The Project Gutenberg eBook of Wera Njedin: Erzählungen und Skizzen

This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook.

Title: Wera Njedin: Erzählungen und Skizzen

Author: Annette Kolb

Release date: January 14, 2023 [eBook #69797]

Language: German

Original publication: Germany: Propyläen, 1925

Credits: Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK WERA NJEDIN: ERZÄHLUNGEN UND SKIZZEN ***

DAS KLEINE PROPYLÄEN-BUCH

Annette Kolb

Wera Njedin

Erzählungen und Skizzen

Im Propyläen-Verlag / Berlin

Im Ullsteinhaus, Berlin

Inhalt

Wera Njedin 7
Varramista 15
Torso 39
Geraldine 77
Der Geiz 93
Schiffahrt und Eisenbahn 101
Donaueschingen 115
Marseille 123
Venedig 1922 135
Abschied von Venedig 1924 151
Molières Tod 161

Wera Njedin

Für Germaine Stockley

Erst später wurde uns bewußt, was für lustige Leute wir doch eigentlich gewesen sind, als wir zu Hause noch alle beieinander waren. Damals ahnten wir es ja nicht. Wir hielten uns für tragische Figuren, die nur aus Trotz, und um andere hinters Licht zu führen, eine so vergnügte Maske zur Schau trugen, sahen wir doch sogar darin eine heroische Geste, daß wir als halb Abgebrannte immerzu offenes Haus hielten. In Wirklichkeit geschah dies aber nur, weil es uns Spaß machte. Da wir keinem bestimmten Kreis angehörten, hatten unsere Empfänge immerhin die Eigentümlichkeit, daß sie Leute zusammenführten, die sich nicht zu begegnen pflegten, jenem Milliardär Gelegenheit boten, sich, einmal und nicht wieder, mit jenem armen Teufel voraussetzungslos zu unterhalten, und jenem ehrgeizigen und hoffnungslosen Streber, einmal und nicht wieder, mit jenem Staatsmann ein paar Worte zu wechseln. Jedenfalls war es das Unkonventionelle mit all seinen unberechenbaren Möglichkeiten, das uns in Spannung hielt, und es dünkte uns das Monopol und die Romantik unseres Salons, daß er gewissermaßen eine Freistatt war, wo sich Fäden anspannen und Dinge einleiten ließen, deren Tragweite wir maßlos übertrieben. Und so bildete sich eine Protegierader in uns aus, die, anfänglich Spielerei, dann zur Grille wurde und endlich in Manie ausartete. Jedes hatte seine besonderen Schützlinge, zu deren Förderung eine Soiree nach der anderen veranstaltet wurde. Hatte alles geklappt und durften wir still triumphierend wahrnehmen, daß sich das Spiel unserer Intrigen wunschgemäß entrollte, so saßen wir, nachdem unsere Gäste uns verlassen hatten, noch lange über unser Tun wie über dem siebenten Schöpfungstage auf, dramatisierten unsere Absichtslosigkeit und fanden alles gut und höchst merkwürdig, besonders uns selbst.

Nun war es ja schon vorgekommen, daß eine ältere Freundin des Hauses sich am nächsten Morgen wieder hergetrieben fühlte, nicht etwa, wie wir bei ihrem Erscheinen erwarteten, um auf unser gelungenes Fest zurückzukommen, sondern im Gegenteil ihre wohlgemeinten Befürchtungen betreffs unserer so wenig gesicherten Zukunft auszusprechen und von dem Ernst des Lebens sowie unserem Leichtsinn zu reden, der uns die kostbare, enteilende Zeit so vergeuden ließ. Solche Kuckucksrufe wurden ungnädig aufgenommen. Aber im stillen erschraken wir doch sehr vor allem, was uns an die Wirklichkeit erinnerte. Zog sich die eine auf mehrere Tage in ihr Atelier zurück, nahm die andere Orgelstunden, so fing ich infolge innerer Panik sehr früh zu schreiben an. Ich verfaßte sehr schöne Artikel über den Tiefsinn in der Malerei, den Unwert der Renaissance und den Vorteil der Fremdwörter. Unter dem Titel: „Rose la France et Bière de Munich“ tadelte ich den Frankfurter Frieden. Die Redakteure, über die vielen Briefmarken betroffen, mit welchen ich ihre Aufmerksamkeit erzwingen wollte, sandten mir alles ziemlich umgehend zurück. Inzwischen war auch ein Stilleben fertig geworden, und man wußte allerseits nicht mehr recht, was tun. Wir gaben also wieder eine Soiree.

Damals hielt sich eine strahlend junge und strahlend schöne Amerikanerin in München auf. Wenn auch nicht für ewig, so verliebte sich doch jung und alt auf den ersten Blick in sie, und wir pflanzten sie, stets auf das Dekorative bedacht, nicht anders als einen Blumenbusch, mit Vorliebe bei uns auf. Sie war dabei ein harmloses und liebenswürdiges Mädchen, aber von einem geradezu närrischen Snobismus. Obwohl stets ihre Verwandtschaft mit der Prinzessin Pocahontas betonend, imponierte ihr schon jede Baronin. Meistens erschien sie in Begleitung eines nichtssagenden, durch seine Goldplomben wie durch seine ewigen rosa Hemden ermüdenden Bruders. Eines Abends aber – es war gerade vor ihrer Abreise – brachte sie auch ihren Vater mit.

Entschuldige, lieber Leser, wenn ich diesen ehrenwerten Mann gleich wieder stehen lasse, und gestatte, daß ich dir Fräulein Wera Njedin vorstelle.

Ich hatte sie zuerst entdeckt, und sie stand unter meinem ganz speziellen Schutz. Trotz ihrer großen Sprachkenntnisse machte sie den Eindruck einer ausgesprochenen, wenn auch sehr sympathischen Wilden. Dünn wie ein Faden, schwarz wie die Nacht und kreideweiß, war sie von einer intensiven, ja entzückenden Häßlichkeit. Auch sonst machten sie mir zwei Dinge besonders wert: ihre Kunst im Kartenschlagen und ihre wundervolle Stimme. Keine sehr bildbare, leider, und man konnte weniger ihr Talent als ihren Gesang, weniger ihren Gesang als ihre Stimme, und weniger ihre Stimme als ein paar unvergleichliche Töne in der Mittellage rühmen. Mit sanfter, unwiderstehlicher Glut und wie der Leier des Orpheus entblüht, drangen sie ans Herz. Man dachte sich dies seltsame Mädchen inmitten weiter Steppen vor einem Zelt, einem Wachtfeuer, bunte, malerische Volksstämme im Banne haltend, denn ihr Sang hatte dieselbe bühnenfremde Wildheit wie sie selbst. Ihre Laufbahn schien höchst zweifelhaft, ob auch alles darauf ankam. Sie führte ihr sehr reduziertes Erbteil sozusagen in der Tasche mit. Wenn das zu Ende war, dann stand für dies romantische Geschöpf die Welt versperrt. Wera Njedin schien sie zu kennen. Sie machte sich wenig Illusionen. Aber wenn sie bei guter Laune war, konnte sie die Gespenster ihrer Zukunft noch schwarzer und grotesker ausmalen, als sie zu sein drohten, und die lustigsten Fratzen dazu schneiden. Es läßt sich denken, wie sehr eine so gefährdete Existenz unser Interesse erregte.

Kehren wir jedoch zum Vater des „Blumenbusches“ zurück, der allein und gelangweilt in einer Ecke steht. Aus bescheidensten Anfängen – die Verwandtschaft der Geschwister mit der Prinzessin Pocahontas bestand wohl nur mütterlicherseits – hatte er sich zu einer Art Triumvir seiner Vaterstadt emporgeschwungen und ihr schon ein Spital, einen Park und ein Museum gestiftet. Und nun vernahm ich, daß er gerade im Begriffe stand, ihr über Nacht auch ein Opernhaus zu schenken. Dazu war er auf einige Tage nach Europa hinübergefahren.

Ein im Grase kauernder, von Spähern umringter Hase konnte die Ohren nicht bebender spitzen, als ich es da tat. Die Fahne einer neuen Intrige war blitzschnell in mir aufgezogen, das Seil meiner Pläne schon verankert. Wera sollte in einer Luxuskabine nach dem wilden Westen hinüberschaukeln und an der Oper dieses Stadtvaters eine wilde Gage beziehen. Die Schwierigkeit des Unternehmens kannte ich wohl. Denn leider war der biedere Mann von dem äußeren Glanz seiner Kinder so geblendet, und vollends in den Kunstsinn seines rosa und goldenen Sohnes setzte er ein blindes Vertrauen. Dieser hatte sich bereits von einem blutigen Dilettanten, der aber Reichsrat der Krone Bayerns war, beraten lassen. Statt uns zu fragen! Die ganz unbekannte Wera Njedin dagegen wurde von ihm gründlich übersehen. Ohne Anhang und Empfehlung war sie sehr buchstäblich von Rußland herübergeschneit. Auch nicht der kleinste Attaché diente ihr zur Folie. Wie ließe sich da in aller Eile ihr Engagement erreichen? Dennoch mußte es unverzüglich erwirkt werden.

Da kam uns eine geniale Idee. Ihr Notenstand lag am Flügel auf. Geschickt wurde er hinausgeschmuggelt, draußen mit Widmungen versehen und unter einem anderen Schutzdeckel wieder hereintransportiert. Nach einer Weile wurde Wera mit verteilten Rollen von uns interpelliert. Die eine hatte sie zum Singen aufzufordern, die andere in ihren Heften zu kramen und erstaunt auszurufen: „Da hat sich ja das halbe Winterpalais eingetragen! Hommage admiratif du Prince de Boutonoff“ las sie laut und wie um Wera aufzuziehen vor. Auf einem zerrissenen Notenblatt hatte eine Duchesse Alice de Montreuil die Worte: „Pour la voix d’or de ma chère Wera“ eingetragen, und mein spezielles Werk war die auf Tschaikowskys „Sehnsucht“ in zackigen Riesenlettern vor Vornehmheit förmlich baumelnde Inschrift: Ne m’oubliez pas! Anastasie.

Schon trieb der Blumenbusch heran. Weniger naiv maskierte der Bruder seine Neugier mit einem weiten Katzenbogen, bevor er sich näherte. Der Moment zum Probesingen aber war gekommen, ich öffnete den Flügel und bat um Schweigen. Die Gewalt, mit welcher wir unsere Lachkrämpfe auf später unterdrückten, verlieh uns teils todernste, teils bezechte Mienen. Wera, vielfach auf den Fuß getreten, ahnte, wieviel im Spiele war. Sie sang die Arie der Fides mit schmerzerfüllten Akzenten, welche das unverdorbene Herz des alten Selfmade-Amerikaners rührten. Mit ausgestreckten Händen eilte er auf sie zu. Es war erreicht und der Widerstand der Geschwister Pocahontas war gebrochen. Und Wera war engagiert. Ach ja, es waren heitere Tage!

Varramista

Für Zeb-On-Nissa

I

Durch die Abgetrenntheit der letzten Jahre sind die Völker in allen ihren Eigenheiten charakteristischer sie selbst geworden, als sie es vielleicht je im Laufe ihrer ganzen Geschichte gewesen sind. Alle ihre Äußerungen tragen ein so lokales Gepräge, als ob keine Eisenbahnen wären, und sie sind so stark mit sich selbst beschäftigt, daß ihnen, was sie vorstellen, in demselben Maße entgeht, wie den Außenstehenden, was sie sind. Man muß heute die Nationen aufsuchen, um sie zu begreifen. Der Faszismus spricht italienisch, nur italienisch. Mit dem Auslande, in dem er so viel von sich reden macht, befaßt er sich herzlich wenig. Die faszistischen Zeitungen interessieren sich ausschließlich für die Patria. Kinderkreuzzügler nannte ein florentinischer Witzbold die Faszisten. Wem aber fiele es im Ausland ein, sie so zu benennen? So oder so ist die Bezeichnung vorschnell gewesen; aber mit den Leuten um Hitler oder Leon Daudet sind sie fürwahr nicht zu vergleichen. Die Camiccie nere sind vielmehr wie ein helles Mantelfutter, das nichts von seiner ominösen Außenseite weiß. Ja, die Völker sind heute charakteristischer sie selbst, und was die Italiener angeht, so stieg der Schmutz ihrer Dörfer noch nie so hoch. Dabei hat die Reinlichkeit der italienischen Villa und der Palazzos eine Blume und Poesie, zu der gehalten die Sauberkeit der sauberen Länder gar nüchtern und langweilig erscheint. Aber zwischen den Herrenhäusern und den Behausungen des Volkes ist kein Übergang. Wäre ich Faszist und hätte mit einer Handvoll Leute den großen Kehraus vorgenommen, und wäre ich als neuer Besen in meinem Lande aufgetreten, ich wüßte, was ihm noch obläge: mit eisernem Griffe in alle Straßen und Plätze und Straßenecken hineinzufahren, deren Anblick, deren Befund meinem gesteigerten Nationalgefühl (wennschon) allzupeinlich wäre.

Allem Gottesgnadentum und allen Servilismen zum Trotz waren zwar nicht der Verfassung, wohl aber der Anlage nach diejenigen Länder im vorhinein, bevor es eine Demokratie gab, demokratisch, in welchen das Dorf und die Kleinstadt ihre Blüte erfuhren und der „kleine Mann“ in einem würdigen statt ungefähren Rahmen seine Tage verlebte. Aber eine Hochkonjunktur herrlicher Paläste und herrlicher Dörfer zugleich ist noch nicht dagewesen, und die einen gingen noch jederzeit auf Kosten der anderen. So die, wie in einer Spieloper blitzblanken Ortschaften der heutigen Schweiz, des gestrigen Zentraleuropas, der skandinavischen Länder: als müsse unverweilt eine Musik von Boieldieu einsetzen, oder Zerbinetta, zum Tanze geschmückt, warte nur auf ein Zeichen, um hervorzutreten. Und doch, wie ausdrucksvoll, wie interessant ist gerade der Kopf der Contadina, ihr verlorenes Profil unter dem kleidsamen Schleier, der übrigens das Glanzstück ihres sonntäglichen Staates geworden ist. Sollte er den Faszisten nicht einen Wink bedeuten, zu einer Hebung einer progressiven Aufklärung des niederen Standes zu schreiten? Wie brach liegt da ein weites Feld vor ihnen, denn von ihnen, den Faszisten, reden wir! Der große Anhang, den sie im eigenen Lande fanden, hat seinen besonderen Grund: Die Bewohner der Dreckshäuser, deren Fenster wie schwarze Löcher den im Auto Vorbeisurrenden anstarren, wissen es seit vielen Jahrhunderten nicht anders, als daß es Paläste gibt in ihrem Glanz – und ihre eigene Unterkunft mit all dem Unrat, der sie umgibt. – Sie wissen es nicht anders. Der Gedanke an eine Verschönerung der Lebenshaltung, des Rahmens, in welchem sie sich abspielt, liegt noch weitab. Sie wissen es nicht anders. Hier liegt der springende Punkt. Der Italiener aus dem Volke ist höflich, ohne servil zu sein, er wäre sehr bildungsfähig. Vorläufig ist er leicht erregbar und wild. Der Tiefstand seiner Kaste beruht nicht auf Unterdrückung, sondern auf Vernachlässigung (wie überall hat sich der Bauer schwer bereichert). Nichts ist von so grausamer Trauer wie die italienische Ebene, als wüßte auch die Natur von diesen trostlosen Dörfern. Die Grausamkeit nicht nur der Natur, auch des Lebens selbst brütet über ihre herbstlichen Felder hin. Welkes Weinlaub schlingt sich da von Stock zu Stock, Kränzen gleich über eine Erde hingeworfen, die nur ein Friedhof ist. Wie lachend ist Zentraleuropa, verglichen mit der Straße, die nach Pisa führt! Der Bolschewismus aber in dem sozial so unbalancierten Italien hätte Europa den Rest gegeben. Eine solche Verfinsterung und Vergiftung seines Blutes so nah an seinem Herzen hätte es nicht ertragen.

Fahrten durch italienische Dörfer oder den piccolo borgo boten jedesmal dasselbe Bild: in den Hauptstraßen, und war es noch so spät, stand eine aufgeregte und heftig gestikulierende Menge, von Fahnen umweht (ich sah drei Wochen hindurch die Ortschaften nie anders als beflaggt, alle Fenster bewimpelt). Der Grad der Erregbarkeit dieses Volkes war unschwer zu ermessen: es in die Hand nehmen und auf die Schlösser losmarschieren lassen, um den Besitzern Ovationen zu bereiten, war ebenso leicht, wie dieselben Scharen denselben Weg, jedoch als ebenso viele Brandstifter anzuführen und den Conte oder Marchese niederzuknallen. Als ich den beängstigend langen Zug die Zypressenallee heraufziehen und im Scheine der Fackeln den Riesenperystil und die Boskette belagern sah, glaubte ich wieder alle zu erkennen, die so oder so hätten sein können: bestialische Mörder oder fanatische Beschützer dieses Padrone di casa, der mitten in seinem pranzo unterbrochen und hervorgeholt wurde (just als sollte er aufgeknüpft werden) und – nicht ahnend, daß er noch schutzbedürftig sei, die Evvivas, Alas alas, alalas! seiner Retter schnell gefaßt mit einer Ansprache quittierte. Und dann flossen Ströme von Chianti. Und so machte der Faszismus Karriere. Kunststück! Es ist wahr, daß er Italien gerettet hat. Laßt ihm noch seine kindliche Erpichtheit, es nachträglich Wort haben zu wollen. Das indolente Rom träumte in den Tag, als es plötzlich, von seinen anrückenden Befreiern aufgeschreckt, schnell die Schienen aufriß und sich wie hinter Zugbrücken gegen sie verschanzte. Ohne bedroht gewesen zu sein außer von seinen Befreiern, ward es dann sehr peremptorisch befreit und es gab über Nacht eine Roma Liberata.

II

Wieder fuhr ich zwischen den hohläugigen Häusern der Dörfer dahin, auf der Straße, die nach Pisa führt. Von der aufgeweichten Erde war das Auto überspritzt. Man hätte die Sonnenstrahlen fangen mögen, so schnell erbleichte ihr Gold und schöpfte der Sturm wieder Atem. Denn am Himmel war Krieg.

Die plötzlich auftauchende Gestalt eines Camiccia Nera schreckte mich da – Halt gebietend – aus meinen Novemberträumen. Er streckte den Arm vor mir aus, wie ihn die Legionen des Cäsar zum Gruß ausgestreckt haben sollen, und mit den Worten „Capitano Fascista“ schwang er sich theatralisch und elegant, aber ohne weiteres neben den Chauffeur.

Ich war wieder einmal gerettet.

Und weiter ging’s: rechts der Berg von Lucca, in seiner Vereinzelung die wühlende Trauer dieser Ebene noch mehr akzentuierend. Seitwärts starrte auf halber Höhe das grausame Weiß von Carduccis Heimatsort. Wer mochte diese Felder bis zu ihrem Ende durchmessen? Führte denn ein Weg hinauf zu diesem grellen und gewürfelten Kranz von Mauern? Bogen nicht alle Straßen von ihnen ab?

Mein schlammüberzogener Wagen indessen gelangte nach Pisa, und von neuem, Gott sei Dank, waren wieder Paläste zur Rechten und Paläste zur Linken, oder sogar mitten auf die Straße gestellt, wie um sie zu versperren. Unter einem geklärten Firmament wurde sodann das Grundstück aller Grundstücke erreicht, auf welchem der Campo Santo und die Kathedrale, der schiefe Turm und das Battisterium zusammen stehen.

War ich zwischen den hohläugigen Häusern so vieler Ortschaften gefahren, um unvorbereitet und unvermittelt zu diesen schwebenden Kolonnaden, diesen singenden Säulenreihen emporzusehen, die kein Spiel der Phantasie, kein Abbild je vorwegnehmen könnte? Zum Schächer hatte mich der Anblick all der Dörfer herabgedrückt, dem aber nun die Verheißung sich erfüllte: „Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein!“

Was begab sich hier und was vernahm das überwältigte Gemüt? Was für Knospen bersteten ihm? Welches „Sesam, tu dich auf!“ ließ Pforten der Hoffnung in ihren Angeln drehen? Ich setzte im Sturm über die Stufen des Turmes, den roten Streifen am Himmel und der spürbaren Nähe des Meeres entgegen. In der Nacht trieb es mich noch einmal zurück. Der Mond war aufgegangen. Der sonst so Teilnahmslose schien mit einbezogen. Auf mein Wort, er spielte voll herab. Ein Campo Santo, eine Kathedrale, ein schiefer Turm? Oft vernommene Worte! Was bedeuteten sie? – Die Harmonie der Sphären, es ist die Sphärenharmonie, von welcher dieser flache Rasenplan mit diesem schiefen Turm, diesem Dom, diesem Battisterium verhaltenen Atems rätselhaft erdröhnt.

Hierher, ihr Kommissionen! Unter diesem Himmel würdet ihr nicht vergebens tagen. Es ist der Himmel desselben Landes, das mit einer solchen Vergangenheit, in Rom das Denkmal Viktor Emanuels, diesen giftig weißen Höllenbraten, ansetzte und heutigentages keine Maler, keine Architekten mehr erzeugt. Wäre es nicht wichtig, die Gründe hierfür zu suchen? – Der Zauber italienischer Kunst lag in ihrer Gedanklichkeit. Weltumspannendes zieht seine Linien in den Madonnengesichtern und macht sie noch zarter, zerbricht sie fast. Wo ist die Seele hin des Jacopo della Quercia oder jenes Ignoto Fiorentino, dessen Bild in den Uffici hängt? Die abgründigsten Stellen der Chaconne von Bach greifen nicht tiefer. Welche Beziehung zur Unsterblichkeit! Und was für Italiener sind das gewesen?

Auch um Siena aufzusuchen, wählte ich eine Vollmondnacht. Der Zug stieg wie zwischen hell beschienenen Vorhöfen des Himmels an, von immer frischeren Winden umstrichen. Und bei der Ankunft ging es erst recht aufwärts, die lange Stadtmauer entlang, zur steil gewundenen Via Cavour, die zur Linken, mit allen Schauern, die herrliche Piazza del Campo in der Versenkung hinter sich läßt. Die Cafés waren noch offen, festlich trieb der fahnenumwehte Faszismus unter dem mitternächtigen Mond. An einer besonders stolzen Kreuzung von Palästen, Standbildern und Säulen warf mich ein pestilenzialischer Gestank aus der Ekstase. Die Spaziergänger schienen ihn nicht zu bemerken. Gemütlich wogte der Korso an einer Passerelle auf und nieder, die zwischen Negerkabusen noch ein Skandal gewesen wäre.

 

Schauderhafte alte Kokotten kamen die Wunderbauten entlang. War dies das Siena, zu dem ich wie auf Knien gepilgert war? Die Gassen stiegen in ehernen Schleifen zwischen den senkrechten Palästen empor, und es war, als müsse sogleich ein Gipfel, eine Fernsicht kommen. Aber der höchste Platz war ganz von Zinnen und Arkaden und Türmen umstellt, und nur sie und der Dom sahen ins Weite. Er thronte in der Mitte, und seine überladene Fassade (mauvais gout du XIVe oder Restaurierungen?) konnte die Schönheit des Ganzen nicht beeinträchtigen. Ringsum war Leere. Ich stand allein. Unten in der Via Cavour blieben die Cafés noch lange überfüllt, die Lichter und Fahnen in ihrem Braus, und der Gestank der Passerelle inmitten des elegantesten Viertels tobte nach allen Richtungen.

Ich durchschritt ein anderes Siena freilich als das, welches seine Pracht entstehen sah. Allein die Verwandtschaft war nur suspendiert und jederzeit wieder anzutreten. Das reizvolle Lokal, einem hohen Gewölbe ähnlich, in dem ich zu Mittag aß, war von poetischer Sauberkeit, in Zartheit und Geschmack. Ich verließ Siena wie im Traum. Kein Zweifel, es war noch sein altes Tageslicht, derselbe getönte und schweifende Himmel hüllte es ein wie dereinst. Was aber war heute von der großen Gemeinschaft der einstigen Meister Italiens geblieben? Nur ganz vereinzelt, ohne Gefolgschaft der inneren Vereinsamung anheimgestellte Künstler, wie hier Gabriele d’Annunzio, dort Ferruccio Busoni. Der Rest ist die Leere der Straße, die nach Pisa führt. Und der Grund? – Ich will ihn euch ins Ohr sagen: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, und Italien war mit Athen, mit Byzanz und dem germanischen Norden aufs bräutlichste vermählt. Wie ein Baum trat es in die überschwenglichste Frühlingspracht. Man reiste damals langsam, es ist wahr. Und dennoch entblühten das Tuchersche Jagdschloß zu Nürnberg, Maria im Gestade zu Wien und die diminutive Maria della Spina zu Pisa einer selben Familie. Denn das nationalistische Schisma hatte noch nicht – in entgegengesetzter Richtung – den Wettlauf mit den Blitz- und Orientzügen aufgenommen. Und für die verheirateten Völker bestand noch nicht, wie heute, die Gefahr, daß die einen in Problematik verarmen und sich zermürben, die anderen in Gesten und Parolen sich exteriorisieren, jedes auf seine Weise sich überschlagen und auf toten Geleisen sich heiß laufen würde. Der Hain der Musen war noch nicht zu einem Theater abgeholzt, auf dessen Brettern die Auftretenden in ihre eigenen Kulissen hineinreden und die Geltung ihrer Worte immer mehr zerschichtet sehen. Die Talente, die noch treiben, dürfen uns über die um sich greifende Wüste, die uns alle bedroht, nicht hinwegtäuschen. Zwar ist der vielgenannte „Untergang des Abendlandes“ kein Begriff, sondern nur ein willkürliches Postulat. Aber die kurzsichtig sich aufwerfenden Abendländer drängten den Gedanken des Abendlandes ganz und gar zurück, statt in ihn einzugehen. Die Vorherrschaft bald dieser, bald jener Abendländer hat die Verwirrung angestellt. Auf diese Abendländer, statt auf ein Abendland, das außer Kraft gesetzt wurde, wäre diese These zu stellen, statt mit einer These, die es nicht gibt, die Unnachdenklichen zu verführen und die Begriffe noch mehr zu verheeren.

Aber laßt mich zurückkehren zur hochgelegenen Villa, die Carducci besang, die sich stolz abkehrt von den Feldern, welche sie beherrscht, und ihre Pinienhaine und Boskette im Auge behält. Laßt mich euch eine Geistergeschichte erzählen, wie ich sie in diesem Hause erlebte.

III

Ich wohnte zur ebenen Erde in einem großen Saal. Die Wände, die vielen Stühle, das Riesensofa, das weite Himmelbett in gelbem Damast ausgeschlagen, sie und die venezianischen Spiegel waren reinstes achtzehntes Jahrhundert, wie ein Bild von Ghislandi. Nur das schwervergitterte, übrigens einzige Fenster, merkwürdig zur Seite hinausgerückt, fast in die Ecke gedrängt, entstammte einer früheren Zeit. Die eine Tür ging auf die Halle hinaus, die andere in ein kleines Kabinett, als Ankleideraum gedacht, der rechts an das Badezimmer, links wiederum an eine winzige Türe stieß, von welcher unmittelbar eine geheime Treppe in vielen Windungen zu den oberen Stockwerken führte. Man sieht: ein getrenntes Appartement, und nur durch das saalartige Schlafzimmer so groß. – Zwischen den thronartigen Sesseln ragte der prachtvolle Kamin, dessen Feuer mich entzückte. Es war November und regnete immerzu. Doch herrschte keine Kälte. Ja, eine Schlange ringelte gleich den Parkweg heran, als ihn die Sonne eines Morgens beschien.

Schnell aber füllte Dämmerung den Saal. Der gelbe Damast, von unnachahmlichem Gelb, an manchen Stellen zerschlissen, war er doch so kostbar wie alt, und der Baldachin mit seinen schweren, etwas zerfransten silbernen Troddeln, sowie das Bett, die Stühle, die Spiegel schienen dann alle auf Menschen und auf Dinge zu warten, sie, für welche Menschen und Dinge doch so Vergangenes und Abgelegtes waren. „Es geisterte hier“, hörte ich flüstern. Mir aber brauchte man solches weder zu verheimlichen noch zu verraten. Ich sehe es einem Zimmer sofort an, auch wenn Morgenlicht es verklärt und Vögel vor dem Fenster trillern, ob es wacht oder schläft in der Spanne zwischen Nacht und Tag. Denn nie verscheucht die Sonne seine Wolken, seine Schatten ganz, und immer bleibt ein solches Zimmer ernst.

Rita hieß die Schwester des Herzogs; sie schien aus einem Raume nicht zu gehen, sondern leis und leidenschaftlich zu entschwinden.

Man ging früh zur Ruh’ in diesem Hause. Aber sie pflegte noch zu mir hereinzukommen und die zurechtgelegten Reisigbündel und die Pinienzapfen anzustecken. Dann rasten die Flammen, und wir plauderten. Mir bedeutete die Zeit, die sie verweilte, eine Frist, denn die Nacht, kaum angebrochen, war noch lang und das Lächeln, mit dem ich sie endlich an der Schwelle verabschiedete, durfte so verzerrt sein als es wollte, reichte doch der Glanz der Kerzen kaum über den Tisch, und eine andere Beleuchtung gab es in der Villa nicht. Weit stärker war der Schein des Feuers, das hin und wieder zusammensank, dann aber, wenn neue Scheite in Brand gerieten, den Stühlen ihre gelbe Sonnenfarbe wiedergab.

Ich hatte die Türe hinter Rita noch nicht geschlossen und mich dem Saale noch nicht zugewandt, da fühlte ich schon sein Dunkel ganz ungeteilt im vollen Braus, wie ein Orchester, das nur auf das Zeichen wartet.

Eine Stunde oder mehr starrte ich ins Feuer, bis die kleine Tür zu der geheimen Treppe allzu knisternd erbebte, in ihrem Drange sich zu öffnen. Ich ging auf sie zu, sie versank in Stille, ich trat zurück, von neuem atmete ihr Griff. – Dem Feuer abgewandt, behielt ich sie jetzt im Auge. Sie endlich fröstelnd selber öffnend, steckte ich die Kerzen vor dem Spiegel an und machte mich langsam bereit, das hohe Baldachinbett zu besteigen, das belagerte! Nur von einem kleinen Teil desselben war die damastene Decke zurückgeschlagen; links fast in Armeslänge die Wand, die rechte Schulter aber dem Sturme ausgesetzt und unbeschirmt inmitten der gesteigerten, immer mehr sich verstrickenden Luft. Trauer wogte und trieb heran. So werden lachlustige, lachbegierige, stets nach einem Anlaß zu Gelächter dürstende Lippen in sich zusammensinken, einfallen in Ernst und Bitterkeit, wenn ein noch so ferner Reflex von einer Welt sie trifft, die kein Lachen zu kennen scheint. Und der Gedanke an sie kann sich hinstürzen über uns, gegen uns ausgestrahlt, uns ganz zu seinem Brennpunkt nehmen und besitzen.

Rita pflegte die Stühle wie für Besuche um den brennenden Kamin zu stellen; sie maß ihn vom Baldachin aus, der Zwischenräume halber, die zu belassen waren, auf daß ich das Spiel der Flammen frei genoß. Hochaufgerichtet starrte ich sie an. Ein Nichts, der Bruchteil eines Nichts, und ich würde sie erblicken die Gestalten, die, so schien mir, in den alten, den wohlbekannten Stühlen saßen, dem Feuer zugekehrt, oder vielleicht mir, die so hinstarrte zu ihnen. Jetzt – jetzt – was vermaß ich mich so auszuschauen? Und fühlte ich nicht schon allzu deutlich den Saal ins Grenzenlose schleifen, und dieses ungeheuere Bett? – Was fehlte noch, daß ich die Griffe faßte, die so geisterhaft auf meiner rechten Schulter lasteten, und daß meine Finger die Schleier befühlten, die an meinem Nacken sich verankerten, Schatten, von allen Seiten auf mich zugewallt. Bis ich aufsprang und die Sessel am Kamin aus dem Gesichtskreis rückte. Aber all die anderen, längs der Wand angereiht, lebten sie minder auf? Was ließ mich zuletzt die Pfosten des Baldachins umschlingen, meiner blinden Zeugenschaft ganz hingegeben, ihr immer mehr entgegengleitend –

O schattenschwere Novembernächte!

Wohl konnte es sein, daß sich da sachte die Türe öffnete und, ihre Kerze vorantragend, Cassilda schüchtern hereinsah: nächtlichen Haares im langen Nachtgewand, fast rätselhaft in ihrer Anmut, schwang sie sich auf das goldene Bett. Es war ihr Eigentum wie dieses ganze Haus.

„Wie schlecht man schläft in meiner Villa!“ seufzte sie und sprach über ihr Leben. Und ich hörte zu.

Jedoch der Übergang zu ihr schien mir beschwerlicher als sonst; und lebendiger freilich, doch scheinhafter auch dünkte sie mir; und wesenhafter jene Schatten als wir beide, der Weg zu ihnen der direktere, wenn auch ungangbar; und unsere Gemeinschaft wie unser Zusammensein, ob es auch alle Saturnalien des Todes in Nichts zerstreute, war ephemer; Cassildas Nähe war illusorisch. Denn unübersteiglich dumpf und trennend war die Welt der Körper. Die ganze Kälte und Abgetrenntheit, der sich jedes einzelne Wesen überantwortet sieht, ging mir auf, während Cassilda sich schläfrig redete und dann vom Bett herunterstieg, um ihr eigenes Zimmer wieder aufzusuchen.

Nacht für Nacht verging in dieser Weise: erst der ausgedehnte Abend mit Rita, welche die Scheite und Pinienzapfen entfachte, unser Abschied an der Tür, sodann das lange Gegenüber, das schweigsame Duell bis zu den Morgenstunden, der schwere Schlaf bis in den Vormittag. Zuweilen das Auftreten der ruhelosen Cassilda, unsere Gespräche unter dem Baldachin, bis sie den Fuß zu Boden setzte und mich verließ. Ich merkte die Kurve jener Nächte nicht sogleich, noch das verminderte Grauen, mit welchem ich mich dem Saale zurückwandte, wenn Rita entschwand, noch daß mein streitsüchtiger Arm erstarkte. Sondern wie ein Stoß traf mich die aufgekeimte Sympathie. – Es war nicht nur die Müdigkeit, welche das Auge immer erloschener in den Tag hineinsehen ließ, den ohnehin so trüben Novembertag. Sondern sie hatten auch ihren sehr vernehmlichen Lockruf, diese Nächte, und ihre gefährliche Lust. Wie löste sie den blinden Drang, nur ja zu leben, nur ja nicht zu sterben, wesensverschieden von den Gestorbenen zu sein! Und nun – statt des Sturmes und der Furcht – orphische Schwingungen herüber und hin. – Aber plötzlich, war es Ungeduld, Widerwille oder Scheu? – zerriß ich alle Fäden, die fein wie Spinnweben nach mir zogen, und von einer Stunde zur anderen war ich entschlossen, diesem Hause zu entfliehen. Um Mittag stand mein Koffer bereit, triumphierend hatte ich ihn abgeschlossen; da ereignete sich ein Zwischenfall, der mich noch für eine letzte Nacht in diesem Zimmer zurückhielt und zugleich meinem Aufenthalt in der „Italia liberata“ einen unerwarteten Abschluß verlieh.

IV

„Heute wird nicht gefahren!“ rief Cassilda in den Saal, „es sind vier deutsche Studenten angekommen, zu Fuß, von Rom. Und wie abgerissen sie sind! Aber ihre Schuhe werden im Dorfe frisch besohlt! Sie übernachten in der Fattoria, und sie wollen uns vorsingen heute abend.“ Ihr melodisches Lachen hatte einen metallnen Sprung wie eine Glocke. „Nein, wie sie essen können!“ brach sie aus.

Mein erster Impuls war, mich vor diesen deutschen Studenten zu drücken. Ich fand es nicht am Platze, ich fand es nicht an der Zeit, daß sie gerade jetzt und ausgerechnet dieses Land auf solche Weise bereisten, Obdach erbittend von Ort zu Ort, in Scheunen nächtigend (und was für Scheunen!) oder dann auf Gutsherrschaften nach dem Ökonomiegebäude mitleidig verwiesen. Konnte man besiegter auftreten? Zum Teufel auch! Man schuldete etwas seiner Vergangenheit! Entstammten sie nicht einem stolzen Volk? Es hatte nicht mit zagen Bettlerschritten auf diesem Boden vorzudringen gepflegt! Und war ihre Rolle nicht neu? Was besaßen sie für Gründe, sich so unschwer in dieselbe zu finden? Aber natürlich mußte ich helfen, sie zu empfangen.

Übrigens – dem einen oder anderen wurde wohl bei einem Baumeister auf dem Reißbrett zu schaffen gegeben; aber Studenten waren es keine, und ihre Naivität schien entschuldbarer, sobald man sie sah. Auch deutete nichts darauf hin, daß sie seit einem Vierteljahr zumeist auf dem Stroh italienischer Bauernhöfe schliefen, sondern sauber und adrett, ja schmuck, bei aller Dürftigkeit, standen sie abends zur Serenade aufgepflanzt, vornean der Lautenspieler, blond wie Dornröschen und das Gesicht schneeweiß.

Der Tenor mit seinem schmalen, fahlen und windschiefen Kopf schien auf ein romantisches Erlebnis mit Rübezahl zurückzuschauen und immer noch daran zu denken; der dritte glich auf ein Haar dem braven Knappen Fridolin, und nur der vierte, ein Magdeburger, war Realpolitiker.

Durch das offene Fenster leuchtete im Kerzenscheine der weiß gedeckte Tisch, Gläser, noch mit Chianti gefüllt, halbgeleerte Riesenschüsseln mit Makkaroni. Es war ihre vierte Mahlzeit. „Bevono poco, ma che appetito!“ berichtete der Verwalter. Sie standen in Hausschuhen. Ihres Stiefelwerkes hatte sich der Herzog angenommen. Bis zum nächsten Mittag sollten sie es gesohlt zurückerhalten. Cassilda war guter Dinge. Melodisch schlug die zersprungene Glocke ihres Lachens an. Die Luft war lau. Wir saßen in Tüchern und Mänteln um das Ökonomiegebäude gruppiert. Durch das immergrüne Laub der Bäume sah der Mond. Und das Konzert begann. –

Selten hatte ich etwas so Erschütterndes gehört. Wie aus einem Wunderhorn ergoß sich der Wohllaut dieser staunenswert geschulten Stimmen. Wälder fingen an zu rauschen, verzückte Büsche über den Vater Rhein gebeugt, Kähne von Wellen hoch emporgehoben, Seen der Gebirge; blanke Scheiben einer Herberge dem müde Gelaufenen entgegenfunkelnd ...

Es mehrten sich jetzt unter den Bäumen magisch angezogene Gestalten, sie traten näher, standen unbeweglich.

Ich achtete nicht mehr der Lieder, sie waren nur noch die Begleitung zu dem Sturm in meinem Innern. Wie aus einem tiefen Brunnen tauchte ich empor, als die Sänger innehielten. Man umringte sie, von allen Seiten kam Applaus. Der Nachtwind strich unter einem milden Himmel, Kerzenschein flackerte über den Tisch, welcher die Platten, den Chianti, die halbgefüllten Gläser trug; alles war wie in einer gesitteten, idyllischen Welt. Nur ließ der Magdeburger seine Kameraden nie zu Worte kommen.

Nach einer Weile wurden sie gebeten, weiterzusingen. Ich saß zwischen der Mutter des Herzogs, einer Französin, und einer jungen Deutschen in Schwesterntracht, die unter ihrem Häubchen mit runden Augen Welt und Dinge betrachtete. Der Lautenspieler mit dem schneeweißen Angesicht wartete auf ein Zeichen des Magdeburgers, bevor er in die Saiten griff. Die Aussprache der vier war nicht sehr deutlich. Nur das Wort Kikeriki kehrte jetzt nach jeder Strophe vernehmlich wieder. Plötzlich gerieten die Schatten unter den Bäumen in Bewegung; einige traten mit fast drohender Gebärde vor. Was ist das für ein Lied? fragte ich die kleine Diakonissin. Sie kannte es gut. Kikeriki sei der Spitzname der Italiener während des Krieges gewesen. Ein Kriegslied also! – Es schien ihr spaßig. Zum Glück ging seine Pointe unserem Halbkreis verloren, und es wurde geklatscht. Nur der Herzog sah wie mit versteinerter Pupille geradeaus.

Eigentlich schienen die drei den Magdeburger gar nicht zu mögen. Aber man erlebte jetzt ein Stückchen deutscher Geschichte: nämlich sie gehorchten ihm doch.

„Bis daß das Auge bricht, bis daß das Auge bricht“, hieß der nächste Refrain. Entgeistert lehnte der junge Lautenspieler an der Mauer, und ferne war sein Sinn. „Bis daß das Auge bricht, bis daß das Auge bricht“, sangen die vier, als läge in der Vorstellung etwas, worin sie schwelgten. „Comme c’est triste“, sagte die Mutter des Herzogs. Unter den Bäumen aber waren keine Schatten mehr zu sehen.

„Ich verstehe nur die Ritornelle“, sagte ich leise zur Diakonissin.

Die war schon wieder im Bilde. „Schießen tun sie, bis daß das Auge bricht“, sagte sie und lachte schelmisch. Sie fand nichts dabei. „Bis daß das Auge bricht“, sekundierte die Laute mit unerhörter Melancholie. Dann schloß das Konzert mit einem Hoch auf den Herzog. Ich mußte noch hören, wie der Magdeburger ihm versicherte, sie fänden überall eine so gute Aufnahme; bei den Bauern jedoch würden sie erst gefragt, ob sie wirklich Tedeschi seien, denn wenn sie Francesi wären, wiese man sie vor die Türe. Über diesen seinen Beitrag zur Politik war er sichtlich befriedigt. Cassilda lachte. Ihr konnte es egal sein. Mir war es zuviel. Ich floh in den Park. Sein Dunkel nahm mich auf. Wie der rasende Ajax, ein pazifistischer Ajax, köpfte ich Sträucher, schlug auf die Hecken wie auf einen imaginären Konferenztisch, traf drakonische Maßregeln, untersagte und befahl. „Ich habe keine Lust an Völkern“, schrie ich die Pinien an. Und kein Angehöriger eines fremden Staates durfte mir auf drei Generationen bei Verlust aller Ämter eine Landsmännin heiraten. Noch am Traualtar war sie von seiner Seite zu reißen. Wie besinnungslos fuhr ich in die Äste, teilte das Gezweige rings um mich her, als sähe ich schon hier in diesem Lande die Mädchen nicht nur schön und liebenswürdig, sondern auch wieder versonnen, wieder unschuldigen Auges und gedankenvoll wie seine Madonnen von einst. Und als sähe ich schon berückend unkonventionell gewordene Französinnen, komplett aus der Art geschlagene Engländer und weltkundige Deutsche die ihnen verlorengegangene Welt nicht zurückerobern, sondern zurückgewinnen. Nichts stünde dann jener Stunde der Einkehr mehr im Wege, in der sich jede Nation auf die innerhalb ihrer Grenzpfähle begangenen Infamien, auf die Niederlagen ihrer Gerechten, auf die Triumphe ihrer Lügner und Verhetzer als der einzigen Schmach besänne, welche sie treffen kann. Das Tausendjährige Reich wäre jede Stunde einzuläuten. Aber es geschehen keine Wunder dem Verblendeten, um ihn der Hölle zu entreißen, die er sich bereitete. Noch immer litt das Himmelreich Gewalt.

Wo aber sah ich den Weisen, ach, der noch Hoffnungen frönte? Er kehrt sich ab, begibt sich seines Anteiles und glaubt nicht mehr an diese Welt. Doch wehe, sie ist die unsere! – Wie ihr heutiger Zustand Werk und Schlagwort einzelner ist, so könnte nur Wort und Tat einzelner ihre Rettung bereiten. Wenn sie auch nicht die Saat aufschießen sehen, die sie streuen, noch die Mühle, an der sie mahlen. Der Tod wird sie erlösen. Denn die Not dieser ohnmächtigen Zuschauer ist nur vergleichbar mit der des Schemen, das in seinem Drange, vielleicht sich kundzugeben, vielleicht zu rufen, doch ohne einen Laut, uns anblickt vielleicht, doch ohne gesehen zu werden, flehende Arme vielleicht nach uns ausstreckt, durch die wir schreiten als durch leere Luft. Wie vorstellbar war doch mit einem Male ihre heiße, verzehrende Wut!

Der Park war jetzt in Nacht versunken. Nacht hing an den Zweigen, kein Gesang durchbrach sie mehr, die Vögel, die Schlangen, die Bäume, sie waren eins, sie ruhten. In dichte Wolken hatte sich der Mond gebettet, kaum ein hellerer Schein dort, wo er schlafend lag. Unenträtselt fügten sich die Rhythmen der Gestirne, spielte sich dem Auge der Marsch der Sterne ab, geheimem Schlüssel entspannt.

Ich eilte dem Hause zu. Finster die Terrasse, leer die Halle. Wie lange war ich verweilt?

In meinem Saale aber entsandten die Flammen des Kamins ihren warmen Hauch bis zu den sonnenfarbenen Stühlen. Sie standen erwartungsvoll. Rita hatte es aufgegeben, auf mich zu warten, aber Spätrosen auf den Tisch gestellt; ein Rosenstrauch leuchtete im Schein des Feuers. Ich sah mich um. Von neuem rauschte draußen der Regen. Bitterkeit und Süße wellte jetzt empor und ließ mich die Arme ausbreiten. Zum Fest war die pulsierende Luft um mich her. Hoch ins Leere aufgerichtet unter köstlichen Schauern lauschte ich ihr von meinem goldenen Bette entgegen. Die im Park ausgekostete verwandte Qual, sie war es, die wie mit Leierklängen die Schatten dieses Saales versöhnte. Blumenleicht! Wie von Blumen war die Schulter umweht, milde und barmherzig unser Abschied, als seien wir uns teuer geworden.

Und ihr, meine Leser, seid ihr enttäuscht von meiner Geistergeschichte, weil sie tröstlich verklang?

Torso

Gedanken, Meinungen und Überzeugungen drängen nach Äußerung, lange bevor wir noch wissen, welchen Ausdruck wir ihnen verleihen, in welche Form wir sie bringen können. Den einen treiben sie zur Gestaltung, zur Ausführung oder zur Tat, den minder Glücklichen zwingen sie zur Schrift.

Leopardi nennt die so verbreitete Meinung von der Seltenheit der Originale einen großen Irrtum, denn bei näherer Betrachtung erweise sich fast ein jeder als ein ganz einziges, noch nie dagewesenes Exemplar! Einem solchen Begriff der Originalität fehlt freilich jedes Prestige. Aber tatsächlich ist es mit den geistigen Physiognomien der Menschen wie mit den äußerlichen. Könnten wir jene mit den Augen sehen, wir würden da genau dieselbe Mannigfaltigkeit, aber auch dieselben Mißverhältnisse wahrnehmen wie an den sichtbaren Gestalten; nur daß sich auf geistigem Gebiete der Wahn so bemerkbar macht, als sei hier eine Unterschiebung der eigenen Identität durch eine schönere oder bedeutendere leichter möglich, die Gesetze der Unveränderlichkeit leichter zu täuschen oder zu umgehen als in der körperlichen Welt. Wie wenige sind denn wirklich schöne oder vollendete Typen! Und wie viele gleichen jenen Bruchstücken antiker Statuen, deren Wirkung durch einen ergänzten Kopf, eine fremde Bewegung verdorben oder gestört wird, statt daß sie bleiben, was sie sind, nämlich meist ohne Kopf und Fuß, aber echt.

Marie stand mit fünf Jahren eines Morgens unter einem Baum, dessen Laub im Winde rauschte und den blauen Himmel durchblicken ließ. „Das Leben ist schön!“ dachte sie.

Da flog ein Blatt von den Zweigen herab in ihre Hand, und während sie seine groben Adern und Fasern langsam auseinanderriß, wurde sie unsäglich verstimmt. Nicht der frohbewegte Wipfel in der Höhe, das einzelne langweilige Ding in ihren Händen war die Wirklichkeit! –

Der Grundakkord ihres Wesens schlug da zum erstenmal an ihr Bewußtsein an; denn es gibt nichts Neues im Menschen. Das fin mot eines Ichs ist ein Motiv, und was hinzutritt sind Amplifikationen.

Schon ein Jahr darauf lernte sie im Kloster die Langeweile kennen, zu der sie neigte wie ein anderer zu Gichtschmerzen oder Rheumatismen, und die sie anwehen konnte, plötzlich, unvermittelt, wie ein Wind, der um die Ecke fährt.

In ihrem Kloster blies sie durch das ganze Haus, um alle Mauern und durch den ganzen Garten, die Stelle ausgenommen, an der eine reizende Brücke über den Wildbach bog, Libellen unklösterlich schwirrten und die Bäume parkähnlich zusammenstanden. Aber alles andere war häßlich. Zwei hohe, plumpe Berge versperrten wie Riesentore nach Norden hin die Welt, und die Monatsrosen standen, meist verwelkt und verweht, um ein mächtiges Kreuz vor dem Haus. Alles, was sie sah, mußte sie zugleich empfinden, doch ohne auch nur entfernt die Fähigkeit zu haben, sich dies zum Bewußtsein zu führen. Wie schmerzlich schien ihr im Frühjahr das Licht, wenn die Furchen der Berge so rauh aus dem Schnee hervorstachen und die grünenden Bäume im Scheine eines regnerischen Tages fröstelten. Ach, wie öde der Ackergeruch im Winter, die Stoppeln und Maulwurfhügel auf dem Felde, der schwere, fette Flug der Raben!

Zu ihrer Unterhaltung verfiel sie da auf ein höchst seltsames Gedankenspiel: sie setzte sich abseits, stützte die Arme auf, schloß die Augen und dachte mit immer beschleunigterem Tempo und eingezogenem Atem: „Ich bin Ich.“ An diesem Gedanken konnte sie nämlich, wie an einem Seil, immer dunklere Schlünde hinabgleiten, bis sie ein Schwindel erfaßte und ihr Ich ihrem Bewußtsein entsank.

Wie sie das zusammenbrachte, wurde ihr später selbst ein Rätsel: ihr Geist hatte damals eine jongleurartige Geschwindigkeit, als sei er transparenter und zugleich schärfer gewesen, lösbarer von ihr? – Sie wußte es nicht. Aber sie fand es „spannend“, sich selbst zu jagen, bis zu einer Wurzel, die sie nicht mehr war. – „Ich bin gefangen!“ dachte sie da wohl. „Auch nicht für eine Stunde kann ich jemals von mir fort, und wenn mir andere Menschen noch so sehr gefallen werden, kann ich sie nie sein!“

Aber einmal, als ihr diese geistige Rutschpartie besonders gut gelungen war, faßte sie ein Entsetzen, als hätte sie sich verloren, als hinge das Seil ihrer Identität in der Luft, als harrten ihrer Gespenster in den Tiefen, in die sie geraten war, – und mühsam, wie ein Ertrinkender, so rang sie seufzend zur Oberfläche ihres Bewußtseins zurück.

Ein Instinkt riet ihr jedoch, dies unheimliche Spiel zu lassen, und die Fähigkeit verlor sich auf diese Weise sehr rasch. Dafür fingen andere Probleme, deren Lösung sie keinen Augenblick gewachsen war, an, sie zu quälen.

Starb eine Klosterfrau und wurde es den Zöglingen freigestellt, sie auf der Bahre noch einmal zu sehen, so ließ Marie alles liegen und stehen und marschierte, zwei Schuhe hoch, allen voran. Dann starrte sie forschend in das fahle Gesicht, dem der Geist schon zu lange entschwunden war, und das ausdruckslos, ja sinnlos vor ihr lag. Und nichts schien ihr gerade auf das Klosterleben ein so trauriges Licht zu werfen als der Tod.

Aber es kamen immer mehr Dinge, die ihr mißfielen.

Eines Sonntags fand sie in einem Bilderbuch eine Palmengruppe abgebildet, einen sprungbereiten Tiger und ein Mädchen, das mit tödlich entsetzter Miene sich vor ihm zu verbergen suchte, aber vergebens, denn er hatte sie schon fast erreicht und mußte sie unfehlbar zerreißen.

Empört und außer sich, rannte Marie im Zimmer umher. Sie blickte zu den gemalten Inschriften auf, die an den Wänden hingen, und die ihr so gut gefielen: „Siehe, so sehr hat Gott die Welt geliebt ...“ „Er aber liebt die Seinen bis in den Tod ...“ „Kein Auge hat es gesehen, kein Ohr gehört ...“ Über ihren Schrank breitete ein Pelikan seine Flügel aus mit einem ähnlichen gefühlvollen Spruch. Wie reimte sich dies? – Und sie verbiß sich von neuem in das schreckliche Bild. – Wie konnte Gott dies ertragen, wenn wir sein Ebenbild waren?

Ein anderes Mal hatte die Feuerglocke wegen eines in der Nähe brennenden Anwesens wohl eine Stunde hindurch geläutet. Endlich kam fliegenden Schrittes eine Klosterfrau den Gang heraufgeeilt und sagte: „Gottlob, Kinder, es ist kein Menschenleben zugrunde gegangen, nur sechzehn Kühe sind verbrannt.“

In der Nacht sah Marie die Tiere heulend durch die Flammen jagen und fuhr erschrocken aus ihren Träumen empor. Sie schlief nahe am Fenster, und der Wildbach rauschte mit düsterem Schwalle, ewig stöhnend, schwarze Klagen herauf. Was war dies für eine Welt, in der die Kinder ihre Eltern begruben, und der Herr der Schöpfung zur Beute eines niedrigen Tieres entehrt werden durfte? Schöne Menschen, die sie kannte oder gesehen hatte, und die schwerlich je in Kollision mit einem Tiger oder einer Boa constrictor kommen würden, schwebten ihr vor Augen. Allein gewisse Möglichkeiten genügten, um da ihren Weltschmerz zu einem unerhörten Fortissimo zu steigern. Es gab ja kein Entrinnen aus einer solchen Welt, keinen Tod, keine Bewußtlosigkeit mehr für unsere unsterblichen Seelen! „Oh, wie ist das?“ dachte sie erschrocken. „Ich kann Gott nicht lieben!“

Am nächsten Morgen waren Geschenke für sie angekommen, und sie bezeigte eine solche Gier, sie alsbald in Empfang zu nehmen, daß die Oberin sie zurechtwies: „Du genußsüchtiges Kind“, sagte sie streng. Marie hörte dies Wort zum erstenmal und vernahm es mit Interesse. In der Tat: Warum haßte sie nichts so sehr auf der Welt als den Schmerz? Warum ging sie stets mit abgewandtem Gesicht den unteren Gang entlang, wo die Apostel der Reihe nach in schlecht gemalten Bildern hingen, mit Kreuz, Nägeln und Stricken, all den furchtbaren Zutaten ihres Sterbens? Warum erfaßte sie jede Freude mit so peinvoller Hast und entbehrte sie mit solcher Heftigkeit? Und warum waren selbst ihre schwärzesten Stimmungen so seicht wie Wolken, die ein leichter Windstoß wieder zerreißt?

Aber ihre Grübeleien brachten ihr nur Überdruß, und sie war froh, sich ihrer zu entschlagen. So fing sie mit acht Jahren an zu schwärmen, und wenn Orgelklänge und Weihrauchdüfte die Kirche erfüllten, dachte sie nur mehr an Rosa Flatz, Paula Baselli, Irene Angermaier und Livia Gelmini.

Es gibt Wesen, die in früher, unwahrscheinlicher Vollendung ins Leben hineinleuchten, gleich jenen vereinzelten Tagen inmitten langer Regenzeiten, an denen das Licht so zärtlich, das Laub so golden, der feuchte Blick der Sonne kristallen leuchtet! Aber tags darauf haben Regen und Wind ihre trüben Lieder wieder aufgenommen ... Flatz war von hohem Wuchs, hatte goldenes Haar und den Kopf einer Sirene. Da sie fast schon erwachsen war, wagte Marie nur im Winter, wenn die Zöglinge schweigend spazierengehen mußten, sich zu ihr zu gesellen, ergriff ihre Hand und sah stillbeglückt von der Seite zu ihr auf. Kein Frost konnte die liebliche Röte dieser Wangen beeinträchtigen, so schön und blühend war ihr Flaum. Aber sie blühte so königlich! Wo sie ging, war kein Winter, heftige Rosensträuche blühten an allen Wegen, und an den Frühling gemahnte selbst ihr sicherer, zerstreuter Blick.

Baselli hatte einen zu tiefen Teint und ungeschmeidiges Haar. Aber der Schnitt war rein wie der eines Ägineten, und ihr stolzer Blick flammte in unbewußter oder in Zaum gehaltener Trauer. Marie hielt sich gern in ihrem Umkreis, um die edlen Augenhöhlen, die köstliche Zeichnung ihrer Lippen in der Nähe zu sehen, und wie über einen heiligen Wald schwärmte ihr inneres Auge über sie hin.

Aber Irene Angermaier war die schönste! Mit braunem, weichfließendem Haar, ruhig und müd wie eine Nymphea im Mondlicht. Sie lehnte in ihrer harten Schulbank mit jener überlegenen Grazie, welche die Menge anjubelt und vor der die Maler knien. In prunkvoll ausgeschlagener Gondel, in Palästen hätte sie ruhen sollen; ein Antlitz für Perlen und unschätzbare Schleier, ein Wesen, zu schön, um zu leben, zu leicht, um im Grabe zu ruhen.

Gelmini war aus Salurn und melodisch wie ein Glockenspiel. Ihre Achseln schienen wie mit Blütenfäden an ihren Körper gefügt, und an der Art, wie sie den Arm nach der Stiegenrampe ausstreckte, und an ihrem Gang konnte Marie sich nimmer satt sehen. So schritt wohl Julia, als Romeo sie zum erstenmal erblickte. Und wenn Livia: „il gallo, la primavera, la catena“ sagte, dann schwärmte Maries Herz wie ein bunter Schmetterling in der Sonne. Mit Livien, die erst neun Jahre alt war, hätte sie verkehren können, aber sie gefiel ihr zu gut, und wo sie bewunderte, zerfloß sie in Verehrung. In Wirklichkeit wollte sie weder von Puppen noch von Freundinnen etwas wissen, und mit Vertraulichkeiten war ihr nicht gedient. Sondern sie wollte höhere Wesen, die sie ihrer enthoben. Und angesichts jener vier reizvollen Gestalten, die sie so früh verlieren und sterben oder scheiden sehen mußte, war sie viel mehr einem Zustand als Gefühlen hingegeben. Sie sprach nie mit ihnen und suchte nie von ihnen beachtet zu werden, nur in der Nähe, im selben Zimmer mußten sie sein; sie mußte sie alle vier sehen können, wenn sie den Kopf wandte; dann nur war ihr Kloster ein schöner, gewählter und träumerischer Ort.

Mit ihnen schwand alle Poesie aus Maries klösterlichem Leben; sie stak von neuem in Grübeleien, wie in ödem, verwirrendem Sande, langweilte sich und sehnte sich fort. Zudem wurden alle ihre Bücher, die sie gerne vorschriftswidrig in ihrer Schublade aufgeschlagen hielt, der Reihe nach konfisziert, und ehe sie sich versah, stand sie als Verkörperung der Insubordination von allen Zöglingen abseits. Alljährlich feierte man in ihrem Kloster das sogenannte Königsfest, bei dem sich das ganze Pensionat in einen Hofstaat umwandelte, und jeder Zögling, von der Königin herab zu den Köchen und Kaminkehrern, je nach Verdienst, seine Charge erhielt. Die ersten Jahre stand Marie als Page, in Korkzieherlocken und Goldreif, einen ganzen Tag hindurch stumm, doch voll Entzücken, in der Königin Dienst. Es war Irene Angermaier, in Silbergaze und königlicher Krone. Aber später wurde ihr dies reizende Fest verleidet: In einem schief aufgesetzten, viel zu kleinen Schäferinnenhut und einem zu engen grünen Tarlatankleid (denn es hatte als ehemalige Balltoilette eine Taille, und sie noch lange nicht) spazierte sie als „königliche Lectrice“ mit einem Riesenbuch, allein und tödlich verlegen, hinter den Landgräfinnen einher, und wenn im cortège die Reihe an sie kam, tanzte der Hofnarr in seiner roten Schellenkappe vor ihr her und verkündete ihre Streiche. Nun pflog sie zwar über die Weltordnung allerlei Separatanschauungen, doch für das Maß ihrer eigenen Missetaten fehlte ihr jedes persönliche Gutdünken, und sie schämte sich über Gebühr.

Aber dafür war die freie, herrliche Welt der Tummelplatz aller Freiheiten, und ihr Herz schlug hoch, als die schweren Klosterriegel auf immer hinter ihr zufielen.

Das Leben präludiert meist anders, als es verläuft. In der Tat: so unglaublich es ihr selber erschien: einen Monat später durchschwärmte sie, frei wie ein Waldestier, eine Mondnacht um die andere in den Bergen und kampierte am offenen Feuer wie ein Zigeuner. Was hätte sie gesagt, die würdige Mère Supérieure, die ihre Uhr nach den Hühnern richtete? – Da hing Maries Disziplin am hohen Klostergiebel, als leeres Fähnchen zurückgeblieben.

Folgendes müssen wir ihren eigenen Aufzeichnungen entnehmen:

Es war zur Sommerszeit in den bayrischen Bergen, als uns vier Kinder die Wanderlust zum erstenmal ergriff. Aber der Tag ließ uns nicht weit genug gelangen; so rüsteten wir uns sorglich auf einen längeren Streifzug aus. Daß uns gerade nur so viel Geld bewilligt wurde, um vierundzwanzig Stunden fernzubleiben, kümmerte uns nicht.

Erst als der späte Nachmittag verglühte, traten wir vor. Bald rauschte dann im Mondlicht der Fluß uns zur Seite, und schneeweiß zog sich die Straße den bewaldeten Felsen entlang. Jeder Stein, der im Flusse die Wellen zurückwarf, die Kiesel am Wegesrand, ja das zertretene Gras am Ufer schienen verklärt. Und wenn sich in dem mondlichen Schweigen der Schrei eines Tieres entrang, durchzitterte ein ewiges Glück die schimmernden Mulden.

Immer leichter trugen uns unsere Schritte voran! Immer eifriger berieten wir die Möglichkeiten einer einstigen großen Erbschaft, und in der großen Bergesstille schallte unser lautes Gelächter.

Als die Lichter der „Fall“ vom anderen Ufer herüberleuchteten, hielten wir Rat: denn aller Spaß wäre zu Ende gewesen, hätte unserem Auftreten etwas von dem hohen Ansehen gefehlt, von dem wir selbst so sehr überzeugt waren. So betraten wir, stets fremde Sprachen untereinander führend, das alte Gasthaus, bestellten ein wohl ausgeklügeltes, sehr zimperliches, aber sehr billiges Essen, gaben dann vor, einer Wette halber die Nacht in keinem Hause verbringen zu dürfen, und griffen, mitten in der Nacht, mit großer Eile nach unseren Stöcken. Der Eindruck war nach Wunsch: die paar Reisenden und das Personal standen neugierig an der Türe, eine alte Dame protegierte, die Wirtin bewunderte uns, der Förster zog seine Pfeife weg und wies uns den Weg, und von freundlichen Zurufen verfolgt, von der alten Dame gewarnt, drangen wir in den Wald, und weiter hinein in die „Riß“. Den Tag verschliefen wir auf Almen oder Bergeskanten. Kamen Stürme, so äfften wir sie. Von den Felsen geschützt, apostrophierten wir das finster fliegende Gewölk und begrüßten die Donnerschläge mit dröhnendem Gelächter.

In der Folge dehnten wir unsere Touren immer stattlicher aus. An einem Herbsttag kamen wir vom Achensee und wollten über den Schildenstein zurück. Die Alm war geschlossen. Da liefen wir in der Dämmerung den Kanten des Blauberges entlang, drangen durch das Fenster in eine leere Hütte und machten uns Feuer. Aber draußen lockte die Nacht, lockten die in Mond getauchten Tiefen des Achentales und der silberne See. Unbeweglich wie Berggeister saßen wir, in unsere Mäntel gehüllt, vor unserer Alm. War es Ahnung oder Müdigkeit, die uns verstummen ließ? Die Welt mit ihrem Spiel riesiger Schatten und frohlockender Höhen atmete Gesang, aber die Leier unserer Freuden schwebte zerrissen über uns.

Bald standen wir wie ein Häuflein, das ohne den Führer trübe zerfällt. Der große Zauber jener Wanderungen hing an einem romantischen, 19jährigen, höchst merkwürdigen Wesen, in dem kein Raum war für Pandorens Trug. Reinste Vernunft gebot hier jeder Unruhe, und die Erkenntnis überstrahlte den Wunsch. Aber nie vorher hatte sich so hohe Weisheit mit solcher Grazie umkleidet und die Taue eines so unschuldigen Lebens gelockert. In dieser fast morbiden Erscheinung mit dem unbeschreiblichen Relief ihrer bangen Umrisse blieb alle Schwäche ausgeschieden, war alles Schönheitssinn und Stil. Zuletzt sind Linien, die uns fesseln, solche, an die wir uns nicht gewöhnen, und stete Neugier erregte diese schmale, ernste Stirne mit den hochgezogenen Brauen, die fast leichtsinnige Anmut des kleinen Ovals, das eitel gesteckte Gold der Haare, und dabei die männliche Zurückhaltung in den durchdringenden Augen. So glich die Mischung ihrer psychischen Elemente der Stimmung eines herrlichen, aber zu zarten Instrumentes; und so ließen sich ihre Anforderungen an ein Leben, an das sie nicht glaubte, nicht herabdrücken, und mit allen Fasern zog sie sich von ihm zurück.

La mort est bête“, sagte Gambetta. „Aber der Tod überblickt Zusammenhänge, und das Leben ist befangen. In unserer Existenz wähnen wir unser Wesen erschöpft, währenddem die Grundlagen neuer Individualitäten schon in uns dämmern, neue Lebensformen unserer harren mögen. Allein einzig ist der Mensch als Kunstwerk! Und mit Grauen erfahren wir, daß es Wesen gibt, die, köstlichen Schalen gleich, einmal zerschlagen, der Natur nicht wieder gelingen.“

Wie der Seekranke vom Schiff im ersten Morgengrauen nach der Küste späht, so sehnt man sich oft nach dem Tode – man weiß, daß man den Gang und die Richtung seines Schiffes nicht verändern kann.

Nietzsche. Nachgelassene Werke.

Ob wir wollen oder nicht, wir werden am Ende alle katholisch.

Moltke.

Als Marie heranwuchs, wurde ihr der Ernst so widerwärtig wie früher das Leiden. Von den beiden Philosophen, von welchen der eine die Welt ewig weinenswert, der andere sie ewig komisch fand, hatte nur der letztere ihren Beifall. Denn wer sich über eine Welt, gegen die er nichts vermochte, Sorgen machte, der war in ihren Augen ein Narr. Man lebt nicht lange, also lebe man, ohne zu denken. Allein ihren Theorien zum Trotz erhoben sich die Gedanken wie ein brennender Wüstenwind in ihrem kindlichen Gehirn. Da faßte sie eine tiefe Abneigung zu Menschen ihrer Art. Mädchen ihres Alters umging sie in weitem Bogen, aber das Zusammensein mit schönen verwöhnten Frauen, im Kreise weltgewandter Männer, wurde ihr Paradies. So geriet sie sehr früh in eine Clique welterfahrener, mächtiger und verfeinerter Leute, die sich täglich sahen, in deren Vertraulichkeit, die keine war, das Herz fast keine Rolle spielte, sondern mehr das Behagen, und deren Denkprozeß bei oft interessanter Begabung ein geringer blieb. Aber gerade dies fand sie bezaubernd. Das Leben war es wohl wert, zur Kunst erhoben, erheitert zu werden, und die Sorglosen waren die Lieblinge, die Nachdenklichen nur die Frondiener der Götter.

Jene also waren die überlegenen und vollkommeneren Menschen. Ach und das ferne, freundliche Mitgefühl, mit dem sie eine eben ereignete große Katastrophe, einen Brand, ein Eisenbahnunglück besprachen, vollends die Art, mit der sie dann das Thema wieder fallen ließen, entzückte, ja betäubte Marie. Und die Ironie, mit der sie gesprächsweise die Erbärmlichkeiten des Lebens streiften, – nur streiften! schien ihr das Nonplusultra seelischer Eleganz.

Diese siegreichen Typen schieden in ihren Augen alle entwürdigenden Grausamkeiten, alle Häßlichkeiten aus, alles, was sie haßte, woran sie nicht erinnert werden wollte.

Denn es lag ihr so sehr am Leben! Es schien ihr so kostbar, so begehrenswert. Sie liebte, ja in dem höher potenzierten Menschen vergötterte sie es; aber die Freude war das Gesetz, nach dem er wandeln sollte.

Aber ach! die Freunde ihrer Wahl, in deren Oberflächlichkeit sie schwelgte, deren Lächeln sie beruhigte, an deren Leichtsinn sie ihr Gemüt sonnte wie ein Kranker im Mittagsscheine, sie hinderten ja nicht, daß ihre Gegensätze bestanden. Ihr Genuß löschte keine Qual, war nur ein Kontrast – kein Ersatz – nur ein Widerspruch mehr! Empfindungen von solcher Mannigfaltigkeit konnten sie da überwältigen, und der Andrang ihrer Gedanken im Verhältnis zu ihren noch kaum entwickelten Fähigkeiten sich so mächtig steigern, daß vor innerer Erregung ihre Zähne zusammenschlugen und ein lauerndes Angstgefühl sie immer deutlicher beschlich.

Zu ihren Freunden hatte sie indes eigentümlich Stellung genommen: zu jung, um noch zu zählen, störte sie niemanden; die Frauen litten sie gern, ja die schönste von ihnen zog sie zu den Zusammenkünften, die täglich bei ihr stattfanden, und hielt sie wie eine Art von Pagen. In der Tat hatte Marie der Schönheit gegenüber eine huldigende Art, ein Gefühl des Ausgefülltseins und Verlorengehens, ein Stillstehen ihres Selbst zu einem Atom, das nicht Schwärmerei war, sondern Glück.

Eines Tages hatte sie sich verspätet, die Besucher waren fort und ihre Freundin allein.

Durch das alte, gemalte Scheibenfenster umwob sie der goldene Staub der sinkenden Frühlingssonne. Sie lag, den Kopf zurückgeworfen, ausgestreckt und rauchte eine Zigarette. Nichts dächte man, was in diesem Anblick klassische Erinnerungen weckte. Was hielt nun Marie vor einer der schönsten Gestalten ihrer Zeit unbeweglich, wie geblendet, an der Schwelle zurück? Sie sah Helden verbluten, Troja im Schutt und Hektor erschlagen, und wie von einem plötzlichen Schein entrückt, faßte sie das ewige Relief dieses flüchtigen Lebens.

Aber der Mensch war ihr, was dem Künstler die Kunst, und ihr Wohlgefallen war ein Meer der Ruhe. Und dieser eine göttliche Funke in ihr schuf ihr Beziehungen, baute ihr Brücken, die lustig funkelten wie Regenbogen.

Allein nicht nur vergessen und sich verlieren wollte sie, sondern die Art ihrer Salonolympier sich aneignen und nachahmen. Stets schwärmend, haßte sie Exaltation, und Kälte des Herzens war in ihren Augen Weisheit.

Es ist ja eine Tatsache, daß nicht die Eigenschaften selbst, sondern ihr Reflex es ist, der uns besticht, und nicht der Wert, den man besitzt, sondern den man verausgabt. Hierin beruht der Reiz gewisser typischer Genußmenschen. Sie erwecken Illusionen, weil wir ihnen mehr zugute halten, als sie veräußern, manchmal mit Recht, und manchmal nicht. Es sind die Reichen, die kein dunkler Stachel der Entbehrung hindert, ihre Empfindsamkeit ohne Rest auszuleben, und von denen geschrieben steht, daß sie das Himmelreich so schwer erlangen, denn es leidet Gewalt.

Und doch konnte sie nicht umhin, das Leiden als einen Mißstand, die Entsagung nicht als eine Bestimmung des Menschen zu betrachten, und wenn sie glückliche Naturen so sehr liebte, so war es, weil sie ihre Berechtigung anerkannte. Dieser Glaube saß ihr im Blute, er wuchs und lebte, er zehrte an ihr. In ihrer eigenen Zerrissenheit erblickte sie einen untergeordneten Zustand, weil sie fühlte, wie dies Übergreifen ihrer Individualität nichts anderes aus ihr schuf, als einen heiseren Mißton, der jede Saite erzittern ließ, der keinen Klang ausschied und keinen unvermischt behielt. Die Röte stieg ihr dann wohl auf, wenn sie der eigenen Maßlosigkeit gedachte, ihres übertriebenen Gebarens, noch vor einer Stunde, als sie in Voltaires Geschichte Karls XII. von Peter dem Großen las, der seine Kosaken so unentwegt, nach Tausenden rädern ließ. Gleich einem scheugewordenen Tiere war sie da mit dem Kopf gegen die Wand gestoßen, wie um eine solche Tatsache aus ihrem Bewußtsein zu löschen. Denn aller Jammer, der solche Greuel deckt, war da vor ihren Blicken aufgestiegen, und ungestüme Todessehnsucht ergriff sie vor dem Bilde einer so schmerzbefleckten Welt.

Bei solcher Gemütsart mag es eigentümlich erscheinen, daß sie die Religion so ganz abseits ließ. Allein sie war ihr durch das Kloster zu sehr entfremdet worden. Das Breittreten großer Mysterien hatte nur ihren Widerwillen, später ihre Gleichgültigkeit hervorgerufen, und weiter ging das Senkblei ihrer Messungen nicht. Es ging ihr wie so vielen. Daß wir einem Glauben, in dessen tiefste Geheimnisse wir als kleine Kinder eingeweiht werden, eines Tages ungeduldig den Rücken kehren, ist ja ungefähr das Naheliegendste, was es gibt und erfordert spottwenig Geist. Und wie tief drang jener Rat Goethes in Wilhelm Meister, den Knaben die Mysterien des Neuen Testaments bis zum Jünglingsalter vorzuenthalten um der notwendigen Verstümmelung ihrer Eindrücke vorzubeugen? Christus wählte reife Männer zu seinen Zuhörern, und wie summarisch verstanden ihn selbst die!

Jene Verstümmelung ihrer Eindrücke nun hatte Marie erfahren. Christus war ihr ein furchtbares Rätsel geworden, eine unverständliche Gestalt, der Widersprüche voll, der Umrisse bar, zu der sie keine Fühlung gewinnen konnte und die sie bedrückte.

Und jene dunkle, unbestimmte Furcht umzingelte sie immer näher mit unruhigen Schatten. Bald mied, bald erforschte sie im Spiegel ihre scheuen, trostlosen Blicke. In den Dissonanzen ihres Innern sah sie keine Lösung, keine Lichtung für einen Strahl des Gleichgewichts, und wie der Sturm auf schwarzem Geball, so jagte das Gespenst des Wahnsinns auf dem Getürme ihrer Gedanken und Empfindungen, die ungeschieden ineinander wogten; wie ein im Stimmen begriffenes Orchester, in dem Violinen, Hörner und Baßgeigen die unzusammenhängendsten Läufe und Motive wirr ineinandertönen. Nur indem sie stets zu den heiteren Seiten des Daseins flüchtete, glaubte sie Ruhe und Rettung zu finden, und glich so einem in Brand Gesteckten, der vor der Flamme davonläuft und sie dadurch nur entfacht. Sie las grundsätzlich keine ernsten Bücher mehr und ging nie in ein Konzert. Einzig französische Musik vermochte sie zu zerstreuen. Ihr entströmten, wie Wohlgerüche aus unnachahmlicher Phiole, die Kundgebungen nationalster Grazie und Form, und sie schlürfte den Tau französischen Geistes, wie durchsickert von seiner Vollendung. Denn sie liebte feste Umrisse, und der Zauber einer Rasse lag für sie in deren Geschlossenheit. Das Feine gewährte ihr mehr Befriedigung als das Große, weil sich in ihm das Wohlgefallen ohne Stachel erschöpfte. So abhold sie jedoch dem Leben gegenüber jeder Gründlichkeit war, in der Kunst verletzte sie die Oberflächlichkeit, ja sie erschien ihr gemein. Und hierin allein mochte sie es nicht mit ihren Freunden halten, deren Stellungnahme gewissen Dingen gegenüber sie verdroß. Denn sie fühlte die gänzliche Bezugslosigkeit der Frivolität zu allen höheren Gebieten. Aber hier wie da gelangten nur flüchtige und heftige Stimmungen bei ihr zu Atem, und es lag etwas Chaotisches in der Gleichzeitigkeit ihrer oft ganz entgegengesetzten Empfindungen.

Übrigens mußte sie doch bald einsehen, daß ihr alles nichts half. Sie mochte ihre Freunde noch so sehr bewundern, die Ansichten des einen, den Tonfall und das blasierte Lachen eines anderen, die Persiflage eines dritten nachahmen, schwärmen und kopieren, kopieren und schwärmen, sie wurde ihnen nicht ähnlich. Zwar wollte auch sie zu denen gehören, welche ihre Herzen abrichten, ihre Eindrücke assimilieren, nicht ihnen nachhängen – ja, aber sie stürmte nicht, wie ihre Freunde, in die weite Welt! Für sie segelte kein Schiff auf die herrlich freien, hohen Wogen des Lebens, sie stand am Gestade, und der Gedanke an ein ruhiges, gleichförmiges Dasein erfüllte sie mit Verzweiflung.

Denn das Element, die Atmosphäre, in der ihre Seele lebte, war die Welt der Eindrücke; wo diese fehlten, stagnierte ihr Inneres wie ein Sumpf, und ihre Züge wurden stumpf und leblos vor den Augen derer, die entweder kein Gefühl oder kein Interesse in ihr erweckten.

Ein einziger in jener Gesellschaft, die ihr Eldorado war, hatte sie durchschaut. – Er trug seiner romantischen Erscheinung halber den Spitznamen Alfred de Musset. Sein Gesicht war en face gesehen schön und zauberhaft jung, das Profil niederträchtig, die Gestalt bei äußerlicher Eleganz von schlechter Rasse, die Hände unsympathisch. Seine Begabung, in ihrer Art ungewöhnlich, war à fleur de peau. Dabei gehörte er zu jenen Menschen, welche den Geist der anderen auf das lebhafteste anregen und in Schwung versetzen. In seiner Gegenwart beherrschte sich die schüchterne Marie vollkommen. Sie drückte sich frei und unbefangen aus, und die Worte standen ihr für alle ihre Einfälle zu Gebot. Dies erhöhte nur ihre Gereiztheit, denn genau so, wie sie sich im Zwiegespräch mit ihm zeigte, wäre sie gern vor ihren anderen Freunden erschienen, die nur beiläufig auf sie achteten und die ihr so gut gefielen. Sie glaubte sich an ihm rächen zu müssen, indem sie es ihm ins Gesicht sagte, und ihm alles vorwarf, was ihr an ihm mißfiel: von seinem Profil bis zu seinem dekadenten, mehr in die Tiefe als in die Breite gehenden Verstand. Er ließ sie reden – ihr aber schien ihr eigenes, merkwürdiges Verfahren höchst angebracht und loyal, und indem sie ihm ihre Abneigung gestand, ja klagte, glaubte sie den so anregenden Verkehr mit ihm aufrechthalten und nach Wunsch gestalten zu können.

Aber die Nachwirkung blieb stets dieselbe, die Abneigung für ihn steigerte sich ins Unerträgliche, und genau so ehrlich, so akut, wie sich sehr junge Leute verlieben, war sie in ihn verhaßt.

Eines Tages brachte er ihr die frühen, verträumten Lieder Debussys auf Gedichte Baudelaires, und von der schwülen Atmosphäre dieser Musik halb gehoben, halb betäubt, sprach sie sich da so manche Last so leicht vom Herzen: ihre Scheu vor tiefen Problemen und die heimliche Qual großer Musik. Und wie von fernem Ufer sah sie ihn da aus der Tiefe ihrer Verlassenheit an und lächelte ihm zu, weil er ihr vom Hauche des Frühlings umweht erschien wie ein blühender Zweig.

Er aber sagte ihr tröstliche, schmeichelhafte Dinge, für welche sie, aufatmend, naiv genug war, ihm zu danken; denn er wollte einen Einfluß über sie gewinnen, nicht aber sie erfreuen. In demselben Tone weiterredend, änderte er da auf der Stelle seine Taktik; ohne daß sie seine Absicht merkte, entstellte, verzerrte er das Bild, das er noch eben von ihr malte. Sie horchte entsetzt und sah nicht, daß er es war, der sich nun rächte. Ihr war als stürzten die Balken eines Gerüstes über sie zusammen, als hörte sie den endlichen Schlag einer lang lauernden, elenden Stunde, den Weckruf finsterer Vögel.

„Den Wahnsinn, dem Sie verfallen sind, ahnen Sie ja längst“, sagte er. – Aber ein mutigeres, stärkeres Wesen schien da plötzlich in ihr zu erstarken, sie von seinen Drohungen freizusprechen, zu beschützen. Dieselbe Fähigkeit, aus dem Stegreif zu erfassen, zu überblicken, sich auszudrücken, verlieh er ihr auch jetzt; doch als er lächelnd, mit begütigenden Worten, Abschied von ihr nehmen wollte, hielt sie ihn schnell zurück: „Dies Haus gaben Sie mir ein Recht, Ihnen zu verbieten“, flüsterte sie, und wie Liebende in ihrer ersten Umarmung, so war sie durch die endgültige Trennung von ihm an das Ziel ihrer Wünsche gelangt, und Haß und Widerwille waren erloschen.

Es gibt Momente, in welchen der Mensch den Charakter seines Lebenslaufes so klar und nüchtern erschaut, daß, Maeterlincks kühner Hypothese gemäß, die Zukunft mit der Klarheit der Vergangenheit an ihn herantritt. Warum erkannte da Marie gerade jetzt, als sie dem Manne nachblickte, daß auf Jahre hinaus alles, was sich ihr bieten, sich verkehrt zu ihr stellen mußte, und daß sie alle Früchte verdorren sehen oder zur Unzeit brechen würde?

Indessen stand das Haus, in dem alle Freuden ihres Lebens blühten, unversehens leer, ihre Freunde zogen fort, und ihr Zaubergarten versank. Ach, auf so winzige Veranlassungen hin konnte dort die Schale ihres Glückes überströmen, denn mächtiger als in allen Mandelblüten des Südens, als in allen Fliederbüschen des Nordens rauschte der Frühling in ihrem Herzen. Sie sah nun zu den verödeten Fenstern empor, und litt um so mehr, als sie nicht leiden wollte, nicht fliehen, an toter Stätte nicht vergessen konnte.

Daß unser Leben zwar lange nicht so spannend, aber in seinem eigentümlichen Verlauf unwahrscheinlicher ist als der kühnste Roman, diese Bemerkung ist ja nicht mehr neu. Aber was uns in unsere Bahn lenkt, tritt in der Regel nicht ominös, sondern leicht und mit nichtssagender Miene in unseren Weg. Die Wendepunkte des Lebens liegen im Tal, im aussichtslosen Dickicht und Gestrüpp. Marie erhielt Besuch aus Neuyork in Gestalt eines jungen, reichen und verwöhnten Mädchens. Es war eine jener zu rasch erfolgten, atemlosen und überhitzten Kulturen, ohne Verweilen, ohne Gemütlichkeit und ohne Humor. Ihr Geist war stärker als ihre Persönlichkeit. Sie kampierte auf einer weißen, großartigen Wolke und schien mit ihrem stets in die Ferne gerichteten Blicke über ideelle und allgemeine Interessen das Einzelne und Persönliche aus den Augen verloren zu haben. Dabei aber war dieser „spiralähnlichen“ Begabung ein ausgesprochener Stich ins Erhabene zu eigen. Und wie sich sehr hervorragende psychische Veranlagungen oder Eigenschaften häufig in einer körperlichen Linie widerspiegeln und nach sichtbarer Gestaltung drängen, so verriet sich die hohe Unterscheidungsgabe dieses zu farblosen und abstrakten Geistes in einer eigentümlichen Hoheit der Haltung und der Gestalt, in einer unvergleichlich edlen Kurve ihrer Achseln, und – man lache nicht – in dem idealen Glanz ihrer träumerischen Flechten. Äußerlichkeiten waren es denn auch, die Marie mit ihr versöhnten.

„In jeder Menschenseele wohnt das Bedürfnis, sich groß zu machen, und auch das Bedürfnis, sich klein zu machen.“ Marie, welche Verherrlichungen ihrer eigenen Person mit fast kindlicher Freude entgegennahm, trieb eine gewisse Bescheidenheit wiederum so weit, daß es ihr unmöglich wurde, ein ihr dargebrachtes Gefühl sich wirklich vorzustellen, noch zu begreifen. Entweder suchte sie den Grund dafür in irgendeiner Lücke, einer untergeordneten Beschaffenheit des Betreffenden, oder sie fand überhaupt nicht den Mut, daran zu glauben. So verwirrte sie jetzt die entschiedene Gunst, die ihr von der jungen Fremden zuteil wurde, um so mehr, als sie viel zu unerfahren war, um sie richtig zu taxieren. Die wenigen Tage ihres Aufenthaltes gestalteten sich übrigens auf die denkbar angenehmste Weise. Marie kam zum erstenmal mit den berühmtesten Leuten ihrer Zeit zusammen und saß stumm, doch hoch erregt, mittags mit ihnen zu Gaste und abends im Theater. Zwischendrin allerdings wurde sie von Honorien, ihrer neuen Freundin, in Zwiegespräche hineingezogen, die ihr gar nicht entsprachen. Hohen, übersichtlichen Besprechungen war Marie nicht gewachsen, und selbst wo sie diese zu verfolgen vermochte, geschah es mit Widerstreben. Denn philosophische und künstlerische Probleme schienen ihr zu so gewohnheitsmäßiger Erörterung nicht geeignet, Honoria aber besprach nie Alltägliches, selten und nur von ferne Personalien. Bei aller Herzlichkeit lag etwas so Unnahbares, Unpersönliches in ihrem Wesen, etwas so Indirektes und Ferngerücktes in ihrem Blick, daß Marie immer den Eindruck hatte, als sähe sie jene nicht selbst, sondern statt ihrer ein Schemen, das ihr gefiel.

Am Morgen der Abreise ging Marie zu ihr. Es war ein lauer Sommertag. Honoria empfing sie mit offenen Armen und schickte den Wagen fort, um die Strecke zur Bahn zu Fuß mit ihr zurückzulegen. Alsbald war denn auch eines jener Gespräche im Gange, die Marie so sehr langweilten. Sie seufzte und sah zerstreut auf die staubigen Bäume, zum weichen, herbstlichen Himmel empor. „Gott sei Dank,“ dachte sie, „sie geht.“

Aber schon am folgenden Morgen kam ein fingerdicker, in der Eisenbahn geschriebener, französischer Brief, der nichts weniger enthielt, als die Fortsetzung der allzu umfassenden Philosopheme, welche Honoria auf dem Weg zur Bahn entworfen hatte. Nicht einen Augenblick länger wollte jedoch Marie eine solche Komödie aufrechthalten. Das „Du“ ignorierend, das in jenem Briefe geführt wurde, schilderte sie sich selbst so, wie sie war, mit ihrem wirklichen, mit ihrem grundsätzlichen Mangel an Interessen, und die gänzlich verschiedene Richtung, welcher sie ihrer Natur nach angehörte. Somit galt ihr diese Episode als beendet, und sie war nicht wenig überrascht, als Honoria, welche die Dinge von oben nahm, sie in einem noch dickeren Briefe eine Spartanerin nannte und nunmehr den Verkehr so rege gestaltete, als lebten die beiden Mädchen in benachbarten Städten, nicht in getrennten Erdteilen. Marie wurde der Gegenstand fortwährender Sendungen und Geschenke. Bald kamen persische Lieder in köstlichem Pergamenteinband, mystische und philosophische Werke, eingerahmte Gravüren in hohen Kisten, und sie hatte vollauf zu tun, um nur die Zeitschriften durchzusehen, auf die sie sich mit einemmal abonniert sah, und sich von all den Büchern in Kenntnis zu setzen, die ihr bald direkt, bald durch Buchhandlungen zukamen. – Sie tat es denn auch mehr aus Erkenntlichkeit, denn aus Neigung.

So verging ein Jahr. Da erhielt sie in den letzten Septembertagen unerwartet einen Brief mit dem Homburger Stempel. Honoria war infolge einer durch Überanstrengung erfolgten Krankheit zur Erholung dorthin befohlen worden und sollte nach beendeter Kur schleunigst nach dem Süden. Da ihr der Umweg zu ihr nicht gestattet war, bat sie nun dringend um ihren Besuch. Marie sah diesem Wiedersehen mit Interesse entgegen; besonders freute sie sich auf das Treiben eines so berühmten Kurortes und ließ sich durch die Jahreszeit in ihren Erwartungen nicht beeinträchtigen, denn in Homburg, wollte sie wissen, gab es das ganze Jahr hindurch schöne und interessante Leute.

Honoria, die ihr einige Tage später auf dem Frankfurter Bahnsteig entgegeneilte, erschien ihr noch höheren, noch edleren Wuchses als vordem. Trotz der Modernität ihrer Kleidung war die Zeichnung ihres Kopfes, die Linien ihrer Gestalt erhebend wie ein antiker Fries. Ihr Anblick rührte die leichtbewegte Marie. Sie freute sich, den heißen, staubigen Zug zu verlassen und die letzte Strecke in dem offenen Wagen zurückzulegen, der vor dem Bahnhof in der Sonne wartete, durch Frankfurt, das sie nicht kannte und in der frischen, schimmernden Luft nach Homburg zu fahren, und sie freute sich, daß sie gekommen war. Allein schon unterwegs empfand sie die alte Ungemütlichkeit, die alten Strapazen dieses Verkehrs. Honoria schien in ihrem Element, wenn ihre Gedanken gleichsam in der Luft hingen; Marie hingegen war gänzlich real, und ihr Idealismus galt dem Leben. Oh, wie erschrak sie über den Anblick, den ihr Homburg gewährte! Von Massen welkenden Laubes bedrückt, starrten die leeren Alleen, starrten verödete Gärten und Villen. Honoria rühmte ihr die große, wohltuende Stille des sonst so geräuschvollen Ortes. Die Villa, welche sie ganz allein mit ihrer Gesellschafterin und einer Kammerfrau bewohnte, war die Dependance des einzigen Hotels, das, wahrscheinlich ihr zu Ehren, noch nicht geschlossen war. Marie erbleichte. Ihr Herz sank. Sie haßte das ausschließliche Zusammensein mit Damen! Sie sah keine Anregung, keinen Sinn in einem einschichtigen Verkehr, und er langweilte sie auf die Dauer zu Tränen. Ein Leben, das auf ein Weilchen das Ideal eines geistig und gesellig überanstrengten Menschen sein mochte, war nur ein Alp für das zerstreuungssüchtige Mädchen.

Honoria lag des Morgens meist mit schon ganz erschöpften Zügen zu Bett; hatte vor Tagesanbruch ihre Korrespondenz erledigt und Emersons Essays oder die Briefe des hl. Paulus gelesen. Sobald sie aufgestanden war, drang Stunden hindurch der hartnäckige Lärm der Schreibmaschine durch die stillen Zimmer. Vor dem öden Klippklapp floh Marie ins Freie und strich durch die toten Straßen Homburgs, oder verlor sich in einer Anwandlung von Schwermut in den großen Park. Früh am Nachmittag harrte dann die leichtgeschirrte Viktoria, und Marie freute sich der langen Fahrten durch den goldenen Taunus. Aber als der Oktober seinem Ende zuneigte, litt sie bei dem Anblick des sterbenden Laubes, der finster welkenden Natur. Ihr war, als fielen ihr die gelben Blätter aufs Herz, und ihr Auge lechzte nach einem grünen Zweig, nach einem blühenden Fleck inmitten des ungeheuren Grabes, das sich bereitete. Sie begriff die Schönheit des Herbstes, Honoriens Freude daran nicht. Was der Augenblick verhieß, nicht was er bot, nicht der Sonne zärtliches Verweilen, ihren Scheidegruß vernahm sie allein. Und wenn der Wagen in der Dämmerung durch einen Dom welker, seufzender Bäume fuhr, so umlauerten sie, wie einst die Elfen des Erlkönigs Sohn, des Verfalles grausame Schatten und entwanden ihr das Herz.

Zu Hause kam dann der lange Abend mit Shakespeares und Brownings Gedichten; aber sie fing an, alle Bücher zu hassen. Wohl konnte sich ihr Blick flüchtig beleben, wenn Honoria duftend und geschmückt, gleich einer hellen Wolke, ihrem Zimmer entschwebte, sonst aber saß sie oft stundenlang mit ihrer Stickerei still am Fenster, und nach den einfältigsten Bemerkungen mußte die sonst so Gesprächige ringen. Gern folgte sie Honoriens Aufforderung, zu musizieren. Allein die Töne brachten das Echo ihrer Langeweile mit quälender Steigerung zu ihrem Bewußtsein, und schlaff und zerstreut endete ihr Spiel.

In dieser Zeit hörte Marie, die sonst alle Wagner-Opern kannte, in Frankfurt zum erstenmal den Rienzi, und obwohl Aufführung wie Besetzung zu den minderen gehörten, so war sie von dem Drang, dem titanischen Gären, ja gerade von dem Unvermögen dieses Werkes heftig ergriffen. Hier war Ikarus, dessen ewiger Mut sich über Welten hin Flügel, die nicht brachen, schmieden sollte.

Mächtig angeregt fuhr sie im offenen Wagen durch das mondumhauchte Land und weiße Dörfer nach Homburg zurück, und Wagners Schaffen als eines Wunders gedenkend, lehnte sie den Kopf weit im Wagen zurück und verlor sich in der stillen, bethlehemischen Pracht. Vergessen und verweht schien ihre Schwermut, die doch schon tags darauf, gleich einem Nebel, ihr Gemüt von neuem umschleierte. Besonders auf die Schreibmaschine wurde sie zuletzt erbittert, und als diese eines Morgens wieder so geschäftig das stille Stockwerk durchdrang, fing Marie in einem Paroxysmus von Langeweile in ihrem Zimmer stürmisch zu weinen an. Das Leben war so reich, so mannigfach und schön! Es gingen auf der Welt so reizende Menschen einher! Ach! Warum lebte sie von ihnen getrennt! Wer war für des Lebens Genüsse königlicher geartet? Mochte sie zeitlebens entbehren, bis in alle Fibern blieb sie verwöhnt.

Und obwohl nur mehr drei Tage ihres Bleibens waren, schien ihr gerade der heutige nicht mehr erträglich. Rasch zu Honoria tretend: „Ich kann heute keine gelben Bäume sehen und fahre nach Frankfurt“, sagte sie lachend und drückte ihr den Arm. Sie sah noch Honoriens überraschten, aber so freundlichen Blick, dann stürmte sie die Treppe hinab und zur Bahn, der Schreibmaschine und Homburg davon!

Wie ein Füllen, das sich auf freiem Rasen tummelt, so behaglich war es Marie am selben Nachmittag auf der bewegten, im lieblichsten Lichte getauchten Zeil. Die üppigen Töchter der Stadt, die mit ihren Müttern erwartungsvoll einherzogen, die eiligen Geschäftsleute, die Müßigen und die Lebensfrohen, die gemeinen, die aufgeputzten, oder die sympathischen Leute, alle schufen ihr Kurzweil, und wie ein Kind in Bilderbücher, war sie ganz in den Anblick der vielen Spaziergänger versunken; überall von dem Zauberkreis eines selben Lebens gebannt, ruhte, sich selber verlierend, ihre gehaltlose Seele, die dem Mann ohne Schatten glich, von der Einsamkeit aus.

Sie hatte die Stadt der Kreuz und Quere nach durchstreift, an Brücken, stillen Plätzen und verlorenen Straßen geweilt, und schon erblaßte der Himmel. Gänzlich ihrer Stimmung hingegeben, war ihr Bewußtsein wie umflort, von der Atmosphäre des alten und des neuen Frankfurt durchdrungen, und von der sterbenslauen Luft, in der ein Klang lag ewiger Ermattung, von ewiger Vergänglichkeit.

In einer kleinen verträumten Sackgasse machte sie halt, um ihren Weg zur Bahn zu erfragen; und von einem entstellten Profil Richard Wagners, das dort in der Auslage eines Musikladens prangte, wandte Marie, die ungern Häßliches sah, im Vorübereilen den Blick.

Den Abend verbrachte sie mit Honorien in aufgeräumtester Laune, erzählte, was sie gesehen, gehört, gegessen hatte, und unterbrach die Browningsche Lektüre mit allerlei Späßen.

Dies war ihre vorletzte Nacht in Homburg, und entmutigt schlief sie ein. Wann endlich würde sich ihr Leben bewegter gestalten? – Sie gedachte der vergnügten kleinen Konditorsfrau in Frankfurt, an die sie heute so viele Fragen gestellt, die über ihren schmucken Laden nicht hinausdachte und inmitten ihrer Glasglocken, ihrer Schokoladekrapfen und Schaumrollen ein Dasein lebte, vor welchem Marie erschauerte.

Aber was hatte sie denn selbst von ihrem klein bißchen Bildung, als daß sie für die Alltäglichkeit auf immer verdorben, auf immer beunruhigt blieb. Heiß schoß ihr das Blut zu Kopfe: was wußte sie denn – und was sollte sie von Honorien halten, die über ihre Theorien zu leben verlernte?

Es war finster und still in ihrem Zimmer, als Marie erwachte. Sie besann sich nicht sogleich, was dies wilde Klopfen ihres Herzens verursacht, was sie geweckt, was sie gesehen hatte. Dann stürzte sie ans Fenster und riß es auf. Östlich dämmerte ein heller Streifen durch die Nacht, allein den Tag in ihrem Herzen begrüßte sie mit einer Flut immer neu hervorbrechender Tränen, daß ihr Gesicht erblindete wie eine Scheibe unter dem Regen.

Jenes selbe Profil, von welchem sie gestern im Vorübereilen den Blick abwandte, hatte sie, verherrlicht, zwei Schritte vor sich, mit unbewegtem, gerade ausschauendem Auge gesehen. Aber es war ein vergöttlichtes Auge, weltenstrahlend, weltenspiegelnd und von unvergeßlicher Größe; ein individuelles und doch gänzlich entrücktes Auge. Kein Auge, mit dessen Blick der ihre sich hätte kreuzen können. Es waren die ewigen Augen Wagnerschen Geistes.

Wie ein Erdboden durch plötzliche Erschütterung, so hatte ihre Gesinnung durch ein so ungeahntes Bild eine Umgestaltung erfahren. Es war seltsam, es war spaßhaft genug, und sie wußte, welchen Hohn die Tatsache gerade in ihrem Herzen finden, sie verfolgen würde! Hier war sie: ein junges, bis ins Mark vergnügungssüchtiges Mädchen, das nichts mehr zur Ruhe bringen, in dem nichts den einen brennenden Wunsch mehr betäuben konnte: die Wahrheit zu suchen.

Denn sie wußte in dieser stillsten Stunde ihres Lebens, daß Unwissenheit es war, die jenen Gram in ihr erzeugte, weil Gedanken hinter jenen unruhigen Schatten ruhten, die sie schreckten, und daß nichts sie retten konnte, als ein hellerer Kreis des Wissens, der sie schützend umschloß, als ein Glaube, um den sie selber rang.

Tags darauf verließ sie Homburg.

Golden flogen im Nachmittagscheine Brücken, Felder und Wiesen vor ihrem Zug vorbei, aber vor dem Glanz dieser sonnenerfüllten Welt schloß sie bekümmert die Augen; denn immer schwerer wurde da wieder, auf der langen Fahrt, ihr einsam entschlossenes Herz. Sie sah sich wie vor einem Berg, den nur Geübte und Wetterkundige mit einem Arsenal von Werkzeugen wohlausgerüstet zu besteigen wagen und denen sie nun barfuß und allein folgen wollte. Was sie erstrebte, war ja zu schwer: Nichts was Gleichgewicht und Disziplin des Geistes betraf, lag in ihr vorbereitet noch vererbt, und zu einem systematischen Denken war sie weder veranlagt noch geschult. Kein Pegasus, die traurigste aller Rosinanten stand ihr zu Gebote. Aber weniger glücklich als der an Illusionen reichste Don Quichote, verglich sie unerbittlichen, fast feindlichen Auges ihre Unzulänglichkeit mit ihrem Wagnis. – Was hatte ihr stumpfes, kindisches Gehirn mit jenen Rätseln zu schaffen, die es von jeher mühten? Nun war sie erwacht. Mit weitgeöffneten Augen, die nicht sahen.

Als sie bei ihrer Ankunft in München Glucks Oper „Iphigenie in Tauris“ auf dem Zettel sah, ging sie noch selben Abends hinein. Es war eine der letzten Vorstellungen, die unter Levis eminenter Leitung und einer Besetzung alternder aber trefflicher Leute dort stattfanden, und sie atmete auf in der Atmosphäre dieses edlen Werks.

„Die Ruhe kehret mir zurück.

So sollte meine Qual Euch, Ihr Götter, ermüden.“

Es war Orestens Lied, und in prachtvoller Wiedergabe die eherne Begleitung des Orchesters.

In diesem Augenblick kulminierte das musikalische Vermögen, die Genialität des Dirigenten. Nicht so sehr „gestaltend“ stand er dem Meisterwerke gegenüber, als daß seinem unvergleichlich künstlerischen Impuls, seiner in höchster Passivität so wundervollen Ergriffenheit die tief umhülltesten Regionen sich erschlossen. So stand er unbeweglich, mit gesenktem Stabe, nur verklärten Auges sein Orchester bannend. Aber der Hauch von Ewigkeit, der über den friedensvollen Fall der Baßtöne gebreitet liegt, riß Marie mit fort. Kein anderes Kunstwerk sollte je wieder jene selbe überwältigende Wirkung in ihr hervorrufen, zu der sie jetzt ihr abnorm gesteigerter Gemütszustand befähigte. Sie verlor das Gesicht. Der Wunsch, den sie so früh gehegt, er war ihr erfüllt, die Müdigkeit, die sie so früh empfunden, sie war von ihr genommen, und sich selbst, der eigenen Dürftigkeit, der eigenen Torheit, allen Schranken des Persönlichen weit enthoben, behielt sie nur das Bewußtsein eines strömenden Glücks.

So waren denn die Würfel gefallen. Ihr Drang nach Erkenntnis war stärker als ihr Sträuben, ihre Trägheit und ihr Unvermögen.

Stundenlang saß sie nun, meist ganz vergebens, über einer einzigen Seite Kants. Aber gerade bei ihm, dem sie ein so lückenhaftes Verständnis entgegenbrachte, durfte sie, zum Atome sich erkennend, ruhn, wenn sie die Schwingen ewiger Begriffe auf Augenblicke streiften. Denn Marie hatte Geist, doch keine Geisteskraft, niemanden, der ihr half, noch sie belehrte! Nur einem Menschen, dessen Überlegenheit ihr nach allen Seiten hin entsprach, hätte sie sich ohne Reue anvertrauen können, und einen solchen Freund zu haben war ihr nicht vergönnt. So mußten denn die Bücher ihre Freunde, ihre Lehrer werden. Und schon hatte sie erkannt, daß hervorragende Anlagen nur eine gefährliche Mitgift sind, wenn gerade sie einen versöhnenden Ausgleich innerer und äußerer Widersprüche erschweren. Sie hatte erkannt, daß nicht das Leben, für welches wir geschaffen wären, in die Wage fällt, daß nicht wir selbst, sondern unser Geschick das Gegebene ist, und daß sie nicht dem Knechte gleichen durfte, der mit seinem einen Talent verzagte und es vergrub. Am schwersten ließ sie sich’s mit Schopenhauer werden, der den jugendlichen Leser terrorisiert. Und wer war sie, daß sie es wagte, ohnmächtig, verzweifelnd, so lange gegen ihn anzustürmen, bis ihre innerste Überzeugung sich wieder von ihm losriß, von seinem großartigen Gedankenring gefördert und belehrt, ihm nicht länger unterworfen war?

Einen heißen, einsamen Sommer verbrachte sie mit Platos Büchern, und unter Tränen las sie das Symposion. Hier war ein Ziel und göttliches Verweilen, der Harmonien seliger Hauch, und wie vom hohen Berg herab lag da die Welt – beschaulich, unbegehrt – zu ihren Füßen.

Aber sie war schön, diese Welt! Feierlich und groß! – Und alles in ihr erhielt Sinn, Leben und Bestand durch Bezüge. Und in Bezügen lag ein Schwerpunkt selbst der größten Geister.

Der Erwerb des einen wird da dem anderen Besitz; Steigbügel für den Kommenden. Allein die Schranke war die Bedingung des menschlichen Gehirns, und die Grenze des intellektuellen Vermögens durch die menschliche Natur scharf abgesteckt.

Marie versank in immer tieferes Nachdenken.

Nein: Allumfassende Vollkommenheit war nirgends. –

Da erstand vor ihrem inneren Auge, wie im Morgengrauen deutlich erkennbar, die universellste, übergreifendste Gestalt, die keine Irrtümer und keine Lücken in sich aufwies! Vielmehr auf unnennbar geheimnisvolle Weise alle Widersprüche in sich aufhob, weil ihr nichts fremd war und nichts entzogen, was tausendfach die Menschen scheidet und vereinsamt. Ja, es war ein Mensch. Aber Himmel und Erde waren der Schlüssel zu ihm, und er erfüllte die Welt. Allumfassendes, schweigendes Begreifen entströmte seinem Auge. Ja, es war ein Gott. Seine Züge aber! Die größten Denker und Meister aller Zeiten hatten sie ihr entschleiert, weil alle menschlichen Heroen zu seinen Kommentaren wurden, und ihre unbeschreibliche Bewandtnis zur Erläuterung! – Keine Philosophie, keine Äußerung auf dem Gebiete des menschlichen Geistes, ja des Geistreichen, des Witzigen, des Profanen – keine Kunst, die nicht zu ihm gravitierte. Der Gedanke war so groß, daß sie erschauerte. Und von der überschwenglichen Tragweite jenes schlichttönenden Ausspruches: „In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen“ wurde sie wie von unendlichen Schallwellen fortgerissen und durchleuchtet.

Nur eines trennte ihn von uns – das Übel, das allen Gram erzeugt. Eines mußte er uns entnehmen. Eines war göttergleich im Prinzip von ihm ausgeschieden: die Qual.

Marie mochte ihre Gedanken nicht länger ertragen. Sie ging hinab in die Straße, die starren Häuserreihen entlang, der heißen, verödeten Stadt. Aber das Licht, der Anblick des leeren, weißlichen Himmels erweckte Erinnerungen und Leid. Zum Stachel war ihr da der taube Glanz des Tages, und jene „Geister der Luft“, die den Menschen jagen und ihm das Himmelslicht versteinern. Atemringend muß er es ertragen.

Nicht daß es sie jetzt nach Mitteilsamkeit drängte, nein, auszuruhen, zu vergessen, sich zu freuen. Schönheit, Gebärde, Sprache, die Form eines Auges, die Bewegung eines Armes, dies alles war ein Organismus, der sie umfriedete. Dann wurde es still in der dumpfen Werkstatt, und Gedanken feierten. Der Reiz der Nähe löste den gezogenen Blick von ihren Augen, und ihr Geist erkannte rastend seine Heimat.

Denn es war ihr Geist, der in der Welt der Körper, der in dieser Welt sein Element erkannte!

Allein in der Einsamkeit, die sie also bedräute, umschloß sie jetzt, deutlich wie Felsenzacken gegen das Sonnenlicht, der Ring ihrer Gedanken.

Nicht länger von der Welt barer Vorkommnisse aus den Fugen gerissen, erkannte sie die tröstliche Bedingtheit alles Elends. Erkenntnis sollte nicht den Pflock des Leidens tiefer in uns treiben! Alles war Folge, und selbst Geschehnisse nicht unentrinnbar.

So weit, so anders erblickte sie die verlorenen Tore ihres Glaubens wieder. Was immer das Dogma vom Geiste löste, erschien ihr da als ungeheuerster Verrat. Nicht als Dualität, als Organismus erfaßte sie den Menschen und seine Apotheose, nicht seine Trennung als sein Endziel. Ihrem weltabgewandten und entsagungsvollen, aber stets verheißungsvollen Bildern zugekehrtem Auge wollte die unendliche Elastizität jenes Glaubens als sein tiefinnerstes Geheimnis sich erschließen; des Paradoxalsten, eingedenk und psychologisch tiefst Begründeten, was der Mensch zutage förderte: als das „Maß aller Dinge“ stellt er den Abstand zwischen ihm und der Gottheit, Prometheus, die seligen Götter und den allgewaltigen Zeus. Quellen und Haine belebt er mit übermenschlichen Wesen, scheu verehrend, was er selber schuf. Ahnung war es, die ihn die eigenen Ideale, das eigene Ziel so fern erkennen und den Olymp erträumen ließ! Solche Träume, mußten sie nicht das Sehnen eines Gottes nötigen, zu tausendfacher Befreiung den Menschen zu erlösen?

Geraldine
oder
die Geschichte einer Operation

Für Professor Franz Keysser (Berlin)

I

Geraldine, aus dem Häuflein derer, mußte im Spätfrühling des Jahres 1923 in die chirurgische Klinik einer süddeutschen Stadt. Freunde begleiteten sie. Den Abend durfte sie noch mit ihnen verbringen. Sie war guter Dinge und trank auf ihr eigenes Wohl. Dann nahm ein helles Zimmer, das ins Grüne sah, sie auf. Die Schwestern, in der Umrahmung ihrer gesteiften weißen Flügelhauben, besonders aber deren breite und bejahrte Vorsteherin, erweckten ihre Zuversicht. Spät trat sie noch bei Geraldinen ein, um nach der Neuangekommenen zu schauen, und bei ihrem Anblick streckte die Kranke ihre Füße länger aus, einer Müdigkeit hingegeben, die sie plötzlich wie von weither überkam. So schutzverheißend war die erstarkte Weisheit dieser Augen, so geborgen fühlte sich Geraldine, als sie in diese mächtigen Pupillen sah. Sie wußte, wie wenig ein Beruf zur Sache tat, wie leicht gerade die tugendhaftesten zur Klippe werden. Inbegriffen, ganz unausgesprochen aber war hier alles Fromme, und daß die Pflegerinnen dieses Hauses wie die Blumen eines gehegten Gartens standen, Unkraut nicht wuchern konnte, lag an dieser Vorgesetzten. Denn es ist immer das Wichtigste, wer regiert. Wie eine Mutter, nicht nur der Patienten, sondern irgendwie auch dieser Ärzte, Geheimräte und Professoren, wie eine Mutter aller Menschen schritt sie durch die Gänge, homerisch in der Unbeirrbarkeit ihres Waltens, ehrwürdig wie ein Stück Natur. Und sie hieß Guido, wie ein Mann.

Aber auch Geraldine kannte die Welt.

 

Lesend verbrachte sie den nächsten Morgen; am frühen Nachmittag wurde ihr Morphium gegeben und später noch einmal. Da tönte sich der Widerschein der grünen Bäume in ihrem Zimmer sanft und immer sanfter ab, und als eine Bahre hereingezogen kam, bestieg sie sie eilends wie im Traum. Nach einer kurzen Fahrt befand sie sich zwei Schwestern gegenüber, und diese trugen ihre weißen Ordensschleier nicht abstehend und gesteift, sondern gar kleidsam in den Nacken zurückgerafft, und sie fragte die Schönste um ihren Namen: Ermentrudis. „Meine Zunge ist schwer, sie ist trocken, sie ist voll Mohn, ich spreche so mühsam“, sagte Geraldine, und überließ sich ihnen. Ihr war, als würde sie von Engeln bedient. Da lag sie schon auf einer Bahre, und rechts von ihr gab sich ein Arzt mit ihr zu tun. Aber seine Gegenwart war ohne Resonanz. Nur Ermentrudis erfüllte den Raum. Vielleicht ist sie nicht so schön als ich sie sehe, dachte Geraldine, deren Augen zugefallen waren, vielleicht ist es Täuschung, wie der Geschmack von Mohn in meinem Munde. Wie ist sie schön! – Da war sie weg, und Geraldine wieder in der Fahrt. Nur bis zum nächsten Zimmer dieses Mal. Es dünkte sie aus Glas, und ein anderer Arzt saß jetzt rechts von ihr, als hätte er auf sie gewartet. Sein Gesicht schien ihr nicht sein eigenes zu sein, sondern ganz in der Anspannung seiner Züge statt in seinen Zügen zu beruhen, aber sie streifte es nur mit einem Blick, dann fielen ihre mohnbeschwerten Augen wieder zu. Doch alsbald hörte sie sich stöhnen. Und warum riß er ihre Adern so unbarmherzig auf? Sie fühlte, wie er sich durch nichts beirren ließ, und sie blieb unbeweglich, aber sie hielt ihm vor, daß er sie peinige. Fort und fort, wie lange noch? – Da merkte sie plötzlich, daß er nicht länger rechts, sondern ihr jetzt links zur Seite stand, indes ein anderer Mann in Szene trat, als wäre dies eine Bühne. Ja, genau so, war jetzt eine mächtige Form herangetreten, wie ein Dirigent sein Pult einnimmt, und als schwänge er einen Stab mit den Worten: „Alla breve meine Herren!“ so sagte er: „Klagen Sie nicht!“ und fing an zu schneiden. Geraldine aber griff da zum Schweigen, wie ein Geiger in sein Instrument. Sie streckte nur ihre linke Hand schutzflehend ins Leere. Aber schon war sie von einer andern sanft geborgen und vertröstet, und sie umklammernd, führte Geraldine ihren stummen Pakt den ersten Stößen gegenüber aus. Sie wähnte jetzt, es sei Nacht. Doch statt erhöhter Schmerzen wurden sie mit jeder Sekunde dumpfer. Und war sie denn selbst ein besaitetes Holz geworden? Sie spürte nur ein virtuoses Kneten, wie rasche Fingersätze eines Pianisten in ihrem unempfindlichen Fleisch. Allegro, vivace, accellerando, presto, tempestuoso fuhren die Griffe wie auf Tasten dahin. Geraldine hatte den Eindruck von Kunst. Wie aber? Wie konnte dies sein? Und doch, welch deutliche, welch aufregende Beziehung, welch unerhörte Analogie, welch spannende und unvermutete Sensation! Für einen Augenblick war alles rege in ihr, und sie hätte sich gern aufgerichtet, um hinzusehen, ihr Kopf aber leistete Widerstand; er war zu schwer. „Es wird schon genäht, es wird schon verbunden“, drang es von links, wie aus einem Souffleurkasten zu ihr.

Und schon wurde sie wieder fortgetragen. Unklar diesmal die Fahrt durch den Gang in ihr Zimmer zurück.

Die Nacht war nicht mehr fern. In ihrem Bette aufgerichtet, ohne eine Spur von Schmerzen, ließ sie sich ein Buch herüberreichen, wähnend, das Lesen würde ihr leichter fallen als das Sprechen. Die Vorhänge bauschten sich sachte in der Frühlingsluft, im Scheine eines blauen Seidenschirmes lag sie und sann.

Welch freundlicher Dämon hatte die Tafel ihrer Erinnerungen gelöscht, daß ihre Gelassenheit sich immer mehr vertiefte?

Da, mitten in der Nacht – als klingle es von allen Seiten zugleich – schlugen die Wunden Alarm. Weggefegt das letzte Stäubchen Morphium; das ganze Bein entfacht. Schlimmer noch die hohe Stachelkrause, die vom Knie aufwärts loderte. Aus purer Sympathie erglühten Fuß und Ferse, von heißer, imaginärer Asche versengt. Geraldine, in den Tumult verstrickt, hörte ihre eigenen Seufzer nicht.

Am Morgen klirrte der Wagen mit den Verbandwerkzeugen durch den Gang. Guido war bei Geraldinen. Da öffnete sich die Türe, als sei ihr Zimmer eine Freistatt. Der Chefarzt trat als erster herein, nach den Schmerzen dieser Nacht zu fragen. Und es erfolgten sehr genaue Weisungen, um einem neuen Ansturm vorzubeugen. Da wunderte sich Geraldine zum ersten Male, ohne sich entsinnen zu können weshalb. Sie grüßte nach rechts und links die beiden anderen Ärzte von gestern; dann war sie wieder allein.

II

Seltsame Schwingen, neue Rhythmen trugen ihre Tage jetzt dahin, ihre Stille so manches Mal durch nichts als den Besuch der Ärzte unterbrochen. Blumen umgaben sie. Der über ihr Bett geschobene Krankentisch bot ein reiches Feld der Beschäftigung, und ein Zufall wollte, daß Leute, mit welchen sie lange nicht mehr in Kontakt war, plötzlich in der Ferne an sie dachten und ihr schrieben. Eines Morgens kam ein Stoß der neuesten französischen Bücher für sie an; sie lagen in großer Evidenz auf Tisch und Decke gebreitet. Jedoch der Zeitungsmann durfte nicht zu ihr herein. In Tönen der Angst bat sie die Schwester, ihn von ihr fernzuhalten, und schon früh am Nachmittag sehnte sie sich nach Morphium. Fing aber der Rollwagen mit dem Verbandzeug, den Alkohol und Jodoformflaschen durch den Gang zu klirren an, so mußte sie lachen; denn es ging dann so fühlbar von Zimmer zu Zimmer eine Spannung, es entstand eine Aufregung, wie wenn Hennen gefüttert werden. „Jetzt werden die Hennen gefüttert“, sagte sie jedesmal zu Guido, die immer der Karosserie voranschritt.

Eines Tages fragte sie den Arzt, der sie in ihrer Lektüre unterbrach: „Würde dieses Buch Sie interessieren, wenn ich fertig damit bin?“

Er warf einen Blick auf den Umschlag und zögerte: „Von Franzosen höre ich lieber nichts“, sagte er dann.

Da schwieg Geraldine.

Das Buch, das er abgelehnt hatte zu lesen, Siegfried et le Limousin, von Jean Giraudoux, war nicht vollkommen. O nein, es hatte seine Fehler. Man durfte es ein wenig inkoherent nennen sogar. Aber jede Seite rührte und entzückte Geraldine. Denn regenbogenartig schlug hier eine Brücke auf, bebend schwang sie herüber, pulsierte, vibrierte, wie ein Regenbogen ephemär. So gehörte auch dies Buch einer anderen Wirklichkeit als die der Ereignisse an; und sie mißachtend, sie verachtend, irisierte über sie hin die Fülle des sich entziehenden, ach! des werbenden Auges ...

Allein es war umsonst geschrieben, da niemand es in Deutschland las. Auch die anderen neuen Bücher enthielten kein gehässiges Wort mehr über „les Allemands“, aber sie waren umsonst geschrieben, da niemand sie in Deutschland las. Geraldine entsann sich der skeptischem aber so aufhorchenden, so gespannten Mienen ihrer Freunde in Paris, als sie ihnen von „jenen anderen Deutschen“ erzählte, von welchen nichts mehr bis zu ihnen gedrungen war. Ob auch einige wie mit Engelszungen hinüberriefen, man stellte sich ihnen taub, wenigstens solange sie lebten. Heute war es umgekehrt.

Geraldine schlief mit dem Kopf auf dem offenen Buche ein, aber nicht lange; ihre Aufregung scheuchte sie auf, und sie las im Scheine ihrer blauen Lampe weiter.

Als am nächsten Morgen der Chefarzt bei ihr eintrat, warf er einen Blick auf die Tabelle und ließ Sandsäcke herbeischaffen, in welchen Geraldines Bein wie in einen Schacht eingedämmt werden sollte, damit es sich nicht mehr bewege. Man schleppte sie wie etwas gar Wichtiges herbei. „Hier stimmt etwas nicht!“ dachte sie gequält. Die Ärzte umstanden sie ja, als ob ihre Gesundung eine wichtige Sache sei. Und das Stück von der gesitteten Weltordnung wurde hier gespielt, als wisse man nicht, wie es draußen zugeht. Aber sie selbst, spielte sie nicht mit? Ließ sie nicht alle fünf gerade sein? Nicht einmal nach dem Wetter mochte sie fragen, als ginge sie das alles nichts mehr an, als sei alles eins. Und nun? Und wie lange durfte sie noch ihrer beginnenden Unruhe, ihrer wachsenden Verwirrung wehren? Die Wirklichkeit. Ja sie war das entfallene Wort, der Faden, der gerissen war, an dem sie wieder anknüpfen mußte.

In der Nacht fuhr sie an die Klingel, und die Stimme, mit der sie die herbeieilende Schwester unter Ächzen anflehte, sie aus dem eingestürzten Tunnel vorzuziehen, war wie ein heiserer Bariton. Es hatten sich aber nur die Sandsäcke verschoben, und mit ihrem Gewicht die Wunden beschwert. Vielleicht auch hatte sie nur geträumt. Allein die Schwester beruhigte sie, räumte die Säcke aus dem Weg, brachte ihr eisgekühltes Zitronenwasser und reichte ihr Morphium. Sie war mürbe und trug sich zart wie eine schwanke Wicke im Sommerwind, die ihren letzten Duft, ihre letzte Süße veratmet. „Welch ein Frühbeet von Schwestern!“ dachte Geraldine. Und Guido die große Gärtnerin.

Es gäbe vielleicht keine Ärzte in der Welt, wenn nicht so ziemlich jedermann seinen eigenen Arzt in seinem Innern hätte. Geraldinen war es am folgenden Morgen klar, daß es nur mehr wenig Tage bis zu ihrer Herstellung bedurfte. Bei ihrem Einzug in die Klinik richtete sie fürs erste an alle die Frage, wann sie wieder herauskommen würde, und gleich und auf die Stunde verlangte sie es zu wissen. Nun sie fast keine Schmerzen mehr hatte, erkannte sie mit einem Male, welche Ablenkung sie für sie gewesen waren, und sie vermißte sie; denn diese an sich waren ja auch eine Betäubung gewesen. Und ihr geschah wie dem flüggen Vogel, der wohl am liebsten noch einmal in seine Geborgenheit zurückkröche, bevor er den ersten Flug unternimmt. Draußen wartet seiner die Welt. Das Nest dagegen war ihr entzogen. So dieses Haus. Wie eine Arche zog es über die finsteren Wasser dahin und beruhte in sich. Bald mußte nun Geraldine aus seinem Schutze wieder hervor. Und sie verzagte. Sie bangte nach den wolkenlosen Tagen der Vergessenheit, der Palliative. Sie waren vorbei. Andere Wunden waren nunmehr wieder erwacht, unheilbare, die niemand verband, um derentwillen niemand sie bemitleidete, noch eine Blume schenkte oder sie umgab. Wie ein Himmel, der sich ganz verhängt, und von dem es dann unablässig niederrauscht, umzog sich Geraldinens Gemüt, und erst stoßweise, dann unaufhaltsam flossen ihre Tränen. Zwar konnte sie jederzeit innehalten, und wenn jemand bei ihr eintrat, ganz vernünftig schwätzen. Aber sobald sie allein war, setzte der Landregen wieder ein. Der Geruch der Speisen widerte sie mit jedem Tage stärker an, und sie weinte vor Ekel bei ihrem Anblick, ob sie auch hungrig zu sein vermeinte, bevor man sie ihr brachte. „Kaputt ist kaputt!“ sagte sie zur Schwester, die sich über ihre kaputten Nerven ausließ. Aber vor den alles sehenden Pupillen Guidos redete sie sich auf eine beunruhigende Äußerung heraus, die bei der Morgenvisite zwischen den Ärzten gefallen sei; sie habe sie deutlich gehört. Und sie rückte beiseite, damit Guido sich zu ihr setze, denn sie erbettelte jede Minute ihres Verweilens.

Der Tag verebbte an den weißen Wänden ihres Zimmers, sie standen im Widerschein des umgoldeten Laubes, dann erbleichten sie wieder. Geraldine war schon für die Nacht gerichtet, hielt ihr heiles Knie umklammert und weinte. Die blaue Lampe warf ihren Schein. Niemand störte sie mehr. Da klopfte es an ihre Türe und Guido in Begleitung des Arztes trat herein. Er kam sie zu beruhigen: es handle sich nur um eine vorübergehende Phase und sie würde die Klinik bald verlassen können. Er erinnerte sie nicht daran, daß Schwerkranke in den angrenzenden Zimmern lagen, ohne Aussicht auf Genesung. Ein schwedischer Student war in der Nacht gestorben. Sie aber mußte noch so spät getröstet werden. Ihr Schuldbewußtsein machte sie befangen, sie wußte nicht, was sagen. Die französischen Neuerscheinungen lagen auf ihrer Decke gebreitet. Es war aber derselbe Arzt, der es abgelehnt hatte, sie zu lesen. Scharmante Bücher, bemerkte sie, doch ohne sie ihm noch einmal anzubieten. Doch als er sich jetzt anschickte zu gehen, bat sie mit einer winzigen Stimme um Morphium. Es wirkte nur langsam bei ihr, und bis dahin konnte sie bequem schluchzen.

Fürwahr, sie hatte es gut. Selbst in der Nacht war dieses Zimmer freundlich: der weiße Tisch mit den lichten Messinghähnen für warm und kalt, wie sie es liebte; der magisch sanfte Schein des Seidenschirmes, wie blasser Rittersporn so blau. Die Birne war schwach, aber sie genügte gerade.

Sie dachte an ermordete Freunde, an die grenzenlose Abgeschiedenheit ihrer letzten Augenblicke. Ja, das war die Wirklichkeit! Feige, feige Geraldine! Freunde, besser als sie, waren gegangen, früher als sie, und hatten ihr Tagewerk vollendet. Ihr war noch eine Frist gegeben. Nichts anderes als eine Frist bedeutete ihr Genesung.

Geraldine hörte der Posaunen viele.

Und dann genoß sie doch wieder die tröstliche, verbrecherische Schale der Vergessenheit, und es war alles eins.

Jedoch derselbe Arzt kam tags darauf selbst auf das Thema zurück, und bevor sie ihrerseits sich dazu äußerte, überschlug sie im stillen, wie oft sie schon dasselbe gesagt hatte, sich, und gewiß auch andern zum Überdruß. Innerlich seufzend legte sie über „jene anderen Franzosen“ los, wie sie es drüben über „jene anderen Deutschen“ getan hatte. Es ist nicht mehr zum Anhören, dachte sie dabei. Denn das Wahre, das Rechte, das Richtige, es verträgt nicht unbeschadet die Geistlosigkeit ständiger Wiederholung. Diese schlägt vielmehr den widerlegbaren, den falschen Argumenten vortrefflich an, und entkräftet sie nie; ja sie ist das Geheimnis ihrer Wirkung: immerzu laut ausgerufen schlagen sie ein, und wuchern wie jedes andere Unkraut. Indessen sprach Geraldine von dem versöhnlichen Geist der Intellektuellen, den man unbeachtet ließ; wie unglücklich sind wir über so vieles gewesen, schloß sie mit schier lahmer Zunge, was unter unserem Namen geschah, und heute stellen wir uns unseren Gleichgesinnten gegenüber taub.

„O wirklich?“ sagte er.

Es war aber so ganz und gar derselbe aufhorchende Ausdruck, dieselbe Skepsis, dieselbe sensible Spannung im Auge, mit welcher auch ihre Pariser Freunde „oh vraiment?“ erwidert hatten, daß sie fürwahr nicht nur ein ähnliches, nein! ein identisches Gesicht vor sich sah. Und es war undenkbar, daß mit demselben verschütteten Gefühl, derselben verdrängten Schmerzlichkeit das „oh really?“ eines Engländers, auch des „deutschfreundlichsten“ gefallen wäre. Denn nicht Sympathie oder Abneigung sind hier, wie zwischen andern Völkern, das Hin und Her. Sondern Erotik oder der Haß der Geschlechter, die beseligende Flamme, oder der Atem des Teufels, der über sie hinbläst.

Seit ihrer Krankheit wechselten ihre Anwandlungen schneller als das Licht. Was ließ sie jetzt in einer blauen, spiegelklaren Stimmung untergehen?

Sie hatte unter ihren mitgenommenen Büchern die von Hofmannsthal Anno 1913 so schön und ahnungsvoll eingeleiteten Bände des „Deutschen Erzählers“. Ein paar Generationen alt und schon antik! Verwunschen, unerschöpflich, losgelöst! – Und aus ihrer Welt heraus, ebenso zeitfremd wie sie, war hier ein Deutscher, der Sache so ganz ihrer selbst willen ergeben, daß eine fühlbare Stille ihn umgab, die ihn allem Getriebe entzog. Schlecht oder recht dachte Geraldine, wie ist doch der Deutsche so gründlich! Er ist schlecht fast bis zur Pedanterie, seine Güte ist unwahrscheinlich. Dieser hier stand an der Spitze einer nunmehr so weit gediehenen Forschung, daß sicheren Todeskandidaten eine Anwartschaft, statt auf Rückfälle, auf ein neues Leben verliehen wurde. Da entsann sich Geraldine, was sie sich vorgenommen hatte, ihm zu sagen. „Mich faßt eine wilde Freude,“ sagte sie, „wenn ich an solche Verwirklichungen denke. Denn ein Deutschland als Wohltäter der Menschheit, welch ein Triumph wäre dies! Welch stolze Absage an seine Schuldigen! Welche Ehrung seiner Schuldlosen und seiner Geopferten! Welch einzig würdige Art, der Welt seine Leiden heimzuzahlen!“

Utopien, dachte sie, als er draußen war, Utopien, und weinte in Strömen.

Aber wie eine Bravourarie ging tags darauf das Ausziehen der Fäden vor sich. Rhythmisch flog die Schere durch die Luft und schoß wieder herab. Geraldine gab keinen Laut und staunte.

Eine Woche später packte sie ihre Siebensachen mit Hilfe der Schwester, die französischen Neuerscheinungen obenauf. Dann besann sie sich auf Zahnschmerzen und bat um Morphium für die letzte Nacht. Im Schein der blauen Lampe war sie des Augenblicks gewärtig, wo sie sich entfliehen, noch einmal Urlaub von sich nehmen durfte. Wie ein alter Zwilchrock, der müde vom Nagel hängt, so harrte ja ihr abgelegtes Sein, daß sie es wieder überzog. Nur einmal noch wollte sie das Fest der Trennung von ihm feiern. Als Kind hatte sie sich an Erwachsene geklammert mit der Frage, ob man denn sein ganzes Leben sich selber bleiben müsse, ohne jemals von sich fort zu können, ohne je andere sein zu dürfen. Ihr früher Wunsch war wohl ein Vorgefühl, in welche Zeit ihr Ich hineinwachsen, welche Last es ihr aufbürden würde. Allein die Möglichkeit, die damals verneinte, die gab es dennoch. Schon rauschten ihr die Fittiche entgegen; das Leben war eine holde Landschaft, von verlockenden Linien; Fernen, sie nicht mehr betreffend, nahmen die beiden Länder ihres Herzens auf, deren Not war an Ereignisse gebunden, vergänglich wie sie selbst. In ihrer Wonne ließ sie sich gleiten. Sie sah Gras wachsen über ihr eigenes Grab, und es war alles eins.

Aber dein Kopf liegt in den Kissen schwer zurückgeworfen, Geraldine, und dein Gesicht ist fahl, derweil du dir enteilst, melodischen Ufern entlang, geäugt von Vögeln, deren Staunen Schleier der Lust in deine erinnerungslosen Augen treibt. Sie sind nicht dein! Und dies ist nicht das Leben, sondern dein Erwachen, und dein Wissen um die Außenwelt.

Und tags darauf nahm sie Abschied. Und Guido geleitete sie hinab zu dem offenen Tor, durch das ein Stück Himmel hereinsah. Und wie die Taube, der Arche entsandt, die vergebens spähte, ob die Wasser noch nicht fielen, und die nicht wiederkehrte, so flog sie aus.

Der Geiz

Avec la richesse commence l’avarice, sagt Balzac in seinen Illusions perdues.

Der Geiz scheint jedoch nicht zur Beobachtung zu reizen, und außer Molière und Schopenhauer haben sich nur die allerwenigsten mit diesem hochinteressanten Laster eingehend befaßt. Auch soll hier keineswegs von seinen ungeheuerlichen Auswüchsen die Rede sein, sondern vom Geiz in seinem normalen Verlauf, wie die Ärzte sagen.

Vor allen Dingen glaube man nicht, das Geld sei etwas Totes. Es ist ganz Wahlverwandtschaft, ganz Antipathie, ganz Selbsterhaltungstrieb, ganz „Seele“ (auf seine Art). Ja, dem Gelde entströmen atmosphärische Schichten, die sich in feine, aber undurchsichtige Schleier zerteilen, um sich über das Gemüt des Reichen zu lagern. Es ist, als schöbe sich ein Milchglas trennend zwischen ihn und seine Welt. Mag der Trinker vom Weine noch so sehr umnebelt sein: daß er ein Trinker ist, darüber ist er sich klar. Der Lügner weiß von seiner Verlogenheit, der Zornige von seinem Haß. Aber der Geiz spinnt so feine und undeutliche Fäden, daß der von ihm Betroffene ganz im unklaren über sich selbst verbleiben darf. Dem Geizigen steht überdies ein Überfluß an Mänteln und Mäntelchen zu Gebote, die ihm sein Spiegelbild bis zur Unkenntlichkeit maskieren, wobei immer nur er selbst, niemals die anderen über seine wahren Züge mystifiziert werden. Man denke sich die Freudsche Methode, die meist einer sinnwidrigen Anwendung verfällt, einmal auf verhärtete Geizhälse angewandt. Einer psychoanalytischen Behandlung unterzogen, würden diese Patienten am Ende gar kuriert vor Schreck über die Entdeckungen, welche sie an sich selber zu machen hätten.

Ein Grund ihres Selbstbetruges liegt darin, daß sie nicht selten mit Vorliebe geben; ja Geschenke zu machen – freilich niemals entsprechende – kann bei dem Geizigen fast zur Marotte werden. Denn er weiß so gut wie ein anderer, daß Geben seliger ist als Nehmen, und er hat es so gut wie der Freigebige an sich erfahren. Und weil er auch – denn er will alles haben – des Gebens froh werden will, gibt er nochmal aus seinem Geiz und seiner Habgier heraus. Und darum schenkt auch er. Aber dabei rächt sich alsbald sein Laster an ihm und bindet seine Hände, daß er nicht freigebig, d. h. nicht frei wird zu geben wie er möchte, und schließt ihn wie mit eisernen Fäden in immer engere Gefangenschaft, bis seine Miene den inneren Bann, dem er verfiel, auch äußerlich verrät.

Wer wollte denn auch leugnen, daß geizige Leute häufig zu bedauern sind, und zwar je mehr sie sich bereichern, da ein Zuwachs ihrer Habe eine Verhärtung ihres Geizes unerbittlich zur Folge hat. Wobei ihm die fremde Schlechtigkeit vielfach Grund für sein Verhalten zu bieten scheint. Denn ein sehr reicher Mensch ist ja schlechten Erfahrungen in schlimmster Weise ausgesetzt. Die anständigen Leute werden es nicht sein, die sich an ihn herandrängen – seine guten Erfahrungen bleiben somit negativ –, während er die miserabelste Sorte aus nächster Nähe kennenlernt. Kein Wunder, daß manch vertrauendes und großmütiges Herz karg und mißtrauisch wurde. Es kommt unversehens. Der Geiz hat eine unheimlich schnelle Reife. Dann aber läßt er seine Opfer nicht mehr los. Er hat nur eine aufsteigende Linie. Er kennt keinen Verfall und er kann nicht sterben.

Das Trübseligste erlebte ich einmal auf der Reise von seiten einer alten, kinderlosen Dame, deren Nichte mich gebeten hatte, ihr Nachricht zukommen zu lassen, denn die Greisin schien sich um ihre sämtliche Verwandtschaft nicht mehr viel zu kümmern. Sie lebte fern von ihr in einer fremden Stadt, und hatte es glücklich auf sechsundachtzig Jahre und fünfzig Millionen gebracht. Ich traf sie in ihrem wundervollen Haus, umgeben von Bildern und Schätzen. – In ihrem Lehnstuhl vergraben, klagte sie, daß ihr das Schreiben schwer fiele und erkundigte sich alsbald mit wärmster Anteilnahme nach der Schar ihrer Nichten, Groß- und Urgroßnichten, insbesondere nach einer gewissen „Hertha“, ihrem Patchen, das sie am innigsten liebte. Um die handelte es sich eben. Ich malte also die blasse Schönheit dieser Hertha in den leuchtendsten Farben hin und erzählte sodann, daß die Ärzte einen längeren Aufenthalt in Ägypten sehr ratsam für sie hielten.

„Ja mein Gott,“ forschte sie ganz bestürzt und voll aufrichtiger Besorgnis, „wird sich denn das pekuniär machen lassen?“

„Schwer“, erwiderte ich.

Mehr zu sagen stand mir natürlich nicht zu. Derselbe Gedanke war zwar gleichzeitig in uns aufgestiegen; aber nichts von Unentschlossenheit malte sich in dem Gesicht der Greisin – viele Jahre früher hätte sie wohl gezaudert –, doch nur Schatten des Grams breiteten sich über ihr melancholisches Gesicht.

Seufzend sprach sie jetzt von ihrem nahen Tode, von der Verlassenheit und den Enttäuschungen eines zu langen Lebens. Während wir uns unterhielten, trat die Jungfer ein und fragte leise, ob sie das Töchterchen des Kutschers, das heute das Haus verließ und in die Lehre zog, einen Augenblick einlassen dürfe. Die alte Dame empfing das Kind voll Güte und Wohlwollen, und als es dann schied, hielt sie es noch einmal zurück. Schränke, Kisten und Truhen wurden nun durchgesehen, aufgeschlossen und dann wieder abgesperrt. Ein Heer weißer Schachteln in Seidenpapier, umwickelte Päckchen und Pakete kamen dabei zum Vorschein. Aber sie zog bald diese, bald jene Schieblade zu Rat, ohne sich entscheiden zu können. Die Kleine stand indes mitten im Zimmer und wartete, wie man es ihr gesagt hatte. Plötzlich flog ein Schein, eine schnelle Röte über ihr Gesicht. Gleich darauf wandte sie erblassend den Blick nach der anderen Seite hin. Aber ich war ihm schon gefolgt und gewahrte ein schwarzes Ledertäschchen, das die Greisin gerade in Händen hielt, öffnete und untersuchte. Innen mit dunkelroter Seide ausstaffiert und mit Nähutensilien angefüllt, zugleich verschiedene Fächer enthaltend, war es wohl der kühnste Traum von einem Täschchen für eine kleine Nähmamsell; im übrigen nichts Kostbares, sondern ein schöner Dutzendartikel aus einem Warenhaus. Aber nicht lange, und die Besitzerin hüllte es wieder ein. Ihre Hände waren gebunden, und sie konnte das Täschchen, das um eine Idee zu schön für die Kleine war, nicht spenden. Diese stand unbeweglich mitten im Zimmer, aber der Strahl in ihren Augen war erloschen. Die Alte kramte indes in einem anderen Fach und zog ein silbernes Armband hervor, auf dem „Gott mit dir“ in schwarzen Lettern eingetragen war, und damit entließ sie das enttäuschte Kind.

Die Geberin saß nun wieder in ihrem Lehnstuhl zusammengesunken und schaute mit einem blassen, vergrämten Gesicht vor sich hin. Ein Fest war ja der kleine Zwischenfall mit dem häßlichen Armband, darauf „Gott mit dir“ in schwarzen Lettern prangte, für niemanden gewesen, und ein gesteigertes Bewußtsein hatte sich der Spenderin unmöglich mitteilen können, vielmehr die Öde des Ereignislosen. Es hatte sich nichts ereignet. Die Kleine war nur um eine gewaltige Freude betrogen worden, und die Alte, die gern Freude bereitete, wußte es genau; und wußte ebensowohl, daß sie niemals anders verfahren würde, selbst wenn sie das Kind noch einmal zurückriefe. Nebenan hub jetzt ein Papagei, von der kleinen Passantin aufgeschreckt, zu schreien und über die Unerfreulichkeit der Welt zu schimpfen an. Schräge Strahlen ergossen sich durch die weit geöffneten Fenster (die größten der Stadt) und über die prachtvoll weichen Farben der Teppiche, die Leuchter aus altem Kristall, die goldumränderten Schalen und silbernen Dosen. Dennoch lag etwas Drückendes, in seiner Öde unerträglich Akzentuiertes, ja Unheimliches in der Atmosphäre dieses Raumes. Und plötzlich war mir, als befände ich mich ganz allein, als sei die halb erloschene Frau vor mir schon verblichen und nur mehr ein Schemen. Es fehlte so wenig! All die Päckchen und Pakete, die sich in tadelloser Ordnung in ihren Kästen und Truhen häuften, waren schon fast herrenlos. Und nicht die kleine Nähmamsell, nicht einmal die Nichte Hertha schien mir mit einem Male beklagenswert, sondern die sonst so kluge, ja sympathische, die unbegreifliche alte Dame, die rettungslos in die Falle geraten war, welche der Geiz den Besitzenden stellt.

Sie starb bald darauf. Und da ihr Geiz eine lange Geschichte hatte, ragte er denn auch weit über ihr Leben hinaus. Sie hinterließ ihr Vermögen ihren reichen Verwandten, den weniger bemittelten, der Großnichte Hertha, die ihrem Herzen so nahe stand, unbedeutende Legate.

Schiffahrt und Eisenbahn

Wie behaglich, wie menschenwürdig hat sich unsere Schiffahrt ausgebildet; wie stolz setzen wir über das Meer, aber wie barbarisch fahren wir noch Eisenbahn. Unser größter Wohltäter wäre der, welcher frei nach Pullman einen neuen Typ unserer Eisenbahnwagen einführte. Aber würden die zuständigen Generaldirektionen die leiseste Notiz davon nehmen? – Hat je vor mir einer den Plan eines Generalstreikes der Eisenbahnpassagiere gefaßt? Nein. Wir lassen uns in den stets überfüllten Zügen wahllos wie Herdentiere zusammendrängen und zahlen und überzahlen die unverschämte Tortur.

Oder sitzen wir etwa nicht wie Böcke und Schafe stunden- und tagelang in einer verrußten, vergifteten Luft – mit einer Platzkarte gezeichnet, wie Hammel mit einem Kreuz? Nur die rachsüchtige Hoffnung im Herzen, unsere Leidensgefährten (welche die Eckplätze innehaben) möchten doch so töricht oder so unerfahren sein, sich in jene andere Vorhölle: den Speisewagen, zu begeben, woselbst ein wüster Dunst, übel wie eine Seekrankheit, regiert. Und sind wir endlich allein, so stürzen wir ans Fenster, um Luft, und wäre sie noch so eisig, hereinzulassen. Aber wir bringen es nicht auf. Wir rufen den Gefängniswärter: er bringt es auch nicht auf. Das Holz sei aufgequollen, bemerkt er und geht. Nicht lange, und die anderen Sträflinge kehren zurück. Man nimmt also wieder mit stechendem Kopfweh seinen Rückplatz ein und hat bald darauf die unmittelbare Aussicht auf zwei vom Schlaf überwältigte ältere Herren.

Sie sind nicht schön.

Endlich – ich spezialisiere schon; ach es liegt so nahe! – ist das Licht dieses mühseligen Tages gesunken. Aber der Lampenschein ist nur ein trübes Geblinzel in dieser Luft! Und noch fünf Stunden. Das heißt, man wird nie ankommen. Man wird es nicht erleben. Hannover! – Die schlummernden Gebrüder fahren auf, greifen nach ihren Taschen und fort! – Oh! – Ich bin allein mit einem jungen und scharmanten Mädchen. Wir wissen nichts voneinander, aber die gemeinsame Plage hat uns längst zu Verbündeten gemacht. Sie erzählt mir, daß sie soeben einen Krankenkursus absolviert. Sie hat einen Apfel, ich gebe ihr ein Messer; sie reicht mir ein Aspirin. „Aber Sie müssen sich hinlegen,“ sagt sie, „sonst wirkt es nicht.“ Sie reißt die oberen Klappen auf und verhängt das Licht, und wir strecken uns der Länge nach aus. „O Gott, Schwester,“ rufe ich aus, „dies ist viel zu schön. Es kann nicht dauern!“ Aber sie tröstet mich, daß der Zug vor Hamburg nicht mehr hält. Da wird – bang! – die Tür aufgerissen und eine Blendlaterne grell vor unsere Augen gehalten. Es ist der Kerkermeister, der sich umsieht wie einer, der hier zu Hause ist, dann die Tür zuschlägt und wieder verschwindet.

Dem ist etwas nicht recht, meinten wir bescheiden und einigten uns über ein Trinkgeld, falls er wiederkäme. Wir fingen schon an, unsere Ruhe und das Dunkel wieder zu genießen, als die Tür lärmend aufgerissen wurde und Kerkermeister und Laterne uns von neuem aufschreckten. Gebieterisch verlangte er (wie oft denn noch) nach unseren Billetten. Ich reichte ihm das meinige zugleich mit einem Zweimarkstück entgegen. „Wieso? Was soll dieses Geld?“ herrschte er. „Daß Sie uns nicht immer stören sollen, weil wir müde sind.“ „Sie haben ja“ – tat er sehr überrascht – „ein Billett zweiter Klasse und sind hier in der ersten.“ „Das wissen Sie so gut wie ich. Ich wurde hierher verwiesen, weil alles überfüllt ist.“ „Das gilt nur, solange wirklich kein Platz ist“, bestimmte er. „In Hannover sind mehrere Personen ausgestiegen. Ich werde gleich nachsehen, ob etwas frei geworden ist. Dann müssen Sie hinüber.“ Er schlug die Tür zu und ging. „Gibt es Worte!“ rief die Schwester empört. „Wir sind hier im Lande der häßlichen Briefmarken“, sagte ich, vor Wut zitternd. „Paßt so viel Gemeinheit nicht wundervoll zur Schreibweise der Worte ‚Soße‘ und ‚Büro‘?“ Dabei stand der Laternenkerl schon wieder unter der Tür. „So,“ meinte er im Tone des Vorgesetzten, „drüben ist Platz“, und machte sich anheischig, nach meinem Gepäck zu greifen. „Zurück!“ schrie ich wie eine Wilde. „Dann zahlen Sie die erste Klasse nach“, sagte er erschrocken. „Nein, keinen Pfennig!“ schrie ich, denn mein Zorn kochte jetzt wie auf einem Schnellsieder. „Aber morgen“, schrie ich, „steht diese Geschichte in allen Blättern; es stehen mir alle Blätter,“ log ich schreiend, „alle Blätter Deutschlands stehen mir zu Gebote.“ Ich fand eine sehr dramatische Geste, und der Mann fuhr vor meinen Megärenaugen betreten zurück. „Ach was, meinetwegen bleiben Sie, wo Sie wollen“, sagte er. „Jawohl!“ schrie ich, und meine Börse öffnend, warf ich das ihm zugedachte Geldstück ostentativ wieder hinein. Dies imponierte ihm vollends. Er schlug zwar die Tür noch einmal zu (dies war seine Natur), jedoch blicken ließ er sich nicht mehr.

„Sind Sie Schauspielerin?“ fragte mich meine Gefährtin voll Bewunderung.

Aber ich sank erschöpft zurück.

Diese eine gröbliche Geschichte greife ich nur deshalb mit Vorliebe heraus, weil ich merkwürdigerweise nicht den Kürzeren dabei zog. Die anderen Geschichten erzähle ich nur auf speziellen Wunsch, weil ich mich zu sehr dabei aufrege. Und wer sie auch für erdichtet hielte, würde sie doch nie für übertrieben erklären. Wir fahren heute lieber auf dem längsten Seeweg nach England, lieber vierundzwanzig Stunden lang die ganze Küste entlang zu Schiff, um der möglichen Drangsal einer zehnstündigen Bahnfahrt zu entgehen; und wer all die Eventualitäten des Winter- und Sommerfahrplans auf der Strecke München-Ostende oder Vlissingen erprobte, der zieht es vor, sich allen Meeresstürmen und dem dichtesten Nebel auszusetzen und einen ganzen Tag und eine Nacht länger unterwegs zu sein. Daß die Schiffahrtsgesellschaften bei täglich wachsender Konkurrenz so emporblühen und ihre Bureaux (ich schreibe es so) in allen Städten aufschlagen und daß der Zulauf sich immer steigert, geschieht nicht nur, weil die Schiffe so prächtig geworden sind, sondern weil das Eisenbahnfahren mit jedem Jahr unerfreulicher und mühsamer wird und hier statt des Fortschritts eine immer größere Nachlässigkeit waltet. Nur die Preise sind gestiegen. Aber es ist, als führe man geschenkt. Die armen Ausflügler, die an Feiertagen zu ihren unzureichenden Zügen strömen, angebrüllt, zurück- und zurechtgewiesen werden, sind ein Kapitel für sich. Sich darüber zu beschweren, überlasse ich denen, welche noch den Mut besitzen, Sonntag über Land zu fahren und durch Lösung einer Fahrkarte das Recht auf anständige Behandlung einzubüßen. Natürlich gibt es viele Schaffner, die höflich und gefällig sind. Unwürdig ist nur die Tatsache, daß Wohl und Wehe des Reisenden von der Gemütsverfassung, der Laune und dem Naturell der Diensthabenden abhängig sind. Sinnen und Trachten unserer Generaldirektionen gehen dahin, möglichst große, umständliche, protzige und unnötige Bahnhöfe (die Bahnzüge sind ihnen egal!) zu errichten. Unnötig: Diese Behauptung ist mitnichten so unverständig, wie die Herren Bahninspektoren und Oberbauräte es möchten. Wenn sie notwendig sind, warum stehen sie nirgends in dem praktischen England? Warum stehen sie nicht in Paris? Warum bleiben sie in London auf ihre einfachste Form erhalten? Warum sind sie dort nur weite Hallen, die nur von einem ewigen Kommen und Gehen atmen – nur praktisch – nur zweckmäßig und trotzdem und gerade deshalb von einer starken, beschwingten Atmosphäre von klassischer Einfachheit, und deshalb schön.

Kürzlich mußte ich in Leipzig den Nachtzug nehmen. Der Bahnhof – der Stolz des Sachsenlandes – ist groß wie ein Marktflecken, und ich könnte mir so gut vorstellen, wie hier ein Massenkostümfest veranstaltet würde, nicht aus den besten Kreisen, aber üppig, mit großen Palmenarrangements. Ich bitte Sie, all die Treppen, das schöne Auf und Ab, wie geeignet! Nun – ich warte also auf Bahnsteig vier auf den Berliner Zug. Er lief verspätet in die großartige Halle ein, und war vollkommen überfüllt. Wir standen geduldig und übernächtig auf der Plattform wie ein Rudel Landstreicher, die zu warten haben, bis man sie abschiebt. Plötzlich, wie von hoher Brücke herab, der stolze Kommandoruf: Wagen werden keine angehängt! Es herrschte der gewöhnliche Kriegszustand. Ich wurde in einem Halbcoupé einem alten Sachsen zugesellt. Als nach einer Weile der Schaffner erschien und ich ihn fragte, ob denn nirgends Platz sei, schlug er die Tür zu, ohne mich einer Antwort zu würdigen. „Von dem erwarten Sie ja nichts!“ rief der alte Herr. „Das Subjekt kenne ich. Er war eine Zeitlang in meinem Geschäft angestellt, aber ich mußte ihn schleunigst entlassen.“

Es gelang uns mit vereinten Kräften, das Fenster zu öffnen, aber vor dem Ruß, der uns entgegenflog, zogen wir es alsbald wieder in die Höhe. Wir stellten die Heizung auf kalt, wobei es immer wärmer wurde. „Ich bin schon alt“, sagte er plötzlich, „und werde nicht mehr viel Eisenbahn fahren. Das ist aber auch das letzte, worum ich die Lebendigen beneiden werde.“

Nun – eine solche zehnstündige Fahrt, um die kein Toter mich beneidet hätte, lag unmittelbar hinter mir, als ich in Cuxhaven, unter einem flockigen Himmel, von Möwen umkreist, die hohe Brücke eines Dampfers bestieg. Der Kontrast zwischen dem Aufschwung unseres Schiffsbaus und der Rückständigkeit unserer Eisenbahnen hat etwas Überwältigendes; man ist auf den Eindruck nicht vorbereitet. Es ist ja nicht der Luxus, der uns erstaunt. Mein Gott, den findet man heute mehr oder minder in jedem Hotel, und er hat den Reiz der Neuheit schon so sehr verloren, daß ich mich fragte, ob er sich in der gegenwärtigen Form noch lange halten wird. Und da ich mir nun schon einmal das Kapitel der Anregungen gestatte: Wäre es nicht schön, den ganzen Aufwand neuen Bahnen zuzuleiten und einmal ein wirklich gutes Orchester und große Musik auf einem so würdigen Boden, wie den eines großen Dampfers zu lancieren? Das Meer ist eine unvergleichliche Konzerthalle!

Nicht die kostbare Ausstattung des Schiffes, sondern daß wir stimmungsvolle, lauschige Zimmer statt der engen Kabine beziehen, sondern daß wir einen Kilometer zurückgelegt haben, wenn wir dreimal das Deck umgehen, der Luxus des Raums, das ist es, was uns hier ergreift. Jeder Fußbreit mehr, der sich hier dem Element widersetzt, das ist es, was imponiert! Drinnen im Binnenlande begreift man nicht recht, bevor man es erfuhr, warum ein Schiff so groß sein soll. Erst wenn man darauf hinzog, versteht man den Sinn dieser großen, immer größeren Häuser, in welchen man des Schiffes immerzu vergißt. Wir ahnen nicht vorher, mit welcher Rührung wir uns besinnen werden, wenn uns in mitternächtlicher Stille ein dumpfes, kaum wahrnehmbares, wie unterirdisch wachsames Treiben die Augen aufschlagen läßt, und ein Ruck, ein sanft harmonisches Rauschen uns daran erinnert, daß nicht Straßen noch Plätze, nicht Gras noch Baum vor dem Fenster im Winde stehen, sondern das nasse, leere Feld des furchtbaren, feindseligen Gottes, auf welchem dies ungeheure, beladene Schiff zur winzigen Nußschale schwindet. Aber eine Nußschale, die uns das Gefühl höchster Geborgenheit mitzuteilen weiß, und an welcher Menschenhände so lange und so kundig bildeten, bis sie, allen Stürmen gewachsen, endlich den Begriff des Schiffes selber überwand. So ist hier der Zauber aus dem Kontrast von Größe und Kleinheit gewoben, und mit innerem Jubel kreisen wir immer wieder um das weite Deck dieser schwimmenden Arche, des Spiels nicht müde, so groß ist die Romantik dieser kleinen, armseligen, rastlos dahingemähten, dieser so kühnen, prometheischen Menschheit, und so stark sind hier die Perspektiven, daß wir plötzlich, wie selbst aus ihr hinausgerückt, von Bewunderung hingerissen vor ihr stehen.

 

Da wir von Perspektive und von Romantik sprechen, treten wir doch bitte einen Schritt zurück, kneifen wir ein Auge zu, und sehen wir ins Leere, in die Ferne; dorthin, wo sich über den Fluß die massive Brücke schwingt. Denn nicht lange, und der Schnellzug saust plötzlich darüberhin, aus dem Hals der Lokomotive windet sich ein brauner Rauch zur krausen Barocksäule empor, und die locker aneinandergeschmiedeten Wagen rollen fröhlich mit lautem, schnell verhallendem Geräusch und wie ein gefährliches Spielzeug vorbei. Ein kurzer Pfiff, wie ein Angstschrei, und nichts ist mehr, als die schwarze Wölbung eines Tunnels, durch die sie geradewegs ins Innere des Felsens drangen. Und nun meine Zeitgenossen, bitte ich Sie: Ist die Ritterburg, deren efeuumrankter Turm vom Berge niederschaut, suggestiver? Kann sie unserer Phantasie die Seele eines Zeitalters mächtiger, unmittelbarer entgegenhalten, wie der soeben vorübergerauschte Zug, dessen Fenster wir einen Augenblick in der Sonne flimmern sahen? Fühlen wir uns da nicht blitzschnell den vielfachen Existenzen ein, die er dahinträgt, reißt er da nicht unsere Teilnahme zu Schemen des Lebens hin, vertraut und unbekannt – verklungen schon, wie angesichts des verwitterten Burgtores das Bild des Jagdtrosses, der über die Zugbrücke lärmte; melancholischer auch in der zerrinnenden Vielfältigkeit seiner steigenden und fallenden Linien. Denn wie Lose in einer Urne sind unsere Leben in jener kleinen Eisenbahn zusammengeworfen. Wieviel vergrämte, bekümmerte und schwere Herzen trug sie nicht schon dahin! Wieviel Verliebte starrten schon durch ihre Scheiben in die fliehende Gegend hinaus und erfaßten mit magischer Schärfe den Baum, den zuckenden Steg, Dörflein und Wald, während sie doch nur das Bild der Kreatur, an die sie dachten, vor Augen hatten! Verträumte Flammen des Hoffens, der Illusion, von der Bewegung gefächelt, wie Blumen, die im Zephir stehen. Es ist eine Zeit, es ist ihr bewegter, ruheloser Schild, der nachts als funkelnde Schlange mit runden, feurigen Drachenaugen seinen Weg erkannt und viel Romantik in sich verdichtet. Und es ist, als sei nichts klein, als sei alles interessant an den Wesen und ihren Schicksalen, solange die Bahn sie hinträgt und gleichsam dem Alltag entreißt. Nur daß sie noch nicht, wie die viel besungene Burg, ihren Dichter gefunden hat, die eilige Besiegerin der Fernen, die, rastlos, immer auf der Flucht, unsere Epoche gestaltet, deren Schienen unsere Welt aufackerten und uns erst zu eigen machten.

Und ein Ding, so verlockend anzusehen, unterhält so wüste Möglichkeiten; einer so glorreichen Erfindung sollte jener Fortschritt verwehrt bleiben, der sich heute auf allen Gebieten des äußeren Lebens – von dem fabelhaften Aufschwung unseres Schiffahrtwesens nicht zu reden – so glücklich geltend macht. Man fährt schon in Rußland und auf der transsibirischen Eisenbahn sehr angenehm – es ist also möglich. Warum sollten wir hier nicht auch wie in so vielem Vorbildliches stellen? Wie schön, welche Freude wären die Eisenbahnwagen, die einmal ein Künstler wie Adolf Hildebrand entwarf. – Wo sind sie?

„Aber“, sagte mir kopfschüttelnd, mit erhobenem Finger, ein mehrfacher Aufsichtsrat, „sehen Sie denn nicht ein, daß die kolossalen Anstrengungen, welche von seiten der Schiffsagenturen zur Hebung desselben geschehen sind, absolut notwendig waren, um das Verkehrsmittel überhaupt in Schwung zu bringen, und daß es ohne die rücksichtsvolle Behandlung der Passagiere, welche Sie so sehr rühmen, niemals florieren könnte, während unsere Eisenbahnen – ob nun etwas für sie geschieht oder nicht, und mögen sie noch so rückständig bleiben, ja noch unerträglicher werden – einen stets wachsenden Zudrang erfahren werden, da es kein anderes großes Verkehrsmittel gibt – es sei denn das Auto oder der Luxuszug, der ja auch“, schloß er zutreffend und mit einem süffisanten Lächeln, „mehr oder minder nur für Autobesitzer (er war selbst einer) in Betracht kommt.“

Nun möchte ich nur, wiewohl vergebens, unsere Herren Eisenbahnminister fragen, ob dies ein anständiges Argument war.

Donaueschingen im Sommer 1923

I

Ich glaubte es meinem Interesse für die Musik schuldig zu sein, daß ich nach Donaueschingen fuhr. Die Hitze war mörderisch, die Züge so überfüllt, wie sie nur hart vor einer Tariferhöhung zu sein pflegten. Der Rauch billiger Zigarren mischte sich in den herrschenden Dunst. Tief verdrossen saß ich in der Dichterklasse. Wo sonst? Zum Lesen war es zu dunkel in der einbrechenden Nacht, die Beleuchtung spärlich wie für Sträflinge, und alles winterlich trübe bis auf die Hitze.

In Titisee wurde die Tür aufgerissen, und es quetschten sich noch zwei junge Leute herein: der eine war blaß und mickerig: erster Handlungsgehilfe, letzter Bankbeamter, man wußte nicht recht. Auch beim andern nicht, dessen hübsches, rundes und zierliches Gesicht bunt war wie eine Forelle.

„Sie Lümmel!“ sagte er plötzlich zu dem bläßlichen Handlungsgehilfen oder Schaltervolontär. „Sie Lümmel! So ein Lümmel!“ Man horchte auf. Denn welch ein überraschender Wohlklang, welch bezauberndes Organ! War er wenigstens ein kommender Bühnenstar, wartete seiner wenigstens ein Ruf aus der Großstadt? Er sprach das reizendste und geschmeidigste Deutsch, aber so blitzschnell, daß vieles, was er sagte, im Geräusch des Wagens und des Gelächters unterging. Wir vernahmen jetzt etwas von einem Onkel, der dem „Lümmel“ einen Dollar schenkte, worauf vier Kellner ausgesandt wurden, um nach den Kursen zu schauen. Hitze, Rauch, billige Zigarren, alles war vergessen: wir saßen im Parkett. Chaplin war nicht anmutiger. Donaueschingen kam nur zu bald. Die anderen lachten vielleicht noch bis Mainz, den ganzen Rhein entlang. Wohin fuhr der junge Mann? Was war er? Vielleicht verkaufte er Handschuhe und Krawatten die Woche über. Seine übersensible Lustigkeit rührte geradezu. Ein Künstler unleugbar, aber der arme Kerl ahnte es vielleicht nicht. Die Laufbahn kam wohl nicht in Frage für ihn. Ja, ja, ein neuer Typ!

Ich dachte noch an ihn, als ich auf dem Bahnhof stand. Donaueschingen lag in tiefster Schwärze. Die drei Personen, die sich eingefunden hatten, mich abzuholen, versicherten mir alle zugleich, sie seien drauf und dran gewesen, im Hotel ein Zimmer für mich zu finden. So war es auch mit jener Dame, die immer so lange Geschichten erzählte, deren Pointe immer war, daß sie fast ertrunken, eigentlich nur durch ein Wunder nicht abgestürzt, bei zweiundvierzig Grad Fieber um ein Haar gestorben wäre usw. Kurz gesagt: das Wort „Privatquartier“ schlug jetzt an mein Ohr, und ich mußte nehmen, was sich mir bot, oder die Krönungsmesse des schon nahenden Morgens versäumen. Um neun Uhr früh, bequem an einen Pfeiler lehnend, freute ich mich zum erstenmal, daß ich gekommen war. Ein feines Städtchen dieses Donaueschingen. Die Solisten sangen so schön und stilvoll, daß ich schon Berühmtheiten in ihnen vermutete, statt dessen waren es Einheimische, deren Namen niemand kannte.

Von der Kirche weg ging alles im Oberammergauer Passionsschritt auf eine stimmungslose Turnhalle zu, in welcher die Konzerte abgehalten wurden. Die des ersten Tages habe ich vergessen. Was den Durchschnitt der Aufführungen überragte, überragte ihn so bestimmt, daß die Besprechungen vermutlich recht gleichförmig ausgefallen sind. So wird jeder Kritiker Hába hervorgehoben haben, aber nicht die überraschende Sinnfälligkeit seines Quartetts im Vierteltonsystem. Durch seine innere Notwendigkeit leuchtete es ebensosehr wie durch seine meisterliche Kürze ein. Denn keine Musik verträgt Längen schlechter als die neue. Wohl haben wir die der nachwagnerischen Programmusik noch voll im Gedächtnis. Aber bei ihnen konnte man einschlafen, seine eigenen Gedanken spinnen. Wir kennen die Klippe der tonalen Kompositionen; die der atonalen heißt Katzenmusik. Mit halbem Hinhören wird man sie nicht los. Mit Snobismen führe hier die ganze Hölle auf. Zwar keimen sie bereits, jedoch – gottlob! – sie wucherten noch nicht. Die Atmosphäre Donaueschingens war noch sehr sympathisch. Der Dollarstand war fern, von Nationalismen keine Rede. Es drehte sich wirklich alles nur um die Sache. Diese Jugend, ganz sich selbst überlassen, war ganz sich selbst. Viel eher schien sie sich der kontemplativen Landschaft anzupassen, so daß ein fast zeitloses Stimmungsbild entstand. Einem jungen Belgier wurde zugejubelt, als gäbe es nur eine Kameradschaft auf der Welt, und als Sieger des musikalischen Turniers ging der Tscheche Hába und der Spanier Jarnach hervor.

II

Ich suchte, außer um mich umzuziehen, tagsüber mein „Privatquartier“ nicht auf. Im „Lamm“ war ein leerer Saal. Dort saß ich am zweiten Nachmittag, als aus einem Nebenraum Musik ertönte. Alt oder neu? Beides, oder weder dies noch das, aber so reich, so ergreifend, daß ich zur Tür ging und sie öffnete: um ein Pianino saß eine kleine Schar, und man probte die Oper eines Komponisten, dessen Namen ich zum ersten Male hörte: Rudi Stephan. Im Kriege gefallen. Natürlich.

III

Daß Jarnachs Quartett den Glanzpunkt des letzten Tages bildete, auch dieses werden sehr viele geschrieben haben, denn es konnte kein Zweifel darüber bestehen. Zu wenige aber bemerkten vielleicht, daß hier ein wahrer Schüler Busonis die Probe seines Talentes gab. Der wahre Schüler ist immer nur der, welchem sein Lehrer Wegweiser, aber nicht Gängelführer bleibt. Wie es des wahren Schülers ist, seine eigenen Wege auf der ihm gewiesenen Bahn weiter zu verfolgen, so des wahren Meisters, jene Bahn zu brechen. Mit dem so viel gebrauchten Worte „Anreger“ scheint mir bei Busoni entschieden zu wenig gesagt. Man mag sich zu ihm stellen wie man will, heute schon gebietet sein Werk vor allem Distanz; diese aber, finde ich, wird nur von den paar ganz erlesenen Kennern eingehalten. Bei den anderen vermisse ich sie. Distanz schließt die Kritik nicht aus, ist aber immer eingedenk. Busonis Tragik liegt darin, daß er sich wieder an den Anfang aller Dinge stellte, keiner in unseren Tagen machte es sich so schwer. Vielleicht ist es schon für Jarnach eine Lust zu komponieren: seinem edlen Kolorit, seiner bedeutenden Sprache ist die Arena geöffnet. Armer Busoni! Wie rührend ist er, wenn er feiert! Die Schauer der Angelangtheit, jener Orgel-Tokkata, „Bach-Busoni“ überschrieben, weihevoll wie ein erhobener Kelch, die göttliche Melancholie, der er in seiner Tokkata frönt, und sein Perpetuum mobile, in welchem Seite achtunddreißig mit einem Male die Flöte Pans einsetzt – wie selten sind die Feste, die er sich gewährt. Seine wahren Schüler haben es schon leichter. Gerodet liegt das unbetretene Land vor ihnen, die Ufer von Gestrüpp frei.

IV

Es dalberte der Satrap von Donaueschingen – laßt ihn uns so nennen – im Grase seines Gartens mit den Musikern herum. Er hatte sich aus Zeitungspapier einen Helm gedreht, und den Musikern desgleichen. Dann hieß es: Augen links und stramm gestanden unter dem Papierhut, und so wurde die Parade abgenommen. Ja, und so lobe ich mir das Militär.

V

Aber es kam noch viel schöner. Am letzten Abend, als alle Konzerte glücklich hinter uns lagen, standen im Kurhaus noch einige Gelegenheits-Kompositionen Paul Hindemiths in Aussicht. Man saß bei Wein oder Tee und Kuchen, als das Amarquartett mit der bescheidenen Bitte aufzog, man möge eine Weile nicht servieren; sie gedachten noch einiges zum besten zu geben.

„Es darf nicht serviert werden!“ rief in unbändiger Fröhlichkeit der Satrap durch den Saal. Und nun ertönte als erstes ein Militärmarsch, ein Militärmärschlein sage ich, ein goldiges Militärmärschli, dessen geringelte Ritornelle, dessen Ringelschwänzchen von einer Ritornelle die ulkigste, witzigste, übermütigste und zugleich saftigste Verhöhnung war, welche militaristischer Dünkel und Stupidität jemals erfuhren. Der Komponist spielte in sich hinein, machte seinen runden, lustigen Kopf, und sooft die Ritornelle seinem Bogen entquirlte, ging unwiderstehliches Gelächter durch den ganzen Saal. Oh! Hätte man solchen Rattenfängern von Hameln eher gelauscht!

Marseille

La patrie c’est la terre, c’est l’Univers, ce sont les étoiles, c’est l’air, c’est la pensée elle-même.

Flaubert
Correspondence

I

Dezember 1923

Ich habe von der Vogelperspektive aus noch keine schönere Stadt gesehen als Marseille. Die sehr nennenswerte Kälte und ein strömender Regen beeinträchtigten den Eindruck nicht. Freilich, das Meer war tonlos bis in alle Fernen. Doch um so berückender leuchteten inmitten des Dunstes die Dächer und die schmalen Fronten der Häuser. Eines stand ganz allein für sich in seiner Feinheit, von einem rührenden Garten umzogen, der ein flaches Viereck bildete. Sonst nirgends ein grüner Fleck. Aber durch geheimnisvolle Vorgänge der Sonne und der Luft war hier im Laufe der Zeiten ein Werk von Menschenhänden selber zur Natur geworden. Diese Dächer, diese Steine überboten die Natur.

Als wir zu Tale fuhren, dem alten Hafen zu, blieben wir in dessen handbreiten Gassen natürlich hängen. Es dunkelte. Schon brannten die Lichter überall. Ich sprang aus dem Wagen hinter einem grauen Kater her und erhaschte ihn. Doch ich war der französischen Katzensprache nicht mehr mächtig, und er riß mir aus. Trotz des Regens setzte ich mich zum Chauffeur. Wir blieben lange festgefahren. Ein wunderhübsches junges Mädchen schlug im Vorübergehen leise auf seine Hand, sah sich dann um und lächelte. Auf der andern Seite schwang sich ein kleiner Junge herauf, starrte mich an und wartete, daß ich lachte über seinen Spaß. Dann erst sprang er wieder ab. Diese schwarzäugigen, grauäugigen Gesichter unter dem nächtlichen Haar waren alle auf der Lauer. Auf ein Lächeln, ein lustiges Wort des Nächsten lauerten diese dunkeln und verspielten Gesichter. Im Restaurant, in dem wir aßen, servierte nicht, es zelebrierte der Kellner.

Ich fuhr am nächsten Morgen wieder auf den Berg, um die Stadt noch einmal von der Höhe aus zu sehen. Aber die Dächer lagen wie entkräftet im Sonnenlicht. Dafür schlug das Meer tiefblaue Pulse zu ihm auf. In den Gassen des alten Hafens baumelten bis zu den obersten Mansarden hinauf farbenfrohe Kleider übereinander und wehten bunte Schürzen hin und her.

Fasse dich, Leser, Geduld. Ich komme bald zu dem, was ich sagen will. Sieh, schon verlasse ich Marseille.

Paris-Lyon-Méditerranée hieß mein Zug. Im Mittagglanze dampfte er los.

Wieviel Inspiration niedrigen Bergen innewohnen kann, ahnte ich nicht, bevor das weiße, lebhafte Arles vor mir aufblitzte, bevor ich die niedrigen Berge um Arles, die einfachen Terrainwellen der schaukelnden Erde um Tarascon, die unaufdringliche und wunderbare Schönheit der Provence gewahrte.

Freunde. Eure Hände. Wie oft schwur ich mir, keine Betrachtungen mehr über Frankreich anzustellen. Denn es ist mir nicht gegeben, sie anders als auf Deutschland zu beziehen. Aber heute ist man verwachsen mit seinem Kreuz. Und die Unkenntnis wahrzunehmen, die ein Stockwerk um das andere dem Turm Babel anreiht, zwingt uns immer wieder, unsere nie vernommenen Stimmen zu erheben.

Laßt uns ganz unsentimental sein. Auch ohne Liebhaberei müßte uns der Anblick Frankreichs die Worte: „Es lebe Frankreich!“ entreißen. Denn Frankreich mit seinem rar gewordenen Blute ist unser Wein. Sein Leben ist der Welt notwendig. Deutschland – denn immer nur um diese beiden geht es –, Deutschland wäre aller Brot, wenn es doch endlich die Dinge gehen ließe. Die Stärke seiner geistigen Existenz ist eine Großmacht geblieben, intangibel und der Welt notwendig.

II

Nicht wie eine Dichterin, wie eine Schwerkapitalistin, in einem Coupé erster Klasse, durchfuhr ich Frankreich der ganzen Länge nach. So etwas will ausgekostet werden. Allein, ich war zu krank. Und welche Not, Arles mit seinen kleinen Bergen vor sich zu sehen, ohne auszusteigen. Denn die mir zuerteilte Jungfer kam aus ihrem Abteil hervor und parlamentierte so eindringlich dagegen, daß ich im Zuge blieb. Aber in Avignon sprang ich doch heraus und ließ meine Suite vorausreisen.

Ich fuhr – denn sobald ich zu Fuße ging, neigten sich die Häuser höflich vornüber und der Boden beschrieb unsichere Kurven –, ich fuhr also die lange Straße, die zum Palast der Päpste führt. Er war geschlossen. Was blieb mir da, als die Zeit mit einer Rundfahrt auszufüllen in dieser gewesenen Stadt mit ihrem Vorgeschmack des Nordens, ihrer herbstlichen Sonne, ihrer kälteren Luft und ihrer Schwermut? Wie eine Orgel nach allen Richtungen braust, so erfüllte der Palast der Päpste überallhin den Raum. Als ich mit dem nächsten Zuge weiterfuhr, glühte er feenhaft im Abendschein in seiner Weitläufigkeit wie zum Tanze geschlossen, gebot er über die Rhone, die breiten Laufes sich dem Meer entgegenwand. Der Gang, von dem aus ich zu ihm hinüberschaute, war leer. Auch kein Schaffner zeigte sich, und die Bangigkeit des Abends umspann mich ganz. Mein einziger Reisegefährte war ein Herr, der sehr viel Zeitungen mit sich führte. Aber die Dämmerung kam schnell, das Licht war zu trübe, um dabei zu lesen, und so gerieten wir in ein Gespräch. Langsam und beschaulich war manch ein Wort gefallen, als in Valence eine fremdsprachige Familie, mit starken Nüstern, hereinbrach. Ein ungebärdiges, der hintersten kleinen Entente entstammendes Französisch um sich werfend, zog sie gleich darauf wieder ab, größere Ausbreitungsmöglichkeiten zu suchen.

Que de mines étrangères quand on traverse la France, nous ne sommes plus chez nous.

Ich war es, die so gesprochen hatte, und ob ich auch alsbald über meine Worte sehr erschrak, so war es doch zu spät, um sie zurückzunehmen. Dieser Tag, bisher so stumm verbracht, hatte mich in seine Falten eingeschlagen, bis ich, voll eines sanften Übermutes, heimisch in ihm wurde, geborgen und betäubt. Nun war er zu Ende. Es war Nacht. Der Fluß zog im Dunkeln hart an uns vorbei. Das Rauschen des Zuges glich einem Monolog, wir aber waren eines Sinnes, und mit sepulchraler Melancholie unterhielten wir uns über Frankreich. Beide, weit zurückgelehnt, sahen wir einander nicht. Ich sehnte Lyon herbei, denn eine grauenvolle Erschöpfung kam jetzt zu ihrem Recht. Der Wagen schien mir hin und her gestoßen wie ein Schiff, das im Sturm auf Grund gerät. Wir sprachen von der Notwendigkeit, sich zu vertragen, und daß wir alle nur eine einzige Aufgabe hätten, einen neuen Krieg zu verhindern. Alles andere sei unwichtig. Wann aber kam Lyon? Wenn ich bewußtlos wurde, bevor wir es erreichten, was dann? Als erstes würde man suchen, mich zu identifizieren. Gleich zuoberst in meinem Täschchen aber lag mein Paß. So so; ei ei. Ich rieb mir die Schläfen mit Kölnischem Wasser, saß jetzt mit gefalteten Händen und schwieg. Wann kam Lyon? Hinter meiner Lehne verschanzt, sprach ich mir Mut zu. Endlich gab ich es auf und bat ihn, das Fenster zu öffnen. Nebel und Kälte strömten herein. „Nous voilà“, sagte er, und kramte seine Zeitungen zusammen. Wir waren in Lyon.

 

Auch in England, daß ich es nur gestehe, habe ich mich vor dem Kriege manchmal heimisch gefühlt. Wer jedoch die Geschicke dieses Kontinents mit starker Anteilnahme verfolgt, der kann heute kein Herz fassen zu England. Auch durchschauen die Besten dort wohl, und weisen die Heuchelei eines Axioms zurück, das sich als eine „Parteinahme des Schwächeren“ formuliert, in Wirklichkeit aber nur den Hader auf diesem Erdteil zu perpetuieren beabsichtigt. Der falsche Bruder hatte vor dem rabiaten Gegner ohne weiteres den Vorzug für die leichtgläubigen Deutschen. Der Politik Frankreichs zuzusehen, ist ja ein Alpdruck für sich, aber Englands Rolle in diesen Tagen war viel finsterer. Die Besten dort erkennen wohl, daß es sich in seiner Rechenkunst überschlug; denn der Rest wäre zu trübe, um darin fischen zu können; so daß letzten Endes es nicht mehr in Englands eigenstem Interesse läge, seinen säkularen, aber nicht ehrwürdigen Kurs in Europa beizubehalten. Die Besten dort wissen es wohl.

III

Der Schnellzug nach Straßburg verließ Lyon frühmorgens. Auf dem andern Geleise lief einer, auf den ich hatte verzichten müssen, um die gleiche Stunde nach Paris. Lyon trug sich in Nebeln, vielfach noch in Lichtern. Es gab viel Reisende, und bei mir zog gleich eine ganze Gesellschaft ein: zwei ältere Herren, der eine sehr schön gewesen, der andere sehr lustig geblieben, ein Herr von vierzig Jahren und eine noch wunderhübsche Dame mit einem schon siebzehnjährigen Söhnchen, der in einem großen, weiten Eisbärpelz schier zerging. Sie waren guter Dinge, und kurzweilig kündete sich meine Fahrt. Der lustig Gebliebene lachte über eine Komödie aus der „Illustration“, und die Weise, in welcher der schöne Nestor der Dame aus ihrer Jacke half, sprach Bände für seine Vergangenheit. Als sie das erste Mittagessen wählten, wählte ich auch das erste Mittagessen, und im Speisewagen behielt ich sie erst recht im Auge. Die Dame trug eine Bluse aus weißer Chinaseide zu einem grauen Rock. Ihre schlanken Füße in den hellen Strümpfen und den offenen Schuhen hatten eine feste Art aufzutreten. Munter speiste sie, trank munter Wein, derweil sie munter sprach, und blieb zart und blaß dabei wie eine Narzisse. Das Reizendste vielleicht war doch ihr Mund, der, ein bißchen schief gezogen, ein bißchen schmerzlich, eben diese Schmerzlichkeit jener leisen Verzogenheit verdankte. Es war ein schwärmerischer, bitterer, glückseliger Mund, man wußte nicht recht, wie er sich zu ihrem lebhaften und sicheren Wesen verhielt. Aber sie war sich bewußt, glücklich zu sein.

Vor den breiten Scheiben floh eine Landschaft dahin, die mich nicht fesselte. Hin und wieder Hügel, von Schnee gestreift: der Winter, mir von jeher verhaßt, der von der Erde Besitz ergriff, und ein toter, mißgelaunter Himmel. Lieber sah ich zu jenem Tische hin. Als sie dort Kaffee nahmen, nahm ich auch Kaffee, denn ich wollte erst aufbrechen, wenn sie aufbrechen würden. Mein Eckplatz befand sich an der Seite des Ganges. Dort pflanzten sie sich bei ihrer Rückkehr auf; sie setzten sich nicht gleich herein, aber sie blieben bei mir, und ich hörte alles, was sie sagten. In aufgeregtester Debatte standen sie beisammen: denn das Essen hatte nichts getaugt. Dieses Fricandeau, was das wohl hatte bedeuten sollen? Gab es Worte für so unzulängliche Kartoffeln und eine so nichtssagende Omelette? „Cependant les petits pois“, sagte der Mann von vierzig Jahren ... „Les petits pois étaient bons“, sagte die hochstielige Narzisse. „C’étaient ma foi d’excellents petits pois“, sagte Nestor. „Ils étaient même étonnants“, sagte mit großem Ernst der lustig Gebliebene. Das Söhnchen hatte im Speisewagen sein Zigarettenetui vergessen, kam jetzt herzu und sagte lebhaft: „Il n’y avait de bon que les petits pois.“ Und nun wurde noch eine ganze Weile intensiv, wie in den Wandelgängen der Kammer, über die, wie mir dabei kund wurde, keineswegs leichte Kunst der Erbsenzubereitung verhandelt. Von den Erbsen kam man auf die Wicken, von den Wicken auf die Gewinnung des Lavendels. Der echte ist sehr schwer vom wilden zu unterscheiden. Nestor, müde vom Stehen, nahm als erster wieder Platz. Er fragte mich, ob mich der Rauch nicht störe, und mein „oh non“, die einzigen Worte, die ich an diesem Tage sprach, wollte sagen: „Kommt alle herein, setzt euch. Ich bin entzückt.“

Das Geheimnis der Franzosen, was ist es, wenn nicht, daß sie bei so starker Animalität so wenig materiell sind. Hier ist der Schlüssel zu ihrem Wesen wie zu ihrer Kunst. Es ist der Augenblick, der, wenn auch nicht verweilen, sich voll auslösen darf, weil er nie vorgreift, auch wo er überfließt, und weil sein Rhythmus sich genügt. Unüberlegtes Volk, tragisch in seiner Kindlichkeit. Wem würde es einfallen, die Deutschen Kinder zu nennen? Frankreich ist der Wein der Welt, Deutschland wäre aller Brot, wenn es doch endlich die Dinge treiben ließe.

Ich kann freilich nicht verlangen, daß ein Militarist von dem, was hier gemeint ist, auch nur ein Wort versteht. Denn Militaristen sind Geschöpfe ohne Hirn, an sich also nur grotesk. Allein, solche Wesen ohne Kopf durften sich zu Herren der Welt erheben, und streben vollen Ernstes, es noch einmal zu werden. Auf die Weise zwingen sie denkende Kreaturen, im Harnisch zu bleiben und weiterhin zu buchstabieren.

Venedig 1922

Ich traf es unvergleichlich, um über den Gotthardt zu fahren. Er stand in Verzückung, und die Seen lösten sich als himmlische Dekorationen ab. Dennoch ist es nicht nur die Schönheit – die Welt ist in Europa fast überall schön –, sondern der seltene Vorzug der Schweiz ist ihre heutige Leere. Man kehrt in leeren Gasthöfen ein, speist in leeren Lokalen, kein Zug ist überfüllt. Wohin du siehst, brauchst du nicht über eine Unzahl Köpfe hinüberzublicken: die Dinge sind dein. Der hohe Kurs hält nicht nur den Andrang der Reisenden ab, auch von den eigenen Landeskindern sind viele ausgeflogen. Schon in Como sitzt man wieder gedrängt. Und angesichts des immer voll besetzten Vaporettos, der zum Lido fährt, steigt der Gedanke auf, daß wir zu zahlreich geworden sind, Atem holen, eine Orgelpause ansetzen, auch in geistiger Hinsicht aufräumen, und uns besinnen sollten, bevor wir weitergehen. Wir erleben eine Zeit, die sich nicht mehr überblicken läßt. Vorigen Herbst kam ich in einem sehr östlichen Lande beim Umsteigen hinter einer dichten Menschenmenge durch die Untergründe eines Bahnhofs zu gehen, von welchen zwei Treppen zur Oberfläche zurückführten. Von unten gesehen schienen die langsam nach oben vorschiebenden Köpfe alle konisch auszulaufen, und also gestaut, und in solcher Massenauflage kaum noch auf ein persönliches Schicksal hinzudeuten. Entsetzlich zu sagen: wie Sardinenpackungen nahmen sie sich aus.

Die Allgemeinheit ist heute jener Wald geworden, den man vor Bäumen nicht mehr sieht. Sie stiebt hin und her, und nicht mehr dem Führer, sondern den mannigfachen Verführern eröffnet sich heute ein dankbares Feld. Es wird immerzu von der Masse gesprochen, nie von der Menge, nie von der pacotille humaine, welche, lediglich weil sie aus allen Ständen zusammengesetzt und zahlkräftig ist, zum Machtfaktor erhoben wurde. Die stets lenksame Herde ist es, der man sich unterwirft. Und diese so unnötige Diktatur der Menge, sie, deren Exponent der Ramschladen ist, sie ist es, die unserem Gemeinschaftsleben den gewöhnlichen Stempel aufdrückt.

Ich schreibe diese Zeilen in Venedig, es ist wahr, aber Leute wie ich haben ja nur für ein paar Gedanken Raum, und alle Wege führen zu ihnen wie nach Rom. Sie bezahlen ihren partiellen Scharfsinn mit Unzulänglichkeiten aller Art.

Auf meiner Fahrt hierher stellte ich des öfteren fest, in wie hohem Grade die Masse sowohl heranzubilden wie zu korrumpieren ist. Ich war bereit, in Mailand dieselbe angenehme Enttäuschung zu erleben wie bei meiner ersten Reise nach Italien, vor welcher ich manches von dem „erledigten und geschmacklosen Rafael“ gehört hatte und seine Stanzen und Deckengemälde mir dann vor Bewunderung den Atem raubten.

Vielleicht würde es mir mit dem Mailänder Dom ähnlich ergehen.

Allein ich kam über den Krankheitsherd seiner Fassade nicht hinaus; die schönen Paläste, die sich auch hier vorfinden, kommen dagegen nicht an. Die in Triangelform ausgehauene Schweizer Stickerei, welche sie überragt, schlug eine Dominante für Mailand an. Sie ist heute noch verantwortlich für gewisse Hüte, Kleiderarrangements, Farbenzusammenstellungen, Loggien und Neubauten, denen man anderorts nicht begegnet, denn sie hat fortwirkend das Auge der Mailänder so sicher gefälscht, wie sich das der Venezianer bildete. Die ärmste Frau aus dem Volke hüllt dort bis an das Ende der Zeiten ihre ungefähre Kleidung in das Dekorum eines schwarzen Schals, zum Zeichen, daß sie einen höheren Rang einnimmt als die Kollegin, welche in Schürze und Kittel zwischen scheußlichen Mietskasernen ihre Sohlen schief tritt, während die Elektrische hinter ihr daherpoltert. Ihr Bewußtsein ist ein Reflex der Wundergassen, durch die sie wandelt. Er leuchtet von den beseelten Stirnen der venezianischen Kinder. Laut sind nur die melodischen Rufe der Gondoliere. Man erschrickt hier vor groben Stimmen, oder sie wirken komisch.

Für den Militarismus freilich war diese Stadt wie jede andere lediglich eine Zielscheibe für erfolgreiche Bombenwürfe, und nichts könnte ihn besser kennzeichnen, als seine Kanonenauffahrt gegen ihre Fragilität. Von seinen Bekennern sagte ich ja schon, daß ihre Nasen stumpf ausliefen, wie die Nasen der Hunde, ebenso unfähig wie Hunde, den geistigen Gang der Dinge zu spüren.

Ich schreibe diesen Brief im Abendwinde der Piazzetta, nach einem ersten flüchtigen Rundgang in den giardini publici. Dort stehen ein halb Dutzend Gebäude oder mehr den Bildern aller Länder gastlich, allzu gastlich offen. Die schon geäußerten Erwägungen drängen sich von neuem auf: Überschüssiges, Ausschußware, als eine Folge der Quantität, die sich auf Kosten der Qualität behauptet, infolgedessen höherer, nicht zu vermeidender Ramsch auch hier. Die guten Bilder, oder wenigstens die guten Künstler, auch die guten Plastiker kannte man.

Überall läuteten schon die Wächter den Schluß der Ausstellung ein, sehr verfrüht, wie mir schien, aber sie waren es wohl müde, vor so viel Bildern herumzustehen. Gott, o Gott! Was sollte ich über diese Ausstellung schreiben? „Ich komme schon!“ rief ich, England durchrasend, dem Türhüter zu. Nach Holland fliehend, läutete mich schon wieder einer hinaus. Aber ein erster Rundgang sollte es ja sein. Also rasch nach Ungarn, dazu reichte es noch. –

Seid mir gegrüßt, ihr Glocken!

Ich stand wieder auf dem Vaporetto; konnte es etwas Überwundeneres geben, etwas, das sich in dem Maße überlebt hatte, etwas den Bildern selbst Unzuträglicheres, wie solche Massendarbietungen? Nur Separatausstellungen haben noch einen Sinn. Der Eindruck einer Überzahl von Bildern verschiedensten Ursprungs hingegen ist dem eines großen Geschreies vergleichbar. Wir möchten uns die Ohren zuhalten: sie reden alle zugleich und fallen einander ins Wort, wobei die Unwichtigsten, wie das so geht, am lautesten sind. Welch eine stillere Kunst fürwahr ist die Musik! Und wäre es nicht an der Zeit, solche Bilderparlamente ein für allemal zu schließen? Hier geht es doch wirklich nicht um Demokratie. Lohnt es sich, so weise man diesen und jenen Malern einen Raum. Wenn nicht, so mögen sie erst ausreifen, sofern sie das Malen nicht aufstecken; jedenfalls verschone man uns mit ihrem Lärm. Auch dem Nichtssagenden, wie allem, was es gibt, hat der Weltkrieg neue Lichter aufgesteckt. Vor Leuten, von welchen sich einer acht Jahre früher anöden ließ, ergreift er heute erschrocken die Flucht, und die Menschengruppen sondern sich heute reinlicher ab, es ist wahr.

Montag, 26. Juni

Wieder auf dem Vaporetto. Nur für Stehplätze an der Sonne ist noch Raum, einer Julisonne kann man wohl sagen, und es ist Mittag. Mein Sonnenschirm ist an der Grenze geblieben, und mein Fächer im Hotel. Es fällt mir plötzlich ein, daß man damals, als es sich noch ausbreiten konnte in der ganzen Welt, und seine Schiffe in allen Häfen einliefen, so oft sagen hörte: Deutschland müsse seinen Platz an der Sonne haben und er sei ihm verwehrt. Barmherziger Gott! Wie ist es heute zusammengepfercht! Warum ich gerade heute so viel hinüberdenke? Ist es das überfüllte Boot?

Es glitt den Canal Grande entlang, und das Auge stillte sich an den unsterblichen Palästen, den gewaltigen wie den schmächtigen, der Musik ihrer Formen, dem Zusammenklang ihrer Farben; denn sie sprachen zu ihm. Ja, es fühlte sich angerufen von diesen geschwungenen Brücken, sie fingen an, ihm die intimste aller Gefolgschaften zu bilden; diese Gassen, in den Gewässern aufgetan, die Stufen, die hinab in ihre Stille führten, und ihre Pforten, so traumhaft umspült, sie zogen alle mit ihm; und die Gärten, die Mauern, tief von den Ästen überhangen, und jene Kinder dort, zwischen den Säulen der Terrasse, so schlank, so zart gekleidet, und die so still hielten ... Und die berückende Dame, die uns in ihrer Gondel kreuzte, deren Rosenherz vorfrüh gebrochen ist, und lange vor Sommers Ende den Herbst erlebte. Welcher Stoß hat es getroffen, und wird es sich erholen? Sie gibt die schweren Kelche ihrer Augen, die von der Süße und Qual der Rosen beladenen, dem Lichte preis, fesselnder in ihrem unverminderten, doch schon verfallenen Zauber, wie alle Jugend. Sie ist vorbeigezogen.

Am Rialto gab es ein Gedränge. Doch jetzt saß ich am äußersten Ende des Bootes. Das Glück stieg und schwellte in mir empor, und ich gewährte ihm ganz. Wir hatten im Schatten angelegt, und vor mir war ein schwerer Palast, die rostbraunen Gardinen herabgelassen. Aber ein Luftzug bewegte sie; sie blähten sich wie Segel, bereit, dem Winde zu folgen. Warum erhöhte sich da meine Lust? – Die Welt ist nie so heimatlos, Venedig noch nie so kostbar gewesen.

Ich hatte beim Einsteigen den Corriere della Sera erstanden, aber vergessen, ihn zu lesen. Er glitt jetzt von meinen Knien zu Boden, und ich hob ihn auf. Zuoberst auf der ersten Seite standen die Worte: Rathenau assassinato. Sie setzten das Auge unverzüglich außer Spiel und schalteten es aus. Von all den Palästen sah es keinen einzigen mehr.

 

Fürwahr, ihr Freunde, ein wunderbarer Richter ist der Tod. Mit zeitloser Geschwindigkeit hat er die Maske von uns gerissen, die Schale zerbrochen und den tauben oder süßen Kern in uns geprüft und kundgetan. Da sind „gute Bekannte“, von deren Sterben man Notiz nahm, ohne mit der Wimper zu zucken; da ist ein anderer, scheinbar Fernerstehender, dem wir durch die Umstände oder durch gewisse Eigenschaften, die uns in Schach hielten, nie wirklich nähertraten. Und da trifft uns sein Tod wie der eines nahen Freundes, als hätten wir ihn immer geliebt. Es zeigt sich, daß alle seine Schuldscheine zerrissen, jeder Schatten durch starke Wesenheiten überboten sind, und es will plötzlich nicht mehr gelingen, uns seiner Fehler auch nur zu entsinnen. Was ist geschehen? Es gibt Fehler, die nichts Inherierendes sind.

Rathenau gehörte, wie der während des Krieges verstorbene Robby Mendelsohn, zu den ganz wenigen feudalen Juden, die in Deutschland zu finden sind. Hier ist der Punkt, wo jeder Mensch von Ressentiment (sei es aus Rasse oder sonstigen Gründen) ihn mißverstehen mußte. Undenkbar – denn es war nichts Kleinliches in ihm, nicht einmal in seiner Eitelkeit –, daß er den Nekrolog geschrieben hätte, der ihm von Harden zuteil wurde. Selbst was er Richtiges enthält, ist daneben. Rathenaus Ehrgeiz war ohne eine Spur von Subalternität. Als er zur Regierung gelangte, zeigte es sich, daß er nicht nur seinem Talent, sondern auch seiner Natur nach dazu berufen war. Dies gab seiner Gestalt das ungemeine Relief: mochte er diesen oder jenen Fehler begehen, er war an seinem richtigen Platz. Und die antike Glorie seines Todes entsprach ihm wirklich.

Daß er übrigens bis in das Jahr neunzehnhundertundachtzehn an den Sieg Deutschlands glaubte, habe ich von ihm selbst anders gehört. Im Frühjahr neunzehnhundertundsechzehn besuchte er mich einmal in München, im Herbst desselben Jahres fuhren wir die Strecke Romanshorn-Buchloe zusammen, im Januar neunzehnhundertundsiebzehn sah ich ihn zum letzten Male in Berlin. Es war hier und dort fast dasselbe Gespräch:

„Lassen Sie heute die Hände“, sagte er, „von der Politik. Sie ist des Teufels Kessel. Sie wissen nicht, was vorgeht, und Sie können nicht dagegen an.“

„Warum tun Sie nichts?“

„Weil nichts zu machen ist, die Dinge müssen ihren Lauf nehmen. Erwarten Sie immer das Ärgste, und Sie werden es noch übertroffen sehen. Es gibt keine Dummheit, die man unterlassen wird. Den Unterseebootkrieg? Ja, der kommt auch,“ fuhr er in seiner gleichmäßigen Stimme fort, „und dann der Krieg mit Amerika. Und zuletzt wird man ihn verlieren. Auch das.“

„Das sagen Sie,“ rief ich, „und sehen zu?“

„Weil alles vergebens ist. Später, viel später erst, werde ich vielleicht eingreifen können. Ich warne Sie“, fing er wieder an – und nahm seine Belehrungen wieder auf.

Seine Worte, meine Unfähigkeit, die Lage zu übersehen, bedrückten mich schwer. Doch ich hielt an meiner Hoffnung an ein baldiges Ende fest. Dieser Allesbesserwisser! Gottlob, daß er nicht recht zu haben brauchte.

Den Hakenkreuzlern ins Stammbuch

Kein Glaube hat sich als so ominös erwiesen, als wie der Glaube, das auserwählte Volk zu sein. Ihm wurde auf Jahrhunderte der Fluch des Ghettos zuteil, der auf den größten aller Morde zurückführt. Seht ihr nicht, wie sich für eure Verblendung und eure Missetaten über eure Köpfe hin das Ghetto profiliert, das euch abseits stellt? – Kein Mord bleibt ungesühnt, auch wenn der Täter entwischt. Haken-Kreuzler in der Tat!

Zum Wandel der Zeiten

Das jüdische Problem ist reich an Geheimnissen. Auf vielfache Weisen, auch auf Weisen, die wir vielfach übersehen, tritt es immer stärker in den Vordergrund. Vielleicht sind gewisse typische Christusmenschen jüdischer Abkunft das Unverjudetste, was es gibt. Ihrer wurden in Deutschland während der letzten Jahre eine Anzahl um die Ecke gebracht. Ist da nicht der Moment gekommen, uns über die Juden zu äußern, statt diese ausschließlich von sich reden zu lassen? Man gestatte es uns ganz ohne Empfindelei: es ist immer so langweilig, was ein Volk über sich selber sagt. Räumen wir auch mit allen gefälligen Fiktionen auf, als sei der Haß der Juden für uns in Frage. Vielmehr bildet die Attraktion, welche unsere Typen, je ausgesprochener sie sind, auf sie ausüben – das Wort ist heraußen –, einen Bestandteil des Rätsels, dessen endliche Lösung mit unserer endlichen Erlösung insgeheim verwoben ist. Aber die Judenfrage ist eine Christenfrage. Das Wort ist nicht von mir.

Man mißverstehe nicht absichtlich folgende einfache Bemerkungen zum schwierigsten aller Themen: Wie jeder hochgezüchtete Deutsche das lebendige Gegenteil ist von einem Boche, also ein Anti-Boche, so ist nicht nur der Unterschied, sondern der Gegensatz zwischen dem losgelösten und dem, was wir den stofflichen Juden nennen wollen, so groß, daß wir in jenem den eigentlichen Anti-Semiten erkennen dürften. Freilich nicht nach Art der Haken-Kreuzler, die das Verjudetste sind, was es heute gibt. Man kann es ihnen nicht oft genug wiederholen, auch wenn sie einen dafür auf ihre Liste setzen.

Tags zuvor 25. Juni, Sonntag

So schön sah ich Venedig noch nie! Es schimmerte von weitem, das Schiff hatte eben vom Lido abgestoßen, und der Himmel verdunkelte sich, aber ein magischer Umsturz aller Farben – dem Fabelreiche entnommen – setzte sich in Szene. Einer Laune folgend, schien die Sonne ins Meer hinabzufahren, um aus den Tiefen zu dieser Stadt emporzuleuchten, daß sie in pfirsichgelbem, in grünstem Gold erglühte, ermattete. Ein zartes Rosa schlug melodisch an, eine Kuppel trug sich, Feuer fangend, wie ein Edelstein, und vor den toll erblauenden Lagunen fuhren Türme leidenschaftlich auf. Venedig zuckte, flammte und erlosch, von einer schwarzen See verschlungen. Das Vaporetto, allen Ufern entzogen, vom Sturme eingehüllt, wurde der Schauplatz eines Wolkenbruches und war so dicht besetzt, daß keiner von seinem Heringsplatz wegrücken konnte. Ströme liefen den Längsseiten entlang und gurgelten in die Schuhe. An der Peripherie stehend und vom Wind halb erstickt, erhaschte ich gerade noch meinen Hut, als er über Bord fliegen wollte. Von allen Köpfen rann das Wasser. Da schlug ein Blitz wie ein Riesenschwert hart am Schiffe vorbei in die Wellen, und im selben Augenblick setzten Rufe und Wehklagen von Frauen und Kindern ein, das merkwürdigste Lamento, einem Sirenengeheul nicht unähnlich. Was jetzt vor sich ging, war die regelrechte Generalprobe einer großen Panik; denn das Schiff hatte keinen Schaden erlitten. Es schien zu stoppen, legte aber langsam die gewohnte Straße zurück, und nur der Gedanke an den Untergang löste also diese Angst und dies rührende Flehen der Kinder aus, die, an ihre Mütter gepreßt, unausgesetzt nach ihnen riefen. Väter waren plötzlich etwas Unvorhandenes in der Welt. Aber dieser Präventivjammer, war er nicht seltsam angesichts der Tatsache, daß wir in einer viertel Stunde landen würden, während Schiffe, die solche Klagetöne entsandten, zu Tausenden untergegangen waren mit Menschen, welche auch vermeinten, ihnen könne und dürfe dies nicht widerfahren, und mit demselben starken Willen wie hier sich an das Leben klammerten, bevor sie ertranken. Und waren wir darum weniger Kandidaten des Todes, weil jetzt das Schiff ohne Havarie das Ufer erreichte, der seltsame Choral verstummte und Gelächter sich vernehmen ließ, als sei alles gewonnen? Dem Wolkenbruch war ein heftiger Regen gefolgt. Meinen Hut, der einer ersäuften Ratte glich, in der Hand haltend, stürzte ich blindlings auf einen offenen Eingang los. Es war die dem Landungsplatz gerade gegenüberliegende Pforte des Hotels Danieli. Ein großer, breitschulteriger Herr starrte mich an, als sei der Genius des Regens durch den Schornstein zu ihm hereingefahren. Dann aber geleitete er mich, ohne eine Frage zu stellen, die Treppe hinauf, schloß eine Tür auf, läutete einer Cameriera, die alle meine Sachen mit fortnahm, und ich war allein in einem großen Doppelzimmer, das plötzlich stockfinster wurde, weil jetzt der Blitz irgendeine Leitung beschädigte, so daß alle Klingeln und alles Licht im Hotel versagte. Nun war ich bis zu diesem Tage mit meinem Italienisch pompös ausgekommen. Vergessene Worte aus meiner Kindheit waren mir in Scharen wieder zugeflogen. Und ich fing sie ein, wie sie gerade kamen, duzte groß und klein, weil mir die Verben nur en gros einfielen, spickte sie dafür mit magaris und c’è casos und ma comes und ma ches, alles in rüstiger Bearbeitung, wie frische Salatblätter, und mit einer so draufgängerischen Volubilität, als müßte mir doch endlich jemand sagen: „Nein, wie Sie gut italienisch reden!“ Allein, das neueröffnete Konto meines Wortschatzes hatte angesichts des Bewußtseins als Dachrinne, statt, wie es in meinem Biglietto gratuito stand, als „critica del Berliner Tageblattin questo albergo aufzutreten, eine plötzliche Sperre erlitten. Während ich zähneklappernd durch die strahlende Halle vorüberströmte, hatte mir zwar meine rinnende Stirn noch einige Kontenance gegeben. Als ich aber zwei Stunden später, nach Verbrauch vieler Handtücher, in getrockneten und heiß gebügelten Kleidern und mit einem menschlichen Angesicht im Bureau des Hotels bei dem breitschulterigen Herrn vorsprach, da war mein Italienisch, wie der Federkranz auf meinem Hute, von mir weggeweht, und gefaßt, aber in einem fürchterlichen Kauderwelsch erkundigte ich mich nach dem Preis. Ma niente! sagte er, ganz Kaufmann von Venedig und mit einer Geste, welche diese ganze Stadt zum Hintergrunde hatte.

 

Mit der Hitze ist es übrigens, wie ich vermutet habe. Heiß ist heiß und kalt ist kalt. Mehr als heiß kann es nicht geben, und ein Eisenbahnwagen in der Sommersglut zwischen Offenburg und Frankfurt bietet nicht die Spur größerer Kühle als Verona um dieselbe Jahreszeit.

27. Juni, Dienstag

Was die Ausstellung betrifft, so mußte es bei jenem ersten flüchtigen Rundgang bleiben. – Als ich heute morgen Lire kaufen wollte, war die Mark derart zusammengebrochen, daß man in den Wechselstuben Miene machte, sie überhaupt nicht mehr zu nehmen. Als sei mit Rathenau ein letzter tragender Pfeiler niedergerissen, und jener drohende Ruin, gegen welchen dieser Sohn seines Landes alle seine Kräfte angespannt hatte, vollzöge nunmehr ungehindert seinen verheerenden Marsch. Fluchtartig verließ ich Venedig.

Abschied von Venedig 1924

Von der Einnahme Venedigs durch die Deutschen in der Osterwoche 1924 werden die Annalen dieser Stadt vermutlich nichts berichten. Wer hätte es auch gedacht? So schnell, nicht wahr? Ohne Schwertstreich. Infolge der schönen Verordnung, daß ihnen bei der Ausreise eine hohe Summe abzufordern sei, sprangen, kletterten, überrannten, stürmten sie in ihrer Torschlußpanik scharenweise die Grenzpfähle – und waren da. Man sah mit einem Male auf unbemittelte Deutsche, welchen man die Spuren der letzten zehn Jahre anmerkte, und die billigen Alberghi waren nicht minder angefüllt als wie Danieli, Grünwald usw. – Bleibt es bei jener Verordnung, dann werden – ausgerechnet – nur mehr jene Typen, welche uns dies Frühjahr so blamierten und durch ihren Aufwand so viele Spenden an ihre notleidenden Landsleute rückgängig machten, sie allein werden dieselben fürderhin vor dem Auslande repräsentieren.

In jener Osterwoche jedoch sah man, wie gesagt, so manch sympathisches Gesicht mit dem Gepräge einer geistigen Existenz. Wie eine Springflut stürzte auch die heute so zurückgedämmte Sprache über ganz Venezien hin, und deutsche Speisekarten lagen in allen Ristorante auf. Mehrfach habe ich „Wurstl mit Cren“ gelesen; hyperdeutsch; nur Münchner mochten auf den ersten Blick erfassen, daß hiermit kein Hanswurst gemeint ist, kein Wurstl, sondern Wurst mit Meerrettig.

Die Osterglocken läuten über den Markusplatz, die Sonne leuchtet und lockt ans Meer; es gurren die Tauben im verstärkten Chor, und nie war die Welt so gemein. Restbestände aus der Arche Noah sind natürlich überall noch anzutreffen, aber mehr als „Souvenirs“, nicht daß sie ins Gewicht fallen; bewahre! Ausschlaggebend ist durchaus die dicke Krämerin aus dem Grand Hotel, die an einer Porphyrsäule der Markuskirche lehnt und behufs photographischer Aufnahme mit ihrem Mispelgesicht zu einer Taube wie eine Mispel niederlächelt, wenn eine Mispel lächeln könnte.

Wunschtraum

Wenn ich ein Vöglein wäre, flöge ich natürlich dieser Welt davon. Hätte ich aber in ihr etwas zu sagen, so führe dieser Tage ein strammer und himmellanger Besen in den Markusplatz hinein. Die an der Porphyrsäule Lehnende würde in eine Calle hinter einen Ladentisch mit Mortadella zurückgefegt. Sodann müßten mir die Konzertprogramme bei Quadri, Olympia, Florian und Lavena unterbreitet werden. Denn bei schwerer Geldstrafe dürfte keine Bumsmusik auf der Piazza hin- und herüber tönen. Ich erlebte folgendes: Eine der dortigen Kapellen – sie bestand aus Deutschen, Südtirolern und einem Italiener – gab als schüchterne Konzession an den Karfreitag Paraphrasen aus dem Parsifal. Zum Schluß rief jemand Bis. Daraufhin entspann sich zwischen den Musikern und mir folgender Dialog: „Spielen Sie das doch noch einmal.“ – „Wir können nicht.“ – „Man hat doch Bis gerufen.“ – „Es war ja nur Hohn.“ „Non li piace,“ sagte der Cellist, „piace a noi, ma non a loro.“ Ich würde mir aber das Publikum schon ziehen.

Haben wir, die wir uns in der Welt nicht mehr recht zu Hause fühlen, am Ende ehrlichere Gesichter von unserem Unbehagen weg? – Ich erstand ein Fernglas, hatte aber nicht genügend Geld bei mir und ersuchte die Verkäuferin, es mir zurückzulegen. Da trat aus dem Schatten die Padrona hervor, bat mich um Namen und Adresse und händigte mir das Fernglas ein.

Und doch bin ich finsterer denn je entschlossen, den nächsten Fund, den ich mache, zu behalten. Aber ach! Die Menschen teilen sich in Finder und in Verlierer ein und mir sind die Finder immer an den Fersen. –

La valigia

Die Nacht war längst angebrochen, als der Zug, mit dem ich fuhr, sich Venedig näherte. In meinem Abteil saßen mir zwei Herren gegenüber, auf meiner Seite niemand. Ich streckte mich also der Länge nach aus und merkte nicht einmal, daß einer meiner Reisegefährten in Vicenza ausstieg, der andere in Mestre. In Venedig angekommen, merkte ich aber, daß an Stelle meiner Handtasche eine viel kürzere, die ihr außer in der Farbe gar nicht glich, zurückgeblieben war. Die meinige war offen gewesen. Kofferschlüssel führe ich prinzipiell schon lange keine mehr mit mir. Wozu auch? Es mußte regelmäßig der Schlosser gerufen werden, der neue Schlüssel aber war es, der als erster abhanden ging, während der alte wieder zum Vorschein zu kommen pflegte, zum geänderten Schlosse aber nicht mehr paßte. Außerdem: was nützen Schlüssel? – Fuhrwerke etwa ich in Koffern herum, die andern gehören? Wäre ich aber ein Dieb, würde das bißchen Schloß mich daran hindern? Also.

Übergehen wir aber, ehrlicher und teilnehmender Leser, meine Fassungslosigkeit, als über das Fehlen meiner Tasche kein Zweifel mehr bestand. Nichts von angelsächsischer Selbstbeherrschung legte ich an den Tag; nichts von Stoik. Ungeheuchelt brach sich mein Furor Bahn. Zwar hatte schon ein Herr aus Vicenza wegen eines Gepäckstückes telephoniert; aber böse Ahnungen zogen im Sturme in mir auf; den Bettelstab sah ich grünen in meiner Hand. Denn auch meine Manuskripte, die Arbeit von Jahren, steckten wohlverschnürt in einer Seitentasche und sollten in Venedig ihre letzte Reife erfahren. Und nicht nur sie, sondern mein jüngstes Produkt, mein Benjamin, welcher den Titel führte: veder Napoli e partire. Er war nicht gegen Napoli, nur gegen das schlechte Wetter gemünzt, das ich dort angetroffen hatte. Wer aber bürgte mir, daß mein mal’ occhio weiter als diesen Titel lesen und in nationalistischer Entrüstung den ganzen Bündel nicht ins Feuer werfen würde. Hatte man nicht wegen Palermo den Maeterlinck gefordert? –

Um zwei Uhr morgens war ich in meinem Hotelzimmer, um neun Uhr schon wieder auf dem Weg zur Bahn. Über meine Tasche lagen nur höchst undeutliche Meldungen vor, die des Vicentiners hatte man ihm zurückgeschickt. Ich begab mich zum capo di stazione. Wert im Rate der Zehn zu sitzen, höchst ritterlich, und noch dazu auffallend schön, nahm er sich, über jeden sacro egoismo erhaben, sofort meiner an und telephonierte nach Vicenza. Es sei eine Tasche da, jawohl. Ich wurde gefragt, was alles drin sei, und ich nannte ein paar Dinge, die mir gerade einfielen. „Toilettengegenstände, eine Reiseuhr, ein Arbeitssack, Delle lettere“, sagte ich; scritture. Der capo di stazione notierte alles und gab seine Orders. Mit dem Sieben-Uhr-Abendzug würde die Tasche ankommen, wenn ich also um dieselbe Zeit mich einfinden wollte? ... Doch ach, nur ich traf ein zu diesem Abendzug. Der capo di stazione begab sich in den Gepäckraum; errötend gab er mir das negative Ergebnis mit. Er telephonierte und telegraphierte von neuem.

Am nächsten Morgen war die Tasche da.

 

Verschnürt und plombiert harrte sie meiner im Lagerraum, und ich wurde aufgefordert, sie zu öffnen und festzustellen, ob nichts fehle. Ich zerschnitt die Schnüre, sie sprang auf. Ein Griff nach rechts, ein Befühlen der Rolle, meine Werkstatt war unversehrt. Da genügte ein flüchtiger Blick auf alles übrige. „C’è tutto!“ sagte ich, zog ab mit meiner Tasche, nahm eine Gondel für die Tasche und mich und blickte triumphierend den Canal Grande hinab. Die Tasche und ich, wir fuhren dann ein in die stilleren Seitengewässer und die nur aus ihrer Stille vernehmbare Musik Venedigs, von den Steinen und den Pforten angestimmt, ob sie eintauchen in die Flut oder bemoost sie überragen, wie süß drang sie zu mir.

Erst beim Auspacken trat zutage, was alles fehlte: von drei Scheren zwei, von zwei Bürsten die zusammenlegbare in einem Etui, der Sack Pralinés aus Nizza. Allein solche Verluste nimmt man leicht. Als ich jedoch den Arbeitsbeutel öffnete, wehe! Da fehlte der wertvollste und teuerste jener Gegenstände, die ich immer mit mir führe: eine schmale, silberne, einfache, aber wirklich vollkommen schöne Empire-Nadelbüchse, einzig in ihrer Art, die alle kennen, die meine Sachen kennen. Sie fehlte. Sie war gestohlen. Der naheliegende Gedanke, daß man so grausam sein würde, sie mir zu rauben, war mir nie gekommen. Eine Welt von Erinnerungen umschloß für mich ihr schmaler, schreinartiger Hals. Nie öffnete ich sie mit gleichgültiger Hand. Ich hing an ihr über mein Leben hinaus, ich träume von ihr.

Mit welchem Fuge aber hätte ich den Weg zur Bahn von neuem eingeschlagen, nachdem ich doch ausgerufen hatte: „C’è tutto!

Ihr Herren Eisenbahner aus Vicenza, lohnt mir so nicht mein Vertrauen. Gebt mir meine Nadelbüchse wieder! Was ist sie für ein verschwindend Ding inmitten der Pracht, die euch umgibt.

Oder sollten Sie mein Herr, der Sie meine Tasche verwechselten – Ihr Name wurde ja auf Protokoll genommen –, sollten Sie ein Antiquar sein und der Versuchung nicht haben widerstehen können, so schicken Sie mir die kleine Nadelbüchse wieder. Wer sie mir findet und zurückschickt, dem werde ich ihren vollen Wert zurückerstatten, wer immer es sei. Dem Dieb, der sie behält, wird sie Unglück bringen, denn sie gehört zu niemandem als zu mir.

Seltsame Stadt, schwebend gleichsam, nein, wie in sich selbst versunken, und dem Tode stärker als dem Leben zugewandt. Wie behält sie jedes Echo! Was läutet sie? – Noch vibrieren heimliche Reflexe jenes Februartages, an dem der junge d’Annunzio den Sarg des „Grande Barbaro“ auf seine Schultern hob und mit seinen Freunden die Stufen des Palazzo Vendramins hinabtrug. Noch lauern Schatten jener Gondel, die Wagners Leiche zog, noch weht am Canal Grande ein Hauch der Stunde, zu der er starb.

Schöner, tiefer, stiller war Venedig vor zwei Jahren inmitten seiner Junihitze und seiner Leere. Damals klang die trübe Nachricht vom Mord an Rathenau herüber; dieses Mal der Tod der Duse, und gleich darauf in seiner schauderhaften Schrille das Ende Helfferichs. Wer hat den Tod mit einer Geige abgebildet? Wie verschieden moduliert er seine Weisen! Mit welcher Pracht umleuchtete und steigerte er weithin das Sterben der Duse. O heilige Kunst! –

Molières Tod

Es ist die Liebenswürdigkeit Molières, welche wir bei aller sonstigen und eingebürgerten Würdigung seines Genies übersehen. Geistige Verwandtschaften konstruieren sich ebenso bestimmt wie die Ausläufer und Nebenlinien eines Stammbaumes. Es gibt Familien hier wie dort.

Ich kann mir nicht helfen, aber ich sehe – ganz unswedenborgisch natürlich – ich sehe immer Pascal mit Hebbel und Brahms eingehängt daherkommen, und ich sehe, wie Molière und Mozart „mon cousin“ zueinander sagen und ein Lächeln an sich tragen wie Brüder; eines selben Hauses und von selbem Adel: zwei lichte Gestalten auf dunklem Grund.

Molières ausgelassene Augen haben sehr melancholische Wimpern. Es verhält sich ähnlich mit Mozarts vielgerühmter und doch so beschatteter Heiterkeit, seinem beiläufigen, aber grandiosen Ernst. Sie sind beide zu scharfblickend, um sich mit dem leichtsinnigen Rossini oder dem trotz chronisch unglücklichen Verliebtseins bei Gelegenheit so fidelen Schubert zu verzweigen. Molière und Mozart haben die ähnlichen Nerven, den ähnlichen geistigen Charme und jene charakteristischen Merkmale, welche nur den Lieblingen der Götter eigen sind: selbst der unheilbar erkrankte Molière, der, in der Sänfte getragen, seinen hohen Gönnerinnen Besuch abstattet, ist noch von Jugend umweht. Selbst der sterbende Molière ist unvorstellbar als ein Gealterter.

Sie haben eine ähnliche Haltung ihrer Zeit gegenüber, die ihnen teils eine bevorzugte Stellung einräumt und sie kajoliert, teils mit letzter Roheit ihre Vorurteile ihnen gegenüber aufrecht hält.

So trägt Mozart den berühmten Fußtritt jenes Grafen davon, an dessen Wappen er dann haftenblieb, und Molières Leiche wird einer Bestattung in geweihter Erde nicht für würdig erachtet.

Sollte man da nicht doch versucht sein, an einen Fortschritt zu glauben? Aber nichts beleuchtet ihn besser als die unbestreitbare Tatsache, daß in unserer Zeit Molière und Mozart auf ihre Felddiensttauglichkeit geprüft worden wären. – Wolfgang Amadäus Mozart im Schützengraben! Molière als Poilu! – Es ist also schon besser, nicht wahr, sie lebten im Dix-septième und Dix-huitième.

 

Die
nachfolgenden Seiten
werden
der Beachtung
empfohlen

DAS KLEINE PROPYLÄEN-BUCH

MAURICE BARING, MINIATURDRAMEN
Deutsch von Ella Bacharach-Friedmann

BEETHOVEN, BRIEFE, GESPRÄCHE, ERINNERUNGEN
Ausgewählt und eingeleitet von Paul Wiegler

CAZOTTE, BIONDETTA, DER VERLIEBTE TEUFEL
Deutsch von Franz Blei

CERVANTES, DER EIFERSÜCHTIGE ESTREMADURER
Drei Novellen

DENIS DIDEROT, DER NEFFE DES RAMEAU
Deutsch von Otto von Gemmingen

JOSEPH VON EICHENDORFF, AUS DEM LEBEN EINES TAUGENICHTS

ANSELM FEUERBACH, EIN VERMÄCHTNIS
Mit einer Einleitung von Wilhelm Weigand

ANDRÉ GIDE, DIE PASTORAL-SYMPHONIE
Deutsch von Bernard Guillemin

GOGOL, PHANTASTISCHE GESCHICHTEN
Herausgegeben von Otto Buek

OTTILIE VON GOETHE, EIN PORTRÄT
Aus Dokumenten ausgewählt und eingeleitet von Ilse Linden

STEFAN GROSSMANN, LENCHEN DEMUTH
und andere Novellen

HEINRICH HEINE, DIE BÄDER VON LUCCA

HEINRICH HEINE, EIN LIEBESSPIEGEL
Aus seinen Liedern ausgewählt und eingeleitet von Herbert Eulenberg

J. K. HUYSMANS, STROMABWÄRTS
Novellen. Deutsch von Else Otten.

ANNETTE KOLB, WERA NJEDIN
Erzählungen und Skizzen

LUKIAN, GÖTTER-, TOTEN- UND HETÄRENGESPRÄCHE
Nach Wielands Übersetzung

HEINRICH MANN, ABRECHNUNGEN
Sieben Novellen

GEORGE MEREDITH, CHLOES GESCHICHTE
Deutsch von Franz Blei

WILLY SEIDEL, DIE EWIGE WIEDERKUNFT
Novellen

VERSE DER LEBENDEN, DEUTSCHE LYRIK SEIT 1910
Herausgegeben von Heinrich Eduard Jacob

Die Sammlung wird fortgesetzt!
Jeder Band in Leinen M. 2.50, in Satin M. 3.20

IM PROPYLÄEN-VERLAG / BERLIN

Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):