The Project Gutenberg eBook of Aus der Schneegrube

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Title: Aus der Schneegrube

Author: Wilhelm Bölsche

Release date: November 9, 2022 [eBook #69320]

Language: German

Original publication: Germany: Carl Reißner, 1923

Credits: the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK AUS DER SCHNEEGRUBE ***

Anmerkungen zur Transkription

Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1923 so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr verwendete Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert; fremdsprachliche Ausdrücke wurden nicht korrigiert.

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Aus der Schneegrube

Die Neuauflage des vorliegenden Buches stellt
das erste Werk einer neuen Bücherreihe dar, die
der Verlag unter dem Gesamttitel „Religion und
Weltanschauung“ herausgibt.

Wilhelm Bölsche

Aus der Schneegrube

14. bis 18. Tausend

Dresden 1923
Carl Reißner

[S. VII]

Vorrede.

Ist das Herz der modernen Naturforschung eine Schneegrube? Draußen lachender Frühling — und im Innern ein kalter Krater, in dem auch dann nur ein Stück Eiszeit dauert?

Ich habe in diesem Buche einmal von einem Besuch in den Schneegruben des Riesengebirges gesprochen: wie da im Näherkommen die vermeintliche Schneefläche sich als ein Teppich duftender weißer Blüten erwies.

Wird unsere Zeit diese weißen Blüten wiederfinden ...?

— — —

Je nachdem, denke ich, wie sich ihr Natur-Begriff allmählich feststellt und klärt.

Eine Anzahl Tagebuch-Blätter vereinige ich hier, die wenigstens aus dem Ringen um diese Frage geboren sind. Sie sind durchaus subjektiv, aber ich tröste mich mit den schönen Worten, die Goethe einst als „Vorschlag zur Güte“ in seinen morphologischen Heften gesprochen hat.

„Die Natur gehört sich selbst an, Wesen dem Wesen; der Mensch gehört ihr, sie dem Menschen. Wer mit gesunden, offenen, freien Sinnen sich hineinfühlt, übt sein Recht aus, ebenso das frische Kind als der ernsteste Betrachter ... Erfahren, schauen, beobachten, betrachten, verknüpfen, entdecken, erfinden sind Geistestätigkeiten, welche tausendfältig, einzeln und zusammengenommen, von mehr oder weniger begabten Menschen ausgeübt werden. Bemerken, sondern, zählen, messen, wägen sind gleichfalls große Hülfsmittel, durch welche der Mensch die Natur umfaßt und über sie Herr zu werden sucht, damit er zuletzt alles zu seinem Nutzen verwende. Von diesen genannten sämtlichen Wirksamkeiten und vielen anderen verschwisterten hat die gütige Mutter niemanden[S. VIII] ausgeschlossen. Ein Kind, ein Idiot macht wohl eine Bemerkung, die dem Gewandtesten entgeht und eignet sich von dem großen Gemeingut heiter, unbewußt, sein beschieden Teil zu.“

Während ich diese alten Sätze wieder einmal lese, lächelt mich der blühende Apfelbaum mit seinem weiß und roten Mädchenantlitz schalkhaft um die Giebelecke des kleinen Bauernhäusels an, in dem ich meine Sommermonate im Gebirge verbringe. Die Rotschwänzchen, die unter dem Dach ihr Nest haben, fliegen aus und ein. Im Talgrund liegt ein blaues Gewitter; die absteigende Bergwiese steht mit hartem Smaragdgrün dagegen, unzählige goldene und weiße Blumenpunkte funkeln naß darin; wo das Weiß der Dolden wie ein Schlänglein zusammenfließt, geht der kleine Quell leise summend und plätschernd hindurch.

Ob es sich nicht lohnt, um diese Natur zu ringen, bis sie uns segnet ....?

Haus Bölsche in Schreiberhau, Juni 1903

Wilhelm Bölsche.

[S. IX]

Inhalts-Übersicht.

Weihnachtsstimmung. — Kennt die moderne Weltanschauung noch ein Weihnachten? — Die Menschenliebe als Entwickelungsstufe des Alls. — Sternenfriede. — Die Erfüllung unserer Ideale S. 1–6

Zusammensturz einer Welt — und Schönheit. — Die Entstehung des Schmerzes. — Ist Liebe ein Hemmnis? — Die Kraft der Ideal-Schau S. 7–15

Sturmtag am See. — „Wir sind umgeben von Geheimnissen.“ — Der unergründliche Ratschluß. — Christi Stellung in der Natur. — Der Triumph der Dichtung S. 15–23

Herber Frühling. — Auferstehung in der Geschichte. — Auferstehung durch Dichterkraft S. 23–29

In der Schneegrube. — Der Drache. — Gott-Natur. — Die Natur als Minotaurus. — Ein Versöhnter. — Vom Geiste des Pessimismus in unserer Zeit. — Was „Kraft und Stoff“ angerichtet haben. — Der wahre Sinn des Wortes Entwickelung. — Die Stufen des Gesetzes und der Liebe. — „Auge um Auge,“ A. = A. — Die Herrschaft über die Naturgesetze baut das Liebesreich. — Naturwende. — Das optimistische Weltprinzip S. 29–57

Die Rede vom „Zusammenbruch des Darwinismus“. — Was Darwin wollte. — Eine Kosmogonie Goethes. — Der Entwickelungsbegriff stammt nicht aus dem Darwinismus. — Darwin und die Geologie. — Die Steinkohlenwälder. — Die Archäopteryx. — Pithekanthropus. — Was heißt „Wechsel der Verhältnisse“? — Darwin und die Teleologie. — Die Idee eines „Kosmos“. — Darwin berührt nur den „Weg“, nicht das „Ziel“. — Die natürliche Zuchtwahl in unserm Ideenleben. — Was wirklich not tut S. 57–92

Die Geschichte vom Geheimnis der Nachtkerze. — Die Pflanzen als Eroberer. — Der Acker von Hilversum. — Hugo de Vries. — Variation und Mutation. — Ein Botaniker erlebt die Entstehung neuer Arten. — Das Ergebnis aus 50000 Nachtkerzen. — Auf der Suche nach einem Entwickelungsgesetz. — Die Geschichte des Axolotl. — Sprung oder Entwickelung? — De Vries führt zu Darwins Idee über den Zweck zurück. — Die Teleologie in der Ontogenie. — Möglichkeit einer Weltteleologie S. 92–132

[S. X] Die Zeit-Frage. — Die Krakatau-Explosion und ein botanisches Ergebnis. — Treubs Entdeckung. — Wie das Leben die Erde erobert hat. — Im Erdinnern. — Die Angst vor den Millionen. — Ein Experiment Buffons. — Werners Wasserweisheit. — Hutton als Zeit-Forderer. — Goethe als Geologe. — Lyell und Hoff. — Die Biologie mischt sich ein. — Die Rechnung erreicht die Milliarde. — Thomsons exakte Rechnung mißlingt. — Sehr viel Zeit als Resultat S. 132–172

Die erste Epoche des Darwinismus wird historisch. — Weismann schreibt sein Testament. — Äußere und innere Zuchtwahl. — Von Nägeli bis zu Roux. — Wo Weismann resigniert S. 173–183

Rückblick auf Haeckel. — Persönliche Erinnerungen. — Vogt. — Ein Schülerbund, der die „Natürliche Schöpfungsgeschichte“ liest. — Darwinismus und Sozialdemokratie. — Vorträge über Darwinismus bei Arbeitern. — Die „Freie Bühne“. — Die Gründung der Gesellschaft für „Ethische Kultur“. — Was ist Wahrheit? S. 183–191

Was wollt ihr gegen Darwin setzen? — Vielleicht den Spiritismus? — Eine eigene Sitzung mit Valeska Töpfer. — Das redende Kästchen. — Entlarvung des Schwindels. — Der Geist Abila. — Grauen vor einer Weltanschauung aus solcher „Möglichkeit“ S. 191–217

Was wir dagegen wirklich brauchen. — Ein Mann wie Fechner. — Fechners Hypothesen zum Naturbegriff. — Die echten offenen Möglichkeiten S. 217–230

Der Kampf um den Begriff „Wirklichkeit“. — Das 19. Jahrhundert in seiner Stärke. — Das soziale Moment in unserer „Wirklichkeit“. — Geschichtlicher Rückblick. — Der Triumph des Werkzeugs. — Die Idee der „Kultur“. — Der Mensch erobert sich selbst. — Der Himmel auf Erden. — Aber die Kehrseite. — Die Sklavenkette der „Wirklichkeit“. — Der Mensch als Spiegelplättchen. — Die tote Maschine als das Absolute. — Das Individuum als Nichts. — Der „Normalmensch“. — Anprall gegen die Kunst. — Man weiß mit dem Ästhetischen nichts mehr anzufangen. — Das Künstlergenie als angebliche Störung des Normalen. — Triumph der Lombrosos. — Die Kunst zeigt sich selbst ergriffen. — Experimente des Naturalismus. — Höhepunkt und Sturz des falschen Prinzips. — Die Kunst als Retterin S. 230–270

Waldeinsamkeit. — Der Automat am Bahndamm und das Pfingstwunder. — Der Gegensatz des Automatischen und Elementaren. — Vom ewigen Pfingsten des Geschehens. — Pfingsten in der Entwickelung. — Der Mensch als das Genie der Natur. — Er steht im Aufmerksamkeitsfelde. — Entlastungen im Automatischen S. 270–278

Die Geschichte der Menschheit ist Pfingstgeschichte. — Vom Pfingsten der Kunst. — Im Trüffel-Lande. — Die Höhlen des Vezère-Tals. — [S. XI] Was der Mensch noch gesehen hat. — Verschollene Tiere. — Phantasie-Tiere. — Wie der Mensch stilisiert. — Der Tintenfisch von Mykenä. — Der Altar von Pergamon. — Bakairi-Kunst. — Urwurzeln von Realismus und Idealismus. — Wie weit der Mensch zurückgeht. — Als Zeitgenosse des Mammut. — Als Zeitgenosse des Alt-Elefanten und des Süd-Elefanten. — Der Mensch in der Auvergne bei Dinotherium und Hipparion. — Die gefälschten Tierbilder. — Das erste Mammut-Bild. — Zweifel — Jetzt die neuen Höhlen — Wandgemälde. — Echte Darstellungen des Mammut S. 278–312

Woran man die Charaktergestalten unserer Naturforscher messen wird. — Virchows Stellung zum Naturbegriff. — Ein Zeitalter Virchows? — Seine Größe. — Virchows Denkmal, das er sich selbst geschaffen. — Die Kehrseite der Medaille. — Imponderabilien der Naturforschung. — Virchows Widerstreben gegen Weltanschauung. — Der Salto mortale des Idealisten. — Individuelle Tragik. — Verhängnisvolle Folgen S. 313–327

Dubois-Reymond als Parallelgestalt. — Voraussetzungen und Folgen des „Ignorabimus“. — Der Standpunkt Johannes Müllers. — Sturz der Lebenskraft. — Der entscheidende Irrtum bei Dubois. — Zusammenbruch des Naturbegriffs bei Virchow und Dubois-Reymond. — Das wahre Ziel S. 327–346

[S. 1]

(Friedrichshagen. Weihnachten.)

Der Orion schwimmt mit seinen weißen und rötlichen Sternenblüten über dem schwarzen Kiefernforst herauf.

Still und starr steht dieser wetterharte Wald da mit seinen kalten Stämmen, das Geheimnis seines rastlosen Eigenlebens tief verschlossen im unsichtbaren Innern.

Und diese ungeheuren Sternbilder folgen dem Umschwung der Erde mit ihrer mathematischen Strenge, heute wie sonst, all ihre Rätsel bergend in den paar bunten Lichtpünktchen, die aus der Weltraumsnacht funkeln wie die Augen im Dunkel umgehender Raubtiere. Ist Deine Weltanschauung stark genug, Weihnachten noch zu ertragen ...?

Was sind diesen Sternen des Naturforschers unsere kleinen Menschenfeste! Als das Geschlecht der Nadelhölzer jung war, räuberte der Ichthyosaurus im deutschen Korallenmeer, und die alte Erde mußte noch öfter als zwölfmillionenmal um die Sonne laufen, ehe das kleine Menschlein aus seiner Höhle kroch. Als der rote Stern Beteigeuze dort im Orion weiß war, bestand diese ganze Erde wohl noch nicht, und die Sonne war ein verwaschener Nebel. Wenn er dermaleinst herabgebrannt ist zu schwankender Nachtglut wie Mira, der Wunderstern im Walfisch, der nur noch periodisch aufglimmt und wieder erlischt — dann wird diese Sonne vielleicht längst wieder verschwunden sein und das letzte Teilchen eines irdischen Nadelholzstammes wird ein Kohlenstäubchen in einem eiskalten Meteorblock sein, der irgendwo in einem anderen System als heimatloser Fremdling landet.

Was will vor solcher Perspektive bestehen!

[S. 2]

Auf solchen Urweltsbaum kleben wir unsere lieben lustigen Weihnachtskerzen. Aus Flittergold pflanzen wir ein Bildchen darauf, geformt nach der Zickzackarabeske eines solchen Weltraumsterns, dessen Lichtpunkt in unserer Atmosphäre zittert — wir Eintagsfliegen zwischen Äonen der Zeit und Siriusweiten.

Und wir träumen, daß unter diesen Kerzen und diesem Stern das ewige Menschenkind in seiner Krippe liege — und daß die ewige Liebe von hier als unhemmbares warmes Lichtband durch die Welten ströme. Durch den kalten Raum, wo die Eisenmeteore sausen und die Kometen zur Sonne stürzen und alle paar Billionen Meilen ein einsamer Weltkörper sich dreht, immer dreht und dreht durch die Jahresfolge der Billionen ...

Es ist die große Anschlußfrage unserer Zeit, die hier erklingt.

Das Alte sollen wir retten. Und das Neue soll doch hinzu. Wo ist die Brücke?

Mein Auge, mein kleines Menschenauge in dieser Weihnachtsnacht der Menschenliebe, bohrt sich ein in den roten Stern des Orion mit seinem inbrünstigen Sehnen. Wie seltsam, daß ich diesen Stern doch sehen kann, mit diesem schwachen Menschenauge!

Es muß doch ein Verwandtes sein zwischen dem Stern und mir. Ich weiß: wenn ich dort wäre und ganz scharfe Augen hätte — als ganz kleines Lichtpünktchen dieser Art erschiene unsere Sonnenwelt auch dort. Die gleiche Lichtpost geht her wie hin. In diesem Licht steckt unsere Einheit.

Aber Licht, nur Licht! Wie weit ist das von der Menschenliebe.

Und doch: dieses Licht ist ein Zauber ohnegleichen. Es kündet mir, daß alle diese Sterne aus den gleichen Elementen aufgebaut sind wie die Erde, wie der Kieferbaum, wie ich selbst. Aus den winzigen Regungen dieses Lichtpünktchens lese ich in der untrüglichen Sicherheit eines ewigen Dokuments, daß dieser Stern und alle dort nach denselben Gesetzen der Schwere sich bewegen, nach denselben Gesetzen des Lichtes Wellenzüge entsenden durch den Äther, kraft deren auch mein[S. 3] Christbaum hier leise rauschend über meinem festlichen Tische schwebt, kraft deren meine dreißig Kerzen hier leise knisternd ihr Weihelicht ergießen.

Und ich fühle den starken Weltenarm auf einmal, den uralten, urgewaltigen, in dem wir beide ruhen, mein roter Stern dort und ich, mein Weihnachtsbaum im engen Erdenhause und der grenzenlose Sternenweihnachtsbaum am schwarzblauen Firmament der Winternacht.

Wie wunderbar ist der schlichte Gedanke, daß auch die Menschenliebe, daß die schlichte Forderung, wie sie das Evangelium ausspricht, in der ewigen Gesetzmäßigkeit des Alls steht!

Ein urgesetztes Werden kommt herauf aus dem Grau des Unbekannten. Es formt sich als Sonne, erzeugt Planeten. Auf einem solchen Planeten blaut ein Meer, aus dem Wasser heben sich Inseln. In der kristallenen Tiefe, dann am feuchten Rand der Klippe entfaltet sich Leben. Tieraugen öffnen sich zum Licht, Pflanzengrün atmet in der Sonne. Unter einem solchen grünen Baum schlägt zuletzt der Mensch seine herrlichen Lichtaugen auf. Wie ein Tier ringt dieser Mensch anfangs noch blutig-wild um seine Existenz. Aber im Banne seiner höheren, vertieften Lichtsehnsucht steigen Marmortempel auf mit Gebilden der Kunst. Und auf einer höchsten Stufe, noch umbrandet von tausendfachem Sturm, aber sieghaft wie das einsame Lämpchen der Krippe in der Wüste, gibt der Mensch auf seinem rastlos rollenden Planeten sich selbst ein neues Gesetz. Es soll nicht mehr gelten: Auge um Auge, Zahn um Zahn — die alte, einfache, mathematisch strenge Gleichungsformel des Naturkampfes. Siebenmal siebenmal soll jetzt die Schuld vergeben werden. Im Nächsten sollst Du Dich selbst erkennen und heiligen. Das bist Du, lehrt Dich der Inder schon zu allem sagen. Erkenne Dich selbst, predigt der Grieche — Dich selbst in allem, was um Dich ist. Nun heißt es: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst. Die Stunde, da diese Weisheit endlich Wort wurde und in einer Menschenwiege lag, feiern wir als Weihnachtsfest.

[S. 4]

Das alles aber mußte kommen nach ganz fester Naturgesetzlichkeit.

Es lag in den Urelementen dieser unserer Sonnenwelt schon, daß es so werden mußte.

Was siehst Du aber brennen in den tausend und tausend Sternen dort? Tausend- und tausendmal die gleichen Urelemente, bewegt von der gleichen Gesetzlichkeit. Jede dieser Welten, wenn ihre Stunde erfüllt ist, muß durch ihre gleichen Hauptstufen wandern. Jede muß ihre Station erklimmen der Intelligenz, des Lichthungers im Geist. Mögen die äußeren Formen tausend- und tausendfach verschiedene sein: die Grundlinien werden sich nie verleugnen können.

Es ist ein altes Wort, daß in aller Intelligenz, auf so verschiedenen Welten unseres Alls sie nun erblühe, immer gewisse mathematische Grundanschauungen gemeinsam sein müßten. Ein Mensch der Erde und ein Intelligenzwesen des Orion würden sich in einer Sprache sofort verstehen: nämlich, daß die Summe der Winkel im Dreieck gleich zwei rechten sei, oder daß der pythagoreische Lehrsatz gelte. In diesem Worte liegt ein tiefes Heil. Denn zu diesem ewigen Gemeingut muß auf einer bestimmten Stufe zweifellos auch der schlichte, der wirklich mathematisch schlichte Kerngedanke der Menschenliebe gehören: der ganz einfache Schluß, daß wir alle weiter kommen, wenn wir uns nicht totschlagen und auffressen; daß wir das Schlechte besser ausrotten durch tätige Gegenliebe als durch Haß; daß wir groß sind, menschheitsgroß, weltengroß, wenn wir in allen uns selbst sehen, winzig, ein Stäubchen im Sturm, wenn wir uns trotzig isolieren.

Wenn die Wesen von Milliarden Sternen sich nie begegnen werden (was wir ja auch nicht wissen, schließlich!) — milliardenmal müssen sie doch in jedem System, auf jeder rollenden Kugel für sich diese schlichte Gesetzmäßigkeit des Evangeliums finden, so gut wie sie den pythagoreischen Lehrsatz in irgend einer Form, und mögen sie ihn nennen, wie sie wollen, finden werden.

[S. 5]

Und wenn Jahrtausende ihnen dann wandern über den Tag, da zum ersten Mal diese obere Mathematik der Liebe ihnen klar wurde: sie alle werden auch ein Symbol dann suchen und besitzen für die Gnade dieses Tags — sie werden ihre „Krippe“ haben und ihren „Weihnachtsbaum“, in den Bildern eben und Gedankengängen ihres Sterns.

Ein symbolischer Christbaum in diesem Sinne muß ragen durch den ganzen, ganzen Weltraum, so weit die Schwere wandert und das Licht wandert, kurz, so weit die Gesetzmäßigkeit wandert, die aus gleichen Ursachen gleiche Wirkungen schafft.

Jedes Lichtpünktchen, das von einer Sonne bis zu uns hernieder Kunde gibt, das im Prisma sich zum Spektrum unserer irdischen Elemente bricht und damit auf die gleiche Grundlage weist, — es hat eine tiefste Beziehung zu diesem unaufhaltsamen Weihnachtsprozeß aller kosmischen Entwickelungen. Mit eigener Symbolik gesprochen: es ist eine Kerze am Weihnachtsbaum.

Stille Nacht, heilige Nacht.

Es geht mehr durch dieses schwarzblaue Firmament da oben als bloß Meteorsplitter und Kometen. Auch von Weltkörper zu Weltkörper rauscht auf den Flügeln der Gesetzmäßigkeit das ewige „Das bist Du“ und „Erkenne Dich selbst“. Und wieder auf der Flugbahn dieses ewigen Imperativs geht der Glaube mit an die Erlösung durch das höhere Gesetz, das Gesetz des oberen Geistesstockwerks — der Glaube an den endlichen „Sternenfrieden“ in dieser ganzen unermeßlichen Zersplitterung der Schöpfung, in der die Welten durch den uferlosen Raum wirbeln wie silberner Staub.

Friede auf Erden!

Hat dieser Glaube wirklich schon Weltenflügel?

Wenn die Sterne über Dir brennen, schleierlos, mit der ganzen Majestät des grenzenlos Wirklichen ... und Du sagst Dir, daß diese kleine Erde mit ihren paar Millionen intelligenter Wesen noch bebt unter dem Getümmel unausgesetzten Kampfes ...!

[S. 6]

Wird auch nur auf Erden dieser rohe Kampf je enden, wird eingehen in einen reinen, freudigen Waffengang der Intelligenz unter Herrschaft der Menschenliebe? Oder ist nicht schon dieses Ideal zu groß — zu groß über alle Kraft der Naturgesetzlichkeit hinaus ...

Der Nachtwind rauscht leise über mir durch die Kiefernzweige. Ich aber denke, daß auch diese Kiefer einst einmal ein Ideal bloß war im Weltenschoße. Und doch hat das ewige Werden sie zustande gebracht, mit dem Wunderbau ihres Zellenleibes, mit all den unsagbaren Feinheiten, die da keimen, atmen, wachsen, zu hohen Säulen aufsteigen lassen.

Und auch die Sterne dort waren einmal Ideal, leise vorgeträumte Fern-Realien. Nichts von ihnen war einmal da als dieses schwebende Zukunftsbild im Schoße des Urgeheimnisses. Und doch sind sie geworden, geworden, was sie sind, dieses unbeschreiblich erhabene Himmelsspiel kreisender Kugeln, die sich in harmonischen Abständen eingestellt haben, um sich auf Jahrbillionen nicht zu stören, auf daß auf ihren Planeten die zarte Blüte des Lebens sich entfalte.

Willst Du der Macht, die diese Ideale sich erfüllen konnte, Schranken setzen?

In feierlicher Ruhe brennen die Sterne fort über dem schwarzen Walde, dem vereisten See.

Der Blick des Einzelnen auf seinem Planeten aber kehrt zuletzt friedevoll von aller versöhnten Himmelsschau zurück. Er haftet auf dem lieben eigenen Weihnachtsbaum. Und er liest in seinen kleinen, trauten Flämmchen das alte Weltenwort, das vor nun bald zweitausend Jahren gesagt ist: „Wer mich hat, der hat alles andere auch.“ Jeder in seinem Kreise erlebt das All. Und in seinen kleinen Weihnachtskerzen brennt der tiefste Sinn all aller Sterne mit.

* *
*

[S. 7]

(Friedrichshagen. Jahreswende zu 1903.)

Im Kieferngrunde wollte es schon dunkeln. Aber aus der Richtung des Sees kriecht noch einmal etwas hinein wie eine braune Dämmerung, nachträglich, verspätet.

Diese nackten graden Kiefernstämme treiben ihrem Himmel gegenüber eine drollige Mimikry. Wenn die Sonne verblutet, werden sie rot wie glühende Metallpfeiler; wenn das Regenwasser sie genetzt hat und aus dem grauen Wolkenfenster dann wieder ein blaues Himmelsauge bricht, spiegeln sie blau; wenn der Himmel in düsterer Nebelbank untergeht, stehen sie schwarz wie die Masten einer Totenflotte.

Ich klettere den kurzen Sandhang des Uferwalles empor, hinter dem der See liegt.

Auf den Säulen ist hier wirkliche Lichtglut, es ist noch einmal so hell geworden, daß sie Schatten hinter sich werfen.

Und jäh bin ich selber im strömenden Quell dieses Lichts.

Zart violett der leicht beschneite Eisteller unter mir. Drüben die Berge und das schmale Ufer ein verwischter Rauchstreifen von intensivem Grün, — grün bloß durch Lichtzauber, denn es stehen dort perspektivisch klein nur die gleichen winterdunklen Kiefern wie hier, in denen selber kein Spangrün ist. Darauf als zweite Farbschicht, fächerhaft von Westen herauffließend wie das Delta eines ungeheuren Lichtstromes das brennendste Karminrot. Hoch, hoch empor, bis es endlich jäh, fast ohne Übergang, als klappe ein Rand um eines Purpurmantels, umschlägt in ebenso grelles Schwefelgelb. Das stößt zum Zenith endlich an ein ganz süßes, ganz feines, abendliches und doch auch noch ungewöhnlich erhelltes Himmelsblau. Rechts und links, wo das Gelb in das absteigende Blau einfließt, leuchtet noch einmal wie Reflex auf einer schönen Feder ein magisch zartes und doch auch lichtstarkes Grün.

Ich wende mich, und hinter mir über den dunklen Kiefernkronen schwimmt im blassen Blau der große silberne Mond. Vom Kirchlein in der grau verträumten sonnenfernsten Seeecke,[S. 8] wo die Spree einmündet, hallen kurze, harte Klänge über die schalltragende Eisdecke daher.

Diese wunderbaren Dämmerfarben, die den Heimgang des Jahres seit Abenden jetzt hier begleiten und zu einem Schauspiel machen, als sei es irgend ein besonderes Weihejahr, das da in nordlichthafter Glut noch scheidend gefeiert wird: sie sind schwerlich gewöhnlicher, wie man zu sagen gelernt hat, normaler Art.

Wieder einmal mag es Vulkan-Asche sein, die da oben vom Sonnenkuß brennt gleich den roten Kiefern hier unten und ihr Licht dann noch einmal zu denen zurückwirft.

Asche von jenen grauenvollen Schlachtfeldern Mittelamerikas, wo die Sphinx, die Chimära sich plötzlich auf die armen Menschen geworfen hat, sie zu Tausenden zu fressen wie im Griechenmärchen.

Eine Glutwolke verschlingt eine blühende Stadt, brennt den hilflosen Opfern die Lungen aus. Dann wirft sie ihre Mähne empor, hoch, immer höher. Bis sie wie ein Ring um die Erde fliegt. Und auf der andern Seite des Planetenkolosses steigen dem stillen Beschauer über seinem See und seinem Kiefernfrieden liebliche Farbenwunder auf, ein buntes Zauberspiel der Luft. Ihn entzückt, was dort verheert hat. Eine Katastrophe, ein Weltuntergang — und Schönheit. So war es 1883, als an der Sunda-Straße der Vulkan Krakatau explodiert war und vierzigtausend Menschen verschlungen hatte. So jetzt, obwohl nur in kleinem Maße, noch Martinique.

Uns aber fangen solche Kontraste an, vertraut zu werden.

Ein ganzes Sonnensystem platzt, verdampft; und uns ist das ein blinkendes Sternchen; ein Kind hebt die Händchen danach auf: „Wie schön! Schenk mir das Silberfünkchen dort zum Spielen!“ Wir gewöhnen uns, daß jede Entwickelung, jeder Fortschritt, jedes Hübsche, Interessante, Erlebenswerte der Weltgeschichte erkauft wird durch eine Folterkammer der ausgesuchtesten Scheußlichkeiten.

Damit wir zum Sylvesterpunsch von 1903 ein philosophisches Bonmot sprechen können, sind seit dreitausend Jahren Menschen[S. 9] ersten Ranges verbrannt, gefoltert, gekreuzigt, von wilden Tieren gefressen worden.

Daß wir überhaupt sind, daß wir so sind, so weit sind, verdanken wir einem erbarmungslosen Daseinskampfe, von dessen Blutbad die Geschichte rot ist wie dieser Abendhimmel.

Und aus diesem Blutbade zerschmetterter Existenzen steigt nicht bloß die Schädelpyramide Tamerlans: auch die Sixtinische Madonna und die Neunte Symphonie steigen heraus, und Iphigenie und der Lehrsatz des Pythagoras.

Über Kampf, Tod, Schmerz, Verzweiflung, Folter läuft die Entwickelung.

Wir haben zuviel gelernt, zu klar sehen gelernt, wir von nunmehr schon 1903, um uns gegen dieses „Weltgesetz“ die Augen zuhalten zu können.

Ist dieses Gesetz aber nicht doch der Tod aller Freude an der Entwickelung?

Der Zweck heiligt das Mittel. Wir begrüßen es als grandiosen Kulturfortschritt, daß wir diese Jesuitenmoral nicht mehr anerkennen. Und doch soll das Weltgesetzbuch auf dieser Moral stehen? Dazu all unser Erkenntnisfortschritt?!

Wir drehen unsere neue Jahresziffer um ein Jahrhundert rückwärts, auf 1803.

Es ist das Datum, da Herder uns verließ, der Mann, der zuerst in der Geschichte der Menschheit nur ein Kapitel gesehen der großen Sternengeschichte und der zu der Frau von Stein sagte, daß „wir erst Pflanzen und Tiere gewesen seien“. Es waren die ersten reifen Gedankenfrüchte, Weltgedanken, Menschheitsgedanken, vom erstarkten Baum der Forschung.

Hundert Jahre nochmals zurück hatte Newton über seiner Optik gesessen.

Noch vor hundert war das Fernrohr erfunden worden.

Und noch vor hundert fuhr Columbus auf seiner vierten Reise durch das westindische Meer und erwarb Kopernikus sich die Doktorwürde.

[S. 10]

Dafür aber all diese Erkenntnis, um zu erkennen, daß auch der Mensch der Natur nur abgepreßt worden ist auf der Folter ....

Die rote Dämmerungswelle dort hat ihren Höhepunkt erreicht. Rasch beginnt sie jetzt zurückzuebben. Es ist, als sinke die blaue Himmelsglocke, selber dabei noch funkelnd, langsam über sie herab, tiefer und tiefer.

Ein Schauspiel von wunderbarer Feierlichkeit, dieser stille Kampf der Lichter an einem Abendhimmel.

Es ist nicht wahr, daß die Entwickelung immer durch Folterschmerzen gegangen sei.

Äonen vor uns ist sie durch immerwährende Verwandlungen vorgeschritten, in denen noch gar kein Schmerz bestand. Durch unendliche Raumweiten neben uns arbeitet sie noch immer so. Da ballen sich Welten, entfalten sich zu harmonischen Systemen. Und werden wieder eingeschmolzen in noch größere Massenansammlungen. Aus denen arbeitet dann wie eine tickende Uhr das große Weltgesetz abermals Harmonien und entsprechend noch umfassendere heraus. Nie erfolgt ein wirklicher Zusammensturz in der Idee. Denn es muß immer ein Größeres sein, das das Kleine an sich reißt, in sich auflöst. Größerer Stoff aber: größerer Weg, höhere Harmonie. Die dann bleibt, bis ein noch größeres System auch dieses wieder umarmt, zu einer Neuzeugung zwingt.

In diesen ganzen Naturprozessen außerhalb des Organischen waltet nicht das, was wir „Schmerz“ nennen. Bausteine fügen sich zu immer höheren Bauten aneinander, nichts weiter. Wir denken gar nicht an Schmerzmöglichkeiten. Sollen die Metallteilchen klagen, daß sie ihre frühere Gravitationslage verlassen, um in ein neues Formgebilde eingeschmolzen zu werden, in einer neuen Lage in ihm aufzuerstehen? Mögen aber auf dieser Linie auch ganze Milchstraßen verbrennen wie eine Wolke Kohlenstaub — in diesem Wandel waltet immer noch kein Schmerz. Es waltet der unendliche Gesetzesfrieden wie in dem stillen Wechsel der Dämmerfarben dort. Niemals[S. 11] wahrer Tod, denn das Gesetz stirbt nie; immer nur Wandel; und Wandel in Höheres hinein.

„Da flammt ein blitzendes Verheeren
Dem Pfade vor des Donnerschlags,
Doch Deine Boten, Herr, verehren
Das sanfte Wandeln Deines Tags.“

Doch inmitten jetzt dieses grenzenlosen Kosmos-Friedens, in dem ein Weltuntergang nicht mehr ist als eine in herrlicher Farbenglorie verblutende Abendsonne: — das Lebendige. Wenn die Kälte dieses Winterabends den kleinen Vogel, der dort zwitschert, bis ins Mark faßt, so bebt er vor Schmerz. Und das begann mit dem ersten zellenartigen Gallertpünktchen an einer Uferklippe vor vielen Millionen von Jahren. Und sein Triumph ist der Mensch. Der Triumph der Feinfühligkeit in Schmerzempfindung. Ein seltsamer — Triumph.

Dennoch: welche ungeheure Fortschrittskette im reinen Sinn von Entwickelung in diesem Stück organischen Lebens. Welcher Umschwung mit diesem grünen Schimmelhäutchen einer Urweltklippe!

Auf diesem Häutchen wuchsen schließlich Augen, die das Licht, die Farben, die Formen der Dinge sahen, das blaue Meer, die Sonne, das Abendrot und den Sternenhimmel. Und hinter diesen Lichtaugen begann das Klümpchen grauer Nervensubstanz zu denken, zu schließen, zu folgern. Die Natur unten hatte immer nur gestreut, Samen der Dinge gestreut und hatte das Harmoniegesetz grob gewaltsam sieben und sichten lassen. Jetzt ging aus denkenden Gehirnen und schauenden Augen die höhere Stufe hervor: die bewußte Zwecksetzung, dieses fabelhafte Spar-Prinzip der Entwickelung, dieser einzigartige Fortschritt im kleinsten Kraftmaß. Es durfte dann diese befreite, hier überschüssige Kraft sein, die eine Kunst, eine Wissenschaft, eine Philosophie, eine Kultur schuf. Und der Mensch ist es, der diese Krone sich aufs Haupt setzt, der Mensch als Triumph des sehenden, denkenden, zwecksetzenden Lebens.

Ein Triumph also doch. Aber erkauft um jenen andern ....?

[S. 12]

Das Glöcklein da drüben ist plötzlich verstummt, wie erstarrt von der rasch wachsenden Abendkälte. Aber das Eis selber singt und summt leise fort. Und ich höre eine Stimme der Naturgeister zu den schwarz ersterbenden Kiefern und dem mondduftigen Himmelsrund herauf.

Deine Rechnung ist falsch. Du hast ja noch gar nicht erfaßt, was der Mensch zwischen Lebensschmerz und Sternenfrieden wirklich soll.

Dieser Mensch ist nicht bloß der einfache Triumph der Entwickelungslinie, die über das Leben ging.

Er ist auch ihre Korrektur.

Er ist die Versöhnung zwischen dem großen Zweck im Leben: dem Bewußtwerden der Welt, — und dem furchtbaren Mittel: dem Schmerz. Er ist der Protest des Weltgesetzes gegen dieses Mittel.

Zwei Gaben ohnegleichen sind für diese Arbeit in ihn gelegt.

Die erste ist das Prinzip der Liebe.

Im Moment, da er als Triumph der Entwickelung die Hand ausstreckt nach der Naturherrschaft, bricht auch dieses Prinzip mit einer fortreißenden Elementargewalt aus ihm hervor. Prometheus, der das Feuer des Himmels, die Naturkraft der Weltallssonnen in einem hohlen Stabe, einem Menschenwerkzeug, trägt, wird Christus, der seinen Fluch hängt an jeden, der Schmerz sät. Er predigt die Köstlichkeit, die Heiligkeit alles Lebendigen. Er lehrt, daß Du selbst in allem bist, in der Lilie, die Du brichst, und im Wurm, den Dein Fuß zertritt. Aus dem Staube sollst Du die Opfer ziehen und ihre Wunden verbinden, Du, der sehende Mensch.

Natur bist Du und bleibst Du, nichts ist in Dir als Natur. So muß auch diese Stimme aus der Natur selber kommen, die Stimme einer Einkehr, einer Umkehr, die ein furchtbares Mittel wieder mildern, wieder versöhnen will.

Das Leben zeugte Bewußtsein und damit ein unendliches Entwickelungsfeld von höherer Art. Aber es zeugte auch den namenlosen Schmerz, der plötzlich in diese Entwickelung von[S. 13] der Stufe des Lebens an versponnen schien. Nun glänzt in den Lichtaugen dieses Bewußtseins auf einmal die Liebe. Die große Entwickelungskorrektur ist im Spiel! Mag Prometheus jetzt wirklich wachsen, bis er aus der Kraft seines Stabes voll Sonnen-Energie Planeten bewegt und zu den Sternen fliegt, — immer wird der Christus in ihm mit ihm wachsen. Er wird mit dem Leben wandern und die Schmerzen wieder aufheben, die das Leben schlägt.

Doch der Mensch hat noch eine zweite Gabe.

Immer, wenn der Gedanke diese Bahn der Entwickelung quer durch den Schmerz gehen sah — und dann die Liebe sah, wie sie den Schmerz wieder lindern wollte, ist auch das dritte gedacht worden: ob die Liebe nicht die Entwickelung lähmen müsse?

Wenn der Fortschritt immer wieder zu einer Bruchstelle führt, die als Schmerz empfunden wird: muß nicht die Liebe ein Gegner des Fortschritts sein?

In hundert Stimmen klingt das schon heute in unsere Zeit hinein. Es sind die Stimmen der Tolstois, die alle Herrlichkeiten der Kunst und der Forschung und der Geistes- und Körperfreiheit für nichts achten um der Liebe willen, — weil sie doch alle nur wieder Schmerzquellen öffneten. Und es sind die Stimmen der Nietzsches, die rufen: werde hart, wenn Du aufwärts willst, — wer um der weichen Seele willen zurückschaut, der erstarrt wie das Weib des Lot in der Bibel.

Wäre die Liebe, die nachträgliche mitleidige Liebe allein gegen die arbeitende Entwickelung gestellt: kein Zweifel, daß sie allein wirklich zu einem hemmenden, retardierenden Element werden müßte. Sie würde das Höhere in seinem Werden hemmen um der Wehen dieses Werdens willen. Starr würde in ihrer Hand allein die Welt wie dieser vereiste See hier, starr, stagnierend, konservativ, losgeschaltet vom Frühlingssturm der Entwickelung.

Aber im erwachten Menschengeiste lebt noch eine zweite Kraft, die auch das wieder aufhebt in ein noch höheres[S. 14] hinein. Eine Kraft, die den Schmerz überwindet in der Entwickelung selbst ohne den Schritt dieser Entwickelung zu hemmen.

Es ist die Kraft der Ideal-Schau.

Es ist die Kraft, die über Linien, über Stufen der Entwickelung selber hinwegschaut. Die von einer Stufe aus, von einer errungenen Harmonie aus schon die nächste als „Ideal“ aufsteigen sieht, sonnenhell, frühlingshaft, im Jugendschein und Lichtschein des Ideals. Und die sieht, daß der Weg von unserer schon errungenen Wirklichkeit zu diesem Höheren darüber, zu diesem Ideal, nur führen kann durch eine Lösung, ein Sinken unseres augenblicklichen Besitzes, — durch eine kurze Disharmonie. Die aber diese Disharmonie mit ihrem Schmerz freiwillig auf sich nimmt, den Blick fest auf der winkenden Goldzinne des Ideals. „Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude!“ Innerlich ist der Schmerz vernichtet im Moment, da er aufgenommen ist in die Linie zum Ideal. Von hier die Freudigkeit, die bis in den Tod reicht, die Freudigkeit, die den Weisen den Giftbecher trinken und den Heiligen sein Kreuz tragen läßt, die aus den Augen des Idealschauers leuchtet, um den schon die Flamme des Scheiterhaufens züngelt. Das Kreuz wird genommen, weil Du morgen im Paradiese bist.

Erst mit dieser Ideal-Schau ist der ganze Anschluß wieder da des sehenden Menschen an die arbeitende Fortschrittslinie der Natur in seiner Brust.

Der freiwillige Anschluß.

Es war der Preis des Sehens: die Forderung dieser Freiwilligkeit. Mit dem Sehen, mit dem Bewußtsein kam der Schmerz. Er ist erlöst wie der Fliegende Holländer der Sage, da er freiwillig gewählt wird vom höchsten Sehen, von der Ideal-Schau, die durch sein Dunkel schon durch und durch schaut bis auf den brennend roten Streifen der höheren Sonne hinter ihm ....

Langsam schritt ich durch den dunklen Wald meinem Hause zu.

[S. 15]

Über den schwarzen Wipfeln brannten die großen Sterne der Winternacht. Ich dachte an Menschen dieser kleinen Erde, die auf ihrer Sternwarte ein Menschenleben daran setzten, ein paar winzige Änderungen in den Bewegungen dieser Gestirne festzustellen, ein winziges Fünkchen nur zum Geistesfortschritt dieser Menschheit, vielleicht erst in Jahrtausenden mit tausend andern zu einem kleinen Flämmchen zusammenwachsend. Und doch Ideal-Schau.

Und ich dachte an die kleinen frierenden, hungernden Vögelchen in diesem Walde, — und daß diese Menschen auf ihre Fensterschwelle Brodkrumen streuen würden, um sie zu sättigen. So weit waltete auch die Liebe schon.

Es lohnte sich doch noch, ein neues Jahr anzufangen ...

* *
*

(Friedrichshagen. Vor-Ostern.)

Über die Wasserfläche geht ein schwerer, kalter Wind.

Alles liegt in schwarz und braun, der Frühling scheint noch einmal erstorben.

Langsam, wie zähe erdfarbige Schollen, treiben die braunen Wellen vorbei. Bisweilen ist mir, als schaute ich nicht auf einen See, sondern auf tief zerpflügtes Ackerland. Und durch die Scholle schimmert es auf Momente wie Bernstein durch. Dann meint das Auge den verlorensten Grund zu fassen: gelbe Sandbänke der Tiefe, auf denen die Muscheln und die Kiesel unablässig mitrollen, oder gespenstische schwarze Streifen Moor. Die Wassersäule scheint plötzlich anzusteigen, sich zu heben von unten, bis sie platzt und einen Fächer weißer Gischt wirft. Doch der Blick folgt wieder der Fläche und nun ist es doch bloß das endlose einförmige Spiel, der flache Zug vor dem Winde, Scholle um Scholle, eine unabsehbare vorbeirollende halbstarre und doch bewegte Masse, vorne am Lande tiefbraun, je mehr nach draußen desto mehr ganz starr und schiefergrau, bis die Berge drüben darauf liegen wie eine nasse graugrüne Nebelwolke. Ein paar Krähen schweben geisterhaft kohlschwarz[S. 16] zwischen Himmel und Erde, spähend über den Wassern wie Raubvögel, unbekümmert um den leise heulenden, schneidend eisigen Wind. Am Ufer knistern die Erlen, wenn die Welle in das Stelzwerk ihrer ausgewaschenen Wurzeln schlägt.

An solchem Tage kommt der Frühling selbst wie ein düsteres Geheimnis. Der schwärzeste Moorgrund der Dinge ist bewegt. Was wird er ans Ufer spülen?

„Wir sind umgeben von Geheimnissen.“

Sagt Goethe.

Feste haben für mich längst aufgehört, etwas anderes zu sein als Tage des stillen Gedenkens an das Geheimnisvolle aller Menschheits- und Naturdinge.

Ich unterscheide rückblickend bei mir drei Stimmungen vor einem solchen Feste wie Ostern.

Eine alte, früh überkommene und auch früh verlorene Stimmung der Gewißheit, wo der Tag in einem festen, bald zweitausend Jahre alten Weltbild bekräftigte, wo er ein Erinnerungstag an Tatsachen sein sollte.

Dann eine lange Stimmung des Zweifels, des Unbehagens, die einen Schatten gerade auf diesen Tag warf, ihn aus einem weichen Feiertag zu einem harten kämpfenden Alltagstage des Gedankens machen wollte. Bis dann endlich ein Drittes, ohne daß ich es rief, auch das ablöste.

An solchem Tage, der vom Reiß in der Winternacht oder von den blauen Auferstehungsglöckchen der Welt-Frühlingswiese singt oder von den Geistesflämmchen über Menschenstirnen an einem Tag der Erfüllung, — an einem solchen Tage suche ich heute weder einzelne Tatsachen, noch Tatsachen-Kritik. Ich suche eine Stimmung, die ab und zu ihren Feiertag verlangt: die Stimmung des Geheimnisses.

Ich fühle das Bedürfnis, mich still an meinen einsamen See hier zu setzen und mir zu sagen: Nun tu was Du willst, — darin steckst Du; über Deinen eigenen Schatten springst Du nicht; das Geheimnis hat Dich, heraus kannst Du nicht; also werde fertig, wie Du kannst.

[S. 17]

Im Grunde steckt dieser Begriff des Geheimnisses ja doch auch hinter all den anderen Standpunkten. Er ist sozusagen jene blaue Tinktur der Ideenwelt, die der Alchimist für die Metalle suchte, die Ur-Essenz, die bleibt, wenn man überall die Mischung ablöst.

Hinter allen dogmatischen Glaubenslehren steht als letzte Instanz das Schicksal, der „unergründliche Ratschluß“. Wenn ich eine Todesanzeige im hergebrachten Stil lese, so empfinde ich, wo Halt gemacht wird und wo das anfängt, worin wir alle einig sind: die tinctura aurea des Denkens.

Die Götter Homers haben viel Macht, sie gehen auf Wolken und essen Ambrosia; aber wenn die Sache ganz aufs größte kommt, wenn sich entscheiden soll, ob Hektor oder Achill der Sieger ist, woran die ganze Komposition der Ilias hängt, — dann losen sie. Schicksal!

Es ist aber die gleiche Losurne des unsterblichen Dichters, in der Demokrit nachher seine Atome tanzen ließ. Aus diesem schwarzen Erlenzweig hier mit seinen üppigen feuchten violetten Blattknospen, in denen eine so verlangende Frühlingsbrunst nackt aufdrängt, kann ich die ganze Naturforscherwelt entwickeln, über Pflanzen und Planeten bis zur Urfrühlingskraft brennender Weltallssonnen; ich glaube persönlich, daß sie sich wirklich ganz entwickeln läßt, ohne Dualismus und ohne Eingriffe; aber ich weiß, daß auch zuletzt die Atome in der Urne schwingen und daß aus fernsten Nebelflecken und Milchstraßen eine höchst wunderbare mathematische Figur auftaucht, die, ohne Sinus und Cosinus schlicht in Goethe-Deutsch ausgedrückt, bedeutet: Weltgeheimnis.

Schließlich meine ich, daß es sogar recht gut so ist.

Wieviel Ansichten, Theorien, Glaubenssätze, Weltanschauungen ergießen sich über uns! Und mit wie mancher möchte man als wahrhaft fatal rechnen, wenn sie nun ganz wahr wäre, der Welt wirklich ins geheimste Uhrwerk schaute.

Mit dem Geheimnis kann man leben.

Man wird ja von selbst davor bewahrt, übermütig zu werden. Aber von der Unendlichkeit des Unbekannten läßt[S. 18] sich doch immer etwas erwarten. Wieviel Frühling, dieses liebste Geheimnis, mag noch darin stecken!

Das Geheimnis dieses Festfriedens ist nur, daß man das Geheimnis überall richtig zu finden weiß.

Ostergeheimnis! Ist es wirklich bloß das Geheimnis, daß ein Mann Wunder tun konnte, wie Wasser in Wein verwandeln, oder auf H2O gehen, oder von den Toten leibhaftig auferstehen ....?

Ich schaue in die braunen Wellen vor mir mit ihrem unablässigen Ansturm, ihrem Heben und Senken, und mir ist, ich blicke in das Gehirn der Menschheit, in das der arbeitende Gedanke tiefe Furchen gräbt. Und in eine solche Furche arbeitet sich ein, keimt und sproßt, daß das Naturgesetz etwas Heiliges sei, das nicht verletzt werden dürfe. Daß Himmel und Erde nicht dabei erlöst werden könnten, sondern im gleichen Moment zusammenbrechen müßten in das ewige Chaos hinein, da ein winzigstes Ringlein nur aus der Sternenkette dieses Gesetzes glitte.

Hängen doch an jedem Ringlein ganze Welten! Was ist im Kosmos klein, was groß? Wenn dieses Ringlein hier unten auf der winzigen Erde brechen sollte, so stürzte der ungeheure Sirius mit herab, die Milchstraße löste sich auf, Surturs Weltbrand verschlänge das All.

Ein Atom verschoben aus seiner heiligen Lage, in die es die Entwickelung der Jahrmillionen gebracht — und alle Harmonien dieses Kosmos splitterten auseinander.

Und das sollte geschehen sein gerade damals, als der Grundstein gesetzt wurde zu der herrlichsten Harmonie dieser ganzen Erde: zu der Idee der großen friedlichen Menscheneinheit durch die Menschenliebe?

Und der Gedanke keimt und sproßt weiter.

Sollte nicht hinter der größten Tat der Menschheit auch nur ein Mensch gestanden haben? Sollten nicht hinter jenen wunderbaren Berichten nur tiefste Symbole stecken? Sollte nicht das große Auge einer tiefsinnigsten Dichtung uns daraus anschauen, die in Gleichnissen formte, was nachher für reale[S. 19] Wahrheiten gehalten worden ist — die größte Dichtung des größten Dichters aller Zeiten, — aber doch nur eine Dichtung ....?

Oder sollte die Menschheitsseele in ihrem Ringen nach einer ethisch und sozial befreienden Tat, die alles bisher Geschehene umwarf und die Weltgeschichte durch das scheinbar Unmöglichste — die Liebe — aus den Angeln zu heben sich vermaß, — sollte sie ein Zeichen dort sich nur geschaffen haben, ein Bild ihrer eigenen inbrünstigen Sehnsucht, das die unvollkommene Legende nachher als Personenschicksal vergröberte und mißverstand?

Ostergeheimnis, wirst Du scheitern an solchen Gedanken?

Die Handlung der Evangelien nur ein Symbol, ein Gleichnis, eine Dichtung, ein Vorgang im der Menschheitsseele! Ich weiß, wie viele heute ihr Geheimnis hier wirklich noch hoffnungslos im Sande sähen. Um die Menschenliebe geht es auch ihnen. Von des Menschen Erlösung spielt das große Mysterium. Aber der Mensch ist ihnen doch zu klein dazu. In tausend melancholischen Stimmen klagt es durch unsere Zeit, daß der Baum, der aus dieser Gedankenfurche erwachsen sei, wohl wild und stark heute stehe. Aber das Geheimnis rausche nicht mehr durch seine Zweige. Er sei kein heiliger Baum. Nur kalte Sterne äugten durch seine kahlen Äste. Kein Weihnachtsstern und kein Osterschein und keine Pfingstflamme.

Ich aber frage: Was kann denn überhaupt abgrundtiefer im Geheimnis sein, als eben — ein Mensch?

Du verlangst den, der noch einmal leiblich auferstanden ist, nachdem er gegangen war. Was aber ist geheimnisvoller, als das Alltägliche, das so unsäglich Schlichte scheinbar: daß überhaupt ein Mensch geboren wird, daß er aufersteht aus dem Unbekannten in dieses Leben hinein?

Wenn Du alle Pfade des Liebeslebens mit der Wissenschaft, die Dir beschieden ist, durchpilgert hast: Du kehrst heim mit dem Geständnis, daß hier immer wieder das ungeheuerste Mysterium sich vollzieht — allein wert, daß Du still Einkehr[S. 20] bei Dir selber hältst und Dir Feiertage setzest des Geheimnisses, das Dich vom Tage Deiner Zeugung und Geburt an umschließt.

Und Dichtung?

Bist Du so schnell fertig mit dem Geheimnis, wenn ein Mann nicht wirklich auf Wassern geht, sondern wenn diese Geschichte nur das tiefe Gleichnis einer größten Dichtung sein soll? Ist nicht gerade die Existenz einer großen Dichtung etwas noch viel Geheimnisvolleres als irgend eine Tatsache der „Wirklichkeit“? Ist nicht die Dichterkraft des Genius das größte aller „Wunder“, unsagbar viel größer und wunderbarer als ein realer Krug Wein, der aus einem realen Kruge H2O verwandelt ist?

Ich denke an alle die Riesen, die seit Jahrtausenden auf den Wellen der Dichtung zu uns wandeln, Gestalten, viel größer als ein Mensch, zusammenfassende Gestalten, die ganze Zeiten, ganze Ideen verkörpern. Sie überdauern Generationen, sie leben Jahrtausende, sie haben ewige Jugend und Kraft. Wo steht, wohin projiziert sich in der „Realität“ eine Figur wie Faust? Sie schwebt im Raum- und Zeitlosen, und doch ist sie greifbarer, ist sie unvergleichlich viel lebendiger und viel wertvoller als Millionen und Abermillionen wirklicher Menschen, die auf der Erde sich nach den Ziffern des Gravitationsgesetzes bewegt haben, H2O getrunken haben und verweht sind, man findet ihre Spuren nicht mehr.

Auch diese Dichtergestalten sind aus dem Geheimnis geboren. Sie leben im Geheimnis. Im Dichtergeiste hat „es gezeugt“, hat „es geschaffen“, das dunkle „es“ der tinctura aurea alles Naturgeschehens.

Ich richte in diesem Augenblick nicht im einzelnen über jene Theorien. Ich lasse sie vorbeiziehen an mir, wie diese braunen Wellen hier vorübergehen im Zug des Windes. Vorhanden sind sie als Theorien, das schafft keiner mehr aus der Welt. Und nach ihnen werden noch mehr kommen, wie der Wellen hier noch mehr kommen. Wir sind erst in den[S. 21] Anfängen der Spekulation über den wahren Lauf der Geschichte, überall, also auch hier.

Aber ich sage: wenn es so wäre, wenn den Evangelien eine tiefe, unsagbar rührende symbolische Dichtung zu Grunde läge — die Dichtung vom neuen Menschen, der sich zur Menschenliebe durchgerungen und der auf Erden, wie alle Idealträger, zunächst sein Kreuz tragen muß, bis über Leid und Tod des einzelnen das Ideal unbesiegbar aufersteht und weiterlebt und die zähe alte Erde aus den Angeln reißt: — ich sage, wenn das als eine Wahrheit jemals erwiesen werden könnte, was würde das ändern an der welterschütternden Größe dieser Tat und an ihrer tiefen Verankerung im Geheimnisvollen?

Achill, der nur durch die winzige Dunkelzelle eines Dichtergehirnes phantomhaft gewandelt ist, ist mehr wert für uns als alle Griechen zusammengenommen, die damals die schwarze Erde getreten haben.

Jene Dichtertat behielte den ganzen riesenhaften Zug in vollem Maße, der auch so den Dingen zukommt. Im Geheimnisvollen aber wurzelte sie nur um so sicherer eben als Dichtertat. Ja gerade so bliebe sie in einem Größeren, als ein wirkliches einzelnes Menschenschicksal geben kann.

Der Rationalist bekäme Unrecht, der hinter den ungeheuren Menschheitsmoment bloß ein Stückchen Menschenleben eines Einzelnen auf dem winzigen Raum zwischen Betlehem und Golgatha deuten wollte.

In den Geheimzellen eines Dichtergehirns ist unendlich viel mehr Raum und es ist mehr darin als bloß eine Person. In Goethes Gehirn haben Faust und Egmont, Tasso und Werther, Iphigenie und Gretchen eine ganze Lebensbahn erfüllt. Im Dichtergeiste jenes Giganten an der Schwelle unserer Zeitrechnung hätte die ganze Menschheit mit all ihren ethischen Errungenschaften bis dahin gelebt, sie hätte sich zusammengefunden darin zu einer einzigen Tat — und gelebt hätte darin die ganze Zukunfts-Menschheit von Jahrtausenden[S. 22] nach ihm, geeint durch das Ideal der Menschenliebe. Der Dichter der Bergpredigt! Was willst Du mehr?

Der Wind heult hohl über die Wellen, die braunen Gedankenfurchen.

Offenbarung! ruft es. Wo bleibt die Offenbarung? Offenbarung brauchen wir.

Nun, alle Dichtung ist Offenbarung. Vom Geheimnis kommt es, zum Geheimnis geht es, unmeßbar, unwägbar, und doch von Welten kündend, Welten der Urtiefe, der Idealerweckung, der innersten Fortentwickelung, und Welten verwandelnd, Welten aufbauend, Welten zeugend: — das ist die Offenbarung; aber was ist es anders, als auch die Dichtung, die Kunst; es gibt keine bessere, schärfere Definition für sie.

Ja man muß das Geheimnis nur am rechten Fleck begreifen.

Manchmal scheint mir, als sei der ganze Hader und Fortschritt menschlicher Ideen bloß ein Kampf um die Perspektive. Wie die Dinge projiziert werden, hintereinander gelegt werden, darum ringen wir. Und wo das Blau des Geheimnisvollen beginnt. Darum aber auch diese ewige Auferstehung der Gedanken. Nichts fällt wirklich ins Grab, es wechselt nur seinen Projektionsort.

Diese Erkenntnis gibt Frieden, heute wenigstens für eine Feiertagsstunde, vielleicht später auch einmal für den Alltag. Die braunen Wellen zogen an mir vorbei, immer vorbei und der Wind blies, eine unablässige, fleißige Naturarbeit. Die Natur machte da keinen Feiertag, sie arbeitete. Jede dieser Wellen mochte ein klein wenig an diesem Ufer umschaffen, trug sie auch nur ein Hölzchen darauf, ein Sandkörnchen davon.

Ich dachte an die Rede der Leute: der See behält nichts, er gibt alles wieder, wenn’s auch eine Weile dauert.

Im Grunde macht es das Naturgeheimnis auch so.

Es ist kein Minotaurus, der verschlingt, um zu verderben. Es läßt die Welten, Menschen, Ideen in seinem Blau verschwinden und zahlt sie in Höherem wieder aus. In dieser[S. 23] tinctura aurea steckt wirklich wie in der der Alchimisten auch der Stein der Weisen, der alle Gebrechen, alle Unvollkommenheiten heilt, der ewige Jungbrunnen, der den Fluch der Zeitlichkeit aufhebt.

Diese ewige Wiedergeburt als Auferstehung des Geistes im allen Dingen erkennen, — das wäre der wahre neue Osterglaube.

Aber dazu bedarf es noch gar mancher Auferstehung erst im eigenen Innenleben der Idee.

* *
*

(Friedrichshagen. Am Auferstehungstag.)

Heute wandere ich tief in der dürren Kiefernheide und suche den Frühling.

Die Luft ist hart, der Himmel weiß: es könnte auch Oktober sein. Ich denke an deutsche Länder, wo der Frühling wie ein Rausch kommt, in hinreißenden Farben. In der lieben Mark geht es wie in einem mageren Prozeß: es gibt da nur ganz feine Indizienbeweise.

Da liegt ein gelblicher Würfel Schlagholz. Wie mein Auge aber die graue Walddämmerung darüber durchsucht, stößt es da, dort auf kleinste Silberpünktchen, die pfeilschnell die Luft durchqueren, jedesmal einen schwachen Blitz in der Grundfarbe weckend, wenn sie eine hellere Stelle passieren.

Der Fremde weiß nicht, was hier stäubt in den noch so herben Tag hinein. Aber ich kenne sie als alter Käfersammler: die winzigen Borkenkäfer des Kiefernholzes, die jetzt schwärmen. Wenig später, und sie sind wieder völlig verschwunden, tief vergraben in ihrem krausen Bergwerk im Holz.

Auf den Schlagstämmen klettert auch schon eilfertig ihr wilder Gegner, der schwarz-weiß-rote Clerus, der Ameisenkäfer, der selber zum Schutz in prächtiger Mimicry die Ameisen-Wespe Mutilla in Farbe wie Gestalt täuschend nachahmt.

Während ich aber seinem trippelnden Wesen zuschaue, fällt in mein Ohr jäh ein überlautes Gegacker. Glüüh, glüh, glü,[S. 24] glück, glück, glückglücklücklick ... Die Silben folgen sich immer rascher wie bei einer heransausenden pfeifenden Lokomotive.

Das ist der Grünspecht.

Umsonst sucht der Blick ihn heute in seiner vertrauten, pfeilschnell gewechselten Horcherstellung senkrecht am Ast. Nur wenn ich draußen, jenseits der Schonung, stände, sähe ich ihn. Über den gleichmäßigen jungen Nachwuchs ragt dort einsam eine ältere, pinienhaft entfaltete Kiefer zum blinkenden weißen Himmel auf. Auf einem ihrer höchsten Äste sitzt der Specht, nah der Spitze, exponiert wie eine Krähe, und er reckt den Hals senkrecht zum Zenit empor und schmettert seinen Glückjuchzer. Völlig verwandelt ist er — er ist verliebt. Ja, es ist Frühling. Die Indizien stimmen zueinander.

Ich träumte in den stillen Aprilmorgen hinein.

Auferstehungstag. Ich dachte an die ungeheuren Kräfte, die dieser Frühling im Schwachen auferstehen läßt.

Ich dachte an den Saftstrom, der unter seinem Bann von allen Pflanzenwurzeln aufwärts drang, dieses geheimnisvolle Pumpwerk der Holzgefäße, das bei der amerikanischen Rebe mit einem Druck von fast 2½ Atmosphären arbeitet und einer Quecksilbersäule von 180 cm Länge die Wage hält!

Und ich dachte an die lieblichen Blaukehlchen, die winzigen Singvögelchen Skandinaviens, die nach des trefflichen Gätke Rechnung auf ihrer Frühlingsheimkehr in einer einzigen Nacht die Strecke vom Sudan jenseits der Sahara bis Helgoland durchfliegen. 45 Meilen nehmen sie in der Stunde, dreimal mehr als der schnellste Schnellzug. Mehrere tausend Meter hoch geht es dahin, damit die kolossale Sperrmauer der Alpen keine Störung giebt. Und nach diesem Sturm über ein Meer und anderthalb Erdteile sind sie noch so leistungsfähig, daß sie nach kurzer Rast auf Helgoland sogleich weiterfliegen. Das ist der Frühling! Ein ganzer Planet erscheint auf einmal eng gegenüber seiner Kraft, die eine arme Pflanze, ein schwaches Vögelchen durchseelt.

Er muß ja auch selber heran dazu, der ganze Planet.

Ich träumte mich über den weißen Himmel dort über[S. 25] den Wachholderbüschen hinaus in den eisigen Weltraum, wo die Erde mit ihrer schiefen Achse dahinrollte, sehr viel schneller noch als die Blaukehlchen auf ihr flogen. Jetzt begann der schiefe Planet wieder sein Nordantlitz der Sonne zuzuwenden, obwohl er sich gleichzeitig rückwärts von dieser Sonne entfernte. Und die Gnade lag auf dem zugewandten Scheitel, die Eiszapfen seines Bartes schmolzen, es wurde Lenz.

Achsenschiefe. Ein undurchdringliches Planetengeheimnis schläft in dieser kosmischen Frühlingsursache. Alles hängt daran, bis in das Jauchzen dieses Spechts, das Schwärmen dieser Borkenkäfer — und doch wissen wir nicht, was hinter ihr steht. Alles sonst in diesem himmlischen Billardspiel der Sonnenkinder ist so wunderbar regelmäßig, deutet so ganz auf einen harmonisch-einheitlichen Ursprung: die Kugelgestalt, die Bahnebenen, die Umlaufszeiten. Nur die Achsen gehen ihren anscheinend irregulären Weg. Jupiter ragt fast gerade, Uranus ist fast ganz entgleist; die Erde steht nachdrücklich schief. Kein Schimmer eines Warum ist uns gegeben.

Wie wenig wir wissen! Eine ganz dunkle, unergründbare Tatsache — und an der hängt aller Frühling, all diese Konzentrierung der Liebe auf eine Jahreszeit, alle Poesie, die wieder auf dieser Liebe ruht. Eine schiefe Planetenachse ragt hindurch — und schiefe Menschenweisheit.

Und doch haben wir schon ein Gesetz wenigstens entdeckt auch in dieser Achse. Ohne ihre Schiefe selbst zu ändern, wandert sie in großen Zeiträumen kreiselnd einmal herum. Sie sucht sich andere Sterne, auf die sie deutet, bis sie endlich zum gleichen wiederkehrt. In einem Zyklus von über zwanzigtausend Jahren geschieht das.

Mehr als zwanzigtausendmal Frühling! Vor meinem Geiste, den auch die große Lenzkraft anhauchte, erschien ein solcher Zyklus als Einzeljahr, nur in unermeßlichen, höheren Verbänden. Da war die ganze Eiszeit mit ihren fünfhunderttausend Jahren, die ihr Penck zuschreibt, nur ein einziger Winter und ihr Ende nur ein großer Frühling. Vielleicht war es der erste Frühling, den der ganz klar sehende, ganz begreifende[S. 26] Mensch erlebte! Vielleicht hatte noch lange vor dem, in der Kreidezeit, der Frühling überhaupt erst begonnen. War die Erdachse einst gerade gewesen wie die des Jupiter und hatte sich erst gesenkt in jenen Urtagen der großen Saurier? Träume, wenn der Saft steigt mit seinem Atmosphärendruck und die Wanderschwinge hunderte von Meilen wie ein Spiel nimmt!

Aber der Gedanke wanderte zurück auf den letzten dieser Zwanzigtausendzyklen.

Ich dachte, wie der große Hipparch um 150 v. Chr. schon dieses Kreiseln der Erdachse, das den Polarstern verschiebt, wissenschaftlich erfaßte.

Und wie es ein paar Jahrtausende weiter zurück schon hineingespielt in die geheimnisvolle astronomische Mythologie der Ur-Babylonier, der Sumerer, in die Tierkreis-Rechnungen und Tierkreis-Mythen dort. Es ist das geheimnisvolle Volk, an das wir heute so oft und so lebhaft denken, das immer gesuchte, endlich sicher gefundene Volk im Morgenrot der Kultur, dessen Tempel eine Sternwarte und dessen Astronomie ein Gottesdienst war.

Und über diesem Volke, im Morgenhimmel all unserer Weisheit, ragen schon die Zyklus-Rätsel der schiefen Erdachse, schimmern die großen Zeichen der Über-Frühlings-Periode!

Mir aber ist, als schimmere noch etwas anderes, etwas noch viel Weihevolleres darin.

„Aus den Gruben hier im Graben hör ich des Propheten Sang.“

In welchem wunderbaren Auferstehungs-Frühling leben wir Menschen von Tag zu Tag! Immer neue Welten der Vergangenheit tun sich uns kund, leben auf in uns. Um 3000 v. Chr. begann diese „moralische Astronomie“ der Sumerer schon zu verblassen, sich einzusargen zum Winterschlaf. 1900 n. Chr. rollt sie wie eine Frühlingsoffenbarung wieder über die Erde, weil ein paar alte Tonzylinder mit Schriftzeichen sich gespiegelt haben in der Kristallflut einer wunderbaren[S. 27] kosmischen Höhenmacht: der rückschauenden, die Geschichte wieder erweckenden Menschheitsseele.

Ein alter astronomischer Traum kündet: wenn Du viel schneller noch reisen könntest als der Lichtstrahl, der doch in jeder Sekunde zweiundvierzigtausend Meilen zurücklegt, wenn Du die Lichtpost der Erde von Jahrhundert zu Jahrhundert noch einmal überholen könntest: — das Weltgeschehen würde sich Deinem Anblick umkehren, noch einmal sähest Du Cäsar auftauchen unter den Dolchen der Brutus und Cassius, sähest Sokrates mit seinem Giftbecher und die Sumerer auf ihrer Sternwarte, die Gletscher der Eiszeit, die auf Norddeutschland lagen, und die immergrünen Haine der Tertiär-Zeit, die Ur-Säugetiere von Neu-Mexiko und den letzten Ichthyosaurus am Ausgang der Sekundär-Periode ...

Wie ein Märchen klingt das.

Der Mensch, dieser winzige Planetensohn, der durch die Schwere an seiner harten, widerwilligen Scholle klebt, kann nicht fliegen. Fliegen nicht einmal wie die Blaukehlchen. Geschweige denn mit dem Lichtstrahl.

Und doch, — wie ich hier stehe und an die Sumerer denke und den Tierkreis verschiebe — ich, hier an meinem Schlagholz-Stoß im märkischen Kiefernwalde, ich bin mit allen in meiner Zeit auf solchem Fluge.

Unser Gehirn, das Geschichte enträtselt, ist der Apparat, der das Weltgeschehen sich aufstauen läßt, wie die Wasser sich vor dem biblischen Helden stauten, der die Sonne rückwärts wandern heißt, der die Dinge umkehrt und noch einmal auferstehen macht.

Es war das raumüberwindende Meisterstück der Natur: diese unendlich fein reflektierende Platte Menschenhirn, Menschengeist. Aber es war auch die Zeit damit überwunden im gleichen Moment, da diese Platte auf die Vergangenheit eingestellt wurde, da sie rückwärts gewandt wurde.

Der Menschengeist, der Geschichte sinnt, — das ist die Auferstehung.

[S. 28]

Er ist das große Ostergeschenk der Natur, der Ostertag der Jahrmillionen.

Sie haben ihn gemacht, diese Jahrmillionen. Nun zahlt er heim, indem er sie erweckt.

Und was hat er für Gaben dazu! Geht doch dieses Geschichtsschauen nicht bloß durch Tabellen und Zahlen, durch winzige Mosaikstiftchen der grabenden, wieder äußerlich sammelnden wissenschaftlichen Forschung. Hinter diesen Stiftchen und Steinchen erhebt sich erst das ganz Große des Menschen: seine Dichterkraft, die Zeugekraft seiner Phantasie, die das Getrennte, das gräberhaft Zerfallene kraft des inneren „Werde“ wieder zusammenschließt, bis die schlotternden Gerippe wieder auferstandene Seelen sind, die mit uns leben.

So verklärt sich die Geschichte als Forschung zur Geschichte als Dichtung in dem höchsten Sinne, der in der Dichtung erst wieder die ganze lebendige Wahrheit sieht. So wird das Schauen zur Tat. Und das erst ist die ganze Auferstehung.

Noch ist unsere Kraft jung.

Noch ahnen wir kaum erst den ungeheuren Schöpferberuf, den Erlöserberuf, der in uns gelegt ist: die Überwindung des zeitlichen durch den ewigen Geist, in dem es keinen Tod, kein Alter, keinen Winter gibt.

Wenn unsere Wissenschaft aus Keilschrift enträtselt, was vor fünftausend Jahren durch die Seele der Menschheit flutete und ebbte, ahnen wir die eine Seite. Wenn durch die Dichterkraft Shakespeares Julius Cäsar leibhaftig vor uns zu wandeln beginnt, dämmert die andere auf. Aber eines stellt sich uns heute schon ganz dar: Nichts ist verloren in der Natur, das nicht geweckt werden könnte.

Das ist unserer Weisheit sicherster Schluß: keine Wirkung kann und konnte je verloren gehen.

Wenn ich meine Hand auf diesen Holzstoß hier lege, so zittert die Kraftwelle durch alle Ewigkeit, ewig individualisiert, ewig zu finden, im Brennspiegel der Kräfte wieder zu konzentrieren, zu fangen für den, der — einen Brennspiegel besitzt.

[S. 29]

Das ist das Grundgesetz alles Geschehens, aller „Natur“ — aller Gott-Natur.

Der Urgrund der Dinge, der dieses Gesetz gesetzt hat, hat die Unsterblichkeit zugleich mit gesetzt. Der Spiegel aber — und hier liegt die zweite, die eigentlich krönende Tat — ist in unserer Hand. Nun ist nur noch eines nötig: unendliche Zukunft. Und in diese Unendlichkeit vor uns hinein wird die ganze Unendlichkeit hinter uns wieder auferstehen.

Der Specht oben rief wieder sein Glück, Glück, Glück.

Wie der Ton verschwebte, verschwebte mein Träumen durch den herben Frühlingstag.

Er ist noch herb, unser Frühling. Eine junge Menschheit sind wir, in den Anfängen erst. Halb schwankt der Zauberspiegel noch in einer Kinderhand.

Aber wie sonnig ist, daß alle unsere Wege zum gleichen Ziele aufwärts lenken.

Religiöses Schauen wirft den Auferstehungsgedanken uns wie einen Blitz zu, der im Moment für alles andere zu blenden scheint. Aber die Wissenschaft taucht auf, ohne Glanz, keuchend in schwerer Arbeit. Doch die Idee umgoldet sie, und nun wird offenbar: sie ist auf dem gleichen Wege. Und die Dichtung, ihr oft so fremd, erscheint nur als ihre eigene Krönung, ihre Vollendung in das Lebendige hinein, das die zeugende Tat ewig hat, während die Zerstückelung es nie erreicht.

Indizienbeweis! Er genügt mir auch für die große Weltenfrühlingswelt, wie Specht und Borkenkäfer für die kleine im märkischen Kiefernwald.

* *
*

(Reisetagebuch. Schreiberhau.)

Über mir ragt es wie schwarze Zinnen einer gewaltigen alten Schloßruine. Durch eine Lücke im zerfallenen Gemäuer hängt ein schräger grauer Sonnenstreifen in den Schatten hinein wie ein jahrtausendalter Wust Spinngewebe. Er deutet in den Schloßhof, der roh verwildert liegt. Grünes Kraut[S. 30] steht fast mannshoch in der ganzen Breite. Irgendwo tropft Wasser, tickend wie eine gespenstische Uhr, aus dem Spalt eines geborstenen Marmorbrunnens.

Es ist Naturwerk, dieses Schloß.

Seine Zinnen sind grotesk zerspaltene Granitzacken des Riesengebirges, und der Schloßhof ist der innerste Kessel der großen Schneegrube.

In uralten Tagen lag in dieser kraterartigen Höhlung unter der Kammmauer ein Ungetüm, das mit bleichen Augen ins Tal hinunterglotzte: der Gletscher.

Mit seinen ungeschlachten Tatzen hat es die Blöcke dort herausgeschoben und cyklopisch wie eine Brustwehr getürmt, mit seinem schwerlastenden Leibe hat es den Grund ausgetieft zum gähnenden Kessel. Aber es ist ihm im Laufe der Zeiten ergangen wie dem fetten Lollus im Keller in Bechsteins Märchen: immer dünner und dünner ist es hingeschmolzen, immer magerer lag es zum Schluß in seinem viel zu weiten Felsennest. Heute weht nur noch ein leiser Schatten von ihm durch die Grube, ein unsichtbar körperloses Etwas, das als kellerhaft kalter Hauch am leeren Fleck noch einen letzten Kampf kämpft mit seiner furchtbarsten Feindin, der Sommersonne.

Wenn die Ebene weithin in allen Farben des Frühlings prangt und selbst auf dem hohen Kamm die blauweißen Anemonen blühen, dann liegt in dem alten Drachenkrater noch der Winterschnee zu zähen Lasten gehäuft. Aber zuletzt muß er doch weichen. Die Wendestunde, in der einst der Drache für immer der Sonne unterlag, wiederholt sich: die Sonne bezwingt auch den letzten Schneestreifen der Grube. Einmal, am Ende der Eiszeit, ist das entscheidend geschehen: einmal hat die Sommerwärme den ganzen Schnee weggetaut, während früher immer ein Rest überdauerte als Zutat zum nächsten Winter; damals ist das Ungeheuer des Gletschers ins Herz getroffen worden durch Baldurs Schwert.

Heute, da ich hier sitze, liegt die weite Landschaft am Kammesfuße eingesponnen im heißen Juli-Glast.

[S. 31]

Hier in der Schneegrube hat gerade endlich der erste Frühling gesiegt.

Noch stecken in den tiefsten Granitschründen auch jetzt ein paar letzte Schneeflecken, aber schon grau vom tauenden Zermürben. Lustige Quickwässerlein rinnen leise davon herab. An der Grenze aber vollzieht sich jenes liebliche Schauspiel des Frühlingssieges, das auf tauenden Alpenpässen so oft meine Freude war: noch farblos weißliche oder gelbe Pflanzenspitzen, spargelhaft eingerollte Blätterknospen, durchbrechen mit eigener Kraft und Wärme die morsche Schneedecke, noch ehe sie sich selber gelüftet hat. So ringt sich an der Furka die zierliche violettblaue Soldanella (Soldanella pusilla und alpina) sogar als geöffnetes Blütenglöckchen aus selbstgewärmten Schmelzlöchern des Lawinenschnees zum Staunen des Naturfreundes heraus.

Wo aber der Kesselgrund schon völlig frei ist, da erfüllt ihn ein wahrer lebendiger Schnee: halbmeterhoch ragen in weitem, schneeweißen Blumenteppich die wundervollen Dolden der seltenen narzissenblütigen Anemone (Anemone narcissiflora), des „Berghähnleins“ der Gebirgsleute. Auf jedem lichtgrünen Hauptstengel stehen etwa ein halbes Dutzend großer Einzelblüten ganz nach Narzissenart. Ein berauschender Honigduft liegt über der Wiese. Man kann über den ganzen Kamm wandern, ohne dieser köstlichen Blume zu begegnen, hier aber tritt sie plötzlich als Herrscherin auf, — das schönste Sinnbild des Sonnensieges im alten Drachenbett.

Auf der Gletschermoräne selbst aber stehen niedrige, noch völlig blattlose Weidenbüsche im ersten goldenen Kätzchenschmuck, ein seltsam später Anblick für den, der aus dem Tal kommt, wo längst alle Blätter in schwerer grüner Sommerfülle rauschen.

Einsam und still ist es hier.

Oben an den Zinnen erscheint ab und zu ein punkthaft kleines Zwerglein scharf vor dem Himmelsblau: einer aus dem endlos dort vorbeihastenden Fremdenstrom, der sich etwas näher an den schwindelnden Abhang gewagt.

[S. 32]

Hier herunter kommt in Tagen keiner, denn selbst der kaum sichtbare Pfad von unten her ist heute noch ein wahrer Steg ins Drachennest, wie man ihn sich im Märchen träumt: Block um Block, wie ihn der Riese abgerollt und liegen gelassen, will übersprungen sein und dazwischen schiebt sich in jede Lücke noch viel unwegsameres Knieholz, schwarzgrüne Büschel wie struppige Gnomenköpfe, aber zäh, als sollte ein Schwimmer sich durch halbflüssiges Pech durchkämpfen.

Eisdrache und Sonnenkampf, weiße Blütensterne — und Mensch. Das alles ist Natur.

Immer vor solchem reinen Bilde bewegt mich der tiefe Widerspruch, der in unserer Zeit durch dieses Wort geht.

Ich denke an seinen wechselnden Klang in den Jahrhunderten.

Da ist das Buch des Lukretius nahe der Wende vor Christus, im Abendrot der echten Antike, — von der „Natur der Dinge“. Natur ist hier das Offenbarungswort, das Himmel und Erde öffnet, das magische Wort, das die „Dinge“ bewegt.

Dann kommt eine Zeit, da heißt Natur soviel wie Teufelsspuk. Auf einsamem Kreuzweg wird sie gesucht, wenn die Eulen schreien; mit Bluthandschrift muß seine Seele verschreiben, wer sie sehen will.

Aber aus dem Munde eines Mannes, der gelebt und geliebt, gelacht und gegrübelt hat und der zuletzt auf dem Scheiterhaufen steht, um ein Märtyrer seines naiven Menschentums zu werden, — aus dem Munde des Nolaners Bruno ringt sich das Wort: Gott-Natur.

Dann kommen Rousseaus Tage, und ein Klang romantischer Wehmut, die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradiese, zittert aus dem Wort.

Der größte Dichter vom deutschen Stamme steht in seinem Garten vor dem Wunder eines grünen Blattes und wiederholt abermals das große: Gott-Natur.

Und nun ist das Wort schon mit hineingerissen in die wilden Wogen des neunzehnten Jahrhunderts. Ein Getöse ist plötzlich darin wie von einer ungeheuren stampfenden Maschine.[S. 33] Ein tausendstimmiger Jubelruf erschallt, Kränze wehen, — heisa, der Mensch sitzt hoch auf dieser Maschine, sie trägt ihn, er regiert sie. Seine Natur! Der Mensch Herr der Naturkräfte, Herr der Welt. Diese Hoffnung reißt empor wie ein Schwindel.

Aber die Vision wechselt jäh.

Der weiße Dampf der Lokomotive teilt sich und auf einmal liegt der Mensch unter der Maschine, ein zuckendes Haupt auf blutiger Schiene. Fühllos geht die Maschine über ihn fort. Und die sterbende Lippe stammelt „Gott-Natur“, — es klingt aber wie eine Blasphemie.

Kein Wort in unserer Zeit wiegt so schwer wie dieses Wort Natur.

Alles drängt darauf, ringt und lechzt darnach. Dieser Begriff Natur hat die Sterne erobert, die Billionen von Meilen von uns abstehen, er hat den Menschen selber erobert, hat die Geschichte erobert, die Milchstraße ist ihm nur ein Zeichen, der Mensch eine Station, die Zukunft eine mathematische Gleichung.

Und doch ist vielleicht kein zweites Alltagswort unserer Tage so wenig geklärt, so verschleiert, so mißverstanden wie „Natur“.

Auf ungezählten denkenden Menschen liegt es wie ein Tyrann.

Sie wissen nicht, wie sie ihm entrinnen sollen, aber sie fluchen ihm. Jeder Fortschritt der Naturforschung erscheint ihnen wie ein Schritt mehr zum Minotaurus hin, der sie in seiner Höhle zu Asche verbrennt.

Was tut’s, wen tröstet’s, ob in diesem Minotaurus ganze Sonnensysteme mit uns sinnlos verpulvert werden. Je größer das Ungeheuer wird, es steigert sich nur seine Ungeheuerlichkeit. Du magst diesen Leuten von Doppelsternen und Marskanälen, von Urweltmeeren und dem Werdegang des Menschen zwischen tollem Getier erzählen: das Gemüt hat immer nur das Gefühl, daß es selber dabei gefressen wird. Nun hat dieser Drache auch schon die Geschichte des Menschen. Wo wird er Halt machen? Alles packt er. Gibt es denn gar keine Grenzen dieses Verheerungszuges?

[S. 34]

In mein einsames Sinnen mischt sich wieder ein altes Bild.

In einem verwitterten Büchlein fand ich unlängst Dokumente aus dem Leben des Naturforschers Konrad Gesner, des Meisters der Tierkunde im sechzehnten Jahrhundert. Ich suche seit Jahren Stoff zusammen über sein Leben. Daheim habe ich die alten Pracht-Folianten seiner Werke, ein Monumentalwerk deutschen Fleißes.

Zeit seines Lebens war er ein armes dürres Männlein, dieser Gesner, unsagbar fleißig, mit den großen Augen des Genies, aber vom Leben unerbittlich gedrückt. Und doch: eins drückte diese Seele nicht: Skrupel über den Natur-Begriff. Sie war nicht gerade besonders liebenswürdig gegen ihn im gewöhnlichen Sinne, diese Natur. Um ihn, den pflichttreuen Arzt, wütete die Pest. Mit 49 Jahren schon ist er selber ihr erlegen. Als sie, die er mannhaft bei anderen bekämpft, ihn endlich selber „hatte“, da hat er sein Testament niedergeschrieben, das uns heute noch erhalten ist. Er hatte nicht über allzuviel Glücksgüter zu verfügen. Nur eine Rente von hundert Gulden kann er stiften, daraus sollen jährlich zwei ärmste Kinder gekleidet werden. Aber seinem Geschlecht läßt er eine andere Aufgabe vergeistigterer Art. Je einmal im Jahr soll die Familie sich in allen ihren Gliedern zu einem frohen Liebesmahl vereinigen. Ein goldener Becher soll dabei kreisen, den er mit dem Testament übergibt. „Sonderlich“ sollen daraus die trinken, „welche etwas Zwytrachts miteinander gehebt.“ Nach dem Mahl soll einer ein paar Sprüche aus dem Evangelium vorlesen, „welche dienind, Fried, Liebe und Einigkeit zu förderen.“ „Demnach,“ aber heißt es zum Schluß, „soll er ihnen fürhin bringen (vorzeigen) meine Figurenbücher der Tieren, daß sy sich die zu besächen belustigend, und durch myn Gedächtniß, auch ihre Kind, welche tugendlich, zu der Lehr oder sonst zu guten und ehrlichen Künste und Uebungen erzüchten.“ Dieser Mann hatte kein Gefühl dafür, daß sein „Tierbuch“ die Weihe jener Sprüche stören könne. Es ist ein friedevoller Optimismus, der aus den Worten dieses besten Kenners der „Natur“ in seiner ganzen Zeit spricht ....

[S. 35]

Das Ergebnis der unheilvollen Trübung, die für unsere Tage das Wort „Natur“ bedeckt, ist der immer tiefer fressende Pessimismus.

Es ist die Weltanschauung des knirschenden Sklaven.

Man fühlt, daß man gegen die überwältigenden Resultate der Naturforschung dauernd nichts machen kann. Dieser Sieg kommt ja nicht allein durch den Gedanken. Man darf Darwin in den Boden verfluchen und steigt doch in eine Eisenbahn, spricht durch ein Telephon. Von dieser Ecke her gibt’s kein Entrinnen, und wer einmal in der realen Bahn sitzt, hält schließlich doch auch bei der Station Darwin, ganz unversehens. Aber man glaubt zugleich zu fühlen, daß man damit etwas in Kauf nehmen soll, was das ganze innerste Leben lahmlegt. Man bekommt einen Toten ins Haus für immer. Zuerst heißt die Folgerung Resignation. Und dann heißt sie Pessimismus.

Täuschen wir uns nicht: der Pessimismus als theoretisch ausgesprochene lehrhafte Philosophie ist immer nur eine gelegentliche Erscheinung; der Pessimismus der Stimmung aber nagt und nagt bei uns fortgesetzt wachsend in allen Kreisen, wo man unter jener Sonnenfinsternis des Naturbegriffs wandelt und diese Sonnenfinsternis für ein Ergebnis der Astronomie hält.

Für mich liegt hier mehr und mehr eine Sache auf Biegen oder Brechen.

Ich bin mir nicht einen Moment mehr unschlüssig, daß in der Frage „Optimismus und Naturforschung“ die Schicksalsfrage der ganzen künftigen Naturforschung liegt.

Wenn die Naturforschung ihren Naturbegriff nicht aus dem Pessimismus herausbekommt, so geht sie im ganzen doch wieder herunter und muß heruntergehen.

Gewiß: wir steigen in die Eisenbahn. Aber täuschen wir uns doch auch darüber nicht, daß technische Erfindungen wohl eine Weile so fortreißen können, daß alles andere darüber in den Hintergrund kommt, — aber auf die Dauer hält das allein nicht stand. Wenn die Idee all dieser Dinge endlich überall in den Pessimismus führt, so erlischt schließlich doch das Interesse auch an diesen Erfindungen, es stirbt eben an dieser[S. 36] Idee. Wenn ich ideell doch immer auf der Schiene liege mit einem Knebel im Mund und einem Strick um Arme und Beine, so wird schließlich auch die Freude an der Eisenbahnfahrt immer dünner, die Fahrt weckt nur fatale Assoziationen. Und endlich steige ich lieber wieder in die alte rappelnde Postkutsche.

Ich persönlich gestehe gern, daß ich ohne eine optimistische Grundlinie in meinem Naturbegriff selber die eigene Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Dingen längst eingestellt hätte. Nichts wäre mir mehr zuwider, als das Paktieren, das ewige Versuchen, um die Allgewalt dieser Dinge herumzukommen.

Ich sehe ja, wie es anderen geht. Sie suchen auch aus der schwarzen Flut des Pessimismus sich herauszuhalten. Aber im Grunde ist ihnen alle Naturforschung doch nur die ewige Gleitbahn in diesen Pessimismus. So suchen sie „Grenzen des Naturerkennens“, Mauern, wo der Naturforscher angeblich nicht weiter kann. Da soll endlich das Reich der Trübsal aufhören, der blaue optimistische Sonnenhimmel doch noch beginnen.

Täuschen wir uns aber wieder nicht.

Es gibt diese Grenzen nicht.

Die Naturforschung ist nicht abzugraben etwa vom Seelischen, wie ein Maulwurf durch einen Wasserkanal. Ihr Naturbegriff muß auch das umspannen, wenn er nicht eine Narretei sein will, — es fragt sich bloß wie. Das bequeme „Ignorabimus“ eines Naturforschers, der im Grunde seines Herzens nie etwas anderes als Stockmaterialist war, hilft nicht fort von der viel größeren, tieferen, schwereren Aufgabe: den Naturbegriff selber vor der pessimistischen Vernachtung zu retten. Hier gilt das alte Wort: Davonlaufen nützt auf keinen Fall.

Auch mit dem Zweifel an dieser oder jener naturwissenschaftlichen Einzelhypothese ist nichts getan. Mit ein bißchen Zweifel an der Zuchtwahl oder sonst einem Stück Darwinismus oder mit einem allgemeinen schnodderigen Satz eines Kritikers, dem der ganze Darwinismus noch nicht mechanistisch genug ist, kommst Du nicht durch, so fröhlich das auch heute wieder dieser und jener träumen mag.

[S. 37]

Das alles sind kleine Mittelchen, die einen Moment den Laien froh machen können, aber dauernd doch an die Sache nicht rühren.

Denn die großen Linien im Sachmaterial der heutigen Naturforschung lassen sich nicht mehr umwerfen. Es bleibt die allgemeine Naturgesetzlichkeit, es bleibt die Grundtatsache allgemeiner Entwickelung, es bleibt der Mensch als Glied in der großen Kette der Natur. Um diese Dinge kommen wir schlechterdings nicht mehr herum, und was an der Anerkennung dieser Hauptlinie schon stirbt von älteren Anschauungen, das muß eben sterben.

Was ich aber behaupte, ist, daß es einem tieferen religiösen Empfinden gar nicht einfällt, hier zu sterben, wofern nur eine Klärung über den Naturbegriff und eine Loslösung vom Pessimismus damit Hand in Hand geht.

Die erste Aufgabe ist allerdings, daß man den Menschen nicht wieder gewaltsam losreißt von der Natur aus lauter Eifer für „Natur“. Das ist bisher mit wahrer Hartnäckigkeit geschehen.

Der Begriff „Kraft und Stoff“ hat dabei eine merkwürdige Rolle gespielt.

Seltsam genug ja: unsere Zeit ist die erste, die wirklich Ernst damit gemacht hat, den Menschen restlos einzubeziehen in die Natur. Aber diese unsere gleiche Zeit hat sich auch alle Mühe gegeben, ihn durch unglückliche Begriffsworte in seinem ganzen Fühlen weiter wieder von der Natur fortzugraulen als irgend eine.

Kraft und Stoff sind in der exakten Forschungssprache vortreffliche und durchaus nötige Abstraktionen. Man kann sie auch philosophisch anstandslos benutzen, um eine bestimmte Linie einheitlichen Zusammenhanges der Dinge in der Welt zu begründen. Lege ich dieses Formelwort aber didaktisch als Generaldefinition der „Natur“ sans phrase zu Grunde, so werfe ich grade den Menschen vor dieser Natur in eine unfaßbare Öde.

Ich werfe ihn nämlich nicht, wie die Schwärmer für das[S. 38] Wort gemeint haben, in die höchste Realität, sondern in die äußerste Abstraktion.

Um den Menschen in die Natur zu bringen, ziehe ich von ihm ab und ab, bis nur das ausgezehrteste, mit nichts mehr greifbare Gespenst übrig ist. Dann ziehe ich die ganze übrige Natur ebenso fasernackt aus und nun endlich bringe ich die Ähnlichkeiten zusammen. In dieser Eiseskälte erfriert aber dem Beschauer die Natur, und sein eignes Eingehen in diese Natur bedeutet ihm nichts anderes als auch nur ein Miterfrieren.

Im Grunde bleibt ihm trotz alles Redens seine eigene Kraft-Stoffheit etwas ebenso absolut Fremdes wie die der Natur. Und auf diesem Wege kommt er von sich als lebendig warmem Menschen nie und nimmer zu der sonst bekannten Natur, — das tertium comparationis ist ein Gespenst, das er an beiden nicht kennt. Schließlich wird er es ja der Natur noch eher andichten mögen als sich. Dann ist er aber erst recht von ihr fort, weiter als je. Ich begehe eine Handlung, die im Sinne der Menschenliebe ist, wie sie am schlichtesten nach wie vor die Sprüche des Evangeliums aussprechen: — Kraft und Stoff. Ich begehe die aufs äußerste entgegengesetzte Niederträchtigkeit: Kraft und Stoff. Ich lebe oder bin tot, glücklich oder unglücklich, arbeitsam oder faul, bin ein Mensch oder bin der Sirius: Kraft und Stoff. Dieser Begriff gehört zu denen, die, weil sie überall passen, nirgendwo passen.

Die Folge dieser künstlichen Trennung des Menschen von der Natur ist aber der erste Teufelsfinger für den Pessimismus.

Der arme Hörer denkt, es muß nun einmal dieser Kraft-Stoff-Natur sich ausliefern, er empfindet es aber innerlich als einen Absturz wie vom prangenden Leibe eines schönen Mädchens zum schlotternden Skelett. Alle wahre Entwickelung hört ihm zugleich auf, denn alles ist ja eins. Eine uferlose graue Weltöde frißt ihn in sich hinein: der Minotaurus Natur.

Und dabei bedeutet doch diese ganze Idee von „Kraft und Stoff“ tatsächlich gar nichts anderes als die naturwissenschaftlich[S. 39] exakte Formel für etwas, was die Gottes-Vorstellung auf ihrer höchsten Stufe genau so suchte: die Existenz nämlich von Zusammenhängen in der Gesamtwelt, von einem durchgehenden Grundprinzip. Es ist das gleiche Prinzip, das in der Absolutgültigkeit der Logik und der mathematischen Verhältnisse vor uns auftaucht. Auf diese eine Karte aber nun die ganze Definition der Natur setzen wollen, wäre genau so, wie wenn einer etwa als einzige Eigenschaft seines Gottes hinstellen wollte: er ist unendlich, und nun verlangte, daß wir auf Grund dessen schon in ein religiöses Gemütsverhältnis mit diesem Gotte einträten.

Gerade die strengste Naturforschung zwingt uns, in diesen Begriff Natur noch ganz andere Dinge als entscheidend aufzunehmen vom Moment an, da wir Ernst damit machen, den Menschen vollständig in die Natur zu übernehmen.

Wir Menschen überschauen ein gewisses Stück Weltbegebenheiten. Räumlich ein Stück nebeneinander, bis in die fernsten Nebelflecke. Durch die Verzögerung des Lichtstrahls aus der großen Ferne ordnen sich schon die entfernteren Raumdinge zum Teil direkt in Zeitdinge um. Andere nähere, greifbare Merkmale vergangener Tage um uns her kommen hinzu und so sehen wir schließlich auch einen Zeitausschnitt, ein Hintereinander von so und so viel Millionen Jahren mehr oder minder deutlich. Etwas anderes zu Aussagen über die „Natur“ haben wir nicht als den Inhalt dieses für uns begrenzten Raum- und Zeitausschnitts.

In diesem doppelten Ausschnitt aber sehen wir nun keineswegs bloß ein belangloses Auf- und Abplätschern eines Stoff- und Kraftmeers.

Wir sehen vielmehr eine höchst eigenartige Entwickelungslinie. In dieser Linie stehen aber wiederum nicht bloß aufglänzende und wieder verglühende Sterne, Wechsel von warm und kalt, Auftauchen irgend eines Sauriers und Wiederabsterben seiner Art.

Vielmehr vollziehen sich darin die allereigentümlichsten Sachen und zwar werden uns diese aufdringlich deutlich vom[S. 40] Moment an, da wir den Menschen restlos aufgenommen haben in diese Linie der Entwickelung.

Der Laie hört heute: der Mensch stammt vom Affen ab. In der Form, wie er das zu hören bekommt, liegt vielfach das gleiche Unglück, wie bei jener Kraft-Stoff-Antwort. Du stammst vom Affen ab, folglich bist du eigentlich nur ein Affe; zähme deinen Ehrgeiz, steige eine Stufe herunter, laß dich von einem Niedrigeren, von der tierischen Natur fressen: — Minotaurus. Auch hier liegt die pessimistische Folgerung auf der Hand: was nützt Dein Arbeiten, Du bleibst, was Du warst, Kraft, Stoff, Tier, Affe — in Summa: ewig gleichförmig plätschernde „Natur“, dieses scheußliche, allesverschlingende graue Abstraktum. In Wahrheit ist die entscheidende Folgerung: der Affe ist also nur ein Übergang gewesen zu unvergleichlich viel Höherem, es gab etwas in der organischen Entwickelung, das den Affenzustand wie eine Puppenhülle abwarf und zum Lichte flog.

Von solcher Betrachtungsweise kommt man auf ganz andere Schlüsse auch im Menschen selbst vor der Natur und in der Natur. Der schlichte Übergang der Lebensstufe unterhalb des Menschen in den Menschen hinein nach einfachem Naturgesetz bleibt nicht nur bestehen, er wird sogar zu einer Säule des wahren Baues. Nur durch ihn gewinnen wir ja ein Recht, zu sagen: der Mensch ist auch ein Stück Natur, eine Stufe der sich entwickelnden Natur. Wenn der Mensch das aber ist, so gewinnt die Natur ganz unzweideutig das folgende höchst eigenartige Antlitz.

In dem Stück Entwickelung, das wir überschauen können, zeigen sich dann zwei ganz überwältigend große Entwickelungsstufen. Die erste will ich als die Stufe des Gesetzes bezeichnen, die zweite als die Stufe der Liebe.

Die erste Stufe ist für uns eine gegebene im Moment, da der Vorhang uns über dem Kosmos zeitlich aufgeht.

Sogleich und für uns vom ersten Tage an sehen wir hier die Welt ausgeliefert einer unerschütterlichen Gesetzmäßigkeit. Bestimmte Bahnen sind den Stoffen fest eingepaukt. Ein Körper,[S. 41] der unter bestimmten Schwereverhältnissen fällt, fällt nach einem ganz bestimmten Gesetz immer so. Und der Sinn gleichsam aller Dinge scheint erschöpft in diesem Naturgesetz.

Es hat etwas Großartiges in seiner ruhigen Majestät, dieses Gesetz, aber auch etwas Unerbittliches. Welten fallen aus seiner Hand: Milchstraßen, Fixsternsysteme, Sonnen. Es gibt keinen Zufall vor ihm: alles muß so sein, wie es ist. Aber alles Werden, alle Welten, die entstehen, scheinen zunächst in ihrem Sinn auch erschöpft in diesem Muß.

Dieses Ur-Naturprinzip wird mit derselben Ruhe, womit es eine Welt schafft, diese Welt auch wieder zertrümmern, wenn sie eine Fehlerquelle in sich hat. Es ist die Inkarnation einer unerbittlichen Gerechtigkeit einfacher Art: was wird, muß seine Folge tragen. Wird es schlecht, so stürzt seine Strafe über es herein, wird es gut, so erntet es unendlichen Lohn.

Wir brauchen nicht von Gravitation und anderen naturgeschichtlichen Werten zu reden, — dieses unerbittliche Gesetz ist uns aus einer anderen Quelle mindestens ebenso geläufig: in dem alten Bibelworte nämlich „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Es ist der moralische Triumph der Formel A = A.

Ich sage, dieses Gesetz ist für uns da mit dem Anfang der Welt. Das ist an sich freilich noch kein Beweis, daß es ewig da war. Es könnte sich selber in unbekannten Vor-Äonen erst entwickelt haben, als eine Überwindung des regellosen Zufalles im Geschehen, als das erste ungeheure Ordnungsprinzip, das sich herauskristallisierte in unendlichen Vorkämpfen der Welt. Diese „Mythologie der Logik“ braucht uns hier jedenfalls nicht zu beschäftigen.

Sicher ist, daß das Gesetz da ist, wo unsere Erkenntnis beginnt. Das geringste Ballungsstäubchen Nebelmaterie, mit dem unsere ganze Entwickelung eingesetzt haben könnte, können wir uns nur vorstellen schon im Banne dieser Gesetzmäßigkeit.

Aber ebenso sicher wieder sehen wir weiterhin, innerhalb jenes uns sichtbaren Stückes Naturentwickelung, eine Fortentwickelung über dieses Prinzip hinaus.

[S. 42]

Auch wir Menschen auf dieser Erde, Natur wie wir sind, hängen in jener großen Gesetzmäßigkeit. Wenn wir fallen, fallen wir nach der mathematischen Weltregel des Gravitationsgesetzes. Wieviel wir der Natur außer uns hinlegen, soviel erhalten wir zurück, Kraft um Kraft. Messen wir das an einem wüsten Zufallsgeschehen, so müssen wir uns ehrlich dessen freuen.

Nur diese Gesetzmäßigkeit aller, aber auch absolut aller Vorgänge der Welt hat uns, wenn noch in beschränktem Maße, so doch anwachsend mit jedem Tage, zum Herrn so vieler Naturprozesse werden lassen. Dieser ungeheuren schlechterdings untrüglichen Ehrlichkeit der Natur verdanken wir alle Erfolge unserer Technik. Kein Zündhölzchen zünden wir an, kein Haus steht, kein Schiff fährt ohne diese Verläßlichkeit der Natur.

Und doch!

In uns Menschen arbeitet sinnfällig noch etwas über diesem Prinzip.

Ein geliebter Mensch beugt sich zu weit über das Fensterbrett und stürzt ab. Er muß stürzen nach dem Naturgesetz der Schwere. Er stürzt, weil Logik gilt; er stürzt, weil A = A ist. Sein Einsatz, seine Schuld war das Hinauslehnen. Die Naturgesetzlichkeit vollzieht das absolute „Muß“, den Lohn: er stürzt und liegt zerschmettert da. Unerbittlich.

Wir aber fragen: konnte diese Schuld nicht vergeben werden?

Unser Herz ringt gegen dieses „Muß“, es ist uns auf einmal etwas Furchtbares, scheint uns entsetzlich vor solchem Falle.

Wenn wir zu entscheiden gehabt hätten: unser ganzes bestes Inneres hätte sich aufgelehnt gegen diese furchtbare Konsequenz, tausend Stimmen des Mitleides, der Solidarität von Mensch und Mensch hätten sich erhoben in uns, unser ganzes höchstes sittliches Empfinden hätte gerufen „Nein!“

Und doch sind auch wir Natur.

[S. 43]

Aber das macht: in uns Menschen ist schon ein zweites Prinzip.

Die Liebe.

Das Mitleid, die Toleranz, das Eingehen auf jede Sehnsucht des einzelnen, das Vergeben der Schuld, die höhere Gerechtigkeit.

Überschauen wir auf dieses Prinzip hin jenes allein bekannte Stück Weltengang, so müssen wir sagen: der ganze aktive Inhalt dieses Stückes ist wesentlich die allmähliche Entwickelung dieses zweiten Prinzips.

Da entsteht die Erde und durch diese Erde, auf dieser Erde entsteht als ihre höchste Äußerung der Mensch. Im Menschen aber zeigen sich die Keime endlich ganz offen. Auf einer bestimmten Stufe seiner natürlichen Kulturentwickelung hören wir aus seinem Munde frei als Ideal aussprechen: fortan soll nicht mehr gelten Auge um Auge, Zahn um Zahn, sondern siebenmal siebenmal sollst Du eine Schuld vergeben um der Liebe willen. Der Fortgang der Menschheit seitdem ist ein langsamer, aber zäher Versuch, das nicht bloß zu sagen, sondern durchzuführen. Über den Ausgang besteht für mich kein Zweifel. Wir arbeiten an der Realisierung dieses Ideals, und all unser sittlicher Fortschritt geht hierher.

Vergleicht man nun die beiden Naturprinzipien miteinander, so erscheint das erste wie das alte Testament der Welt, und das zweite wie das neue. Das erste reicht von dem uns erschaubaren „Anfang der Welt“ bis in den Menschen hinein; das zweite läßt sich, als auf seinen ersten ganz hellen irdischen Lichtpunkt hin, mit einem Namen lokalisieren bei Christus, mit dem jenes Ideal zweifellos den ersten festen Schritt zur Tat getan hat, einerlei wie sich nun der Schleier über der Persönlichkeit einmal löse.

Auch diese beiden Naturprinzipien haben das Eigenartige, daß das zweite nicht kommt, um das erste aufzuheben, sondern nur um es in ein Höheres hinein zu erfüllen.

Die Liebe wirft die Welt keineswegs wieder zurück in den wüsten Zufall. Sie umfaßt das rein Gesetzmäßige, —[S. 44] wie ja ihr Träger für unsere Kenntnis, der Mensch, sich rein natürlich auch im Banne dieses Gesetzmäßigen entwickelt hat, ohne Riß, ohne Magie. Aber sie bringt in dieses Gesetzmäßige einen neuen Sinn.

Dem Zufall gegenüber war schon ein großer Sinn das einfache „Muß“. Die Liebe aber sagt jetzt: das Muß tut es noch nicht. Das Muß schafft Glück, aber auch mit der gleichen Folgerichtigkeit bis ins siebente Glied heilloses Unglück. Die Liebe aber will nur Glück, nur Beglückendes. Sie wird das Muß nicht als solches aufheben, aber sie wird versuchen, es in ihren Dienst zu stellen: das folgerichtig Schlechte wird sie auszurotten suchen und nur das folgerichtig Gute erhalten.

Die Frage wird sich nur hier vorwagen, ob sie das kann.

Betrachten wir aber wieder das Stückchen uns bekannter Tatsachen.

Wäre die Liebe etwas dualistisch der Natur Entgegengesetztes, so möchte die Antwort heikel sein. Aber sie ist ja selber in unserer Linie nur die sich entwickelnde Natur. Und da ist eins wieder über alle Maßen überraschend.

Diese Liebe leuchtet genau erst da auf, wo wir im Kulturmenschen ein Wesen sehen, das zugleich mit Siebenmeilenstiefeln auf die Herrschaft über das ganze „Muß“ losschreitet, — auf die Herrschaft über alle Naturgesetzlichkeit wenigstens seines engeren Bereichs. Der Mensch in diesem Sinne, „Herr der Erde“ als Techniker, als Naturforscher — und dieser Mensch durchdrungen von der Liebe: — diese Erde wäre ein Reich der Liebe innerhalb ihrer Naturgesetzlichkeit und durch sie.

Nun mag man ja sagen, dieser Mensch mit seiner ganzen Erde sei nur ein Pünktlein in der Natur. Ein Sternlein sei diese Erde unter Milliarden. Was will das eine Sternlein der Liebe selbst dann gegen Milliarden Sterne der fortgesetzten reinen Naturgesetzlichkeit bloß im alten Sinne.

Aber gerade weil ich das Auftauchen des Menschen und der Liebe in ihm nicht als eine Magie auffasse, sondern als ein naturnotwendiges Werden auf dieser Erde, halte ich solche Notwendigkeit auch auf anderen Weltkörpern für möglich.

[S. 45]

Ja, ich halte sie aus strengen Verstandesgründen sogar für sicher. Ich sehe in der Menschwerdung eine kosmische Stufe, die genau so milliardenmal eintritt zu ihrer Zeit, wie Milliarden Sterne leuchten gleich unserer Sonne zu ihrer Zeit.

Aus der Naturstufe Mensch wird sich aber immer auch das Naturprinzip Liebe neu offenbaren, milliardenmal, durch die ganze Natur hindurch, — wenn es eben ein Naturprinzip, eine höhere sich entfaltende Form dieser Natur ist.

Auf jedem belebten Weltkörper werden Menschen erwachen und in diesen Menschen ein Funken Liebe und zugleich ein Wegstückchen Naturbeherrschung, — ein Stückchen Bändigung der Natur zu Zwecken der Liebe.

Und in diesem ihrem Werk müssen die Funken wohl schließlich sogar zusammenfließen. Ist doch die Verbindung zuletzt eine reine Frage der Technik. Was sollen wir aber einer Technik für Schranken setzen, die sich Millionen von Jahre über das hinaus entfaltet, was wir heute besitzen. Zusammenhänge werden sich herausstellen zwischen den unzähligen kleinen Ecken und Winkeln der Naturbeherrschung.

Im Moment, da alles Geschehen der Welt in den Händen, im Willen intelligenter Wesen liegt, alle Naturgesetzlichkeit nur in der Linie arbeitet, die dieser Wille will, — in dem Moment würde die zweite Stufe erfüllt sein. Naturgesetz und Liebe fielen zusammen im Sinne, daß das Naturgesetz nur mehr wirkte in der Richtung der Wünsche der Liebe. Seine unendlichen Möglichkeiten wären sozusagen polarisiert auf die eine Ebene — der Liebe.

Für unsern Blick, in der Linie, die wir allein auf unserer Stufe denken können, bedeutete das die Stufe der vollkommenen Seligkeit: den Himmel. Wobei immerhin offen bleiben mag, wie auch diese Stufe von noch weiterer Entwickelung überwunden, überboten werden könnte.

— — —

Solange die Menschheit jetzt über sich nachdenkt und Ideen darüber schriftlich niedergelegt hat, ist sie immer auf diesen fernen Zielgedanken hinausgekommen einer gesetzmäßigen Welt,[S. 46] aber mit einer obersten Leiterin in dieser Gesetzmäßigkeit: der Liebe. Die Gesetzmäßigkeit sorgend für die ewig Fortwirkung jeder Ursache. Aber die Liebe das erste „Daß“ setzend, von dem alle diese Fortwirkungen ausstrahlen.

Unsagbar aber hat sich der Gedanke abgequält mit der Tatsache, daß offenbar dieses Ideal heute noch nicht erfüllt sei.

Ungeheure Ketten solcher naturgesetzlichen Folgerichtigkeit liefen auf höchste Unlust, auf das Gegenteil aller Liebesforderung hinaus.

Man stieß eben gegen den Sachverhalt, daß wir erst im Werden der zweiten Stufe stehen, daß hinter uns nicht die Liebe, sondern die Stufe des wahllosen Muß steht, während erst vor uns, in der Ferne und durch uns in endlosester Projektion, die wahre Aufhebung dieses Muß in die Liebe steht.

Schließlich hat aber auch an den verschiedensten Stellen das unentwegte Grübeln auf die Zukunftshoffnung geführt: auf die Idee einer Seligkeit in einer Ferne der Zeit, am „Ende der Dinge“, am „jüngsten Tag“, im „Nirwana“, und wie die Worte lauten mochten.

Auch das ist der grübelnden Menschheit immer und immer wieder klar geworden: ihre seltsame Zwitterstellung halb scheinbar mit der „Natur“, halb gegen die „Natur“.

Es waren die zwei Stufen der Natur, die in ihr rangen: die Raupe, die unter quälendem Schmerz sich selber als Puppe gebären soll.

Abwechselnd fühlte der Mensch sich Herr der Natur und gefressen von der Natur. Heute liebend, geliebt, die Wunden heilend, die Beladenen aufrichtend, die Dinge regierend nach seiner Seligkeitssehnsucht, die alle gleich beglücken, verklären sollte. Morgen in Krankheit, die jäh aus seinem Innern fraß, vom Dämon besessen, unter Leichen hinstürzend, tausendfach im Bann völlig unverständlicher, unbeherrschbarer, unberechenbarer „Notwendigkeiten“, die einfach blind, gefühllos ihre Bahn abklapperten.

Und der Bedrängte, Ratlose konstruierte in der Not einen ewigen Gegensatz der Dinge: hier das „Ich“, Liebe setzend,[S. 47] einiges vollbringend, aber dann wieder ohnmächtig, — dort „die Natur“, die weltengroße kalte Muß-Maschine, die um der Konsequenz der heiligen Logik willen alle Gefühle und Sehnsuchten zermalmte.

Auch hier war das Symptom erfaßt, — bloß der Sinn hinkte.

Es kam die Antwort Hiobs, daß wir den Sinn der Welt nicht verstehen könnten, weil wir zu klein sind.

Oder die furchtbare Antwort des Harfners bei Goethe:

„Ihr führt ins Leben ihn hinein,
Ihr laßt den Armen schuldig werden,
Dann übergebt ihr ihn der Pein,
Denn jede Schuld rächt sich auf Erden.“

Dieser Vers malt unvergleichlich das reine „Muß“. War das das Weltprinzip nach wie vor? Der einzige Sinn der „himmlischen Mächte?“

Was Wunder, wenn Prometheus sich dagegen auflehnte, das trotzige Ich, das, an den Felsen des „Muß“ geschmiedet, doch noch höhnt:

„Ich kenne nichts Ärmeres als Euch Götter.“

Prometheus hat eben tatsächlich etwas mehr als das Muß. Er hat die Forderung der Liebe.

Aber der Kontrast ist nur der von älter und neuer.

Das Alte ist eine unermeßlich große Masse, — das Neue ein paar Lichtpünktchen. Man denke an die paar Menschen, die um Liebe nach den Sternen blicken — und diesen Erdball unter ihnen, der kein Gesetz hat als das des „Muß“, wonach er jährlich 365 Mal um sich und einmal um die Sonne fällt. Aber gib dem Neuen die ganze Zukunft mit in Kauf und die Folge der Milliarden Generationen nach ihm, — und Prometheus wird Christus, er wird Newton, der den Mond schon fallen sieht wie einen Apfel, er wird der Erfinder, der mit elektrischen Wellen über Meere spricht und endlich: nicht er hängt mehr am Kaukasus, sondern dieser ganze Kaukasus wächst und zerfällt, je nachdem er es zu Zwecken seiner Liebe will, er, der Herr der Naturgesetze.

[S. 48]

Wie bisher über die Einzelheiten dieser Dinge gestritten worden ist, so wird auch noch weiter darüber gestritten werden müssen. Was ich aber meine, ist, daß diese Gedankengänge sich völlig vertragen mit den Dingen, die der moderne Naturforscher lehrt.

Nirgendwo steckt auch nur die geringste Konzession darin, die vom Naturforscher verlangt würde.

Es wird bloß darin Ernst gemacht mit dem, was gerade dieser Forscher verlangt und verlangen muß: daß nämlich der Mensch in seinem ganzen Umfange in die Natur aufgenommen werde. Dieser Mensch muß dabei bleiben, was er ist. Er wird nicht plötzlich bloß Kraft und Stoff, oder nur eine Mischung aus H2O und einigen anderen Elementen. Er bleibt Hiob und Prometheus und Christus und Faust, bleibt in der uralten brennenden Sehnsucht seiner Ideale, bleibt in seiner Weltverzweiflung und Welthoffnung und Weltüberwindung, bleibt in seiner Liebe.

Von all diesen Dingen wird man doch wohl nicht glauben, daß der Naturforscher plötzlich daran rüttle?

Er gerade ist doch der allerletzte, als Beobachter, der Phänomene scharf auseinander zu halten gelernt hat, — der einen Unterschied leugnen sollte zwischen einem Stein, der einfach nach dem Gravitationsgesetz fällt, oder einer insektenfressenden Pflanze, die unerbittlich ihr Opfer aussaugt, — und dann einem Menschen, in dem das schlichte christliche Gebot auferstanden ist, daß man mit den Armen das Brod teilen und seinen Nächsten lieben soll wie sich selbst?

Was der Naturforscher in erster Linie verlangt, ist, daß diese Unterschiede nicht durch Magie erklärt werden, sondern als natürliche Entwickelungen.

Gerade das aber wollen ja jene Ideengänge, denen alle jene Vorgänge nur Entwickelungsstufen einer und derselben Natur sind.

Gerade der Naturforscher wird doch auch der letzte sein, der unabsehbare Zukunftsfernen dieser einmal angeschlagenen Entwickelungswellen leugnet. Von ihm stammt ja die erste[S. 49] exakte Fassung des alten Glaubens, daß alles Geschehene für die Ewigkeit geschehen, in die Ewigkeit hinein geschrieben sei: er lehrt uns, daß die Kraft nie erlischt und daß der geringste Schlag im Äthermeer fortzittert durch alle Äonen hindurch in immer weiter sich zerteilenden Kreisen, — diesen wunderbaren Gedanken von der Unsterblichkeit der Wirkungen, auf dem Fechner seine ganze tiefsinnige Philosophie aufgebaut hat.

Aus der Astronomie und nicht aus der Märchendichtung stammt unseren Tagen die Idee, daß gleiche Ursachen auch auf anderen Sternen zu gleichen Wirkungen, nämlich organischer Lebensentfaltung bis zu intelligenten Wesen hinauf, führen müssen.

Aus unserer Technik, die in allen Zügen angewandte Naturwissenschaft ist, stammt die schlichte Folgerung, daß unserer Beherrschung des mechanischen Geschehens keine Grenze gesteckt sei. Dieses Mechanische hat in sich keinen Riß und das macht es zum kontinuierlichen Bande, das wir fort und fort weiter aufrollen, nachdem wir einmal fest Hand angelegt haben. Der größte Unsinn, den der Wilde sich ausdenken konnte, ist von unserer Technik schon erfüllt: daß wir durch Wände sehen könnten, daß wir den Blitz zu einem zahmen Haustier machen könnten, das uns die Stube erhellt, daß wir mit einer Wolke Stoff, die leichter als Luft ist, durch die Luft fliegen könnten, daß wir das Licht zwingen könnten, uns Rede zu stehen, wie es in der Glutatmosphäre der Sonne oder im Nebelfleck der Andromeda aussieht.

Wie anders aber nimmt sich der Naturbegriff aus, wenn wir ihn von solchen Linien her fassen!

Wie groß erscheint der Mensch darin: der Träger der Naturwende auf unserem Stern!

Ausgelöscht ist das Minotaurusbild.

Jener Kampf des Herzens gegen die eiserne Logik ist der große Höhenkampf der Natur selbst, der in uns ringt, — der zweite Schöpfungstag, der mit dem ersten streitet.

Über das graue Nebelfeld zuckt ein optimistischer Strahl.

— — —

[S. 50]

In der Edda kommt ein furchtbares Schlußbild alles Weltgeschehens vor, zu furchtbar doch, als daß es selbst dort, wo Götter und Welten sterben, als endgültiger Abschluß gedacht würde. Himmel und Erde sind verbrannt und über die Stätte hat sich ein uferloses schwarzes Meer ergossen. Nichts mehr lebt darin. Nur ein gespenstischer Spielmann zieht darüber und nach dem einförmigen Takt seiner Melodie heben sich die Wellen unablässig herauf, um wieder zu sinken, — auf und ab, ein zweckloses Einerlei — und das in alle Ewigkeit.

Auf ein solches grauenvolles Phantasiebild lenkt aber als Wirklichkeitsschluß der falsch angewendete Materiebegriff.

Das Meer ist der abstrakte Stoff, der Spielmann mit seiner unendlichen Melodie ohne Wechsel die abstrakte Kraft. Und es ist hier nicht bloß ein Endbild, es ist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, alles in einem. Den Menschen mit seinen Hoffnungen und Idealen in dieses Meer hinabziehen, heißt ihn schon jetzt vernichten.

Und doch ist nichts nötig, als die Natur-Definition nur auf eine etwas größere Fülle der Phänomene zu bauen statt auf eine solche einzige skeletthafte Abstraktion, — und dieses Meer des gespenstischen Spielmannes wird zu der blauen Welle, aus der in einer Lotosblume das Gotteskind Mensch erblüht, das Kind, in dem die Gott-Natur sich selber fortschreitend neu zur Welt bringt.

Nur etwas mehr Mut braucht es in der Definition des gleichen Dings.

Hat man diese große Linie aber einmal resolut erfaßt, so ist es leicht, in sie noch eine Menge einzelner Züge hineinzuzeichnen, die jetzt alle nach der optimistischen Seite weisen.

Die Stufe der Liebe ersteht rein „natürlich“ aus der Urstufe des Gesetzes, sagte ich. Sie entwickelt sich in dem uns bekannten Weltausschnitt in der Phase, die allmählich zum Menschen hinleitet und endlich in diesem selbst gipfelt. Hier aber wird die Frage wichtig, ob dann nicht in der Stufe des reinen Gesetzes doch auch schon ein optimistisches Prinzip erkennbar gewaltet haben müsse.

[S. 51]

Diese Frage berührt allerdings zunächst das unendlich schwierige teleologische Gebiet.

Auch auf diesem Gebiete haben wir uns vorweg vor einem Irrtum zu hüten, der ebenso gefährlich werden kann wie der falsch verstandene Materie-Begriff.

Wenn ich Ernst mache mit der Behauptung, es sei der ganze Mensch ein Stück Natur, so darf ich nicht sagen: es gibt in der Natur keine Zwecke. Der Mensch handelt nach Zwecken, und also handelt die Natur auf der Stufe Mensch nach Zwecken. In einer Generaldefinition der Natur muß der Satz stehen, daß sie jedenfalls unter bestimmten Verhältnissen bewußt zwecksetzend, also im ausgesprochensten Sinne teleologisch arbeitet. Der Sieg der Liebe, von intelligenten Wesen durchgefochten, wird auf alle Fälle erreicht werden mit den Mitteln solcher Teleologie.

Andererseits bleibt aber ebenso wahr, daß lange Zeit hindurch nichts verhängnisvoller gewirkt hat, als das Hineindeuten von Zwecken in die reine Stufe des Muß.

Es war wie ein Aufatmen für die Naturforschung, als aus diesem Teil der Natur das teleologische Prinzip zunächst einmal nach Möglichkeit herausgedrängt wurde zu Gunsten einer Betrachtung reiner Kausalzusammenhänge.

Wenn ich mich überhaupt mit dem „Muß“ beschäftige, so muß dieses auch herrschen.

Jede Einmischung irgend welcher Art wäre Magie, und die zerstört das Fundament unserer anderen größten Errungenschaft: des Vertrauens in die absolute Naturlogik, in das ewige: „Gleiche Ursachen, gleiche Wirkungen.“

Gleichwohl gibt es noch eine dritte Betrachtungsweise, die eben möglich wird, weil beide Gebiete doch natürlich zusammenhängen.

Das „Muß“, das „Gesetz“, hat den Menschen und die Liebe schließlich in der von ihm allein beherrschten Welt doch auch hervorgehen lassen. Es hat eine ungeheure Entwickelungskette erzeugt, die zu diesen Höhenphänomenen hinführte. Unter diesen Umständen fragen wir uns, ob nicht mit der ersten[S. 52] Setzung dieses Muß wenigstens doch auch schon ein optimistisches Grundprinzip mit gesetzt war, das solche Blüten ermöglichte.

Wohlverstanden: ich will auch jetzt keineswegs die geschlossene Kette des Naturgesetzlichen durchbrechen mit einer hineingeschmuggelten Zweckkreuzung, einem Finger aus Numero x, der die Kette beugt.

Ich teile konsequent den Standpunkt Fechners, der immer und immer wieder seinen Hörern eingepaukt hat: alle Welt-Teleologie muß im Naturgesetz umschlossen sein, muß gesetzt sein, wenn sie besteht, durch die Naturgesetze, nicht noch einmal neben oder hinter ihnen; wenn es einen Zweck im Fall des Steines gibt, so kann er einzig und allein erfüllt werden durch diesen in der mathematisch genauen Formel der Gravitation gegebenen Fall und nicht noch einmal extra; in diesem genauen Wortsinne gibt es keine Meta-Physik, das heißt: nichts noch einmal hinter der Physik.

Aber wenn das Weltmuß an einer Stelle des uns sichtbaren Bildes in eine optimistische Linie im Sinne eines Anlaufens auf wachsende Glückseligkeit einmündet, — werden wir nicht erwarten dürfen, daß in der ersten Setzung dieses Muß bereits als ein optimistisches Ziel irgendwie gegeben war? Mit andern Worten: steckt nicht schon ein optimistisch zu deutender Faden in der Stufe des Gesetzes?

Ich glaube, daß wir ihn erkennen können. Er offenbart sich in dem eigentümlichen Zwange der Weltlogik, der das Harmonischere über das Disharmonische rein mechanisch triumphieren läßt.

Diese Logik hat noch gar nichts direkt zu tun mit Lust oder Schmerz. Sie trifft Sterne und Steine und Staubteilchen, man kann sie durchführen durch eine absolut mechanisch gedachte Natur.

Aber innerhalb dieses Mechanismus waltet sie als ganz bestimmtes Ordnungsprinzip. Sie siebt unablässig das regellose Auftauchen der Formen durch auf eine ganz bestimmte, fort und fort gesteigerte Ordnung, eine harmonische „Anpassung“ der Teile aneinander.

[S. 53]

Ihr Werk ist, daß die rein gesetzmäßige Natur nicht als ein unendlich buntes Phantasiestück, sondern bereits als ein „Kosmos“ erscheint.

Es ist die Logik, die Empedokles als Weltordner pries und die in unsern Tagen Darwin als sein Prinzip der natürlichen Auslese der Passendsten im Organischen auf den Schild erhoben hat.

Diesem Weltprinzip allein verdanken wir die Möglichkeit eines mindestens auf Jahrmilliarden stabilen Fixstern- und Planetensystems, die Grundbedingung also der uns bekannten organischen Entwickelung. Und diesem Prinzip verdanken wir zweifellos den Menschen selbst, der das Ideal geradezu einer prachtvollen Anpassungs-Auslese darstellt.

Die gewöhnliche Antwort lautet allerdings, daß dieses Gesetz der Erhaltung des Passenderen doch ganz selbstverständlich sei.

Ja, warum aber ist es selbstverständlich?

Es ist selbstverständlich, erstens weil eine Logik, eine Gesetzmäßigkeit überhaupt in der Welt ist. In einer reinen Kuddelmuddelwelt wäre es gar nicht selbstverständlich. Es ist aber selbstverständlich zweitens noch, weil in dieser Weltlogik mit ihrer ersten Setzung eine optimistische Tendenz steckt, etwas was zu harmonischen, stabilen und immer harmonischeren, stabileren Verhältnissen in der Welt drängt.

Auch dieser Gedankengang ist ein sehr schwieriger im Ausbau, den ein paar Sätze gewiß nicht erschöpfen können. Er berührt unter anderem ja die tiefste philosophische Kernfrage der ganzen Darwinschen Idee. Aber so viel, meine ich, leuchtet doch schon durch, daß auch er nur einen optimistischen Zug in das Gesamtbild fügen kann. Gleichzeitig umfaßt er aber wieder nur ein streng naturwissenschaftliches Gebiet. Läßt er sich doch sogar die extremste mechanistische Ausnutzung des Zuchtwahlprinzips im Gebiet des Lebendigen gefallen, die nur möglich ist, — ohne ein Titelchen seiner optimistischen Färbung dabei preiszugeben.

Von den einzelnen Phänomenen der Anpassung aus läßt[S. 54] sich dann wieder ein sehr klarer optimistischer Faden finden in der „Entwickelung“ der Dinge, wie sie uns unser Naturausschnitt geschichtlich weist.

Immer, solange man in Linien dieser Geschichte etwas hineinschaut durch Astronomie, Geologie, Paläontologie, Anthropologie, hat ja der Gedanke frappiert, daß es da doch eigentlich im ganzen ständig emporgehe: — vom chaotischen Nebelfleck zum Sonnensystem, von der Glutkugel zur bewohnbaren Erde, vom einzelligen Urtier zum Menschen. Und im Menschen vom Mammutjäger zu Plato und Kopernikus und Goethe.

Aber es gibt doch auch gegenteilige Meinungen, anknüpfend an die Kuddelmuddel-Definition einer völlig sinnlosen Natur.

Da erscheint diese ganze angebliche Entwickelung der Erde bloß als der Degenerationsprozeß eines erkaltenden, verfallenden Planeten. Das ganze Leben ist bloß eine Verfallsanpassung, die mit fortschreitender Erkaltung auch des benachbarten Gestirns wieder verschwinden wird. Der physikalische Satz aus der Lehre von der Entropie wird herangezogen, wonach in einer endlich begrenzten Welt schließlich die Temperaturdifferenzen sich völlig ausgleichen müßten und damit jedwedes Weltgeschehen endgültig zum Stillstand käme. Die Anpassung wird gefaßt als etwas völlig zielloses, ein ganz beliebiges Jenachdem, in dem alles gleichwertig ist, was überhaupt da ist: heute der Bacillus, morgen der Wurm oder der blinde Olm oder der Mensch.

Und doch steckt auch hier wieder gerade in der skeptischen Auffassung das eigentlich Gewaltsame, das Vergewaltigende den schlichten naturgeschichtlichen Tatsachen gegenüber.

Die Skala der Entwickelung in dem uns gegebenen zeitlichen Weltstück einfach bloß auf das Thermometer hin zu definieren, ist genau so abstrakt einseitig wie jene Skelettierung des Naturbegriffes auf „Kraft und Stoff“.

Ich lasse den Entropie-Satz dabei von vorne herein aus[S. 55] dem Spiel, da er mit einer endlichen Welt rechnet, für die natürlich alle Ideen von unendlicher Entwickelungsfolge fortfallen, die aber selber dafür auch völlig aus jedem Beweis fällt. Ich beschränke mich auf die engeren Tatsachen-Linien. Im Moment, da der Planet seine eigene Sonnenglut verliert, erwacht nach gangbarer naturwissenschaftlicher Annahme auf ihm die wunderbare Stufe des uns bekannten organischen Lebens, wahrscheinlich zuerst in jener Bakterienform, die mit ihrer gewaltigen Fähigkeit, hohe Temperaturen zu ertragen wie schaurig tiefe, noch das Kennzeichen einer weiteren, umfassenderen kosmischen Anpassung verrät. Für die engeren Erdverhältnisse richtet sich dann dieses Leben mehr und mehr ein, aber keineswegs im Sinne einer bloß passiven Anpassung.

Immer deutlicher heben sich die Versuche heraus, durch sinnvolle Ausbildung herrschend zu werden auf der Erde.

Zuerst erscheint das zerteilt über ganze Gruppen von Pflanzen und Tieren, die mit Hilfe hier dieser, dort jener Leibesorgane bestimmte Gebiete erobern: das Wasser, die Erde, die Luft, andere Wesen, Licht und Finsternis, Hochgebirge und Tiefsee, Wärme und Kälte. Wir sehen solche zersplitterten Anpassungskreise, doch schon von gemeinsamem Stamm, bei den Insekten; dann wieder den Reptilien; die wieder werden vom Typus des Säugetiers überboten. Gleichzeitig aber vollzieht sich ein wunderbares Zweites. Neben die zersplitterten Anpassungsversuche ganzer Gruppen, in denen jede eine Möglichkeit starr vertritt, stellt sich ein Bestreben, zahlreichste Möglichkeiten auf eine Form, eine Art zu vereinigen, eine Art zu konstruieren, die auf jede Bedingung der Erde zweckmäßig reagiert. Diese Art in ihrer Vollendung muß Erdherrscher im absoluten Sinne werden. Wir wissen, welche es ist: der Mensch.

Dieser Mensch ist nicht wieder eine Anpassung neben vielen wie der Käfer, wie der Olm, wie der Vogel. Er ist die absolute, die erfüllende, sämtliche Einzelversuche zusammenfassende Anpassung der Erde. Es wird ihm ermöglicht durch sein Gehirn, das im Werkzeug eine höhere, neue, überbietende Stufe des Organs schafft. Mit diesem Gehirn und Werkzeug[S. 56] wird der Mensch Erdbeherrscher. Die Erde geht auf in ihn. Seine Erde ist sie fortan. Ein Stück seiner Maschinen, ein Knochengerüst seines Werkzeugkörpers.

An jener einseitigen Thermometer-Skala gemessen fällt das Aufwachsen des Kultur-Menschen in eine Zeit schon vorgeschrittener Erkaltungssymptome der Erde, — mag er auch noch so früh in der Tertiär-Zeit entstanden sein, so fällt doch sein erster höherer Kulturanstieg, den wir kennen, zusammen gradezu mit der nachtertiären Eiszeit, — also auf alle Fälle einem gewaltigen Symptom jener angeblichen Planetendegeneration. Man sollte meinen, diese Erdperiode müßte auch die ersten sichtbaren Verfallszeichen des Lebens einleiten. Statt dessen erfindet jetzt gerade der Mensch die künstliche Feuererzeugung: der erste Schritt zu der Enträtselung und Beherrschung der Wärme überhaupt als Naturkraft.

Und nun dieser Mensch (um in den Gedankengang von oben wieder einzulenken) — dieser Mensch ist es, der sich zu der Stufe der Liebe erhebt, dieser Mensch wird Christus! Mindestens scheint das Intellektuelle ein ganz anderes Tempo seiner Bahn einzuhalten als die Thermometer-Skala als Absolutwert erwarten läßt.

Wir haben, um es immer wieder zu sagen, nur die eine einzige Naturlinie bis hierher zur Schau, nur dieses eine Paradigma und Beispiel der uns bekannten Erdentwickelung.

Aber wer will vor diesem einen Beispiel wirklich leugnen, daß es in allen seinen Zügen geradezu schreit nach einer optimistischen Deutung, die diese Liebe als das sichtbare Ziel faßt und die Naturbeherrschung und alles, was zu ihr führte, samt allen Anpassungen, Planetenwandlungen und so weiter, als das Mittel?

Wenn sich irgendwo ein reiner Kausalzusammenhang, aufgedeckt von nüchternen Naturforschern, die jede teleologische Betrachtungsweise sorgsam vermieden wie den bösen Feind, im Ganzen gedeckt hat mit diesem Endsinn, so ist es diese Entwickelung vom Nebelfleck bis auf den Menschen, der die Naturkräfte eine nach der andern in seine Hand bringt, um auf[S. 57] ihren Schultern ein Reich der verfeinerten Kultur, der idealen Menschlichkeit, der Liebe zu gründen.

— — —

So wanderten meine Gedanken in der stillen Stunde in dem alten blumenweißen Gletscherbett, während die Tropfen in den schattenkühlen Felsschrunden leise von dem letzten schmelzenden Schnee fielen.

Ich dachte an die Folgen der Jahrtausende, da Tropfen, klein wie diese, das ganze Gebirge abtragen würden. Und das hatte die Menschheit vor sich, — Zeiten, in denen Gebirge schwanden und neu wurden durch Tropfen, die ein Sandteilchen herabschwemmen und anderswo wieder antragen....

Ich dachte an die lieblichen Blütensterne dieser Anemonen — und wie viel sonst noch in eine echte Natur-Definition einginge.

Auch ein rhythmisches Kunstprinzip muß in dieser Natur stecken, das unten diese Blume gebaut hat und oben im Menschen als Raffael und Goethe und Beethoven herausgeblüht ist.

Und aus dieser Natur sollte sich nicht doch ein beglückendes, erlösendes Evangelium herauslesen lassen, — nun wir doch einmal jetzt endgültig ihr angehören durch Forschungsresultate, die keiner mehr umwerfen kann?

* *
*

(Friedrichshagen. Abendstunde daheim.)

Die stille Lampe leuchtet über allerlei bunte Farben. Ein blasses Grün, ein grelles Orangegelb.

Buchumschläge sind’s. Bücher haben sich angehäuft, während ich im Gebirge war, neue Bücher, eine ganze Schicht. Unheimlich schnell mahlt sie, diese große Geistesmühle der Menschheit. Ein paar Monate will man allein sein, mit Felsen, Bäumen, Tieren. Man schaut auf vom Traum und das Zimmer ist voll gemahlen von der Rastlosen, — wie[S. 58] Max und Moritz steckt man halb im frischen Korn. Alles riecht nach Korn.

Ich blättere. Darwinistisches, Antidarwinistisches. Das letztere kommt jetzt immer in einer gewissen Prozentziffer. Geht der Strom wirklich von hier fort? Sind wir so rasch fertig mit dem neunzehnten Jahrhundert? Mit der Idee schon, die es für seine größte hielt?

Ich muß an ein Gespräch denken, droben in den Bergen, während Rübezahl seine Wolken warf.

Wir unterhielten uns von den großen Problemen unserer Zeit. Mein Freund war ein geistvoller, außergewöhnlich kenntnisreicher, echt moderner Mensch. In allen Hauptpunkten waren wir einig über den Fortschritt, über den Kampf gegen das Veraltete, Absterbende, über den notwendigen Sieg der Aufklärung und das Wachstum freiheitlicher Ideen überall.

„Aber die Haupt-Störenfriede, die alles hemmen,“ sagte er schließlich, „sind doch der Marx und der Darwin.“

Ich wußte, was er an Marx auszusetzen hatte. Wissenschaftliche Details, wissenschaftlich diskutierbar, jedenfalls auf ernsten Fachstudien bei ihm beruhend. Ziemlich ebenso war es bei Darwin. Er war auch da Fachmann und seine eigentliche Kritik setzte wenigstens bei diskutabeln zoologischen und botanischen Einzelheiten ein.

Aber seit langem polemisierte er so auch allgemein gegen die beiden. In seinem Kopfe hatten sich die Dinge allmählich so zurecht gestellt, daß er an diese Namen wie an Symbole dachte für das Äußerste, was ihm überhaupt befehdenswert schien. Er brachte sie auch jetzt vor, daß ein unbefangener Zuhörer, der beider Werk nicht genauer kannte, sie als Trumpf auf unser vorhergehendes Gespräch auffassen mußte, — als verkörpere sich in Marx heute etwa alle Unterdrückung, soziale Unfreiheit, starre Reaktion gegenüber jedem Versuch sozialen Fortschritts; und als sei Darwin der Typus des Obskurantentums, der geistigen Vergewaltigung und Rückschrittlerei auf dem Gebiete der Weltanschauung.

Lassen wir Marx hier auf sich beruhen und bleiben bei[S. 59] Darwin. Leute, die, vor die Wahl gestellt, unbedingt für freie Ideen etwa gegenüber dem Kirchendogma eintreten würden, hauen in einer Weise neuerdings auf den Darwinismus los, als sei er plötzlich der böse Dämon.

Aus der Fachliteratur läuft das dann in die Menge. Bei halben und flachen Geistern wird der Ton „Mode“, weil er wenigstens Abwechslung bietet. Die wirklich finstern Kreise aber freuen sich, daß ein gefährlicher Name plötzlich preisgegeben ist und sie ziehen, selber mit unverkennbarer Logik, ihren Vorteil davon.

Ich bin in den letzten Jahren auch in guten, aber nicht naturwissenschaftlichen Schriften mehr und mehr einer Stimmung des Zweifels, der Unsicherheit gegenüber den Darwinschen Ideen begegnet. Man weiß nicht recht, wo selber angreifen, aber es kommt wie ein vages Echo: im Fache selbst sieht man ja schon wieder über die Sache hinaus. Der eine oder andere „Professor“ wird genannt, der bereits offen den „Zusammenbruch des Darwinismus“ lehre. Schwerwiegende neue „Tatsachen“ werden natürlich dahinter vom Laien vorausgesetzt, — Tatsachen, die Darwins Behauptungen widerlegt oder die sie doch nicht gestützt hätten.

Dabei ist es merkwürdig: der Verdacht scheint sich meist auf das eigentliche Wort „Darwinismus“ zu konzentrieren, das Wort in Anführungszeichen.

Der große Entwickelungsgedanke lebt, auch ohne Schlagwort, als das Lebendigste der ganzen Zeit in uns allen, beherrscht unser ganzes Denken und Handeln.

Jener Mann, der in Darwin den Hemmschuh sah, war praktisch ein wahrer Entwickelungsfanatiker.

So scheint es fast, als löse sich nachträglich bloß ein Wort, das Jahrzehnte hindurch die Bewegung gekennzeichnet, wieder von ihr ab. Das Wort ist aber gleichzeitig so mit ihr verquickt, daß der Mißverständnisse kein Ende werden will.

Ist es wirklich möglich, heute „Darwin“ wieder aus der großen Entwickelungs-Richtung in unserem Geistesleben herauszuwerfen,[S. 60] — wegen irgend welcher subjektiven Begleitumstände, irgend welcher naturwissenschaftlichen Fach-Einwürfe?

Oder äußert sich unter der Hülle des Kampfes gegen den „Darwinismus“ am Ende doch eine beginnende Abschwenkung von dieser ganzen Entwickelungs-Richtung, über die sich bloß manche neueren Darwin-Angreifer selber in der Tragweite noch nicht klar sind?

Ich gestehe, daß ich in dem ganzen Auftauchen und Weiterverbreiten solcher Zweifelfragen schon etwas Mißverständliches sehe.

Es ist richtig, daß im engeren Fachgebäude des sogenannten Darwinismus gegenwärtig wieder einmal besonders lebhafte Kämpfe stattfinden. Diese Kämpfe sind überaus fruchtbar und segensreich, soweit sie gewisse allgemeine Gesichtspunkte nicht ganz verlieren und soweit persönliche Gehässigkeiten herausbleiben. Aber gerade diese echten Kämpfe sind in jeder Faser etwas total anderes, als der Laie, Freund wie Feind, dahinter zu suchen beginnt.

Der Darwinismus mit diesem seinem Namen ist heute genau 44 Jahre alt, datiert vom Erscheinen des „Origin of species“ von Charles Darwin im November 1859.

Wenn Darwin noch lebend unter uns weilte, so würde er ganz zweifellos der erste sein, der jenen heute fortbrennenden Fach-Zwist mit Freuden, ja mit Genugtuung begrüßte. Er würde in ihm nichts anderes finden als sein eigenes Entwickelungsprinzip, das unablässig weiterwaltet, — das sich jetzt auf einen Fels rettet als die endlich erreichte Feste, — und das morgen diesen Fels selber anbohrt, um abermals weiter zu kommen.

Darwin hatte in eigner Bahn die volle Wucht gefühlt, was es hieß, einen Ideengang umwerfen. Er hatte sich zuerst von der Theologie freigemacht, immerhin das noch ohne allzuviel Nöte. Dann war er in die strenge Wissenschaft gekommen, als halber Dilettant zunächst. Seine ganze Sorge war, sich nur überhaupt als berechtigt zur Fachforschung zu erweisen. Inmitten dieses Strebens aber geht ihm auf, daß[S. 61] ein allgemein angenommener Lehrsatz dieser Wissenschaft, der Satz von der Unveränderlichkeit der Tier- und Pflanzenarten, falsch sei.

Immer ist es ihm als etwas Ungeheures erschienen, daß er gerade berufen sein sollte, so verwegen den Revolutionär zu spielen.

Sein endloses Zögern, das seinen Ruhm bedroht hat, vielleicht zum teil selbst seine physische Krankheit hingen damit zusammen.

Doch er wagt es, muß es als ehrlicher Mann wagen, und er bricht durch. Er erlebt mit einem gewissen Grauen, daß ein einzelner den Kampf aufnehmen kann mit einer ganzen, über lange Jahrhunderte heraufkommenden Wissenschaft und daß er siegen kann.

Nie hat er das vergessen. In allem Triumph seiner Lehre, wo mancher vom Weihrauch erstickt wäre, schaut er beständig sich nach dem Manne um, der nun ihn wieder umwerfen wird. Er rechnete mit der Wissenschaft, die er an einer Stauungsstelle entfesselt hatte, und die ihn dafür verschlang, indem sie auch über seinen Fleck strömte.

Buchstäblich hat er die ganzen Jahre seines rauschenden Erfolges gegrübelt, wo er sich geirrt haben könnte. Hinter den späteren Auflagen der „Entstehung der Arten“ glaubt man einen Menschen zu sehen, der beständig aus dem Schlaf aufschreckt mit dem Gedanken: „Ich habe etwas vergessen.“

Wenn ich mir heute den Alten von Down denken soll, wie er in irgend eine zoologische Sektion tritt, zwischen einen Kreis junger, leidenschaftlich schimpfender Entwickelungs-Mechaniker, er könnte nur mit den Worten kommen: „Na endlich, Kinder, seid ihr endlich drauf, wo die Sache hapert!“

Ob er freilich grade diese Einwürfe anerkennen würde, wäre ja eine andere Frage. Sicherlich aber würde er eins vorweg betonen.

Wenn ich in den Kampf der Meinungen heute offen hinaustrete — hinaus aus der Studierstube in die große ringende Welt — so finde ich zwei Dinge im Streit, im unversöhnlichen[S. 62] Streit. Zwei Weltanschauungen mögen wir sie nennen. Man könnte ziemlich ebenso gut auch sagen: zwei Geschichtsepochen, die heute beide nebeneinander (noch und schon) Vertreter haben.

Nach der einen Ansicht ist die Welt ein Ding unter einer Käseglocke. Jenseits der Glocke schaltet und waltet etwas absolut anderes. Es holt heraus, stellt hinein, macht was es will. Drunten rechnen sie, inventarisieren sie. Droben wird nicht gerechnet und aus dem Droben kommt, in das Droben geht ein unbegrenzter loser Inventarbestand. Wenn das „Droben“ will, so rauscht von der Glocke der Wind, rinnt der Regen. Und jeder Windstoß, jeder Regentropfen kommt eigentlich als „Wunder“. Das Droben setzt Tiere herunter, heute Trilobiten, morgen Ichthyosaurier, übermorgen Menschen. Und zu den Menschen übermenschliche Wesen noch wieder von jenseits der Glocke. Alles als unberechenbares Wunder. In der Existenz der Glocke steckt ein ewiger Riß, eine immer erneute Unfaßbarkeit, ein Hin und Her, das uns Menschen keine andere Rolle finden läßt, als die Hände in den Schoß legen und resigniert abwarten, was kommt.

Dem gegenüber steht ebenso schlicht die Anschauung, daß es keine Käseglocke gibt. Daß alles eins ist im Sinne des Ur-Zusammenhangs. Das Drüben, das die Schäfchen und die Bäumchen setzt, sind diese Schäfchen und Bäumchen selbst, es ist nicht noch einmal besonders da. Wir selbst sind wir selbst. Alle Dinge der Natur, der Welt, sind da bloß als Ausfluß von Eigenschaften dieser Natur.

Nun blicken diese beiden Ansichten in die Geschichte zurück.

Die eine sieht da dieselbe Willkür. Eingriffe von jenseits der Glocke. Unberechenbare. Was ist ihr überhaupt die Gewähr des Geschichtlichen? Jene Übermacht ohne Raum und Zeit könnte auch rückwärts ja noch einmal hineingreifen.

Die andere aber gerät unabänderlich auf den Begriff natürlicher Entwickelung. Weil es überhaupt eine Geschichte, eine Zeitenfolge gibt, die eins an Stelle des andern zeigt; und weil es ihr nichts gibt als die Dinge selbst; so folgt ihr[S. 63] einfach Wandel dieser Dinge: Entwickelung. Hier steht etwas. Morgen etwas anderes. Aus der Versenkung ist nichts gekommen. Folglich hat das eine sich entwickelt zum andern. Zu den Eigenschaften der Natur gehört auch Werden, Verwandlung, Entwickelung. Und die Geschichte ist das Reich dieser Eigenschaft.

Nun denn: in den Kampf dieser beiden Grund-Meinungs-Verschiedenheiten greift auch nicht eine einzige jener „neuen“ Tatsachen oder Ideen ein, die heute den Mittelpunkt der Fachkämpfe um den Darwinismus bilden.

Ob die Zuchtwahl-Theorie richtig ist. Ob ältere Lamarcksche Ansichten besser sind als die neueren Darwinschen. Ob es eine Vererbung erworbener Eigenschaften gibt. Was Vererbung ist. Wie die ersten Varianten entstehen, aus denen der Kampf ums Dasein nach Darwin ausliest. Ob neue Arten entstehen aus den einfachen Variationen oder (im Sinne von de Vries) aus plötzlichen Mutationen. Ob die bisher aufgestellten Entwickelungsgesetze der organischen Welt sämtlich falsch sind. Ob alle bisher entworfenen Stammbäume verkehrt sind. Ob der Haeckelsche Zusammenhang von Ontogenie und Phylogenie stimmt oder nicht. Ob selbst die Methoden, mit denen man bisher solche Gesetze, solche Stammbäume gesucht, alle grundirrig sind. Ob es ganz neuer experimenteller Wege bedarf, um nur erst einmal das Anfangsmaterial dazu notdürftig zu erlangen. Ob wir seit und mit Darwin in einem Überschwang von geistreichen Konstruktionen geschwelgt oder ob wir, wie andere meinen, in dürrer Heide uns im Kreise herumgetrieben und das Nächstnötige noch gar nicht gesehen haben. Ob es in der einheitlichen Natur als Grundeigenschaften dieser Natur noch zweitausend verschiedene Entwickelungsgründe, Entwickelungsgesetze, direkte oder indirekte Wege der Umwandlung gibt, von denen die ganze Darwinsche Richtung keine Ahnung besessen hat. Und so weiter. Das alles und noch ungezähltes mehr, das jüngere, besonders höfliche Kritiker heute gelegentlich veranlaßt hat, Darwin einen Tropf zu nennen und alle seine Schüler in Haeckel’s Richtung[S. 64] samt diesem unwissenschaftliche Stümper, hinter die die ganze Entwickelungsforschung erst wieder zurückgehen müsse, wenn je etwas aus ihr werden solle, — — das alles miteinander hat nämlich auch nicht die leiseste Beziehung zu jenem General-Zwist der beiden Weltanschauungen.

Es kann sie nicht haben, denn dieser Zwist ist viel älter als Darwin, er ist weder entfacht noch beendet durch Darwin, er ist viel größer, viel umfassender, viel tiefer als Darwin.

Und in ihm haben noch ganz andere Leute mitzureden als bloß naturwissenschaftliche Spezial-Forscher.

Im neunten Bande der großen Weimarer Goethe-Ausgabe (S. 268–79) steht ein loser Entwurf, ein „Schema“, von Goethes Hand, mutmaßlich von 1806.

Er gibt die Grundzüge einer Kosmogonie auf Grund natürlicher Entwickelung, oder wenigstens des ersten Kapitels einer solchen. Die Erde erscheint zuerst als Stern. „Als ein Wandelstern. Die neuen Erfahrungen zeigen das Universum selbst nicht als fertig. Die Nebelsterne sieht man als Massen werdender Welten an. Ja den Jupiter als nicht erstarrt. Die Kometen, die man ehemals als Weltenzerstörer ansah, betrachtet man als werdende Erdkörper.“ So geht das weiter. Die Erde erstarrt. Die Urwasser schlagen sich nieder. „Sinken des Wassers. Hervortreten des Soliden. Gebirge im Kreuz.“ Der Granit erscheint als das frühste Gebirge. Überall ist „eine genetische Betrachtung wünschenswert.“ „Alles was wir entstanden sehen und eine Succession dabei gewahr werden, davon verlangen wir dieses successive Werden einzusehen. So wie die wahre Geschichte überhaupt nicht das Geschehene aufzählt; sondern wie sich das Geschehene auseinander entwickelt und darstellt.“

Goethe verwarf die Katastrophen in der Erdgeschichte, weil sie ihm nicht genug Entwickelung enthielten. Er predigte die Lehren Lyells lange vor Lyell; er begrüßte Lyells großen deutschen Vorgänger, Hoff, als einen, der endlich in seine (Goethes) Bahn einlenke.

Man fragt sich, wie jener Entwurf, der leider beim Gestein[S. 65] abbricht, ohne je ausgeführt zu werden, ins Organische hinein hätte weiter gehen können. Und es ist nur selbstverständlich, daß er auch da Entwickelung annahm. Goethe hat ja an anderen Orten seine Ansichten auch darüber klar genug ans Licht gestellt. Inwiefern seine engeren Ideen über den Weg dieser Entwickelung von der späteren Darwins abwichen, ist dabei sehr belanglos. Er dachte sich wohl, daß gewisse Grundtypen des Lebendigen naturgesetzlich bestimmt zu ihrer Zeit auf der Erde anschießen wie Krystalle. Die äußeren Umstände, das Milieu, die Lebensweise modelten dann im Einzelnen während des Werdens an der Reinheit dieser Krystallformen, bis das unendlich wechselvolle Spiel der heutigen verschiedenen Tier- und Pflanzenarten entstand. Man kann sich bei dieser Auffassung über die Gesetze streiten, nach denen der Typus sich bildet. Aber man kann sich ja auch in der Mineralogie über die Gesetze streiten, die dort die anorganischen Krystalle bilden, und heute noch weiß keiner da Rat.

Das Wesentliche bleibt, daß beides innerhalb der Natur gedacht wird. Jenes ganze Weltbild, zu dem Darwin nur ein letztes Stiftchen hinzutun konnte, war unzweifelhaft in Goethes Tagen schon vollkräftig da.

Wie sollte es nicht.

Wenn man das übernatürliche Eingreifen von jenseits der Käseglocke auch nur auf einen Moment vergißt, so werden Entwickelungstatsachen auch dem schlichtesten Sinn sofort übermächtig.

Unser eigenes Leben unterliegt der Entwickelung; zwischen Kind und Mann, Mann und Greis liegt nicht ein göttlicher Wunderakt, sondern eine kontinuierliche Folge.

Wie unsagbar einfach ist die Lehre der Geschichte. Ist der heutige Franzose aus dem alten Gallier entstanden durch glatte Entwickelung oder trennt die beiden ein mystisches Wunder? Sind die romanischen Sprachen, ist das heutige Schriftdeutsch nicht kontrollierbar „natürlich“ durch Entwickelung herauf gekommen? Zu solchen Gedankengängen ist kein Darwin erst nötig gewesen. Man kann die ganze Ideenunterlage zum[S. 66] „Darwinismus“ in diesem Sinne aus Goethes „Wahrheit und Dichtung“ oder aus Schlossers Weltgeschichte lernen, ohne den „Origin of species“ je gesehen zu haben.

Aber Bücher sind überhaupt nicht dazu nötig.

Wie oft bin ich gefragt worden, ob mich nicht manchmal ein Bangen anwandle, wenn ich mir sagen müßte, auf was für verwickeltem, spitzfindigem, haarspalterischem biologischen Material meine „darwinistische“ Weltanschauung im Grunde beruhe. Wenn nun ein Stäbchen wankt, hieß es, eins von den ganz zerbrechlich dünnen der biologischen Fachforschung, irgend so ein Sätzchen aus der Zellenlehre, ein statistisches Zifferchen über Variieren der Arten, ein Müschelchen oder Zähnchen der Paläontologie? Und das immer als Stoß in der Weltanschauung zu fühlen, im Heiligsten, das man für sich selbst, über sich selbst hat! Jeden Morgen zittern, wenn der Briefbote kommt und eine grüne oder blaue Broschüre bringt: ob da nicht der ganze „Darwinismus“ doch jetzt den Gnadenstoß hat durch ein Knöchelchen in einer verkehrten Erdschicht, oder eine neueste Superklugheit über den Zellkern, oder einen Froschembryo, der zwischen zwei quetschenden Glasplatten aufgezogen ist, — zittern um den Zusammenbruch der ganzen Weltauffassung!

Und wie oft habe ich diesem wohlmeinenden Bedauern lachend entgegnen müssen, daß meine Welt- und Lebensanschauung über Entwickelung im Gegensatz zum Wundereingriff gar nicht aus dem „Darwinismus“ in diesem Sinne stamme, also auch nicht mit ihm fallen könne, — zugestanden selbst einmal (wozu nicht der geringste Anlaß ist), der ganze Darwinismus fiele heute oder morgen durch eine solche Einzelheit.

Der Entwickelungsbegriff, auf dem ich nicht meine biologischen Spezialüberzeugungen, sondern meine Weltanschauung aufbaue, fließt mir aus der persönlichen Erfahrung meines ganzen Lebens zu, nicht aus Büchern.

Als ich ein Kind war, habe ich gelernt, daß die weiße Blüte, die über Nacht an den Birnbaum im Garten gekommen war, nicht durch ein Wunder vom Himmel gefallen war, sondern sich aus der Knospe entfaltet hatte. Ich habe gelernt,[S. 67] daß die Suppe nicht per Wunder aus einer mystischen Versenkung kam, sondern aus dem Kochtopf, wo sie sich aus bestimmten Substanzen unter bestimmten Bedingungen vor meinen Augen entwickelte.

Als ich älter wurde, bildete das ganze Leben nur eine einzige fortgesetzte Weitererziehung nach dieser Seite.

Ich saß im Hörsaal und hörte griechische Geschichte vortragen. Ich hätte die Gesichter der Studenten sehen mögen, wenn unser scharfsinniger Dozent bei der Darstellung des „Peloponnesischen Krieges aus den Quellen“ plötzlich hätte den klaren Verlauf der Dinge durchbrechen wollen mit dem Satz: die Armeen in dieser Schlacht, die Verteidigungsmauern dieser Stadt, die Kasse, die diese Mittel lieferte, stammten nicht aus den und den gegebenen Verhältnissen, sondern sie waren plötzlich per Wunder da. Gegen diesen Dozenten wäre eine Disziplinaruntersuchung eingesetzt worden, die ihn schleunigst seines Amtes enthoben hätte.

Ich wohnte einer Gerichtsverhandlung bei und hörte die Rede des Staatsanwalts. Gibt es eine blasseste Möglichkeit auch nur, sich auszudenken, daß ein Staatsanwalt in der logischen Entwickelungskette eines Indizienbeweises vor einer Mordtat irgendwo das „Wunder“ einführen sollte anstatt einer ursächlichen Begründung aus den Verhältnissen und dem Zusammenhang?

Es ist einfach jede Minute und jede Regung meines Lebens, es ist mein ganzes Ich als objektive Erfahrung aus so und so viel Jahren, was ich in die Wagschale lege, wenn ich mich für eine natürlich-einheitliche Weltanschauung und einen natürlichen Entwickelungsbegriff entscheide, — nicht ein Paragraph oder eine Figur aus einem modernen biologischen Lehrbuch.

Gewiß, auch mein ganzes Wissen steckt darin und dabei selbstverständlich auch mein ganzes Naturwissen. Aber es ist nicht das Erste, sondern erst das Sekundäre jenseits der unmittelbar eingepaukten Lebenserfahrung.

[S. 68]

Und es ist wieder in diesem Naturwissen zunächst noch lange nicht Darwin oder irgend etwas mit seinem Gebiet auch nur Zusammenhängendes der engere Fels, auf den ich das Stück meiner Weltanschauung baue, das speziell zur Naturforschung gehört. (Ein armer Kopf, der seine Weltanschauung bloß auf „Naturwissenschaft“ im Fachsinne bauen wollte!) Lange vor Darwin, Jahrhunderte vor Darwin, hat aber auch die Naturforschung den Begriff geschaffen, der allerdings ein Pfeiler jeder einheitlichen Weltanschauung ohne Wunderbegriff sein muß: den Begriff der Naturgesetzlichkeit.

Das simpelste Experiment gelingt nicht ohne ihn, die alltäglichste wissenschaftliche Rechnung bis in ein so banales Ding wie das Benutzen einer Uhr hinein ist ein Kinderspott ohne ihn.

Er ist gewissermaßen die exakte naturwissenschaftliche Formel für jenes große Massenbild unserer Lebenserfahrungen.

Die stärksten Geister der neueren Zeit haben gerungen, diesen Begriff zu klären, zu festigen als Formel, und sie haben damit allerdings jener zunächst intuitiv erlebten Weltanschauung einen Bewußtseinsausdruck gegeben, der heute leicht als ihre festeste Säule erscheinen kann.

Diese Naturgesetzlichkeit ist es, auf der sich Goethes Idee von der Gott-Natur erhebt, und von der Fechner gesagt hat, daß sie der einzige strenge Beweis vom Dasein Gottes sei; auch er meinte natürlich Gott im Sinne der einheitlichen Gott-Natur, und seinem klaren Denkerkopf mußte folgerichtig das „Wunder“ umgekehrt als Beweis erscheinen, daß es keinen Gott, d. h. keine Einheit in der Welt gebe.

Das alles steht vor Darwin, wie Newton und Galilei vor Darwin stehen und so viele, die für diesen Begriff der Naturgesetzlichkeit gelebt, gefochten, geblutet haben.

Erst auf einem weiten Wege von da komme ich zu Darwin und ich komme zu ihm mit einer im Prinzip bereits vollkommen fertigen Weltanschauung, an der er im Ganzen nichts mehr ab-, noch zutun kann.

[S. 69]

Zweifeln wir doch nicht: er selber ist an seine eigenen Spezialgedanken über Entwickelung der Tiere und Pflanzen auch schon seiner Zeit ebenso damit herangekommen als echt moderner Mensch.

Seine Idee war, einen Gedanken, den das Leben und all sein Wissen ihm sonst genugsam eingepaukt hatten, auch in eine Spezialecke zu treiben, wo man sich ihm durch eine sonderbare Konstellation der Dinge bisher hartnäckig verschlossen hatte: nämlich in die Entstehung der wechselnden Tier- und Pflanzenarten auf Erden bis zur Tierart Mensch herauf.

Zweierlei hat er dann versucht, und im Prinzip also jedenfalls versucht im Sinne und zu Gunsten einer monistischen Entwickelungs-Weltanschauung, wenn auch keineswegs als erstes Fundament einer solchen im Menschheitsdenken.

Zunächst hat er versucht, die natürliche Entstehung der Tier- und Pflanzenarten nicht bloß als allgemeine Weltanschauungs-Folgerung zu behaupten, sondern sie in sich so reinlich herauszuarbeiten, daß sie schließlich selber als Exempel für die ganze Allgemeinidee gelten und wirken könnte.

Dann hat er im notgedrungenen Zusammenhang damit einen höheren naturgesetzlichen Zusammenhalt gesucht, der als „Gesetz“ diese biologische Entwickelungslinie beherrscht und gelenkt haben könnte; das war für sein Vermuten die natürliche Selektion oder Zuchtwahl.

Fragt sich, ob er in beidem das Rechte getroffen hat.

Das erste könnte ihm mangels ausreichenden Materials mißlungen sein.

Im zweiten könnte er sich über das spezielle Naturgesetz getäuscht haben, wie es so und so viel Forschern auf andern Gebieten gründlich und häufig auch passiert ist, ohne daß deshalb jemand Lärm gemacht hätte, die naturgesetzlichen Prinzipien der Forschung seien überhaupt erschüttert und die (unter anderm auch hier verankerte) natürliche Weltanschauung sei bankerott.

[S. 70]

Immerhin läßt sich nach 44 Jahren mit kühlem Kopfe diese Doppelfrage stellen.

Vor diesen beiden Möglichkeiten setzt der heutige Kampf um Darwin ein, — kein Weltanschauungs-Kampf mit hie Entwickelung, hie Wunder. Sondern eine höchst interessante Debatte mit zwei schlichten Fragen: erstens ob sich von der Entwickelung auch an dieser (über ein paar hundert Jahrmillionen verzettelten) Ecke heute schon oder noch ein Bild gewinnen läßt; — und zweitens, ob in diesem Bilde die natürliche Zuchtwahl eine Rolle spielt.

— — —

Als Darwin, gedrängt von der ganzen Geistesrichtung seiner Zeit, sich mit dem Entwickelungsgedanken in die Geschichte der Tier- und Pflanzenwelt wagte, stieß er dort, wie gesagt, auf eine in jeder Hinsicht außergewöhnliche Situation.

Zwei Dinge waren in unvereinbaren Widerspruch miteinander geraten.

Auf der einen Seite stand das Dogma, daß die Arten in der Geologie und Botanik unveränderlich, konstant seien.

Auf der andern wies die neuaufgeblühte Geologie nach, daß beim Zurückgehen in frühere Epochen der Erdgeschichte das Bild der Tier- und Pflanzenwelt tatsächlich ein anderes wird, daß andere Arten erscheinen wie heute, während die heutigen durchweg noch fehlen.

In der Not hatte hier, unwissenschaftlich genug, eine Weile wirklich das „Wunder“ herhalten müssen. Die Art war in sich konstant. Aber ab und zu im Laufe der Jahrmillionen kam eine Hand von jenseits der Glocke, brach allem Vorhandenen den Hals und setzte neue Arten herunter.

Darwin trat dem entgegen, nicht eigentlich als Revolutionär, wenn man die Dinge ganz streng mißt, sondern einfach als Vertreter der schlichten wissenschaftlichen Methode, wie sie für alle anderen Zweige der Forschung längst fest eingeführt war.

Vom Boden einer Naturgesetzlichkeit, erklärte er, ist der Ausweg des Wunders unzulässig. Zulässig ist dagegen, anzunehmen, daß ein wissenschaftliches Dogma falsch sein könne,[S. 71] — in diesem Falle das Dogma von der Konstanz der Arten. Es kann eine natürliche Entwickelung von Arten zu anderen Arten stattgefunden haben, — und das würde in Einklang mit der Geologie sein.

Die Geologie wurde damit von einer Art Ketzerrolle befreit, zugleich wurde ihr aber auch eine große, neue, positive Aufgabe zugewiesen. Gab man ihr zu, daß Arten sich entwickelt haben könnten, so schien nun ihr der Beweis obzuliegen, daß es tatsächlich der Fall gewesen sei.

Mit Forderungen an die Geologie aber ist es eine seltsame Sache.

Es ist das hübsche Los aller Wissenschaften, die auf den Zufall historischer Dokumente angewiesen sind, daß „Fordern“ in ihnen einen komischen Beigeschmack hat. Ich suche Daten über Wallensteins Leben und finde die vollständigen Akten über Herrn Müller oder Schulze, die dessen Leben bis in jeden Punkt aufhellen. Ich suche schmerzlich Angaben über das mir größte Ereignis des Altertums, die Taten Christi; der Vesuv liefert mir eine ganze römische Stadt mit Haut und Haaren aus und in dieser ganzen Stadt hat man von Christus keine Notiz genommen.

Der Laie sieht ein prachtvolles Museum aufgebaut: geologische Fundstücke aus dem Leben der Vorwelt. Er kommt mit der Idee Darwins zwischen die Megatherien und Ichthyosaurier und verlangt, daß ihm die gesamten Darwinschen Übergangsketten, die in der Entwickelung jede Tierart mit der nächsten verknüpfen, vorgezeigt werden. Man zuckt die Achseln, und nun fängt er an zu schmollen. 44 Jahre nach Darwin und noch immer dieses Material nicht zur Stelle? Da ist es doch wohl mit dem ganzen Darwin nichts.

In Wahrheit ist unsere gesamte Versteinerungskunde heute wenig über 100 Jahre alt. In den letzten 50 dieser Jahre, also auch in der Ära Darwin, hat sich trotz alles Aufblühens an gewissen Dingen für sie gar nichts geändert und es wird sich noch lange nichts, zum teil nie etwas daran ändern.

[S. 72]

In den 50 ersten so wenig, wie in den 50 letzten Jahren des Jahrhunderts haben ihr, die mit vielen Millionen von Jahren rechnet, auch entsprechende Millionen von Mark zur Verfügung gestanden.

So ist ihre Materialsuche Stückwerk ohne jedes systematische Vorgehen geblieben. Ihr Stoff, die ganze Masse dessen, was an alten Tier- und Pflanzenresten überhaupt erhalten ist, durchsetzt, oft in homöopathischer Verdünnung, alle jüngeren Schichtgesteine der Erde. Dieses Musterbuch ganz zugänglich machen, hieße nichts viel anderes, als die ganze Erdrinde abblättern, aufrollen von den höchsten Alpengipfeln bis unter die Sohle unserer heutigen tiefsten Bohrlöcher, — nicht zu vergessen den Boden aller Ozeane und den Sockel der polaren Eiskappen.

Erst wenn die Millionen, die Arbeitskräfte, die technischen Erfindungen da vorhanden und die Sache geleistet wäre, könnten wir von einer ersten Inventaraufnahme sprechen, die dann auf Darwin zu prüfen wäre.

So, wie die Dinge liegen, sind wir bisher trotz der 100 Jahre auf ein paar Stichproben angewiesen. Ein Schieferblock etwa wie der Solnhofener lithographische Stein, der eine prachtvolle ganze Schriftseite der Jura-Zeit liefert, ist zu technischen Zwecken wirklich im Abbau und steuert langsam sein Teil zu. Hier, dort hat ein Privatmann sein Geld und seine Energie ähnlich auf einen einzelnen Punkt konzentriert. Punkte gegen eine Erde!

Schon diese Stichproben haben aber genügt, um etwas noch viel Fundamentaleres, selbst mit allen Milliarden aller Staatskassen der Welt Unverrückbares zu offenbaren.

Das in der ganzen Erdrinde versteinert Erhaltene ist überhaupt nur wieder eine Stichprobe dessen, was lebendig da war.

Sicherste Anzeichen lehren das. An sich ist es ja ein wahres Wunder anstatt einer dicken Wahrscheinlichkeit, daß überhaupt etwas so erhalten ist. Der Laie hat da gut fordern. Wenn ich ein paläontologisches Museum besuche, so ist mir immer wieder das staunenswerteste Rätsel, daß das alles die[S. 73] ungezählten Zerstörungsmöglichkeiten in Jahrmillionen überdauert hat. Um so selbstverständlicher, daß schließlich Grenzen kommen. Es ist im ganzen doch nur ein kleiner Bruchteil, eben eine Stichprobe, da.

Das Wort Stichprobe paßt aber wieder in anderem Sinne schlecht dabei. In so und so viel Fällen geht es wie oben in dem Beispiel: ich steche auf Wallenstein und dringe in die Käserechnungen des Herrn Schulze. Wenn die Stichproben mich nun aber gar unzweideutig lehren, daß Wallenstein überhaupt nicht mehr dabei ist? Diese Sachlage steht fest für das ganze Altbuch der Paläontologie.

Da liegen ungeheure Schichtgesteine, die sogenannten krystallinischen Schiefer. Jede Spur von Versteinerungen ist nachträglich darin gelöscht, — durch irgend einen seltsamen Prozeß, der das Gestein durcheinander gearbeitet hat, vielleicht die Wärme, die bei der nachträglichen Zusammenziehung des Erdballs entstand, es gibt da nur Vermutungen. Was wir auch wollen: wir müssen bei allen geologischen Streifzügen abwarten, bis diese verwunschene Schichtenfolge aufhört, erst dann setzt die Möglichkeit von Versteinerungsfunden ein. Das Leben der Urzeit selber aber hat offenbar keineswegs die Freundlichkeit gehabt, für uns so lange mit zu warten. Als der Vorhang für uns endlich, mit der kambrischen Epoche, aufgeht, ist es schon im vollen Spiel. Ja, fast hat es den Anschein, als schneiten wir mindestens in den vierten Akt. Von Entwickelungsanfängen kann keine Rede mehr sein. Schon treten Muscheln, Stachelhäuter, hoch organisierte Krebse, ja gar bald bereits Fische auf. Aus den Steinabdrücken werden wir nie erfahren, durch welche Formreihen hindurch sie sich entwickelt haben könnten, denn tiefer geht unser irdisches Dokument überhaupt nicht.

Was heißt hier „fordern“?

Fordern wir vom Astronomen, daß er uns die Rückseite des Mondes zeige und machen wir davon den Wert der Astronomie abhängig! So ist es genau mit dem Darwinismus[S. 74] in der Geologie jenseits der ersten Muscheln und Trilobitenkrebse.

Auf solche Löcher im Material hat schon Darwin selbst hinweisen müssen. Geändert hat sich aber in den 44 Jahren seither nicht das Mindeste daran, — so wenig wie unsere Astronomie in den Jahren hinter den Mond gekrochen ist.

Es gibt aber noch mehr Lücken.

Als man zuerst Tier- und Pflanzenabdrücke fand und noch in biblischer Treue dabei nur an die Sintflut dachte, bürgerte die Idee sich ein, alles Versteinerte sei das Resultat irgend einer jähen Katastrophe, einer großen Wandlung im Erdenleben: verschüttete Wälder, in Hekatomben verunglückte Tiere. Einzeln ist es auch wohl so gewesen, in der Regel nicht. Die Regel zum Zustandekommen von Versteinerungen war gerade das Gegenteil: lange Epochen größter Ruhe und Regelmäßigkeit. Wälder von kryptogamischen Gewächsen grünen Jahrhunderttausende am gleichen Fleck und bilden eine ungeheure Torfschicht; die bleibt als Steinkohle erhalten. In eine seichte Bucht (wie die von Solnhofen) rinnen kalkhaltige Bäche, häufen in endlosen Zeiten immer neue ungestörte Häutchen feinsten Schlicks übereinander; an diesem Ort muß ein wahres Paradies an Ruhe gewesen sein und sein Ergebnis ist das wunderbare Bilderbuch im Schiefer abkonterfeiter Quallen, Libellen, Krebse, Fische und Urvögel. Gesellige Korallentiere bauen in ungestörter Ruhe berghohe Riffe; sie tauchen bei Faltungen der Erde in die Tiefe und liegen unzerstörbar. In den Abgründen der Tiefsee, tausende von Metern tief, lagern sich die mikroskopischen Schälchen einzelliger Wesen ab zwischen Seelilien, deren schwanken Stiel hier unten kein Sturm bedroht, — auch ein Reich des Friedens, stationär bis zu dem Maße, daß es seit Jahrmillionen bis heute fast das gleiche Gesicht, immer die gleichen Anpassungen und Formen, zeigt; aus solchem Tiefseeschlamm ist die weiße Kreide geworden, die selbst dem Laien durch die Masse ihrer Versteinerungen auffällt.

[S. 75]

Gerade diese Zeiten der Ruhe, des unendlichen gleichartigen Fortzeugens bestimmter Arten sind es aber nicht, die der Darwinismus sucht!

Er möchte die Reste sehen der unruhigen Zeiten, die auch äußerlich, im Bilde der Erdverhältnisse, sei es lokal oder im ganzen, bewegt, im Fluß und beeinflussend erscheinen. In solchen Zeiten gab es nach ihm Wandel der Formen, Zwang zu neuer Entwickelung, veränderte Anpassungen, Degenerationen und Aufschwung. Aber grade die Spur ist verwischt — wegen der Unruhe. Erst nach langer Zeit, wenn alles sich so in Gleichtakt gesetzt hat, daß wieder viele Jahrtausende lang immer die gleichen Gewächse ihre Stämme im Torf begraben, dieselben Müschelchen in Millionen Generationen sich im Teichschlamm ablagern, geht von neuem in solcher Dauerschicht der Ruhe der Vorhang wieder für uns auf. Wir sehen dann wohl, daß alles ein Stück anders, ein Stück weiter ist. Aber grade der Zwischenakt fehlt uns in Spuren, auf die wir die Hände legen könnten.

Es ist eine bitterernste Wahrheit, daß das, was man hat, hier nichts beweist und daß man das, was beweisen könnte, nicht hat.

Nicht Darwin, sondern das Dilemma in unserm geologischen Material hat diese Ironie geschaffen.

Denken wir uns, in der Geschichte fehlte uns die Völkerwanderung. Wir hätten Pompeji und dann wieder unvermittelt das Reich Karls des Großen. Oder die Mumie eines römischen Cäsars und unmittelbar darauf das Grab eines Papstes, ohne Kenntnis des Christentums. Es gibt ja Orte, wo auch die Geschichtsdokumente ganz ähnlich abrupt aufeinanderliegen: im Lehmboden von Höhlen geraten einsinkend die Scherben von Porzellantassen moderner Kulturnomaden, vielleicht von Bahnarbeitern, die dort einmal bei Regenwetter ihren Kaffee gekocht haben, unmittelbar zwischen Knochen des Höhlenbären und Steinbeile der Mammutzeit. An Wunder glaubt aber hier niemand, bloß an Lücken der Überlieferung.

[S. 76]

Grade bei solchem Sachverhalt ist es aber doppelt merkwürdig, doppelt lehrreich, daß sich nun dennoch — in Umkehrung des eigentlich Selbstverständlichen — darwinistische Züge in der Geologie haben aufweisen lassen.

Das erste, was immer wieder auffallen mußte und muß, ist eben die nachträgliche Existenz immer wieder so vieler neuer Tier- und Pflanzenformen von Epoche zu Epoche.

Haben wir auch durchweg nur Dauerbilder, so sind eben doch diese Dauerbilder stufenweise immer wieder verschieden.

Und dabei sehen wir klar, daß nicht etwa ein absolutes Muß der Verwandlung vorlag. Einzelne Tierformen sind tatsächlich viele Jahrmillionen bis heute unverändert stehen geblieben: die Gattung Ceratodus (Molchfisch) seit der Triaszeit; die Gattung Lingula (ein wurmartiges Tier in muschelähnlichen Schalen) gar seit jener kambrischen Epoche, mit der all unser Wissen beginnt. Warum ist nicht alles in dieser Weise seit Beginn seiner Existenz beim gleichen Leisten geblieben? Woher neben wenigen solcher Überlebenden mit jeder Epoche die Unmasse neuer, andersartiger Typen?

Und dabei ein weiterer, jetzt der eigentlich durchschlagende Zug.

Es zeigt sich, hält man Dauerbild zu Dauerbild von Epoche zu Epoche, ein Ansteigen von Unvollkommenerem zum Vollkommeneren.

Wir können da freilich nicht eigentlich von unten beginnen, da uns ja der ganze Anfang fehlt. Die kambrische Epoche setzt, wie gesagt, mit bereits relativ hohen Typen ein. Aber von da erleben wir doch noch ein Stück wenigstens mit.

Bis gegen die Sekundärperiode sehen wir ungeheure Gebiete der Erde bedeckt mit Wäldern farrnähnlicher kryptogamischer Pflanzen, also einer niedrigen Flora. Ganz allmählich erst treten dazu die systematisch niedrigsten Phanerogamen: Nadelhölzer und Palmfarrne. Erst in der Kreidezeit kommen auf einmal die höheren Blütenpflanzen.

Ganz ähnlich steigt der höchste Stamm der Tiere stufenweise von Bild zu Bild an, der der Wirbeltiere. Er erscheint[S. 77] mit Fischen, nur Fischen. Dann werden höher hinauf amphibische, reptilische Wesen sichtbar, erst urtümliche, dann vollkommenere. Vögel wie Säuger treten erst in der Sekundärzeit, viele Millionen von Jahren nach dem kambrischen Anfang, hervor. Der Vogel ist zuerst Archäopteryx, mit ausgesprochenen Eidechsenrückständen am Leibe. Das Säugetier ist Ursäuger und Beuteltier. Erst um die Wende zur Tertiärzeit erscheint eine Mischgruppe, die nicht mehr Beuteltier ist, aber die Merkmale von Raubtieren, Huftieren und selbst Halbaffen in sich vereinigt. Die Krone des Säugerstammes, der Mensch, endlich erscheint mindestens erst tief in dieser Tertiärzeit, selbst wenn wir ihn mit Klaatsch so weit zurückdatieren wollen, wie nur irgend zulässig. Er erscheint noch in der Eiszeit als Rasse mit primitiverem Schädel und erst nach der Eiszeit setzt seine höhere Kultur ein.

Gleiche Anpassungskreise werden dabei mehrfach in folgenden Epochen neu ausgefüllt, aber dann von einer im ganzen höheren Organisationsstufe: so ersetzen die Säuger der Tertiärzeit im gesamten Anpassungsumfang genau die Reptile der Sekundärzeit und wieder der Mensch mit seinem Werkzeug umgreift die ganze ältere Säugeranpassung.

An diesen großen Linien hat alle Kritik der Jahre seit Darwin aber auch rein nirgendwo rütteln können.

Versucht worden ist ja jeder Ausweg.

In den Steinkohlen sollten uns bloß die kryptogamischen Moore der älteren Zeit erhalten sein, wie wir deren aus Moosen heute noch genug haben, — die Nadel- und Laubwälder jener Tage aber sollten bloß zufällig keine Reste hinterlassen haben. Aber diese Farrn-, Bärlapp- und Schachtelhalmwälder von damals waren kein Moorwinkel irgendwo, sondern sie überzogen die Erde vom Nordpol bis zum Südpol in himmelragenden Stämmen. Ein Blick auf die räumliche Größe auch nur der heute bereits bekannten Kohlendistrikte genügt, um zu beweisen, daß es sich dabei um die Charaktervegetation der Erde in einer Weise handelt, wie es von keiner[S. 78] einzigen heutigen Pflanzengruppe behauptet werden kann. Und das eben ist das Bezeichnende.

Andere nahmen sich die Archäopteryx vor. Man hatte sie (die erst nach Darwins Auftreten gefunden worden war) als Mittelglied zwischen Eidechse und Vogel bezeichnet. Nun kommt ein feiner Kenner und zeigt, daß in der Mischung auf feinster Wagschale die Vogelmerkmale des Zwitterwesens die Eidechsenmerkmale um etwas überragen. Das wird ausgemünzt, als seien die Eidechsenzüge damit überhaupt gestrichen. Man bedenke: bei einem Tier mit Zähnen im Maul, Krallenfingern an den Flügeln, einem langen Eidechsenschwanz, primitiv geformten Wirbeln, einer Fülle noch anderer reptilischer Merkmale. Aber es ist nicht mathematisch genau die Mitte, und so wird geredet, bis der Laie betrübt abzieht und den Posten überhaupt verloren gibt.

Das Beispiel ist typisch, wie der Stoff von Gegnern behandelt worden ist und wie wertlos diese Sorte Gegnerschaft ist, die in so unendlich schwieriger, verwickelter Lage Wortspielereien treibt: ob man Mittelform, Übergangsform noch nennen dürfe, was nicht mathematisch genau den Mittelpunkt bezeichnet. Das alte Sophistenspiel, wann ein Häufchen zum Haufen wird. In dieser Welt der Annäherungswerte, wo es im abstrakt mathematischen Sinne weder Arten, noch Gattungen, noch überhaupt irgend etwas gibt!

Am verzweifeltsten ist natürlich um das kleine Endchen Paläontologie gefochten worden, das auf die Entwickelung des Menschen hinweist.

Ein Dogma häufte sich hier aufs andere. Es gibt keinen fossilen Menschen. Aber er kam, es half nichts. Zur Reserve, damit die beiden sich ja nicht begegneten, sollte es auch einmal keine fossilen Affen geben. In ganzen Reihen stehen sie heute in unseren Museen. Dann blieb: es gebe wenigstens keinen fossilen Affenmenschen. Ein in Zoologie dilettierender Theologe schrieb einmal als probates Rezept aus, man solle jede Erwähnung Darwins niederschmettern mit dem Satz: „Ist er gefunden, ja oder nein?“ Nämlich der[S. 79] Affenmensch. Jetzt ist er zum Schluß wirklich noch gefunden worden, ehe das Jahrhundert ausging, der Pithecanthropus von Java, mit dem Schädelinhalt haarscharf zwischen Gorilla und Mensch.

Bei manchem der wilden Kämpen in diesem Zwist tritt hier wirklich durch ihre eigene Schuld der früher erwähnte Fall ein: der Kampf wird um ein Schädelbruchstück mit der verzweifelten Überzeugung geführt, es hänge an dem Knöchelchen der Sieg oder Tod einer Weltanschauung.

Der Sieg einer einheitlichen Naturanschauung mit Entwickelungsideen ist nicht um ein so billiges zu erkaufen!

Aber feststellen darf diese Weltanschauung immerhin mit einiger Befriedigung, daß bisher auch nicht eine einzige Tatsache der Paläontologie, auch heute nach 44 Jahren nicht, existiert, die gegen eine natürliche Entstehung der höheren Tier- und Pflanzenformen aus den niederen, älteren spräche.

Etwas anderes aber ist heute nach 44 Jahren allerdings zu betonen.

Die Geologie dieser Stunde ist in vielen Zügen nicht mehr die Geologie, mit der Darwin rechnete. Komplizierter und, wenn man es nur nicht im alten Wunder-Sinne verstehen will: mysteriöser ist sie geworden.

Darwin sagte: die Tier- und Pflanzenarten haben sich im Laufe der geologischen Epochen langsam umgewandelt. Wodurch? Durch den Druck der äußerlichen Umwandlung der Verhältnisse, in denen das Lebendige auf Erden hing. Sei das einmal genug Erklärung. Jedenfalls dachte Darwin an Lyells Sätze dabei.

Lyell betonte, wie langsam, successive alles in der äußeren Geologie sich vollzogen habe: Wandel der Erdteile und Gewässer, Gesteinsbildungen, Klima, kurz der „Wechsel der Verhältnisse“.

Das war gut und paßte trefflich zu Darwins Selektions-Idee.

Lyell betonte, daß dieselben Kräfte wie heute ausgereicht hätten. Seine Verhältnisse der Vergangenheit behalten immer[S. 80] in ihrem stillen Strom eine größte Wesens-Ähnlichkeit mit den heutigen.

Auch das gab damals viel Hülfe. Man studierte die eigene Epoche und konstruierte danach die verflossenen, wie Mommsen aus der modernen Politik die Geschichte Cäsars ausgelegt hat.

Aber in der Weise hat sich das doch nur sehr bedingt als dauerndes Prinzip wahren lassen. Ehrlich gesagt, versagt das Prinzip heute an ganz auffälligen Stellen auch wieder. Die große Eiszeit hat da zuerst Bresche gelegt. Hier war ein Vorgang, der aus dem allzu korrekten Schema grob heraussprang. Die einfache Parole: zunehmende Abkühlung der einstmals heißen Erde in den geologischen Epochen, langte nicht aus. Warum lag diese Eiszeit schon wieder hinter uns? Vor ihr war in Europa Tropenklima. Warum? Heute ist die ganze Klima-Frage in der Geologie ein Labyrinth ungelöster Probleme. Schon dämmert die Idee auf, daß es mehrfach auch in früheren Epochen Eiszeiten gegeben habe. Periodische Erscheinungen der Erdkugel tauchen dahinter auf. Hängen sie mit periodischen Akten der Erdkugel zusammen? Hängen sie ab von Periodizitäten unseres Sonnensystems? Fragen.

Die ganze Abkühlungstheorie der Erde ist heute schwankend, wenigstens in der hergebracht einfachen Form.

Die Klimafrage ist aber nur ein krasses Beispiel. Wie hier sind erste, scheinbar sichere Schemata überall in der modernen Geologie in die Brüche gegangen. Ein ungeheurer Zuwachs von Tatsachen hat einen Berg ganz neuer Fragen aufgetürmt. Wenn wir sagen, die „Verhältnisse“ haben die Arten geschaffen, so muß uns beständig heute der Zweifel ins Ohr raunen, was wir denn von diesen Verhältnissen geologisch eigentlich wissen?

Wie viel Möglichkeiten umschließt das Wort noch, und wie wenig Klarheit!

In der Tier- und Pflanzengeschichte sehen wir einzelne besonders merkbare große Einschnitte. Wir träumen da besonders starke Umwandlungen. So vor der Trias-Periode[S. 81] und wieder in der Mitte der Kreide-Periode. Was ist da äußerlich auf Erden vorgefallen? „Wechsel der Verhältnisse“ ist an solchen Stellen ein Kryptogramm für uns, ein Deckwort für ein Bündel dunkler Dinge, deren Füße wir bloß gespenstisch hinter dem Vorhang arbeiten sehen.

Kaum eine einzige große Hypothese der älteren Geologie schließlich, die im Moment nicht wackelte. Sie ist ein unendlich viel merkwürdigeres Ungeheuer, diese alte Erde, als wir dachten. Man braucht bloß an die magnetischen Erscheinungen, die Polschwankungen und anderen Achsengeheimnisse, den Wechsel des Meeresniveaus, die immer wieder verwirrten vulkanischen Phänomene, die Geheimnisse der Innenwärme zu denken, um den Stich zu fühlen, wie wenig wir von diesem Ungeheuer wissen. Jene unerklärten krystallinischen Schiefer rufen es uns aus der Mineralogie zu. Von den rätselhaften Periodizitäten der Sonne, deren Fleckenperiode mit unsern magnetischen Mysterien über 20 Millionen Meilen hinweg in Kontakt steht, kommt es auf kosmischen Umwegen zu uns zurück.

Kein geologisch geschulter Mensch denkt daran, die Fäden dieses dunkelsten Gewebes außerhalb der Naturgesetzlichkeit zu suchen. Der Wechsel, das Andersartige grade der Bilder predigt aufdringlich genug Entwickelung.

Nichts also entfernt sich in dieser Geologie der unendlich höher gespannten Möglichkeiten im Prinzip von Darwin.

Aber wir dürfen uns grade in seinem Sinne nicht dagegen verschließen, daß nun der Entwicklungsprozeß des Lebendigen in diesem ungeheuren, kaum erst in seinem Umfang hier und da geahnten Spiel der geologischen Gesamtdinge, dem gigantischen Gesamtprozeß der Entwickelung des Erdplaneten, mit allen Fasern auch hängt, — in seinen Rätseln hängt.

Phasen dieser Gesamtentwickelung können in ihn eingreifen, von denen der Anblick der heutigen Verhältnisse wahrscheinlich ebenso wenig ein Bild gibt wie das enge, einer Uhrfeder gleich sich abrollende Leben eines kleinen Philisters in einer[S. 82] erstarrten Umgebung ein psychologisches und kulturgeschichtliches Bild geben würde von der ideellen Siedehitze eines Kopfes in einer sozialen Revolution oder in der ungeheuren Stunde einer Religionsgeburt.

Ich glaube zuversichtlich, daß die Geologie in diesem Sinne noch einmal reden wird, viel reden wird zu Darwin, — nicht in dem kleinlichen Sinne, daß sie die paar paläontologischen Daten, die jetzt schon allgemein eine Entwickelung befürworten, wieder umwerfen sollte, wohl aber so, daß sie Darwins Programm von den „Verhältnissen“ uns erst eigentlich erfüllte.

Unvermerkt wird dabei freilich auch der Begriff „Verhältnisse“ selbst eine leise, aber schließlich doch wichtige Umwandlung erfahren: — eine Erweiterung.

Der Prozeß wird wahrscheinlich ein ganz ähnlicher werden, wie heute in der von der Nationalökonomie in bestimmtem Sinne beeinflußten Geschichtsauffassung. Auch da spielt das Wort „Verhältnisse“ eine überwältigende Rolle. Je mehr die Forschung sich aber vertieft, desto mehr geht in sie alles, was man früher „Ideen“ nannte, doch auch wieder als Faktoren ein, man spricht von einem „Milieu der Ideen“ in bestimmter Zeit, und schließlich zeigt sich hier wie überall als Parole des Fortschritts, daß es nicht gilt, irgend etwas herauszuwerfen aus der Betrachtung, sondern nur immer mehr hinzu zu umgreifen.

Ich berühre damit schon etwas, was ich oben als zweite Stufe in Darwins Werk bezeichnet habe: seine Idee über das eigentliche Gesetz der Entwickelung im Tier- und Pflanzenreich.

Ein Naturgesetz in der biologischen Entwickelungslinie suchte Darwin — und er geriet auf die Selektion.

Seit 44 Jahren geht der Streit, ob er in diesem Punkte recht gesehen. Aber neben diesem Fachstreit gibt es noch einen anderen, der auch anknüpft an das Wort Selektion.

In ihm wird behauptet, daß Darwin gerade mit diesem seinem individuellsten Gedanken doch die ganze Entwickelungsidee entscheidend beeinflußt und umgestaltet habe.

[S. 83]

Zerstört, sagen die einen.

Erst vollendet, die andern.

Ein Teil von Darwins Ruhm stammt aus dieser Ecke, weil er hier scheinbar Leuten entgegen gekommen ist. Ein Teil auch von dem Haß, den er erlitten, von der Reaktion einer aufgestörten Stimmung. Und immer wieder hat dieser große Hall auch in die engeren Fachkämpfe hinein nachgezittert.

Ist die Sache wahr?

Darwins Tat traf äußerlich mitten hinein in den erbitterten Zwist noch zweier anderer Weltanschauungen als bloß „Hie Wunder, Hie Naturgesetz.“

Ich kann das Wunder verwerfen und an eine natürliche Entwickelung, an eine einheitlich gebaute Natur glauben. So sind mir doch in dieser Überzeugung noch zwei Anschauungen möglich.

Ich kann in der Natur ein sinnloses Spiel sehen, ein Auf und Ab ohne inneren roten Faden, ein Welt-Kuddelmuddel.

Ich kann aber auch in dieser Natur ein allgemeines ungeheures Aufwärtsringen gewahren, ein Aufwärtsringen allerdings bloß mit natürlichen Mitteln, innerhalb und vermittelst der Naturgesetze, — aber doch ein Empor, in dem sich schließlich das Höchste erfüllt, — das erfüllt, was die ältere Betrachtungsweise noch einmal extra und außerhalb der Natur als Göttliches gesucht hatte.

Jene erste Ansicht ist eine unbedingt pessimistische, die zweite eine wenigstens bedingt optimistische. Goethe mit seinem Begriff „Gott-Natur“ stand stets der letzteren näher. Die erstere aber durchfärbte den Pessimismus des ganzen 19. Jahrhunderts mehr oder minder stark und gab dem Jahrhundert auch da, wo sie bloß halb und unklar auftrat, merkwürdig scharf seine Physiognomie; zumal gegen sein Ende hin.

Wahr ist nun, daß die Selektions-Idee, die Darwin in den Entwickelungsgedanken gebracht hat, zunächst nur auf die erstere, die Kuddelmuddel-Anschauung, energisch bezogen worden ist.

[S. 84]

Darwin brachte als ganz, oder doch nahezu ganz neu den folgenden Gedanken.

Hier stehen zweckmäßige Gebilde in der Natur. Hat irgend eine Intelligenz sie sofort so zweckmäßig hergestellt?

Nein, sagt Darwin, sondern die Natur produzierte zunächst ohne Wahl ungezählte Varianten, zweckmäßige und unzweckmäßige durcheinander. In der logischen Notwendigkeit dieser gleichen Natur aber war enthalten, daß bei gleicher Konkurrenz nur die zweckmäßigen Gebilde sich erhielten, die unzweckmäßigen dagegen untergingen.

Alles Kosmische, Geordnete, Stabile der Welt, so kann man Darwins Idee verallgemeinern, ist ein Produkt bereits solcher logischen Auslese.

Der Kuddelmuddel-Pessimismus zog daraus den Schluß, daß also auch dieses Kosmische, Geordnete, Zweckmäßige bloß ein Produkt des Kuddelmuddels sei. Die Würfe der Natur, schloß er, erfolgten also nicht auf ein optimistisches Prinzip hin. Und erst die Auslese täusche eine Ordnung, eine immer zweckmäßigere Entwickelungswelt, vor.

Diese pessimistische Folgerung aus Darwin ist aber im tiefsten Kern nichts anderes als ein grober Trugschluß.

Das Resultat, das ist vorweg zu betonen, bleibt auch bei Darwin genau als das gleiche stehen. Es treten uns zweckmäßige, harmonische, kosmische Dinge (Kosmos gleich Ordnung!) als Resultate von Entwickelungen konkret in der Welt entgegen. Davon gehen wir aus, — also von einem Schluß-Phänomen, das für uns aber zugleich eine Art Ur-Phänomen bildet.

Das Neue, das Darwin hinzutut, steckt nun nicht in der Anfechtung dieses Resultats, sondern lediglich in einer neuen Analyse des Weges, der in der Natur dahin führt.

Über diesen Weg sagte aber auch jene optimistische Gott-Natur-Auffassung zunächst gar nichts aus, — er ist in ihr offenes Problem. Auch sie muß ja zu ihrer Welt über die Naturgesetze. Da nicht alles bereits Harmonie in der Welt ist, wird ein allzu bequemer Weg von vorne herein hier nicht[S. 85] wahrscheinlich sein, — die Existenz des Harmonischen scheint viel eher überall ein langes, umständliches Ringen vorauszusetzen, einen Kampf, wo jeder Schritt schwer bezahlt werden muß.

Jene andere, ältere Anschauung freilich, die eine überweltliche Intelligenz von jenseits der Glocke in die Natur eingreifen ließ: sie schrieb im Gegensatz dazu auch ihren Weg tatsächlich vor und sie konnte vom ersten Satz an sich also mit der Selektion Darwins nicht befreunden. Ihr eingreifender Schöpfer ist einfach ein aktiver Mensch, dessen Handlungen nur im Bilde eines solchen zu denken sind, bloß noch viel direkter, da er allmächtig ist.

In der Gott-Natur Goethes dagegen sind viele Wohnungen.

Sehen wir ruhig an, welchen Weg Darwin von ihr verlangt und ob er ihrem Bilde überhaupt widersprechen kann.

Darwins Selektionslehre, im weitesten Sinne als kosmosbauendes Naturprinzip gefaßt, rechnet mit der Existenz einer ganzen Reihe fester Naturveranlagungen.

Es ist eine solche Veranlagung, Potenz, Eigenschaft der Natur, daß sie überhaupt Varianten erzeugt, aus denen eine Auslese stattfinden kann.

Es ist eine weitere Veranlagung, daß sie auch als zweckmäßig verwertbare Varianten dabei wirft; daß sie es tut, zeigt das Schlußphänomen.

Ferner eine, daß eine Auslese in Frage kommt; sie findet in ihr statt, ist also als ganzes ihre Eigenschaft.

Ferner, daß eine Logik bei dieser Auslese die passenden Varianten bestehen läßt, ihnen ein Plus gibt vor den andern und damit der ganzen Weltentwickelung ein Übergewicht gegen harmonische Verhältnisse hin verleiht. Auch diese Logik steckt doch gegeben in der Natur. Es ist ja vielfach ein billiges polemisches Kunststück, derartige Logik als solche gleichsam noch einmal wieder abzuziehen vom Begriffe „Natur“, womit dieser dann allerdings leicht dem Kuddelmuddel ausgeliefert ist. Warum aber überleben die Passenden die Unpassenden?[S. 86] Aus einfacher Logik, sagt jeder. Nun grade an dieser Naturlogik als einer Eigenschaft der Natur hängt aber nach Darwin das Schlußentstehen eines geordneten Kosmos. Nicht auf regellosen Zufällen, sondern auf klar gegebenen Eigenschaften der Natur, die für sie ein absolutes Muß bilden, beruht auch in der extremsten Selektionstheorie die Entwickelung zu harmonischen, stabilen, zweckmäßigen Gebilden. Eine nur dieser Eigenschaften fehlend — und kein Zufall brächte je das geringfügigste „kosmische“ Verhältnis hervor!

Kein Mensch kann mir demnach logisch verbieten, den Sachverhalt im ganzen so zusammenzufassen, daß ich sage: die Natur hat die Eigenschaft, sich in der Richtung auf kosmische, geordnete, in ihrem Zusammenhang zweckmäßige Verhältnisse zu entwickeln; und die Selektion ist bloß der verwickelte Weg im Spiel dieser Eigenschaft.

Mit der kosmischen Tendenz als Eigenschaft der Natur (Tendenz fällt hier vollkommen zusammen mit Finalität!) bin ich aber vollständig heraus aus jeglicher Kuddelmuddel-Theorie und noch in dem alten optimistischen Entwickelungsgedanken samt und trotz der Selektions-Theorie.

Zugestanden: Darwins Weg ist ein umständlicher.

Es ist richtig, wie man gesagt hat: die Natur Darwins durchsetzt, um einen Hasen zu schießen, die Luft mit Millionen Kugeln nach allen Richtungen, anstatt eine Kugel senkrecht auf ihn los zu feuern.

Aber die Hauptsache bleibt, daß der Hase auch so geschossen wird, — geschossen werden muß nach unerbittlicher Logik.

Und was wissen wir im Grunde über Länge oder Kürze der Wege in der zum Kosmos sich entwickelnden Natur? Wir sehen über hunderttausende von Jahrmillionen der Geschichte allein unserer Erde im Sonnensystem zurück. Wer will da das Tempo, will Methoden kritisieren?

Es ist sogar wirklich höchst lehrreich, sich einen Augenblick zu vergegenwärtigen, wie in jenem Bilde vom Hasen das[S. 87] sicherste Ziel, — das Erlegen des Hasen um jeden Preis — überhaupt zu erreichen war.

Ganz streng ging es tatsächlich nur auf zwei Wegen an: entweder mit einem absolut treffsicheren Einzelschützen — oder mit jenem alles abrasierenden Kreuzfeuer.

Nun läßt sich aber immerhin ganz plausibel behaupten, wenigstens in der uns sichtbaren Naturlinie sei der annähernd treffsichere Einzelschütze erst eine ganz späte Errungenschaft: nämlich der Mensch selbst.

Es ist durchaus denkbar, daß, so lange die Natur den Menschen als graden Zweck-Weg noch nicht im Spiel hatte, sie den andern Weg wählen mußte in der einfachen Alternative der beiden einzigen absolut sicheren Möglichkeiten.

Es gibt einzelne gute Beispiele in der Welt des Lebendigen, wo man einen ganz ähnlichen Faden wirklich ad oculos demonstriert bekommt, z. B. bei den Zeugungsverhältnissen. Die Auster schwängert das ganze Wasser um sich her mit Samen, in Voraussetzung, daß bei diesem Kreuzfeuer ein einziges Samentierchen die Eizelle der Nachbarauster finden und befruchten werde. Bei den Schnecken und Tintenfischen schon und überhaupt bei den höchsten Vertretern der Tierstämme finden wir im Gegensatz dazu das Prinzip der Einzelflinte (wenn auch noch nicht der Einzelkugel): bestimmte Organe, die das befruchtende Element unmittelbar an seine Stelle im weiblichen Organismus einführen.

Fragt natürlich jemand: warum macht die Natur überhaupt erst Austern und warum übte sie nach Darwin zuerst blinde Selektion statt treffsicheren Schießens mit Menschenflinten, — so kann ich das nicht lösen. Es fällt zusammen mit der Frage: warum überhaupt Entwickelung? Ich meine aber, daß die einfache Existenz dieser ungelösten Frage an sich noch nichts für den Welt-Pessimismus und die Kuddelmddel-Theorie beweist.

Jeder Begriff der allmählichen Entwickelung vom Unvollkommenen zum Vollkommeneren schließt ja gewisse Faktoren[S. 88] des Mißlichen, des Schmerzes ein. Denn das Niedrigere, indem es vom Höheren überboten, besiegt wird, ist allemal in irgend einem Sinne ein Absterbendes, das unter die Füße getreten wird, und da die Natur nun einmal Empfindung mit sich gebracht hat, wird das schmerzlich empfunden werden.

Reicht es doch bis in unser höchstes Geistesleben. Jeder Irrtum, der abgetan wird, ist ein Stich, jeder vom besseren verdrängte Gedanke, der doch einmal in uns lebte, ein Tod mit Sterbeschmerz. Aber die Idee der aufsteigenden Entwickelung als optimistischer Generalfaktor überbietet das immer wieder, grade wenn man auf das Ganze sieht. Und von Kuddelmuddel ist keine Rede, so lange überhaupt nur ein kontinuierlicher Entwickelungsfaden mit Überbietung eines Minderguten durch ein Besseres sichtbar bleibt.

Wer da meinte, die Weltgeschichte sei mit Darwin nicht bloß einer gewissen Wegblindheit in älteren Tagen, sondern dem wahren absolut sinnlosen und blödsinnigen „Zufall“ ausgeliefert, der hatte übrigens noch ein drastischeres altes Bild gelegentlich zur Hand, als jene famose Hasenjagd. Ein Schwein wühlt in einem ungeheuren Haufen Buchstaben. Es wühlt ihn zu immer neuen zufälligen Kombinationen durcheinander. Als eine solche Kombination entsteht eines Tages die Ilias. So soll es mit den harmonischen, den kosmischen Gebilden in der Welt überhaupt sein, und zwar beweise das eben Darwins Selektions-Theorie.

Das Beispiel ist in der Tat aber höchst prägnant grade für das oben Entwickelte.

Auch hier ist das Resultat zunächst nur eines: nämlich eben die Ilias. Damit sie aber werde, sind eine ganze Reihe fester Voraussetzungen nötig, deren Summe der Kraft nach eben auch schon die ganze Ilias enthält.

Zunächst jener Buchstabenhaufe, in dessen Buchstabenkombinationen auch schon die Ilias einmal ganz steckt. Dann die unendliche Wühltätigkeit des Schweins, die nicht rastet, bis endlich auch die Kombination Ilias da ist. Das Gleichnis enthält eins nicht, das hier bei Darwin sehr wesentlich ist:[S. 89] das Harmonischere ist das Erhaltungsfähigere. Man müßte das Gleichnis ergänzen, indem man etwa sagte: im Moment, da das Schwein ein Stück Ilias herausgerüsselt hat, kleben jedesmal grade diese Buchstaben plötzlich so fest aneinander, daß der Rüssel sie nicht wieder zerstören und nicht wieder weiterverwühlen kann. Doch das nebenbei.

Die Hauptsache ist auch hier: der Buchstabenhaufe und das wühlende Schwein bezeichnen bloß einen Weg zum Auslösen des gleichen Ziels. Die Intelligenz des Schweines erzeugt allerdings nicht die Ilias, — das entspricht genau dem Gedanken Darwins, daß der auslesende Kampf ums Dasein selber durchaus nicht als zweckschauende Macht im Menschensinne zu deuten sei. Aber der Gesamterfolg wird gleichwohl einem Komplex von Gesamteigenschaften in dem umfassenden Organismus „Buchstaben — Logik — Zeit — Schwein — Wühleifer und Ausdauer dieses Schweins“ verdankt: — niemand wird bestreiten können, daß dieser so begabte Organismus die Tendenz hat, eine Ilias hervorzubringen.

Und mehr brauchen wir ja nicht für die Natur.

Die Dinge lagen hier bloß noch etwas verwickelter.

Die Selektion hat zunächst das Menschengehirn herausgewühlt. Dieses Menschengehirn dann erzeugte die wirkliche Ilias. Schließlich könnte man aber auch im Menschen noch einmal mit etwas Phantasie das Urbeispiel innerlich weitertreiben. Aus einer riesigen Auslese bleiben die griechischen Schriftzeichen, Sprachformen, Begriffe übrig. Aus einer unendlichen Auslese erhebt sich der (oder erheben sich die) Verfasser der Ilias grade mit dieser Wortkombination. Eine unendliche Auslese, Wahl, Verwerfung von Bildern, Ideen, Erfindungen ging ihr im Dichtergehirn vorauf. Es ließe sich wenigstens als Aufgabe stellen, in alledem die Selektion aufzuspüren.

Wahr ist ja, daß unsere feinste Gedankenarbeit bis ins tiefste dichterische Empfinden Züge zeigt, die sich immer noch auffallend gut mit Selektion vergleichen lassen.

Wir suchen ein Bild, einen Schluß. Eine ganze Kette von[S. 90] Vorschlägen gleichsam taucht aus der Tiefe, ohne daß wir den Prozeß irgendwie bewußt beherrschten. Sie treten in Konkurrenz, blitzschnell oft, oft auch sehr langsam. Es ist, als passierten sie Stück für Stück Revue vor einem logischen Prinzip, einem Messen an bestimmten Forderungen. Das fällt, jenes, noch eins, — da: endlich sitzt die dunkel in uns arbeitende Maschine. Das hier und kein anderes ist das erlösende Bild, die treffende Idee, — heureka, wir haben es.

Auch diese subtilsten Dinge beherrscht unsere bewußte Intelligenz keineswegs in ihren einzelnen Bedingungen. Wohl haben wir das Gefühl, daß etwas in uns sei, das auch das Ganze wieder umgreift, und in dem diese Bedingungen Eigenschaften sind. Und wohl hat das schließliche Resultat den klarsten Sinn für unsere Intelligenz. Aber auf dem Wege spielen sich eine Masse Prozesse ab, die uns vom Intelligenzboden aus da genau so fremdartig und so unnötig umständlich erscheinen könnten, wie in der Welt Darwins der Weg über die Selektion.

Warum gehorcht dem Wunsche nach einem Bild, einer Idee nicht sofort die höchste uns gegebene, zielsichere Intuition, — der Flintenschuß, der den Hasen mit einer einzigen Kugel fällt? Warum dieses Aufdrängen von Massen Varianten, von denen doch nur eine sich der Forderung wirklich verbinden kann, während alle andern ergebnislos wieder verpuffen wie die Million übriger Kugeln jenes Kreuzfeuers?

Ich glaube, daß wirklich nichts lehrreicher ist zum Begriffe „Verschwendung“ und „Umständlichkeit“ in der Natur, als ein wenig Beobachtung in unserem eigenen Denkapparat.

Es gibt bekanntlich eine philosophische Auffassung, die alles Reale der Welt eigentlich als ein Seelisches faßt und in der ganzen Weltentwickelung also einen ungeheuren Denkprozeß des Naturgeistes sieht.

Auf den ersten Blick hat es gewiß den Anschein, als werde eine derartige Weltanschauung nun wenigstens mit der Selektion nichts anfangen können. Und im Kampfe des Tages ist in der Tat sogar von dort gelegentlich recht demonstrativ[S. 91] die ganze Darwinsche Selektionstheorie der Kuddelmuddel-Theorie zugeworfen worden, — natürlich zur Freude der letzteren.

Aber was hätte solche Weltgedanken-Philosophie anderes an Analogie zur Hand, als eben unsere eigenen Denkprozesse — und wenn nun gerade in denen selektionsartige Dinge auftauchen, — weshalb sollte die große Naturseele beim Bauen ihrer kosmischen Gebilde nicht ähnlich ihre Ideen auf dem Selektionswege zustande gebracht haben?

Kuddelmuddel jedenfalls kommt damit so wenig in den Weltprozeß, wie unser eigener feinster Gedankenprozeß etwa beim Dichten oder dem Verfolgen einer wissenschaftlichen Idee trotz aller wieder ausgestrichenen Gedankenvarianten und zerrissenen Zettel irgend eine Ähnlichkeit mit Kuddelmuddel-Wirtschaft hat — was, wie ich hoffe, doch wohl jedermann zugeben wird.

So viel zur philosophischen Klärung.

Die letzten Sätze haben ja streng genommen schon in ein ganz anderes Gebiet eingelenkt: nämlich in das Gebiet der Frage, ob die Selektion wahr sei?

Diese Frage fällt nun selbstverständlich nicht mit der zusammen, ob sie gegebenen Falles jene Folgen für den großen Entwickelungsgedanken mit sich zöge.

Ich meine aber, daß wir, ich möchte wohl sagen: gemütlicher an die Dinge herangehen, wenn wir der Entscheidung über diese Eventualität vorweg sicher sind und damit erst vor die Wert-Frage im Wahrheitssinne selber treten.

Mir persönlich ist es so ergangen, wenn ich zurückblicke. Ob mit, ob ohne Selektion, habe ich mir eines Tages gesagt: in den Weltblödsinn hinein geht es auf alle Fälle nicht. Niemals kommen wir auch mit der Selektion auf ein wirkliches Chaos als Ausgangspunkt der sichtbaren Welt, — immer bleibt eine Ur-Logik des Naturganzen, die auf kosmische, harmonische, höhere Gebilde führen mußte.

Darwin hat seine Selektionsfrage auf ein ganz bestimmtes Gebiet beschränkt. Er fragte nach der Entstehung der Tier-[S. 92] und Pflanzenarten — allerdings ein Feld, wo seit Alters das gesteigert Harmonische, die innere höhere allgemeine Zweckmäßigkeit doch grade ganz besonders stark in die Augen gefallen war.

Ist ihm der Beweis zu Gunsten der Selektion in seinem Spezialfalle gelungen, so hat er ein famoses Exempel geschaffen.

Ist er nicht geglückt, so muß eine andere Deutung des Weges gesucht werden, den die Entwickelung hier genommen hat. Niemals aber ist diese Entwickelung selbst als Grundauffassung bedroht!

Es ist möglich, daß der antidarwinistische Stürmer und Dränger vom Modeschlage, wenn man ihn bis hierher geführt hat, die Sache überhaupt nicht mehr interessant findet.

Um den Preis bloß dieser kleinen Schwankungen mache ihm der ganze Feldzug gegen Darwin keinen Spaß mehr! Wenn nicht mehr herauskomme ....

Da kann ich ihm nun nicht helfen. Ich für mein Teil finde, daß der Fortgang der Debatte jetzt erst wirklich interessant wird. Freilich wird er’s nicht mehr zu gunsten von Modeschlagworten. Denn hier gilt das alte Wort: die Moral aus der Geschichte ist keine Rede, sondern eine Handlung. An dieser Ecke kann schlechterdings kein theoretisches Gerede den Darwinismus über sich selbst hinausführen, sondern nur noch ernste, strenge, wissenschaftliche Tat, — Tat in fachwissenschaftlicher Spezialarbeit.

Ich denke an eine solche Tat, — wie fruchtbar sie gleich ist! Die Geschichte vom Geheimnis der Nachtkerze.

* *
*

 

Die Geschichte, an die ich mich erinnere, fängt streng genommen an mit der Entdeckung Amerikas, — mit der ja so vieles Merkwürdige für unsere Kenntnis wie Schätzung des Himmels und der Erden angefangen hat.

In der hübschen Morgenstunde des 12. Oktober 1492, als die Kanonen der „Santa Maria“ den großen Tag verkündeten,[S. 93] stellte sich das Zünglein der Wage auch schon auf die Entscheidung ein: wer nun Herr werden sollte, die alte Welt über die neue oder die neue über die alte. Es sollte noch gar manche Sprünge vor und zurück machen, dieses Zeigerlein. Was Kolumbus damals aber wohl am wenigsten geahnt hat, das war die rasche und endgültige Lösung der Frage durch einige der sanftesten Landeskinder der neuen Erdhälfte, wenigstens für ihr Gebiet: nämlich Pflanzen.

Im Laufe der jetzt verflossenen vier Jahrhunderte haben eine Anzahl amerikanischer Pflanzen unzweideutig die alte Welt erobert.

An jenem Entdeckungsmorgen berührte des Altweltlers Kolumbus Fuß auch den Erdteil der Nachtkerzen.

In bald hundert Arten wuchs das Geschlecht dieser lieblichen Blumen auf dem neuweltlichen Kontinent. Ein schwefelgelber Strauß Nachtkerzenblüten, in unsere sandige Mark gebracht, wäre damals ein eigenartig exotischer Genuß von jenseits des großen Wassers mit allem Zauber jungfräulicher Neuheit gewesen.

Uns nachkolumbisches Geschlecht nimmt das schon Wunder. Denn wir pilgern aus der Stadt in die märkische Heide und am Bahndamm zwischen den Kiefern stehen die Nachtkerzen Kopf an Kopf wie die gelben Flämmchen, ein echtes und rechtes Unkraut, das uns weder in Liebe noch Haß für gewöhnlich imponieren kann. Denn es gehört zwar zum altvertrauten Vaterlandsbilde, aber der schlichte Sinn achtet es doch durchweg eben als ein Unkraut sehr niederen Grades.

Nun denn: die erste Oenothera, wie die Nachtkerze als botanische Gattung heißt, kam um 1614 aus Virginien in Nordamerika zu uns herüber. Es war die sogenannte Oenothera biennis. Im Jahre 1778 führte John Fothergill eine zweite Art (muricata), 1789 John Hunnemann die dritte (suaveolens) aus Kanada ein. Europas Luft und Erde sagten den Gästen aber alsbald so zu, daß sie sich heimlich aus den Gärten, wo man sie als fremde Rarität gehegt, fortmachten und bald da, bald dort als freie Kolonisten auf eigene Faust[S. 94] ansiedelten. Seitdem besitzen sie Sandgrube und Düne und Waldrain bei uns, als hätte Thusnelda schon ihre Kränze aus ihren Gelblingen geflochten.

Das ist die ursprünglichste Voraussetzung der wunderbaren Historie, die es zu berichten gilt: die erste Station der Nachtkerze von Amerika bis zum märkischen Bahndamm.

Die nächste Wegstrecke ist freilich etwas länger. Sie führt nämlich von da bis ins Herz menschlicher Philosophie und Weltauffassung.

Am Ende des 18. Jahrhunderts lebte in Paris Lamarck, Botaniker und Zoologe, ein ebenso großer Mann wie Pechvogel der Weltironie. Er predigte die natürliche Entwickelung der Tiere und Pflanzen und die Wandelbarkeit der Arten zu einer Zeit, da nur ein halbes Dutzend Auserlesener (die sich meist untereinander nicht kannten) etwas davon wissen wollte, der nicht unbeträchtliche Rest dagegen solche Ideen als Kontrebande aus dem Heiligtum der Forschung hinausprügelte.

Dieser Lamarck fand wieder in einem Augenblick, da ihm alle Spekulation ganz fern lag, im Herbarium des Pariser Pflanzengartens einige getrocknete Exemplare auch so einer amerikanischen Nachtkerzen-Art, die er als erster wissenschaftlich beschrieb. Sie war von den genannten anderen verschieden und der Zufall wollte, daß sie in der Folge den Namen Oenothera Lamarckiana bekommen hat.

Heute, da jedermann den alten Lamarck als Vorläufer Darwins kennt, klingt das förmlich herausfordernd darwinistisch. Gedacht hat sich aber damals und noch lange später niemand etwas derart dabei. Es war wie ein prophetischer Donnerschlag der Olympischen, den zunächst jeder für ein ganz simples Gewitter hält.

Auch diese Lamarcksche Nachtkerze ging übrigens den Weg ihrer Schwestern. Sie wanderte zunächst in unsere Gärten hier und da ein, und wenn die Gartenpforte offen stand, rückte auch sie ein Schrittchen weiter, fühlte sich wieder als freie Farmerin mit dem Pioniermut des Westens und verwilderte. Das aber sollte grade ihr großes Schicksal bedingen.

[S. 95]

Im Jahre 1886 war es.

Und in Holland war es, Nord-Holland, zwischen Hilversum und s’Graveland.

Dr. jur. J. Six hieß ein Mann dort und der Mann hatte einen Kartoffelacker. Er gehörte zu seinem Gute, Jagtlust mit Namen. Durch Kanalanlagen war das Feld von drei Seiten her unzugänglich geworden und infolgedessen hatte der Eigentümer es seit einer Reihe von Jahren nicht mehr verpachtet. Es lag da, in die Hand der Natur zurückgegeben, was sie mit ihm machen wollte. Und sie schenkte ihm, was sie für solchen Acker hat, von dem der Mensch seine Hand zieht: Unkraut unter dem Himmel.

Ich erzähle die Umstände so genau, denn der Leser wird die Behauptung zu hören bekommen, es habe sich auf diesem Kartoffelacker, der brach lag wie in einem Gleichnis des Evangeliums, nichts Geringeres vollzogen als eine Art Akt der Weltschöpfung. Den Lehm, aus dem eine Welt geschaffen wird, möchte man doch aber genau kennen.

Noch wieder in nicht allzuweiter Entfernung von diesem Acker hatte Herr Six Gartenanlagen und darin ein kleines Zierbeet. Als Gartenpflanze war dort neben anderem bunten Volk auch die gelbe Nachtkerze Lamarcks gelegentlich angepflanzt worden. Ihr aber war, treu dem alten Nachtkerzen-Gelüst, das Beet bald zu klein geworden. Da lag ja, gerade von dieser Seite zugänglich, der leere Acker, eine Fläche von 5000 Quadratmetern. Also dehnte sie sich allgemach dort hinüber, setzte ihre Kinder und Kindeskinder ins freie Feld und trieb zwischen den Kanälen des Herrn Six im Kleinen, was ihre Schwestern im großen Stil einst mit ganz Europa gemacht hatten.

So lagen die Dinge im Sommer 1886.

Das Kulturbeet war selber eingegangen, kaum daß man seinen Fleck noch erkannte. Ringsum aber in das Feld hinein und da und dort schon tief in diesem drängte es sich in zierlichen Blattrosetten und hohen Stauden von verwildertem Oenotherenvolk. Im Juli und August flammten mit ihrem[S. 96] verwegenen Leuchtgelb zahllose Blüten auf. Und da geschah’s.

Just auf diesen Goldacker geriet nicht ein harmloser Spaziergänger, den bloß die gelben Blumen freuten, sondern ein Mann, der seit Jahren auf der Lauer lag, ja dessen Geist so zu sagen ein großes Klappnetz darstellte, bereit, beim geringsten Einschlag mit energischstem Ruck zusammenzuschlagen.

Wenige Minuten davon hatte sich für drei Sommer der Professor der Botanik zu Amsterdam, Hugo de Vries, einquartiert.

1886, — das waren nicht mehr die Zeiten Lamarcks.

Dazwischen lag jenes Kolumbus-Jahr der neueren Biologie: 1859, da Darwin auftrat. Was bei Lamarck ein Traum eines einzelnen gewesen war, das hatte Darwin den Zeitgenossen als höchstes wissenschaftliches Arbeitsziel beigebracht: die Suche nach dem Werden der Tier- und Pflanzenarten, das Studium der Wandlungen, Umgestaltungen, Entwickelungen im Bereich des Lebendigen. Inzwischen waren indessen wiederum fast dreißig Jahre hingezogen. Die Generation nach Darwin hielt den Meister hoch in Ehren, aber sie grübelte selber schon wieder ein Stück weiter, wie das ihr gutes Recht war. „Was du ererbt von Deinem Darwin hast, erwirb es, um es zu besitzen.“ De Vries war in den wesentlichsten Punkten Darwinianer, wie sich das beinahe von selbst verstand. Er zweifelte keinen Augenblick mehr an einer Entwickelung des Lebendigen nach natürlichen Gesetzen und an einer Wandelbarkeit der Arten. Aber der alte Darwin hatte auch jene Sätze über das „Wie“ dieser Entwickelung und Wandlung gelehrt: — von Vererbung, Anpassung, Kampf ums Dasein, Variieren, Zuchtwahl und Verwandtem. Dieser alte Darwin hatte dabei nie verfehlt, diese seine engeren Ansichten als alles eher, denn ein Dogma hinzustellen. Er verstand unter dem „Darwinismus“ nichts mehr und nichts minder als ein schweres Arbeitsprogramm für die Zukunft.

Die Generation, zu der de Vries (geboren 1848) gehörte, fing an, das mehr und mehr wirklich als Ernst zu fühlen.[S. 97] Man hatte im ersten Feuer doch etwas viel nur für die äußerliche Ausmünzung der Ideen Darwins gewirkt. Jetzt besann man sich auf des Meisters innerste esoterische Kernlehre: daß ja die Hauptsache erst noch zu leisten sei durch unermüdliche harte Beobachterarbeit. Auch de Vries hatte sich sein Programm gemacht, wo er arbeiten wollte.

De Vries war Botaniker.

Darwin hatte gelehrt, daß auch bei den Pflanzen die „Art“ veränderlich sei. Neue Arten entwickelten sich aus schon vorhandenen, und so fort. Ungeheure Linien dieser Entwickelungen lagen zweifellos in der Vorwelt, der Geschichte. Sie konnten in ihrem eigentlichen Verlauf, als Vorgang, von uns nicht mehr beobachtet werden. Aber Darwin neigte dazu, daß die Naturgesetze der Vergangenheit keine anderen seien als die unserer sichtbaren Gegenwart, — ein Punkt, in dem er wohl sicher recht hatte. Dann aber wurde im höchsten Grade wahrscheinlich, daß die Entstehung neuer Arten noch weitergehen und auch bis zu uns heranreichen müsse.

Darwin zog denn auch, um die Sache aufzuhellen, ganz folgerichtig die Experimente unserer heutigen Gärtner und Tierzüchter heran, die, wenn nicht Arten, so doch mindestens Abarten herangezüchtet zu haben glaubten durch planmäßiges Ausnutzen kleiner natürlicher Veränderungen.

Dieser Weg führte ihn auf gewisse mögliche Gesetze der wirklichen Artentstehung in der Natur. Aber grade er schien ihm auch zu beweisen, daß der wahre Naturweg in diesen Dingen ein ganz unglaublich langsamer sei. Die winzige Zeitspanne, in der wir beobachten, schien viel zu kurz, um eine wahre Artentstehung, die Entwickelung einer neuen Pflanzenart aus einer andern ohne menschliche Nachhilfe, darin schon erleben zu können. Das war denn nun eine mißliche Zwickmühle. Die eine Beweisinstanz geriet in die unfaßbare Vergangenheit, die andere in die nebelblaue Zukunft. Dort waren wir nicht mehr dabei, und hier noch nicht.

Es gab hitzige Köpfe, die da behaupteten, an diesen Dingen hinge ein großes Stück Weltanschauung. Es war[S. 98] nicht gerade angenehm, von dem entscheidendsten Ding dann sagen zu müssen, es schwebe wie Mohammeds Sarg einstweilen zwischen Himmel und Erde.

Leute der jüngeren Generation, wie de Vries, begannen zu fragen, ob Darwin hier unbedingt Recht behalten solle, — nicht mit seiner Entwickelungsidee, sondern mit seiner Skepsis. Wenn es nun bei sorgsamster Tatsachenprüfung doch einmal glückte, die Natur bei der Arbeit zu belauschen, wie ihr das Meisterstück gelang, heute noch unter unsern kritischen Augen eine neue Art zu schaffen?

Gelang es, so mußte ja im „Wie“ der Artbildung einiges anders sein, als Darwin sich gedacht hatte. Aber darauf kam ja grade gar nichts an. Man arbeitete nicht an einem toten Monument für Darwins Einzelmeinungen, sondern man arbeitete an einem lebendigen Werk der Wahrheit, das sein Name als der eines vorbildlichen Wahrheitssuchers bloß eingeweiht.

In solchen Gedanken schweifte seit Jahren jetzt de Vries Auge über jeden Fleck Erde, wo Pflanzen bei einander standen.

Wie einst Goethe in Palermo den Blick wandern ließ, ob er nicht in irgend einem bunten Beet doch die „Urpflanze“ entdecken möchte, die das reine Urbild des Pflanzenwesens heute noch verkörpere, so suchte de Vries die Wandelpflanze, die Pflanze, die ihr Artbild durchbricht einem Neuwerden zu Liebe. Gab es sie, — gab es sie nicht, mochte er die Blüten fragen wie Gretchen ihr Blumenorakel nach Fausts Liebe befragt.

Er besuchte auch den Kartoffelacker von Hilversum.

Ein Botaniker bringt seinen sichern Blick in solches Unkraut-Paradies mit. Er sah den Zusammenhang, wie diese Nachtkerzen-Gesellschaft sich seit etwa zehn Jahren hier auf die Eroberung begeben. Solcher freie Einfall in unbenutztes gutes Terrain ist für eine Pflanzenart aber stets ein Ereignis. Unerhört war ihre Üppigkeit, ihre Individuen-Zahl in den wenigen Generationen gesteigert worden. Was eine Art konnte, mußte hier geleistet sein.

[S. 99]

Nun weiß man seit Alters, in besonderem Maße aber seit Darwin, daß jede Pflanzenart, die man in vielen Individuen vergleichen kann, ein solches Können hat: das sogenannte Variieren.

Die Individuen zeigen in den feinen Einzelheiten ihres Baues kleine Schwankungen, kleine individuelle Abweichungen von einander. Man lege beispielsweise eine Anzahl Blätter der gleichen Art nebeneinander und man findet nicht zwei absolut gleiche. Bei genauerem Zusehen findet man sogar bestimmte Reihen, in die diese Variationen des vorgesetzten Grundschemas sich einordnen lassen. Man kann sie unter gewisse Schwankungsgesetze einordnen, wie das (unabhängig von Darwin) durch Quetelet geschehen ist.

Darwin selbst war der Ansicht, daß diese kleinen Varianten jeder Art von großer Bedeutung für die Entstehungsgeschichte ganz neuer Arten seien, grade darauf aber baute er auch seine Theorie auf, daß diese Entstehung unendlich langsam in weiten Zeiträumen, also uns unfaßbar, herankrieche.

Einerlei: wer immer nach Verwandlungsspuren suchte, mußte das Variieren als interessant beachten. Und diese Nachtkerzen-Kolonie in der Kraft ihres Könnens wies dem Besucher sogleich solche individuellen Varianten in verschwenderischer Pracht. Notwendig mußte es ihn fesseln. Er blieb eine Weile beim Studium der Kolonie. Schade nur, dreifach schade, daß mit allem Studieren dieses Variierens grade in Darwins Sinn so wenig für die Grundfrage herauskam! Ging die Artbildung diesen Weg, so war es eine ewige Zukunftsvertröstung für uns, keine sichere Erkenntnis. Wir sahen von der Artentstehung nicht mehr als ein Astronom in seinem Leben von der Wiederkehr eines Kometen sieht, der tausend Jahre braucht, um wieder in unsere Erdsicht zu kommen. Der Astronom konnte wenigstens die Ziffern fest errechnen. Wir hatten bloß schwache Vermutungen ohne festen Halt!

Indessen schon bald geschah etwas Wunderliches, etwas Unerwartetes.

[S. 100]

Die Nachtkerzen-Art, die den gelben Blütenteppich des Ackers bildete, war von dem Botaniker zunächst ohne Skrupel und Mühe im Ganzen als die Lamarckiana bestimmt worden. Die kleinen Abweichungen der einzelnen Individuen galten ihm als selbstverständliche Varianten dieser einen guten Art. Aber in den Sommern 1886 und 1887 stellte er etwas fest, was hierzu nicht stimmte.

Beim sorgfältigen Durchprüfen aller vorhandenen Einzelnachtkerzen entdeckte er zwei andere Arten mitten dazwischen, beide scharf geschieden von der Nachtkerze Lamarcks.

Schon am 20. August 1886 fand er zwei Individuen, eines im dichtesten Wald der Lamarckskerzen, eines etwas davon entfernt, beide aber ausgezeichnet durch sehr viel kürzeren Griffel und kleinere Früchte, auch sonst in Einzelheiten durchaus absonderlich.

Im nächsten Sommer zeigten sich ihm an einer Stelle tief im Felde als pionierhaft vorgedrungene Nachtkerzen-Kolonie zehn Individuen einer zweiten Sonderart, die durch sehr viel schönere Belaubung, nämlich glattere Blätter und durch anders gestaltete schmälere, oben nicht herzförmig ausgebuchtete Blumenblätter abermals von der Lamarckskerze grundverschieden war.

Die Sachlage war auffällig über alle Maßen.

Die Individuen der beiden fremden Arten steckten so eingekeilt in der Kolonistenlinie der Lamarckier, daß schlechterdings nicht zu begreifen war, wie sie als „fremd“ hier hineingeraten sein sollten. Trotz ihrer Verschiedenheit saßen sie genau so da, als seien sie schlichte Abkömmlinge der Lamarcks-Gesellschaft selbst gleich allen andern des Feldes. Waren sie es nicht wirklich? Und waren sie dann nicht doch bloß gewöhnliche, nur etwas extreme Varianten der Lamarckskerzen?

De Vries trat dem gegenüber zwei feste Beweise an, beide in sich völlig gelungen.

Er brachte beide Sonderlinge im botanischen Garten zu Amsterdam zur Fortpflanzung und stellte fest, daß sie in weiteren Generationen vollständig konstant bleiben: die kurzgriffelige[S. 101] Form erzeugt weiter immer nur Kurzgriffler, die glattblätterige nur Glattblättler. Das gilt im allgemeinen botanisch als Merkmal einer festen Art. Also doch zwei Arten! Keine Varianten von Lamarckskerzen!

Gleichzeitig aber stellte de Vries aus der Literatur und den Musterherbarien von Leiden, Paris und Kew fest, daß bisher weder in Europa noch in Amerika irgend ein Botaniker diese beiden Arten gesehen hatte.

Es waren beides neue Arten!

Zwei bisher unbekannte Nachtkerzen-Arten!

Die eine mußte Oenothera brevistylis, die kurzgriffelige, getauft werden, die andere Oenothera laevifolia, die glattblätterige.

Was war das?

Hatte jemand in aller Stille in einem undurchforschten Winkel Amerikas diese beiden Arten gefunden, hatte ihre Samen heimlich nach Holland gebracht und zwischen die Lamarckier geschmuggelt?

Aber diese ganze Pflanzenkolonie hier war ja grade ein Verwilderungsprodukt, das Ergebnis einer von Menschenhand unberührten Auswanderung sich selbst überlassener Pflanzen von einem unbeachteten Beet auf einen unbenutzten Acker!

Oder welcher unglaubliche Wind sollte diese Samen über den Ozean hinweg hierher geweht haben, — da doch vor dem siebzehnten Jahrhundert niemals offenbar ein einziger Nachtkerzensamen selbst der häufigsten amerikanischen Art auf solchem freien Naturwege zu uns gekommen war?

Je unwahrscheinlicher, unmöglicher alle diese Erklärungen wurden, desto deutlicher arbeitete sich aus dem Ganzen eine Möglichkeit heraus.

Auf dem ursprünglichen Beet war nur die Lamarckiana gewesen. Diese allein war auf den Acker ausgewandert. Dort hatte sie sich üppig vermehrt. Und bei der Gelegenheit hatte sie plötzlich zwei vollkommen neue Nachtkerzen-Arten aus sich erzeugt.

Plötzlich, — das heißt immerhin in der kurzen, übersehbaren[S. 102] Spanne der paar Jahre, seit denen nachweislich die Invasion auf den Acker erst statt haben konnte.

So wäre denn hier das ungeheure Wunder einer Art-Entstehung nicht von uns getrennt durch Jahrmillionen der Vergangenheit oder Äonen der Zukunft, — ganz dicht wäre es nur hinter uns gewesen, zu messen noch an ein paar Nachtkerzen-Generationen in ein paar Menschenjahren.

Eine winzige Spanne zurück — und der Botaniker wäre gradezu drauf gestoßen, — gestoßen auf den Schöpfungsakt zweier neuer Pflanzenarten auf einem Kartoffelacker zu Hilversum ....

De Vries aber sagte sich folgendes. Wenn diese gelbe Kerzenkolonie erst vor zwei Jahren dieses „Wunder“ hier vollbracht hat, so besteht eine höchste Wahrscheinlichkeit, daß sie es auch jetzt noch kann. Und wenn sie es vollbracht hat in der abgeschiedenen Stille dieses Kartoffelwinkels zwischen zwei Hilversumer Kanälen, so wird sie es auch vollbringen in der wissenschaftlichen Helle eines botanischen Gartens.

De Vries sah plötzlich eine Lebensaufgabe vor sich. Er entnahm dem geheimnisvollen Acker Zuchtpflanzen und Samen der echten Lamarckiana und der beiden neuen Arten und brachte sie in den botanischen Garten zu Amsterdam. Wenn diese Abkömmlinge der Schöpfungsstätte unter genauester Kontrolle aufblühten, wenn sie unter den denkbar günstigsten Verhältnissen tausende und tausende von Individuen entfalteten, — ob dann in diesem goldenen Blütenfelde noch einmal und sichtbar jetzt vor Menschenaugen das große Mysterium sich vollziehen würde: die Entstehung einer neuen Pflanzenart?

Es war das eigenartigste Experiment, das der ganze Darwinismus bisher erlebt hatte. Würde es glücken?

Wir sind im Herbst 1886. Zu dieser Zeit also entnahm de Vries dem rätselhaften Acker von Hilversum neun besonders schöne, große Rosetten der echten Lamarckskerze und pflanzte sie in den botanischen Garten zu Amsterdam.

Das bedeutsame Experiment begann.

Zweijährig, wie diese Pflänzchen waren, kamen sie im[S. 103] nächsten Sommer, also 1887, in üppige Blüte und lieferten reichlich Samen. Dieser Samen kam zu neuer Aussaat und lieferte für die Sommer 88 und 89 eine ungeheure Nachkommenschaft, von der rund fünfzehntausend Individuen genau geprüft, gleichsam steckbrieflich aufgenommen wurden.

Wenn die Nachtkerze auch im Garten unter Kontrolle eine neue Art zu erzeugen beliebte, so war jetzt erste Gelegenheit.

Und der Fall ließ in der Tat nicht auf sich warten.

Unter den fünfzehntausend Kerzchen von 88/89 waren genau zehn Stück, die nicht auf den Steckbrief der Lamarckskerze hören wollten.

Da standen zunächst fünf Individuen, die sich als „Zwerge“ gaben.

Trieb die echte Lamarckiana durchweg erst bei Meterhöhe Blüten, so sproßten sie diesen Zwergen schon bei zehn Zentimetern ihres Höhenwachstums. Dabei handelte es sich aber keineswegs um reine Miniaturausgaben im Sinne einfach schwacher Individuen, etwa wie auf so und so viel Menschen auch einmal ein Schwächling weit unter dem Normalmaß kommt. Gleich das erste Blättlein, mit dem die zierliche Rosette einsetzte, erschien schon anders als die Lamarcksblätter, breiter in der Basis, kürzer gestielt, kurz art-verschieden. Wiederum die Blüte, wenn sie kam, war selber gar nicht verkrüppelt, sondern im Verhältnis der Blätter ganz auffällig groß. Kurz: der Botaniker stand vor einer neuen Art. Und, wohlverstanden, vor einer Art, die diesmal nachweislich von echten Lamarcks-Eltern herstammte!

De Vries taufte sie ob ihrer Zwergenhaftigkeit die nanella.

Es erübrigte, sie auf ihre Artbeständigkeit in eigenen, weiteren Generationen zu prüfen, und auch das gelang. Samen der fünf Zwerge ergaben zwanzig neue Exemplare, die mit der höchsten Sorgfalt vor Vermischung mit echten Lamarckiern geschützt wurden. Es ist zur Abwehr solcher Vermischung ein besonderes Verfahren nötig, das erst einen rechten Begriff gibt,[S. 104] welche Arbeit überhaupt in solchen Versuchen steckt. Bekanntlich wird die Befruchtung bei den höheren Pflanzengruppen durchweg so vollzogen, daß männlicher Blütenstaub der einen Blüte auf den weiblichen Griffel einer anderen gebracht wird. Die Vermittler dieser Uebertragung sind bei den höchsten Gruppen (zu denen auch die Nachtkerze gehört) die ab- und zufliegenden Insekten, Bienen, Fliegen, Schmetterlinge, die auf ihrer Honigsuche ohne Willen hier den Staub einer Blüte sich aufpulvern lassen und dort, bei Einkehr in einer anderen, am rechten Fleck zurücklassen. Bei solcher Post wäre nun in unserm Falle nur zu leicht möglich, daß ein Insekt mit echtem Lamarckianastaub bepulvert in eine Nanellablüte kröche. Der Erfolg aber wäre eine Kreuzung der beiden Formen, die die Einsicht hemmte, ob die Nanella, allein gelassen, als echter Artanfang wieder reine Nanellae erzeugte anstatt Lamarckskindern. So mußte denn die Insektenpost hier vorsätzlich ausgeschaltet werden. Jedes Pflänzchen wurde, wenn es Blüten setzte, durch transparente Papierhütchen gegen anfliegende Gäste abgeschlossen, die nötige Befruchtung aber besorgte an Insektenstatt der Professor selbst und zwar stets so, daß er nur den Staub einer echten Nanella wieder auf eine Nanella brachte. Resultat war, daß aus den bewußten zwanzig Nanellae 2463 neue Keimpflanzen hervorgingen, die ausnahmslos Nanella-Zwerge waren. Das entschied.

Inzwischen waren aber die Wunder in den fünfzehntausend ursprünglichen Lamarcks-Abkömmlingen noch nicht zu Ende.

Dabei wuchsen nämlich nochmals genau fünf andere Exemplare, die auch ihren Sonderweg gingen.

Auch sie waren bereits im zweiten oder mindestens dritten Blättchen, das sie trieben, von den Lamarckiern streng unterscheidbar an der wunderbaren Breite und oberen Abrundung ihrer Blätter. Kamen sie ganz herauf, so erwies sich alles an ihnen entsprechend dick und geweitet.

„Dickköpfe“ wurden es, die jeder Laie schon auf den ersten Blick herauskannte. Lata, die Breite, taufte man also diese[S. 105] zweite Nachtkerzen-Art, die unter den Augen des unbestechlichen Beobachters sich aus der echten Lamarckskerze „entwickelt“ hatte.

Von allen bisher erkannten Neu-Arten wich sie am meisten von der Urform ab. Und schade nur, daß diesmal die Dauerhaftigkeit in weiteren Generationen nicht festzustellen war aus einem rein äußerlichen Grunde: diese (und alle später noch beobachteten) Individuen der Lata waren nur in ihren weiblichen Blütenteilen voll entwickelt, in den männlichen dagegen so verkümmert, daß eine Befruchtung mit echtem Lata-Staub unmöglich blieb.

Das Wirtschaften mit solchen Pflanzenkolonieen, die in die vielen Tausende hinein gehen, ist kein Kinderspiel. Trotzdem folgte de Vries zunächst unentwegt noch wieder einer Generation weiter. Er erzielte aus echtem Lamarckssamen der Fünfzehntausend von 88/89 eine Generation für 1890 und 91, die zehntausend gezählte und geprüfte Pflänzchen enthielt.

Unter diesen Zehntausend waren abermals drei Lata-Kerzen und drei Nanella-Kerzen!

Die Kraft, die zu erzeugen, bestand also bei den Lamarckiern auch jetzt noch fort.

Aber außerdem war diesmal ausgespart ein einziges Individuum dabei, das eine dritte Neu-Art darstellte!!

Diese Art war von hervorragender Schönheit. Sie wies rote Blattnerven und breite rote Streifen auf Kelch und Frucht. Die Blüte war größer und dunkler gelb. Ganz besonders auffällig aber war ihre Sprödigkeit. Stengel und Blätter zerbrachen bei jedem derberen Stoß. Schlug man von oben auf die blühende Pflanze, so zersprang „der Stengel förmlich in mehrere Stücke mit glatten Bruchflächen“. Den Grund bildete die sehr schwache Ausbildung der mikroskopischen Bastfasern, — ein interessanter Umstand als Beweis, wie tief bis in ihre feinste Struktur hinein diese Art von der echten Lamarckiana verschieden ist. Im übrigen war grade sie über allen Verdacht hinaus kräftig und fruchtbar.

Rubrinervis, die Rotnervige, nannte sie ihr Entdecker, und diese Rotnerven-Kerze gab in der Folge, als sie noch einmal[S. 106] und zahlreicher in einer Lamarckszucht „entstand“, aus acht Individuen Samen für tausend Nachkommen, von denen 999 echte Rotnerver waren, und nur ein einziges Exemplar die alte Lamarckierin.

Selbst dieser eine Rückschlag war höchstwahrscheinlich gar kein echter, sondern Ergebnis einer zufälligen Einschleppung in das Beobachtungsbeet. Denn eine weitere Samengeneration lieferte 1114 Pflanzen, die samt und sonders rote Blattnerven besaßen.

Leider wurden die Schwierigkeiten der Kultur jetzt so groß, daß für eine Weile das großartige Experiment ruhen mußte. Drei Jahre ruhten die Samen der Sommergeneration von 1891 unbenutzt und mit ihnen ruhte so lange das Schöpfungswunder von Amsterdam.

Endlich 1895 kam es zu neuer Aussaat.

Reichlicher als früher wurde diesmal der Boden gedüngt. In größerem Stil als je wurde alles aufgenommen. Alle Befruchtungen wurden mit raffiniertester Gewissenhaftigkeit künstlich unter Dütenschutz vollzogen, die Statistiken mit polizeilicher Sorgfalt geführt.

Und abermals wuchs eine Generation auf, eine einjährige diesmal, abermals vierzehntausend Individuen. Und staunenswertes Resultat: die Artbildung warf abermals Wellen, stärker als je zuvor.

Da standen unter den Vierzehntausend zunächst sechzig Nanella-Zwerge.

Dann dreiundsiebzig Lata-Dickköpfe.

Und endlich acht Rotnervchen.

Wie aber diese Rubrinervis das vorige Mal als einzige ihrer Art plötzlich aufgetaucht war, so erhob sich diesmal aus seiner Rosette ein Einzelindividuum je von zwei nochmals völlig neuen Arten.

Der eine dieser Revolutionäre auf eigene Faust war im Gegensatz zu den Zwergen ein Riese, kräftig, breitblätterig, mit gewaltigen Blüten bei kurzer Frucht.

Augenblicks, da das gelbe Feld der Vierzehntausend von[S. 107] 1895 in Flor trat, stachen diese Prachtblüten aus der Menge vor. Nie vorher konnte ein Exemplar solcher Größe dabei gewesen sein, — es war schlechterdings eine Neuheit wieder. Und doch eine Neuheit vom alten Stamm, — vom einen Stamm, der jetzt in der vierten Generation streng nachweislich reine Lamarckiana-Zucht war!

Gigas wurde der Riese mit Recht benannt.

Er erwies sich in 450 weiteren Sprößlingen aus Selbstbefruchtung konstant insofern, als er keine einzige Lamarckiana wieder hervorbrachte; dagegen erlaubte er sich schon in der nächsten Generation eine eigene neue Art in einem einzigen Exemplar zu zeugen: einen Riesen im Einzelwuchs, der doch in der Gesamthöhe nur das Zwergenmaß der Nanella erreichte. Weitere Generationen blieben dagegen unverändert beim Riesentypus, wahrten ihm also sein Art-Recht ungeschmälert fort.

Der andere Individualist der Vierzehntausend hatte schmale, langgestielte Blätter von eigenartig glänzender Oberfläche ohne Buckeln und von einer ganz besonderen dunkelgrünen Färbung, durch die sich die Nerven weißlich dehnten. Die Blüten waren diesmal klein wie bei der kleinblütigen Biennis-Nachtkerze, die sich grade in diesem Punkt so von der Lamarckierin schied.

Scintillans, die Glänzende, wurde diese Neu-Art getauft.

Ihre Dauerhaftigkeit unterlag in der Folge Zweifeln, doch ist die Sache noch nicht klar aufgehellt, weder positiv noch negativ.

Interessierte in diesen beiden Fällen das pionierhaft Vereinzelte der Neuschöpfung, so wirkte grade umgekehrt, daß eine dritte „Art“ diesmal sofort in ganzen hundertsechsundsiebzig Exemplaren aufmarschierte.

Schmal waren auch ihre Blätter und langgestielt, aber auffälliger noch als bei allen andern, und kenntlich dabei durch die breiten, blassen, oft rötlichen Nerven. Die Größe blieb hinter der Lamarckskerze zurück, ohne sie doch zum Zwerg zu degradieren. Und auch sonst fehlte es nicht an Sondermerkmalen.[S. 108] Die Dauerhaftigkeit erhellte sicher aus allen weiteren Kulturversuchen.

Oblonga wurde Taufname.

Endlich erwiesen sich noch fünfzehn Exemplare der Masse diesmal sicher als Neukerze, obwohl man ihnen Ähnliches schon in den früheren Generationen gewahrt, aber nicht als Neu-Art angesprochen hatte. Es handelte sich um schöne, aber stets sehr hinfällige Kerzen von weißlichgrauer Blattfarbe, viel kleiner als die Lamarckierin in Wuchs wie Blüte. Früher erschienen sie nur als Krankheits-Varianten. Jetzt erkannte de Vries auch in ihnen eine feste Art, deren Dauerhaftigkeit sich denn auch anstandslos bewährte.

Albida, die Weißliche, hieß sie fortan.

Auf vierzehntausend Kerzen aus Lamarckssaat also im ganzen dreihundertundvierunddreißig abweichende Exemplare in nicht weniger als sieben von der Lamarckskerze verschiedenen Arten!

Die Versuche in dieser Reihe wurden bis 1899 fortgesetzt, jedes Jahr mit einer neuen Folge-Generation. Mit der achten Folge war die ungeheuerliche Ziffer von fünfzigtausend genau untersuchten Individuen erreicht. Über achthundert hatten eigene Wege in die genannten sieben Arten eingeschlagen. Eine weitere Art über die sieben hinaus kam in dieser Reihe nicht mehr hinzu.

Inzwischen waren aber gleichzeitige Kulturen aus andern Samen des Hilversumer Ackers in Amsterdam durchgeführt worden, zum Beispiel von jener ursprünglich schon wild in Hilversum entdeckten glattblättrigen Art, und auch dort waren in langen Generationsketten neue Arten aufgetaucht, teils die gleichen, schon genannten, teils noch andere.

Endlich war das Hilversumer Wunderfeld selbst fort und fort unter Aufsicht geblieben und es hatte sich herausgestellt, daß fünf der Amsterdamer Neu-Arten auch dort im wilden Zustand in den Jahren erschienen waren, so die Breite und der Zwerg.

Das sind die Tatsachen.

[S. 109]

Wie die ganze Fülle der Beobachtungen und Experimente in dem de Vriesschen Prachtwerke „Die Mutationstheorie“ (erster Band, Leipzig, Veits Verlag) ausführlich und mit schönen Farbentafeln in Wort und Bild dargelegt ist, macht sie nicht den Eindruck, als wenn an dem grundlegenden Material noch viel wesentliche Kritik geübt werden könnte.

Was de Vries gesehen hat, scheint fortan zu unserm wissenschaftlichen Stammstoff zu gehören und jede Theorie muß damit rechnen.

De Vries selber aber hat jedenfalls das erste Recht, auch zu einer solchen Theorie gehört zu werden.

Nachdem er seine Tatsachen einigermaßen beisammen hatte, verwertete er sie für folgende verallgemeinernde Sätze.

Diese hier beschriebenen neuen Nachtkerzen-Arten sind nicht gewöhnliche Varietäten.

Kleine, individuelle Variantenbildung lief während der ganzen Studie immer und überall nebenher, ohne die Sache irgendwie zu berühren. Die ersten Hilversumer Lamarckskerzen variierten so im kleinen, es variierten ihre fünfzigtausend Nachkommen in Amsterdam, es variierten innerhalb ihres typischen Bildes wieder die entstandenen Neuarten selbst in all ihren Reinkulturen, kurz, diese kleinen Schwankungen gingen immer und überall nebenher, änderten oder taten zur Sache, um die es sich handelt, aber gar nichts. Es war eben, wie wenn fünfzigtausend Menschen verschiedene Nasen haben: sie bleiben darum doch alle Mensch und es wird keiner zu einer außermenschlichen Art.

Solches Werden im letzteren Sinn aber entspräche nach de Vries tatsächlich dem, was bei Entstehung jener sieben und mehr Neuformen aus der Lamarckskerze vorliegt. Hier hat irgend ein Innenakt der Pflanze aus einer Art eine ganze Kolonie neuer Arten plötzlich, von Generation zu Generation, hervorbrechen lassen, — echte Arten mit allen Merkmalen von solchen.

So lautet denn de Vries’ erster Lehrsatz: eine Pflanzenart hat unter Umständen die Kraft, eine ihr verwandte, aber doch[S. 110] grundlegend verschiedene neue Art plötzlich, ruckweise aus sich bei der Fortpflanzung entstehen zu lassen. Im Gegensatz zur gewöhnlichen Variation bezeichnet er diesen Akt als eine „Mutation“, von mutare, verwandeln.

Es handelt sich dabei nicht um eine kleine individuelle Abweichung in irgend welchen Merkmalen, sondern um einen Ruck, bei dem die Tochterpflanze in ihrem tiefsten Wesen als Ganzes aufgerüttelt, umgerüttelt, neu fundiert, verwandelt erscheint.

De Vries gebraucht zur Klarlegung des Unterschiedes zwischen Variation und Mutation gelegentlich ein sehr hübsches Bild, das von F. Galton herrührt. Man denke sich ein sogenanntes Polyeder, einen Körper mit vielen verschiedenen Flächen nach allen Seiten. Als Bild kann gut einer jener schönen kristallenen Briefbeschwerer mit vielen Schliff-Flächen dienen, die man öfter sieht. Ein solcher Kristallblock gerate auf eine schiefe Ebene. Er liegt zunächst fest auf einer seiner Schliffflächen. Aber die Ebene senkt sich unter ihm und er beginnt zu rutschen, — zunächst auf dieser seiner Fläche. Die Rutschpartie geht schneller: er beginnt zu kippen. Er schwankt, balanziert auf der unteren Kante seiner Grundfläche, neigt sich etwas vor und zurück. Aber noch zwingt ihn die Schwere in die alte Lage zurück, er fällt wieder in die alte Basis, entfernt sich nicht dauernd von ihr, sondern oszilliert nun gleichsam um sie herum. Das wäre die Variation einer Art auf der schiefen Ebene ihrer Fortpflanzung! Indessen plötzlich jetzt ein Ruck: unser Kristallblock hat auf einer stärksten Neigungsstelle das Übergewicht bekommen, ist gekippt — und liegt jäh auf seiner nächsten Schlifffläche. Er hat seine Basis verändert. Um die mag er jetzt wieder schwanken, oszillieren, — jedenfalls ist es ein Oszillieren um einen ganz neuen, veränderten Schwerpunkt. Dieser Ruck, dieser Sturz, diese plötzliche Basisänderung — ist eine Mutation. Die Art oszilliert, variiert bei ihr nicht um ihre gegebene Basis, — sie fällt in sich um auf eine neue Basis: sie erzeugt eine neue Art.

Die Entdeckung dieser Mutation als einer experimentell[S. 111] gesicherten Sache hielt de Vries für seine wichtigste Leistung. Aber er blieb dabei nicht stehen.

Er folgerte weiter, daß die Mutation nicht wie die Variation eine beständige Begleiterscheinung im Leben der Pflanzenarten sei, sondern wahrscheinlich in gewissen Perioden sich einstelle.

Eine Art kann lange auf ihrer Fortpflanzungsbahn bloß oszillieren. Dann plötzlich macht sie Sprünge, bei denen die Basis jäh wechselt: sie tritt in eine Mutationsperiode.

Für diesen Sachverhalt spricht die Ruhe so vieler Pflanzenarten, die, lange beobachtet, keinerlei Mutationen zeigen, und umgekehrt dieser Nachtkerzenfall, wo in kürzester Frist die Neubildungen sich jagen und überall, oft in verhältnismäßig kolossaler Individuenzahl, hervorbrechen.

Hier lag ja nun die Frage nahe genug, welches Gesetz denn diesen Wechsel von Ruhezeit und Mutationszeit bestimme, — oder mit anderen Worten: was für ein Grund die Pflanze überhaupt zur Mutation zwinge? Diese Frage mit irgend einer Theorie zu beantworten, vermaß sich indessen de Vries vorläufig nicht.

Seine Experimente gaben keinen Anhalt dafür. Seine Nachtkerze war offenbar schon im wildesten Trubel einer Mutationsperiode, als er sie fand. Den Anfang der Dinge sah er nicht. Vermuten ließ sich höchstens ein Zusammenhang zwischen der äußerst üppigen und raschen Vermehrung durch Eroberung des Hilversumer Ackers und dem Eintritt dieser Periode. Doch warf das de Vries nur so als Denkbarkeit hin.

Im wesentlichen resignierte er: die äußeren Ursachen der Mutabilität seien uns noch völlig unbekannt. Um so energischer aber erörterte und entschied er einen verwandten Punkt.

Die Mutation arbeitet — richtungslos!

Die Lamarckskerze, wie sie gegeben war, erscheint als eine gute Anpassung an den Daseinskampf. Wir sehen sie in Amerika sich halten, in Europa fortblühen, sehen sie als Pionier, der sich wieder wild macht, den Hilversumer Acker erobern, kurz, sie steht ihren Mann.

[S. 112]

Wie geht es nun mit den Neuarten? Sind sie noch besser? Sind sie schlechter? Ist etwas Besonderes in bestimmter Richtung an ihnen „verändert“? Etwas pro oder kontra?

Der Sachverhalt der vorhandenen Neuarten gibt eine feste Antwort.

Die Abänderungen umfassen alle Organe gradezu und gehen überall in fast jeder Richtung. Die Pflanzen werden stärker, sagt de Vries, oder schwächer, mit breiteren und schmäleren Blättern. Die Blumen werden größer und dunkler gelb, oder kleiner und blasser. Die Früchte werden länger oder kürzer. Die Oberhaut wird unebener oder glätter; die Buckeln auf den Blättern nehmen zu oder ab. Die Produktion der Pollen nimmt zu oder ab; die Samen werden größer oder kleiner, reichlicher oder spärlicher. Die Pflanze wird weiblich oder fast männlich; manche hier noch nicht beschriebene Formen waren völlig steril, einige nahezu ohne Blüten. Einige neigten mehr zur Zweijährigkeit, andere weniger, eine war fast rein einjährig. Das entscheidet jene Frage. Diese Abänderungen sind in kunterbunter Reihe teils nützlich, — teils indifferent — teils ausgesprochen schädlich. Die Riesenform Gigas ist der Lamarckiana anscheinend in jedem Betracht über. Die Zwergform Nanella und die zerbrechliche Rubrinervis sind wehrloser als die Lamarckskerze. Eine Neuart, die unfruchtbar ist, ist selbstverständlich ein unrettbarer Todeskandidat. Also: der Mutationsprozeß, was er nun auch für eine Triebfeder habe, arbeitet hinsichtlich der Anpassung, der Kampfstärke im Leben richtungslos, — bald pro, bald kontra. Er probt blind „Möglichkeiten“ durch, indem er bessere, schlechtere, gleiche Würfel regellos ausstreut.

Daraus aber mußte sich für de Vries folgerichtig noch ein weiterer Satz ergeben.

Über die Fortexistenz der regellos geschaffenen Mutationsarten entschied der Daseinskampf!

Er merzte die schlechteren Neuschöpfungen aus. Bei Gleichheit im Lebenswert ließ er je nachdem Mutterart und[S. 113] Mutationsarten nebeneinander bestehen. War dagegen ein Mutationsprodukt besser angepaßt, brauchbarer als alle Mitmutationen und als die Mutterart selbst, so ließ er diese beste Form allein bestehen und merzte alle anderen aus.

Die Rolle des Daseinskampfes war in diesem Sinne zwar eine gewaltige, — aber sie war rein — negativ. Er machte nicht die Mutation.

Er konnte an sie als gegebenes „Absolutes“ direkt in keiner Weise heran.

Aber er warf unablässig alle schlechten Mutationen wieder aus dem Spiel, einschließlich aller überbotenen Stammformen, und reichte einer besten oder einigen gleichberechtigt besten die Palme der Herrschaft.

Indem er ungeheure Ketten von Mißmutationen und wertlos gewordenen Stammformen wie welke Zweige beständig abschnitt, trennte er die überlebenden Sieg-Mutationen durch weite Räume voneinander.

Darum erscheinen uns im Dauerbilde die „Arten“ meist so getrennt, obwohl die Mutationen sich zunächst immer noch so verhältnismäßig nahe gestanden hatten, wie die Lamarckiana und ihre Zwergenkinder, Riesenkinder, Kurzgriffler, Rotnervchen und Glanzblättler.

Ganz scharf tritt in dieser „Mutationstheorie“ die Beziehung wie der Gegensatz hervor zu der engeren Darwinschen Lehre von den Bedingungen der Entwickelung.

De Vries nimmt den ganzen äußeren Besitz des Darwinismus vollzählig in sich auf, er umspannt ihn, wie jede gute neue Theorie alles Gute der älteren umspannen soll, anstatt künstliche Unterschiede zu schaffen.

Dem lauten Getriebe, das heute alle darwinistischen Grundtatsachen wieder aus der Welt reden möchte, steht ein so besonnener Kopf, der grade beim alten Darwin arbeiten gelernt hat, vollkommen fern.

Die fördernde oder hemmende Macht der äußeren Existenzbedingungen, in die die lebenden Wesen jedes für sich eintreten — der „Daseinskampf“, wie es Darwin nannte, ohne selbst[S. 114] in die Mißverständnisse überzulenken, die das vieldeutige Wort im Alltagsleben seitdem erfahren hat — sie bleibt in voller Wucht bestehen.

Wie sollte sie nicht?

Fällt doch jedes neue Pflänzchen auf dieser alten Erde nicht vom Blauen ins Blaue, sondern es tritt vom Tage seiner Entstehung an in ein ungeheures Netz bereits bestehender Verhältnisse, vor denen es sich ausweisen muß, ob es „lebensfähig“ ist. Wenn ein Fischlein im Wasser aus dem Ei kriecht und das Wasser rauscht um es her — und es hat plötzlich durch irgend eine individuelle Veranlagung keine Kiemen, so muß es augenblicks sterben, es ist untauglich zum Lebenskampf. Je besser dagegen seine Kiemen sind, desto flotter kann es das „Leben“, sein Leben in den gegebenen Bedingungen des Fischs im Wasser, aufnehmen. Die Logik dieses Gedankens ist eine immer wieder so schlichte, so schlechterdings zwingende, daß einer sich wirklich schon künstlich in den blinden Zweifel hineinreden muß, um das nicht mehr zu fassen. Wo immer in einer Tier- oder Pflanzenart individuelle Veränderungen auftreten, da muß diese logische Mühle weiter mahlen, da muß eine Selektion, eine Auslese des Besseren, vor den äußeren gegebenen Bedingungen Zweckmäßigeren, und eine Ausmerzung des Schlechteren stattfinden. Und das Resultat muß eine beständige Annäherung sein an eine immer bessere, eine beste „Anpassung“ der Gesamtmenge an diese Bedingungen, — also genau das, was wir in so ungezählten Beispielen wirklicher famosester Anpassung und Zweckdienlichkeit der Lebewesen allerorten auf Erden vor Augen sehen.

Damit ist der Kerngedanke aber der Darwinschen Zuchtwahltheorie immer und immer wieder gerettet als ein schlicht logisches Grundprinzip, um das wir außen und oben, auf der Kampffläche der Dinge, nicht herumkommen.

Was sich aber fragt und von Anfang an schon für alle ernsten Denker, vor allem Darwin selbst, gefragt hat, das ist: wie es sich mit jenen „individuellen Veränderungen“ selbst verhalte, also mit dem Korn, das die Daseinskampfmühle oder[S. 115] das Daseinskampfsieb, wie das Bild besser lautet, zu verarbeiten bekommt?

Die Darwinsche Schule, so will ich einmal etwas allgemeiner hier sagen, hat durchweg angenommen, daß für die große Entwickelungslinie wesentlich jene kleinen individuellen Varianten in Betracht kämen, die, wie erwähnt, ungefähr unter jene statistischen Schwankungsgesetze Quetelets fallen, — also im groben Bilde etwa, was bei uns Menschen sich als Unterschiede in der Nasenlänge oder so etwas Ähnlichem äußert.

Eine solche kleine Variante sollte gelegentlich schon ein kleines Plus im Daseinskampfe geben. Durch bessere Erhaltung auf Grund dieses Plus sollte dieser Daseinskampf sie so zu sagen mehr und mehr in Reinkultur herausarbeiten und allmählich so steigern, daß sie endlich unter die Dauermerkmale der ganzen Art geriet. Ein Komplex solcher endlich fest herangezüchteten Plus-Varianten mochte schließlich das ganze frühere Art-Bild so verwandeln, daß wir Systematiker die ausgelesene Varianten-Elite der Ur-Ur-Enkel gradezu für eine neue Art ansprachen. Und ein Hauptstützmittel dieser Auffassung waren eben die Erfahrungen unserer Gärtner und Tierzüchter, die mit großer Sicherheit behaupteten, genau in dieser Weise, durch stete Auslese der passenderen Varianten, völlig neue Dauerformen „erzeugt“ zu haben.

So die darwinistische offizielle Lehrmeinung.

Nun ist aber in hohem Grade bemerkenswert, daß Darwin selbst mindestens ursprünglich in diesem heikelsten Punkte gar kein extrem waschechter „Darwinianer“ war.

Er betonte, daß sich in der „Variation“ zwei Dinge zu verstecken schienen, zwei nicht ohne weiteres gleiche Dinge.

Erstens nämlich ein stetiges individuelles Wechselspiel von Plus und Minus im Sinne eben jenes Nasenbeispiels. Zweitens aber gewisse plötzliche, unvermittelte Abweichungen vom Grundschema der Art, Varianten, die nicht in die Linie Plus und Minus ausbogen, sondern so zu sagen in eine neue Dimension hinein, in etwas ganz abrupt Neues.

[S. 116]

In der ersten hellsichtigen Genieschau durch das ganze neue Lichtfeld der Dinge sah das Darwin sehr gut.

Als er sich aber dann mehr in die praktischen Gärtner- und Tierzüchter-Versuche hineinarbeitete, vermischte sich ihm die Zweiheit.

Dort fielen die beiden Arten der Variation anscheinend für die Praxis so durcheinander und in eins, daß es unwichtig schien, die Trennung noch zu betonen.

Es folgte die Hochflut der Darwinschen Schule. Insbesondere Wallace trieb den Zuchtwahl-Gedanken aufs gedanklich Äußerste hinauf. Hier war von irgend einer Beachtung des feinen Unterschiedes gar keine Rede mehr. Die Variation war Eines nur und in diesem Einen war entscheidend ausgesprochen bloß die Plus- und Minusschwankung. Aus ihr wuchsen die neuen Arten.

Ist das doch selbstverständlich, meinte Wallace, wenn wir nur etwa ein so einfaches Beispiel anschauen wie unsere tausend Kulturspielarten aus der einzigen Ur-Art des wilden Apfelbaums. Dieser Apfelbaum hat nach Plus und Minus variiert und diese Varianten haben die Gärtner benutzt, um alle die prächtigen süßen Apfelsorten unserer Obstgärten allmählich herauszufixieren. Dabei sind die Äpfel aber keineswegs bloß süß geworden. Es sind so und so viel echte Apfelspielarten von recht verschiedenem Bau dabei herausgekommen, — ein Beweis, daß die ursprüngliche einfache Plus-Variante auch den Keim solcher Artbildung bot.

Und das schien wirklich schlagend. Eine ganze Generation beugte sich. Wer da oder dort zweifelte, der geriet in das Dilemma, ob er etwa mit dem ganzen Darwinismus brechen wollte ob seiner Ketzergedanken. So unzertrennbar fest schien diese Masche im großen Netz der Theorie zu stecken, daß man gradezu glaubte, sie trüge das Ganze und der große Entwickelungsgedanke müsse unten durchfallen, wenn man sie löse.

Nun, meint de Vries, die Entwickelungslehre als solche steht heute auf so breiten Füßen, daß man diese Skrupel wahrlich abtun kann. Eine neue Prüfung des Variationsproblems[S. 117] ändert da auch nicht ein Titelchen. Zumal wir eigentlich nur auf Darwins eigene erste Ideenlinie zurücklenken. Und so steht denn hier die Lamarcksche Nachtkerze mit ihren „Mutationen“ und wirft eine ganz neue Farbe ins Bild.

Sie besagt mit ihrer proteisch vielseitigen Person zunächst klipp und klar, daß es jene Doppelgestalt hinter dem einfachen Wörtchen „Variation“ wirklich gibt. Es gibt neben dem Variieren im Sinne von Hin- und Herpendeln der Plus- und Minus-Varianten auf der Art-Kante noch ein regelrechtes Umkippen in neue Art-Merkmale hinein, eine Sorte Variation, die eben mit besserem Wort als „Mutation“ von der gewöhnlichen geschieden wird.

Das aber geklärt, kommt nunmehr ein Vorstoß allerdings über Darwin hinaus und sogar gegen ihn.

Über diese Mutations-Varianten und nicht über die einfachen Schwankungs-Varianten läuft nach de Vries und ist immer gelaufen die wahre Neubildung von Arten. Alle Behauptungen und angeblichen Resultate der Gärtner und Tierzüchter, alle noch so sicheren Schlüsse und Thesen der hyperdarwinistischen Theoretiker sind falsch, so weit sie die Entstehung irgend einer neuen Art durch künstliche oder natürliche Weiterzüchtung einfacher Plus-Minus-Varianten behaupten.

Wo ein Ergebnis dieser Sorte durch Zuchtwahl mit „Varianten überhaupt“ zustande gekommen ist, da steckten eben Mutationen mit darunter, sie haben nachgeholfen ganz in der Stille und ein Gewinnlos in die an sich falsch gestellte Nietenlotterie eingeschmuggelt. Beispiel: eben die Wallacesche Geschichte der Gartenäpfel.

Die künstliche Gärtnerzuchtwahl konnte wohl aus sauren Wildäpfeln süße Kulturäpfel durch einfache Ausnutzung der kleinen Schwankungs-Varianten machen. Hier handelte es sich bloß um Steigerung einer Plus-Variante im Zuckergehalt bis auf ein extremes Maximum. Das ist genau der gleiche Erfolg wie bei dem allbekannten Beispiel der Zuckerrüben, über das die einwandfreieste Statistik vorliegt. Niemals wird so[S. 118] ein eigentlich konstanter Wert geschaffen. Läßt man die künstliche Auslese ruhen, läßt die süße Kulturform wieder verwildern, so sinkt sie binnen kurzem wieder auf den zuckerärmeren Urstand zurück, der Kulturapfel wird wieder Holzapfel, die Zuckerrübe in unserm Zuchtsinne verschwindet wieder von der Erde. Vollends aber niemals entsteht bei einfachem Zuchtprozeß auf diesem Wege der Variantennutzung eine feste neue Spielart, die sich nicht bloß in einem einseitigen Plusmerkmal von der Stammart unterschiede und darin in alle Nachkommenschaft hinein konstant bliebe. Nie ist es bei den Zuckerrüben passiert.

Aber doch bei den Äpfeln? Keineswegs auch da, sagt de Vries. Die wahre Tatsache ist in diesem Falle, daß schon der wilde Holzapfel eine gewaltig mutierende Pflanze war, die sich bereits wild in so und so viel Unterarten zerspalten hatte, in echte Mutations-Varianten also, die natürlich als solche konstant waren und das schönste Ur-Material bereits lieferten. Die Gärtner haben sie durch Ausnutzung ihrer jedesmal „auch“ vorhandenen Plus-Varianten des Zuckergehalts einzeln zu Kulturäpfeln umgeformt. Dabei sind die Spielarten als solche eben geblieben, — niemals aber sind sie erst bei dem Gärtnerprozeß der Versüßung, den alle parallel erlebten, selber „erzeugt“ worden.

Dieser Fall gibt nach de Vries gradezu den Schlüssel für alle jene Irrtumsquellen, wo Arten durch Steigerung der einfachen Variation gewonnen worden sein sollten. Immer war Mutation im Spiel, ungewollte, unberechenbare, einfach in den Schoß fallende Mutation als Akt des tiefsten Eigenlebens der Pflanze, — wenn die Sache gelang! Fehlte sie als Kräutchen Nießmitlust, so mochte die Pastete hundert Jahre schmoren, es gab keinen Erfolg.

Daher die Klagen der Gärtner, daß sie mit aller Variations-Nutzung keine blauen Georginen, großen weißen Kannablüten, hochgelben Hyazinthen „erzeugen“ konnten. Die stille Helferin Mutation warf eben diese Nummern bisher nicht ins Spiel. Daher der alte tiefsinnige Praktikersatz: „Die erste Bedingung,[S. 119] um eine Neuheit hervorzubringen, ist, sie bereits zu besitzen.“ Zu besitzen: das heißt, vom Glück so begünstigt zu werden, daß die Mutation, selber unbeherrschbar wie sie ist, sie einem grade ins Spiel setzt. Sonst hilft alle Zuchtwahl und alles Rübenglück nichts.

Wenn es aber mit der künstlichen, uns zugänglichen Züchtung so steht, dann wird es wohl mit der natürlichen, auf die wir ja nur von hierher schließen, ebenso sein.

Auch der freie Daseinskampf wird nur echte Neuheiten mit Dauerwert durch die Arbeit der Mutation seit alters zur Verfügung gehabt haben, von denen er dann die einen bestehen lassen, die andern, unpraktischen ausroden konnte.

Mit den Varianten der einfachen Sorte aber wird auch er nichts weiter haben anfangen können, als daß er diese oder jene eine Weile ins Extrem trieb; zog er die Hand von solchem Schützling, weil sich in seinen eigenen Bedingungen lokal etwas änderte, so fiel das sofort wieder ab, ohne daß je eine wirkliche innere Erneuerung damit angeregt gewesen wäre.

Es ist sehr wichtig, daß im Augenblick, da man bis hierher mitgeht, ein tatsächliches Sachverhältnis in der Tier- und Pflanzenwelt sich plötzlich ganz von selbst aufhellt.

So lange die Zuchtwahl-Theorie mit ihrer Anpassungs-Idee jetzt in der Welt ist, so lange ist auch von Freund, wie Gegner (am schärfsten wieder von Darwin selbst) erkannt und betont worden, daß ihr ein Zug im Bilde der Arten, wenn nicht direkt widerspricht, so doch zäh widerstrebt.

Die charakteristischen Eigenschaften der einzelnen Tier- und Pflanzenarten lassen sich in ungezählten Fällen in zwei scharfe Gruppen sondern.

Die einen fallen unter den Anpassungsbegriff.

Sie sind dem lebenden Geschöpf im Lebenskampfe ausgesprochen nützlich, z. B. wenn ein Laubfrosch, der auf grünen Blättern lebt, grün ist. Zur Verteidigung der Zuchtwahl-Theorie im ganzen sind diese Fälle stets sehr hell beleuchtet worden und kein Mensch mit gesunden Sinnen kann auch[S. 120] wirklich leugnen, daß sie Legion sind und für ihr Teil alles beweisen, was die kühnste Theorie hier verlangen kann.

Die zweite Gruppe bilden auch daneben nicht etwa umgekehrt Nichtanpassungen im Sinne von offenbaren Schädlichkeiten, groben Unzweckmäßigkeiten. Wo solche auffällig beständen, da könnte man ja sagen, die ganze Anpassungs-Idee sei unmöglich — aber man könnte wohl ebenso sicher sagen, das Tier oder die Pflanze mit solchem Selbstgift der angeborenen Unzweckmäßigkeit sei unmöglich.

Was aber nicht unmöglich ist, vielmehr ebenso tausendfältig wie die Schutzanpassungen uns vor Augen steht, das ist die Existenz von völlig indifferenten Merkmalen, bei allen Tier- und Pflanzenarten, — Merkmalen, die schlechterdings mit Schutz im Lebenskampfe nichts zu tun haben — und die doch da sind.

Eine Tiersorte, die auf grünen Blättern lebt, sei im ganzen grün. Gut, das ist die Schutzseite. Aber jetzt spaltet diese grüne Tiersorte sich noch wieder in eine Portion Einzelarten, die sich durch allerhand kleine, meist von fern so gut wie garnicht sichtbare Merkmale voneinander unterscheiden, — Merkmale, die mit Anpassung auch im weitesten Sinne unbedingt nichts zu tun haben, sondern in Hinsicht auf sie reinweg wie Spielereien der Natur, wie ein unabhängiges Durchproben von hundert indifferenten Möglichkeiten jenseits von Schutz und Nichtschutz sich ausnehmen. Bei unserer systematischen Trennung der einzelnen Arten spielen diese Merkmale vielfältig die Hauptrolle. Und doch finden wir keinen „Zweck“ in ihnen vom Boden der Anpassungstheorie.

Wie ist es nun gekommen, daß sie sich überhaupt erhalten konnten, fixieren konnten, wenn alle Eigenschaften der Tiere und Pflanzen erst durch die Anpassungsmaschine des Daseinskampfes aus kleinen Plus- und Minus-Varianten langsam heraufgezüchtet worden sind?

Diese Maschine hatte ja nicht das leiseste Interesse an irgend einem vom Schutzzweck aus indifferenten Plus oder Minus. Wie konnte es dennoch dahin kommen, daß solche[S. 121] Merkmale konstant wurden, ja sich schließlich dem Systematiker gradezu strenger aufdrängten als die Anpassungssachen?

Darwin suchte vor dieser Frage in allen Jahren seines Hauptschaffens nach Auswegen, kühn und ehrlich mit dem Blick auf den Tatsachen.

Einen Teil jener Merkmale, gewisse rhythmische Gebilde besonders in Farben und Formen, schob er bei den höheren Tieren auf den Schönheitssinn bei der Liebeswahl, er führte seine sogenannte „geschlechtliche Zuchtwahl“ ins Spiel. Er wußte selbst, daß er damit nur einen ganz bestimmten Ausschnitt packte, niemals die Hauptsache, um die es ging.

Dann betonte er scharfsinnig ein Gesetz, daß, wenn ein Merkmal bei einer Tierart so und so durch Züchtung werde, so und so viel andere Merkmale sich auf Grund eines geheimen Zusammenhangs, der aber nicht im Schutzzweck lag, mit veränderten, — das sogenannte „Gesetz der Korrelation“. Wurde ein Tier aus Schutzzwecken grün, so konnte das eine Portion anderer Merkmale an ihm erwecken, die an sich nichts mit Grün und Schutz zu tun hatten, aber so lange der Art verbleiben mußten, wie sie grün blieb.

Aber auch das traf nur gewisse Einzelfälle, in der Masse aber versagte es, — ganz abgesehen noch davon, daß es ein „Gesetz“ mit ganz dunklen Faktoren in sich war. Unzählige Arten waren sämtlich aus Schutzzwecken grün und hatten dabei erst recht nicht alle übrigen Artmerkmale gemeinsam und gleich bekommen, sondern sie waren grade sonst so verschieden, daß man sie als selbständige Arten zählte.

Diese ganze Schwierigkeit aber hebt sich im gleichen Augenblick, da wir von der Mutationstheorie ausgehen.

Bei ihr züchtet der Lebenskampf nicht erst die Artmerkmale aus kleinen Schwankungsvariationen allmählich heran. Sondern er merzt bloß aus dem anmarschierenden Heer ewig neuer Mutations-Arten, die alle Sortenmerkmale zur Probe mitbringen, alle die aus, die aufdringlich unzweckmäßige Merkmale zeigen. Alle Mutationen mit nützlichen oder mit indifferenten Merkmalen läßt er dagegen durchpassieren. Diese[S. 122] sind sofort als „Art“ da, pflanzen sich konstant fort und bilden das Material unserer Systeme. Naturgemäß müssen ihre Merkmale sich fort und fort zusammensetzen aus den beiden Urgruppen: nützlichen — und indifferenten, — genau wie es wirklich im Tatbestande der Fall ist.

In der schönsten Weise ordnet sich der ungeheure Formenreichtum der lebendigen Natur hier in die Theorie ein, ohne daß alles durch das Prokrustesbett der reinen „Nützlichkeit“ durch muß. So und so viel fällt auf die, — aber es braucht durchaus nicht alles hierher zu fallen, was da ist. Denn bei freiem Durchmutieren in alle Möglichkeiten hinein muß mindestens ebenso viel Indifferentes sich einstellen, wie ausgespart Nützliches, wahrscheinlich sogar sehr viel mehr.

Grade an dieser Stelle aber lenkt die gesamte Frage doch auch wieder zurück zu jener schon einmal gestreiften Grundfrage: wie es sich mit den Ursachen der Mutation selbst verhalte und ob es nicht doch möglich sei, in sie hinein noch ein letztes formbildendes Gesetz zu verfolgen.

Es ist keine Frage: in der Darwinschen Linie sieht man zunächst mehr von den treibenden Ursachen des ganzen Hergangs, als bei de Vries.

Die Hauptursache liegt dort im hellen Lichte der Naturzüchtung und nur ein kleines Sätzchen bleibt als Unbekanntes, als „Sprung“: die schlichte Plus- und Minus-Schwankung, mit der die Mühle zu mahlen anfängt. Bei de Vries springt die Mutation allsogleich auf den Plan wie ein fertiger Ritter — und alles, was wir sehen, ist bloß der Ausweis, ob es ein sieghafter Held oder ein armer Don Quixote vor der Praxis sei.

De Vries verwahrt sich zwar gegen den „Sprung“. Es bleibe zu recht, daß die Natur non facit saltus, keine Saltomortales mache. Ein Ruck sei die Mutation, kein Sprung. Aber auch der Ruck ist doch ein herzhafter, auf alle Fälle. Und das gibt mit größerer Dunkelheit auch erhöhte Grübellust.

Der rein theoretische Gedanke, daß die Entwickelung sich stoßweise vollziehe, — von Art zu Neu-Art ohne die Vermittelung[S. 123] einer langen, langsam gesteigerten Varietätenkette, — dieser Gedanke brauchte nicht erst als solcher von de Vries eingeführt zu werden.

Er ist dagewesen, so lange wir überhaupt wissenschaftliche Formen der Entwickelungslehre haben. So lange wir den Darwin hatten, hatten wir auch den Kölliker, den trefflichen Anatomen, der die „sprungweise Entwickelung“, wie er es ruhig nannte, als sein Evangelium lehrte. Beweise gab es freilich nicht. Aber man hatte die Idee. Und da man bestritt, daß Darwin scharf beweisbar sei, hielt man sich die Möglichkeit offen. Bisweilen schien es sogar, als melde sich eine wahre Tatsache dazu.

Da war ein absonderlicher Molch im See von Mexiko, das „Axolotl“. Die alten Azteken zu Cortez des Eroberers Zeiten hatten ihn schon als Leckerbissen in einer Pfefferbrühe verspeist. Heute kennt ihn jeder Junge, der ein Aquarium hat.

Als man ihn wissenschaftlich beschrieb (Humboldt hatte ihn mitgebracht), lebte er als sogenannter „Kiemenmolch“ in seinem See, mit Kiemen zur Wasseratmung wie ein Fisch, und so fortpflanzungsfähig, — im übrigen aber doch schon ein Molch aus der Verwandtschaft unserer lungenatmenden echten „Salamander und Molche“. Im Pflanzengarten zu Paris nun geschah eines Tages das große Wunder: besagtes Axolotl kletterte, als man ihm Raum gab, aus dem Wasser aufs Land und verwandelte sich selber regelrecht in einen echten Land- und Lungenmolch gleich unserm Feuersalamander. Die Kunde lief also, es habe sich durch einen (immerhin gradezu riesenhaften) Sprung schon hier einmal vor Forschers Augen eine völlig neue, höhere Tierform gebildet.

Aber die Freude hat beim Axolotl nicht lange gedauert. Kritische Köpfe stellten nämlich die triftige Gegentheorie auf, das fischhaft kiemenatmende Axolotl des Sees von Mexiko sei trotz seiner selbständigen Fortpflanzung gar kein fertiges Tier, sondern eine noch unvollkommene Larve. Bekanntlich leben so gut wie alle Amphibien in ihrer frühen Jugend als Larve[S. 124] ebenso fischhaft kiemenatmend im Wasser, Molche wie Frösche und Kröten.

Für gewöhnlich entwickelt sich eine solche Amphibienlarve allerdings schon vor der Geschlechtsreife zum Lungenatmer. Aber es kommen doch auch Hemmungen vor, wo die Tiere sich so wohl bei ihrer Fischstufe fühlen, daß sie schon auf dieser in die Liebeszeit eintreten. So machen es unsere kleinen Teichmolche bereits ab und zu. Das Axolotl aber hatte, scheint es, das auf eine gewisse Zeit dauernd ins Große getrieben. Es hatte nämlich seine Gründe dafür.

Ehemals stieß der See von Mexiko an feuchten Urwald, ein Eldorado für Luft-Molche. Später schwand der Wald, der See schmolz weithin ein und es bildete sich um sein verkleinertes Wasserfeld ein Kranz dürrster Salzsteppe. Da zogen es die Axolotl vor, Generation für Generation fischhaft im Wasser zu verbleiben als „ewige Larven“. Und erst als man ihnen in Paris wieder die alte Gelegenheit eines grünen Pflanzenufers bot, besannen sie sich (bildlich gesprochen) auf ihr altes Schlußkapitel im Lebensroman, krochen ans Land und wurden zum ersten Mal wieder „fertig“. Das war denn nun durchaus kein Köllikerscher „Sprung“: — die angeblich „neue“ Art war in Wahrheit bloß die Wiederherstellung grade der „alten“, die eine Weile etwas in Unordnung geraten war.

Solche Fälle mußten erst recht vorsichtig machen, anstatt den kühnen Sprung-Theoretikern Türen zu öffnen.

Kein Zweifel aber, daß des de Vries Beobachtungen, wenn sie stand halten, jetzt aus dem allgemeinen Behauptungsheer der Sprung-Theorie einen gewissen engeren Teil als wirklich brauchbar herauslösen.

Sie geben aber sofort als Gegengift auch die richtige Einschränkung dazu.

In dem Nachtkerzen-Beispiel von Hilversum ist kein leisester Anhalt für einen so groben Mutationsstoß wie etwa bei dem Axolotl.

Durchaus nicht etwa hat die Lamarcksche Kerze jählings die Wunderkraft gezeigt, eine Winde oder Rose zu produzieren.[S. 125] Sie hat zunächst nur Nachtkerzen, allerdings andere Arten, gebildet. In einer ungeheuren Kette solcher Mutationen möchte man ja auch vermuten (vermuten!), daß die Gattung schließlich überschritten, ja endlich der Kreis der Familie und so weiter von der Mutation Stufe für Stufe gesprengt werde. Aber immer bliebe eine ungeheure Kette, — wenn schon keine so ganz ungeheuerlich lange, wie sie im streng darwinistischen Sinne durch die jedesmal einzuschiebende Varietäten-Unterkette zwischen je zwei Hauptkettengliedern gefordert wird.

Mit großem Nachdruck weist de Vries darauf hin, daß eine seiner „Mutationen“ unter Umständen als eine geringere Abweichung gradezu vom Urtypus erscheinen könnte als eine extreme Varietät jener bewußten belanglosen Sorte, — oder daß sie wenigstens nicht notwendig abweichender sein „müßte“. Ihre entscheidende Sache bleibt eben allemal die Dauerhaftigkeit bei der Fortpflanzung und eine gewisse innere Harmonie ihrer Neuerungen, die uns in jenem guten Bilde sagen läßt: hier hat der Kristallblock nicht nur im Rollen gezittert, geschwankt, sondern er ist regelrecht auf eine neue Fläche gefallen, er ist übergekippt bis zur Basis-Änderung.

Etwas Verschiedenheit ist natürlich immer nötig. Aber es braucht keineswegs rein summarisch viel zu sein. Damit aber schwindet ein gar gewaltiges Stück des eigentlich Trennenden für den Anblick zwischen der also reformierten „Sprung-Theorie“ und der offiziellen darwinistischen Lehrmeinung.

Auch so bleibt ein Stammbaum der Lebewesen mit relativ ganz kleinen Ruckstellen des Wachstums, kleinen Schußstellen von Knoten zu Knoten.

Ein ganzes Bisserl „Schuß“ oder „Ruck“ oder „Sprung“ oder wie man es nun nennen will, war ja wohlverstanden auch jede einfachste darwinistische Varietätenbildung schon.

Wenn ein Mensch mit einer kurzen Nase plötzlich einen Sohn hat mit einer langen: ein Sprünglein liegt auch darin.

Fragt sich bloß, wie groß es im äußersten Falle sein darf, — und das wieder führt auf die Tiefenfrage: welche mechanische[S. 126] Ursache wir hinter ihm zu suchen haben und wie viel Kraft wir der schon für das Ganze beimessen sollen.

Schon aus jenem Kristallflächen-Beispiel erhellt aber sehr nett, wie schlicht mechanisch de Vries da denkt.

Es ist nicht zu leugnen: in der alten Sprung-Theorie war, besonders je größer sie ihre Sprünge sich gedehnt dachte, immer ein Zug auf eine mystische Ausbeutung merkbar. Ob nicht ein „Wunder“ hier lag, so riesig, daß es ewig über unseren Verstand ging?

In dem Bilde des de Vries wird mindestens bildlich absolut klar, was er von der Sache hält. Der Kristallblock kommt ins Rollen. Das ist nichts Mystisch-wunderhaftes, sondern das Bild arbeitet mit einfachsten mechanischen Voraussetzungen. Der Rollblock fängt an zu kippen, zu zittern, zu balanzieren, — abermals nur ein rein natürlicher, im richtig verstandenen Sinne „mechanischer“ Prozeß. Endlich kommt der Block gar zum völligen Kippen, aber doch offenbar wiederum nur durch ein Plus der ursprünglichen naturgesetzlich arbeitenden Kraft, die schon das Rollen und Balanzieren beherrschte.

Was aber im Bilde gilt, faßt hier zugleich die Sache: auch Fortpflanzung, Variation und Mutation erscheinen durchaus nur im festen Banne einer und derselben natürlichen Gesetzlichkeit. Wenn auch unsere Kenntnis die Einzelheiten noch nicht erfassen kann: das natürliche Glaubensbekenntnis des Naturforschers, der Glaube an unzerstörbare Gesetzmäßigkeit ohne Ignorabimus-Lücke, bleibt im Prinzip vollkommen gewahrt.

Das ist aber für den Fortschritt all unserer Sachweisheit doch eigentlich wieder die Hauptsache, — viel wichtiger als etwas Lehrmeinungs-Sieg oder Nicht-Sieg in darwinistischen Einzelheiten.

Die alte Sprung-Theorie, wie sie vor de Vries schon bestand, hatte ja stets da noch eine besondere Liebhaberei gehabt. Sie liebäugelte nämlich mit einem Gedanken, der als solcher wieder noch viel älter als Darwin ist.

Könnte es nicht doch ein besonderes „Entwickelungsgesetz“[S. 127] geben in diesen Sprüngen — und zwar eines, das der Anpassung schon entgegenkäme?

Nehmen wir wieder das einfachste Beispiel.

Auf einem braunen Boden leben braune Tiere, hübsch als solche durch ihre gut angepaßte Farbe geschützt. Nun wird durch Wechsel der Verhältnisse, etwa durch Schnee, der Boden weiß. Braun ist jetzt nicht mehr Trumpf. Die Tiere müßten weiß sein, wenn ihre Feinde sie nicht sehen sollen. Tritt nun nicht am Ende doch grade in solchem Moment prompt der „Sprung“, die Mutation so ein, daß alle nach „Weiß“ springen und mutieren, also daß die nächste Generation genau dem neuen Zweck entsprechend schon eine weiße wäre?

Wie schon erwähnt, ist de Vries selbst radikaler Gegner dieser Meinung.

Seine Nachtkerzen mutierten zwar, aber sie taten es keineswegs nach einer Seite, wie um irgend einem neuen Anpassungsbedürfnis entgegen zu kommen, etwa irgend einem Vorteil, den das neu eroberte Kartoffelfeld bestimmt umgeformten Neuerern gewährt hätte.

Ihr Mutieren verriet nicht das Genie eines Erfinders vor einer äußeren Forderung.

Es glich einem blinden Darauflos-Phantasieren mit dutzenden von neuen Motiven, die unmöglich alle zum Zweck passen konnten.

Das ist also genau, was Darwin auch meinte, bloß daß hier die Mutation trifft, was dort von der angeblich artbildenden Variation galt.

Und wie sollte es denn auch anders sein, meint de Vries. Jedes entgegenarbeitende Entwickelungsgesetz jener Art wäre „Mystik“. „Die Annahme,“ sagt er wörtlich, „einer bestimmten Variierungstendenz, welche das Auftreten zweckmäßiger Änderungen bedingen oder doch nur begünstigen sollte, liegt außerhalb des Rahmens unserer heutigen Naturwissenschaft. Darin liegt ja der große Vorzug der Darwinschen Selektionstheorie, daß sie die ganze Entwickelung des Tier- und Pflanzenreiches ohne die Hülfe außernatürlicher Voraussetzungen zu erklären[S. 128] strebt.“ Eine solche Stelle wird alle beruhigen, die fürchteten, de Vries führe aus dem Darwinismus heraus zu den alten Zweckursachen zurück. Oder, vorsichtiger und weiter noch gesagt: sie wird auch denen die Hoffnung abschneiden, die da wünschten und erwarteten, daß der Ketzer an einigen darwinistischen Grundpunkten, de Vries, mit seinen Nachtkerzen den ganzen Darwinismus an dieser teleologischen Stelle umrennen werde. Im Gegenteil.

Hier grade lockt es mich aber wieder, dazu selber noch ein Wörtchen zu sagen.

Ich möchte nämlich betonen, daß wir mit dem einfachen Sprüchlein von der „Mystik“ an solcher Stelle allein noch nicht auskommen, soll die Sache ganz reinlich werden.

Angenommen doch einmal, die Nachtkerzen hätten wirklich das Umgekehrte bewiesen.

Unumstößlich, so weit ein Einzelbeispiel unumstößlich ist, hätten sie dargetan, daß die Mutation jedesmal genau auf die äußere Forderung reagiert, — also in jenem Exempel von vorhin so, daß etwa der Forderung „Weiß“ ohne jedes Schwanken nun sofort Weiß als Mutation überall antwortete.

Ich frage, was dann?

Sollten wir im gleichen Moment auch schon die ganze Naturforscher-Bude zuschließen müssen und sagen: hier ist ein teleologisches Verhalten, folglich Mystik, folglich Aufhören der Naturwissenschaft, folglich legen wir die Hände in den Schoß?

Ich meine, es würde das ganz andere gelten: daß wir nämlich schlicht auch mit dieser Tatsache naturwissenschaftlich zunächst fertig zu werden suchten.

Wir haben ja den bekanntesten Fall wirklich und viel näher bei uns selbst.

Wir Menschen handeln „zweckmäßig“, wir suchen vor einer neuen äußeren Forderung bewußt nach der zweckmäßigsten Reaktion, — also in jenem Bilde, wenn „Weiß“ gefordert wird, so machen wir uns einfach selber „weiß“. Trotzdem geht unser ganzes neueres Denken dahin, den Menschen nicht[S. 129] mystisch und unwissenschaftlich, sondern grade erst recht als Gegenstand innerhalb der besonnenen Naturforschung zu nehmen. Wir suchen den Menschen einzuordnen in die Natur, suchen ihn mitsamt seinem Bewußtsein, das dieses teleologische Verhalten ermöglicht, in einer Natur unterzubringen, die denn allerdings vernünftiger Maßen so definiert werden muß, daß er auch wirklich mit hinein paßt.

Je nun, die Nachtkerze wäre kein Mensch, also fiele das dort Heranzuziehende hier fort. Aber wenn nun auch die Nachtkerze bei ihrer Mutation gewisse anscheinend zweckmäßige Reaktionen zeigte, so müßten wir wenigstens nach der Analogie doch zunächst auch hier versuchen, natürlich durchzukommen.

Nun ist interessant, daß wir in der Welt der Tiere wie Pflanzen noch eine ganze Reihe Vorgänge haben, wo (tief unterhalb schon des Menschen) eine Art prästabilierter Harmonie zwischen äußerer Forderung und innerer Entwickelungsreaktion wirklich besteht, — nämlich in der Ontogenie, in der Bildung der Tiere und Pflanzen aus Ei und Keim.

Das Hühnchen im Ei entwickelt aus sich heraus Augen, mit denen es im Moment, da es die Eierschale bricht, sehen kann. Jenes Axolotl entwickelt nach innerem Gesetz sich zu bestimmter Zeit, wo es aufs Land soll, die zum Landleben nötigen Lungen. Es ist genau, als sei im werdenden Wesen, in Eizelle, Embryo, Larve, eine Uhrfeder so eingestellt, daß zur rechten Zeit grade das zur äußeren Forderung Zweckmäßigste ausgelöst wird. Im Moment, da das kleine Menschlein das Licht der Welt erblickt, sind seine Augen da, wirklich zu sehen, sind seine Lungen da, wirklich zu atmen. Der Schmetterling bildet sich in der Puppe schon zum Fliegen vor, was die Raupe nicht konnte. Und so ist der Beispiele Legion.

In all diesen Fällen aber fällt es keinem Naturforscher ein, diese ausgesprochen teleologischen Vorgänge als „Mystik außerhalb des naturwissenschaftlichen Denkens“ zu bezeichnen.

Man fühlt bloß das Bedürfnis, zur natürlichen General-Erklärung dieser wunderbaren „prästabilierten Harmonie“ hier[S. 130] noch eine besondere Hülfskette natürlicher Erklärungen hinzunehmen.

Den Schmetterling in der Puppe bildet individuell weder die zu durchfliegende Luft draußen, noch bildet ihn eine unfaßbare mystische Flugsehnsucht ohne Kausalzusammenhang. Sondern es waltet die Vererbung. Die Eltern haben schon die Flugfähigkeit erworben, einerlei jetzt wie, das ist Frage für sich. Dem neu werdenden jungen Schmetterling, ihrem Kinde, haben sie aber durch Vererbung das Uhrwerk so zu sagen schon in den Leib gesetzt, daß es auf die Flügelentwickelung genau losarbeite und rechtzeitig wie eine automatische Weckuhr vor dem „Zweck“ abschnurre.

So wunderbar fein die Sache also auch funktioniert: ein wahres „Wunder“ ist sie keineswegs. Kein vernünftiger Naturforscher bezweifelt, daß bei der „Vererbung“, so verwickelt sie auch sei, alles mit natürlichen Ursachen zugehe.

Jetzt setzen wir den Fall, solche Anzeichen prästabilierter Harmonie von Zweckforderung und Reaktion zeigten sich aber nicht bloß in der Ontogenie, sondern auch in dem bereits, was Haeckel die Phylogenie genannt hat, nämlich eben in der geschichtlichen Entwickelung der ganzen Tier- und Pflanzenarten.

Jede Mutation wäre stets eine zweckmäßige, und das arbeitete genau so wie das kleine teleologische Uhrwerk in der Schmetterlingspuppe. Es hätte für sein Teil die ersten Flügel der Schmetterlingsahnen schon ebenso für den „Zweck“ gebaut, wie heute die Vererbung in der Puppe sie wiederholt.

Der einfache Schluß müßte sein, daß auch das nicht „Mystik“ sei, sondern bloß auf etwas noch Früheres hinweise.

Auch hier schon waltete irgend eine Art Vererbung. Die ganze Phylogenie wäre selber schon etwas wie eine versteckte Ontogenie. Der Stammbaum mit all seinen Arten wäre eigentlich nur die große Auswickelung eines einzigen Individuums, das von dieser Ur-Vererbung als Zweckuhrwerk innerlich beherrscht würde, wie den Schmetterling in seiner[S. 131] Puppe seine Vererbung zweiten Grades beherrscht. Das Leben in den vielen Millionen Jahren seiner Erdgeschichte wäre bereits das Produkt einer ungeheuren Vorgeschichte, die in der ersten Urzelle als „Eizelle“ schon die ganze Zweckmäßigkeits-Uhr für alle folgenden Reaktionen aufgezogen hätte. Und in jeder Mutation sähen wir diese Uhr bloß laufen.

Die „Erwerbung“ der jetzt automatisch bestimmten Dinge aber läge in uns unfaßbaren Aeonen einer unbekannten Vorgeschichte.

So würde ich, wenn es eben not täte, jenes seltsame „innere Entwickelungsgesetz“ zu deuten suchen, nach Analogie des Gegebenen und ganz ohne Mystik.

Gewiß: es läge in der Sache in gewissem Sinne etwas Mißliches.

Wir hätten die Ontogenie zurückgeführt auf die Phylogenie. Aber die Phylogenie wäre selber wieder abhängig von einer hypothetischen Vor-Phylogenie. Immer nur aufgezogene Uhren zweiter Hand. Das Ursprüngliche schöbe sich historisch ganz über unser Gesichtsfeld hinaus. Mißlich! Aber noch nicht mystisch. Solcher Mißlichkeiten haben wir mehr. Auch das Gravitationsgesetz ist für uns „gegeben“ von jenseits unserer Zeit-Weisheit her. Wo hat es sich „entwickelt“ als Eigenschaft der Stoffe? Fragen! Aber doch nur Fragen unserer Beschränkung im geschichtlichen Blick. Nicht das ewige absolute „Tür zu!“ der Mystik!

Je nun, die Sache steht trotz mancher gegenteiligen Behauptung vorläufig tatsächlich nicht so, daß wir auf derartig verwickelte Straßen müßten, — mit de Vries weniger als je.

Aber philosophisch sollte man sich darüber klar bleiben, — das ist immer ein unendlich wichtiges prophylaktisches Mittel!

Wie man sich, um es noch einmal zum Schluß zu betonen, darüber klar bleiben muß, daß selbst die strengste Zuchtwahl-Theorie noch nicht jede Fassung von Teleologie ausschließt. Sie schließt eben bloß eine ganz bestimmte herkömmlich grobe Form aus, die den Zweck als spiritistisches Gespensterpferdchen neben den einfachen völlig ausreichenden[S. 132] braven Gaul des Kausalzusammenhangs einspannen möchte. Nicht dagegen schließt sie eine feinere Teleologie aus, die eben bloß auf das faktische Schlußergebnis schaut und aus dem tatsächlichen schließlichen Herauskommen einer zweckmäßigen Welt, eines „harmonischen“ Verhältnisses der Dinge die Vermutung entnimmt, es müsse schon in der Uranlage der Welt eine Anlage mitgegeben gewesen sein, die das bedingte, — das Ideal einer zweckmäßigen Welt, das sich aber dann realisierte auf dem rein natürlichen Wege undurchbrechbarer Kausalzusammenhänge.

In dieser Betrachtung ist es völlig offen gelassen, welche Wege diese Weltteleologie nahm, es kommt alles bloß auf das Resultat an.

Und es steht nicht das Leiseste entgegen, unter diese Wege auch die Auslese des Passendsten im Daseinskampfe aufzunehmen.

Wobei ich freilich den Anhängern jener anderen, wie ich es nenne: groben Teleologie anheimstellen muß, ob sie das, was ich meine, überhaupt noch Teleologie nennen wollen.

Mir genügt es vollständig zur Rettung einer philosophischen Weltauffassung, die zwar absieht von jedem Durcheinanderwerfen von Teleologie und Kausalität, die aber dabei keineswegs auf ein wüstes Welt-Kuddelmuddel hinauskommt, sondern sich sehr wohl auch etwas denken kann bei einem vernünftigen Sinn der gesamten Weltentwickelung.

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Eine Frage aber, die hinter diesen darwinistischen Problemen immer wieder auftauchen muß, ist die Zeit-Frage.

Haben wir Zeit genug in der Weltgeschichte, in der Erdgeschichte für solche schrittweisen Entwickelungen?

Es ist die Stelle, wo der starre Bibel-Glaube mit seiner alttestamentlichen Schöpfungsgeschichte zuerst gescheitert ist, — bei dieser Zeit-Frage.

Noch immer aber herrscht über sie trotz dieses wahrlich[S. 133] schon nicht gering zu achtenden Kampf-Wertes vielfältig eine Unklarheit, wie kaum über einen zweiten Darwin-Punkt. Auch hier wird — erst mißverstanden — und dann losgeredet.

Ich erinnere mich auch dazu einer kleinen Geschichte, die mir symbolisch bedeutsam scheint.

Am 27. August 1883 explodierte in der Sunda-Straße zwischen Sumatra und Java der Vulkan Krakatau.

Er explodierte buchstäblich, als das Meereswasser sich in seinen halb geschmolzenen Krater ergoß.

Das Wasser wurde an der glühenden Lava zu Dampf, und auf diesen ungeheuerlichen Druck hin platzte die ganze Krakatau-Insel.

Die Dampfsäule schoß dreißig Kilometer hoch empor.

Eine Sturzwelle, wie die Phantasie sie für die Sintflut sich ausmalt, bis zu sechsunddreißig Meter hoch, verwüstete die nahen Küsten von Java und Sumatra und kostete vierzigtausend Menschen das Leben.

Das Gebrüll der Katastrophe hörte man bis Ceylon, bis zu den Philippinen, bis Perth in Australien, also so weit, wie es etwa von Berlin bis Kairo ist.

Zehn Stunden nach der Explosion fingen selbst in Berlin die automatisch registrierenden Barometer an, unruhig zu werden: es war die Luftwelle, die über Ostindien kam; sechzehn Stunden später folgte die zweite auf dem längeren Wege über Amerika; so schlug der Stoß um die ganze Erdkugel. Die aufgeschleuderten Aschenteilchen aber haben noch Jahre lang als erhöhte Dämmerglut und leuchtende Nachtwolken auch in unseren Landen die Forscher beschäftigt.

In diesem Sommer wurden es zwanzig Jahre seit diesem Tage der Schrecken für eine paradiesisch schöne Gegend. Das Paradies hat sich wieder hergestellt, so gut es konnte, — in der tropischen Üppigkeit wurde es ja nicht allzu schwer. Nur auf der See schaukeln da und dort noch treibende Bimssteinfelder. Und aus der blauen Sunda-Straße ragt als düstere Ruine das letzte Stück Kesselwand, der bis ins Herz zerborstene[S. 134] Vulkan. Aber auch auf diese Ruine hat die schaffende Natur leise schon wieder ihre Hand gelegt mit neuem Leben.

Die Insel Krakatau war bis zum Tage ihrer Explosion dreiunddreißig Quadratkilometer groß. Diesen Raum bedeckte dichter Wald in vollkommener Tropen-Üppigkeit. Als sich der furchtbare Qualm später verzogen hatte, stand von der ganzen Insel nur noch die Südhälfte des Vulkanpiks. Mehr als die Hälfte des Landes war verschwunden, und es wäre noch mehr fort gewesen, hätten nicht die vulkanischen Massen selbst sich wieder angelagert; hatte der Vulkan doch nachweisbar allein mindestens 18 Kubikkilometer Asche und Bimsstein gespieen. Was stand, war aber in diesem Moment ausnahmslos und bis aufs letzte Hälmchen gründlich nackte Schlacke, ohne Pflanzenwuchs, ohne Tierwelt. Ein soeben aus seiner Urglut erstarrter Planet konnte nicht radikaler vom Leben frei, gleichsam kosmisch sterilisiert sein.

In den zwanzig Jahren seither aber sind zweimal Botaniker auf den Ruinenpik geklettert. Und ihnen ist vergönnt gewesen, etwas zu beobachten, was in dieser Reinheit des Exempels wohl noch nie zeitlich genau von kundigen Menschenaugen verfolgt worden ist: die stufenweise Neueroberung einer einsamen irdischen Brandstätte im Ozean durch Flora auf ihrer Wanderschaft.

Drei Jahre nach der Katastrophe, im Juni 1886, besuchte der hochverdiente Direktor des prachtvollen botanischen Gartens zu Buitenzorg (Batavia), Melchior Treub (sprich: Tröb), die Insel.

Er traf den Prozeß der Neubesiedelung durch Pflanzen bereits in vollem Gange. Zunächst machte sich auf der vulkanischen Zerstörungsdecke aus Asche, Lava und Bimsstein eine schwarzgrüne, gallertartige Schicht „Leben“ bemerkbar: Genossenschaften von (einzeln mikroskopisch winzigen) Algen. Sie waren zweifellos der Urstamm der Pioniere. Sechs Arten ließen sich unterscheiden, alle aus der Gruppe der Cyanophyceen. Die Cyanophyceen oder Schizophyceen, zu deutsch Blaualgen oder Spaltalgen, gehören jener alleruntersten, allereinfachsten[S. 135] Reihe pflanzenähnlicher Urwesen an, zu denen auch die vielbesagten Bakterien oder Bazillen gerechnet werden. Im Engeren gehört dazu das wunderliche Volk der sogenannten Nostoc-Algen, die es in ihrer gemeinsten Sorte bei uns bis zu handgroßen, hirnartig verfalteten Gallertbrocken bringen, wenn die nötige Feuchtigkeit sie trifft; gerät solcher Nostocteller umgekehrt in eine ganz trockene Jahreszeit, so schmilzt er fast zur Unsichtbarkeit ein, unbeschadet doch seiner fröhlichsten Lebenszähigkeit. Auch jene allbekannte Erscheinung unserer Seen, die „Wasserblüte“, ein plötzliches Trüb- und Grünwerden des Wassers, beruht auf einer jähen grenzenlosen Vermehrung solcher Spaltalgen.

All dieses niedrigste Pflanzenvolk weiß sich nun zum Zweck der Ausbreitung aufs Wunderbarste zu „verflüchtigen“. Wir kennen das ja von den Bakterien, den allgegenwärtigen, besser als uns lieb ist. Als trockene Keime (Sporen) reisen sie mit jedem Luftzug dahin, über Berg und Tal, Eis und Wasser, — Herren der Erde, die keine räumliche Schranke anerkennen.

Ganz zweifellos sind auch jene Algen des Krakatau auf solchem Wege der Luftpost angesegelt. Das Wunder der „Urzeugung“, von dem wir so wenig wissen, brauchte sich auf der verbrannten Insel nicht neu einzustellen.

Rings lag ja die weite Erde üppig nach wie vor unter ihrer grünen Pflanzendecke. Mit dem Winde entsandte sie ihre mikroskopisch kleinen Boten. Der Botaniker Kerner von Marilaun hat vor Jahren einmal in einem Tiroler Gebirgstal eine Tafel mit feucht erhaltenem weißen Filtrierpapier dem Südwinde ausgesetzt: kaum ein paar Stunden waren herum und an der Tafel haftete schon ein buntes Stück solchen windgeführten Wanderlebens: Pollenzellen und Sporen von allerhand Pflanzen, aber immer dabei auch ausschwärmende Zellgruppen jener Nostoc-Algen.

Wie die künstliche Tafel, so diente aber auch der natürliche nackte Fels, den der Tropenregen netzte: reisenden Algen bot auch er Quartier.

Die Algen hatten dann mit ihrem Schleimüberzug wieder[S. 136] den Keimboden, den ersten Humus gleichsam geschaffen für höhere, bereits etwas anspruchsvollere Pflanzen.

Auch von denen reisten Sporen durch die Luft: die Sporen von Farnkräutern und Moosen. Sie landeten und gingen auf, wo die Algen das Bett bereitet. Elf Arten tropischer Farnkräuter beobachtete Treub bereits an den Abhängen der Vulkanruine.

Solches Farnkraut steht aber selber immer noch wieder tief unter den eigentlichen Samenpflanzen, den Phanerogamen, wie sie unsere Wälder und Wiesen in der Masse zusammensetzen. Es war, als wiederhole dieser kleine Fels im Südmeer noch einmal den uralten Heraufgang des pflanzlichen Lebens auf der Gesamterde, in dem auch der Farnwald sich an zweiter Stelle über den Algenteppich erhoben, um selber dann dem echten Nadelholz- und Laubwald und der bunten Blumenmatte als der endlichen Krone der Entwickelung zu weichen. Die Insel Krakatau stand aber bereits auch an der Schwelle dieses höchsten Zeitalters, wie Treub des weiteren feststellte.

Auch diese obersten Pflanzengeschlechter haben ja noch gar manche Möglichkeit zu Luftreisen. Bald ist der ganze befruchtete Samen auch bei ihnen noch so staubhaft winzig, daß er mitgeht gleich Alge und Farnspore. So glückt es besonders ohne Mühe den schönen farbenfrohen Orchideen. Bald aber auch hat das Früchtlein allerhand Anhängsel, wie Flügel, Ruder und Luftschrauben, ich erinnere bloß an die allbekannten lustigen Luftschifflein des Ahorns. So sammelte unser Botaniker im Innern des Inselchens zwei Grasarten und vier Arten jener formenreichsten heutigen Pflanzenfamilie, die zusammengesetzte Blüten trägt, der Kompositen. Auch für ihre leichten, flugfähigen Samen war der Wind sicherlich noch Postillon gewesen.

Endlich aber wuchsen am Strande auch noch neun unterschiedliche Sorten Strandpflanzen, für die es am wahrscheinlichsten war, daß die Welle sie heranverfrachtet.

Das ist ja auch ein im oberen Pflanzenleben öfter benutzter[S. 137] Transportweg. Es ist dazu nur nötig, daß die Frucht ihre Keimfähigkeit im Salzwasser behält und daß sie schwimmen kann. Von manchen Samen hat man sicher beobachtet, daß sie über ein Jahr im Meerwasser liegen können, ohne ihre Keimkraft zu verlieren. Ein Muster von Schwimmfähigkeit bietet beispielsweise die Kokosnuß, die durch ein luftgefülltes Faserhemd und einen für Wasser unzugänglichen Fettpanzer wie in einen Schwimmgürtel eingeschnallt ist; ohne Mühe reist sie denn auch von Strand zu Strand und trägt ihr Paradies in den kahlsten Tropenwinkel. Die ganze Strandflora des Krakatau war entsprechend in den drei Jahren angeschwommen, von Meeresströmungen herangelotst und von der Welle dann als Spülicht abgesetzt wie Muscheln und Tange.

Nach dieser ersten Sondierung vergingen mehr als zehn Jahre.

Erst im März 1897 machte sich abermals ein kleiner Botanikerkreis, Treub an der Spitze, von Buitenzorg auf, um den Fortschritt vom nackten Höllengrund zum Paradiese abermals zu messen.

Diesmal war auch der bewährte deutsche Pflanzenkenner Professor O. Penzig mit von der Partie, der ausführlich und anschaulich darüber berichtet hat (in den Annalen des botanischen Gartens zu Buitenzorg 2. III. S. 92–113).

Die kleine Expedition, mit allem wohl ausgerüstet, verweilte auf der Ruine einen halben Tag. Den Vulkanrest selber zu besteigen — er ist noch seine 800 Meter hoch wie der stehen gebliebene Zacken eines abbröckelnden Zahns — gelang nicht wegen der tiefen Klüfte, die sich wohl durch Zusammenziehung der erkaltenden Lava wie Risse in erstarrendem Pech gebildet haben und allenthalben den Weg versperren. Um so wertvoller aber war die botanische Ausbeute.

An der westlichen Hälfte der Nordseite der Insel zeigt sich die einzige echte, zum Landen erträgliche Strandstelle. Bimssteinblöcke und Korallenbruchstücke bauen sie hauptsächlich auf.

Hier ist ein kleines Strandparadies im vollen Werden.

[S. 138]

Überall blüht es und treibt es, stellenweise ist das ganze Ufer völlig pflanzengrün. Da wachsen ein Pandanus, eine Wolfsmilch (Euphorbia), eine Scävola, unverkennbare Stammgäste sandiger und kiesiger Tropenufer der Gegend. In Massen kriechen die langen Stengel einer Trichterwinde dahin, dazwischen Vigna-Arten und die giftige, aber weithin duftende Leguminose Canavalia obtusifolia, die auch eine typische Strandpflanze ist. Endlich fehlt es nicht an Gräsern (von der berüchtigt stacheligen Sorte Spinifex) und Cypergräsern.

Neben den schon regelrecht aufgeblühten Gewächsen aber fanden sich eine Masse frisch angeschwemmter Früchte und Samen, zum Teil in munterem Keimen begriffen, so daß man recht in die lebendige Werkstatt des Fortschrittes sehen konnte. Hier lag vor allem die Kokosnuß selber, dann der Same des Mangobaumes, dessen terpentinartig schmeckende Goldfrucht jeder Indienfahrer kennt, zweier Eichen, zweier Cäsalpinien (aus der Gruppe der berühmten Färbholzpflanzen), der Zuckerpalme, von der der Palmzucker kommt, und vieler anderen mehr.

Das Bild änderte sich, als die Besucher mehr ins Innere drangen.

Sie betraten eine Grassteppe.

Über mannshoch ragten die Grashalme, den Weg versperrend, und in den Halmwald verspannen sich zu zähem Dschungel die Trichterwinden und anderen Schlinggewächse. Wieder aus der Steppe aber erhebt sich der Fels. Noch ist ihm treu, was der erste Besucher einst fand: die blaugrünen oder schwärzlichen Schleimpolster der Algen und dann in reichster Fülle die Farnkräuter. Aber schon mischen sich auch hier oben in die Flora schöne echte Blütenpflanzen höherer Art. Da leuchtet es von weißen und rosaroten Blumen: es ist eine Erd-Orchidee (Spathiglottis plicata), deren feiner Samen also jetzt wirklich glücklich auch den Weg über die blaue See gefunden hat. Daneben prangt eine über meterhohe Composite, die „Blumea balsamifera“, die alles mit ihrem Duft erfüllt.

Den Schluß der Expedition bildete ein Besuch auf einem[S. 139] Inselchen „Verlaten Eiland“, das ein paar Kilometer entfernt liegt.

Als der Krakatau hier Weltuntergang spielte, mußte das nahe Eiland mit. Auch auf ihm verbrannte jedes letzte Hälmchen und dicke Schichten von Asche und Bimsstein begruben die Stätte. Grade hier aber hatte Floras Hand das höchste Wunder aufgespart, die äußerste Leistung tropischer Schnellproduktion.

Denn an der Südspitze dieses Friedhofs von 1883 stand bereits wieder ein ganzes Wäldchen von fünf bis sechs Meter hohen Bäumen. Casuarinen waren es. „Casuarbäume“, aus jenem seltsamen Geschlecht, dessen eigentliche Heimat das Wunderland Australien bildet. Wie gerupft, wie abgefressen hängen die scheinbar ganz blattlosen, düsteren Zweige herab, eher an Schachtelhalme als an Laubpflanzen erinnernd, eine echte Staffagepflanze von urweltlichem Habitus zu dem Erdteil der Schnabeltiere und Molchfische.

Als die Besucher ihre Ausbeute musterten, hatten sie im ganzen gesammelt: 22 niedere Kryptogamen (Algen und anderes), 12 Farne und 50 höhere Pflanzen (Phanerogamen). Treub bei seiner ersten Fahrt hatte 8 Kryptogamen, ein Farnkraut weniger und nur 15 Phanerogamen erbeutet. So trat der Fortschritt ganz deutlich hervor, wenn er auch nicht eben mit Siebenmeilenstiefeln gelaufen war, — der Fortschritt in elf Jahren genau gemessener Zeit.

Interessant war dabei noch die weitere Einsicht in die Transportart der neuen Ankömmlinge.

Penzig verrechnet da alle Algen und Farne nach wie vor auf den Wind. Von den Phanerogamen gibt er siebzehn Arten mit meist kleinen und teilweise mit Flugapparaten ausgestatteten Samen den gleichen Weg: es sind sämtlich Gräser, Compositen oder Orchideen. Zweiunddreißig Arten dagegen fallen auf Wassertransport: es sind fast durchweg Strandpflanzen, darunter die Casuarinen, Euphorbien, Canavalien und die Kokospalme.

Endlich für ein paar Arten (Melastoma und Ficus) kommt[S. 140] noch ein ganz besonderes Luftschifflein in Betracht, an das man früher gar nicht für solche Fälle zu denken gewagt hätte: nämlich Verschleppung durch früchtefressende Tiere, — Vögel oder Fledermäuse (Flughunde). Diese Pflanzen haben wohlschmeckende Früchte, deren Samen den Verdauungsprozeß überstehen. Der Weg ist also kein ungewöhnlicher. Darwin hat, wie so vieles, auch diese Art der Pflanzenverbreitung zuerst genau studiert und in unsere Rechnungen eingeführt. Er fand, daß Körner lustig aufkeimten, nachdem sie Tage lang in einem Vogelinnern zugebracht hatten; der Vogel konnte in dieser Zeit aber mehrere hundert Meilen weit geflogen sein.

So viel vom Krakatau, seiner Explosion und seinem neu erblühenden Garten.

Warum ich aber grade an diese Geschichte mich erinnert habe, damit hat es diese Bewandtnis. Ein Zeit-Beispiel steht uns hier wirklich vor Augen von außergewöhnlicher Art. Im Rahmen ganz fester Jahresziffern, 1883, 1886, 1897, erleben wir stufenweise mit einen Naturvorgang typischer Sorte: die Neuumfassung eines vegetationslosen Landes im Meer durch die „Biosphäre“, den großen Lebenskörper, der in Gestalt von Pflanze, Tier und Mensch die Oberfläche unseres Erdplaneten überlagert.

Hätten wir solche Zeitbeispiele, wo sich eine meßbare Zeit mit einem konkreten „Werden“ für uns füllt und deckt, in größerer Zahl, so träte jene Zeitfrage der Entwickelungslehre auf ein ganz anderes, ein exaktes Feld für uns über.

So wie hier, müßten wir dabei gewesen sein bei der Erdgeschichte, sollten unsere Antworten ganz unmittelbare sein.

Statt dessen sind wir angewiesen auf Indizienbeweise. Tatsächlich sind aber auch sie wenigstens für die größten Linien von zwingender Gewalt. Um ihnen zu folgen, ist aber wieder ein verwickelter Weg nötig, der weit fort führt von allen Schlagworten.

Ein Stück menschlicher Denkgeschichte ist dazu nötig.

— — —

Wen man von einem mittelhohen, aber kahlen Berggipfel[S. 141] in die Ebene schaut — etwa von der Schneekoppe — so bekommt man ein gutes Bild, wie die „Biosphäre“, die Gesamtmasse des „Lebendigen“, zu dem ungeheuren Erdplaneten sich verhält.

Dunkler Fichtenwald, lichter, grüner Busch, endlich Wiesen und Kornfelder liegen da nicht mehr plastisch, sondern als Farbflecke. Nur noch die Unterlage, Hügel, Täler, Erdwellen aller Art steigen auf oder sinken ab. Die Farbfelder aber gehen mit, eben wie eine einfache Farbe, an deren Dicke man nicht noch einmal besonders denkt.

So liegt das Leben im ganzen um die Erde.

Der Fels aus Urgestein hier oben hat noch einen Vergleich: an seiner Flanke klebt die gelbe Flechte, auch sie fast nur ein Farbfleck ohne Tiefe, aber doch ein „Etwas“, das nicht selber Fels ist, sondern das man abschaben kann.

Wie eine solche feine bunte Flechtenkruste überzieht das Leben den rein mineralischen Block des Planeten in seinen kolossalen Größenverhältnissen eines Kugelberges von mehr als 12000 Kilometer Durchmesser.

Wer aus dem Weltraum sich der eilig sausenden Kugel näherte, der würde etwa die Urwälder des tropischen Südamerika sich andeuten sehen wie einen grünen Schimmel. Näherte er sich von der Nachtseite und schwebte über dem Ozean, so würde ein solcher Schimmel ihm vielleicht phosphorisch auf der Fläche zu funkeln scheinen: in der Tat läge auch hier in den oberen Wasserschichten eine riesige Schicht Leben winziger Organismen, deren vereinte Kraft das „Meerleuchten“ erzeugt.

Beim tieferen Eindringen merkte er dann die große Leistung, wie dieser Planetenschimmel der Gliederung der Planetenoberfläche wunderbar folgt.

Wo diese Oberfläche eine Meile tief zum Ozeansgrunde abstürzt, da senkt sich auch der Teppich mit, tierisches Leben geht bis zur Sohle die ganze Meile mit hinab.

Aus dem schwarzen Abgrund hebt es sich dann wieder zum Licht: grüne Tangstämme, wie die Macrocystis pyrifera der[S. 142] Südsee, recken sich 200 Meter empor, ein Medusenschwarm dehnt sich über mehrere Kilometer aus, eine rötliche Alge färbt ein halbes Meer.

Auf der Feste wieder wächst ein einzelner Eukalyptusstamm anderthalb hundert Meter vom Boden an aufwärts durch die Luft. Knieholz folgt den viel höheren oberen Gebirgsterrassen. Zuletzt hängt die gelbe Flechte selbst als äußerstes Faserwerk des Teppichs am Granit. Über dem schneebedeckten Hochgebirgshorn aber schwebt noch der Geier. Und vielleicht noch weit über der Meile Gestein, die die höchste Gebirgserhebung über das Meeresniveau hinausgipfelt, ziehen mit dem Winde Bakteriensporen.

Dem Vertikalen dieser Doppelmeile wiederum entspricht die horizontale Eroberung durch alle Zonen. In der Steppe durchmißt der Reisende wochenlang immer neuen Blumenflor. Selbst über der nackten Wüste zaubert die Fata Morgana Palmen herauf. Eisberge des Pols färbt die Volvox-Alge der Karmoisinklippen mit zauberhaftem Rot. Unter 81 Grad 26 Min. nördlicher Breite fand Nansen die Tümpel des schmelzenden Eises noch mit Diatomeen und Bakterien erfüllt.

Und dieser räumlichen Anschmiegung entspricht eine innerliche, eine physiologische: die unendlich vielseitige Anpassung an alle Bedingungen dieses Lebensraumes. Der Tiefseefisch leuchtet, der Käfer Leptoderus in der finsteren Adelsberger-Grotte ist blind, der Eisbär ist behaart bis auf die Tatzensohle, und die Haut des Nilpferdes ist ganz nackt; die Flechte am Fels verträgt das Austrocknen, das Murmeltier unserer Alpen überschläft die kalte Jahreszeit und der Tanrek-Igel Madagaskars die ausdörrend heiße, und der Zugvogel überquert ganze Erdteile, um für sich den Unterschied der Zonen aufzuheben.

Aber es wird Nacht, und über dieser lebensfrohen Erde beginnen die Sterne aufzufunkeln.

Du sagst Dir, daß jedes dieser Lichtpünktchen des Fixsternhimmels eine Welt für sich ist, so groß oder größer als unsere Sonne. Und sie alle müssen, damit wir sie sehen[S. 143] können, leuchten, müssen eine Hülle glühender Gase um einen Kern in Weißglut mit sich dahintragen. Trotzdem sind die Stoffe dort die gleichen wie bei uns. Nur der Wärmestand ist ein unvergleichlich viel höherer. Das Gewicht unserer Erde verrät uns, daß sie im Herzen wohl nichts anderes ist, als eine riesige Metallkugel, vielleicht hauptsächlich aus Eisen, dem gleichen Element, das auch in dem Meteorblock steckt, der vom freien Raum her zu uns stürzt und der vielleicht ein solches Herzstück eines anderen Weltkörpers ist, und dem gleichen, ohne das hier an der Oberfläche in der Sphäre des Lebendigen kein Pflanzenblatt sein wundervolles Grün entwickeln könnte. Der Raum aber, aus dem dieses Meteoreisen fällt, ist selber eiskalt, kälter als die tiefste Polarkälte. Wenn dieser Meteorblock einst glühend gleich den Sonnen dort hinein geworfen worden ist, so ist er längst darin bis ins Innerste so kalt geworden, daß unsere Haut daran kleben bliebe, wollten wir ihn greifen; wohl erhitzt er sich durch die Reibung unserer Atmosphäre flüchtig noch einmal, aber im Innern ist noch mehrfach die ganze Kälte festgestellt worden, die schaurige Weltraumkälte. Was aber dem Zentnerblock geschah, warum nicht das Gleiche dem ganzen Erdplaneten?

Auch er war einst im Lose derer da oben, sein Metallkern strahlte Weißglut, und blutrote Wasserstoffdämpfe schossen als Protuberanz darüber hinaus. Aber die Kälte kroch zäh heran und legte ihre Hand darauf. Bis die Schlacke eine Rinde hatte. Bis das Eisen sich härtete und Rost setzte. Und bis der Wasserstoff sich dem Sauerstoff vermählte zu Wasser. Die großen Sonnen glühen noch fort, — die kleine Erde ist schon gestrichen im Chor der Glutatmenden.

So ist der Gedanke schon dem René Descartes im siebzehnten Jahrhundert aufgestiegen: die Erde ist nur eine verkrustete, eine erloschene Sonne.

Athanasius Kircher in seinem Folianten von der „Unterirdischen Welt“ (Mundus subterraneus) hat 1668 auf einer prächtigen Tafel die ganze Kugel durchschnitten wie eine Apfelsine dargestellt; im Innern, verborgen unter unermeßlichen[S. 144] Lasten starren Gesteins, zeigt sich nur noch wie in einem Gefängnis der alte Stern, als Zentralfeuer, von dem glühende Kanäle mit knotenartigen Feuerinseln durch die Feste sich schlängeln bis zu den lavaspeienden Feuerbergen der Rinde. Es ist die Anschauung, die sich bis an die Schwelle der neuesten Geologie fest erhalten hat.

Hat sie aber recht, so wäre diese gesamte Erdoberfläche, über die sich heute die Lebenssphäre zieht, einst auch als Ganzes nur ein solcher nackter Krakatau-Fels gewesen, — einmal damals, als zum ersten Male die Glut oben endgültig ausbrannte, die Urlava starr wurde.

Ein Krakatau-Fels der ganze Planet, kahl aufstarrend gegen den öden Weltenraum. Und dann erst hätte auf ihm irgendwie (worüber denn Theorien zu bauen wären) das Leben eingesetzt, um allmählich seine große Eroberung der zwei Meilen vertikalen Teppichspielraums und der Horizontale von den beiden Polen zum Äquator zu beginnen.

Wann aber war das?

Heute ist die Erde grün und lebensbunt, wie der Krakatau in seinen zwanzig Jahren noch lange nicht.

Werden wir irgend einen Anhalt finden können, auch bei ihr diese Besiedelung auf eine Jahresziffer festzulegen, ihre Krakatau-Periode zu bestimmen, wie es auf der Ruine der Sundastraße Treub und Penzig gelang?

In den achtziger Jahren hörte ich in Bonn ein Kolleg bei dem trefflichen alten Historiker Arnold Schäfer, — über Chronologie in der alten Geschichte. Er ging bis zu den damals noch ältesten Daten der Ägypter und Babylonier. Immerhin blieb’s ein kleiner Kreis von Jahrtausenden. Dahinter aber, sagte er, wird’s ganz düster; dort, meine Herren, beginnt nämlich der Naturforscher, und der hat’s ja sehr viel leichter, wenn Sie ihn fragen wollen: der spielt mit Millionen; aber mit Wissenschaft hat das nichts mehr zu tun.

Das hörte ich vormittags. Nachmittags las der Anthropologe Schaaffhausen. Er legte uns den Neandertal-Schädel vor, den er damals für einen uralten, noch ausgesprochen[S. 145] tierähnlichen Menschenrest hielt; in der Folge ist das stark bestritten worden, heute aber glaubt man nach Schwalbes Forschungen und nach anderen prähistorischen Funden wieder entschieden daran.

Nun denn: dieser Schädel und Verwandtes führte so weit vom alten Babylonier und Ägypter fort, daß man in unfaßbare Zwischenräume zu sehen glaubte. Und doch war er gewiß nicht älter, als nur erst das Diluvium. Dahinter erst begannen die großen Epochen der organischen Erdgeschichte, Tertiär, Kreide, Jura und so weiter. Erdteile zerspalteten sich da vor dem Blick, Meere überbrückten sich, die großen Gebirge von heute wurden zu Koralleninseln oder Seeboden und andere kreuzten die völlig verwandelte Karte. Die klimatischen Grenzen von heute paßten nicht mehr. Tier- und Pflanzenwelt bekamen einen fremden Zug. Der Mensch fehlte vollkommen. Vor solchen Änderungen schien das Wörtchen Million auf einmal ganz klein. Nicht wir waren die Könige, die mit Millionen spielten. Da drunten wuchs, von uns nicht gewollt, sondern einfach nur in Empfang genommen, eine Welt der zeitlichen Riesendimensionen auf, der unsere Nullen hinter der Eins umgekehrt ein Zwergenspiel wurden, Strohfäserchen, die eine Ameise schleppt, gegen ein Weltmeer.

Der ganze Kontrast war in den beiden Bildern: des Historikers in seiner „Weltgeschichte“ alten Schlages, der schon ein Rechnen mit einem Jahrhunderttausend für einen schlechten Dilettantenscherz voll leichtsinnigster Verwegenheit hält; — und des modernen Naturforschers, dem bei sorgfältigster Selbstkritik der eigene Leichtsinn immer wieder darin steckt, daß er noch zu kurze Zeitmaße ansetzt.

Aber jener Vorwurf ist mir seitdem immer wieder aufgetaucht, er ist noch jetzt zäh.

Heute, da die Meinung Modefarbe bekommt, die ganze Entwickelungslehre gehe wieder zurück, kann man auch ihn wieder lebhafter hören. Wenn der ganze Ideengang Darwins erst wieder abgetan ist, heißt es, so werden wohl auch diese[S. 146] tollen Ziffern, mit denen wir unsern armen Kopf quälen sollten, endlich verschwinden.

Und dabei ist der wahre Sachverhalt heute der ganz genau gleiche wie früher.

Höchstens ist er noch schärfer geworden, — schärfer in der unbedingten Forderung größtmöglichster Zeiträume für die Geologie.

Es gibt eine Hauptquelle für diese Mißverständnisse.

Sie sprudelt, solange wir eine echte Geologie haben.

Immer haben wir von außerordentlich viel Zeit gehört, die dort nötig sei, — aber wir haben auch immer das größte Schwanken gesehen innerhalb der Naturforschung über die eigentlichen Ziffern. Um diese engeren Ziffern ist jedesmal der erbittertste Zwist geführt worden, sobald eine genannt war, und so oft der Fernstehende einen solchen Kampf mit dem Sturz einer Ziffer enden sah, machte er sich seinen Vers, es sei nun aus dort mit der ganzen Zeitrechnung der Millionen.

Wer aber tiefer in die Karten schaut, dem erscheint gerade als das Entscheidende, daß jeder Sturz der Ziffer immer nur ein Sieg war des noch ausgedehnteren Maßes überhaupt. Als zu klein ist noch jede echte geologische Ziffer verworfen worden.

Das spielt jetzt seit anderthalb hundert Jahren.

Der erste geologische Rechner modernen Stils ist Buffon im achtzehnten Jahrhundert.

Man muß heute wieder öfter auf Buffon zurückkommen. Von seinen Zeitgenossen vergöttert, ist er im neunzehnten Jahrhundert durchweg schlecht behandelt worden. Man hat ihm nachgerechnet, was er im Detailwerk der Forschung an neuen exakten Tatsachen gegeben habe, und diese Wage schien immer leichter. Sein Kultureinfluß in seiner Zeit war aber unberechenbar groß. Er gab diesem allenthalben geweckten, nach neuen Weltfundamenten lechzenden Jahrhundert der Voltaire, Rousseau, Lessing, Kant, Herder, Schiller zum ersten Mal das große geschlossene Weltpanorama des Naturforschers als „Macht“ in den Besitz. Es entscheidet nicht dabei, wie viel[S. 147] kühne Hypothese war. Die Lücken füllte er mit glänzenden Hypothesen. Was tun wir heute anderes? Das Wesentliche war das Einheitliche des Natur-Weltbildes. Er malte es so, daß jeder gepackt wurde. Keiner bis auf ihn hatte es annähernd noch gekonnt. Nach ihm sind Humboldt und alle die Kosmologieen gekommen. Er war der erste.

Man kann behaupten, daß keine große geistige Debatte bis ins Extremste des Moralischen und Ästhetischen hinein im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts geführt worden ist, ohne daß dieses Panorama einer vom Naturforscher gefaßten Ganz-Welt, einer ganz gefaßten Welt auf Naturgesetzen, dabei einen Hintergrund gebildet hätte, mit dem jeder rechnete; es war aber Buffons Naturgemälde, an das man dachte.

Man braucht allein auf Goethe zu sehen, wo dieses naturwissenschaftliche Bild schon die ganze Anschauung der Dinge auch im Ästhetischen beherrscht, um Buffons Einfluß in seiner Kraft zu fühlen. Ich halte Buffon in allem Naturgeschichtlichen für gradezu bestimmend bei Goethe. Die unmittelbare Berührung läßt sich durch viele Stellen belegen. Die feine geistige Beziehung ist aber noch viel weiter deutlich. Von Buffon hatte auch Goethe zu den überliefert religiösen, den philosophisch-moralischen, den ästhetischen Weltbildern seiner Zeit das große Kosmosbild des Naturforschers, das damals eine ganz neue Kraft war, stählend zugleich, aber auch beängstigend; wie er sich damit auseinander gesetzt hat, war ja dann sein eigenes Werk.

Nun also: Buffon hatte jenen oben gestreiften Ideengang schon ganz klar.

Die Erde war ein Stück Sonne, das in der Weltraumkälte eines Tages erstarren mußte. An dem Tage begann auf ihm das Leben wie auf der nackten Schlacke des Krakatau. Eher konnte es nicht beginnen, denn es ist kein Salamander der Sage, der im Feuer leben kann. Immerhin ist es auch nur möglich auf einer noch erwärmten Rinde. Wenn der Block einst ganz erkaltet und eine ewige Eisperiode anhebt, wird es wieder verschwunden sein. So stellt es eine Intervall-Erscheinung[S. 148] des Planeten zwischen zwei Grenzen dar, gebunden an ein Temperatur-Intervall. Sollten wir aber diese so scharf gegebene Zeitspanne nicht wirklich ziffernmäßig berechnen können?

Buffon machte ein ganz einfaches, aber zunächst verblüffendes Experiment.

Er stellte eine Anzahl kleiner Metall- und Steinkugeln auf, erhitzte sie bis zur Weißglut und ließ sie sich dann bei einer mäßigen Lufttemperatur allmählich wieder abkühlen. Die Grade dieser Abkühlung legte er in festen Ziffern nieder, die vor allem zwei Zeitpunkte genau fixierten: den Augenblick, da man die Kugel zuerst wieder berühren konnte, ohne daß unsere lebendige Haut Schaden dabei nahm; und den andern, da die gewöhnliche heutige Temperatur der Kugel bei dieser bestimmten Luftwärme wieder erreicht war, also die Eisenkugel sich wieder anfühlte wie jedes Eisen sonst. Diese einfachen Ziffern wurden dann im Verhältnis umgerechnet für eine Kugel von der Größe der Erde und sofort erschienen auch hier ganz feste Zahlen.

Wenn der heutige Temperaturzustand dieser großen Erdkugel auch nur ein Produkt der Abkühlung aus Weißglut war, so ergab das für die Dauer des Abkühlungsprozesses bei den Größenverhältnissen des Erdballs (unter Anrechnung einiger kleiner Begleitumstände) im ganzen bis heute genau 74832 Jahre.

In diesen rund vierundsiebzigtausend Jahren bildete wie bei den kleinen Versuchskugeln einen wichtigen Einschnitt die Jahresziffer, bei der wir die Erdoberfläche zum ersten Mal hätten berühren können, ohne daß unsere Haut Brandblasen bekam.

Den entsprechend umgerechneten Experimentziffern nach mußte das vor genau 40062 Jahren geschehen sein.

Das bedeutete aber dann zugleich ein ungemein wichtiges Geschichtsdatum. Denn wenn unsere Hand sich damals nicht mehr verbrannt hätte, so heißt das: Leben war damals möglich geworden auf der Erde. Vor rund vierzigtausend Jahren[S. 149] hatte das Pflanzen- und Tierleben begonnen: es war die Krakatau-Ziffer des ganzen Erdfelsens!

Buffon war in Hinsicht der Lebenserscheinungen ein eminent aufgeklärter Kopf, seiner Zeit weit voraus. Wo die nötigen Temperaturbedingungen gegeben waren, da nahm er Entstehung von Leben als notwendigen Naturprozeß an. Wenn zwei Länder ähnliche Wärmeverhältnisse hatten, so brachten sie auch ähnliche Tiere und Pflanzen ganz von selbst hervor, ohne daß man an Wanderungen zu denken brauchte. „Die gleiche Temperatur nährt, erzeugt überall die gleichen Wesen,“ sagt er wörtlich (Ausgabe von Richard, Paris 1839, Bd. I., S. 463).

Wenn also vor vierzigtausend Jahren die Lebenswärme erreicht war, so war nicht einzusehen, warum wir nicht mit dieser Ziffer auch den wirklichen Lebensanfang in Händen hatten.

Buffon schloß aber noch weiter.

Zunächst gab diese Rechnung auch einen scharfen Zukunfts-Grenzwert.

Die Abkühlung der Erde ging weiter, auch über unsern heutigen Zustand hinaus. In 93291 Jahren mußte die Erdkugel bis auf ein Fünfundzwanzigstel der heutigen Temperatur abgekühlt sein. Das bedeutete aber Vereisung, — endgültigen Kältetod alles Lebens. Es war die Schlußziffer, mit der die Lebensära nach einer ruhmreichen Dauer von rund hundertdreiunddreißigtausend Jahren wieder abschnitt, Pflanze, Tier und Mensch begrabend.

Die zweite Folgerung ging auf die übrigen Planeten und Monde unseres Systems. Überall dort rechnete Buffon nach der gleichen Methode. Die kleineren waren früher in ihre Lebensperiode eingetreten, hatten sie aber auch rascher schon durchlaufen, die größeren umgekehrt folgten erst langsam nach. Der fünfte Trabant des Saturn war beispielsweise die erste Welt in unserem System gewesen, die lebensfähig geworden war, seit mehreren Jahrtausenden aber war sie auch schon wieder zu Todesstarre vereist. Unser eigener Mond hatte höchstens sechzigtausend Jahre lang geblüht und war seit über[S. 150] zweitausend Jahren auch im Lebenssinne wieder erloschen. Auch der Mars war längst gestorben, auf dem vierten Saturn-Trabanten lag alles in den letzten Zügen der Verschmachtung, die Venus dagegen war noch etwas wärmer als wir, auf dem Saturnring stand das Leben in erster Vollkraft und gar der Jupiter war heute noch überhaupt zu heiß zur Bildung organischer Wesen.

Auch alle diese Angaben kamen in Ziffern bis auf halbe Jahre genau. Daß auch diese andern Weltkörper ihr Leben entwickelten zu ihrer Zeit, stand ein für allemal fest. Man darf glauben, sagt Buffon, daß alle diese gewaltigen Himmelskörper, deren Temperatur in der rechten Periode ist, „gleich dem Erdball bedeckt seien mit Pflanzen und selbst bevölkert mit empfindenden Wesen, die den Tieren der Erde ungefähr ähnlich sind.“

Buffon erfuhr mit diesen kühnen Rechnungen das größte Leid seines sonst so schönen Denkerlebens. Obwohl die Ziffern gar nicht so außerordentlich groß waren, stimmten sie nämlich doch nicht mit den hergebrachten Zahlen der Bibel.

Selbst eine tief religiöse Natur mit innerlich fein geklärtem Standpunkt, hatte Buffon friedlich losgerechnet, ohne sich etwas Verfängliches zu denken. Aber man begreift, daß das für seine Zeit eine starke Zumutung war: über 74000 Jahre Weltexistenz allein für die Erde gefordert statt der üblichen paar tausend Jahre für das Ganze, — Mehrheit bewohnter Welten bis zu empfindenden Wesen von Tierähnlichkeit, also wohl gar Menschen auf Venus und Saturn — endlich, wie wir heute sagen würden, unverfälschter Darwinismus, der den Planeten Leben treiben ließ zu seiner Zeit und Pflanzen- wie Tierarten sich entwickeln ließ wie ein Kristall unter bestimmten Umständen naturgesetzlich anschießt ... das war für den Hof Ludwigs XV. und XVI. denn doch des Guten an Ketzerei zu viel.

Man machte dem harmlosen Gelehrten das Dasein sauer genug. Doch das ist mit den Zeiten verschollen. Was uns als übrig allein interessiert, ist die Wahrheitsgrundlage seiner[S. 151] Rechnungen und Ideen selbst. Und da ist denn auch für uns manches zu sagen.

Wer aus der schlichten Vorstellung der sieben Schöpfungstage kam, dem mußte gewiß schon Buffons großer Erd-Roman wie etwas Überwältigendes an Handlung und Verwickelung erscheinen.

Der nächste Fund aber über Buffon hinaus war: er hatte die Dinge zu klein gesehen.

Wohl schwebte er im Geiste wie ein Herrscher über der Glutkugel, die sich abkühlte, bis Pflanze, Tier und Mensch auf ihrer Rinde wohnen konnten. Doch bei dieser „Rinde“ hatte er immer nur an die Schlackendecke aus Schmelzfluß gedacht, an etwas Einheitliches, wie es auch seine Metallkugeln im Experiment wiesen. Die Forschung noch neben ihm und unmittelbar nach ihm besah sich aber die wirkliche Erdrinde, auf der wir Menschen hausten, etwas genauer und sie geriet auf ein besonderes Bau-Geheimnis noch in ihr, zu dem Buffons einfaches Modell des Erdenhauses nicht auslangen wollte.

Gewiß war das, was wir von dieser „Rinde“ im Oberflächenbilde mit seinem Wechsel von Berg und Tal, Ebene und Wasserbett oder auch im Aufschnitt und angerissenen Innern zu sehen bekamen, nur ein kleines Stückchen zu der ungeheuren Kugel, wirklich nur eine Art dünner Haut. Noch heute, da wir ein paar für unsere Ameisen-Technik ganz kolossal tiefe Bohrlöcher hineingetrieben haben, geht das längste dieser Löcher (das von Paruschowitz in Oberschlesien) nur erst 2003 Meter in die Erde hinab, zwei Kilometer von zwölftausend; die tiefsten natürlichen Aushöhlungen im Ozeansgrunde reichen immer noch mehr als viermal tiefer und selbst das wäre schließlich auch nur eine kleine Ziffer. Nehmen wir den Gaurisankargipfel, den tatsächlich noch keiner wirklich betreten hat, als oberste Ecke und jene Riesentiefen des Meeres, wie sie die Challenger-Expedition und neuere gelotet haben (auch von hier kennen wir nur einige oberflächlichste Schlammproben und die Druck- und Temperaturziffern), so kommen rund kaum[S. 152] achtzehntausend Meter heraus, — als das Äußerste, was wir annähernd von der Erdrinde als idealer Kante überschauen. Achtzehn Kilometer gegen zwölftausend! Damals, zu Goethes Manneszeiten, hatte man aber noch viel weniger.

Und doch merkte man etwas.

Dieses Stückchen Rindenerde machte durchaus nicht bloß den Eindruck von Krakatau-Schlacke. Allenthalben, wo diese Rinde geborsten, aufgewühlt, in ihre „Eingeweide“ hinein entblößt war, erschien sie wie durchsetzt mit aller Art Brocken und Fetzenstücken eigentümlicher konzentrischer Steinhäute, die aus der einfachen Rinde ein so unglaublich kompliziertes Ding machten, wie wenn einer in eine Zwiebel schneidet und statt einer einfachen Fruchtschale eine Zwiebelhaut über die andere losschält.

Und es bedurfte wirklich nur eines ziemlich geringen Durchdenkens der Sache, so mußte klar werden, daß diese bald aufeinander gepackten, bald wieder gelösten, zerrüttelten, zerstückelten Zwiebelhäute zum teil jedenfalls ein Ergebnis von Wasserniederschlägen in einer Reihe von einander folgenden Zeitabschnitten sein mußten. Nur das Wasser konnte diese zwar oft nachträglich gestörte, aber immer wieder durchschimmernde horizontale Butterbrot-Schichtung der Gesteine bewirkt haben, und auf alten, erst nachher verhärteten Wasserschlamm deutete allzu klärlich auch die sandige, schieferige, kalkige Natur dieses Gesteins.

Das war die grundlegende neue Weisheit unseres deutschen geologischen Altmeisters Werner, der geboren wurde, als der erste Band von Buffons Naturgeschichte eben heraus war, 1750. Werner saß Zeit seines Lebens im Erzgebirge, er reiste nicht, er spekulierte wenig mit großen Werten und er schrieb keinerlei packende Werke in vielen Bänden. Aber er ritt auf einem Prinzip, und das war in der Tat unendlich wichtig: daß der Hauptteil mindestens der Gesteine der Erdrinde, die wir heute sehen, ein Produkt des Wassers sei, angesetzt auf einer Grundrinde, etwa wie sich nachträglich Kesselstein auf das Metall eines Dampfkessels auflagert, und, ursprünglich wenigstens, angesetzt[S. 153] in wirklichen konzentrischen Lagen Schicht auf Schicht in einer Reihe einander folgender Zeitperioden.

Mochte es nun mit der anfänglichen Glutkugel sein, wie es wollte: jedenfalls schob sich zwischen ihre erste eigene Erkaltungsrinde und unsere schließliche, heute greifbare „Oberfläche“ noch ein gewichtiges Zwischending: diese ungeheure, viele tausende von Metern dicke Lage steinerner Butterbrote, die den darüber stehenden Meeren verdankt wurden. Ihre ganze Masse war im Meer einmal einigermaßen aufgelöst, lose verteilt gewesen und dann langsam abgelagert worden, wie heute noch allerorten die Schlammteilchen im ruhigen Wasser allmählich abwärts sinken und einen Bodensatz bilden.

Zu diesem Akt des Wassers aber gehörte — Zeit.

Buffon hatte gerufen: Zeit für die Temperatur, 74000 Jahre für die heutige Abkühlung der Ur-Rinde! Werner verlangte: Zeit für das Wasser; Zeit für seine dicken Kesselsteinschichten auf dieser Rinde; wie viel, mochte zunächst offen sein, und es brauchte vorläufig auch keine Debatte zu sein, ob die Buffonsche Ziffer stimmte, auf alle Fälle handelte es sich jetzt um ein Separatkonto.

Und das ist für die ganze Folge das Entscheidende auch geblieben in allem Wechsel: daß hier eine zweite, von der Wärmerechnung ganz unabhängige Zeitforderung in die Geologie eintrat. Die ganze Buffon-Forderung konnte leerer Traum sein: so blieb doch hier von einer ganz anderen Ecke her eine neue Zeitforderung bestehen, die für sich bewiesen werden konnte oder widerlegt werden wollte. Aber — und das ist das noch wieder Entscheidende — auch diese Forderung verlangte viel Zeit.

Es ist nicht Werner selbst, der große alte „Thales der Geologie“, der Wassergeologe, der diese Forderung des „viel Zeit“ am schärfsten zieht, sondern ein zweiter Mann der gleichen Tage.

Wer die Geschichte der Geologie in ihrer großen denkwürdigen Genesis im 18. Jahrhundert knapp aus dem Leitfaden lernt, der pflegt sich einzupauken: zwei Schulen des[S. 154] Anfangs, zwischen 1750 und 1800; Neptunisten und Plutonisten; erstere leiteten alle Bildungen der Erdrinde geschichtlich aus dem Wasser ab, letztere aus dem Feuer; Haupt der ersten Schule ist Werner von Freiberg; Haupt der letzteren Hutton in England. Wer das konfus ausdrückt, dem wird es zu einem wirklichen Wiederaufleben des alten Philosophengegensatzes von Thales und Heraklit: der eine baut die ganze Erde bloß aus Wasser, der andere bloß aus Feuer auf. So kahl waren aber die Extreme in Wahrheit nicht.

Hinter beiden Anschauungen stand Buffon mit seinem sich abkühlenden Glutstern. Werner kam bloß in der Folge zum Ruf des Allverwässerers, weil er einzelne Gesteine, die wir heute sicher zu den lavaartigen, aus Glutfluß unmittelbar erstarrten, rechnen, auch noch für Wasserniederschläge nahm, so den als Exempel und Kampfobjekt berühmt gewordenen Basalt. Aber an der Basis aller Schichten blieb auch ihm ein ursprünglicher „Grund der Hölle“ wie Goethe im Faust sagt, als er seinen Helden mit Mephisto auf dem Granit des Hochgebirges Halt machen läßt.

Und umgekehrt war James Hutton kein einseitiger Feuermeister, sonst hätte er nur für den Buffonschen und nicht für jenen anderen, zweiten Zeit-Begriff in Betracht kommen können.

Huttons umfassende Bedeutung ist erst in späteren, zum Teil erst in neueren Tagen recht gewürdigt worden. Kürzlich hat Friedrich Ratzel in einer auch sonst ausgezeichneten Studie (in Ostwalds „Annalen der Naturphilosophie“) ihn trefflich grade in seiner Rolle auch als nicht-plutonischer Zeit-Forderer charakterisiert.

Obwohl Hutton die Erdwärme überall brauchte und sich ohne sie das Stein-Werden alter Schlammschichten überhaupt nicht denken konnte, lag ihm doch an Buffons Ur-Roman eigentlich noch weniger als Werner. Sein Blick faßte die Erde viel lieber als etwas von Ewigkeit her Gegebenes, an dem wir bloß gewisse harmonische, gleichsam rhythmische Kreisläufe von Erscheinungen beobachten könnten. Zu solchen Erscheinungen[S. 155] gehörte auch die Bildungsgeschichte jedes Stückes Kalk, jeder Platte Sandstein. Das Bild, das wir uns von dem Vorgang der Entstehung nach schlichter Gesetzmäßigkeit machen wollten, bestimmte die dabei verflossene Zeit. Wo konnte uns aber bei der ewigen Ähnlichkeit dieses Erden-Rhythmus etwas Besseres ausgesagt sein über jenes Bild als in den heute noch sichtbaren Vorgängen der Kalk-Bildung, der Sand-Anhäufung auf Erden?

Noch heute häufte der Fluß vor seiner Mündung eine Barre von Sand auf, noch heute baute sich, erhöhte sich, wanderte, festigte sich die Sand-Düne am Gestade des Ozeans. Heute auch noch häuften sich im Seegrunde die Kalkschalen von Tieren, heute noch bauten die kleinen Korallenwesen hohe Mauern aus solider Kalkmasse auf. Hier und nur hier konnte der Schlüssel auch zum Verständnis des alten Werdens liegen.

Grade diese Vorgänge von heute aber liefen nicht im Siebenmeilenschritt: sie verlangten Zeit zuerst, Zeit zuzweit, Zeit immer wieder.

Sandkörnchen um Sandkörnchen wuchs die Düne. Jahr um Jahr prägte sich das Stromdelta an der Mündung etwas schärfer aus, aber an der Spule dieses „Etwas“ spann sich der Faden durch die Jahrtausende, bis ein großes Bild wirklich da sein konnte.

Die Ewigkeit der Vergangenheit hatte nun weite Arme für solche Zeitforderung der Gegenwart. Genau so langsam mochten die Sandberge, die Kalkquadern der Vorwelt sich gebildet haben. Zumal wenn wir uns dachten, daß all dieses Material, das vom Wasser etwa als Schlamm abgelagert werden konnte, vorher durch langsames Abnagen und Zerstören wieder vom Urfels oder von noch älteren, schon landgewordenen Ablagerungen gewonnen sein mußte. Und der Blick tauchte und tauchte in geradezu endlose Zeiten allein für diese Wasserarbeit. Es hatte nicht vom Kosmos her plötzlich vierzig Tage lang Sand geregnet oder der Erdenschlund hatte nicht Sand gespieen, sondern Teilchen zu Teilchen war atomhaft winzig in den Wassergrund gesunken wie heute —[S. 156] und doch waren jene Butterbrotschichten von vielen Kilometern Dicke geworden, die heute bald in Brocken durch die zerborstene Rinde verstreut liegen, bald sich Kilometer um Kilometer noch als einheitliche Fläche horizontal unter unserem Schritt dahin ziehen.

Zeit war die große Melodie, die aus all diesen grundlegenden Tatsachen heraufklang. Unabsehbare Zeiträume, allein nötig für die Wasserleistung und organische Kalkproduktion des Planeten.

Die Veröffentlichung von Huttons Ideen fällt erst ganz in den Ausgang des Jahrhunderts.

Auch da war die unmittelbare Wirkung gerade seines Werkes geringer, als wir heute denken sollten, wenn sein Name im Leitfaden als der eines Kirchenvaters der Geologie, als des scheinbaren Gegenpapstes zu Werner, erklingt. Als eigentliches Dokument ist es, wie gesagt, erst später gewürdigt worden. Aber die Gedankengänge, die es ausspricht, müssen wir in der ganzen Zeit damals als eine (wenn auch nicht so scharf formulierte) Grundströmung suchen.

Goethe ist das beste Beispiel bei uns.

Goethes Geologie, wie wir sie jetzt in zwei Bänden der Weimarer Ausgabe vollständig vor Augen haben, besteht nur aus einer scheinbar regellosen Fragmentenreihe. Aber es geht wie bei allen naturwissenschaftlichen Studien Goethes. Die Stücke sind alle nur Bruchstücke eines einheitlichen Werkes, einer Morphologie der Erde. Man fühlt die große Linie durch, die ihm vorschwebte, und man fühlt auf Schritt und Tritt das Wehen des geologischen Zeitgeistes dabei von damals.

Goethes Geologie schiebt sich zeitlich fast ziffernmäßig genau zwischen Buffon und Lyell. Für die Ur-Anfänge seiner Erde schweben ihm Buffons Bilder vor: die Erde als erkaltender Stern. Das reicht bis auf eine Ur-Erkaltungsrinde, die er im Granit sucht. Auf ihr (und zeitlich nach ihr) spielt sich aber dann der ganze Zwischenakt im Sinne Werners und[S. 157] Huttons ab. Die Sedimentgesteine bilden sich. Langsam, schlicht, nach Art, wie heute sich etwas ablagert.

Goethe nahm in Plutonismus und Neptunismus anfangs eine sehr besonnene Vermittlerstellung ein. Später, als die Katastrophen-Lehre sich geltend machte, war er entschieden gegen das Gewaltsame, die wüste „Polterei“ auf vulkanistischer Grundlage; es war aber nur eine Stellungnahme bei ihm gegen ein Extrem, und im Untergrunde revoltierte in ihm gerade das Festhalten an dem Prinzip des Langsamen, der reichen Zeit, des harmonischen Kreislaufes kleiner, noch heute ebenso zu beobachtender Wirkungen.

Gerade an den Stellen, wo man von Goethe als Detailforscher reden kann, äußert sich am durchsichtigsten, wie selbstständig und klar er sich den Standpunkt auch errungen hatte, an dem man jetzt bei Huttons Namen denkt. Das Geheimnis der erratischen Blöcke beispielsweise hat ihn viele Jahre lang beschäftigt, jener Blöcke, die weitab von der Stelle, da ihr Gestein als Fels ansteht, jäh, unerklärlich zunächst, als loses Trümmerstück auftauchen, nicht abgerollt durch Wassertransport, sondern hingeworfen, als habe eine Riesenhand sie meilenfern vom Gebirge gesprengt und als scharfkantige Scherbe ins Land gestreut. Goethe löste das Problem in dem Sinne, der heute fester Besitz unserer Wissenschaft ist, — es war aber just ein Sinn aus jenem weiteren Gedankengang heraus. Er suchte nicht mit blühender Phantasie wirkliche gespenstische Riesenursachen der Vorwelt, die mit hausgroßen Granitblöcken spielten wie mit Kindermurmeln. Er sammelte Material über die heute noch sichtbare Art, wie Urgestein fernweg von seiner Gebirgsader verfrachtet wird. Wasser im gewöhnlichen Sinne, das Sand verschleppt, paßte nicht. Aber Wasser trat heute auch auf als Eis. Die Alpengletscher brachten Granitscherben langsam, aber sicher heute noch vom Firngipfel bis an ihren schmelzenden Fuß im Tal. Eisschollen trugen eingebackene Gesteinsbrocken als natürliches Schiff sogar übers Meer. Mit unermüdlichem Eifer sammelte Goethe Material über den Gletschertransport in den Schweizer Alpen. Eine Nachricht über große Eisschollen,[S. 158] die mit Granitstücken beladen, durch den Sund geschwommen seien, versetzte ihn in Entzücken, — es war gerade, was er brauchen konnte: eine heute beobachtete Tatsache, die das Vergangene jäh erhellte. Wo heute erratische Blöcke lagen, da war einst ein Meer mit solchem blockbeladenen Treibeis gewesen, oder ein Gletscher hatte seine Moränen gehäuft. Zu all diesen Vorgängen aber war Zeit erforderlich. Dem Auge des Reisenden war ein Gletscher ein starres Gebilde. Seine Arbeit konnten erst Generationen gewahren. Gerade von dieser Arbeit aber sahen wir aus alten Tagen nun die unvergänglichen Spuren, unvergänglicher als selbst seine eigene Existenz.

Das war nur möglich, wenn man „einer freiwirkenden Natur Jahrtausende Zeit“ ließ (Worte Goethes, Weimarer Ausgabe Band IX S. 20 in dem Aufsatze über die „Joseph Müllerische Sammlung“) und mit Thales im „Faust“ sprach:

„Nie war Natur und ihr lebend’ges Fließen
Auf Tag und Nacht und Stunden angewiesen.“

Bedürfte es noch einer Probe für Goethes geologisch-chronologisches Bekenntnis, so steckt sie, auch dem Skeptischsten offen, in seiner Stellungnahme zu dem geologischen Werke des deutschen Karl Ernst Adolf von Hoff in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Es war ihm „ein Schatz“. Aber mehr als das. Es erging ihm dabei wie bei dem berühmten vor-darwinistischen Streit Geoffroy St. Hilaires gegen Cuvier, wo er seine eigenen vieljährigen Überzeugungen über die Entwickelung des Organischen in einer jungen Generation unabhängig aufleben und sich durchringen sah. Das Gleiche erlebte er mit Hoff für seine geologischen Ideen: er fand sein Eigenstes, das Resultat unendlichen stillen Nachdenkens, im strengsten wissenschaftlichen Gewande jetzt bei einem Jüngeren vor, der aber nicht wirklich sein Jünger war, sondern nur durch eigenen Blick vor den Dingen auf das Gleiche gekommen war. Selbstlos freute er sich des immer erneuten logischen Durchbrechens der Wahrheit.

Was aber lehrte Hoff?

[S. 159]

Es gilt hier, die Linie ein Stück weiter geschichtlich heranzuleiten.

Noch in Goethes größten Jahren folgte auf Werner und Hutton eine Arabeskenkurve des geologischen Betrachtens.

Es folgte die sogenannte Katastrophen-Lehre.

Man hatte jetzt gelernt, eine sichere Reihe geologischer Epochen diesseits des Buffonschen Rindenabkühlungsmoments wirklich zu unterscheiden, die Epochen der verschiedenen Gesteinsbildungen durch Meeresniederschläge. Innerhalb jeder einzelnen dieser Epochen ließ man das langsame Werden im Sinne der Huttonschen, der Goetheschen Ideen durchweg zu. Aber zwischen Epoche und Epoche schob man ein Interregnum besonderer Erdtätigkeit, eine katastrophenhafte Unterbrechung.

Man hatte gemerkt, daß die meisten Tiere mit den Epochen wechselten. Neue Arten tauchten auf, alte verschwanden. Gerade an diesem Wechsel der Tierformen in den versteinerten Resten hatte Smith die ursprüngliche Reihenfolge und Sonderung der Butterbrotschnitten in der Rinde unterscheiden gelehrt.

Jetzt übertrieb man das, als habe keine Tierart von einer Epoche in die nächste hinein ausgedauert. Und aus dem Untergang wieder schloß man auf eine tötende Katastrophe.

Die Voraussetzung war falsch, der Schluß war es entsprechend. Es handelte sich nicht um gerade Fortschrittsbahn der geologischen Auffassung, sondern um eine Arabeske.

Immerhin war es, was den Begriff der langen geologischen Zeit anbetraf, nicht unbedingt nötig, daß er von hier aus litt. Die Zwischenzeiten zwischen je zwei Katastrophen, also die eigentlichen geologischen Epochen, mochten als solche eine ungeheure Zeit nach wie vor füllen. Cuvier dachte an Millionen von Jahren, die uns im ganzen etwa von den Ichthyosauriern trennen könnten.

Aber es war doch auch wahr, daß das Plötzlichkeits-Element ohne jede Analogie zum heutigen Geschehen, das in den Katastrophen steckte, auch innerhalb der ruhigen Epochen schließlich zu Gewalt-Phantasien verführen mußte, die von den Ideen Huttons und Goethes fortlenkten. Das jähe, aus keiner[S. 160] Analogie begreifbare Neu-Entstehen der Tiere und Pflanzen auf der nackten Krakatau-Schlacke jeder neuen Katastrophe war schon eine solche Verführung. Wenn das möglich gewesen war, dann möchte die Urwelt auch Kolossalmittel des Moments gehabt haben, um in einer Stunde eine ganze Sandbarre, groß wie die Sächsische Schweiz, aufzuhäufen.

Der Maßstab von heute fiel ab als Wahrscheinlichkeitsmaß.

Wenn man also auch in der Katastrophenlehre gern mit Riesenziffern herumwarf, so geschah das eigentlich nicht mehr auf dem Boden des gesunden Huttonschen Prinzips. Es geschah vielmehr aus Liebe zum überhaupt Kolossalischen, in die man die Geologie hineinerzogen. Riesige Ichthyosaurier und riesige Mammute; riesige Explosionen, Dämpfe, Lavastöße, Glut- und Wasserfluten; dazu paßten am besten auch „riesige“ Zeiten. Aber man war aus der beobachtenden Forschung heraus im Roman.

Der Dichter Goethe, der ein so wundervolles Beobachterauge und so viel schlichten Respekt vor der nicht zu übertreibenden Majestät des Einfachen, der „Alltagsnatur“ hatte, sah das klar ein und tat danach: er verschloß seine Tür vor dieser Polter-Geologie der analogiefreien Erfindung. Die wissenschaftliche Herrschaft der Katastrophenlehre dauerte aber offiziell bis zu seinem Ende. Dann brach sie merkwürdig schnell wieder zusammen.

Der erste Vorbote dieses Zusammenbruchs war aber eben jener deutsche Geologe zu Gotha, von Hoff, im ersten Bande seiner „Geschichte der durch Überlieferung nachgewiesenen natürlichen Veränderungen der Erdoberfläche“ 1822. Hoff lenkte durchaus wieder in Huttons besonnene Bahnen zurück. Mit vollem Nachdruck lehrte er wieder die Gegenwart mit ihrem alltäglichen geologischen Geschehen als Lehrmeisterin der Urwelts-Geologie betrachten. Und beredt wußte er zu schildern, daß hier die ungeheure Länge der geologischen Zeit eine echte Forderung der strengen Kritik sei, nicht ein phantastisches Riesenspiel. Das war der Hoff, den Goethe begrüßte.

Anfang der dreißiger Jahre, in Goethes spätestem[S. 161] Abendrot, trat dann der Engländer Lyell auf, mit dem die Katastrophenlehre wirklich einstürzt.

Lyell führte die Ansichten von Hutton, von Goethe und von Hoff hinsichtlich der geologischen Arbeitsart zum vollständigen Siege. Das heißt: er entwickelte sie für sich und erfocht den Sieg auf seinen Namen. Hutton verscholl dabei mehr oder minder, Goethe war nie bekannt geworden, Hoff trat bescheiden bei Seite und ist erst ganz spät gegen den Wunsch der Lyellianer in seine Prioritätsrechte eingesetzt worden.

Einerlei aber: die Ideen gewannen diesmal endgiltig die Oberhand. Und damit triumphierte um die Mitte des 19. Jahrhunderts auch jene zweite Forderung langer geologischer Zeit endgiltig, die tief im 18. unabhängig von Buffon eingesetzt hatte.

Diesmal sollte sie aber gleich noch eine dritte Quelle auslösen, — eine auch schon früher geahnte.

Als Darwin 1831 seine Weltreise antrat, war eines der wenigen Bücher, die er mit in seine Kajüte nahm, der eben erschienene erste Band von Lyells Geologie.

Auf der Reise selbst wurde er zum Geologen und zum Schüler Lyells. Er lernte, die Dinge alle im Sinne langsamen Werdens anzusehen. Langsam hoben sich Küsten, langsam zermalmte der Gebirgsbach den harten Stein, langsam baute die Koralle sich auf sinkendem Grunde immer wieder zäh empor, langsam verschleppte der Eisberg Granitbrocken. Allenthalben arbeitete heute noch die Erde geologisch weiter. Dieser Arbeit Vergangenheit zugestanden und Zeit, unabsehbare Zeit — und das Antlitz der Erde faltete sich und glättete sich, das ganze ungeheure Wandelpanorama zog und zog vorbei, von dem die Sedimentschichten erzählten, ohne erdumwälzende Katastrophen.

Wenn es aber keine Katastrophen gab, so mußte auch der Wechsel der Tierwelt in der Geologie anders begriffen werden. Was verschwunden war, wie die Mammute, die Ichthyosaurier, mußte allmählich ausgestorben sein. Wir hatten[S. 162] das unter unsern Augen erlebt, wie Tierarten sterben, am Vogel Dronte, an der Seekuh von Kamtschatka. Was aber neu entstanden war, in späteren geologischen Schichten in versteinerten Resten lag, während es in früheren fehlte, — das hatte sich auf natürliche Weise entwickelt. Diese Neu-Entwickelung von Arten hatten wir allerdings noch nicht gesehen. Aber Darwin suchte und glaubte zu finden eine erdrückende Fülle von Indizienbeweisen dafür. Es war das nächstliegende, daß Art sich von Art abgespalten hatte, daß das Vorhandene stets das Treibbeet des Neuentstehenden gewesen war.

So hatten schon vor Darwin die gedacht, die den alten Buffonschen Grundgedanken, daß Arten da entstehen, wo ihre Möglichkeit gegeben ist, sich irgendwie auszudenken, in Bildern zu denken gewagt hatten.

Warum aber erlebten wir diesen Prozeß heute nicht mehr? Darwin fand jene einfache Antwort auch da, die aber unendlich schwerwiegend sein mußte für das Zeit-Problem. Der Vorgang der Art-Entstehung war so langsam, daß wir ihn mit unseren paar Beobachter-Jahrhunderten noch gar nicht fassen konnten. Eine geologisch im Lyellschen Sinne zweifellos so gewaltig lange Zeitperiode wie etwa die ganze Tertiär-Zeit mochte dagegen etwa die höheren Säugetier-Arten alle hervorgebracht haben, sie langte.

Der alte Huttonsche, Goethesche, Hoffsche, jetzt Lyellsche geologische Zeitbeweis trat hier in die Kette der biologischen Indizien ein.

Aber dann zahlten Darwin und die Seinen auch zurück von ihrer Seite.

Die älteren geologischen Zeiten verlangten noch ganz andere Tierumformungen als nur die Zerspaltung des Säugetiers in so und so viel Ordnungen, Familien, Gattungen, Arten. Das älteste Säugetier sollte sich einmal vom Reptil, das Reptil vom Molch und Fisch abgespalten, schließlich das Wirbeltier aus dem Wirbellosen geworden sein. Das waren so riesige Umwandlungen, daß die Zeiträume selbst im höchsten[S. 163] geologischen Maß, an das man bisher gedacht, sich strecken mußten.

Die Biologie, von Darwin inspiriert, ging noch einmal für sich auf chronologische Maximalziffern.

Erst durch Darwin ist es geläufig geworden, von Jahrmillionen im größten Stil zu reden, von zwei-, dreihundert Millionen Jahren, die für das Leben allein auf der Erde nötig seien, — bis an die tausend Millionen, also die regelrechte Milliarde heran.

Rechnete man doch jetzt nicht mit dem Krakataufels, zu dem Wind und Welle und Vogel Geschlecht um Geschlecht schon anderswo vorhandenen Lebens trägt: auf dem ursprünglichen Fels hatte man nur die primitivste einzellige Alge etwa und aus der sollten je nach Ort und Gelegenheit auf dieser Ecke der Erdeninsel diese, auf jener jene Abarten sich entwickelt haben, die wiederum in Enkel- und Urenkelketten Wandel erlitten, bis der Fels endlich von immer höherem Leben autochthon grünte und so weiter bis zur höchsten Krone des Lebens.

Überschauen wir auf dieser Ebene die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, so bleiben wir trotz allem, was heute wohl gesagt wird, auf einheitlichem Boden.

Bei allem Zweifel an den engeren Darwinschen Sätzen ist der Grundgedanke einer langsamen natürlichen Entwickelung von Form zu Form immer fester und fester geworden.

Längst ist er nicht mehr bloß ein Anhängsel der rein geologischen Anschauung, wenn schon er sich nach wie vor aufs beste mit der modernen Geologie verträgt. Vor allem durch die vergleichende Anatomie, die heute alle biologische Systematik von Grund aus trägt, ist er zu einer völlig selbständigen Macht geworden, mit völlig eigenen Beweisketten, die bestehen blieben, auch wenn es gar keine Geologie gäbe.

Und so läßt sich der Zeitbegriff für die Spanne seit jener alten Buffon-Grenze, „seit Möglichwerden organischen Lebens auf der Erde“, heute tatsächlich rein biologisch begründen, ohne[S. 164] Rücksicht noch wieder auf jene zweite geologische Chronologie, wie sie in der Linie zwischen Werner und Lyell liegt.

Und wir mögen die Dinge wenden und drehen, wie wir wollen: wir kommen hier nach wie vor auf die denkbar größte Forderung.

Alle irgendwie sinnvollen Versuche, die ursprünglichen Darwinschen Erklärungsprinzipien für den Hergang der Entwickelung durch bessere zu ersetzen, kommen ja doch, wie gesagt, über den einen Punkt nicht hinaus: daß die Entwickelung langsam, Schritt für Schritt, sich vollzogen habe.

Immer, wenn man die Formreihen der Lebewesen entlang blickt, kommt der alte Goethe-Spruch zur Geltung, das Goethesche Gesetz, wie man es nennen könnte: daß in jeder anatomischen Einzelheit uns die greifbaren Spuren eines großen geschlossenen harmonischen Kunstwerks entgegentreten, eines Kunstwerks, in dem es keine abrupten Töne, sondern nur wunderbar miteinander verknüpfte Tonfolgen, unendliche Melodieen ohne Lücken gibt. Der Ort, wo der alte Goethe sich seine Weisheit holte, ist noch immer der geeignetste dazu: ein Gang durch die Skelettsammlung eines anatomischen Museums führt auch den Ungläubigsten mitten in das ungeheure Notenblatt dieser biologischen Symphonie. Ein einzelnes Organ, wie etwa das Handskelett der Wirbeltiere bis zum Menschen herauf, läßt eine solche Melodie überwältigend erklingen, zumal, wenn man noch etwas Paläontologie und Embryologie hinzunimmt, — ich persönlich verlasse einen solchen Raum und seine Schau nie, ohne den ganzen tiefen Genuß mitzunehmen wie aus einem Konzertsaal; der fortreißende Zauber steckt aber in nichts anderem hier wie dort, als in dem unendlichen harmonischen Hingang von Ton zu Ton ohne Riß in immer weiter schreitender feinster Verschränkung und Steigerung. Jeder grobe Stoß von Form jäh in gänzlich andere Form wäre ein Schlag ins Gesicht dieser anatomischen Harmonie und zerstörte uns den Genuß des Herrlichsten, was überhaupt die Biologie bietet, des wahrhaft Erhabenen, in eine edle Weltenschau Entrückenden, das diese[S. 165] scheinbar kahlste Wissenschaft des „Beinhauses“ unserm größten Dichter (der allerdings auch ein großer Kenner war) einst so verklärt hat, daß er vor ihr sein heiligstes Bekenntnis sprach:

„Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen,
Als daß sich Gottnatur ihm offenbare?“

Es ist entscheidend, daß auch alle neueren und neuesten wirklichen Versuche, über Darwin hinaus die Artentstehung zu deuten, den „kurzen Schritt“ nicht angreifen. Auch jene Mutationstheorie von Hugo de Vries trägt doch an ihrer Spitze den Satz: die Natur macht keine Sprünge. Auch in ihr ist die Umwandlung zwar stets ein fester, aber doch ein kleiner Schritt.

Und interessant auch ist, wenn man der gemeinsamen Arbeit heute von Geologie und biologischer Entwickelungslehre folgt, wie beide sich beständig in die Hände arbeiten zu gunsten noch immer größerer Zeiträume.

Einerseits dehnt die Geologie ihre Strecken noch beständig.

Die Epochen der echten Sedimentgesteine werden länger und länger.

Vor gar nicht so sehr langer Zeit konnte man noch hören, der Anfang der Eiszeit sei uns vielleicht ganz nahe gewesen, sie habe sich möglicherweise im Norden erst abgespielt, als im Orient schon die alten Kulturreiche blühten, also ein paar Jahrtausende bloß vor Christus. Heute scheinen den besten Kennern hunderttausend Jahre schon eine viel zu kleine Ziffer für die Dauer auch nur der eigentlichen Vergletscherung. Penck rechnet 23000 Jahre vom Ende der Eiszeit bis heute, wobei er nicht etwa vage astronomische Ziffern, die auf Ursachen-Hypothesen über die Eiszeit beruhen, zu Grunde legt, sondern in der streng geologischen Schätzung bleibt. Die Quartärzeit, das alte „Sündflut-Gebiet“ zwischen dem Ende der Tertiärzeit und unserer Gegenwart, kommt bei diesen Rechnungen auf seine gute halbe Million Jahre.

Eine Idee von der Größe dann der Tertiärzeit mag rein geologisch die jetzt ziemlich sichere Vorstellung geben, daß auf[S. 166] einen engeren Abschnitt darin die Bildung unserer größten Gebirgserhebungen (Alpen, Himalaya, Kordilleren) fällt, wohlverstanden im Sinne heutiger Annahmen kein jäher Polter-Akt, sondern eine ganz allmähliche Bildung.

Die ganze Tertiärzeit ist aber wieder winzig gegen die Kreide- oder Jura-Zeit. Von der Jura-Zeit hat schon vor Jahren ein feiner Kenner wie Neumayr gesagt, die ganze Quartärzeit gehe mindestens an die dreißig Mal in ihre Länge hinein.

Wie man auch mit solchen rein geologischen Maßstäben an die Milliarde Jahre tatsächlich herankommen kann, mag jene schon einmal von mir gestreifte Rechnung von Mellard Reade andeuten. Er geht davon aus, daß zur Bildung einer Kalksteinschicht von einem Meter Dicke auf dem Meeresgrund über drei Millionen Jahre nötig seien. Nun rechnet er, daß sämtliche Kalksteine der Erde, die aus den geologischen Epochen übrig sind, gleichmäßig ausgewalzt eine Schicht von mehr als 160 Metern Dicke ergeben müßten. Und er schließt also, daß zu deren Entstehung annähernd 600 Millionen Jahre erforderlich seien. Bei der schwimmenden Grenze solcher Ziffern wird der Weg gegen die tausendste Million, also die Milliarde, offen!

Auf der anderen Seite aber ist die Entwickelungslehre immer mehr bestrebt, grade ihre größten, schwersten, also zweifellos längsten Umformungen organischer Gruppen immer weiter rückwärts in diesen geologischen Perioden zu schieben.

Daß der Mensch bis hinter die Eiszeit geht, wird nachgerade nicht mehr ernstlich bestritten werden, — damit wären wir also einige Hunderttausend Jahre vor den heute so viel genannten Babyloniern von vier- oder dreitausend v. Chr. Man kann aber auch schon (von Klaatsch zum Beispiel) die Meinung lesen, daß der Mensch im mittleren Tertiär, in der Miocän-Zeit, bereits Steinwaffen hinterlassen habe, ja daß er ein unmittelbarer Sprößling der urtümlichen eocänen Säugetierwelt sei und also allen Ernstes selber bis in dieses Eocän, also die älteste Epoche des Tertiär, zurückreiche.

[S. 167]

Diese in der Tat höchst merkwürdige eocäne Säugerfauna, in der später so himmelweit getrennte Gruppen wie Raubtiere, Huftiere und gar Halbaffen noch eng in eine Ordnung zusammenfallen, tritt aber selber schon so im ersten Morgenrot dieser „Morgenrotsperiode“ des Tertiär auf, daß man ihre eigene Entstehung trotz mangelhafter paläontologischer Funde unbedingt bis in die Kreide-Zeit, also noch in die Sekundär-Periode, zurückdenken muß.

Noch wieder aus dieser Periode schieben sich die Säugetiere in ihren allerfrühesten, noch reptil- oder amphibienhaften Anfängen über die ältesten Trias-Funde hinaus bis an die Grenze der Primär-Periode zurück.

Wenn aber schon diese Primär-, also die sogenannte Erstlings-Periode der Geologie, es zu solchem Gipfel gebracht hatte, wie dem Säugetier, wie lang sollen wir sie allein denken?

Die Sache wird in Wirklichkeit hier noch viel chronologisch großartiger. Diese Primär-Periode setzt an ihrer untersten verschwimmenden Grenze, bei oder dicht unter dem sogenannten Kambrium, ein mit Versteinerungen eines schon damals relativ ganz hoch entwickelten Lebens, mit echten Vertretern fast aller großen Tierstämme, und beispielsweise bei den Gliedertieren schon mit einer so hohen, komplizierten Gruppe wie den Krebsen. Unterhalb dieser Schichten hören dann, wie gesagt, die Versteinerungen jäh ganz auf. Geschichtetes Gestein liegt ja da noch weiter in enormster Dicke. Die Geologie für sich zankt sich aber seit Alters darüber, wie das jetzt entstanden sei, ob plutonisch oder neptunisch. Einerseits sprechen gute Merkmale für weitere ungeheure uralte Wasserablagerungen. Andererseits ist die Struktur so, daß Wärme unbedingt eine Rolle dabei gespielt zu haben scheint, sei es auch im Sinne nur einer nachträglichen Metamorphose.

Mögen sich aber Pluto und Neptun geologisch in den Haaren liegen, so lange sie wollen: die biologische Entwickelungslehre fordert hier für ihr Teil einfach eine unabsehbare chronologische Rückausdehnung der Lebensmöglichkeit auf Erden noch[S. 168] über das Kambrium hinaus. Denn wenn auch alle versteinerten Reste zerstört sind: sie fordert Zeit für das Werden der großen Tierstämme, fordert Zeit für den unendlichen Wandel solcher Stämme etwa wie dort bis zu den Krebsen hinauf. Da ihr Gebäude sonst fest steht, darf sie das verlangen. Hinter dem Kambrium kann sich ihr die Lebenschronologie nicht schon schließen und etwa bereits die Buffonsche Urerde, die Gluterde ohne Lebensmöglichkeit, geschichtlich beginnen.

Sieht man aber auf das, was da geleistet worden sein soll, denkt man, daß alle Anfänge am schwersten sind und daß es ganz gewiß unvergleichlich viel mehr Mühe gemacht hat und also Zeit gebraucht hat, daß aus einem einzelligen Urtier ein Trilobiten-Krebs wurde, als aus dem ein Hummer — so wird man dieser hypothetischen vorkambrischen Lebensperiode mit ihren Meeren und sonstigen Lebensbedingungen eine Zeit ansetzen müssen, viel länger als alles noch, was seit dem Kambrium und seinen Krebsen verflossen ist.

Mit diesem Zuwachs langt die Milliarde schwerlich.

Und so ist es wirklich wie ein Wettlauf zwischen Geologie und Biologie, — wo die eine zögert, reißt die andere mit, und beide zusammen zerren schließlich den Faden der Chronologie in die Unfaßbarkeit an Länge.

Der Chronologie, wohl verstanden, zwischen dem alten Krakatau-Termin der oberflächlich erkalteten Erdschlacke Buffons und der Gegenwart!

Eine Milliarde Jahre als kleinste Annäherungsziffer dort, wo Buffon vor seinen sich abkühlenden Metallkügelchen des Experiments die schlichte Ziffer Vierzigtausend auf den Schild des Chronos geschrieben, zweifelnd und verlästert ob des chronologischen Ketzermutes, der Vierzigtausend gegen die Zahl Sechstausend der Theologie zu setzen wagte!

Aber wir sind mit der einen Linie bis ans Ende des 19. Jahrhunderts gestiegen. In dieser langen Zeit seit Buffon hatte auch der spezielle Gedanke jener Buffonschen Rechnung[S. 169] seine Sonderbahn beschrieben und war tatsächlich sein eigenes Stück auch weiter gekommen.

Eine Weile ist es im 19. Jahrhundert allerdings gewesen, als sei Buffons Ziffer rein fortgefegt, so stark wurden jene anderen Zeit-Argumente. Sie war wie erdrückt, erlebte selber das Schicksal der biblischen Ziffer.

Aber grade in dieser Zeit fügen sich fortgesetzt Züge in das geologische Bild, die doch merkwürdig gut wenigstens ihre Voraussetzungen zu bestätigen scheinen.

Die Kant-Laplacesche Theorie wird fast allgemein angenommen und gibt eine ganz anders anschauliche Grundlage für die Vorstellung einer Abstammung der Erde von der glühenden Sonne und eines ursprünglich selber sonnenhaft glühenden Erdballs, als Buffon besessen hatte.

Vulkane, heiße Quellen, die Hebekräfte bei der Gebirgsbildung und vor allem eine ziffernmäßige Zunahme der Temperatur in den Bergwerken und Bohrlöchern machen vereint die Meinung wirklich einmal ganz fest, ganz „exakt“, daß das Innere der Erde noch jetzt glühendflüssig, ja im Herzen gar gasförmig sei.

Bloß über die Dicke der Erkaltungsrinde von heute bleibt noch Streit, die Grundangabe dagegen kommt in jedes Schulbuch.

Gelegentlich, schon recht tief im 19. Jahrhundert, wird sogar einmal von einem Gelehrten auch wieder ein umfangreiches Schmelz-Experiment gemacht: Bischof läßt große Kugeln geschmolzenen Basalts sich abkühlen, bohrt Löcher hinein und senkt Thermometer nach, um die Abkühlungsgesetze zu ergründen.

Schließlich scheint das ganze Material so wundervoll neu da zu liegen und doch ganz im Rahmen zugleich der alten Voraussetzungen, daß es nur eines findigen Kopfs braucht, um auch ohne Rücksicht auf den alten Buffon selbst eine reine Wärme-Rechnung von neuem in der Geologie auferstehen zu lassen.

Rund ein Jahrhundert nach Buffon nimmt denn auch[S. 170] William Thomson in England die Sache richtig auf und sucht abermals eine feste Ziffer.

Buffons Angabe ist natürlich in jedem Betracht zu klein. Eine so ungeheure Differenz kann unmöglich herauskommen zwischen der Temperatur-Rechnung und jenen Ziffern Lyells und Darwins. Aber Thomson geht im Übrigen doch wieder seinen Eigenweg, genau wie einst Buffon selbst.

Er holt die neuen Temperatur-Materialien zusammen und sucht mit ihnen durchzudringen, indem er sie aneinander reiht. Da merkt er denn freilich etwas Störendes.

Die Grundziffern sind doch nicht so bequem. Beispielsweise: wie viel ursprüngliche Erkaltungswärme hat die Erde heute noch? Jene Thermometer-Steigerung beim Eindringen in Bohrlöcher müßte es lehren. Wie verläuft sie? Bei welcher Tiefe müssen wir uns denken, daß sie so hoch wird, daß noch jetzt alle Gesteine im Schmelzfluß sind? Die Angaben über die Steigerung differierten leider. Es gab eine Maximalbehauptung und eine Minimalbehauptung, die sich widersprachen.

Ferner: wie hoch war die Anfangstemperatur der Urerde? Und wie stand es mit der Wärmeleitung der Gesteine? Auch da gab es schwankende Ziffern.

Also beschied sich Thomson, zwei Grenzzahlen zu finden.

Eine, wenn jene Grundziffern so hoch, wie es ihm noch zulässig erschien, angenommen wurden, und eine, wenn sie so tief wie tunlich gesetzt waren.

Das Resultat war jedenfalls interessant.

Thomson errechnete, daß seit Erstarrung der Erdkruste nicht weniger als zwanzig Millionen Jahre verflossen sein könnten, — aber auch nicht mehr als vierhundert Millionen.

Schlug die Minimalziffer immer noch gründlich Buffons Zahl tot, so war die Maximalziffer doch immer noch nicht genügend für jene Forderungen der modernen Geologie und der Entwickelungslehre der Biologie. Vollends entsprach diesen nicht die von Thomson befürwortete Mittelzahl von bloß[S. 171] etwas über hundert Millionen. Und später ist Thomson sogar noch von der beträchtlich heruntergegangen.

Es konnte scheinen, als bereite sich da noch einmal ein ernsthafter Konflikt trotz allem zwischen der echten Nachfolge Buffons in der Physik und der Nachfolge Lyells und Darwins vor. Wo man besonders Darwin etwas am Zeuge flicken wollte, wurde denn auch die Thomson-Ziffer gelegentlich ausgespielt als Dämpfer.

Andererseits diente sie mit ihrem riesigen Spielraum von hunderten von Millionen auch wohl wieder denen als Zielscheibe, die über das müßige „Spiel mit Millionen“ in der Chronologie des Naturforschers wohlfeil zu scherzen beliebten.

Der wahre Sachverhalt ist, daß auch über diesen heutigen physikalischen Rechnungen schließlich doch ein Unstern schwebt.

Grade sie wollen uns wirkliche Zahlen „exakt“ geben und verwirren doch nur das Bild, das Geologie und Biologie aufgerollt haben, dabei ins ganz Unsichere hinein. Die Voraussetzungen, die Thomson vermeintlich so sicher vorfand, schwankten nicht nur ihm im Laufe seiner Rechnung: sie sind überhaupt heute wieder schwankendster Grund, — so schwankend, daß sich grade auf sie gar nichts bauen läßt.

Der Widerspruch in den Angaben über die Zunahme der Wärme in den Bergwerken und unsern (immer ja noch so winzigen) Bohrlöchern ist nicht nur innerhalb der Thomsonschen Grenzen da: er ist zur Stunde derartig, daß sich überhaupt keine Rechnung auf ihn begründen läßt.

Sämtliche Angaben des weitern über einen im Erdinnern noch erhaltenen Rest ursprünglicher Erdwärme sind gegenwärtig mit Glück angezweifelt. Das ganze Schulbild der Erdkugel mit einer dünnen Erstarrungsrinde bloß über einem ungeheuren Glutkern fängt unverkennbar an, in der Geologie „mythisch“ zu werden. Weder zur Erklärung des Vulkanismus noch vollends zu der der Gebirgsbildung ist das aufdrängende einheitliche Innen-Glutmeer mehr nötig — von dieser Seite hat die Hilfe so gut wie ganz aufgehört.

Wenn die Erde heute noch Wärme in ihrem Innern[S. 172] hegt, so gibt es Gedankengänge, die selbst das erklären ohne Rücksicht auf Reste von Urwärme; auch ein Körper, der sich zusammenzieht, erzeugt mechanisch Wärme; Wärme entsteht bei allen Gesteinsverschiebungen, Wärme entsteht aus örtlichen chemischen Prozessen.

Ich will wenigstens mit einem Wort andeuten, daß selbst die Kant-Laplacesche Theorie heute wieder schwächer in ihrer Beweiskraft erscheint.

Das soll nicht sagen, daß die Erde nie ein Sonnenstadium gehabt habe. Aber es kann unendlich viel früher erloschen sein, als alle unsere Rechnungen erreichen. Wenn die Erde überhaupt heute kein sicher erweisbares Glutmeer als unmittelbares Erbe jener Sonnenzeit mehr in sich birgt, erlahmt mit der Gesamtrechnung auch die Vermutung, wie lange sie schon in diesem Zustande ist. Nichts hemmt dann, zu den Zahlen der Geologie und Biologe zurückzukehren und sie umgekehrt als einzigen Anhalt auszuspielen. Wenn das Leben zu seiner Entwickelung eine Milliarde und mehr brauchte, so muß eben so lange die Erdrinde schon so sein, daß Leben auf ihr existieren konnte.

Sehr viel Zeit!

Das bleibt das Resultat.

Nicht feste Ziffern, — grade die trügen am leichtesten. Aber unendlicher Spielraum!

Und wenn etwas je Ziffern geben könnte, so wären es ganz kleine, eng umrissene Beobachtungsreihen inmitten des hellen Tages von heute. Wie ein nackter Fels heute vom Leben erobert wird gleich jener Krakatauschlacke; und wie dieses isolierte Leben dann lokalen Wandel vielleicht erfährt in Jahrtausenden; das wäre so eine Reihe. Und wie zugleich der Boden sich wandelt, wie Zuwachs, Abzug, Hebung oder Senkung sich zeigt, das wäre echtes geologisch-chronologisches Material.

Bescheiden sein gilt es da, bescheiden vorgehen von Schritt zu Schritt, um als Krone der Bescheidenheit zu ernten — die Milliarde.

* *
*

[S. 173]

 

Ich blättere wieder in den Büchern. Man merkt es noch an anderem, daß der Darwinismus aus dem Schwabenalter kommt.

Es lösen sich persönliche Beziehungen.

Die Taufpaten, die das Kind aus der Wiege hoben — Darwin, Lyell, Huxley — sind fast alle schon hin. Die zweite große Generation aber fängt an, ihr Testament zu schreiben. August Weismann gibt seine „Vorträge über Deszendenztheorie“ heraus, in zwei dicken Bänden. Haeckel hat seine „Gemeinverständlichen Vorträge und Abhandlungen aus dem Gebiete der Entwickelungslehre“ ebenso in zwei Bände gesammelt.

Gleich in der Vorrede lese ich da bei Weismann: „Wenn ein arbeitsfreudiges Leben sich seinem Ende zuneigt, so regt sich wohl der Wunsch, die Hauptergebnisse desselben zu einem abgerundeten und in sich harmonischen Bild zusammenzufassen und gewissermaßen als ein Vermächtnis den nach uns Kommenden zu hinterlassen. — Das ist der Hauptgrund, der mich zur Veröffentlichung dieser Vorträge veranlaßte.“ Ein Werk, das solche Sätze an der Spitze trägt, legt eine neue Verpflichtung auf.

Es verlangt, daß man historisch auf eine Lebensarbeit zurückschaut.

Denke ich allerdings wieder an die Leutchen, die dem ganzen Darwinismus schon diese „Heiligsprechung des Historischwerdens“ zugestehen möchten, mit dem behaglichen Gefühl dabei, daß so stillschweigend auch die klassische Antiquierung mit Absetzung von der Tagesordnung vollzogen sei, so ist das Weismannsche Buch eine der hübschesten Widerlegungen dieses frommen Wunsches. Es fixiert, historisch wie aktuell, eine Schattierung innerhalb des Darwinismus, die spezifische Weismann-Lehre, die im Grunde ebensoviel Anrecht auf einen Personennamen hat wie die Gesamtschule auf den des Charles Darwin oder wie die Mutations-Theorie wieder auf den des Hugo De Vries.

Eine Lehre aber ist nach meiner Auffassung in der Vollblüte ihrer Leistungsfähigkeit als Geistesquelle, wenn sie noch[S. 174] Raum hat für so verschiedene, jederseits für sich geistvoll-eigenartige Schattierungen. Wobei es dem Spitzfindigen wirklich ruhig überlassen bleiben mag, ob er bei dem Wettstreit dieser Schattierungen von Kämpfen im Darwinismus oder um den Darwinismus reden will. Ich selbst erachte es als eine Pflicht historischer Anständigkeit, der Gesamtbewegung zu einer wissenschaftlichen Deszendenztheorie, wie sie eine ungeheure, fort und fort wachsende Litteratur heute vertritt, den Namen „Darwinismus“ zu lassen; im übrigen aber wünsche ich dem Kampf der Meinungen innerhalb dieser Theorie Tür und Tor geöffnet, so weit es geht.

Wir reden ja auch, und reden ganz gewiß mit Recht, von einem kopernikanischen Weltsystem, obwohl Kopernikus noch keine Keplerschen Gesetze und kein Newtonsches Gravitationsgesetz kannte, obwohl wir heute genau wissen, daß auch die Sonne nicht still steht und dadurch die ganze Figur des Systems beständig verschoben wird, und obwohl Kopernikus noch an eine Drehung des Achsenwinkels der Erde bei jedem Jahresumlauf dachte, die in dieser Form völliger Irrtum war.

Wollen wir jeden Zwist um ein engeres Deszendenzgesetz als Entscheidungskampf um Wohl und Wehe des Darwinismus fassen, so wird nur eine Verwechslung in die Laienwelt getragen: als wenn nämlich der Gedanke der Entwickelung im Gebiet der modernsten Biologie selbst wieder bedroht oder gar wieder in den Hintergrund gedrängt sei, — eine Behauptung, der kein ehrlicher Mensch, der die Dinge verfolgt, Verbreitung wünschen kann, da sie den nacktesten Tatsachen widerspricht.

Auch Weismanns eigene Anschauungen haben aber innerhalb der vierundvierzig Jahre Darwinismus schon ihre besondere Geschichte.

Sie sind zu ihrer Zeit als unvollkommener Keim sichtbar geworden, sind in vielfältigem Hader gewachsen und sind heute, soweit Weismann als Person in Betracht kommt, ausgewachsen. Ganz ausgewachsen im ideellen Sinne sind sie natürlich noch so wenig wie irgend ein menschlicher Gedanke,[S. 175] der in die vorläufig unserem Blick einmal „ewige“ Menschheit gesäet worden. Mit Bedauern lese ich, daß August Weismann durch ein Augenleiden mehr und mehr im praktischen Forschen gehemmt wird, wobei ich doch von seinem theoretischen Denken mir noch reiche Frucht verspreche, trotz seines „Testaments“. Inzwischen stelle ich fest, — und ich denke, hier wird Freund wie Feind des Darwinismus und aller seiner Schattierungen mir anstandslos recht geben —, daß im ganzen Darwinismus nächst Darwin selbst kein zweiter so sittlich vornehm, so liebenswürdig, ja, ich möchte sagen: so graziös zu hadern verstanden hat wie er. Und das auf einem Gebiete, wo gelegentlich unverkennbar mit Dreschflegeln und verwandten, nicht völlig einwandfreien Instrumenten in Sachen der Weltanschauung operiert worden ist — nomina sunt odiosa.

Neben diesem Charakter ist zur Sache zu sagen, daß Weismann zwar nicht im Sinne eines Kampfschlusses objektiv gesiegt hat, — wer hat denn in diesen vier Jahrzehnten irgendwo „gesiegt“ vor Problemen, die mindestens der Beobachtungskontrolle von Jahrtausenden bedürften! Aber er hat seine „Schattierung“ klar herausgearbeitet. In diesem Buche feiert das seinen Triumph.

Es ist ein Werk von solcher stilistischen Klarheit, wie der Darwinismus höchstens noch zwei oder drei besitzt unter seinen allerbesten. Es ist alles so abgeschliffen und ausgeklärt, jedes Beispiel genau blankgewischt und an seinen Fleck gestellt, wie bei Schauobjekten einer am Schnürchen laufenden Schuldemonstration. Sehen muß hier jeder, was gemeint ist, — mag er das Begriffene danach schelten.

Von keiner Linie des Darwinismus wird heute mit mehr Eifer behauptet, daß sie falsch sei, wie von der Zuchtwahl-Theorie. Nun denn: Weismann ist zur Zeit der extremste Vertreter gerade dieser Zuchtwahl-Theorie. Das bestimmt eben seine Eigenart.

Man muß, um seine Stellung andeutend zu fixieren, auf den alten Gegensatz zurückgehen zwischen Lamarck und Darwin,[S. 176] einen Gegensatz, der überhaupt mit den Jahren wieder immer interessanter geworden ist.

Als Darwin sich an den Entwickelungsgedanken wagte, schien es ihm vor allem nötig, ihn aus dem Schutt herauszuarbeiten, in den er mit Lamarck geraten war. Heute haben wir umgekehrt wieder eine feste Schule von Neo-Lamarckisten, die ungefähr etwas Ähnliches von Darwin sagen.

Umgekehrt ist aber auch aus dem immer noch vorsichtigen Darwinschen Vorstoß contra Lamarck eine Lehre erwachsen, die dann erst mit Stumpf und Stiel den letzten Lamarcksrest austreiben möchte. Und das ist die Farbe Weismann im Bilde.

Lamarck hatte eines deutlich erfaßt, und das ist übriggeblieben in allen späteren Meinungen.

In der Entwickelung der Tier- und Pflanzenarten sind zwei Faktoren zu beachten.

Ein äußerer und ein innerer.

Außen wechseln die Bedingungen des Lebens auf Erden. Sie ziehen vorbei wie ein großes Wandelpanorama.

Innen, in den Lebewesen selbst, reagiert aber etwas darauf. Sie passen sich diesen Bedingungen an.

Wie aber ist nun das wahre Verhältnis von drüben und hier? Wir suchen in der Natur Kausalzusammenhänge. Wo sind sie hier?

Lamarck sagte: Außen wirkt auf innen. Die äußeren Bedingungen treten nach innen auf als Forderungen. Und diese Forderungen finden Gehör bei einer Eigenschaft des Innern. Sie rufen „Übung“ hervor. Der Arm, der zum Schlagen gefordert wird, stählt sich, der Hals, der hoch reichen soll, streckt sich. Das Resultat dieser Übung aber wird auf die Nachkommen vererbt. Ihr Arm wächst sogleich muskelstärker, ihr Hals gleich in der nötigen Länge. So fixiert sich die Übung hier bereits als angeborene Anpassung. Und so fort.

Nun Darwin.

Das langt nicht. Durch Übung wird kein Laubfrosch grün, kein Blattschmetterling seinem Blatte ähnlich. Und doch[S. 177] haben wir auch solcher Anpassungen die Fülle. Es muß noch ein besonderes Wechselverhältnis geben zwischen dem Außen und irgend einer andern Eigenschaft des Innen, die auch hier entgegenkommt. Und Darwin findet es in der Zuchtwahl, der Selektion. Neben der Übung gehört zu den entgegenkommenden Möglichkeiten die Variation. Ein beständiges Spiel waltet da von allerhand Hervorbringungen, die unabhängig von der Übung herausgeworfen werden. Diese Variation macht z. B. einen Frosch, der sonst braun war, auch einmal grün. Und jetzt darauf reagiert das Äußere nicht erzieherisch, wie bei der Übung, sondern gewaltsam. Der grüne Frosch wird als zweckmäßige Anpassung auf Grün erhalten, weitergezüchtet, während alle nicht grünen Formen eingehen müssen. Das ist die berühmte Auslese der Passendsten.

Ein sinnvoller Gedanke, der zunächst durch seine Einfachheit fortriß. Aber man sieht: er wirft Lamarck nicht um. Er ergänzt ihn nur für die unzähligen Fälle, vor denen die Anpassung durch Übung als Erklärungsgrund versagt.

Aber nun wieder einen Spatenstich tiefer.

Was steckte hinter dieser Variation? Was war ihr Geheimnis, ihr Gesetz? Mit dieser Frage sind wir mitten in den Kämpfen der Schule Darwins.

Eine Linie beschäftigte sich bloß mit der Schrittweite, dem Maß dieser Variation. Ob schon winzige, gesetzmäßige Gleichgewichtsschwankungen zur Artbildung führten oder bloß kräftige, das Innerste erschütternde Stöße? Hier setzt heute de Vries ein, der experimentell festgestellt zu haben glaubt, daß stets ein wirklicher Stoß, ein Ruck oder Sprung nötig sei, eine Mutation. Doch der Darwinsche Grundgedanke bleibt in dieser Linie unangetastet.

Über Darwin mußte dagegen in irgend einer Weise hinausführen jede Meinung über die tieferen Ursachen der artbildenden Variation.

Die eine Richtung grub ausschließlich nach innen, ins Innerste des Innern hinein weiter. Gab es nicht doch ein[S. 178] festes inneres Hausgesetz der Variation, das schon der ersten Urzelle eingeprägt war?

Hier wurde Nägeli bedeutend. Er verknüpfte die Frage mit einem älteren, vordarwinistischen Gedanken. Er suchte ein „Entwickelungsgesetz“ schon in der Variation. Aber er ließ es teleologisch arbeiten. Es drängte selber schon, in einem allerdings schwer definierbaren „Hellsehen“, auf nützliche Anpassungsvarianten, wie sie außen gefordert wurden, direkt hin. Damit wurde die Selektion überflüssig. Und so führte Nägeli allerdings folgerichtig wieder aus Darwin heraus, ohne zu Lamarck zurückzukehren, — in ein Drittes hinein.

Aber das hatte man ja gerade an Darwin geschätzt, daß er keine teleologische Grundveranlagung brauchte, sondern das Zweckmäßige erst vor unseren Augen entstehen ließ. Die ganze Hauptmasse der Schule schwenkte also hier nicht mit. Aber wo lag denn das Gesetz der Variation?

Im „Zufall“?

Das ist oft als Hilfs- und Notwort gesagt worden. Jeder wußte aber, daß Zufall einen eigentlichen Sinn in einem Spiel von Kausalzusammenhängen, wo alle Karten aufgedeckt sind, gar nicht besitzt. Und nach solchem Spiel suchte man doch.

So sah man sich unhemmbar wieder ins „Außen“ gedrängt.

Steckten die Anstöße zur Variation nicht doch irgendwie im Druck der Verhältnisse, im Milieu selbst, — also außen?

Hier lag eine unverkennbare Möglichkeit, in äußerster Schwenkung doch noch wieder auf einen vertieften Lamarck zu kommen. Darwin hat in späteren Jahren selbst etwas paktiert mit dieser Richtung. Die Neo-Lamarckisten haben sie offen proklamiert.

Das jetzt ist aber die Stelle, wo Weismann vor Jahren zuerst in die Debatte mit einem wahren Blitzschlage eingegriffen hat.

Er versuchte, den ganzen Lamarckismus nachträglich in Grund und Boden zu schlagen durch die Behauptung, daß die Ergebnisse dieser ganzen direkten Einflüsse von außen auf[S. 179] innen, wie Übungsstärkung u. s. w., also jene vom Individuum erworbenen Eigenschaften, nicht vererbt werden könnten.

War das richtig, so konnte auf dem Lamarckswege niemals eine neue Art entstanden sein, denn jeder Anlauf zu einer Anpassung blieb individuell und starb mit dem Tode des Individuums wieder aus, ohne in die Unsterblichkeit der Generationenfolge durch Kinder und Enkel einzutreten.

Mochte das nun bestritten werden — und wie ist es bestritten worden bis auf diesen Tag nicht bloß von Lamarckisten, sondern auch von engeren Darwinisten und auch von ganz indifferenten Physiologen und Vererbungstheoretikern —: für Weismann war damit seine weitere Bahn endgültig gegeben. Ihm galt es, den Darwinismus vom letzten Rest Lamarckismus reinzuputzen. Da er kein drittes Prinzip im Sinne Nägelis hatte, blieb schlechterdings nichts übrig, als die natürliche Zuchtwahl auch in allen Fällen, wo Darwin noch Lamarck Raum gelassen, für die absolute Macht zu erklären. Es wurde die Allmacht der Naturzüchtung proklamiert.

Das für sich vollzogen, wurde aber nun wieder etwas hochinteressant.

Nämlich: wie endlich Weismann ohne Nägeli und auch ganz ohne Lamarck den geheimen Mechanismus der Variation für sich deuten werde.

Abermals wird hier eine neue, zunächst unabhängige Linie der Darwinschen Schule wichtig: der Ideengang von Wilhelm Roux.

Roux faßte den Gedanken — einen der genialsten nach Darwin, — daß es nicht bloß eine äußerliche Zuchtwahl geben müsse, sondern auch eine im Innern. Eine Zuchtwahl nicht bloß des Milieus gegenüber den Individuen, sondern auch eine Zuchtwahl durch den Kampf ums Dasein der Teile im Individuum selbst.

Wir wissen ja, daß jedes Individuum, jedes echte Einzeltier, jede echte Einzelpflanze, aus Teilen besteht, die mehr oder minder jeder für sich etwas Selbständiges in ihm darstellen. Das einfachste Beispiel in allen etwas entwickelteren Lebensformen[S. 180] sind die Organe. Goethe stand schon tief bewegt vor diesem Geheimnis. In dem ersten seiner morphologischen Hefte sagt er: „Jedes Lebendige ist kein Einzelnes, sondern eine Mehrheit; selbst insofern es uns als Individuum erscheint, bleibt es doch eine Versammlung von lebendigen, selbständigen Wesen, die der Idee, der Anlage nach gleich sind, in der Erscheinung aber gleich oder ähnlich, ungleich oder unähnlich werden können. Diese Wesen sind teils ursprünglich schon verbunden, teils finden und vereinigen sie sich. Sie entzweien sich und suchen sich wieder und bewirken so eine unendliche Produktion auf alle Weise und nach allen Seiten.“ Einundzwanzig Jahre, nachdem diese Stelle gedruckt, einunddreißig, nachdem sie geschrieben war, wurde in der „Zelle“ ein noch viel fundamentaleres Bauelement der Lebewesen entdeckt. Seit Schleiden, Schwann und vor allem seit Virchows bahnbrechenden Arbeiten wissen wir, daß alle höheren Pflanzen wie Tiere ungeheure Komplexe, Genossenschaften, Staaten solcher Zellen sind. Erst tief an der Wurzel alles Lebendigen fällt Zelle und Individuum zusammen. Aber selbst vor der Zelle macht die Auflösung noch nicht Halt. Selbst sie noch erscheint als ein verwickeltes Sozialgebilde aus einer ungeheuren Masse noch einfacherer Lebensträger.

Nun denn: auch diese Teile und Teilchen bis ins Winzigste, Unsichtbare hinein, sie müssen in einem unausgesetzten Konkurrenzkampfe stehen. Besser gelagerte, besser genährte überwinden die minderwertigen. Bestimmte Gruppen siegen und unterliegen; eine große Zuchtwahl waltet.

So weit im Kern der Ideengang Roux’. Nun darüber hinaus wieder Weismann.

Dieser Kampf der Teilchen mit seiner inneren Auslese findet auch in dem Allergeheimnisvollsten statt, was die lebenden Wesen besitzen: in ihrem körperlichen „Unsterblichkeitsteil“, nämlich dem sogenannten Keimplasma, dem Kraftreservoir, das bei der Fortpflanzung mitgegeben wird. Und sein Resultat ist die Variation der neu entstehenden Gesamtindividuen, die natürlich erblich sein muß, da es sich ja um Resultate sozusagen[S. 181] im Herzen aller Vererbung, im ewigen Keimplasma, handelt. Bei den Ergebnissen dieser Variation mag dann die Zuchtwahl höheren Grades, die Darwin zunächst nur gesehen hatte, sie, die feste Arten mit zweckmäßigen Anpassungen bildet, einsetzen.

Erst in diesem „Testament“ kommt Weismanns Gedankengebäude zum ersten Mal völlig klar heraus. Erst jetzt wird deutlich, was der Satz von der Allmacht der Zuchtwahl schließlich doch für Wahrscheinlichkeiten selbst wieder öffnet.

Wohl: außen ist jetzt Zuchtwahl, innen Zuchtwahl, Zuchtwahl überall. Doch gerade dabei zeigt sich plötzlich erst recht eine feine, aber sichere Brücke von „außen“ nach „innen“.

Das Milieu, das außen die Individuen ausliest, wirkt doch auch in ihnen als Ernährung mit. Wenn dieser Einfluß lange Zeit ein gleichartiger ist, so muß er im inneren Kampf der Teile bis in das entscheidende Keimplasma hinein schließlich auch schon eine ganz bestimmte Auslese, einen bestimmten Sieg, eine bestimmte Richtung der Variation dort bewirken.

Und damit ist die endgültige „Möglichkeit“ wenigstens geschaffen, daß der äußeren Zuchtwahl bestimmte nützliche Varianten schon in die Hände arbeiten. Äußere und innere Zuchtwahl, im letzten Ende vom Gleichen bewegt, können aufeinander losarbeiten wie in einem Ansatz wenigstens zu einer „prästabilierten Harmonie“.

Man sieht, was das bedeutet.

Es ist der beste Kern des Nägelischen Gedankens gerettet, ohne daß doch ein unklares teleologisches Entwickelungsgesetz nötig würde, und auch ohne daß die Zuchtwahl überflüssig würde; die äußere Zuchtwahl wird nur in etwas entlastet durch die innere.

Zugleich aber ist trotz aller Allgewalt des Zuchtwahlprinzips doch auch wiederhergestellt und anerkannt der wichtigste Kerngedanke des Lamarckismus, daß nämlich zuletzt der Druck der äußeren Verhältnisse die Anpassung schafft.

In dieser Form umfaßt der Weismannismus alle kräftigen Triebe, die das Deszedenzprinzip bisher hervorgebracht hat[S. 182] und genügt damit formal zweifellos den Anforderungen an eine Schlußhypothese. Weismann selber muß das genügen; er darf mit Befriedigung auf eine Bahn blicken, die für sein Teil konsequent durchlaufen ist. Den Fortgang mögen andere suchen, meinetwegen auch den Rückgang. Die Geschichte der Wissenschaft hat etwas von Penelope, die in der Nacht trennt, was sie am Tage gewebt hat. Darum kann einer doch den Ruhm eines guten Webers behalten.

Was ich hier angedeutet habe, ist nur der größte Gerüstbalken des Buches, roh wie die Tragbalken in der Goldelfenbeinmasse des olympischen Zeus. Das Werk selbst wirkt so ungemein fesselnd, weil es sich breiter und breiter vor dem Leser aufbaut. Man fühlt mit, wie Weismann sich allmählich die ganze Deszendenzlehre neu aufzimmern, mit ihrem gesamten Apparat neu ordnen mußte. Dann aber kam er wirklich an die Grenze, wo es eine individuelle Biologie zu schaffen galt und schließlich eine ganze Weltanschauung mit der spezifischen Weismann-Farbe. Das letzte Kapitel verrät davon wenigstens noch einiges. Ein Gedanke sehr allgemeiner Art taucht dabei noch auf, der mir wert scheint, daß man ihn bespricht, vielleicht auch, daß man ihm widerspricht.

Weismann empfindet, was jeder vor jedem ganz tief gefaßten Problem zuletzt empfinden muß: man kommt auf die Urfragen.

Hinter außen und innen, Vererbung und Zuchtwahl erwachsen die großen Türhüter des ganz Rätselhaften. Was ist Leben, was Materie, Geist, Zweck, Zeit, Kausalität?

Und er meint, wir müssen da ewig resignieren.

Muß es nicht so sein? fragt er.

Auch wir sind Anpassungsprodukte jener großen Lebensmühle, angepaßt an ganz bestimmte Forderungen des Lebens. Zu diesen Forderungen gehört aber nicht, daß unser Verstand etwas ergrübelt über jene letzten Fragen. Lassen wir also den Versuch, über uns selbst hinausgreifen zu wollen; bescheiden wir uns.

Ich kann diesem Schluß Weismanns nicht zustimmen.

[S. 183]

Seit drei Jahrtausenden mindestens besteht eine ganz bestimmte Beziehung zwischen dem Glück grade der edelsten, denkenden, voranschreitenden Menschen und diesem innigen Ringen um die Grundfragen der Philosophie, diesem immer erneuten Ringen um das „du segnest mich denn“ an dieser Stelle.

Das Glück der Menschheit verlangt nicht mehr bloß nach Anpassung an die äußeren Bedingungen der Welt im Sinne einer immer mehr vervollkommneten Technik — fester und fester verspinnt es sich mit jenen Fragen nach Sinn und Wesen der Welt, mit der einfachen Frage der Philosophie.

Es gibt sich nicht mit der Resignation allein zufrieden. In ihr muß der Mensch hungern, wie nur je ein schlecht angepaßtes Tier gehungert hat.

Aber gerade in Weismanns Buch wird so hinreißend deutlich gemacht, wie der Hunger, das Bedürfnis das Ideal, die vollkommnere Anpassung selbst herausgezogen, heranentwickelt hat — damals, bei den Pflanzen und Tieren, so tief da unten.

Und oben bei uns soll das nicht mehr so gehen?

Bei unserem Geisteshunger ...?

* *
*

 

Haeckel hat mit seiner Person zu lange im Brennpunkte des Darwinismus gestanden, um bloß eine Schattierung zu spiegeln. Bei ihm macht man den ganzen Kampf der ersten vier Jahrzehnte auf den Vorposten mit. Für mich hat es vor seinem Buche einen unwillkürlichen Reiz, eigensten Erinnerungen nachzuhängen. Sie haben etwas Charakteristisches, ich weiß, wie vielen in der Generation, die mit Darwin aufgewachsen ist, ich ihre eigenen Erlebnisse erzähle.

Meine frühesten Erinnerungen gehen zurück auf Darwins Porträt. Ich war zu jung, um das Buch von der „Entstehung der Arten“ lesen zu können. Aber der eigenartige Kopf mit der fast abnormen, tiefgefurchten Stirn und dem[S. 184] weißen Patriarchenbart prägte sich ein. Es war ein Kopf, den auch ein Knabe nicht vergaß. Als Schuljungen stritten wir uns, ob der Name Darwin oder Darwin auszusprechen sei.

Die neue Gedankenwelt kam mir zum ersten Mal äußerlich in gewissen Schlagworten wie „Affenmensch“ nahe, als in meinem Elternhaus die Falstaffgestalt Karl Vogts auftauchte. Er reiste schon in Darwinismus, hielt zwischen einem Menschen- und einem Gorillageripp seine bekannten geistsprühenden Vorträge und war nebenher nicht abgeneigt, sich die brave volkstümliche und wissenschaftliche Arbeit durch reichliche Festessen versüßen zu lassen, was er dann wieder seinerseits mit den köstlichsten Bonmots vergalt. Das war noch der Darwinismus der sechziger Jahre, für Vogt genau damit abgegrenzt, daß er nach 1870 als öffentlicher Redner sich aus politischen Gründen nicht mehr in Deutschland hat sehen lassen.

In dieses erste Jahrzehnt weisen noch die vier ersten Vorträge des ersten Haeckelschen Bandes. Mit dem frühesten, am 19. September 1863 auf der Naturforscherversammlung in Stettin gehalten, setzte die Entwickelungslehre in Deutschland ein. Die alten Schul-Zoologen und -Geologen schüttelten die Köpfe, als der hübsche junge Herr aus Jena mit dem Blondkopf und den strahlenden Blauaugen in hohem Stimmton eine neue Ära für eingeleitet erklärte. Das zähle in eine Sorte mit der berüchtigten Od-Lehre und anderem spiritistischen Unfug, meinten sie, daß Arten sich verändern könnten und wohl gar der Mensch vom Affen abstammen solle! Unter den Kollegen aber saß damals Virchow und stimmte mit Haeckel. Bloß für das menschliche Bewußtsein wollte er schon ein Separatkonto gewahrt wissen, die natürliche Entwickelung gab er ruhig zu.

Drei Jahre darauf erschien Haeckels bestes biologisches Werk, die „Generelle Morphologie“, so schwer für den Laien aus Fachgründen, daß es dort niemand las, und so fremdartig für den Fachgelehrten aus philosophischen Gründen, daß es dort nahezu niemand verstand. In einer guten Stunde aber schmuggelte nochmals zwei Jahre später Haeckel seine[S. 185] ketzerischsten und verwegensten Ideen in ganz schlicht populärer Form an einem Orte ein, wo man sie am wenigsten vermutete: in der Virchow-Holtzendorffschen „Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge“. Es sind die Nummern II und III des neuen Buches: „Über die Entstehung des Menschengeschlechtes“ und „Über den Stammbaum des Menschen“.

Darwin hatte sich gerade über dieses heikelste Thema noch nicht entscheidend geäußert. Auch jetzt war es aber noch Virchow selbst, der ohne jeden Skrupel das bedenkliche Manuskript passieren ließ, ja sogar Haeckel persönlich seine Freude darüber aussprach. Auf alle Fälle war der Ort, wo die Bombe sich diesmal barg, in der allgemeinen Geltung der denkbar harmloseste. Diese Hefte waren ob ihres friedlichen Deckschildes tatsächlich das erste von Haeckel, was ich als Junge in die Hand bekam und wirklich las.

Inzwischen war die „Natürliche Schöpfungsgeschichte“ rasch nachgefolgt, in der ersten, noch kalenderhaft primitiv illustrierten Ausgabe. Zu ihrer Lektüre bildeten wir als Gymnasiasten einen Geheimbund mit den rigorosesten Satzungen wie Vehme oder Freimaurer. In der verborgenen Hinterstube einer ziemlich anrüchigen Kölner Bierwirtschaft hielten wir Sitzungen ab, deren Mittelpunkt „das Buch“ bildete, mit seinen Embryo- und Monerenbildern, seinen Kühnheiten gegen Himmel und Kirche (wir wurden zwischendurch konfirmiert!), nebenbei tranken wir das erste verbotene Glas Wirtshausbier, was den Reiz der Situation erhöhte. In den Debatten aber steckte eine jugendlich-frische Inbrunst der Anteilnahme an einem jäh eröffneten unendlichen Gedankenreich, daß ich mich heute noch an der Erinnerung wärme und mit Dank auf diesen kleinen Kreis echter „Leser“, wie man sie Büchern wünscht, zurückschaue.

Das waren die siebziger Jahre des Darwinismus.

Die Vorträge Haeckels über „Zellseelen und Seelenzellen“, „Perigenesis der Plastidule“, „Urkunden der Stammesgeschichte“ und „Ursprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge“ in der[S. 186] Sammlung gehören alle hierher. Den letzteren Vortrag hielt Haeckel auch einmal in Köln.

Der Kulturkampf hatte in der Stadt der Kirchenglocken eine mächtige darwinfreundliche Strömung geschaffen; nicht nur Schüler, sondern auch eisgraue Oberlehrer fingen an, der neuen Ketzerei zu folgen. Unser Religionslehrer an einem Kölner Gymnasium, ein trefflicher, hochgebildeter Mann, gab sein Amt auf, da er sich zum Darwinismus bekehrt hatte, und wesentlich durch Anteilnahme tüchtiger Gymnasial- und Realschullehrer entstand der naturwissenschaftliche Verein, der Haeckel zu einem Vortrag einlud. Hier habe ich ihn zum erstenmal gesehen. Wir wunderten uns, daß der „junge“ Darwinianer schon einen Anflug von grauen Haaren hatte, er hatte schon ein ernsteres Stück schwerer Lebenspilgerschaft hinter sich, als wir ahnten. Aber er machte doch auch ein paar gute Witze, wie es immer seine Art gewesen ist, bis in die „Welträtsel“ hinein, wo es ihm als besonders frivole Sünde angekreidet worden ist. Glücklich, wer auf solcher Vorpostenstellung in vier Jahrzehnten wildesten Kampfes gegen alle Sorten roher und feiner Geschosse die Naturgabe hat, daß ihm der gutmütige Gelegenheitswitz nicht ausgeht! Damals warf er mitten im tiefernsten Vortrag die Frage hin, ob die Wagnersche Musik uns wohl neue Gehörwerkzeuge anzüchten werde. Der dicke Komponist Ferdinand Hiller, der schon die Wassersucht hatte und nur mühsam, aber tapfer im Saale aushielt, lachte sich zu Tränen darüber. Es ist lange her heute, man fühlt es in jeder Kleinigkeit.

Am Ende dieses Jahrzehnts steht dann der große Zwist mit Virchow auf der Naturforscherversammlung in München. Auch zu ihm liegen die Dokumente jetzt für Haeckels Seite vollzählig in dem zweiten Bande der Sammlung: zuerst der Vortrag „Über die heutige Entwickelungslehre im Verhältnis zur Gesamtwissenschaft“, dann die ganze Streitschrift „Freie Wissenschaft und freie Lehre“ mit ihren sieben Kapiteln und ihrem Anhang.

Die Dinge hatten auf dieser Zeithöhe wieder ein etwas anderes Gesicht. Die Kirchenangst war allgemein für eine[S. 187] Weile auch bei den zartesten Gemütern zurückgetreten. Dafür begann jetzt die Sozialistenangst zu herrschen. Die Frage kam, ob nicht jeder Darwinianer schließlich „gar ein Sozialdemokrat“ werden müsse. Virchow warf das in seiner Münchener Rede so hin, wie den gelegentlichen Einfall einer schlaflosen Nacht. Er wußte aber gut genug als alter Praktiker, wie sehr er damit ein Signal gebe: das Signal für eine ganz neue Sorte Reaktion dem Darwinismus gegenüber. Der Darwinismus staatsgefährlich, gesellschaftsgefährlich! Das wurde plötzlich Parole, und es wird immer fatal in der Geschichte der modernen Naturforschung bleiben, daß ein Naturforscher grade die Stirn gefunden hatte, diese Parole auszusprechen zu einer Stunde, da selbst die reaktionärsten Kreise außerhalb der Naturforschung sich so weit noch nicht getraut hatten.

Für mich selbst setzte es einige Jahre später wie eine Offenbarung ein: welche wunderbare Anteilnahme sich bei der Arbeiterschaft für darwinistische Probleme zeigte. Ich lernte das kennen bei den Vorträgen über Entwickelungslehre, die ich Jahre hindurch in Berliner Arbeitervereinen selbst gehalten habe, vor ungezählten Massen immer neuer Zuhörer und immer vor einem gleich dankbaren und aufmerksamen Publikum.

Dem eigentlichen politischen Wirken stets fern, verzeichne ich diese Tatsache gerade erst recht als eine der erfreulichsten Erfahrungen meines Lebens. Sie bewies natürlich nicht, daß Darwinismus und Sozialdemokratie identisch seien, aber sie war ein Beweis für das unaufhaltsam machtvolle Aufblühen eigener Geisteskeime und Geistesbedürfnisse in der Arbeiterschaft in diesen Jahren. Eine neue Schicht Menschen begann nachzudenken über die Welt, über sich selbst, über Bedingungen wie Möglichkeiten ihres Daseins. In solcher Stimmung und Stunde führt jedes beliebige Material, das aus der freien Geisteswerkstatt kommt, zu freieren Ausblicken und hilft schließlich mit zu aktiven Freiheitsbewegungen, mag auch der stille Denker im Kämmerlein noch so wenig daran gedacht haben. Wie sollte die große Lehre es nicht tun, die von einem unaufhaltsamen Flusse aller Dinge sprach, eine Entwickelung predigte,[S. 188] die Sonnen und Planeten und den Menschen selbst gebaut hatte?

Diese Erlebnisse geben mir in der Rückschau heute ein so lebhaft jungfrisches Bild, daß es mir Mühe macht, mich in die Greisenhaftigkeit jener Virchow-Aussprüche gerade für diese Jahre auch nur noch historisch hineinzufinden. Was Haeckel damals geantwortet hat und was für Polemik sich an seine Definition des Verhältnisses von Darwinismus und Sozialdemokratie wieder anknüpfte, braucht heute nicht wiederholt zu werden. Er hat es nach vierundzwanzig Jahren wörtlich wieder so abdrucken lassen, und im Grunde mit Recht. Es hat heute auch den Wert eines historischen Aktenstücks. Und der schärfste Gegner findet ja auch den Satz wieder mit abgedruckt: „Ich bin nichts weniger als Politiker.“

Ich blättere noch ein paar Seiten in dem zweiten Bande weiter und zugleich ein paar in meiner Erinnerung.

Das achtziger Jahrzehnt ist in der Sammlung nur vertreten durch den Vortrag auf der Eisenacher Naturforscher-Versammlung von 1882 über „Die Naturanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck“. Fünf Monate vorher war der alte Darwin gestorben. Der Darwinismus stand im Zeichen seiner Siegessonne. In diesem Augenblick interessierte nur noch als Sensation, wie weit Darwin selber in den äußersten Konsequenzen mitgegangen sei. Das Zugstück dieser Rede war also eine Briefstelle, in der der Alte von Down den Begriff der „Offenbarung“ mit kühler Gelassenheit über Bord warf und die Unsterblichkeit der Seele unter die „widersprechenden unbestimmten Wahrscheinlichkeiten“ verwies.

In diesen achtziger Jahren brannte aber an einer ganz anderen Ecke des geistigen Lebens ein Leuchtfeuer für sich auf: die naturalistische Bewegung in der Kunst. Am Schlusse des Jahrzehnts führte sie zu stürmischen Theaterszenen, — bei der armseligen Rolle, die das Theater heute bei uns leider spielt, an und für sich Stürme im Glase Wasser. Aber auch hier brach das Politische, die soziale Färbung der Zeit, sich Bahn. Über die Bühne rauschten die „Weber“, aus der naturalistischen[S. 189] Bühne für neue Kunst entwickelte sich für eine Weile die Zeitschrift „Freie Bühne“, die wenigstens für ein paar Jahre den Versuch machte, weit über das Litterarische hinauszugreifen. Hier, bei der Leitung dieser „Freien Bühne“, die ein unruhiges, aber doch an Anregungen reiches Kapitel für mein eigenes Leben bedeutet, bin ich wieder stark mit Haeckel in Berührung gekommen.

Diesmal hatten sich persönliche Beziehungen angesponnen, die ungetrübt dauern sollten, mir zu reichem Gewinn, denn jenseits all seiner Leistungen, wie sie die Bücher geben, und jenseits alles Streites um diese Meinungen steckt in Haeckel ein Persönlichkeitszauber, den alle empfunden haben, denen er je einmal die Hand gedrückt hat. Viele Dinge haben in ihm zusammengewirkt: das kleine Jena und die ungeheure Tropenferne, die seine Reisen ihm erschlossen, die Linie strenger Gelehrtenarbeit und die Arabeske des Künstlertemperamentes, das Schlichte eines halben Menschenlebens vor dem Mikroskop und die Romantik einer solchen Geistesrevolution, wie sie der Darwinismus in die Zeit warf, der Ernst eines einsamen Vorkämpfers für ein selbstgestelltes Programm über die höchsten Dinge des Himmels und der Erden und die burschikose Studentenheiterkeit bis unters weiße Haar.

Von den beiden Aufsätzen, die Haeckel damals für die „Freie Bühne für den Entwickelungskampf der Zeit“ geschrieben hat, hat besonders der erste: „Die Weltanschauung des neuen Kurses“ starkes Aufsehen gemacht. Wieder einmal hatte die Front sich etwas verschoben: die Kirche wurde von oben begünstigt. So sind die Dinge hin- und hergependelt in den vierundzwanzig Jahren, immer wieder mit anderen Gesichtern gegen den Darwinismus, aber im Grunde immer die gleichen Feinde.

Es hatte wenig Aussicht, zum Frieden läuten, während die Parteiwellen gegeneinander brandeten. In jenen „Freie Bühne“-Jahren wurde in Berlin die Gesellschaft für „Ethische Kultur“ gegründet, von ethisch und intellektuell hochstehenden Männern, deren Liebe nicht bloß eine klingende Schelle war,[S. 190] aber mit einem praktischen Unstern, der bis heute darüber geblieben ist und auch aus gewissen innersten Gründen meiner Ansicht nach bleiben mußte.

Die Kunde davon ging aber damals weit herum. Auch Haeckel kam von Jena herüber und hoffte. Doch schon die Anfangsverhandlungen stießen ihn ab. Man konnte sich über seine Weltanschauung schließlich streiten — aber was sollte er in einem Kreise, wo es von der Weltanschauung überhaupt hieß, daß man von ihr in der Praxis absehen könne und daß es eine „absolute Ethik“ zu finden gälte, die auf alle verschiedensten Weltanschauungen passe, — auf den Jesuitismus schließlich wie auf das Glaubensbekenntnis Goethes oder die Toleranzlehre Lessings? Es war nicht Haeckel allein, der die Existenzmöglichkeit dieses ethischen Universalzugtiers bestritt.

Aber eine gewisse Sehnsucht nach Vertragen, nach Frieden kennzeichnet doch auch bei ihm den Eintritt in das vierte Jahrzehnt des Darwinismus, die neunziger Jahre.

Aus ihr heraus ist, unabhängig von der „Ethischen Kultur“-Bewegung, das „Glaubensbekenntnis eines Naturforschers“ entstanden, das zuerst in der „Naturforschenden Gesellschaft des Osterlandes“ zu Altenburg 1892 abgelegt wurde und das mit den Worten schloß: „Das walte Gott, der Geist des Guten, des Schönen und der Wahrheit“. Für Haeckel war es das Maximum, was er an Versöhnlichkeit von seinem Naturell und Standpunkt aus geben konnte. Zum Lohne der guten Absicht und zur Kritik der unabhängigen Ethik ist es mehr und gröber befehdet worden als frühere Schriften weit polemischeren Inhalts. Und die Gegenstimmung von dieser Ecke hat dann wieder viel mitgewirkt bei dem herben Ton des nachfolgenden Buches „Die Welträtsel“.

Dieses Werk bildet den Abschluß gewiß nicht des Darwinismus, aber in mancher Hinsicht doch wirklich seiner ersten Vierzigjahresepoche in ihrer entscheidendsten philosophischen Färbung. Ich beurteile es hier absichtlich nicht, die großen Fragen mögen für sich selbst sprechen, so und so. Aber ich[S. 191] meine, daß es einen Zug hat, den ihm Freund wie Feind in der Folge danken werden. Die konsequente Klarheit meine ich, mit der eine ganz bestimmte Weltanschauung darin bis auf das letzte Tipfelchen herausgearbeitet ist. In einer Reinheit der Linienführung, die ich so bei keinem zweiten Naturforscher und Naturphilosophen unserer Zeit kenne, gibt sich Haeckel als das, was er sein will.

Es erscheint sein Zug zum Materialismus, der doch vom gewöhnlichen Schulmaterialismus sich wieder eigenartig abhebt durch seine Schwenkung in der Seelenfrage zum Panpsychismus, zur Urbeseelung der Materie. Es erscheint seine unbedingte Verwerfung dessen, was sich heute für „christliche“ Philosophie ausgibt, und seine individuelle Abneigung wenigstens gegen alle kühneren Feldzüge der rein spekulativen Erkenntnistheorie auch außerhalb der christlichen Dogmatik. Mögen heute die Leute sagen, Haeckel sei gar kein Philosoph. In der Dauergeschichte der menschlichen Geistesarbeit haben sich von jeher nicht die Werke an hellster Stelle gehalten, die am meisten reine Wahrheit enthielten. Wer wollte das auch schon nach so kurzen Fristen, wie sie unsere Geschichte gibt, abwägen. Und die alte Pilatusfrage lebt immer noch: Was ist Wahrheit? ...

Aber immer sind es die Werke gewesen, die irgend ein System der Welterklärung ganz klar dargestellt haben, es herausgearbeitet haben zum blanken Kristall, daß fortan jeder darnach greifen konnte wie nach einem Hausgerät, so oft er darnach greifen wollte. Und das hat Haeckel gemacht, es gibt seinen Werken den monumentalen Bezug zum Geschichtlichen, es erhebt sie zu Quellen, die dermaleinst Freund und Feind als solche schätzen werden.

* *
*

 

Was wollt Ihr an die Stelle der darwinistischen Grundideen setzen? Immer kann es doch nur eine Vertiefung sein, die das Große, was da geleistet worden ist, voraussetzt und[S. 192] anerkennt, um dann weiterzukommen, — und nicht eine wirkliche Umkehr.

Umkehr, — ja wohin?

Unter meinen Papieren finde ich ein altes Blatt, das ich mir selber als Mene Tekel gelegentlich aufgezeichnet habe.

Heute habe ich Lust, es noch einmal ganz zu veröffentlichen, — als ein Kapitelchen, klein aber mein, zu diesem großen Schlagwort Umkehr. Inhaltlich ist es entschieden noch nicht vergilbt.

Es ist das Protokoll einer eigenen Sitzung mit dem Medium Valeska Töpfer aus den achtziger Jahren, wie ich es mir selber zu späterer Kontrolle und Beruhigung damals sofort niedergeschrieben.

Sachliches Interesse für alles, was mit Weltanschauungsfragen zusammenhängt, und der Wunsch zugleich, für eine bestimmte dichterische Arbeit Stoff zu sammeln, veranlaßten mich damals zu Studien über den Spiritismus. Was ich sonst da an Materialien erlangt, ist in meinem Roman „Die Mittagsgöttin“ (Zweite Auflage, 1902, im Verlage von Eugen Diederichs in Leipzig) enthalten und kritisch verarbeitet. Diese Töpfer-Sitzung aber blieb als solche dort unbenutzt.

Sie ist auch kein „großer Fall“.

Trotzdem glaube ich, daß sie gerade mit ihren ganz schlichten Angaben einen gewissen Beitrag zur Klärung bieten kann.

Sie führt in die Anfangsgründe dieser Dinge ein — wenn aber irgendwo, so gilt vom Spiritismus dieser groben Art der Satz: Es ist nur der erste Schritt, der etwas kostet.

Ich lasse den Wortlaut genau so, wie er damals niedergeschrieben wurde.

— — —

Unsere spiritistischen Wortführer behaupten zwar mit besonderer Energie, jedem Zweifler werde täglich an allen möglichen Orten ausreichend Gelegenheit gegeben, Augenzeuge der seltsamsten und überzeugendsten Geistermanifestationen zu werden, man brauche nach dem Worte Richard Wagners „nur[S. 193] zu wollen“ und man werde schon die neue Kunst sehen. In Wahrheit ist es nicht ganz so leicht, als irrende Seele im Chaos einer Weltstadt wie Berlin die Pforte einer Gespensterkammer aufzuspüren; Vereine für diese Sachen sind ja vorhanden und lassen sich auch finden, aber man ist dort unter Gläubigen und entbehrt der wichtigsten Freiheit: in bekannten Räumen und im Verein mit Freunden, auf die man vollkommen rechnen darf, Experimente anzustellen.

Der Zufall ist in solchem Falle der Glücksgott.

Er ließ mich und ein paar gleichgesinnte Freunde einen Mann finden, der, selbst begeisterter Jünger der neuen Lehre, uns trotz unsrer zugestandenen Skepsis mit vollendeter Liebenswürdigkeit seine geräumige Wohnung zur Verfügung stellte, viele Nachmittage seiner kostbaren Zeit — er war ausübender Künstler von Beruf — widmete und schließlich die Bekanntschaft eines weiblichen Mediums verschaffte, von dem ich nach späteren Erfahrungen nicht annehmen darf, daß es von uns allein ohne eine Verstellungskunst, die wir kaum besessen haben dürften, hätte gewonnen werden können.

Unser freundlicher Gastgeber, den ich O. nennen will — der Name tut ja nichts zur Sache — war noch nicht lange Spiritist, aber er war mit desto glühenderem Eifer bei der Sache. Seine Bibliothek umfaßte die spiritistische Literatur in einer Vollzähligkeit, wie ich sie noch nicht in Privatbesitz gefunden, und seine Kenntnis der „Theorie“ war eine entsprechend erschöpfende.

Dazu kam der praktische Stolz, selbst ein werdendes Medium zu sein.

Es war ihm das von einem alten Manne, der die Rolle eines Taxators in mediumistischen Kräften zu spielen schien und die Stärke eines jeden für solche Leistungen in Ziffern anzugeben wußte, ausdrücklich zugesagt worden. Und Ereignisse seines früheren Lebens schienen diese Diagnose zu bestätigen.

Er berichtete, daß seine Hände nicht nur den Pinsel zu führen verständen, sondern nicht selten auch eine[S. 194] übernatürliche „Führung“ hätten, bei der sein Wille aufhöre und die Finger Bewegungen, Griffe und Stöße ausübten, die vollkommen „unbewußt“ seien.

Uns war es, nachdem die Bekanntschaft einmal gemacht war, selbstverständlich vor allem um Vorführung eines ausgereiften, einwandfreien Mediums selbst zu tun, und er versprach auch diese zu bewerkstelligen, da er ein starkes weibliches Medium, das bereits Hellenbach und Zöllner ins nachhaltigste Erstaunen versetzt, kenne und besuche. Vorher aber müßten wir eine Reihe einleitender Sitzungen mit ihm allein abhalten, da erst ein „magnetischer Austausch“ stattfinden, ein harmonischer Kreis geschaffen werden müsse.

Da er selbst schon das Medium in sich wachsen fühlte und möglicherweise auch in uns unerwartete Keime zu einem solchen stecken konnten, so war die Wahrscheinlichkeit gegeben, daß auch in diesen vorläufigen Studiensitzungen bereits seltsame Sachen aus dem Gebiete jener „Mehr Dinge“ sich ereignen würden.

Vor Beginn des ersten Experiments wurden große weiße Bogen mit Geisterschrift vorgezeigt, die aus Sitzungen bei jenem weiblichen Medium (eben der heute noch vielgenannten und bekannten Frau Valeska Töpfer) stammten, denen O. beigewohnt hatte.

Die Wahrheit der Sache zugestanden, eröffnete sich hier anscheinend ein neues Forschungsgebiet für die Goethe-Philologie, nämlich die transcendentale Goetheforschung. Die Blätter waren mit der Unterschrift des Altmeisters versehen, eine gewisse Verwandtschaft mit echten Autographen ließ sich nicht leugnen, nur fand sich die Schreibweise des Namens mit ö statt mit oe, die bekanntlich Goethe selbst nicht anwandte. Der Inhalt der Offenbarung selbst war leider der allertieftraurigste Blödsinn; Goethe mußte zur Strafe seiner Sünden wohl im spiritistischen Jenseits vollkommen versimpelt sein oder sich der Flasche ergeben haben.

Das zweite, was uns vorgelegt wurde, war ein viereckiges, sehr dünnes und gebrechliches Holzkästchen ohne Boden.

[S. 195]

Solche Kästchen und Pappschachteln sind der Theorie nach gewissermaßen die Tür des Geisterlandes. Sobald Menschen mit hinreichender mediumistischer Veranlagung ihre Hand lose darauflegen, öffnet sich diese Tür, die bereitstehenden Geister fahren in das Kästchen, lassen es nach Belieben auf einer größeren Tischplatte herumkriechen und beantworten Fragen vermittelst hörbarer Klopflaute im Holz oder regelmäßigen Auftickens der einen Seite des Kästchens bei schwebender Stellung an der Tischkante.

Der Dinge harrend, die da kommen wollten, nahmen mein Freund Bruno Wille, unser freundlicher Gastgeber O. und ich zunächst jetzt am Tische Platz und legten unsre sechs Hände lose auf das Deckbrett der Schachtel.

Lange Zeit ereignete sich absolut nichts.

Die bunte Ausstattung des Ateliers um uns her mit ihren fertigen und halbfertigen Studienköpfen, Staffeleien und Paletten versank allmählich in Dämmerung.

Die Spannung bei uns war trotz aller Vorurteile immerhin eine ziemlich bedeutende.

Zuweilen, wenn einer von uns sich etwas bewegte, krachte das Kästchen.

O. geriet dann in lebhafte Erregung, beschrieb wilde Kreise mit den Händen in der Luft, um den magnetischen Strom überzuleiten, und begann schließlich in einer Weise mit der Holzschachtel zu reden, als handle es sich allen Ernstes um ein lebendiges Wesen. „Liebes Kästchen, willst Du uns etwas sagen? Bitte, bitte, liebes Kästchen, sei so gut, antworte uns, bewege Dich, rücke auf einen von uns zu, den Du auszeichnen willst“ etc.

Dann, und, nachdem inzwischen auch noch die Gebrüder Heinrich und Julius Hart erschienen waren und damit unser Beobachterkreis vollzählig geworden, begannen denn allerdings die ersten seltsamen Vorgänge, alle für heute lokalisiert auf das bewußte Kästchen.

Ich will sie zunächst bloß dem Tatsächlichen gemäß beschreiben[S. 196] und die aufklärenden Bemerkungen, die ich machen kann, zusammenhängend folgen lassen.

Die Schachtel fängt also an, sich unter unseren Händen zu bewegen, nach rechts, nach links, bald rascher, bald langsamer, bald auf Momente wie angenagelt verharrend, um dann in kurzen krachenden Stößen wieder weiter zu rücken — endlich kommt es zu einer tollen Wirbelbewegung, der die einzelnen kaum folgen können.

Nachdem diese Sache so glänzend gelungen, versucht die vergrößerte Kette den ganzen Tisch zu bewegen, was aber mißlingt.

Freund O. pocht wiederholt kräftig auf den Deckel des Kästchens und wenn dann alles hinhorcht, um antwortende Klopflaute zu vernehmen, so hört man mehrfach ein unendlich feines Knistern im Holz.

Nun wird mit dem Kästchen experimentiert, um zu ergründen, ob es unter den Händen auf einen in der Kette (etwa ein besonderes starkes Medium) über den Tisch wegkriechen könne.

Es rutscht in der Tat auf mehrere zu, zuletzt besonders nachdrücklich auf mich, und klappt mehrfach an der Tischkante auf. Nach O.s Interpretation bedeutet das einen „Geistergruß“.

Nunmehr soll ein Anwesender, der nicht in der direkten Kette ist, also die Hände nicht auf dem Kästchen liegen hat, sich einen in der Kette Befindlichen denken, zu dem die Geisterschachtel hinrücken soll.

Neben mehreren mißlungenen Versuchen tritt ein eklatantes Gelingen ein in einem Falle, wo Heinrich Hart in Gedanken seinen Bruder Julius als den Betreffenden bezeichnet hat und das Kästchen tatsächlich und mit förmlicher Leidenschaft auf Julius zusteuert.

Der Höhepunkt der Sitzung wird schließlich erstiegen, als die Holzschachtel sich hartnäckig an der Tischkante in schräg schwebender Lage festsetzt. O. stellt in gesellschaftshöflicher Form die laute Anfrage an den Geist, ob er uns jetzt bestimmte[S. 197] Fragen durch Aufticken beantworten wolle. Das Kästchen schwankt gegen die Tischplatte herunter und tickt sehr vernehmbar dreimal auf. Drei Schläge bedeuten im spiritistischen Geistervolapük „Ja“!

Die Frage wird also gestellt: „Wovon wirst Du bewegt?“

Einer zählt das Alphabet, immer von neuem anhebend, laut her, und jedesmal tickt bei irgend einem Buchstaben das Kästchen dreimal mehr oder minder stark auf, so daß der Satz zustande kommt: „Von Geist Heochios.“

Die Anwesenden ergehen sich mit ganzem Aufgebot ihrer philologischen Kenntnisse in den kühnsten Hypothesen über den Ursprung dieses Namens.

Auf die neue Frage „Woher?“ antwortet der Geist in der Schachtel: „Aus Südosten.“ Bei dem Wunsche, den genaueren Namen des Landes zu hören, kommt noch ein M., dann scheint die Leitung gestört, und es erfolgt nichts mehr.

Man versucht also neue Experimente.

Ich selbst stelle im Nebenzimmer den großen Zeiger meiner Uhr auf die Ziffer drei, und das Aufticken des Kästchens ergibt für die Experimentierenden im andern Raume richtig „drei“.

Ein zweiter analoger Versuch, bei dem O. seine Uhr nebenan auf zehn stellt, mißlingt allerdings, indem der Kasten auch diesmal nur drei Schläge tut.

Gegen 9 Uhr abends wird die Sitzung infolge äußerster Erschöpfung aller Anwesenden abgebrochen.

So das Protokoll, das von O. in ähnlicher Fassung festgestellt und auf seinen Wunsch von sämtlichen Zeugen als richtig anerkannt und unterschrieben worden ist.

Nun einige kritische Bemerkungen dazu.

Die Beschaffenheit der äußeren Umstände brachte es mit sich, daß es sich für mich bei dieser ersten Probesitzung in keiner Weise um eine „Entlarvung“ handeln konnte. Bei den bedenklichen Dingen, die mir O. von den Experimenten seiner Frau Töpfer erzählte, mußte ich allerdings an bewußte Täuschung seitens des Mediums denken, wenn gewöhnliche[S. 198] Erklärungen zulässig sein sollten. Bei unsrem Freunde selbst aber konnte lediglich unbewußte Selbsttäuschung ins Spiel kommen. Diese galt es zu beobachten und das erforderte ein sehr vorsichtiges Prüfen.

Während jener ersten halben Stunde, in der, wie erzählt, durchaus nichts sich ereignete, das Kästchen vielmehr regungslos unter den sechs Händen von Wille, O. und mir lag, hatte ich hinlänglich Zeit, mir über einen gewissen Feldzugsplan klar zu werden.

Wenn das Kästchen sich ohne mein Zutun bewegte, so war dreierlei möglich; entweder es mischte sich wirklich eine fremde Kraft, sagen wir also einmal, ein „Geist“, in die Sache; oder winzige, mit Bewußtsein nicht kontrollierbare Zuckungen und Druckdifferenzen aller Beteiligten brachten in der Weise, wie längst von Physikern (Faraday z. B.) das Tischrücken erklärt worden ist, allmählich eine Bewegung zustande; oder Freund O. arbeitete im leidenschaftlichen Drange, Bewegungen bestimmter Art zu sehen, ohne eigenes Wollen mit und dirigierte den Kasten.

Von Wille durfte ich annehmen, daß er vollkommen passiv blieb und bloß vermöge der größeren Schwere seiner Hände den zweiten Fall beeinflussen konnte.

Nun zeigte sich lange Zeit überhaupt nichts. Geister schienen nicht da zu sein, jene unwillkürliche Muskelbewegung (die ich bei späteren Gelegenheiten, wo Wille und ich allein experimentierten, in voller Wirkung gesehen habe) ließ sich wenigstens für diesen Anfang noch nicht verspüren.

Nunmehr stellte sich bei mir folgender Gedankengang ein.

Es war psychologisch unwahrscheinlich, daß die Selbsttäuschung bei O. so weit gehen würde, daß er selbständig das Kästchen zu schieben begann. Dagegen sprach alles dafür, daß er, wenn einmal die geringste Bewegung sich gezeigt, die Herrschaft über seine Hände so weit verlieren würde, daß er jetzt auch aktiv eingriff.

Ich beschloß also, einen Anstoß zu geben, gleichsam als psychologische Falle, und ich hatte dabei zugleich ein lebhaftes[S. 199] Interesse an Feststellung der größeren oder geringeren Leichtigkeit, mit der man absichtlich eine Bewegung hervorbringen könne.

Die Leichtigkeit, so zeigte sich sofort, war die denkbar größte.

Ich brauchte nur den minimalsten Seitendruck mit der Fläche irgend eines Fingers auszuüben, so rückte der Kasten. Mir selbst war es vollständig unmöglich, an der Oberseite meiner fest auf dem Deckel schwebenden Hände irgend welche Bewegung bei diesem Drücken wahrzunehmen. Drückte ich mit dem kleinen Finger der linken Hand, so rutschte das Kästchen nach rechts, und umgekehrt.

Für O. aber hatte ich absolut richtig gerechnet. Sobald einmal die Bewegung da war, fühlte ich das lebhafteste Mitarbeiten von seiner Seite her.

Ich konnte nun die eigenen Hände ganz aufheben, das Kästchen lief doch, und bei der Leidenschaft, die unsern Freund ergriffen, sah man sogar deutlich jetzt das Arbeiten seiner Hand darauf.

Je schneller der Kasten lief, desto mehr fühlte ich selbst, wie die Entscheidung, ob ich drückte oder bloß folgte, immer schwerer wurde, und da es den übrigen Teilnehmern ebenso ging, so hat von einem bestimmten Punkte ab, wo die Kette größer war, zweifellos jeder bald mitgeschoben, bald im Wunsche, nicht zu schieben, sondern bloß zu folgen, unbewußt gehemmt oder dem Gange eine neue Richtung gegeben. Vollends beim Kreisen der Schachtel kreisten alle Arme und Hände unwillkürlich derartig mit, daß man die Schachtel getrost hätte wegnehmen können und doch noch einen Augenblick unsre leeren Hände wie toll hätte durch die Luft herumwirbeln sehen.

So viel zur Erläuterung des „Ur-Phänomens“, wie es Goethe genannt haben würde.

Nun zu Einzelheiten.

„Geklopft“ hat es in dem Kasten niemals. Das kam in klassischer Vollendung erst bei der später zu schildernden Sitzung[S. 200] mit jenem echten Medium vor, und hier ist es uns zweifellos geworden, daß bewußter Betrug im Spiele war.

Ein Knistern und Krachen im Holze ließ sich dagegen wiederholt vernehmen, ich konnte es ebenso wie die Bewegung in jedem beliebigen Moment durch bewußte Konzentrierung des Druckes erzeugen, und von den andern ist es unbewußt mehrfach auf die gleiche Weise hervorgebracht worden.

Wenn Freund O. mit ziemlich bedeutender Kraft seines Zeigefingergelenks auf den ohnehin an einer Stelle brüchigen Kasten schlug, so war es durchaus kein Wunder, wenn beim folgenden Hinhorchen ein schwaches Knistern in den sich wieder aufrichtenden Fasern des dünnen Deckels dem Ohre bemerkbar wurde.

Das Hinrutschen der Schachtel zu irgend einem der Anwesenden ist mehrmals von mir selbst bewußt beeinflußt worden.

In andern Fällen hat jedenfalls unbewußtes Ziehen einzelner stattgefunden, da bei noch soviel Skepsis doch der eine oder der andere im entscheidenden Moment, wo es sich darum handelte, wen der Geist für das größte anwesende Medium erklären werde, im Zwange der kleinen harmlosen Eitelkeit stand, er selbst möchte der Erwählte sein.

Den eklatanten Treffer, daß Julius Hart, den der außerhalb des Kreises stehende Heinrich sich in Gedanken ausgewählt hatte, vom Kästchen begrüßt wurde, verdankte man lediglich mir; bei so wenigen Möglichkeiten war das zufällige Treffen leicht genug gemacht, und ich hatte auf das Nächstliegende, den Bruder, geraten.

Nachdem ich nun in der genannten Weise genügend auf eigene Faust in die Phänomene hineinexperimentiert, beschloß ich, für den Rest der Sitzung bloß noch zu beobachten, und nahm der schärferen Kontrolle wegen an den nächsten Experimenten überhaupt nicht mehr aktiv teil. Ich schützte Ermattung vor und trat aus der Kette aus.

Es folgten die Kunststücke an der Tischkante. Wie vorhin das Schieben, so war jetzt das Überkippen- und Aufschlagenlassen der Schachtel ein Kinderspiel für jeden Beteiligten, ja[S. 201] es war noch leichter gemacht, da das Kästchen in der äußersten Schwebe hing und sich niederbog, wenn einer auch nur den Gedanken hatte, es solle es tun, — und dabei war die Nervosität in sämtlichen beteiligten Fingern jetzt eine derartige geworden, daß die Kontrolle durch das Bewußtsein fast nicht mehr möglich war.

Folgendes ist im einzelnen zu der seltsamen Antwort „Von Geist Heochios“ zu sagen.

Das — den andern ziemlich unerwartete — „von Geist“ hatte sich Heinrich Hart, dessen Hände an der kritischen Stelle lagen, eingestandenermaßen als mögliche Antwort gedacht und nahezu mit Bewußtsein erzeugt.

Bleibt noch das famose „Heochios“.

Dieses Wort ist nach unserm (d. h. der Beobachter) einstimmigem Urteile ein Produkt der verschiedensten Einflüsse.

Heinrich Hart gibt an, er habe „Hart“ herausbringen wollen, das „a“ jedoch verpaßt und den Rest dann dem Zufall und den andern überlassen.

Ein Erklärung aus „reinem Zufall“, in dem doch ein gewisser logischer Zwang steckte, ließe gerade die Entstehung des H., wie ich nebenbei und für analoge Fälle erwähnen will, auch zu. Man bedenke, daß acht Hände auf dem lose schwankenden Kasten liegen. Einer zählt laut das Alphabet her. Jeder erwartet, daß bei irgend einem Buchstaben die Schachtel sich beugen werde. Anfangs wartet jeder. Die ersten Buchstaben gehen vorüber, die Spannung wächst. Es liegt eine psychologische Wahrscheinlichkeit darin, daß gerade in der Gegend vom H., also am Ende ungefähr des ersten Drittels vom Alphabet, ein Höhepunkt eintritt, bei dem einem in der Kette die Hände entweder ganz lose oder ganz schwer werden; sobald das aber erfolgt, klappt das Kästchen auf, und daß es dreimal klappt, ist unvermeidlich, teils weil jeder erwartet, es müsse dreimal klappen, und teils schon, weil überhaupt durch den Rückstoß ein Geschaukel entsteht, das wiederholt sogar zu vier oder fünf Schlägen führte. Ein oder zwei[S. 202] Schläge mehr gelten aber nur als besondere Bestätigung seitens des Geistes.

Beim Suchen nach dem zweiten Buchstaben durch erneutes Hersagen des Alphabetes ist dann mit höchster Wahrscheinlichkeit zu erwarten, daß ein Vokal und nicht ein Konsonant kommen wird. Jeder hat, er mag wollen oder nicht, im Kopfe sich irgend eine oder auch mehrere Fortsetzungen zu dem H gebildet, bei denen allen aber natürlich ein Vokal folgt. Daß gerade E, der zweite Vokal, kommt, liegt auch wieder nahe, bei A will jeder noch abwarten, bei E ist die Spannung schon genügend gesteigert, bei I würde die Wahrscheinlichkeit vollends ganz groß sein, da die meisten sich kaum noch weiter werden bezwingen können, die Erwartung „Jetzt muß es kommen“ wird zu stark.

O und C mögen mehr durch Zufall entstanden sein, obwohl die Vermutung, es komme ein ans Griechische anklingender Name, jetzt bereits ausgesprochen war und einer laut auf „Henoch“ geraten hatte, womit O in den Ohren klang.

H nach C ist einfach selbstverständlich, die griechische Endung erschien unter dem Zwange des laut eingestandenen „Das muß kommen, da es unbedingt ein griechischer Name ist!“

Dem „Südosten“ ging die Vermutung voraus: es braucht nicht direkt Griechenland zu kommen, es kann auch Kleinasien oder sonst so etwas werden.

Bei M mag einer an Makedonien oder Medien gedacht haben, doch entstanden bei diesem allzu bestätigenden Fortgang jetzt offenbar selbst bei O. Zweifel, ob unsre Gedanken nicht beeinflussend wirkten, jeder beeiferte sich, einmal ganz und gar nichts zu tun, und — sofort stand die Maschine wirklich still.

Das Experiment mit der Uhr endlich ist ohne alle Beweiskraft, da in beiden Fällen lediglich der gewohnte Rhythmus der drei Schläge wiederkehrte; als der Zeiger zufällig auf drei wies, ergab sich eine Übereinstimmung, bei zehn blieb sie ebenso naturgemäß aus.

[S. 203]

Der Leser wird den Kopf schütteln über diese Haarspaltereien.

Und doch ist diese Zergliederung grade der allereinfachsten spiritistischen Kunststücke das unbedingt Nötige als Vorschule zur Auflösung der schwierigeren Probleme.

Der Fundamentalfehler, der immer wieder begangen wird und dem dann selbst gute geschulte Beobachter erliegen, ist, daß man gleich ein Medium der hohen Schule prüfen will, ein ungeheures Raffinement in verwickeltsten Kunststücken überwinden zu müssen glaubt und dann grade durch die ganz einfachen, haarsträubend simplen Sachen, die man als zu einfach gar nicht in Rechnung zieht, überlistet und gefangen wird. Fritz Schultze, der ein an Material ziemlich reichhaltiges, dafür im Raisonnement allerdings schwaches und stellenweise ziemlich ungeschicktes Buch gegen den Spiritismus geschrieben hat (Die Grundgedanken des Spiritismus. Leipzig, Günthers Verlag, 1883), hat bei Gelegenheit dieses Punktes nicht mit Unrecht an eine Kriminalnovelle Edgar Poes erinnert, in der ein wichtiger Brief gerade deswegen von der Polizei, die doch jeden Winkel des Hauses durchstöbert, nicht gefunden wird, weil er gar nicht versteckt ist, sondern offen vor jedermann auf dem Tische liegt.

— — —

Nachdem die Ergebnisse der ersten Sitzung bei O. im engeren Kreise der unbefangenen Beobachter genügend durchgesprochen waren, kam es acht Tage später zu einem zweiten Experiment.

Bruno Wille und ich hatten diesmal ein Stichwort „Merkwürdig“ verabredet, das zur Kontrolle für den andern dienen sollte, wenn der eine mit Bewußtsein und zum Zwecke irgend einer Probe oder Falle in die Handlung eingriff.

Zunächst wurden noch einmal die meisten Phänomene der vorigen Sitzung der genaueren Bestätigung wegen wiederholt, wobei zur Abwechslung an Stelle des Uhren-Experiments das Kästchen heute angeben sollte, wieviel Kleingeld sich in meinem und in einem zweiten Falle in Willes Portemonnaie befinde.

[S. 204]

In beiden Fällen wußte ich die Zahl nicht genau, habe aber doch durch leichte Drucknachhilfe einmal genau und einmal beinah das richtige Resultat hervorgebracht, zum guten Beweise dafür, wie leicht auf Grund auch nur annähernd richtiger Kombination einiger bekannter Anhaltspunkte das genau richtige Erraten der Wahrheit gemacht wird und wie gutmütig der Zufall in solchen Fällen auszuhelfen pflegt, wenn man nur den Mut hat, überhaupt zu raten.

Der wesentlichste Fortschritt in dieser zweiten Sitzung war aber in einem Experiment mit dem „spiritistischen Schreibapparat“ gegeben.

Dieser Apparat besteht in einem runden Holzplättchen, das eben gerade Raum für zwei aufgelegte Handflächen bietet, und an dessen unterer Seite drei Stützen (gewissermaßen drei Stuhlfüßchen) angeleimt sind; eine dieser Stützen ist ein Bleistift. Man setzt das Ganze auf einen großen Bogen weißen Schreibpapiers. Einer legt die Hände auf die Platte und eventuell noch ein zweiter seine auf die des andern, und dann erwartet man regungslos das Eintreten einer Bewegung des Holzapparats, die den Bleistift aufkratzen läßt und so, bei korrekter „Geisterführung“, eine Schrift hervorbringt, — eine „Geisterschrift“ mit individueller „Geisterhandschrift“ und einem vom „Geiste“ gewollten Inhalt.

Freund O. hatte seine Hände kaum auf die Holzplatte gelegt, als der Apparat auch bereits mächtig zu wirbeln begann.

Der Bleistift beschrieb eine große Spirale und raste dann förmlich über das Papier dahin, den Bogen mit kindlich ungeschickten, aber doch lesbaren Buchstaben bedeckend.

Aber O. klagte dabei selbst, er fürchte unbewußte Selbsttäuschung, er „schreibe nur, was er denke“. Ein andrer möge an seine Stelle treten, vielleicht hätten wir ein noch unerkanntes gutes „Schreibmedium“ unter uns.

So legte ich denn meine Hände auf, er wollte seine eigenen nur lose darüber legen, „um die Kraft zu verstärken“. Ohne daß ich im geringsten bewußt mithalf, kamen auch jetzt mehrmals lange Schriften zu stande.

[S. 205]

„Gott zum Gruß“, begann jede der Offenbarungen, dann folgten ein paar allgemeine Redensarten und zum Schluß, Wunder über Wunder, kam zweimal mit gewaltigen Lettern die famose Unterschrift „Heochios“!

O. war entzückt, da er diese Fälle, wo seiner Ansicht nach unbedingt nicht er geschrieben hatte, ich aber bestimmt versichern konnte, auch nicht absichtlich hineingearbeitet zu haben, für beweisend hielt sowohl für die Existenz eines uns umschwebenden Geistes Heochios, als auch für meine Befähigung zum Schreibmedium.

So weit auch hier wieder der rein äußerliche Sachverhalt und Folgendes zur Aufklärung.

Von den drei oben erwähnten Erklärungsmöglichkeiten: Geist, unwillkürliche Muskelbewegung, Selbsttäuschung, die äußerlich zum entscheidenden Mitwirken wird, fällt die mittelste hier von vornherein fort. Wenn ich — ich habe es in einer der nächsten Sitzungen bis zur Dauer von 20 Minuten fortgesetzt — meine Hände ohne O. auf den Apparat legte, so ergaben sich nachher die Spuren dieser Muskelzuckungen auf dem Papier als eine ganz kleine, blitzartig zackige Linie, die aus einzelnen Punkten gebildet schien und aus der, wie ich annehmen muß, bei einem gesunden Menschen niemals auch nur ein einzelner Buchstabe hervorgehen könnte, geschweige denn eine fortlaufende Schrift, die am Zeilenende von selbst absetzt und eine neue Reihe anfängt.

Mit vollkommenster Deutlichkeit dagegen fühlte ich, sobald O. seine Hände auf meine legte, wie er drückte, über meine sehr kleine Hand mit seiner weit größeren weggriff und wie er nach allen Regeln der irdischen Physik so die Schrift selbst zustande brachte.

Das scheint mir ein Maximum von Selbsttäuschung, das im höchsten Grade interessant ist.

Freund O., so muß ich mir den Fall erklären, hat bei Frau Töpfer, die bewußt täuschte, oftmals gläubig dem Schreiben zugesehen. Er hat sich die traditionellen Formeln des Geisterschreibens (das Beginnen mit der Spirale etc.)[S. 206] gradezu in Fleisch und Blut übergehen lassen, er hat jene Beigaben auswendig gelernt, wie das „Gott zum Gruß“, das der wohl hauptsächlich amerikanischen Verquickung des spiritistischen Versuchs mit frömmelndem Sektiererwesen seinen Ursprung verdankt. Er hat dann in Mußestunden mit Bewußtsein Proben angestellt, wie man mit dem Apparat schreiben muß, — ohne diese Schulung wäre es nicht möglich, daß er es überhaupt so glatt fertig brächte.

Das alles hat er getan mit dem sehnsüchtigen Wunsche, eines Tags möchte nicht seine Hand den Apparat, sondern der Apparat wirklich seine Hand führen. Als er nun meine Hände statt des Holzdeckels unter sich fühlte, vollzog sich in der Leidenschaft der psychologische Prozeß der Selbsttäuschung, er glaubte nicht mehr aktiv zu sein, und dennoch schrieb er in Wahrheit selbst, er schrieb mechanisch dasselbe nieder, was er so oft in letzter Zeit zur Probe mit Bewußtsein geschrieben, und er schrieb den Namen Heochios unter das Ganze, weil ihm dieser seit acht Tagen beständig auf der Zunge schwebte und weil er fest erwartete, ein Geist Heochios führe den Apparat.

Unsere kühle Erklärung der Entstehungsgeschichte jenes unglücklichen Spruchs „Von Geist Heochios“ existierte ja nicht für ihn, ihm war Heochios ein wirklich erschienener Geist.

Ich habe so viel Worte gebraucht, um für den Fall unseres Freundes, bei dem ich nicht den geringsten Grund habe, mala fides vorauszusetzen, die Selbsttäuschung wahrscheinlich zu machen. Jetzt bedenke man aber die Chancen, die bewußte Täuschung in analogen Fällen mit einer zweifelhafteren Persönlichkeit notwendig gerade bei diesem „Geisterschreiben“ hat. Die Möglichkeiten sind gar nicht auszudenken.

Nur kurz erwähnen will ich die Ergebnisse einer dritten Sitzung, bei der ich mehrere Stunden lang mit O. allein experimentierte, ohne nennenswerte Erfolge zu erzielen.

Wir berührten Grenzgebiete des eigentlichen Spiritismus: Gedankenlesen und Telepathie.

Jene wissenschaftliche, leicht erklärliche Art des groben[S. 207] Gedankenlesens — Auffinden eines von A. versteckten Gegenstands durch B. dadurch ermöglicht, daß B. den A. bei der Hand nimmt und beim Durchwandern des Zimmers am Zucken dieser Hand und ihrem unbewußten Ziehen oder Widerstreben den Ort ermittelt, wo der Gegenstand liegt — gelang auffallend gut, wenn ich der Suchende war und O. der unbewußt Führende.

Doch hier lag, wie gesagt, absolut nichts Mystisches vor, da diese Dinge überzeugend auch von Nicht-Spiritisten öffentlich vorgeführt worden sind.

Eine heiklere Sache ist aber schon die echte sogenannte „Telepathie“ (Fern-Empfindung). Hier denkt einer der Beteiligten sich möglichst lebhaft eine Figur, eine Zahl oder Ähnliches, und der andre rät angeblich ohne Handberührung das Gedachte, d. h. es findet der Theorie nach eine „mystische Fernwirkung von Seele zu Seele“ statt, bei der das Vorstellungsbild sich ohne Hilfe der physikalischen Wege und der Sinnesorgane von Gehirn zu Gehirn überträgt, ohne Luft- und Lichtwellen also und ohne Auge und Ohr.

Für unsern Fall kann ich nur feststellen, daß die Experimente dieser Art bei O. ebenso mißlungen sind, wie sie vorher und nachher ausnahmslos mißlangen, als ich mit Wille allein und mit andern Versuche anstellte.

Zufällige Annäherungen beim Raten sind vorgekommen, beweisen mir aber gar nichts. Wenn ich mir eine 8 dachte und O. einen ganzen Bogen mit allerlei Kreisen, Spiralen und sonstigen Krackelfüßen bedeckte und unter denen in der Tat auch einmal eine brezelartige Verschlingung, die an eine 8 gemahnte, auftauchte, so wird man nicht verlangen, daß ich dem irgendwelche Beweiskraft beimesse.

Etwas Besseres aber habe ich nicht gesehen, und die schönen Figurentafeln in der spiritistischen Zeitschrift Sphinx, die von dem fabelhaften Glück anderer, spiritistisch gläubiger Beobachter Zeugnis ablegen sollen, treffen bei mir also vorläufig auf eine unerschütterte Skepsis.

Doch zurück zur Hauptsache, zu den eigentlichen Medien[S. 208] und ihren Gespenstern. Eine besondere Einladung von seiten unseres Freundes versammelte uns an einem Montag in O.s Wohnung, um endlich denn auch das große Orakel, das altbewährte Medium, Frau Valeska Töpfer, selber in Augenschein zu nehmen und auf seine Wunderkraft zu prüfen.

Etwa eine Stunde lang hatten wir Zeit, uns auf einen würdigen Empfang vorzubereiten, da O. sich erst, nachdem wir bereits vollzählig erschienen waren, auf den Weg machte, um die ehrwürdige Dame zu uns zu geleiten.

Wir verabredeten uns inzwischen von neuem auf das Stichwort „Merkwürdig“, und wir schwärzten einen genau bezeichneten Papierbogen über der Lampe, damit die Geister materialisierte Hände oder Füße in der Weise, wie es bei Zöllner geschehen, darauf abdrücken könnten.

Der Gedanke ergötzte uns im voraus, es möchte auch heute wieder jener treffliche „Heochios“ auftreten, was denn wohl dem Faß sofort den Boden ausschlagen müßte.

Im ganzen aber schuf doch auch heute die zu erwartende Nähe einer fremden Persönlichkeit eine beklommenere Stimmung, die bei einigen durch etwas überraschendere Leistungen leicht in höchste Empfänglichkeit für Mystik hätte gesteigert werden können.

Erst lange nach Einbruch der Dunkelheit erschien die Seherin, und zwar nicht bloß von O., sondern merkwürdigerweise auch von ihrem Mann begleitet.

Sie selbst eine mittelgroße, ziemlich beleibte Dame mit spitzer Nase, kleinen Augen, das Gesicht gepudert, die ergrauenden Haare glatt emporgeknotet, — der Herr Gemahl ein kleiner Berliner Grünkrambesitzer, dessen erste Äußerung darin bestand, daß er sich ein Glas Bier erbat.

Wir nahmen in langer Kette um den Tisch, auf dem die Lampe stand, Platz, leider, wie Frau Töpfer sogleich bemerkte, auf tiefen Sesseln, die für solche Sitzungen höchst ungeeignet seien.

Die Luft, so wurde im übrigen zugestanden, sei bereits[S. 209] stark „mediumisiert“, es müßten „kräftige Naturen“ unter uns sein.

In der Tat begann es denn auch, da wir kaum einen Augenblick unsere Hände auf den Tisch gelegt, sehr vernehmlich irgendwo zu pochen, bald dumpf, bald lauter, und die Täuschung, der das Gehör in Bezug auf die Richtung des Schalls unterlag, war eine vollkommene. Der eine riet auf die Wand hinter dem Rücken der Frau Töpfer, ein andrer auf den Ofen, bisweilen schienen die ganz dumpfen Laute sogar aus dem Nebenzimmer zu kommen.

Man muß dieses Klopfen im eigenen Zimmer mit Muße durchprobiert haben, um die Erkenntnis zu erlangen, daß das falsche Lokalisieren die Regel ist, und daß verschieden starke Pochlaute, die unmittelbar vor uns unter dem Tisch erzeugt werden, in Wahrheit aus den verschiedensten Richtungen und Entfernungen zu kommen scheinen.

Ich glaube, jeder empfand im Moment, daß Frau Töpfer die Sache äußerst geschickt mache, aber nichts sprach dagegen, daß sie die einzige — allerdings bewußt täuschende — Quelle dieser Geisterstimmen sei. Ihre eigenen Füße wie die ihres Mannes waren unsichtbar unter der Tischplatte verborgen, dank dem festen Kettebilden aller, und ob sie sonst noch besondere Apparate unter den Kleidern verborgen trug, war selbstverständlich erst recht nicht zu ermitteln.

Unsre Mienen mochten das denn auch ziemlich deutlich erkennen lassen, denn nach dem günstigen Anfang trat eine Stockung ein, die Pochlaute blieben dumpf und undeutlich, die Frau erklärte: „So kann ich’s nicht leiden! Dabei wird mir’s unheimlich!“

Der Tisch machte plötzlich zur Abwechslung einen Ruck auf Wille zu (Frau Töpfer schob zweifellos kräftig mit dem Fuße), aber auch hier schien der rechte Mut zu mangeln, vor allem hob sich der Tisch keineswegs empor, wie es sonst in Sitzungen bei dem Medium nach O.s Aussage überraschend zu gelingen pflegte.

Nunmehr ergriff aber der Gemahl das Wort, er schalt[S. 210] auf die Geister energisch ein und rief endlich im derbsten Tone: „Na, wollt Ihr jetzt oder nicht? Ich verlange, daß Ihr Euch jetzt anständig betragt und was tut, sonst warten wir nicht mehr.“ Er wurde so grob, daß die Frau ihn beschwichtigen mußte. „Laß doch, sie werden sonst ganz böse.“

Wozu diese ganze Posse diente, weiß ich nicht. Jedenfalls wirkte sie auf uns unsäglich lächerlich und als das beste Mittel, jede ernsthafte Stimmung dauernd zu zerstören.

Die Scherze aus unserm Kreise mehrten sich auch so, daß die Hexenmeisterin sich wohl bewogen fühlen mochte, rasch etwas vorzuführen, um wieder Spannung zu wecken.

Sie meinte plötzlich, der große Tisch sei den Geistern (ihren Füßen!) zu schwer, es wurde also ein kleiner sogenannter stummer Diener herangeholt, der unter der oberen Platte zwischen den vier Füßen noch eine zweite Platte zum Tragen von Büchern oder Nippessachen hatte.

Dieser Tisch war denn nun ein wahres Ideal, wenn es sich darum handelte, durch geschickt verdeckte Bewegungen ruckweises Wandern oder sogar scheinbares Emporfliegen zu bewerkstelligen.

Der Bodenteppich wurde entfernt, um kein Hemmnis beim Rutschen zu geben, auf das Tischchen wurden ein Bogen Papier und ein Bleistift gelegt und unter den Tisch gleiches Material. An dem letzteren geschah nichts, da wir zu gut kontrollierten. Man sah wohl den Schuh der Frau T. danach langen, auch erklärte sie einmal, einen Lichtschein unten zu sehen (wohl um unsere Aufmerksamkeit von irgendetwas anderm abzulenken), gleichwohl erfolgte nichts.

Theoretisch wäre es ja nicht gerade allzu schwer gewesen, trotz unsres Aufpassens im guten Moment mit einem schon vorher präparierten und in die Stiefelsohle geklemmten Bleistiftspitzchen auch diesen Bogen mit einer lesbaren Schrift zu bedecken.

Über dem oberen, offen aufliegenden Blatt bekam die Hand der Frau natürlich sofort „Führung“, es entstanden wieder folgerichtig jene berühmte Spirale, das „Gott zum[S. 211] Gruß“ und ein paar ähnliche alberne Phrasen, wie sie O. stets geliefert hatte. Die Unterschrift lautete „Werner“.

Das letztere war offenbar eine Art von Probepfeil. Es wurde rundgefragt, ob keiner einen Bekannten dieses Namens besitze, was zufällig einmal nicht der Fall war. Der Name „Müller“ dürfte für dieses „Experiment ins Blaue“ allerdings noch empfehlenswerter sein.

Wille erhielt im weiteren auf eine Frage nach seinem Bruder durch Klopflaute den Namen „Gustav“, und die Geisterschrift auf dem Blatte meldete, Gustav sei auf dem Schlachtfelde gestorben. Beides, Name wie Tatsache, war unrichtig, der einzige Bruder lebte und hieß anders.

Wille ging indessen mit scheinbarer Erregung auf die Sache ein, und von da ab verstärkte sich der Mut der Töpfer — und mit dem Mut kamen verstärkte Wunder.

Der „Zimmermann“ begann jetzt im Tische zu rumoren.

Um zu verstehen, um was es sich hier handelte, muß man Kenntnis nehmen von der unsäglichen Einförmigkeit und Enge der Phantasie, die in diesen spiritistischen Zirkeln herrscht. Wie das berühmte Kölner Hänneschen-Theater, so hat jedes Medium seine paar stereotypen Rollen, die immer wiederkehren, seine drei oder vier Spezialregister, auf die es eingedrillt ist. So bei Frau Töpfer die kleine „Abila“, der Schutzgeist „Zwibos“ und der „Zimmermann“.

Das Nahen des letzteren betätigte sich durch sägende und hobelnde Geräusche im Tisch, endlich auf Verlangen durch ein gewaltiges Gepoche, wie wenn jemand einen Nagel einschlüge, — übrigens keine einzige Leistung in allem, die nicht Wille und ich später zu Hause hätten annähernd ebenso täuschend durch unmerkliches Nagelkratzen und Bewegungen der Füße hervorbringen können.

Schließlich fuhr der Poltergeist noch in die Hand des Mediums und schrieb mit eckigen Zügen und schlechter Orthographie ein paar Sätze auf ein Blatt, unterzeichnet: „Hunger, Chemnitz, Neue Gasse“.

Von neuem begann nach diesem der Tisch zu schwanken.

[S. 212]

Meine laut ausgesprochene Befürchtung, die Petroleumlampe möchte dabei zu Schaden kommen, wurde zuerst mit der Versicherung abgewiesen: „Und wenn der Tisch sich auf den Kopf stellt, die Lampe fällt bei Geistermanifestationen niemals.“

Gleich darauf, als Wille mit dem Rufe „merkwürdig“ den gegen ihn anrückenden Tisch selbsttätig etwas herabdrückte, wurde die Versicherung aber eilfertig eingeschränkt durch Zugeben von „unberechenbaren Ausnahmen“, und der Mann setzte die Lampe jetzt selbst vorsorglich auf das Klavier.

Der leichter gewordene Tisch spazierte nunmehr durch das halbe Gemach, es kam aber auch jetzt nicht zum Fliegen.

Ein sehr gelungenes Kunststück bei dieser Gelegenheit bestand darin, daß Frau Töpfer, wie mehrere von uns deutlich sahen, mit weit zurückgerecktem Fuße einen etwas entfernt stehenden Schaukelstuhl heranriß und gleich darauf höchst verwundert ausrief: „Sehen Sie bloß, der Stuhl ist uns allein nachgekommen!“

Damit schloß der erste Akt der Sitzung.

Eine Pause wurde benutzt, jenes oben erwähnte geschwärzte Papier unter das Sofa zu legen und vermittelst eines vorgeschobenen Teppichs gegen jedes auffallende Licht abzuschließen.

Ich will gleich vorausschicken, daß es dort unversehrt noch gegen Schluß des Ganzen gelegen hat. Während dieser Zeit hat zwar Herr Töpfer hartnäckig als unbeteiligter Zuschauer, zeitweise anscheinend sogar schlafend, seinen Platz auf diesem Sofa behauptet. Ferner ist das immer längere Zeit hindurch verdunkelt worden und alle Beobachter haben ihre Aufmerksamkeit andern Dingen zuwenden müssen, die sich entfernt vom Sofa abspielten. Anfangs hatte ich wohl beschlossen, nicht aus der gerade über dem Papier liegenden Sofaecke zu weichen, aber das konsequente Wegrücken des Tisches, auf dem doch meine Hände aufliegen sollten, hinderte mich an der Durchführung.

So muß ich auch hier konstatieren, daß wohl die infolge andrer, gleich zu erzählender Umstände wieder wachsende[S. 213] Ängstlichkeit des Ehepaars es nicht zu einem Versuche dieser Art hat kommen lassen, daß aber die Gelegenheit zu einem solchen auch diesmal so günstig war (der Mann konnte beispielsweise im Dunkeln sehr leicht an das Papier heranlangen und seine Hand oder auch ein im Rock verborgenes Wachsglied darauf drücken), daß ein wirklicher „Geisterabdruck“ uns kaum hätte überraschen dürfen.

Die wichtigste wirkliche Episode im zweiten Teil unsrer Sitzung bildete eine „Dunkelsitzung“.

Mit Ausnahme des Herrn Töpfer saßen wir alle in fester Kette, die Hände auf der Platte, um den kleinen Tisch. Die Vermutung war ausgestreut, in der Finsternis würden bei einzelnen in der Kette „Berührungen“ durch materialisierte Geister-Hände oder -Füße stattfinden, und zum Schluß werde der Tisch nun endlich emporfliegen.

Es dauerte auch nicht lange, so hörte man Willes Stimme: „Es klopft dreimal an meinen Stiefel!“ und gleich darauf: „Es hat wieder geklopft, — sehr merkwürdig!“

Was sich da, den andern unsichtbar, abgespielt, schildere ich so, wie es mir Wille unmittelbar nach der Sitzung berichtet hat.

Er, der zur Rechten der Frau saß, ging von dem Gedanken aus, Frau Töpfer werde versuchen, mit ihren Füßen von unten her den Tisch zu heben. In aller Stille versuchte er also das dunkle Gebiet unter der zweiten (unteren) Tischplatte zu kontrollieren, indem er seinen rechten Fuß bis etwa in die Mitte vorschob. Der linke Fuß blieb lange nahe am Stuhl — wie man nicht vergesse: auf der Seite der Frau Töpfer.

An der Spitze dieses linken Fußes nun verspürte er plötzlich eine Berührung: es klopfte dreimal hörbar auf das Leder. Allem Anschein nach ging die Berührung aus von dem Fuße der Frau Töpfer. Nicht lange und das Klopfen kam wieder, diesmal am Absatz von Willes linkem Fuß.

Schnell entschlossen folgte er aber jetzt mit seinem Stiefel dem sich zurückziehenden Klopfer, er stieß richtig auf einen[S. 214] echten andern Stiefel, und während er ihm einen leichten Tritt versetzte, fühlte er mit zweifelloser Deutlichkeit, wie der fremde Fuß unter die hörbar knitternden Röcke der guten Frau Töpfer zurückfuhr.

Von diesem Moment an, der eine offenkundige Entlarvung wenigstens für einen der Beobachter umschloß, war Frau Töpfer vollkommen verstört, unruhig, traurig, jedermann merkte, daß etwas vorgefallen war, obwohl wir andern erst später erfuhren, was.

Ein zweites Abenteuer bestand, nachdem die Frau jetzt in der ganzen Dunkelsitzung absolut nichts mehr zu unternehmen wagte, darin, daß der vorgeschobene rechte Fuß Willes mit einem plötzlich vorrückenden Fuße unsres Freundes O. dort zusammentraf.

Hier war nun wiederum charakteristisch, den Grad der unbewußten Selbsttäuschung bei O. zu beobachten.

O. bebte vor Ungeduld nach einer Geisterberührung. Wahrscheinlich ohne jede Spur von Willen, bloß im Drange, den Geistern sich als Objekt darzubieten, schob er seinen Fuß langsam bis in die Mitte des Raums unter dem Tische vor. Als er dabei auf Willes Stiefel stieß, durchzuckte es ihn übermächtig: „Jetzt muß es dreimal klopfen!“ Es klopfte in der Tat, aber sein eigener Stiefel war der Urheber, wie Wille, der vollkommen passiv blieb, genau feststellte.

So hatten wir auch hier wieder Betrug und Selbstbetrug in schönster Blüte nebeneinander.

Da aber schlechterdings nichts weiter kommen wollte, gesellte sich der Scherz hinzu — der Tisch flog plötzlich empor, so schön, daß jetzt selbst Frau T. hätte an echte „Geister“ glauben dürfen.

In Wahrheit war der Urheber unser humorvoll veranlagter Freund Heinrich Hart, dem das Spiel längst zum Ekel geworden und der uns wenigstens den Gefallen tun wollte, zu zeigen, wie leicht die Sache sei.

Der dritte Akt war der jämmerlichste von allen.

[S. 215]

Frau Töpfer, die ihren Boden schwanken sah, wagte ein letztes Radikalmittel.

Vor eine Ecke des Ateliers wurde ein weißes Leinentuch gespannt, hinter ihm nahm das Medium Platz. Sie sollte in „Verzückungsschlaf“ verfallen und Geisterstimmen sollten durch den Vorhang zu uns reden.

Die Zuhörer setzten sich im Halbkreise vor das mystische Theater, Herr Töpfer hielt sich im Hintergrunde, anscheinend bereit, jeden Störenfried, der etwa an der Hülle zerren würde, zurückzuhalten; es bedurfte dessen nicht; was wir hörten, genügte vollauf....

Zuerst ertönte ein zartes Kinderstimmchen: der Geist Abila.

Die Stimme hatte sich Frau Töpfer offenbar bis zu vollkommener Meisterschaft eingeübt.

„Gott zum Gruß, Brüder!“ begann auch diese Offenbarung. Das Geistchen redete mit jedem einzeln, bei jedem sah es „unsichtbare Brüder“ (Verstorbene) stehen, die es beschrieb und bei denen es, wenn man fragte, Antwort holte. Aber die Weisheit Schön-Abilas hatte einen traurigen Fehler: ihre geistige Urheberin, Frau Töpfer, mußte blind raten, und sie riet entsetzlich schlecht.

Bei Julius Hart sah Abila den Vater der Gebrüder stehen, er sollte Adolf heißen und ein leiblich sehr großer Mann sein. Der treffliche Vater Hart lebte aber, wie die meisten von uns wußten, in Wahrheit noch fröhlich unter dieser Sonne, er hieß weder Adolf, noch hatte jemals von ihm, einem kleinen beleibten Herrn, behauptet werden können, daß er ein Herkules sei.

Bei mir stand meine Großmutter Lottchen und ließ mich an das letzte Gespräch erinnern, das wir beide miteinander geführt. Und auch hier paßte der Name nicht und vollends nicht die Tatsache, denn meine beiden Großmütter sind viele Jahre vor dem Tage gestorben, an dem ich das Licht der Welt erblickt.

[S. 216]

Am meisten von allen interessierte sich Abila für den „dicken Bruder mit der Brille und den roten Backen“, nämlich Bruno Wille.

Dieser Bruder lohnte nun freilich solche Liebe schlecht, denn anknüpfend an den famosen Bruder Gustav von vorhin, entlockte er durch geschickt zugespitzte Fragen der Frau Töpfer einen Kriminalroman voll grausigster Tatsachen. Ich erwähne nur, daß ein Onkel darin vorkam, der an „Galle, die ins Blut ging“, gestorben sein sollte. „Das ist in der Tat merkwürdig“, sagte Wille halblaut, „ein Onkel von mir ist am gelben Fieber gestorben.“

Von einer Seite her wurde im Zuhörerraum ebenso halblaut, aber auch der Frau T. vernehmbar, angedeutet, das gelbe Fieber hänge wirklich mit der Galle zusammen.

Zum Schluß gab sich der „Geist“ dann noch die böseste Blöße, die möglich war: er ermahnte den Bruder, doch nur ja nicht zu glauben, in der Dunkelsitzung vorhin habe der Schuh der Schwester Töpfer an seinen Stiefel geklopft: es sei ein echter materialisierter Geisterfuß gewesen. Überhaupt sollten wir alle nicht so viel zweifeln, sondern lesen und dann glauben lernen.

Die alte Wahrheit: „Wer sich entschuldigt, ist’s gewesen!“

Nach Abilas Verschwinden redete noch eine grobe Männerstimme, der Geist eines „Schusters aus Plauen“, durch den Vorhang.

Hier verließen aber Frau Töpfer selbst ihre deklamatorischen Fähigkeiten, man hörte den Dialektklang ihrer eigenen Stimme störend deutlich durch.

Ohnehin waren alle des dummen Spiels müde, man weckte das Medium, das nun zum Schlusse noch einmal in besonderer Weise, durch Ablesen von einem geschriebenen Alphabet mit Hilfe eines auftickenden Bleistiftes, einen Geist „Zwibos“ reden ließ. Er bestätigte unter ziemlich unverhohlener Heiterkeit der Hörer, jener Onkel Willes sei in der Tat am gelben Fieber gestorben.

Wir hatten genug und gingen nach Hause.

[S. 217]

So weit meine alten Aufzeichnungen.

Ich mag sie nicht durch Theorie abschwächen.

Aber ich sage heute wie damals: mir graut vor einer „Weltanschauung“, die das höchste, heiligste Urteil eines wahrheitsuchenden Menschen über sich und alle Dinge um ihn her darstellen soll, — und die sich aufbauen sollte auf einer solchen Valeska Töpfer und ihren Möglichkeiten ...

* *
*

 

Was wir zur Verständigung im Kampfe moderner Weltanschauungen brauchen, das sind wirklich gar nicht in diesem Sinne neue Tatsachen. Es sind neue Deutungen, neue Wertungen, es ist Tiefenschau im schon Vorhandenen.

Das ist der schwere Schaden ja in solchen Versuchen wie dem Spiritismus: daß er auf ein paar, noch dazu angebliche, neue Tatsachen sofort die unerhörtesten Schlüsse mit einem methodologischen Leichtsinn ohne gleichen baut, Geisterhypothesen in einer materialistisch groben Form, und das alsbald wieder mit starrem Dogmatismus, der nicht zugeben will, daß diese „Tatsachen“, selbst wenn sie richtig wären, die verschiedensten Deutungen zulassen würden.

Aber wichtig ist auch, daß er grade diesen methodologischen Schaden teilt mit Arabesken der modernen Naturphilosophie, die ihm sonst in allem entgegen sind und nicht einmal seine „Tatsachen“ anerkennen. Sie steifen sich dafür auf ihre und, geben wir zu, an sich richtige Tatsachen, — in der Methode verderben sie es aber ebenso durch starre Einseitigkeit und Fanatismus für „Eindeutigkeit“.

Umgekehrt aber werden an dieser Ecke Denker für uns wichtig, die den Tatsachenbau unserer einheitlichen Forschung und den exakten Beobachterweg als solchen niemals angefochten, sondern sogar als Palladium verteidigt haben — und die doch, mit dem und trotz dem, eine eigene Tiefenschau versucht haben, die ohne jeden Dogmatismus ihren individuellen Weg ging — und die uns so das Tor überhaupt[S. 218] weit aufgetan haben für die Masse der „Möglichkeiten“, die noch in die Tiefe aller Tatsachen hinein denkbar sind.

Ein solcher Mann war Fechner.

Fechner grade hat aber noch eine besondere Farbe dabei in die Dinge gebracht, die wieder mein Grundthema berührt.

Man muß sich heute mit Fechner auseinandersetzen. Er wird eine Macht, — trotz aller oberflächlichen Urteile, die auch mit ihm „fertig“ zu sein glaubten.

Vor kurzem ist sein naturphilosophisches Hauptwerk, „Zend-Avesta“, neu herausgekommen. In einem halben Jahrhundert war das Buch nicht wieder aufgelegt worden, — überhaupt nicht nach der ersten Ausgabe.

Ich sehe die ursprünglichen Bändchen noch vor mir in dem alten, schmutzigen, zerfetzten Exemplar der Berliner Universitäts-Bibliothek, das Jahrzehnte hindurch immer einmal wieder zu erlangen ein Ereignis war.

Jetzt sind es zwei schöne Bände in Lexikonformat geworden, mit besonders hellem, freundlichem Druck, man kennt den alten Sonderling kaum wieder. Kurd Laßwitz, der ausgezeichnete Gothaer Physiker und Dichter, hat die Vorrede dazu geschrieben, in der er erklärt, daß dieses Buch zu seiner Neuauflage keiner erklärenden Vorrede bedarf, sondern daß es einfach wiederkommt, weil es heute wiederkommen muß.

Als der alte Gellert in Audienz beim alten Fritz ist, sprechen sie über ein Buch, und der alte Fritz sagt: „Das haben sie mir gebracht, aber das hab’ ich fortgeworfen.“ So hat es das neunzehnte Jahrhundert mit Zend-Avesta gemacht.

Ich weiß noch heute eine ganze Anzahl trefflicher, kenntnisreicher, ethisch hochstehender Männer, die es genau so machen. Man braucht dem Gespräch nur eine bestimmte Wendung zu geben und dann plötzlich einen Fechnerschen Zend-Avesta-Gedanken mitten aus dem Zusammenhang dazwischen zu werfen, — etwa: man spricht über die Spektral-Analyse der Gestirne im Anschluß an das treffliche Buch unseres Potsdamer[S. 219] Astrophysikers Scheiner und wirft hinein, daß Fechner noch im Jahre 1851 die Gestirne für „beseelt“ gehalten habe; auch über das Antlitz eines sehr milden, sehr sachlichen Zuhörers wird ein Lächeln fliegen, das so viel besagt, wie: werfen wir den Mann fort aus jeder ernsthaften Debatte.

Vielleicht gibt es in der ganzen Tragödie menschlicher Irrungen nichts Bittereres als eben dieses Lächeln des Mißverständnisses bei Besten, — dieses Lächeln, das doch im Grund der Dinge nur ein Lachen der tatsächlichen nackten Unkenntnis ist.

Denn nicht um einen solchen einzelnen, aus dem Text gerissenen Satz geht die wahre Frage, nicht er bildet den echten Hintergrund, vor dem die den Fechner heute wieder suchen, — nun die ihn eben suchen.

Das Fortwerfen eines Jahrhunderts ist selber kein End-Urteil.

Dieses gleiche Jahrhundert hatte auch Schopenhauer schon einmal fortgeworfen, gründlich, bis zum Makulaturwerden eines Hauptbuchs. Es gab eine Zeit in diesem Jahrhundert, da es ebenso ein Hohn war, wenn ein paar tüchtige Köpfe beisammen waren und über Physik redeten, etwa über das eben begründete große Gesetz von der Erhaltung der Energie — und wenn da einer dazwischen warf, es habe der Naturphilosoph Schopenhauer alle Kraftäußerungen der Natur auf den „Willen“ zurückgeführt. Mit diesem Willen im Energiegesetz wäre Schopenhauer nie über das Achselzucken der Leute hinausgestiegen. Eines Tages aber trat das Jahrhundert in seine eigentümliche graue Epoche, die Welt erschien ihm nichtig, der Pessimismus die Lösung. In dieser Stimmung hat es plötzlich die Ansatzstelle zu Schopenhauer gefunden, die Ansatzstelle, von der aus es dann auch überhaupt begriffen hat, daß dieser Mann einer der schärfsten und ehrlichsten Denkerköpfe der Menschheit gewesen ist, ganz einerlei, wie viel von seiner Willenstheorie oder selbst von seinem Pessimismus ewige Wahrheit bleiben soll, — ein Denkerkopf, den „wegzuwerfen“ eine himmelschreiende Versündigung an dem wahrlich nicht[S. 220] zum Vergeuden reichen Denkschatze dieser Menschheit gewesen wäre.

Was heute nun wieder zu Fechner zurückdrängt und auch da eine ganz neue Ansatzstelle öffnet, das ist in gewissem Sinne ja genau das Umgekehrte an Stimmung von dem, was damals zu Schopenhauer führte.

Aber es ist genau ebenso eine Gesamtstimmung.

Das neunzehnte Jahrhundert zwar kann sich in ihr nicht mehr rektifizieren, denn es ist um. Aber Jahrhundert hebt Jahrhunderturteil auf, wie es in dem Spruche heißt: „Nemo contra Deum, nisi Deus ipse.“ Es sind nicht ein paar Antiquare und antiquarische Gemüter, die den fortgeworfenen Schriften Fechners heute wieder nachspüren.

Optimismus sucht unsere Zeit.

Das ist wahrlich ein größeres Wort als Gestirnseele oder als der antiquarische Buchname Fechner, — wie Pessimismus ein ander Ding war als der mystische Wille und Schopenhauer.

Um ihres Strebens, ihrer lang verhaltenen, überall aber elementar durchbrechenden philosophischen Sehnsucht nach konsequentem Optimismus willen klammert sich unsere Stimmung an Goethe, der zwar nie fortgeworfen, aber auch gründlich mißverstanden worden war. Und darum auch kommt sie auf Fechner zurück.

Sein Name ist ein Zeichen heute, das kein Lächeln und Lachen über Pflanzenseelen und Gestirnseelen mehr fortschaffen kann. Er ist ein Symptom einer äußerst charakteristischen Wende, und das muß ernst genommen werden.

Was Fechner wollte?

Wie der Faden eines großen Kunstwerks läßt sich der Kerngedanke auch seiner ganzen Philosophie auf eine Nußschale schreiben.

Der Angelpunkt liegt in dem schlichtesten Wort, über das auch im exaktesten Kreise doch unmöglich als solches gelacht werden kann: in dem Wörtchen Natur.

In diesem Wörtchen steckt eben noch mehr als bloß etwas Spektral-Analyse oder Energiegesetz. Unsere größte Lebens-[S. 221] und Herzensfrage steckt allmählich darin. In vierhundert Jahren ist das langsam über uns gekommen, und es hilft keine Phrase mehr darüber fort. Das ganze achtzehnte und das ganze neunzehnte Jahrhundert ist eine einzige fortgesetzte Krisis vor diesem Begriff.

Rekapitulieren wir noch einmal.

Zuerst kam die große Zeit von Kopernikus bis auf Newton mit ihren überwältigenden äußeren Bildern der Natur. Die ungeheure negative Rolle des Neuen setzte ein. Vor den Sternen in Galileis Fernrohr verblaßte ein ganzer alter Lichthimmel. Vor dem Naturgesetz Newtons versank der Wunderbegriff. Wo einst Überwelt und kleine Erdenwelt eng aufeinander geprallt waren, da schob sich jetzt das Riesending dazwischen, das wir eben im neueren Sinne „Natur“ nennen: Myriaden Sonnen im Raum, Äonen der Vergangenheit, natürliche Entwickelung in der eisernen Hand des Naturgesetzes — und diese Welt dem Forscher zugänglich, das leise Ticken ihres Lebens sich wiederspiegelnd auf seiner Uhr, ihr in allen Äonen gleichmäßig geregelter Schritt sich aufprägend auf seiner Wage.

Auf einmal ist das da, gigantisch groß, zermalmend für unzählige altvertraute Vorstellungen, mit nichts mehr fortzudisputieren. Wir lieben es, das neunzehnte Jahrhundert im engeren hervorzuheben als die Epoche der Naturforschung, der Naturerkenntnis. In Wahrheit bezeichnet es nur den Wellenkamm, wo das Bewußtsein des Erreichten einsetzt. Ein Werk wie Humboldts „Kosmos“ ist charakteristisch für dieses Jahrhundert als eine Zusammenfassung, ein erster, ganz großer Rechnungsabschluß.

Lange ehe es dazu kommt, setzt aber bereits eine ganz andere Linie ein, — eine, die ebenso folgerichtig einsetzen mußte.

Der Begriff Natur hat die ganze sichtbare Welt erobert. Streng genommen sogar die unsichtbare. Wo der alte Glaube Himmel und Hölle jenseits der Schranke unseres Sehens träumte, träumt er immer noch wieder Sterne. In die Ewigkeit reicht sein Naturgesetz.

[S. 222]

Aber ob nun da oben durch die Fugen der Aetherglocke der Schimmer des Paradieses blitzt oder ob Sterne kreisen im leeren Raum, getragen vom Gravitationsgesetz: auf der Erde sitzt der gleiche Mensch, stützt den Kopf auf die Hand und fragt sich, wie er sich in ein Verhältnis setze zur Welt.

Ist die Welt „Natur“ geworden, — wie also zu dieser Natur?

Einen Augenblick, unter dem Krachen der alten Säulen, kann er vielleicht meinen, mit diesen Säulen sei jenes Anschlußbedürfnis selber zerstört. Aber das ist nur ein negativ übertäubter Moment. Mensch bleibt Mensch. In dem alten Tempelbau ließ sich leben. Wie ist’s nun in der Natur?

Wenn die Flut eine halbe Insel wegreißt und die Leute auf ein Viertel des alten Raumes drängt; wenn ein Erdbeben, ein Vulkanausbruch eine ganze Stadt wegtilgen: die verschüchterten Menschen meinen auch zuerst, jetzt würden sie ewig im Chaos bleiben; in ein paar Jahren haben sie sich doch wieder eingerichtet, so gut es geht, und die nächste Generation weiß es schon nicht anders.

Die Naturerkenntnis verhieß nun umgekehrt sogar unendlichen Zuwachs. Für den engen Tempel eine Sternenwelt. Immerhin lag das alte Haus für den Moment unter der Lava und es wollte ein neues Dach gebaut sein, unter dem der Mensch die Sterne ruhig ertragen konnte.

Die Linie, die von hier heraufkommt, darf man gar nicht in der Weise, wie jene erste, grundlegende, zunächst bei den Naturforschern suchen, ja nicht einmal bei den Naturphilosophen vom abstrakten Feld.

Die Frage, wie man praktisch, als ganzer Mensch mit allen echten, unzerstörbaren Menschenbedürfnissen, mit der „Natur“ leben solle, ist in ihrer eigentlichen Intensität auch von den intensivsten Ganzmenschen zuerst brennend gestellt worden: den künstlerischen und ethischen Köpfen.

Ihre größte erste Entladung in der Tiefe des achtzehnten Jahrhunderts liegt nicht bei irgend einem exakten Naturforscher (nicht einmal bei Newton), sondern bei Rousseau.

[S. 223]

Rousseau kämpfte im Kleinen noch einmal den ganzen Kampf des Alten und Neuen bei sich aus.

Als eine durch und durch ethische Natur lief er zunächst mit dem harten Kopf gegen moralische Widersprüche in seiner Zeit. An der Unmöglichkeit, sie mit dem alten Glauben noch zu lösen, erkannte er die Krisis des neuen Menschen. Der Mensch mußte sich mit irgend etwas neu einrichten, um diesen Dampf zu durchdringen.

In dieser Stimmung bot sich ihm das Wort „Natur“.

Die Natur erschien ihm als die Erlösung. Heim ans Herz der Natur!

Rousseau zuerst suchte in der Natur mit der ganzen Inbrunst des Erlösungsringers nicht die Ziffern irgend einer Naturforscherrechnung, ja nicht einmal philosophische Spekulation: er suchte in ihr einen neuen ethischen Grundwert und Urwert, den Fels, an den der neue Mensch sich klammern könnte, den ruhenden Punkt des Gemütes, das Herz, an das dieses Gemüt heim wollte.

Es ist die Tragik in Rousseaus Leben, daß der Begriff Natur bei alle dem ihm selber ein schwankender, halber, phantastisch-unklarer blieb. Er mußte eine sentimentale Natur erfinden, die in dieser Form für die nächste Folge dem Fortschritt der echten Naturerkenntnis schroff entgegenstand. Und selbst darin blieb er halb.

Hätte Rousseau die Kraft des Wissens und der Phantasie gehabt, seinen Naturbegriff wirklich groß und suggestiv zu machen, so wäre er mit seiner ethischen Wucht ein Religionsstifter geworden, wozu er in vielen Zügen das Zeug hatte. So blieb er in der Natur-Krisis stecken, allerdings mit einer ungeheuren Wirkung innerhalb dieser Krisis. Ein Gewaltigerer löste ihn ab: Goethe.

Auch Goethes Leben ist ein unausgesetzter Kampf um den Natur-Begriff.

Goethe ist eine unendlich viel positivere Gestalt als Rousseau, schon weil er viel stärker Künstlernatur ist.

Er geht für sich niemals so herb von dem Riß zwischen[S. 224] Alt und Neu aus. Viel mehr Naturforscher auch als Rousseau, steht er von Anfang an fester auf dem Natur-Boden. Von Spinoza her ist er zugleich auf den Einheitsbegriff gedrillt. Ihm kann der Schnitzer nicht passieren, daß er nun doch noch wieder den Riß in die Welt hineinprojiziert und einen Schnitt macht zwischen Natur und Kultur, die Kultur als Abfall ansieht von einer künstlich konstruierten „Natur“.

Goethe ist es, der, nicht abstrakt wie Spinoza, sondern künstlerisch schauend, das Wort einführt: „Gott-Natur“.

Wenn ein Wort die Probleme hier wie irgendwo endgiltig lösen könnte, so wäre die Schlacht für diese ganze Linie damit gewonnen gewesen.

Aber Goethe selbst hat in unablässigem Ringen, Tasten, Versuchen deutlich genug gezeigt, wie sehr er sich bewußt war, daß das Wort erst eine Direktive sei, keine Erfüllung. Vielleicht das Größte, was er uns im Kampfe um den Naturbegriff geleistet hat, war aber der Mut, mit dem er dem Ding ins Auge schaute, ohne jede Sorge, es könne ihn fressen, statt ihn zu erlösen.

Es lag schon in der Luft damals, dieses Gefressenwerden durch den Natur-Begriff. Ganz langsam hatte sich in die große Linie der Naturforschung der seltsame Faden hineinversponnen, von dem ich schon gesprochen habe.

Da stand der große neue Lichtbau der Welt, aufgemauert mit cyklopischen Quadern der Forschung. Aber nun der Mensch sich darin einrichten wollte, hing über der Tür plötzlich etwas wie ein Gorgonenschild.

Die Natur ist das Absolute; aber dieses Absolute ist ein sinnloser Blödsinn!

Eine närrische Ausgeburt des Chaos, diesem Chaos wieder verschrieben mit Leib und Seele!

In herrlichem Siegeszuge hatte die Naturforschung in der Rechnung ein Mittel erkannt, dem Geheimgewebe der Natur in die Maschen zu rücken; jetzt hieß es: die Natur selber ist nichts anderes, als eine dürre Ziffernfolge. Wir selbst sind auch nur gleichgültige Ziffern darin. Ein wahnsinniger[S. 225] Totentanz rast die Wirklichkeit an uns vorüber. An uns, — an ein paar Spiegelplättchen für Momente. Morgen ist alles aus. Was war im Grunde die ganze Erkenntnisjagd? Ein tappender Gang im Labyrinth, Kammer um Kammer durch, von Treppe zu Treppe. Bis endlich, unentrinnbar, in der tiefsten Zelle, der schwarze Minotaurus saß, der uns alle fraß. Warum? Danach durfte man nicht mehr fragen.

Goethe kannte diese Auffassung ganz genau.

Er hat sein Leben lang Aug in Auge mit ihr gestanden.

Er wußte, daß hier die Stelle war, wo der Natur-Begriff seinen wildesten Versucher in sich selbst hatte, wo er, mit einem Schritt nur über die Kante, hoffnungslos abstürzte in den Pessimismus.

Wenn der Natur-Begriff über diese innerlichste Krisis nicht gerettet wurde, so war seine ganze Zukunftsrolle verspielt. Denn im Pessimismus dieser absolut hoffnungslosen Art würde die Menschheit sich nicht dauernd zufrieden geben. Durch irgend eine Spalte würde die alte, überwundene Weltanschauung, die vor Copernikus und Galilei zersplittert war, wieder zurückkriechen und von dieser verrannten Ecke aus den ganzen wundervollen Lichtbau der Naturforschung überhaupt wieder auseinandersprengen.

Was Goethe sich bei dem Begriffe Gott-Natur dachte, war in allen Phasen seines Lebens immer der schärfste Protest gegen diese Nachtansicht der Natur.

Aber obwohl er ein unendliches Stück darin weiter als Rousseau kam, lag es doch gerade in seiner Art, den ganz festen Formulierungen aus dem Wege zu gehen. In einzelnen glücklichen Momenten glaubte er an optimistische Grundfäden der Natur auch als Forscher zu rühren, — so wenn er dem Begriff der Steigerung in der Naturentwickelung nachsann. Am sichersten aber hat er sich immer nur in der Dichtung, als Künstler, ausgesprochen. Da war er sich völlig klar und goß seine lichte Klarheit auch über andere aus, ein Apostel eines Natur-Begriffs, der den Menschen wirklich mit ganzer Erlöserglut[S. 226] wieder emporzog, anstatt ihn in die Minotaurus-Höhle zu stoßen.

Nur so konnte er, der Naturforscher, der in jeder Faser das echteste Kind des Natur-Zeitalters nach Copernikus und Galilei war, die Erlösungsdichtung des Faust schreiben: die Dichtung vom Menschen, der nicht vom Minotaurus gefressen wird, sondern am Bande eines ehernen optimistischen Naturgesetzes durch alle Sphären der Welt strebend emporwandelt, selber ein aktives Stück Welt, nicht ein sinnloses Spiegelplättchen.

Sehr bezeichnend für die Auffassungen des Natur-Begriffs ist im Engeren im Faust die Szene mit dem Erdgeist.

In ihrer veredeltsten, abgeklärtesten Form erscheint in des Erdgeists Worten jene Natur-Definition, die für das einsame Ringen des Menschen keinen Anschluß hat. Nicht in der Minotaurus-Gestalt, sondern so groß, daß das Wort auch für sie fallen darf von der Gottheit lebendigem Kleid. Und doch als absolut fremde, in sich geschlossene Welt, die auf und ab webt in Lebensfluten und Tatensturm als völlig in sich stimmende Rechnung, in der nur unsere Qual, unsere Sehnsucht, unser Erlösungsbedürfnis nicht mitverrechnet sind. Ein kosmisches Schauspiel, das uns im Grunde gar nicht berührt, das sich abrollt vollkommen ohne uns.

Mag das eherne Antlitz dieses Erdgeistes ein Ziel sogar für sich haben, auf das es starrt, — unser Ziel ist es jedenfalls nicht, nie werden wir es begreifen; wir werden blutend auf dem Opferstein liegen und nicht einmal wissen, warum wir geopfert werden. Ein furchtbares Phantom in all seiner Größe steigt der Erdgeist auf, singt sein Lied und versinkt; Faust, der ringende Mensch, bleibt auf den Knieen liegen und ist im Grunde so klug wie zuvor. Schließlich ergibt er sich lieber dem Teufel, dem Pessimismus, bloß um wenigstens irgend eine Tat zu tun und damit aktiv in der Welt zu bleiben, — anstatt sich dort dauernd zum hilflosen Zuschauer verdammt zu sehen vor dem Tatensturm einer Natur, die ihn innerlich nichts angeht.

[S. 227]

Es liegt nahe, von Goethes Erdgeist auf Fechner zu kommen.

Doch nicht so um des äußeren Wortes willen und weil es gerade auch bei ihm eine Rolle spielt; sondern wegen jenes tieferen Zusammenhangs in der Natur-Idee.

Im neunzehnten Jahrhundert wurde der Anstieg der Naturforschung zum Triumph, zum wohlberechtigten. Aber auch die Verwickelung des Natur-Begriffs wurde trotz Goethe eine immer größere.

Erst in diesem Jahrhundert, in der Epoche Darwins, geriet der Mensch endgiltig in den Naturzusammenhang hinein, in einer prachtvollen logischen Verknüpfung. Und doch, seltsam genug: je fester, je energischer man den Menschen körperlich und seelisch, geschichtlich und individuell in die Natur verknotete, in sie ein-, in ihr aufgehen ließ, desto größer schien die Lust, eben diese Natur so unwirtlich und unwohnlich für alle praktischen Bedürfnisse des Ganz-Menschen zu definieren, wie nur irgend denkbar.

Weil ihr Verlauf ein gesetzmäßiger ist, sollte er ein sinnloser sein.

Weil wir eine tiefe Logik der Dinge gewahren, die auch aus einer scheinbar chaotischen Zertrümmerung aller kosmischen Gebilde dennoch immer wieder eine der Harmonie sich annähernde Welt heraufentwickeln würde, sollte der Kosmos in Wahrheit ein Chaos sein.

Weil es die Natur war, die im Menschengeiste sich zu grenzenlosen Herrlichkeiten der Erkenntnis, der Kunst, der Ethik emporgearbeitet hatte, sollten alle diese Errungenschaften plötzlich gleichgültige Seifenblasen eines törichten Spieles sein.

Immerfort hat dieses Jahrhundert dem Menschen einschärfen wollen, daß er in der Natur als seiner umfassenden Idee aufgehe, — aufgehen müsse, weil diese Natur im monistischen Sinne Goethes das wahre All sei, in dem es nicht ein Außen und Innen gebe. Und immer hat dieses gleiche Jahrhundert dem Menschen tatsächlich an den Kopf geworfen, daß er in der Natur unterzugehen habe, unterzugehen wie ein[S. 228] armer Schwimmer, der sich sträubt und sträubt und den der tückische Strudel endlich doch in seinen schwarzen Abgrund saugt.

Und der Erfolg ist Pessimismus gewesen, Pessimismus bis über die Ohren, während draußen alle bunten Triumphraketen der grandiosesten Naturerschließung prasselten.

Ein Mann aber, der sich gewehrt hat gegen diese Definitionen mit aller Kraft seines unsagbar reichen und logischen Geistes, war Fechner.

Es ist äußerst bezeichnend für Fechner, daß er gerade das war, was Goethe Zeit seines Lebens am wenigsten der Anlage nach gewesen ist: exakter Physiker.

Er kam gleichsam aus der engsten Geheimzelle der modernen Naturforschung, vom feinsten Räderwerk des ganzen Getriebes. Bei ihm ist kein Zweifel über richtige Handhabung der Forschungsmethode, kein Zweifel über die Beherrschung der Forschungsresultate seiner Zeit. Wo er als reiner Sachforscher im Detail aufgetreten ist, da hat er sich ausnahmslos den Ruf eines geradezu klassischen Arbeiters erworben. Wer sich die Mühe gibt, auf Eleganz der Methode bei ihm nachzuprüfen, der wird den Verfasser der Elemente der Psychophysik unbefangen neben Gauß, Weber, Faraday und Helmholtz in der Geschichte der modernen Naturforschung stellen können.

Und doch lag Fechners Denker-Ehrgeiz tatsächlich auf einem anderen Gebiete, weit darüber hinaus. Auch er wollte den Naturbegriff selbst reformieren, ihn endlich, angesichts so erdrückenden Naturmaterials der Forschung, zu einem wirklichen Hause umschaffen, in dem sich für den ganzen Menschen wieder wohnen ließ.

Und dieser Fechner ist es, der uns heute, nachdem die Krisis des Begriffs nachgerade wieder einmal fünfzig Jahre gedauert hat, auch erst recht wieder interessiert.

In drei Werken hat er seine Allgemein-Anschauungen niedergelegt, in der Mitte seines Schaffens in „Nanna“ und „Zend-Avesta“, im Alter in der „Tagesansicht gegenüber der[S. 229] Nachtansicht“. Es sind keine leichten Bücher, die man in einer müßigen Stunde wie einen Roman lesen kann. Ich denke aber, die Frage, ob es eine Versöhnung von Optimismus und moderner Naturanschauung geben könne, ist auch nicht die Frage einer müßigen Stunde.

Was Fechner im ganzen versucht hat, das ist eine ungeheure Hilfskonstruktion zu dem Satze: was könnte die „Natur“ doch noch in einem optimistischen, unser Sehnen beruhigenden Sinne sein unter Achtung aller festen oder fest geglaubten Tatsachen und Lehrsätze der exakten Naturforschung von heute?

Es ist bei dieser Stellung der Frage von vornherein klar, daß kein Rückfall mit ihr möglich ist in eine Weltauffassung, die mit diesen Tatsachen und Lehrsätzen noch nicht gerechnet hatte, als sie entstand, und die in der Folge sich nur in erklärtem Widerspruch zu ihnen erhalten hat.

Das unzerstörbare Walten der Logik im Naturgesetz, das jedes „Wunder“ ausschließt; die Einheit aller Dinge Himmels und der Erden im monistischen Sinne ohne jedes „Hinter der Natur“, die den ganzen alten Dualismus und die ganze alte, schlechte Sorte der Metaphysik fortstreicht; das ewige Gebundensein alles Seelischen an einen materiellen Untergrund, mit dem alle Gespensterei und Theorie der stofflich unabhängigen Seelen aufhört: — solche und ähnliche Sätze der Naturforschung sind für Fechner eherne Säulen, die fertig dastehen, ehe er seine ganze Konstruktion anfängt, und bei denen eben jene Achtung in Kraft tritt.

Was er aber behauptet, das ist: daß jenes pessimistische Minotaurusbild, ja auch schon jenes ganz indifferente Bild einer kalten Weltenrechnung ohne inneren Anschlußpunkt für uns, eben selber auch nur eine Hilfskonstruktion innerhalb dieser Säulen sei — und zwar weder die einzige, noch auch die logisch beste.

Im Gegenteil.

Es läßt sich eine optimistische Hilfskonstruktion denken, die dem Harmonie- und Erlösungsbedürfnis des Menschen vollkommen[S. 230] gerecht wird und den Menschen aktiv an die Natur angliedert als den umfassenderen Organismus, ohne daß dabei ein Titelchen verrückt zu werden braucht an jenen Grundsäulen der Forschung. Und es läßt sich gerade diese Hilfskonstruktion innerlich sogar mit einer konsequenteren Logik zwischen diese Säulen einbauen, als es für jene andern denkbar ist. Das ist Fechners wesentlichstes Denkbekenntnis.

Das „Wie“ seiner Konstruktion steht in den drei Büchern. Es läßt sich darüber streiten, und Fechner verlangte, daß man darüber stritt, eventuell ihn widerlegte.

Der Schmerz seines Lebens war, daß man ihn statt dessen totschwieg.

Nie hat er das vollauf berechtigte Gefühl überwunden, daß es sich um Fragen von solcher Heiligkeit, Fragen auf Leben und Tod wie des modernen Menschen, so der modernen Naturforschung, hier handle, daß diese Antwort absolut unwürdig sei.

Heute würde er es als einen neuen Beweis seines optimistischen Naturprinzips selbst hinnehmen, daß die Geistesentwickelung uns ganz von selber darauf führt, die alte Sünde wett zu machen.

Im Moment, da wir nach so viel abgeflossenen schwarzen Wassern des Pessimismus wieder Optimismus suchen, sind wir mit drei Schritten wie bei dem Sänger der Gott-Natur, so auch wieder bei dem stillen Philosophen im Leipziger Rosental.

Denn so viel Stationen der modernen Geisteswallfahrt nach dieser Seite haben wir nicht, daß wir im Gedränge fehl gehen könnten.

* *
*

 

In dem großen Kampfe um den Natur-Begriff steckt aber noch ein tieferer Kampf.

Der Kampf überhaupt um die Wirklichkeit.

Um Begriff und Sinn und Kraft der Wirklichkeit.

Auch um sie hat das neunzehnte Jahrhundert unablässig[S. 231] gerungen, mit und ohne Wissen, mit und ohne Segen, aber rastlos, unermüdlich.

Es ist seltsam: ganz andere Erinnerungsfäden spinnen sich mir an, ganz andere Assoziationen, wie ich an dieses Wort „Wirklichkeit“ denke.

Kampfbilder tauchen mir zunächst auf aus dem ästhetischen Gebiet. Wie ist in den letzten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts gestritten worden über den Begriff des Realismus in der Kunst, — über Wirklichkeitskunst!

Auch von dieser ästhetischen Fehde ist im Persönlichen heute viel antiquiert.

Da hängt Zola’s Bild an meiner Wand. Zola ist tot.

Dort stehen die grünen Hefte der „Freien Bühne“, der deutschen Zeitschrift, in der die Rede vom Naturalismus und Realismus der Kunst so lautes Leitwort war. Das trotzige Frühlingsgrün ihrer Umschläge ist zum sanften Grau abgeblaßt. Ach ja! Moderne Umschlagsfarben halten kein Jahrzehnt! Es ist mir aber auch schon wie ein Omen zur Sache.

Und doch war dieser engere ästhetische Zwist eine so notwendige Farbe in jenem größeren Streit, — dem eigentlichen Geisteskampfe um die Wirklichkeit.

Durch ihn mußte durchgehen, wer hier auftauchen wollte, auftauchen in eine freiere Luft.

So lange ich rückschauend mich selbst ernst nehme als Arbeiter, hat das Problem mich bewegt des Verhältnisses zwischen Naturforschung oder von ihr getragener Naturphilosophie — und Kunst. Erste Lösungen, die ich versucht habe und an denen ich eine Weile einmal Freude hatte wie an einem braven Funde, sind mir heute bloß Lehrgeld. Erst ganz allmählich aber ist mir dabei wenigstens ein echter Wert aufgegangen: nämlich Respekt vor der ungeheuren Wucht und Macht jeder Einmischung überhaupt des Ästhetischen ins allgemein Philosophische.

Wenn die Kunst sich aufrafft und spricht, so tritt allemale eine Riesin aufs Schlachtfeld.

Eine Tiefe des Menschen ist aufgewühlt, an die kein[S. 232] Instrument der Forschung heran konnte. Dieser Quell wird nicht planmäßig erbohrt und fließt in bequemen Röhren ab: er gährt auf, bringt mit oder verschlingt, je nachdem. Immer aber ist die Sachlage völlig verändert, wenn die Kunst darüber gerauscht ist.

Erst von hier aus glaube ich heute auch zu ahnen, was hinter jenem Kunstkampfe um den Realismus stand.

— — —

Wie oft ist versucht worden, das neunzehnte Jahrhundert gegen das achtzehnte durch irgend ein scharfes Ereignis abzugrenzen. Durch die französische Revolution. Oder durch Goethes Tod. Man gab hier, dort ein Jahrzehnt, ein paar Jahrzehnte zu. Immer vergebens.

Mit eigentlichen Ereignissen im gewöhnlichen Sinne glücken wahre weltgeschichtliche Trennungen überhaupt nie. Die Antike schließt so wenig mit der Absetzung des Romulus Augustulus, wie das Mittelalter wirklich endet mit der Entdeckung Amerikas.

Man muß den Begriff „Ereignis“ in einer tieferen, einer verfeinert geistigen Bedeutung fassen.

Ein tiefstes innerliches Erleben, eine langsame Geistesströmung der Menschheit, lange im Unzulänglichen gehalten, wird endlich „Ereignis“ im Faustischen Sinne. An solchem Ereigniswerden gehen dann in der Tat Weltalter auseinander, an ihm gliedert sich die Geschichte zu Epochen voneinander wie ein grandioses Kunstwerk.

Aber diesen Vollzug bezeichnet kein Name einer Person, keine Staatsaktion, keine Explosion und kein Landruf aus dem Mastkorbe eines Entdeckerschiffs.

Wir finden dafür immer nur eines jener begrifflichen Worte, ein ideelles Leitwort aus dem begrifflichen Denken heraus, das uns allerdings in solchem Moment daran mahnen mag, wie dieses begriffliche Denken des Menschenhirnes selber eine Art geheimnisvollen Sinnesorgans sei, das gerade da in den innersten Säulenbau der Weltendinge und Geschichtsdinge[S. 233] schaut, Zusammenhänge, Umfassungen, Trennungen sieht, wo das gewöhnliche Auge versagt.

Auch das neunzehnte Jahrhundert hat sein begriffliches Leitwort.

Es lautet: Wirklichkeit.

Das Ereigniswerden dieses Wortes in der Menschheitsseele bildet den eigentlichen Leib, das eigentliche Individuum dieses Jahrhunderts, — die Kristallisationsform der Menschheit, die immerhin der äußeren Ziffer von achtzehnhundert Jahren seit Christi dunkler Geburt am nächsten steht.

In diesem Wörtchen Wirklichkeit liegt auch alles, was das neunzehnte Jahrhundert vom achtzehnten trennt. Um dieses Leitwortes willen erscheint es dem raschen Blick so stark als „Tat“ zu dessen „Gedanken“.

Es lag dieser Tat aber doch in Wahrheit ein anderer, ein eigener Gedanke zugrunde.

Das achtzehnte Jahrhundert (in diesem Sinne immer jetzt nur als eine lose Annäherung gefaßt an die Jahresziffer) philosophierte abstrakt, träumte, dichtete, phantasierte, lebte und schwelgte in Gefühlswelten.

Alle seine Maßstäbe waren ästhetische.

Seine Naturgeschichte war Naturphilosophie.

Seine soziale Besserungssehnsucht wandelte in Utopien, versenkte sich in mystische Gründe, konstruierte sich eine romantische Geschichte, die nie existiert hat, und baute darauf in die Wolken hinein eine märchenhafte Zukunft.

Immer hat dieses Jahrhundert einen Stich ins Ungemessene, ein Überfliegen der Dinge durch den Gedanken, eine naive Befreiung von der Schwere.

Das neunzehnte Jahrhundert kennt nur einen Maßstab: den technischen.

Sein Blick ist auf einmal kurz, aber auf diese kurze Spanne mikroskopisch scharf.

Sein Boden, seine eigentliche Erdwissenschaft, aus der Antäus Kraft schöpft, ist die Naturgeschichte, aber sie ist jetzt im echten Sinne Naturwissenschaft und nur solche.

[S. 234]

Auf ethischem, auf sozialem Gebiete ist es das Jahrhundert der kurzen Programme, die nicht die Welt neuschöpfen wollen, sondern einen einzigen nächsten besseren Schritt eisern ins Auge fassen, ganz nüchtern, — für diese Menschheit, für dieses Leben, für diese Prozentziffer Schlechtigkeit weniger und für diesen konkreten Laib Brot mehr.

Hinter allen Taten dieses Jahrhunderts scheint obenan der Gedanke zu stehen: beschränken wir uns.

Beschränkung ist aber keine Beschränktheit. Man nimmt dem Worte die Spitze, wenn man sich das Wesen jenes Beschränkens aus seinem Kern heraus klar macht.

Das neunzehnte Jahrhundert hat alle seine Siege erfochten im Zeichen der Wirklichkeit.

Dieser Begriff gerade in dem Sinne, wie ihn das Jahrhundert am meisten im Munde geführt hat, kommt aber selbst nur zustande durch eine Beschränkung.

Das muß erfaßt werden, wenn man den Dingen gerecht werden will.

Wir gebrauchen das Wörtchen „wirklich“ gewöhnlich in einer Auffassung, über die ein Zweifel nicht möglich scheint.

Wirklich ist das Blatt, ist der Tisch, auf denen ich diesen Satz schreibe. Wirklich ist die Tapete meines Zimmers, der Ahornbaum vor meinem Fenster, der Schornstein der Fabrik, der darüber vorlugt, der Blitzableiter auf diesem Schornstein, und der Vogel, der eben darüber hin fliegt. Wirklich ist der Atlantische Ozean, ist Amerika, ist die Stadt New-York. Wirklich war einmal im neunzehnten Jahrhundert, einige siebzig Jahre lang, der Darwin, dessen Bild dort an der Wand hängt.

Nicht wirklich ist dagegen die Hallucination des Fieberkranken, die sich als Gestalt im Zimmer dort bewegt, einen bestimmten Teil der Tapete dort ihm verdeckt, menschliche Worte zu ihm spricht. Nicht wirklich sind die Sirenen und Cyklopen der homerischen Gesänge. Niemals wirklich war die Traumlandschaft, in der ich heute Nacht im Schlafe unwirkliche Abenteuer ausgefochten habe. Niemals wirklich waren Faust und Gretchen.

[S. 235]

Es ist diese Wirklichkeit sans phrase, auf deren Ergründung, deren Wiedergabe die ganze Forschung, die ganze Naturforschung beruht.

Und es ist jene Unwirklichkeit, deren Ausmerzung bis in den heikelsten Schlupfwinkel hinein ebenso sehr Ziel und Bedingung dieser Forschung ist.

Gleich diese erstbesten Beispiele zeigen aber auch aufs klarste, daß und was für eine Voraussetzung hierbei stillschweigend gemacht ist.

Eine Voraussetzung, die eine Beschränkung ist.

In einem umfassenderen Sinne sind auch die Sirene und das Fieberphantom „Wirklichkeiten“. Die Sirene hat vor zweieinhalb Jahrtausenden in der Phantasie von kleinasiatischen Schiffern gelebt. Der redende, raumfüllende, schattenwerfende Unhold des Fiebernden lebt mindestens einen Augenblick lang in dieses Einzelnen Phantasie. Die Landschaft meines Traumes war für mich Realität, solange ich träumte.

Es ist aber zur Klärung gut, das Wort hier zu ändern.

Beides, das sogenannte Wirkliche und das sogenannte Unwirkliche, lösen sich tatsächlich auf vor einem höheren Begriff.

Vor dem Begriff des Erlebnisses.

Ganz zweifellos: der Ahornbaum da draußen, der Tisch hier vor mir, die Tapete neben mir, der atlantische Ozean, Amerika und die Sirene, der Cyklop, der Fieberkobold und Fausts edle Denkerstirn: sie sind alle gleichermaßen Erlebnisse. Ich habe meinen Wald im Traume heute Nacht erlebt; und der Kleinasiate von so und so viel hundert vor Christo hat seine Sirene erlebt; und Goethe hat Faust und Gretchen erlebt — ganz genau so, wie Kolumbus Amerika erlebt hat, als er den Schaft seiner spanischen Fahne in den Ufersand von San Salvador stieß, oder wie ich jetzt und wachend den Ahornbaum mit seinen gelben Herbstblättern dort draußen erlebe. Erlebnis ist einfach alles.

Aber nun in diesem Erlebnisse die Unterscheidung, die Einschränkung.

Die Hallucination sehe ich als Fieberkranker allein.

[S. 236]

Wenn ich andern beweisen will, daß dort vor der Wand jetzt eine schreckhafte Gestalt stehe, so lachen sie mich aus und erklären mich für krank. Wenn ich erzähle, daß ich heute Nacht in einem bunten Märchenwalde spazieren gegangen bin, so halten mir andere entgegen, daß sie mich zu dieser Zeit haben im Bette liegen und schlafen gesehen.

Umgekehrt, den Ahornbaum und den Schornstein da draußen sehen alle Menschen mit normalen Augen genau so gut wie ich.

Wenn wir zu mehreren sprechen, so rechnen wir mit ihm als etwas Gemeinsamem. Es liegt eine Identität unseres Erlebens vor. Mag sie auch keine absolute sein, da jeder schließlich doch den Ahornbaum etwas subjektiv anders sieht als der zweite und dritte. Aber diese Differenz ist zu gering, um ein ernstes Hemmnis abzugeben.

Kein Zweifel: es ist in diesem zweiten Falle ein soziales Moment berührt.

Die „Wirklichkeit“ des Ahornbaumes wird bestimmt durch das identische Urteil vieler, sie fußt auf einem Kollektiverlebnisse, sie kommt zustande, man möchte sagen, durch eine Abstimmung, einen Majoritätsbeschluß. Bei der Hallucination fehlt dieser Beschluß vollständig.

Das soziale Moment beginnt ja schon in mir selbst.

Jeder einzelne von uns ist doch in sich schon eine Art sozialen Wesens hinsichtlich seiner Erlebnisse. Bloß kein räumliches, sondern ein zeitliches.

Ich löse mich zeitlich rückwärts in Tausende und Tausende von Personen auf, die etwas erlebt haben. Diese Tausende verknüpft allerdings ein Gemeinsames, Identisches. Schon das Gedächtnis ist ja ein solches Identisches. Aber hinsichtlich der Erlebnisse stellt sich gleichwohl eine Kette von Personen dar. Auch diese Personen legen nun schon ihre Erlebnisse zusammen und erzielen in mir selbst ähnliche Majoritätsbeschlüsse. Ich selbst werde schon zu einer Unterscheidung genötigt zwischen dem Ahornbaum und dem Traumwald. Die tausendfache Prozentziffer des immer erneuten Ahornbaum-Erlebnisses mit[S. 237] allem, was darum und daran hängt, erhebt sich mit einer schweren Majorität gegen das einmalige Traum- oder Fiebererlebnis.

So arbeitet aus mir bereits etwas jenem Sozialbeschlusse der vielen Menschen entgegen.

Aber die innere Unterscheidung des Einzelnen würde in unzähligen Fällen doch nicht ausreichen.

Man denke an den Zustand eines Irrsinnigen, der subjektive fixe Ideen, hallucinatorische Erlebnisse viele Jahre lang ebenso regelmäßig haben kann wie den Anblick des Ahornbaumes. Die eigentliche Entscheidung fällt erst die soziale Gemeinschaft mehrerer, schließlich, als Idealziel, aller Menschen.

Die schrankenlose Flut der Erlebnisse wird durchgesiebt auf das Identische, das Gemeinsame hin. Und so erst entsteht das, was wir konventionell Wirklichkeit oder Wahrheit nennen.

Durch ein Filtrieren, ein Ausschließen.

Durch einen Akt der Beschränkung!

Je mehr Gleichartigkeit, je mehr Stäte für möglichst viele Menschen in den Erlebnissen, desto stärker anwachsend der Schatz an „Wirklichkeiten“, der Wahrheitsschatz der Menschheit in ganz bestimmtem Sinne.

Es liegt wahrlich nichts in dieser Herkunft, was den Wirklichkeitsbegriff herabsetzen könnte.

Jene schlichte Tatsache, daß ein gewisser Kreis von Erlebnissen sich bei mehreren oder gar allen Menschen deckt, ist eine Grundtatsache überhaupt zum Zustandekommen jedes sozialen Zusammenschlusses der Menschen gewesen von Anfang an. Auf Grund nur davon haben sie sich verständigen können. Diese „Wirklichkeit“ ist das eigentliche Band der Zersplitterten geworden, die größte Identität, in der sie sich zusammenfanden. Zusammenfanden zu gemeinsamer Arbeit.

Dieses Herausheben einer gewissen Reihe von Erlebnissen aus dem regellosen Andrange als „Wirklichkeit“ war der erste große Schritt zu einer Ordnung der Dinge, die dem Menschen eine neue Stellung in der Welt verhieß.

[S. 238]

Denn an diese Ordnung schloß sich die Beherrschung, die Herrschaft über die Natur, über die „Wirklichkeit“.

In diesem Begriffe, der sozial gedacht war, konnte die Menschheit ihre Einzelarbeit summieren, vor ihm konnte sie gemeinsam vorgehen, wo der einzelne ohnmächtig versagte.

Das ganze Wort Kultur hat eine Wurzel hier.

Vielleicht gibt es kein schärferes Trennungszeichen zwischen einem Naturvolke und einem Kulturvolke, als das Steigen im Wertmesser einer für alle im Volke gemeinsamen „Wirklichkeit“.

Wo der Begriff mit Bewußtsein erfaßt wird in der Gesamtgeschichte, da ist es, als überschreite die Kultur eine Wasserscheide ihrer Entwickelung.

Die Vorstellung einer ganz „objektiven Wahrheit“ wird in dem Augenblicke geboren und damit eigentlich das Fundament gelegt für alle höhere Wissenschaft und Forschung.

Ungeheuer freilich ist die Arbeit, die fort und fort getan werden will, um die rechte Auswahl zu treffen und zu wahren zum Zwecke dieser objektiven Wahrheit.

Je mehr Völker in den Kulturkreis hineinwachsen, je mehr diese Kultur sich inhaltlich erweitert, desto strenger die Auslese des Gemeinsamen.

Es gilt nicht mehr bloß das Objektive, das Gemeinsame fort und fort zu fixieren gegenüber dem bloß Subjektiven, dem Traum, der Hallucination, kurz alledem, was das Individuum einsam erlebt ohne Übereinstimmung mit seinen Genossen in der Kultur.

Es müssen auch, wenn das Wort erlaubt ist, ganze Hallucinations-Genossenschaften immer wieder ausgemerzt werden.

Ein Volk, ein Kreis, eine Zeit einigen sich, daß dieses oder jenes für sie Wirklichkeit sei. Aber dieser Glaube hält vor einer umfassenderen Einheit, einer vorgeschrittenen Zeit nicht Stand, sinkt ins Subjektive, muß wieder ausgesiebt werden aus dem wahren Bestand.

Wo immer ein Ding auf Majoritätsbeschlüssen ruht, da zeigt sich ja dieser Verlauf als natürliche Folge fortschreitender[S. 239] Entwickelung: die Majorität wird gelegentlich abgelöst durch eine höhere Majorität.

Aber soviel schwere Arbeit, soviel Erfolg.

Von Jahrhundert zu Jahrhundert wächst den Menschen ihr gemeinsamer Erfahrungsbestand — ein eiserner Bestand, in dem sie eine immer solidere Einheit über alles Schwankende des Individuums hinaus bilden.

Unablässig fallen Millionen von Individuen ab. Aber das Gemeinsame scheint unsterblich, diese ideale Einheit paralleler Erlebnisse in soviel Köpfen in soviel Jahrhunderten.

Immer mehr streckt sich ihr Gigantenleib, der Einzelne scheint nur noch wie ein Punkt in ihr zu schwimmen, — in der „Wirklichkeit“, diesem kolossalen Komplex aller gemeinsamen Erlebnisse der Kulturmenschen von sieben oder acht Jahrtausenden.

Diese Wirklichkeit ist es, von der das neunzehnte Jahrhundert beherrscht wird.

Und zwar stärker beherrscht als irgendein Jahrhundert zuvor, — als sei ein durch die Jahrtausende rollender Schneeball endlich zur Lawine geworden.

— — —

Zwei Linien der Entwickelung arbeiteten sich dazu in die Hände.

Seit rund nun vier Jahrhunderten war die eine in ein verstärktes Tempo geraten.

Man muß über das achtzehnte Jahrhundert noch weit zurück, um sie in ihrem Urstamm zu fassen.

Es ist wieder in den Tagen des Columbus, und von denen zunächst heraufwachsend bis auf die Zeit etwa, da Galilei beobachtet. In dieser Epoche vollzieht sich für die Menschheit ein grundlegend Neues.

In der Gruppe der Menschheit, die sich als europäische Kultur zusammenfassen läßt, erfolgt ein großer Ruck hinsichtlich des Werkzeuges. Die Buchdruckerkunst ersetzt die Schrift. Das Schiff wird zu einem Werkzeug, das nicht mehr bloß die menschenbewohnten Küsten eines Flusses, eines Binnenmeeres[S. 240] verknüpft, sondern Weltmeere zur Brücke nach fernsten Erdteilen macht und eine halbe Erdkugel neu erschließt. Das Fernrohr schiebt sich zwischen Mensch und Mond, zwischen Padua und den Jupitertrabanten steht es plötzlich wie eine wahre Himmelsleiter. Das Mikroskop löst den Schleier über dem Infusorium und über den Winzigkeiten unseres eigenen Leibes, den Blutkörperchen und Samenzellen, — also über einer Welt, die bisher eingeschachtelt lag wie in einer uns unerreichbaren Dimension.

Ein Ruck hinsichtlich der Werkzeugtechnik bedeutet aber nichts anderes als einen unmittelbaren Fortschritt gewisser menschlicher Körperorgane.

Es ist der Körper des Menschen mit seinen Organen und Sinnen, der sich eine Stufe weiter entwickelt.

Seit prähistorischen Zeiten, seit das erste, roheste Werkzeug von einem Menschen hergestellt wurde, hatte dieses gerade Verhältnis bestanden. Die Keule war nur eine Fortsetzung des schlagenden Armes. Das Kleid ein höheres Fell. Der Einbaum, aus dem das Schiff geworden ist, ein künstlicher Wasserleib mit Anpassung hinsichtlich der Schwere an das Wasser. Das Neue war bloß, daß diese Werkzeuggestaltung des Urmenschen nicht mehr am lebendigen Zellenleibe herumformte, sondern zweckmäßige Projektionen schuf in fremdes, totes, bloß angeeignetes Material hinein. Der Mensch entwickelte sich keinen zermalmenden Elefantenfuß, festgewachsen an seinem Leibe. Er behielt die kleine, einfache, gelenkige Hand mit dem großen Daumen bei, wie er sie von seinen frühtertiären Säugetier-Ahnen überkommen hatte. Doch mit dieser Hand faßte er Keule und Streitaxt und zermalmte damit den Schädel des Gegners. Mit dieser Hand hat er in den späteren Tagen, von denen wir sprechen, gelernt, ein Fünkchen an das Pulver einer Kanone zu bringen, und diese Kanonenkugel fällte den stärksten Elefanten. Die Schiffe des Columbus, Vasco da Gama und Magelhaens waren nichts anderes als solche projizierten Schwimmorgane, mit denen der Mensch jetzt endlich sogar den Walfisch überbot und Weltmeere durchquerte. Das Fernrohr[S. 241] Galileis und das Mikroskop des Leeuwenhoek waren verschärfte Augen, gebaut nach dem gleichen Linsenprinzip unseres leiblichen Auges, wie wir es als Säugetier mitbekommen haben — bloß soviel besser, daß wir jetzt in die Krater des Mondes und jenes Spiel der Samentierchen und der roten Blutkügelchen schauten.

Aber damals schon lag und immer liegt in dieser Art des Organfortschrittes, den wir Werkzeug nennen, etwas Besonderes unlösbar mit enthalten.

Was hatte die Menschheit, oder sagen wir die Tierheit in ihr, gezwungen, überhaupt diesen Schritt zum Werkzeug über das angewachsene Körperorgan hinaus zu tun?

Zwei entscheidende Faktoren der Nützlichkeit hatten dazu gedrängt.

Wenn ich bloß mit der Faust zuschlage und der Gegenstand, nach dem ich schlage, ist zu hart: so bricht mir der Knochen im Fleische. Ich empfinde einen ungeheuren Schmerz, weil Fleisch und Knochen unmittelbar im Bereiche meines subjektiven Nervensystems liegen. Und mehr: die Faust ist mindestens für lange Zeit, vielleicht für immer, gelähmt, — ich bin mit einem Schlage in einen Zustand der Wehrlosigkeit gestürzt.

Umgekehrt: die Keule zersplittert. Ich empfinde den Bruch des toten Werkzeuges nicht als Nervenruck in mir. Ich werfe die Trümmer einfach fort und greife eine andere auf. Holz wächst ja genug. Ich habe schon welche auf Reserve geschnitzt. Oder kann sie doch jederzeit schnell beschaffen.

Und dazu jetzt und gleich hier anknüpfend ein zweiter, unsagbar großer Vorteil.

Ich verteidige als Mensch der Steinzeit meine Höhle gegen einen grimmen Bären. Meine Keule zerspällt auf seinem harten Schädel. Jetzt stürzt er zu. Aber ehe er mich wehrlos findet, hat mir ein Genosse, ein zweiter Mensch, der hinter mir steht, seine unversehrte Keule gereicht. In meiner Hand ist sie sogleich meine jetzt, ein vollkommener Ersatz der früheren. Doch der Kampf dehnt sich. Mein Arm, der die Keule schwingt,[S. 242] erlahmt. Ich lasse den Freund vor mich treten, gebe ihm meine Keule. Nun schwingt er sie mit frischer Kraft wieder als seine. Und diesmal erliegt der Feind.

Das Werkzeug ist einfach ein soziales Organ.

Eine Fortentwickelung des Organs mit einem sozialen Zug.

Ich mag ein Menschenleben damit verbringen, eine besonders gute, eine schier unverwüstliche Keule herzustellen. Aber wenn ich sie nun geschaffen, so mag meine ganze Familie, mag mein ganzer Stamm damit wirken. Ich kann zu Hause auf der Bärenhaut liegen, während andere mit der Keule einen lebendigen Bären fern im Forst bezwingen. Ich kann sterben und die Keule bleibt. Meine Kinder und Enkel werden sie führen. Ich bin längst vergessen — und diese künstliche Faust, die ich mir geschnitzt, lebt, schützt immer wieder lebendige Menschen, ist eine soziale Faust geworden, die Generationen überdauert.

Ein solches Sozialorgan ist aber ebenso das Schiff des Columbus: trägt es doch charakteristischerweise schon ein ganzes Häuflein tapferer Menschen als gemeinsames Schwimmorgan. Ein solches soziales Sinnesorgan ist das Fernrohr Galileis. Man wird dem Meister die Sternwarte verbieten. Er wird erblinden. Aber auf seinen Turm steigen andere und ihr Auge kriecht in dasselbe Glas, mit dem er die Sichelgestalt der Venus und die Monde des Jupiter entdeckt hat. Und wenn diese vergrößernden Linsen hier ihm zerbrechen, so wird Spinoza in Holland andere schleifen. Das Werkzeug übertrumpft die Vereinsamung und die Vergänglichkeit des Individuums, — es ist ein Organ am sozialen Leibe des Kollektivwesens „Mensch“, erhaben über den Zusammensturz des Einzelnen in der Zeit, erhaben über die zerspaltende Schranke unserer Zellenleiber.

Ist nun die „Wirklichkeit“ nur ein grober Ausdruck für das Gemeinsame in den Erlebnissen der Menschen, so gehört das Werkzeug, dieses ins Gemeinsame verlegte Organ, zweifellos aufs engste zu ihr.

Jeder Fortschritt im Werkzeug war ein Siebenmeilenschritt zu ihr, in ihr.

[S. 243]

Als die Holländer zuerst durchs Mikroskop schauten, die Italiener durchs Fernrohr, da stutzten sie einen Moment: sollten die Dinge da drinnen nicht bloß Hallucinationen sein? Teufelsspuk nannte man das damals. Aber es war gerade umgekehrt.

Diese neuen Augen waren um einen ganzen Schritt weiter gesichert vor individueller Hallucination: das Sinnesorgan selbst gehörte ja jetzt schon der Allgemeinheit an.

Tausende konnten die gleiche Linse benützen.

Ein Mittel der Forschung wurden diese Gläser sofort — der objektiven Forschung, die sich grundsätzlich nur noch zu den gemeinsamen Menschheitswerten, also zu der sogenannten Wirklichkeit, bekannte.

So mußte von hierher eine Welle steigen und steigen. Mußte steigen mit der neuen Epoche der Technik. Eine Welle, die auf die Wirklichkeit, auf ein ungeheures Übergewicht dieser Wirklichkeit loseilte.

Denn die Werkzeugtechnik begann mit jenen Tagen einen Siegeslauf, der schlechterdings nicht mehr zu hemmen war.

Das ganze achtzehnte Jahrhundert ist nur eine leichte Kurve in ihm.

Im neunzehnten bricht ein Triumph aus, so überwältigend, daß die Geschichte der Technik von so und so viel Jahrtausenden sich auseinander zu spalten scheint in zwei Perioden: alles bis dahin — und dieses neunzehnte Jahrhundert.

Technische Fortschritte wie die Verwertung der Dampfkraft und der Elektrizität lassen sich in der gesamten Kulturgeschichte an Größe nur noch vergleichen mit den uralten gigantischen Türhütern der Werkzeugerfindung überhaupt: mit dem ersten Steinmesser, dem ersten selbst gegossenen Stück Bronze, oder mit jener Tat aller Taten, mit der künstlichen Erzeugung der roten Herdflamme.

Im eigentlichsten Sinne durchsponnen erscheint dieses ganze letzte Jahrhundert mit Fäden, mit Netzen der Technik. Ein Geräusch kommt von ihm herauf wie ein großes Summen, Klirren, Sausen — ungezählte Räder, wirbelnde Schwungriemen,[S. 244] stöhnende Metallwände, hinter denen eine Kraft eingekerkert ist. Eine weiße Dampfwolke liegt darüber, in die blaue Lichtbänder fließen.

Was aber da rasselt und rauscht und glüht, das sind neue Nerven, neue Muskeln des Menschen, soziale Muskeln, die als Dampfhammer niederdröhnen, als Dynamit den Granitberg sprengen, soziale Nerven, die als Kabel von Kontinent zu Kontinent durch schwarze Meeresschlünde leiten, das sind Leuchtorgane des millionenköpfigen Kollektivwesens Mensch, Blitzorgane, ins Erdumwälzende vergrößert aus jener schwachen Kraft, die den Zitteraal Venezuelas seine elektrischen Schläge austeilen läßt. Im Zeichen des Sozialorgans wehen bis in jeden Winkel die Fahnen dieses Jahrhunderts, und alles, was in ihm lebt, von der steilsten Schneehöhe des reinen Denkens bis in den tiefsten Meeresazur der Kunst: es fühlt das Fächeln dieser Fahnen über sich.

Und dazu nun eine zweite Welle, auch sie sich rapid steigernd auf das neunzehnte Jahrhundert zu. Der anderen parallel, oft zum Verschmelzen eng.

Der soziale Zusammenschluß der Menschheit als solcher.

Auch das rauscht durch die Jahrtausende.

Zuerst die einfacheren Hilfszusammenschlüsse bis zum Volke. Dann der Begriff des auserwählten Volkes: des Kulturvolkes, der Kultur überhaupt.

Im Orient zuerst, dann bei den Griechen, dann das Mittelmeer umfassend, endlich im Lichtfelde ganz Europas, als liege hier allein fortan das Aufmerksamkeitsfeld des Menschenbewußtseins im großen. Eine bevorzugte Menscheninsel, die Kulturinsel. Unabsehbar um sie, die Erdscheibe überflutend, der rohe Ozean des Halbmenschentums, des Barbarentums.

Aber kaum, daß sich das konstituiert hat, so gebiert auch diese Kultureinheit schon mit innerer Notwendigkeit das Ideal einer noch höheren Umfassung: die Idee einer wirklichen „Menschheit“. Jener ganze Ozean saugt die Kultur wie eine Farbe, die von einem Fleck ausgeht, in sich ein, durchfärbt sich damit.

[S. 245]

„Menschheit“ fällt zusammen mit „Kultur“.

Das letzte ist nun schon ein Begriff, den wir selbst erst werden, erst wachsen sehen, blaue Berge vor uns, halb im Nebel noch. Aber in die große Linie ordnet sich die Arbeit von Jahrtausenden auch hier stufenweise ein.

Im Grunde ist dieser soziale Gesamtzug die umfassendere Leistung gegenüber der Technik, der Ausbildung bloß des sozialen Organs.

Dieser allgemeine Sozialverband der Menschen zum Zweck gemeinsamen Wirkens, gemeinsamer Behauptung, gegenseitigen Schutzes, gegenseitig gewährten Glückes umspannt viel mehr als bloß den Sozialanteil an technischen Erfindungen — viel mehr Säulen des Menschengeistes.

Das sagt ja das Gesamtwort Kultur schon, das zugleich das Gemeinsame und das Tiefe ausspricht.

Aber in bestimmter Betrachtung ist doch auch wieder jede große technische Fortschrittsepoche ein Ausgangspunkt dieser allgemeinen Sozialfortschritte.

In den Tagen zwischen Columbus und Galilei ist es, als lege sich eine ganze neue Quader unter den Begriff Kultur. Der Kulturmensch ist fortan der, der gedruckte Bücher besitzt, mit Fernrohr und Mikroskop beobachtet. Noch ist das im wesentlichen damals der europäische Mensch. Man denkt an den Spanier, den Portugiesen, der über Meer fährt und zu nackten Wilden kommt. Aber eben solche Fahrt, ermöglicht durch technische Hilfen, wie Schiff und Kompaß, ist zugleich eine Geburtshelferin jenes erweiterten Kulturbegriffes, der an keinem einzelnen Erdteil mehr haftet. Indem die Kultur Europas nach Amerika überfließt, geht in jenem Bilde ein Farbstreifen quer durch den Ozean. Eine halbe neue Erdkugel wird die Kultur einsaugen. Auf den Schiffen der Columbus und Magelhaens steuert der Idealbegriff einer Kulturmenschheit, in der es überhaupt keine Wilden, keine Barbaren mehr gibt, als blinder Passagier mit.

Mit seinem Triumph der Technik war dem neunzehnten[S. 246] Jahrhundert schon ganz von selbst vorgezeichnet, daß es auch ein soziales Jahrhundert ersten Ranges werden mußte.

Immer bewußter, hell wie die blauen elektrischen Lichtbänder dieses Jahrhunderts, tritt die Kultureinheit hervor.

Schon seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts mindestens geschieht kein größeres Werk mehr, ohne daß wir uns direkt mit Worten dieser Einheit dabei erinnerten.

In einer Welt, die noch unter Kriegsschrecken bebt und in tausend Ketten knirscht, klingt das Wort wohl oft wie eine Phrase. Aber in solcher Phrasenform sind alle großen Ideale auf Erden millionenmal und siebenmillionenmal aufgetaucht — bis sie endlich doch ein Lebenswort wurden.

Es ist aber eben jenes achtzehnte Jahrhundert gewesen, das dem neunzehnten noch ein weiteres soziales Ferment übermittelt hat.

Jenes Bild der älteren Kultur, die auf einer Insel sitzt, weithin um sich das finstere Meer der Barbarei, des kultursozial noch nicht angeschlossenen menschlichen Rohstoffes, hat noch eine andere Bedeutung als bloß eine geographische, bei der Europa die Insel ist.

Es findet sich zum zweiten Mal wieder innerhalb unserer Kulturvölker selbst.

Da ist ein enger Stand zunächst, der die Bildung, das soziale Werkzeug, all das andere, Tiefere, Vergeistigte, was die Kultur sonst noch ausmacht, besitzt und die Glückssonne dieser Errungenschaften über sich leuchten läßt.

Um diesen Sonnenstand aber nach unten wogt abermals ein ungeheures Meer nackter, hilfloser, isolierter Feuerländer und Australneger unseres eigenen Volkes.

Auch nach hier hinab hebt nun eine Mischströmung an, auch in diesen Ozean stößt Schiff um Schiff allmählich ab, um Farbströme hinter sich herzuziehen, bis eines Tages auch diese ganze Barbarensee die Kultur aufgesaugt haben wird und ihrer Vorteile teilhaftig ist.

Wir haben uns gewöhnt, die Arbeit nach dieser Richtung im engeren Sinne als das soziale Problem zu bezeichnen. Und[S. 247] es braucht nicht mehr gesagt zu werden, mit welcher wachsenden, orkanartigen Intensität das neunzehnte Jahrhundert das Jahrhundert dieses sozialen Problems gewesen ist. Und es braucht auch nicht das Allbekannte erzählt zu werden: wie gerade das soziale Organ, die Maschine, auch hier die Felsblöcke in krachenden Sturz gebracht hat, allerdings in besonderer Weise. Nicht die Geschichte dieser Dinge berührt mich ja hier, sondern das Gesamtantlitz, das sie dem Jahrhundert geben.

Auf das Soziale deutet dieses Antlitz im neunzehnten, wo immer es uns anstarrt.

Es sieht nicht den Menschen, sondern die Menschen.

Und wo sich ein einzähliges Wort ihm dennoch auf die Lippe drängt, da ist es ein Idealwort, geschmiedet aus fünfzehnhundert Millionen Köpfen: — Menschheit.

Wo dieses bis in jede Faser sozial durchfärbte Jahrhundert Weltenwerte, Erlebniswerte wog und für seine Bedürfnisse aussonderte: da war es, da mußte es sein jene Auslese der Erlebnisse, die sozial gemacht werden, — also der „Wirklichkeit“ in Anführungszeichen.

Das Blut, von dem es trinken mußte, um zu leben, um nicht ein leerer Schatten zu sein, rann ihm hier zu.

Wirklichkeit! Wirklichkeit!

Aus den Myriaden individueller Sondererlebnisse durchgesiebt die übereinstimmenden, die sozial brauchbaren, die, bei denen man Mensch mit Mensch packen konnte.

Und als brächte der Ruf, das Verlangen danach selber das Blut zum Strömen, so strömte und strömte dieses rote, nahrhafte, verbindende Blut der Wirklichkeit nun auch diesem Jahrhundert tatsächlich wie aus unerschöpflicher Ader zu.

— — —

Dem neunzehnten Jahrhundert glückt es, Dinge in den Bereich der Wirklichkeitswerte ganz oder doch nahezu hineinzuziehen, an deren Wirklichkeitsmöglichkeit selbst die aufgewecktesten Kulturepochen in sieben Jahrtausenden nicht in kühnster Hoffnung gedacht hatten.

[S. 248]

Ein prachtvoller Eroberungszug bemächtigt sich des Menschen selbst.

Zum erstenmal entsteht eine eigentliche Naturgeschichte des Menschen. Und im Rahmen dieser Naturgeschichte eine erste auf Tatsachen, auf Wirklichkeiten gestützte „wahre“ Geschichte.

Über den Ursprung der Menschheit enthüllen sich schlechterdings neue Dinge, die jeder fortan greifen kann. Es ist das Problem aller Probleme, die Wirklichkeit aller Wirklichkeiten, die mit diesem Punkte berührt ist. Das Centralgeheimnis aller Erlebnisse, der Blick ins eigene Sein.

Seltsam genug: gerade die Geschichte, der Ursprung des Menschen hatte bis in dieses Jahrhundert hinein mit einer zähen Hartnäckigkeit außerhalb der sozial kontrollierbaren „Wirklichkeiten“ gelegen.

Der biblische Mensch, der Mensch der uralten babylonisch-jüdischen Schöpfungslegende herrschte für diesen Punkt, und er beherrschte von hier aus das Bild des Menschen überhaupt.

Dieser biblische Mensch reichte seiner eigenen Schöpfung im Menschengeist nach aber in Zeiten zurück, die an Wirklichkeitswerten und an Sehnsucht nach solchen noch unendlich viel ärmer gewesen waren als auch nur etwa das Jahrhundert des Columbus.

Einzelne objektive, von vielen erlebte Tatsachen mögen ja immerhin bei seinem Uranfang mitgewirkt haben. Der Glaube an die Sintflut hat zweifellos an die versteinerten Muscheln auf Berghöhen angeknüpft, die man anders nicht zu erklären wußte. Die Entstehung des Menschen aus einem Lehmkloß schloß sich an die angebliche Beobachtung, daß kleine Tiere, Flöhe, Maden und Mäuse, unmittelbar aus toter Substanz hervorzukommen schienen.

Aber diese Erfahrungen traten später so gut wie ganz in den Hintergrund. Der biblische Schöpfungsmythus lebte fort einfach als Überlieferung. Irgend einem, etwa Moses, sollte das so offenbart worden sein. Dieses innere Erlebnis wurde aber sozial gemacht, zu einem Erlebnis für alle, also zu einer[S. 249] „Wirklichkeit“ gemacht nur durch eine Art Machtgebot, eine künstliche Sanktion.

Glaube wurde verlangt, Beweise nicht mehr für nötig erachtet.

Und anderthalb Jahrtausende hielt sich das wirklich so in einer notdürftigen Balance.

Aber jene innere Logik der Dinge, die alle Sozialwerte, auch die scheinbar fest errungenen, immer wieder durchsiebt, mußte langsam endlich durchsickern lassen, wie sehr in diesem überlieferten Glaubenswerte die Gefahr eben doch einer bloß subjektiven Annahme, sagen wir: einer Hallucination, steckte. Mochte es die Hallucination einer ganzen Kulturepoche sein. Auch solche werden, wie gesagt, schließlich ausgemerzt, wenn die Kultur weiter steigt.

Um den Sozialwert der biblischen Menschengeschichte und Menschenauffassung dauernd und in immer wirklichkeits-energischere Zeiten hineinzuretten, mußte man ihn schließlich doch mit gewöhnlichen Wirklichkeitswerten wieder zu stützen versuchen.

Der Glaube suchte endlich doch einen Halt bei der Forschung.

Es ist aber im ganzen achtzehnten Jahrhundert schon ein öffentliches Geheimnis der besten Köpfe, daß dieser Rettungsversuch scheitern müsse.

Es war unmöglich, wirkliche Tatsachengründe, die jeder greifen konnte, für die Bibeltradition zu finden.

Der biblische Gott in seiner Gestalt eines bloß vergrößerten Übermenschen, Adam und Eva, das Paradies, der Sündenfall, Noahs Arche in der Flut, sie verschwebten im Blau, unfaßbar, ohne Akten und Siegel im Sinne sonstiger greifbarer Tatsachengeschichte, im Sinne von „Wirklichkeit“.

Dieses Ergebnis war ja zunächst ein rein negatives.

Und im Zeichen dieses Negativen steht das ganze achtzehnte Jahrhundert.

Die Bibel sinkt in die Rolle eines subjektiven Erlebnisses ohne Sozialwert, ohne Gebrauchswert für viele, hinab. Die[S. 250] wahre Geschichte des Menschenursprunges ist jetzt ein nacktes weißes Blatt.

Das Jahrhundert geht ins nächste mit Stimmen, die jede Möglichkeit anzweifeln, daß je noch Schrift der Wirklichkeit auf dieses Blatt kommen werde. Ist all das bunte Märchenspiel seiner biblischen Wiege dem Menschen ins Blaue verdampft — so scheint sein Ursprung, scheint er selbst in seiner zeitlichen Dehnung rückwärts erst recht jetzt im Nebelblau des absolut Unbekannten.

Das hier einsetzende neue Jahrhundert aber bringt gerade das Unerwartete: den Bruch grade dieses Geheimschlosses nun doch durch die Wirklichkeit.

Die Technik wieder ist es, die den Spaten gibt.

Der Spaten wird eingesetzt — und jetzt kommen Erlebnisse realster Art zustande, Erlebnisse für alle, die der Kultur angehören.

Ein solcher Spaten ist das künstliche Auge des Fernrohres, das in die Nebelflecke schaut. Das Thermometer, das die Wärmeverhältnisse des Alls mißt, eine verfeinerte Haut gleichsam des Menschen. Das Spektroskop, ein nochmals neues, chemisches Auge, das Sternenlicht in seine Elemente zerspaltet.

Jedes dieser erweiterten Sinnesorgane eröffnet erweiterte Wirklichkeitswerte.

Im unendlichen Raume erscheint die Urmaterie nebelhaft zerstreut. Sie glüht auf als Fixsterninsel. Als Sonne. Diese Sonne entläßt feurige Reifen, die sich zu Planetenkugeln aufrollen. Eine solche Kugel saust Trillionen Jahre lang im eiskalten Raume und sie erstarrt. Ein metallischer Eisblock, läßt sie sich nur noch von der Sonne erwärmen. Aber ihre Rinde wird das Spiel unzähliger chemischer Prozesse. Im milden Sonnenatem erhält sich der Sauerstoff, gemischt mit andern Gasen, als Luftschicht, verbunden mit Wasserstoff dauert er als flüssiges Meer. Dieses Meer umwogt Länder. Und so baut sich, schon eine Folge von Aeonen, die Urerde auf, noch einmal herausgesehen aus der heutigen Wirklichkeitswelt mit Hilfe jener gesteigerten Wirklichkeitsorgane der Technik.

[S. 251]

Diese Technik wandelt aber wieder einen anderen Weg.

Zu den Gemeinsamkeitserfahrungen der Menschheit gehören gewisse Gesteinsmassen der Erde. In diese Gesteinsmassen dringen technische Organe vor, sie bohren Tunnels hinein für einen künstlichen Muskel- und Nervenstrang des Kolossalwesens Mensch, sie bauen die Steinkohle heraus, damit sie selber ein Leuchtorgan, ein Wärmeorgan dieses Menschen werde, sie tragen Schiefer Platte um Platte davon ab, um eine Form ihres sozialen Gedächtnisses, die Bilderschrift des lithographischen Druckes, damit herzustellen.

Dabei aber kommen neue Erfahrungen zustande: versteinerte Baumstämme, Abdrücke und Knochen seltsamer Tiere. Handgreiflich gemeinsame Erfahrungen, die, in öffentlichen Museen aufbewahrt, durch photographische Platten jenseits aller Hallucinationsmöglichkeit fixiert, von allen fünfzehnhundert Millionen Menschen der Erde gesehen werden können und den nachgeborenen Generationen ebenso unverändert erhalten bleiben.

In die Jahrmillion der Urwelt auf dem erkalteten Planeten zeichnen sich damit neue Bilder ein. Am Ufersande entlegenster Zeit regt sich gallertiges Gewürm. Durch die blaue Flut ziehen Schwärme bunter Medusen. Der Wind knattert durch die Schachtelhalmwälder sumpfiger Inseln. In diesem Sumpfe kriechen gepanzerte Molche auf dem feuchten Moosboden. Der Farrnwald wird zum Nadelgehölz. Gigantische Saurier, turmhoch auf den Hinterbeinen, watscheln hindurch. Der erste Vogel, noch mit einem langen Eidechsenschwanz hinter sich, flattert darüber. Dann ein Palmenwald in Sachsen, mit Affen und Antilopen. Urwaldfichten, deren Harztränen zu Bernstein werden. Groteske Dinotherien mit Walroßhauern bei Mainz. Ein Menschenaffe auf der schwäbischen Alb. Endlich Eisgletscher über ganz Norddeutschland, auf denen schwedischer Granit, als Moräne verfrachtet, bis nach Berlin rutscht.

Und jetzt in diese nie geahnten Wirklichkeitspanoramen eingehend — der Mensch.

Eines jener neuen gemeinschaftlichen Werkzeugaugen, das Mikroskop, löst ihn in winzige Urelemente des Lebens, die[S. 252] Zellen, auf. Aus solchen Zellen baut sich auch jedes Tier, baut ich jede Pflanze. Aus einer einzigen Zelle, der Eizelle, entsteht geschichtlich als einzelner jeder Mensch. Auf Wesen, nur aus einer Zelle bestehend, läßt sich auch die ganze Fülle des Tier- und Pflanzenlebens auf Erden zurückführen, wenn man zu ihren geschichtlichen Wurzeln zurückgreift.

Die Fülle der Gesichte, über jene ganze Urwelt ausgebreitet, ordnet sich dann hintereinander.

Aus dem Niederen das Höhere.

Einzellige Urwesen am ersten Strand. Niedrige Pflanzen, später niedrige Tiere. Doch der Stammbaum wachsend, Ast um Ast, bis zur Rose, bis zum Säugetier. Und dieses Säugetier wird an einer letzten Stelle Mensch. Mensch nach oben — nachdem es nach unten Eidechse, Molch, Fisch, Wurm wie Häute seiner Entwickelung durchgemacht und abgestreift hat. Noch im Säugetier steigt eine ganze Skala an, Schnabeltier, Beuteltier, zuletzt gibt es eine Gabelung, die hier den Affen entläßt, dort unaufhaltsam in den Menschen empor sich steigert. Nicht in einen Paradieses-Adam, sondern einen harten Kämpfer. Unter Eis stöhnt die Erde, als er noch jung ist. Der Höhlenlöwe brüllt vor seinem Versteck. Aber in diesem Versteck entzündet er sich die Herdflamme und bei ihrem Schein schlägt er sich den Stein immer vollkommener zur Waffe.

Hier hebt das andere, höhere Epos an: die Kultur.

Immer aber, in jedem Zuge, ist diese neue Schöpfungsgeschichte getragen von gemeinsamem Erfahrungsmaterial: von „Wirklichkeiten“.

Noch jetzt leben Tierformen vor jedermanns Blick, die bis zu jenen Einzellern hinunter seinen Ahnen gleichen.

Sein Embryo im Mutterleibe, der heute noch die Kiemenbogen des Fisches, das Wollkleid, die spitzen Ohren und den Schwanz des niederen Säugetieres wiederholt, steht im Museum.

Greifbar zieht ein Forscher gar aus einem Flußbett Javas die Hirnschale und den Schenkelknochen des Pithekanthropus, der halb Gibbonaffe und halb Mensch vor mehr als einer halben Million Jahren gewesen ist. An der Stätte, wo[S. 253] Goethe gewandelt ist, dicht bei Weimar, in den Kalktuffen der Ilm, speit der Boden Steinwerkzeuge aus, gemischt mit den von Menschenhand bearbeiteten Knochen des Elefanten und des Rhinoceros. Auf dem Felsen von Rüdersdorf folgt die Hand der Glättung und Ritzung des Gesteines, die dem alten Riesengletscher jener Eiszeit verdankt werden.

Nicht eine Hand bloß, von der dann die Tradition allein bleiben müßte wie einst von den Gesichten des mosaischen Schöpfungsdichters.

Hundert, Millionen Hände, immer wieder, wenn sie sich bloß die Mühe machen wollen.

Von „Wirklichkeiten“ ist diese neue Schöpfungsgeschichte umspannt, umklammert wie von einer Eisenhand.

Von Wirklichkeiten in eine ganz bestimmte, nicht mehr erschütterbare Gestalt gepreßt, schreitet der Mensch aus dem neunzehnten Jahrhundert.

Eine Kette klirrt hinter ihm her aus diesen Wirklichkeiten, eine eherne Nabelschnur, die ihn, wohin er auch schreite und was er nun sei, fortan rückwärts angeschmiedet hält an einem ungeheueren weltallsschweren Granitblock übereinstimmender Erlebnisse der Menschheit selbst über ihren Ursprung.

Ein Jahrhundert, das einen solchen Triumph mit der Wirklichkeit erlebt hatte — ist es ein Wunder, wenn es allmählich wie in Ekstase geriet vor diesem Begriffe?

— — —

Es läßt sich sehr gut verfolgen, wie das Jahrhundert zwei Phasen in sich durchläuft, was diesen Punkt anbelangt.

Grob kann man es genau auf seine Mitte, auf den Umschwung zu den Fünfzigerjahren, durchschneiden, um sie zu erhalten.

In der ersten Hälfte ist es, als seien Zwerge schweigend bei einer Nachtarbeit.

Blöcke werden noch geräuschlos aufgetürmt. Die Technik wächst langsam empor. Die erste Lokomotive dampft. Der erste Telegraphendraht spannt sich. Das zusammengesetzte[S. 254] Mikroskop beginnt zu arbeiten. Neue Wissenschaften blühen auf, alle mit der Färbung nach der naturwissenschaftlichen Seite. Das allgemein Soziale reckt sich und zeigt mehr und mehr Fühlung mit der Technik. Der alte Goethe stirbt schon mit dem Gefühle, daß eine neue Zeit dabei sei, sich zu erfüllen, eine Zeit der sieghaften Realwerte.

Aber bei alledem haben diese ersten fünf Jahrzehnte im ganzen doch noch etwas Intuitives, etwas dumpf im Mutterleibe Wachsendes, etwas bloß im dunklen Drange geradeaus Gehendes ohne Nachdenken.

Das eigentliche Bewußtsein all der Dinge blitzt erst mit der Wende zur zweiten Hälfte auf. Die Nebel fallen über dem Zwergenschlosse und es steht auf einmal da, vor aller Welt Augen, und es zwingt diese Augen zu sich.

Nach fünfzig Jahren stillen aber steten Ringens um die „Wirklichkeit“ kommt in den ersten beiden Jahrzehnten der zweiten Phase mit Übergewalt gerade jetzt auch jener stolzeste Eroberungszug wie eine reife Frucht: die neue Lehre vom Menschen, das neue Weltbild, aufgebaut auf Wirklichkeit. Lange schon hat diese Frucht ungesehen im dichten Laube gehangen, jetzt fällt sie, und ihr Poltern zieht die ganze bewußte Aufmerksamkeit auf sich. So und so viel noch fest Schlafenden fällt sie auf den Kopf — und sie müssen aufwachen, müssen begreifen.

Um das Ende der Fünfziger und den Anfang der Sechziger erfolgt nach dieser Seite ein Hauptschlag um den anderen.

Die Spektralanalyse, die die Gestirne enträtselt.

Darwin.

Das Gesetz von der Erhaltung der Energie fest begründet.

Boucher de Perthes’ prähistorische Funde bestätigt.

Zum ersten Mal läßt sich der Faden einer Kosmogonie auf Grund von lauter Wirklichkeiten spinnen, wie es Haeckel in ewig unvergeßlicher Weise versucht hat.

Der Kampf gegen die Bibel, durch Strauß angebahnt,[S. 255] nimmt unter dem Druck dieses positiven Ersatzmaterials den Charakter eines Vernichtungskampfes an. Alles, was mit dogmatischer Religion zusammenhängt, kommt ins Bröckeln. Die Autorität der Tradition wankt in ihr im Verhältnisse, wie die Autorität der Wirklichkeit, das Vertrauen zur Wirklichkeit überall wächst.

Andererseits ist dieser gleiche Zug gegen die alte Autorität bloßer Überlieferungen im allgemein Sozialen wie ein Frühlingssturm merkbar.

Wie in der Philosophie, so in der Politik. Abkehr vom Phantastischen zugleich und minderer Glaube an alte Bücher, alte Titel, alte Verträge, zweifelhafte Dokumente von lediglich traditioneller Heiligkeit. Die wachsende soziale Bewegung sucht sich auf greifbare Realwerte hin neu, solider, weltgerechter zu ordnen.

Scheinbar fliegt eine ungeheuere Masse Pietät über Bord.

Aber in Wahrheit nur, weil eine einzige ganz bestimmte Pietät überwiegend, erdrückend, alles verschlingend geworden ist: die Pietät vor den „Tatsachen“, vor der „Wirklichkeit“.

Der darwinistische Mensch und der sozialistische Mensch reichen sich in diesem Pietätsgefühl brüderlich die Hand.

Und all diese Dinge, dieser ganze Zug der Zeit haben einen so greifbaren Glücksinhalt!

Es liegt wie ein großes Aufatmen in der Entlastung von soviel schweren Berglasten der Illusionen, Glaubenssätze, Vertröstungen, Subjektivitäten mit Autoritätsmacht. Das Feld für neue Entwickelungen scheint endlich wieder frei, und das Bewußtsein davon gießt junge Kraft in alle Adern.

Wo immer die Wirklichkeit resolut erfaßt wird, philosophisch, technisch, sozial — es fließt und fließt ein überwältigender Strom von Glück zu.

All sein körperliches Glücksbedürfnis eines ungeheuer sinnlich kräftigen Organismus wirft das Jahrhundert nach dieser Seite, all seine brennende Seelensehnsucht.

Die Kirche sank, der Himmel schloß sich mit seinen Belohnungen, seiner außerweltlichen Bestimmung des Menschen,[S. 256] seiner unmittelbaren Gotteshilfe. Das ganze alte Gefüge der Autoritäten, Traditionen, Moraltafeln, privilegierten Stammbäume krachte.

Aber die Wissenschaft schenkte einen neuen Himmel mit Millionen Sternen. Sie schenkte einen neuen Menschen, der in ganz neuer, solider Weise auf der Erde stand. Und die Technik, Schöpferin zugleich und Kind dieser Erkenntnis, würde Brot und Muße für alle aus diesem Boden zaubern, hier auf dieser Erde — eines Tages.

Noch verwirrten ja ihre Maschinen eher, als daß sie halfen. Aber das war nur der letzte Nebel vor Sonnenaufgang. Die soziale Neuordnung und Gesamtkonstituierung der Menschheit würde ein irdisches Reich der Liebe und Gerechtigkeit gründen, aufgebaut auf Arbeit im richtigen Maße. Keine Herrschenden und Unterdrückten mehr, nur der freiwillige Arbeiter triumphierend.

Und das alles schließlich verdankt dem großen Umschwung in der Wertschätzung der Wirklichkeit. Sie war der Fels endlich im Meer, wo die Arche landen konnte ....

Man kann die Dinge bis hierher ruhig in ihrem ganzen Königsmantel rauschen lassen, ohne auch nur ein Wort einschränkender Kritik hinzuzusetzen.

Die vollkommene Größe des neunzehnten Jahrhunderts erscheint wirklich so, die ihm nie wieder irgend eine Zukunft entreißen wird.

Das Jahrhundert der Dampfmaschine und des Telegraphendrahtes, Darwins und der beginnenden Umwandlung des alten Christuswortes von der Nächstenliebe in reale soziale Tat — es hat mit seiner „Wirklichkeit“ in Wahrheit Berge versetzt, Berge, an denen sich der Strom der Menschheitsentwickelung gestaut hätte, wenn nicht eine Hand sie endlich wegriß und die Wasser schäumen ließ.

— — —

.... Aber es wird kein Kind geboren, auch kein Heiligenkind, ohne daß edles Mutterblut dabei verströmte.

Jede große Entwickelungserweiterung der Menschheit, bei[S. 257] der ein neues Flußbett sich gräbt, hat seine gewissen Züge auch des Dammbruches, der Überschwemmung, der entfesselten Gewalt, die Fruchtbäume bricht und Ackerboden verschüttet.

Auch in der größten Tat des Genius erscheint unabänderlich der Erdenrest bestimmter Unterdrückungen, Vergewaltigungen, Übertreibungen.

Im Grunde, wenn man tiefer blickt, ist dieser scheinbare dunkle Fleck eigentlich nichts anderes als der schwarze Schnittpunkt der Entwickelung selbst, die auch in der erhabensten Leistung nicht ganz erfüllt, nicht ganz zum Stillstand gebracht sein darf, sondern ihre Ecke behalten muß, wo sie auch diese Leistung wieder zersetzen, wieder überwinden wird — zum Nutzen des unablässigen Weiterganges.

Auch das neunzehnte Jahrhundert hat diesen Schnittpunkt. Und es hat ihn genau mitten in dem, was seine Größe ausmacht: in dem Begriffe der „Wirklichkeit“. Dieser Begriff ist seine Sonne — aber es ist auch sein größter Sonnenfleck darin.

In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts treten mit dem wachsenden Bewußtsein von jener großen Fügung auch ganz allgemach die Spuren einer gewissen Verschiebung auf.

Der Begriff Wirklichkeit nimmt in einer Menge von Köpfen eine eigentümliche Schwere an.

Er bekommt etwas von einem Block, der sich nicht mehr recht bewegen lassen will, der selber wieder lastet, drückt.

Die Wirklichkeit hatte zu solchem Triumph geführt, eröffnete solche Glücksbilder. Wie nahe lag es, sie für das einzige zu erklären, was für den Menschen überhaupt in Betracht kam, was Wert für ihn besaß!

Wir erinnern uns jener Grunddefinition: daß „Wirklichkeit“ eine Auslese der für viele, eventuell alle Menschen gemeinsamen Erlebnisse darstelle.

In dieser Definition ist noch kein Werturteil enthalten, was besser sei: diese sozialen Erlebnisse in ihrer Ganzheit oder der Rest des tausendfältig Subjektiven, der daneben schwimmt,[S. 258] ohne aufgelöst zu werden, all der individuellen Erlebnisse, die jeder zunächst für sich hat ohne Parallelen bei andern.

Höchstens konnte man sagen: die Wirklichkeit wurde jedenfalls etwas zweiten Grades, — eben als Auslese.

Jetzt aber wird der Spieß umgekehrt.

Die Frage taucht auf, ob das Subjektive nicht bloß ein wertloser Rest, etwas Überzähliges ohne Sinn sei?

Die Wirklichkeit allein das echte Erlebnis, das erlebenswerte!

Das Subjektive dagegen, das mit ihr nicht zusammenfällt, bloß ein gleichgültiges Schaumgekräusel — Schnitzelwerk des Erlebens, das nebenherlaufend nicht immer zu vermeiden ist, aber jedenfalls eine Luxusproduktion darstellt!

Ja, war es bloß die?

Der Schritt in der Logik ist äußerst klein vom Wertlosen zum Widerwärtigen, zum Schändlichen.

Man hatte so deutliche Beweise, wo das Subjektive geschadet hatte, indem es das Wirkliche fälschte, zum Beispiel in religiösen Dogmen.

Der eigentliche Schaden hatte zwar strenggenommen in solchen Fällen immer in der blinden Tradition bestanden, in der Nachlässigkeit, die Subjektives für allgemeine Wahrheitswerte einfach leichtfertig hinnahm, und in der Autorität, die solche Verwirrungen heiligte und gewaltsam durchdrückte.

Aber war es nicht doch die nackte Existenz des Subjektiven in der großen Menschheitsrechnung gewesen, die den Anlaß gab, daß dergleichen überhaupt in Szene treten konnte?!

Jede Zeit hat ihren Versucher, der als kleines Schlänglein hinter dem Apfelbaume hervorkriecht. Für das neunzehnte Jahrhundert steckte er in dieser harmlosen Frage. Es kroch eigentümliche Wege, das Schlängelchen, aber mit der ganzen schwarzen Teufelslogik.

Alles Subjektive, das nicht in das Gemeinsame paßte, war also tauber Schuß, Rankenwerk, das besser abgeschnitten wurde.

Man vergaß, daß das Subjektive tatsächlich der große[S. 259] Nährboden war, aus dem alles zunächst einmal wuchs und gewachsen war, auch das „Wirkliche“.

Man vergaß, daß dieses Wirkliche in keinem Moment etwas Absolutes war, sondern unablässig nur ein schwankendes Lichtfeld innerhalb der subjektiven Erlebnisse bildete, in das beständig Neues aus der subjektiven Masse einwuchs und aus dem schon Aufgenommenes beständig wieder austrat.

Man vergaß, daß man im Subjektiven den wahren seelischen Boden berührte, der dem Antäus die Mutterkraft gab — während das „Wirkliche“ sich immerzu einem rein objektiven Werte näherte, für den man in dem Denken wenigstens, das das neunzehnte Jahrhundert nach seiner großen Religionskrisis beherrschte, keinerlei höhere seelische Einheit zur Verfügung hatte.

In der ganzen zweiten Hälfte des Jahrhunderts sinkt in der allgemeinen Auffassung des Menschen überall das Individuum.

Die „Wirklichkeit“, dieses Gemeinsame der Individuen, gewinnt einen Zug, bei dem das Einzelne als das sozusagen Überflüssige erscheint.

Sie umfaßt es.

Eine Null ist es schließlich vor ihr. Seit man seine Geschichte mit Werten in ihr belegen kann, scheint sie von allen Seiten ganz um ihn herumgewachsen zu sein.

Philosophisch kräuselte sich das zu dem Gedanken aus: sie ist überhaupt bloß.

Der einzelne Mensch ist lediglich eine Welle in ihr. Sie dauert, er vergeht. Allerdings ist sie bloß eine ungeheuere Maschine, gleich den Sozialorganen des Menschen. Aber diese Maschine eben ist das eigentlich Seiende. Die Menschen sind nur in ihr geborene und wieder zerstörte Spiegelplättchen.

Allmählich sinkt das ganze Aktive der Welt mehr und mehr in diese gemeinsame Wirklichkeit.

Der Mensch ist nur noch Passives.

Er liegt in einer ungeheueren Maschine.

Sie treibt heute ihren Dampf in ihn und läßt ihn laufen.[S. 260] Morgen wirft sie ihn auf den Schwungriemen und wirbelt ihn gegen die Decke.

In diesem Jahrhundert grandioser technischer Werkstätten nimmt auch dieses Bild grandiose, monumentale Formen an.

Aber in seiner philosophischen Konsequenz muß es zu einem Pessimismus der schärfsten Färbung führen: dem Pessimismus, der in allen Kulturjahrtausenden immer wieder die Reaktion des Individuums gewesen ist, das von einer Weltanschauung wie eine Schnecke im Weinberg zertreten wird.

Und dieser Pessimismus wird tatsächlich doch nur verdankt einem falschen erkenntnistheoretischen Schachzuge.

Das Jahrhundert beginnt sich seinen schönsten Zauberstab, die „Wirklichkeit“ in Anführungszeichen, zu versteinern, zu entwerten, zu einer Geißel gegen sich selbst umzuübertreiben.

Das aber einmal in voller Gährung, fließen die Wellen jetzt unaufhaltsam auf der schiefen Ebene ab, den Rest des Jahrhunderts mit ihrem Rauschen durchhallend.

Aus dem wundervollen neuen Menschen, den uns das Jahrhundert aus Nebelflecken und Urzellen gezogen hatte, diesem Menschen, der einen Kosmos um ein Paradiesgärtlein eingetauscht hatte, der auch in der schlichtesten Arbeiterbluse fortan ein Sonnensohn war, dessen Adelsbaum bis in die Milchstraßen ragte: aus diesem unsagbar prächtig vergrößerten Menschen ging in der Logik der falschen Doktrin auf einmal der „Normalmensch“ hervor, ein kleines spaßhaftes Philisterlein mit einer Nummer vor der Stirn, der nicht zu mucken, sondern nur zu folgen hatte.

Dieses Menschen-Maschinlein war der Mensch, ausgemünzt bloß noch auf die bestehenden Allgemeinwerte hin, unter absolutem Niedersäbeln jedes subjektiven Lebens als einer „Schädlichkeit“.

Von einer blinden Vergottung der heute gerade errungenen Wirklichkeitswerte aus wurde dieses Menschlein zurückgezahlt als erstarrte Schablone, die jetzt in die Praxis allenthalben hineingepreßt werden sollte.

[S. 261]

Es war die Entwickelung, die sich selber den Ast absägte, die Quelle verstopfte, den ewigen Jungbrunnen zuschüttete.

Denn mit der Nichtigkeitserklärung den ganzen rein subjektiven Werten gegenüber erstickten alle die Keimkristalle des Fortschrittes in der Erweiterung des Wirklichkeitsbildes, die unablässig in dieser großen Mutterlauge des Subjektiven anschossen.

Jede große Allgemeinwahrheit war einmal in einem einzelnen Kopf als heterogene, als ketzerische Subjektivität geboren, jede Allgemeinnützlichkeit an einem subjektiven Leibe zuerst erprobt worden. Aber was sollte das, wenn man alles Aktive in diesem nachgeborenen Produkt, in der schon bestehenden „Wirklichkeit“ selbst suchte, anstatt in den Individuen mit ihren Subjektivitäten, die unablässig neues Material aus ihrer Aktivität heraus zur Auslese des sozial Passenden ins Feld warfen?

Der Normalmensch wuchs wirklich für die Theorie sieghaft auf, so und so viel tausend und tausend Spiegelplättchen, alle auf dieselbe omnipotente „Wirklichkeit“ eingestellt und nur gemessen auf die Korrektheit dieser Einstellung.

Wer im genauesten Winkelmaß ziffernmäßig eingerenkt stand, — der war „gesund“.

Jede subjektive Abweichung aber war — Krankheit.

Obwohl alle letzten Gedankengänge, die schließlich bis hierher geführt hatten, falsch oder wenigstens übertrieben waren, so tritt doch auch darin noch die Größe des Jahrhunderts hervor, daß die Verfolgung dieser Dinge jenseits des schlechten Punktes eine so gewaltige Logik entwickelte, daß schon das allerstärkste Bollwerk nötig wurde, um sie endlich doch zum Falle zu bringen.

Es liegt aber ein solches Bollwerk tatsächlich inmitten des unendlich schwankenden Halbdunkelgebietes des „Subjektiven“ — und zwar sind seine Zinnen von alters in ihrer ganzen Cyklopenkraft bekannt.

Es ist die Kunst.

— — —

[S. 262]

Auf einem Höhepunkte der Verwickelung mußte die Kunst das Ilion werden, vor dessen Mauern der große Kampf zum Stillstande der Entscheidung kam.

Der Kampf zwischen der versteinerten, vergötzten „Wirklichkeit“ — und dem Aktiven in der Subjektivität, das neue Werte schuf und den ewigen Fluß, die ewige Relativität, die ewige Entwickelung vertrat jenes Ausschnittes aus dem grundlegenden Gesamtergebnisse der Menschheit, den wir „Wirklichkeit“ nennen.

Die Kunst nimmt in dem Gegensatze zwischen Subjektivem und Sozialem, zwischen der großen Erlebniswirklichkeit und der engeren, gemeinsamen „Wirklichkeit“ in Anführungszeichen eine so schlechterdings besondere Stellung ein, eine so raffiniert verwickelte Grenzstellung, daß jede Übertreibung hier ein Zwist auf Tod und Leben werden muß.

Nichts ist seltsamer, ist von gewissem Boden aus unwahrscheinlicher und ist doch tatsächlich wahrer als der Satz, daß in der Kulturgeschichte noch jede Welle, die vergewaltigend gegen die Kunst anbrandete, schließlich zerbrochen und verschäumt ist, — als sei hier der feinste Kern- und Schutzwert der Menschheit berührt, dessen Antastung jäh alle Alarmsignale auslöst und zum generalen Widerstande bläst.

Auch in der Auffassung des Ästhetischen läßt sich das neunzehnte Jahrhundert ziemlich gut auf seine zwei Hälften trennen.

Die erste Hälfte steigt herauf geradezu aus einer ästhetischen Hochblüte. Ästhetisch ist also förmlich aufdringlich zuerst noch ihre Grundstimmung.

Während die Naturforschung, die Technik, der Realitätssinn in der Stille schon die ganze Unterströmung beherrschen, liegt das Bewußtsein doch noch hell im ästhetischen Felde. An den ästhetischen Begriffen wird zunächst noch gemessen, was aus jener engeren Wirklichkeitswelt zufließt. Noch kann man von einer ästhetischen Weltanschauung reden, die selbst Naturforscher ersten Ranges beherrscht.

Aber in dieser Vorherrschaft ist sie allerdings schon in[S. 263] einer absteigenden Linie. Und der Umschwung wird in der zweiten Hälfte vollständig sichtbar.

Aus einem ästhetischen Wellenkamm ist nunmehr ein Tal geworden.

Jene Wirklichkeitsstimmung hat die Lichtgrenze des Bewußtseins allenthalben erobert. An ihr, an Wirklichkeitswerten, wird das Ästhetische des Tagesgebrauches jetzt umgekehrt gemessen. Und da alsbald noch mehr als das.

Indem die „Wirklichkeit“ in den Brennpunkt der Übertreibung tritt, erfolgt etwas, wovor am Ende des achtzehnten Jahrhunderts allen guten Köpfen gegraut hätte wie vor der Sünde wider den heiligen Geist.

Die Existenzfrage der Kunst wird gestellt.

Die Berechtigungsfrage aus jenen Gedankengängen heraus.

Die Welle auf der schiefen Ebene hat die Mauer erreicht und platzt.

Von der einen Seite kommt eine Strömung, die sich wissenschaftlich nennt.

Sie wird eingeleitet durch eine gewisse allgemeine Stimmung.

Man weiß in bestimmten Kreisen mit dem Ästhetischen plötzlich nichts Rechtes mehr anzufangen.

Naturforscher einer ganz bestimmten Färbung, Techniker, Realpolitiker aller Art, echteste, auf beiden Beinen, wie sie glauben, unerschütterlich fest stehende Jahrhundertkinder, rufen nach Tatsachen, immer nur wieder Tatsachen. Tatsachen helfen, Tatsachen machen frei, gut, glücklich. Künstler aber geben keine Tatsachen in diesem Sinne. Ob die Kunst also nicht etwas ist, was sich auslebt, wie die Religion? Etwas Sanfteres, Ungefährlicheres, aber doch auch etwas Epigonenhaftes, Abblassendes, eine Kinderei und Jugendeselei der Menschheit?

Man konnte ab und zu sagen hören, daß der Mensch wirklich jetzt endlich und glücklicherweise aus den losen Kinderspieltagen und Phantasiezeiten heraus und in der Schule sei, wo es lesen, schreiben, rechnen und vor allem stille sitzen gelte.[S. 264] Wer auf die nützliche Schiefertafel dort, statt Rechenexempel zu schreiben, Männchen mit humoristischen Nasen malte, bekam Arrest.

So grob ist das allerdings nur vereinzelt ausgesprochen worden. Aber in der Zeitstimmung lag es.

Man las es zwischen den Zeilen, wohin man sah.

Und man wird die ganze Realperiode des neunzehnten Jahrhunderts nie verstehen, wenn man es da nicht mitliest.

Aus der Stimmung erwuchs dann ein Angriff.

Ein altes Aperçu Diderots sagte, die Narren, Lumpen und Genies kämen aus demselben Topf. Das wird eines Tages „naturwissenschaftliche“ Kunsttheorie. Es wird zum Urteil (im juristischen Sinne) über die Kunst.

Man hatte ja jetzt das Gesetzbuch dazu.

Jener famose Normalmensch gab die Grundlage.

Alle subjektiven Werte, die über ihn hinausfielen, waren Hallucinationen. Hallucination war aber etwas Delirisches, etwas Pathologisches.

Das ästhetische Schauen und Schaffen etwas Krankhaftes! Genie im ganzen, also auch Künstlergenie, eine Krankheit! Eine Spezialform des Wahnsinns!

Man behielt die Wahl, ob man den ästhetischen Menschen bloß als eine Spezies des Epileptikers auffassen wollte, oder ob man wenigstens eine besondere Irrsinnsgattung ihm zugestand.

Lombroso bevorzugte den Epileptiker, doch blieb das noch Problem.

Es war auch möglich, daß das Genie bloß eine Vererbungserscheinung im Alkoholismus war. Eine Erbsünde also vom Vater Noah. Der Zwist der „Forscher“ hierüber ist im neunzehnten Jahrhundert nicht beigelegt worden.

Einer dieser Irrenhaus-Ästhetiker betonte auch einmal, daß das Singen und besonders das Denken und Reden in Reimen ein spezifisches Symptom cerebraler Störungen sei; ich habe dabei immer an den armen Rückert denken müssen und wie gemeingefährlich dieser Patient ohne Zwangsjacke[S. 265] eigentlich gewesen ist, ohne daß seine leichtsinnige Umgebung es ahnte!

Gestützt wurde die Debatte mit einem Anekdotenkram ungefähr vom geistigen Niveau jenes treuen Schulpedanten, der auf die Frage, ob unter seinen Zöglingen auch einmal ein Dichter gewesen sei, antwortete: er habe wohl einmal ein solches Monstrum dabei gehabt, es sei aber wegen Faulheit zum Glück bald wieder aus der Klasse geflogen.

Dabei waren es äußerst ehrenwerte Männer, die diesen Weg gingen, ehrliche Sucher, die eine Versöhnung zwischen der Idee des Jahrhunderts und diesem widerspenstigen Dinge, Kunst genannt, ernstlich anzubahnen glaubten. Eine Versöhnung bloß durch die Guillotine.

Alles in allem war dieser theoretische Kreuzzug aber doch eine kleine Sache. So klein, daß man ihn eine Mode nennen könnte, obwohl auch er schon das ganze Jahrhundert in seiner Art in der Sackgasse hatte.

Ein Windstoß der echten, souveränen Kunst, und die Splitter stoben.

Diese Lombrosos waren keine Graalsritter. Sie waren nicht einmal edle Don Quixotes. Sie waren Hampelmännchen, Liliputchen, die den schlafenden Riesen zu fesseln meinten, indem sie an jedes Haar ein spinnwebedünnes Seil banden.

Nicht ihre Handlung gab den Ausschlag, sondern die des Riesen selbst.

Es war nämlich ein ungeheuerlich viel größeres Schauspiel, als eines Tages die Kunst selber sich ergriffen zu zeigen schien von den neuen Schätzungen, den neuen Werten.

Sie paktierte nicht mit den Lombrosos der Theorie — aber sie paktierte mit der Zeit, mit der Praxis, die auch diese Lombrosos trug.

Der Riese, dessen Befreiung von den lächerlichen Haarseilchen nur ein Ruck war, ein ärgerliches Kopfschütteln — er öffnete auf einmal selbst seine Jacke und bot sein Herz.

Die Kunst selber stellte sich Auge in Auge mit der „Wirklichkeit“ und allem, was daran hing.

[S. 266]

Und das jetzt wurde ein wirklich entscheidender Moment in der Entwickelung dieses Jahrhunderts selbst.

Die ausübende Kunst stand praktisch damals am Ende einer Krisis.

Es ist gar kein Zweifel, und ich finde, daß es auf alle Kulturländer im großen trifft: jenes langsame allgemeine Absinken der ästhetischen Epoche im neunzehnten Jahrhundert war Hand in Hand gegangen mit einem Wellental auch der unmittelbaren künstlerischen Kraft selbst.

So etwas ist schwer in Bausch und Bogen zu beweisen. Im Detail lassen sich hundert kräftige Sachen aus allen Kunstgebieten dagegen stellen. Aber es ist doch etwas daran wahr, das jeder sehen muß, der Höhenschau hat.

Vor der Kunstepoche, die überall, in der Malerei so gut wie in der Dichtung, die Epoche des Naturalismus heißt, liegt eine Einbiegung der Kurve, eine Epoche der Lähmung, des Tastens, des Zweifels, des bewußten teils und teils des unbewußten Epigonentums. Die Kraft versagt natürlich nicht ohne weiteres. Aber sie erscheint verzettelt, es fehlt die Frische des Entwickelungsbewußtseins, es fehlen all die lieben, grünen, aber triebkräftigen Symptome der Jugend.

In unserer deutschen Dichtung war es die Zeit, die, wie sie sagte, sich gedrückt fühlte durch Goethes Riesengestalt, die sich um Goethes Größe willen als Epigonenzeit fühlte — und die doch ebendadurch charakterisiert war, daß sie Goethe am wenigsten kannte und seine wahre „Nachfolge“ immer mehr zu vergessen schien.

Es war in vieler Hinsicht eine kunstvergeudete Zeit, und es bedeutete ein Aufatmen, als sie, dank einer neue Generation, aufhörte.

Aber nun grade kam das ganz Sonderbare.

Diese neue Generation, geschwellt von frischer Tatkraft, war gesäet und aufgesproßt schon mitten im neunzehnten Jahrhundert. Dieses Jahrhundert in seiner ganzen Glorie wuchs über ihr. Es hatte sie und es ließ sie nicht.

Und im Moment, da sie die nackten Prachtarme recken[S. 267] wollte, schmetterte es sie nieder mit seinem Generalworte: Wirklichkeit!

In ihrem ganzen Königsmantel stand die Zeit da.

Eine neue Zeit, mit Erfolgen, von denen der ganze uralte Palmbaum der Menschheit bis in seine Wurzel bebte.

Und das vor einer Kunst, die nach Neuem sich mit der Inbrunst erwachenden Frühlings, schleierloser Liebe sehnte.

Was tun?

Die Kunst hat Somnambulenaugen.

Sie sah nicht bloß schwirrende Räder, sie sah den Dingen ins Herz.

Sie sah die neue Weltanschauung.

In dieser Weltanschauung raste ein furchtbares seelenloses Grundwesen dahin, eine menschenfressende Maschine: die „Wirklichkeit“. Die einzelnen Menschen waren bloß noch Glasplättchen, die diese Maschinerie spiegelten, nichts weiter. Heute herausgestellt, daß sie blitzten; morgen zersplittert. Was war in diesem Schauspiele die Kunst?

In dieser jungen Künstlerschaft voll gährender Kraft war von Anfang an gewiß keine Stätte für Lombroserei. Man glaubte hier an die Größe der Kunst, wenn je. Groß war sie, wie der Mensch selbst. An der Spitze der Menschheit ging der schaffende Künstler, mit dem Banner dieser Menschheit in der Faust.

Aber wenn nun der Mensch, wenn die ganze Menschheit nichts andres war als ein bloßes Spiegelplättchen eines objektiven Mechanismus, ein Spiegelchen vor einer ungeheuren kollernden, keuchenden Maschine ... mochte die Kunst triumphieren im Menschen von Pol zu Pol seiner Existenz: mehr als der Mensch konnte sie doch nicht sein!

Und so sank auch der Genius der Kunst in dem Augenblicke, da er seine Flügel ganz herumwarf um diesen Menschen, ihn umfing, ihn durchdrang wie eine Geliebte im äußersten Besitz: so sank auch er herab zur Rolle bloß noch eines Spiegelchens vor diesem Allmechanismus.

In dieser Stunde und vor diesem Gedanken ist nicht die[S. 268] Lombroserei, sondern die wirkliche künstlerische Idee in echten Künstlerköpfen geboren worden, daß die Kunst sich zu erschöpfen habe in der einfachen Wiedergabe der Wirklichkeit.

Die Kunst ist degradiert worden zu einer Kopistin dieser „Wirklichkeit“.

Aus einem Schöpfer, einem Entwickelungsfaktor der Welt zu einem Spiegel.

Nicht liliputische Männlein wie Lombroso standen, wie gesagt, an der Wiege dieser Idee. Stolze Hochgeister der Kunst beugten sich in der brennenden Liebe zu ihrem Jahrhundert einem versteinernden Gorgonengedanken dieses Jahrhunderts.

In der tiefsinnigen griechischen Sage schwingt sich der Pegasus aus dem Blute der Gorgo. Diesmal versank er darin.

Es macht die Betrachtung dieser Dinge schwer, daß sich eben jene beiden Fäden ineinander verspannen: eine neu ansteigende, praktisch wieder junge und lebensstarke Kunst überhaupt — und eine falsche Kunstidee.

Jedesmal nämlich, wenn der Kunstgenius der Menschheit sich überhaupt besinnt, sich aufrafft, seine Kräfte zusammen nimmt — jedesmal dann erscheint das ganz von selber wie eine Rückkehr zur Wahrheit.

Die innere Logik des Kunstwerkes scheint verstärkt, die Suggestion wird unvergleichlich gewaltiger, ein Gefühl der objektiven Reinheit des Schaffenden als eines innerlich Gebundenen, auf die innere Wahrheit Verpflichteten strömt wie von einer reifen Blüte aus.

Schleier des Nachgeahmten fallen, äußere Motive, mit denen jede Epigonenzeit die Kunst überwuchert, dorren plötzlich als Unkraut ab. Und ein Gefühl der Kraft, des Kraftstrotzens gibt unter allen Umständen einen realistischen Zug, die Kunst tritt wieder jung als Eroberer auf und wagt sich mit dem kecken Mute dessen, dem die Welt verheißen, in neue Provinzen dieser Welt. So ist einst Goethe selber gekommen — als Wahrheitskünstler.

[S. 269]

Auch diese Symptome werden nun immer merkbarer in der Kunst des letzten Viertels des neunzehnten Jahrhunderts.

Von hier aus blühte ein „Naturalismus“ in ihr auf, der aber tatsächlich nichts anderes war als ein Zurückbesinnen der Kunst einfach auf sich selbst, auf ihre echtesten, urältesten Rechte, auf ihren inneren Wahrheitsgeist im Gegensatze zur Pseudokunst, die bildet um äußerlicher, kunstfremder Zwecke willen.

Einen Triumph der Kunstnatur möchte man in diesem Sinne hinter das Wort deuten.

Die gesamte Kunstgeschichte seit grauen Tagen wandelt empor auf solchen Triumphen, die immer und immer wieder den Erdenstaub durchbrechen und das unsterbliche Leben der Kunst neu proklamieren auf dem dürren Acker einer Epigonenzeit.

Aber das alles hatte ganz und gar nichts zu tun mit jener spezifischen Wirklichkeitstheorie des Jahrhunderts, die eben nur dieses Jahrhundert so aus sich gebären konnte.

Wohl läßt sich sagen, daß so heroische Irrtümer, wie diese Wirklichkeitslehre, selbst als Irrtum einer kraftlosen Epigonenzeit nicht gelungen wäre.

Es bedurfte selbst zur Grundlage dieses großen Irrtums einer großen Kunst.

Nur eine Kunst, die den Weg ins Herz großer Weltanschauungsfragen überhaupt wiederfand — und das ist immer Zeichen echter, ansteigender Kunst — konnte sich so tief verwickeln in eine Übertreibung, einen Irrgarten eben der modernen Weltanschauung hinein.

Aber darum bleibt Irrweg Irrweg.

..... Ich glaube nun aber, daß die Kunst auch hier grade die tiefste Mission erfüllt hat.

Gerade, indem die Kunst die brausende Welle dieser Wirklichkeitsidee eine Weile tief und scheinbar bis ins Herz hinein aufnahm, meine ich, daß sie uns die Augen hat öffnen helfen für die kolossale Übertreibung, die überhaupt in die ursprünglich so fruchtbare Idee der Wirklichkeit verheerend hineingeraten war.

[S. 270]

Und so hat sie sich doch als die alte stärkste Schutzmauer bewährt.

Hat sie —?

Ich weiß es nicht, inwiefern das schon hinter uns liegt.

Wir stehen, was diese höchsten Gesichtspunkte anbetrifft, ja noch mitten im Kampfe, und streng genommen kann man doch nur von Anzeichen reden.

Aber eine Anzahl Menschen fangen doch entschieden schon an, darüber nachzudenken, ob man nicht über eine Kunsttheorie, deren Schwächen man nur zu deutlich empfindet, eine Schicht tiefer zurückgehen müsse auf eine Revision gewisser Voraussetzungen in der Weltanschauung, die uns das neunzehnte Jahrhundert überliefert hat.

Eine Revision, die natürlich nicht wieder zu den Torheiten zurückführt, die dieses prachtvolle Jahrhundert glücklich antiquiert hat.

Sondern, die uns noch einmal wieder um ein Stück freier macht und dabei allerdings auch noch mit einigen Spezialgespenstern aufräumt, die dieses Jahrhundert selbst hinzugebracht hatte.

Befreien wir den Menschen wieder von diesem Wirklichkeits-Gespenst, das sein Herzblut saugt wie ein Vampyr — — und wir haben die Kunst mitbefreit.

Lernen wir aus den Kunst-Konsequenzen.

Und wir begreifen, daß in der Philosophie etwas falsch war.

* *
*

(Friedrichshagen. Fest des Geistes.)

Der Wald schimmert im blassen Sonnenglast nach einem Regenschauer.

Wie eine braune Schlange liegt der Bahndamm quer hindurch, vom Geleise glänzt es wie silberne Schuppen.

Die Telegraphendrähte vor den roten Kiefernstangen und schwarzen Kronsilhouetten wie glimmerndes goldrötliches Spinngewebe. Einmal ist es, als spinne dieses feine Netz sich an eine[S. 271] riesige Blume, eine Rispe weißer Maiglöckchen an, die auf hohem, trockenem Stengel lose schwebt: das Viereck mit den Porzellanhütchen.

Weißblau liegt der Himmel im Ausschnitt der Bäume.

In der Linie der Bahn aber, wie das Auge ihr folgt, ein wunderbares Aufflammen von Grün, junge Birken, Flamme um Flamme goldgrün lodernd vom spiegelnd weißen Schaft.

Ein goldener Vogel huscht scheu hinzu: der Pirol.

Und dieses jungfrische jubelnde Pfingstgrün fließt dem Blick überall weiter, in die grüngelbe Wolfsmilch und den Fleck grellgelber Potentillablüten am Bahndamm, in die Akazienbüsche, denen das erste Laub vor der Sonne wie ein goldiger Heiligenschein um die schwarze Dornenkrone der Zweige steht, in den tiefen Waldgrund unter den roten Stämmen, wo der hartgrüne starre Farnteppich sich verliert.

Naturstille.

Nur ein ganz leises Rollen noch, wie aus der feuchten Erde herauf von dem letzten enteilenden Zug. Hinten im Waldgeheimnis verschwehlt noch ein letzter bläulicher Nebel seiner Rauchwolke.

Ein fernes helles Läuten von der Wärterstelle, als klängen die Maiglöckchen da oben im Spinnennetz aneinander.

Und wieder ganz still.

Finken zirpen leise, einförmig aus dem Unbekannten der Kiefernkronen.

Und nun auf einmal, ganz unvermittelt, ein hartes, rohes Geräusch, mitten aus der Landschaft, als stürze ihr etwas ins Herz.

Ein Ratschen, Knacken, ein Ruck und Fall.

Vor dem Glast hat sich etwas bewegt wie ein Schattenfinger. An dem plumpen, rot-weiß getünchten Bahnsignal dort ist automatisch der Galgenbalken heruntergefallen. Eine geheime Zeichensprache eines automatischen Hampelmanns, an dem ein Schicksal hängt.

Pfingstwehen.

Wie ich auf die grünen Flammen dort schaue, die jetzt[S. 272] wieder in der großen Stille ein ganz verlorener Lufthauch geräuschlos wiegt, denke ich an das große alte Symbol der Pfingstgeschichte.

Aus der Urtiefe des Geheimnisses auf einmal der Geist vorbrechend, wild wie ein Feuer, das da ist, niemand weiß, woher, und uns verzehrt, ehe wir es fest erkennen.

Und in diesem Geist verjüngt sich eine Zeit, eine neue Menschheit wird mit ihm geboren.

Woher?

Aus dem Unbekannten in uns, aus dem „Werde“ des Entwickelungsrätsels, aus der Natura naturans, die weltengründend auch in uns weiterlebt, wie sie in Milchstraßen und Sonnen gewesen ist.

Und der größte Gegensatz taucht mir auf, der durch unsere Zeit geht: der Gegensatz des Automatischen und des Elementaren.

Das Automatische war die Stärke des neunzehnten Jahrhunderts.

Es ist sein Erbe in uns, sein Herrenerbe.

Wie diese Signalstange hier im einsamen Walde automatisch sich senkt, so sollte ein neuer automatischer Menschheitsleib als Technik den ganzen Planeten umspinnen. Schon geht der Zeigerdruck durch die Ozeane. In seinen realistischen Träumen sah das Jahrhundert auch solchen Metallarm sich bereits heben und senken auf den Eispolen, in den Erdtiefen, an den Grenzen des Luftmeeres.

Von der Technik kam das aber dann als Bild und Maß aller Dinge.

Ein Kind drückt auf den Knopf einer elektrischen Leitung, und ein Berg spaltet sich.

Aber, was ist das Kind selbst?

Nicht Ebenbild Gottes, sondern auch nur dieser Technik. Eine höhere Macht, das Milieu, hat auf einen Knopf gedrückt, und automatisch entstand dieses Kind. Es wird den Faust dichten und die sixtinische Madonna malen: automatischer Fall eines Balkens im Gehirn aus bestimmter Konstellation[S. 273] der Außendinge wie bei jenem Bahnsignal, nüchtern zu überschauender Außendinge, die wir wohl auch einmal rechnend beherrschen werden, — dann, wenn wir jenen Zeiger auf dem Nordpol haben ...

Schon sehen wir einen ungeheuren Regulator dieser Dinge: die Masse.

Ihr Werkzeug ist der Einzelne. Wo er nicht automatisch reagiert, da wird er als schlechter Apparat für funktionsunfähig erklärt; er ist krank.

Diese Masse aber ist selbst wieder Automat, fallender Balken einer umfassenderen automatischen Welt. Und so fort bis zum letzten Doppelstern des Alls.

Dieses All ist ein sich selbst tragendes automatisches System, unveränderlich, absolut tot, ohne Sinn für sich selbst.

In dieser einsamen starren Größe endet das Denken des neunzehnten Jahrhunderts.

Alles hier um mich her ist ein Automat.

Nicht jener häßlich ratschende Signalbalken bloß, der mich eben erschreckt hat.

Die grünen Pfingstflammen der jungen Birken dort ebenso.

Und die Sonne.

Und ich selbst.

Und all meine Träume von einer Pfingstlegende.

Aber das neunzehnte Jahrhundert hat uns nicht nur dieses Herrenerbe hinterlassen, das Erbe seines Herrengedankens.

Auch ein Sklavenerbe haben wir von ihm, das Aufbäumen des unterjochten Gedankens vom Elementaren in der Welt.

Ihm ist der Fortgang der Dinge ein immer neues Fest der Ausgießung des Geistes.

Pfingsten ist im Erwachen jeder Persönlichkeit, Pfingsten ist in jeder Geburt.

Und das nicht nur, wenn ein Mensch geboren wird. Auch wenn im Menschengeiste geboren wird. Wenn jenes tiefere Liebesleben sich abspielt, aus dem die Fauste und die Sixtinen steigen.

[S. 274]

Ohne die Flämmchen dieses Pfingstwunders entsteht kein Kunstwerk, entsteht kein tiefster Gedanke der Philosophie, entsteht keine Erfindung der Wissenschaft, erwächst keine geniale Tat des brandenden Lebens um uns her.

Dieser Pfingstgeist ist es, der die „Wirklichkeiten“ erst baut und der sie ebenso auch wieder zerschlägt, um höherer Wirklichkeit willen.

Er hängt einsam am Kreuz und er zwingt doch die Masse, daß sich dreitausend taufen lassen.

Er wandelt ein Zerschlagener durch eine Welt von Disharmonien und durch diese Welt rauscht fortan die neunte Symphonie.

Beide Anschauungen haben ihren Punkt, wo sie in ihr Gegenteil umschlagen könnten und beide Male in eine unvollkommene, schlechte Form dieses Gegenteils.

Das neunzehnte Jahrhundert war so stolz, daß es mit seinem Automatenideal alle groben Wunder unmöglich gemacht.

Und doch: wenn alles nun Automat ist, die ganze Welt nur eine Kette elektrischer Klingelanschlüsse ist, wenn es kein Elementarisches mehr in irgend einer menschlichen Person, in keinem Dichter, keinem Genius auf Erden mehr gibt — wird nicht doch am Ende der allerletzten Kette der eine letzte Finger nötig, der aus dem Urelementarischen auf den ersten Klingelknopf drückt — die eine einzige Urperson, der Alldichter?

Je automatischer alles sonst, desto greller dieses letzte Wunder.

Hinter der toten Welt ein einziges Lebendiges im elementaren Sinn.

Und um das doch schließlich zu erkaufen, — dafür dieses schaurige Ertöten der ganzen sichtbaren Welt in den fallenden Balken eines fühllosen Automaten hinein!

Umgekehrt hat der Pfingstglaube selbst aber seine Stelle, wo auch er erbarmungslos ins Automatische schlagen kann.

Wenn er nämlich das Wunder des Intuitiven, des Elementaren roh faßt, wie das „Wunder“ so lange gefaßt worden ist: dualistisch als Eingriff eines Fremden.

[S. 275]

Die Natur, die Entwickelung erzeugt dann auch nur, was eine fremde Macht in sie wirft. Der Dichter ist nur armer Stenograph des überirdischen Diktats, die Person nur Werkzeug eines außerweltlichen Milieus.

Da hast du nun Wunder auf Schritt und Tritt, es fingert allerorten und drückt mit Geisterhänden auf die elektrischen Knöpfe dieser Welt — und doch bist du nur selber eine armselige Klingel und seist du Goethe und Beethoven und Rafael.

War dort eine unendliche Automatenkette, so hier lauter Augenblicksautomaten.

Aber um das automatische Sklaventum kommst du nicht herum.

Es liegen aber zum Glück noch andere Möglichkeiten vor und auch welche, die nicht ins Alte zurückführen.

Wie stolz ist die automatische Vorstellung auf ihren Entwickelungsbegriff gewesen!

Er stand unberührt von jeder Möglichkeit, ins Veraltete umzulenken. Und wahrlich, so steht er auch.

Aber geheimnisvoller Traum, einer Pfingststunde angemessen: wie will der Entwickelungsbegriff, daß aus Einem etwas Anderes wird, daß ein Niedrigeres zu einem Höheren steigt, eigentlich logisch leben, ohne daß sein Königshaupt immer wieder gesalbt sei mit einem Tropfen elementarischen Oels?

In jedem dieser Uebergänge liegt ja ein elementarischer Geheimniszug!

Ich selbst fasse ihn gewiß nicht als den Finger der Mystik, der von außen stößt, aber das Wunder in den Dingen bleibt er auch mir unabänderlich, das Wunder, das auf eine Pfingsttiefe weist zwischen allem Automatischen — eben weil dieses Automatische zugleich eine Entwickelung in sich zeigt.

Durch die goldgrünen Flammenbüsche der Birkenkronen spielt und spielt leise der Wind, wie eine Hand durch schönes Frauenhaar fährt.

Auch um mich, wie ich hier sinne, zieht sich jenes Ödfeld des Automatischen her. Dort das Signal ist ganz darin.[S. 276] Aber auch diese grüne Birke und dieser goldene Vogel sind mehr darin als ich selbst, viel mehr. Wie gering ist der Geistesspielraum in dieser Pflanze, diesem Tier, den ich sehe!

Und die Sonne dort, die starr in ihren Himmelsgesetzen Jahrbillionen hängt!

Ist es nicht, als sei die Ausgießung des Geistes über diesen allen schon äonenlang vorbei?

Ihr Pfingsten lag, als das Gesetz sich in sie schrieb, das sie nun in unendliche Folge, sei es selbst oder zerspalten in Generationen, automatisch wiederholen ...

In mir aber wogt der große Kampf mit seinem wunderbaren Gemisch von reflektierendem Bewußtsein und intuitiv aufsprühenden Geniusflämmchen des Elementaren fort und fort.

In mir — dem Menschen!

Ist der Mensch das Genie der Natur, — die große Aufmerksamkeitsstelle im unendlichen Felde des Elementaren, auf der seit Jahrtausenden jetzt das ganze Licht liegt, während um dessentwillen rings die ganze übrige Natur in den halben Dornröschenschlaf des Automatischen verfallen ist?

Es kann der Mensch dieser Erde nicht allein sein, die Menschenstufe des ganzen Alls wird dazu gehören, wie immer es mit ihr sei. Bilden doch schließlich Sterne keine größeren Trennungen als in dieser irdischen Menschheit die parallelen Individuen.

Pfingstwunder!

So wäre es nichts anderes, als das wandernde Auge der Natur.

Pfingsten wäre Leben, der Automat aber zeitweise weise Kraftersparnis.

Die Welt ein Gewebe aus segensreichem, kraftspeicherndem Schlaf und konzentrierter, kraftverstürmender Lichtschau!

Ein Gespenst nur wäre der große Weltautomat, auf dessen letzten Knopf der Finger von außen drückte. Wertlos aber wäre ebenso der Glaube an das Wunder noch einmal hinter dem Wunder.

Die Natur hätte keine anderen Augen als unsere Menschenaugen[S. 277] — aber mit denen sähe sie auch wirklich, sähe nicht bloß durch sie durch. Und zu diesen Augen gehörte auch der Geist Goethes und Rafaels und Beethovens, der Geist der großen Religionsstifter und Weltdeuter, der Geist der Forscher, die unsere Technik geschaffen, und der Geist derer, die das Evangelium von der Liebe gepredigt haben und gelehrt haben, daß alle Technik nur einen Sinn habe, wenn sie in der Hand der Liebe und des Ideals sei, Liebe und die Sehnsucht nach dem Ideal zu säen, so weit der willige Automat des elektrischen Funkens für uns fliegt.

Wieder schnarrte das Signal da oben.

Ich aber dachte jetzt, wie dieser Metallstab wohl auch kein Ausgestoßener der Welt sei, sondern ein unveräußerliches Stück Natur.

War er heute auch nicht das Pfingstauge, in dem das elementare Lichtfeld zu den Sternen und zu der Weltliebe sah — wer weiß, wozu seine Metallmoleküle heute schliefen.

Vielleicht, wenn diese Gehirnmoleküle der Menschheit ausgerungen in Leid und Liebe, in dem großen, aber auch so furchtbar schweren Kampfe um das Ideal, wenn sie trüb geworden als Auge der Natur — wer wußte, wohin diese elementare Natur dann wandern würde mit ihrem Lichtfeld, ihrem Sehnsuchtsfeld, wo sie diesen Metallstab und die jubelnde grüne Flamme dieses Birkenbusches auferstehen lassen würde aus dem Automatischen ins Geisthelle hinein, damit sie in den Sternen läsen und um Liebe kämpften, wie einst wir — die wir dann vielleicht auf Äonen in irgendeiner stillen Versorgung des Automatischen ruhten, einem abermals neuen Rufe ins Aufmerksamkeitsfeld des Bewußtseins bereit.

Ob unsere Zeit den Frieden einer solchen Weltanschauung finden wird, den Frieden ihres Doppelerbes?

Aus den Kiefern tönte das leise Zirpen der Finken.

Diese Naturstille war vielleicht die Antwort.

Frieden ist nur im Automatischen.

Wir sollen kämpfen.

Und doch steht in den hellsten Idealen dieses Lichtfeldes[S. 278] der Natur, das wir Mensch nennen, auch schon die Menschenliebe.

Geht auch das Elementarische auf eine höhere Lösung?

Die Pfingstflammen glühen. Gehen wir. Wir werden sehen.

* *
*

 

Das eben macht die Geschichte des Menschen so großartig und so tief, daß sie eigentlich immer Pfingstgeschichte ist, konzentrierte Pfingstgeschichte.

Der Zeitraum ist auch mit allen Ziffern des Naturforschers für sie so kurz, und gleichzeitig ist so unglaublich viel Neues in ihr getan, daß gar kein Spielraum für das Erstarrende, das schon wieder Automatische zu bleiben scheint. Von einem Pfingstwunder scheint es zum andern zu gehen. Die Natur schaltet mit einer Kraft plötzlich, daß sie uns wie ein ganz anderes Wesen vorkommt.

Daher so lange der zähe Glaube: es hebe mit dem Menschen ein ganz anderes Buch an, das Buch Gottes im Gegensatz zum Buche der Natur.

Aber das ist ja jetzt für uns grade das ganz Große, daß wir das Göttliche auch in Ichthyosauriern und Planeten und Sonnen sehen und dafür das Natürliche auch im Menschen.

Nirgendwo empfinde ich das deutlicher, als wenn ich von neuen Fortschritten der „Urgeschichte“ lese, jenes Grenzgebiets, wo die sogenannte „Geschichte“ sich gegen die Naturgeschichte, die Erdgeschichte hin auflöst.

Früher herrschte auf diesen Rand zu immer ein leises Gruseln. Der Atem Gottes stockte auf einmal und drüben in der Finsternis lauerten die Fratzen der entgeistigten Natur. Heute ist eine Wanderung dort hinab wie ein Schritt in eine heiße Sommernacht, es duftet von verborgenen Blumen und durch das Dunkel ziehen leuchtende Punkte wie Johanniskäfer. Aber es sind heilige Flämmchen: lauter Pfingstflämmchen; es wird einmal wieder Pfingsten, denn der Mensch kommt.

[S. 279]

Eben grade ist ein solches Flämmchen wieder besonders hell aufgeglüht. Aus tiefem Schacht glimmt es zu uns. Es meldete von einer Pfingststunde, selbst noch wieder fast ohne gleichen in der Reihe der Pfingstwunder des Menschengeistes, — vom Pfingsten der Kunst. Da die Kunst niederstieg auf diesen rollenden Planeten, niederstieg nicht als das Wunder einer unfaßbaren Überwelt, das als Sternschnuppe in den Sumpf der Natur fiel; sondern als eine Tat der Natur, die ihr gelang, weil ihr endlich der Mensch gelungen war.

— — —

Auf dem kleinen Delikateßteller vor mir liegt eine Trüffel, zierlich und rund. Sie duftet nach allen guten Sachen und dem Feinschmecker geht das Herz auf.

Wenn Du aber nicht bloß ein Esser, sondern auch ein Kenner bist, so weißt Du, daß dieser schwarze Diamant unter den Edelsteinen der Tafel einen kleinen Roman hinter sich hat.

In fernem Lande grünte ein Eichenhain. Mit dem feinsten Wurzelgeflecht einer solchen Eiche verspann sich tief im Erdboden ein Schimmelpilz zu geheimnisvoller Gütergemeinschaft, von der heute noch nicht völlig klar ist, ob sie mehr auf gegenseitiger Liebe oder auf einseitigem Schmarotzertum beruht. Aus dem wohlgespeisten Pilzaderwerk aber erwuchs ein großer fleischiger Fruchtkörper, mit Sporen gefüllt. Sein Duft schwoll durch die Erde, daß die Schweine, die ihn verehrten, danach scharrten. Da die Sporen solcher Pilze durchweg nicht bei der Verdauung leiden, ist das Gefressenwerden für sie kein Schaden, es hilft nur zur Weiterverbreitung. Vielleicht ist der Duft, der das Schwein froh macht, ein wirkliches Lockmittel, wie die rote Kirsche mit ihrer leuchtenden Farbe zum Naschen und Weitertragen ihrer Kerne lockt. Der Mensch aber, der unleugbar in Gebiß und Geschmack mehrere Ähnlichkeiten mit dem Tierlein des heiligen Antonius verrät, nahm dem ehrlichen Finder seinen Fund ab, und versandte ihn für die Tafeln seiner schlemmenden Mitbrüder in aller Herren Ländern.

Das Land, wo der Erdenschoß solche Schätze einer[S. 280] Schweineschnauze beut, ist die alte Grafschaft Périgord im heutigen Departement Dordogne im südwestlichen Frankreich.

Gering wäre ihr Ruhm in der Welt, wäre die Trüffel nicht. Mit der Périgord-Trüffel geht er um die Erde, wie der Klang des Namens Teltow mit seinen Rübchen oder Frankfurt mit seinen Würstchen. Gegen solchen Ruhm aus dem Kochbuch ist schwer mit anderen Werten anzukämpfen, wie denn ganz gewiß schon manche naive Seele von Frankfurter Würstchen gehört hat, nicht aber von dem Frankfurter Goethe.

Der Trüffel-Kenner aber soll doch als wirklich feiner Kenner, der auch seinen Goethe zu schätzen weiß, über seine Tafelfreude hinweg heute sich erinnern an die wahrhaftig wunderbaren Schätze, die diese gute Landschaft Périgord in ihrem Boden birgt, — Schätze, die zum oberen Geistesstockwerk der Menschheit gehören, dort, wo eben dieser Goethe auch hingehört, und die an Geisteswert für unser edelstes Menschentum doch noch etwas wertvoller sind als die dreißig Millionen, die unsere welschen Nachbarn alljährlich am Trüffel-Handel verdienen.

Zum Fluß Dordogne geht als Seitenader die Vezère, selbst wieder gespeist von kleineren Wässerlein.

Dieses Vezère-Netz bildet liebliche Täler im Kalkfels. In diesem Fels seiner Talwände aber liegen Höhlen. In diesen Höhlen haben in entlegenen Tagen, jenseits aller unmittelbaren geschichtlichen Überlieferung, Menschen gehaust.

Ob diese Menschen schon Trüffeln gesucht, wissen wir nicht. Was wir aber wissen, ist, daß sie die höchste und freieste Tätigkeit werdenden Edel-Menschentums schon gesucht und gefunden haben: Kunst.

Kunst — in Tagen, da noch das Mammut ein Charaktertier der französischen wie der deutschen Landschaft war!

Lange schon ist von den Tierbildern die Rede gewesen, die, eingeritzt in Rentierhorn und Mammutelfenbein, in diesen Périgord-Höhlen entdeckt sein sollten. Heute kommt die fest bestätigte Kunde von Funden, die alles Kühnste in Schatten stellen.

[S. 281]

Höhlen sind erschlossen, eng wie ein Flaschenhals, aber auf ihren Wänden bedeckt mit einer ganzen Gemäldegallerie der wundervollsten Tierbilder, zum teil in Meter- bis Zweimeter-Größe, zum teil in Farben, — prähistorischen Tierbildern von prähistorischer Künstlerhand.

Das Mammut ist dabei.

Was keine Denkmalstradition der großen alten Kulturen, mit denen unsere „Geschichte“ anhebt, mehr erreichte, das haben wir nun endlich ganz sicher, mit einer Fülle der Details, die niemand je erwarten konnte.

Es ist ja eine Kenntnis, in die sich das 19. Jahrhundert erst ganz langsam überhaupt eingewöhnt hat: daß uns Tiere noch innerhalb der Zeit des Menschen verloren gegangen seien; und daß dieser Mensch selber uns gelegentlich durch Kunstmittel noch etwas davon gerettet haben könnte.

Als es allmählich eine Tatsache von betrüblicher Unwiderleglichkeit wurde, daß der große seltsame taubenähnliche Vogel Dronte, den die Expedition des Vasco da Gama 1497 auf der Insel Mauritius in ungeheuren Scharen entdeckt hatte, in der Zwischenzeit bis auf den letzten Kopf wieder ausgerottet sei, ohne daß man auch nur ein Museumsexemplar für die Naturgeschichte übrig habe, — da fing man an, alte Gemälde zu durchsuchen, auf denen die holländischen Zeitgenossen allerlei Getier abkonterfeit. Und richtig: auf alten „Paradiesen“ des 17. Jahrhunderts stand bei anderm Geflügel auch die Dronte noch, in jedem Federchen treu kopiert mit dem ganzen Realismus der Niederländer und ihrer Liebe grade für groteske Gesellen.

Als es desgleichen offenbar wurde, daß wir den Auerochsen falsch getauft hatten und daß auf diesen Namen in Wahrheit ein gewaltiges deutsches Tier, der echte Ur, stillschweigend irgendwo um das sechzehnte Jahrhundert herum verschollen sein müsse, — da kam abermals hier ein alter Holzschnitt, dort ein mit „Tur“ gezeichnetes altes Ölgemälde zu Ehren, die den Verlorenen wenigstens noch mit seinem[S. 282] schwarzen Fell und seinen flach ausgezogenen Riesenhörnern für unsere Phantasie retteten.

Das Tierbuch des trefflichen Gesner hat uns den deutschen schwarzen Mauer-Ibis bewahrt, den Waldrapp, der einst unsere Ruinen umflog.

Für unsere Enkel wird es not tun, daß wir unsere Bilder des südafrikanischen Quagga-Pferdes, unsere Photographien der letzten Bisons und der letzten Riesenschildkröten an einem recht sicheren Ort niederlegen, denn lebend werden sie diese Morituri, diese Zusammenbrechenden, auch nicht mehr zu sehen bekommen.

Die Frage war nur, wie weit man mit solchen zoologisch-historischen Streifzügen auch in die ältere und älteste Kunst zurückgehen könne.

Sachlich wurde ja der Boden dort immer interessanter. Je weiter in die graue Vergangenheit, desto mehr Wahrscheinlichkeit, daß der Künstler von damals noch von zoologischen Pracht- und Schaustücken wußte, die uns längst nicht mehr zu Gebote standen.

Und an wunderlichen, höchst fremdartigen Tierformen war in der Tat in der älteren Kunst immer weniger Mangel, — nur fingen sie alsbald an, etwas zu wunderlich zu werden. Da kamen die Sphinxe und Greife und Chimären, die Einhörner und Basiliske, die Drachen und Midgardschlangen. Sollte man zu alledem wirkliche Urbilder suchen?

Wir haben aus ganz neuester Zeit wohl ein hübsches Beispiel, wie vorsichtig man im Ablehnen auch hier sein muß. In Afrika wurde da das merkwürdigste neue Säugetier der letzten Jahrzehnte entdeckt: das Okapi, ein großes Huftier, äußerlich einer Antilope ähnlich, an den Beinen schön schwarzweiß gestreift wie ein Zebra, im Knochenbau aber das Allerunerwartetste: nämlich ein Verwandter zu der bisher völlig im System vereinsamten Giraffe und zwar ein noch lebender Sproß eines giraffen-ähnlichen Geschlechts, das in der Tertiär-Zeit bei uns in Griechenland existiert hatte und aus Knochenfunden von dort längst bekannt war. Nun denn: dieses[S. 283] Okapi, das uns nächstens hoffentlich unsere zoologischen Gärten vorführen werden (ich gönnte unserm so verdienstvollen Berliner Direktor Heck wohl die Priorität dabei!), haben die alten Ägypter schon auf ihren Denkmälern völlig kenntlich dargestellt, — natürlich wußte bis vor kurzem kein Forscher diese „Hieroglyphe“ zu deuten, da wir ja selber das Tier nicht hatten.

Aber in der großen Masse der Fälle haben wir es gleichwohl mit dem „Phantasie-Tier“ zu tun.

Im Drachen steckt nicht der Ichthyosaurus, mit dem der Mensch nie zusammen gelebt hat, nie hat ein Reptil Feuer gespieen oder ein Pferd Flügel gehabt.

Auch in das Tierbild hat jene tiefe Kraft des Menschen hineingearbeitet, die im Grunde so rätselvoll ist und doch so urwüchsig aus ihm hervorbricht, als stecke seine halbe Seele darin: die Kraft, die Dinge nicht nur zu sehen und wiederzugeben, sondern sie sofort auch zu stilisieren, umzudenken, in eigener Andersform neu zu schaffen.

Er ist ein Schöpfer, der Mensch, nicht bloß ein Spiegel. Er hat das Tier gesehen, dieser Mensch. Es hat ihn gelockt, es wiederzugeben. Aber wenn er es auf der Tafel hatte, hat ihn jene andere Seite seiner Seele nicht ruhen lassen: er hat schöpferisch daran herumzuarbeiten versucht.

Wenn der Stier nun Flügel hätte wie der Adler? Wenn er so noch hübscher aussähe?

Und wenn die Federn dieser Flügel, die schon beim Vogel einen so guten Anlauf zum Rhythmischen nehmen (ist doch die Natur allerorten schon voll solcher Anläufe, als habe jene Menschengeisteskraft längst irgendwo in einem unteren Stockwerk geheimnisvoll in ihr gewaltet!) — wenn diese Federn nun ganz zu Ornamenten würden, in Spiralen ausliefen, vollkommen sich in stilisiert „Schönes“ als Kunstform verwandelten?

Eine ungeheure Linie setzt hier ein, die vom ältesten Babylon, von China und von Mexiko, aus allen noch so getrennten Kulturen und Kunstanfängen heraufsteigt bis auf den[S. 284] ersten Holzschnitt des Rhinozeros von Albrecht Dürer, auf dem das ganze Dickhäuterfell dieses Tierriesen mit all’ seinen Wülsten, Falten und Höckern in lauter elegante Ornamente hinein stilisiert ist, daß es eine wahre Freude ist — oder bis auf die köstlichen Schweine und Maikäfer unseres lieben Wilhelm Busch, in denen ebenso der ganze Kodex der Zoologie und Anatomie Fühler für Fühler und Schwänzchen für Schwänzchen in die Kunstform des humoristischen Ornaments umgedichtet ist.

In dem schönen Buche, das Schliemann über Mykenä herausgegeben hat, kann man diese Umstilisierung des Zoologischen in recht alten Tagen aufs Prächtigste noch bei der Arbeit sehen.

Da findet sich auf einem der runden Goldblätter aus dem dritten jener mykenischen Königsgräber wunderhübsch herausgearbeitet ein Oktopus, ein Tintenfisch.

Wir wissen aus Homers unsterblicher Schilderung vom schiffbrüchigen Dulder Odysseus, den die Welle gleich dem zäh angeklammerten Meerpolypen von dem rettenden Fels reißt, wie genau die alten Griechen dieses sonderbare Tier mit dem sackförmigen Leib und den Klammerbeinen oben am Kopf beobachtet hatten. Kannte doch Aristoteles sogar schon die märchenhaften Liebesspiele und Liebesmethoden der Tintenfische, die erst im 19. Jahrhundert wiederentdeckt worden sind.

Nun ist unverkennbar in solchem Polypen mit seinen acht Greifern eine gewisse rhythmische Kunstgestalt roh gegeben, eine dicke Wurzel gleichsam und acht gekrümmte Ranken. Aber unser alter Griechengoldschmied, Agamemnons Hoflieferant, um Schliemanns Redeweise nachzusprechen, — er hatte darin erst den Naturansatz zu dem, was seine Phantasie nun hineinharmonisierte. Ihm wird die Rübe das Herz eines wunderschönen Ornaments, von dem aus sich in rhythmisch reinster Steigerung acht eleganteste Spiralen in die Goldplatte hineinrollen, jede oben stolz eingekrümmt wie ein Bischofsstab. Der Tintenfisch, im Typus noch auf den ersten Blick erkennbar, ist doch ein Kunst-Mollusk, ein Mischwesen aus nachahmender[S. 285] Zoologie und selbstherrlich schaffender Schönheitsschau geworden.

Ganz das Gleiche ist auf einem zweiten Blatt einem Schmetterling widerfahren, der mit Kopf und Augen und Fühlern, mit der Zeichnung und dem Geäder seiner Flügel und selbst den Schnitten seines Kerbtierleibes ein ganzes Gewebe stilvoller Arabesken geworden ist.

Dabei befindet man sich an und für sich grade in diesem Buche noch auf einem Boden, wo zoologisch Wichtiges direkt in jenem andern Sinne auch zu lernen ist: in dramatisch belebten Bildern sehen wir diese Mykenä-Helden im Kampfe mit dem Löwen und wir erinnern uns plötzlich, daß wir ja hier in der Zeit sind, wo der Löwe wirklich noch in Europa, in Griechenland, vorkam, was heute wie ein verschollenes Märchen klingt.

Aber dieser Löwe selbst floß bereits gelegentlich ins Ornament, sein Schwanz bekommt Stil auf den Bildern wie ein Schweinequästlein Buschs. Und dann faßte die Kunst herrisch und herrischer zu.

Aus dem Polypen, an dessen Armen die beißenden Schröpfköpfe sitzen, aus dem Polypen, der unter Umständen als Koloß auftrat und dann ein furchtbarer Gegner wurde, hat sich aller Wahrscheinlichkeit nach zuerst zeichnerisch und dann rednerisch, in Sage und Epos, die lernäische Hydra mit den vielen Köpfen und ihre mythische Verwandte, die Scylla, entwickelt.

Bis in unsere bekanntesten antiken Statuen hinein läßt sich gelegentlich die Überwindung der Zoologie durch die Ästhetik verfolgen. Unvergeßlich ist mir der Ausspruch eines Zoologen vor dem vatikanischen Laokoon in Rom: „Das sind ja keine echten Schlangen, sondern fett gefütterte Regenwürmer!“ Seit wir die Schlangenmenschen des herrlichen Pergamenischen Altars in Berlin haben, wissen wir, was für realistisch treue, zoologisch geradezu packend echte Schlangenleiber und Schlangenköpfe die griechische Kunst hat liefern können, wenn sie wollte. Aber gerade diese Laokoon-Gruppe, die in jedem Zuge sich schon als raffiniertere, abgeglättetere, im abstrakten Sinne vergeistigtere Kunstarbeit darstellt, hat auch[S. 286] ihre Schlangen schon sehr viel weiter ins abstrakt Ornamentale hinein verzaubert: es sind zwar keineswegs Regenwürmer, denn das wäre ja nur wieder ein anderer zoologischer Schachzug, aber sie sind aus echten Schlangen vom Reptilstamm gleichsam zu nackten Symbolen bloß der schreckhaften Schnürkraft, zu elastischen Strangulierungs-Ornamenten geworden.

Erst in den neunziger Jahren des Jahrhunderts haben wir durch das Verdienst eines deutschen Reisenden und Ethnographen eine wahre Ur-Schmiede solcher Tier-Verästhetisierung kennen gelernt, die diesmal nicht aus altem Ruinenschutt gegraben zu werden brauchte, sondern heute noch bunt und lustig uns vor Augen steht, — allerdings in einem so versteckten Winkel der Erde, daß man wohl von einer Art lebendigen Fossils der Menschheitsentwickelung dabei reden darf.

Karl von den Steinen hat uns unübertrefflich in Wort und Bild das Leben der südamerikanischen Indianer am Schingû-Flusse geschildert.

Nackte Wilde, die noch keine Metallwaffen kannten, als die Europäer sie in ihrer Weltverlorenheit auffanden, also in gewissem Sinne heute noch lebende, echte Steinzeit-Menschen, — und dabei doch ein Kunstvolk ersten Ranges, das keinen leeren Fleck um sich leiden mochte, es habe denn ein Ornament darauf gesetzt.

Das Kanu-Boot und sein Ruder, die Trinkschale und die Kalabasse aus Kürbis, der Spinnwirtel aus Schildkrötenpanzer und der tönerne Topf, die Hauswand und der eigene Leib — alles muß in Kunstformen hinein, muß strotzen von Mustern, über die das Auge mit Wohlgefälligkeit läuft.

Fröhliche Völker sind es, mit behaglichen Sitten, ohne groteske und schaurige Formen der Barbarei, in einem gemäßigten Lebenskampfe, der Zeit läßt, an die Lustigkeit des Daseins und seine Verzierung zu denken.

Bei diesen Bakairi und Verwandten nun fand ihr Erforscher einen tiefbezeichnenden Zug, wert in jede Kunstgeschichte an hervorragender Stelle fortan aufgenommen zu werden gleichsam als eine Stimme aus dem „Paradiese“.

[S. 287]

Die Leute waren zunächst ganz nette Realkünstler, was Wiedergabe von Wirklichkeitsobjekten anbetraf, und zwar waren es in allererster Linie Tiere, die sie abbildeten.

Ganz reinlich zeichneten sie einen Fisch im Umriß in den Sand. Saß der fremde Gast mit ihnen abends beim Mondschein am Boden, so malten sie ihm mit unverwüstlichem Eifer Jagdtiere und Jagdszenen aus dem Stegreif im Sande vor. Sie begnügten sich nicht, „die Umrisse zu zeichnen, sondern sie schaufelten mit der Hand den Sand aus dem Umriß des darzustellenden Tieres der Fläche nach weg und füllten diese Vertiefung von der Gestalt z. B. eines Jaguars oder Tapirs mit grauweißlicher Asche aus: so erhielten sie den Körper mit seinen Extremitäten als ein weißlich schimmerndes Gemälde. Mit dunklem Sande wurden das Auge und die Fleckenzeichnung der Haut eingetragen. Da die Figuren mindestens Lebensgröße hatten, machten sie in dem Zwielicht der Nacht einen überraschend lebendigen Eindruck; es sah aus, als wenn riesige, schimmernde und flimmernde Felle über den Boden ausgebreitet wären“.

Mit dem fremden Kulturbleistift zeichneten sie dem deutschen Professor sein und seiner Leute eigenes Porträt in sein Notizbuch, spaßig, wie der kleine Moritz bei Oberländer in Strichmanier karikiert, aber doch auch packend charakterisiert.

Ganz auf der Höhe aber war ihre Kunst im plastischen Modellieren. Wie sie einen Topf formten in Gestalt einer vom Bauche her gehöhlten Schildkröte, Eidechse oder Kröte, das war bewundernswert selbst vom verfeinerten Kulturboden aus. Es war ausschließlich Frauenarbeit, diese Topfkunst. Wie zierlich zugleich und echt hatte aber solche Frau das Köpfchen, das Schwänzchen und die eingebogenen Vorderpätschchen der Schildkröte herausgebracht, wie humoristisch treu die breite Schnauze der Kröte, wie elegant hatte sie auf die Rückenwölbung des Schildkrötentopfs die Panzerplatten mit ihrer natürlichen Schildpattzeichnung eingeritzt!

Schon an diesen Töpfen nun nötigte die Anpassung an die Gebrauchsform zu einem Anfang von Stilisierung, der[S. 288] denn auch wohl zu merken ist: geht die Schildkröte, geht das Gürteltier noch fast rein mit seiner Naturform in der Topfgestalt auf — man könnte ja aus ihren gewölbten Hohlschalen unmittelbar einen Topf machen, wenn’s not täte — so muß das Waldhuhn, muß die Eule und Fledermaus doch schon abgerundet, muß topfhaft stilisiert werden.

Prächtig, wie auch das gemacht wird, wie die Flügel der Fledermaus zu einfachen Ornamentlamellen am Topfrande, abgerundeten Griffen umgedacht werden, bis das Ganze die Tierform überhaupt fast verläßt und aus dem Fledermaus-Topf ein einfacher Kunstnapf mit einem rhythmischen Ornamentenflügel-Kränzlein wird.

Und da denn gibt sich die Brücke zu etwas, was in der Malerei und Schnitzerei dieser Naturvölker am verblüffendsten wirkt, aber zugleich am lehrreichsten ist.

Als Fries über die Wand oder sonst über jeden verfügbaren Fleck werden Ornamente hingezogen, die zunächst rein ästhetisch-mathematisch ausschauen: dunkle Würfel mit weißen wechselnd, rhombische Felder in graziöser Folge, Dreiecke sich aneinander schließend, ganz wie auf unsern Teppichmustern, Parkettböden, Mosaiken und so weiter.

Befragt aber, hat der Schingû-Indianer auch für diese echtesten Ornamente noch realistische Namen.

Dieses Rautenfeld ist dem Namen nach ein Zug ganz bestimmter eckiger Fische, der Fischname bezeichnet auch das Ornament. Diese Doppeldreiecke sind dem Worte nach eigentlich Fledermäuse, jetzt fliegende, in anderer Stellung hängende. Diese dunklen Quadrate im weißen Grund sind junge Bienen. Diese einfachen Dreiecke schwarz auf weiß sind zierliche dreieckige Schamschürzchen der Frauen, das einzige, winzige Bekleidungsstück dieser glücklichen Naturkinder jenseits von Korsett, Hose und Schuh.

Das heißt: sie sind es noch im Namen, in der Tradition. Es ist genau so, wie wenn wir ein bestimmtes Wellenornament als Schlangenlinie bezeichnen. Die Leute haben ursprünglich Fische, Fledermäuse zu allerlei Gebrauch, als Jagdzeichen, als[S. 289] eine Art Bildersprache zur Verständigung, in einfachem Nachahmungstrieb, Reproduktionstrieb dessen, wovon die Seele voll war, aufgezeichnet, — notabene sie konnten es, worin eben schon die eine ganze Wurzel ihrer künstlerischen Menschheitsgabe steckte! Dann haben sie aber an diesen Bildern stilisiert.

Der zweite Sinn, der Sinn für rhythmisch bequeme, glatte Formen mischte sich ein, mischte sich schon in die erste Wiedergabe zweifellos mit: das mathematisch Einfachste, über das der Blick am widerstandslosesten, mit kleinstem Kraftmaß, lief, wurde bevorzugt, das Rhombische des Fischs, das Dreieckige der Fledermaus. Das wurde dann selbstschaffend ausgestaltet, in Wiederholungen aneinandergereiht, die Wiederholungen gaben wieder neue Wohlgefälligkeiten, ästhetische Bequemlichkeiten und das Ornament war fertig.

Schließlich ging das Tier als Grundform unter bis zur Unkenntlichkeit und nur der Name bezeichnete noch, daß es historisch einmal im Ornament gewesen war.

Unendlich weit lassen sich die rein ästhetischen Gedanken ausspinnen vor dieser Bakairi-Kunst.

Schauen wir doch vor diesem Doppelspiel von wirklicher Tierwiedergabe und ornamentaler Stilisierung nicht bloß in das Wurzelwerk eines kleinen Kunstsprößlings: wir blicken in die Wiege überhaupt der Kunst und aus dieser Wiege schon sehen uns zwei verschiedene Augen an.

Das eine ist das ur-realistische Auge, das Wirklichkeit zu fassen und nachzuahmen sucht, — das andere das ur-idealistische, das diese Wirklichkeit umzuschauen, umzuregeln sucht in harmonische Folgen, in einen wohlgefälligen Rhythmus hinein.

Und beide Arten künstlerischen Wollens sehen wir bereits bei diesen nackten Wilden mit ihrer Steinzeit-Kultur in Kraft, — bloß, daß die erstere, die realistische, insofern eine gewisse Priorität wahrt, als sie dem zweiten, dem idealistisch stilisierenden Sinne, das Material geliefert hat, an dem er seine idealistischen Besserungen erproben konnte.

Wie eine uralte Weisheitsstimme, der keine grüne Klügellogik[S. 290] gewachsen ist, klingt diese Bakairi-Ästhetik bis in unsern hellsten ästhetischen Kampfestag hinein.

Wer denkt nicht an unsern heftigen Hader um den Realismus in der Kunst, in der dichtenden wie der malenden und steinbildenden!

Wie naiv ist der Gegensatz von nackter Wahrheitswiedergabe und idealistischem Stilisieren, Rhythmisieren da als ein „Entweder — Oder“ auf Biegen und Brechen ausgespielt worden, als gelte fortan nur noch ein unbedingtes Gefressenwerden des einen Prinzips durch das andere, — während die kleinste und unscheinbarste dieser Fledermäuse oder das schlichteste Frauenschürzchen dieser Bakairi-Kunst uns doch schon die ewige Lehre in Fleisch und Blut pauken kann, daß nur beide Richtungen vereint die wahre Kunst ergeben.

Jene Kunst, die des Menschen würdig ist, der seine ganze Höhenkraft als König eines Planeten unabänderlich ebenso auch sonst nur der Doppelfähigkeit verdankt: einmal die gegebenen Wirklichkeiten dieses Planeten zu erkennen und zu beherrschen bis ins kleinste Kraftwellchen hinein — und dann sie zu wandeln nach seinem Idealbilde, sie zu vergeistigen, wie ein Denkender sein Antlitz vergeistigt, sie zu etwas emporzuführen, was in der äußeren Wirklichkeit um ihn her noch gar nicht sein kann, also von dort auch nicht abgelesen werden kann, weil ja eben der höchste zeitlich gegebene Entwickelungssproß der Natur nichts anderes ist, als sein „Inneres“ selbst, sein idealbildender, neuen und umfassenderen Harmonieen zustrebender Menschengeist selbst....

Erst aus dem unendlich verwickelten und doch stets logisch notwendigen Hin- und Wiederweben ihres roten realistischen und ihres blauen idealistischen Fadens entsteht das wunderbare Gewebe der Geschichte der Kunst, wie wir es in den Kulturjahrtausenden hinter uns sich breiten sehen.

Der Verlauf wird aber noch versponnener und feiner dadurch, daß die Wirklichkeitsteile des Ästhetischen unablässig auch gebraucht werden in jenem riesigen Gesamtgewebe zunehmender menschlicher Weltbeherrschung.

[S. 291]

So reklamiert auf einer gewissen Höhe die strenge Wissenschaft als realistischer Teil der technischen Welteroberung und Weltverbesserung gerade das Tierbild wieder in seiner möglichst reinen Urform als Reproduktion der Wirklichkeit für ihre streng zoologischen Zwecke. Wir erleben die Mützel und Specht und Leutemann, wie sie wissenschaftliche „Tierleben“ illustrieren, und zuletzt muß gar die Momentphotographie heran, um ganz unverfälschte Wirklichkeitsbilder (vorläufig gelingt es ja durchaus noch nicht „ganz“!) zu ermöglichen.

Das führt aber von dem Streifblick in die theoretisch-ästhetische Seite wieder genau auf unser eigentliches Problem selbst zurück.

Es kann heute keinem Zweifel mehr unterliegen: gesehen hat dieser Mensch, in dem also nach der einen Seite schon als nacktem Steinzeit-Wilden eine realistische Kraft der reinen Naturwiedergabe steckte, noch eine ganz andere Sorte verschollener Tierwelt als jene immer doch relativ junge der Dronten und mykenischen Löwen.

Denn das wissen wir jetzt endlich mit voller Sicherheit: der Mensch in einem Kulturzustand, der sich immer noch mit dem jener Bakairi-Indianer oder auch der heutigen Eskimo vergleichen läßt, ist alt, uralt, märchenhaft alt.

Der Polarpunkt unseres Nordhimmels, in dem heute der Stern des kleinen Bären leuchtet, ist so und so oft infolge der Achsenverschiebung der Erde auf die Wanderschaft gegangen, hat sich die Wega und andere schöne Sterne als Richtlampe erkoren und ist endlich wieder beim alten Fleck angelangt, — und immer war der Mensch schon da. Zeiträume aber, in denen himmlische Achsenpunkte derartige Sternexkursionen machen können, müssen auch ganz gewaltige Wandlungen und Verschiebungen der Tierwelt bedingen, in die wir denn also auch mit diesem Menschen hineingeraten, sobald wir uns bloß resolut sagen, daß die paar tausend Jahre unmittelbarer Schriftüberlieferung, die wir haben, völlig zurücktreten gegen das Gesamtdasein eines mehr oder minder schon überhaupt „etwas“ kultivierten Menschen auf dem Erdplaneten. Fallen doch selbst[S. 292] die ältesten jener babylonischen oder ägyptischen Unmittelbar-Überlieferungen nur in einen kleinen Bruchteil einer einzigen letzten astronomischen Revolution jener Art!

Noch vor zehn Jahren konnte man sagen, daß mindestens Streit darüber bestehe, ob Mensch und Mammut sich lebendig begegnet seien.

Autoritäten wie Virchow und Steenstrup waren dagegen. Eine Fundstelle wie die von Predmost in Mähren, wo die von Menschenhand unzweideutig bearbeiteten, um die Reste menschlicher Kohlenfeuer gelagerte Mammutknochen nach tausenden zählten, wurde als Eisfleisch-Station gedeutet, auf der prähistorische Hungerleider vieltausendjährige gefrorene Eiskadaver von Mammuten herausgehackt und mit dem Appetit der heutigen Tungusen-Hunde in Sibirien, die jetzt noch tapfer so auf Eis-Mammut gehen, verspeist haben sollten.

Diese Skepsis ist heute antiquiert.

Zur Stunde tauchen ganz andere Gemeinschaften als Problem auf, unendlich viel ältere.

Jene wundervolle Fundstätte vorgeschichtlicher Menschheitskultur in Taubach bei Weimar, von der nachgerade wohl die Meisten gehört haben, zeigt uns den Menschen als gewohnheitsmäßigen, offenbar durch lange Zeiten und Generationen fest eingeübten Jäger schon nicht mehr des eigentlichen Mammut-Elefanten, sondern des sogenannten Alt-Elefanten (Elephas antiquus), einer riesenhaften Elefanten-Form, die mindestens in ihrer Blütezeit dem Mammut voraufging.

Kein einziger Mammut-Rest ist auf diesem klassischen Boden gefunden worden, und gewisse Konfusionen sind bloß vorübergehend durch böse neuzeitliche Nachhilfe in die wissenschaftliche Beschreibung hinein geraten.

Es ist nämlich unglaublich schier, aber leider doch wahr, was findige Geldbeutelbedürfnisse selbst bei solchen Dingen für Unheil anrichten können. Als die Taubacher Knochen und Menschenreste anfingen, Aufsehen zu machen, stellten sich Käufer ein, Laien, die bloß allgemein etwas von den Dingen hatten läuten hören. Sie verlangten von den Leuten in den Taubacher[S. 293] Brüchen vor allem „Mammut“. So kamen schlaue Industrie-Genies auf den unglücklichen Plan, besagtes „Mammut“ heimlich irgendwoher zu beziehen und als Taubacher Material mit Profit am Fleck zu verkaufen. Nahe, eine Stunde rund von Taubach entfernte Kieslager, in denen auch Elefantenknochen lagen, wurden geplündert und die Zähne körbeweise nach Taubach gebracht, der Korb im Zwischenhandel zum Engrospreise von zehn Mark. Die Interessenten erhielten dann beliebig „Mammut“ aus diesen Körben zu tüchtigen Detailsätzen.

Um die Verwirrung zunächst auf den Gipfel zu treiben, handelte es sich auch bei diesen Schmuggel-Elefanten aber erst recht nicht um Mammut, sondern um eine noch ältere Art als der Alt-Elefant war, nämlich um einen nahen Verwandten des sogenannten Süd-Elefanten (Elephas meridionalis), der nicht gleich dem Mammut jünger, sondern nochmals zweifellos ein ganzes Teil älter ist, als der Alt-Elefant. Die Elefanten- und Nashorn-Jagden der Ur-Taubacher hatten sich, wie die erhaltenen schönen Reste klärlich zeigen, in einem Walde abgespielt, in dem Birken- und Haselnußbüsche standen. Das deutet nun zwar auf ein gemäßigtes Klima, ähnlich dem heutigen am gleichen Ort. Da die Zeit zweifellos bis in die Grenzen der großen Eiszeit zurückgeht, nimmt man mit ziemlicher Sicherheit an, daß es sich um eine etwas wärmere Pause innerhalb dieser wechselreichen, im Wort wenig erschöpften „Eiszeit“ handelte. Der Süd-Elefant aber hat noch vor der ganzen Eisperiode gelebt und aus voreiszeitlichen Schichten stammte denn auch das eingeschmuggelte Material.

Die Taubacher Industrie konnte zum Glück noch rechtzeitig aufgedeckt und wissenschaftlich unschädlich gemacht werden.

Der letzte Trumpf der ganzen Geschichte aber bleibt, daß dieser Süd-Elefant an und für sich und in seiner eigenen Schicht ganz wohl auch noch mit menschlichen Kulturresten hätte zusammenliegen können — auch ohne Schwindelei. Denn auch ihn hat der Mensch noch erlebt, oder besser von unten nach oben gesagt: schon erlebt.

[S. 294]

Nie werde ich den Eindruck vergessen, den in den achtziger Jahren ein kleiner Raum des altberühmten Jardin des Plantes zu Paris, der Stätte Buffons und Cuviers, auf mich machte.

In einer provisorischen rohen Bretterbude hatte man die größten paläontologischen Schaustücke, meist vollständige Gerippe urweltlicher Riesentiere, in Erwartung eines (heute längst vollendeten) würdigeren Museums-Neubaues vereinigt. Nur Auserwählte mit Karten drangen bis in dieses Heiligtum vor. Ihnen aber ward ein im buchstäblichen Sinne ungeheurer Anblick zu teil.

Da stand das Skelett des Riesenfaultiers, des Megatherium, da wölbten sich wie mächtige Tonnen empor die Panzerdecken der Riesengürteltiere, — beide aus Tiergeschlechtern, von denen wir heute wissen, daß der Mensch sie auch noch gejagt und verspeist hat.

Um einen Koloß wie das Megatherium zu überbieten, dessen Oberschenkel fast dreimal so breit sind wie die des lebenden Elefanten, war in dieser Versammlung schon ein ganz besonderer Elefant nötig, und den hatte denn auch eine Ausgrabung in Südfrankreich in Gestalt eines prachtvoll erhaltenen Riesenexemplars jenes Süd-Elefanten geliefert.

Aufrecht hatte der Koloß im Boden gestanden, als man ihn fand, ein Beweis, daß er an Ort und Stelle einst im Sumpf versunken sein mußte. Die Stoßzähne, vollkommen erhalten wie sie sind, zeigen doch nichts von der abenteuerlichen Krümmung, wie sie den Mammutstößern zukommt.

Dieser Süd-Elefant lebte, wie gesagt, vor der Eiszeit, in das letzte Drittel der voraufgehenden Tertiärzeit, die sogenannte Pliocänzeit, hinein.

Wer noch heute auf dem Standpunkt steht, der vor zehn Jahren Mode in der Anthropologie war: vor jeder Möglichkeit eines Fundes tertiärer Menschenspuren zunächst ein skeptisches Lächeln wie über eine Art Dummejungenbehauptung aufzusetzen, der muß diese Altersbestimmung bestreiten.

Denn es läßt sich nicht mehr fortleugnen, daß mit Knochen[S. 295] des Süd-Elefanten in ungestörter Schicht zusammen in Frankreich schon Feuersteinwerkzeuge, bearbeitet von Menschenhand, gefunden worden sind, — wenn auch bearbeitet in einer noch etwas roheren Weise, als es in der Folge geschah. Wiederum aber zweifelt von der Menschenfrage unabhängig kein unbefangener geologischer Beurteiler heute, daß wir mit dem Süd-Elefanten wirklich in der echten tertiären Tierwelt sind, und so wird auch hier nachgerade der allzu skeptischen Skepsis ihr Stündlein geschlagen haben.

Die eigentliche Kühnheit im Zurückdatieren setzt erst noch wieder eine ganze Station auch dahinter heute ein, — und ich kann offen gestanden auch noch in ihr nichts zu kühnes sehen.

In der Auvergne, dem alten Vulkangebiet Frankreichs, wo noch in jener Pliocänzeit des Süd-Elefanten eine Unmasse feuerspeiender Berge große Lavaströme entsandten, sind tief unter solcher alter Lava Feuersteine mit Bearbeitungsspuren gefunden worden, die der Lage nach in das mittlere Drittel der Tertiärzeit, die Miocänzeit, gehören würden.

Angesehene französische Forscher sowohl, wie unser trefflicher Heidelberger Anatom und Prähistoriker Hermann Klaatsch, halten die eigentümlichen Schartungen auch dieser Splitter für Menschenwerk.

Triftige Sachgründe gegen diese Deutung sehe ich nach Klaatschs scharfsinniger Darlegung nicht mehr. Wenn man dem Teufel einmal den kleinen Finger gibt und überhaupt auf Grund gewisser feiner Merkmale sich den Indizienbeweis menschlicher Arbeit auch an den älteren, roheren Steinsachen gefallen läßt — und für nachtertiäre Fundstellen tut das einstimmig die ganze Fachmannschaft, — so muß man, meine ich, auch hier die Hand nachschicken.

Dieser Miocän-Mensch also von Aurillac, wie die Fundstätte heißt, — er, den wir ohne besondere chronologische Skrupel um anderthalb Millionen Jahre rückwärts vom heutigen Bewohner der rauhen Auvergne trennen mögen, muß[S. 296] aber eine Tierwelt noch gesehen haben, die alles bisher erwähnte an Fremdartigkeit weit hinter sich ließ.

Je tiefer wir in die Tertiärzeit hineingehen, desto mehr nähern wir uns ja jener merkwürdigen Epoche, da das Klima in Europa, statt eiszeitlich härter, umgekehrt südländisch wärmer war als heute.

Bis gegen die Mitte der Tertiär-Zeit haben Frankreich wie Deutschland ein Palmenklima gehabt. In Südfrankreich wuchsen große Fächer- und Sabal-Palmen, Pisangs, Drachenbäume und Kampferbäume.

Noch der Süd-Elefant hat in seiner Pliocän-Zeit sich durch immergrüne Wälder von Lorbeern und Magnolien in der Umgegend von Paris ästeknickend durchgedrängt.

In jenem miocänen Urwald von tropischer Üppigkeit aber hauste auch die entsprechende Tierwelt.

In ihm muß der Mensch noch leibhaftig mit Augen das Tier gesehen haben, das anderthalb Millionen Jahre später mit am allermeisten Zwist und Kopfzerbrechen erzeugen sollte, als seine Gebeine noch einmal aus ihrem uralten Grabe zum Vorschein kamen.

Im Morgenrot der Versteinerungskunde hatte einst Cuvier ein paar einzeln gefundene große Backenzähne als dem Tapir angehörig beschrieben. Uns würde es heute schon seltsam genug anmuten, den Tapir aus Südamerika oder Indien lebend in die Auvergne versetzt zu sehen. In den älteren Tertiärtagen war aber grade an tapirähnlichen Tieren in ganz Europa kein Mangel. 1835 kam dann in der Pfalz der ganze Kopf des vermeintlichen Tapirs ans Licht. Mehr als ein Meter lang, trug er im Unterkiefer zwei abwärts gekrümmte, an das Walroß gemahnende, stoßzahnartige Hauer. Da der Rest des Körpers fehlte, blühten um dieses groteske Haupt die buntesten Theorien auf.

„Ich möchte,“ ließ sich 1856 der große Anatom und famose Fossiliendeuter Burmeister vernehmen, „dem Tiere einen kurzen, dicken Hals, einen kräftigen, spindelförmigen Rumpf nebst breiten, selbst zum Kriechen wie beim Walroß tauglichen[S. 297] Flossenfüßen zuschreiben und dasselbe für ein pflanzenfressendes Seeungeheuer erklären, welches nach Art der Sirenen gern in die großen Flußmündungen sich begab und selbst bis in die höheren Teile der Flüsse hinaufstieg. Seiner vorderen Hakenzähne bediente es sich gleich dem Walrosse wohl mehr zum Unterstützen seiner Bewegungen am Ufer, wenn es ruhen wollte, als zur Verteidigung; oder es riß seine vegetabilische Nahrung, dicke fleischige Wurzeln, damit aus der Tiefe empor.“

In der Tat erschien das Tier in dieser Robbengestalt lange Jahre hindurch in den populären Geologien.

Dinotherium, das „Schreckenstier“, hatte man es einstweilen getauft.

Welch bitterböses Lachen aber würde der miocäne Auvergnate, der diesem Waldschratt selber noch gewohnheitsmäßig auf seinen Streifereien begegnete, vor unserm Naturforscherbilde aufgeschlagen haben!

Denn das Dinotherium war, wie wir heute aus besseren Funden nun auch glücklich wissen, in Wahrheit ein über vier Meter hoher Elefant mit dem Rüssel und den Säulenbeinen eines solchen, der bloß diese allerdings ganz charakteristische Besonderheit bei sich ausgebildet hatte, daß nicht der Ober-, sondern der Unterkiefer die Stoßzähne lieferte und daß sie sich nach unten krümmten, statt nach oben.

Bei einem zweiten Elefanten, den jener Miocän-Mensch ebenfalls gesehen haben muß, dem Mastodon, wuchsen sogar im ganzen vier Stößer, zwei aus dem Ober- und zwei aus dem Unterkiefer.

Seltsamer Reiz dieser Bilder: der Mensch bei Mastodon und Dinotherium!

Was mag es für ein Mensch gewesen sein?

Wir wissen heute wieder mit voller Sicherheit, daß jene Menschenschädel vom Neandertal und von Spy, die von der Schule Virchows einmal so gründlich „totgeschlagen“ schienen und doch so munter wieder wissenschaftlich „lebendig“ geworden sind, als sei nichts passiert, — wir wissen aus ihrem Bau mit den vorspringenden Augenbrauen-Wülsten und anderen Merkmalen,[S. 298] daß es sogar noch nach der Tertiär-Zeit eine wirklich urtümliche, vom heutigen Menschen charakteristisch abweichende altdiluviale Menschenrasse in Europa gegeben hat.

Und wenn jener Miocän-Mensch von Aurillac unter die Drachenbäume und Pisanas und Kampferbäume seines Urwaldes trat, in die natürlichen Pfade hinein, die, wie heute in Indien, von den schweren Rüsseltieren ausgetreten waren: dann begegnete ihm, unbeholfen in schwankendem Gang wohl ein Stück weit auf die Hände gestützt, der große Menschenaffe Dryopithekus oder durch das Geäst über ihm schwang sich akrobatenhaft von Zweig zu Zweig der Gibbon-Affe Pliopithekus.

Lag in solcher Begegnung — für unser Denken heute — etwas wie ein Hauch geheimnisvoller Vergangenheit, so rührte ein anderes Bild umgekehrt an die eigene Zukunft.

Wo der Wald sich auftat und der grüne Plan sich entrollte, da galoppierten Herden schlanker Huftiere dahin vor dem Blick dieses Ur-Auvergnaten. Hätte dieser Blick die Jahrhunderttausende der Folge sich aufrollen sehen, wie diese grüne Steppe sich vor ihm entrollte, so hätte er eine der denkwürdigsten Metamorphosen der Tierwelt ahnend geschaut, die sich grade in seiner Nähe und mit unmittelbarster Beziehung auf ihn ereignen sollte.

Diese schnellen Hufträger waren Hipparions, — Ur-Pferde.

Heute noch geschieht es ab und zu einmal, daß als „Mißgeburt“ ein Pferd bei uns geboren wird, das statt des einen einzigen Hufs, mit dem normaler Weise dieser König unter den Läufern nur mehr den Boden schlägt, an allen vier Beinen noch drei Hufe trägt, von denen allerdings die zwei ungewöhnlichen die Erde nicht mehr erreichen. In Jahrmarktsbuden wird solch ein Dreihufer-Pferd gezeigt. Aus der Antike kommt die Kunde, daß Alexander des Großen berühmter Bukephalos diese scheinbar widersinnige Zier besessen habe. Es liegt aber Sinn in Wahrheit doch in der Zier.

Denn diese Dreihufer sind vereinzelte späte Rückschläge eben auf die uralte Stammform unseres einhufigen Pferdes,[S. 299] die regulär noch solche beiden Nebenhufe trug — auf jenes Hipparion der Miocän-Zeit. Freies Wildpferd war es zugleich noch, ohne engere Beziehung zum Menschen, ohne jene Rolle des „Kulturtiers“, die dem Pferde dermaleinst eine so besondere Stellung auf seinem Planeten geben sollte.

Ich habe das Bild absichtlich so weit aufgetan, wie noch in steilster Theorie möglich ist. Bis zum Dinotherium und Hipparion könnten im äußersten Falle menschliche Tierzeichnungen gehen, wenn nichts weiter dazu nötig wäre als überhaupt ein Mensch mit den frühesten Anfängen der Werkzeugtechnik. Den Plesiosaurus oder Pterodaktylus, die in die Tertiärzeit selber nicht mehr hineinreichen aus der großen Saurierzeit, kann auch die regste Phantasie im Konterfei von zeitgenössischer Menschenhand nicht mehr erwarten. Aber wie unabsehbar groß ist auch so noch der Spielraum, — wie viel könnte unsere wißbegierige Zoologie noch vom kleinsten Kritzelbildchen auf einer Wand, einem Knochen ernten!

Und das jetzt ist die Stimmung, mit der wir in den finsteren Schlund jener Höhlen im Vezère-Tale kriechen, spähend beim schwachen Kerzenlicht, was diese Wände uns offenbaren wollen.

Es war in der ersten Hochblüte der Begeisterung für prähistorische Kulturfunde.

Gebrochen war der Bann grundsätzlicher Zweifel, mit denen der treffliche Boucher de Perthes noch gekämpft hatte. Man gab eine diluviale Urkultur unumwunden zu, achtete die Reste als neue Quelle, redete zum ersten Mal mit Sicherheit von einer neuen, der prähistorischen Wissenschaft.

In dieser Zeit wurden die ersten Spuren einer „prähistorischen Kunst“ in Gestalt erkennbarer Tierbilder bekannt.

Zuerst aus Frankreich selbst, woher die frische Weisheit überhaupt diesmal gekommen. Dann aber auch aus einem der strengen deutschen Forschung näheren, leichter zu prüfenden Ort: von Thayingen, zwischen Konstanz und Schaffhausen, aus dem sogenannten Keßler Loch.

[S. 300]

Es waren zunächst Gravierungen auf Rentierhorn und ähnlichem alten Material, und Schnitzereien aus solchem Stoff.

Der rasch berühmteste der französischen Funde war die Zeichnung oder besser Ritzung eines Mammut-Elefanten auf Mammut-Elfenbein. Man sah die charakteristische Kopfform, den Rüssel, die Stoßzähne, den aus den sibirischen Eiskadavern bereits bekannten dicken Wollpelz; selbst die richtige Gangart war angedeutet.

Auf diese Epoche der enthusiastischen Anerkennung folgte unmittelbar aber das Wellental jäh absinkender Skepsis.

War jenes Mammutbild immerhin eine eskimohaft rohe Skizze trotz seiner Naturtreue, so hatten sich im Keßler Loch humoristisch stilisierte Zeichnungen gefunden, die jeden Unterschied zwischen alt und neu in der Kunst zu verwischen schienen. Sie muteten an, wie aus einem neuesten Tierbilderbuch für unsere Kinder.

Und der sachkundige Konservator des Mainzer Altertums-Museums, Lindenschmidt, bestätigte diese verblüffende Ähnlichkeit eines Tages in der Tat dergestalt, daß er die — Originale einiger „prähistorischer“ Tierzeichnungen aus jener Bodensee-Nachbarschaft in einem kürzlich erschienenen Weihnachtsbuche des Spamerschen Verlages nachwies. Was Leutemann hier für die reifere Jugend gezeichnet, das war in jenem famosen Keßler Loch einfach auf altes Rentierhorn kopiert worden. Und zwar, wie allsogleich erkennbar wurde, nicht in spiritistischer Umkehrung aller Zeitverhältnisse schon von unsern prähistorischen Ur-Schwaben, sondern von neuzeitlichen Genossen jener Taubacher Mammut-Schmuggler: nämlich Arbeitern bei den Ausgrabungen, die sich ein Stück Geld bei diesem Fischzug der Wissenschaft verdienen wollten.

Der Betrug war so offenkundig, daß das Gericht einschreiten und die Sünder bestrafen konnte. In der ganzen Frage prähistorischer Kunst aber bedeutete dieses mißliche Einzelereignis einen allgemeinen Kurssturz.

Jetzt kamen auf einmal die Stimmen derer obenauf, die solche vorweltliche Zeichnerei überhaupt für unmöglich hielten.[S. 301] Die Faust, die eben die ersten Steinbeile ordentlich zurecht geschlagen, habe noch nichts von Zeichnen und Kunst ahnen können! Eitel Schwindel seien eben alle diese angeblichen Ritz- und Schnitzarbeiten, moderne Fälschung plumpster Art. Wenn solches Schwindelwerk am grünen Holze, bei uns, gelungen, — wie sollte man nicht der Leichtfertigkeit französischer Halb-Forscher das Bedenklichste unbedenklich zutrauen!

Jenes Mammut-Bild, das Lartet im Vezère-Tal des Trüffel-Landes entdeckt, sollte gar bloß in der Phantasie dieses Herrn Lartet und seiner Freunde entstanden sein durch willkürliche Auslese und Allein-Wiedergabe einiger Krackelstriche in einem wüsten Netz vielfältiger und regelloser Ritzungen eines stark verschrammten Elfenbeinstücks.

Die mildesten Kritiker bestritten doch wenigstens alle irgendwie „besseren“ Bilder. So trat Johannes Ranke den Beweis für Unechtheit eines Rentiers aus dem Keßler Loch, das sonst nicht in jene unzweideutige Fälschungsgeschichte verwickelt war, mit der Begründung an, daß bei diesem Tierbilde die Füße, ja sogar die Afterklauen daran, genau dargestellt seien; gleich den heutigen zeichnenden Buschmännern Afrikas hätten aber die prähistorischen Menschen auf „echten“ Bildern niemals die Füße der Tiere mitgezeichnet.

Je nun, — diese jungen Wissenschaften haben ihre Umläufe, es wechselt, um mit dem Prolog im Himmel zu reden: „Paradieseshelle mit tiefer schauervoller Nacht“, und die Weisheit, die zweimal umgelernt hat, darf sich nicht scheuen, es auch zum dritten Mal zu tun.

Auch jene skeptische Phase ist heute wieder um, und vor den neuen Funden der Trüffel-Erde, die wir jetzt besitzen, hebt abermals ein neues Kapitel dieses tiefsinnigen Lehrbuchs vom Menschen und seiner Ur-Gabe der Kunst an, ein helles und positives nun doch.

Jenes Vezère-Tal in der Landschaft Périgord, wo Lartet schon in den sechziger Jahren sein angebliches Mammut auf Mammutbein aus dem Schutt prähistorischer Zeiten gezogen, ist eine äußerst liebliche Gegend.

[S. 302]

Als Lubbock, heute der Alt-Meister vorgeschichtlicher Forschung, einst die Vezère hinabfuhr, pries er die Schönheit des Ortes, daß sie jeden packen müsse, auch abgesehen vom wissenschaftlichen Interesse. „Da der Fluß bald die eine, bald die andere Seite des Tales aufsuchte, so hatten wir in einem Augenblick zu beiden Seiten reiche Wiesenländereien, und in dem nächsten befanden wir uns dicht an dem senkrechten, fast überhängenden Felsen. Hier und dort kamen wir zu einigen wallonischen alten Burgen, und obgleich die Bäume noch nicht im vollen Laubschmuck standen, so waren doch die Felsen an manchen Stellen völlig grün durch Buchsbaum, Efeu und immergrüne Eichen, und das harmonierte überaus gut mit der satten gelbbraunen Farbe des Gesteins.“

Hermann Klaatsch, dem wir die neueste anschauliche Ortsschilderung auf Grund eines Besuches im letzten September verdanken, findet, daß das Tal „einen intimen Reiz des süßesten Friedens“ besitzt „und einer Nervenberuhigung, welche die Sorge aufkommen ließe — es möchte hier einmal eine Nervenheilanstalt entstehen, wozu die Gefahr nahe läge, wenn das Terrain in Deutschland sich befände“.

Ohne besondere Spitzfindigkeiten läßt sich ein Bild gewinnen, wie dieses Haupttal und seine mäandrischen Verzweigungen geologisch ausgestaltet worden sind.

Das ganze Quellnetz zum Dordogne-Flusse deutet rückwärts auf das hohe Zentral-Plateau von Frankreich, das alte Vulkanland der Auvergne.

Nachdem diese Krater, mehrere hundert an der Zahl, in der späteren Tertiärzeit ihre Lavaströme genügend ergossen hatten und mit erschöpfter Kraft in den Ruhestand der wenigstens auf absehbare Zeit erloschenen Vulkanruine eingetreten waren, setzte die beginnende Periode der Eiszeiten die Durchschnittstemperatur lange Reihen von Jahrtausenden hindurch um so viel herunter, daß diese Gipfel sich durch Herabsinken der Schneegrenze mit „ewigem Schnee“ und mächtigen, zu Tal drängenden Gletschern bedecken mußten.

Als diese Gletscher aber zeitweise wieder schmolzen,[S. 303] mußten die Schmelzwasser sich mit ungeheurer Gewalt zu Tal ergießen. Sie erfüllten die vorhandenen Flußtäler hoch herauf und wühlten in das weiche Kreidegestein ihrer Wände tiefe Furchen und Löcher ein, die später, als die Hochflut verströmt war und die Talsohle wieder als solche auftauchte, als Nischen und Grotten der Talwände frei wurden.

Erst nach dieser Zeit, nach Ausgang einer ersten Vergletscherungsperiode und wohl noch während einer zweiten, hat dann der vorgeschichtliche Mensch sich im Vezère-Tal und seinen Seitenzweigen angesiedelt.

Er hat die Grotten als willkommene Zufluchtsstätten genau so benutzt, wie sie spät noch in der geschichtlichen Zeit, ja bis in die neuesten Tage hinein vorkommenden Falles immer wieder besucht und gebraucht worden sind.

Einem ausgesprochenen Jägervolk, aber von kleinen Mitteln, bot ja grade ein Tal von dieser Art die sinnfälligsten Vorteile.

In senkrechten Steilstürzen bricht das Plateau oben vielfach gegen die Taltiefe ab. Gelang es den steinzeitlichen Jägern, eine Tierherde dieses Plateaus durch irgendwelche Schreckmittel, etwa künstliche Feuerbrände in der Nacht, gegen die unheimliche Kante zu hetzen und zum Absturz zu bringen, so war ein großer Sieg mit verhältnismäßig wenig Mühe gegeben, und die Opfer lagen gleich vor dem Hause.

Vor Jahren schon hat Boyd Dawkins in England solche Rand-Jagd in vorgeschichtlicher Zeit als Erklärung aufgestellt für die erstaunlichen Anhäufungen zerbrochener und zernagter Tierknochen in englischen Steil-Schluchten. Als die Jäger, die hier den Riesenhirsch und das Mammut, das Rhinozeros und den Wisent ins Verderben gehetzt, nahm er zwar, und für seine Oertlichkeiten wohl sicher mit Recht, die Hyänen an, die damals in Scharen das Land bevölkert haben müssen. Heute noch jagen ihre lebenden Vertreter so, daß sie starke Beutetiere, die sie sonst nicht überwältigen könnten, durch Massenangriff erschrecken und auf einen äußersten Fleck drängen, wo der Absturz unvermeidlich wird.

[S. 304]

Doch vom Tier hat der Mensch jagen gelernt: was Wunder, wenn auch er die grausigbequeme Methode der schwachen, aber klugen Hyäne nachahmte.

Längst kennt man auch eine französische Fundstätte, von Solutré bei Lyon, wo unter einem hohen Fels mit schauerlichem Steilfall eine an hundert Meter lange und drei Meter dicke Knochenschicht aufgedeckt worden ist, die so gut wie ganz aus Knochen diluvialer Wildpferde besteht. Ueber 20000 Individuen müssen hier immer genau am gleichen Fleck umgekommen sein! Und in diesem Falle verrät sich der wilde Jäger sofort: sehr gute Steinmesser, von Menschenarbeit, wahrscheinlich hier als Lanzenspitzen bei der Verfolgung benutzt, liegen noch zur Hand, und jeder Pferdeschädel ist künstlich aufgebrochen, um den Leckerbissen des wilden Menschen, das Gehirn, herzugeben.

In solchen Jagdszenen, bei denen unter rohem Hallo und bei geschwungenen Fackeln die großen Säugetiere der Diluvialzeit zum Todessturz genötigt wurden, liegt zweifellos auch das Geheimnis der Liebe jener Vorgeschichtler für die schroffen Tälchen im Lande Périgord.

Einmal am Fleck zäh eingebürgert, hinterließen diese Steinzeitler aber nun im Schutt und Kalksinter der Talhöhlen ein wahres Pompeji ihrer primitiven Kultur.

Geräte und Waffen, Nahrungsreste und Herdfeuerspuren, alles was nur irgend dauerfähig war aus ihrem äußeren Leben, — und in diesen harten Tagen des behauenen Steins und bearbeiteten Rentierknochens war ja fast alles von einer Solidität für rauschende Jahrtausende. Bloß ein Teil fehlt, dem es an und für sich sonst nie an weltgeschichtlicher Solidität gemangelt hat: Topfscherben; die Erfindung des irdenen Topfes scheint noch nicht in dieser Zeit zu liegen.

Jeder Winkel dieser Flüßchen bewährt sich dem Suchenden als ein Haus dieses großen Pompeji. Da folgen sich die Stätten, deren Namen durch alle Lehrbücher und Museen schallen: Le Moustier, La Madelaine, Laugerie-Haute und[S. 305] -Basse, Cro Magnon — jede berühmt durch irgend einen großen Fund.

Bei La Madelaine, einer unerschöpflichen Katakombe dicht am Vezère-Flüßchen, die von einer Burgruine hoch auf dem überhängenden, eine Halbgrotte bildenden Fels ihren Namen trägt, hatte Lartet seiner Zeit das vielberühmte und vielverspottete Elfenbeinplättchen mit dem angeblichen Mammut-Bilde geborgen.

Auch die es mit Hohn zurückwiesen, sie mußten doch zugeben, daß an dieser und anderen Stellen Spuren auftauchten von etwas, was irgend einen ästhetischen Zusammenhang schlechterdings nicht verleugnen konnte. Da lagen Fußknochen des Rentiers, die unzweideutig zu Pfeifen gehöhlt und gelocht waren. Röhrenknochen von Vögeln wiesen gar mehrere Löcher genau so, als sollten es Flöten gewesen sein. Was ferner sollten die massenhaften Anhäufungen bunter Erden in diesen prähistorischen Müllhaufen, insbesondere eines lebhaften Färbe-Rotes? Heute bemalen sich wilde, nackte Menschen mit so etwas den Leib! Was sollten die durchbohrten Schneckenhäuser, die Amethyst- und Bergkristall-Stücke? Heute hängt sich der wilde Mensch dergleichen als Schmuck an den Leib, — ist doch auch der zahme noch nicht abgeneigt, diese Sorte ästhetischer Aufbesserung seiner gegebenen Persönlichkeit zu betätigen.

Es war nun für den eingefleischten Zweifler vielleicht ein unbefugt kühner, für den naiven Besucher aber wirklich nur ein recht nahe liegender Schritt, wenn einer nicht bloß die Sohle dieser Höhlen nach prähistorischem Material durchwühlte, sondern auch einmal einen etwas sorgsamen Blick auf die Wände warf.

Vom Vater Kieselack her besteht im Menschen bekanntlich ein Ur-Zug, seinen lieben Namen und etwa noch dieses oder jenes erfreuliche oder nichtsnutzige Umrißprofil auf die Wand einer besuchten Stätte zu setzen. Wenn diese alten Herrn des Trüffellandes wirklich schon irgend eine Fähigkeit besessen haben sollten, ähnlich wenigstens irgend ein Symbol ihres Daseins[S. 306] mit Kunstmitteln zu hinterlassen, so lag ernstlich nichts näher, als daß sie die Wände ihrer jedenfalls vielhundertjährigen, vielleicht mehrtausendjährigen Winterquartiere, der Höhlen, mit verwandten Scherzen bedacht hätten.

Und der „Echtheit“ mußte dabei zu statten kommen, daß die langsame Arbeit tropfenden Wassers in der Folge diese Wände vielfältig nach gewohnter Höhlenart wieder mit einer schützenden Decke derben steinharten Kalksinters überzogen und alles auf ihnen Befindliche also profanem Blicke gänzlich entzogen hatte bis zum Tage, da der „Rechte“ kam.

Die erste Kunde, daß es auf den Höhlenwänden des Vezère-Gebietes tatsächlich etwas zu sehen gebe, kam denn auch schon vor Jahren, verscholl aber wieder in der allgemeinen Mißstimmung gegenüber prähistorischen „Bildern“.

Das erste Jahr fester wissenschaftlicher Publikation ist 1895. Professor Rivière beschrieb eine „bemalte Höhle“.

Weiter in Fluß kamen die Dinge seit 1901 dann besonders durch Capitan, ebenfalls Professor in Paris.

Den neuesten und in jeder Hinsicht instruktiven Bericht über die vollendeten Fakten verdanken wir Klaatsch, der zugleich seine solide deutsche Autorität als Augenzeuge am Ort für das Ganze eingesetzt hat, so daß die großen, verallgemeinernden Zweifel jetzt endgültig abgetan sind.

In das Haupttal der Vezère mündet bei dem Orte Les Eyzies eine kleine Seitenader, das Tälchen der Beune.

In einem feinsten Nebenzweiglein wieder dieses Wässerchens liegt die sogenannte Grotte von Combarelles.

Man darf bei dem Wort nicht an eine der allbekannten Tropfsteinhöhlen von imposanter Domhöhe denken. Es ist im viel eigentlicheren Sinne ein Loch. Vor die Öffnung dieses Loches ist denn auch heute noch ein Bauernhaus quer gelagert, als solle es sich bloß um einen privaten Kellerschacht handeln. Ein praktischer Mann, hat der Bauer den Anfang des Schachts sich als Hühnerstall eingerichtet, die „Höhle“ ist also in gewissem Sinne bewohnt bis auf den heutigen Tag.

Der Hühnerstall ist aber noch der geräumigste Teil.[S. 307] Gleich dahinter wird jenseits einer Tür der Kellerhals so eng, daß der Besucher auf allen Vieren kriechen muß.

Freilich erkennt er: so niedrig ist’s hier nicht immer gewesen. Mindestens ein Meter hoch hat sich auf die alte Sohle eine sogenannte Stalagmitenschicht, also Kalksintermasse, die das tropfende Wasser allmählich abgelagert hat, gelegt, den Gang auf die Hälfte des Ehemaligen verengend. In Mammuttagen konnte ein Mensch hier zweifellos erhobenen Hauptes noch durchschreiten.

Etwa die halbe Länge hindurch, hundert und einige Meter weit, entdeckt man allerdings von solchem Ur-Dasein des Menschen gar nichts.

Hat er Knochen oder Steingerät hinterlassen, so muß es tief unter dieser harten Kalkhülle des Bodens begraben liegen.

Das Licht der Kerze leuchtet an der Wand entlang: auch da zunächst nichts.

Die ersten hundert Meter sind überschritten. Noch immer nur leere Wand.

Doch das Auge gewöhnt sich. Und endlich findet es jetzt wirklich etwas, — etwas höchst Überraschendes.

Der Höhlenhals läuft bis zu seinem Abschluß noch ungefähr 115 Meter weiter. Fällt auf dieser Strecke der Kerzenschein von links her ein, so erscheinen in der Höhlenwand eine große Menge flacher Ritzlinien, die schärfsten bis zu einem halben Zentimeter tief, die schwächeren fast nur als Oberflächenzeichnung.

Die Kalksintermassen, die auch hier sich unregelmäßig wie Kesselsteinbrocken angesetzt haben, gehen vielfach, Stücke verdeckend, über die Ritzungen hin, ein deutliches Zeichen, daß es sich keinenfalls um etwas ganz neuerdings Eingegrabenes handeln kann.

Einmal erfaßt, schließen sich diese Linien dann dem Auge leicht zu Gestalten zusammen. Zuerst erkennt man durchweg Beine, endlich ganze Umrisse von Leibern.

Es sind Tierbilder.

[S. 308]

Die meisten nur mittelgroß, kaum viel über ein Meter im selten äußersten Fall.

Nun aber was für Tiere!

Zunächst ein allbekanntes, das aber doch mit einem Schlage in die Eiszeit für diese Gegenden versetzt: das Rentier.

Dann Pferde, — Wildpferde!

Wir haben erst in jüngster Zeit das noch lebende, heute nur in der asiatischen Steppe noch lebende echte Ur-Wildpferd von Angesicht zu Angesicht wieder begrüßen können auf europäischer Kulturerde: in dem Pärchen unseres Berliner zoologischen Gartens. Unverkennbar finden wir auf diesen alten Bildern seinen unförmlich dicken und großen Kopf, seine charakteristische hochgesträubte Mähne wieder. Schon hatten es uns einige jener bestrittenen älteren Gravierungen auf Rentierknochen aus den Vezèrehöhlen so gezeigt, aber die waren eben bestritten worden, trotzdem man sich fragte, welcher moderne Fälscher wohl diese äußersten Feinheiten zoologischer Charakteristik beherrscht und bewährt haben sollte; war doch die Kenntnis der Wildpferde bis vor kurzem noch einer der dunkelsten, unsichersten Punkte moderner Fachforschung — und da sollte irgend ein pfuschender Dilettant derartig das allein Richtige getroffen haben?

Die Pferdebilder von Combarelles machen alle weiteren Skrupel dieser Art überflüssig. Hochinteressant aber ist, daß auf ihnen neben dem Dickkopf, dem typischen Ur-Wildpferde, schon eine zweite Pferderasse erscheint, die wesentlich zierlicher gebaut ist. Das wird unserer Rassenforschung zu denken geben!

Weiter: es treten aus der Wand Steinböcke.

Heute sind das Hochgebirgstiere, die sich da oben ins „Kalte“ zurückgezogen haben, nachdem unten die Eiszeit mit ihren letzten Kältewehen schwand, eine vertikale Rettung als Seitenstück zu der horizontalen, die das Rentier nach Lappland verscheucht hat.

Und nun endlich nahen die ganz Fremden, die gänzlich Verschollenen.

[S. 309]

Eine einzige Antilopenart haben wir heute noch in Europa, auch sie nur in einer gleichsam abnormen Lage als Alpentier gerettet: die Gemse. Hier sind noch sehr verschiedenartige Antilopen, eine mit ganz steil ragenden Hörnern, eine dem Gnu ähnlich; es könnte sich freilich im letzteren Falle auch um etwas ähnliches wie die seltsame Gnu-Ziege (Budorcas) von Tibet handeln, deren Gehörn völlig dem des Weißschwanzgnus entspricht.

Die Hauptmasse der „Verschollenen“ aber bilden — die Mammute.

Vierzehn an der Zahl!

Grade sie konnte auch Klaatsch aufs entschiedenste feststellen.

Die von Capitan mitgeteilten Bilder sind in der Tat von durchschlagender Wirkung.

Da steht das Tier, mit seinem hohen Elefantenrücken und den Säulenbeinen. Der gewaltige Rüssel, mit Doppelzipfel unten statt des einfachen Fingers, ist in belebter Auffassung nach hinten eingerollt, die riesigen krummen Stößer streben darüber ins Weite. Selbst das Auge sitzt sehr gut. Und in wilden Strähnen wallt von Bauch und Kopf die schwere Mammut-Mähne und Verpelzung, die kein lebender Elefant kennt.

Dieses Tierbild ist keine Klein-Moritz-Karikatur. Es ist der rohe, aber durch und durch charakteristische Entwurf einer Künstlerhand, — wie ein echter Tiermaler rasch, um mit einer Umrißskizze das Nötigste zu füllen, einen Elefanten eben hinsetzt, doch so, daß jeder sofort weiß: das ist einer; kein Strich zu viel, aber jeder Strich auch eine feste Charakterlinie. Und das mit einem Stück Feuerstein in eine Höhlenwand geritzt, bei Fackelschein, in engstem Raum, — von einem vorgeschichtlichen Jäger der Eiszeit!

Es war kein Dinotherium- oder Hipparion-Jäger mehr, das zeigen, abgesehen von den mangelnden Bildern, klärlich die Eiszeit-Tiere Mammut und Rentier selbst. Und doch noch der Mensch einer anderen, einer fremden Welt. Aber in diese[S. 310] Welt sahen schon Künstleraugen. Wie nah uns das nicht nur äußerlich, im Bilde, sondern grade im tiefsten Innern doch wieder diesen Tag der Mammute bringt!

In einem zweiten jener Beune-Tälchen liegt die Grotte von Font-de-Gaume.

Der Eingang öffnet sich rund 20 Meter über dem Talgrund. Ein großer Felsblock liegt davor wie ein Tisch.

Zuerst ist es hier, als solle es wirklich in eine hohe Höhle mit dem bekannten Stalaktiten-Schleier an der Decke gehen. Aber dann folgt doch noch der unvermeidliche enge Flaschenhals, eine Geheimpforte des Allerheiligsten von nur 70 Zentimeter Höhe und bedrohlicher Enge.

Als Klaatsch diesen Spalt passierte, mußte er des französischen Forschers Elie Massénat gedenken, der ihm kurz vorher alle diese bemalten Grotten als eitel Schwindel und Fälschung bezeichnet hatte. Da dieser alte Gelehrte sich eines bedeutenden Körperumfanges erfreut, erschien es Klaatsch schier unbegreiflich, daß der dicke Herr diese enge Pforte je sollte überwunden haben; und so konnte denn auch alsbald durch Zeugen festgestellt werden, daß Herr Massénat niemals am Orte gewesen war und sein Absprechen aus billiger „allgemeiner“ Skepsis geschöpft hatte — ein recht lehrreiches Exempel!

Immerhin ist wahr, daß ein eiliger Besucher, der nichts sucht, ein- und wieder ausgehen könnte, ohne das Entscheidende, nämlich die auch hier vorhandenen prähistorischen Bilder überhaupt zu entdecken.

Moderne Kieselacks sind ahnungslos gelegentlich dagewesen, haben ihren Namen auf die Wand gekritzelt, quer über ein Tiergemälde — und haben nichts gemerkt.

Ja, über ein „Tiergemälde“! Denn auch hier gibt’s Tiere und sogar gemalte.

Wahrscheinlich ist es vor allem diesmal ihre Riesengröße gewesen, die sie versteckt hat, sie erschienen bloß als weite zufällige Felder unbestimmten Brauns. Durchweg ist nämlich hier jedes Tier ein bis zwei Meter groß, und das auf drei[S. 311] bis fünf Meter hohen Wänden eines höchstens zwei Meter breiten Schachts.

Die Technik ist eine raffiniert dauerhafte: die Umrisse und ein Teil der Einzelheiten sehr tief eingeritzt und der so markierte Tierkörper dann noch bemalt, der Umriß noch einmal mit Manganschwarz, der Inhalt mit braunroter Okererde.

Gerade diese letztere Farbe paßt ausgezeichnet, da die Hauptmasse der dargestellten Tierarten diesmal Wisentstiere (jene sogenannten „Auerochsen“ unserer zoologischen Gärten) sind, deren Wolle dieses Braun entspricht.

49 solcher Wisents sind bisher festgestellt, dazu 4 Rentiere, 4 Pferde, 3 Antilopen und (hier nur) 2 Mammute.

Es ist sehr wahrscheinlich, auch aus Gründen verfeinerter Technik, daß man in dieser Grotte ein etwas jüngeres Kunsterzeugnis vor sich hat, von der andern durch eine längere Kette der Generationen getrennt; das Mammut war inzwischen vielleicht seltener geworden, der Wisent-Stier dagegen jetzt Haupt-Jagdtier.

Erstaunlich über alle Maßen ist, wie die Unebenheiten der Wand in die Bilder aufgenommen, gleichsam mit verarbeitet sind. Der untere Rand einer nischenartigen Vertiefung bildet im Bilde einen Rasenhorizont der weidenden Herde. Das Gras ist mit Strichen markiert, die Tiere der Herde zum Teil perspektivisch hintereinander geordnet.

Der buckelige, durch die Mähne nach vorne verbreiterte Umriß der Wildochsen ist geradezu genial erfaßt. Ausgesprochen genau die Füße, die nach Johannes Ranke kein prähistorischer Zeichner je beachtet haben sollte (!), sind zoologisch wie künstlerisch bis in jede Einzelheit der Hufe am korrektesten wiedergegeben.

Zwei Rentiere aber, die mit einander zugekehrten Köpfen freundnachbarlich weiden, sind nicht nur einzeln realistisch treu, sondern als belebte Gruppe wirklich „lebendig“ herausgebracht; lebendig im höchsten Kunstsinne, der mehr gibt, als bloß den Leib: der ein Stück Seele mitfaßt. Kein modernes „Tierleben“ brauchte sich dieser Köpfe zu schämen!

[S. 312]

Menschenbilder sind nicht dabei. Doch erscheinen sehr deutlich kleine Zelte, wohl die Sommer-Wigwams des Jägerstammes.

Ich klappe das Bilderbuch wieder zu. Schon hört man aus anderen Gegenden Frankreichs von ähnlichen „illustrierten Höhlen“. Aus Spanien ist bereits eine bekannt. Wer ahnt, wie viele wir jetzt noch finden werden, da der Blick dafür geschärft ist, auf die Suche geht!

Wir stehen jedenfalls erst im Anfang der Veröffentlichungen, wahrscheinlich erst auch in dem der Entdeckungen.

Wieder einmal erwächst vor uns das Unwahrscheinlichste als das Wahre: die Mammut-Zeit in Bildern aus der Zeit.

Und wieder einmal erscheint der Mensch schließlich als das Größte in allem. Ich frage mich: wo ist diese Größe auf ihrem Gipfel: bei ihm, der schon als Mammut-Jäger diese Bilderchronik in die Wände enger Höhlen grub — oder bei ihm, der mit wissenschaftlicher Kenntnis von diesem Mammut heute, nach vielen Jahrtausenden, in diese Höhlen dringt und vor dem Bilde ruft: Das ist es!

Schließlich wird die Höhe doch bei ihr liegen, der Ewig-Proteischen, die in ihm damals war und heute ist, die in der Kunst und im Menschen und im Mammut war.

Und wie ich mich in diese stille Höhle träume, wo das Licht der Kerze auf den unberührten Bildern dieser unsagbar fern verschollenen Kunststunde glänzt, ist es mir, als streife mich durch die heiße Pfingstnacht der glühende Atem ihrer rastlosen Liebe, die unablässig zeugt und zeugt durch die Äonen, — die Goethe spürte, als er sang:

„In der Liebesnächte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Überfällt dich fremde Fühlung,
Wenn die stille Kerze leuchtet.“

* *
*

[S. 313]

 

Stimmungen vor der Natur! An ihnen wird man einmal die Charakterköpfe des neunzehnten Jahrhunderts messen. An ihrer Stellung zum Naturbegriff.

Ich habe Virchow eben mit meinen Gedanken gestreift. Das ist „auch einer“.

„Indeß war ....“, so sagt einmal Goethe von irgend jemand, „bei all seinen Verdiensten doch nur einer von den .... Köpfen, die sich mit der Natur gewissermaßen im Widerspruch fühlen und deßwegen das komplizierte Paradoxe mehr als das einfache Wahre lieben und sich am Irrtum freuen, weil er ihnen Gelegenheit gibt, ihren Scharfsinn zu zeigen, da derjenige, der das Wahre anerkennt, nur Gott und die Natur, nicht aber sich selbst zu ehren scheint.“ (Geschichte der Farbenlehre, in der fünften Abteilung.)

Virchow war Naturforscher in jeder Faser. Aber er hatte keine Freude am Anschluß.

Wie ist das möglich?

Das Wort ist neulich, bei seinem Tode, gefallen von einem „Zeitalter Virchows“ in der Naturwissenschaft.

Solche Schlagworte sind immer schief, und sie werden schiefer, je näher man der Arbeit unserer Zeit auf irgend einem Gebiete kommt.

Wenn man von einer Epoche Newtons oder Linnés spricht, so enthält das schon eine große Ungerechtigkeit gegen gewaltige andere Geistestriebe, die jene Zeiten im ganzen umfassen, die aber gerade von Newton oder Linné selber keineswegs umfaßt wurden.

In der Naturforschung unserer Tage ist für die Linie, in der Virchows Größe liegt, bestimmend, daß sie überhaupt nicht mehr bestimmt werden kann durch einen einzelnen. Das Band der Methode, das alle Disziplinen dort umgreift, ist längst gegeben und ist längst unpersönlich. Darüber hinaus aber steckt die Kraft im Wirken unzähliger Persönlichkeiten, die in einem weiten Spielraum so heterogen denken mögen wie nur möglich.

Trotzdem ist es interessant, sich einmal für einen Augenblick der Fiktion hinzugeben, Virchow sei wirklich der einzige[S. 314] Naturforscher in seiner Zeit gewesen. Wie würde diese Naturforschung der letzten sechzig Jahre aussehen, angeschaut bloß in ihm?

Man kann die Fiktion ohnehin wagen für eine ganze Menge gebildeter Leute, die tatsächlich in ihrem Leben keinen anderen Naturforscher kennen gelernt haben als Virchow. Als Parlamentarier war er „der“ Naturforscher. Parlamentsberichte werden aber von einer Masse gelesen, die sonst heute noch gar keine Fühlung mit der Naturforschung besitzt. Und er hatte so noch etwa ein Dutzend anderer öffentlicher Berufszweige, wo er redete, — als Naturforscher, der er doch einmal war, redete, und wieder von soundsovielen gehört werden mußte, auch als Naturforscher gehört werden mußte, die sonst im weiten Bogen um alle Naturwissenschaft herumgingen.

In einer Virchowschen Naturforschung würde zunächst hervortreten der ungeheure Fleiß, die beispiellose Arbeitskraft in der rein quantitativen Leistung.

Es liegt in dieser Arbeitskraft allgemein heute ein Dank von Seiten der Methode: ohne die Stütze dieser fest überkommenen und, einmal erlernt, ewig sich gleichbleibenden Methode wäre diese Ausnützung der Kraft in der Naturforschung gar nicht möglich.

Aber Virchow war wirklich die Maximalgrenze.

Er arbeitete bis an die letzten Jahre heran (81 ist er geworden!) wie eines jener prachtvollen astronomischen Instrumente der Neuzeit, auf denen nie ein Stäubchen, ein Rostfleckchen denkbar ist, deren Präzision auf Generationen gebaut scheint, blank, leuchtend über die Köpfe von so und so viel einander ablösenden Sterblichen hinweg. Ein solches Instrument kennt kein Zittern. Ein einziger Willensakt, der die Richtung bestimmt: und es steht, es ist eingestellt, absolut scharf, so weit sein Bau reicht, ohne jeden Zeitverlust des Suchens. Genau so schoß Virchow auf die Dinge los. Ohne jede Nervosität, alle vorhandenen Kräfte stets im Brennpunkt beisammen. Darum erschien seine Leistungsfähigkeit oft noch viel imposanter, ja über die Grenze des Menschlichen gedehnt,[S. 315] weil sie das Geheimnis besaß, keine Zeitverluste mit verrechnen zu müssen.

Der zweite Punkt ist die Vielseitigkeit, die qualitative Ausdehnung.

Die gangbare Annahme ist, daß der Heraufgang der Naturforschung vom Polyhistor zum Spezialisten führt. Eine Naturforschung Virchows hätte dann die Stufe des Spezialistentums bereits wieder verlassen.

Er fing als Spezialist an, als Mediziner. Aber er brachte schon damals zwei Gaben mit, die darüber hinauswiesen.

Er gründete eine Zeitschrift und wußte sie hochzubringen, natürlich zunächst eine Fachzeitschrift.

Und er schrieb einen vornehm-wundervollen Stil. In Zeiten, da man seine „Cellular-Pathologie“, in wenigen Jahren ein halbes Jahrhundert alt, des veralteten Stoffes wegen nicht mehr als Lehrbuch benutzen wird, wird man sie als klassisches Beispiel nehmen, wie ein Mediziner schreiben soll, der außer dem menschlichen Körper die deutsche Sprache kennt.

Daß ihn das tolle Jahr mitriß, will ich nicht unter besondere Vielseitigkeit verrechnen, denn es hat überall bis in die verknöchertsten Spezialistenkreise tatsächlich hineingeblasen. Aber wie er in den sechziger Jahren sich dann in den preußischen Parlamentarismus, in die politische Parteibildung mit all ihrem Kleinwerk zäh hineinarbeitet, das ist im alten Spezialistensinne entschieden nicht „naturwissenschaftlich“. Es ist mindestens eine neue Auffassung von den Rechten, Pflichten und Möglichkeiten des Naturforschers. Er hatte in der Pathologie das staatsbildende Sozialleben der Zelle im menschlichen Gewebe als Spezialist zugrunde gelegt, einen sensationellen Momentfortschritt damit anbahnend. Aber daß er sich jetzt auch berufen fühlte, als Naturforscher in den wirklichen Menschenstaat einzugreifen, das erschien den meisten Kollegen als höchst überraschende Ablenkung vom gewohnten Pfad. Auch ich wäge hier nicht Virchows politische Erfolge oder Mißerfolge; das Wort mag die Partei sich wählen, die der Leser hochhält. Ich betone nur, daß er in der Linie „seiner“[S. 316] Naturforschung auch das Parlament sah, wo die Naturgeschichte des Staates praktisch betrieben wurde.

Daß er in den Kriegsjahren im Sanitätswesen tatkräftig mithalf, wird der gangbare Zünftler auch zugeben: war er doch eben von Haus aus Arzt.

Aber unerwarteter war wieder, daß er den Berliner Handwerkern volkstümliche Vorträge hielt, daß er sich an der Herausgabe einer gedruckten Sammlung solcher populärer wissenschaftlicher Vorlesungen beteiligte, die wenigstens in ihren älteren Jahrgängen viel Gutes getan und gebracht hat; daß er über Goethe als Naturforscher ein treffliches Büchlein schrieb und über die Frauenfrage mitredete.

Und doch trat auch das alles zurück gegen seine größte Aufgabe, die er sich freiwillig wählte und die er mit Energie so weit trieb, daß sie fast wieder als ein Spezialismus erscheinen konnte, bloß einer, den bisher niemand in der Naturforschung gesucht hatte.

Die Großstadt entstand bei uns.

Entstand um ihn her, der, obwohl Pommer von Geburt, aus Neigung und Beruf eigentlich seit seiner Studienzeit und als Hochschullehrer dann seit den Fünfzigerjahren in Berlin festwurzelte. Ein politisches und wirtschaftliches Produkt war sie, diese neue Großstadt an der Spree. Die meisten sahen sie mit einem Gemisch von Grauen und dunklen Hoffnungen aufwachsen, doch zunächst jedenfalls als ein Phänomen, das man hinnehmen und von dem man abwarten mußte, was es wollte.

Virchow sah vom ersten Tage die Großstadt an als ein naturwissenschaftliches Problem!

In der Hand der Naturwissenschaft lag ihm, ob dieser werdende Koloß eine Kloake werden sollte, vor der der Kleinstädter sich bekreuzte, — oder eine sanitäre Musteranstalt.

In rastloser Arbeit hat Virchow seit den Sechzigerjahren diesen Riesenorganismus studiert, hat seine leitenden „Nervenzellen“ beraten zu Gunsten der Hygiene. Man muß sich an die Schwerfälligkeit eines solchen Großstadtapparates mit all seinen Instanzen, zumal eines unreifen, erinnern, um die Leistung[S. 317] zu verstehen. Man muß sich erinnern, daß dieser junge Riese wieder eingezwängt lag in einem noch größeren, viel älteren Organismus, dem Staat, und daß dieser Staat geschichtlich sich aufgebaut hatte ohne Rücksicht auf eine Naturforschung, ja ohne Kenntnis eines Naturforschers als Berater — in Zeiten, da der Naturforscher bei Hof oder in der Polizeistube noch etwas vom Tropf, von der lächerlichen Lustspielfigur mit der Botanisiertrommel hatte.

Man kann Virchows gesamte politische Erfolge von bestimmtem Parteiboden aus als solche für ephemere Dinge ohne höheren Einsatz halten und wird doch zugeben müssen, daß sie einen ganz durchschlagenden Gewinn ergeben haben, wenn man Virchows politische Anteilnahme als nötige Vorschule faßt für jene Kulturarbeit zum Wohle der Großstadt. Bei der verwickelten Lage staatlicher Dinge von heute wäre er an die gar nicht herangekommen, hätte er nicht dort sich Kenntnis über die Mittel und Wege erworben.

Wer die Großstadt wirklich kennt, der verlangt keine kostspieligen Denkmäler in ihr, dafür ist das Elend hinter den Coulissen zu namenlos groß. Sonst würde ich sagen, Virchow verdiene ein Denkmal im eigentlichsten Sinne von der „Großstadt“.

Es bedarf aber des Stückchens Marmor nicht: wer heute durch die Berliner Straßen geht und an die Rinnsteine von ehemals, an die Kanalisationen und Rieselfelder und Wasserleitungen von heute denkt, ich meine, er riecht ordentlich den Geist Virchows und seiner Mithelfer, und das ist ein feineres, vergeistigteres Monument des „Naturforschers der Großstadt“.

Von der Zelle zur Großstadt! Dazwischen liegen zwei weite Strecken.

Nach alter Einteilung gehört die eine ganz der Naturforschung, die andere ganz einem himmelweit verschiedenen Gebiet, nämlich der Geschichte. Durch die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts herauf kommt ein ganz eigenartiger Versuch: die Geschichte, wo nicht zu erobern, doch zu erweitern durch die Naturwissenschaft.

[S. 318]

An die heikle Stelle des Überganges jener beiden Streckenteile, zwischen „Erdgeschichte“ und „Geschichte“, schob sich die „prähistorische Wissenschaft“ in jedem Zuge von ihrer Begründung her ein Kind der Naturwissenschaft, das diese zur Welt brachte zunächst unter dem heftigsten Protest des offiziellen Geschichtsprofessors.

Und wieder ist es Virchow, der sich hier festsetzt, der, mag man in hundert Einzelzügen mit ihm rechten, doch im Ganzen diese prähistorische Zettelsammlung wirklich in eine „Wissenschaft“ verwandelt hat.

Die Stärkste seiner persönlichen Position dabei war, daß er das Wissen besaß, um auf beiden Gebieten wirklich zu arbeiten, als Naturforscher und als Historiker. In den rein naturwissenschaftlichen Teilen des Gebietes suchte er immer einen Zweig zu bessern durch Verknüpfung mit einem zweiten.

Er drang darauf, die Anthropologie aufzufrischen durch die Anatomie. In der Rassenfrage drang er auf das Experiment, wozu wieder Statistik nötig wurde, für die der Staat, die Schule heranmußten: der rein philologisch gebildete Gymnasialdirektor sah sich plötzlich in diese ganz neuen Forschungszweige mit hineingerissen, indem man ihm von oben eine Tabelle über die Haarfarben und Augenfarben seiner Zöglinge abverlangte; hinter dem „von oben“ stand aber Virchow.

Das prähistorische Material begutachtete er nicht bloß im Museum. Er nahm die Schaufel zur Hand und grub selber aus.

So erschien er, immer pfeilschnell aufs klar vorbedachte Ziel losstoßend, im Kaukasus, in Ägypten, auf dem Scherbenhügel von Hissarlik in der Ebene von Troja. Er fühlte, bewährte, predigte unaufhörlich, wo auf diesem vagen neuen Terrain der Fachmann zunächst hingehöre: nicht in die Studierstube zum Grübeln über neue Theorien vor ein paar von anderen hereingebrachten Fundstücken; sondern an die Fundstelle selbst, damit der Fund selber im Moment seines Auftauchens zunächst kritisch fixiert werde. Kaum, daß diese junge Wissenschaft[S. 319] da war, so bewegte sich ihr schon nur zu gewaltsam ja das Terrain.

Eine Eisenbahnstrecke wurde gebaut: sie schnitt eine uralte Stätte auf, wie etwa den Burgberg im Spreewald. In fliegender Hast galt es an solchen Stellen einheimsen, die Zettel zu den Dingen schreiben. Für die Theorien mochten Jahrhunderte folgen, Zeit genug. Aber all ihr Wert hing unabänderlich ab von dem kleinen Zettel, den wir heute zu dem Fundobjekt legen. Dieser Zettel mußte ein Meisterstück fachmännischer Exaktheit sein — und dann durfte er doch auch noch in gutem Deutsch geschrieben sein; auf beides hielt Virchow.

Nun, es ist gesorgt, daß die Bäume in diesem defekten Leben nicht in den Himmel wachsen.

Wenn man bloß auf diese Linien sieht, die sich noch um eine Menge kleinerer Arabesken bereichern ließen, so erscheint es bedauerlich, daß Virchow nicht wirklich seine Zeit in der Naturforschung ganz nach sich bestimmte. In Wahrheit war er in den besten Zügen dieser Zeit voraus, war der Pionier einer Naturforschung, wie sie allgemein erst kommen soll.

Die Medaille hat aber auch ihre Kehrseite.

Eine Naturforschung Virchows würde dauernd und herrschend Züge aufgewiesen haben, die ich wenigstens nicht im Antlitz der „Naturforschung“ wünschte.

Jetzt, da er selbst fort ist, hat man allgemein auch in den Kreisen, die ihm nicht als Partei gegenüberstanden, sondern seine Größe einwandlos ehrten, eine Art Gefühl, als sei doch auch etwas wie ein Hemmnis hingenommen. Es waren nicht allein die allgemeinen Spuren, wie sie jede alternde Autorität zeigt, — nach deren Scheiden die Jüngeren immer von etwas Druck aufatmen, auch wenn der Mann dahinter noch so bedeutend gewesen ist. Man empfindet, daß in der ganzen Methode hier doch bei allem Vorbildlichen auch eine dauernde Fehlerquelle war. Vielleicht ein kleiner Fehler nur in dem Ganzen des Mannes. Aber in einer großen Gestalt, die stark auf ihre Zeit wirkt, pflegen kleine Fehler grade in der Wirkung riesengroß zu werden.

[S. 320]

Es war die Kehrseite von Virchows staunenswerter Vielseitigkeit, daß er für gewisse Dinge so gut wie blind war, die doch überall ihm vor den Füßen blühten.

Er achtete nicht auf gewisse Imponderabilien, die in der Naturforschung so gut ihre Rolle spielen wie in jedem anderen großen menschlichen Denkgebiet.

Was er errungen, dankte er einer eisernen Treue zu einer gewissen Methode, einem unermüdlichen Fleiß, einer ewigen klaren Beherrschung seiner selbst, einer fort und fort genährten „Klarheit“.

Die große Intuition, der Lichtblitz des Gedankens, der jäh über Weiten zuckt, der Geist, der über den Wassern schwebt — sie waren ihm fremd und er haßte sie.

Er übersah, daß die größten Leistungen auch der Naturforschung hierher stammen.

Er übersah, daß die Begeisterung aus dieser Quelle schöpft.

Er übersah, daß an dieser geheimnisvollen Stelle das unendliche Feld naturwissenschaftlicher Tatsachen beständig strebt und streben muß, sich zu einer einzigen Knospe zusammenzuschließen: aus dieser Knospe aber bricht, was allein zuletzt die ganze unendliche Gärtnerarbeit lohnt — die Lotosblume einer Weltanschauung.

Seine Leistungen kamen nicht von hier. Die Begeisterung war ihm eine lästige Trübung des kalten Forscherauges. Vor der Weltanschauung zuckte er die Achseln. Er hatte ein unnachahmliches Gesicht zu solchen Worten.

Diese Skepsis sollte ihm selbst teuer zu stehen kommen.

Er, der sein Leben lang gegen Engen, Schranken, Abgrenzungen der Geistesgebiete gegeneinander, partikularistischen Fachdünkel, Autoritätsgelüste und reaktionäre Anwandlungen aller Art sachlich wie ein Held angekämpft hatte mit einem völlig blanken Schilde —, er kam in bestimmter Beleuchtung in eine ganz gegenteilige Position.

Es mischte sich da noch ein Zweites ein, das ebenfalls zur Kehrseite der Medaille gehört.

[S. 321]

Er war der Ansicht, daß die Naturforschung bald schon in ihre Epoche trete, da sie die wahre Weltmacht im Denken der Menschheit wirklich werde. Sie eroberte der Reihe nach alle Gebiete, wie sie die Großstadt auf dem Wege einer verbesserten Kanalisation erobert hatte. Das war sein Ideal, dem das Minimum von Begeisterung diente, dessen er fähig war.

Aber dieses Ideal sah er nur erreichbar eben auf sehr nüchtern praktischen Wegen, und er glaubte, seit er im politischen Getriebe stand, etwas von diesen Wegen gelernt zu haben.

Sie forderten, daß man ein Geringes gab, um viel zu gewinnen.

Um ihre Mission zu erfüllen, mußte die Naturforschung sich in erster Linie mit dem modernen Staat vertragen. Und eventuell dann auch mit Mächten, die dieser Staat nicht von sich lösen wollte oder konnte — wie der Kirche.

Das ging aber nicht ohne Konzessionen.

Gab man also als Ring des Polykrates etwas möglichst Entbehrliches!

Virchow zögerte keinen Augenblick mit dem Geständnis, wo das zu finden sei: im Gebiet jener Imponderabilien!

Um der „Duldung“ der Naturwissenschaft willen gab er mit leichtester Hand grade die Stellen preis, wo die moderne Naturforschung sich zur Weltanschauung krystallisieren wollte.

Aus dieser Stimmung hat er gelegentlich gesagt, daß die „Tatsachen des Bewußtseins“ vom Naturforscher ruhig preisgegeben werden dürften zum beliebigen Gebrauch der „herrschenden Kirchen“.

Aus dieser Stimmung hat er die modernen Ideen über den natürlichen Ursprung des Menschen, die unsere Weltanschauung so bis ins Innerste aufrütteln müssen, mit einer Leichtigkeit durchstrichen und unter den Tisch geworfen wie ein Papier, das jetzt nicht hierher gehört, daß seine besten Mitstreiter sich verdutzt fragen mußten, ob der Mann denn überhaupt noch für die Wahrheitsideale der Wissenschaft mitfechte.

Es war in der Tat derselbe Mann, der sich für die Wahrheit irgend einer winzigen Bagatelle-Tatsache, einer Scherbe[S. 322] in einem Grabhügel etwa, ganz unbedingt hätte verbrennen lassen wie Giordano Bruno — und der doch kaum glaublicherweise vor dem ganzen Begriff Weltanschauung eine so wegwerfende Meinung zeigte, daß er dessen kostbarstes Material als die einzige Scherbe nahm, die so wertlos sei, daß man sie dem Gegner ganz ruhig hingeben könne, um nicht verbrannt zu werden.

Das Verhängnis — man kann aber hier auch sagen: die Nemesis wollte, daß in den späteren Zeiten seines langen Lebens gerade diese ketzerischen, zu Weltanschauungsdingen durchaus drängenden Menschheitsfragen sich ihm immer energischer gerade auf dem Gebiet entgegenwarfen, wo er von allen Sachkundigen mit Recht als Meister, ja als Altmeister und Bahnbrecher verehrt wurde, — auf dem prähistorischen Felde, bei Tertiär-Mensch und Mammut-Mensch. Es war das fatalste Schauspiel gerade für solche, die jedes Wort aus seinem Munde auf diesem seinem eigensten Ruf- und Ruhmgebiet durchaus gebührend aufs Höchste zu achten gewohnt waren, wie er auch hier mit immer gesteigerter Hartnäckigkeit seinen allgemeinen Ablehnungs-Standpunkt in allen Detailfragen durchzuführen suchte, — und wie er schließlich Verwirrung in solche Fragen trug, bei denen schon viel mittelmäßigere Köpfe doch die klare Linie gar nicht verfehlen konnten, — er, der Meister der Klarheit und umsichtigen Kritik! Ich weiß wohl, daß der Glaube noch weit verbreitet ist, Virchow habe in seinem Kampf gegen den Neandertal-Menschen, den Tertiär-Menschen, den Menschen als Mammutzeitgenossen und verwandte Fragen bis zu der Allgemeinfrage der Verwandtschaft des Menschen mit den anatomisch nächsten Säugetiergruppen, stets den Standpunkt der nüchtern-besonnenen Kritik gegenüber der waghalsig schweifenden Hypothese vertreten. Die Dinge lagen in Wahrheit aber bei diesen Spezialfragen genau umgekehrt. Virchow war es, der schließlich die verwickeltsten, unwahrscheinlichsten Hypothesen aufeinandertürmte, um Dinge umzudeuten, die vor der schlicht nüchternen Anschauung nur eine einzige gerade und einfache[S. 323] Deutung zuließen. Seine Kritik des Neandertal-Schädels, die heute als endgültig zurückgewiesen gelten kann, ist das schlagendste Beispiel. Er hatte eben in diesen Dingen den schlichten Standpunkt vollständig verloren. Er ließ sich an autoritativer Stelle zu Aussprüchen hinreißen, die allen Elementarergebnissen der vergleichenden Anatomie ins Gesicht schlugen, — ein Anfänger, ein Student, konnte ihn schließlich bei einzelnen Sätzen korrigieren. Geister, die ihn intensiv liebten, mit ihm gern durch Dick und Dünn gegangen wären, hat er zur Verzweiflung gebracht mit solchen unberechenbaren Schachzügen.

Ich will hier ausdrücklich nicht in den Fehler verfallen, daß ich Virchow deshalb wirklich eine reaktionäre Natur nenne. Das mögen andere machen, denen es im Parteitreiben selber nicht um ein Wort zuviel zu tun ist. Er war in einem einzigen Punkte — nicht ein Reaktionär, aber ein Diplomat.

Die große Wissenschaft jedoch kennt keine Diplomatie.

Ob die Naturforschung je in unserem Gesamtleben die führende Rolle übernehmen wird, wie Virchow felsenfest geglaubt hat, sei dahingestellt. Sicherlich wird sie es nur, wenn sie es je tut, in der Form einer naturwissenschaftlichen Weltanschauung. Aber ebenso sicher ist, daß sie jetzt und jederzeit sich ihr eigenes Todesurteil fällt im Moment, da sie Konzessionen macht an irgend eine Macht des Himmels und der Erden außer ihr.

Virchow war groß genug, daß man ihm das nachrufen kann. Er hat genug geschaffen, was dauern wird. Gerade vor seinem Gesamtbilde läßt sich ohne Bitterkeit aussprechen: daß ein Gedanke seines Lebens, von anderen erfüllt, die Axt gelegt hätte an seine eigene große und lichtbringende Arbeit, — weil er nämlich die Axt gelegt hätte an den Grundpfeiler unbeirrter Wahrheitsforschung.

... Nein, aus diesen entscheidenden Gründen wird man kein Zeitalter der Naturwissenschaft benennen nach Virchow.

Er ist einer der stärksten Träger der Naturforschung in seiner Zeit gewesen, sowohl was Arbeit wie was Ansehen[S. 324] betrifft. Aber er ist kein Förderer gewesen für uns im Naturbegriff.

Und das gibt zuletzt reinlich den Ausschlag.

Man mag noch so eifrig versuchen, die Naturforschung bloß aufzubauen auf den einsamen, voraussetzungslosen Imperativ des: Du sollst bloß forschen über einzelne Kausalzusammenhänge der Erscheinungen in der Natur, nichts weiter, — es ist Deine Pflicht, — weiter frage nicht, .... es hilft schließlich alles nichts, wenn hinter diesem Imperativ nicht auch der Sinn steht einer Weltanschauung, einer Auffassung von dieser Natur, aus der alle freudige Arbeit ausfließt und in die alle fruchtbare Arbeit wieder einfließt.

Auch hier, wenn je, gilt das alte Wort des Paulus: „... und hätte der Liebe nicht, so wär ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle.“

Diese Liebe kann immer nur aus einer großen, umfassenden Anschauung der Dinge kommen, aus einer Ecke, wo den Menschen der heilige Sturm anrauscht, der ihn über sich hinausführt in ein unendlich Umfassenderes hinein, der ihm seine ganze kleine Person und ihre Augenblicksinteressen und alle Mittelchen winziger Diplomatie zugleich wegfegt wie dürre Spreu ...

Virchow selber war ja noch in sich getragen gleichsam von einem Zehr-Kapital solcher Liebe aus einer älteren großen Epoche der Naturauffassung, so wenig er es Wort haben wollte, — in seiner eigentlichen Forschung, zumal in den besten Jahren, atmete alles an ihm unbewußt doch noch solche Kern-Liebe; ohne das hätte er überhaupt nie schaffen können, was er positiv geschaffen hat. Aber eine Generation, von ihm in seinen Grundsätze, wie er sie bewußt verfocht, erzogen, würde nichts mehr sein als eine Generation der „klingenden Schelle“ in der Naturforschung.

Wenn ich auf die ganze philosophische Stimmung der Zeit sehe, in der Virchow emporgestiegen ist, so meine ich ein tiefstes, von ihm unabhängiges, aber ihn zwingendes Motiv zu gewahren, das in sein Widerstreben gegen jede Weltanschauung, jede größere Naturauffassung zweifellos mit hineingespielt hat und[S. 325] das durch persönliche Fähigkeitsschranken bei ihm wohl nur unterstützt wurde.

Virchow gehörte der gleichen Denkgeneration an, wie Karl Vogt, wie so viele andere bedeutende Naturforscher seiner Zeit, die alle in gewissen Zügen das gleiche Los gehabt haben.

Söhne und Enkel einer durch und durch idealistischen Generation, Idealisten in jedem Zuge selbst, sahen sie sich in die Naturforschung versetzt durch stärksten inneren Beruf — und nun aber in dieser Naturforschung sahen sie sich in eine Zeitströmung mechanistischer Denkweise und Forschungsmethode hineingerissen, die jeden Anschluß zu einer idealistischen Auffassung der Dinge verloren zu haben schien.

Es war das an und für sich ein philosophischer Irrweg, denn es gibt, wie ich wenigstens fest glaube, eine Art des „Mechanismus“, die sich durchaus mit einer idealistischen Weltanschauung verträgt. Aber die Zeitmeinung war damals jedenfalls die genau entgegengesetzte. Einerseits wurde die mechanistische Methode seltsamer Weise überhaupt nicht mehr für „Philosophie“ gehalten, sondern sollte einfach identisch sein mit exakter Naturforschung. Andererseits wurde diese von ihr durchdrungene Naturforschung eben als „mechanistische“ doch ausgespielt gegen jeden Idealismus der Welt- und Naturauffassung.

Eine ganze Reihe bester Köpfe dieser Virchowschen Generation ging, ich möchte wohl sagen, philosophisch von Anfang an unter in diesem künstlichen Konflikt.

Ihr innerer intuitiver Idealismus, der als eine Art kategorischen Imperativs in ihnen stand, fand keinen andern Rettungsausweg als den Ruf: Nieder mit allem Nachdenken über den Naturbegriff! Fort mit aller Weltanschauung! Nicht denken an das Verhältnis zwischen mechanistischer Forschungsmethode mit lauter mechanistischen Ergebnissen und dem Idealismus als Ur-Ansporn aller Wahrheitsforschung! Nicht rühren an Philosophie, damit wir uns nicht den Widerspruch selber eingestehen müssen!

[S. 326]

Daher das unflätige Schimpfen auf jede Philosophie bei einem so feinen, so liebenswürdigen, in jedem Betracht so geistreichen, so geistig feinschmeckerischen Kopf wie Karl Vogt. Und daher das wunderliche Diplomatenspiel in seiner einen Wurzel, seiner tiefsten am Ende doch, auch bei Virchow.

Mit klaren Karten hätte sein Bekenntnis etwa gelautet: um in der Naturforschung etwas zu leisten, brauchen wir mechanistische Methode, aus dieser Methode resultiert als Weltanschauung ein toter Mechanismus als Weltbild; mit dieser Weltanschauung verträgt sich unser Idealismus, das eigentliche treibende Grundmotiv all’ unseres Arbeitens, also auch des Naturforschens, nicht, also halten wir den Mund, sobald jemand von Weltanschauung reden will; überlassen wir dieses ganze Feld lieber offen solchen Mächten, wie der Kirche, — ein Frieden, für den uns noch obendrein der Staat lobt und durch seinen Schutz lohnt; mag sie sich damit blamieren oder was sonst: — besser immer, als wir sägen uns selber den Ast ab, auf dem wir sitzen.

Was Virchow nicht fand — und worin auch er in all’ seiner Größe eben klein geblieben ist und nicht ein bahnbrechender König und Meister im Gedankenleben seiner Zeit geworden ist: — das war eine wahre philosophische Versöhnung von Mechanismus und Idealismus, eine wahre Brücke von den Resultaten objektiver Forschung zu den subjektiven idealistischen Wurzeln und Motiven jeglicher Forschung eben auf Grund einer noch umfassenderen, beides umfassenden philosophischen Klärung und Vertiefung des Naturbegriffs.

Ein einzelner kann in sich Verstecken spielen ein Menschenleben lang. Ganze Generationen vermögen das auf die Dauer nicht.

Jener innere Widerspruch, den Virchow mit einer verzwickten Stellung hinter sich verdeckte, wird unserer Zeit jetzt schon allenthalben im Ganzen doch sichtbar.

Und je deutlicher sie ihn sieht, desto deutlicher wird ihr auch die Forderung einer resoluten Lösung in jenem positiven Sinne, in ein Neues hinein.

[S. 327]

Dabei kann ihr eine Übergangsgestalt wie Virchow selbst natürlich nichts mehr sagen.

Wir haben ganz und gar keine Lust, lieber in den wichtigsten Weltfragen pro forma zum Kirchendogma zurückzukehren, bloß damit nicht offenbar werde, daß unsere Forschung ein schwarzes Scheusal heimlich geboren habe, das unserm Idealismus die Leber ausfrißt.

Wir wollen weder diesen Idealismus einbüßen, noch die Naturforschung und ihre Ergebnisse.

Das Wie ist eine Forderung.

Aber noch keine strebend sich bemühende Zeit ist daran gestorben, daß sie eine große geistige Forderung hatte. Im Gegenteil. An faulen Kompromissen und der lähmenden Behauptung des Dogmas, dem alle Fragen Himmels und der Erden gelöst gelten, sind Zeiten versumpft und versandet, — noch nie an der steilen Größe ihrer Ideale.

* *
*

 

Man kann nicht an Virchow denken, ohne daß dem Blick auch die andere Gestalt aus der „Hochburg der Naturforschung Berlin“ vom letzten Drittel des Jahrhunderts auftaucht: der alte Dubois.

So grundverschiedene Persönlichkeiten Emil Dubois-Reymond und Rudolf Virchow waren — der eine so ganz und gar „ohne Sinn für Feierlichkeit“, wie Fontane sagte, in seinen Schwächen wie in seiner Größe, der andere der geborene Feier-Redner, immer mit Pomp und auf einem schweren Piedestal, schon als Lebender der eigenen Absicht nach wie der Humboldt des Standbilds mit einem riesigen Marmorfolianten, dem Welt-Gesetzbuch des Naturforschers, auf den Knieen —: in ihrer Stellung zu der großen Herz-Frage der „Natur“ besaßen sie eine packende Ähnlichkeit.

Beide waren Naturforscher ersten Ranges, was exakte Arbeit anbelangt: Dubois in der Gesamtleistung wohl nicht annähernd so vielseitig, so praktisch nachhaltig und so bahnbrechend[S. 328] wie Virchow, aber doch intensiv immerhin genug für eine ganz hervorragende Stellung in der Arbeit seines Jahrhunderts.

Beide waren zweifellos hingebende Idealisten in ihrem innersten Wesen.

Beide haben notwendig nach den größten Gesichtspunkten suchen müssen, da sie beide den Naturforscher für den berufenen Führer der Zeit hielten, in der aufsteigenden Naturforschung den Brennpunkt unserer Kulturentwickelung sahen und beide dabei ein ungewöhnlich starkes Gefühl für die Breite dieser Kultur über die verschiedensten Geistesgebiete fort besaßen.

Beide aber sind grade vor dem äußersten, dem höchsten Problem einem seltsamen Schicksal verfallen.

Die Reaktion, die um jeden Preis von der ganzen Naturforschung fortwollte, hat sich beider auf gewisser Höhe bemächtigt, um grade sie als schärfsten Trumpf auszuspielen.

Und so wenig sie selber deshalb Reaktionäre waren, so logisch war doch diese ungewollte Nachfolge.

Denn Dubois genau wie Virchow ist in der Formulierung und Deutung des Naturbegriffs hoffnungslos stecken geblieben. Und je gebieterischer die Zeit, die ja wirklich eine „Zeit der Naturforschung“ war, nach einem Fortschritt, einer Hülfe, einer Klärung an dieser grundlegenden Stelle verlangte, desto notwendiger mußte sie durch eine schiefe, unbrauchbare, irre führende Definition und Auffassung gehemmt und ins Ungewisse verstoßen werden. Das haben die reaktionären Verächter des Wortes „Natur“ aber sofort klar herausgefunden.

In der Art, wie beide ihre Stellung bewußt suchten und zeigten, waren sie ja wieder grundverschieden. Sie waren da temperamentsverschieden.

Virchow sprach sich eben zu den Grundfragen überhaupt nicht aus. Er offenbarte seine Anschauung nur in einem konsequenten Verhalten. Es steckte in dieser Art etwas Zähes, das Mundhalten, aber Handeln eines verschlossenen, aber innerlich eisig klaren Diplomatenkopfs, das ihn eben in seiner Art als Charaktertypus eines „Staatsmanns“ bestimmter Schule (etwa[S. 329] im Ideal Rankes) erscheinen läßt, wenn man von der Sache absieht und rein die Charaktersilhouette zu fassen sucht.

Dubois im Gegensatz dazu war eine viel naivere Natur. Er hatte einen ganz bestimmten Form-Ehrgeiz, auch eine Art Form-Eitelkeit, kann man sagen. In gewissem Reifestand spitzte sich ihm alles zu einem großen Bonmot zu. Das mußte dann heraus, mußte in einer bengalischen Beleuchtung heraus; bei sich behalten konnte er es nicht mehr, und wenn es in die Welt sollte, so setzte bei ihm der Sporn ein, daß es nun auch in einer verblüffend individuellen Fassung als „von ihm“ kam.

Dubois ging zeitlich genau parallel zu Virchow, und es ist also kein Wunder, daß seine Denker-Bahn vor dem Naturbegriff in ihren Voraussetzungen so gut wie genau gleich bei ihm eingestellt war.

Auch bei ihm erfolgt in den besten Jahren ein glattes Einlenken in rein mechanistische Erklärungsversuche, — ein Einlenken, das zunächst den höchsten praktischen Erfolg hat, dem der Zeitgeist zujubelt und vor dem es gar keinen Bruch, keine Haltstelle zu geben scheint. Trotzdem aber kommt der innere Ruck, innere Chok, — eines Tages, — bei beiden. Der Moment, da ihnen bei ihrer mechanistischen Naturähnlichkeit bange wird. Und der Konflikt erwächst gerade aus der ehrlichsten eigenen Hauptarbeit selbst.

Virchow hat auf der ersten Höhe seiner Bahn den glücklichen Gedanken, auch im lebenden Organismus des Menschen den Begriff des „Zellenstaates“ durchzuführen. Wie der tote menschliche Körper sich anatomisch noch aus den im Mikroskop nachweisbaren einzelnen Form-Elementen, den „Zellen“, zusammensetzt, so muß auch der physiologische, der lebendige Mensch ein Produkt, ein Additionsexempel der Funktionen dieser Millionen von einzelnen Zell-Leistungen sein. Der Mensch ist ein „Zellenstaat“, sein Handeln die Summe der Leistungen der einzelnen Staatsbürger, der Zellen.

Bis hierher war die Sache glatt. Man hatte im objektiven[S. 330] Bilde nur die Zusammenarbeit all’ dieser Millionen subjektiver Zentren, der Zellen.

Aber nun ein Haken im Vergleich. Der aus so und so viel Bürgern zusammengesetzte Staat hatte doch, gangbarer Auffassung nach, deshalb noch nicht wieder ein Gesamt-Ich, ein Gesamt-Bewußtsein. Der Zellenstaat „Mensch“ hatte das dagegen zu seinen Lebzeiten unanzweifelbar. Gerade von diesem Gesamt-Ich gingen wir ja naiv beständig aus, von seiner Einheit. Mein — also etwa Virchows — Bewußtsein, war dieses Gesamtbewußtsein über einer Pyramide von Millionen Zellen.

Hier lag etwas Verzwicktes. Steckte doch etwas Falsches in den Grunddefinitionen? Aber mit denen waren wir ja doch gerade praktisch so weit gekommen, — zu dieser Lehre vom Zellenstaat, die eine ganz neue Pathologie verhieß!

Und Virchow machte seinen Salto mortale. Wir gehen ruhig in der Bahn weiter. Die „Tatsachen des Bewußtseins“ aber lassen wir für sich stehen, als existierten sie nicht. Damit sie möglichst aus dem Versuchungsbereich des Naturforschers verschwinden, liefern wir sie sogar gelegentlich, bei vorteilhaften Konzessionsmöglichkeiten, willig ganz anderen, dem Naturforscher an sich gar nicht diskutabeln „Geistesgebieten“ aus: der Theologie, der „herrschenden Kirche“, der je nachdem kirchenfreundlichen „Staatsraison“. Je fester sie dort einregistriert werden, desto sicherer sind wir sie nämlich los. Will uns Einer in der Naturwissenschaft fortan von „Bewußtsein“ reden, so rufen wir ihn einfach zur Ordnung wegen Grenzschmuggel, — er bringe uns Religion, Theologie, Kirche, Staat hinein; eine Diskussion über die heikeln Punkte selbst schneiden wir so geschickt vorher ab.

Dem guten Glauben nach war dieser Kompromiß eine Rettung der Reinheit des Forschungsfeldes für den Naturforscher. In Wahrheit war er der endgültige Verzicht auf einen echten umfassenden Naturbegriff.

Ein Naturbegriff, bei dessen Definition das Bewußtsein über Bord flog, als Dublette gewissermaßen verschachert[S. 331] wurde, war ja ein Hohn seiner selbst. Mit vollem Recht mußte der Theologe alten Stils mit Lachen auf ihn herabsehen, der er die Grunddinge unserer eigenen Persönlichkeit aus seiner Anthropologie einfach fortließ.

Aber Virchow blieb ein Menschenalter lang zäh. Er hatte im Eigensten seine Wegwende gehabt, wo es ihm geheißen hatte: jetzt mußt Du weitergehen ohne Dich umzusehen; siehst Du Dich um, so versteinerst Du zur Salzsäule wie Loths Weib; und die Handlung dünkte ihm fortan eine Lebensaufgabe, die andern auch über diesen kritischen Punkt zu bringen.

Genau auf diesen Punkt aber geriet auf seiner Bahn parallel auch Dubois.

Seine Lösung war die vielberühmte Ignorabismus-Rede.

Keine Handlung bei ihm, sondern eben eine Rede. Er wurde daran nicht zum schweigenden Schulmeister, der die Zähne aufeinander biß und handelte, ohrfeigte, lobte, alles aus dem Prinzip, das aber selbst nicht gelehrt wurde. Er wurde zum Bekenner, der sein Glaubensbekenntnis offen abgab, mit rednerisch betontem „Ich“.

Die Wirkung war aber ungefähr die gleiche. Denn der Inhalt hatte im Innersten eine ganz frappante Ähnlichkeit.

Auch hier gab es, und zwar diesmal scharf ausgesprochen, eine Bankerotterklärung.

Der Naturbegriff müßte, um ein Weltprinzip, die wahre Basis einer Weltanschauung für uns zu werden, die Frage lösen: wie Materie denkt?

Diese Frage aber, so bekennt Dubois, ist für uns ewig unlösbar! Wir werden das nie begreifen. Ignorabimus!

Die Gegner jubelten.

Also war es nichts mit dem Naturbegriff, mit der ganzen „Natur“! Der Naturforscher verzichtete auf Weltanschauung. Denn eine Weltanschauung muß, wenn sie nicht schon eine Lösung irgendwie besitzt, mindestens doch die Möglichkeit einer solchen Lösung als Arbeitsprogramm enthalten. Sie muß einem „immer strebenden Sichbemühen“ das Tor frei lassen. Auf[S. 332] Ignoramus kann man noch eine Philosophie aufbauen. Auf Ignorabimus nicht mehr. Vor ihm hebt sich jeder Wert des Erkenntnissuchens selbst auf. Wo aber die Werte fortfallen, fällt nach unerbittlichem praktischem Gesetz, in dem wir so sicher hängen wie im Gravitationsgesetz, die Sache selbst dahin.

Und das sollte also Ergebnis des grandiosen Höhenfluges der Naturforschung sein?

Dubois selbst hatte mit der Kirche gar keine Berührungspunkte. Er besaß auch nicht die äußeren Konzessions-Neigungen des Politikers Virchow. Er war Zeit seines Lebens nach dieser Seite ein unabhängiger Mann, trotzig und mutig wie Tyndall, Huxley, Vogt. Sein Naturforscherstolz war so hoch entwickelt, daß er ein Ding wie einen Theologen gar nicht mehr unter sich sah, geschweige denn als Rivalen neben sich empfand. Auch im Moment seines Bekenntnisses sah er sich ganz allein, oder höchstens im engen Kreise einer Anzahl erster Naturforscher unter sich. Er, oder wir, waren die Titanen, die den Kopf auf die Hand stützten, in das schwarze Loch jenes bodenlosen Dilemma starrten und aus tiefster Brust mit dem Donnerton unserer Stimme bekannten: „Es ist halt nichts. Wir haben uns verrannt auf ewig.“

Aber wenn die Riesen sich klein machen — das ist nun so — dann werden die Zwerge Riesen. Im Moment, da er sein Bekenntnis preisgab, als Redner, der auch noch zu einem Bekenntnis der eigenen Ohnmacht den Beifall für eine prächtige rednerische Wendung brauchte, — in dem Moment ragten die verachteten Theologen plötzlich wie die Pilze über einen gestürzten Baumriesen hinweg, — sie waren groß im Verhältnis zu ihm und die Menge sah es und schloß danach.

Dubois kochte vor Wut, als ihm einmal einer vorwarf, er habe dem Ultramontanismus in die Hände gearbeitet. Nein, es konnte keiner dem Ultramontanismus innerlich ferner stehen als diese trotzigen Naturforscher-Gestalten des 19. Jahrhunderts, zu denen Dubois in jeder Faser gehörte.

Aber ich denke an Fechners schönes Bild von den Taten[S. 333] des Menschen, die über seine leibliche Person hinaus selber einen neuen Leib bilden.

Der Tatenleib dieses Duboisschen Bekenntnisses war nicht mehr er selbst, der stolze Physiker und Physiologe auf der Höhe seiner Wissenschaft, führende Gestalt seiner Zeit im eigenen Glauben; er war ein kleines gebrochenes Männchen mit den Zügen des Famulus Wagner, der sich in seine Apotheke verschloß, wo man seine Kleinarbeit eben duldete; die Faust-Fragen hatte er abgeschworen.

Der Naturforscher war in diesem Männlein wieder zum armen Handlanger herabgesunken.

Man schickte zu ihm um ein Pülverchen, wenn man keinen Stuhlgang hatte. Wer Auge in Auge mit den großen Weltfragen stand, der dachte nicht an ihn, denn er wußte, daß seine Weisheit nicht über die Aufschrift auf ein paar Dutzend Porzellankruken mit kleinen Hausmittelchen reichte. Er mußte sich anderswo helfen.

Und wer schon die Natur aufgegeben hat, dem bleiben nicht viele Wege. Die Klingel zum Pfarrer ist gleich nebenan. Und was der nun in seinen Kruken hege: Ignorabimus steht gewiß nicht darauf.

.... Und dabei: — was für ein schwacher Trugschluß bloß steckte auch hinter diesem Abfall!

Ich kenne in der ganzen Geschichte der neueren Philosophie keine so grobe Denkfalle, wie die, in die der große Beobachter und Experimentator Dubois naiv hineingegangen ist.

Blättern wir, um dem Problem ins Herz zu schauen, noch um eine Gestalt zeitlich zurück.

— — —

Was ist das Leben?

Vor der Glasveranda, in der ich sitze, fluten die goldgrünen Wiesen weit hinaus. Sie branden endlich mit einem krausen, wulstigen Waldsaum vor einer ungeheuren, tiefblauen Mauer der Kammwand des Riesengebirges.

[S. 334]

Mitten im Wiesengrunde hebt sich winzig, aber blendend weiß, eine ländliche Kirche mit spitzem Turm herauf.

Und ganz vorn, in der ersten Wiese, steht eine alte Frau und mäht mit sehnigem Armstoß die hohen blauen Glockenblumen um, Stoß um Stoß.

Ich sage mir, daß dieses ganze schöne Bild, diese Farben, diese wundervolle Gebirgslinie in diesem Moment in einem tiefen, rätselvollen Zauberbrunnen der Natur schwimmen: meinem lebenden Auge.

Was lebt da?

Und ich sage mir, daß der kleine weiße Spitzturm dort drüben eigentlich nur das Fragezeichen, das uralte Fragezeichen der Jahrtausende hinter jenem Satze markiert.

Es ist gewiß einer der wenigen abstrakten Sätze, die in irgend einem Sinne auch jene schlichte Bauernalte hier vor ihrer Sichel über den Glockenblumen begreifen würde — nicht physiologisch, aber aus einer eisernen Erfahrung von sechzig Lebensjahren voll unzähliger verworrener Dinge ohne Antwort.

Nur den Titel des Buches verstände sie eben nicht, in dem ich gerade geblättert habe. Und wie viele verstehen ihn nicht in unserer Zeit, die mit Bildung prunkt.

Es ist hundert Jahre rund her, daß der Mann geboren worden ist, der auf dem alten schlechten Löschpapier des Titelblattes aus den Dreißigen des neunzehnten Jahrhunderts steht: der „Dr. Johannes Müller, ordentlicher öffentlicher Professor der Anatomie und Physiologie an der Königl. Friedrich-Wilhelms-Universität und an der Königl. medizin.-chirurg. Militär-Akademie in Berlin“. Es ist sein „Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen“. Gedruckt in seiner Vaterstadt Koblenz. Mir sind zufällig zwei Auflagen zur Hand: auf der vierten von 1844 ist er schon Geheimer Medizinal-Rat, vierzehn Jahre später war er schon tot, hingemäht von einer Krisis des allzu intensiven Lebens.

Auch der Mann hat an dem Problem gerüttelt, ist mit dem Kopf gegen das Fragezeichen gerannt.

[S. 335]

An Johannes Müller muß man sich zuerst einen Augenblick klar erinnern, wenn man die Absturzstelle finden will, von der Dubois in sein „Ignorabimusfiel. Es schadet aber heute überhaupt nichts, einen Moment bei ihm stehen zu bleiben.

Wenn man aus der Perspektive jetzt von hundert Jahren auf Johannes Müller schaut, so meint man wohl, man könne ihn gar nicht mehr allein sehen. Er erscheint in einem Gedränge, nur einen Kopf hoch vorragend, wie die großen Männer auf offiziellen Treppenhaus-Dekorationen, die gerade so weit vorkommen, daß man noch den Orden Pour le mérite unter der Halsbinde sieht. Er war das Haupt einer Schule, und das Charakteristische dieser Schule war, daß die Besten darin doch so auf eigene Façon selig und berühmt wurden, daß man sie nicht als Schüler zu verrechnen pflegt. Neben Dubois gehörte Haeckel dazu. Ein dritter, Schwann, entdeckte in seinen Arbeitsräumen die tierische Zelle, eine Leistung, nach der man die ganze Physiologie des 19. Jahrhunderts allein benennen könnte, wenn eine einzelne Entdeckertat den Ausschlag geben soll.

In unsagbar armseligen Räumen, bei einem Assistentengehalt zum Verhungern.

Aber es war noch die große Zeit, wo die Leistungen wirklich genau im umgekehrten Verhältnis zu Größe und Prunk der Institute standen, wie Haeckel es gelegentlich ausgedrückt hat. Bei Claude Bernard in Paris sah es noch schlimmer aus.

Nimmt man hinzu, daß Müllers dauerndstes Werk ein zusammenfassendes, rückschauendes Kompendium seiner Wissenschaft war, so könnte man versucht sein, ihn bloß für eine Übergangsgestalt zu halten, wie sie in der offiziellen Geschichte der Wissenschaften imponierende Namen bewahren, als Vermittler wirklich viel getan haben, aber für die eigentlich geistige Innenlinie doch zurücktreten. Das trifft aber hier gerade den Kern nicht.

Johannes Müller war seiner echtesten Art nach ein durchaus einsamer Mensch. Ein einsamer Kämpfer, Auge in Auge bloß für sich mit dem großen Rätsel. Seine Wissenschaft, die[S. 336] Wissenschaft vom Leben, war ihm nicht ein Paragraph, den man elegant weiter gab, sondern dieses Rätsel.

Es ist merkwürdig, wie einstimmig seine großen Schüler ihn alle gelobt haben, von den verschiedensten Richtungen aus. Das gibt immer eine starke Wahrscheinlichkeit dafür, daß, streng genommen, keiner mit ihm intim geworden ist; dauernde Bewunderer finden nur Menschen, deren Größe etwas Einsames, einen Grund von Undurchdringlichem besessen hat, der der Auflösung, der Gewöhnung, dem Banalwerden trotzt. Inmitten der unbegrenzten Achtung wird von seinem dämonischen Blick erzählt, den niemand ertrug, vor dem die jungen Studenten sich fürchteten. Es war der Blick des Adepten, des Gezeichneten für die Einsamkeit.

Solche intensiven, vom Rätselhaften der Welt faszinierten Einsamkeitsdenker sind allemal Weltanschauungsfiguren ihres Jahrhunderts — viel mehr als Lehrer oder auch als Spezialforscher.

Das Wissen vom Leben war und ist eine Weltanschauungsfrage. Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war Johannes Müller der unbestritten gründlichste Denker über das Leben. Er war nicht ein Physiologe, sondern der Physiologe seiner Zeit. Ganz scharf kennzeichnet sich die Epoche, die sein Name beherrscht, in der Geschichte des menschlichen Denkens, scharf wie wenige.

Mit „Natur“ als Losungswort hatte das Jahrhundert schon eingesetzt. Aber es kam zuerst in der Zusammensetzung „Natur-Philosophie“. Das Abendrot der großen idealistischen, ästhetisierenden Denkperiode, die tief ins achtzehnte Jahrhundert zurückreicht, flammte darin um das neue Wort.

Dann wenden sich die Dinge. Es beginnt die umgekehrt scharf realistische Periode. Zunächst mit einem bleiernen, kreidigen Morgenvorschein. In ihm prägt sich das Wort um in „Natur-Wissenschaft“.

Auf der Wende dieser beiden Perioden aber steht vor dem Begriffe „Leben“ Johannes Müller.

Das Typische in ihm ist, daß er seiner Liebe nach noch[S. 337] ganz Naturphilosoph der Hegel-Schelling-Fichte-Schillerschen Epoche war. Er wollte dieser Naturphilosophie in der Physiologie bloß einen besseren, einen dauerhafteren Untergrund bauen. Als der Neubau aber dastand, war er für die ganze junge Generation, die sich plötzlich unter ihm sah, ganz etwas anderes als bloß ein neues Fundament.

Das ganze Abendrot schien hinter ihm untergegangen: gerade sein Schatten selbst aber erzeugte nach vorne in voller Kraft jenes neue kreidige, unbestimmte Dämmerlicht eines kühlen Frühmorgens.

Müller war seinem innerlichen Ausgangspunkte, seinem Temperamentspunkte nach noch eine durch und durch religiöse Natur.

Er glaubte an Zwecke, Ziele in der Welt, an einen Sinn der Welt. Die Teleologie steckte seinem Denken im Blut ohne Hehl.

Aber ebenso konsequent neigte er von Anfang an dazu, diese Zwecke, Ziele, diesen ganzen „Sinn“ für eine wissenschaftliche Betrachtung innerhalb des naturgesetzlichen Zusammenhanges der Welt zu suchen, oder eigentlich noch besser gesagt: identisch damit. Alles war kausal verknüpft. Aber diese Reihe der Kausalität war von Anfang an so gelegt, daß ein Ziel, ein Sinn schließlich herauskamen. Teleologie und Kausalität lagen sich nicht in den Haaren, sondern standen vor genau der gleichen Sachfolge. Die kausale Betrachtung sah bloß auf die Art der Verknüpfung, die teleologische auf das Endergebnis. Mochte man nun im praktischen Bedarf die Teleologie mehr der Philosophie überantworten und die exakte Naturforschung enger auf die rein kausale Schau einstellen: das war eine Bequemlichkeitsfrage menschlicher Arbeitsteilung — für Müller selbst bedeutete es jedenfalls keinen ernsthaften Riß.

So weit seine verwickelte Persönlichkeit überhaupt durchsichtig ist, ist auch diese idealistische Stellung zu den Dingen bei ihm klar.

[S. 338]

Und mit solchen Gesinnungen betrat er nun sein Spezialgebiet, — das Leben.

Herrschend auf diesem Boden fand er den Begriff der „Lebenskraft“. Der ganze Johannes Müller als Physiologe taucht auf, wenn man dieses Wort ausspricht.

Das ungefähr war das Dogma der Physiologie, wie er es erhielt: zwischen dem Lebendigen und Toten gähnt eine unüberbrückbare Kluft; im Bereich des Leblosen herrschen die Kräfte der Chemie und Physik; im Lebendigen gelten diese zwar auch, aber über ihnen steht noch ein Geheimprinzip, das sie meistert, ein Genius, dem sie untertan sind; und diesem Prinzip wird das eigentlich Merkwürdige des „Lebens“ verdankt; geben wir ihm also danach seinen Namen: — die „Lebenskraft“. Im Büchlein vom „Rhodischen Genius“ hat der junge Alexander von Humboldt (noch in Schillers „Horen“!) die Lebenskraft geradezu so als persönlichen „Genius“ geschildert, der die chemisch-physikalischen Kräfte in Sklavenfesseln hält, so lange der Organismus „lebt“. Stirbt der Genius, so fallen die entfesselten rohen Kräfte über den toten Leib her.

Im Grunde war diese Lebenskraft, wie sie Müller erhielt, ein Knäuel teils sich klärender, teils aber auch noch hochgradig unklarer Definitionen und Auffassungen. Subjektive und objektive Anschauung, Seelisches und Mechanisches, Innen und Außen, Zweck und Folge, freier Wille und kausal gebundene Kraft, alles Mögliche und Unmögliche war in den Winkel dieses Wortes zusammengekehrt. Es schien fast eine Forderung über Menschenkraft, aus diesem Wirrwarr praktisch aufzutauchen, das nur geschichtlich zu begreifen war.

Nun, Müller acceptierte zunächst ruhig das Wort. Was an ihm naturphilosophisch etwa im Sinne der Schellingschen Epoche war, schreckte ihn, den Naturphilosophen aus Neigung, ganz und gar nicht. Kaum einer hat in dieser Hinsicht die Lebenskraft „mystischer“ gefaßt, als grade er. Als ein unbewußt zweckmäßig schaffendes, dämonisches Grundprinzip der[S. 339] lebendigen Natur erschien sie ihm, mit dem wir bei dem absolut Geheimnisvollen standen, das selber überhaupt keine Diskussion vom exakten Boden aus zuließ. Den leibhaftigen Finger Gottes glaubt man manchmal aus seinen Definitionen herauslangen zu sehen.

Und doch machte er eine einzige, eine scheinbar ganz kleine Konzession, eine kleine Bedingung, die aber eigentlich die ganze Schlachtlinie veränderte.

Lebens-Kraft lautete das Wort. Das Leben sollte etwas sein, was über den gewöhnlichen Kräften der Chemie und Physik stand. Aber indem man den Lebensgenius auch selber grade „Lebenskraft“ taufte, hatte man ganz in der Stille dabei ihm doch schon ein eigentümliches Röcklein angetan. Man hatte dem Leben eben doch auch schon mitten in allen mystischen Definitionen selber einen gewissen Charakter einer „Kraft“ beigelegt. Mochte es eine „besondere“ Kraft sein. Eine Kraft, die stärker war als alle anderen, eine wahrhafte Meisterkraft. Es blieb die Definition als irgend eine Sorte doch auch von „Kraft“, also im Sinne bloß eines Gradunterschiedes.

Mochten die Erfinder des Wortes über die Kraftdefinition hinweg noch so viel Apartes an geistigen Werten hineingebraut haben: das Wort bewies, daß sie doch nach einer Seite im Innersten schon mit dem Zuge der Zeit gegangen waren, — einer Zeit, die dem einfachen mechanischen Kraftbegriff täglich mehr technische Triumphe und logische Vereinfachungen auf allen Wissensgebieten verdankte.

Ganz still steckte, halb unbewußt, der Wunsch schon in dem Worte, mit dem einfachen objektiven mechanischen Kraftbegriff halt doch auch ins Leben selber hineinzuarbeiten, — gewisse Vorgänge dieses Lebens aufzulösen in eine letzte, oberste „Kraft“, die zwar scheinbar über allen gewöhnlichen Physikkräften stand, aber in Wahrheit die Teufel doch nur austrieb durch Beelzebub, der Teufel Obersten, — eben als Lebenskraft.

Und ohne nun in das Gewebe der Grunddefinitionen selber[S. 340] von hier weiter einzudringen, zog doch Müller eine wirklich sehr einfache Wort-Konsequenz.

Die sichtbaren Äußerungen der Lebenskraft, meint er, treten uns wissenschaftlich exakt doch immer nur wieder in echten mechanischen Wirkungen vor Augen, bei deren Beschreibung wir keinen Moment die Sphäre der anderen exakten Wissenschaften zu verlassen brauchen. Und die einfachste, zweckmäßigste Methode der Forschung bleibt also auch in der Physiologie die, daß man als das Wahrscheinliche zunächst stets einen rein mechanischen Sachverhalt im gleichen Sinne wie bei den Gesetzen der Chemie und Physik annimmt und alle Experimente, alle Hypothesen auf ihn allein einstellt.

Wo es galt, Schüler nicht für allgemeine Naturphilosophie, sondern im Laboratorium für die schlichte praktische Arbeit zu erziehen, da hat Müller stets für diese Konsequenz erzogen.

Einer der „hellsten“ dieser Schüler war aber Emil Dubois-Reymond.

Und seine erste große, an biologische Probleme höherer Ordnung rührende Tat war, daß dieser Dubois als so erzogener Müller-Schüler noch einen Schritt in der Konsequenz weiter tat.

Er unterfing sich zu sagen: für diese exakte Arbeit, die nur einfache mechanische Reihen sucht, ist die Hypothese einer besonderen Lebenskraft sogar als solche auch noch entbehrlich. Es genügen als Voraussetzung zunächst die bereits bekannten Naturkräfte der Physik.

Dubois versuchte in einem Einzelfall mit großem Glück den Nachweis, wie man selbst in der Lehre vom lebendigen Nerv — die Dinge rein mechanisch immer angesehen — glatt so durchkomme.

Und Müller lebte noch, als man schon hören konnte: der junge Dubois habe die ganze berüchtigte Lebenskraft endgültig ausgeschaltet.

Ja, als „Kraft“ neben der „Kraft“! Im Grunde hatte Dubois nur eine letzte Unklarheit aufgehoben. Die Physik war die Lehre von der „Kraft“. Was im Leben als Kraftwirkung[S. 341] definierbar war, das gehörte also folgerichtig zu ihr von Anfang an. Die Physiologie, soweit sie Lehre von Kräften war, mechanischen Kräften, konnte eo ipso nur ein Zweig der Physik sein. Die „Lebenskraft“ war nichts anderes, als der Komplex physikalischer Bedingungen, die Physik des Lebens. Und damit war sie allerdings in ihrer alten Sonderrolle gleichzeitig mediatisiert, war, streng genommen, beseitigt eben dadurch, daß die Silbe „Kraft“ in ihrem Namen endgültig ernst genommen wurde.

Bis hierher ist in der Linie von Müller zu Dubois alles logisch reinlich.

Nun kam aber bei Dubois eine weitere Linie ins Gewebe, die nicht über Müller lief.

Mit seiner ganzen jüngeren Generation segelte er naiv in ein Fahrwasser, wohin sich Müller niemals gewagt hätte. Es hieß plötzlich: Kraft ist das Generalwort der ganzen „Natur“. Es ist ihre Grunddefinition. Natur ist gleich Kraft. Alle Naturforschung ist bloß Feststellung von Kraftwirkungen. Es gibt in der Natur nichts als Kraft. „Kraft und Stoff“ sagte man gewöhnlich, oder auch einfach Materie; das floß zusammen in kleinen Definitionsschwankungen ohne Belang. Jedenfalls war für diese Behauptungen Dubois’ Tat noch eine ganz andere, mußte eine ganz andere sein. Er hatte ihr auch noch das Stück Natur, das wir „Leben“ nannten, für die Allmacht der Kraft, der rein kraftbewegten Materie erobert. Man pries ihn, daß er geradezu den Ring geschlossen habe.

Und er ging zuerst im vollen Eifer mit. Es gab nichts im Felde des Naturforschers als Kraft und Stoff, in schärfster Definition bloß Kraft schlechthin, — wie sollte er das nicht anerkennen, den man als den Ritter Georg des mystischen Prinzips in der Lebenskraft ehrte, der der Physik endgültig das Tor auch des Lebens aufgetan!

Und doch. Auch dieser Mann griff sich eines Tages an die Stirn. Alte Reminiszenzen erwachten.

Die „Lebenskraft“, wie sie Müller lehrte, hatte ja doch noch etwas mehr umfaßt.

[S. 342]

Auch die Tatsachen der Empfindung, des Bewußtseins!

Nicht bloß das: „Es schwingt etwas mechanisch rechts oder links“; sondern auch „Ich rieche Rosenduft; ich sehe Rosenrot; ich denke Rose.“

Wo war das jetzt?

Die ganze „Natur“ war bloß Materie. Die Definition dieser Materie sprach bloß von Kräften, Schwingungen, mechanischen Ketten. Auch die lebenden Wesen steckten als Natur in dieser Definition. Von Empfinden, von Denken aber war schlechterdings nichts in der Definition gegeben. Keine Brücke führte von „Es schwingt so oder so“ zu: „Ich denke.“ Dort war A = A. Hier B = B. Aber niemals wurde A = B. Und nun diese grenzenlose Kalamität: wir dachten doch ....! „Und dennoch spukt’s in Tegel,“ heißt es im Faust.

An dieser Stelle kommt Dubois’ Saltomortale. Die Natur ist nur Materie. Wir sind Natur. Folglich nur Materie. Materie denkt nicht. Wir denken. Folglich ist hier A nicht gleich A. A = A ist aber der Grundsatz aller Logik, alles Erkennens. Er liegt hier „unter den Hufen der Pferde“. Das kann kein Menschenverstand mehr lösen. Ignorabimus! Unsere Weltdefinition führt auf Ignorabimus. Folglich sind wir große tragische Nichtweiterkönner, die sich mit Stoizismus, grandios deklamierend wie Shakespearesche Helden in ihren Gedanken-Dolch stürzen müssen.

Oder, sagt der Herr Pfarrer, Euer ganzes Naturforschen ist Dunst, mit Eurer „Natur“ ist es trotz aller Worte nichts, werft die Natur über Bord, mit der Euch nur der Teufel narrt, und kommt zu — Mir.

Es gibt eine noch viel einfachere Antwort.

Eure Natur-Definition ist falsch. Natur ist nicht Materie ohne Denken — und, weil doch in ihr gedacht wird, ist nicht A gleich nicht A und damit der Unsinn Weltregent.

Ihr definiert erst und vergeßt dabei. Alles ist Kraft und Stoff. Das Empfinden ist vergessen worden. Und nun fällt euch ein. Es gibt doch Empfinden! Aber von Kraft zu Empfinden ist keine Brücke. Und nun korrigiert ihr nicht die Ur-Definition,[S. 343] sondern ihr verkündet: Ignorabimus. Was ist das für eine Manier!

Ich sehe einen Vogel und erkenne, er hat einen Kopf und einen Schwanz. Ich sage: ein Vogel ist ein Ding, das aus Kopf und Schwanz besteht. Nun schaue ich durchs Fernrohr und sehe, er hat auch noch Beine. Wie ist das möglich, sage ich? Ein Vogel hat nur Kopf und Schwanz. Ein Ding, das bloß Kopf und Schwanz hat, kann nicht Beine haben. Und doch ist es dasselbe Ding. Hier ist dasselbe also nicht dasselbe. Das ist der Bankerott der Logik. Das werden wir nie begreifen. Ignorabimus.

Gewiß werden wir nie begreifen, wie eine nicht als subjektiv empfindend, sondern bloß als objektive Kraftwelle definierte Materie empfinden und denken kann! Wir werden es so wenig begreifen, wie wir je begreifen werden, daß blau rot ist oder zweimal zwei fünf.

Wenn ich die Tatsachen des Bewußtseins ausschließe aus meiner Generaldefinition der Natur, kann ich natürlich nicht nachher verlangen, sie darin wiederzufinden, außer durch ein Wunder, das die Logik durchbricht. Und wenn ich unsere ganze Naturforschung (mit Recht) auf der Logik aufbaue, so kann ich dann allerdings nicht verlangen, daß sie je an dieses Problem außerhalb der Logik heranreiche.

Damit sind aber die ganzen Tatsachen des Subjektiven, des Empfindens und Bewußtwerdens, dieser Naturforschung entrückt.

Wir stehen im Grunde an der gleichen Stelle wie bei Virchow.

Auf der einen Seite fragt sich, wem dieses ungeheure, uns selber allenthalben zunächst angehende „außernaturwissenschaftliche“ Feld denn in der geistigen Arbeitsteilung ausgeliefert werden soll.

Auf der andern Seite ist fest damit ausgemacht, daß die Naturerkenntnis uns niemals zu einer Weltanschauung führen kann, denn mit einer solchen Lücke umfaßt und deutet man keine „Welt“.

[S. 344]

Virchow für sein Teil entschied die erste Frage durch Auslieferung des ganzen Bewußtseinsgebiets an „herrschende“ Mächte wie Kirche und Staat zu beliebigem Gebrauch; die zweite durch eine tatsächliche Achterklärung über jedes Reden von Weltanschauung innerhalb der Naturforschung. Dubois ließ es bei der heroischen Bekennerstellung, dem an sich vollkommen ehrlichen „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ bewenden, konnte aber nicht hindern, daß die Gegner jedes Versuchs eines naturwissenschaftlichen Weltbildes an Stelle des alten kirchlichen sein Bekenntnis nur noch energischer und extremer ausnutzten und ausnutzen in jenem reaktionären Sinne einer Umkehr zum Kirchendogma und einer Bankerotterklärung jeder echten Weltanschauung auf dem Wege der Naturforschung und Naturerkenntnis.

— — —

So stehen diese beiden großen Gestalten im Ausgang des 19. Jahrhunderts vor uns als Exempel schließlich des gleichen Irrweges.

Beide sind gescheitert im Experiment einer idealistischen Natur-Definition, mit der der ganze Mensch mit all seinem Können und Sehnen wieder leben könnte, und beide haben letzten Endes nur fortgelenkt von dem großen Ziel einer wirklich positiven Natur-Anschauung als der neuen, uns alle wieder erfüllenden und befriedigenden Welt-Anschauung.

Lassen wir es uns noch einmal fest gesagt sein: es ist nichts mit einer solchen Weltanschauung, solange wir beständig uns etwas abziehen sollen.

Nie und nimmer kommen wir mit der „Natur“ zu einer Weltanschauung, wenn wir die Menschen erst gewöhnen wollen, etwas aufzugeben, sich an etwas Halbes, Lückenhaftes, Fragmentarisches anzupassen.

Eine neue Weltanschauung kann immer nur siegen, indem sie etwas mehr gibt, als alle früheren, indem sie sie alle umgreift und überbietet.

Das ist der verhängnisvolle Irrtum, der uns aus den negativen Kämpfen gegen das Alte heute noch nachschleift:[S. 345] daß wir fortan in einer kahleren, einer kälteren, einer selber vom Negativen allenthalben eroberten Weltanschauung hausen sollten.

Gewiß: wenn wir in ihren Mittelpunkt ein Stück Natur bloß setzen, ein abgezehrtes Gerippstück, gewonnen durch lauter Abzüge, anstatt des Ganzen, was das Wort geben kann und geben soll, dann ist davor kein Ausweg. Der Begriff Natur muß aber für alles Wohnungen haben, was uns bewegt.

Denn unsere Wünsche, unsere Bedürfnisse sind nicht verändert, nicht plötzlich tot.

Einerlei woher wir stammen: wir sind Menschen. Kunst, Sitte, Liebe, Ideale — das alles ist, so gut wie Logik ist.

Und wem Du die Welt deuten willst, seine Welt, — dem darfst Du nicht beliebig bald das, bald jenes herauswerfen auf Grund eines Prokrusteswortes „Natur“.

Dieses Wort, wenn es ganz decken soll, mußt Du auch dem Ganzen wirklich anpassen.

Das Subjektive und das Objektive muß hinein, das konventionelle „Wirkliche“ und die ständige Möglichkeit des Elementaren, das Jetzt und das Empor, das Unvollkommene und der ewige Harmonien-Weg, die Stufe und das Ideal, die Folge und der Sinn, der Mensch, der aus glühenden Sonnen des Alls sich entwickelt hat und der sich fortentwickelt auf Sonnen des Denkens, des höheren Zwecksetzens, des Weltordnens und Weltgenießens, des künstlerischen Harmonienschaffens zu.

Wirf das alles über Bord, stelle Dich auf einen großen Sandhaufen, sage: in diesem Sande liegen pulverisiert alle Säulen und Statuen Griechenlands, und predige dann von diesem neuen Offenbarungshügel unter den kalten Sternen als Deine Bergpredigt: Ignorabimus.

Du wirst weit kommen.

Der ärmste Mensch, der auch nur eine einzige tiefe Stunde des Innenlebens gehabt hat, da das Elementarische der Dinge auch durch ihn gegangen ist — in irgend einer Form, als Liebe[S. 346] oder Kunstintuition oder Idealschau oder dämonisches Schicksal: — er wird lachen über Dich mit all Deinen Sonnen.

Wenn Du es aber fertig bekommst, ihm in diese Stunde auch noch die Sonnen des Firmaments hineinglühen zu lassen, ihm die goldenen Fäden der Entwickelung zu zeigen, die sich von denen spinnen bis zu ihm, ihn selber erhöhend bis zu Sternenweiten über alle alten Verheißungen seines dunklen Lebens hinaus, — dann darfst Du ihm die Hand auf die Schulter legen und ihn fragen: ob er Dir nicht einmal vertrauen will und mit Dir einen neuen Weltengang versuchen will in der Hut eines neuen Begriffs, — ob er es einmal versuchen will mit der

Natur.