem Rat des Riesen folgen und uns selbst umbringen. Wer einen andern tötet, kann nur den Leib töten; tötest du dich selbst, so tötest du Leib und Seele zugleich. Du sprichst von der Ruhe im Grab, mein Bruder; hast du die Hölle vergessen, in die sich die Mörder hinabstürzen? Du weißt, „ein Totschläger hat nicht das ewige Leben bei ihm bleibend“ (1. Joh. 3, 15). Überdies hat der Riese nicht alle Gewalt in seinen Händen; andre, die ebenso wie wir in seinem Gefängnis waren, sind wieder entkommen. Wer weiß, Gott, der Schöpfer der Welt, läßt ihn vielleicht sterben, oder er vergißt einmal die Tür zuzuschließen, oder er wird wieder einmal, während er bei uns ist, von seinen Krämpfen befallen und verliert den Gebrauch seiner Glieder. Sollte dies je wieder geschehen, so werde ich mich ermannen und das Äußerste versuchen, um seinen Händen zu entgehen. Ein Tor bin ich gewesen, daß ich es nicht eher versucht habe. Laß uns nur noch ein wenig aushalten, mein Bruder, vielleicht kommt bald die Zeit unsrer Erlösung. Laß uns nur nicht Selbstmörder werden!

Durch diesen Zuspruch beruhigte Hoffnungsvoll einstweilen das Gemüt seines Bruders, und so verharrten sie denn den Tag über miteinander im Finstern in ihrer traurigen und kummervollen Lage.

Gegen Abend kam der Riese wieder in den Kerker, um zu sehen, ob sie seinen Rat befolgt hätten. Er fand sie aber noch am Leben — am Leben, dies ist fast alles, was man von ihnen sagen kann, da sie vor Hunger und Durst und dem brennenden Schmerz der Wunden in diesem finstern Loch kaum noch Atem schöpfen können —; und mit grimmiger Wut rief er ihnen zu, da sie seinen Rat verachtet, so solle es schlimmer mit ihnen werden, als wenn sie nie geboren wären.

[S. 141]

Zitternd und bebend vernahmen sie diese Worte, vor denen Christ in Ohnmacht fiel. Da er wieder zu sich gekommen war, sprach er aufs neue davon, ob es für sie nun doch nicht besser sei, sich das Leben zu nehmen.

„Mein Bruder,“ hob Hoffnungsvoll wieder tröstend an, „gedenke doch nur daran, wie tapfer du sonst gewesen bist! Apollyon konnte deiner nicht mächtig werden; alle jene Schrecknisse im Tal der Todesschatten übermochten dich nicht. Durch wie viele Prüfungen, Angst und Nöte bist du schon gegangen! Und jetzt solltest du völlig verzweifeln? Du siehst, auch ich, von Natur viel schwächer als du, schmachte mit dir in demselben Kerker. Hat mich der Riese nicht ebensosehr verwundet wie dich? Auch ich genieße keinen Bissen Brot, keinen Tropfen Wasser, ich liege ebenso wie du in Finsternis und Trauer. Aber laß uns nur noch ein wenig dulden! Wie männlich warst du auf dem Markt der Eitelkeit! Nicht Ketten konnten dich schrecken, nicht Gefängnis, nicht blutiger Tod. Welche Schande, wenn wir nun verzweifeln wollten!“

Wieder war es Abend geworden, und als der Riese und seine Frau sich zurückgezogen hatten, fragte sie ihn, wie es mit den Gefangenen stände und ob sie seinem Rat gefolgt. Er antwortete: „Es sind halsstarrige, durchtriebene Menschen! Lieber erdulden sie alle Grausamkeit, als daß sie sich selbst umbringen.“ Sie erwiderte: „Dann führe sie morgen einmal in den Burghof und zeige ihnen die Gebeine und Schädel derer, die du schon in die andre Welt befördert hast, und mache es ihnen klar, daß du sie vor Ablauf einer Woche ebenso in Stücke zerreißen werdest, wie du es mit andern ihresgleichen getan.“

Der Tag war kaum angebrochen, so begab sich der Riese in den Kerker und trieb die Gefangenen hinauf in den Hof, der mit Menschengebeinen bedeckt war. „Diese,“ sagte er, „sind einst Pilgrime gewesen wie ihr; sie sind in mein Gebiet gekommen wie ihr, und ich habe sie in Stücke zerrissen, sobald es mir gefiel. So werde ich in wenigen Tagen auch mit euch tun. Jetzt geht zurück in euren Kerker!“ Und als sie sich umwandten, schlug er sie und trieb sie mit unbarmherzigen Hieben wieder hinab. Ihr Jammer überstieg an diesem Tag alle Grenzen.

Am Abend unterhielten sich der Riese und seine Frau wieder über die Gefangenen. Er sprach seine Verwunderung darüber aus, daß er sie weder durch Schläge noch durch Überredung aus der Welt schaffen konnte. Frau Mißtrauen sagte: „Ich fürchte sehr, daß sie noch in der Hoffnung leben,[S. 142] es werde jemand kommen und sie aus dem Kerker befreien, oder daß sie Dietriche bei sich haben, wodurch sie zu entkommen hoffen.“

„Meinst du, liebe Frau?“ antwortete der Riese. „Dann will ich sie morgen früh gleich durchsuchen.“

Um Mitternacht fingen Christ und Hoffnungsvoll an zu beten und beteten fort bis zu Tagesanbruch. Auf einmal rief Christ wie erschrocken aus: „O ich Tor! Ich liege hier in diesem stinkenden Kerker und könnte frei und fröhlich meine Straße ziehen! Ich habe ja den Schlüssel der Verheißung in meinem Busen, der gewiß alle Schlösser der Zweifelsburg öffnet.“

„Was sagst du? Das ist ja herrlich, lieber Bruder!“ rief Hoffnungsvoll. „Nimm ihn heraus und versuch’s damit!“

Christ zog ihn hervor und versuchte es sogleich an der Kerkertür, die sich augenblicklich öffnete, so daß Christ und Hoffnungsvoll heraustreten konnten. Sie gingen bis zu der äußern Tür, die auf den Burghof führt, und öffneten sie ebenfalls mit dem Schlüssel der Verheißung. Nun kamen sie an das große eiserne Tor, das letzte Hindernis. Das Schloß ließ sich nur mit großer Mühe und vereinter Anstrengung aufschließen, allein auch dieses gelang endlich. Sie stießen es auf, um in Eile zu entfliehen. Jedoch das Knarren des eisernen Tores war so laut, daß der Riese darob erwachte und sich eilends aufmachte, um seinen Gefangenen nachzujagen. Seine Glieder wurden aber gelähmt durch plötzlich eintretende Krämpfe, so daß er sich nicht von der Stelle bewegen konnte. Die Pilger eilten davon und erreichten bald wieder des Königs Heerstraße, wo der Riese ihnen nichts mehr anhaben konnte.

Bei dem Steg blieben sie stehen und berieten miteinander, wie man die Wanderer, die ihnen etwa nachkommen würden, vor dem Gebiet des Riesen warnen könnte. Sie beschlossen, daselbst eine Säule aufzurichten, worauf sie folgende Worte eingruben: „Über diesen Steg geht es nach der Zweifelsburg, wo der Riese Verzweiflung haust, der den König der himmlischen Stadt verachtet und Seinen heiligen Pilgern nach dem Leben steht.“

Diese Inschrift ward nachmals von vielen gelesen, und diese entgingen dadurch der Gefahr.

[S. 143]

Als sie nun die Warnungssäule errichtet hatten, erhoben sie ihre Stimme und sangen:

Mache dich, mein Geist, bereit,
Wache, fleh und bete,
Daß dich nicht die böse Zeit
Unverhofft betrete!
Oft schon ist
Satans List
Über viele Frommen
Zur Versuchung kommen.

Fußnoten:

[109] Gottes Brünnlein hat Wassers die Fülle (Ps. 65, 10).

[110] Und er zeigte mir einen lautern Strom des lebendigen Wassers, klar wie ein Kristall (Offenb. 22, 1).

[111] Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser; Er erquicket meine Seele (Ps. 23, 2. 3).

[112] Und das Volk ward verdrossen auf dem Weg (4. Mos. 21, 4).

[113] Ich bin elend und ohnmächtig, daß ich so verstoßen bin; ich leide Deine Schrecken, daß ich schier verzage (Ps. 88, 16).

Schlussvignette, Kapitel I, 8

[S. 144]

Kopfstück, Kapitel I, 9

Neuntes Kapitel.
Bei den Hirten auf den lieblichen Bergen.

D

Die Pilger erreichten bald die lieblichen Berge, welche dem Herrn des Hügels, von dem wir zuvor gesprochen, gehörten. Die Abhänge dieser Berge waren mit den anmutigsten Gärten, Baumanlagen und Weingärten bedeckt, zwischen denen man grüne Wiesen sah, durch welche frische Gebirgsbäche herabrauschten. Hier stillten sie den Durst, wuschen sich und aßen von den Früchten des Weinstocks nach Herzenslust. Auf einer Anhöhe nahe an der Heerstraße trafen die Pilger Hirten, die ihre Herden weideten. Zu diesen gingen sie hin, und, auf ihre Stäbe gelehnt, wie müde Pilger zu tun pflegen, wenn sie stillstehen, um mit jemand am Weg zu reden, fragten sie: „Wem gehören diese lieblichen Berge, und wes sind die Herden, die ihr weidet?“

Hirten. Diese Berge sind Immanuels Land und liegen im Gesichtskreis Seiner Stadt. Ihm gehören diese Schafe, und Er hat Sein Leben für sie gelassen (Joh. 10, 12).

Christ. Ist dies der Weg zur himmlischen Stadt?

Hirten. Ja, ihr seid auf dem rechten Weg.

Christ. Wie weit ist es noch bis dahin?

Hirten. Zu weit für alle, die ohne die Gnade des Herrn wandern.

Christ. Ist der Weg sicher oder gefährlich?

Hirten. Er ist sicher für die Gerechten, aber die Übertreter fallen auf demselben[114].

[S. 145]

Christ. Gibt es hier eine Ruhestätte für ermüdete Pilger?

Hirten. Der Herr dieser Berge hat uns befohlen, gastfrei zu sein[115], und was wir haben, steht euch zu Gebote.

Ich sah nun in meinem Traum, daß die Hirten, als sie diese Männer als Reisende erkannten, sie fragten über ihr Woher und Wohin, besonders wie es ihnen gelungen sei, dieses Gebirge zu erreichen, da erfahrungsgemäß nur wenige von allen, die sich auf den Weg nach der himmlischen Stadt begeben haben, bis hierher zu kommen pflegten. Alle diese Fragen wurden zu voller Zufriedenheit der Hirten beantwortet, und mit großer Freundlichkeit sagten sie zu den Pilgern: „Seid willkommen auf den lieblichen Bergen!“

Weise, Erfahren, Wachsam und Aufrichtig — dies sind die Namen der Hirten — führten sie in ihre Zelte und bereiteten ihnen ein stärkendes Mahl. Sie baten die Pilger, eine Zeitlang bei ihnen zu verweilen, damit sie besser miteinander bekannt würden und sie sie desto mehr mit den guten Früchten der Berge erquicken könnten. Mit Freuden nahmen sie diese Einladung an, und weil es schon sehr spät war, begaben sie sich zur Ruhe.

Am frühen Morgen wurden sie von den Hirten geweckt, die ihnen die wichtigsten Punkte des Gebirges zeigen wollten. Dazu waren die Pilger gern bereit, und sie genossen, indem sie miteinander dahingingen, die herrliche Aussicht, die sich im Glanz des Morgenlichtes nach allen Seiten hin öffnete. Zuerst kamen sie auf die Spitze eines Berges, der senkrecht in eine große Tiefe abfiel; es war der Berg des Irrtums. Die Hirten hießen sie hinabsehen. Mit Entsetzen wurden sie in der Tiefe Menschen gewahr, die hinabgestürzt waren und zerschmettert am Boden lagen.

Was bedeutet das? fragte Christ.

Die Hirten antworteten: „Habt ihr niemals von solchen gehört, die in Irrtum verfielen, weil sie Hymenäus und Philetus gefolgt hinsichtlich des Glaubens an die Auferstehung der Toten[116]?“

Sie antworteten: „Ja!“

Hierauf sagten die Hirten: „Diese sind es, welche da[S. 146] am Fuße des Berges zerschmettert liegen; sie liegen noch immer unbegraben da und sollen andre warnen, nicht zu hoch zu steigen und dem Rand dieses Abgrundes nicht zu nahe zu kommen.“

Von hier aus bestiegen sie einen andern Berg, den Berg der Warnung. Auf die Anweisung der Hirten, in die Ferne zu blicken, bemerkten sie dort zwischen einer Menge Gräber Menschen umherirren, die wie Blinde keinen Ausweg finden konnten und oft an die Grabeshügel stießen.

Christ fragte: „Was bedeutet das?“

Die Hirten antworteten: „Habt ihr nicht ein wenig vor diesen Bergen einen Steg gesehen, der links vom Weg auf eine Wiese hinüberführt?“

Sie erwiderten: „Ja!“

„Über diesen Steg,“ sagten die Hirten, „geht ein Fußpfad gerade nach der Zweifelsburg, wo der Riese Verzweiflung haust. Diese Blinden, die ihr zwischen den Gräbern umherirren seht, sind Pilgrime gewesen wie ihr. Wo der Weg rauh wird, sind sie über den Steg gegangen und auf der Wiese in die Hände jenes Riesen gefallen, der sie eine Zeitlang in seinem Burgverlies gehalten, ihnen dann die Augen ausgestochen und sie an die Gräber geführt hat, zwischen denen sie bis auf diesen Tag umherirren. An ihnen ist das Wort des Weisen erfüllt: Ein Mensch, der vom Weg der Klugheit irrt, der wird bleiben in der Toten Gemeinde“ (Spr. 21, 16).

Mit Tränen in den Augen sahen Christ und Hoffnungsvoll einander an, ohne ein Wort zu den Hirten zu reden.

Die Hirten führten die Pilger in ein tiefes Tal, wo eine Tür zu bemerken war, die in das Innere des Berges zu führen schien. Kaum war die Tür geöffnet, so drang ein entsetzlicher Schwefelgeruch heraus. Von den Hirten dazu aufgefordert, sahen sie hinein, doch der Raum war finster und voller Rauch. Dazwischen hörten sie ein Getöse von prasselndem Feuer und ein Geschrei wie von Gequälten.

Darauf fragte Christ: „Was bedeutet denn dies?“

Die Hirten antworteten: „Dies ist ein Nebenweg zur Hölle, ein Weg, den die Heuchler zu gehen pflegen, namentlich, die ihre Erstgeburt verkaufen wie Esau; solche, die ihren Meister verraten wie Judas; solche, die das Evangelium lästern wie Alexander (1. Tim. 1, 20), und solche, die sich[S. 148] der Lüge und Verstellung ergeben wie Ananias und Saphira“ (Apostelg. 5, 1-11).

„Seid willkommen auf den lieblichen Bergen!“ (S. 145.)

Hoffnungsvoll sprach zu den Hirten: „Und hatte nicht jeder von diesen das Aussehen eines Pilgers gleichwie wir?“

„Ja,“ erwiderten die Hirten, „und zwar ziemlich lange.“

„Wie weit,“ fragte Hoffnungsvoll, „mochten sie wohl auf ihrer Pilgerschaft schon gekommen sein, als sie noch verstoßen wurden?“

„Manche über diese Berge hinaus, viele jedoch nicht bis hierher,“ war die Antwort der Hirten.

„O,“ riefen die Pilger, „wie nötig ist’s also, daß wir den Herrn, den Allmächtigen, um Kraft anflehen!“

„Ja,“ sagten die Hirten, „und sie auch wohl anwenden, wenn sie euch verliehen ist.“

Christ und Hoffnungsvoll wünschten nun ihre Reise fortzusetzen. Die Hirten waren es zufrieden und geleiteten sie noch bis an das Ende des Gebirges. Auf der letzten Anhöhe, Klar genannt, wo man mit bewaffnetem Auge schon die Tore der himmlischen Stadt sehen konnte, blieben sie stehen. Sie gaben den Pilgern ihr Fernrohr. Diese aber waren von dem, was sie auf diesen Bergen gesehen hatten, so tief erschüttert, daß ihnen die Hand zitterte und sie keinen sichern Blick durch das Glas zu tun vermochten; indes glaubten sie doch die Tore und etwas von der Herrlichkeit der Stadt zu erkennen.

Indem sie sich zum Weitergehen anschickten, sangen sie:

Wie wird uns sein, wenn endlich nach dem schweren,
Doch nach dem letzten ausgekämpften Streit
Wir aus der Fremde in die Heimat kehren
Und einziehn in das Tor der Ewigkeit,
Wenn wir den letzten Staub von unsern Füßen,
Den letzten Schweiß vom Angesicht gewischt
Und in der Nähe sehen und begrüßen,
Was oft den Mut im Pilgertal erfrischt!

Beim Abschied gab ihnen der Hirt Weise eine Beschreibung des Weges mit. Erfahren sprach: Hütet euch vor dem Verführer! Wachsam warnte sie, auf dem bezauberten Grund zu schlafen. Aufrichtig wünschte ihnen Gottes Geleit auf den Weg.

Da erwachte ich von meinem Traum.

Fußnoten:

[114] Die Wege des Herrn sind richtig, und die Gerechten wandeln darin; aber die Übertreter fallen darin (Hos. 14, 10).

[115] Gastfrei zu sein vergesset nicht, denn dadurch haben etliche ohne ihr Wissen Engel beherbergt (Hebr. 13, 2).

[116] Hymenäus und Philetus sind von der Wahrheit irregegangen und sagen, die Auferstehung der Toten sei schon geschehen, und haben etlicher Glauben verkehrt (2. Tim. 2, 17. 18).

Schlussvignette, Kapitel I, 9

[S. 149]

Kopfstück, Kapitel I, 10

Zehntes Kapitel.
Die Geschichte von Kleinglaube.

A

Abermals schlief ich ein und träumte: Ich sah dieselben Pilger den Berg hinab längs der Landstraße nach der Stadt zu gehen. Ein wenig jenseits des Gebirges liegt auf der linken Seite eine Landschaft mit Namen Einbildung, von wo ein krummer Fußpfad auf den Weg der Pilger herüberführte. Hier trafen sie mit einem lebhaften jungen Mann zusammen, der aus jener Gegend kam, sein Name war Unwissend.

Christ fragte ihn nach seiner Heimat und nach dem Ziel seiner Reise.

Er antwortete: „Mein Herr, ich bin in der Gegend geboren, die ihr hier zur linken Seite seht, und ich reise nach der himmlischen Stadt.“

Christ. „Aber wirst du auch zur Pforte der Stadt eingehen können? Du wirst dort viele Schwierigkeiten finden.“

Unwissend. Ei, ich werde ebensogut hindurchkommen wie andre gute Menschen.

Christ. Aber was willst du an der Pforte vorzeigen, das dir Einlaß gewährt?

Unwissend. Ich kenne den Willen meines Herrn und habe ein rechtschaffenes Leben geführt; ich gebe einem jeden das Seine, ich bete, ich faste, ich erfülle alle meine Pflichten Gott und Menschen gegenüber, ich gebe Almosen und habe mein Vaterland verlassen, um das himmlische zu suchen.

Christ. Aber du bist ja nicht zur engen Pforte am Eingang dieses Weges hereingekommen, ein krummer Weg hat dich hierher geführt, und darum — du magst von dir halten, was du willst — fürchte ich sehr, du wirst von dem[S. 150] Richter eher für einen Dieb und Mörder erklärt als zur Pforte des Himmels eingelassen werden.

Unwissend. Meine Herren, ihr seid mir ganz fremd, ich kenne euch nicht. Folgt nur immerhin der Religion eures Landes, aber laßt mich auch der meinen folgen. Ich hoffe, alles wird noch gut werden. Was die Pforte betrifft, von der ihr redet, so weiß ja alle Welt, daß sie sehr weit von unsrer Landschaft abliegt, und niemand von uns ist der Weg dahin bekannt; allein dies ist auch nicht nötig, da wir, wie ihr seht, einen so angenehmen Fußsteig haben, der in kurzer Frist zur Straße führt.

Da Christ hörte, wie weise sich der junge Mann dünkte, sagte er leise zu Hoffnungsvoll: „An einem Narren ist mehr Hoffnung denn an ihm (Spr. 26, 12) und: Ob der Narr auch selbst närrisch ist in seinem Tun, so hält er doch jedermann für einen Narren (Pred. 10, 3). Was wollen wir mehr tun? Sollen wir weiter mit ihm sprechen oder für jetzt vorausgehen und ihn über das nachdenken lassen, was er bereits gehört hat? Wir können uns ja zuweilen nach ihm umsehen und ihm vielleicht noch nützlich werden.“

Hoffnungsvoll sprach:

„Wie kann ein Blinder richtig gehen,
Wenn er dem Führer folget nicht?
Ach, möchte er die Wahrheit sehen
Und seinem Kopfe folgen nicht!
So könnt’ es uns ja noch gelingen,
Daß wir ihn mit zum Himmel bringen.

So laß uns also, da es nicht ratsam ist, ihm alles auf einmal zu sagen, ein paar Schritte vorausgehen, wenn es dir beliebt, und ihn von Zeit zu Zeit weiter unterweisen, soviel als wir denken, daß er aufnehmen kann.“

Da sie also ihren Lauf beschleunigten, blieb Unwissend in einiger Entfernung hinter ihnen zurück. Plötzlich wurde es dunkel um sie her, und es begegnete ihnen ein Mann, der, mit sieben starken Stricken gebunden, von sieben unsaubern Geistern zu jener Tür zurückgetrieben wurde, die, wie die Pilger gesehen, in das Innere des Berges und in den Abgrund führt[117]. Christ fing an zu zittern, und auch seinem Gefährten Hoffnungsvoll wurde es bang. Während[S. 151] die Teufel diesen Mann wegführten, glaubte Christ in ihm einen gewissen Abtrünnig aus der Stadt Abfall zu erkennen, jedoch nicht mit völliger Sicherheit, da der Gebundene das Haupt wie ein ertappter Dieb niedersenkte. Hoffnungsvoll sah ihm nach und bemerkte auf seinem Rücken einen Zettel mit der Aufschrift: „Ein leichtfertiger Bekenner und fluchwürdiger Verleugner des Herrn.

Christ sprach hierauf zu seinem Gefährten: Eben fällt mir ein, was einst hier in dieser Gegend einem guten Mann begegnet sein soll. Er hieß Kleinglaube, war dabei redlich und wohnte in der Stadt Aufrichtig. Der Vorfall war dieser.

Beim Eingang in diesen Hohlweg kommt von der Breitwegpforte ein Weg herab, der wegen der vielen Mordtaten, die schon darauf verübt worden sind, Totmannsstraße genannt wird. Dieser Kleinglaube, welcher wie wir jetzt sich auf der Pilgerreise befand, setzte sich dort nieder und schlief ein. Nun begab es sich, daß gerade von der Breitwegpforte drei handfeste Kerle herabkamen; ihre Namen waren Zaghaft, Kleinmut und Schuld — drei Brüder. Als sie Kleinglaube erblickten, rannten sie mit Windeseile auf ihn zu. Dieser war eben aus seinem Schlaf aufgewacht und schickte sich an zur Weiterreise. Als er nun plötzlich mit drohender Stimme angerufen wurde und sich von drei Männern umringt sah, entfiel ihm aller Mut, sich zur Wehr zu setzen oder die Flucht zu ergreifen. „Gib deine Börse her!“ rief Zaghaft ihm zu. Er zögerte, denn er wollte sein Geld nicht gern missen. Kleinmut drang nun auf ihn ein, griff in seine Tasche und zog einen Beutel mit Silber heraus. „Diebe, Diebe!“ schrie Kleinglaube, aber Schuld schlug ihn mit seiner Keule auf das Haupt und streckte ihn mit einem Schlag zu Boden. Da lag Kleinglaube nun schwer verwundet und in Gefahr, hier zu verbluten, während die Diebe noch eine Weile um ihn herumstanden. Da sie aber von fern jemand kommen hörten und befürchteten, es möchte ein gewisser Großgnade aus der Stadt Gutezuversicht sein, so machten sich sich aus dem Staube und überließen den armen Mann sich selbst. Nach einiger Zeit kam Kleinglaube zu sich, richtete sich mühsam auf und versuchte kriechend fortzukommen. Das war also die Geschichte.

Hoffnungsvoll. Haben sie ihn gänzlich ausgeraubt?

[S. 152]

Christ. Nein, seine Kleinodien, die den Händen der Diebe entgingen, sind ihm geblieben[118]. Der gute Mann war jedoch über den erlittenen Verlust, nämlich des größten Teiles seines Reisegeldes, fast untröstlich. Außer seinen Kleinodien besaß er zwar noch ein wenig Kleingeld, doch kaum soviel, um bis ans Ende seiner Reise damit auszukommen; ja, er war, wenn ich recht unterrichtet bin, sogar genötigt, unterwegs zu betteln, um sein Leben zu fristen; denn seine Kleinodien durfte er nicht verkaufen. Aber soviel er auch umherging und bettelte, er mußte den größten Teil seiner Reise mit hungrigem Magen zurücklegen[119].

Hoffnungsvoll. Aber war das nicht ein Wunder, daß sie ihm sein Zeugnis, auf welches hin er an der Pforte des Himmels eingelassen werden sollte, nicht abnahmen?

Christ. Allerdings; daß sie es nicht fanden, lag jedoch nicht an seiner Vorsicht, denn durch den Überfall war er so bestürzt, daß er weder die Geistesgegenwart noch das Geschick besaß, irgend etwas zu verbergen. So geschah es also mehr durch die gütige Vorsehung Gottes als durch seine Bemühung, daß ihnen dies köstliche Ding entging[120].

Hoffnungsvoll. Welch ein Trost muß das für ihn gewesen sein, daß sie seine Kleinodien nicht bekamen!

Christ. Das hätte es sein können, wenn er sich dessen recht bewußt gewesen wäre. Allein, wie mir erzählt wurde, war er auf seinem Weg durch diesen Vorfall noch so von Angst und Schrecken erfüllt, daß er lange Zeit seines Schatzes, den er bei sich trug, gar nicht mehr gedachte. Und ob auch zuweilen ein Gedanke daran ihm aufleuchtete wie ein freundlich Sternlein in dunkler Nacht, so verdrängte ihn doch gleich wieder die stets neu aufsteigende Betrübnis über den erlittenen Verlust, wodurch seine Seele allen Trostes beraubt wurde.

Hoffnungsvoll. Ach der arme Mann! Wie ist ihm dadurch das Leben verbittert worden!

Christ. Ja, wie bitter! Versetzen wir uns einmal in diese Lage: in fremder Gegend plötzlich überfallen, beraubt und verwundet zu werden. Wie würde uns da zumute sein! Es ist ein Wunder, daß er nicht gar am Leben verzagte,[S. 153] der Arme! Man hat mir gesagt, daß er den ganzen übrigen Teil seines Weges unter bitterm Wehklagen und Seufzen zurückgelegt habe, und einem jeden, zu dem er kam, habe er eingehend seine Leidensgeschichte erzählt, nämlich wie und wo er ausgeraubt und verwundet worden sei, wer es getan und was er alles verloren, und wie er nur mit knapper Not sein Leben davongebracht habe.

Hoffnungsvoll. Aber auch das ist ein Wunder, daß ihn die Not nicht dazu trieb, etliche seiner Kleinodien zu versetzen oder zu verkaufen, um sich dadurch auf seiner Reise einige Erleichterung zu verschaffen.

Christ. Wie unbedacht du sprichst! Wofür sollte er sie auch verpfänden, oder an wen hätte er sie denn verkaufen können? In jener ganzen Gegend werden diese Dinge für nichts geachtet, und die Erquickung, die er bedurfte, war dort auch nicht zu finden. Überdies, wenn er am Tor der himmlischen Stadt seine Kleinodien nicht hätte vorzeigen können, so hätte er — das wußte er sehr wohl — von seinem Erbteil dort müssen ausgeschlossen bleiben; und wahrlich, das wäre für ihn schlimmer gewesen als ein spitzbübischer Überfall von zehntausend Dieben.

Hoffnungsvoll. Warum ereiferst du dich so, lieber Bruder? Esau verkaufte sein Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht[121], und diese Erstgeburt war sein größtes Kleinod. Warum hätte es nicht auch Kleinglaube ihm gleichtun können?

Christ. Wohl hat Esau sein Erstgeburtsrecht verkauft, und also tun noch viele und schließen sich dadurch gleich diesem Nichtswürdigen selbst aus von dem größten Segen; aber du mußt einen Unterschied machen zwischen beider Lage; Esaus Erstgeburt war vorbildlich, Kleinglaubens Kleinodien aber nicht. Bei Esau war der Bauch sein Gott, bei Kleinglaube aber nicht. Esaus Gebrechen lag in seiner Fleischeslust, was von Kleinglaube nicht gesagt werden kann. Auch hatte Esau nichts anderes als die Befriedigung seiner Lüste im Auge, denn er sagte: „Siehe, ich muß doch sterben; was soll mir denn die Erstgeburt?“ (1. Mos. 25, 32). Aber Kleinglaube ward, wiewohl ihm nur ein geringes Maß von Glauben verliehen war, vor solcher Verirrung bewahrt, und daher achtete er seine Kleinodien zu hoch, als daß er sie[S. 154] verkauft hätte wie Esau seine Erstgeburt. Aus der Schrift ist nirgends zu ersehen, daß Esau auch nur ein Fünklein Glaube besessen habe. Kein Wunder also, wenn jemand, von fleischlichem Sinn beherrscht (wie das immer der Fall ist bei einem Menschen, in dem kein Glaube zum Widerstand ist), dem Teufel seine Erstgeburt, seine Seele, ja sein Alles so leichten Kaufes preisgibt. Ein solcher ist wie ein Wild in der Brunst, das niemand aufhalten kann (Jer. 2, 24). Ist sein Sinn erst einmal auf die Befriedigung seiner Lüste gerichtet, so sucht er dieselbe auch um jeden Preis zu erlangen. Aber Kleinglaube war doch von andrer Art: sein Herz war auf göttliche Dinge gerichtet; seine Nahrung war geistlich und von obenher; wie sollte er also bei solcher Gesinnung seine Kleinodien verkaufen, um sein Herz mit eitlen Dingen zu füllen, selbst wenn sich ein Käufer gefunden hätte. Wird ein Mensch wohl einen Pfennig geben, um seinen Bauch mit Heu zu füllen? Oder kann jemand eine Turteltaube bewegen, vom Aas zu fressen wie ein Rabe? Ein Ungläubiger mag, um seine fleischlichen Lüste zu befriedigen, sich selbst und alles, was er hat, verpfänden, verschreiben oder verkaufen; nie und nimmer tut das einer, der Glauben, seligmachenden Glauben besitzt, und wenn es auch nur in einem geringen Maß sein sollte. Hierin, mein lieber Bruder, liegt dein Irrtum.

Hoffnungsvoll. Ich erkenne das an, aber doch hätten mich deine scharfen Worte beinahe erzürnt.

Christ. Ei, warum denn? Erwäge die Sache selber, darüber wir sprachen, und es wird alles gut zwischen dir und mir stehen.

Hoffnungsvoll. Aber höre, lieber Christ, davon bin ich überzeugt, daß jene drei Kerle nichts als Feiglinge waren. Nahmen sie nicht Reißaus, als von ferne menschliche Schritte an ihr Ohr drangen? Warum zeigte Kleinglaube nicht mehr Mut? Meines Erachtens hätte er sich einmal zur Wehr setzen und erst dann ergeben sollen, als ihm keine Hilfe mehr in Aussicht stand.

Christ. Daß sie Feiglinge sind, haben schon viele gesagt, aber wenige haben es auch zur Zeit der Anfechtung gefunden. Großen Mut hat allerdings Kleinglaube nicht bewiesen. Aber ich merke an dir, mein Bruder, daß du an seiner Stelle auch nur einen Angriff gewagt und dann klein[S. 155] beigegeben hättest. Wohl kannst du jetzt, da die Feinde weit von uns sind, von großem Mut sprechen, aber wenn sie dir selber begegnet wären, so würden sie dich schon auch auf andre Gedanken gebracht haben. Bedenke ferner, daß diese herumstreichenden Straßenräuber unter dem König des bodenlosen Abgrunds dienen, der ihnen, sooft sie’s bedürfen, selber Beihilfe leistet, und dessen Stimme ist wie das Brüllen des Löwen (1. Petr. 5, 8). Ich bin auch einmal wie Kleinglaube von diesen drei Spitzbuben überfallen worden und fand es in der Tat erschrecklich; und als ich mich, wie es einem Christen gebührt, ihnen mannhaft entgegenstellte, war auf ihren Ruf auch gleich ihr Meister zur Stelle. Und wahrlich, ich hätte keinen Heller, wie man zu sagen pflegt, für mein Leben gegeben, wäre ich nicht nach Gottes gnädigem Willen mit einem bewährten Harnisch angetan gewesen. Und ob ich gleich so geharnischt war, fand ich es doch schwer, als ein Mann den Kampf zu bestehen. Kein Mensch vermag zu sagen, was in solchem Kampf einem begegnet, als der ihn selbst bestanden.

Hoffnungsvoll. Gut, aber sie liefen ja, wie du siehst, davon, schon als sie einen gewissen Großgnade auf dem Weg vermuteten.

Christ. Allerdings haben sie und ihr Meister oft die Flucht ergriffen, wenn Großgnade sich nur sehen ließ; das ist auch kein Wunder, denn es ist einer von des Königs Helden. Ich denke, du wirst aber einen Unterschied machen zwischen Kleinglaube und einem dieser Helden. Nicht alle Untertanen des Königs sind auch Helden und können wie jener solche Taten vollbringen, wenn es zum Treffen kommt. Erwartet man von einem kleinen Kind, daß es wie David den Kampf mit dem Riesen Goliath aufnimmt? Oder sucht man bei einem Zaunkönig die Stärke eines Ochsen? Etliche sind stark, etliche schwach; etliche haben einen großen Glauben, etliche sind kleingläubig. Dieser Mann war einer von den Schwachen, und daher leicht zu überwinden.

Hoffnungsvoll. Ich wünschte, daß die Diebe es mit Großgnade selber zu tun bekommen hätten.

Christ. Auch er wäre nicht so leicht Herr über sie geworden; denn obgleich Großgnade seine Waffen vortrefflich zu führen versteht, wird auch er nur solange die Oberhand behalten, als er seine Gegner mit des Schwertes[S. 156] Spitze von sich halten kann. Gelingt es aber Zaghaft und Kleinmut oder einem andern, auf ihn einzudringen, wird es schwer halten, sich vor dem Niederfallen zu bewahren. Und wenn einer einmal daliegt, so weißt du wohl, was er noch ausrichten kann. Wer Großgnade recht genau ins Angesicht sieht, der wird da verschiedene Narben wahrnehmen, die meine Worte bestätigen. Ja, ich hörte sogar, daß er von einem solchen Kampf gesagt haben soll: „Wir verzagten auch am Leben und hatten bei uns beschlossen, wir müßten sterben“ (2. Kor. 1, 8. 9). In welch Trauern, Klagen und Seufzen kam David durch diese schlimmen Gesellen und deren Helfer! Ja auch Heman (Ps. 88) und Hiskia, Helden zu ihrer Zeit, mußten alle Kräfte aufbieten, um im Kampfe mit ihnen nicht den kürzeren zu ziehen, und nichtsdestoweniger wurden sie dabei gewaltig mitgenommen. Petrus wollte auch einst versuchen, was er ausrichten könnte. Aber obschon er der Fürst unter den Aposteln genannt wird, so trieben sie’s doch also mit ihm, daß ihm zuletzt vor einer elenden Magd bange ward.

Ihr König ist überdies ganz nahe und auf ihr erstes Rufen bereit und eilt, wenn ihnen der Untergang droht, wo möglich gleich zur Hilfe herbei. Von ihm steht geschrieben: „Wenn er sich erhebt, so entsetzen sich die Starken; und wenn er daherbricht, so ist keine Gnade da. Wenn man zu ihm will mit dem Schwert, so regt er sich nicht, oder mit Spieß, Geschoß und Panzer. Er achtet Eisen wie Stroh, und Erz wie faules Holz. Kein Pfeil wird ihn verjagen; die Schleudersteine sind ihm wie Stoppeln; die Keule achtet er wie Stoppeln; er spottet der bebenden Lanze“ (Hiob 41, 17-21). Was kann ein Mann in einem solchen Fall tun? Ja, wenn einer Hiobs Pferd dann stets zur Verfügung hätte und Gewandtheit und Mut dazu, es zu reiten, so könnte man wohl große Dinge ausrichten; denn „es stampft auf den Boden und ist freudig mit Kraft und zieht aus, den Geharnischten entgegen. Es spottet der Furcht und erschrickt nicht und flieht vor dem Schwert nicht, wenngleich über ihm klingt der Köcher und glänzen beide, Schwert und Lanze. Es zittert und tobt und scharrt in die Erde und läßt sich nicht halten bei der Drommete Hall. Sooft die Drommete klingt, spricht es: Hui! und wittert den Streit von ferne, das Schreien der Fürsten und Jauchzen“ (Hiob 39, 21-25).[S. 157] Aber solche Fußgänger wie wir sollten nie ein Zusammentreffen mit dem Feind herbeiwünschen noch denken, daß wir es bessermachen würden als solche, von denen wir hören, daß sie unterlegen sind; noch sollten wir uns kitzeln mit Gedanken an unsre eigene Mannhaftigkeit, denn solche unterliegen gewöhnlich noch am ersten im Streit. Als Beispiel diene uns nochmals Petrus. Wie hatte er sich vermessen; wenn auch alle Jünger den Herrn verließen, wolle er mit Ihm in den Tod gehen, und wer ist durch jene Bösewichter je schmählicher zuschanden geworden als er?

Wenn uns daher solche Räubereien auf der Heerstraße zu Ohren kommen, so laß uns zweierlei beachten:

Erstens müssen wir geharnischt hinausgehen und ja den Schild mit uns führen; denn weil dieser ihm fehlte, konnte er, der so mutig den Speer gegen Leviathan einlegte, denselben nicht bezwingen. Das ist gewiß, wenn wir den nicht haben, fürchtet er sich nicht im geringsten vor uns. Darum sagte einer, der sich auf diesen Streit wohl verstand: „Vor allen Dingen aber ergreifet den Schild des Glaubens, mit welchem ihr auslöschen könnt alle feurigen Pfeile des Bösewichts“ (Eph. 6, 16).

Und zweitens wollen wir den König anflehen, daß Er uns durch Seine starken Helden beschirmen wolle, ja, daß Er selbst bei uns sei und uns geleite auf unserm Weg. Über diesen Geleitsmann jauchzte David mitten im finstern Tal[122], und Mose wollte lieber sterben als einen Schritt weiterziehen ohne seinen Gott[123]. O mein Bruder, wenn der Herr mit uns zieht, so dürfen wir uns nicht fürchten vor vielen Tausenden, die sich umher wider uns legen (Ps. 3, 7). Aber ohne Ihn müssen die gewaltigsten Helden unter die Gefangenen gebeugt werden und unter die Erschlagenen fallen (Jes. 10, 4).

Auch ich bin schon im Gefecht gewesen, und ich bin durch die Güte des Herrn noch am Leben, wie du siehst; aber ich kann mich meiner Tapferkeit nicht rühmen. Ich wäre froh, wenn ich nicht wieder zu solch einem Kampf genötigt würde; aber ich fürchte, wir haben noch nicht alle Gefahren überstanden. Nun, der Herr, der mich von dem[S. 158] Löwen und Bären errettet hat, der wird mich auch aus der Hand aller Feinde erretten (1. Sam. 17, 37).

Hierauf sang Christ:

Wär auch mein Glaub’ wie Senfkorn klein,
Und daß man ihn kaum merke,
Wollst Du doch in mir mächtig sein,
Daß Deine Gnad’ mich stärke,
Die das zerbrochne Rohr nicht bricht,
Den glimmend Docht auch vollends nicht
Auslöschet in den Schwachen.
Herr Jesus, der Du angezünd’t
Das Fünklein in mir Schwachen,
Was sich von Glauben in mir find’t,
Du wollst es stärker machen.
Was Du begonnen, das vollführ
Bis an das End’, daß dort bei Dir
Auf Glauben folg das Schauen.

Fußnoten:

[117] Die Missetat des Gottlosen wird ihn fangen, und er wird mit dem Strick seiner Sünde gehalten werden (Spr. 5, 22).

[118] Das unvergängliche und unbefleckte und unverwelkliche Erbe, das behalten wird im Himmel (1. Petr. 1, 4).

[119] So der Gerechte kaum erhalten wird, wo will der Gottlose und Sünder erscheinen? (1. Petr. 4, 18.)

[120] Ich weiß, an wen ich glaube, und bin gewiß, Er kann mir bewahren, was mir beigelegt ist, bis an jenen Tag (2. Tim. 1, 12).

[121] Daß nicht jemand sei ein Gottloser wie Esau, der um einer Speise willen seine Erstgeburt verkaufte (Hebr. 12, 16).

[122] Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn Du bist bei mir (Ps. 23, 4).

[123] Wo nicht Dein Angesicht vorangeht, so führe uns nicht von dannen hinauf (2. Mos. 33, 15).

Schlussvignette Kapitel I, 10

[S. 159]

Kopfstück, Kapitel I, 11

Elftes Kapitel.
Durch einen falschen Apostel betört.
Über den bezauberten Grund.

S

So gingen die Pilger ihres Wegs, und Unwissend folgte. Bald kamen sie an eine Stelle, wo sich der Weg auf eine solche Weise teilt, daß sie den rechten Weg durchaus nicht von dem falschen zu unterscheiden wußten. Während sie noch miteinander berieten, kam ein schwarzer Mann mit einem hellstrahlenden Kleid[124] auf sie zu und fragte, warum sie hier stehengeblieben. Sie antworteten, daß sie nach der himmlischen Stadt gingen, aber nicht wüßten, welchen von beiden Wegen sie einschlagen sollten.

„Folget mir,“ sagte der Mann, „auch ich gehe dahin.“

Sie folgten ihm auf dem sich an die Straße anschließenden Weg, der aber, wie sie bald merkten, immer mehr von der himmlischen Stadt, der sie doch zustrebten, abführte, so daß sie diese schließlich gar nicht mehr sehen konnten. Dennoch folgten sie ihm; aber nach und nach, ehe sie es gewahr wurden, sahen sie sich in Schlingen verstrickt, aus denen sie, aller Anstrengung ungeachtet, sich nicht zu befreien vermochten. Der Schwarze ließ nun sein Kleid fallen, und sie erkannten, in wessen Hände sie gefallen waren. Da lagen sie nun eine geraume Zeit und schrien laut, als sie keinen Ausweg mehr finden konnten.

„Ach,“ sagte Christ zu seinem Gefährten, „nun sehe ich; daß ich mich habe in die Irre führen lassen. Sagten uns nicht die Hirten beim Abschied: Hütet euch vor dem Verführer![S. 160] Nun hat sich an uns das Wort des Weisen erfüllt: Wer mit seinem Nächsten heuchelt, der breitet ein Netz aus für seine Tritte“ (Spr. 29, 5).

Hoffnungsvoll. Sie versahen uns auch mit einer genauen Beschreibung des Weges, wir haben aber nicht darin gelesen und uns nicht vor dem Weg des Mörders gehütet. Da war David weiser als wir, denn er sagt: „Ich bewahre mich in dem Wort Deiner Lippen vor Menschenwerk, vor dem Weg des Mörders“ (Ps. 17, 4).

So lagen sie nun im Netz gefangen und beweinten ihre Torheit mit heißen Tränen. Endlich sahen sie einen Glänzenden mit einer Geißel in der Hand auf sie zukommen.

„Woher kommt ihr?“ fragte er, „und was tut ihr hier?“

„Wir sind arme Pilgrime,“ antworteten sie, „und wandern nach Zion. An jenem Scheideweg hat uns ein schwarzer Mann in einem hellen Kleid vom Weg abgeführt. Wir sollten ihm nur folgen, sagte er, er gehe auch nach Zion.“

„Das ist ein Verführer, ein falscher Apostel, der sich in einen Engel des Lichts verstellt hat,“ sprach der Glänzende, indem er die Schlingen auseinanderriß. „Folgt mir!“ fuhr er fort und führte sie auf den rechten Weg zurück.

„Wo habt ihr zuletzt geruht?“ fragte er.

„Bei den Hirten auf den lieblichen Bergen,“ antworteten sie.

„Haben sie euch nicht eine Beschreibung des Weges mitgegeben?“

„Ja.“

„Habt ihr nicht am Scheideweg in dieser Beschreibung nachgesehen?“

Sie mußten bekennen, daß sie dies nicht getan, daß sie es gänzlich vergessen hatten.

„Haben euch die Hirten nicht vor dem Verführer gewarnt?“ fragte der Glänzende weiter.

„Ja,“ sagten die Pilger, „aber wir ahnten nicht, daß es dieser angenehme, süßredende Mann sein könnte[125].“

Hierauf stellte er ihnen ihre große Torheit vor Augen, befahl ihnen, sich niederzulegen, und züchtigte sie scharf mit seiner Geißel. „Welche ich liebhabe,“ sprach er, „die[S. 161] strafe und züchtige ich[126]. So seid nun fleißig und tut Buße (Offenb. 3, 19). Geht nun weiter und achtet genau auf die andern Anweisungen der Hirten!“

So bedankten sie sich für alle ihnen erwiesene Güte und wanderten vorsichtig weiter auf dem richtigen Weg, indem sie sangen:

König, dem wir beide dienen —
Ob im Geist, das weißest Du —
Rette uns durch Dein Versühnen
Aus der ungewissen Ruh’!
Vater, Deine treue Gnade
Brauche sanft und herbe Zucht,
Wenn wir nur auf unserm Pfade
Dir noch bringen reife Frucht.
O Du Hort des neuen Lebens,
Geist des Lichtes und der Kraft,
Zücht’ge doch uns nicht vergebens
Auf der kurzen Wanderschaft!

Nach kurzer Zeit erblickten sie auf der Straße einen Mann, der langsam und ohne Begleitung ihnen entgegenkam. Da sprach Christ zu seinem Gefährten: „Dort sehe ich einen Mann auf uns zukommen, der Zion den Rücken gekehrt hat.“

Hoffnungsvoll erwiderte: „Ich sehe ihn wohl; laß uns nun auf unsrer Hut sein, vielleicht ist er auch ein Verführer.“

Als er nun — sein Name war Atheist (Gottesleugner) — mit den Pilgern zusammentraf, redete er sie an und fragte nach dem Ziel ihrer Reise.

„Wir gehen,“ antwortete Christ, „nach dem Berg Zion.“

Bei diesen Worten brach Atheist in ein lautes Gelächter aus.

Christ. Was soll dein Gelächter bedeuten?

Atheist. Daß ihr so unwissende Menschen seid und einen so beschwerlichen Weg geht, von dem ihr nichts als Elend ernten werdet.

Christ. Warum? Meinst du, wir würden nicht angenommen werden?

[S. 162]

Atheist. Nicht angenommen? Es gibt in der ganzen weiten Welt keinen solchen Ort, wie ihr euch träumen lasset.

Christ. In dieser Welt allerdings nicht, aber in der zukünftigen.

Atheist. Auch ich habe in meinem Vaterland von dieser Stadt gehört, ich habe mich aufgemacht, sie zu sehen, habe nun zwanzig Jahre lang gesucht und nichts gefunden[127].

Christ. Wir beide haben es nicht nur gehört, sondern es auch geglaubt, daß es eine solche Stadt gibt.

Atheist. Hätte ich es damals nicht auch geglaubt, ich wäre nicht so weit gegangen, um sie zu suchen. Wäre sie zu finden gewesen, ich hätte sie gefunden, denn ich bin weiter gekommen als ihr. Da ich aber nichts fand, kehrte ich wieder um und will nun lieber das Leben genießen, als mich eitler Hoffnungen zu getrösten.

„Sollte es wohl wahr sein, was dieser Mann sagt?“ sprach Christ, indem er sich zu seinem Gefährten wandte.

„Hüte dich,“ antwortete Hoffnungsvoll, „dies ist ein Verführer. Wieviel hat es uns schon gekostet, daß wir einem solchen Menschen Gehör gaben! Wie? es sollte keine himmlische Stadt geben? Haben wir nicht von den lieblichen Bergen aus schon ihre Tore erblickt? Sollten wir nicht auch jetzt im Glauben wandeln[128]? Laß uns vorwärts gehen, sonst möchte der Mann mit der Geißel wieder über uns kommen. Du hättest mir die Ermahnung geben sollen, die ich dir jetzt zurufen muß: Laß ab, mein Sohn, zu hören die Zucht, und doch abzuirren von vernünftiger Lehre (Spr. 19, 27). Ja, ich sage: Höre nicht auf den Verführer, mein Bruder, laß uns glauben, auf daß wir unsre Seelen erretten“ (Hebr. 10, 39).

Christ. Ich weiß es wohl, lieber Bruder, ich zweifelte nicht an der Wahrheit unsres Glaubens, ich wollte dich nur prüfen und mich über die Festigkeit deines Glaubens freuen. Dieser Mann ist verblendet von dem Gott dieser Welt[129]. Wir wollen gehen, denn wir erkennen die Wahrheit, und in der Wahrheit ist keine Lüge (1. Joh. 2, 21).

Hoffnungsvoll freute sich und sprach: „Wie wird uns sein, wenn wir die Herrlichkeit Gottes sehen!“

[S. 163]

Sie wandten sich also von diesem Mann ab, der ihrer lachte und seines Weges ging.

Bald darauf kamen die Pilger in eine gewisse Gegend, wo die Schwere der Luft den Wanderer matt und schläfrig macht. Hoffnungsvoll fühlte sich denn auch hier auf einmal so dumpf und träge, daß er seine Augen kaum noch offen halten konnte. „Laß uns hier ein wenig schlummern,“ sagte er zu seinem Gefährten.

„Nicht einen Augenblick,“ versetzte jener, „wir möchten sonst schlafen, um nie wieder aufzuwachen.“

„Warum, mein Bruder?“ sagte Hoffnungsvoll. „Ist doch der Schlaf dem Wanderer süß, und wir würden nachher desto frischer weiterziehen.“

Christ. Erinnerst du dich der Warnung des Hirten nicht mehr, auf dem bezauberten Grund zu schlafen? So laß uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern laß uns wachen und nüchtern sein! (1. Thess. 5, 6).

Hoffnungsvoll. Ich erkenne meinen Fehler; wäre ich hier allein gewesen, ich wäre in den Todesschlaf versunken. Wie wahr ist es doch, was der Weise sagt: „Zwei sind besser als einer“ (Pred. 4, 9). Bis hierher ist mir deine Gesellschaft zum Segen gewesen, und du wirst für deine Treue wohl belohnt werden.

Christ. Komm denn, laß uns, um uns der Schläfrigkeit an diesem Ort zu erwehren, ein nützliches Gespräch miteinander führen.

Hoffnungsvoll. Von Herzen gern.

Christ. Womit wollen wir denn anfangen?

Hoffnungsvoll. Wir wollen zuerst von dem reden, wie Gott angefangen hat, sich unser anzunehmen.

„Gut,“ sprach Christ, „aber zuvor laß mich dir noch etwas vorsingen:

Freundschaft, du Himmelsgabe, die uns der Herr gesandt,
Daß unser Herz sich labe hier in dem Pilgerstand!
Balsam bist du den Wunden, Mut gibst du uns zum Streit,
Trost in den schweren Stunden, Schutz in Versuchungszeit.
Freundschaft, du sollst uns nützen, daß wir mit Liebeskraft
Stets uns ermuntern, stützen, stärken zur Wanderschaft,
Reizen zu guten Werken und zur Genügsamkeit,
Wo wir Gefahren merken, warnen zur rechten Zeit.

[S. 164]

„Und nun,“ fuhr er fort, „sag mir doch einmal: Was brachte dich denn eigentlich zuerst auf den Gedanken, dich auf die Pilgerreise zu begeben?“

Hoffnungsvoll. Du meinst wohl, was mir den ersten Anstoß gab, auf das Heil meiner Seele bedacht zu sein.

Christ. Ja, das meine ich.

Hoffnungsvoll. Ich ergötzte mich lange an den Dingen, die auf unserm Jahrmarkt zu sehen und zu kaufen waren, die mich aber schließlich, wenn ich mich nicht von ihnen losgemacht hätte, ohne Zweifel ins Elend und Verderben gestürzt haben würden.

Christ. Was für Dinge waren denn das?

Hoffnungsvoll. Mein Herz hing an den Gütern und Vergnügungen der Welt, ich entheiligte den Namen und den Tag des Herrn, ich hatte große Freude an Schmausereien und Trinkgelagen, ich verfiel in Lüge und Unzucht. Aber da hörte ich von dir und deinem lieben Getreu, der um des Glaubens willen auf dem Eitelkeitsmarkt sein Leben ließ, daß das Ende aller dieser Dinge der Tod sei und daß um ihretwillen der Zorn Gottes über die Kinder des Unglaubens komme (Eph. 5, 6).

Christ. Warst du sogleich von dieser Wahrheit überzeugt?

Hoffnungsvoll. Nein, anfangs widerstand ich noch, ich wollte es nicht erkennen, daß die Sünde ein so großes Übel, daß sie die Ursache der Verdammnis sei. Wurde ich von dem Wort des Herrn getroffen, so suchte ich meine Augen vor dem Licht zu verschließen.

Christ. Was war aber die Ursache, daß du den ersten Wirkungen des Geistes Gottes also widerstrebtest?

Hoffnungsvoll. Die Ursachen waren diese: 1. Ich wußte nicht, daß dies Gottes Werk in mir war, ebensowenig daß Gott bei der Bekehrung eines Sünders damit anfängt, indem Er ihn zur Erkenntnis der Sünden bringt; 2. war mir die Sünde noch sehr angenehm, und ich war nicht geneigt, mich von ihr zu scheiden; 3. mochte ich meine alten Freunde nicht aufgeben, da mir ihre Gesellschaft ein Genuß war, und 4. wurde ich zuweilen durch das immer mehr aufwachende Gewissen von einer unerträglichen Unruhe befallen.

Christ. Du wurdest also, wie es scheint, zeitweise deiner Unruhe los?

[S. 165]

Hoffnungsvoll. Allerdings, aber sie verließ mich nur, um bald wieder in verstärktem Maße zurückzukehren.

Christ. Aber was war es denn, was dir deine Sünden immer wieder aufs neue zu Gemüte führte?

Hoffnungsvoll. Mancherlei, z. B. wenn ich einem Frommen auf der Straße begegnete, wenn ich ein Wort der Heiligen Schrift zu hören bekam, ja, wenn mich die geringste Unpäßlichkeit anwandelte, wenn ich von der Krankheit oder dem Tod eines Nachbarn hörte, so wachte die Angst meines Herzens wieder auf, ich sah mich schon auf dem Sterbebett, ja vor dem Richterstuhl des Allwissenden.

Christ. Hast du es nicht dann und wann versucht, diese quälenden Gedanken von dir abzuschütteln?

Hoffnungsvoll. Suchte ich dieser Unruhe zu entgehen, so wurde sie desto größer, und die Stimme des Gewissens ließ sich desto vernehmlicher hören; wollte ich zur sündlichen Ergötzung zurück, so verdoppelte sich meine Qual.

Christ. Und wie machtest du es dann?

Hoffnungsvoll. Ich dachte, ich müsse mich bestreben, mein Leben zu bessern, sonst würde ich gewiß verdammt werden.

Christ. Und hast du wirklich den Versuch gemacht, dich zu bessern?

Hoffnungsvoll. Ja, ich mied nicht nur meine Sünden, sondern auch meine bisherigen Freunde; ich fing auch an zu beten und zu lesen, ich beweinte meine Sünden, ich bemühte mich, mit meinem Nächsten die Wahrheit zu reden und was dergleichen religiöse Übungen mehr sind, die ich nun nicht alle aufzählen will.

Christ. Und wurdest du dadurch befriedigt?

Hoffnungsvoll. Eine Zeitlang wohl, ich freute mich meiner Besserung; aber plötzlich überfiel mich wieder die vorige Angst.

Christ. Wie kam das, da du dich doch nun gebessert hattest?

Hoffnungsvoll. Diese erneute Unruhe wurde namentlich durch folgende Sprüche hervorgebracht: „Alle unsre Gerechtigkeit ist wie ein unflätig Kleid“ (Jes. 64, 5). „Durch des Gesetzes Werke wird kein Fleisch gerecht“ (Gal. 2, 16). „Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen ist, so sprechet: Wir sind unnütze Knechte;[S. 166] wir haben getan, was wir zu tun schuldig waren“ (Luk. 17, 10) und andre ähnliche Stellen. Daraus zog ich nun den Schluß: Wenn alle meine Gerechtigkeit wie ein unflätig Kleid ist, wenn durch des Gesetzes Werke niemand gerecht wird und wir dennoch unnütze Knechte sind, selbst, wenn wir unsre Schuldigkeit erfüllt haben, so ist es ja eine Torheit, daß ich durch die Werke des Gesetzes die Seligkeit verdienen will. Zum Beispiel: jemand ist einem Kaufmann tausend Mark schuldig, auch wenn er nachher alles andre sogleich bezahlt, was er von ihm bezieht, so bleiben doch die tausend Mark im Schuldbuch stehen, und der Kaufmann kann den Schuldner in das Gefängnis bringen lassen, bis er alles bezahlt hat.

Christ. Wie hast du das auf dich selber angewandt?

Hoffnungsvoll. In dem Buch des allwissenden Gottes, so sagte ich mir, stehen alle meine Sünden, steht meine große Schuld verzeichnet. Wenn ich mich nun auch bessere, wer tilgt meine alte Schuld aus Gottes Buch? Wie will ich der Verdammnis entgehen, die ich durch meine früheren Übertretungen verdient habe?

Christ. Das ist eine sehr gute Anwendung, aber fahre bitte fort!

Hoffnungsvoll. Betrachtete ich überdies mein gegenwärtiges Leben genau, so entdeckte ich immer neue Sünden, ich entdeckte Sünden an meinen besten Werken; ich sah mein grundloses Verderben, und mein Herz wollte verzweifeln. Hatte ich mich früher recht gedünkt, so fand ich nun an einem einzigen Werk so viele Sünden, daß sie allein schon mich hätten verdammen müssen, wäre auch mein übriges Leben engelrein gewesen.

Christ. Und was fingst du nun an?

Hoffnungsvoll. Ich wußte nicht, was ich tun sollte, bis mich Getreu entdeckte, den ich noch von früher her kannte. Kannst du nicht, so sagte er mir, die Gerechtigkeit eines Menschen erlangen, der niemals gesündigt hat, so kann dich die Gerechtigkeit der ganzen Welt nicht retten.

Christ. Glaubtest du seinen Worten?

Hoffnungsvoll. Hätte er mir das damals gesagt, als ich an meiner Selbstbesserung Gefallen hatte, so hätte ich ihn wohl für einen Narren gehalten. Da ich nun aber gedemütigt war und die Schwachheit und Sünde kannte, die[S. 167] meinen besten Taten anklebten, so mußte ich ihm wohl recht geben.

Christ. Aber was hast du dabei gedacht, als er dir von einem völlig sündlosen Mann sagte, von einem Reinen unter denen, da keiner rein ist?

Hoffnungsvoll. Anfangs freilich, das muß ich gestehen, klangen mir seine Worte wie ein Märlein; doch wurde ich im weitern Verlauf des Gesprächs vollkommen davon überzeugt.

Christ. Fragtest du nicht, wer der Mann sei und wie du durch Ihn gerechtfertigt werden könntest?

Hoffnungsvoll. Ja; und er sagte mir, daß es der Herr Jesus sei, der da sitzt zu der Rechten der Majestät in der Höhe (Hebr. 1, 3). „Durch Ihn allein,“ fuhr er fort, „kannst du gerecht werden; du mußt vertrauen auf alles, was Er in den Tagen Seiner Erniedrigung getan, was Er am Stamm des Kreuzes erduldet hat[130].“ Ich fragte ihn weiter, wie dieses Mannes Gerechtigkeit eine solche Kraft und Gültigkeit haben könne, einen andern vor Gott zu rechtfertigen. Er sprach zu mir, daß Er der allmächtige Gott wäre, was Er getan und gelitten, sei um meinetwillen geschehen, Sein Gehorsam und Seine Genugtuung werden mir zugute kommen, wenn ich an Ihn glaube[131].

Christ. Und was tatest du nun weiter?

Hoffnungsvoll. Ich gab es zu, daß der Herr wohl die Sünden der Welt getragen habe, daß Er allen andern Menschen ein gnädiger Heiland sei, aber ich konnte nicht glauben, daß Er auch mich erretten wolle.

Christ. Und was hat Getreu dir darauf geantwortet?

Hoffnungsvoll. Er ermunterte mich, zu dem Herrn zu gehen. Ich hielt dies für Vermessenheit, bis er mir versicherte, daß ich ja eingeladen sei, zu Ihm zu kommen[132]. Er gab mir alsdann ein Buch, vom Herrn selbst eingegeben, um mich desto beherzter zu machen, die Einladung anzunehmen; und er bezeugte von diesem Buch, daß jedes Wort, jeder Buchstabe fester stehe als Himmel und Erde[133]. Hierauf fragte[S. 168] ich, was ich tun müßte, wenn ich zu Ihm käme. Getreu erwiderte, daß ich auf den Knien[134] vom Grunde meines Herzens den Vater im Himmel anflehen müßte[135], daß Er mir Seinen Sohn wolle offenbaren[136]. Ich fragte weiter, wie ich Ihm meine Bitten vortragen müßte: „Du findest Ihn,“ sagte er, „das ganze Jahr auf dem Thron der Gnade, um Vergebung der Sünden zu schenken allen, die zu Ihm kommen[137].“ Nun wandte ich noch ein, ich wisse nicht, was ich sagen sollte, wenn ich zu Ihm käme. Da hieß er mich also beten: „Gott, sei mir Sünder gnädig; verleihe es mir, Deinen Sohn zu erkennen und an Ihn zu glauben; denn ich weiß, daß ich ohne Seine Gerechtigkeit und ohne den Glauben an Ihn auf ewig verloren bin. Herr, ich habe gehört, daß Du ein barmherziger Gott bist, daß Du Deinen Sohn verordnet hast zum Heiland der Welt und daß Du willig bist, Ihn den armen Sündern zu schenken, — und wahrlich, ich bin ein großer Sünder! Herr, hier bin ich, erhöre mich und verherrliche Deinen Namen und errette meine Seele durch Deinen Sohn Jesus Christus! Amen.“

Christ. Und hast du getan, wie er dich’s lehrte?

Hoffnungsvoll. Ja, freilich, und das nicht nur einmal, sondern immer wieder.

Christ. Und wurde dir der Sohn Gottes geoffenbart?

Hoffnungsvoll. Ich mußte mich oft auf meine Knie niederwerfen und immer wieder beten; aber wie ehern war der Himmel über mir.

Christ. Was tatest du denn da?

Hoffnungsvoll. Ja, ich wußte wirklich nicht, was ich tun sollte.

Christ. Kam dir nie der Gedanke, vom Beten abzulassen?

Hoffnungsvoll. Jawohl, unzähligemal.

Christ. Aber wie kam es, daß du es doch nicht tatest?

Hoffnungsvoll. Ich war mir dessen bewußt, daß ohne die Gerechtigkeit Christi mich die ganze Welt nicht erretten konnte. Unterlasse ich das Beten, dachte ich, so muß ich[S. 169] sterben, und das Ärgste, was mir vor dem Thron der Gnade widerfahren kann, ist auch nur der Tod. In diesem Augenblick kam mir das Wort des Propheten in den Sinn: „Ob auch die Erfüllung der Verheißung verzieht, so harre ihrer: sie wird gewiß kommen und nicht ausbleiben“ (Hab. 2, 3). Also verharrte ich im Gebet, bis mir der Vater den Sohn offenbarte.

Christ. Und wie ward Er dir denn geoffenbart?

Hoffnungsvoll. Ich sah Ihn nicht mit meinen leiblichen Augen, aber mit den Augen meines Verständnisses, und das ging also zu: Eines Tages war ich über die Maßen betrübt, die Menge und Größe meiner Sünden beugten mich in den Staub. Von ganzem Herzen hatte ich gebetet, und es kam keine Hilfe. Bin ich verloren? Bin ich auf ewig von Dir verstoßen, mein Gott? Und während ich von solchen Gedanken erfüllt war, dünkte es mich, als ob sich der Himmel öffnete und der Herr Jesus auf mich niederblickte und mir zuriefe: „Glaube an den Herrn Jesus Christus, so wirst du selig werden!“ (Apostelg. 16, 31.) „Ach, Herr,“ sagte ich, „ich bin ein großer, sehr großer Sünder.“ Und Er antwortete: „Laß dir an Meiner Gnade genügen!“ (2. Kor. 12, 9.) „Was ist Glauben?“ fragte ich. „Wie soll ich glauben?“ Er sprach: „Wer zu Mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an Mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten“ (Joh. 6, 35). Und ich verstand, daß Glauben und Kommen ein und dasselbe sei, und daß jeder, der sich von Grund der Seele nach der Erlösung durch Jesus Christus sehnt, wahrhaftig an Ihn glaubt. Mit Tränen fragte ich weiter: „Aber, Herr, kannst Du denn wirklich einen so großen Sünder, wie ich bin, annehmen und selig machen?“ Und ich hörte Ihn sagen: „Wer zu Mir kommt, den werde Ich nicht hinausstoßen“ (Joh. 6, 37). Darauf sagte ich: „Aber wie muß ich Dich betrachten, wenn ich komme, damit mein Glaube der rechte sei?“ Er antwortete: „Jesus Christus ist in die Welt gekommen, die Sünder selig zu machen (1. Tim. 1, 15); Er ist des Gesetzes Ende; wer an Ihn glaubt, der ist gerecht (Röm. 10, 4); Er ist um unsrer Sünden willen dahingegeben und um unsrer Gerechtigkeit willen auferweckt (Röm. 4, 25); Er hat uns geliebt und gewaschen von den Sünden mit Seinem Blut (Offenb. 1, 5); Er[S. 170] ist der Mittler zwischen Gott und den Menschen (1. Tim. 2,5); Er lebt immerdar und bittet für uns“ (Hebr. 7, 25). Aus alledem kam ich zu der Erkenntnis, daß ich die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, allein im Sohn und die Versöhnung für meine Sünden in Seinem Blut suchen müsse; denn alles, was Er aus Gehorsam gegen den Willen Seines Vaters getan, und daß Er die Strafe auf sich genommen, sei nicht geschehen für Ihn, sondern für die, welche solches zu ihrer Seligkeit annehmen und Ihm dafür dankbar sind. Darüber ward mein Herz voller Freude, meine Augen voll Tränen, ich glühte in Liebe zu dem Herrn Jesus Christus, zu Seinem Volk und hatte Lust zu Seinen Wegen.

Christ. Das war in der Tat eine Offenbarung Christi an deiner Seele. Aber sage mir doch, was für eine Wirkung dieses auf deinen Geist hatte.

Hoffnungsvoll. Es ging mir darüber ein Licht auf, daß die ganze Welt, trotz ihrer vermeintlichen Gerechtigkeit, der Verdammnis anheimfallen wird. Ich erkannte, daß Gott der Vater, Seiner Gerechtigkeit unbeschadet, den Sünder, der um Gnade fleht, rechtfertigen kann. Ich blickte mit tiefer Beschämung auf mein Leben, auf meine große Unwissenheit zurück, denn nie vorher hatte ich etwas von dieser Schönheit und Herrlichkeit Jesu Christi geahnt. Ich sehnte mich nach einem heiligen Leben, ich sehnte mich, den Namen des Herrn Jesus zu ehren und zu verherrlichen. Ja, jeden Tropfen Blutes in meinen Adern wollte ich zur Ehre des Herrn vergießen.

Ich sah nun in meinem Traum, daß Hoffnungsvoll sich umwandte, und da er Unwissend nachkommen sah, sprach er zu Christ: „Sieh doch, wie dieser junge Mann so gemächlich hinter uns hergeht!“

Christ. Ich sehe es wohl, er meidet unsre Gesellschaft.

Hoffnungsvoll. Aber ich denke, es würde ihm nichts geschadet haben, hätte er bisher mit uns Schritt gehalten.

„Das meine ich auch,“ erwiderte Christ, „aber hierüber wird er andrer Meinung sein.“

Sie beschlossen nun, noch einen Versuch zur Rettung seiner Seele zu wagen. Sie erwarteten ihn, und Christ redete ihn liebreich an: „Warum wanderst du ganz allein?“

„So ist es mir lieber,“ antwortete Unwissend, „als mit einer Gesellschaft zu gehen, die mir nicht zusagt.“

[S. 171]

Christ sprach im Flüsterton zu Hoffnungsvoll: „Sagte ich dir’s nicht, daß wir ihm nicht genehm sind?“ und fuhr fort, sich an Unwissend wendend: „Nun, wie geht es dir? Wie steht es zwischen Gott und deiner Seele?“

Unwissend. Ich hoffe gut; denn mein Herz ist immer voll von guten Gedanken, die mir meine Wanderschaft versüßen.

Christ. Sage uns, bitte, was sind das für gute Gedanken?

Unwissend. Ich beschäftige mich mit Gott und dem Himmel.

Christ. Das tun die Teufel und die verdammten Seelen auch.

Unwissend. Aber ich denke nicht nur daran, sondern habe auch ein Sehnen danach.

Christ. Das haben ihrer viele, die doch nicht ins Himmelreich kommen werden. Der Faule begehrt und kriegt’s doch nicht (Spr. 13, 4).

Unwissend. Ich habe aber um ihrerwillen alles verlassen.

Christ. Das bezweifle ich; denn alles zu verlassen ist schwerer, als sich’s viele einbilden. Aber sage mir doch einmal, was gibt dir die Überzeugung, daß du um Gottes und des Himmels willen alles verlassen hast?

Unwissend. Das sagt mir mein eigenes Herz.

Christ. Der Weise spricht: „Wer sich auf sein Herz verläßt, ist ein Narr“ (Spr. 28, 26).

Unwissend. Das ist gesagt von einem bösen Herzen; aber mein Herz ist gut.

Christ. Wie willst du das beweisen?

Unwissend. Es tröstet mich mit der Hoffnung des Himmels.

Christ. Damit kann es dich aber sehr betrügen; denn das Herz kann den Menschen mit Hoffnungen trösten, die zu hoffen er gar keinen Grund hat.

Unwissend. Aber mein Herz und Leben stimmen überein, und darum ist meine Hoffnung wohl begründet.

Christ. Wer gibt denn dir das Zeugnis, daß dein Herz und Wandel übereinstimmen?

Unwissend. Mein Herz selbst sagt es mir.

Christ. Also wiederum dein Herz. Darüber kann nur Gottes Wort entscheiden, jedes andre Zeugnis hat hierin keinen Wert.

[S. 172]

Unwissend. Aber ist das nicht ein gutes Herz, das gute Gedanken hat? Und ist das nicht ein gutes Leben, das mit Gottes Geboten übereinstimmt?

Christ. Ja, das ist ein gutes Herz, das gute Gedanken hat, und das ist ein gutes Leben, das mit den Geboten Gottes übereinstimmt; aber es ist ein Unterschied, etwas zu haben oder es sich nur einzubilden.

Unwissend. Bitte, was nennst du denn gute Gedanken und ein Leben, das mit Gottes Geboten übereinstimmt?

Christ. Es gibt gute Gedanken verschiedener Art: einige betreffen uns selbst, andre Gott, andre Christus, oder sie haben irgendein andres Ziel.

Unwissend. Was sind denn gute Gedanken in bezug auf uns selbst?

Christ. Solche, die mit dem Wort Gottes übereinstimmen.

Unwissend. Wann stimmen denn unsre Gedanken über uns selbst mit dem Wort Gottes überein?

Christ. Wenn wir dasselbe Urteil über uns fällen, welches Gottes Wort fällt. Um mich deutlicher auszudrücken, so sagt das Wort Gottes von den Menschen in ihrem natürlichen Zustand: „Da ist keiner, der gerecht sei, auch nicht einer; sie sind alle abgewichen und allesamt untüchtig geworden; da ist keiner, der Gutes tue, auch nicht einer“ (Röm. 3, 10. 12) und: „Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf und immerdar“ (1. Mos. 6, 5; 8, 21). Wenn wir nun so von uns selber denken und das in uns selbst empfinden, dann sind es gute Gedanken, weil sie mit Gottes Wort im Einklang stehen.

Unwissend. Ich werde niemals glauben, daß mein Herz so böse sei. Ich habe ein gutes Herz.

Christ. So hast du eben in deinem Leben noch keine guten Gedanken über dich selbst gehabt. — Aber höre mich weiter: So wie das Wort Gottes unser Herz richtet, so richtet es auch unsern Wandel. Wenn nun die Gedanken unsers Herzens und unsre Wege mit diesem Urteil übereinstimmen, so sind beide gut.

Unwissend. Erkläre dich deutlicher!

Christ. Gottes Wort sagt von den Menschen, daß sie die rechte Bahn verlassen haben (Spr. 2, 13), den Weg des Friedens nicht wissen (Röm. 3, 17), ihren Weg verkehren[S. 173] (Spr. 2, 15) und auf ihre krummen Wege abweichen (Ps. 125, 5). Wenn nun ein Mensch mit tiefgebeugtem Herzen so von seinem Wandel denkt, dann hat er gute Gedanken darüber, weil sie mit dem göttlichen Wort übereinstimmen.

Unwissend. Was nennst du gute Gedanken in bezug auf Gott?

Christ. Ebenfalls diejenigen, die von Seinem Wesen und von Seinen Eigenschaften das denken, was Sein Wort davon zeugt, worüber ich mich jetzt nicht näher aussprechen möchte. Um aber noch Gottes Verhältnis zu uns zu erwähnen, so haben wir darin richtige Gedanken von Ihm, wenn wir daran denken, daß Er uns besser kennt, als wir uns selbst kennen, daß Er Sünde an uns bemerkt, die vor unsern Augen verborgen ist[138]; wenn wir uns ferner dessen bewußt, daß unsre heimlichsten Gedanken Ihm bekannt und vor Seinem Flammenauge die verborgensten Falten unsers Herzens bloß und aufgedeckt sind[139]; wenn wir weiter daran denken, daß unsre eigene Gerechtigkeit vor Ihm ein Greuel ist, und daß Er es nicht dulden kann, wenn wir auch nur das geringste Vertrauen auf unsre Werke setzen wollten.

Unwissend. Hältst du mich denn für einen solchen Tor, als ob ich nicht an Gottes Allwissenheit glaubte oder mich vor Gott auf meine guten Werke verlassen wollte?

Christ. Nun, wie denkst denn du in dieser Sache?

Unwissend. Ich glaube so gut wie du an Christus und hoffe durch den Glauben an Ihn selig zu werden.

Christ. O wie kannst du an Christus glauben, da du dich für so vortrefflich hältst? Nur ein geängsteter Geist, nur ein zerschlagenes Herz sucht den Erlöser und findet Ihn; nur Sünder macht der Heiland selig; du aber hast den bodenlosen Abgrund deines verdorbenen Herzens nicht erkannt und ebensowenig, daß wir nur durch Christi Blut und Gerechtigkeit vor Gott bestehen können. Wie kannst du noch sagen, du glaubest an Christus?

Unwissend. Du kannst sagen, was du willst — mein Glaube ist rechtschaffen.

Christ. Wie lautet dein Glaubensbekenntnis?

Unwissend. Ich glaube, daß Christus für die Sünder[S. 174] gestorben ist und daß Gott in Ansehung meines Gehorsams gegen Sein Wort aus Gnaden mich rechtfertigen und vom Fluch erlösen wird. Oder mit andern Worten: Christus macht kraft Seines Verdienstes meine gottesdienstlichen Übungen vor Seinem himmlischen Vater angenehm, und so werde ich gerechtfertigt[140].

Christ. Erlaube mir eine Antwort auf dieses dein Glaubensbekenntnis:

1. Du hast einen eingebildeten Glauben, der mit Gottes Wort nicht im Einklang steht.

2. Dein Glaube ist falsch, weil er die Rechtfertigung durch die Gerechtigkeit Christi beiseitesetzt und sie deiner eigenen beimißt.

3. Nach diesem Glauben rechtfertigt Christus nicht deine Person, sondern deine Handlungen und deine Person nur um deiner Handlungen willen, und das ist grundfalsch.

4. Dieser Glaube ist betrüglich und wird dich an dem großen Tag der Offenbarung der göttlichen Gerichte zuschanden werden lassen: Denn durch den wahrhaft rechtfertigenden Glauben erkennt die Seele, daß sie durch das Gesetz verlorengeht, und nimmt ihre Zuflucht zu der Gerechtigkeit Christi. Die Gerechtigkeit Christi dient nicht dazu, deinen Gehorsam zu deiner Rechtfertigung vor Gott angenehm zu machen, sondern dich selbst vor Ihm zu rechtfertigen; und diese Gerechtigkeit hat Er uns dadurch erworben, daß Er durch Sein Tun und Leiden an unsrer Statt die Forderungen des Gesetzes erfüllte. Der wahre Glaube nun ergreift diese Gerechtigkeit, und in dieses Kleid gehüllt und so geschützt, wird die Seele Gott dargestellt ohne irgendeinen Makel, von Ihm angenommen und von der Verdammnis freigesprochen.

Unwissend. Wie, Christi Tun und Leiden sollte zu unsrer Rechtfertigung vor Gott ausreichen, ohne daß wir etwas dazu tun? Dann könnte ja jeder nach seinem Belieben in Sünden leben; denn was liegt daran, wie wir leben, wenn wir durch die Gerechtigkeit, welche Christus selbst vollbracht hat, gerecht werden, so wir es nur glauben?

Christ. Unwissend ist dein Name, und unwissend bist du auch. Eben deine Antwort bestätigt meine Worte. Unwissend[S. 175] bist du in dem, was rechtfertigende Gerechtigkeit ist, und ebenso unwissend darin, wie du durch den Glauben an dieselbe deine Seele vor dem Zorngericht Gottes retten mögest. Ja, hättest du nur ein Fünklein Glauben an den Erlöser, du würdest wissen, daß Seine überschwengliche Gnade in dem Herzen des Erlösten eine brennende Liebe erweckt gegen Seinen Namen, Sein Wort, Seine Wege und Sein Volk, daß er dann nicht in der Sünde beharren kann, sondern dem zu leben trachtet, der ihn so teuer erkauft hat.

Hoffnungsvoll. Frage ihn einmal, ob Christus sich je ihm offenbart hat in seinem Herzen.

Unwissend. Offenbaren? Kann auch ein vernünftiger Mensch an Offenbarungen glauben? Ich glaube, daß alles, was ihr beide und euresgleichen von diesen Sachen sprecht, nichts andres als das Erzeugnis eines kranken Gehirns ist.

Hoffnungsvoll. Armer junger Mann, du weißt nicht, daß der Mensch Christus nicht erkennen kann, es sei denn, daß ihm der Sohn vom Vater offenbart werde.

Unwissend. Das ist euer Glaube, aber der meine nicht. Ich zweifle jedoch nicht, daß der meine ebensogut ist wie der eure, wenn ich gleich nicht so viele Grillen im Kopf habe wie ihr.

Christ. Gestatte mir, ein Wort dareinzureden. Es ist ganz ungeziemend, von dieser Sache so verächtlich zu reden. Wie mein lieber Gefährte es getan, so bezeuge auch ich es freimütig, daß niemand Jesus Christus recht erkennen kann als durch die Offenbarung Gottes des Vaters[141]. Auch der Glaube, durch welchen die Seele Christus ergreift, muß, wenn er rechter Art sein soll, durch die überschwengliche Größe Seiner mächtigen Kraft gewirkt werden (Eph. 1, 19). Von der Wirkung dieses Glaubens ist dir, wie ich merke, noch nichts bekannt. So wache denn auf, laß deinen Hochmut fahren, demütige dich und flehe um Gnade! So wirst du durch Seine Gerechtigkeit, welche die Gerechtigkeit Gottes ist, von der Verdammnis erlöst werden.

Unwissend. Mit euch kann ich nicht Schritt halten; geht voraus, ich will ein wenig hinter euch bleiben.

[S. 176]

Sie versuchten es noch einmal, ihn zurückzuhalten, und sprachen:

Halte ein und überlege, Sünder, ach wo willst du hin?
Kehre um von deinem Wege; denn ein Abgrund endet ihn.
Wende dich zu dem Erbarmer, dem Befreier Jesus Christ!
Er verstößt dich nicht, du Armer; komm zu Ihm, so wie du bist!

Christ wandte sich nun zu seinem Gefährten und sprach: „Komm, lieber Hoffnungsvoll, ich sehe, daß wir wieder allein wandern müssen!“

Ich sah nun in meinem Traum, daß sie ihre Schritte beschleunigten, während Unwissend hintennachhinkte.

„Mich dauert dieser arme Mann sehr,“ sagte Christ zu Hoffnungsvoll, „es wird sicherlich ein schlimmes Ende mit ihm nehmen.“

Hoffnungsvoll. Ach, solcher Leute gibt es viele in unsrer Stadt, ganze Familien, ja ganze Straßen und sogar Pilgrime. Und sind sie schon bei uns in solcher Menge vertreten, wie viele werden ihrer erst in Unwissends Heimat sein!

Christ. Ja, es erfüllt sich an ihnen das Wort: „Er hat ihre Augen verblendet, daß sie nicht sehen“ (Joh. 12, 40). Aber — da wir ja allein sind — sage mir doch, was denkst du von diesen Leuten? Glaubst du, daß sie nie eine Überzeugung von ihren Sünden haben und folglich nie über ihren gefährlichen Zustand in Furcht geraten?

Hoffnungsvoll. Beantworte du bitte diese Frage selbst, du bist der Ältere.

Christ. Nun ja, das will ich gerne tun. Ich denke, zuweilen mag das wohl der Fall sein, daß sie ihre Sünden und deren Folgen erkennen; allein in ihrer Verblendung merken sie nicht, wie heilsam solche Erkenntnis ist, und deswegen suchen sie diese lästigen Gedanken von sich abzuschütteln und verharren, indem sie sich selbst schmeicheln, auf dem Weg, den sie nach eigenem Gutdünken erwählt haben.

Hoffnungsvoll. Hiervon bin ich gleichfalls überzeugt, daß diese Furcht dem Menschen heilsam ist und ihn antreibt, sich auf die Pilgerreise nach Zion zu begeben.

Christ. Ohne Zweifel hat jene Furcht, wenn sie rechter Art, diese Wirkung; denn also steht geschrieben: „Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang“ (Ps. 111, 10).

[S. 177]

Hoffnungsvoll. Wie würdest du die rechte Furcht beschreiben?

Christ. Die wahre Furcht offenbart sich folgendermaßen:

1. Sie wird erzeugt durch heilsame Sündenerkenntnis.

2. Sie treibt die Seele an, den Heiland der Sünder zu suchen und zu erfassen.

3. Sie erweckt und unterhält in der Seele eine tiefe Ehrfurcht vor Gott, Seinem Wort und Seinen Wegen; sie macht das Gewissen zart und behutsam, weder zur Rechten noch zur Linken zu weichen, und läßt nicht zu, daß wir etwas tun, was Gottes Namen verunehren, den innern Frieden stören, den Geist betrüben oder den Feinden Anlaß zum Lästern geben könnte.

Hoffnungsvoll. Ganz recht. Ich glaube, daß du die Wahrheit sagst. — Was meinst du, sind wir nun bald über den bezauberten Grund hinweg?

Christ. Warum fragst du? Bist du etwa dieses Gesprächs müde?

Hoffnungsvoll. Nein, gewiß nicht; ich wollte bloß wissen, wo wir uns jetzt befinden.

Christ. Wir haben nur noch etwa zwei Meilen zu gehen. Doch laß uns wieder auf unsre Sache kommen. — Die Unwissenden erkennen es nicht, daß, wenn das Gewissen erwacht, dies ihnen zum Segen ausschlägt; darum suchen sie dieses zu übertäuben.

Hoffnungsvoll. Wie kommt das?

Christ. 1. Sie denken, solche Furcht sei durch den Teufel gewirkt (obgleich doch wahrlich die rechte Furcht eine Wirkung Gottes ist), und in diesem Wahn widerstehen sie ihr als einer Sache, die sie schnurstracks ins Verderben bringt.

2. Sie denken, jene Furcht gehe dahin, sie in ihrem Glauben wankend zu machen; aber leider haben die armen Leute doch gar keinen Glauben, und darum verhärten sie ihr Herz dawider.

3. Sie stehen in der falschen Voraussetzung, es gezieme ihnen nicht, sich zu fürchten, und darum werden sie in Verachtung derselben nur frecher und vermessener.

4. Sie sehen, daß jene Furcht ihre erbärmliche Selbstgerechtigkeit zunichte macht, und deswegen widerstehen sie ihr mit aller Macht.

[S. 178]

Hoffnungsvoll. Ich weiß davon etwas aus eigener Erfahrung; denn ehe ich mich selber kannte, war’s auch so mit mir.

Christ. Gut, wir wollen nun unser Gespräch über Unwissend abbrechen und eine andre lehrreiche Frage aufwerfen.

Hoffnungsvoll. Recht gern. Aber du mußt den Anfang machen.

Christ. Nun, also! Hast du nicht ungefähr vor zehn Jahren in unsrer Gegend einen gewissen Zeitdiener gekannt, der damals großes Aufsehen erregte, weil er sich von der Welt und Sünde abwandte?

Hoffnungsvoll. Ja freilich, wie sollte ich den nicht gekannt haben! Er wohnte in Gnadenlos, einer Stadt ungefähr zwei Meilen von Ehrbarkeit entfernt; seine Wohnung stieß an die eines gewissen Kehrum.

Christ. Richtig, er wohnte mit ihm unter einem Dach. Dieser Mann war einst sehr beunruhigt; ich denke, daß er einige Erkenntnis seiner Sünden und ihrer traurigen Folgen hatte.

Hoffnungsvoll. Ich denke es auch; denn da mein Haus nicht weit von dem seinen entfernt war, kam er öfter zu mir, und zwar mit vielen Tränen. Wahrlich, ich hatte mit dem Mann großes Mitleid und hegte einige Hoffnung für ihn. Aber an ihm kann man sehen, daß nicht alle, die Herr, Herr! sagen, in das Himmelreich kommen (Matth. 7, 21).

Christ. Eines Tages sagte er mir, daß er entschlossen sei, gleichwie wir auf die Pilgrimschaft zu gehen. Aber auf einmal machte er die Bekanntschaft eines gewissen Hilfdirselbst und zog sich dann ganz von mir zurück.

Hoffnungsvoll. Weil wir gerade jetzt auf ihn zu sprechen gekommen sind, laß uns doch einmal untersuchen, worin die Ursache liegt, daß er und andre seinesgleichen so schnell abfällig geworden sind.

Christ. Das kann sehr lehrreich werden; aber diesmal mußt du den Anfang machen.

Hoffnungsvoll. Gut. Meiner Ansicht nach lassen sich folgende vier Ursachen feststellen:

1. Obschon das Gewissen solcher Menschen aufgeweckt wurde, blieb doch ihr Herz unverändert. Wenn daher das[S. 179] Gewicht der Schuld abnimmt, schwindet sogleich auch das, was sie dazu bewog, ein frommes Leben anzufangen, und so kehren sie dann natürlich wieder zu ihrem alten Wandel zurück. Also, sage ich, sie haben Verlangen nach dem Himmel bekommen, aber nur aus Furcht vor den Flammen der Hölle. Wenn aber ihre Gedanken von der Hölle und ihre Furcht vor der Verdammnis etwas abgenommen haben, dann erkaltet auch ihr Verlangen nach dem Himmel, und so fallen sie wieder in ihr früheres Wesen zurück.

2. Ein andrer Grund liegt darin: es ermächtigt sich ihrer eine knechtische Furcht, ich meine die Furcht vor den Menschen, „denn vor Menschen sich scheuen, bringt zu Fall“ (Spr. 29, 25). Wiewohl sie also nach dem Himmel zu trachten scheinen, solange die Flammen der Hölle an ihnen gleichsam züngeln, so kommen sie doch wieder auf andre Gedanken, sobald der erste Schrecken sich ein wenig gelegt hat, und denken, man müsse doch auch klug sein und sich nicht selbst der Gefahr aussetzen, alles zu verlieren (sie wissen aber selbst nicht was), oder sich wenigstens nicht in unvermeidliches und unnötiges Ungemach hineinbringen. Und so stürzen sie sich denn aufs neue der Welt in die Arme.

3. Die Schmach, welche das Bekenntnis des Evangeliums begleitet, liegt ihnen wie ein Stein im Weg. Sie sind stolz und hochmütig, das Evangelium von Christus ist aber in ihren Augen gering und verächtlich. Darum, sobald sie die Furcht vor der Hölle und dem zukünftigen Zorn verloren haben, kehren sie zu ihren frühern Wegen zurück.

4. Die Schuld und die Gedanken an den Schrecken sind ihnen eine Qual. Sie lieben also nicht, ihr Elend anzusehen, bevor sie darin sind. Und doch würde der frühere Hinblick auf dasselbe ihnen vielleicht Anlaß geben, dort ihre Zuflucht zu suchen, wo sie der Gerechte gefunden und auch sie Rettung fänden; weil sie aber, wie ich vorhin bemerkte, die Gedanken an Schuld und Strafe scheuen, so geschieht es, daß, wenn sie einmal den ersten Schrecken von Gottes Zorn überwinden, sie ihre Herzen immer mehr verhärten und solche Wege erwählen, die sie je länger, je mehr dazu führen.

Christ. Du bist der Sache sehr nahe gekommen, denn der Grund alles dessen liegt darin, daß ihr Herz und Willen nicht verändert worden ist. Es ist nur die Angst des Verbrechers, der vor seinem Richter steht. Er zittert und bebt[S. 180] und scheint wahrhaft reuig zu sein; aber der Grund davon ist lediglich die Furcht vor dem Galgen und nicht, weil er Abscheu vor seinem Verbrechen hat. Es ist klar ersichtlich, sollte man einen solchen Menschen nur in Freiheit setzen, er würde wieder ein Dieb und Taugenichts sein. Das würde jedoch nicht der Fall sein, wenn wirklich eine Umwandlung seines Herzens stattgefunden hätte.

Hoffnungsvoll. Ich habe dir nun die Gründe ihres Abfalls angegeben, so zeige mir nun die Art und Weise, wie es geschieht.

Christ. Das will ich gern tun.

1. Sie fangen damit an, ihre Gedanken von der Erinnerung an Gott, den Tod und das zukünftige Gericht abzuziehen.

2. Danach lassen sie ab vom stillen verborgenen Gebet im Kämmerlein, vom Kampf gegen die anklebende Sünde, vom Wachen, vom Trauern über die Sünde und dgl.

3. Sie fühlen sich beengt in der Gemeinschaft lebendiger und wahrer Christen.

4. Danach werden sie laß in den öffentlichen Übungen des Gottesdienstes, wie im Hören und Lesen des göttlichen Wortes, Besuch des Gottesdienstes und dgl.

5. Sodann beginnen sie, wie man sagt, das Kleid gläubiger Leute mit Kot zu bewerfen, und zwar in der teuflischen Absicht, um damit ihren Abfall von ihrem Bekenntnis zu rechtfertigen.

6. Hierauf treten sie in Verbindung mit weltlichgesinnten, losen und liederlichen Menschen.

7. Darauf suchen sie insgeheim, nichtige Gespräche weiterzutragen, und sind froh, wenn sie bei einem, der für fromm gilt, auch dergleichen finden können, damit sie es auf sein Beispiel um so dreister tun können.

8. Nachher fangen sie an, kleine Sünden ohne Scham öffentlich zu treiben.

9. Und endlich, wenn sie sich auf diese Weise verhärtet haben, zeigen sie sich, wie sie sind. So schwimmen sie denn wieder auf dem reißenden Strom des Verderbens und, wenn nicht ein Wunder der Gnade es verhindert, müssen sie in ihrem Selbstbetrug ewig verlorengehen.

Fußnoten:

[124] Er selbst, der Satan, verstellt sich zum Engel des Lichts (2. Kor. 11, 14).

[125] Achtet auf die, die da Zertrennung und Ärgernis anrichten und weichet von ihnen; denn durch süße Worte und prächtige Reden verführen sie die unschuldigen Herzen (Röm. 16, 17. 18).

[126] Auf daß sie nicht samt der Welt verdammt werden (1. Kor. 11, 32).

[127] Die Arbeit der Narren wird ihnen sauer, weil sie nicht wissen in die Stadt zu gehen (Pred. 10, 15).

[128] Wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen (2. Kor. 5, 7).

[129] Der Gott dieser Welt hat der Ungläubigen Sinn verblendet, daß sie nicht sehen das helle Licht des Evangeliums von der Klarheit Christi (2. Kor. 4, 4).

[130] Daß alles durch Ihn versöhnt würde zu Ihm selbst, machte Er Frieden durch das Blut an Seinem Kreuz, durch sich selbst (Kol. 1, 20).

[131] Dem aber, der nicht mit Werken umgeht, glaubt aber an den, der die Gottlosen gerecht macht, dem wird sein Glaube gerechnet zur Gerechtigkeit (Röm 4. 5).

[132] Kommet her zu Mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; Ich will euch erquicken (Matth. 11, 28).

[133] Himmel und Erde werden vergehen; aber Meine Worte werden nicht vergehen (Matth. 24, 35).

[134] Kommt, laßt uns knien und niederfallen vor dem Herrn, der uns gemacht hat (Ps. 95, 6).

[135] Wenn du den Herrn, deinen Gott, suchen wirst, so wirst du Ihn finden, wenn Du Ihn wirst von ganzem Herzen und von ganzer Seele suchen (5. Mos. 4, 29).

[136] Der Apostel schreibt: Es hat Gott wohl gefallen, daß Er Seinen Sohn in mir offenbarte (Gal. 1, 15. 16).

[137] Lasset uns hinzutreten mit Freudigkeit zu dem Gnadenstuhl, auf daß wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden auf die Zeit, wenn uns Hilfe not sein wird (Hebr. 4, 16).

[138] Unsre unerkannte Sünde stellst Du ins Licht vor Deinem Angesicht (Ps. 90, 8).

[139] Herr, Du erforschest mich und kennst mich; Du verstehst meine Gedanken von ferne (Ps. 139, 1. 2).

[140] Sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt, und trachten, ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten, und sind also der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, nicht untertan (Röm. 10, 3. 4).

[141] Petrus sprach: Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn! Jesus antwortete und sprach zu ihm: Fleisch und Blut hat dir das nicht offenbart, sondern Mein Vater in Himmel (Matth. 16, 16. 17).

Schlussvignette, Kapitel I, 11

[S. 181]

Kopfstück, Kapitel I, 12

Zwölftes Kapitel.
Durch die Fluten der letzten Trübsal und Eingang in die himmlische Stadt.

U

Unter diesen Betrachtungen legten sie die letzte Strecke des bezauberten Grundes zurück und betraten das Land der Vermählung, wo ihnen sogleich eine lieblich erfrischende Luft entgegenwehte. Da ihr Weg hier hindurchführte, so erquickten sie sich daselbst eine Zeitlang. „Siehe, der Winter ist vergangen,“ rief Hoffnungsvoll, „die Blumen sind hervorgekommen im Land, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube läßt sich hören in unserm Land“ (Hohesl. 2, 12). Hier geht die Sonne nicht unter, das Tal der Todesschatten ist weit entfernt, der Riese der Verzweiflung dringt hier niemals ein; die Zweifelsburg sieht man nicht mehr; die himmlische Stadt, zu der sie wanderten, strahlte ihnen in hellem Licht entgegen, und es begegneten ihnen schon einige der Glänzenden, die hier an den Grenzen des Himmels gewöhnlich zu lustwandeln pflegen. Hier ward nun die Verlobung zwischen der Braut und dem Bräutigam erneuert, ja wie sich ein Bräutigam freut über die Braut, so freut sich ihr Gott über sie (Jes. 62, 5). Hier hatten sie auch keinen Mangel an Korn und Wein, sondern fanden alles das im Überfluß, was sie auf ihrer ganzen Pilgerreise gesucht hatten. Von der Stadt her drangen laute Stimmen an ihr Ohr, welche riefen: „Saget der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! siehe, Sein Lohn ist bei Ihm!“ (Jes. 62, 11), und von den Einwohnern des Landes wurden sie genannt: „Das heilige Volk, die Erlösten des Herrn“ (Jes. 62, 12).

Während sie hier wanderten, durchströmte eine nie gekannte Freude ihr Herz. Sie kamen nun der Stadt immer[S. 182] näher, und immer vollkommener wurde deren Anblick; sie sahen schon die Mauern von edlem Gestein, sie sahen die Perlentore und die Straßen von lauterm Gold. Dieser Glanz und diese Herrlichkeit, welche die darauf fallenden Sonnenstrahlen zurückwarfen, erweckten in ihrem Herzen eine unendliche Sehnsucht nach dem Herrn. Daher legten sie sich eine Weile nieder und riefen in ihrem Heimweh aus: „Findet ihr meinen Freund, so sagt Ihm, daß ich vor Liebe krank liege!“ (Hohesl. 5, 8). Als sie sich wieder ein wenig gefaßt hatten, zogen sie weiter. Der Weg führte sie an lieblichen Obst- und Weingärten vorüber, deren Türen nach der Straße hin offen standen. Der Gärtner stand am Weg, und den fragten sie: „Wem gehören diese herrlichen Weinberge und lieblichen Gärten?“ Er antwortete: „Dies sind die Besitzungen des Königs, die Er für sich und zur Erquickung der Pilger angelegt hat.“ Hierauf führte der Gärtner sie in die Weingärten und hieß sie sich erfrischen mit den darin wachsenden köstlichen Früchten. Er zeigte ihnen auch des Königs Lustgänge und Sommerlauben, in denen sich aufzuhalten Seine Lust war. Allda verweilten sie ein wenig und schliefen ein.

Nun bemerkte ich in meinem Traum, daß die Pilger in ihrem Schlaf mehr redeten als während ihrer ganzen Reise, und da ich mich darüber verwunderte, sprach der Gärtner zu mir: „Warum machst du dir hierüber Gedanken? Es liegt in der Natur der Früchte dieser Weingärten, daß sie so glatt eingehen und der Schläfer Lippen reden machen“ (Hohesl. 7, 10).

Als sie dann erwachten, sah ich, daß sie sich anschickten, zur Stadt hinaufzugehen; allein der Widerschein der Sonne auf der Stadt war so blendend (denn sie war von lauterm Gold, Offenb. 21, 18), daß sie dieselbe nicht mit bloßen Augen anschauen konnten, sondern nur durch ein dunkles Glas, welches sie dazu vorfanden[142].

Indem sie weiterwanderten, begegneten ihnen zwei Männer, deren Angesicht leuchtete wie Sonnenglanz, und ihr Gewand strahlte wie lauteres Gold. Diese fragten die Pilger nach ihrer Heimat, über ihre Pilgerreise, wo sie unterwegs gerastet, welche Beschwerden und Gefahren ihnen begegnet[S. 183] und was für Tröstungen und Freuden ihnen zuteil geworden seien. Nachdem sie diese Fragen beantwortet hatten, sprachen die Männer zu ihnen: „Nur zwei Hindernisse noch, und ihr seid in der himmlischen Stadt!“

„Möchtet ihr doch bei uns bleiben!“ baten die Pilger.

„Wir werden euch geleiten,“ erwiderten die Männer, „aber nur durch euren eigenen Glauben könnt ihr überwinden.“

Ich sah nun, daß sie miteinander fortwanderten und der Stadt immer näher kamen, als sie mit Bestürzung einen breiten Strom vor sich erblickten, der sie noch von der Stadt des Friedens trennte. Der Weg führte gerade auf den Strom zu, ohne daß man irgendeine Spur von einer Brücke bemerken konnte; und der Strom war tief.

„Hier müßt ihr hindurch,“ sprachen die Männer, „oder ihr könnt nicht zur himmlischen Pforte gelangen.“

„Gibt es aber nicht noch einen andern Weg zur Pforte?“ fragten die Pilger.

„Für euch gibt es durchaus keinen andern Weg. Henoch und Elia sind die einzigen seit Grundlegung der Welt, denen ein andrer Pfad geöffnet wurde, und bis zum Schall der letzten Posaune wird es keinem andern mehr vergönnt sein, diesen Pfad zu gehen.“

Darüber wurden die Pilger, besonders Christ, sehr entmutigt und blickten bald hierhin, bald dorthin; allein sie konnten keinen Ausweg finden, um diesen Strom zu umgehen.

„Ist denn das Wasser an allen Stellen gleich tief?“ fragten sie die Männer.

„Je nach eurem Glauben,“ erwiderten diese, „werdet ihr den Fluß tiefer oder seichter finden; in diesem Fall jedoch können wir euch keine Hilfe leisten.“

Kaum waren sie in das Wasser gestiegen, als Christ schon anfing zu sinken und seinem Freund zurief: „Ich versinke in tiefen Wassern; die Wogen gehen über mein Haupt, und alle ihre Wellen bedecken mich!“ (Jona 2, 4.)

„Sei getrost, mein Bruder,“ sprach Hoffnungsvoll, „ich fühle festen Grund!“

„Ach, lieber Freund,“ rief Christ, „die Angst des Todes hat mich ergriffen! Ich werde das Land nicht sehen, darin Milch und Honig fließt.“ — Tiefe Finsternis umgab ihn,[S. 184] er verlor die Pforte jenseits aus den Augen, ja, nicht einmal der großen Treue konnte er sich mehr erinnern, mit der ihn der Herr sein Leben lang gehalten und getragen hatte. Alle seine Worte verrieten den Schrecken seiner Seele und die Furcht seines Herzens, er werde in dem Strom umkommen und niemals durch die Pforte einziehen dürfen. Alle seine Sünden wachten auf und beunruhigten ihn, und zuweilen schien es, als wenn er mit unsichtbaren Feinden zu kämpfen hätte. Hoffnungsvoll hatte daher genug zu tun, das Haupt seines Bruders über Wasser zu halten, ja zuweilen schien es, als sänke er ganz unter, und erst nach einer Weile kam er halbtot wieder empor.

„Mein Bruder,“ so suchte Hoffnungsvoll von neuem zu trösten, „ich sehe die Pforte schon, ich sehe Männer in glänzendem Gewand, die zu unserm Empfang bereitstehen.“

Aber Christ antwortete: „Auf dich warten sie, auf dich; du hast gehofft, solange ich dich kenne.“

„Auch du hast deine Hoffnung bewahrt,“ erwiderte Hoffnungsvoll.

„Ach, Bruder,“ sagte Christ, „wäre ich gerecht vor Ihm, gewiß, Er würde mir jetzt zu Hilfe kommen; aber meine Sünden sind zu groß, darum bin ich in dieser Not, und Er hat mich verlassen.“

„Lieber Bruder,“ sprach Hoffnungsvoll, „laß dich erinnern, was von den Gottlosen geschrieben steht: Sie sind in keiner Gefahr des Todes, sondern stehen fest wie ein Palast; sie sind nicht in Unglück wie andre Leute und werden nicht wie andre Menschen geplagt (Ps. 73, 4. 5). Die Angst und Bangigkeit deines Herzens, durch welche du in diesen Wassern hindurch mußt, sind nicht ein Zeichen davon, daß dich Gott verlassen hat; sie sollen vielmehr dazu dienen, dich zu prüfen, ob du der Güte gedenken werdest, womit Er dich bisher geleitet, und ob du in deiner Not auch dein Vertrauen auf Ihn allein setzest.“

Nun sah ich im Traum, daß Christ hierüber eine Weile in Gedanken versunken war. Hoffnungsvoll redete ihm weiter zu: „Sei getrost! Jesus Christus macht dich gesund.“ Da rief Christ auf einmal mit lauter Stimme: „O ich sehe Ihn wieder! und Er versichert mir: So du durch Wasser gehst, will Ich bei dir sein, daß dich die Ströme nicht sollen ersäufen“ (Jes. 43, 2). Nun faßten[S. 186] sie beide wieder Mut, und der Feind verstummte, bis sie vollends hinüber waren. Sogleich spürte Christ Boden unter sich, so daß er gewiß treten konnte, und es fand sich auch, daß der übrige Teil des Flusses seicht war. So erreichten sie glücklich das jenseitige Ufer.

„Mein Bruder,“ tröstete Hoffnungsvoll, „ich sehe die Pforte schon!“ (S. 184.)

Hier standen bereits jene beiden Männer in glänzendem Gewand, die ihrer warteten und sie freundlich begrüßten. „Wir sind dienstbare Geister,“ sagten sie, „ausgesandt zum Dienst um derer willen, die ererben sollen die Seligkeit“ (Hebr. 1, 14). Und sie wandten sich miteinander der Pforte zu.

Nun lag aber die Stadt auf einem sehr hohen Berg; doch an der Seite der beiden Männer, die die Pilger am Arm führten, kamen sie ohne Mühe hinauf. Auch hatten sie das Gewand der Sterblichkeit im Fluß abgestreift; denn ob sie schon damit angetan hineingegangen waren, kamen sie doch ohne dasselbe heraus. So ging es leicht und schnell aufwärts, wiewohl der Grund, auf dem die Stadt gebaut stand, höher war als die Wolken. Unter lieblichen Gesprächen schwebten sie durch die Luftregionen empor, voll Freude darüber, daß sie so glücklich durch den Strom gekommen waren und daß so herrliche Begleiter zu ihrem Dienst bereit waren.

Die Glänzenden sprachen mit ihnen von der himmlischen Stadt, ihrer unbeschreiblichen Schönheit und Pracht. „Nun,“ sagten sie, „kommt ihr zu dem Berg Zion, zu dem himmlischen Jerusalem und zu der Menge vieler tausend Engel und zu den Geistern der vollendeten Gerechten (Hebr. 12, 22-24). Ihr werdet eingehen in das Paradies Gottes, den Baum des Lebens werdet ihr sehen und essen von seinen unvergänglichen Früchten (Offenb. 2, 7). Ihr werdet wandeln in weißen Kleidern (Offenb. 3, 4), ihr werdet den König sehen (Offenb. 22, 4) und bei Ihm wohnen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Was euch auf Erden bedrückte, wird nicht mehr sein, weder Trübsal noch Schmerz, weder Krankheit noch Tod; denn das Alte ist vergangen (Offenb. 21, 4). Ihr werdet die Patriarchen sehen: Abraham, Isaak und Jakob, die Propheten und die Gerechten, welche Gott weggerafft vor dem zukünftigen Unglück, die nun in Wohnungen des Friedens ruhen[143].“

[S. 187]

„Und was haben wir an diesem heiligen Ort zu tun?“ fragten die Pilger.

„Da habt ihr den Lohn zu empfangen für alle eure Arbeit, Freude für alle eure Betrübnis. Da sollt ihr ernten, was ihr gesät habt, nämlich die Frucht all eurer Gebete und Tränen, die Frucht aller Trübsale, die ihr aus Liebe zu dem himmlischen König auf dem Weg erduldet habt[144]. Mit goldenen Kronen geschmückt, werdet ihr euch freuen in dem Anschauen des dreimalheiligen Gottes, denn Ihr werdet ihn sehen, wie Er ist (1. Joh. 3, 2). Ihr werdet Ihm Tag und Nacht dienen und Ihm ohne Unterlaß danksagen und Lob und Ehre darbringen, wonach ihr euch so oft gesehnt habt in den Tagen eurer Wallfahrt. Eure Augen werden Ihn schauen, eure Ohren die freundliche Stimme des Allmächtigen hören. Da werdet ihr eure Lieben, die euch dahin vorangegangen, wieder finden und mit Freuden die Brüder empfangen, die nach euch an diesen Ort gelangen. Wenn der König der Ehren zur Erde hinabfährt auf den Fittichen des Windes, wenn die letzte Posaune ertönt, dann werdet ihr mit Ihm erscheinen in himmlischer Herrlichkeit und an dem großen Tag des Gerichts zu Seiner Seite stehen; ja, wenn Er richten wird alle die Ungerechten, es seien Engel oder Menschen, sollt auch ihr eine Stimme im Gericht haben, weil sie Seine und eure Feinde gewesen sind[145]. Unter Posaunenschall werdet ihr dann mit Ihm einziehen in die himmlische Stadt und bei dem Herrn sein allezeit.“

Unter diesen Gesprächen hatten sie sich der Pforte genähert, und hier wurden sie von einem himmlischen Heer empfangen.

„Das sind,“ so sagte einer der Engel, „Menschen, die ihren Herrn geliebt haben in der Welt und alles verlassen um Seines heiligen Namens willen; und Er hat uns ausgesandt, sie einzuholen, und nun haben wir sie an das ersehnte Ziel ihrer Reise gebracht, daß sie eingehen können und anschauen das Antlitz ihres Erlösers mit Freuden.“

Wie das Rauschen gewaltiger Ströme tönte jetzt der Jubelruf des himmlischen Heeres: „Selig sind, die zum[S. 188] Abendmahl des Lammes berufen sind!“ (Offenb. 19, 9.) Nun kamen ihnen auch einige von den Posaunenbläsern des Königs in blendend weißen Gewändern entgegen. Mit ihren hellen und melodischen Klängen erfüllten sie selbst die Himmel, daß es widerhallte. Diese begrüßten Christ und seinen Gefährten mit wohl tausendfachem Willkommen, und das taten sie mit Jauchzen und dem Schall der Posaunen.

Hierauf umringten sie die Begrüßten von allen Seiten, die einen gingen vor, die andern nach, etliche zur Rechten, etliche zur Linken, gleich als wenn es ihre Leibwache wäre bei ihrem Zug durch die obern Gegenden. Ununterbrochenes Jubeln und Jauchzen im höhern Chor begleitete alle ihre Schritte auf diesem Zug, so daß es jedem, der es mitansehen konnte, vorkam, als wenn der Himmel selbst zu ihrem Empfang herabgekommen sei. Indem sie nun vorwärtsgingen, gaben diese Posaunenbläser Christ und seinem Bruder in Blick und Gebärden, mit welchen sie ihre Musik begleiteten, zu erkennen, wie willkommen sie in ihrer Gesellschaft und mit welcher Freude sie selbst ihnen entgegengekommen seien.

Da ward es den beiden Pilgern zumute, als wären sie schon im Himmel, ehe sie noch dahin gelangten; also waren sie hingerissen von dem Anblick der Engel und den süßen Klängen ihrer Weisen.

Jetzt stand die Stadt vor ihren Augen, und es dünkte sie, als hörten sie drin das Geläute aller Glocken, sie zu bewillkommnen. Aber nichts entzückte sie mehr als der beseligende Gedanke, selbst dort in solcher Gesellschaft zu leben, und das in alle Ewigkeit. O welche Zunge, welche Feder vermag die überschwengliche Freude ihres Herzens auszudrücken!

Als sie nun die Pforte erreicht hatten, sahen sie darüber mit goldenen Buchstaben geschrieben: „Selig sind, die Seine Gebote halten, auf daß sie Macht haben an dem Holz des Lebens und zu den Toren eingehen in die Stadt“ (Offenb. 22, 14).

Nun sah ich in meinem Traum, daß die beiden Glänzenden sie an dem Tor rufen hießen. Als sie dies taten, erschienen einige Männer über der Zinne, nämlich Henoch, Mose, Elia u. a., zu denen die Engel sagten: „Diese Pilger kommen von der Stadt Verderben und haben ihre Pilgerschaft in der Liebe zum Herrn vollendet.“ Die Pilger überreichten[S. 189] ihnen zugleich die Zeugnisse, die sie am Anfang ihrer Reise empfangen hatten. Diese wurden dem König vorgelegt, und als Er sie gelesen, sprach Er: „Wo sind die Männer?“ „Sie stehen vor der Pforte,“ war die Antwort. Da befahl der König: „Tut die Tore auf, daß hereingehe das gerechte Volk, das den Glauben bewahrt!“ (Jes. 26, 2.)

Indem die Pilger nun eintraten, wurden sie verklärt und mit Kleidern angetan, die glänzten wie Gold. Selige Geister reichten ihnen Harfen zum Lobe Gottes und Kronen als Ehrenzeichen, während, wie ich im Traum hörte, unter dem Freudenklang aller Glocken die Bewohner der himmlischen Stadt ihnen entgegenriefen: „Gehet ein zu eures Herrn Freude!“ (Matth. 25, 23.) Überströmt von unendlicher Wonne stimmten nun auch die Pilger mit lauter Stimme in den Lobgesang ein und sprachen: „Dem, der auf dem Stuhl sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit!“ (Offenb. 5, 13.)

Ich schaute in meinem Traum durch die offenen Tore, während die Pilger durch dieselben eintraten, und siehe, die Stadt leuchtete wie die Sonne am Mittag; die Straßen waren von lauterm Gold, und auf denselben wandelten viele mit Kronen auf ihren Häuptern und Palmenzweigen in ihren Händen und goldenen Harfen zum Preise Gottes.

Und ich sah auch viele allda, die Flügel hatten, und sie riefen ohne Aufhören einander zu: „Heilig, heilig, heilig ist Gott der Herr!“ (Offenb. 4, 8), und die Pforte wurde geschlossen. — Als ich dies gesehen, da wünschte ich, auch selbst unter ihnen zu sein.

O wie blinken Zions Mauern, da sich endet alles Trauern
Und ein ew’ger Sabbat ist!
Da der Engel Harfen klingen und die Auserwählten singen:
Hochgelobt sei Jesus Christ!
Doch werd’ ich es auch ererben, was durch Leiden und durch Sterben
Jesus mir verdienet hat?
Werd’ ich auch zur Rechten stehen, mit den Heil’gen dürfen gehen
In die schöne Gottesstadt?
Wer nicht allem will entsagen und Ihm nach sein Kreuze tragen,
Kann auch nicht Sein Jünger sein.
Wer nicht Leib und Seel’ und Leben Ihm will ganz zu eigen geben,
Geht in Salem nimmer ein.

[S. 190]

Als ich so über alles, was ich geschaut, in Gedanken versunken war, wandte ich mich um und gewahrte, daß mittlerweile auch Unwissend den Strom erreichte, wo er alsbald einen Fährmann antraf, der ihn in dem Nachen der eitlen Hoffnung ohne Mühe hinüberbrachte. Er stieg auch sogleich den Berg hinan zur Pforte; aber niemand geleitete ihn, niemand kam ihm mit dem Gruß des Friedens entgegen. Er las die Inschrift über der Pforte und, als müsse man ihm sogleich auftun, klopfte er ohne alle Besorgnis an. Es erschienen Männer auf der Zinne und fragten, woher er komme und was er begehre.

„Tut mir auf,“ sagte er, „denn ich habe vor dem König gegessen und getrunken, und auf den Gassen unsrer Stadt hat Er uns gelehrt.“

„Wo ist dein Zeugnis, daß wir es dem König überreichen?“

Er suchte in seinem Busen und fand keins.

„Hast du kein Zeugnis?“ fragten die Männer, und er verstummte. Als der König dies erfuhr, wollte Er nicht herabkommen, ihn zu sehen; jene beiden Engel aber, die Christ und Hoffnungsvoll geleitet hatten, erhielten Befehl, Unwissend an Händen und Füßen zu binden und hinauszustoßen (Matth. 22, 13). Sie hoben ihn auf und trugen ihn durch die Luft zu jener Tür am Fuß des Gebirges, die in den Abgrund führt, und warfen ihn da hinein.

Da sah ich denn, daß es sogar am Himmelstor noch einen Weg zur Hölle gibt, so gut als von der Stadt Verderben.

Nun erwachte ich und merkte, daß es ein Traum war.

Fußnoten:

[142] Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht (1. Kor. 13, 12).

[143] Die richtig vor sich gewandelt haben, kommen zum Frieden und ruhen in ihren Kammern (Jes. 57, 2).

[144] Was der Mensch sät, das wird er ernten. Wer auf sein Fleisch sät, der wird von dem Fleisch das Verderben ernten; wer aber auf den Geist sät, der wird von dem Geist das ewige Leben ernten (Gal. 6, 7. 8).

[145] Siehe, der Herr kommt mit vielen tausend Heiligen, Gericht zu halten über alle und zu strafen alle Gottlosen um alle Werke ihres gottlosen Wandels (Jud. 14. 15).

Schlussvignette, Kapitel I, 12

Pilgerreise
zur seligen Ewigkeit.

Verzierung 1, S. 191

Zweiter Teil:
Die Pilgerin.

Verzierung 2, S. 191

[S. 193]

Kopfstück, Kapitel II, 1

Erstes Kapitel.
Christin schickt sich zur Pilgerreise an.

Liebe Mitpilger!

V

Vor einiger Zeit hatte ich die Freude, euch zu eurem Nutz und Frommen zu erzählen, was mir von Christ, dem Pilger, und seiner gefahrvollen Reise nach dem himmlischen Land träumte. Ich habe euch damals auch berichtet, wie seine Frau und Kinder sich weigerten, ihn auf seiner Pilgerfahrt zu begleiten. Da er sich der drohenden Gefahr des Gerichts, das über der Stadt Verderben schwebte, nicht länger aussetzen durfte, war er genötigt, seine Familie zu verlassen und allein die Reise zu unternehmen.

Nun bin ich bisher durch meine vielseitigen Geschäfte stets abgehalten und gehindert worden, meine gewohnten Reisen in jene Gegend zu machen, so daß sich mir bis vor kurzem keine Gelegenheit bot, nach seinen Hinterlassenen weiter zu fragen, um euch dann über ihr Ergehen Auskunft geben zu können. Da ich aber unlängst in jener Gegend zu tun gehabt, so ging ich wieder dort hinab. Nachdem ich nun in einem Wald, ungefähr eine Meile von dem Ort entfernt, mir ein Nachtlager bereitet hatte, schlief ich ein und träumte abermals:

Ich sah in meinem Traum, daß ein alter Herr auf mich zukam, und weil er ein Stück desselben Weges gehen wollte, den ich wandern sollte, so dünkte es mich, als ob ich mich aufmachte und mit ihm ging. Und wie es gewöhnlich zu gehen pflegt, wenn man auf einer Reise mit jemand zusammentrifft, so kamen auch wir bald in ein Gespräch, das sich zufällig auf Christ und seine Reisen bezog. Ich redete den alten Mann also an:

[S. 194]

„Mein Herr, was ist das hier unten für eine Stadt, die dort linker Hand von unserm Wege liegt?“

Hierauf antwortete Herr Scharfsinn — denn das war sein Name —: „Das ist die Stadt Verderben, ein volkreicher Ort, aber bewohnt von einem bösartigen und trägen Schlag Menschen.“

„Dachte ich’s doch,“ erwiderte ich, „daß es jene Stadt wäre. Ich bin selbst einmal da durchgekommen, und daher weiß ich, daß dieser Bericht wahr ist.“

Scharfsinn. Nur zu wahr! Was wollte ich lieber, als daß ich in Wahrheit besser von diesen Leuten reden könnte!

„Ich sehe schon, lieber Herr,“ sagte ich weiter, „daß du ein gutgesinnter Mann bist, und du wirst es gewiß mit Freuden begrüßen, wenn wir miteinander ein nützliches Gespräch führen. Sage mir doch, hast du nie etwas vernommen, was vor einiger Zeit mit einem Mann aus dieser Stadt, namens Christ, sich zugetragen, der sich auf eine Pilgerreise nach den obern Gegenden begeben hat?“

Scharfsinn. Ei freilich habe ich von ihm vernommen, spricht man doch in unserm ganzen Land von den Drangsalen, Beschwerden, Kämpfen, Banden, Seufzern, Klagen, Ängsten und Schrecken, die er auf seiner Reise ausgestanden hat. Unter all denen, die von ihm und seinen Taten gehört haben, werden ihrer nur wenige sein, die nicht mit großer Teilnahme den Berichten über seine Pilgerfahrt gefolgt sind. Ja, ich glaube sagen zu dürfen, daß er die Herzen vieler dadurch gewonnen hat. Denn obwohl er, solange er hier war, in jedermanns Augen als Narr galt, so wird er doch jetzt, nachdem er weg ist, allgemein hoch gepriesen. Man sagt nämlich, er lebe herrlich dort, wo er jetzt ist; ja vielen von denen, die sich niemals diesen Gefahren aussetzen würden, wässert gleichwohl der Mund nach seinem Glück.

„Daß er es dort gut hat,“ versetzte ich, „daran ist nicht zu zweifeln; wohnt er doch an der Lebensquelle und genießt, was er hat, ohne Mühe und Sorge, den dort mischt sich kein Schmerz hinein. Aber ich bitte dich, fahre fort zu erzählen! Was sagen die Leute noch mehr von ihm?“

Scharfsinn. Seltsame Dinge werden über ihn berichtet! Einige sagen, er wandle jetzt in weißen Kleidern[146], er trage[S. 195] eine goldene Kette um den Hals, er habe eine mit Perlen besetzte Krone auf dem Haupt. Andre sagen, daß jene Lichtsgestalten, die ihm zuweilen auf seiner Wanderung erschienen, nun beständig um ihn seien und er dort solch vertrauten Umgang mit ihnen pflege wie bei uns ein Nachbar mit dem andern. Außerdem wird zuverlässig bezeugt, daß der König jenes Ortes ihm bereits eine sehr reich ausgestattete und angenehme Wohnung bei Hofe angewiesen habe[147], daß er täglich mit Ihm esse und trinke[148], vor Ihm stehe und mit Ihm rede, und daß er der Liebe und Gunst dessen genieße, der der Richter über alle ist. Endlich erwarten einige, daß der Fürst jenes Landes binnen kurzem in diese Gegend kommen werde, um alle seine Nachbarn zur Rechenschaft zu ziehen, weil sie ihn, als er Pilger werden wollte, geringgeachtet und verspottet haben. Denn sie sagen, er sei nun also hoch bei seinem Fürsten in Gnaden, und es nehme dieser die dem Christ wegen seiner Pilgerschaft zugefügten Verunglimpfungen dermaßen zu Herzen, daß Er alles ansehen wolle, als wäre es Ihm selber geschehen[149]. Und das sei auch kein Wunder, denn aus Liebe zu seinem Fürsten habe er all dieses gewagt.

„Über dieser Nachricht bin ich wirklich erfreut,“ erwiderte ich, „und ich gönne es dem armen Mann von Herzen, daß er nun ruht von seiner Arbeit[150] und die Frucht seiner Tränen mit Freuden erntet[151]; ja, daß er nun auch nicht mehr die Zielscheibe der Bosheit seiner Feinde ist, sondern für immer entrückt aus dem Bereich seiner Hasser. Auch das ist ein Grund zur Freude, daß diese Geschichten im ganzen Lande bekannt geworden sind; denn wer weiß, ob nicht bei dem einen oder andern der Zurückgebliebenen dadurch eine heilsame Frucht gewirkt werden kann. Aber — da es mir eben einfällt — bitte, sag mir doch, lieber Herr, ist dir denn gar nichts von seiner Frau und seinen Kindern zu Ohren gekommen? Die armen Seelen! Ich bin gespannt, etwas über ihr Ergehen zu erfahren.“

[S. 196]

Scharfsinn. Über Christin und ihre Söhne? Denen wird es gewiß ebenso gut gehen wie Christ selber. Denn wiewohl sie anfangs ihm kein Gehör schenkten und weder Tränen noch Bitten sie zum Mitziehen bestimmen konnten, so hat doch weiteres Nachdenken bei ihnen Wunder gewirkt. Sie haben zuletzt ihre Sachen gepackt und sind ihm nachgezogen.

„Das läßt sich hören!“ rief ich. „Wirklich? Frau und Kinder, alle miteinander?“

Scharfsinn. So ist es. Ich kann dir darüber ausführlichen Bericht geben; denn ich war selbst gerade dort und konnte den Verlauf der Dinge genau verfolgen.

„So darf man also,“ fragte ich, „es verbreiten als eine wirkliche Tatsache?“

Scharfsinn. Das darfst du unbesorgt tun; denn wie gesagt, sie haben alle die Pilgerschaft angetreten, die gute Frau und auch ihre vier Knaben. Und da wir ja noch ein ziemliches Stück Weges miteinander zu gehen haben, so will ich dir einen ausführlichen Bericht darüber geben.

Diese Christin (so hieß sie seit ihrem Aufbruch zur Pilgerreise) fing an, in ihren Gedanken sehr beunruhigt zu werden, nachdem ihr Mann über den Fluß hinübergekommen war und sie nun nichts mehr von ihm hören konnte. Zuerst geschah’s, weil sie ihren Mann verloren hatte und weil nach solcher Nachricht die Hoffnung, wieder mit ihm vereinigt zu werden, zerstört war. Daß bei der Erinnerung an den Verlust geliebter Angehörigen manche heiße Träne fließt, ist ja ganz natürlich. So auch bei Christin. Bei ihr kam aber noch etwas andres hinzu. Immer mehr drängte sich ihr nämlich die Befürchtung auf, ob nicht ihr ungeziemendes Verhalten gegen ihren Gatten eine Ursache sei, warum sie ihn nicht mehr sähe und er auf solche Weise von ihr genommen wäre. Und dabei fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, sie erkannte all ihr unfreundliches, unnatürliches und ungöttliches Benehmen gegen ihren teuren Freund; all dieses fing an, ihr Gewissen zu beschweren und sie mit dem Gefühl der Schuld zu drücken. Mehr noch wurde sie zerknirscht, wenn sie der vielen Seufzer, der bittern Tränen und des Wehklagens ihres Gatten gedachte und wie sie ihr Herz gegen alle seine Bitten und sein liebevolles Zureden, ihn doch samt den Kindern zu begleiten, verhärtet hatte. Bis in die kleinsten Einzelheiten traten alle seine Worte und was er getan,[S. 198] wie ein heller Blitzstrahl ihr wieder vor die Seele und zerschnitt ihr das Herz. Besonders tönte sein schmerzlicher Ausruf: „Was soll ich tun, daß ich selig werde?“ (Apostelg. 16, 30) in ihren Ohren erschütternd nach[152].

„Meine Söhne, wir sind alle verloren!“ (S. 198.)

Darauf sprach sie zu ihren Kindern: „Meine Söhne, wir sind alle verloren! Ich habe wider euren Vater gesündigt, und er ist fortgegangen. Er hätte uns gern mit sich genommen; aber ich wollte nicht mit ihm gehen und habe auch euch vom Lebensweg zurückgehalten.“ Da brachen die Knaben alle in Tränen aus und verlangten danach, ihrem Vater nachzuziehen. „O,“ sagte Christin, „welch ein Glück wäre es für uns gewesen, wenn wir mit ihm gegangen wären! Wie leicht wäre uns das Reisen geworden, viel leichter, als wir es jetzt erwarten können. Wiewohl ich früher in meiner Torheit die Bekümmernisse eures Vaters närrischer Einbildung und trübsinniger Laune zuschrieb, so will es mir nun doch scheinen, daß sie aus einer andern Ursache hervorgegangen sind, nämlich weil ihm das Licht des Lebens aufgegangen war[153], durch dessen Hilfe er, wie ich nun merke, den Stricken des Todes entgangen ist[154].“ Hierauf weinten sie alle aufs neue und riefen aus: „O weh des Tags!“

In der folgenden Nacht hatte Christin einen Traum und siehe, es war ihr, als sähe sie vor sich eine große offene Pergamentrolle, auf welcher die Summe all ihres Tuns verzeichnet stand. Und wie es ihr vorkam, sahen ihre Missetaten sehr schwarz aus. Da rief sie im Schlaf laut aus: „Gott, sei mir Sünderin gnädig!“ (Luk. 18, 13), und es hörten sie die Kinder.

Hiernach dünkte es sie, als ständen zwei sehr übelgesinnte Wesen an ihrem Bett, welche sprachen: „Was fangen wir nur mit diesem Weib an? denn wachend und schlafend schreit sie um Gnade. Lassen wir sie so fortfahren, so werden wir sie verlieren, wie wir ihren Mann verloren haben. Darum müssen wir auf die eine oder die andre Weise ihre Gedanken von dem, was hernach sein wird, abzuziehen suchen, oder nichts in der ganzen Welt wird sie hindern, auch eine Pilgerin zu werden.“

[S. 199]

Zitternd und ganz in Schweiß gebadet erwachte sie; aber nach einer Weile schlief sie wieder ein und träumte und sah im Traum ihren Gatten, den Christ, mit glänzendem Angesicht an einem Ort der Seligkeit unter vielen Unsterblichen mit einer Harfe in der Hand stehen und darauf spielen vor einem, der auf einem Thron saß und um dessen Haupt ein Regenbogen war. Sie sah auch, daß er sich zu den Füßen seines Fürsten niederwarf und anbetend ausrief: „Ich danke Dir von ganzem Herzen, mein Herr und König, daß Du mich an diesen Ort gebracht hast!“ Darüber jauchzte die Menge derer, die rund umherstanden, und schlugen an ihre Harfen; aber keine menschliche Zunge konnte aussagen, was sie sprachen; Christ und seinen Mitgenossen war diese himmlische Sprache bekannt.

Als Christin am nächsten Morgen aufgestanden war, zu Gott gebetet und eine Weile mit ihren Kindern geredet hatte, da klopfte jemand stark an die Tür. Sie rief mit lauter Stimme: „Kommst du in Gottes Namen, so tritt ein!“ — „Amen,“ sagte der Fremde, öffnete die Tür und grüßte: „Friede sei mit diesem Haus!“ und alsbald fuhr er fort: „Christin, weißt du, weshalb ich gekommen bin?“ Da errötete sie und zitterte; ihr Herz klopfte in der Erwartung, zu erfahren, woher er komme und was für eine Botschaft er an sie auszurichten habe. „Mein Name ist Verborgen,“ sprach er weiter, „ich wohne bei denen in der Höhe. Dein Verlangen, nach der himmlischen Stadt zu ziehen, ist dort bekanntgeworden[155]; auch weiß man von deiner tiefen Reue über all das Unrecht, das du früher deinem Mann zugefügt hast, indem du dein Herz gegen sein inständiges Bitten verhärtet und auch diese deine Knaben vom Pfad des Friedens zurückgehalten hast. So hat denn, Christin, der Barmherzige mich gesandt, dir zu sagen, daß Er ein Gott ist, der gern verzeiht und nicht müde wird, Missetaten zu vergeben. Er ladet dich auch hiermit ein, vor Sein Angesicht zu kommen; an Seiner Tafel will Er dich speisen mit den reichen Gütern Seines Hauses und mit dem Erbe Jakobs, deines Vaters. Daselbst wohnt Christ, dein ehemaliger Gatte, in seligem Verein mit vielen andern, deren Zahl mehr denn Legion ist; sie schauen das Angesicht Gottes, von dem ihnen Leben und[S. 200] Seligkeit zufließt immerdar. Diese alle werden sich freuen und fröhlich sein, wenn sie hören das Rauschen deiner Füße.“

Über diesen Worten ward Christin tief beschämt und neigte ihr Angesicht zur Erde. Der Abgesandte aber fuhr fort und sprach: „Hier ist auch ein Brief an dich, Christin, von dem König deines Mannes[156].“ Sie nahm denselben und öffnete ihn. Er duftete aber wie köstliche Salbe, und die Schrift war mit goldenen Buchstaben geschrieben. Der Inhalt des Briefes war: Der König begehre, daß auch sie sich auf die Pilgerreise begebe, wie Christ, ihr Mann, es getan; denn das sei der Weg, zu Seiner Stadt zu gelangen und in Seiner Gegenwart mit Freuden zu wohnen ewiglich. „Herr,“ rief die gute Frau ganz überwältigt, „willst du mich und meine Kinder mit dir nehmen, daß wir hinziehen und diesen König auch anbeten[157]?“

Christin,“ erwiderte der Abgesandte, „vor dem Süßen kommt das Bittere; auch du mußt durch viel Trübsale in die himmlische Stadt eingehen. So rate ich dir, gehe, wie Christ, dein Mann, es tat, zu der engen Pforte, die dort jenseits der Ebene liegt; denn sie steht am Eingang des Weges, den du gehen mußt, und ich wünsche dir eine glückliche Reise. Den Brief, den du erhalten, verwahre sorgfältig in deinem Kleid, da du ihn an der himmlischen Pforte abgeben mußt. Lies mit deinen Kindern fleißig darin, bis ihr ihn auswendig wißt, denn er enthält eins von den Liedern, das du singen mußt, solange du noch in dem Hause deiner Wallfahrt bist[158].“

Nun sah ich in meinem Traum, daß jener alte Herr, während er mir diese Geschichte erzählte, selber sehr davon ergriffen zu sein schien. Indessen fuhr er fort und erzählte weiter: Christin rief alsbald ihre Söhne zusammen und redete sie also an: „Meine lieben Söhne, ihr habt wohl bemerkt, daß der Tod eures Vaters mich in der letzten Zeit viel beschäftigt hat — nicht als ob ich an seiner Glückseligkeit zweifelte, denn daß er wohl aufgehoben ist, davon bin ich hinlänglich überzeugt. Aber auch, wenn ich unser bisheriges Leben überdachte, das doch eigentlich ein elendes genannt werden muß,[S. 201] war ich sehr bekümmert; und vollends ist es mein Betragen gegen euren Vater in seiner Seelenangst, was sich wie eine schwere Last auf mein Gewissen wälzt; denn ich habe nicht nur mein, sondern auch eure Herzen gegen ihn verhärtet und mich geweigert, mit ihm die Pilgerfahrt anzutreten. — Der Gedanke an all dieses würde mir wohl das Herz brechen, wenn ich nicht in der verflossenen Nacht einen Traum gehabt und dieser Fremde mir heute morgen Mut zugesprochen hätte. Kommt, meine Kinder, laßt uns aufbrechen und zu der Pforte eilen, welche nach dem himmlischen Land führt, daß wir euren Vater wiedersehen und bei ihm und all den Seligen nach den Gesetzen jenes Landes in Frieden wohnen!“

Da brachen die Kinder in Tränen aus vor Freude, daß ihrer Mutter Herz so umgewandelt war. Alsbald nahm der Abgesandte Abschied von ihnen, und sie fingen an, sich auf die Reise zu rüsten.

Während sie damit beschäftigt waren, kamen zwei von Christins Nachbarinnen vor das Haus und klopften an die Tür. „Kommt ihr in Gottes Namen, so tretet ein!“ rief sie auch ihnen zu. Das machte die Frauen stutzig, denn eine solche Rede hatten sie weder von Christins Lippen noch sonst überhaupt jemals gehört. Gleichwohl traten sie ein; aber siehe, sie fanden die gute Frau im Begriff, ihr Haus zu verlassen.

„Aber Nachbarin, sag, was hast du denn vor?“ fragten sie wie aus einem Munde.

„Ich rüste mich auf eine Reise,“ antwortete Christin, sich an Frau Furchtsam, die ältere von ihnen, wendend.

(Diese Furchtsam war eine Tochter dessen, dem Christ auf dem Berg der Beschwerde begegnete und ihn aus Furcht vor den Löwen zur Umkehr bereden wollte.)

Furchtsam. Aber ich bitte dich, zu welcher Reise denn?

Christin. Meinem teuren Mann nachzugehen. — Und dabei fing sie an zu weinen.

Furchtsam. Nachbarin, das will ich nicht hoffen. Ich bitte dich um deiner armen Kinder willen, du werdest doch nicht dein Mutterherz verleugnen und sie gar verlassen wollen!

Christin. Nein, meine Kinder sollen auch mit mir gehen, nicht eins von ihnen will zurückbleiben.

Furchtsam. Ich traue meinen Augen und Ohren nicht; wer in aller Welt hat dich nur auf diesen Gedanken gebracht?

[S. 202]

Christin. O Nachbarin, wüßtest du, was ich weiß, du würdest ohne Zweifel mit mir ziehen.

Furchtsam. Ei, was für neue Kunde hast du denn bekommen, die so dein Herz von deiner Freundschaft abzieht und dich verleitet, wer weiß wohin zu gehen?

Christin erwiderte: „Ich bin seit der Abreise meines Mannes immer schmerzlich betrübt gewesen und besonders, seit er über den Fluß gegangen ist. Was mich am meisten bekümmert, das ist mein hartes Betragen gegen ihn, als er so niedergeschlagen war. Zudem ist es mir jetzt ebenso zumute, wie ihm damals war; so kann mir nichts helfen, als daß auch ich die Pilgerschaft antrete. Mir träumte vorige Nacht, als sähe ich ihn. O wäre doch meine Seele bei ihm! Er wohnt bei dem König jenes Landes, sieht allezeit Sein Angesicht; er sitzt mit Ihm an Seiner Tafel; er ist ein Mitgenosse der Unsterblichen, und es ist ihm ein Haus geworden, in dem er wohnt, demgegenüber die herrlichsten Paläste auf Erden mir wie elende Hütten vorkommen. Es hat auch der Fürst dieses Landes nach mir gesandt mit der Verheißung, daß Er mich aufnehmen wolle, wenn ich zu Ihm kommen würde. Sein Abgesandter war jetzt eben bei mir und hat mir ein Einladungsschreiben überreicht, daß ich kommen solle.“ Und hiermit zog sie den Brief hervor und las ihn und sprach zu ihnen: „Was wollt ihr nun hierzu sagen?“

Furchtsam. O diese Tollheit, die dich und deinen Mann ergriffen hat, in solche Schwierigkeiten hineinzurennen! Es ist dir doch gewiß nicht unbekannt, was deinem Mann schon am Anfang des Weges begegnet ist, was unser Nachbar Störrig noch bezeugen kann, ebenso Willig, die ja eine Strecke weit mit ihm gegangen, bis sie als verständige Männer sich scheuten, weiterzugehen. Wir haben auch ein langes und breites davon gehört, wie er mit den Löwen, dem Apollyon und mit Schatten des Todes zu tun gehabt und vielen andern Schrecknissen der Art. Denke doch an die Gefahren, die ihm auf dem Eitelkeitsmarkt drohten! Denn wenn es ihm, der doch ein Mann war, so übel erging, was kannst du tun, die du nur eine schwache Frau bist? Bedenke doch auch, daß diese vier süßen Kleinen deine Kinder sind, dein Fleisch und Bein! Wenn du also auch verwegen genug sein solltest, dich selber ins Unglück zu stürzen, so bleibe doch wenigstens um deiner Kinder willen zu Hause.

[S. 203]

Christin aber antwortete ihr: „Versuche mich nicht, Nachbarin, jetzt ist es in meine Hand gelegt, einen großen Gewinn zu erlangen, und ich müßte die größte Närrin sein, wenn ich nicht das Herz hätte, diese Gelegenheit zu ergreifen[159]. Was all die Beschwerden betrifft, die mir, wie du sagst, auf dem Weg gleichfalls begegnen werden, so lasse ich mich dadurch nicht im geringsten entmutigen; ich sehe vielmehr daraus, daß ich auf der rechten Bahn bin. Das Bittere muß vor dem Süßen kommen, und es wird auch das Süße desto süßer machen. Deshalb, da du nicht in Gottes Namen in mein Haus gekommen, wie ich sagte, so bitte ich dich, nur wieder zu gehen und mich nicht weiter zu beunruhigen.“

Da fing Furchtsam an, sie zu schmähen[160], und zu ihrer Gefährtin sprach sie: „Komm, Nachbarin Barmherzig, wir müssen sie ihrem eigenen Willen überlassen, da sie unsern Rat und unsre Gesellschaft verachtet.“ Allein Barmherzig ward unschlüssig und konnte nicht sofort ihrer Nachbarin beipflichten, und zwar aus zwei Gründen: Erstlich entbrannte ihr Herz für Christin. Sie sprach bei sich selbst also: „Wenn meine Nachbarin durchaus fort will, so will ich eine Strecke Wegs mit ihr gehen und ihr behilflich sein.“ Zum andern war sie über ihre eigene Seele bekümmert, denn Christins Worte waren wie Nägel in ihr Herz gedrungen, und sie dachte: „Ich muß über diese Sache noch weiter mit Christin reden, und finde ich Wahrheit und Leben in dem, was sie sagen wird, so will ich auch von Herzen gern mit ihr gehen.“ Und so antwortete Barmherzig ihrer Nachbarin Furchtsam:

„Nachbarin, ich bin allerdings mit dir gekommen, um Christin heute morgen zu besuchen. Weil sie aber, wie du siehst, vorhat, ihrem Vaterland für immer Lebewohl zu sagen, so gedenke ich, an diesem sonnigen Morgen sie noch ein Stück Wegs zu begleiten und ihr ein wenig Handreichung zu tun.“ Sie sagte ihr aber nichts von ihrem zweiten Grund, sondern behielt diesen für sich.

Furchtsam. Nun, ich sehe schon, du hast auch Lust zum Närrischwerden. Allein sei beizeiten auf deiner Hut und nimm Vernunft an! Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um.

[S. 204]

Also kehrte Frau Furchtsam den beiden den Rücken und ging. Zu Hause angekommen, lud sie alsbald einige ihrer Nachbarinnen zu sich ein, nämlich Frau Fledermausauge, Frau Unbedachtsam, Frau Leichtsinn und Frau Unwissend, um ihnen die neue Geschichte von Christin und ihrer beabsichtigten Reise mitzuteilen. Sie begann also ihre Erzählung:

„Nachbarinnen, da ich heute morgen nicht viel zu tun hatte, ging ich aus, um Christin einmal zu besuchen. Als ich an ihre Tür klopfte, wie es doch bei uns Sitte ist, antwortete sie: Kommst du in Gottes Namen, so tritt ein! Im guten Glauben, es stände alles wohl, ging ich hinein, und da finde ich sie, wie sie sich rüstet, um die Stadt zu verlassen. Auf meine Frage, was das zu bedeuten hätte, gestand sie mir offen, daß sie sich entschlossen, auf die Pilgerschaft zu gehen, wie ihr Mann getan. Sie erzählte mir auch einen Traum, den sie gehabt, und wie der König des Landes, wo ihr Mann sich aufhalte, ihr ein Einladungsschreiben geschickt hätte, daß sie dahin kommen solle.“

„Wie? was?“ rief Frau Unwissend, „und glaubst du wirklich, daß sie gehen wird?“

Furchtsam. Freilich wird sie gehen, was auch immer daraus entstehen mag. Das kann ich daraus entnehmen, weil gerade das, wodurch ich sie von ihrem abenteuerlichen Unternehmen abzuschrecken gedachte — nämlich all die Gefahren und Beschwerden, die ihr auf dem Weg gewiß begegnen werden — für sie ein Ansporn zur Abreise ist. Das Bittere komme vor dem Süßen, hat sie gesagt, und werde das Süße noch versüßen.

„O die blinde und törichte Frau!“ sprach Frau Fledermausauge, „will sie sich denn durch die Trübsale ihres Mannes nicht warnen lassen? Ich meinesteils sehe klar, wenn er wieder hier wäre, würde er seiner heilen Haut froh sein und sich wohl nie wieder für nichts und wieder nichts in so viel Gefahren stürzen.“

Frau Unbedachtsam hob nun auch an und sagte: „Fort mit solchen phantastischen Narren aus der Stadt! Ich für meinen Teil bin froh, daß wir sie loswerden. Denn bliebe sie hier wohnen und behielte diesen Sinn bei, wer könnte dann noch friedlich mit ihr leben? Denn entweder würde sie trübsinnig sein oder mit niemand nachbarlichen[S. 205] Umgang pflegen oder fortwährend von solchen Dingen reden, die kein vernünftiger Mensch hören mag. Ich für meine Person werde mich also um ihre Abreise gar nicht grämen. Laßt sie laufen und laßt Bessere an ihre Stelle kommen! Es ist schon lang nicht mehr unsre gute Welt, seitdem diese wunderlichen Narren in ihr wohnen.“

Und Frau Leichtsinn setzte hinzu: „Genug, tut diese Art von Unterhaltung beiseite! Gestern war ich bei Madame Wollust. Da waren wir so lustig wie junge Mädchen. Was denkt ihr wohl, wer alles da war? Ich nämlich und Frau Fleischesliebe und noch drei oder vier andre wie Herr Liederlich, Frau Unflat und solcher Art mehr. Da hatten wir denn Musik und Tanz und was sonst noch dazu gehört, das Vergnügen vollzumachen. Und das muß ich sagen: Die Frau des Hauses ist eine bewunderungswürdige, feingebildete Dame, und Herr Liederlich ist auch ein höchst angenehmer Gesellschafter.“

Fußnoten:

[146] Wer überwindet, der soll mit weißen Kleidern angetan werden (Offenb. 3, 5).

[147] Wirst du in Meinen Wegen wandeln und Meines Dienstes warten, so sollst du regieren Mein Haus und Meine Höfe bewahren; und Ich will dir geben von diesen, die hier stehen, daß sie dich geleiten sollen (Sach. 3, 7).

[148] Jesus spricht: Ich will euch das Reich bescheiden, wie Mir’s Mein Vater beschieden hat, daß ihr essen und trinken sollt an Meinem Tisch in Meinem Reich (Luk. 22, 29. 30).

[149] Wer euch verachtet, der verachtet Mich (Luk. 10, 16).

[150] Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben von nun an. Ja, der Geist spricht, daß sie ruhen von ihrer Arbeit; denn ihre Werke folgen ihnen nach (Offenb. 14, 13).

[151] Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und tragen edlen Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben (Ps. 126, 5. 6).

[152] Die göttliche Traurigkeit wirkt zur Seligkeit eine Reue, die niemand gereut; die Traurigkeit aber der Welt wirkt den Tod (2. Kor. 7, 10).

[153] Ich bin das Licht der Welt; wer Mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben (Joh. 8, 12).

[154] Die Furcht des Herrn ist eine Quelle des Lebens, daß man meide die Stricke des Todes (Spr. 14, 27).

[155] Das Verlangen der Elenden hörst Du (Ps. 10, 17).

[156] Der Geist wird Zeugnis unserm Geist, daß wir Gottes Kinder sind (Röm. 8, 16). Durch Christus seid auch ihr, da ihr gläubig wurdet, versiegelt worden mit dem Heiligen Geist der Verheißung, welcher ist das Pfand unsers Erbes zu unsrer Erlösung, daß wir Sein Eigentum würden zu Lob Seiner Herrlichkeit (Eph. 1, 13. 14).

[157] Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, daß ich Gottes Angesicht schaue? (Ps. 42, 3.)

[158] Deine Rechte sind mein Lied in dem Hause meiner Wallfahrt (Ps. 119, 54).

[159] So laßt uns nun Fleiß tun, einzukommen zu dieser Ruhe (Hebr. 4, 11).

[160] Das befremdet sie, daß ihr nicht mit ihnen laufet in dasselbe wüste, unordentliche Wesen, und sie lästern (1. Petr. 4, 4).

Schlussvignette, Kapitel II, 1

[S. 206]

Kopfstück, Kapitel II, 2

Zweites Kapitel.
Wer da anklopft, dem wird aufgetan.

M

Mittlerweile hatte sich Christin mit ihren Knaben auf den Weg gemacht, und Barmherzig begleitete sie. Indem sie miteinander gingen, entspann sich unter ihnen folgendes Gespräch:

Barmherzig,“ sagte Christin, „ich betrachte es wirklich als eine unverdiente Gnade, daß du mit mir ausgezogen bist, um mir noch ein wenig Gesellschaft zu leisten.“

„Wenn ich glauben dürfte,“ erwiderte das Mädchen (denn Barmherzig war noch jung), „daß es nicht vergeblich wäre, mit dir zu gehen, so würde ich der Stadt nie wieder nahe kommen.“

„Weißt du was,“ antwortete Christin, „wirf dein Los mit dem meinen zusammen, weiß ich doch wohl, was das Ende unsrer Pilgerschaft sein wird! Mein Mann ist an einem Ort, den er um alles Gold in den Bergwerken Spaniens nicht wieder verlassen möchte. Und wenn du gleich nur auf meine Einladung hin mitgehst, so wirst du doch nicht zurückgewiesen werden; denn der König, der nach mir und meinen Kindern geschickt hat, hat Wohlgefallen an Barmherzigkeit (Matth. 9, 13). Überdies, wenn es dir recht ist, will ich dich dingen, und du sollst als meine Magd mit mir gehen; doch wollen wir alle Dinge untereinander gemein haben; komm nur mit mir!“

Barmherzig. Aber wie erlange ich die Gewißheit, daß ich auch angenommen werde? O daß sich jemand fände, der hierüber Auskunft geben könnte; ich würde mich keinen Augenblick besinnen, sondern mit Hilfe dessen, der helfen kann, mit dir durch dick und dünn gehen.

[S. 207]

Christin. Nun wohl, geliebte Barmherzig, so will ich dir sagen, was du tun sollst: Gehe mit mir nach der engen Pforte[161], und dort will ich mich deinetwillen weiter erkundigen. Und wenn dir da keine Ermutigung zuteil wird, so will ich mich damit zufrieden geben, daß du an deinen Ort zurückkehrst. Auch will ich dir deine Liebe vergelten, die du mir und meinen Kindern erweisest, indem du uns auf unserm Weg begleitest.

Barmherzig. So will ich denn hingehen und hinnehmen, was weiter kommt, und der Herr gebe gnädiglich, daß mein Los so falle, daß der König des Himmels Sein Herz zu mir neige.

Hierüber war Christin von Herzen froh, nicht nur, daß sie eine Gefährtin hatte, sondern auch, daß sie dieses arme Mädchen bewogen hatte, für ihr Seelenheil zu sorgen. So gingen sie denn zusammen weiter, Barmherzig aber fing an zu weinen.

Da fragte Christin: „Warum weinst du, liebe Schwester?“

„Ach,“ sagte sie, „wer kann anders als wehklagen, wenn man recht erwägt, in welcher Lage und in welchem Zustand meine armen Verwandten sich befinden, die noch in unsrer sündenvollen Stadt verbleiben? Und was meinen Kummer noch größer macht, ist, daß niemand sie unterrichtet und auf die drohende Gefahr hinweist.“

Christin. Mitleiden steht den Pilgrimen wohl an, und du empfindest für deine Angehörigen, was mein guter Christ für mich empfand, als er mich verließ. Er trauerte darüber, daß ich ihn nicht hören noch auf ihn achten wollte. Aber sein und unser Herr hat seine Tränen gesammelt und sie in Seinem Krug verwahrt[162], und nunmehr ernten du und ich und diese meine geliebten Kinder die Frucht und den Segen davon. Glaube mir, Barmherzig, deine Tränen werden nicht umsonst sein, denn die ewige Wahrheit spricht: „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und tragen edlen Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben“ (Ps. 126, 5. 6).

[S. 208]

Barmherzig sprach:

Keiner wird zuschanden, welcher Gottes harrt;
Soll ich sein der erste, der zuschanden ward?
Nein, das ist unmöglich, Du getreuer Hort!
Eher fällt der Himmel, eh mich täuscht Dein Wort.
Du hast zugesaget: Wer da bittet, nimmt;
Wer da sucht, soll finden, was ihm Gott bestimmt.
Wer im festen Glauben mutig klopfet an,
Dem wird ohne Zweifel endlich aufgetan.
Nun, so will ich’s wagen, Herr, auf Dein Gebot,
Alle meine Sorgen, eign’ und fremde Not,
All mein heimlich Grämen, alles, was mich quält,
Dir ans Herz zu legen, der die Tränen zählt.

Mein alter Freund fuhr fort: Da aber Christin zu dem Sumpf der Verzagtheit kam, ward sie bedenklich und blieb stehen. „Hier,“ sagte sie, „ist die Stelle, wo mein lieber Mann in den Schlamm fiel und beinahe versunken wäre.“ Sie bemerkte auch, daß ungeachtet des Königs Befehl, diese Stelle für die Pilger auszubessern, sie eher schlechter als besser geworden war. — Als ich fragte, ob sich das also verhielte, da antwortete der alte Mann: „Ja, ja, so ist es; denn es gibt viele, welche vorgeben, des Königs Arbeiter zu sein, und sagen, sie ließen es sich angelegen sein, des Königs Heerstraße auszubessern; allein statt der Steine bringen sie Kot und Unrat herzu, und so verderben sie den Weg, statt ihn zu bessern.“

So blieb nun Christin mit ihren Kindern unschlüssig hier stehen; Barmherzig hingegen sagte: „Kommt, laßt uns es wagen, nur wollen wir uns in acht nehmen!“ So gingen sie sehr behutsam vor, Schritt für Schritt, und kamen, wenn auch hin und wieder ausgleitend, mit knapper Not hinüber. Doch wäre Christin einigemal beinahe steckengeblieben. Als sie nun die gefährliche Stelle überschritten hatten, so war es ihnen, als hörten sie die Worte: „O selig bist du, die du geglaubt hast! denn es wird vollendet werden, was dir gesagt ist von dem Herrn“ (Luk. 1, 45).

Indem sie ihren Weg fortsetzten, sprach Barmherzig zu Christin: „O wenn ich wie du die gewisse Zuversicht hätte, an der Pforte eine freundliche Aufnahme zu finden, ich glaube, kein Sumpf der Verzagtheit könnte mich mutlos machen.“

[S. 209]

„Nun,“ erwiderte Christin, „du kennst jetzt deine Schwächen und ich die meinen. Ja, liebe Freundin, wir alle werden noch Drangsal genug haben, ehe wir an das Ziel unsrer Reise kommen. Denn das darf man sich nicht einbilden, daß Menschen, die eine solche Herrlichkeit zu erlangen trachten wie wir und um ihre Glückseligkeit so beneidet werden, nicht auf allerart Schlingen und Hindernisse, Anfechtungen und Trübsale stoßen werden. Nein, unsre Hasser werden uns alles das in den Weg zu legen wissen.“

Hier nun verließ mich Herr Scharfsinn, daß ich meinen Traum selber zu Ende träumen möchte, und es dünkte mich, als sähe ich Christin, Barmherzig und die Knaben alle miteinander nach der engen Pforte zugehen. Daselbst angekommen, berieten sie darüber, wie sie anklopfen und was sie dem Torhüter sagen sollten. Es wurde beschlossen, daß Christin als die Älteste anklopfen und mit dem, der auftun würde, auch für die übrigen sprechen sollte.

Christin klopfte also an die Pforte[163] und, wie ihr armer Mann getan, klopfte sie wieder und wieder. Anstatt aber, daß jemand antwortete, meinten sie alle einen Hund zu hören[164], der bellend auf sie zukäme; ja, ein Hund war’s und noch dazu ein großer, der den Frauen und Kindern Schrecken einjagte. Auch wagten sie eine Zeitlang nicht, wieder anzuklopfen, aus Furcht, daß der Bullenbeißer sie anfallen könnte. Eine peinliche Stille folgte, und sie wußten nicht, was sie vornehmen sollten; denn umkehren wollten sie auch nicht, weil sie fürchteten, der Torhüter möchte es wahrnehmen und unwillig auf sie werden. Endlich aber faßten sie ein Herz, noch einmal anzuklopfen, und sie klopften heftiger als zuvor. Hierauf rief der Torhüter: „Wer ist da?“ Sogleich hörte der Hund auf zu bellen, und die Pforte ward ihnen aufgetan. Christin verneigte sich und sprach:

„Möge unser Herr nicht zürnen mit Seinen Mägden, weil wir an Seine königliche Pforte geklopft haben!“

Hüter. Von wannen kommt ihr? und was ist euer Begehr?

Christin. Wir kommen von daher, von wannen Christ auch kam, und in derselben Absicht wie er, nämlich daß wir,[S. 210] so es Dir gefällt, durch diese Pforte auf den Weg gelangen, der zu der himmlischen Stadt führt. Auch tue ich meinem Herrn zu wissen, daß ich Christin, Christs Frau, bin, der nun droben angelangt ist.

„Wie?“ rief der Torhüter verwundert aus, „ist die nun eine Pilgerin geworden, die noch vor kurzem ein solches Leben verabscheute?“ Christin verneigte sich und sprach: „Ja, und hier sind auch meine lieben Kinder!“

Lasset die Kindlein zu Mir kommen!“ (Mark. 10, 14) sagte Er, nahm sie bei der Hand und führte sie hinein; das Tor ward wieder geschlossen. Hierauf rief Er einem Trompeter auf der Warte zu, Christin mit Frohlocken und dem Schall der Posaune zu empfangen. Dieser fing alsbald an zu blasen und erfüllte mit lieblichen Weisen die Luft.

Während dieser Zeit stand die arme Barmherzig draußen, zitterte und weinte bitterlich vor Furcht, daß sie verworfen wäre. Als jedoch Christin für sich und ihre Söhne Einlaß erlangt hatte, begann sie, sich für Barmherzig zu verwenden.

„Herr,“ sprach sie, „ich habe eine Gefährtin, die noch draußen steht. Sie ist in derselben Absicht hergekommen wie ich. Sie ist sehr niedergeschlagen in ihrem Gemüt, weil sie kommt, wie sie denkt, ohne eingeladen zu sein, wogegen von meines Mannes König nach mir geschickt wurde.“

Nun fing Barmherzig an, sehr ungeduldig zu werden, und es kam ihr jede Minute so lang vor wie eine Stunde. Dadurch, daß sie selbst an die Pforte anklopfte, unterbrach sie Christin in ihrer Fürsprache für sie. Ihr Anklopfen war so stark, daß jene zusammenfuhr. „Wer ist draußen?“ fragte der Torhüter. Christin antwortete: „Es ist meine Freundin.“

Er öffnete also das Tor und sah hinaus. Barmherzig aber war draußen ohnmächtig hingesunken, denn ihre Kraft verließ sie, weil sie fürchtete, daß ihr keine Tür aufgetan werden würde. Da ergriff Er sie bei der Hand und sagte: „Mägdlein, Ich sage dir, stehe auf!“ (Mark. 5, 41.)

„Ach Herr,“ sprach sie, „ich bin noch so schwach; es ist kaum noch Leben in mir.“

Er erwiderte: „Es steht geschrieben: Da meine Seele bei mir verzagte, gedachte ich an den Herrn, und mein Gebet kam zu Dir in Deinen heiligen Tempel (Jon. 2, 8). Fürchte[S. 211] dich nicht, sondern tritt auf deine Füße und sage Mir, warum du hergekommen bist.“

Barmherzig. Ich komme um etwas, wozu ich niemals eingeladen worden bin wie meine Freundin Christin. Sie kommt auf den Ruf des Königs, ich aber nur auf den ihren; darum fürchte ich, ich sei vermessen.

Hüter. Hat sie dich aufgefordert, mit ihr hierher zu kommen?

Barmherzig. Ja, und so bin ich, wie mein Herr sieht, auch gekommen; und ist noch irgendwelche Gnade und Vergebung der Sünden vorhanden, so bitte ich, laß doch diese Deine arme Magd Anteil daran haben!

Da nahm Er sie wieder bei der Hand, führte sie sanft hinein und sprach: „Ich bitte für alle die, welche an Mich glauben, sie mögen zu Mir kommen, wodurch es auch sei[165].“ Und zu denen, welche dabeistanden, sprach Er: „Holt etwas herbei und gebt es Barmherzig, daß sie daran rieche und wieder wacker werde.“ Da brachten sie ihr einen Büschel Myrrhe, und alsbald ward sie von neuer Kraft durchströmt.

Nun wurden Christin und ihre Knaben und Barmherzig von dem Herrn am Eingang des Weges empfangen, und Er redete freundlich mit ihnen. Sie sprachen zu Ihm: „Wir haben gesündigt, und unsre Sünden sind uns herzlich leid, und wir bitten Dich: Vergib uns und unterweise uns den Weg, den wir zu gehen haben!“

Er antwortete: „Vergebung wird euch zuteil durch Wort und Tat, nämlich durch das Wort der Verheißung Meiner Gnade, durch Tat: in der Weise, wie Ich sie erworben habe. Nehmet die erste von meinen Lippen mit einem Kuß (Hohesl. 1, 2; Joh. 20, 22) und die andre, wie es euch weiterhin wird geoffenbart werden.“

Noch manch süßes Trostwort sprach Er ihnen zu, wodurch ihre Herzen hoch erfreut wurden. Er führte sie auch auf die Warte des Tores und zeigte ihnen, durch welche Tat sie gerettet worden[166], und verhieß ihnen, daß sie diesen Anblick auf ihrer fernern Reise zu ihrem Trost wieder haben sollten.

Danach ließ Er sie eine Weile allein unten in einer Gartenlaube, wo sie sich miteinander unterhielten.

[S. 212]

„O wie froh bin ich,“ fing Christin an, „daß wir hier angelangt sind!“

Barmherzig. Du kannst auch wohl froh sein; aber ich habe vor allem Ursache, vor Freude zu springen.

Christin. Als ich vor der Pforte stand und auf mein Anklopfen niemand antwortete, da dachte ich, es wäre all unsre Mühe vergeblich, zumal als der bissige Hund uns so greulich anbellte.

Barmherzig. Und mir entfiel gänzlich das Herz, als du in Gnaden angenommen und ich draußen gelassen wurde. Ich sah darin schon die Erfüllung dessen, was geschrieben steht: „Zwei werden mahlen auf der Mühle; eine wird angenommen, und die andre wird verlassen werden“ (Matth. 24, 41). Weiter anzuklopfen wagte ich nicht, und so kam ich der Verzweiflung nahe. Als ich aber die Inschrift über der Pforte erblickte, faßte ich wieder Mut, mir selber zusprechend: Jetzt oder nie! So klopfte ich denn; ich kann aber nicht sagen wie, war ich doch wie eine, die mit dem Tode rang.

Christin. Wie? das weißt du nicht einmal? O dein Klopfen konnte einem Mark und Bein durchdringen, wie ich dergleichen meine Lebetage noch nie gehört habe. Ja, es schien, als wolltest du mit Gewalt eindringen und das Reich im Sturm einnehmen[167].

Barmherzig. Was konnte ich in meiner Not anders tun? Vor mir ward die Tür verschlossen, und zudem schreckte mich ein grimmiger Hund! Wer in aller Welt, der so geängsteten Herzens gewesen wie ich, würde nicht mit aller Macht angeklopft haben? Aber, bitte, was sagte mein Herr zu solcher Dreistigkeit? War Er nicht ungehalten über mich?

Christin. Als Er dein ungestümes Klopfen hörte, zog sich ein wunderbar mildes Lächeln über Sein Angesicht. Ich glaube, was du tatest, gefiel Ihm wohl, denn Er ließ nichts von Mißfallen gewahr werden. Aber eines ist mir ein Rätsel, warum Er wohl einen solchen Hund hält. Wie gut, daß ich das vorher nicht wußte, denn sonst hätte ich mich kaum so weit gewagt. Aber nun sind wir ja geborgen, und darüber ist mein Herz fröhlich.

Barmherzig. Wenn es dir recht ist, will ich Ihn[S. 213] fragen, sobald Er herunterkommt, warum Er ein so widerwärtiges Tier auf Seinem Hof hält. Ich hoffe, Er wird es nicht übelnehmen.

„Bitte, tue das!“ sagten die Kinder, „und berede Ihn, daß Er ihn anbindet; denn uns ist so bange, daß er uns beißt, wenn wir von hier weggehen.“

Als Er endlich wieder zu ihnen trat, fiel Barmherzig vor Ihm nieder zur Erde, betete an und sprach: „Herr, laß Dir wohlgefallen das Opfer meines Dankes, welches ich Dir jetzt darbringe, und die Farren meiner Lippen!“

Er erwiderte: „Friede sei mit dir! Stehe auf!“ Sie aber blieb auf ihrem Angesicht liegen und sprach: „Herr, wenn ich gleich mit Dir rechten wollte, so behältst Du doch recht; dennoch muß ich vom Recht mit Dir reden (Jer. 12, 1). Warum hältst du einen so bösen Hund auf Deinem Hof, bei dessen Anblick Frauen und Kinder wie wir aus Angst von Deinem Tore fliehen möchten?“

Er antwortete und sprach: „Jener Hund hat einen andern Eigentümer; er wird auch auf eines andern Grund und Boden in Verwahrung gehalten; Meine Pilgrime hören nur sein Bellen. Er gehört zu dem Schloß, welches ihr dort in der Ferne seht; aber er kann bis an die Mauern dieses Orts herankommen und hat schon manchen rechtschaffenen Pilger durch seine gewaltige Stimme heilsam erschreckt. Freilich, sein Herr hält ihn nicht aus irgendwelcher Freundschaft zu Mir und den Meinen, sondern in der Absicht, die Pilger abzuhalten, zu Mir zu kommen, und damit sie sich fürchten, an dieser Pforte um Einlaß anzuklopfen. Zuweilen hat er sich auch losgerissen und einige Meiner Geliebten übel zugerichtet; aber das alles nehme Ich zurzeit noch mit Geduld an. Doch schaffe Ich Meinen Pilgern rechtzeitige Hilfe, daß sie seiner Gewalt nicht überlassen werden und er ihnen nicht tue, wozu ihn seine hündische Art treibt. Aber du, Meine teuer Erkaufte, darfst dich nicht von einem Hund abschrecken lassen, und wenn du zuvor noch soviel davon erfahren hättest. Auch die Bettler, die von einer Tür zur andern gehen, laufen lieber Gefahr, von einem Hund angebellt oder gar gebissen zu werden, als daß sie sich ein erhofftes Almosen entgehen ließen. Sollte denn ein Hund, der sich auf eines andern Hof befindet, und dessen Gebell ich zum besten Meiner Pilger wende, jemand abhalten, zu Mir zu kommen? Ich errette sie[S. 214] aus dem Rachen des Löwen und Meine Einsame von den Hunden“ (Ps. 22, 21. 22).

„Ich bekenne meine Unwissenheit,“ sprach Barmherzig, „ich habe von Dingen geredet, die ich nicht verstehe. Ich erkenne, daß Du alles wohl machst.“

Christin fing hierauf von ihrer Reise zu reden an und nach dem Weg zu fragen. So speiste Er sie denn, wusch ihnen die Füße und brachte sie auf den Weg Seiner Fußstapfen, wie Er zuvor mit ihrem Mann getan.

Fußnoten:

[161] Jesus spricht: Ich bin die Tür, so jemand durch Mich eingeht, der wird selig werden und wird ein und aus gehen und Weide finden (Joh. 10, 9).

[162] David betet: Fasse meine Tränen in deinen Krug: ohne Zweifel, Du zählst sie (Ps. 56, 9).

[163] Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan (Matth. 7, 7).

[164] Der Hund ist der Teufel, der ein Feind des Gebets ist.

[165] Ich bitte nicht allein für sie, sondern auch für die, so durch ihr Wort an Mich glauben werden (Joh. 17, 20).

[166] Von ferne sahen sie Christus am Kreuz.

[167] Das Reich Gottes leidet Gewalt, und die Gewalt tun, die reißen es an sich (Matth. 11, 12).

Schlussvignette, Kapitel II, 2

[S. 215]

Kopfstück, Kapitel II, 3

Drittes Kapitel.
In Anfechtung und im Hause des Auslegers.

I

Ich sah nun in meinen Traum, daß sie ihren Weg weiterzogen und dabei sehr angenehmes Wetter hatten. Da fing Christin an zu singen:

Ich danke Dir, Du wahre Sonne, daß mir Dein Glanz hat Licht gebracht;
Ich danke Dir, Du Himmelswonne, daß Du mich froh und frei gemacht;
Ich danke Dir, Du heil’ger Mund, Dein Wort macht mich gesund.
Ach, daß ich Dich so spät erkennet, Du hochgelobte Schönheit Du,
Und Dich nicht eher mein genennet, Du höchstes Gut und wahre Ruh’!
Es ist mir leid, ich bin betrübt, daß ich so spät geliebt.
Erhalte mich auf Deinen Stegen und laß mich nicht mehr irregehn;
Laß meinen Fuß in Deinen Wegen nicht straucheln oder stillestehn:
Erleuchte Leib und Seele ganz, Du starker Himmelsglanz!

Nun war an der andern Seite der Mauer, welche sich der Pilgerstraße entlangzog, ein Garten[168], und dieser Garten gehörte dem Besitzer jenes bellenden Hundes. Es ragten aber die Äste einiger darin stehenden Fruchtbäume über die Mauer, und wenn die Früchte reif waren, so hoben viele der Vorübergehenden sie auf und aßen davon zu ihrem Schaden. Auch die Knaben der Christin, wie solche Jungen zu tun pflegen, machten sich mit großem Vergnügen daran, etliche der Früchte zu pflücken, und fingen an, davon zu essen[169]. Ihre Mutter verwies ihnen dieses Tun, und da sie dennoch nicht davon abließen, sprach sie: „Kinder, ihr versündigt euch, denn diese Früchte gehören uns nicht.“ Sie[S. 216] wußte aber nicht, daß sie dem Feind gehörten, sonst wäre sie, das kann ich sagen, vor Angst schier gestorben. Sie setzten ihren Weg fort und legten dieser Sache keine weitere Bedeutung bei.

Sie waren noch nicht weit gekommen, als sie in der Ferne zwei Übelgesinnte wahrnahmen, die rasch auf sie zukamen. Christin und Barmherzig zogen ihren Schleier vors Gesicht[170], die Knaben aber ließen sie voranschreiten. Als sie nun zusammentrafen, liefen die beiden gerade auf die Frauen zu, als ob sie dieselben umarmen wollten. Christin rief ihnen zu: „Bleibt zurück oder geht ruhig eures Wegs, wie sich’s gebührt!“ Die beiden Männer aber taten, als wären sie taub, und achteten nicht auf ihre Worte, sondern fingen an, Hand an sie zu legen. Hierüber wurde Christin so aufgebracht, daß sie mit den Füßen nach ihnen stieß. Auch Barmherzig erwehrte sich ihrer aus Leibeskräften.

„Bleibt zurück und geht eurer Wege!“ rief Christin ihnen abermals zu, „denn wir haben kein Geld, das man uns abnehmen könnte. Wir sind Pilger, wie ihr seht, und auf die Liebesgaben unsrer Freunde angewiesen.“

„Wir verlangen kein Geld von euch,“ antwortete einer der Männer, „sondern sind gekommen, euch zu sagen, daß wir euch dauernd zu glücklichen Frauen machen wollen, wenn ihr uns nur in einer geringen Sache zu Willen seid.“

Christin erkannte wohl die Absicht dieser Männer und sprach: „Wir wollen weder hören noch achten noch tun, was ihr begehren werdet. Wir sind in Eile und können uns nicht aufhalten; ein Verweilen ist unser Tod.“ So versuchte sie es und ihre Gefährtin aufs neue, an ihnen vorüberzukommen. Sie aber stellten sich ihnen in den Weg und sprachen: „Wir wollen euch ja gar nicht ans Leben; wir verlangen etwas ganz andres.“

Christin. „Ja, ihr wollt beides haben, Leib und Seele; denn ich weiß wohl, weshalb ihr gekommen seid. Wir aber wollen lieber auf der Stelle sterben, als uns in solche Schlingen verstricken lassen, wodurch unser ewiges Heil aufs Spiel gesetzt wird.“ Alsbald schrien sie laut: „Mörder, Mörder!“ und stellten sich dadurch unter die Gesetze, welche zum Schutz[S. 217] der Frauen gegeben sind (5. Mos. 22, 25-27). Dennoch aber ließen die Männer nicht ab, sie zu bedrängen, um sie zu überwältigen; deshalb wiederholten sie ihre Hilferufe.

Dieweil sie noch nicht weit von der engen Pforte entfernt waren, wurde ihr Rufen dort gehört[171]; und da man Christins Stimme erkannte, eilten einige aus dem Haus, ihr zu Hilfe zu kommen. Sie fanden die Frauen in einem ernsten Handgemenge und die Kinder jammernd und weinend dabeistehen. „Was macht ihr da?“ rief einer der Helfer den Schurken zu. „Wollt ihr meines Herrn Volk sündigen machen?“ Er wollte sie ergreifen, sie entwischten aber über die Mauer in den Garten des Mannes, dem der große Hund gehörte, und befanden sich nun in dessen Schutz. Der Retter kam nun heran zu den Frauen und fragte sie nach ihrem Befinden. Sie antworteten: „Wir danken deinem Fürsten, es geht uns ziemlich wohl; nur sind wir sehr erschrocken. Auch danken wir dir, daß du uns zu Hilfe gekommen bist, denn sonst wären wir überwältigt worden.“

Nachdem sie noch dies und jenes miteinander geredet hatten, sagte der Retter zu ihnen: „Mich wundert sehr, daß ihr, als ihr an der Pforte gastliche Aufnahme fandet, nicht den Herrn um einen Führer gebeten habt, da ihr wußtet, daß ihr nur schwache Frauen seid. Sicherlich würde Er euch einen solchen gewährt haben, und ihr wäret solcher Bedrängnis und Gefahr enthoben gewesen.“

„Ach,“ erwiderte Christin, „wir waren von den gegenwärtigen Segnungen so hingenommen, daß wir der kommenden Gefahr ganz vergaßen[172]. Und wer hätte auch denken sollen, daß so nahe bei des Königs Palast solche Bösewichter lauern könnten? Allerdings haben wir es versäumt, um einen Führer zu bitten; aber da unser Herr wußte, was uns zustoßen konnte, so wundert’s mich, daß Er uns nicht einen solchen mitgegeben hat[173].“

Retter. Es ist nicht immer ratsam, Dinge ungebeten zu gewähren, weil sie hierdurch weniger geschätzt werden. Wenn man aber den Mangel einer Sache empfindet, dann erhält sie in den Augen des Betreffenden den Wert, der ihr[S. 218] gebührt, und wird demgemäß hernach auch angewendet. Hätte mein Herr euch ungebeten einen Führer gewährt, so würdet ihr euer Versäumnis nimmermehr so beklagt haben, wie ihr jetzt dazu Veranlassung findet. Also muß alles zum Guten wirken und dazu dienen, euch künftighin vorsichtiger zu machen.

Christin. Sollen wir nun wieder zu unserm Herrn unsre Torheit bekennen und um einen Führer bitten?

Retter. Das Bekenntnis eurer Torheit will ich Ihm überbringen. Es ist nicht nötig, daß ihr umkehrt, denn ihr werdet nirgends, wo ihr hinkommt, Mangel haben an irgendeinem Gut. In allen Herbergen meines Herrn, die Er zur Aufnahme Seiner Pilger errichtet hat, ist hinreichend für das gesorgt, was sie gegen allerlei Anfechtung ausrüsten kann. Aber Er will, wie gesagt, von ihnen darum gebeten sein, daß Er’s ihnen erzeige (Hes. 36, 37). Und das müßte ja auch ein armseliges Ding sein, welches nicht wert wäre, daß man darum bitte.

Nach diesen Worten schied der Retter von ihnen, und die Pilger setzten ihren Weg fort.

„Welch ein schneller Wechsel ist das!“ hob Barmherzig an. „Ich glaubte uns schon aller Trübsal und Gefahr enthoben.“

Christin. Deine Jugend und Unerfahrenheit, meine Schwester, mag dich entschuldigen; was aber mich betrifft, so ist meine Schuld um so größer, als ich die Gefahr vorausgesehen, ehe ich mein Heim verließ, und ich mich dennoch nicht nach Hilfe umsah, als ich sie haben konnte. Ich bin deshalb sehr zu tadeln.

Barmherzig. Aber wie konntest du darum wissen, als du noch zu Hause warest? Ich bitte dich, löse mir dieses Rätsel?

Christin. Wie ich das erfahren habe, will ich dir erzählen: Bevor ich mich zur Pilgerreise anschickte, hatte ich eines Nachts hiervon einen Traum. Mich dünkte, ich sähe am Fußende meines Bettes zwei Männer stehen, die diesen so ähnlich waren wie ein Ei dem andern. Sie machten Anschläge, wie sie mich um meine Seligkeit bringen könnten. (Dies war gerade zu der Zeit, als ich in meiner Seelenangst war.) Ich will dir ihre eigenen Worte wiederholen. Sie[S. 219] sagten: „Was sollen wir mit diesem Weib anfangen? Denn wachend und schlafend schreit sie um Gnade. Lassen wir sie so fortfahren, so werden wir sie verlieren, wie wir ihren Mann verloren haben.“ Nun siehst du also, wie mich dieser Traum hätte behutsam und vorsichtig machen können.

Barmherzig. Nun, wie wir durch diese Nachlässigkeit unsre Unvollkommenheit zu erkennen Gelegenheit hatten, so hat auch unser Herr daran Anlaß genommen, uns den Reichtum Seiner Gnade zu offenbaren. Denn Er ist uns ja, wie wir sehen, mit unverhoffter Güte nachgegangen und hat uns nach Seinem gnädigen Wohlgefallen errettet aus der Hand derer, die stärker waren als wir.

Unter solchen Gesprächen kamen sie zu einem Haus, das am Weg stand und zur Aufnahme und Erquickung der Pilger erbaut war, wie dies im ersten Teil der Pilgerreise ausführlicher beschrieben ist — nämlich das Haus des Auslegers. Sie traten herzu, und als sie an die Tür kamen, drang lautes Reden an ihr Ohr. Sie horchten darauf und hörten, wie sie meinten, Christins Namen nennen; denn ihr müßt wissen, daß das Gerücht von ihrer und ihrer Kinder Pilgerfahrt ihr schon vorausgegangen war. Und das war den Leuten des Hauses um so angenehmer, weil sie vernommen hatten, daß sie Christs Frau sei, dieselbe, welche noch vor kurzen einen solchen Widerwillen gegen das Pilgerleben hatte, daß sie nicht einmal davon hören mochte. Also standen sie still und hörten den guten Leuten zu, wie sie sie lobten und es nicht im entferntesten ahnten, daß sie vor der Tür stände. Endlich klopfte Christin an, wie sie es an der Pforte getan hatte. Alsbald erschien an der Tür ein junges Mädchen mit Namen Unschuld. Als sie die beiden Frauen draußen stehen sah, fragte sie diese nach ihrem Begehr.

Christin antwortete: „Wir haben vernommen, daß dies eine für Pilger bestimmte Herberge sei, und da wir solche sind, bitten wir, daß wir Anteil haben dürfen an dem, um deswillen wir hierhergekommen sind. Siehe, es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt, und uns graut, in der Dunkelheit der Nacht auch nur einen Schritt zu tun.“

Unschuld. Bitte, wie sind eure Namen, damit ich sie meinem Herrn drin melden kann?

Christin. Ich bin Christin, die Frau des Pilgers, der seinerzeit diesen Weg gereist ist, und das sind seine vier[S. 220] Kinder. Diese Jungfrau ist meine Gefährtin, die ebenfalls die Pilgerschaft mit angetreten hat.

Da lief Unschuld hinein und sprach zu ihren Hausgenossen: „Könnt ihr euch wohl denken, wer an der Tür steht? Es ist Christin mit ihren Kindern und ihrer Gefährtin, die alle warten, daß sie eingelassen werden.“ Sie sprangen vor Freude und eilten, es dem Hausherrn anzusagen. Dieser kam an die Tür, sah Christin an und sprach: „Bist du Christin, welche Christ, der liebe Mann, zurückließ, als er sich auf die Pilgerreise begab?“

Christin. Ich bin die Frau, die so hartherzig war, ihres Gatten Bekümmernis geringzuachten und ihn allein auf seine Reise ausziehen zu lassen, und dies sind seine vier Kinder. Aber jetzt komme ich auch, denn ich bin überzeugt, daß dies allein der rechte Weg ist.

Ausleger. So ist erfüllt, was von dem Mann geschrieben steht, der zu seinem Sohn sprach: „Gehe hin und arbeite heute in meinem Weinberg!“ Er antwortete aber und sprach: „Ich will’s nicht tun.“ Darnach reute es ihn, und er ging hin (Matth. 21, 28. 29).

„Amen, es sei also!“ sprach Christin. „Gott mache dies Wort an mir wahr und gebe, daß ich dereinst vor Ihm unbefleckt und unsträflich im Frieden erfunden werde“ (2. Petr. 3, 14).

Ausleger. Aber warum stehst du draußen vor der Tür? Komm herein, du Tochter Abrahams! Wir redeten eben erst von dir, denn die Kunde von deinem Auszug ist schon zu uns gedrungen. Ihr Kinder und du Jungfrau, kommt herein!

Und damit führte er sie alle ins Haus. Hier hieß man sie sich setzen und ein wenig ausruhen. Nun kamen auch die übrigen Bewohner des Hauses herein, um die lieben Gäste zu begrüßen. Unter ihnen allen war große Freude darüber, daß Christin eine Pilgerin geworden war. Auch den Knaben und Barmherzig erzeigten sie ihre Liebe und hießen sie alle herzlich willkommen in dem Hause ihres Herrn.

Der Mann mit der Kehrichtharke, der nur nach unten sehen konnte (S. 222.).

Nachdem die Pilger ein Weilchen geruht hatten, und während das Abendbrot für sie bereitet wurde, führte der Ausleger sie durch seine Unterweisungszimmer, wo er ihnen all das zeigte, was Christ vorzeiten sehen durfte. Hier sahen sie also den Mann im Käfig, den Mann mit dem[S. 222] Traum, den Mann, der sich durch all seine Feinde hindurchschlug, und das Bild des Größten unter allen samt den übrigen Dingen, die für Christ so lehrreich gewesen waren. Als sie alles dies geschaut und in ihre Herzen gefaßt hatten, nahm der Ausleger sie abermals beiseite und brachte sie in ein Zimmer, in welchem ein Mann war, der nur nach unten sehen konnte und eine Kehrichtharke in seiner Hand hatte. Über seinem Haupt hielt einer eine himmlische Krone, die ihm für seine Harke angeboten wurde. Der Mann aber sah weder empor noch achtete er darauf, sondern scharrte sich nur die Strohhalme, die Holzstücke und was sonst auf dem Boden lag, zusammen.

Christin sprach: „Ich glaube zu verstehen, was dies zu bedeuten hat. Es ist das Bild eines Menschen dieser Welt. Ist’s nicht so, lieber Herr?“

„Du hast recht gesagt,“ antwortete der Ausleger. „Und diese Kehrichtharke deutet seinen fleischlichen Sinn an. Daß der Mann von seiner Arbeit so ganz und gar hingenommen ist, ohne sich auch nur nach der angebotenen Krone umzusehen, soll anzeigen, daß der Himmel für manche nur eine Fabel ist und daß sie nur die Dinge hienieden für etwas Wesentliches und Wirkliches halten. Wie du ferner siehst, daß der Mann bloß niederwärts blicken kann, so soll es dich lehren, daß die irdischen Dinge, wenn sie eines Menschen Gemüt mit Macht eingenommen haben, das Herz gänzlich von Gott abziehen.“

„O,“ rief Christin aus, „erlöse mich von dieser Kehrichtharke!“

Ausleger. Ja, in der gegenwärtigen Zeit ist man ganz davon abgekommen, Gott zu bitten: „Reichtum gib mir nicht!“ (Spr. 30, 8.) Unter zehntausend ist es das Gebet von kaum einem. Stroh, Holz und Kot sind die großen Dinge, nach denen jetzt die meisten trachten.

Darüber weinten Christin und Barmherzig und sprachen: „Ach, das ist leider nur allzu wahr!“

Hierauf brachte der Ausleger seine Gäste in das allerbeste Zimmer des Hauses, und es war wirklich ein prächtiges Gemach. Er hieß sie dann rund umher schauen und sehen, ob ihnen irgend etwas in die Augen fallen würde, das ihnen zur Belehrung dienen könnte. Sie wandten ihre Blicke nach allen Seiten, konnten jedoch nichts Besonderes wahrnehmen.

[S. 223]

Da sprach Barmherzig: „Herr, ich sehe nichts.“ Christin aber schwieg still.

„Sieh dich noch einmal um!“ erwiderte der Ausleger. Sie tat es und sagte dann: „Ich sehe nichts als eine häßliche Spinne, die sich mit den Füßen an der Wand festhält.“ — „Wie?“ fragte er: „Ist denn nur eine Spinne hier in diesem ganzen geräumigen Zimmer?“ Da traten der Christin die Tränen in die Augen — denn sie besaß die Gabe einer schnellen Auffassung — und sie sprach: „Ja, Herr, hier sind mehr denn eine; und es sind Spinnen, deren Gift weit schädlicher wirkt als das, was in jener ist.“ — „Du hast die Wahrheit geredet,“ erwiderte der Ausleger, ihr freundlich zunickend. Barmherzig aber errötete, und die Knaben bedeckten ihre Gesichter, denn sie fingen nun alle an, das Rätsel zu verstehen.

„Die Spinne,“ fuhr der Ausleger fort, „wirkt mit ihren Händen und ist in der Könige Schlössern (Spr. 30, 28). Und dies ist aufgezeichnet, um euch zu zeigen, daß, wie voll von dem Gift der Sünde ihr auch sein mögt, ihr dennoch durch die Hand des Glaubens das beste Zimmer, welches zu des Königs Haus droben gehört, ergreifen und darin wohnen könnt.“

Christin. Ein schwaches Lichtlein ist mir wohl von Anfang darüber aufgegangen, doch in die volle Tiefe der Bedeutung dieser Sache konnte ich noch nicht hineinsehen. Ich dachte, daß wir den Spinnen ähnlich wären und wie häßliche Geschöpfe aussähen, wenn wir auch gleich in den schönsten Gemächern uns befänden. Aber daß wir durch diese Spinne, dieses giftige und widerwärtige Tier, lernen könnten, wie der Glaube wirke, das ist mir nicht in den Sinn gekommen. Gott hat nichts umsonst gemacht.

Darüber wurden sie alle froh. Noch feuchten Auges schaute eins das andre an, und dann verneigten sie sich vor dem Ausleger.

Er führte sie sodann in ein andres Zimmer, worin eine Henne mit ihren Küchlein war, und er hieß sie diese ein wenig beobachten. Da ging eins von den Küchlein an den Trog, um zu trinken. Und so oft es trank, hob es jedesmal seinen Kopf in die Höhe und seine Augen gen Himmel. „Seht,“ sagte er, „was dies Küchlein tut, und lernet von ihm erkennen, woher all die Gnadengaben kommen, und daß ihr sie mit einem dankenden Aufblick nach oben hinnehmen sollt. — Und nun merket weiter auf!“ Sie nahmen wahr,[S. 224] daß die Henne in einer vierfachen Weise ihre Küchlein zu sich rief: Erstens hatte sie einen allgemeinen gewöhnlichen Ruf, zweitens zuweilen einen besondern Ruf, drittens einen Sammelruf und viertens einen Angst- und Warnungsruf.

„Nun,“ sprach der Ausleger, „vergleicht diese Henne mit einem König und diese Küchlein mit Seinen gehorsamen Untertanen. Wie die Henne hat auch Er Seine Weise, Seinem Volk zu rufen. Durch Seinen allgemeinen Ruf gibt Er nichts; durch Seinen besondern Ruf hat Er allezeit etwas zu geben; Er gibt ein Zeichen, wenn es sich unter Seine Flügel versammeln soll[174], und Er hat auch einen Warnungsruf, wenn Er den Feind kommen sieht. Ich habe euch, meine Geliebten, gerade in dies Zimmer geführt, weil ich erachtete, daß dies Bild für euch leicht faßlich sei.“

„Bitte, lieber Herr,“ sagte Christin, „laß uns noch mehr dergleichen sehen!“

Da brachte er sie ins Schlachthaus, wo ein Fleischer beschäftigt war, ein Schaf zu töten. Und siehe, das Schaf war still und erlitt den Tod geduldig. „Ihr müßt,“ sprach der Ausleger, „von diesem Schaf lernen dulden und Unrecht ohne Murren und Klagen hinzunehmen. Seht, wie es ohne Widerstreben alles mit sich geschehen läßt! Euer König nennt euch Seine Schafe.“

Hierauf nahm er sie mit in seinen Garten, wo eine große Mannigfaltigkeit von Blumen war, und er fragte: „Seht ihr diese Blumen?“ Christin antwortete: „Ja.“ Und er fuhr fort: „Seht, diese Blumen sind verschieden an Gestalt, Art, Farbe, Geruch und Schönheit, einige sind beliebter als die andern; wo aber der Gärtner sie hingepflanzt hat, da stehen sie und hadern nicht untereinander.“

Nun ging er mit ihnen auf sein Feld, welches er mit Weizen und Roggen besät hatte. Als sie aber genauer hinsahen, da waren die Ähren alle abgeschnitten und nur noch die Strohhalme übriggeblieben. „Dieses Land,“ sprach der Ausleger, „war bedüngt, gepflügt und besät worden, was sollen wir aber mit diesen Stoppeln tun?“ — „Verbrenne einen Teil,“ erwiderte Christin, „und das übrige mache zu Dünger!“ Er sagte: „Frucht ist es, wonach euer Auge ausgeschaut[S. 225] hat, und weil sie fehlt, so verurteilt ihr das, was hier steht, zum Feuer und daß es von den Leuten zertreten werde. Sehet zu, daß ihr euch hierdurch nicht selber verdammt!“

Als sie von draußen wieder hereinkamen, da sahen sie ein kleines Rotkehlchen, welches eine große Spinne im Schnabel hatte. „Schaut her!“ rief der Ausleger. Während Barmherzig sich darüber verwunderte, sprach Christin: „Wie unpassend ist das doch für ein so niedliches Vögelein wie das Rotkehlchen, welches sonst vor andern liebt, in einem freundlichen Umgang mit Menschen zu leben. Ich hatte geglaubt, es lebe von Brotkrümchen oder dergleichen mehr. Jetzt liebe ich es nicht mehr so, weil’s das tut.“

„Dies Rotkehlchen,“ belehrte der Ausleger, „ist ein treffendes Bild für gewisse Bekenner des Christentums; sie sind diesem Rotkehlchen gleich mit seiner schönen Stimme, seinem zierlichen Gewand und seiner gefälligen Haltung. Sie scheinen eine große Liebe zu den wahren Bekennern zu haben, sich vor allen andern gern zu ihnen zu gesellen und mit ihnen Gemeinschaft zu pflegen, gleich als ob sie von frommer Leute Brosamen leben könnten. Sie geben auch vor, daß sie aus innerm Bedürfnis in den Häusern der Gottseligen verkehren und die Gottesdienste des Herrn besuchen. Wenn sie aber sich selbst überlassen sind, dann können sie wie die Rotkehlchen Spinnen fangen und verschlingen; dann können sie ihre Lebensweise ändern und Unrecht saufen (Hiob 15, 16) und Sünde hinunterschlucken wie Wasser.“

Als sie nun in das Haus getreten waren, bat Christin den Ausleger, ihnen noch irgend etwas Nützliches zu zeigen oder zu sagen, bis man zum Essen rufen würde. Da hob er also an und sprach:

„Je fetter das Schwein ist, desto mehr verlangt es nach dem Kot; je fetter der Ochse, desto williger geht er zur Schlachtbank, und je wohlbehaglicher der lüsterne Mensch sich fühlt, desto mehr ist er zum Bösen geneigt.

Es ist ein Verlangen im weiblichen Geschlecht, nett und zierlich gekleidet einherzugehen; ein köstlich Ding ist aber allein das, mit dem geschmückt zu sein, was vor Gott köstlich ist.

Es ist leichter, ein oder zwei Nächte hindurch zu wachen als ein ganzes Jahr lang; gleich also ist es leichter, mit einem guten Bekenntnis seinen Anfang zu machen, als Treue zu halten bis ans Ende.

[S. 226]

Ein Schiffsherr läßt im Sturm willig alles Entbehrliche über Bord werfen; wer aber wird wohl das Beste zuerst hinauswerfen? Nur der, welcher Gott nicht fürchtet.

Durch ein Leck kann das Schiff zum Sinken kommen, und eine einzige Sünde kann den Sünder verderben.

Wer seines Freundes vergißt, der ist undankbar gegen ihn; wer aber seines Erlösers vergißt, der ist unbarmherzig gegen sich selber.

Wer in Sünden lebt und auf die ewige Seligkeit hofft, der ist gleich dem, der Unkraut sät und gedenkt, seine Scheune mit Weizen oder Gerste zu füllen.

So jemand glücklich leben will, der hole sich seinen letzten Tag herbei und erwähle ihn zu seinem ständigen Begleiter.

Wenn die Welt, welche Gott geringachtet, von den Menschen so hoch geschätzt wird, was muß der Himmel erst sein, den Gott anpreist!

Wenn dieses Leben, das mit so vielen Trübsalen untermischt ist, doch so ungern verlassen wird, was muß das Leben da droben sein?

Ein jeder erhebt lautes Lob über die Güte, die Menschen ihm erweisen; aber wer ist so von der Güte Gottes durchdrungen, wie es sein sollte?

Wir setzen uns selten zur Mahlzeit, ohne zu essen und noch übrigzulassen; also ist in Jesus Christus mehr Verdienst und Gerechtigkeit, als die ganze Welt bedarf.“

Nachdem der Ausleger diese Rede vollendet hatte, nahm er die Pilger wieder mit sich hinaus in den Garten und führte sie zu einem Baum, der inwendig ganz hohl und verfault war, dennoch aber wuchs und Blätter hatte. „Was bedeutet dies?“ fragte Barmherzig. „Dieser Baum,“ antwortete er, „dessen Auswendiges schön, der inwendig aber faul ist, stellt ein Bild dar, womit manche, die in Gottes Garten sind, verglichen werden können. Mit dem Mund preisen sie Gott hoch, aber in der Tat wollen sie nichts für Ihn tun; ihre Blätter sehen schön aus, aber ihr Herz taugt zu nichts als zu Zunder für des Teufels Feuerzeug.“

Nun war das Abendessen bereitet, der Tisch gedeckt und die Speisen aufgetragen. Sie setzten sich nieder, und nachdem einer gedankt hatte, fingen sie an zu essen. Und da der Ausleger seine Gäste bei Tisch mit Musik zu unterhalten pflegte, so spielten auch jetzt seine Spielleute. Es war[S. 227] auch einer da, der sang mit sehr schöner Stimme. Sein Lied lautete also:

Der Herr ist mein getreuer Hirt,
Mir wird kein Gutes fehlen;
Der Hüter, der nicht schläft noch irrt,
Kann mir nur Heil erwählen.
Er weidet mich auf grüner Au,
Er speiset mich vom Lebenstau
Des Geistes Seiner Gnade.

Als Gesang und Musik verklungen waren, fragte der Ausleger Christin: „Was ist’s, das dich zuerst bewogen hat, dich auf die Pilgerreise zu begeben?“

Christin. Der Verlust meines Mannes ging mir zuerst tief zu Herzen, und ich wurde dadurch schmerzlich betrübt; doch war dies alles nur natürliche Empfindung. Darnach fiel mir auch seine Bekümmernis und die Pilgerschaft wieder ein und wie herzlos und schnöde ich mich dabei gegen ihn benommen hatte. So bemächtigte sich meiner ein tiefes Schuldbewußtsein und brachte mich fast zur Verzweiflung; da hatte ich eben zur rechten Zeit einen Traum von dem Wohlergehen meines Mannes, und ich empfing einen Brief von dem König jenes Landes, der mich zu Ihm beschied. Der Traum und der Brief zusammen wirkten so auf mein Gemüt ein, daß sie mich unwiderstehlich zu dieser Reise zwangen.

Ausleger. Stießest du auf keinen Widerstand bei deinem Auszug?

Christin. Ja, bei einer meiner Nachbarinnen, einer gewissen Frau Furchtsam, einer Verwandten dessen, der meinen Mann aus Furcht vor den Löwen zur Umkehr bereden wollte. Sie schalt mich wegen meines beabsichtigten tollkühnen Unternehmens, wie sie es nannte, eine Närrin und suchte auf alle nur erdenkliche Weise, mich von meinem Vorhaben abzuschrecken, indem sie mir die Mühsalen und Leiden vorstellte, die meinem Mann auf dem Weg widerfuhren. Allein über all das kam ich leicht hinweg. Nur ein Traum, den ich hatte, von zwei schrecklich aussehenden Männern, die, wie mir schien, sich verschwuren, mich auf meiner Reise ins Verderben zu bringen, hat mich sehr beunruhigt. Ja, ich kann ihn auch jetzt noch nicht loswerden, und er macht mich fürchten, daß jeder, der mir begegnet, mir Schaden zufügen und mich vom rechten Weg abbringen könnte. Ich will es[S. 228] auch meinem Herrn nicht verhalten — wiewohl ich nicht wünsche, daß jedermann es wisse —, daß wir beide auf dem Weg diesseits der Pforte so hart angefallen worden sind, daß wir zuletzt „Mörder! Mörder!“ schreien mußten. Und die beiden, welche diesen Angriff auf uns gemacht, waren denen ganz ähnlich, die ich in meinem Traum sah.

„Dein Anfang ist gut,“ sagte der Ausleger, „und dein Ausgang wird noch viel besser sein.“

„Und was hat denn dich bewogen, liebes Kind, hierher zu kommen?“ fragte er, sich an Barmherzig wendend.

Barmherzig errötete und wagte nicht aufzusehen.

Ausleger. Fürchte dich nicht, glaube nur und sage, wie dir’s ums Herz ist!

Barmherzig. Ach, lieber Herr, da es mir an solchen Erfahrungen mangelt, möchte ich lieber schweigen, und das ist es auch, was mich mit Furcht erfüllt, endlich doch noch dahintenbleiben zu müssen. Ich kann nichts von Gesichten und Träumen erzählen wie meine Freundin Christin, noch kann ich davon mitsprechen, daß ich Reue empfunden hätte über die Verachtung des Rats lieber Angehöriger.

Ausleger. Was war es denn, teures Herz, was dich bestimmte, das Pilgerleben zu erwählen?

Barmherzig. Nun, das kam so. Während unsre Freundin noch mit Zurüstungen zur Reise beschäftigt war, da wollten ich und eine andre sie gerade besuchen. Wir klopften an die Tür und traten ein. Da wir sie nun fanden also tun, stellten wir sie darüber zur Rede. Sie sagte, sie habe Bericht erhalten, zu ihrem Mann zu kommen, und erzählte uns, daß sie ihn im Traum gesehen, wie er an einem wunderbaren Ort unter Unsterblichen wohne, eine Krone auf dem Haupt trage, auf einer Harfe spiele, an seines Fürsten Tafel esse und trinke und Ihm aus Dank dafür Loblieder singe und andres mehr. Über diesen Worten entbrannte mein Herz in mir, und ich sprach bei mir selbst: Wenn das wahr ist, so will ich Vater und Mutter und das Land meiner Geburt verlassen und, wenn Christin mich annimmt, mit ihr ziehen. Ich fragte sie also weiter nach der Wahrheit dieser Dinge und ob sie mich wollte mitziehen lassen, denn ich erkannte, daß ich nur auf die Gefahr hin, mit der Stadt zu verderben, länger darin bleiben könne. Was mein Herz aber mit Schmerz erfüllte, war, daß ich so viele meiner Verwandten[S. 229] zurücklassen mußte. So bin ich denn mit innigstem Herzensverlangen gekommen, um mit Christin zu ihrem Mann und seinem König zu ziehen.

Ausleger. Dein Vornehmen ist gut, denn du hast der Wahrheit Glauben geschenkt. Du bist eine Ruth, die aus Liebe zu Naemi und zu dem Herrn, ihrem Gott, Vater und Mutter und Heimat verließ, damit sie auszöge und käme zu einem Volk, das sie zuvor nicht kannte. Der Herr vergelte dir deine Tat, und dein Lohn müsse vollkommen sein bei dem Herrn, dem Gott Israels, zu welchem du gekommen bist, daß du unter Seinen Flügeln Zuversicht hättest (Ruth 2, 11. 12).

Das Abendessen war nun beendet, den Frauen und den Knaben wurden für die Nacht Zimmer angewiesen, wohin sie sich alsbald zurückzogen und sich zum Schlaf niederlegten. Barmherzig aber konnte vor Freude keinen Schlaf finden, weil ihre Zweifel, ob sie auch wirklich dann angenommen werde, immer mehr zu schwinden begannen. So lag sie denn auf ihrem Lager, Gott lobend und preisend, der ihr solche Gnade erwiesen hatte.

Mit Tagesanbruch erhoben sie sich und rüsteten sich zur Weiterreise. „Bleibet noch ein Weilchen,“ mahnte der Ausleger, „denn ihr müßt in allen Ehren von dannen ziehen,“ und zu Unschuld, die die Pilger empfangen hatte, sprach er: „Nimm sie mit dir und führe sie in den Garten zum Bad und laß sie daselbst sich waschen und vom Staub der Reise reinigen[175].“ Sie gingen also hin und wuschen sich und kamen aus dem Bade nicht allein hell und rein gewaschen, sondern auch in ihren Gliedern gestärkt und neu belebt.

Als sie wieder ins Haus traten, sah der Ausleger sie an und sprach zu ihnen: „Schön wie der Mond!“ (Hohesl. 6, 10.) Dann forderte er das Siegel, womit die, welche in seinem Bad rein gewaschen waren, versiegelt wurden. Mit diesem Siegel machte er an ihnen ein Zeichen, auf daß man sie an allen Orten, wohin sie noch kommen würden, erkennen könnte. Dies Siegel aber war die Summe und der Inbegriff des Passahlammes, welches die Kinder Israel aßen, als sie aus Ägyptenland zogen (2. Mos. 13, 8-10); und[S. 230] das Zeichen ward auf ihre Stirn gesetzt und war ein Schmuck und eine Zierde ihres Angesichtes.

Der Ausleger rief Unschuld abermals herbei und sprach: „Gehe in die Kleiderkammer und hole Gewänder daraus für diese Leute!“ Sie ging und brachte weiße Kleider und legte sie vor ihm nieder, und er gebot ihnen, dieselben anzuziehen; es war aber feines Leinen, weiß und rein[176]. Als die Frauen so geschmückt dastanden, waren sie wie ein Wunder füreinander, denn sie konnten bei sich selbst die Herrlichkeit nicht sehen, die eine jede an der andern erblickte. Daher fing jede an, die andre höher zu achten als sich selbst. „Du bist schöner als ich,“ sagte die eine; „nein, du bist herrlicher als ich,“ sprach die andre. Auch die Knaben standen staunend da über die Wandlung, die mit ihnen vorgegangen.

Der Ausleger rief nun einen seiner Diener mit Namen Mutherz und hieß ihn Schwert, Schild und Helm nehmen. „Nimm diese meine Töchter,“ sprach er, „und begleite sie bis zu dem Hause Prachtvoll, wo sie ihre nächste Rast halten werden.“ Dieser nahm seine Waffen und ging vor ihnen her. Der Ausleger sprach: „Gott geleite euch!“ Auch die übrigen Glieder des Hauses entließen sie mit vielen Segenswünschen. So zogen sie denn ihre Straße und sangen:

Den Sinn der Zeichenschrift in der Natur,
Der nur durch Gottes Deutung wird verstanden,
Den niemand findet auf der Sünde Spur,
Durch gnadenreiche Führung hier wir fanden.
Des Vogels Mutterlieb’ wir nun verstehn
Und wissen, wer die mächt’gen Flügel breitet,
Zu decken arme Vögelein, die flehn —
O wär’ das Herz zum Glauben recht bereitet!
Das Wagestück der Spinne gibt mir Mut;
Der Ärmste darf im Glauben alles wagen.
Doch seh’ ich auch, was still die Sünde tut —
Wie Fäulnis kann den Baum zu Tode nagen.
Drum will ich flehn, daß Er mich wachen läßt,
In Seiner Furcht den guten Kampf zu kämpfen,
Als Träger Seines Kreuzes, redlich, fest,
Den finstern Trieb in meinem Fleisch zu dämpfen.

Fußnoten:

[168] Des Teufels Garten.

[169] Fliehe die Lüste der Jugend! (2. Tim. 2, 22.)

[170] Wir wissen, daß, wer von Gott geboren ist, der sündigt nicht; sondern wer von Gott geboren ist, der bewahrt sich, und der Arge wird ihn nicht antasten (1. Joh. 5, 18).

[171] Da mir angst war, rief ich den Herrn an und schrie zu meinem Gott; da erhörte Er meine Stimme von Seinem Tempel, und mein Schreien kam vor Ihn zu Seinen Ohren (Ps. 18, 7).

[172] Ich sprach, da mir’s wohl ging: Ich werde nimmermehr daniederliegen; aber da Du Dein Antlitz verbargest, erschrak ich (Ps. 30, 7. 8).

[173] Ihr habt nicht, darum daß ihr nicht bittet (Jak. 4, 2).

[174] Jesus klagt über Jerusalem: Wie oft habe Ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt! (Matth. 23, 37.)

[175] Dieweil wir solche Verheißungen haben, meine Liebsten, so lasset uns von aller Befleckung des Fleisches und des Geistes uns reinigen und fortfahren mit der Heiligung in der Furcht Gottes (2. Kor. 7, 1).

[176] Die köstliche Leinwand aber ist die Gerechtigkeit der Heiligen (Offenb. 19, 8).

Schlussvignette, Kapitel II, 3

[S. 231]

Kopfstück, Kapitel II, 4

Viertes Kapitel.
Belehrungen und Erfahrungen unter dem Geleit eines treuen Führers.

U

Unter der Führung von Mutherz kamen sie bald an den Ort, wo Christ die Bürde vom Rücken fiel und in ein Grab rollte. Hier standen sie still und priesen Gott darüber.

„Eben fällt mir wieder ein,“ sprach Christin, „was uns an der Pforte gesagt ward: daß wir Vergebung erhalten sollen durch Wort und Tat, nämlich durch Wort, das ist durch die Verheißung, durch Tat, das ist in der Weise, wie sie erlangt worden ist. Was die Verheißung ist, davon weiß ich etwas; was es aber heißt, Vergebung erlangen durch die Tat oder in der Weise, wie sie erworben wurde, das nehme ich an, weißt du, Herr Mutherz; deshalb bitten wir dich: unterweise uns darüber!“

Mutherz. Die Vergebung durch die Tat ist eine Vergebung, die von jemand für einen andern, der ihrer bedarf, erworben ist. Nicht durch die Person, welcher die Vergebung zuteil wird, sondern, so sagt ein andrer, „in der Weise, wie ich sie erworben habe.“ Also ist, um mich deutlicher auszudrücken, die Vergebung, welche du und Barmherzig und diese Knaben erlangt haben, durch einen andern erworben worden, nämlich durch den, der euch durch die Pforte einließ. Und zwar hat Er sie in einer doppelten Weise erworben: Er hat alle Gerechtigkeit erfüllt, um euch damit zu bedecken, und Er hat Sein Blut vergossen, euch damit zu reinigen.

Aber um die Vergebung zu bewirken, muß Gott etwas als Lösegeld dargebracht und uns zugleich etwas bereitet[S. 232] werden, was uns völlig bedeckt. Die Sünde hatte uns dem gerechten Fluch des göttlichen Gesetzes überliefert. Von dem Fluche müssen wir losgesprochen werden auf dem Weg der Erlösung, indem ein Lösegeld bezahlt wird für den Schaden, den wir mit unsern Sünden angerichtet haben, und dies ist geschehen durch das Blut eures Herrn, der da kam und trat an eure Stelle und starb für euch den Tod um eurer Übertretungen willen. So hat Er euch erkauft mit Seinem Blut und euch bekleidet mit Seiner Gerechtigkeit[177]. Um dessentwillen geht Gott gnädig an euch vorüber und wird euch nicht verderben, wenn Er kommt, die Welt zu richten[178].

Christin. Das ist herrlich! Nun verstehe ich erst recht, warum uns Vergebung zugesichert ward durch Wort und Tat. So laß uns, liebe Barmherzig, danach trachten, daß wir dies in unsern Herzen behalten, und ihr, meine Kinder, denket auch daran! Aber, lieber Herr, war es nicht gerade dies, das bewirkte, daß die Last von meines lieben Mannes Schultern herabfiel, und worüber er vor Freuden hüpfte?

Mutherz. Ja, es war der Glaube an den, der die Bande entzweischnitt, die auf keine andre Weise gelöst werden konnten, und war der Grund, daß er seine Bürde bis zum Kreuz tragen mußte, daß er einen Beweis von der Kraft dieser Vergebung empfinge.

Christin. Das dachte ich mir wohl, denn obgleich mein Herz schon zuvor leicht und froh war, so ist es doch jetzt zehnmal leichter und froher. Und wenn ich auch noch wenig dergleichen erfahren habe, so bin ich doch dessen völlig überzeugt, daß, wenn auch der beladenste und mühseligste Mensch in der Welt hier wäre und sähe und glaubte, wie ich jetzt glaube, so würde sein Herz fröhlich und getrost werden.

Mutherz. Durch diesen Anblick und die Betrachtung des Kreuzes wird uns nicht allein Trost und Befreiung von unsrer Bürde zuteil, sondern es wird auch eine herzliche Liebe dadurch in uns entzündet. O wer sollte nicht auch vor diesem Ratschluß Gottes zu seiner Erlösung in Dank und Anbetung stehen bleiben und zugleich in Liebe glühen zu dem, der sich für uns dahingegeben hat!

Christin. Wahrlich, mir ist, als ob mir das Herz blutete,[S. 233] wenn ich daran gedenke, daß Er für mich geblutet hat! O Du Gnadenreicher, o Du Hochgelobter, Du bist würdig, daß ich Dein bin, denn Du hast mich Dir erkauft! Dir gebührt es, mich ganz und gar zu besitzen, denn Du hast zehntausendmal mehr für mich bezahlt, als ich wert bin. Nun verwundere ich mich nicht mehr, daß sich meines Mannes Augen darüber mit Tränen füllten und die empfangene Gnade seine Schritte beflügelten. O wie gern hätte er mich da mit sich genommen! Ich Elende, daß ich ihn allein ziehen ließ! O Barmherzig, wenn doch dein Vater und deine Mutter hier wären, ja auch Frau Furchtsam! Ja, ich wünschte selbst von Herzen, daß auch Frau Wollust dabei wäre. Ohne Zweifel würden ihre Herzen ergriffen werden; es würde weder die Furcht der einen noch die Fleischeslust der andern vermögen, sie wieder nach Hause zu treiben und abzuhalten, den Pilgerstand zu erwählen.

Mutherz. Du sprichst jetzt in der Wärme deines tiefbewegten Herzens. Denkst du, daß es dir immer so zumute sein wird? Zudem wird dies nicht allen so zuteil, nicht einmal jedem, der deinen Jesus bluten sah. Manche standen dabei und sahen das Blut aus Seinem Herzen zu Boden rinnen und waren dennoch so ferne davon, daß sie, statt zu wehklagen, Ihn vielmehr verlachten, und anstatt Seine Jünger zu werden, ihre Herzen gegen Ihn verhärteten. Alles, was ihr empfindet, meine Töchter, rührt her von einem besonderen Eindruck, den die göttliche Gnade durch die Betrachtung dessen, worüber ich mit euch gesprochen, auf euch gemacht hat. Erinnert euch, daß euch gesagt ward, daß die Henne durch ihren allgemeinen Ruf ihre Küchlein nicht zur Speise locke. Dies habt ihr also durch eine besondere Wirkung der Gnade.

Ich sah nun in meinem Traum, daß sie auf ihrem Weg an die Stätte kamen, wo Albern, Träge und Eigendünkel lagen und schliefen, als Christ hier vorbeiging, und siehe, nun waren sie ein wenig abseits vom Weg an Ketten aufgehängt.

„Wer sind diese drei?“ fragte Barmherzig ihren Führer, „und warum sind sie gehängt worden?“

Mutherz. Diese drei waren gefährliche Gesellen, die selber keine Lust hatten, Pilger zu werden, und andre, soviel sie nur konnten, daran hinderten. Sie waren selber träge[S. 234] und unverständig, und wen sie nur dazu bringen konnten, den machten sie ebenso wie sie und verhießen ihm zuletzt Glück und Wohlergehen.

Barmherzig. Aber ist es ihnen denn gelungen, jemand zu betören?

Mutherz. Ja, sie haben mehrere vom Weg abgelenkt. Da war Schneckengang, den sie auf ihre Seite brachten, auch einen gewissen Kurzatem und Feigherz sowie Lustgierig und Schlafkopf und eine junge Frau, namens Stumpfsinnig. Sie brachten auch euren Herrn in ein übles Gerede, indem sie ausstreuten, Er sei ein harter Dienstherr. Von dem Gelobten Land sprengten sie aus; es sei nicht halb so gut, als man vorgebe. Sie fingen auch an, Seine treuen Diener zu schmähen, und hießen sie zudringliche Menschen, Unruhestifter, Leute, die sich in alles einmischten. Sodann pflegten sie das Brot Gottes taube Nüsse zu nennen, die Tröstungen Seiner Kinder närrische Einbildungen, die Arbeit und Mühe der Pilger ein zweckloses Beginnen.

Christin. Nun, wenn sie so waren, dann will ich sie nimmermehr beklagen. Sie haben nur empfangen, was ihre Taten wert waren, und ich meine, es ist gut, daß sie so nahe an der Landstraße hängen, damit andre sie sehen und sich warnen lassen. Aber wäre es nicht besser gewesen, wenn ihre Übeltaten auf eine eiserne Tafel eingegraben und hier, wo sie ihre Bosheit verübt, andern schlechten Menschen zur Warnung hingestellt worden wären?

Mutherz. Das ist auch geschehen, wie du leicht wahrnehmen kannst, wenn du dich der Mauer näherst.

Barmherzig. Nein, nein, laß sie hängen und ihre Namen vergehen und ihre Übeltaten ewig gegen sie zeugen! Ich achte es für eine große Gnade, daß sie aufgehängt wurden, ehe wir hierhergekommen sind. Wer weiß, was sie sonst uns armen Frauen zugefügt hätten! — Sie faßte alsdann ihre Worte in ein Lied und sang:

Schafft mit Ernst, ihr Menschenkinder, schaffet eure Seligkeit;
Bauet nicht wie freche Sünder auf die ungewisse Zeit,
Sondern schauet über euch, ringet nach dem Himmelreich
Und bemüht euch hier auf Erden, wie ihr möget selig werden!
Werdet ihr nicht treulich ringen, wollt ihr träg und lässig sein,
Eure Lüste zu bezwingen, so bricht eure Hoffnung ein.
Ohne tapfern Streit und Krieg folget niemals rechter Sieg;
Nur dem Sieger ist die Krone beigelegt zum Gnadenlohne.
[S. 235]
Zittern will ich vor der Sünde, will allein auf Jesus sehn,
Bis ich Seinen Beistand finde, in der Gnade zu bestehn.
Ach mein Heiland, geh doch nicht mit mir Armen ins Gericht;
Gib mir Deines Geistes Waffen, meine Seligkeit zu schaffen!

Sie wanderten weiter und kamen an den Fuß des Berges der Beschwerde, wo ihr treuer Begleiter wiederum Veranlassung nahm, ihnen zu erzählen, was Christ seinerzeit auf diesem Weg begegnete. Indem er sie an die Quelle führte, sprach er: „Seht, das ist die Quelle, aus der Christ trank, ehe er diesen Berg hinaufstieg. Damals war sie klar und rein, aber jetzt ist sie verunreinigt durch die Füße derer, die es nicht gerne sehen, daß die Pilger hier ihren Durst löschen[179].“

„Aber,“ fragte Barmherzig, „warum sind sie so neidisch?“

„Nun, es wird schon gehen,“ erwiderte der Führer, „wenn man daraus in ein reines Gefäß schöpft, der Schlamm wird sich dann auf dem Boden setzen und das Wasser um so klarer werden.“ — Sie taten also, wie ihnen gesagt ward, und schöpften in ein irdenes Gefäß und ließen es stehen, bis sich der Schlamm gesetzt hatte, und hernach tranken sie davon.

Mutherz zeigte ihnen auch die beiden Nebenwege am Fuß des Berges, die Werkheilig und Heuchler ins Verderben führten. „Gefährliche Wege sind’s,“ sprach er, „zwei Menschen büßten hier ihr Leben ein, als Christ vorbeizog. Und obschon, wie ihr seht, diese Wege seitdem mit Ketten, Pfählen und einem Graben abgesperrt und ganz und gar eingehegt sind, so gibt es doch noch Leute, die lieber auf ihnen ihr Heil versuchen, als daß sie sich die Mühe nehmen, den Hügel hinanzusteigen.“

Christin. Der Verächter Weg bringt Wehe (Spr. 13, 15). Mich wundert’s, daß jemand seinen Fuß noch auf einen solch halsbrecherischen Weg zu setzen wagt.

Mutherz. Und dennoch wagen sie’s. Ja, und wenn sich’s einmal zuträgt, daß einer von des Königs Dienern sie sieht und sie auf die Gefahren dieses falschen Weges aufmerksam macht, so antworten sie nur spöttisch und sprechen:[S. 236] „Nach dem Wort, das du im Namen des Herrn uns sagst, wollen wir dir nicht gehorchen, sondern wir wollen tun nach allem dem Wort, das aus unserm Munde geht“ (Jer. 44, 16. 17).

Christin. Es sind träge Menschen, sie scheuen die Mühe, bergan zu steigen. So erfüllt sich an ihnen, was geschrieben steht: „Der Weg der Faulen ist dornig“ (Spr. 15, 19). Ja, sie wollen lieber in eine Schlinge gehen als diesen Berg hinauf und dann der himmlischen Stadt zu.

Sie begannen nun den steilen Pfad emporzuklimmen, aber noch ehe sie die Höhe erreicht hatten, fing Christin an zu keuchen und sprach: „In der Tat, das ist ein saures Stück, da hinaufzukommen. Es ist kein Wunder, daß die, welche ihre Bequemlichkeit lieber haben als ihr Seelenheil, sich einen angenehmern Weg erwählen.“ Barmherzig aber setzte sich ermüdet nieder, und Jakob, der jüngste Knabe, fing an zu weinen: „Kommt, kommt!“ rief ihnen Mutherz zu, „wir dürfen hier nicht rasten; noch ein paar Schritte, und wir sind in des Königs Laube!“ Damit nahm er den kleinen Knaben bei der Hand und führte ihn hinauf.

Bei der Laube angekommen, war es ihnen eine große Freude, sich hier niedersetzen zu dürfen, denn sie waren alle sehr erhitzt und müde. „Wie ist dem Müden die Ruhe so süß[180]!“ rief Barmherzig aus, „und wie gütig ist der König der Pilger, daß Er ihnen solche Ruheplätze bereitet! Von dieser Laube habe ich schon viel reden hören; aber laßt uns hier vor dem Schlaf uns hüten, denn, wie ich vernommen, ist er den armen Christ teuer zu stehen gekommen.“

„Nun, ihr Knaben, seid ihr alle wohlauf?“ sprach Mutherz hierauf zu den Kleinen, „wie gefällt’s euch denn auf eurer Pilgerreise?“

„Herr,“ antwortete Jakob, „mir wollte vorhin schier der Atem ausgehen; aber ich danke dir, daß du mich an der Hand geführt hast. Es ist, wie meine Mutter gesagt hat, nämlich daß der Weg zum Himmel einer Leiter gleich sei, auf der man in die Höhe gelange; auf dem Weg zur Hölle aber gehe es wie einen Berg hinunter. Ich will jedoch lieber auf der Leiter zum Leben emporsteigen, als den Weg hinunter zum Tode laufen.“

[S. 237]

Barmherzig. Aber das Sprichwort sagt: „Bergab geht’s leicht.“

Jakob. Ja, es wird jedoch noch ein Tag anbrechen, da das Bergabgehen die allerschwerste Sache sein wird.

„Du hast recht geantwortet, mein lieber Junge,“ sprach der Führer. Da lächelte Barmherzig, der kleine Knabe aber errötete.

Christin. Kommt, laßt uns noch eine kleine Erfrischung zu uns nehmen, während wir hier sitzen und unsre Füße ausruhen. Ich habe ein Stück von einem Granatapfel, das mir der Ausleger beim Abschied mitgab, auch ein wenig Honigseim und eine kleine Flasche mit stärkendem Getränk[181].

Barmherzig. Ich habe es bei mir selbst gedacht, daß er dir etwas gab, als er dich beiseite nahm.

Christin. Ja, das tat er, und wie wir es bisher gehalten, so sollst du auch fernerhin teilhaben an allem Guten, das mir zufällt, weil du so bereitwillig meine Gefährtin geworden bist. — Sie gab ihnen also, und sie aßen, sowohl Barmherzig als auch die Knaben.

„Herr,“ sprach Christin zu Mutherz, „willst du nicht auch mit uns halten?“

Er antwortete: „Ihr habt noch einen weiten Weg vor euch, so möge euch diese Speise gesegnet sein! Ich aber werde bald wieder umkehren an meinen Ort, wo ich täglich davon genieße.“

Als sie nun gegessen und getrunken und sich untereinander noch eine Weile erbaut hatten, mahnte der Führer zum Aufbruch und sprach: „Der Tag neigt sich, und wenn ihr euer Heil bedenkt, so wollen wir uns zur Weiterreise anschicken.“

Also machten sie sich auf den Weg, und die Knaben gingen voran. Christin aber vergaß, ihr Fläschchen mit dem stärkenden Getränk mitzunehmen; darum schickte sie einen der Knaben zurück, es zu holen. Barmherzig sagte: „Das scheint ein Ort zu sein, wo man leicht etwas verliert. Hier verlor Christ sein Zeugnis, und Christin hat ihre Flasche zurückgelassen. Herr, was mag die Ursache sein?“

Mutherz antwortete: „Die Ursache davon ist entweder Schlaf oder Vergeßlichkeit. Die einen schlafen, wenn sie[S. 238] wachen sollten; die andern vergessen etwas, woran sie denken sollten. Aus dieser Ursache gereichen so manchen Pilgern die Ruheplätze in dem einen oder andern Stück zum Verlust. Pilger sollten wachsam sein und bei ihren höchsten Genüssen sich dessen erinnern, was sie schon empfangen haben. Aus Mangel hieran verwandelt sich ihre Freude oft in Tränen und ihr Sonnenschein in eine Wolke. Das mußte auch Christ hier erfahren.“

Als sie nun an die Stätte kamen, wo Mißtrauen und Furchtsam Christ begegnet waren und ihn aus Furcht vor den Löwen zur Umkehr bereden wollten, fanden sie hier eine Art von Gerüst, daran hing nach der Straße zu eine große Tafel mit folgender Inschrift:

„Die ihr zu diesem Orte kommt,
Nehmt Herz und Zunge wahr;
Erwählt ihr, was zum Heil nicht frommt,
So droht auch euch Gefahr.“

Unter diesem Reim standen die Worte:

„Dieses Denkmal ist denen zur Strafe erbaut, welche sich durch Furchtsam oder Mißtrauen abschrecken lassen, ihre Pilgerreise fortzusetzen. Hier ward auch Mißtrauen und Furchtsam mit einem glühenden Eisen durch die Zunge gebrannt, weil sie Christ an seiner Wallfahrt zu hindern versuchten.“

Da sagte Barmherzig: „Das erinnert daran, wie David, d. i. der Geliebte, betete: Herr, errette meine Seele von den Lügenmäulern, von den falschen Zungen! Was kann dir die falsche Zunge tun, und was kann sie ausrichten?“ (Ps. 120, 2. 3.)

Sie zogen weiter, bis sie die Löwen zu Gesicht bekamen. Mutherz war ein starker Mann, er fürchtete sich daher nicht vor den Löwen. Die Knaben aber, als sie diesen näher kamen, erschraken so sehr vor ihnen, daß sie zurücktraten und sich hinter den andern versteckten und hintennach gingen. Darüber lächelte ihr Führer und sprach: „Was ist das, ihr Jungen, ihr geht voran, wenn keine Gefahr im Anzug ist, und zieht euch zurück, sobald die Löwen sich nur zeigen?“

Mutherz zog sein Schwert, um den Pilgern den Weg zu bahnen. (S. 238.).

Als sie nun hinzukamen, zog Mutherz sein Schwert in der Absicht, den Pilgern den Weg zu bahnen den Löwen zum Trotz. Da kam plötzlich einer zum Vorschein, der, wie[S. 240] es schien, den Löwen beizustehen gedachte. Der Name dieses Mannes war Grimm oder Blutdurst, weil er die Pilger erschlug, und er war vom Geschlecht der Riesen.

„Was habt ihr hier zu schaffen?“ rief er dem Führer der Pilger zu.

Mutherz. Diese Frauen und Kinder haben die Pilgerschaft angetreten, und das ist der Weg, den sie ziehen müssen, und ziehen sollen sie ihn auch, dir und den Löwen zum Trotz.

Blutdurst. Das ist nicht ihr Weg, und sie sollen ihn auch nicht gehen. Ich bin gekommen, ihnen entgegenzutreten, und zu dem Ende will ich auch den Löwen beistehen[182].

(Nun war allerdings wegen der Wut der Löwen und wegen der grimmigen Haltung des Blutdurst, der sie schützte, dieser Weg lange unbetreten geblieben und fast ganz mit Gras bewachsen.)

Christin. Obgleich die Wege verlassen sind und die da auf Straßen gehen sollten, durch krumme Wege wandelten, so soll’s doch jetzt nicht also sein, da ich aufkam, eine Mutter in Israel (Richt. 5, 6. 7).

Hierauf schwur Blutdurst bei den Löwen, daß sie hier keinen Durchgang finden sollten, und gebot ihnen, von dieser Stelle zu weichen. Nun aber hob Mutherz, der Führer, zum Schlage aus und ließ ihn sein Schwert[183] so empfindlich fühlen, daß er sich zurückziehen mußte, indem er ausrief: „Willst du mich auf meinem eigenen Grund und Boden erschlagen?“

Mutherz. Es ist des Königs Heerstraße, auf die du die Löwen gestellt hast; aber so schwach diese Frauen und Kinder sind, sollen sie dennoch ihren Weg fortsetzen!

Mit diesen Worten versetzte er ihm einen zweiten wuchtigen Hieb, der ihn auf die Knie brachte und ihm seinen Helm zerspaltete. Mit dem dritten schlug er ihm einen Arm ab; da brüllte der Riese so fürchterlich, daß seine Stimme die Frauen erschreckte, und doch waren sie froh, ihn zappelnd[S. 241] auf dem Boden liegen zu sehen. Die Löwen aber waren an Ketten und konnten von selbst nichts tun.

Als nun der alte Blutdurst tot war, sprach Mutherz zu den Pilgern: „Nun kommt und folgt mir! es soll euch von den Löwen kein Schaden zugefügt werden.“

So kamen denn die Frauen zitternd und die Knaben leichenblaß an ihnen vorüber, ohne daß jemand ein Leid geschah.

Fußnoten:

[177] Wir werden ohne Verdienst gerecht aus Seiner Gnade durch die Erlösung, so durch Christus Jesus geschehen ist (Röm. 3, 24).

[178] Christus hat uns erlöst von dem Fluch des Gesetzes, da Er ward ein Fluch für uns (Gal. 3, 13).

[179] Fürwahr, spricht der Herr. Ich will richten zwischen den Schafen und den Widdern und Böcken. Wenn ihr klares Wasser getrunken habt, müßt ihr dann das übrige mit euren Füßen trüben? Und dann sollen Meine Schafe trinken, was ihr mit euren Füßen trübe gemacht habt? (Hes. 34, 17-19.)

[180] Jesus spricht: Kommet her zu Mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; Ich will euch erquicken (Matth. 11, 28).

[181] Deine Tröstungen ergötzen meine Seele (Ps. 94, 19), daß wir auch andre trösten können mit den Trost, damit wir getröstet werden von Gott (2. Kor. 1, 4).

[182] Daß ihr euch nicht bald bewegen lasset von eurem Sinn, noch erschrecken. Lasset euch niemand verführen in keinerlei Weise; denn der Herr kommt nicht, es sei denn, daß zuvor der Abfall komme und offenbart werde der Mensch der Sünde, das Kind des Verderbens, der da ist der Widersacher und sich überhebt über alles, was Gott und Gottesdienst heißt (2. Thess. 2, 2-4).

[183] Das Schwert des Geistes, welches ist das Wort Gottes (Eph. 6, 17).

Schlussvignette, Kapitel II, 4

[S. 242]

Kopfstück, Kapitel II, 5

Fünftes Kapitel.
Der Aufenthalt im Palast Prachtvoll.

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Sobald die Pilger an den Löwen vorüber waren, sahen sie auch schon vor sich in kleiner Entfernung den Palast Prachtvoll auftauchen. Sie beeilten sich um so mehr, dorthin zu kommen, weil das Reisen bei Nacht in dieser Gegend sehr gefährlich ist. Bei der Pforte angekommen, klopfte der Führer an, und der Pförtner Wachsam rief: „Wer da?“ — „Ich bin’s!“ antwortete der Führer; und alsbald ward seine Stimme erkannt, denn er hatte schon viele Pilger hierher geleitet. Wachsam kam und öffnete das Tor; aber er sah die Frauen nicht, denn sie hatten sich hinter ihren Führer gestellt, und er sprach: „Nun, Mutherz, was führt dich denn so spät in der Nacht hierher?“

„Ich habe,“ erwiderte dieser, „einige Pilgrime hergebracht, und sie sollen auf meines Herrn Befehl hier übernachten. Ich wäre schon früher hier angelangt, wenn nicht der Riese, der die Löwen zu verteidigen pflegte, mir widerstanden hätte. Nach langem heißem Kampf habe ich ihn nun aber erschlagen und die Pilger wohlbehalten hindurchgebracht.“

Wachsam. Willst du nicht eintreten und bis zum Morgen bleiben?

Mutherz. Nein, ich will diese Nacht noch zu meinem Herrn zurückkehren.

Christin. O lieber Herr, ich weiß mich nicht darein zu fügen, wenn wir dich auf unsrer fernern Reise missen sollen. Du hast dich so treu und liebreich gegen uns erwiesen; du hast so wacker für uns gefochten und so manchen guten Rat erteilt, daß ich deine Güte gegen uns nie vergessen werde.

[S. 243]

Barmherzig. O könnten wir doch dein Geleit bis an das Ende unsrer Reise haben! Wie sollen solch schwache Frauen, wie wir sind, auf einem so gefahrvollen Weg ohne Freund und Beschützer durchkommen?

„Ach Herr,“ bat auch Jakob, der jüngste unter den Knaben, „laß dich doch überreden, mit uns zu ziehen und uns zu helfen, denn wir sind so schwach, und der Gefahren sind so viele!“

Mutherz. Ich bin unter meines Herrn Befehl. Auf Sein Geheiß stehe ich euch gern zu Diensten bis ans Ende eurer Wallfahrt. Doch darin habt ihr es versehen, Ihn darum zu bitten, als Er mich bis hierher mit euch gehen hieß, Er würde euer Begehr erfüllt haben. So aber muß ich jetzt von euch Abschied nehmen. Und nun, liebe Christin, Barmherzig und ihr, meine wackern Knaben, lebt alle wohl!

Hierauf fragte der Pförtner Christin nach ihrer Heimat und Freundschaft. Sie sprach: „Ich komme aus der Stadt Verderben. Ich bin eine Witwe, denn mein Mann ist gestorben. Sein Name war Christ, der Pilger.“ — „Wie?“ fragte erstaunt der Pförtner, „war das dein Mann?“ — „Ja,“ erwiderte sie, „und das sind seine Kinder, und diese“ — auf Barmherzig weisend — „ist eine von meinen Landsleuten.“

Der Pförtner zog nun die Glocke, wie er in solchen Fällen zu tun pflegte, und alsbald erschien eine Jungfrau an der Tür, ihr Name war Demut. „Geh,“ sprach er zu ihr, „und sage drin, daß Christin, Christs Frau, und ihre Kinder auf ihrer Pilgerfahrt hier eingetroffen sind.“ Demut brachte diese Kunde ins Haus, und mit großer Freude kamen alle eilend zu dem Tor, wo Christin immer noch stand. Einige der Ältesten des Hauses sprachen zu ihr: „Komm herein, Christin, komm herein, du Frau des lieben Mannes, komm herein, du Gesegnete des Herrn, mit allen, die bei dir sind!“

Sie traten alle ein und wurden in ein großes Zimmer geführt, wo sie sich niedersetzten. Nun kamen auch die übrigen Glieder des Hauses, um die Gäste zu sehen und zu bewillkommnen. Als sie vernahmen, wer sie wären, grüßten sie dieselben mit einem Kuß und sprachen: „Seid willkommen, ihr Gefäße der göttlichen Gnade! Wir, eure Freunde, heißen euch herzlich willkommen!“

[S. 244]

Inzwischen war es nun sehr spät geworden, und die Pilger, müde von ihrer Reise und der ausgestandenen Angst bei dem Kampf mit den schrecklichen Löwen, baten, sich zurückziehen zu dürfen.

Etliche der Hausgenossen aber sprachen: „Zuvor müßt ihr noch etwas Speise zu euch nehmen!“ Denn sie hatten ein Lamm für sie bereitet mit allem, was dazu gehört[184]. Der Pförtner hatte nämlich vorher von ihrem Kommen gehört und es im Haus gemeldet.

Nachdem sie gegessen und Gott für diese Gaben gedankt hatten, beschlossen sie den Abend mit einem Loblied, worauf sie nochmals baten, sich nun zur Ruhe begeben zu dürfen. „Wenn es uns gestattet ist, selbst zu wählen,“ sagte Christin, „so laßt uns in dem Zimmer schlafen, welches mein Mann seinerzeit innehatte.“ Also wurden Christin und Barmherzig hinauf in die Kammer des Friedens gebracht. Vor dem Einschlafen entspann sich unter ihnen noch folgendes Gespräch:

Christin. Wie wenig dachte ich daran, als mein Mann die Pilgerreise antrat, daß ich ihm je nachfolgen würde!

Barmherzig. Und noch weniger, daß du in demselben Bett und Zimmer schlafen würdest.

Christin. Und am allerwenigsten hätte ich gedacht, daß ich noch je sein Angesicht mit Freuden wiedersehen und mit ihm zugleich den Herrn, den König, anbeten würde, wie ich jetzt glaube, daß es geschehen wird.

Barmherzig. Horch, was ist denn das für ein Geräusch?

Christin. Ja, mich dünkt, es sind Töne von Musik, aus Freude darüber, daß wir hier sind.

Barmherzig. Wie wunderbar! Musik im Hause, Musik im Herzen und Musik auch im Himmel vor Freude, daß wir hier sind!

So redeten sie noch eine Weile miteinander, und darob schliefen sie ein. Als sie am Morgen aufwachten, sagte Christin zu Barmherzig: „Was war dir, daß du diese Nacht lachtest; du hast wohl geträumt?“

[S. 245]

Barmherzig. Ja, ich hatte einen lieblichen Traum; aber bist du dessen gewiß, daß ich gelacht habe?

Christin. Ja, du hast herzlich gelacht; aber bitte, Barmherzig, erzähle mir deinen Traum!

Barmherzig. Mir träumte, ich säße ganz allein an einem einsamen Ort und beweinte meines Herzens Härtigkeit. Bald darauf sammelte sich, wie mir schien, eine ganze Menge Menschen um mich her, die meinen Klagetönen zuhorchte. Etliche der Umstehenden verlachten mich, andre nannten mich eine Närrin, wieder andre fingen an, mich hin und her zu zerren. Über dem allem blickte ich auf und sah einen mit Flügeln auf mich zueilen. Er sprach zu mir: „Barmherzig, was fehlt dir?“ Als er nun meine Klage vernommen, sagte er: „Friede sei mit dir!“ Er trocknete auch meine Tränen und kleidete mich in Silber und Gold; er hängte eine Kette um meinen Hals und Ringe an meine Ohren und setzte eine schöne Krone auf mein Haupt (Hes. 16, 10-13). Hierauf nahm er mich bei der Hand und hieß mich ihm folgen. Wir kamen bald zu einer goldenen Pforte, die sich auf sein Anklopfen öffnete. Er trat ein, und ich folgte ihm bis zu einem Thron, auf dem einer saß, der zu mir sagte: „Willkommen, Meine Tochter!“ Der Ort war hell und strahlend wie die Sterne, ja leuchtend wie die Sonne. Mich dünkte auch, ich sähe dort deinen Mann. Da erwachte ich. Habe ich denn aber im Traum gelacht?

Christin. Über dieses dein herrliches Los konnte dein Mund auch wohl voll Lachens sein. Ja, du darfst versichert sein, daß dies kein gewöhnlicher Traum war, und wie du die erste Hälfte wahr befunden, so wird sich auch das übrige noch an dir erfüllen. „Denn auf mancherlei Weise redet Gott, nur achtet man’s nicht. Im Traum, im Nachtgesicht, wenn der Schlaf auf die Leute fällt, wenn sie schlafen auf dem Bett, da öffnet Er das Ohr der Leute“ (Hiob 33, 14-16). Es ist nicht nötig, daß wir wachen, wenn Gott mit uns reden will. Während wir schlafen, kann Er uns nahe treten und uns Seine Stimme hören lassen. Unser Herz wacht zuweilen, wenn wir schlafen, und Gott kann zu ihm reden entweder durch Worte oder durch Sprüche, durch Zeichen oder Bilder ebensogut, als wenn wir in wachem Zustand wären.

Barmherzig. Nun gut, ich bin über meinen Traum[S. 246] froh und hoffe, binnen kurzem ihn erfüllt zu sehen; dann werde ich erst recht lachen.

Christin. Ich denke, es wird hohe Zeit sein, hinunterzugehen, daß wir erfahren, was wir weiter zu tun haben.

Barmherzig. Aber nicht wahr, wenn sie uns einladen, eine Zeitlang hier zu bleiben, so laß uns ihr Anerbieten mit Freuden annehmen, damit wir mit diesen Jungfrauen noch besser bekannt werden. Weisheit, Gottesfurcht und Liebe haben es mir durch ihr liebliches und sittsames Wesen besonders angetan.

Christin. Es wird sich nun zeigen, was sie tun werden.

Also machten sie sich fertig und gingen hinunter, und man fragte sie, wie sie geruht hätten.

Barmherzig sprach: „Sehr gut! es war wirklich eine von den gesegnetsten Nächten meines Lebens.“

„Wenn wir euch zureden dürfen, eine Zeitlang hier zu verziehen,“ sagten Gottesfurcht und Weisheit, „so sollt ihr genießen, was unser Haus bietet.“

„Ja, und das von Herzen!“ fügte Liebe bei.

Sie willigten ein und blieben einen Monat und noch darüber, was allen zu hohem Genuß gereichte.

Weisheit begehrte nun auch zu erfahren, wie Christin ihre Knaben erzogen hätte, und bat sich die Erlaubnis aus, ihnen etliche Fragen vorlegen zu dürfen, was ihr gern gewährt wurde. Da fing sie bei dem jüngsten an und sprach:

„Komm, Jakob, kannst du mir sagen, wer dich erschaffen hat?“

Jakob. Gott der Vater, Gott der Sohn und Gott der Heilige Geist.

Weisheit. Richtig, mein Kind. Und weißt du auch, wer dich selig macht?

Jakob. Gott der Vater, Gott der Sohn und Gott der Heilige Geist.

Weisheit. Auch richtig. Aber wie macht dich Gott der Vater selig?

Jakob. Durch Seine Gnade.

Weisheit. Wie macht dich Gott der Sohn selig?

Jakob. Durch Seine Gerechtigkeit, Sein Leben, Leiden, Sterben und Auferstehen.

Weisheit. Und wie macht dich Gott der Heilige Geist selig?

[S. 247]

Jakob. Durch Seine Erleuchtung, Seine Erneuerung und Seine Bewahrung.

Da sprach Weisheit zu Christin: „Du bist zu loben, daß du deine Kinder so trefflich unterrichtest. Und wenn der jüngste schon diese Fragen so gut beantworten kann, wird es bei den andern wohl auch nicht fehlen. Ich will mich deshalb an den nächstjüngsten wenden.“

Weisheit. Komm, Joseph, willst du dich auch von mir katechisieren lassen?

Joseph. Sehr gern.

Weisheit. Was ist der Mensch?

Joseph. Eine vernünftige Kreatur, von Gott erschaffen, wie mein Bruder gesagt.

Weisheit. Was soll die größte Sorge des Menschen sein?

Joseph. Wie er möge selig werden.

Weisheit. Was hat man bei dem Wort „selig werden“ vorauszusetzen?

Joseph. Daß sich der Mensch durch die Sünde in einen Zustand der Knechtschaft und des Elends gestürzt hat.

Weisheit. Was setzt sein Erlöstwerden durch die heilige Dreieinigkeit voraus?

Joseph. Daß die Sünde ein so mächtiger Tyrann ist, daß niemand uns aus seinen Klauen herausreißen kann als Gott allein, und daß Gott so voll Liebe und Erbarmen gegen den gefallenen Menschen ist, daß Er ihn wirklich aus diesem elenden Zustand errettet.

Weisheit. Was ist Gottes Absicht in der Errettung der Menschen?

Joseph. Die Verherrlichung Seines Namens, Seiner Gnade und Gerechtigkeit usw. und die ewige Seligkeit Seiner Kreaturen.

Weisheit. Welche aber erfahren diese Erlösung?

Joseph. Alle, die Sein Heil annehmen.

Weisheit. Du bist ein lieber Junge, Joseph, du hast wohl achtgehabt auf die heilsamen Belehrungen deiner Mutter.

Hierauf sprach Weisheit zu Samuel, der der zweitälteste war: „Nun, Samuel, darf ich dir auch einige Fragen stellen?“

Samuel. Ja freilich, wenn du willst.

[S. 248]

Weisheit. Was ist der Himmel?

Samuel. Ein Ort und Zustand der höchsten Seligkeit, weil Gott darin wohnt.

Weisheit. Was ist die Hölle?

Samuel. Ein Ort und Zustand der größten Qual, weil es die Behausung der Sünde, des Teufels und des Todes ist.

Weisheit. Warum möchtest du in den Himmel kommen?

Samuel. Um Gott zu schauen und Ihm ohne Unterlaß zu dienen; um bei Christus zu sein und Ihn zu lieben; um die Fülle des Heiligen Geistes in mir zu haben, zu der ich hier nicht in dem Maß gelangen kann.

Weisheit. Auch du bist ein lieber Junge und hast fleißig gelernt.

Sie wandte sich alsdann zu dem ältesten, der Matthäus hieß, und sagte zu ihm: „Komm, Matthäus, willst du dich auch einer Prüfung unterziehen?“

Matthäus. Ja, mit Freuden.

Weisheit. So sage mir denn, ist jemals etwas gewesen, das sein Wesen eher als Gott gehabt hätte und nicht durch Ihn erschaffen worden wäre.

Matthäus. Nein, denn Gott ist ewig, und es gibt nichts außer Ihm, und nichts hatte eher einen Anfang, als bis Gott es schuf. In sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist (2. Mos. 20, 11).

Weisheit. Was hältst du von der Bibel?

Matthäus. Sie ist Gottes heiliges Wort.

Weisheit. Ist darin nichts geschrieben, was du nicht verstehst?

Matthäus. Ja, sehr vieles.

Weisheit. Was machst du denn, wenn du an solche Stellen kommst, die dir noch unaufgeschlossen sind?

Matthäus. Ich denke: Gott ist weiser als ich. Ich bitte Ihn auch, Er möge mir nach Seiner Gnade so viel Erleuchtung schenken, als zu meinem Heil dienlich ist.

Weisheit. Was denkst du über die Auferstehung der Toten?

Matthäus. Alle, die in den Gräbern liegen, werden auferstehen, der natürliche Leib aber wird anziehen die Unverweslichkeit.[S. 249] Das glaube ich, weil Gott es verheißen hat, und was Gott verheißen hat, das kann Er auch tun.

Weisheit sprach hierauf zu den Knaben: „Habt denn fernerhin acht auf alles, was euch eure Mutter noch lehren wird; habt auch allezeit ein offenes Ohr für all das Gute, das euch von andern übermittelt wird, wenn sie um euretwillen erbauliche Gespräche führen. Merkt ebenfalls, und zwar mit Fleiß auf das, was Himmel und Erde euch lehren; aber insbesondere seid unermüdlich in der Betrachtung des Buches, welches euren Vater zur Pilgerreise veranlaßte. Ich für meinen Teil will euch, liebe Kinder, in der Zeit eures Hierseins unterrichten, soviel ich kann, und es soll mir eine Freude sein, wenn ihr mich über solche Dinge befragt, die zu gottseliger Erbauung dienen.“

Die Pilger hatten ungefähr eine Woche an diesem Ort geweilt, da empfing Barmherzig Besuch von einem Herrn namens Tätig, der vorgab, daß er eine Neigung zu ihr habe. Er war ein Mann von einiger Bildung und der auch auf Frömmigkeit Anspruch machte, aber es dabei noch sehr mit der Welt hielt. Er kam von da an öfters zu Barmherzig und trug ihr seine Liebe an.

Nun war Barmherzig allerdings eine liebliche Erscheinung und hatte ein sehr angenehmes Wesen; dabei war sie stets darauf bedacht, ihre Zeit treu auszukaufen, und wenn sie für sich selbst nichts zu arbeiten hatte, machte sie Strümpfe und andre Kleidungsstücke, die sie an Arme und Hilfsbedürftige verschenkte. Da nun Herr Tätig um ihre Liebesarbeit nicht wußte, so schien er davon außerordentlich eingenommen zu sein, daß er sie nie müßig fand. „Ich will darauf wetten,“ sprach er bei sich selbst, „sie wird eine treffliche Hausfrau für mich werden.“

Barmherzig entdeckte darauf diese Sache den Jungfrauen des Hauses und erkundigte sich nach ihm, denn sie kannten ihn besser als sie. Da erhielt sie den Bescheid, er sei ein sehr fleißiger junger Mann, der auch für fromm gelten wolle, aber, wie sie befürchteten, die Kraft eines gottseligen Lebens nicht kenne.

„Nein, wenn es so mit ihm steht,“ sagte Barmherzig „so will ich keinen Blick mehr auf ihn werfen, denn ich kann meiner Seele keinen Hemmschuh anlegen.“

Weisheit erwiderte ihr: „Es bedarf keines besondern[S. 250] Mittels, ihn abzuschrecken, denn wenn du wie bisher in deiner Liebestätigkeit für die Armen fortfährst, so wird dies seine Liebe schnell abkühlen.“

Als Herr Tätig das nächstemal wiederkam, fand er sie bei ihrer gewöhnlichen Arbeit, Kleidungsstücke für Bedürftige zu nähen.

„Wie,“ sagte er, „immer so fleißig?“

„Ja,“ antwortete sie, „entweder für mich oder für andre.“

„Und wieviel kannst du täglich wohl verdienen?“ fragte er.

„Ich tue dies,“ erwiderte sie, „um reich zu werden an guten Werken, Schätze zu sammeln, mir selbst einen guten Grund aufs Zukünftige, daß ich ergreife das wahre Leben“ (1. Tim. 6, 18. 19).

„Wie das,“ fragte er, „was tust du denn damit?“

„Die Nackenden bekleiden,“ antwortete sie.

Auf diese Worte veränderte sich seine Miene, er wandte ihr den Rücken und kam nicht wieder. Und als man ihn nach dem Grund seines Wegbleibens fragte, sagte er, Barmherzig wäre wohl ein hübsches Mädchen, aber sie habe doch sehr überspannte Grundsätze.

Nachdem er sie verlassen hatte, sprach Weisheit: „Sagte ich’s dir nicht, daß Herr Tätig bald von dir ablassen würde? Ja, er wird dir noch einen üblen Namen machen, denn trotz seines vorgeblichen Christentums und seiner scheinbaren Liebe zur Barmherzigkeit, seid ihr von so verschiedener Gesinnung, daß ich glaube, ihr werdet nie miteinander übereinstimmen.“

Barmherzig. Es hat schon mehr als einer um mich geworben, worüber ich jedoch bisher noch mit niemand gesprochen habe; aber keinem wollten meine Grundsätze gefallen, obschon sie an meiner Person nichts zu tadeln fanden. So konnte es zu keiner Verbindung kommen.

Weisheit. Obwohl man heutzutage gern von Werken der Barmherzigkeit spricht, wollen sich doch die wenigsten mit der Ausübung derselben befassen.

Barmherzig. Nun wohl, wenn niemand mich haben will, so will ich als Jungfrau sterben oder meine Grundsätze sollen mir Gattenstelle vertreten; ich kann meine Natur nicht ändern. Und einen Mann zu nehmen, der mir in meinem[S. 251] Tun hinderlich wäre, zu dem kann ich mich nie und nimmer entschließen. Meine Schwester Wohltätig war an einen solchen habsüchtigen Menschen verheiratet; sie konnten sich aber nie miteinander vertragen. Da sie sich aber nicht davon abbringen ließ, die Armen und Elenden zu unterstützen, so brachte ihr Mann sie zuerst öffentlich in übeln Ruf, und schließlich jagte er sie zum Haus hinaus.

Weisheit. Und dabei gab er sich für fromm aus, nicht wahr?

Barmherzig. Ja, fromm auf seine Weise und in der Art, wie die Welt ihrer jetzt voll davon ist. Ich aber passe zu keinem von ihnen allen.

In dieser Zeit wurde Matthäus, Christins ältester Sohn, krank, und seine Krankheit griff ihn heftig an, denn er hatte große Schmerzen in seinen Eingeweiden. Nicht weit von dort wohnte ein alter, wohlbewährter Arzt, Herr Geschickt. Nach diesem schickte Christin. Er kam und trat in das Zimmer, und als er den Knaben eine Weile beobachtet hatte, erkannte er, daß dieser an Leibschmerzen leide[185], und er sprach zu seiner Mutter: „Was hat der Knabe zuletzt genossen?“

Christin antwortete: „Er hat nichts Schädliches genossen.“

Geschickt. Der Knabe hat irgend etwas gegessen, das noch unverdaut im Magen liegt und das von selbst nicht weichen wird. Er muß nun entweder ein Abführungsmittel einnehmen oder daran sterben.

„Mutter,“ rief Samuel, „was war es doch, was mein Bruder am Eingang dieses Weges nahe bei der Pforte abpflückte und aß? Weißt du, dort war ein Obstgarten zur Linken, auf der andern Seite der Mauer; da hingen einige Zweige darüber herunter, von diesen Früchten hat mein Bruder gepflückt und gegessen.“

Christin. Du hast recht, mein Kind, er nahm davon und aß, der unartige Knabe; denn ich verwies es ihm, und er wollte doch nicht davon ablassen.

Geschickt. Ich merkte es wohl, daß er etwas Ungesundes gegessen hat, und jene Früchte sind eben die allerschädlichsten. Es sind Früchte aus Beelzebubs Garten.[S. 252] Mich wundert’s, daß niemand ihn davon abgehalten hat; viele sind schon daran gestorben.

Da fing Christin an zu weinen und rief aus: „O du böser Knabe und o ich sorglose Mutter! Was soll ich nun für meinen Sohn tun?“

Geschickt. Nun, verzage nicht! Es kann mit dem Knaben wieder besser werden; aber er muß abführen und brechen.

Christin. Ich bitte dich, lieber Herr, versuche deine ganze Kunst an ihm, es koste, was es wolle.

Geschickt. Nun, die Kosten sollen dich nicht drücken.

Herr Geschickt gab also dem Knaben ein Abführungsmittel; es war bereitet aus Bocksblut, der Asche einer jungen Kuh und etwas Saft von Isop (Hebr. 9, 13. 19; 10, 1-4). Dieses Mittel erwies sich aber als zu schwach, so bereitete er ihm ein wirksameres[186], nämlich aus dem Leib und Blut Christi (Joh. 6, 54-57). Ein oder zwei Verheißungen[187] mit einer entsprechenden Quantität Salz[188] wurden beigegeben und das Ganze zu Pillen gemacht, und zwar sollte er dreimal täglich davon nehmen, bei strengem Fasten, in einem halben Viertelmaß Bußtränen. (Ihr wißt ja, Ärzte geben ihren Kranken oft seltsame Arzneien.) Als diese Arznei fertig war und dem Knaben gereicht wurde, wollte er sie zuerst nicht nehmen, wiewohl er von schrecklichen Leibschmerzen gepeinigt war, als ob es ihn in Stücke zerreißen wollte.

„Komm, komm,“ sagte der Arzt, „du mußt es jetzt einnehmen!“

„Es ekelt mir davor!“ erwiderte der Junge.

„Es muß sein; ich will, daß du es nimmst,“ sagte die Mutter.

„Ich werde es wieder von mir geben müssen,“ versetzte der Knabe.

„Bitte, lieber Herr,“ sprach Christin zu Herrn Geschickt, „wie schmeckt es denn?“

„Gar nicht übel,“ antwortete der Doktor. Da kostete sie eine der Pillen mit der Spitze ihrer Zunge.

„O Matthäus,“ sagte sie, „die Pillen schmecken gar nicht bitter! Wenn du deine Mutter liebhast, wenn du deine[S. 253] Brüder liebhast, wenn du Barmherzig liebhast, ja wenn du dein Leben liebhast, so nimm sie!“

So nahm er sie denn nach vielem Zureden und einem kurzen Gebet um Gottes Segen, und das Mittel tat seine Wirkung. Es brachte ihn in einen ruhigen Schlaf und gehörigen Schweiß und befreite ihn völlig von seinen Leibschmerzen. Bald stand er wieder auf und ging an einem Stock umher und unterhielt sich mit Weisheit, Gottesfurcht und Liebe von seiner Krankheit und wie er war gesund geworden.

Als nun der Knabe gesund war, sprach Christin zu dem Arzt: „Herr, womit soll ich deine Mühe und die Sorge mich und mein Kind vergelten?“

Er antwortete: „Den Lohn mußt du dem Meister aller Ärzte entrichten nach den Vorschriften, die Er für diesen Fall geboten und verordnet hat[189].“

Christin. Mein Herr, wozu ist dieses Mittel sonst noch gut?

Geschickt. Es ist ein Universalmittel und gut gegen jegliches Übel, das einem Pilger begegnen kann, und wenn es wohl zubereitet ist, so hält es sich auch durch die Länge der Zeit hindurch, ohne zu verderben.

Christin. Bitte, lieber Herr, bereite mir zwölf Schachteln voll von diesen Pillen; denn wenn ich mit dieser Arznei hinreichend versehen bin, brauche ich mich nach keiner andern mehr umzusehen.

Geschickt. Dieses Mittel ist ebenso gut, Krankheiten vorzubeugen wie sie zu heilen. Ja, ich darf’s sagen und stehe dafür ein, daß, wenn jemand öfteren Gebrauch davon macht, er dadurch wird leben ewiglich[190]. Doch, das merke dir, liebe Christin, daß diese Pillen nur in der vorgeschriebenen Weise eingenommen werden dürfen, wenn sie zum Segen ausschlagen sollen.

Also überreichte er Christin für sich, ihre Knaben und Barmherzig von dieser Arznei, ermahnte Matthäus, sich in Zukunft vor schädlichen Früchten zu hüten, nahm alsdann Abschied von ihnen und ging seines Weges.

[S. 254]

Wie schon zuvor erwähnt, hatte Weisheit sich den Knaben angeboten, ihnen auf allerlei nützliche Fragen zu antworten. So fragte nun Matthäus, der eben krank gewesen, warum doch die meisten Arzneien dem Gaumen bitter wären.

Weisheit. Um zu zeigen, wie unwillkommen das Wort Gottes und seine Wirkungen für ein fleischlich gesinntes Herz sind.

Matthäus. Warum pflegt die Arznei, wenn sie wirksam ist, Ausleerung und Erbrechen zu verursachen?

Weisheit. Um zu zeigen, daß, wenn das Wort kräftig wirkt, es Herz und Sinn reinigt, denn siehe, was das eine am Leib tut, das tut das andre an der Seele.

Matthäus. Was sollen wir dabei lernen, wenn wir sehen, daß die Flamme des Feuers immer in die Höhe steigt, während aber die Strahlen der Sonne und ihre angenehme Wärme nach unten wirken?

Weisheit. An dem Aufsteigen der Feuerflammen können wir lernen, wie wir mit inbrünstigem Verlangen nach dem Himmel trachten sollen. Daran aber, daß die Sonne ihre Strahlen und ihre belebende Wärme nach unten sendet, lernen wir, daß der Heiland der Welt, obgleich hoch erhaben, sich dennoch mit Seiner Gnade und Liebe zu uns herabläßt.

Matthäus. Woher haben denn die Wolken ihr Wasser?

Weisheit. Aus dem Meer.

Matthäus. Was können wir hieraus lernen?

Weisheit. Daß die Diener am Wort ihre Lehre von Gott haben sollen.

Matthäus. Warum entladen sich die Wolken auf die Erde?

Weisheit. Um darauf hinzuweisen, daß die Diener am Wort das von Gott Empfangene der Welt mitteilen sollen.

Matthäus. Warum entsteht der Regenbogen durch die Sonne?

Weisheit. Um zu zeigen, daß der göttliche Gnadenbund uns in Christus versiegelt ist.

Matthäus. Warum kommen die Quellen aus den Meeren durch die Erde zu uns?

Weisheit. Um damit anzuzeigen, daß die Gnade Gottes durch den Leib Christi zu uns kommt.

[S. 255]

Matthäus. Warum entspringen manche Quellen auf dem Gipfel hoher Berge?

Weisheit. Um zu zeigen, daß der Geist der Gnade ebensowohl in einigen der Hohen und Mächtigen wie in vielen Armen und Geringen hervorquellen will.

Matthäus. Warum haftet das Feuer an dem Docht des Lichtes?

Weisheit. Zu zeigen, daß, wenn die Gnade nicht das Herz entzündet, kein wahres Licht des Lebens in uns ist.

Matthäus. Warum werden Docht, Talg und alles verzehrt, um das Licht auf dem Leuchter zu unterhalten?

Weisheit. Um damit anzuzeigen, daß Leib und Seele und alles, was wir sind und haben, der in uns wirkenden Gnade Gottes zur Verfügung stehen und wir uns ihr zuliebe ganz verzehren sollen, um sie bei uns kräftig zu erhalten.

Matthäus. Warum reißt sich der Pelikan mit seinem Schnabel die eigene Brust auf?

Weisheit. Damit er seine Jungen mit seinem eigenen Blut ernähre und uns lehre, daß Christus, der Hochgelobte, Seine Küchlein, das ist Sein Volk, also liebt, daß Er es durch Sein Blut vom Tod erlöst.

Matthäus. Was können wir daraus lernen, wenn wir einen Hahn krähen hören?

Weisheit. Es soll uns erinnern an des Petrus Verleugnung und seine Reue. Der Hahnenschrei kündet auch den anbrechenden Tag an; so werde dadurch eingedenk des letzten schrecklichen Tages des Gerichts!

Nachdem die Pilger sich allhier einen Monat aufgehalten hatten, teilten sie ihren Gastgebern mit, daß es nun an der Zeit sei, bald wieder weiterzuziehen.

Da sprach Joseph zu seiner Mutter: „Vergiß nicht, jemand nach dem Hause des Herrn Auslegers zu senden und ihn zu bitten, daß er uns auf unserm übrigen Weg wieder Herrn Mutherz als Geleitsmann mitgebe.“

„Du liebes Kind,“ sagte sie, „das hätte ich beinahe vergessen.“

Also setzte sie eine Bittschrift auf und bat den Pförtner Wachsam, diese durch einen zuverlässigen Boten an ihren treuen Freund, Herrn Ausleger, zu übermitteln. Als dieser die Schrift empfangen und gelesen hatte, sprach er zu dem Boten: „Gehe hin und sage ihnen, daß ich ihn senden wolle.“

[S. 256]

Wie nun die Zeit des Abschieds nahte, versammelten sich alle Glieder des Hauses, um ihrem König Dank zu sagen, daß Er ihnen so werte Gäste zugeschickt; und sie sprachen alsdann zu Christin: „Sollen wir dir, wie wir’s den Pilgern zu tun pflegen, nicht auch etwas zeigen, worüber du dann auf dem Wege nachdenken kannst?“

So führten sie Christin, ihre Knaben und Barmherzig in ein Gemach und zeigten ihnen eine Frucht. Und sie fragten Christin: „Weißt du, was das ist?“ Sie antwortete: „Ich weiß es nicht, entweder ist es Speise oder Gift.“ Nun wurde ihr gesagt, es sei eine von den Früchten, von denen Eva gegessen und wovon sie auch ihrem Mann gegeben, daß er aß, und um deswillen sie beide aus dem Paradies hatten weichen müssen (1. Mos. 3, 6 ff.). Da hob Christin erschreckt die Hände in die Höhe über dem Ernst der Sünde.

Von hier wurden sie an einen andern Ort gebracht, wo sie Jakobs Leiter (1. Mos. 28, 12) sehen durften, und siehe, Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. Alsbald wollten sie weitergehen, um den Pilgern noch etwas andres zu zeigen, da sagte Jakob zu seiner Mutter: „Bitte, sage ihnen, daß sie hier doch ein wenig länger verweilen, denn dies ist gar merkwürdig anzusehen!“ Sie kehrten wieder um und blieben stehen und weideten ihre Augen an dem so lieblichen Bild.

Weiter kamen sie in einen Saal, wo ein goldener Anker hing. „Nimm ihn herunter,“ sprachen sie zu Christin, „ihr sollt ihn mit euch nehmen, denn er ist euch durchaus notwendig, daß ihr ihn haltet als einen festen Anker eurer Seelen, der auch hineingeht in das Inwendige des Vorhangs (Hebr. 6, 19), und damit ihr unbeweglich dasteht, wenn euch Sturm und Ungewitter überfallen[191].“ Mit großer Freude nahmen sie diese Gabe an.

Alsdann führte man sie auf den Berg, auf welchem Abraham, unser Vater, seinen Sohn Isaak darbrachte, und man zeigte ihnen den Altar, das Holz, das Feuer und das Messer, denn sie sind noch zu sehen bis auf diesen Tag (1. Mos. 22). Als sie das gesehen hatten, hoben sie ihre Hände auf und priesen sich selig und sprachen: „O welch ein[S. 257] Mann der Liebe zu seinem Herrn und in der Verleugnung seiner selbst war Abraham!“

Weisheit brachte hierauf die Pilger in den Speisesaal, wo ein vortreffliches Saiteninstrument stand. Darauf spielte sie und sang dazu das Lied von dem, was sie soeben gesehen:

Ihr habet sie gesehen, die lockendschöne Frucht,
Wovon das erste Elternpaar genossen
Und so das Paradies der Menschheit zugeschlossen;
Bedenkt es wohl, wenn Satan euch versucht!
Wie waret ihr entzückt ob Jakobs Himmelsleiter;
Das Herz hinaufgeschickt, — wallt eure Straße weiter!
Der Anker, den wir euch zum Troste mitgegeben,
Er spendet große Kraft in Not und in Gefahr.
Wie Vater Abraham seid willig immerdar
Zum Opfer und zum Dienst, gilt es selbst Gut und Leben.

Inzwischen war nun Mutherz angekommen, er meldete sich am Tor und wurde alsbald eingelassen. Mit großem Jubel empfingen ihn die Frauen und Knaben, denn ihnen allen trat aufs neue wieder vor die Seele, wie er den alten Riesen Blutdurst erschlagen und sie von den Löwen errettet hatte.

Mutherz sprach zu Christin und Barmherzig: „Mein Herr sendet einer jeden von euch zur Stärkung auf dem Weg eine Flasche Wein und etwas Gebackenes nebst ein paar Granatäpfeln, dazu auch für die Knaben einige Feigen und Rosinen.“

In Begleitung von Weisheit und Gottesfurcht brachen sie nun auf. Am Tor fragte Christin den Pförtner, ob unlängst jemand vorbeigekommen sei.

Er antwortete: „Nein, doch habe ich erfahren, daß vor kurzem auf des Königs Heerstraße, die ihr jetzt ziehen werdet, ein großer Raub verübt worden sei. Die Diebe wären aber ergriffen worden und hätten ihr Verbrechen mit dem Leben einzubüßen.“

Da erschraken Christin und Barmherzig, Matthäus aber sagte: „Mutter, fürchte dich nur nicht, solange Herr Mutherz mit uns geht und unser Führer ist!“

„Herr,“ sprach Christin nun zu dem Pförtner, „ich bin dir zu großem Dank verpflichtet für alle deine Liebe und Güte, die du mir und meinen Kindern in dieser ganzen Zeit[S. 258] erwiesen hast. Ich weiß nicht, wie ich dir deine Freundlichkeit vergelten soll. Ich bitte dich, du wollest aber als Zeichen meiner Achtung gegen dich dieses wenige annehmen.“ Damit drückte sie ihm ein Goldstück in die Hand. Er verneigte sich vor ihr und sagte: „Laß deine Kleider immer weiß sein und laß deinem Haupt Salbe nicht mangeln! (Pred. 8, 8) Barmherzig möge leben und nicht sterben und ihrer Werke seien viele!“ (5. Mos. 33, 6.) Und zu den Knaben sprach er: „Fliehet die Lüste der Jugend, jaget nach der Gottseligkeit (2. Tim. 2, 22) und haltet euch zu denen, die weise und ehrbar wandeln! So werdet ihr euer Mutter Herz mit Freude erfüllen und von allen Verständigen gepriesen werden.“

Sie dankten dem Pförtner und reisten ab.

Fußnoten:

[184] Dem Volk Israel wurde beim Auszug aus Ägypten geboten: Ihr sollt ein Lamm ohne Fehl schlachten gegen Abend und sollt also das Fleisch essen in derselben Nacht, am Feuer gebraten, mit ungesäuertem Brot, und sollt es mit bittern Kräutern essen (2. Mos. 12, 5-8). Siehe das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt! (Joh. 1, 29.)

[185] Das sind Gewissensbisse.

[186] Es ist unmöglich, durch Ochsen- und Bocksblut Sünden wegzunehmen (Hebr. 10, 4); das Blut Jesu Christi macht uns rein von aller Sünde (1. Joh. 1, 7).

[187] Ich will dich wieder gesund machen und deine Wunden heilen (Jer. 30, 17).

[188] Es muß ein jeglicher mit Feuer gesalzen werden (Mark. 9, 49).

[189] So lasset uns nun opfern durch Ihn das Lobopfer Gott allezeit, das ist die Frucht der Lippen, die Seinen Namen bekennen (Hebr. 13, 15).

[190] Jesus spricht: Ich bin das lebendige Brot, vom Himmel gekommen. Wer von diesem Brot essen wird, der wird leben in Ewigkeit. Und das Brot, das Ich geben werde, ist Mein Fleisch, welches Ich geben werde für das Leben der Welt (Joh. 6, 51).

[191] Du bist der Geringen Stärke, der Armen Stärke in der Trübsal, eine Zuflucht vor dem Ungewitter, ein Schatten vor der Hitze, wenn die Tyrannen wüten wie ein Ungewitter wider eine Wand (Jes. 25, 4).

Schlussvignette, Kapitel II, 5

[S. 259]

Kopfstück, Kapitel II, 6

Sechstes Kapitel.
Im Tal der Demut und der Todesschatten.

B

Bald hatten sie die Höhe des Berges erreicht, da blieb Gottesfurcht plötzlich sinnend stehen und rief aus: „Ach, ich habe vergessen, was ich Christin und ihrem Gefährten mitgeben wollte; ich will zurückgehen und es holen.“ Also lief sie, um es zu holen. Als sie fort war, dünkte es Christin, als höre sie aus einem Wäldchen, das zur rechten Hand ein wenig abseits lag, eine wunderbare Melodie ertönen; sie lauschte und glaubte folgende Worte zu verstehen:

Mir ist Erbarmung widerfahren, Erbarmung, deren ich nicht wert;
Das zähl’ ich zu dem Wunderbaren, mein stolzes Herz hat’s nie begehrt.
Nun weiß ich das und bin erfreut und rühme die Barmherzigkeit!

Und während sie noch horchte, kam es ihr vor, als ob eine andre Stimme der ersten antwortete:

Dies laß ich kein Geschöpf mir rauben, dies soll mein einzig Rühmen
sein.
Auf dies Erbarmen will ich glauben; auf dieses bet’ ich auch allein;
Auf dieses duld’ ich in der Not; auf dieses hoff’ ich noch im Tod!

Christin fragte Weisheit, von wem denn diese seltsamen Töne kämen.

„Es ist der Gesang der Vögel dieses Landes,“ antwortete sie, „im Frühling, wenn die Blumen hervorkommen und die Sonne warm scheint, kann man sie den ganzen Tag so jubilieren hören (Hohesl. 2, 11. 12). Durch ihre fröhlichen Weisen machen sie die Wälder, Haine und einsamen Plätze zu einem lieblichen Aufenthaltsort, daß es mich oft dorthin[S. 260] zieht, um mich daran zu erbauen. Wir halten aber auch einige zahm in unserm Hause, und sie sind uns in trüben Stunden eine sehr angenehme Gesellschaft.“

Inzwischen war Gottesfurcht wieder angelangt. „Siehe,“ sagte sie zu Christin, „hier bringe ich dir eine Abbildung von all den Dingen, die du in unserm Hause gesehen hast. Dadurch kannst du dich zur Stärkung und zum Trost wieder alles dessen erinnern, wenn dir das eine oder andre aus dem Gedächtnis entschwunden ist.“

Nun galt es den Berg hinabzusteigen in das Tal der Demut. Der Weg fiel hier steil ab und war schlüpfrig; aber sehr behutsam gingen sie vor und kamen glücklich hinunter. Im Tal angekommen, sprach Gottesfurcht zu Christin: „Dies ist der Ort, wo dein Mann auf den bösen Feind Apollyon stieß und wo er den heftigen Kampf mit ihm bestand. Ich weiß, du mußt davon gehört haben. Aber sei nur gutes Mutes! Solange du Herrn Mutherz als Führer und Begleiter bei dir hast, hoffen wir, wirst du besser fortkommen.“

Nachdem Gottesfurcht und Weisheit die Pilger noch der Obhut ihres Führers anbefohlen, wandten sie wieder um.

Also ging Mutherz voran, die Frauen und Kinder folgten ihm nach, und er sprach zu ihnen:

„Wir brauchen uns vor diesem Tal nicht so sehr zu fürchten, denn es kann uns kein Leid geschehen, wofern wir es uns nicht selber durch Unvorsichtigkeit zuziehen. Wohl hatte Christ gegen Apollyon einen harten Stand, doch dies war allein die Folge seiner Fehltritte, die er beim Abstieg des Berges getan hatte. Fehltritte dort bringen nämlich Kämpfe hier, und daher kommt’s auch, daß dies Tal einen so schlechten Ruf hat. Es ist leider so: wenn der gemeine Mann hört, daß an einem bestimmten Ort jemand ein Unfall begegnet ist, so gerät er gleich in den Wahn, daß dort grimmige Feinde und höllische Geister hausen müßten, während es doch die Frucht ihrer eigenen Werke ist, wenn ihnen dergleichen zustößt. Dieses Tal der Demut ist an sich ein ebenso fruchtbarer Ort wie jeder andre, über den die Vögel dahinfliegen; zudem muß hier irgendwo, wie ich meine, eine Inschrift stehen, die uns darüber Auskunft gibt, warum Christ allda so hart bedrängt worden ist.“

[S. 261]

Da rief Jakob seiner Mutter zu: „Sieh, dort steht eine Säule, und mir scheint, als ob etwas daran geschrieben stände. Laßt uns hingehen und sehen, was es ist!“ Sie traten hinzu und lasen: „Mögen Christs Fehltritte, die er tat, ehe er hierherkam, und die Kämpfe, die er an diesem Ort zu bestehen hatte, allen Vorübergehenden zur Warnung dienen!“

Hierauf fuhr Mutherz fort: „Es gereicht dies jedoch Christ nicht zu größerer Unehre als so vielen andern, die mit ihm dasselbe Los und Schicksal gehabt haben; denn es ist leichter, diesen Berg zu ersteigen als wieder hinunterzukommen, wie das bei etlichen Bergen in allen Weltteilen der Fall ist. Aber wir wollen von dem lieben Christ nun absehen; denn er ruht jetzt nach wohl erkämpftem Sieg aus. Laßt uns Gott, der im Himmel wohnt, bitten, daß es uns nicht ärger denn ihm ergehe, wenn die Stunde der Prüfung über uns kommt.

Um wieder auf das Tal der Demut zurückzukommen, es ist das beste und fruchtbarste Stück Land in dieser ganzen Gegend. Der Boden ist fett, wie ihr’s an den Wiesen ersehen könnt. Wenn jemand zur Sommerszeit hierherkommt wie wir jetzt und einen Sinn hat für die Schönheiten in Gottes Natur, so muß ihm dieser Anblick zu hoher Freude gereichen. Seht, wie grün das Tal und wie schön es mit Lilien geschmückt ist! Ich habe auch manche Arbeiter gekannt, die in diesem Tal der Demut zu großem Wohlstand gelangt sind; denn Gott widersteht den Hoffärtigen, aber den Demütigen gibt Er Gnade (1. Petr. 5, 5). In der Tat, es ist ein erstaunlich fruchtbarer Boden und bringt überflüssig ein. Mancher hat daher schon gewünscht, daß dies der nächste Weg zu seines Vaters Haus wäre und es keine weiteren Hügel und Berge mehr zu übersteigen gäbe; aber man ist hier eben noch auf dem Weg und nicht am Ende.“

Während sie noch also miteinander redeten, gewahrten sie einen Knaben, der seines Vaters Schafe hütete. Seine Kleidung war sehr dürftig, er hatte aber ein frisches, munteres Aussehen, und wie er so dasaß, sang er für sich ein Lied.

„Horcht,“ sagte Mutherz, „auf das, was der Hirtenknabe singt!“ Sie horchten, und er sang:

Mich führt durch Licht und Nächte des guten Hirten Hand;
Er lehrt mich Seine Rechte in diesem Pilgerland.
[S. 262]
Bald schenkt Er reiche Gabe, bald hemmt Er meinen Flug;
Doch wenn ich Ihn nur habe, so hab’ ich stets genug!
Heut salbt Er mich mit Öle und decket mir den Tisch,
Erquicket meine Seele und macht den Mut mir frisch.
Und sollt’ ich morgen wenig aus Seiner Hand empfahn,
So bleibt er doch mein König und ich Sein Untertan.
Er schenkt mir Seine Gnade und Seinen Geist zum Pfand,
Sein Licht erhellt die Pfade mir bis zum Heimatland.
Sein Lieben ist unsäglich, drum ist Sein Preis mein Ziel;
Und rühmt’ ich Ihn auch täglich, ich rühmt’ Ihn nie zu viel!

„Hört ihr’s?“ fragte Mutherz. „Ich zweifle nicht daran, daß dieser Knabe glücklicher ist und mehr von dem edlen Kräutlein, das Zufriedenheit heißt, in seinem Busen trägt als mancher, der in Samt und Seide gekleidet ist[192]. Doch wir wollen in unsrer Unterredung fortfahren:

In diesem Tal hatte unser Herr früher ein Landhaus und weilte sehr gern hier. Er liebte es, in diesen Auen zu wandeln, denn Er fand die Luft hier so angenehm. Zudem ist dies Tal der Demut ein sehr stiller Ort, fern von dem Getümmel und Getriebe dieses Lebens, wovon die Welt allenthalben so erfüllt ist. Hier kann man sich seinen ernsten Betrachtungen hingeben, ohne gestört und gehindert zu werden, wie dies anderorts so leicht geschieht. Auch wird dieses Tal nur von solchen betreten, die das Pilgerleben lieben. Und obwohl Christ hier in schwere Bedrängnis geriet, indem er mit Apollyon zusammentraf und sich mit ihm in einen heißen Kampf einlassen mußte, so kann doch auch gesagt werden, daß in frühern Zeiten manche hier Engeln begegnet sind[193], Perlen entdeckt[194] und Worte des Lebens gefunden haben[195]. Wie schon erwähnt, hatte unser Herr einen Landsitz hier und liebte es, sich da aufzuhalten. Ja, und für das Volk, das gern in diesen Gründen wandelt, hat Er ein jährliches Einkommen hinterlassen[196], das ihnen in bestimmten[S. 264] Fristen getreulich ausbezahlt wird, nämlich für ihren Unterhalt auf der Reise und zur Ermunterung auf die fernere Wallfahrt.“

Sie gewahrten einen Knaben, der seines Vaters Schafe hütete (S. 261.).

„Herr,“ sprach Samuel zu Mutherz, indem sie miteinander gingen, „mein Vater hat also in diesem Tal mit Apollyon gekämpft; aber an welcher Stelle mag dieser Kampf stattgefunden haben? denn ich sehe, das Tal zieht sich in die Länge.“

Mutherz. Das war dort drüben, wo ein enger Durchgang ist, gerade neben dem Rasenplatz Vergessenheit. Das ist wohl die gefährlichste Stelle in der ganzen Gegend; denn wenn den Pilgern irgend einmal ein Unfall begegnet, so geschieht es dann, wenn sie der empfangenen Wohltaten Gottes vergessen und nicht mehr gedenken, wie unwürdig sie derselben sind. An diesem Ort sind schon manche in harte Bedrängnis geraten. Doch wir können weiter darüber reden, wenn wir dort angelangt sind; denn es wird ohne Zweifel bis auf den heutigen Tag noch irgendeine Spur von dem Kampf oder ein Erinnerungszeichen daran vorhanden sein.

„Mir ist,“ fiel Barmherzig hier ein, „so wohl in diesem Tal, wie ich es kaum irgendwo auf unsrer ganzen Reise empfand; es stimmt so alles zu meiner Gemütsart. Hier hört man keinen Straßenlärm, kein Peitschengeknall und Wagengerassel. Solch stille Plätze sind so recht dazu angetan, daß man wieder zu sich selber kommen kann und dessen eingedenk wird, wie und was man ist und wozu der König uns berufen hat. Es ist ein Ort für solche, die zerbrochenen Herzens und zerschlagenen Geistes sind, deren Augen überfließen wie die Teiche zu Hesbon (Hohesl. 7, 5). Wohl denen, die rechtschaffen durch dies Tal gehen, die machen daselbst Brunnen, und ihre Brunnen werden gefüllt durch die milden Regengüsse, die Gott selbst vom Himmel sendet über die, welche Ihm hier von Herzen nachwandeln (Ps. 84, 6. 7). Dies ist das Tal, aus welchem der König den Seinen ihre Weinberge geben will (Hos. 2, 17), und daselbst werden sie singen, wie Christ sang trotz seiner Begegnung mit Apollyon.“

Mutherz. Es ist wahr; ich bin des öftern durch dieses Tal gezogen, und es ward mir nirgends wohler als hier. Ich habe auch manche Pilger begleitet, die alle dasselbe bezeugt haben. „Ich sehe an den Elenden,“ spricht der[S. 265] König, „und der zerbrochenes Geistes ist und der sich fürchtet vor Meinem Wort“ (Jes. 66, 2).

Nunmehr kamen sie an den Ort, wo der vorhin erwähnte Kampf vorgefallen war. „Dies ist die Stätte,“ sprach der Führer, „hier stand Christ, da Apollyon auf ihn eindrang. Und seht, sagte ich es nicht? es sind noch Spuren von deines Mannes Blut auf diesen Steinen zu sehen! Seht, wie da und dort noch Splitter von den zerbrochenen Pfeilen Apollyons umherliegen! Seht nur, wie sie den Boden mit ihren Füßen zertreten haben, um sich gegeneinander zu behaupten. Ja, von den Hieben, die fehlgingen, sind selbst die Steine in Stücke zerschlagen worden! Wahrlich, Christ hat sich hier als Mann erwiesen und sich tapfer gezeigt wie ein wahrer Herkules. Als Apollyon geschlagen war, nahm er seinen Weg in das nächste Tal, genannt das Tal der Todesschatten, durch das auch wir nun ziehen werden. Seht, und dort steht ein Denkmal, auf welchem Christs Kampf und Sieg zu seinem Ruhm für kommende Geschlechter eingegraben ist. Da das Denkmal gerade hart am Weg stand, traten sie hinzu und lasen die Schrift, die also lautete:

Hier fand einst statt ein furchtbar mächtig Ringen,
Apollyon den Christen wollt’ bezwingen;
Erbittert war der Streit, es kam zum Handgemenge,
Schon bracht’ Apollyon den Treuen ins Gedränge;
Doch der faßt’ Gottes Schwert, versetzt ihm Streich auf Streich —
Geschlagen fuhr der Feind hinab ins Höllenreich.
Drum dieses Denkmal soll es jedermann bekunden,
Daß Christ im harten Kampf mit Gott weit überwunden.

Als die Pilger an dieser Stelle vorüber waren, kamen sie in das Tal der Todesschatten. Es war dies Tal länger als das erstere und wurde merkwürdigerweise von unheimlichen bösen Wesen sehr beunruhigt, was ihrer viele bezeugen können. Diese Frauen und Kinder konnten sich daher glücklich schätzen, daß sie noch Tageslicht hatten und daß Mutherz als Führer bei ihnen war.

Schon bei ihrem Eintritt in das Tal glaubten sie Jammertöne und lautes Stöhnen zu vernehmen wie von Sterbenden und solchen, die sich in äußerster Qual befanden. Darob zitterten die Knaben, und auch die Frauen entfärbten sich; aber ihr Führer hieß sie gutes Mutes sein.

[S. 266]

Während sie weiterschritten, war es ihnen, als ob der Boden unter ihren Füßen wankte und der Weg hohle Stellen hätte; auch hörten sie ein Zischen wie von Schlangen, ohne daß sie jedoch von dergleichen etwas sehen konnten. Da fragten die Knaben: „Sind wir noch nicht am Ende dieses schrecklichen Tales?“ Der Führer sprach ihnen abermals Mut zu und hieß sie auf ihre Füße zu achten, damit sie nicht in eine Schlinge gerieten.

Um diese Zeit fing Jakob an, unwohl zu werden, wahrscheinlich aus Angst. Da gab ihm seine Mutter ein wenig von dem stärkenden Getränk, das sie in des Auslegers Haus empfangen hatte, dazu drei von den Pillen, welche Doktor Geschickt bereitet hatte. Und der Knabe erholte sich wieder.

Als sie sich ungefähr in der Mitte des Tales befanden, sprach Christin: „Mich dünkt, ich sehe dort etwas vor uns auf dem Weg, eine Gestalt, wie ich noch niemals eine gesehen habe.“ Da rief Joseph: „Mutter, was ist es?“ — „Ein abscheuliches Wesen, mein Kind, ein abscheuliches Wesen,“ antwortete sie. „Aber Mutter, wem sieht es ähnlich?“ fragte er wieder. „Ich weiß nicht, wem es gleichsieht,“ erwiderte sie, „jetzt ist es nicht mehr weit entfernt. Jetzt ist es ganz nahe.“

„Wohlan,“ sprach Mutherz, „wer sich fürchtet, der halte sich ganz nahe zu mir!“ So kam der Feind heran; aber als ihm der Führer entgegentrat, verschwand er vor ihrer aller Augen. Und sie gedachten an das Wort, das ihnen gesagt war: „Widerstehet dem Teufel, so flieht er von euch!“ (Jak. 4, 7) Mit erleichterten Herzen zogen sie weiter.

Nach einer Weile, als Barmherzig sich gerade umwandte, siehe, da kam ein Ungeheuer schrecklich brüllend und in großen Sätzen hinter ihnen hergerannt. Seine Gestalt war wie die eines Löwen, und sein Gebrüll erfüllte das ganze Tal, so daß die Herzen der Frauen und Kinder darob erbebten. Mutherz trat nun vor und machte sich kampfbereit[197]. Das Untier kam in raschem Lauf auf ihn zu; aber als es sah, daß man ihm zu widerstehen entschlossen war, da zog es sich zurück und ließ sich nicht mehr blicken.

[S. 267]

Bald kamen sie an eine Stelle, wo über die ganze Breite des Weges eine Grube aufgeworfen war; doch ehe sie sich anschicken konnten hinüberzugehen, überfiel sie ein dicker Nebel und eine Finsternis, so daß sie nichts vor sich sehen konnten. „Ach,“ riefen die Pilger aus, „was sollen wir nun tun?“

„Fürchtet euch nicht,“ sprach der Führer, „und wartet ruhig ab, bis uns auch aus dieser Not wird geholfen werden!“ Also blieben sie stehen, weil ihr Pfad versperrt war, und es war ihnen, als hörten sie nun um so deutlicher das Geschrei und Toben der Feinde. Auch das Feuer und der Rauch aus dem Abgrund konnten immer besser unterschieden werden.

„Nun sehe ich,“ sagte Christin zu Barmherzig, „wo mein armer Mann hat hindurchgehen müssen, und zwar ganz allein und das bei Nacht. Die höllischen Geister machten sich an ihn heran, als ob sie ihn in Stücke zerreißen wollten. Ich habe früher viel von diesem Tal der Todesschatten gehört; aber man kann es sich nicht recht vorstellen, bis man selber hineingekommen ist. Das Herz kennt sein eigen Leid, und in seine Freude kann sich kein Fremder mengen (Spr. 14, 10). Es ist schrecklich, hier zu sein.“

Mutherz. Hier ist’s, als wenn man mit großen Wassern zu kämpfen hätte und in die Tiefe hinunter müßte; es ist, als ob man auf dem Grund des Meeres säße oder in die Klüfte der Berge versänke, ja als ob die Riegel der Berge sich über uns für immer verschlossen hätten. Aber „die im Finstern wandeln und denen kein Licht scheint, die sollen hoffen auf den Namen des Herrn und sich verlassen auf ihren Gott“ (Jes. 50, 10). Was mich betrifft, so habe ich euch schon gesagt, daß ich des öftern durch dieses Tal gekommen bin und dabei viel Schwereres zu bestehen gehabt habe als jetzt, und doch stehe ich, wie ihr seht, noch vor euch. Es sei jedoch ferne von mir, mich zu rühmen, als allein dessen, der mich aus dem allem erlöst hat, und ich bin der guten Zuversicht, daß auch uns wird herrlich geholfen werden. Kommt, laßt uns den um Licht anrufen, der unsre Finsternis erleuchten kann und nicht nur dieses, sondern alle Teufel der Hölle daniederzuschlagen vermag.

Da schrien sie und beteten, und Gott sandte ihnen Licht und Rettung, so daß sie ungehindert ihren Weg fortsetzen konnten. Doch sie hatten das Ende des Tales noch nicht[S. 268] erreicht und wurden durch den entsetzlichen Gestank und die widerlichen Gerüche, die hier entstanden, sehr belästigt.

„Wahrlich,“ sagte Barmherzig zu Christin, „das ist kein so angenehmer Aufenthaltsort wie an der Pforte oder bei dem Ausleger oder in unsrer letzten Herberge.“

„Gewiß,“ erwiderte einer der Knaben, „aber es ist immerhin noch nicht so schlimm hier durchzugehen, als hier zu bleiben. Und daß wir diesen Weg nehmen müssen, wird dazu dienen, daß uns unsre zukünftige Heimat um so lieblicher erscheinen wird.“

Mutherz. Ganz recht, Samuel, jetzt hast du wie ein Mann geredet.

„Ja, wenn ich von dannen wieder herauskomme,“ fuhr der Knabe fort, „werde ich wohl das Licht und einen guten Weg höher schätzen als je in meinem ganzen Leben.“

Mutherz. Wir haben nun den größten Teil dieses Tales hinter uns.

„Kann man das Ende noch nicht sehen?“ fragte nach einer Weile Joseph.

„Gib lieber acht auf deine Füße,“ antwortete der Führer, „daß du nicht in einen Fallstrick gerätst, deren auf diesem Wege viele gelegt sind.“ Sehr behutsam zogen sie weiter, aber trotzdem machten ihnen diese Schlingen viel zu schaffen.

Ein wenig abseits auf der linken Seite des Weges sahen die Pilger einen Mann in einer Grube liegen, dessen Körper ganz zerfleischt und zerrissen war. „Das ist Unachtsam,“ sagte der Führer, „er liegt schon lange hier. Während er gefangen und erschlagen wurde, gelang es seinem Begleiter, namens Achtsam, zu entfliehen. Schon viele sind in dieser Gegend getötet worden, und gleichwohl sind die Leute so verwegen und leichtsinnig, daß sie sich ohne Führer auf die Pilgerfahrt begeben. Es ist ein Wunder, daß Christ hier durchkam. Aber er war seinem Gott lieb, und er hatte ein mutiges Herz, sonst wär’s ihm nimmer gelungen.“

Sie näherten sich nun dem Ende des Tales. Da, wo Christ seinerzeit eine Höhle gesehen, trat ein Riese namens Hammer hervor. Dieser pflegte die jungen Pilger durch seine trügerischen Reden hinter das Licht zu führen. Er rief mit lauter Stimme: „Herr Mutherz, habe ich dir nicht schon oft verboten, diese Dinge zu treiben?“ — „Was denn für Dinge?“ fragte Mutherz.

[S. 269]

„Das weißt du recht wohl,“ antwortete der Riese, „aber ich will dir nun ein für allemal das Handwerk legen.“

„Aber, bitte,“ sagte Herr Mutherz, „bevor wir miteinander kämpfen, muß ich wissen, wessen du mich beschuldigst!“

Da sprach der Riese: „Du beraubst das Land in Gemeinschaft mit den ärgsten Dieben.“

„Das sind ganz allgemeine Reden,“ erwidert Mutherz, „sprich dich deutlicher aus!“

„Du treibst das schändliche Gewerbe eines Seelenverkäufers,“ sagte der Riese, „und lockst Weiber und Kinder an dich und schleppst sie in ein fremdes Land; damit schädigst du das Reich meines Fürsten.“

Mutherz. Ich bin ein Diener des Allerhöchsten. Mein Amt ist, die Sünder zur Buße zu rufen. Es ist meine heilige Pflicht, Männer, Frauen und Kinder aus der Finsternis zum Licht zu führen und aus der Gewalt Satans zu Gott. Und wenn nun dieses der Grund deines Scheltens ist, wohlan, so will ich es mit dir ausfechten, sobald du willst.

Alsbald kam der Riese mit seiner Keule heran, Mutherz zog sein Schwert und ging ihm entgegen. Der Kampf begann, und der Riese schlug Mutherz mit dem ersten Streich nieder, daß er aufs Knie sank. Da schrien die Frauen und Kinder laut auf. Mutherz erhob sich indessen schnell wieder, griff den Riesen noch einmal tapfer an und verwundete ihn an seinem Arm. So stritten sie miteinander bei einer Stunde mit großer Heftigkeit, daß der Atem aus des Riesen Nasenlöchern hervorbrach wie der Dampf aus einem kochenden Kessel.

Darauf hielten sie einen Augenblick inne, Mutherz aber wandte sich zum Gebet. Auch die Frauen und Kinder taten, solange der Kampf währte, nichts andres als seufzen und schreien. Nachdem sie Atem geschöpft und sich ein wenig erholt hatten, fielen sie wieder aufeinander los, und diesmal streckte Mutherz den Riesen mit einem wuchtigen Schlag zu Boden.

„Halt!“ schrie dieser. „Laß mich doch noch einmal aufkommen!“ Mutherz, ein Ritter, wie er war, ließ ihn nochmals gewähren, und von neuem begann der Kampf. Es fehlte wenig, so hätte ihm jetzt der Riese mit seiner Keule den Schädel zerschmettert. Als Mutherz dies gewahrte, drang[S. 270] er mit der vollen Hitze seines Mutes auf den Gegner ein und traf ihn unter der fünften Rippe. Da fing der Riese an zu wanken und vermochte seine Keule nicht länger zu schwingen. Mutherz schlug ihn vollends nieder und hieb ihm den Kopf ab. Hierüber jauchzten die Frauen und Kinder vor Freuden, und Mutherz pries Gott für den Sieg, den Er ihm gegeben hatte.

Sie richteten nun miteinander eine Säule auf und hefteten des Riesen Haupt daran; darunter aber schrieben sie, so daß es alle Vorübergehenden lesen konnten:

Beschaue dir dies Bild und sprich: Gott sei gepriesen,
Der Seiner Pilgerschar so großes Heil erwiesen!
Der, dem dies Haupt einst war, gar manchen grausam trog,
Verletzte, brachte um, der hier vorüberzog,
Bis Führer Mutherz ihm, ein Pilgerfreund ohn’ Zagen,
Nach tapferm, heißem Strauß den Kopf vom Leib geschlagen.

Fußnoten:

[192] Es ist aber ein großer Gewinn, wer gottselig ist und lässet sich genügen. Denn wir haben nichts in die Welt gebracht; darum offenbar ist, wir werden auch nichts hinausbringen. Wenn wir aber Nahrung und Kleider haben, so lasset uns genügen (1. Tim. 6, 6-8).

[193] Jakob kämpfte mit dem Engel und siegte, denn er weinte und bat ihn; auch hat er ihn ja zu Beth-El gefunden (Hos. 12, 5). Maria sprach zu dem Engel Gabriel: Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast (Luk. 1, 38).

[194] Da der Kaufmann, der gute Perlen suchte, eine köstliche Perle fand, ging er hin und verkaufte alles, was er hatte und kaufte sie (Matth. 13, 45. 46).

[195] Es ist mir lieb, daß Du mich gedemütigt hast, daß ich deine Rechte lerne (Ps. 119, 71).

[196] Jesus spricht: Lernet von Mir, denn Ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen (Matth. 11, 29).

[197] Euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, welchen er verschlinge. Dem widerstehet, fest im Glauben! (1. Petr. 5, 8. 9.)

Schlussvignette, Kapitel II, 6

[S. 271]

Kopfstück, Kapitel II, 7

Siebentes Kapitel.
Redlich, ein treuer Mitpilger.

D

Der Weg führte nun über eine kleine Anhöhe, die zu dem Zweck aufgeworfen war, damit die Pilger hier einige Aussicht hätten. Es war derselbe Hügel, von wo aus einst Christ seinen Freund Getreu erblickte. Allda hielten sie kurze Rast, aßen und tranken von dem, was sie bei sich hatten, und ihre Herzen waren voll Lob und Dank gegen Gott ob all Seiner herrlichen Durchhilfe.

„Herr Mutherz,“ redete Christin den Führer an, „hast du aus dem Kampf mit dem Riesen keine Verletzung davon getragen?“

„Nein,“ antwortete er, „außer einer kleinen Wunde habe ich keinen Schaden erlitten. Sie soll mir als Ehrenzeichen gelten, und ich freue mich, daß ich meiner Liebe zu meinem Herrn Ausdruck verleihen durfte, indem ich mein Leben für euch aufs Spiel setzte. Ich weiß, es wird mir dies auch nicht unbelohnt bleiben.“

Christin. Aber, lieber Herr, ist dir denn gar nicht bange geworden, als du ihn mit seiner Keule herankommen sahst?

Mutherz. Ich habe gelernt, von meiner eigenen Kraft ganz abzusehen und allein auf den meine Zuversicht zu setzen, der stärker ist als alle.

Christin. Aber wie war dir zumute, als er dich mit dem ersten Hieb zu Boden brachte?

Mutherz. Nun, ich dachte, daß meinem Herrn dasselbe widerfahren sei, und daß Er dennoch zuletzt überwunden habe[198].

[S. 272]

Matthäus. Was du auch gedacht haben magst, das eine ist gewiß, daß Gottes Güte sich wunderbar an uns erwiesen hat, indem Er uns aus der Hand unsrer Feinde errettet und uns wohlbehalten aus diesem Tal herausgebracht hat. Nein, angesichts solcher Tatsachen sehe ich wahrlich keinen Grund, warum wir je an Gottes Liebe zweifeln sollten.

Die Pilger brachen nun wieder auf und zogen weiter. Sie kamen bald an einer Eiche vorüber, unter der sie einen alten Pilger in tiefem Schlaf fanden. Daß er ein Pilger war, erkannten sie an seinem Kleid, Gürtel und Stab. Der Führer weckte ihn auf. Der alte Herr fuhr aus seinem Schlaf und rief: „Was gibt’s? Wer seid ihr? Was wollt ihr hier?“

Mutherz. Nur nicht so hitzig, mein Freund! Du hast von uns nichts zu befürchten.

Dennoch sprang der alte Mann auf und blieb auf der Hut, bis er wußte, wer sie wären. Da sprach der Führer: „Mein Name ist Mutherz; ich bin der Führer dieser Pilger, die nach der himmlischen Stadt ziehen.“

„Ach, verzeiht mir,“ sagte Herr Redlich (denn so hieß er), „ich fürchtete, ihr könntet von der Bande sein, die vor einiger Zeit dem Kleinglauben all sein Geld raubte; aber ich sehe, daß ihr ehrliche Leute seid.“

Mutherz. Nun, wenn wir wirklich zu jener Bande gehört hätten, was würde es dir genützt haben, gegen uns anzugehen?

Redlich. Was es mir genützt hätte? Ei, ich hätte gekämpft auf Tod und Leben, und ich bin gewiß, daß ich nicht unterlegen wäre. Denn ein Christ kann nimmermehr überwunden werden, es sei denn, daß er klein beigibt.

Mutherz. Du hast die Wahrheit gesagt, Vater Redlich; daraus erkenne ich, daß du einer von der rechten Art bist.

Redlich. Und ich merke ebenfalls, daß du weißt, was es mit der rechten Pilgerschaft auf sich hat; denn es ist die Meinung weitverbreitet, als ob wir gar leicht über den Haufen zu werfen seien.

Mutherz. Da wir so glücklich sind, einander hier zu treffen, so laß mich doch, bitte, deinen Namen und deine Herkunft wissen!

[S. 273]

Redlich. Meinen Namen, den kann ich dir nicht sagen; aber ich bin aus der Stadt Stumpfsinn gebürtig, die nur etwa vier Stunden hinter der Hauptstadt Verderben liegt.

Mutherz. So, das ist dein Geburtsort? Dann meine ich, so halb und halb erraten zu können, wer du bist. Dein Name ist alte Redlichkeit, ist’s nicht so?

Redlichkeit zwar nicht,“ sagte der alte Herr errötend, „sondern Redlich ist mein Name, und ich wünschte, daß mein Wesen mit diesem mir beigelegten Namen übereinstimmte. Aber, Herr, wie konntest du erraten, daß ich dieser Mann sei, bloß weil ich dir meine Vaterstadt nannte?“

Mutherz. Durch meinen Herrn habe ich schon von dir gehört, denn Er weiß alles, was auf Erden geschieht. Ich hätte es kaum je für möglich gehalten, daß jemand aus diesem Ort sich auf die Pilgerfahrt begeben würde; denn die Stadt Stumpfsinn übertrifft an Gottlosigkeit selbst die Hauptstadt Verderben.

Redlich. Ja, wir liegen noch weiter ab von der Sonne, und sind daher kälter und unempfindlicher. Aber wohnte einer gleich mitten in einem Eisberg, so müßte dennoch sein erstarrtes Herz auftauen, sobald die Sonne der Gerechtigkeit über ihm aufgeht. Und so ist es mir gegangen.

Mutherz. Ich glaub’s, Vater Redlich, ich glaub’s; denn ich weiß, daß dies wahr ist[199].

Der alte Herr wandte sich hierauf zu den Pilgern; er grüßte sie alle aufs herzlichste, fragte sie nach ihrem Namen und wie es ihnen bisher auf ihrer Pilgerreise ergangen sei.

„Ich denke,“ hob Christin an, „meinen Namen hast du schon nennen hören, denn der liebe Christ war mein Mann, und diese vier Knaben sind seine Kinder.“

Über dieser Mitteilung geriet der Alte fast außer sich vor Freude; er lachte und sprang und bewillkommte sie mit tausend Segenswünschen. „Ja,“ sprach er, „von deinem Mann habe ich vieles gehört, von seiner Reise und seinen Kämpfen, die er bei seinen Lebzeiten erduldet. Ich kann dir versichern, der Name deines Mannes hat überall einen guten Klang; sein Glaube, sein Mut, seine Beharrlichkeit und seine Treue haben ihn berühmt gemacht.“

[S. 274]

Nachdem er nun die Namen der Knaben erfahren, sprach er zu ihnen: „Matthäus, werde du Matthäus, dem Zöllner, gleich, nicht in der Sünde, sondern in der Nachfolge! (Matth. 9, 9.) Samuel, sei du gleich dem Propheten Samuel, der ein Mann des Glaubens und des Gebets war! (1. Sam. 7, 8. 9.) Joseph, sei du keusch wie Joseph in des Potiphars Haus und fliehe die Versuchung! (1. Mos. 39.) Und du, Jakob, tritt in die Fußstapfen des Jakobus, des Gerechten, des Bruders unsers Herrn!“ (Gal. 1, 19.)

Auch von Barmherzig wurde ihm erzählt, wie sie ihre Heimat und Freundschaft verlassen hätte, um Christin und ihre Söhne zu begleiten. Und der alte Redlich sprach zu ihr: „Barmherzig ist dein Name; Gutes und Barmherzigkeit werden dir folgen dein Leben lang, und du wirst einst den Herrn, die Quelle der Barmherzigkeit, schauen von Angesicht zu Angesicht.“

Der Führer Mutherz hatte seine herzliche Freude an diesem neuen Reisegefährten, und während sie miteinander gingen, hatten sie folgendes Gespräch:

Mutherz. Vater Redlich, hast du nicht auch einen gewissen Herrn Ängstlich gekannt, der aus deiner Gegend auf die Pilgerschaft gezogen ist?

Redlich. Ja, ich kannte ihn sehr wohl. Er war ein Mann, der das eine besaß, das not tut; aber er war einer der ängstlichsten Pilger, die ich je in meinem Leben getroffen habe.

Mutherz. Ich merke wohl, du kennst ihn, denn du hast ihn ganz richtig geschildert.

Redlich. Wie sollte ich ihn nicht kennen? Ich bin lange Zeit sein Gefährte gewesen, und wir sind ein gutes Stück Weges miteinander gepilgert. Schon in den ersten Anfängen seines neuen Lebens hatte ich Umgang mit ihm.

Mutherz. Und ich war sein Führer von meines Herrn Hause bis an die Tore der himmlischen Stadt.

Redlich. Nun, dann kann dir seine allzu große Ängstlichkeit nicht verborgen geblieben sein.

Mutherz. Ich weiß es. Ich habe ihn dessenungeachtet doch recht liebgewonnen; denn Leuten meines Berufs wird des öftern die Führung solcher Seelen anvertraut.

Redlich. Nun denn, so laß uns doch etwas hören von ihm, wie er auf seiner Pilgerfahrt durchgekommen ist.

[S. 275]

Mutherz. Ach, er war immer in Angst, daß er das Ziel seiner Sehnsucht nicht erreichen möchte. Jede Kunde von bevorstehenden Hindernissen und Gefahren, die an sein Ohr drang, versetzte ihn in nicht geringen Schrecken. Umkehren wollte er dennoch um keinen Preis. „Lieber tot als ungetreu,“ konnte man ihn oft sagen hören, und doch war er mutlos bei jeglicher Schwierigkeit und stolperte über jeden Strohhalm, der auf dem Weg lag. Bei dem Sumpf der Verzagtheit soll er über einen Monat jammernd auf und ab gegangen sein, ehe er es wagte, seinen Fuß hineinzusetzen, obwohl mehrere der vorübergehenden Pilger ihm dazu hilfreiche Hand boten. Dann auf einmal, es war an einem sonnigen Morgen, nahm er einen Anlauf und kam, ich weiß nicht wie, glücklich hinüber. Es war auch ihm selber wie ein Wunder. Ich glaube, er hatte eben solch einen Sumpf der Verzagtheit in seinem Herzen, sonst hätte es anders um ihn stehen müssen. So kam er denn an die Pforte, die am Eingang dieses Weges ist, und auch da währte es eine geraume Zeit, bis er den Mut fand, anzuklopfen. Als sich die Pforte öffnete, trat er zurück und machte andern Platz, die nach ihm angekommen waren, weil er sich unwürdig achtete, einzutreten. Zitternd und zagend stand der arme Mann da — ein Bild des Erbarmens! Zurückgehen wollte er natürlich nicht. Endlich faßte er sich ein Herz, schlug mit dem Klöpfel, der an der Tür hing, ein- oder zweimal sachte an. Alsbald ward ihm geöffnet, aber er bebte zurück wie zuvor. „Du Zitternder, was begehrst du?“ fragte der Torwächter. Ängstlich fiel zur Erde nieder. Jener, da er den armen Mann in so großer Schwachheit fand, sprach: „Friede sei mit dir! Steh auf, die Pforte ist offen; komm herein, du bist ein Gesegneter des Herrn!“ Nur langsam erhob er sich, und zitternd trat er ein, wagte es jedoch lange nicht, seine Augen aufzuheben. Freundlich ward er aufgenommen und bewirtet, und man wies ihm den Weg, den er nun nehmen sollte. So kam er denn an das Haus meines Herrn, des Auslegers. Wie bei der engen Pforte, so machte er es auch hier wieder. Er fürchtete sich anzuklopfen, und doch wollte er nimmermehr umkehren. Trotz der kalten Nächte schlich er eine lange Zeit um das Haus herum und stand in Gefahr, vor Hunger und Kälte zu verderben. Überdies hatte er ein dringendes Empfehlungsschreiben an meinen Herrn in der[S. 276] Tasche, daß er ihn aufnehmen und ihm alle Erquickung und Tröstung des Hauses zukommen lasse und ihm auch einen tüchtigen und beherzten Führer mitgeben möchte, weil er selber nicht mehr Herz habe als ein Küchlein. Ja, so groß war seine Niedergeschlagenheit, daß er, obschon er mehrere andre anklopfen und hineingehen sah, selbst es dennoch nicht zu tun wagte. Endlich gewahrte ich von meinem Fenster aus einen Menschen vor der Tür auf und ab gehen. Ich trat zu ihm hinaus und fragte, wer er wäre. Aber, der arme Mann! Die Tränen standen ihm in den Augen, und so entdeckte ich denn die Ursache seines Kummers. Als mein Herr dies erfuhr, gab er mir den Auftrag, den Mann hereinzuführen; allein ich muß gestehen, daß es mir schwer wurde, ihn dazuzubringen. Indessen gelang es mir doch, und mein Herr nahm sich seiner mit der größten Liebe an. Von all den guten Gerichten, die noch von der Tafel übrig waren, ward ihm auf einem Teller vorgesetzt. Hierauf überreichte er meinem Herrn sein Empfehlungsschreiben. Als dieser es gelesen, ward ihm die Erfüllung seiner Bitte zugesagt. Während seines Aufenthaltes bei uns schien er wieder ein wenig Herz zu fassen und zuversichtlicher zu werden; denn mein Herr, das mußt du wissen, hat ein besonders großes herzliches Erbarmen gegen die Verzagten und tut alles, um ihnen Mut zu machen. Nachdem ihm nun alle Merkwürdigkeiten des Ortes gezeigt worden waren und er sich bereit machte, seine Reise nach der himmlischen Stadt fortzusetzen, gab ihm mein Herr, wie er es einstmals Christ getan, eine Flasche mit stärkendem Getränk und einige Erfrischungen mit auf den Weg. So zogen wir aus, und ich ging vor ihm her; allein der Mann war einer von wenig Worten, nur seufzte er oft laut auf.

Bald erreichten wir den Ort, wo die drei Bösewichter hingen; da sprach er die Befürchtung aus, daß es auch mit ihm ein solches Ende nehmen werde. Nur da schien er froh zu sein, als er das Kreuz und das Grab erblickte. Hier wünschte er ein wenig zu verweilen, um diese Stätte anzuschauen, und darauf erhellte sich sein Angesicht ein wenig. Bei dem Berg der Beschwerde machte es mit ihm gar keine Schwierigkeiten, er fürchtete sich auch nicht vor den Löwen; denn du mußt wissen, daß er sich weniger über dergleichen Dinge ängstigte, sondern seine[S. 277] größte Sorge war die, ob er auch zuletzt werde in Gnaden angenommen.

Im Palast Prachtvoll machte ich ihn mit allen Gliedern des Hauses bekannt; allein er war zu schüchtern, sich in ihre Gesellschaft zu begeben, und suchte lieber die Einsamkeit auf. Nichtsdestoweniger boten ihm erbauliche Gespräche hohen Genuß, und oft stellte er sich hinter einen Vorhang, um unbemerkt zuzuhören. Auch an altertümlichen Sachen hatte er großes Gefallen und sann gern bei sich darüber nach. Späterhin gestand er mir, er wäre an der engen Pforte und im Hause des Auslegers gern ein wenig länger geblieben, doch habe er nicht den Mut gehabt, diese Bitte auszusprechen.

Der Abstieg vom Berg in das Tal der Demut vollzog sich bei ihm mit der größten Leichtigkeit, wie ich es kaum je mit einem andern erlebt habe; denn er fragte nichts danach, wie tief es hinabginge, wenn er nur zuletzt selig würde. Ja, ich glaube, zwischen ihm und diesem Tal bestand eine ganz besondere Übereinstimmung, sah man ihn doch auf der ganzen Pilgerreise nie fröhlicher einhergehen als hier. Er warf sich da nieder, als wollte er den Erdboden umschlingen, und küßte selbst die Blumen, die darauf wachsen[200]. Jeden Morgen stand er schon bei Tagesanbruch auf, um talauf und talab zu wandern.

Am Eingang des Tales der Todesschatten aber, da schien es, als sollte ich um meinen Mann kommen. Nicht daß er irgendwelche Neigung gehabt hätte umzukehren, davor hatte er immer einen Abscheu, sondern eine wahre Todesangst bemächtigte sich seiner. „O die Kobolde, die Kobolde, sie wollen mich ergreifen!“ schrie er einmal über das andre; und es gelang mir nicht, es ihm auszureden. Er erhob ein solches Zetergeschrei, daß zu befürchten war, das ganze höllische Heer könnte sich darob versammeln, um uns zu überfallen. Wunderbarerweise blieb alles ruhig, als wir hindurchzogen, wie nie zuvor oder seitdem es gewesen ist. Ja, unser Herr hielt die Feinde zurück, daß sie sich nicht regen durften, bis Herr Ängstlich hindurch wäre.

Es würde zu weit führen, wollte ich dir alle Einzelheiten[S. 278] der Reise nach erzählen, einen oder zwei Vorfälle nur will ich noch erwähnen. Als wir auf den Eitelkeitsmarkt kamen, meinte ich, er wolle mit allen Leuten auf dem Markt anbinden; ich besorgte, man würde uns beiden die Köpfe zerschlagen, so eifrig trat er gegen ihre Torheiten auf. In dem bezauberten Grund war er sehr wachsam. Als er aber den Fluß erreichte über den keine Brücke führt, da war er wieder in schweren Ängsten. „Jetzt, ach, nun muß ich in die Tiefe versinken,“ jammerte er, „ich werde mich nie an dem Angesicht des Herrn erquicken dürfen, um dessentwillen ich diesen weiten Weg zurückgelegt habe!“

Eben hier erlebte ich wieder etwas Seltsames. Der Wasserstand war gerade zu dieser Zeit so niedrig, wie ich es sonst noch nie angetroffen habe. So kam er denn hinüber, wobei das Wasser ihm nicht viel höher als über die Schuhe ging. Als er nach der Pforte der himmlischen Stadt hinanstieg, nahm ich Abschied von ihm und wünschte ihm eine gute Aufnahme droben. Er sprach: „Amen, amen.“ Noch einmal winkte ich ihm zu, und bald war er meinen Blicken entschwunden.

Redlich. So ist es ihm am Ende doch noch gut ergangen.

Mutherz. Daß es mit ihm noch gut werden würde, daran hegte ich nie einen Zweifel. Er war ein Mann von ungewöhnlich himmlischer Gesinnung; nur war er immer niedergedrückt, und das machte ihm sein Leben so mühsam und andern beschwerlich (Ps. 88). Seine tiefe Abscheu vor der Sünde war wirklich vorbildlich, und er fürchtete sich so sehr davor, jemand Unrecht zu tun, daß er sich oft Erlaubtes versagte, damit er nur niemand Anstoß gäbe[201].

Redlich. Aber was mochte wohl die Ursache davon sein, daß ein so frommer Mann sein ganzes Leben hindurch in solcher Dunkelheit wandeln mußte?

Mutherz. Der Ursachen mögen verschiedene sein. Eine ist, daß es der weise Gott so haben wollte. Die einen müssen pfeifen, die andern klagen (Matth. 11, 16. 17). So war nun Ängstlich einer, der den Baß spielen mußte. Er und seinesgleichen blasen die Baßposaunen, deren Töne tiefer klingen als die andrer Musikinstrumente, wiewohl manche[S. 279] sagen, der Baß sei der Grundton in der Musik. Ich meinerseits kann ebenfalls eine Bekehrung nicht als echt anerkennen, die nicht mit einer Traurigkeit des Herzens beginnt[202]. Die erste Saite, die der Musiker beim Spielen seines Instruments berührt, ist die Baßsaite. So rührt Gott auch diese Saite zuerst, wenn die Seele Ihm wohlgefällig erklingen soll. Es lag aber hier nur an der Unvollkommenheit des Herrn Ängstlich, daß er bis an sein Ende keinen andern Ton als diesen anzuschlagen wußte.

(Ich habe mich dieser bildlichen Sprache bedient, um besonders jugendliche Leser dadurch zum Nachdenken zu veranlassen. Auch im Buch der Offenbarung, Kapitel 14, 2. 3, lesen wir, wie die Erlösten gleich einem Chor von Sängern ihre Loblieder vor dem Thron singen und auf ihren Harfen spielen.)

Rechtschaffen. Wie man aus deinem Bericht entnehmen kann, war Herr Ängstlich dennoch kein Feigling. Schwierigkeiten, Löwen und den Markt der Eitelkeit fürchtete er gar nicht; nur Sünde, Tod, Hölle waren die Dinge, die ihn schreckten, weil er noch einige Zweifel über seine Aufnahme in der himmlischen Stadt hegte.

Mutherz. Du hast recht. Seine Angst rührte von einer Gemütsschwachheit her, keineswegs von Schwäche seines Geistes, wie dies sein frommer Pilgerwandel hinlänglich bewies. Für seinen Herrn wäre er, wie man zu sagen pflegt, durchs Feuer gegangen. Aber was ihn bedrückte, hat noch niemand so leicht abschütteln können.

Christin. Deine Mitteilungen über Herrn Ängstlich haben mir sehr wohl getan. Ich habe bisher gemeint, es ginge niemand so wie mir; nun aber sehe ich, daß der Lebensgang dieses frommen Mannes mit dem meinen manche Ähnlichkeit hat. Darin sind wir allerdings verschieden, daß seine Beängstigungen zum Ausbruch kamen, während ich sie bei mir verschlossen hielt. Er war so niedergeschlagen, daß er es nicht einmal wagte, an den zum Aufenthalt der Pilger eigens bestimmten Häusern anzuklopfen, während die Sorge um mein Seelenheil mich hierin um so kühner machte.

Barmherzig. Wenn ich gleichfalls mitreden darf, so[S. 280] muß ich bekennen, daß dergleichen Beängstigungen sich auch bei mir finden. Der Gedanke an den Feuersee oder an die Möglichkeit, vom Herrn ausgestoßen zu werden, hat mich mehr in Schrecken versetzt als irgend etwas andres. O, dachte ich, wenn ich im Paradies eine Wohnstätte erhalte, so will ich für dieses Glück gern eine ganze Welt darangeben!

Matthäus. Mich hat ebensolche Furcht auf den Gedanken gebracht, daß ich weit entfernt sei von dem, was zu unsrer Seligkeit gehört. Wenn es aber mit diesem frommen Mann so stand, warum sollte es dann nicht auch mit mir gut gehen?

„Wo diese Furcht fehlt, da ist auch keine Gnade[203],“ sagte Jakob. „Obgleich die Furcht vor der Hölle noch keine Gnade in sich schließt, so ist doch das gewiß, daß da keine Gnade ist, wo keine Furcht Gottes ist.“

Mutherz. Du hast das Richtige getroffen, Jakob; denn die Furcht Gottes ist der Weisheit Anfang, und das ist gewiß: Wo kein Anfang ist, da ist auch kein Fortgang und kein Ziel. Doch wir wollen hier unser Gespräch über Herrn Ängstlich abbrechen.

Daß ich Dein auf ewig sei, sei die größte meiner Sorgen,
Daß ich einst verklärt und frei steh’ am Auferstehungsmorgen,
Diese Bitte, dieser Sinn nehme mich, o Jesus, hin!

Ich sah nun, daß sie in ihren Gesprächen fortfuhren, denn Redlich begann von einem andern zu erzählen, der Eigenwillig hieß, und sprach: „Er selbst gab sich für einen Pilger aus; aber ich bin überzeugt, daß er nicht durch die Pforte am Eingang dieses Weges eingegangen ist.“

Mutherz. Hast du jemals darüber mit ihm gesprochen?

Redlich. Ja, etlichemal; aber wie er hieß, so war er auch, nämlich eigenwillig. Er ließ sich auf keine Weise belehren, sondern was ihm sein Herz eingab, das tat er und war sonst zu nichts anderm zu bewegen[204].

Mutherz. Aber was waren denn seine Grundsätze? Sie müssen dir doch wohl bekannt sein.

Redlich. Er hielt dafür, es könne einer ebensowohl in den Sünden andrer Pilger leben als ihren Tugenden nachfolgen; wenn er beides täte, würde er gewiß selig werden.

[S. 281]

Mutherz. Wie? Wenn er gesagt hätte, es könne auch dem Besten begegnen, daß er in eine Sünde falle, so wäre das nicht zu tadeln; denn in der Tat, solange wir in diesem Leibe wallen, sind wir jeder Sünde fähig, wenn wir im Wachen und Beten nachlassen. Aber wenn ich dich recht verstehe, so war seine Meinung, daß die Sünden, die andre Pilger begangen haben, auch ihm erlaubt seien zu tun, wenn er sich ihrer Tugenden befleißige.

Redlich. Ja, du hast es richtig erfaßt, denn so dachte und lebte er auch.

Mutherz. Aber worauf gründete er denn seine Behauptung?

Redlich. Nun, er stützt sich dabei auf die Heilige Schrift.

Mutherz. Wie kann das sein? Bitte, Vater Redlich, laß uns Näheres darüber hören!

Redlich. Das will ich gern tun. Er sagte: „David, der Geliebte Gottes, hat eines andern Weib genommen; deshalb steht mir solches auch zu. Salomo hat mehrere Weiber gehabt; folglich kann ich es auch so halten. Sara und die gottesfürchtigen Wehmütter in Ägypten haben gelogen, durch eine Lüge hat sich auch Rahab am Leben erhalten; darum darf ich das auch tun. Die Jünger haben auf ihres Meisters Geheiß den Esel seinem Besitzer weggenommen, also ist mir solches auch erlaubt. Jakob hat den Segen der Erstgeburt bei seinem Vater durch List und Verstellung an sich gebracht, und deswegen kann ich auch so tun.“

Mutherz. Das sind allerdings starke Gründe. Aber war das wirklich seine Überzeugung?

Redlich. Ich habe diese Beweisführungen oft aus seinem Munde vernommen.

Mutherz. Das ist eine Behauptung, der man auch nicht die allergeringste Berechtigung zuerkennen darf.

Redlich. Du mußt mich recht verstehen. Er behauptete nicht, daß jeder das tun dürfe, sondern nur die, die auch solche Tugenden wie jene hätten.

Mutherz. Wie kann man nur einen solch falschen Schluß ziehen! Das ist geradeso, als wenn man spräche: Weil fromme Menschen aus Schwachheit gesündigt haben, deshalb sei es erlaubt, es aus Vorsatz und Mutwillen zu tun. Oder weil ein Kind durch einen starken Windstoß umgeworfen[S. 282] ward oder über einen Stein stolperte und hinfiel und sich im Kot beschmutzte, so dürfe man nun vorsätzlich sich hinlegen und wie ein Schwein sich im Kot wälzen. In solche Verblendung gerät man eben durch den Betrug der Sünde, und es muß sich erfüllen, was geschrieben steht: „Sie stoßen sich an dem Wort und glauben nicht daran, wozu sie auch gesetzt sind“ (1. Petr. 2, 8). Wenn jener die Tugenden der heiligen Männer zu besitzen glaubt, während er sich ihren Sünden ergibt, so ist dies keine geringere Täuschung als die erstere. Die Sünde des Volkes zu verschlingen[205], wie ein Hund den Kot aufleckt, ist kein Zeichen davon, daß man die Tugenden des Volkes Gottes besitzt. Und ich kann auch nicht glauben, daß einer, der dieser Meinung ist, zur selben Zeit im Glauben und in der Liebe steht. Nun, du wirst ihm gewiß kräftig widerstanden haben; was hat er dir darauf geantwortet?

Redlich. Er sagte: aus Überzeugung so zu handeln, scheine ihm bei weitem ehrlicher, als es zu tun und doch das Gegenteil zu glauben.

Mutherz. Das ist eine recht gottlose Antwort; denn gegen besseres Wissen und Gewissen den Lüsten die Zügel schießen zu lassen, kann doch nur schlecht genannt werden; aber noch ärger ist es, zum Sündigen ein Recht zu beanspruchen. Der eine bringt solche, die es sehen, ohne seinen Willen zu Fall, der andre sucht sie absichtlich zu Fall zu bringen.

Redlich. Es sind ihrer viele, die so denken, es aber nicht offen aussprechen wie er, und daher kommt es, daß das Pilgerleben heutzutage bei den Leuten in so geringer Achtung steht.

Mutherz. Was du sagst, ist leider nur allzu wahr; doch wer in der Furcht Gottes seine Straße zieht, wird dem allem entrinnen.

Christin. Es gibt seltsame Meinungen in der Welt. Ich kenne einen, der sagte, es habe auf dem Sterbebett noch Zeit, Buße zu tun.

Mutherz. Solche Leute sind nichts weniger als weise[206]. Wäre auch jemand, der innerhalb einer Woche einen Weg[S. 283] von zwanzig Meilen zurückzulegen hätte, wohl so töricht, sich erst in der letzten Stunde dazu anzuschicken?

Redlich. Du hast recht, und doch machen’s viele von denen, die sich Pilger nennen, in der Tat so. Ich bin, wie du siehst, ein alter Mann und habe in meinem langen Leben allerlei Beobachtungen gemacht.

Da waren Leute, die beim Antritt ihrer Reise sich gebärdeten, als wenn die ganze Welt ihnen weichen müßte, und siehe da, nach kurzer Frist starben sie dahin wie die Kinder Israel in der Wüste und haben das Gelobte Land mit keinem Fuß betreten. — Andre dagegen, die nichts zu versprechen schienen und von denen man eher hätte denken mögen, daß sie es keinen Tag aushalten würden, haben sich als wackere Pilgrime erwiesen. — Ich habe solche gesehen, die mit sehr raschem Lauf vorwärts eilten, aber nach kurzer Zeit ebenso schnell wieder zurückliefen. — Gar manche, die anfangs bei jeder Gelegenheit das Pilgerleben rühmten, haben späterhin ebenso heftig dawider geredet. — Von andern, die auch der himmlischen Stadt zupilgerten, habe ich zuversichtlich sagen hören: „Es gibt einen solchen Ort!“, aber, bevor sie dort anlangten, sind sie wieder umgekehrt und haben sein Dasein in Abrede gestellt. — Ich habe gehört, wie manche sich rühmten, was sie alles tun würden, wenn sie auf Widerstand stoßen sollten; aber schon beim ersten falschen Gerücht haben sie ihren Glauben, ihre Pilgerschaft und alles darangegeben. —

Während sich die Pilger auf ihrem Weg also erbauten, kam einer ihnen entgegengelaufen und rief: „Ihr Männer, Frauen und Kinder, wenn euch euer Leben lieb ist, so nehmt euch in acht, denn die Räuber sind vor euch!“

Mutherz. Das sind die drei, die damals Kleinglauben überfallen haben. Wohlan, wir sind bereit, ihnen zu begegnen.

Indem sie weiterzogen, hielten sie bei jeder Biegung des Weges Umschau, ob sich die Bösewichter irgendwo zeigten. Aber sei es, daß sie von Mutherz gehört hatten oder daß sie auf eine andre Beute lauerten — sie ließen sich nirgends blicken.

Fußnoten:

[198] Wir, die wir leben, werden immerdar in den Tod gegeben um Jesu willen, auf daß auch das Leben Jesu offenbar werde an unserm sterblichen Fleische (2. Kor. 4,11). In dem allem überwinden wir weit um deswillen, der uns geliebt hat (Röm. 8, 37).

[199] Bei Gott ist kein Ding unmöglich (Luk. 1, 37).

[200] Es ist ein köstlich Ding einem Mann, daß er das Joch in seiner Jugend trage; da ein Verlassener geduldig sei, wenn ihn etwas überfällt, und seinen Mund in den Staub stecke und der Hoffnung warte (Klagel. 3, 27-29).

[201] Es ist besser, du essest kein Fleisch und trinkest keinen Wein und tust nichts, daran sich dein Bruder stößt oder ärgert oder schwach wird (Röm. 14, 21).

[202] Die göttliche Traurigkeit wirkt zur Seligkeit eine Reue, die niemand gereut (2. Kor. 7, 10); selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden (Matth. 5, 4).

[203] Schaffet, daß ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern (Phil. 2, 12).

[204] Es gefällt manchem ein Weg wohl; aber endlich bringt er ihn zum Tode (Spr. 14, 12).

[205] Sie fressen die Sündopfer meines Volks und sind begierig nach ihren Sünden (Hos. 4, 8).

[206] Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden (Ps. 90, 12).

Schlussvignette, Kapitel II, 7

[S. 284]

Kopfstück, Kapitel II, 8

Achtes Kapitel.
In der Herberge des Gajus und auf dem Eitelkeitsmarkt.

C

Christin verlangte nun für sich und ihre Kinder nach einer Herberge, denn sie waren alle sehr müde. Da sagte Redlich: „Dort ein wenig vor uns liegt eine solche, in der ein sehr trefflicher Jünger, namens Gajus, wohnt“ (Röm. 16, 23). So beschlossen sie, dort einzukehren, und das um so lieber, weil der alte Redlich ihm ein so gutes Zeugnis gab.

Bei der Herberge angekommen, traten sie alsbald ein, ohne anzuklopfen, wie man dies ja an der Tür eines Gasthauses nicht zu tun pflegt. Sie fragten nach dem Herrn des Hauses. Dieser kam, und sie erkundigten sich, ob sie die Nacht über hier bleiben könnten.

Gajus. Ja, wenn ihr redliche Leute seid, denn mein Haus ist nur für Pilger: Kommt, ich will euch gleich die Zimmer zeigen.

Es herrschte nun unter ihnen große Freude, als sie vernahmen, daß der Wirt ein Freund der Pilger sei.

Mutherz. Was hast du zum Abendessen, lieber Gajus? Diese Pilger sind heute weit gereist und sehr müde.

Gajus. Es ist schon spät, deshalb können wir nicht mehr nach Speise ausgehen; wenn ihr aber mit dem, das da ist, fürlieb nehmen wollt, so seid ihr willkommen.

Mutherz. Wir sind zufrieden mit dem, was du im Hause hast; denn soweit ich dich erprobt habe, fehlt es bei dir nie am Nötigen.

Hierauf lief der Wirt hinunter in die Küche und gab dem Koch die Anweisung, für soviel Pilger ein Abendessen[S. 285] zu bereiten. Dann kam er wieder herauf und sprach zu seinen Gästen: „Ihr seid mir, liebe Freunde, herzlich willkommen; es ist mir eine Freude, euch in meinem Hause aufzunehmen. Wenn es euch gefällt, so laßt uns, bis das Essen fertig ist, ein nützliches Gespräch miteinander führen.“ Dazu waren sie alle gern bereit.

Gajus. Wessen Gattin ist diese Frau, und wessen Tochter ist diese Jungfrau?

Mutherz. Die Frau ist die Gattin von Christ, einem frühern Pilger, und dies sind ihre vier Kinder. Die Jungfrau ist eine Bekannte von ihr, die sich ihr angeschlossen hat. Die Knaben arten alle ihrem Vater nach und suchen in seine Fußstapfen zu treten, wo sie nur irgendeine Spur von ihm entdecken können. Und wo der alte Pilger ausgeruht hat, da wünschen auch sie eine Weile zu rasten.

Gajus. Das ist also Christs Frau und dies seine Kinder? Ich kannte schon deines Mannes Vater, ja dessen Großvater. Viele fromme und sehr würdige Männer sind diesem Geschlecht entsprossen, ihre Vorfahren wohnten zuerst in Antiochia[207]; ich denke, dein Mann wird dir wohl von ihnen erzählt haben. Ihrer etliche haben sich durch ihren gottgefälligen Wandel und ihr mutiges Bekenntnis, wo es galt, die Sache ihres Herrn und Seines Volkes zu vertreten, besonders hervorgetan. Ich habe von vielen Verwandten deines Mannes gehört, die um der Wahrheit willen unzählige Martern erduldet haben. Stephanus, einer der ersten aus der Familie, aus welcher dein Mann stammt, ward gesteinigt (Apostelg. 7). Jakobus, ein andrer dieses Geschlechts, ward mit dem Schwert enthauptet (Apostelg. 12, 2). Petrus und Paulus stammen ebenfalls von dieser Linie ab; so waren unter den Vorfahren deines Mannes Ignatius, der den wilden Tieren vorgeworfen ward; Romanus, der, nachdem man ihm die Zunge herausgeschnitten, auf dem Marterstock erdrosselt ward; Polykarp, der seine Liebe zum Herrn auf dem Scheiterhaufen besiegelte. Einer ward in einem Korb an die Sonne gehängt, daß ihn die Wespen verzehren sollten; ein andrer in einem Sack ins Meer geworfen, um ertränkt zu werden. Es wäre ganz unmöglich, alle Glieder dieses Geschlechts aufzuzählen, die um ihres[S. 286] Glaubens willen Schmach oder gar den Tod erlitten hatten. Daher kann ich mich nur darüber freuen, daß dein Mann vier solch wackere Knaben hinterlassen hat. Ich hoffe, sie werden den Namen ihres Vaters aufrechterhalten, in seine Fußstapfen treten und wie er bis ans Ende beharren.

Mutherz. Es sind in der Tat hoffnungsvolle Knaben, und sie scheinen ihres Vaters Wege von Herzen zu erwählen.

Gajus. Das ist’s, was ich meine, und deshalb wünsche ich, daß Christs Familie sich ausbreite und vermehre und zahlreich werde auf dem ganzen Erdenrund. Darum möge sich Christin für ihre Söhne beizeiten nach Frauen umsehen, damit dieses edle Geschlecht der Welt erhalten bleibt.

Redlich. Wahrlich, es wäre schade, wenn dieses Geschlecht ausstürbe!

Gajus. Aussterben kann es nicht, wohl aber vermindert werden; darum folge Christin meinem Rat!

An Christin sich wendend, sprach er: „Es freut mich, dich und deine Freundin Barmherzig zusammen hier zu sehen; ihr seid mir ein liebes Schwesternpaar. Und wenn ich raten darf, so nimm Barmherzig in deine nähere Verwandtschaft auf. Will sie es, so laß sie Matthäus, deinem ältesten Sohn, gegeben werden; so erhältst du dir eine Nachkommenschaft auf Erden.“

Also ward diese Heirat beschlossen und späterhin vollzogen.

Gajus fuhr fort: „Ich will nun ein Wort zum Besten der Frauen reden, um ihre Schmach von ihnen zu nehmen. Allerdings sind Tod und Fluch durch eine Frau in die Welt gekommen (1. Mos. 3), aber auch Leben und Heil; denn als die Zeit erfüllt war, da sandte Gott Seinen Sohn, der von einem Weib geboren ward (Gal. 4, 4). Ja, um zu beweisen, wie sehr Evas Töchter die Tat ihrer Mutter verabscheuten, so ist dieses Geschlecht im Alten Bund nach Kindern sehr begierig gewesen in der Hoffnung, daß diese oder jene vielleicht die Gnade erlangte, die Mutter des Heilands der Welt zu werden. Und als der Heiland erschien, wie hoch haben sich da zuerst Frauen vor andern gefreut! (Luk. 1, 42-50.) Ich lese nirgends, daß ein einziger Mann Christus aus seinen Mitteln auch nur durch einen Pfennig unterstützt hätte; aber etliche Frauen, die Ihm nachfolgten, taten Ihm Handreichung[S. 287] von ihrer Habe (Luk. 8, 2. 3). Eine Frau war es, die Seine Füße mit ihren Tränen benetzte (Luk. 7, 37-50). Eine Frau war es auch, die Seinen Leib zu Seinem Begräbnis salbte (Joh. 12, 1-8). Es waren Frauen, die um Ihn trauerten und klagten, als Er nach Golgatha hingeführt ward (Luk. 23, 27); Frauen, die zugegen waren, als Er vom Kreuz abgenommen ward, und die bei dem Grab saßen, darein man Ihn gelegt hatte (Matth. 27, 61). Wiederum waren es Frauen, die an Seinem Auferstehungsmorgen zum Grab gingen (Luk. 24, 1) und die den Jüngern die Nachricht brachten, daß Er von den Toten auferstanden wäre (Luk. 24, 22. 23). Also haben die Frauen große Gnade empfangen, als die auch Miterben sind der Gnade des Lebens“ (1. Petr. 3, 7).

Nun ließ der Koch sagen, das Essen sei gleich bereit, und schickte einen, der den Tisch decken, Teller zutragen, sowie Salz und Brot auflegen sollte.

„Der Anblick des gedeckten Tisches und all die Zurüstungen zum Mahl,“ sagte Matthäus, „machen meinen Hunger noch größer, als er zuvor war.“

Gajus. So mögen auch alle heilsamen und tröstlichen Lehren in diesem Leben in dir ein größeres Verlangen erwecken, am Abendmahl des großen Königs in Seinem Reich teilzuhaben; denn alle Predigten und guten Schriften hienieden sind im Vergleich zu dem Mahl, das unser Herr uns in Seinem Reich bereiten will, nur wie das Decken des Tisches.

Die Speisen wurden nun heraufgebracht und den Pilgern vorgesetzt, zuerst eine Hebeschulter und eine Webebrust (3. Mos. 10, 14. 15), um damit anzudeuten, daß sie das Mahl mit Gebet und Dank gegen Gott beginnen sollten; denn mit der Hebeschulter erhob David sein Herz zu Gott[208], und mit der Webebrust, worin sein Herz lag, pflegte er sich an die Harfe zu lehnen, wenn er darauf spielte[209]. Beide Gerichte waren frisch und wohlschmeckend, und sie aßen alle reichlich davon.

Danach ward eine Flasche Wein aufgetragen, derselbe war so rot wie Blut[210]. „Trinket davon, soviel ihr wollt,“ sagte Gajus, „das ist der Saft des echten Weines, der des Menschen Herz erfreut“ (Ps. 104, 15). Und sie tranken und wurden froh.

[S. 288]

Hierauf kam eine Schüssel mit gut eingebrockter Milch. Gajus aber sprach: „Laßt diese den Knaben, daß sie dadurch zunehmen[211]!“

Weiter ward ein Teller mit Butter und Honig gebracht. „Eßt davon nach Herzenslust,“ sagte Gajus, „denn dadurch werden sich bei euch Erkenntnis und Verstand vermehren. Dies war unsers Herrn Speise in Seiner Kindheit, wie geschrieben steht: Butter und Honig wird Er essen, wann Er weiß, Böses zu verwerfen und Gutes zu erwählen“ (Jes. 7, 15).

Hernach trug man eine Schüssel mit sehr wohlschmeckenden Äpfeln auf. Da fragte Matthäus: „Dürfen wir auch Äpfel essen, da diese Frucht es war, wodurch die Schlange unsre erste Mutter betrogen hat[212]?“

Gajus antwortete:

Es hat ein Apfelbiß der Menschheit Los gewendet,
Verheißne Gottesherrlichkeit in Schmach und Tod geendet,
Der Schlange List den unheilvollen Sieg gewann.
Laß dich nicht Sodomsäpfel sünd’ger Lust betrügen,
Ansonst der Menschenfeind, der Vater aller Lügen,
Dich in des Todes Netz verstricken kann.
Doch wenn nach Gottesliebe deine Seele krank[213],
So fleh den Vater aller guten Gaben,
Mit Himmelsmanna Geist und Seel’ zu laben
Und mit der Gottesrebe edlem Purpurtrank.

Matthäus. Ich hatte deshalb Bedenken, weil ich vor einiger Zeit durch das Essen von Früchten krank geworden war.

Gajus. Verbotene Früchte sind schädlich, nicht aber die, welche uns der Herr beschert.

Während sie noch so redeten, ward ihnen ein Körbchen mit Nüssen vorgesetzt. Da sagten einige über Tisch: „Nüsse verderben die Zähne, besonders die der Kinder.“ Gajus erwiderte:

Tiefe Worte gleichen harten Nüssen;
Willst du ihren süßen Kern genießen,
Brich mit Fleiß die Schalen, Gottes Güte
Schmeckt nach treuer Arbeit dem Gemüte,
Wie sie sich in Seinem teuren Sohne
Offenbart zum sel’gen Gnadenlohne.

[S. 289]

Unter heitern Gesprächen saßen sie sehr lange beisammen. „Mein lieber Wirt,“ sagte der alte Herr Redlich, „während wir deine Nüsse knacken, so löse mir doch bitte dieses Rätsel:

Wer ist der Narr — der dennoch weise tut —
Der stets weggibt und also mehrt sein Gut?“

Alle waren gespannt darauf, was Gajus antworten würde. Dieser saß eine Weile still, und dann sagte er:

Wer Armer Flehen stets mit Freuden gibt Gehör,
Verliert nicht, nein, gewinnt dadurch unendlich mehr.

„Ich muß gestehen, lieber Herr,“ meinte Joseph, „ich habe nicht gedacht, daß du’s lösen könntest.“

„O,“ erwiderte Gajus, „das weiß ich aus einer reichen Erfahrung. Die Erfahrung ist bekanntlich die beste Schule. Von meinem Herrn habe ich gelernt, wohltätig zu sein[214], und gefunden, daß man dabei gewinnt. Einer teilt aus, und hat immer mehr; ein andrer kargt, da er nicht soll, und wird doch ärmer. Mancher ist arm bei großem Gut, und mancher ist reich bei seiner Armut“ (Spr. 11, 24; 13, 7).

„Mutter,“ flüsterte Samuel seiner Mutter ins Ohr, „es ist so schön in dem Haus dieses guten Mannes, laß uns doch etliche Zeit hier bleiben, mein Bruder Matthäus kann sich ja hier mit Barmherzig verheiraten, ehe wir weitergehen.“ Als Gajus vernahm, was Samuel gesagt hatte, sprach er: „Das soll mir eine echte Freude sein, mein Kind.“

Die Pilger beschlossen, sich hier einen Monat aufzuhalten, und Barmherzig ward dem Matthäus zur Frau gegeben. Nach ihrer Gewohnheit widmete sich Barmherzig in dieser Zeit wieder ihrer Liebestätigkeit und nähte fleißig Röcke und Kleider für die Armen, wodurch sie den Pilgrimen einen guten Ruf verschaffte.

Doch wir sind unsrer Geschichte vorausgeeilt. Nach dem Essen wünschten die Knaben und Barmherzig, sich zur Ruhe zu begeben, denn sie waren müde von der Reise. Die übrigen freuten sich so sehr über ihr Zusammensein, daß sie sich nicht voneinander trennen konnten; so blieben sie die ganze Nacht[S. 290] auf und unterhielten sich über ihren Herrn und ihre Reiseerlebnisse. Unter diesen Gesprächen fing der alte Herr Redlich an einzunicken. Da sprach Mutherz: „Wie, alter Freund, du fängst an, schläfrig zu werden? Komm, wisch dir den Schlaf aus den Augen, ich will dir ein Rätsel aufgeben.“ — „Also, laß hören!“ erwiderte Redlich. Mutherz sagte:

Wie kann man sich den Tod erküren
Und doch sein Leben nicht verlieren?

„O weh,“ rief Herr Redlich, „das ist eine schwere Aufgabe! schwer aufzulösen, aber noch schwieriger, in die Tat umzusetzen. Bitte, guter Wirt, übernimm du meine Rolle und löse das Rätsel auf; ich will hören, was du sagst.“

„Nein,“ versetzte Gajus, „es ist dir vorgelegt, und man erwartet von dir die Antwort.“

Da sagte der alte Redlich:

Wer da leben will, der sterbe;
Wer nicht stirbt, der lebet nicht.
Ehe denn das Fleisch verderbe,
Scheinet uns kein Gnadenlicht.

Gajus. Das ist richtig. Die Schrift und die Erfahrung bestätigen das; denn solange der Mensch sein eigenes Ich nicht in den Tod gibt, kann bei ihm das wahre Leben nicht zur vollen Ausgestaltung kommen. Und ebenso gewiß ist, daß ein Mensch kein lebendiges Denkmal der göttlichen Gnade sein kann, solange er noch in Ketten und Banden der Sünde gefangenliegt.

In solcher Unterhaltung saßen sie beieinander, bis der Tag anbrach. Als sich nun alle zur Morgenandacht versammelt hatten, hieß Christin ihren Sohn Jakob ein Kapitel aus der Bibel vorlesen. Und er las das 53. Kapitel des Propheten Jesaja. Nachdem dies geschehen, fragte Redlich, warum es hier heiße, der Heiland werde „aus dürrem Erdreich“ kommen, und daß Er „keine Gestalt noch Schöne“ hatte.

Mutherz. Auf das erste antworte ich: Weil das Volk Israel, aus dem Christus kam, die Kraft und den Geist der Gottseligkeit fast gänzlich verloren hatte. Auf das zweite erwidere ich: Diese Worte sind vom Standpunkt derer gesprochen, die nicht glaubten; denn in ihrer Verblendung beurteilten sie unsern Herrn nach der Niedrigkeit Seiner äußern Erscheinung. Gerade wie diejenigen, welche nicht wissen, daß[S. 291] Edelsteine mit einer unscheinbaren Kruste umgeben sind; wenn sie einen solchen finden, werfen sie ihn wieder weg wie einen gewöhnlichen Stein, weil sie seinen Wert nicht erkennen.

Gajus sprach nun zu seinen Gästen: „Da ihr einmal hier seid und Mutherz ja ein erprobter Kämpfer ist, so laßt uns nach dem Frühstück sehen, ob wir nicht gemeinsam etwas Gutes ausrichten können. Etwa eine Meile von hier haust nämlich ein Riese namens Tugendfeind, der des Königs Straße in dieser Gegend unsicher macht. Ich weiß, wo sein Versteck ist. Er ist Anführer einer großen Räuberbande. Wie herrlich wäre das, wenn wir diesen Unhold unschädlich machen könnten!“

Alle willigten ein, und so zogen sie aus, Mutherz mit seinem Schwert, Helm und Schild, und die übrigen mit Speeren und Stangen bewaffnet. Als sie sich dem Aufenthaltsort des Riesen näherten, war dieser gerade daran, einen gewissen Kleinmütig, den seine Helfer zu ihm geschleppt hatten, auszuplündern, um ihn nachher zu verzehren; denn er war von Natur ein Menschenfresser. Sobald er nun Mutherz und seine Begleiter bewaffnet am Eingang der Höhle gewahrte, fragte er sie nach ihrem Begehr.

Mutherz. Dich wollen wir haben; denn wir sind gekommen, das Blut all der Pilger zu rächen, die du von des Königs Heerstraße weggeführt und erschlagen hast; darum komm heraus aus deiner Höhle!

Der Riese rüstete sich zum Kampf und trat hervor und focht mit Mutherz bei einer Stunde lang, bis ihnen der Atem ausging.

„Was habt ihr denn eigentlich auf meinem Grund und Boden zu tun?“ fragte Tugendfeind, als sie ein wenig innehielten.

Mutherz. Wie du ja schon weißt, sind wir gekommen, den Tod unsrer Brüder zu rächen.

Der Kampf begann aufs neue, und der Riese brachte Mutherz zum Weichen; aber er drang wieder vor und schwang sein Schwert so geschickt um des Riesen Kopf und Seite, daß diesem die Waffe aus der Hand fuhr. Schnell schlug er ihn zu Boden und hieb ihm das Haupt ab. Nach vollbrachter Tat kehrten sie mit dem Pilger Kleinmütig in die Herberge zurück. Auch das Haupt des Riesen nahmen sie mit und steckten es, wie sie es schon mit andern getan,[S. 292] auf einen Pfahl zum Schrecken für die, welche gleiche Gewalttaten versuchen wollten.

Kleinmütig mußte nun erzählen, wie er in Tugendfeinds Hände geraten sei, und er sprach: „Ich bin ein kränklicher Mann, wie ihr seht, und weil der Tod täglich an meine Tür klopfte, so dachte ich, es würde daheim mit mir doch nimmer besser werden. Deshalb wandte ich meiner Vaterstadt Ungewiß den Rücken und begab mich auf die Pilgerreise. Ich bin zwar nach Leib und Geist äußerst schwach, aber ich wollte doch gern, wiewohl ich nur kriechen kann, mein Leben als Pilgrim zubringen. An der Pforte zu Anfang dieses Weges nahm mich der Hausherr liebreich auf und machte mir keine Schwierigkeit weder wegen meines schwächlichen Aussehens noch wegen meines schwachen Gemütes, sondern er versah mich für die Reise mit allem Nötigen und hieß mich auf das Ende hoffen. Auch im Hause des Auslegers erfuhr ich große Freundlichkeit, und weil man den Berg der Beschwerde für mich als zu steil erachtete, so ward ich von einem Diener hinaufgetragen[215]. Wahrlich, ich habe viel Beistand und tröstliches Zureden von Pilgern erfahren, obwohl keiner so langsam gehen wollte, wie ich zu gehen genötigt war. In der Räubergasse nun trat mir dieser Riese entgegen und forderte mich Armen, Schwachen, der ich vielmehr einer Herzensstärkung bedurft hätte, zum Kampf auf. Er kam und schleppte mich in seine Höhle. Ich aber hoffte immer noch, aus seinen Händen zu entkommen; denn ich hatte gehört, daß nach den Gesetzen der Vorsehung kein Pilger, der gewaltsamerweise gefangengenommen wird, wofern sein Herz seinem Herrn völlig ergeben bleibt, durch die Hand seiner Feinde sterben darf. Geplündert zu werden erschien mir nicht als das Schlimmste, und wie ihr seht, bin ich ja mit dem Leben davongekommen, wofür ich dem Herrn, als meinem Erretter, und euch, als Seinen Werkzeugen, danke. Noch bin ich nicht aller Gefahr entronnen, neue Angriffe habe ich zu gewärtigen; aber ich bin entschlossen zu laufen, wenn ich kann; zu gehen, wenn ich nicht laufen kann, und zu kriechen, wenn die Beine mich nicht mehr tragen. Wiewohl ich, wie ihr seht, von gar schwachem Mute bin, so ist doch[S. 293] mein Angesicht fest auf das Ziel gerichtet, mein Herz weilt schon jenseits des Stroms, der keine Brücke hat. Dafür sei Ihm Preis, der mich geliebt hat!“

Der alte Redlich wandte sich nun mit der Frage an ihn: „Hast du nicht vor einiger Zeit die Bekanntschaft eines Pilgers, des Herrn Ängstlich, gemacht?“

Kleinmütig. Ei freilich habe ich ihn gekannt, er kam aus der Stadt Stumpfsinn, die vier Meilen nördlich von der Hauptstadt Verderben und ebenso weit von meinem Geburtsort entfernt liegt. Er war mein Oheim, meines Vaters Bruder. Er und ich waren so ziemlich gleicher Gemütsart; er war ein wenig kleiner als ich, sonst sahen wir uns im allgemeinen sehr ähnlich.

Redlich. Ja, es stimmt, was du sagst; denn du hast sein blasses Aussehen, den Blick seiner Augen, und deine Sprache klingt wie seine.

Kleinmütig. Das haben aus unserm Bekanntenkreis viele gesagt, und was ich in seinem Innern gelesen, das habe ich auch zum großen Teil in mir selbst empfunden.

„Komm Freund, sei guten Mutes!“ sagte der freundliche Wirt. „Du bist mir und meinem Haus willkommen! Was du wünschest, fordere nur getrost, meine Diener werden dir mit Freuden zur Hand gehen.“

Da sprach Kleinmütig: „Das ist eine unerwartete Gunst und wie ein Sonnenstrahl aus finsterm Gewölk. Das hat der Riese Tugendfeind wohl nicht gedacht, daß seine böse Tat zu meinem Glücke ausfallen würde.“

Kaum hatte Kleinmütig ausgeredet, da kam einer gelaufen und erzählte, daß ungefähr anderthalb Meilen von dort ein gewisser Unlauter, ein Pilger, auf der Stelle, wo er sich gerade befand, vom Blitz erschlagen worden sei[216].

„Ach,“ rief Kleinmütig aus, „ist er erschlagen? Er holte mich vor einigen Tagen ein und bot mir seine Gesellschaft an. Er war auch bei mir, als der Riese Tugendfeind mich angriff; aber er war leichtfüßig und entrann. Allein es scheint, er entkam zum Tode, und ich ward ergriffen zum Leben.“

So führst Du doch recht selig, Herr, die Deinen,
Ja selig und doch meist verwunderlich!
Wie könntest Du es böse mit uns meinen,
Da Deine Treu’ nicht kann verleugnen sich?
[S. 294]
Die Wege sind oft krumm und doch gerad,
Darauf Du läßt die Kinder zu Dir gehn;
Da pflegt’s oft wunderseltsam auszusehn;
Doch triumphiert zuletzt Dein hoher Rat.

Um diese Zeit wurden Matthäus und Barmherzig verheiratet; auch gab Gajus dem Jakob, Matthäus’ Bruder, seine Tochter Phöbe zur Frau. Sie blieben hierauf noch etwa zehn Tage in diesem gastlichen Haus, indem sie ihre Zeit nach Pilgerweise treu auskauften.

Als nun die Stunde des Abschieds nahte, machte ihnen Gajus ein Mahl, und sie aßen und tranken und waren fröhlich. Danach trat Mutherz zu dem Wirt und forderte die Rechnung. Aber Gajus erwiderte, daß alle Pilger in seinem Hause jahraus, jahrein unentgeltliche Aufnahme fänden; eine Vergütung dafür erhalte er von dem barmherzigen Samariter, der ihm versprochen hätte, bei Seiner Rückkehr alle Auslagen treulich zu bezahlen (Luk. 10, 35).

Da sprach Mutherz zu ihm: „Mein Lieber, du tust treulich, was du tust an den Brüdern und Gästen, die von deiner Liebe gezeugt haben vor der Gemeinde; und du wirst wohl tun, wenn du sie abfertigst würdig vor Gott“ (3. Joh. 5. 6). Darauf nahm Gajus Abschied von ihnen allen und von seiner Tochter und insbesondere noch von Kleinmütig. Er gab ihm auch ein Fläschchen mit einem stärkenden Getränk mit auf den Weg. Als sie nun zur Tür hinaustraten, stellte sich Kleinmütig, als wollte er zurückbleiben. Dies wahrnehmend, rief Mutherz ihm ermunternd zu: „Komm, lieber Freund, geh doch mit uns; ich will dein Führer sein, und es soll dir ebensowenig an etwas gebrechen wie den andern.“

Kleinmütig. Ach, ich muß einen Begleiter haben, der zu mir paßt. Ihr seid alle rüstig und stark, ich aber muß sehr behutsam vorgehen. Daher möchte ich lieber hinten nachkommen, damit ich nicht wegen meiner vielen Gebrechlichkeiten mir und euch zur Last werde. Ich bin, wie schon gesagt, ein Mann von schwachem Geist und werde leicht irre und nehme Anstoß an dem, was andre ertragen können. Ich kann kein Lachen hören. Ich habe kein Gefallen an Schmuckgegenständen. Unersprießliche Fragen kann ich nicht leiden. Ja, ich bin so schwach, daß ich mich selbst an dem stoße, was andre Freiheit haben zu tun. Ich habe noch keine völlige Erkenntnis der Wahrheit, ich bin ein sehr unwissender Christ.[S. 295] Oftmals, wenn ich vernehme, wie sich andre freuen in dem Herrn, werde ich dadurch sehr niedergeschlagen, weil ich es nicht also kann. Es geht mir wie einem Schwachen unter den Starken, wie einem Kranken unter den Gesunden und wie einem verachteten Lichtlein (Hiob 12, 4. 5); denn so ist der, dessen Füße gleiten wollen, in den Augen dessen, der sicher steht, so daß ich nicht weiß, was ich anfangen soll.

Mutherz. Aber, lieber Bruder, es ist meine Pflicht, die Kleinmütigen zu trösten und die Schwachen zu tragen (1. Thess. 5, 14). Du mußt durchaus mit uns gehen[217], wir wollen auf dich warten, wir wollen dir hilfreich die Hand bieten[218]; wir wollen uns alles dessen entschlagen, sei es in Worten oder Werken, was dir Ärgernis geben könnte[219]; wir wollen uns in deiner Gegenwart auf keine strittigen Fragen und Erörterungen einlassen, wir wollen uns dir lieber soviel als möglich anpassen, als daß wir dich zurücklassen sollten[220].

Mutherz und Kleinmütig standen immer noch in eifrigem Gespräch vor dem Gasthaus, da kam geradeswegs Herr Hinkfuß vorbei, mit seinen Krücken in der Hand, der gleichfalls die Pilgerschaft angetreten hatte.

Kleinmütig rief ihm entgegen: „Guten Tag, Freund, wie kommst du hierher? Ich beklagte es eben, keinen passenden Gefährten zu haben; du aber bist so ganz nach meinem Wunsch. Sei mir also willkommen, lieber Herr Hinkfuß; ich hoffe, du und ich werden einander schon behilflich sein.“

Hinkfuß. Wie freut es mich, guter Herr Kleinmütig, mit dir hier zusammenzutreffen! Deine Gesellschaft soll mir angenehm sein, und lieber will ich dir eine meiner Krücken leihen, als dich wieder von mir zu lassen.

Kleinmütig. Danke sehr, du meinst es gut; aber ich gedenke doch nicht zu hinken, ehe ich lahm bin. Indes, wenn es not tut, kann sie mir als Waffe gegen die Hunde dienen.

Hinkfuß. Meine Krücken und ich stehen dir jederzeit zu Diensten, mein lieber Kleinmütig.

So machten sie sich denn auf den Weg; Mutherz und[S. 296] Redlich gingen voran, Christin und ihre Kinder folgten nach und Kleinmütig und Hinkfuß hinterdrein.

„Lieber Herr Mutherz,“ hob jetzt der alte Redlich an, „bitte, erzähle uns, während wir gehen, etwas Erbauliches von frühern Pilgern!“

Mutherz. Das will ich gerne tun. Von Christ, wie er mit Apollyon im Tal der Demut kämpfte und von seinem gefahrvollen Weg durch das Tal der Todesschatten habt ihr wohl schon gehört. Auch von dem Pilger Getreu hat man euch gewiß berichtet, was für Anfechtungen er zu bestehen hatte durch die Dame Wollust, den Alten Menschen, Unzufrieden und Scham, vier so gefährliche Bösewichter, wie man sie sich kaum ärger denken kann.

Redlich. Ja, ich meine von ihnen gehört zu haben. Aber den schwersten Stand hatte der gute Getreu dem Scham gegenüber, das war doch ein ganz unverschämter Geselle.

Mutherz. Ja, wie die Pilgrime auch mit Recht von ihm sagten: er hat von allen den unrichtigsten Namen.

Redlich. Aber bitte, lieber Herr, wo war das auch, daß Christ und Getreu mit Schwätzer zusammentrafen? Das war doch auch ein ganz durchtriebener Mensch.

Mutherz. Ein selbstzufriedener Tor, und dennoch hat er viele Nachfolger.

Redlich. Beinahe hätte er sogar Getreu hinters Licht geführt.

Mutherz. Ja, aber Christ hat ihn darauf gebracht, seine Tücke zu durchschauen.

Ich sah nun in meinem Traum, daß der Führer der Pilger an einer gewissen Stelle stehenblieb, und er sprach: „Hier in dieser Gegend war es, wo der Evangelist zu Christ und Getreu trat und ihnen zuvor sagte, was für Drangsale ihrer auf dem Eitelkeitsmarkt warteten.“

Redlich. Das war aber keine ermutigende Botschaft, die er ihnen überbrachte.

Mutherz. Allerdings; er hat es jedoch nicht unterlassen, sie zugleich für die bevorstehende schwere Prüfung zu stärken. Und wir dürfen nicht vergessen: sie waren Leute wie Löwen so mutig, ihre Angesichter waren wie Kieselsteine. Wie unerschrocken standen sie vor dem Richter!

Redlich. Ja, und wie tapfer hat Getreu beharrt bis ans Ende!

[S. 297]

Mutherz. Das hat er getan, und eine herrliche Frucht ist daraus erwachsen, nämlich Hoffnungsvoll und einige andre wurden, wie die Geschichte erzählt, durch seinen Tod bekehrt.

Redlich. Du bist von allem wohl unterrichtet; bitte, fahre fort zu erzählen!

Mutherz. Unter allen, mit denen Christ in Fühlung kam, nachdem er den Eitelkeitsmarkt im Rücken hatte, war doch Nebenwege der abgefeimteste.

Redlich. Nebenwege? Wer war das?

Mutherz. Ein Kind der Bosheit, ein Heuchler durch und durch; einer, der den Frommen spielte, aber sich immer so zu stellen wußte, je nachdem er gerade unter Menschen war, daß er sicher sein konnte, niemals etwas um deswillen zu verlieren oder zu leiden. Er hatte seine besondere Religion, die für jede Gelegenheit paßte. Und seine Frau stand ihm hierin in nichts nach. Im Handumdrehen ging er von einer Meinung zur andern über; ja, er rechtfertigte das auch, daß man das tun könnte. Soviel ich aber habe erfahren können, so hat es mit seinen Nebenwegen doch ein schlechtes Ende genommen. Ich habe auch niemals gehört, daß eines seiner Kinder bei den wahrhaft Gottesfürchtigen die geringste Achtung genossen hätte.

Mittlerweile waren sie nun der Stadt Eitelkeit so nahe gekommen, daß sie diese gerade vor sich liegen sahen. Die Pilger beratschlagten unter sich, wie sie am besten durch den Jahrmarkt, der hier abgehalten wird, hindurchkommen könnten. Der eine sagte dies, der andre jenes. „Diese Sorge könnt ihr euch sparen,“ fiel ihnen Mutherz in die Rede, „denn ihr wißt, daß ich schon manchen Pilger durch die Stadt geleitet habe. Zudem kenne ich einen alten Jünger mit Namen Mnason aus Zypern, in dessen Hause wir herbergen können (Apostelg. 21, 16); wenn es euch gefällt, wollen wir dort einkehren.“ Alle waren mit diesem Vorschlag einverstanden, und da die Sonne gerade unterging, beeilten sie sich, um noch vor Nacht dort einzutreffen. Bald hatten sie das Haus gefunden, und Mutherz rief an der Tür. Der alte Mann erkannte sogleich die Stimme des Führers, er kam und öffnete, und sie gingen alle hinein.

„Wie weit seid ihr heute gereist?“ fragte freundlich der Wirt.

„Vom Hause des Gajus, unsers Freundes, bis hierher,“ antworteten sie.

[S. 298]

„Nun, dann seid ihr aber eine gute Strecke gegangen,“ erwiderte Herr Mnason, „nehmt euch Platz, denn ihr werdet wohl sehr müde sein.“ Da setzten sie sich nieder, und ihr Führer sagte: „Wie gut ist’s, daß wir diese Herberge noch erreicht haben, meine Lieben, und ich bin überzeugt, daß ihr meinem Freund willkommen seid.“

Mnason. Ja, ich heiße euch alle willkommen! Und solange ihr in meinem Hause weilt, soll es euch an nichts mangeln.

Redlich. Was ein Pilger zu gewissen Zeiten am meisten entbehrt, das ist eine Herberge und gute Gesellschaft, und nun, denke ich, haben wir beides gefunden.

Mnason. Was die Herberge betrifft, so seht ihr, wie sie ist; was aber die gute Gesellschaft anlangt, so wird’s die Probe zeigen.

Mutherz. Herr Mnason, willst du den Pilgern nun ihre Zimmer zeigen?

Dazu war der Wirt gern bereit, und er wies jedem sein Gemach an. Er führte sie auch in einen sehr schönen Speisesaal, wo sich die Pilger aufhalten konnten, bis sie zur Ruhe gingen.

„Herr Mnason, gibt es in dieser Stadt nicht auch etliche gleichgesinnte Leute, mit denen wir Gemeinschaft haben können?“ fragte der alte Redlich, nachdem sie sich hier niedergelassen hatten.

Mnason. Es hat deren einige hier, doch ist ihre Zahl verhältnismäßig klein.

Redlich. Wäre es nicht möglich, mit ihnen Fühlung zu bekommen? Der Anblick Gleichgesinnter schon allein hat etwas Erhebendes und Belebendes; ein solches Zusammentreffen auf der Pilgerschaft ist eben das, was der Aufgang von Mond und Sternen den Seefahrern ist.

Der Wirt rief nun seine Tochter Gnade herbei und sprach zu ihr: „Gnade, geh doch schnell zu meinen Freunden Herrn Bußfertig, Herrn Heilig, Herrn Frommhold, Herrn Lügenscheu und Herrn Reumütig und sage ihnen, daß ich lieben Besuch erhalten habe, der sie diesen Abend noch zu sehen wünsche.“

Gnade ging hin, sie einzuladen. Sie kamen und traten in den Saal, wo die Pilger waren. Nach der gegenseitigen Begrüßung setzten sie sich allesamt um den Tisch herum. Der Hauswirt redete sie also an: „Liebe Nachbarn, es sind, wie ihr seht, einige Gäste bei mir eingekehrt, die Pilger sind.[S. 299] Sie kommen von weit her und ziehen nach dem Berg Zion.“ Und mit dem Finger auf Christin weisend, fuhr er fort: „Könnt ihr euch wohl denken, wer diese ist? Es ist Christin, die Frau des bekannten Pilgers Christ, der mit seinem Freund Getreu in unsrer Stadt so schmählich behandelt worden ist.“

„Welch eine Überraschung!“ riefen die Männer aus. „Das dachten wir wahrlich nicht, daß wir Christin hier antreffen sollten.“ Sie erkundigten sich nun nach ihrem Ergehen, und als sie erfuhren, daß diese jungen Leute Christs Söhne seien, sprachen sie: „Der König, den ihr liebt und dem ihr dient, mache euch eurem Vater gleich und bringe auch euch an den Ort des Friedens!“

Der alte Redlich fragte nun Herrn Bußfertig, wie es zurzeit in der Stadt gehe.

Bußfertig. Wie man es ja nicht anders erwarten kann, haben wir eben in diesen Markttagen viel Unruhe. Es ist schwer, unter solchen Umständen Herz und Sinn zu bewahren. In solcher Umgebung, wie wir sie haben, gilt es, Stunde um Stunde seine Seele in den Händen zu tragen.

Redlich. Aber verhalten sich eure Nachbarn jetzt ruhig?

Bußfertig. Wohl ist es Christ und Getreu in dieser Stadt übel ergangen, doch müssen wir sagen, daß die Leute in der letzten Zeit viel gemäßigter sind. Mir scheint, das Blut von Getreu lastet noch schwer auf ihrem Gewissen; denn seitdem sie ihn verbrannt haben, schämen sie sich solchen Tuns. In jenen Tagen hätte es keiner von uns wagen dürfen, über die Straße zu gehen; aber jetzt können wir uns überall sehen lassen. Damals war der Name eines Bekenners verhaßt, jetzt aber wird in gewissen Stadtteilen die Religion wieder in Ehren gehalten. — Doch, wie geht es euch denn auf eurer Pilgerfahrt? Wie ist man im Land gegen euch gesinnt?

Redlich. Uns geht es, wie es Pilgern zu gehen pflegt. Wir wandern eben durch dick und dünn. Bald geht’s bergauf, bald bergab, und wir wissen nie, was morgen sein wird. Der Wind ist uns nicht allezeit im Rücken, und nicht jedermann ist uns gut Freund, der uns auf dem Weg begegnet. Wir haben schon manche schwere Anfechtung zu bestehen gehabt; und wer weiß, was unser noch wartet? Die Wahrheit des alten Spruches: „Der Gerechte muß viel leiden“ (Ps. 34, 20) hat sich auf unserm Weg schon reichlich bestätigt.

[S. 300]

Bußfertig. In was für Anfechtungen seid ihr denn gekommen?

Redlich. Herr Mutherz, unser Führer, wird euch darüber am besten Auskunft geben können.

Mutherz. Wir sind schon drei- oder viermal angegriffen worden. Zuerst wurden Christin und ihre Kinder von zwei Bösewichtern überfallen, die ihnen nach dem Leben trachteten. Hernach bekamen wir es mit drei Riesen zu tun: Blutdurst, Hammer und Tugendfeind. Den letztern zwar überfielen wir vielmehr als er uns. Das geschah während der Zeit, als wir in dem Hause des Gajus weilten; da entschlossen wir uns, einmal unsre Waffen an einem der berüchtigtsten Feinde der Pilger zu erproben, der sich in jener Gegend umhertrieb. Gajus kannte sein Versteck. Als wir endlich den Eingang zu seiner Höhle entdeckt hatten, wurden wir froh und ermannten uns; wir traten alsbald hinzu, und siehe, da fanden wir den armen Kleinmütig in seiner Gewalt und dem Tode geweiht. Sobald er uns sah, ließ er von seinem Opfer ab und kam heraus in der Erwartung, einen andern Raub zu erhaschen. Wir fielen nun mit aller Macht über ihn her, brachten ihn schließlich zu Fall und hieben ihm den Kopf ab. Diesen steckten wir neben dem Weg auf zum abschreckenden Beispiel für alle seinesgleichen. Dies ist die Wahrheit, und hier ist der Mann selbst, der sie bezeugen kann; er war wie ein Lamm, das aus dem Rachen der Löwen gerissen wird.

„Ja,“ bestätigte Kleinmütig, „so habe ich es empfunden, zu meinem Schrecken und zu meinem Trost: Zu meinem Schrecken, als er drohte, mich zu zerfleischen; zu meinem Trost, als ich Mutherz und seine Freunde mit ihren Waffen zu meiner Befreiung herankommen sah.“

„Zwei Dinge sind’s,“ sagte hierauf Herr Heilig, „welche diejenigen vornehmlich haben müssen, die die Pilgerschaft antreten wollen, einen Heldenmut und ein unsträfliches Leben. Verlieren sie den Mut, so können sie nicht bis ans Ende beharren, und ist ihr Wandel befleckt, so machen sie den Namen eines Pilgers stinkend.“

Frommhold. Nun, ich hoffe, dieser Mahnung bedarf es bei euch nicht. Aber es sind ihrer wahrlich viele auf der Pilgerstraße, die sich mehr zu der Erde als zu der himmlischen Heimat hingezogen fühlen.

[S. 301]

Lügenscheu. Es ist wahr, sie haben weder Pilgertracht noch Pilgermut; sie wandeln nicht aufrecht, sondern mit verschränkten Beinen, mit unsauberem und zerrissenem Kleid gehen sie einher. Das alles gereicht ihrem Herrn zur Unehre.

„Darüber,“ sprach Herr Reumütig, „sollten sie tief betrübt sein; denn ein Pilger kann weder für sich noch für seine Reise der Gnade, die er doch begehrt, gewiß sein, solange er nicht von solchen Makeln und Flecken gereinigt ist.“

So unterhielten sie sich, bis das Abendbrot für sie bereitet war. Nach dem Essen begaben sie sich dann zur Ruhe. Die Pilger aber blieben eine geraume Zeit in Mnasons Haus, denn die Verhältnisse in dieser Stadt hatten sich, wie schon bemerkt, sehr geändert. Im Lauf der Tage gab Mnason seine Tochter Gnade dem Samuel, Christins Sohn, und seine Tochter Martha dem Joseph zur Frau. Auch mit vielen andern wohlgesinnten Leuten des Ortes wurden die Pilger bekannt und suchten sich ihnen nützlich zu machen. Barmherzig arbeitete nach ihrer Gewohnheit viel für die Armen, wofür dieselben sie segneten, und so war sie eine rechte Zierde ihres Bekenntnisses. Mit ihr wetteiferten auch die andern jungen Frauen, Gnade, Phöbe und Martha, in dieser Liebestätigkeit, jede nach ihrem Vermögen, und sie stifteten dadurch viel Gutes in dieser Zeit. Die Familie nahm zu, so daß Christs Name in der Welt erhalten wurde.

Während die Pilger noch hier weilten, kam ein Ungeheuer (Offenb. 17, 3 ff.) aus den Wäldern und brachte viele Leute aus der Stadt um. Mit Vorliebe suchte es Kinder wegzuschleppen, um sie nach seiner Weise aufzuziehen, und richtete dadurch großes Verderben an. Es war keinem Tier auf Erden zu vergleichen; sein Leib war wie der eines Drachen, es hatte sieben Häupter und zehn Hörner und ward von einem Weib regiert. Niemand in der Stadt wagte es, diesem Ungeheuer die Stirn zu bieten, sondern alle flohen, wenn sie nur das Getöse seiner Flügel hörten. Es legte den Einwohnern gewisse Bedingungen vor, und die, welche ihr Leben mehr liebten als ihre Seele, gingen darauf ein und kamen also unter seine Herrschaft.

Herr Mutherz aber machte nun mit den vier Männern, Bußfertig, Heilig, Frommhold und Reumütig, die die Pilger in Herrn Mnasons Hause besucht hatten, einen Bund, und sie beschlossen, mit ihren Waffen auszuziehen, ob[S. 302] sie vielleicht die Leute dieser Stadt aus den Klauen und dem Rachen dieses verheerenden Drachen erretten könnten. Das Ungeheuer sah anfangs auf die herankommenden Gegner mit großer Verachtung herab; da aber diese ihre Waffen wohl zu führen wußten, ward es bald zum Rückzug gezwungen, und sie kehrten in die Herberge zurück.

Das Untier hatte seine bestimmten Zeiten, in denen es hervorkam. Unsre tapfern Kämpfer aber paßten ihm auf und griffen es fortwährend an, so daß es nach und nach nicht nur verwundet, sondern auch lahm ward und deshalb sein Unwesen nicht mehr wie früher zu treiben vermochte. Und es wird von vielen geglaubt, daß es an seinen Wunden gewiß sterben wird.

Dadurch nun gelangten Mutherz und seine Gefährten in der Stadt zu großem Ansehen, so daß manche dort, obgleich sie andrer Denkweise waren, ihnen dennoch große Achtung und Ehrerbietung bezeugten. Und so kam es denn, daß den Pilgern hier wenig Leid zugefügt ward. Doch freilich gab es ebendaselbst auch Leute schlechterer Art, die nicht besser sehen konnten als ein Maulwurf und nicht mehr Verstand hatten als ein unvernünftiges Tier; diese zollten unsern Helden keine Ehrfurcht und achteten ihre Tapferkeit und ihre Taten gering.

Inzwischen kam die Zeit immer näher, daß unsre Pilger ihren Weg fortsetzen mußten; sie rüsteten sich daher zur Abreise. Sie schickten auch nach ihren Freunden und taten ihnen solches zu wissen, damit sie noch einmal zusammenkommen und sich gegenseitig dem Schutz ihres Herrn und Fürsten anbefehlen könnten. Es kamen auch solche, die ihnen von dem brachten, was sie besaßen und was den Schwachen und Starken, den Männern und Frauen heilsam war, und so wurden sie reichlich mit allem Nötigen versehen (Apostelg. 28, 10). Darauf machten sie sich auf den Weg, und ihre Freunde gaben ihnen, soweit es anging, das Geleit; dann noch ein letzter Händedruck und herzliche Segenswünsche, und sie schieden voneinander. Der Führer Mutherz zog den Pilgern wieder voran; da sie aber um der Frauen und Kinder willen nicht rasch gehen durften, konnten Hinkfuß und Kleinmütig ebenfalls mitkommen.

Fußnoten:

[207] In Antiochia gab man den Jüngern zum erstenmal den Namen „Christen“ (Apostelg. 11, 26).

[208] Nach Dir, Herr, verlangt mich (Ps. 25, 1).

[209] Laßt uns opfern das Lobopfer Gott allezeit, das ist die Frucht der Lippen, die Seinen Namen bekennen (Hebr. 13, 15).

[210] Gott gab dem Volk Israel Traubenblut zu trinken (5. Mos. 32, 14); Jesus spricht: Ich bin der rechte Weinstock (Joh. 15, 1).

[211] Seid begierig nach der vernünftigen, lautern Milch als die jetzt geborenen Kindlein, auf daß ihr durch dieselbe zunehmt (1. Petr. 2, 2).

[212] Die Frucht des Baumes der Erkenntnis des Guten und Bösen im Garten Eden wird uns in der Heiligen Schrift nicht näher bezeichnet.

[213] Er labt mich mit Äpfeln; denn ich bin krank vor Liebe (Hohesl. 2, 5).

[214] Jesus ist umhergezogen und hat wohlgetan (Apostelg. 10, 38).

[215] Gott ist getreu, der euch nicht läßt versuchen über euer Vermögen, sondern macht, daß die Versuchung so ein Ende gewinne, daß ihr’s könnet ertragen (1. Kor. 10, 13).

[216] Der Herr hat Greuel an den Falschen (Ps. 5, 7).

[217] Den Schwachen im Glauben nehmt auf und verwirret die Gewissen nicht (Röm. 14, 1).

[218] Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen (Gal. 6, 2).

[219] Sehet zu, daß eure Freiheit nicht gerate zu einem Anstoß der Schwachen! (1. Kor. 8, 9)

[220] Der Apostel schreibt: Den Schwachen bin ich geworden wie ein Schwacher, auf daß ich die Schwachen gewinne. Ich bin jedermann allerlei geworden, auf daß ich allenthalben ja etliche selig mache (1. Kor. 9, 22).

Schlussvignette, Kapitel II, 8

[S. 303]

Kopfstück, Kapitel II, 9

Neuntes Kapitel.
Die Zerstörung der Zweifelsburg und auf den lieblichen Bergen.

K

Kurz nachdem die Pilgerschar sich von ihren Freunden verabschiedet hatte, kamen sie zu dem Platz, wo Getreu den Tod erlitten hatte. Hier machten sie halt, und in tiefer Bewegung standen sie da, daran gedenkend, wie sein männliches Dulden nun auch ihnen zugute gekommen war, und sie dankten dem Herrn dafür, daß Er ihm die Kraft verliehen, Ihn mit solchem Tode zu preisen. — Sie setzten ihren Weg fort und sprachen davon, wie Hoffnungsvoll nach Getreus Tod sich zu Christ gesellte. Darüber gelangten sie bis an den Hügel Gewinn, wo Demas durch die Silbergrube von der Pilgerschaft abgezogen ward und wo auch Nebenwege vermutlich hineinfiel und umkam. Dies gab ihnen besonders zu denken. — Nicht weit davon entfernt, dem Hügel Gewinn gegenüber, stießen sie auf das alte Denkmal, die Salzsäule, die im Angesicht Sodoms und des Toten Meeres stand; da verwunderten sie sich, wie auch Christ vor ihnen, daß Männer von solcher Erkenntnis und Reife des Verstandes wie Demas und seine Gefährten im Anblick dieses Warnungszeichens so verblendet sein konnten, hier umzuwenden. Sie bedachten aber, daß die Menschen im allgemeinen sich durch den Schaden andrer nicht belehren lassen, besonders wenn etwas, wie hier die Silbermine, noch eine solche Anziehungskraft auf sie auszuüben vermag.

Ich sah nun in meinem Traum, daß sie an den Strom kamen, der diesseits der lieblichen Berge fließt. Das war der Strom, an dessen Ufer prächtige Bäume stehen, deren Blätter[S. 304] zur Gesundheit der Menschen dienen, wo die immergrünen Wiesen sind und man sicher ruhen kann (Ps. 23). An diesem Wasser waren auch Hütten und Hürden für die Schafe und ein Haus zur Aufnahme und Pflege der Lämmer, das sind die Kindlein der Frauen, welche die Pilgerfahrt angetreten haben. Da war auch einer, der ihrer wartete, der Mitleiden haben konnte mit ihrer Schwachheit (Hebr. 4, 15) und der diese Lämmer in Seine Arme sammelt und in Seinem Busen trägt und die Schafmütter führt (Jes. 40, 11). Christin riet ihren vier Schwiegertöchtern, ihre Kleinen der Obhut dieses Mannes anzuvertrauen, damit sie an diesen Wassern auferzogen, ernährt, gehegt und gepflegt würden und keines von ihnen verlorengehe. Wenn nämlich eines sich verirrt, so sucht Er es und bringt es wieder; Er verbindet das Verwundete und wartet des Schwachen (Hes. 34, 16). Sie erhalten guten Unterricht, und, was von großer Wichtigkeit ist, sie werden gelehrt, den richtigen Weg zu wandeln. Hier gebricht es ihnen niemals an Speise und Trank oder Kleidung. Es gibt da, wie ihr seht, klare Bäche, anmutige Wiesen, duftende Blumen und allerlei Bäume, deren Früchte nicht schädlich sind wie die aus Beelzebubs Garten, welche Matthäus aß, sondern die die Gesundheit der Menschen fördern und erhalten und in Krankheit als Heilmittel dienen. Hier sind sie auch sicher vor Dieben und Räubern, denn eher gibt dieser Mann Sein Leben hin, als daß Er eines Seiner Pflegebefohlenen umkommen läßt. Also waren sie es wohl zufrieden, ihre Kleinen Ihm zu übergeben, und das um so mehr, da der König dieses Haus zur Erziehung junger Kinder und Waisen hatte erbauen lassen.

Hierauf zogen sie weiter, und als sie bei der Abwegswiese den Steg erblickten, über den Christ und Hoffnungsvoll gingen und dem Riesen Verzweiflung in die Hände fielen, da machten sie halt und überlegten, ob sie es vereint nicht wagen dürften, den Riesen anzugreifen, die Burg zu schleifen und etwa darin gefangene Pilger zu befreien. Der eine sagte dies, der andre das. Einer trug Bedenken, seinen Fuß auf ungeweihten Boden zu setzen; ein andrer hielt dafür, daß man das wohl tun dürfe, wenn man dabei einen guten Zweck verfolge. Mutherz sprach sich dahin aus, daß man zwar der zuletzt aufgebrachten Meinung nicht unbedingt und allgemein beipflichten könne, „doch,“ fuhr er fort, „ist[S. 306] es meine Aufgabe, der Sünde zu widerstehen, das Böse zu überwinden und den guten Kampf des Glaubens zu kämpfen. Und warum sollte dieser Riese sein Wesen ungestört weitertreiben dürfen? Ich will ihm nun das Handwerk legen und die Zweifelsburg zerstören! Wer von euch will mit mir ziehen?“ Alsbald traten der alte Redlich und die vier Söhne der Christin, die nun starke junge Männer waren[221], vor und sprachen: „Wir wollen mit dir dieses Werk ausrichten!“

Zerstörung der Zweifelsburg (S. 306.).

Sie ließen also die Frauen unter dem Schutz des Kleinmütig und Hinkfuß auf der Straße zurück, denn obwohl der Riese dort so nahe wohnte, so konnte doch ein kleines Kind sie richtig führen, wenn sie auf der Heerstraße blieben (Jes. 11, 6). Die Männer schritten gerade auf die Zweifelsburg zu; dort angekommen, klopften sie so stark an das Tor, daß die ganze Burg davon widerhallte. Der alte Riese kam herab und hinterdrein seine Frau, Mißtrauen, und er rief: „Wer untersteht sich, den Riesen Verzweiflung auf solche Weise zu belästigen?“

Mutherz antwortete: „Das bin ich, Mutherz, ein Diener des himmlischen Königs und Führer der Pilger. Tue mir auf das Tor und rüste dich zum Kampf, denn ich bin gekommen, deinen Kopf zu holen und die Zweifelsburg zu zerstören.“

Der Riese aber, da er sich für unüberwindlich hielt, dachte bei sich selbst: „Ich habe vorzeiten sogar mit Engeln gekämpft und bin obgelegen, sollte mir dieser Mutherz bange machen?“ Er legte also seinen Harnisch an und kam heraus. Auf seinem Haupt hatte er einen Stahlhelm, seine Brust war umgürtet mit einem feurigen Panzer, in eisernen Schuhen trat er daher, mit einer großen Keule in der Hand. Jetzt griffen ihn die sechs Männer an und bedrängten ihn von allen Seiten. Als nun auch Mißtrauen, die Riesin, herzukam, ihm beizustehen, streckte der alte Redlich sie mit einem Schlage nieder. Der Kampf war heiß und schwer, doch der Riese Verzweiflung unterlag; aber er wollte nicht gleich sterben, er sträubte sich gewaltig und hatte, wie man sagt, ein zähes Leben wie eine Katze. Mutherz jedoch ließ nicht von ihm ab, bis er sich nicht mehr regte, hernach trennte er ihm den Kopf vom Rumpf.

[S. 307]

Nachdem nun der Riese tot war, machten sich die Männer daran, die Burg niederzureißen. Sieben Tage waren sie damit beschäftigt und fanden darin einen Pilger namens Verzagt, dem Hungertode nahe, dazu seine Tochter Furchterfüllt. Diesen beiden retteten sie das Leben. Welch ein Schreckensbild bot sich ihnen überall dar! Auf dem Burghof lagen noch allenthalben die Leichname herum, und der Kerker war mit Totengebeinen angefüllt.

Nach vollbrachter Heldentat nahmen Mutherz und seine Begleiter Herrn Verzagt und seine Tochter Furchterfüllt unter ihren Schutz, denn es waren redliche Leute. Auch des Riesen Haupt nahmen sie (denn seinen Leib hatten sie unter einem Haufen Steine begraben) und begaben sich damit auf die Heerstraße zurück zu den Ihren und zeigten ihnen, was sie ausgerichtet hatten. Darüber waren alle hocherfreut. Christin griff zu ihrer Zither, und Barmherzig schlug die Laute an; so spielten sie und waren sehr fröhlich miteinander. Jedoch dem armen Verzagt war an der Musik nicht viel gelegen, er sehnte sich nach einem Bissen Brot, denn er war beinahe ausgehungert. Darum gab ihm Christin etwas aus ihrer Flasche von dem stärkenden Getränk zur augenblicklichen Erholung. Hernach bereiteten sie ihm etwas zu essen. So kam der alte Mann in kurzer Zeit wieder zu sich und gewann neues Leben.

Weiter sah ich in meinem Traum, daß Mutherz das Haupt des Riesen Verzweiflung nahm und es auf einer Stange an der Heerstraße aufrichtete, gerade der Säule gegenüber, die Christ zur Warnung für die Pilger errichtet hatte, damit sie nicht auf des Riesen Gebiet gerieten.

Ist auch die Zweifelsburg gleich abgetragen
Und die Verzweiflung selbst aufs Haupt geschlagen,
So kann doch Sünde schnell die Burg erhöhn,
Ja, selbst der Riese durch die Sünd’ erstehn.

Dann schrieb er auf einen Marmorstein darunter folgenden Reim:

Dies ist das Haupt des mächtigen Tyrannen,
Dem einst die Pilger kaum entrannen;
Des Name schon sie tödlich schreckte,
Die Zweifelsburg die Angst erweckte.
Mutherz nun hat ihn totgeschlagen;
Verzagt und Furchterfüllt, sie dürfen wagen,
[S. 308]
Sich laut und hoch des Sieges zu freuen
Und ihrem Herrn sich neu zu weihen.

Nach dieser ruhmvollen Tat zogen sie weiter, bis sie zu den lieblichen Bergen kamen, an deren mannigfaltigen Schönheiten sich vormals Christ und Hoffnungsvoll erquickt hatten. Auch unsre Pilger machten sich allda mit den Hirten bekannt. Da nun diese sahen, daß ein so großes Gefolge von Leuten in Begleitung von Mutherz sei, den sie sehr wohl kannten, sprachen sie zu ihm: „Ei, lieber Herr, du hast da eine stattliche Gesellschaft zusammengebracht; sage uns doch, wie hast du die alle gefunden?“

Mutherz antwortete ihnen:

Hier steht die kleine Schar, die sich erwählt das Leben:
Voran die Christin geht und die ihr Gott gegeben,
Der Söhne teurer Kreis und ihre Ehefrauen,
Sie pilgern unverrückt, den König einst zu schauen.
Der alte Redlich dort, er läßt sich nicht betören,
Will mit Herrn Hinkefuß dem Fürsten Treue schwören.
Kleinmütig, Herr Verzagt und Furchterfüllt, so
schwach,
Wenn es auch langsam geht, sie folgen gerne nach.
O Hirten, dürfen wir ein wenig bei euch weilen,
Um dann mit frischer Kraft gen Zion hinzueilen?

„Das ist eine liebliche Gesellschaft,“ erwiderten die Hirten. „Ihr seid uns willkommen, denn wir sind mit allem Nötigen versehen, sowohl für die Schwachen wie für die Starken. Unser Fürst hat ein Auge auch für das, was dem Geringsten erwiesen wird[222]. Wegen seiner Schwachheit wird daher kein Pilger von uns zurückgewiesen.“

Sie führten sie also in das Haus, sprechend: „Kommt herein, Kleinmütig, Hinkefuß und Verzagt mit deiner Tochter Furchterfüllt! Diese rufen wir bei Namen,“ sagten die Hirten zu Mutherz, „weil sie sehr geneigt sind, sich hinter andre zurückzuziehen; was aber euch, die Stärkern, betrifft, so lassen wir euch nach eurer Freiheit handeln.“

Mutherz. Aus dem Leuchten eures Angesichts und daraus, daß ihr die Schwachen nicht von euch stoßt (Hes. 34, 21), sondern ihnen vielmehr den Weg mit Blumen bestreut, erkenne ich, daß ihr wahre Hirten unsers Herrn seid.

Sie traten nun alle ein, und die Hirten bereiteten ihnen[S. 309] ein Mahl von leicht verdaulichen, wohlschmeckenden und zugleich nahrhaften Speisen. Nach dem Essen begaben sich die Pilger zur Ruhe, ein jedes an seinen ihm zugewiesenen Ort.

Am frühen Morgen wurden sie, weil es ein heller Tag war, von den Hirten geweckt, die ihnen einige Sehenswürdigkeiten dieses Gebirges zeigen wollten. Zuerst sahen sie, was einst auch Christ sehen durfte; hierauf stiegen sie auf den Berg der Wunder und siehe, da war in einiger Entfernung ein Mann, der durch sein Wort Berge versetzte. Auf die Frage, was das bedeute, erwiderten die Hirten, das sei der Sohn eines gewissen Großgnade (siehe Seite 151); dieser sei hierher bestellt, die Pilger zu unterrichten, wie sie alle ihnen begegnenden Schwierigkeiten durch den Glauben aus dem Weg räumen könnten[223]. „Ich kenne ihn,“ sprach Mutherz, „er ist ein vortrefflicher Mann vor vielen andern.“

Von hier aus bestiegen sie den Berg der Unschuld. Da gewahrten sie einen Mann in einem blendendweißen Gewand, der von zwei andern, Vorurteil und Böswillig, beständig mit Kot beworfen wurde. Aber siehe, soviel sie auch nach ihm warfen, der Kot fiel in kurzer Zeit wieder ab, und sein Kleid sah so rein und hell aus wie vorher. „Dieser Mann heißt Gottselig,“ war die Erklärung der Hirten, „und das weiße Gewand soll die Reinheit seines Lebens andeuten. Jene, die ihn mit Kot bewerfen, sind solche Leute, die seine guten Werke hassen; gleichwie aber der Kot an seinen Kleidern nicht haften will, also soll’s auch dem ergehen, der ein reines Leben führt in dieser Welt. Ob ihrer noch so viele ihn mit Kot besudeln wollen, so ist doch alle ihre Bemühung umsonst, denn Gott wird nach kurzer Zeit schaffen, daß seine Unschuld hervorbreche wie das Licht und seine Gerechtigkeit wie der helle Mittag“ (Ps. 37, 6).

Die Pilger wurden nun auf den Berg der Liebe geführt. Dort sahen sie einen Mann, der einen Ballen Tuch vor sich liegen hatte, woraus er Kleider für die um ihn herumstehenden Armen schnitt; dennoch ward sein Ballen Tuch nicht kleiner. „Daraus sollt ihr lernen,“ sagten die Hirten, „daß, wer von dem, was er erarbeitet hat, den Armen etwas mitteilt, um deswillen niemals Mangel leiden soll[S. 310] (Spr. 11, 24). Wer andre erquickt, soll wieder erquickt werden. Dadurch, daß die Witwe ihr Brot mit dem Propheten teilte, war das Mehl im Kad nicht vermindert worden“ (1. Kön. 17, 8-10).

Sie kamen auch an einen Ort, wo sie zwei Männer damit beschäftigt fanden, einen Mohren zu waschen, daß er weiß würde. Der eine dieser Männer hieß Tor, der andre Unklug. Je mehr sie ihn aber wuschen, desto schwärzer ward er. „So geht es mit einem schlechten Menschen,“ belehrten die Hirten. „Alle Mittel, die man anwendet, einem solchen einen guten Namen zu verschaffen, werden nur dahin ausschlagen, daß seine Schlechtigkeit um so deutlicher an den Tag kommt. So ging’s den Pharisäern, und ebenso wird’s allen Heuchlern ergehen.“

„Mutter,“ sprach hierauf Barmherzig zu Christin, ihrer Schwiegermutter, „ich möchte gern, wenn es sein könnte, die Höhle im Berg sehen, die gewöhnlich der Nebenweg zur Hölle genannt wird.“ Christin tat diesen Wunsch den Hirten kund. Sie gingen also zum Eingang, der an der Seite eines Hügels war. Den öffneten sie und ließen dann Barmherzig eine Weile zuhorchen. Sie lauschte und hörte einen sagen: „Verflucht sei mein Vater, der meine Füße von dem Weg des Friedens und des Lebens abgehalten hat!“ Ein andrer rief klagend aus: „O daß ich wäre in Stücke zerrissen worden, ehe ich, um mein Leben zu erhalten, meine Seele verloren!“ Und ein dritter sprach: „Könnte ich wieder ins Leben zurück, o wie wollte ich mich selber verleugnen, um nicht an diesen Ort zu kommen!“ Alsdann war es, als ob der Erdboden unter ihr bebte und vor Entsetzen stöhnte. Zitternd und leichenblaß wandte sich die junge Frau weg und sprach: „Heil dem, der von diesem Ort der Qual erlöst ist!“

Als die Hirten ihnen dies alles gezeigt, führten sie die Pilger wieder in das Haus zurück und bewirteten sie mit allem, was ihnen zu Gebote stand. Barmherzig aber, wie es jungen Frauen zu gehen pflegt, bekam ein Verlangen nach etwas, das sie daselbst sah. Sie schämte sich jedoch, ihren Wunsch zu äußern, und sah aus, als ob ihr nicht wohl wäre. Christin fragte sie, was ihr fehle. Sie antwortete: „Oben im Speisesaal hängt ein Spiegel, davon ich mein Herz nicht abziehen kann, und es ist mir, als sollte ich ihn um jeden Preis haben.“

[S. 311]

Christin. Ich will mit den Hirten darüber reden, und sie werden dir darin gewiß entgegenkommen.

Barmherzig. Aber ich schäme mich, wenn diese Männer erfahren, daß mich danach verlangt hat.

Christin. Nein, meine Tochter, es ist keine Schande, sondern eine Tugend, einen solchen Gegenstand zu begehren.

Barmherzig. Nun dann, Mutter, frage bitte die Hirten, ob sie willens sind, ihn zu verkaufen.

Dieser Spiegel hatte unter Tausenden keinen seinesgleichen[224]. Auf der einen Seite zeigte er einem jeden seine eigenen Züge aufs genauste[225], und auf der andern Seite konnte man das Angesicht und Ebenbild des Königs der Pilgrime selber sehen. Und es haben manche von denen, die in diesen Spiegel geschaut haben, bezeugt, daß sie darin sogar die Dornenkrone auf Seinem Haupt, die Wundenmale in Seinen Händen und Füßen und in Seiner Seite gesehen haben wie mit leibhaftigen Augen. Ja, dieser Spiegel ist von solcher Vortrefflichkeit, daß er jedem den Herrn zeigt, je nachdem seines Herzens Verlangen zu Ihm steht: lebend oder tot, auf der Erde oder im Himmel, im Stand Seiner Erniedrigung oder Seiner Erhöhung, in Seiner Erscheinung zum Leiden oder in Seiner zukünftigen Herrlichkeit[226].

Christin nahm um dieser Sache willen die Hirten, nämlich: Weise, Erfahren, Wachsam und Aufrichtig, beiseite und sagte ihnen von dem dringenden Verlangen, das eine ihrer Schwiegertöchter nach einem in diesem Haus sich befindlichen Gegenstand habe.

Erfahren. Rufe sie; sie soll alles erhalten, was ihr dienlich sein wird.

Barmherzig kam und wurde nach ihrem Wunsch gefragt. Sie errötete und sprach: „Der große Spiegel ist’s, der oben im Speisesaal hängt.“

Aufrichtig holte denselben, und er ward ihr mit freudiger Zustimmung gegeben. Da verneigte sie sich, dankte und sprach: „Daran erkenne ich, daß ich Gnade gefunden habe vor euren Augen.“

Auch den andern jungen Frauen gab man, was sie begehrten, und ihren Männern ward großes Lob zuteil, daß[S. 312] sie im Verein mit Mutherz den Riesen Verzweiflung geschlagen und die Zweifelsburg zerstört hatten.

Um der Christin Hals hängten die Hirten ein goldenes Geschmeide; dergleichen legten sie auch ihren vier Schwiegertöchtern um. Sie schmückten sie auch mit Ohrringen und kostbaren Edelsteinen an ihren Stirnen.

Die Pilger wünschten nun ihre Reise fortzusetzen, und die Hirten ließen sie in Frieden ziehen. Da sie aber Mutherz als Führer hatten, der den Weg genau kannte, war es hier nicht nötig, sie auf die ihnen begegnenden Gefahren aufmerksam zu machen, wie es bei Christ und seinem Gefährten geschah.

So brachen sie auf, indem sie sangen:

Wir pilgern durch das Weltgewühl,
Wo unser Pfad oft dornig ist und schwül;
Da singen wir von jener Ruhe gern,
Die noch vorhanden ist dem Volk des Herrn.
Nur Mut, nur Mut! es geht der Heimat zu,
Wir singen schon von ihrer sel’gen Ruh’.
Hier sind wir nur ein fremd Geschlecht,
Im Himmel, da ist unser Bürgerrecht:
Wird fremd und immer fremder uns die Welt,
Das Bild der Heimat unsern Blick erhellt.

Sie waren noch nicht weit gegangen, als Mutherz sie daran erinnerte, daß in dieser Gegend es war, wo Christ mit Abtrünnig aus der Stadt Abfall zusammentraf, der das Malzeichen seiner Abtrünnigkeit auf dem Rücken trug. „Das war ein Mensch,“ fuhr der Führer fort, „der, nachdem er einmal die abschüssige Bahn betreten hatte, auf kein Zureden mehr hören wollte. Bei dem Kreuz und Grab hieß ihn jemand aufsehen; aber auf den Boden stampfend und zähneknirschend wandte er sich ab und lief seiner Stadt zu. Ehe er zur Pforte kam, begegnete ihm der Evangelist, der sich erbot, ihm Handreichung zu tun, um ihn wieder auf den rechten Weg zu bringen; aber Abtrünnig widersetzte sich ihm, und nachdem er ihn mit Schmähungen überhäuft, entkam er über die Mauer und entging also seinen Händen.“

An der Stelle, wo Kleinglaube vormals ausgeplündert worden war, trafen sie einen Mann mit einem bloßen Schwert, und sein Angesicht war mit Blut bespritzt. „Wer bist du?“ fragte ihn Mutherz. Er antwortete: „Ich bin[S. 313] ein Pilger, der gen Zion reist; mein Name ist Kämpfer-für-die-Wahrheit. Während ich also des Weges ging, da umringten mich plötzlich drei Männer und forderten von mir, daß ich mich entweder ihnen anschließe oder sogleich den Rückweg antrete, wenn nicht, müsse ich auf der Stelle mein Leben lassen. Ich sagte ihnen, ich sei mein Leben lang ein ehrlicher Mann gewesen, und sie könnten deshalb nimmermehr erwarten, daß ich mit Dieben gemeinschaftliche Sache mache (Spr. 1, 10-16). Weiter erklärte ich ihnen, daß, da ich naturgemäß meine Vaterstadt nicht ohne triftigen Grund verlassen hätte, ich ebensowenig von meinem jetzigen Weg abzubringen sei. Was mein Leben anbetreffe, tat ich ihnen ferner zu wissen, so sei dasselbe viel zu teuer erkauft (1. Kor. 6, 20), als daß ich es so leicht wegwerfen sollte. Zudem stehe es ihnen keineswegs zu, mich vor eine solche Wahl zu stellen, es geschehe daher auf ihre Gefahr, wenn sie es mit mir aufzunehmen gedächten. Diese drei Kerle — sie hießen Hitzkopf, Unbesonnen und Naseweis — drangen nun auf mich ein; ich aber zog mein Schwert. So fochten wir, einer gegen drei, wohl gegen drei Stunden lang. Sie haben mir, wie ihr seht, einige Denkzeichen ihres Mutes hinterlassen; sie haben jedoch auch ein Andenken von mir mitgenommen. Sie sind eben erst davongegangen; ich vermute, sie haben, wie man zu sagen pflegt, Wind von eurer Ankunft bekommen und sich deshalb aus dem Staub gemacht.“

Mutherz. Aber das war ein ungleicher Kampf, drei wider einen!

Kämpfer. Allerdings; aber was sind wenig oder viele für den, der die Wahrheit auf seiner Seite hat? „Wenn sich schon ein Heer wider mich legt,“ hat einer gesagt, „so fürchtet sich dennoch mein Herz nicht; wenn sich Krieg wider mich erhebt, so verlasse ich mich auf Ihn“ (Ps. 27, 3). Auch habe ich in alten Urkunden gelesen, daß einer es mit einem ganzen Heer aufgenommen hat, und wie viele hat Simson mit einem Eselskinnbacken getötet? (Richt. 15, 15. 16.)

Mutherz. Aber warum schriest du denn nicht um Hilfe.

Kämpfer. Das habe ich getan. Ich schrie zu meinem König, der mir jederzeit unsichtbare Hilfe geben und mich stärken kann. Daran genügte mir.

[S. 314]

Mutherz. Du hast dich wacker gehalten. Laß mich doch dein Schwert sehen!

Er reichte es ihm. „Wahrlich, das ist eine echte Jerusalemsklinge[227]!“ rief Mutherz aus, nachdem er es eine Weile betrachtet hatte.

Kämpfer. Ja, das ist’s. Und wenn einer eine solche Klinge recht zu gebrauchen versteht, so kann er es mit einem Engel aufnehmen. Sie hält jeden Kampf aus, ihre Schneide wird nimmer stumpf, und sie durchdringt Mark und Bein, auch Seele und Geist und alles (Hebr. 4, 12).

Mutherz. Aber du hast lange gefochten; mich wundert, daß du nicht ermattet bist.

Kämpfer. Ich focht, bis mein Schwert mir an meiner Hand festklebte, so daß Hand und Schwert wie aus einem Guß wurden. Und als das Blut mir über die Finger lief, da stritt ich mit dem allergrößten Mut.

Mutherz. Du hast wohlgetan. Du hast bis aufs Blut widerstanden in dem Kämpfen wider die Sünde (Hebr. 12, 4). Komm mit uns! Du sollst unser Gefährte sein.

Sie nahmen ihn und wuschen ihm die Wunden und reichten ihm etwas zur Erquickung. Während sie miteinander gingen, fragte ihn Mutherz, welcher große Freude an ihm hatte (denn er liebte solche, die sich als tüchtige Streiter bewährten), mancherlei Dinge und das auch um der allgemeinen Erbauung willen.

Mutherz. Was für ein Landsmann bist du?

Kämpfer. Ich bin im Finsterland geboren, wo auch meine Eltern noch leben.

Mutherz. Finsterland? Liegt das nicht auf derselben Küste wie die Stadt Verderben?

Kämpfer. Ja, da liegt’s. Was mich bewog, den Pilgerstab in die Hand zu nehmen, war dies: Ein gewisser Herr Wahrhaftig kam in unsre Gegend und erzählte manches von Christs Pilgerreise: wie er, Frau und Kinder verlassend, aus der Stadt Verderben auszog; wie er eine Schlange tötete, die ihm auf dem Weg widerstand, und schließlich sein Ziel erreichte. Auch ward erzählt, welche ehrenvolle Aufnahme er in allen Herbergen seines Herrn und besonders an[S. 315] der himmlischen Pforte fand. Dort soll er unter Posaunenschall und Glockengeläute von einer Schar Glänzender empfangen worden sein, nachdem man ihn in goldene Gewänder gekleidet (Ps. 45, 14-16) — und noch vieles andre, was ich nicht alles wiederholen kann. Kurz, jener Mann gab von Christs Geschichte und seiner Reise eine solch lebendige Schilderung, daß mein Herz wie von Feuer brannte, ihm eiligst nachzuwandern; weder Vater noch Mutter konnten mich davon abhalten. So machte ich mich auf den Weg und bin nun bis hierher gekommen.

Mutherz. Du bist doch auch durch die enge Pforte gekommen, nicht wahr?

Kämpfer. Ja freilich, denn Herr Wahrhaftig sagte uns, daß alles vergeblich wäre, wenn wir nicht durch die Pforte eingingen auf diesen Weg (Joh. 10, 1).

„Siehst du,“ sprach der Führer zu Christin, „die Pilgerreise deines Mannes und sein erlangter Lohn ist weit und breit bekannt geworden!“

Kämpfer. Was? ist das Christs Frau?

Mutherz. Ja, sie ist’s, und dies hier sind seine vier Söhne.

Kämpfer. Wie? und sie sind alle auch auf der Pilgerfahrt?

Mutherz. Ja, sie folgen ihm nach.

Kämpfer. Das ist mir eine tiefe Freude. Und was mag das für den lieben Mann erst sein, wenn er die, welche nicht mit ihm ziehen wollten, zu den Toren der himmlischen Stadt wird eingehen sehen!

Mutherz. Ohne Zweifel wird ihm das ein großer Trost sein, mit seiner Frau und seinen Kindern dort wieder vereinigt zu werden.

Kämpfer. Weil wir gerade davon reden, so laß mich bitte deine Meinung darüber hören! Es stellen nämlich etliche in Frage, ob dort einer den andern erkennen werde.

Mutherz. Nun, glauben sie, daß sie sich selber dort kennen und ihrer Seligkeit freuen werden, warum sollten sie nicht auch andre erkennen und an deren Heil sich freuen? Und obwohl diese irdischen Familienbande dort sich auflösen, so wird es dennoch unsre Freude erhöhen, wenn wir die sehen werden, mit denen wir hier so eng verbunden waren.

[S. 316]

Kämpfer. Wohl, ich verstehe, was du darüber denkst. — Du wolltest gern noch einiges wissen aus der ersten Zeit meines Pilgerlebens, nicht wahr?

Mutherz. Ja. Waren deine Eltern mit deinem Entschluß einverstanden?

Kämpfer. O nein, sie gaben sich alle Mühe, mich wieder davon abzubringen.

Mutherz. Warum waren sie denn dagegen?

Kämpfer. Sie sagten, es sei ein faules Leben, und wenn ich nicht selber auch zur Faulheit und zum Müßiggang geneigt wäre, würde ich das Pilgerleben nicht erwählen.

Mutherz. Und was hatten sie sonst noch für Bedenken?

Kämpfer. Sie stellten mir vor, der Pilgerweg sei ein halsbrecherischer Weg, ja der allergefährlichste Weg, den es überhaupt auf der Welt gebe.

Mutherz. Haben sie dir gesagt, worin die Gefahren bestehen?

Kämpfer. Ja. Sie erwähnten den Sumpf der Verzagtheit, darin Christ beinahe versunken wäre. Sie sagten, wie gefährlich es sei, an der Pforte anzuklopfen, da von Beelzebubs Burg aus auf die Pilger geschossen werde. Sie erzählten mir von dem Wald und von dem finstern Gebirge (siehe Seite 63), von dem Berg der Beschwerde, von den Löwen und auch von den drei Riesen Blutdurst, Hammer und Tugendfeind. Im Tal der Demut, sagten sie, hause ein böser Geist, der Christ umbringen wollte; alsdann müsse man durch das Tal der Todesschatten gehen, wo sich Kobolde und Feldteufel aufhielten, wo das Licht Finsternis und der Weg voller Schlingen, Fallstricke, Gruben und Netze wäre. Sie berichteten von dem Riesen Verzweiflung und der Zweifelsburg und der Gefahr und dem Verderben, dem die Pilger da unterworfen wären. Dann komme man über den gefährlichen bezauberten Grund und endlich an einen Strom, über den keine Brücke führe und der gerade zwischen mir und der himmlischen Stadt hindurchfließen werde.

Mutherz. War dies alles?

Kämpfer. Nein, sie stellten mir auch vor, daß der Weg voll von Betrügern sei und solchen, die den Pilgern auflauern, um sie in die Irre zu führen.

[S. 317]

Mutherz. Aber wie haben sie das bewiesen?

Kämpfer. Sie nannten Herrn Weltklug, der stets darauf ausgehe, jemand zu verführen; auch Werkheilig und Heuchler lägen lauernd am Weg. Nebenwege, Schwätzer und Demas würden mich durch ihre Worte hinters Licht führen und Schmeichler mich in sein Netz ziehen, oder ich würde mir einbilden, mit dem albernen Unwissend auf die Pforte zuzugehen, während ich schließlich doch bei der Höhle an der Seite des Berges anlangen und auf diesem Weg in die Hölle geraten werde.

Mutherz. Ich muß gestehen, dies alles könnte einem den Mut nehmen; aber ließen sie es dabei bewenden?

Kämpfer. Nein, höre weiter! Sie erzählten mir von vielen, die vor alters auf diesem Weg eine gute Strecke zurückgelegt hätten in der Hoffnung, etwas von der vielgepriesenen Herrlichkeit zu sehen; sie seien aber zur großen Belustigung von ganz Finsterland unverrichtetersache zurückgekehrt und hätten sich ihrer Torheit schämen müssen, um dieser Sache willen auch nur einen Fuß aus der Tür gesetzt zu haben. Sie nannten mir einige Namen, wie z. B. Störrig und Willig, Mißtrauisch, Furchtsam, Abtrünnig und den alten Atheist und andre mehr, von denen einige weit gekommen seien; aber keiner habe von dieser Reise irgendwelchen Gewinn davongetragen. Auch von einem Herrn Ängstlich war die Rede, der den Pilgerweg sehr einsam gefunden und keine fröhliche Stunde darauf verlebt habe; ein gewisser Herr Verzagt sei nahe daran gewesen zu verhungern. Ja, und was ich bald vergessen hätte, Christ selber, von dem man so viel Aufsehens gemacht, sei nach all seinen Bemühungen um eine himmlische Krone sicherlich in dem schwarzen Strom ertrunken und habe seinen Fuß nie auf das jenseitige Ufer gesetzt, was man freilich habe verbergen wollen.

Mutherz. Entfiel dir über all diesen Berichten nicht das Herz?

Kämpfer. Nein, es hat mich nicht im geringsten berührt.

Mutherz. Woher kam das?

Kämpfer. Woher? Ich glaubte dem, was Herr Wahrhaftig gesagt hatte, und das hob mich über alles hinweg.

Mutherz. So war dein Glaube der Sieg, mit welchem du überwunden hast (1. Joh. 5, 4).

[S. 318]

Kämpfer. Ja, so war es. Ich glaubte, und damit zog ich aus und kam auf diesen Weg. Ich kämpfte wider alle, die sich mir widersetzten, und durch meinen Glauben bin ich bis hierher gekommen.

Der Glaube bricht durch Stahl und Stein und kann die Allmacht fassen;
Der Glaube wirket all’s allein, wenn wir ihn walten lassen.
Wenn einer nichts als glauben kann, so kann er alles machen;
Der Erde Kräfte sieht er an als ganz geringe Sachen.
Die Zeugen Jesu, die vordem auch Glaubenshelden waren,
Hat man in Armut wandeln sehn, in Trübsal und Gefahren,
Und des die Welt nicht würdig war, der ist im Elend gangen,
Den Fürsten über Gottes Schar hat man ans Kreuz gehangen.
Wir freuen uns der Tapferkeit der Streiter unsers Fürsten,
Trotz aller der Verwegenheit, nach ihrem Blut zu dürsten.
Wie gut und sicher dient sich’s nicht dem ewigen Monarchen!
Im Feuer ist Er Zuversicht; fürs Wasser baut Er Archen.
Drum woll’n wir unter Seinem Schutz, den Satan zu vertreiben,
Und seinem Hohngeschrei zum Trutz mit unsern Vätern gläuben:
Wenn man den Herrn zum Beistand hat und ’s Herz voll Seiner Freuden,
So läßt sich’s auch durch Seine Gnad’ um Seinetwillen leiden.

Fußnoten:

[221] Ich habe euch Jünglingen geschrieben; denn ihr seid stark, und das Wort Gottes bleibt bei euch, und ihr habt den Bösewicht überwunden (1. Joh. 2, 14).

[222] Und der König wird sagen zu ihnen: Wahrlich, Ich sage euch: Was ihr getan habt einem unter diesen Meinen geringsten Brüdern, das habt ihr Mir getan (Matth. 25, 40).

[223] So ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, so mögt ihr sagen zu diesem Berg: Hebe dich von hinnen dorthin! so wird er sich heben; und euch wird nichts unmöglich sein (Matth. 17, 20).

[224] Es ist das Wort Gottes.

[225] So jemand ist ein Hörer des Worts und nicht ein Täter, der ist gleich einem Mann, der sein leiblich Angesicht im Spiegel beschaut (Jak. 1, 23).

[226] Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht (1. Kor. 13, 12).

[227] Von Zion wird das Gesetz ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem (Jes. 2, 3). Die Waffen unsrer Ritterschaft sind nicht fleischlich, sondern mächtig vor Gott, zu zerstören Befestigungen (2. Kor. 10, 4).

Schlussvignette, Kapitel II, 9

[S. 319]

Kopfstück, Kapitel II, 10

Zehntes Kapitel.
Über den bezauberten Grund und der Abruf aus dieser Welt.

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Während sie noch also sprachen, kamen sie zu dem bezauberten Grund, wo die Luft die Wirkung hat, daß die Wanderer schläfrig werden. Diese Gegend war ganz mit Sträuchern und Dornen bewachsen bis auf einzelne Stellen wo bezauberte Lauben errichtet waren. Wenn ein Mensch in einer solchen sitzt oder schläft, so ist es fraglich — wie etliche sagen —, ob er jemals wieder in dieser Welt aufsteht oder erwacht. Durch dieses Gestrüpp nun mußte die Pilgerschar hindurch; Mutherz als Führer zog voran, Kämpfer-für-die-Wahrheit bildete die Nachhut, damit nicht etwa ein Feind oder Drache oder ein Riese oder Dieb ihnen in den Rücken falle und Unheil anrichte. Angesichts solcher Gefahren zogen die Männer ihre Schwerter, und im Gehen sprach einer dem andern Mut zu. Kleinmütig hielt sich dicht zu Mutherz, und Verzagt kam unter Kämpfers Obhut.

Noch waren sie nicht weit gekommen, da überfiel sie ein dicker Nebel und eine Finsternis dergestalt, daß eine geraume Zeit hindurch einer den andern nicht sehen konnte. Daher mußten sie die Verbindung untereinander durch gegenseitiges Zurufen zu erhalten suchen; denn sie wandelten nicht im Schauen (2. Kor. 5, 7). Man kann sich denken, daß unter diesen Umständen das Wandern sehr erschwert war, selbst für die Besten unter ihnen, wieviel mehr für die Frauen und Kinder, bei denen Herz und Fuß nur schwach und zart war. Doch gelang es ihnen, dank der aufmunternden Worte des Führers und Kämpfers, ohne Schaden hindurchkommen.

[S. 320]

Der Weg war hier sehr mühsam und ging durch Schlamm und Morast. Auch traf man in dieser Gegend nicht ein einziges Gasthaus oder eine Herberge an, wo sich die Schwachen hätten erfrischen können. Hier hörte man keine andern Laute als solche des Keuchens, Stöhnens und Seufzens. Während der eine über einen Strauch stolperte, blieb der andre im Schmutz stecken, und die Kinder verloren ihre Schuhe im Schlamm. Bald schrie einer: „Ich bin gefallen!“ ein andrer: „Wo bist du denn?“ und der dritte: „Die Dornen halten mich so fest, daß ich nicht von der Stelle kann!“

Hierauf kamen sie zu einer Laube, welche warm war und den Pilgern große Erquickung zu verheißen schien. Oben war sie geschmackvoll zusammengeflochten, mit Zweigen schön geschmückt und unten mit Bänken und Stühlen versehen. Auch ein weiches Ruhebett stand darin, worauf die Müden sich legen konnten. Da die Pilger von dem sehr beschwerlichen Weg schon ganz ermattet waren, kann man sich denken, daß diese liebliche Laube für sie eine große Versuchung hätte werden können. Aber auch nicht ein einziger unter ihnen war, der dort auszuruhen wünschte, sondern sie gaben vielmehr genau acht auf die Winke und Befehle des Führers, der sie stets treulich auf die Gefahren aufmerksam machte. So ermannten sie sich und ermunterten sich gegenseitig zu der Verleugnung ihres Fleisches[228]. Diese Laube hieß Träge Ruhe und war in der Absicht erbaut worden, um müde Pilger anzulocken, dort zu ruhen.

Ich sah nun weiter in meinem Traum, daß sie an eine Stelle kamen, wo man leicht den Weg verlieren konnte. Bei lichtem Tage wäre der Führer über den rechten Weg nicht im Zweifel gewesen, doch in dieser Finsternis ward er ungewiß. Deshalb schlug er ein Licht an (denn er führte sein Feuerzeug[229] allezeit bei sich) und sah auf seiner Landkarte nach[230], da dort alle Wege nach und von der himmlischen Stadt verzeichnet standen. Diese Karte zeigte ihm nun, daß sie mehr nach rechts halten müßten, denn der angenehme Weg, den[S. 321] sie einschlagen wollten, führte in eine tiefe Schlammgrube, dazu angelegt, daß die Pilger darin umkommen sollten.

Da dachte ich bei mir selbst: Möchte doch niemand ohne eine solche Landkarte auf die Pilgerreise gehen, damit er darauf nachsehen kann, wann er über den richtigen Weg im Zweifel ist!

Nach kurzer Wanderung bemerkten sie dicht an der Landstraße eine zweite Laube. Darin fanden sie zwei Männer schlafend, nämlich Sorglos und Tollkühn. So weit waren diese beiden auf ihrer Pilgerfahrt gekommen; aber hier hatten sie sich, müde von dem beschwerlichen Weg, niedergesetzt, um ein wenig auszuruhen. Da die Pilger die gefährliche Lage dieser Schläfer erkannten, beratschlagten sie, ob sie an ihnen vorübergehen oder wenigstens einen Versuch machen sollten, sie aufzuwecken. Es war das letztere beschlossen. Mit großer Vorsicht traten sie hinzu, um ja nicht selber von den dargebotenen Genüssen Gebrauch zu machen, und riefen die Männer bei Namen. Aber da war keine Stimme noch Antwort. Der Führer rüttelte sie; da sprach der eine von ihnen: „Ich will dir bezahlen, wenn ich mein Geld kriege.“ — Mutherz schüttelte den Kopf. „Ich will fechten, solange ich mein Schwert in meiner Hand halten kann,“ murmelte der andre. Darüber lachte eins von den Kindern. „Was bedeutet das?“ fragte Christin. „Sie reden im Schlaf,“ gab der Führer zur Antwort, „ob ihr sie stoßt oder schlagt, werden sie euch allezeit auf diese Weise antworten. Sie sind jenem gleich, der vorzeiten oben auf dem Mastbaum schlief, und als die Wellen schon auf ihn eindrangen, sagte er: Wann will ich aufwachen, daß ich’s mehr treibe? (Spr. 23, 34. 35.) Ihr wißt ja, wenn Leute im Schlaf reden, so sagen sie alles mögliche; aber es besteht kein Zusammenhang in ihren Worten, auch werden dieselben weder durch den Glauben noch durch die Vernunft geleitet. Eines ist sicher, es bringt immer Unglück, wenn Pilger auf ihrer Reise unachtsam und sorglos werden. Zudem ist dieser bezauberte Grund für den Feind der Pilgrime eine der letzten Gelegenheiten, ihnen zu schaden; darum ist er auch, wie ihr seht, beinahe an das Ende des Weges gelegt, und er gewinnt dadurch um so leichter den Vorteil über uns. Denn zu welcher Zeit, denkt der Feind, werden jene Toren so sehr danach verlangen sich zu setzen, als wenn sie müde sind? Und wann würden sie müde[S. 322] sein, wenn nicht am Ende ihrer Reise? Daher kommt es, wie gesagt, daß dieser bezauberte Grund so nahe am Land der Vermählung liegt und am Ende ihres Laufes. Folglich müssen die Pilger hier doppelt wachen, daß es ihnen nicht geht wie diesen Männern.“

Unter Furcht und Zittern schritten sie weiter; doch baten sie den Führer wieder Licht zu machen. Er tat es; so konnten sie den übrigen Teil dieses finstern Weges im Schein einer Laterne zurücklegen[231].

Die Kinder fingen nun an, recht müde zu werden, und riefen zu dem, der alle Pilgrime liebhat, ihnen den Weg leichter zu machen. Bald erhob sich ein Wind, der den Nebel verscheuchte, und es ward etwas heller, so daß sie einander wieder sehen konnten und wußten, wo sie gingen. Doch waren sie noch nicht am Ende des bezauberten Grundes.

Nach einer Weile drangen Laute an ihr Ohr wie von einer feierlichernsten Stimme. Und als sie diesen Tönen näher kamen, war es ihnen, als sähen sie einen Mann auf den Knien liegen, die Hände gefaltet und die Augen nach oben gerichtet, und er schien inbrünstig mit einem zu reden, der in der Höhe war; doch konnten sie seine Worte nicht verstehen. Leise gingen sie vor; da stand jener auf und eilte nach der himmlischen Stadt zu.

Mutherz aber rief ihm nach: „Halt ein, Freund, laß uns deine Gesellschaft genießen, da du, wie es den Anschein hat, nach der himmlischen Stadt gehst!“

Der Mann blieb stehen, und sie kamen zu ihm.

„Ich kenne diesen Mann,“ sagte Redlich, als er ihn erblickte.

„Nun, wer ist’s denn?“ fragte Kämpfer.

Redlich. Er ist aus der gleichen Gegend, wo ich herkomme; sein Name ist Standhaft, und er ist fürwahr ein treuer Pilger.

Als Standhaft nun den alten Redlich sah, sprach er: „Ei, Vater Redlich, bist du’s?“

Redlich. Ja, ich bin’s.

Standhaft. Wie freue ich mich, dich hier zu treffen!

[S. 323]

Redlich. Es war auch für mich keine geringere Freude, dich auf den Knien zu sehen.

„Du hast mich auf den Knien gesehen?“ fragte Standhaft errötend.

Redlich. Ja; dieser Anblick hat mir in der Seele wohlgetan.

Standhaft. Und was hast du dabei gedacht?

Redlich. Nun, ich freute mich, einen rechtschaffenen Mann auf dem Weg zu finden in der Hoffnung, in ihm einen neuen Gefährten zu gewinnen.

Standhaft. Wenn du nur nicht zu große Hoffnungen in mich gesetzt hast!

Redlich. Deine Befürchtung bestätigt mir nur, daß es zwischen dem König der Pilger und deiner Seele richtig steht, denn Er sagt: „Wohl dem, der sich allewege fürchtet!“ (Spr. 28, 14.)

Kämpfer. Aber, Bruder, sag uns doch, aus welcher Ursache lagest du denn vorhin auf den Knien? War es um einer besondern Gnadenerweisung willen oder — —?

Standhaft. Nun, während ich so wie ihr über den bezauberten Grund schritt, kam mir die große Gefahr, in der ich schwebte, so recht zum Bewußtsein und wie viele hier — bald am Ziel ihrer Reise — noch zugrunde gingen. Auch dachte ich über die Art des Todes nach, mit welcher dieser Ort den Menschen bedroht. Sie sterben nicht an einer heftigen Krankheit; es gibt für sie kein schweres Ringen mit dem Tod. Im Schlaf gehen sie sanft hinüber, ohne etwas davon zu merken. Ja, sie geben sich sogar willig diesem Todesschlaf hin.

„Hast du auch die beiden in der Laube schlafend gesehen?“ unterbrach ihn der alte Redlich.

Standhaft. Freilich, Sorglos und Tollkühn waren’s, und sie werden wohl dort liegen, bis sie verwesen[232]. Aber laß mich in meiner Erzählung fortfahren! Während ich mich also diesen Betrachtungen hingab, stellte sich plötzlich eine ältere Person in glänzendem Aufzug vor mich hin und bot mir ihr Haus, ihren Beutel und ihre Liebe an. Nun war ich allerdings sehr müde und matt; dazu bin ich arm wie eine Kirchenmaus, und das wußte wohl die Hexe auch. Nun[S. 324] lehnte ich ihr Anerbieten zwei- oder dreimal ab; allein sie machte sich nichts aus meiner Weigerung und lächelte nur. Ich fing an, ärgerlich zu werden; aber sie kümmerte sich nicht darum, sondern machte mir neue Anträge und verhieß mir viel Ehre und Glück, wenn ich mich ihr anvertraue. „Denn,“ sprach sie, „ich bin die Beherrscherin der Welt, und in meiner Macht liegt es, die Menschen glücklich zu machen.“ Darauf fragte ich sie nach ihrem Namen; sie sagte, sie sei Madam Seifenblase. Dies schreckte mich noch mehr von ihr ab; sie aber verfolgte mich immer mehr mit ihren Lockungen. Da warf ich mich auf meine Knie, hob meine Hände auf und betete unter Tränen zu dem, der versprochen hat zu helfen[233]. Und eben, als ihr herzukamt, da ging diese Frau ihrer Wege. So fuhr ich fort im Gebet, für diese große Errettung zu danken; denn ich bin fest überzeugt, sie hatte nichts andres im Sinn, als mich in meinem Lauf zu hindern.

Redlich. Ihre Absicht war ohne Zweifel keine gute. Ich meine aber sie auch schon gesehen oder von ihr gelesen zu haben.

Standhaft. Vielleicht beides.

Redlich. Madam Seifenblase! Ist sie nicht eine große, stattliche Frau von etwas dunkler Gesichtsfarbe?

Standhaft. Ganz recht. Du hast’s getroffen. So sieht sie aus.

Redlich. Spricht sie nicht sehr glatt und schmeichelnd und lächelt einem nach jedem Satz an?

Standhaft. Es stimmt ganz genau; das ist ihre Art und Weise.

Redlich. Trägt sie nicht an ihrer Seite einen großen Geldbeutel, in dem sie mit der Hand immer wieder wühlt, als ob das ihres Herzens Wonne wäre?

Standhaft. Ja, so ist es. Und wenn sie die ganze Zeit hier gestanden, du hättest mir keine genauere Schilderung ihrer Person geben können.

Redlich. So ist der, welcher ihr Bild entworfen hat, ein Künstler gewesen, und der, welcher von ihr geschrieben, hat die Wahrheit gesagt.

Mutherz. Dieses Weib ist eine Zauberin, und eben durch die Kraft ihrer Zauberkunst ist diese Gegend bezaubert.[S. 325] Wer sein Haupt in ihren Schoß legt, der kann es ebensogut auf den Block des Scharfrichters legen; und wer seine Augen auf ihre Schönheit heftet, der wird für Gottes Feind geachtet[234]. Sie ist es, welche alle diejenigen in hohem Ansehen erhält, die Feinde der Pilger sind. Ja, sie ist es, die schon manchen Pilger mit ihrem Geld bestochen und von seinem Weg abgebracht hat. Sie ist eine gewaltige Schwätzerin. Sie wie auch ihre Töchter schleichen jederzeit dem einen oder andern Pilger nach, ihm die Herrlichkeiten dieses Lebens anpreisend und anbietend. Sie ist eine freche, schamlose Person und will mit jedermann anbinden. Die armen Pilger verlacht sie stets mit Hohn und erhebt dagegen die Reichen hoch (lies Jakobus 5, 1-6). Geht jemand darauf aus, reich zu werden, von dem redet sie wohl von Haus zu Haus. Schmausereien und Gastereien liebt sie sehr und findet sich gern da ein, wo eine voll besetzte Tafel ist. Schon an manchen Orten hat sie sich für eine Göttin ausgegeben und wird deshalb von vielen angebetet. Sie hat ihre gewissen Zeiten, wo sie mit ihren Betrügereien öffentlich auftritt, und sie behauptet, daß keine andern Schätze mit den ihren zu vergleichen seien. Sie verspricht, bei Kindern und Kindeskindern zu bleiben, sofern man sie nur lieben und hochachten wolle. Sie will Gold wie Staub aus ihrer Börse werfen an gewissen Plätzen und für gewisse Leute. Sie hat’s gern, wenn man sie aufsucht, wohl von ihr redet, und liegt gern an jemandes Busen. Sie wird nie müde, ihre Herrlichkeiten anzupreisen, und wer das beste von ihr denkt, den liebt sie am meisten. Sie verheißt Kronen und Königreiche, wo man nur ihrem Rat folgt, und doch hat sie viele an den Galgen und zehntausendmal mehr in die Hölle gebracht.

„O welche Gnade,“ rief Standhaft aus, „daß ich ihr widerstanden habe! Denn wohin würde sie mich wohl geführt haben?“

Mutherz. Wohin? Das weiß Gott allein. Soviel ist gewiß, sie würde dich in viel schädliche und törichte Lüste gezogen haben, welche die Menschen versenken ins Verderben und Verdammnis (1. Tim. 6, 9). Sie war’s, die Absalom gegen seinen Vater aufhetzte und Jerobeam[S. 326] wider seinen Herrn. Sie überredete Judas, seinen Herrn zu verkaufen, und bewog Demas, den Weg der Gottseligkeit zu verlassen. Niemand kann das Unheil aufzählen, das sie gestiftet hat. Sie richtet fortwährend Zwietracht an zwischen Obrigkeiten und Untertanen, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Nachbar und Nachbar, zwischen Mann und Frau, ja im Menschen selber, nämlich zwischen Fleisch und Geist. Darum, lieber Freund Standhaft, mache deinem Namen Ehre und stehe fest!

Unter dem Eindruck dieses Gesprächs hatte sich bei den Pilgern Freude mit Zittern gemischt, doch machten sie schließlich ihrem Herzen Luft und sangen:

Jesus, hilf siegen, Du Fürste des Lebens,
Sieh, wie die Finsternis dringet herein,
Wie sie ihr höllisches Heer nicht vergebens
Mächtig aufführet, mir schädlich zu sein!
Satan, der sinnet auf allerhand Ränke,
Wie er mich sichte, verstöre und kränke.
Jesus, hilf siegen und laß mich nicht sinken,
Wenn sich die Kräfte der Lüge aufblähn
Und mit dem Scheine der Wahrheit sich schminken;
Laß doch viel heller dann Deine Kraft sehn;
Steh mir zur Rechten, o König und Meister,
Lehre mich kämpfen und prüfen die Geister!
Jesus, hilf siegen im Wachen und Beten;
Hüter, Du schläfst ja und schlummerst nicht ein.
Laß Dein Gebet mich unendlich vertreten,
Der Du versprochen, Fürsprecher zu sein;
Wenn mich die Nacht mit Ermüdung will decken,
Wollst Du mich, Jesus, ermuntern und wecken!
Jesus, hilf siegen, wenn ich nun soll scheiden
Von dieser jammer- und leidvollen Welt;
Wenn Du mich rufest, gib, daß ich mit Freuden
Mög zu Dir fahren ins himmlische Zelt!
Laß mich, ach Jesus, recht ritterlich ringen
Und durch den Tod in das Leben eindringen!

Ich sah nun, daß die Pilgerschar mittlerweile in das Land der Vermählung gekommen war, wo die Sonne Tag und Nacht scheint. Hier ruhten sie, da sie sehr müde waren, eine Weile aus. Und weil dieses Land ein Gemeingut der Pilger ist und seine Obstgärten und Weinberge dem König des himmlischen Landes gehören, so durften sie nach[S. 327] Belieben von allem hier Gebotenen Gebrauch machen. Aber schon bald waren sie reichlich erquickt, und da die Glocken läuteten und die Posaunen fortwährend so lieblich erschallten, konnten sie nicht weiterschlafen, und auch fühlten sie sich so gestärkt, als ob sie eine ganze Nacht geruht hätten. Auf den Straßen hörten sie Stimmen, die da riefen: „Es sind einige Pilger zur Stadt gekommen!“ Und ein andrer erwiderte: „Und ebenso viele sind übers Wasser gegangen und heute zu den goldenen Toren eingezogen!“ Wieder andre riefen: „Eben jetzt ist eine ganze Schar der Glänzenden zur Stadt gekommen: daran merken wir, daß noch mehr Pilger unterwegs sind, denn jene sind gekommen, um ihnen zu dienen und sie nach ihrem Kummer zu trösten!“

Die Pilger erhoben sich nun und wandelten unter den Klängen dieser Musik auf und ab, während himmlische Gesichte ihre Augen entzückten. In diesem Land gab es nichts, das sie in irgendeiner Weise unangenehm berührt hätte; nur als sie das Wasser des Stromes, den sie überschreiten sollten, kosteten, schien dieses ihrem Gaumen ein wenig bitter zu sein; aber es ward süß nach dem Genuß.

Es wurde hier auch ein Namensverzeichnis aller Pilger geführt, die vorzeiten da durchkamen, nebst Beschreibung aller ihrer denkwürdigen Taten, die sie vollbracht. Weiter erfuhren unsre Pilger von dem verschiedenen Wasserstand des Stromes, daß nämlich beim Übergang der einen Flut, bei andern Ebbe wäre; etliche seien fast trockenen Fußes hinübergekommen, während bei andern der Fluß fast seine Ufer überflutet habe.

An diesem Ort pflegten die Kinder der Stadt in des Königs Gärten zu gehen und Blumensträuße für die Pilger zu pflücken, die sie ihnen zum Zeichen ihrer Liebe überreichten. Hier wuchsen auch Kampfer, Lavendel, Safran, Kalmus, Zimt, alle Arten von Weihrauchbäumen, Myrrhen und Aloe und andre feine Gewürze. Mit diesen wurden die Kammern der Pilger während ihres Aufenthalts durchräuchert und ihre Leiber gesalbt, um sie auf den Übergang über den Strom vorzubereiten, wenn die ihnen gesetzte Stunde gekommen wäre.

Nachdem sie nun eine Zeitlang hier gewohnt und auf die gute Stunde gewartet hatten, da verbreitete sich eines Tages das Gerücht im ganzen Ort, es wäre aus der himmlischen[S. 328] Stadt eine Botschaft von großer Wichtigkeit angekommen, und zwar an Christin, die Frau des Pilgers Christ. Es ward nach ihr geforscht, und als der Bote das Haus gefunden, übergab er ihr einen Brief mit folgendem Inhalt: „Heil dir, du fromme Frau! Ich bringe dir die Nachricht, daß der Herr dich ruft, und Er erwartet dich binnen zehn Tagen in Kleidern der Unsterblichkeit vor Seinem Angesicht.“

Als der Bote den Brief vorgelesen hatte, da gab er ihr, um sich als echter Gesandter auszuweisen, ein gewisses Zeichen und ermahnte sie, sich eilends aufzumachen. Dieses Zeichen war ein mit Liebe geschärfter Pfeil, der ganz sanft in ihr Herz drang und allmählich so stark bei ihr wirkte, daß sie zu der bestimmten Zeit hinübergehen mußte.

Wie nun Christin sah, daß ihre Zeit gekommen war und daß von dieser Gesellschaft sie als Erste über den Strom gehen würde, da rief sie Herrn Mutherz, ihren Führer, zu sich und teilte ihm mit, wie die Sachen ständen. Er drückte ihr seine herzliche Freude darüber aus und fügte bei, er würde sich glücklich schätzen, wäre diese Botschaft an ihn ergangen. Sie bat ihn ferner um seinen Rat, wie alles für ihre Reise zu ordnen sei. „So und so muß es sein,“ sprach er, „und wir, die wir zurückbleiben, wollen dich bis an das Ufer des Stromes begleiten.“

Hierauf rief sie ihre Kinder und segnete sie. Sie sagte ihnen, daß sie zu ihrem Trost das Zeichen auf ihren Stirnen gesehen und wie sie sich freue, mit ihnen dort zusammenzutreffen und daß sie ihre Kleider weiß erhalten sollten. Das wenige, das sie besaß, vermachte sie den Armen und gebot ihren Söhnen und Töchtern, bereit zu sein, wenn der Bote auch für sie käme.

Nun ließ sie Kämpfer-für-die-Wahrheit zu sich kommen und sagte zu ihm: „Herr, du hast dich allerorten treu und standhaft erwiesen. Sei getreu bis an den Tod, so wird dir mein König die Krone des Lebens geben (Offenb. 2, 10). Ich möchte dich auch bitten, ein Auge auf meine Kinder zu haben, und wenn du sie zu irgendeiner Zeit schwach siehst, so sprich ihnen Mut zu. Was meine Töchter betrifft, meiner Söhne Frauen, so sind sie treu gewesen, und die Erfüllung der Verheißung, die ihnen gegeben ist, wartet ihrer am Ende.“

„Ich komme, Herr, bei Dir zu sein und Dich zu preisen!“ (S. 330.)

[S. 330]

Standhaft gab sie einen Ring.

Den alten Redlich redete sie also an: „Siehe, ein rechter Israeliter, in welchem kein Falsch ist!“ (Joh. 1, 47.) Und er antwortete ihr: „Ich wünsche dir einen heitern Tag, wenn du nach dem Berg Zion ausziehst, und werde mich freuen, wenn du trockenen Fußes über den Strom kommst.“

„Ob naß oder trocken,“ erwiderte Christin, „ich sehne mich, hinüberzugehen. Mag das Wetter dann sein, wie es will, wenn ich dorthin komme, werde ich Zeit genug haben, mich auszuruhen und zu trocknen.“

Nach dem kam Hinkfuß herein, sie zu sehen. Sie sprach zu ihm: „Deine bisherige Reise ist sehr beschwerlich gewesen, aber dadurch wird auch deine Ruhe um so süßer sein. Wach und sei bereit, denn der Bote kann zu einer Stunde kommen, da du es nicht meinst.“

Nach ihm trat Verzagt und seine Tochter Furchterfüllt ein. Sie sprach zu ihnen: „Erinnert euch stets mit Dankbarkeit eurer Errettung aus der Hand des Riesen Verzweiflung und aus der Zweifelsburg. Dieser Gnade allein habt ihr es zuzuschreiben, daß ihr sicher bis hierher gelangt seid. So wachet denn und laßt die Furcht fahren; seid nüchtern und haltet fest an der Hoffnung bis ans Ende!“

Zu Kleinmütig sagte Christin: „Du bist aus dem Rachen des Riesen Tugendfeind erlöst worden, auf daß du wandeln mögest in dem Licht des Lebens und den König sehest mit Freuden. Ich rate dir nun, tue Buße wegen deiner Furchtsamkeit und deinem Zweifel an Seiner Güte, bevor Er zu dir sendet, auf daß du nicht, wenn Er kommt, um deswillen mit Beschämung vor Ihm stehen müssest.“

Der Tag kam heran, an dem Christin von hinnen ziehen sollte. Die Straße war voll von Leuten, welche sie wollten abreisen sehen. Aber siehe, das Ufer jenseits des Stromes war voll von Rossen und Wagen, welche von oben herab gekommen waren, um sie zu den Toren der Stadt zu geleiten. Sie trat hervor und ging hinein in den Fluß und winkte den am Ufer Stehenden ein Lebewohl zu. Die letzten Worte, die man von ihr hören konnte, waren: „Ich komme, Herr, bei Dir zu sein und Dich zu preisen!“ Ihre Kinder und Freunde wandten wieder um, denn die, welche auf Christin gewartet, hatten sie schon ihren Augen entrückt.[S. 331] Sie aber zog mit ihnen und ging zu dem Tor ein unter all den Freudenbezeugungen, die ihrem Gatten vor ihr zuteil geworden waren. Bei ihrem Abschied weinten ihre Kinder; Mutherz aber und Kämpfer spielten vor Freuden auf wohlklingenden Zimbeln und Harfen. Ein jeglicher begab sich hierauf an seinen Ort.

Nach einiger Zeit kam abermals ein Eilbote zu der Stadt, und sein Auftrag galt Hinkfuß. Nachdem er ihn gefunden, sprach er: „Ich komme zu dir im Namen dessen, den du geliebt hast, und dem du nachgefolgt bist, wenn auch auf Krücken. Mein Auftrag ist, dir zu sagen, daß Er dich erwartet an seinem Tisch, mit Ihm am Tage nach Ostern das Abendmahl zu halten in Seinem Reich. Darum bereite dich zur Reise!“ Er gab ihm auch ein Zeichen, daß er der rechte Bote sei, und sprach: „Ich habe den silbernen Strick und die goldene Schale zerbrochen[235]“ (Pred. 12, 6).

Hierauf rief Hinkfuß seine Mitpilger zu sich und sagte zu ihnen: „Es ist nach mir gesandt, und Gott wird euch sicherlich auch heimholen.“ Er bat nun Kämpfer, seinen letzten Willen aufzunehmen. Und da er außer seinen Krücken und guten Wünschen nichts zu vermachen hatte, sprach er: „Diese Krücken hinterlasse ich meinem Sohn, der in meine Fußstapfen treten soll, mit vielen warmen Wünschen, daß er sich besser als ich bewähren möge.“ Er dankte noch Mutherz für sein Geleit und alle seine Freundlichkeit und schickte sich zur Reise an. Als er an den Strom kam, rief er aus: „Nun werde ich dieser Krücken nicht mehr bedürfen, denn da drüben sind Wagen und Rosse, die auf mich warten.“ Die letzten vernehmbaren Worte waren diese: „Willkommen, o Leben!“ So schied er dahin.

Nach diesem erhielt Kleinmütig Nachricht, daß des Eilboten Horn vor seiner Tür erschollen sei. Der Bote trat ein mit dem Bericht: „Ich bin gekommen, dir anzuzeigen,[S. 332] daß der Meister deiner begehrt und daß du in kurzer Frist Sein Angesicht im Lichte schauen sollst. Und dies nimm zum Zeichen, daß meine Sendung wahr ist: „Finster werden, die durch die Fenster sehen“ (Pred. 12, 3). Alsbald rief Herr Kleinmütig seine Freunde zusammen, erzählte ihnen von der erhaltenen Botschaft und fuhr fort: „Dieweil ich gar nichts habe, das ich jemand vermachen könnte, wozu sollte ich ein Testament machen? Was meinen Kleinmut betrifft, so will ich den zurücklassen, denn dort, wohin ich gehe, ist kein Platz für ihn; auch ist er nicht wert, dem ärmsten Pilger verliehen zu werden. Darum bitte ich dich, Kämpfer, ihn nach meinem Abscheiden in einem Winkel zu verscharren.“ Als der Tag seiner Abreise kam, begab er sich wie die andern an den Fluß. Seine letzten Worte waren: „Harre aus im Glauben und in der Geduld!“ Und er kam hinüber auf das jenseitige Ufer.

Nach Verlauf etlicher Wochen meldete sich der Bote bei Herrn Verzagt mit der Botschaft: „O du zitternder Mann, hiermit sollst du erinnert werden, dich fertig zu machen, auf den nächsten Sonntag bei dem König zu sein, zu jauchzen vor Freude über der Erlösung aus allen deinen Zweifeln. Und zum Beweis der Echtheit meiner Botschaft höre dies: Die Heuschrecke soll beladen werden“ (Pred. 12, 5).

Als seine Tochter Furchterfüllt den Sachverhalt erfuhr, wünschte sie mit ihrem Vater zu ziehen. Verzagt sprach zu seinen Freunden: „Ihr wißt, wie es mit mir und meiner Tochter gewesen und wie beschwerlich wir mit unserm Zustand allen Gefährten gefallen sind. Mein und meiner Tochter Wille ist, daß unsre Verzagtheit und knechtische Furcht nach unserm Abscheiden von keinem Menschen mehr mögen besessen werden. Aber ich weiß wohl, daß sie sich nach meinem Tod von selbst wieder andern anbieten werden. Ach es sind, um es euch offen zu gestehen, Gespenster, die wir am Anfang unsrer Pilgerreise aufnahmen und die wir hernach nicht mehr loswerden konnten. Und sie werden auch ferner umherwandern und bei Pilgern Aufnahme suchen. Aber wir bitten euch, schließt ja die Türen vor ihnen zu!“

Zur bestimmten Stunde begaben sie sich an den Strom. Die letzten Worte von Verzagt waren: „Fahr hin, Nacht! Willkommen Tag!“ Seine Tochter ging singend durch den Fluß; aber keiner konnte verstehen, was sie sang.

[S. 333]

Bald darauf kam ein Bote in die Stadt, der nach Herrn Redlich fragte. Er trat in sein Haus und überbrachte ihm folgende Nachricht: „Dir wird geboten, dich über acht Tage fertig zu halten, vor deinem Herrn in seines Vaters Haus zu erscheinen. Und mein Zeichen ist dieses: ‚Gedämpft sind alle Töchter des Gesangs‘ (Pred. 12, 4).“ Da berief Redlich seine Freunde zu sich und sprach zu ihnen: „Ich sterbe; ich werde aber kein Testament machen. Was meine Redlichkeit betrifft, so soll sie mit mir gehen; wer nach mir kommt, möge sich dies gesagt sein lassen.“

Am Tage seines Scheidens trat der Fluß an manchen Stellen über seine Ufer. Redlich hatte aber noch bei seinen Lebzeiten einen namens Gutgewissen bestellt, ihn dort zu treffen. Dieser stellte sich nun ein, reichte ihm die Hand und half ihm hinüber. Seine letzten Worte waren: „Die Gnade herrscht!“ So verließ er die Welt.

Nach diesem ward es ruchbar, daß Kämpfer-für-die-Wahrheit gleichfalls seine Aufforderung zur Abreise empfangen habe, und zwar unter dem Merkmal: „Der Eimer zerfällt an der Quelle“ (Pred. 12, 6). Von seinen Freunden, die er um sich versammelte, verabschiedete er sich also: „Ich gehe zu meinem Vater, und wiewohl ich unter großen Beschwerden hierher gelangt bin, so gereut mich doch jetzt die Mühe nicht, die ich darum gehabt habe. Mein Schwert soll der erben, der mir in meiner Pilgerschaft nachfolgen wird, und meinen Mut und meine Gewandtheit verleihe ich dem, der sie erlangen kann. Meine Striemen und Narben nehme ich mit mir zum Zeugnis, daß ich den Kampf dessen gekämpft habe, der nun mein Vergelter sein wird.“ Am Tag der Abreise begleiteten ihn viele zum Ufer. Mit den Worten: „Tod, wo ist dein Stachel?“ stieg er in den Fluß. Und als er tiefer hinabsank, rief er: „Hölle, wo ist dein Sieg?“ (1. Kor. 15, 55.) So kam er hinüber, und mit Posaunenschall ward er empfangen.

Danach kam eine Aufforderung an Standhaft. Der Eilbote legte sie ihm offen in seine Hände. Ihr Inhalt war: Er solle sich zum Abschied aus diesem Leben bereitmachen, denn sein Meister wolle nicht, daß er länger fern von Ihm bleibe. Standhaft hatte anfangs einige Bedenken. Doch der Bote sprach: „Du brauchst an der Wahrheit meiner Botschaft nicht zu zweifeln, hier ist das Zeichen: ‚Das Rad [S. 334]wird zerbrochen am Born‘ (Pred. 12, 6).“ Er berief hierauf den Führer Mutherz zu sich und sprach zu ihm: „Lieber Herr, wiewohl ich auf meiner Wallfahrt deine Gesellschaft nur kurze Zeit genießen durfte, so bist du mir doch stets sehr förderlich gewesen. Ich weiß, du wirst wieder zu deinem Herrn zurückkehren, um noch andre Pilger hierher zu geleiten. Ich bitte dich, bei deiner Rückkunft zu meiner Frau und meinen fünf Kindern zu schicken, die ich beim Antritt meiner Pilgerreise zurückließ, und ihnen ausführlichen Bericht über mich zu erstatten. Sage ihnen von meiner glücklichen Ankunft an diesem Ort und von meinem seligen Abscheiden. Erzähle ihnen auch von Christ und Christin, und wie sie mit ihren Kindern ihrem Mann nachgefolgt ist, auch von ihrem herrlichen Ende und ihrem jetzigen Aufenthaltsort. Außer meinen Gebeten und Tränen habe ich nichts, das ich meiner Familie schicken könnte. Es ist wohl genug; wenn du sie damit bekannt machst, könnte sie vielleicht dadurch gewonnen werden.“

Also ordnete Standhaft alle seine Angelegenheiten, und als sein Tag kam, begab auch er sich zum Fluß. Dieser hatte zu der Zeit nur wenig Wasser und einen ruhigen Lauf, weshalb Standhaft in der Mitte des Stromes stillstand und sich mit folgenden Worten an seine Freunde wandte:

„Dieser Strom ist vielen ein Schrecken gewesen, ja, ein bloßer Gedanke daran versetzte mich früher schon in Angst. Jetzt aber ist es in meinem Herzen ganz still, ich stehe sicher. Meine Füße ruhen auf demselben Grund, worauf die Füße der Priester standen, welche die Bundeslade trugen, während Israel über den Jordan ging (Jos. 3, 17). Wohl ist dies Wasser dem Gaumen bitter und dem Magen kalt, aber der Gedanke an die herrliche Zukunft und an das himmlische Geleit, welches jenseits auf mich wartet, glüht wie ein Feuer in meinem Herzen. Ich sehe mich nun am Ziel meiner Reise, die Tage der Mühe und Arbeit sind zu Ende. Ich darf nun bald den sehen, dessen Haupt mit Dornen gekrönt war und dessen Angesicht um meinetwillen verspeit ward. Bisher habe ich im Glauben gelebt; nun aber ziehe ich dahin, wo ich im Schauen leben und bei dem sein werde, dessen Nähe meine Wonne ist. Ich habe von nichts lieber gehört als von meinem Herrn, und wo ich nur Seine Fußstapfen auf Erden erblickte, da habe auch ich meine Füße hinzusetzen begehrt.[S. 335] Sein Name ist mir gewesen wie eine ausgeschüttete Salbe (Hohesl. 1, 3), ja lieblicher als aller Weihrauchduft. Nichts klang in meinen Ohren süßer als Seine Stimme; nach Seinem Angesicht habe ich mich stärker gesehnt als nach dem Licht der Sonne. Seine Worte waren meine Speise und Stärkung in der Schwachheit. Er hat mich erhalten und meine Übertretungen fern von mir sein lassen, ja, meine Schritte sind fest geworden auf Seinem Weg.“

Als er noch so redete, wurden seine Gesichtszüge verklärt, seine Starken krümmten sich in ihm (Pred. 12, 3). „Nimm mich auf, denn ich komme zu Dir!“ waren seine letzten Worte, und man sah ihn nicht mehr.

Aber unaussprechlich herrlich war es mitanzusehen, wie die Luft voll war von Rossen und Wagen, von Posaunenbläsern und Flötenspielern, von Sängern und Geigern, um die Pilger zu bewillkommnen, während sie hinaufzogen und einer dem andern in das herrliche Tor der Stadt folgte.

Was der Christin Kinder betrifft, nämlich ihre vier Söhne mit ihren Frauen und Kindern, so konnte ich an dem Ort nicht so lange verweilen, um auch sie noch hinübergehen zu sehen. Doch ist mir jüngst zu Ohren gekommen, daß sie noch am Leben und der ganzen dortigen Gemeinde zum Segen sind.

Sollte es mein Los sein, jene Gegend wieder einmal zu durchziehen, so kann ich vielleicht denen, die es begehren, dann weitere Auskunft geben. Inzwischen sage ich meinen Lesern Lebewohl.

Fußnoten:

[228] Tut Fleiß, eure Berufung und Erwählung festzumachen; denn wo ihr solches tut, werdet ihr nicht straucheln (2. Petr. 1, 10); lasset uns ablegen die Sünde, so uns immer anklebt und träge macht (Hebr. 12, 1).

[229] Das Feuerzeug ist das Gebet, z. B.: Herr, weise mir Deinen Weg und leite mich auf richtiger Bahn (Ps. 27, 11).

[230] Die Landkarte ist das Wort Gottes; Psalm 119, 6: Wenn ich schaue allein auf Deine Gebote, so werde ich nicht zuschanden.

[231] Wir haben desto fester das prophetische Wort, und ihr tut wohl, daß ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint in einem dunklen Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen (2. Petr. 1, 19).

[232] Der Gottlosen Name wird verwesen (Spr. 10, 7).

[233] Rufe Mich an in der Not, so will Ich dich erretten, so sollst du Mich preisen (Ps. 50, 15).

[234] Ihr Ehebrecher und Ehebrecherinnen, wisset ihr nicht, daß der Welt Freundschaft Gottes Feindschaft ist. Wer der Welt Freund sein will, der wird Gottes Feind sein (Jak. 4, 4).

[235] Die hier und auf den folgenden Seiten angeführten Stellen aus Prediger 12, 1-7 sind eine bilderreiche Schilderung des Alters. Zur Erklärung diene folgendes: „Der zerrissene silberne Strick“ bedeutet das Schwinden des Rückenmarks, wodurch die ganze Leibestätigkeit lahmgelegt wird; „die zerbrochene goldene Schale“ ist das stillstehende Herz; „die finster durch die Fenster sehen“ — das abnehmende Augenlicht; „die beladene Heuschrecke“ — die vom Alter beschwerte Hüfte; „die sich duckenden Töchter des Gesangs“ — die Stimme wird leise wie das Piepen eines Vögleins; „der zerfallende Eimer an der Quelle“ — man ringt, um Luft zu schöpfen; „das am Born zerbrochene Rad“ — die den Dienst versagenden Verdauungsorgane; „die sich krümmenden Starken“ sind die wackeligen Beine.

Schlussvignette, Kapitel II, 10