The Project Gutenberg eBook of Die Stimme: Roman in Blättern

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Title: Die Stimme: Roman in Blättern

Author: Grete Meisel-Hess

Release date: December 4, 2021 [eBook #66880]

Language: German

Credits: the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file made from scans of public domain material at Austrian Literature Online.)

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE STIMME: ROMAN IN BLÄTTERN ***

Alle Rechte, besonders das Übersetzungsrecht vorbehalten.
Copyright 1919 by Verlag Gebrüder Enoch, Hamburg.

Druck von H. Carly, Hamburg.

Zweite, von der Verfasserin neubearbeitete Ausgabe

Grete Meisel-Heß:

Die Stimme

Roman in Blättern

6.-8. Tausend

Gebrüder Enoch
Hamburg :: Verlagsbuchhandlung :: Leipzig
1919

Die Hauptwerke von
Grete Meisel-Heß
erschienen bei Eugen Diederichs, Jena.

Es sind dies die Werke über das Sexualproblem:

I. Teil: Die sexuelle Krise
1. Bd. erschienen 1909, 5. Tausend, brosch. 5,50 Mk., geb. 6,50 Mk.

II. Teil: Das Wesen der Geschlechtlichkeit
2 Bde., 700 Seiten, erschienen 1916, 5. Tausend
Preis brosch. 10,– Mk., geb.  13,– Mk.

Das Werk erhielt 1917 den Ehrenpreis der
Dr. August Specht-Stiftung in Gotha.

III. Teil: Die Bedeutung der Monogamie
1. Bd. erschienen 1917, 4. Tausend, brosch. 5,– Mk., geb. 6,50 Mk.

 Jeder Teil ist ein unabhängiges Ganzes für sich. 

Vorher erschienen von der Verfasserin:   

Die Intellektuellen, Roman
6. Aufl. Verlag Oesterheld & Co., Berlin W. 15.

Betrachtungen zur Frauenfrage
Verlagsgesellschaft Prometheus, Berlin W. 80.

Geister, Novellen
Verlag Dr. S. Rabinowitz, Leipzig.

Weiberhaß und Weiberverachtung
Erwiderung auf Weininger. Verlag Moritz Perles, Wien I.


Urteile der Presse am Schluß des Buches.

Die Stimme.

»Was bedeutet diese Entfremdung des innersten Wesens, dieses Versagen der melodischen Kraft? Wem gehört sie an? Dem Vogel? oder wer leiht sie ihm nur? Nur ein ekstatischer Zustand ermöglicht ihm die Melodie.«

Richard Wagner.
(Briefe an Mathilde Wesendonk.)

»Die Frage: Woher hat's der Dichter? geht auch nur aufs Was, vom Wie erfährt dabei niemand etwas.«

Goethe. (Sprüche.)

Vorwort
zur ersten Ausgabe 1907 Berlin.

Ich wollte dieses Buch unter einem Pseudonym veröffentlichen, der Rat meiner Freunde war dagegen. Ich sollte nicht den Schein auf mich laden, als ob ich mich verbergen wollte. Und das wollte ich nicht. Ich beabsichtigte nur, mich vor Identifizierung meiner Person mit dem hier in Ichform geschilderten Frauenschicksal zu schützen, – ein Bedenken, das selbst Goethe nicht außer acht ließ, als er unter den Roman »Aus meinem Leben« die Bezeichnung »Dichtung und Wahrheit« setzte. Das Lachen und Weinen dieser Blätter wurde nicht nur »erlebt«, sondern auch geschaut, gehört, geträumt. Und jeder, der den Schicksalen solch eines Träumerlebens jemals nachging, weiß, daß die Vision da beginnt, wo das Leben uns im Stich läßt.

Dezember 1906.

G. M.-H.

Vorwort
zur zweiten, neubearbeiteten Ausgabe.

Dieses Buch dankt sein Entstehen der schöpferischen und sehnsüchtigen Phantasie, auf künstlerischem und erotischem Gebiet. »Die Stimme« ist die innerste Seelengewalt eines Menschen, die nach Ausdruck ringt und ihre Melodie zu finden sucht. Ich habe sie symbolisch als Gesangstimme erfaßt.

Die erste Ausgabe des Buches erschien 1907 Berlin. Nach zwölf Jahren hat es, mitten in Kriegsgetöse und Papiernot, seine Auferstehung erlebt. Die Neuauflage ist verbessert und gekürzt.

Berlin-Friedenau
Oktober 1918.

G. M.-H.

Inhalt.

I. Teil: Präludium.
      Kindheit.
 Rudi, Yussuf, Dimitri.
 Probleme.
 
II. Teil: Motiv.
 Johannes.
 Ekstatica.
 Melancholica.
 Anima.

Erster Teil.

 

Sollt mir nicht das Lachen schelten,
Und das Weinen, laßt es gelten!
Was mir wollte trüb erscheinen,
Mußt ich mir herunterweinen.
Was mich wollte tanzen machen,
Mußt ich mir herunterlachen.
Lachen, mit den nassen Augen,
Solches Lachen, laßt es taugen!
Weinen, mit dem frohen Mund,
Wer es kann, weint sich gesund.
Drum das Lachen wie das Weinen
Mußt ich in der Stimme einen,
Und die wollt es nimmer halten,
Stärker waren die Gewalten:
Aus der Stimme wollte springen
Hell ein Lied, – ich ließ es klingen!

 

Das Leben ist keine Geschichte, mit Anfang, Mitte, Schluß, Vorbedacht und Absicht. Das Leben ist – ja was ist es?

Der Tag hält das Individuum. Und so wie es Tage gibt, die uns hoch emporheben, über unser Menschenmaß zuweilen, so gibt es andere, die uns schleifen.

Und die Tage machen das Schicksal. Wie einzelne Buchblätter fallen sie aufeinander, zerfliegen und zerstieben oder – werden zusammengefaßt, von einer stärkeren Macht. Der Wille baut aus den Tagen ein Schicksal, wie eine greifende, kräftige Hand aus wirbelnden Blättern ein Buch.

»Geschichten« mit Vorsatz und Absicht verfälschen das Leben. Blätter sind es, aus denen ein Schicksal wird.


Lange, lange habe ich die Melodie gesucht, das Motiv dieses Vielklangs. Nun aber ist mir, als höre ich aus der Musik, die mir von dir kommt, immer wieder einen einzigen Grundton, diesen Grundton, der nicht nur der deiner Musik, sondern der deiner selbst ist, und in mich hineindringt, zwingend und doch milde, mit jener sanften Gewalt, die mir in deiner ganzen Person verkörpert erscheint.

Und dieser Grundton ist wie die Dominante auf alle meine eigenen Töne, das Einzelne, das Verstreute, das Mannigfaltige wird mir durch ihn in Akkorde gebracht, und ich höre Harmonie. Dissonanzen entwirren sich mir, das Motiv wird mir deutlich, dunkle Stimmen sinken mir in die Tiefe, wie Baßbegleitung zur Melodie, und die Paraphrasen und Variationen meines Themas scheinen mir nicht mehr sinnlos, sondern notwendig. Das hast du getan, du guter Musiker! Die Stimme, die Singstimme, die sich mir aus der Kehle verloren hatte, hast du mir wiedergeholt, sie herausgerufen mit deiner Musik von da, wo sie sich verborgen hielt. Wo war es denn? Und jene – andere Stimme, mit der ich mich rufen soll, in diesen Blättern, sie kommt mir vielleicht mit ihr. Stimme, Hauch und Seele: die Alten hatten dafür nur ein Wort: anima.

Und »Entfremdung des innersten Wesens« und »Versagen der melodischen Kraft«, es ist ein und dasselbe!

Habe Dank du, der du die Erstickte mir wieder belebtest!

Und mit dieser Stimme, dieser einen Stimme, denn es ist ja nur eine, mit dieser Stimme, die du so gerne singen hörst, die du so zärtlich heil gepflegt hast, da sie mir in meiner Kehle rauh geworden und zersprungen war, mit ihr will ich dir erzählen alle meine Schicksale, die zugleich die ihren sind.

Du weißt ja schon alles. Aber mich soll ich erlösen davon, so willst du, und sie damit ganz befreien. Niedergelegt soll es sein, geopfert.

Geopfert – wem? Den Göttern? Werden sie gnädigst als Opferdampf in die Höhe entführen, was aus diesen irdischen, allzu irdischen Flammen emporsteigt?

Aber diese irdischen Flammen selbst, stammen sie denn nicht von ihrem eigenen Herd?


Wenn ich nun mein Leben schreibe für dich, wie du es willst, so wird das ja dann wohl ein »Buch«? Wenn es denn schon ein Buch werden soll, so wünschte ich, es würde eines wie das, von dem Flaubert träumte: »– ein Buch, ohne jeden äußeren Rückhalt, das sich durch sich selber halten würde, aus der inneren Kraft seines Stils, wie die Erde in der Luft schwebt, ohne gestützt zu werden, ein Buch, das fast keinen Stoff hätte, oder in dem der Stoff fast unsichtbar wäre, wenn das möglich ist.«

Wenn das möglich ist. Möglich aber ist es, so will mir scheinen, nur dann, wenn es notwendig ist. Wenn es nicht anders geschehen konnte, denn eben so. Wenn der Stoff sich unter den Händen von selbst auflöste in lauter – Stimme. Also ein Buch der Stimme, ein Stimmungsbuch. Stimmung, die der »Handlung« nicht entbehrt, sie aber in sich aufgenommen und aufgelöst hat. Gewöhnlich ist's umgekehrt: Stimmung ist eingewoben in Handlung. Dies Buch, von dem Flaubert träumt, müßte seinen materiellen Stoff aufgelöst haben in sich zu lauter Stimme, Seele, Hauch, – anima.

Solche Bücher aber werden nicht vorsätzlich geschrieben. Sie werden diktiert. Von irgendwoher. Und wie von selbst entstehen sie unter diesen wie zu Medien gewordenen Händen. Eine Melodie klingt auf und nimmt ihren Weg. »Wem gehört sie an – dem Vogel? Oder wer leiht sie ihm nur?« Und welch ein Zustand, der sie ausklingen und entströmen macht?

Dieser Zustand – nicht selbst schon Stoff? Stoff, nicht vom Staube geboren und zum Staube gehend: Aus dem Geiste geboren und zum Geiste gehend. Und der Staubgeborene, über den er kommt, dieser Zustand, ist dann außer dem Staube, außer sich, – ekstatisch.

Wie es über mich kommt, will ich schreiben. In kurzen oder langen Zusammenhängen, in wehenden wirbelnden Blättern oder in treulich geführter Chronik. Wie es über mich kommt. Wie es mir – diktiert wird. Vorsatzlos will ich bleiben.


Kindheit – Sehnsucht danach? Was ist dies? Ausgeliefert an alles und alle, unwissend und doch schon ahnend, wieviel es zu wissen gäbe, wieviel erfahren werden müsse, bevor das Chaos Welt seine Gestalt offenbare. O diese verzweifelte Sehnsucht im kleinen Kinderherzen nach dem Trauten, dem Ähnlichen, und dabei nicht wissend, ob es dieses Ähnliche gäbe, oder ob nicht dieses eigene kleine Ich (das da zu reflektieren beginnt) ein großer Irrtum sei, der sich nach dem andern, dem Umgebenden, korrigieren müsse!

Ach, was ist das für ein Grauen, wenn ein kleines Mädchen einsam ist.

Ich erinnere mich, daß ich im Prater war, beim Riesen Wilkins. Mutterseelenallein machte ich Ausflüge, mit zehn Jahren (Giorgio, mein Bruder, war im Pensionat). Und ich – allein, allein. Denn mir war irgendwie nicht wohl, mit den allermeisten Leuten.

Meine Mädchenjahre – studieren, singen, tanzen – ohne Ahnung, was daraus werden sollte. Der Tag regulierte mein Leben. Ich tat, was ich tun konnte.

Eines Tages sagte mir Rudi Neudorfer: »Sie müßten mit Ihrem Temperament zum Theater gehen. Auch haben Sie Stimme.«

Zum Theater? Ja, manchmal riß es mich hin, das Theater. Tanzen, singen, springen, lachen, weinen, jubeln – das konnte man ja auf jenen Brettern.

Rudi Neudorfer war Sohn seines Papas und Literat dazu. Sein Papa gab ihm Essen, Wohnung und Taschengeld, und Rudi schrieb Feuilletons »leichteren Genres« für Wiener Tagesblätter. Die meiste Zeit verbrachte er im Café. Dort kam er in Stimmung. Ein junger Herr war er, den ich in Gesellschaft kennen gelernt hatte. Er machte mir den Hof. Aber nicht auf so gewöhnliche Art wie andere Leute. Er sagte mir »Wahrheiten« über mich selbst. Oft waren es Grobheiten. Trotzdem deutete er mir an, daß er mich liebe.

Rudi Neudorfer hatte hübsche, schwarze Augen. Sein bartloses Gesicht war nicht uninteressant. Eine gewisse schwermütige Müdigkeit war in der leicht vornüber gebeugten Haltung seiner elastischen Figur. Er pflegte sich mit einer einzigen zurückschnellenden Bewegung aufzurichten, daß seine schwarzen Locken, die ihm über die Stirn hingen, zurückflogen, und dann schien er plötzlich um einen viertel Kopf größer.

Unaufhörlich beschäftigte er sich mit meiner »Entwicklung«. Besonders die Stimme schien ihm interessant.


Eines Tages stand ich mit ihm in einem Theaterbureau. Ich wurde examiniert. Resultat: Talent, Chance, Ausbildung.

Ich will kurz sein. Es kamen Liebesgedichte von Rudi. Schwermütige und doch seltsam anmutige Verse. Und Rudi sprach mir von den Reizen eines freieren Lebens. Als seine Frau könne ich »mein Leben leben«.

Er hatte augenblicklich nichts, aber er erhoffte eine literarische Zukunft. Er arbeitete an einem Librettotext.

Rudi Neudorfer kam eines Tages atemlos. Sein Libretto war angenommen. Und der Theaterdirektor wollte mich hören.

Ich sang und sprang zwei Stunden vor dem Theaterdirektor. Ich war in glänzender Laune. Der Direktor war überrascht. Er bot mir ein Engagement »vom Fleck weg«.

Meine Gefühle gegen Rudi waren die besten. Hatte sich je ein Mensch um mich gekümmert wie er? Der Mann machte ja meine Zukunft. Und dabei war man zu Hause empört, daß ich mit einem Menschen mich »einließ«, »der nichts ist und nichts hat«.

An diesem Tage verlobte ich mich mit Rudi.


Mein Vater würde nie erlauben, daß ich zum Theater ginge. Ich war minderjährig. Als Rudis Frau war ich frei, zu machen, was mir beliebte.

Bei jedem anderen Mann war ich wieder unfrei. Auch war niemand da, der mir auch nur einigermaßen gefiel, zu dem ich irgend etwas wie eine Zuneigung gefühlt, in dessen Gegenwart ich mich als Weib empfunden hätte, bei dem ich gerne unfrei geworden wäre.

Mit Rudi plauderte ich gern. Und dann, es war doch etwas, was von ihm zu mir ging, was ich fühlte. Anders fühlte, als wenn ich mit meinen Freundinnen war. Aber was, was war eigentlich mein Weg? Was war das mit dieser Stimme? Sollte sie beachtet werden? Und wohin mit ihr?

An Rudis Seite wollte ich darüber nachdenken.


Unsere Verlobung hielten wir vorläufig geheim. Dennoch kam die Sache auf. Meine Eltern wollten von dieser Verbindung nichts wissen. Aber unser Wille war entfesselt durch den Widerstand der Umgebung.

Die Aufführung seiner Operette kam heran. Rudis Name stand noch öfter in den Zeitungen. Das nutzte aber alles nichts.

Rudi brachte mir das Buch. Den Klavierauszug der Operette samt Text. Ein junger, begabter Komponist hatte ihn vertont.

Rudis Libretto! Ich fand es stumpfsinnig zum Heulen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie man am Schreibtisch saß und diese Worte, diese Sätze, diese Strophen »dichtete«. Diese »Schlager« erdachte. Und einen »Bau« herausbekam aus diesem Dr...-stoff. Ich verschwieg ihm auch nicht meine Meinung.

»Das muß so sein,« sagte er, »sonst wird's nicht genommen.« (Und da hatte er recht.) »Literarisch leb' ich mich ja anderweitig aus!«

»Wo denn?«

»Die – Gedichte?!«

Ja, die waren literarisch, die! Ja, hier allein durfte er »sich ausleben«, hier bei mir. Anderwärts mußte er sich verleugnen! O, der Arme!

»Und wem zuliebe tu ich das? Wem zuliebe will ich Geld verdienen?«

Ich war tief beschämt und bat ihn um Verzeihung.

Die Operette erlebte über fünfzig Aufführungen. Rudis Name als Literat war gemacht. Er verdiente auch einen Haufen Geld damit. Man konnte nun doch nicht mehr von ihm sagen: »ein Bursch', der nix ist und nix hat«.


Das nützte aber alles nichts. Es blieb dabei, ich dürfe ihn nie und nimmer heiraten. Man berichtete mir schlimme Dinge von ihm. Ich lachte darüber. Ich fühlte mich wie vor etwas Unausweichlichem. Sei es, wie es sei, ich mußte zu ihm, über ihn, vielleicht. Wie ein Verhängnis kam es mir selbst vor.

Aber ich konnte mir nicht denken, wohin mein Leben steuern sollte, wenn ich von diesem Plane abließe.

Mit einem Mann zu gehen, hatte ich geträumt, wie jede Frau. Rudi war nicht dieser »Mann«. Aber ich kannte ja überhaupt keinen, der diesem Bild entsprach. Es war wohl ein phantastischer Traum. Konnte ich warten, warten ins Blinde? Steuerlos mit all meinen Plänen? Mit dieser Stimme, die heraus wollte und nicht wußte wohin?


Wir sahen ein, daß wir gütlich zu keinem Ziele kämen. Ich verließ eines Tages das Elternhaus und war drei Tage unauffindbar. Auch Rudi wußte nicht, wo ich wohnte. Ich traf ihn nur im Café. Wir hatten das so arrangiert, damit er jederzeit beeiden könne, er wisse nicht, wo ich wohne, falls man etwas gegen ihn unternehmen sollte.

Wir hatten uns nicht getäuscht.

Am zweiten Tage wartete ich vergeblich. Ich telephonierte zu seinem Papa und erfuhr, daß Rudi wegen Entführung verhaftet sei und im Landesgericht sitze.

Entführung einer Minderjährigen, das ist kein Spaß in Österreich. Der Augenblick, aus meinem Versteck hervorzukommen, war also schon da. Bei Gericht traf ich meine Mutter, der Vater war verreist. Sie sprach an diesem Tage nicht mit mir. Rudi wurde natürlich wegen mangelnden Tatbestandes sofort enthaftet.

»Jetzt darfst du ihn heiraten, und mußt es«, sagte meine Mutter mit finsterer Miene.

»Muß ich, wirklich?« das machte mich ganz nachdenklich. Ihn heiraten zu müssen, daran hatte ich nie gedacht. Unter diesem Gesichtspunkt wäre er mir vielleicht ganz anders erschienen als unter dem, ihn durchaus nicht heiraten zu dürfen!

»Muß ich wirklich? Es ist ja nichts – geschehen«, sagte ich kleinlaut.

»Einerlei«, sagte meine Mutter. »Das kann man glauben und auch nicht, jetzt mußt du ihn heiraten, als anständiges Mädchen, die Suppe ausessen, die du dir eingebrockt hast.«

Nur weil meine Mutter in ihrem zärtlichen Herzen mir damals wahrhaft böse war, hat sie mich damals nicht geschlagen. Wäre sie weniger versteint, weniger erbittert gewesen, es hätte gute, solide Ohrfeigen gesetzt!

Und es war wirklich nichts geschehen!


Wenn Kinder durchaus wollen, ist Nachgiebigkeit der Eltern das Weiseste, was ihnen übrigbleibt!

»Gott segne und behüte euch, er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig!« floß es vom Chor herunter.

Und eine Braut, die zu schluchzen begann, immer wilder, immer fassungsloser.

»Er lasse sein Angesicht leuchten über euch« –

O, über diese gierigen, törichten, wollenden Kinderhände? Arme, arme Kinderhände! Wie müssen sie erst blutig zerfetzt werden, ehe sie aufhören, mitten ins Gestrüppe hineinzugreifen, weil die Kinderaugen da Sterne durchleuchten sehen, und die Hände nun durch das Gestrüppe nach diesen Sternen greifen und glauben, sie bekommen zu müssen, unbedingt – zum Spielen!


Und dann, dann an meinem Hochzeitstag, unmittelbar nach meiner Trauung, laß mich sprechen von dem, was du ja weißt, laß es mich hier niederlegen, wie alles andere.

Wir fuhren aus der Kirche zurück in die Wohnung der Eltern. Ein kleiner Kreis war da versammelt, Freunde und Bekannte, Gratulationsgäste. Ich ging auf mein Zimmer, legte den Hochzeitsstaat ab und kam im Reisekleid in den Salon. Ich begrüßte meine Bekannten. Daneben in dem kleinen Wohnzimmer, wo mein Klavier stand, waren noch einige Leute. Ich trat da ein und sah einen Fremden. Ein Verwandter von mir, ein Musiker, Mitglied des Opernorchesters, sagte mir, bevor er mir ihn vorstellte: »Das ist der Komponist, dessen Symphonie die Philharmoniker vorgestern hier aufgeführt haben. Er ist Professor an der Musikhochschule in B.«

»Wer ist dieser Mann?« sagte ich.

»Du hörst ja«, sagte er. »Und ich habe mir erlaubt, ihn hierher mitzubringen, weil er mit dem Nachmittag nichts anzufangen wußte. Er reist abends wieder nach B. ab. Du siehst, er ist im Reiseanzug. Entschuldige das, bitte. Aber ich dachte auch, er würde dich interessieren!«

Und dann führte er dich zu mir und nannte deinen Namen.


Wir sprachen und sprachen. Ich ging nicht mehr in den Salon zurück. »Sie sind die Braut«, sagtest du. »Ja, das heißt, jetzt bin ich wohl eine Frau.« Und wir sprachen von Musik und Gesang und auch von meiner Stimme.

»Wer ist Ihr Mann?« sagtest du. Und ich zeigte dir ihn. »Und Sie reisen?« »Ja, wir reisen.«

»Ich hätte nicht gedacht, daß Sie die Braut sind.«

»Dann will ich es Ihnen beweisen.« Und ich ging in mein Zimmer und kam wieder mit einem Stückchen Myrte und einem weißen Tüllfetzen, der vom Schleier gerissen war.

»Darf ich das behalten, – zur Erinnerung an meinen Einbruch hier im fremden Haus?«

Und dann kam ich im Hut mit der umgehängten Reisetasche.

»Die Ringe, die Sie an der Tasche haben, taugen nichts. Sehen Sie, sie öffnen sich ja. Sie werden sie verlieren. Es müßten Schlüsselringe sein, en miniature

»Ja, ich habe sie so gekauft, die Tasche. Die Ringe werden wohl halten.«

»Nehmen Sie die Ringe von mir,« sagtest du, »denn sonst verlieren Sie die Tasche. Ich reise erst nachts und kann mir bis dahin noch andere besorgen.« Und du löstest von deiner Reisetasche die Ringe, an denen der Riemen hängt, und befestigtest sie an der meinen. Es waren das feste Stahlringe, mehrfach gewunden, wie Schlüsselringe, daß das, was sie zusammenhalten sollen, nicht verloren werden konnte.

Der Wagen kam.

»Adieu, Herr Professor. Ich muß jetzt – reisen. Und ich danke Ihnen für die Ringe.«

»Leben Sie wohl. Ich danke Ihnen für die Myrte.«

Deine Hand hielt die meine. Die goldenen glatten Ringe, die deine wie meine Hand trug, berührten einander einen Augenblick lang klirrend. Wie kam das? Zitterten denn die Hände?

Und dann mußte ich reisen, – hochzeitsreisen mit Rudi Neudorfer!

Ja, ich mußte.


Die Alten pflegten, in Epochen der Degeneration, die Entjungferung eines Weibes als eine schlechte, schmutzige Sache zu betrachten! Eine Sklavenarbeit, eine widerliche! Und ganz im Gegensatz zum mittelalterlichen germanischen Herrenrecht auf die erste Nacht (welches das Weib vielleicht viel deutlicher noch zur Benützten machte als jene antike Degenerationserscheinung) trieben sie die Jungfrauen, die stolzen, die schönen, die starken, hinunter an den Strand und ließen sie von derben Sklaven oder von phönikischen Seeräubern, die da anlegten, zu Weibern machen. Erst dann kamen sie zur Wahl als Gattinnen in Betracht.

Der syrische Astartedienst, der asische Mylittakult, was ist er anderes als eine Fluchtstätte der degenerierten Mannheit?

Nur weil die Heroen ausgestorben waren, konnte es geschehen, daß die Schlechten, die Sklaven, an die Jungfrauen, die stolzen, die starken, die schönen, herankommen konnten, herankommen mußten.


Altenberg führt uns in seinem Buch »Prodromos« vor Augen:

Zu Brünhild dringt ein geringer Mann. Sie erwartet ihn, Siegfried!

Es kommt ein anderer, ein Geringer.

»Wer drang zu mir – wer drang zu mir?«

Sie war noch nicht, meine Hochzeitsnacht, – die Nacht der Hingabe, in heller, seliger Bewußtheit, mit dem hellen, seligen Willen zu empfangen.

 

Nun war ich also Frau Neudorfer. Nein: Frau Neudorfer-Hertz. So wollte es mein mich managender Mann. Mein Engagement verpflichtete mich von Beginn der neuen Herbstsaison, also wenige Wochen nach meiner Heirat.

Im grünsamtenen Direktoirekostüm, ein zylinderartiges Hütchen auf dem Kopfe, ein weißes Stöckchen keck durch die Luft wippend, kam ich in meiner ersten Szene mit meinen Hofdamen, welche im Gänsemarsch hinter mir schritten. Wir marschierten unter den Klängen einer Polka graziös im Bogen bis an die Rampe. Dort blieb ich mit einem Ruck stehen und sang »mit reizender Schalkhaftigkeit« zu der Polkamelodie:

»Die klu–gee – Frau
Die weiß – gee–nau,
Wie der Mann zu fassen ist,
Wie man ihn am besten küßt!
Die klu–gee – Frau – –«

Ich hatte einen grand succès!

Rudi strahlte.


Die materielle Basis unserer Menage war trotz unserer leichtsinnigen Sorglosigkeit vor der Eheschließung keine üble. Ich hatte von meinen Eltern eine Rente und eine kleine Gage beim Theater, er eine sehr anständige Zulage, die ihm sein Papa anläßlich der vollzogenen Tatsache unserer Vermählung ausgesetzt hatte. Ferner arbeitete er als Feuilletonist, auch brachte die erste Operette noch immer Geld ein, und ein zweites Libretto hatte er »unter der Feder«.

Diesbezüglich wäre also alles gut gegangen.

Man legte uns auch von keiner Seite mehr etwas in den Weg, im Gegenteil, das »interessante« junge Paar, das eine glühende Liebesehe geschlossen hatte, erfreute sich allseitiger Sympathie.

Sonderbar war nur, daß man meinen Mann so wenig mit mir sah. Auch mich wunderte das schließlich. Aber andererseits, – mußte er nicht in seinem Gehen und Bleiben wirklich unabhängig sein und so handeln, wie es die »Stimmung« mit sich brachte? Ohne »Stimmung« konnte er ja nicht arbeiten.

Wenn er nun sagte, daß ihm seine gewohnten Fußtouren bei Nacht durch die menschenleeren Straßen der Hauptstadt oder die noch einsameren Alleen des Praters unentbehrlich waren, hatte ich ein Recht, ihn daran zu hindern?

Und ich sagte nichts, auch wenn er um 4 Uhr früh nach Hause kam. Bis Mitternacht, – während ich im Theater war, – hatte er zu Hause gearbeitet, sagte er mir. War so vertieft gewesen, daß er sich verspätete. Dann lief er schnell zum Theater, um mich abzuholen, ich aber war natürlich schon fortgefahren, – nun und dann war er eben ein paar Stunden herumgebummelt.

Ich bat ihn, sich überhaupt nicht an das Abholen zu binden. Und gewöhnte mich, allein nach Hause zu fahren.

Er war auch manchmal im Theater. Er hatte dann galante Ideen. Ließ mir z. B. ein Bukett aus den Soffitten werfen. Dann kam er im Zwischenakt, steckte mir eine Nelke daraus ins Haar und sagte: »Du bist entzückend, Carmencita.«


Öfters besuchte er auch eine Kollegin von mir, die eigentliche Sopranheldin (ich war ein Alt und gab die edleren Seelen), die Schöne Helena des Theaters. Ja, in ihrer Garderobe war er eigentlich öfters zu finden, als in der meinen. Sie war eine pikante kleine Französin, verheiratet mit einem österreichischen Aristokraten. Wir sprachen manchmal zusammen, auch so – nun, wie junge Frauen eben zu sprechen pflegen. Neugierige Fragen – mehr oder minder verblümte Antworten. Daß sie keine Kinder hatte, erklärte sie mir auf sonderbare Art. Ein gesetzlich verbotener Vorgang sei die einzige Möglichkeit, keine zu bekommen. »On ne peut pas éviter, vous savez!«

Und sie gestand mir, daß sie sich auf dieses Verfahren bei einer geeigneten Person – abonniert hatte! Dadurch käme es billiger. Die ersten Male sei sie fürchterlich ausgebeutet worden. Aber nun komme sie besser heraus.

Sie hatte sich abonniert darauf!

Ein Motiv für Frank Wedekind, wenn er noch lebte!

Man begann mir sonderbare Geschichten von Rudi zu erzählen. Mit Choristinnen und Statistinnen unseres Theaters hätte man ihn da und dort gesehen. Ich fragte ihn danach. Er leugnete rundweg, änderte aber nicht seine Lebensweise.

Volle Freiheit war zwar (wie es sich unter richtigen Übermenschen gehört!) gegenseitig ausgemacht worden. Aber ich hatte nie auch nur im entferntesten daran gedacht, daß man sie anders benützen könnte, als ich.

Das – das fing doch an, mir über den grünen Klee zu gehen.

Eigentlich glaubte ich diesen Klatsch nicht. Ich wußte nur nicht mehr recht, was und wie. Ich glaubte es deswegen nicht, weil ich mir nicht vorstellen konnte, daß man eine Frau, um deren Besitz man sich so sehr bemüht hatte, gleich nach der Hochzeit betrügen würde. Und so betrügen. Eine Leidenschaft für eine andere Frau hätte ich jederzeit begriffen. Die Ehe kann zu keinem Gefühl verpflichten. Ich hätte mich dann ganz friedlich von ihm getrennt und ihm seine Freiheit auch formell wiedergegeben. Ohne Groll, ohne Feindschaft.

Aber daß er wahllos mit allen möglichen Mädchen herumziehen sollte, war eine andere Sache. Ich glaubte es nicht. Warum hätte er ihre Gesellschaft der meinen vorziehen sollen? Warum, wieso? Ich war verwirrt. Wer war eigentlich dieser Mensch? Was für ein Leben führte er eigentlich? War die Vertraulichkeit seinerseits – erlogen? Gab es denn Menschen, die so etwas fingieren konnten?

Ich wußte nichts, glaubte nichts, zweifelte an allem.

Eine Angst fiel in mein Herz. Eine unerklärbare Angst vor – ich weiß nicht was.

Ich hatte dem Menschen vertraut, als ich ihn heiratete.

Und wie stand ich nun da, in den Augen aller Welt, wenn sich die Sache, für die ich mich so sehr eingesetzt hatte, als unhaltbar erwies?

Anfangs war dieses Gefühl sehr stark in mir. Später, als es notwendig wurde, war der Gedanke an die Meinung aller Welt wie fortgeblasen.


Das Schlimmste waren fortwährende Geldkalamitäten, trotz unserer sehr anständigen Einkünfte. Ich bemerkte mit einem Gefühl, das beinahe an Grauen grenzte, daß er dem Geld gegenüber von einer Art Zwangsidee beherrscht wurde. Was immer er hatte und erraffen konnte, er mußte es ausgeben. Von einer Einteilung des Budgets war keine Rede. Rechnungen, die ich längst bezahlt glaubte, wurden zwei-, dreimal präsentiert. Unordnung in Geldsachen war mir immer ein Greuel. In diesem Punkt war meine Mutter von fast philiströser Korrektheit und ihr Entsetzen vor Schulden, Überschreitungen des Budgets und ähnlichen Ungehörigkeiten war auf mich übergegangen.

Und nun traten diese schmutzigen Geschichten unaufhörlich an mich heran. Was machte er mit dem Gelde? Wieso war er immer ohne Mittel? Hatte besonders nie etwas für mich, für unsere gemeinsamen Ausgaben?

Er, – er brauchte es eben! Ja, er wüßte eigentlich nicht, wo es ihm hinkäme! Es zerschmölze ihm unter den Händen, er wüßte nicht wie.

Später erfuhr ich, wohin es zerschmolz. Die süßen Mädeln, aber die richtigen, die ganz »süaßen«, halfen ihm, unser Geld durchzubringen.

Ein sonderbares Ereignis fiel wie ein Blitz in das unheimliche Dunkel der Situation. Ein Blitz, der mir mit einem Schlage erhellte, was mir an dem Menschen dunkel war. Der einschlug, erhellte und zerschmetterte, was an guten Gefühlen, die besonders nach der Hochzeit fast zärtlich geworden waren, – wie begreiflich, – für ihn in mir dagewesen war.

Ein Band Gedichte kam heraus: »Aus dem Nachlaß eines Toten«. Der Dichter hatte durch Selbstmord geendet. Unglückliche Liebe und materielle Not waren das Motiv der Tat gewesen. Der Band wurde jetzt von einem Freund veröffentlicht. Mich interessierte es, von dem Manne zu hören, weil mir Rudi den Namen öfters genannt hatte. Er war mit ihm eine Zeitlang in der Redaktion einer Wiener Wochenschrift gewesen, die dann einging. Damals hatte sich der Poet erschossen. Der Band Gedichte war nun plötzlich in allen Auslagen zu sehen.

Ich interessierte mich immer für Lyrik. Rudis Liebesgedichte hatten einen starken Eindruck auf mich gemacht. Ich bedauerte es sehr, daß er außer dieser Fülle von Liebesliedern nie wieder ein Gedicht gemacht hatte.

Eines Tages trat ich in eine Buchhandlung und kaufte mir das Buch des Verstorbenen. Noch in der Tramway begann ich darin zu lesen. Ich las und las. –

Rudis Liebesgedichte, mit denen er mich »erobert« hatte, – ich fand sie hier, im Nachlaß eines Toten.

Als ich zu Hause eintrat, saß Rudi bei Tisch und wartete auf mich mit dem Mittagessen. Er sah das Buch in meiner Hand und wurde weiß wie das Tuch auf dem Tisch.

Ich legte es neben meinen Teller. Wir aßen und sprachen kein Wort. Als er sich nach Tisch erhob, sah ich einen schamlosen Zug in seinem Gesicht. Da warf ich ihm das Buch vor die Füße: »Leichenräuber!«

»Exaltierte Person!«


Nun hatte ich den »Schlüssel« zu dem, was jener Mensch war. Wie eine Fabel, wie ein Märchen, wie ein Symbol erscheint mir nun diese Begebenheit. Wie ein Symbol, das bei der Definition seines Wesens den Kern trifft: er war ein Lügner.


Es geschah – nichts. Ich war unfähig, irgendeinen Entschluß zu fassen. Was hätte ich auch tun sollen? Was hätte ich wollen sollen? Berechtigte mich diese Erkenntnis seines Wesens, die Ehe zu lösen? Sollte ich sie lösen? Mir war, als müßte ich abwarten, bis irgend etwas geschähe, ich wußte selbst nicht was, was mich sozusagen der Initiative überhob und von selbst wirkte und entschied. In diesem Punkt bin ich Fatalistin. Aber mein Fatalismus ist eigentlich ein Rationalismus: ich glaube an die Logik jeder Situation als das in ihr wirkende Prinzip.

Die Ehe blieb also weiter bestehen, nur formell natürlich. In Wahrheit bestand keine Intimität mehr.

Es kamen nun Monate eines widerwärtigen Kampfes. Es hieß, sich gegen etwas wie eine Verführung wehren. Es gibt nichts, was geeigneter wäre, Blut und Seele einer Frau mehr zu verderben, als eine solche Situation. Um das Gefühl des Zornes, der Enttäuschung, des Ekels niederzuschlagen, kommt ein schlimmes Gelüste über sie. Das Gelüste, sich einem Abenteuer in die Arme zu stürzen, nur, um mit einem Gefühl, das sie ausreißen will, fertig zu werden.

Wäre es an mich herangetreten, wer weiß, was geschehen wäre. Aber an eine in »glühender Liebesehe« jung verheiratete Frau wagte sich niemand.

Ein Mann war allerdings an unserem gesellschaftlichen Horizont aufgetaucht, der mehr Interesse für mich an den Tag legte, als es sich einer Jungvermählten gegenüber geziemt. Und dieser Mann interessierte mich selbst. Oft hatte ich etwas wie Furcht vor ihm. Aber seine feste Formenzucht gab mir immer wieder meine Unbefangenheit. Es war ein Maler, holländischer Abstammung. Er führte den klassischen Namen Orest. Orest van Haer. Er lebte seit mehreren Jahren in Wien und hatte sich als Porträtist einen großen Ruf geschaffen. Sein Kopf war wie in Stein gehauen. Wie man sich den Kopf eines römischen Kaisers denkt. Undurchdringlich schienen diese Züge. Die Augen aber glühten und führten ihr eigenes Leben. Seine Umgangsart mit Menschen war korrekt und liebenswürdig, soweit Liebenswürdigkeit korrekt ist. Was ihm einen besonderen »Nimbus« in den Augen der Wiener Gesellschaft gab, war der Glanz seiner Millionen. Er hatte ein Palais inmitten eines großen alten Parks erworben und gab da von Zeit zu Zeit Feste. Sein Atelier war eine Stätte, zu der zahlreiche offizielle »Kunstwanderungen« veranstaltet wurden. Er hatte früher, wie es hieß, auf Reisen gelebt, meist in Schottland.

Alles das machte Herrn van Haer natürlich zu einer »interessanten« Persönlichkeit. Auf seine Bitte sollte ich ihm zu einem Bilde sitzen. Das erstemal war ich in Begleitung Rudis erschienen. Ein zweites Mal hatte er mich allein hingehen lassen! An diesem Tag blieb ich, da ich theaterfrei war, länger als die Sitzung dauerte, da ich Gefallen daran fand, mit van Haer zu plaudern. Ich blieb bei ihm zum Tee. Wir sprachen fast unausgesetzt von seinen Reisen. Unser Privatleben, weder seines noch meines, wurde nicht berührt.

Als ich abends von ihm nach Hause fuhr, dachte ich mir wohl einen Augenblick, – es wird ihn befremden, daß ich seiner Einladung, zu bleiben, nachgegeben habe. Es wird ihn vielleicht irreführen über mich (Als Brettldiva nahm mich sonderbarerweise niemand. Man belächelte meine Beschäftigung bei der Operette als eine Kaprice. Zugehörig dahin schien ich niemandem.)

Aber die Ödigkeit dieser Ehe begann schon damals schwer auf mir zu lasten. Da mein Mann immer andere Wege ging als ich, mußte ich auf eigene Gefahr hin meine Geselligkeit suchen. Es war ein fast ekles Gleichgültigkeitsgefühl in mir, während ich damals im Wagen van Haers nach Hause fuhr. Mochte jener denken, was er wollte.


Eines Abends, als ich von der Vorstellung kam, – das Singen und Springen auf jenen Brettln war mir längst ein Greuel geworden, und ich schleppte an dieser Verpflichtung so schwer wie an meiner Ehe, – war Rudi wie gewöhnlich nicht zu Hause. Er schien in Eile fortgegangen zu sein. Sein Hausrock lag auf einem Sessel, daneben eine Krawatte. Ich nahm die Sachen, um sie aus dem Weg zu räumen. Bei dieser Gelegenheit glitt aus der Tasche seines Rockes seine Brieftasche. Er hatte sie offenbar darin vergessen.

Ich weiß, daß ich gar nicht überlegte, ob ich sie öffnen sollte. Im Augenblick lag ihr Inhalt vor mir. Ich wußte, daß ich irgend etwas Entscheidendes durch diese Brieftasche erfahren würde. Denn schon längst erschien er mir im Licht eines sehr einfältigen Betrügers, fern von jeder Umsicht im Verbergen seiner Machinationen.

Diese Brieftasche enthielt eine Menge weiblicher Adressen. Ich nahm mir gar nicht die Mühe, sie abzuschreiben, nahm einfach die Zettel an mich.

Ein beinahe humoristisches Gefühl überkam mich. Sollte er mit all diesen Weiblichkeiten leben? Ich beschloß, das zu erfahren.


Am anderen Tag leistete ich mir einen Wagen und fuhr von Adresse zu Adresse. Es waren nette kleine Mädchen, denen ich gegenüberstand. »Süße Mädeln«. Ich gab ihnen Geld und gute Worte, dafür erzählten sie mir hübsche Dinge von Rudi. Einige besaßen seine Photographie. Alle kannten ihn unter falschem Namen. Im übrigen leugneten sie eine Intimität. Er hätte sie nur immer zum Souper geführt.

Am Nachmittag erhielt Herr Rudi Neudorfer in sein Stammcafé die telephonische Mitteilung von seinem Papa, er, Rudi, wohne im Hotel Soundso, sein gesamtes Gepäck sei bereits dahin geschafft. Das Nähere erfahre er beim Advokaten Soundso.


»Einverständlich« – oder ein Prozeß lautete meine Devise. Er verbiß sich nun in mich wie ein wütendes Tier. Nein und nein. Er kam in meine Wohnung und zog den geladenen Revolver aus der Tasche. Vor meinen Augen würde er sich erschießen, wenn usw. Ich ersuchte ihn, meinen Teppich zu schonen. Darauf stürzte er ab, sich in der Donau zu ertränken.

Er behauptete, mir »eigentlich« – treu geblieben zu sein. Möglich. Vielleicht lebte er nicht, vielleicht lumpte er nur mit diesen Mädchen!

Und wenn er sich auch wirklich erhängt und ertränkt hätte, – ich wäre von ihm fort. Und wenn ich auch Kinder mit ihm gehabt hätte, ich wäre von ihm fort. Und wenn ich kein Dach und keine Schwelle mein Eigen genannt hätte, ich wäre von ihm fort. Denn er ekelte mich bis in die tiefste Seele, bis in jeden Blutstropfen hinein!

Das Grausigste war, daß ich nie von ihm dachte: – »der Schuft, der Lump«. Nein, ich dachte immer nur: »Der Lügner, der Lügner!« Dieses war das Hassenswerte. Dieses war mein Erzfeind.

Während diese Angelegenheit ihren Gang ging, erhielt ich eine schriftliche Nachricht van Haers. Die Sitzungen waren unterbrochen worden, im Wust dieser Affäre hatte ich sie abgesagt. Er fragte an, ob wir, mein Mann und ich, geneigt wären, den Silvesterabend als seine Gäste auf dem Semmering zu verbringen. Er hätte eine kleine Gesellschaft, deren Teilnehmer genannt waren, geladen. (Daß wir eben in Scheidung lagen, wußte er natürlich nicht, so wenig wie sonst jemand.) Nach kurzem Nachdenken entschloß ich mich, anzunehmen. Für mich allein natürlich.

Ich verbrachte den Weihnachtsabend trübselig genug im Hause fremder Leute und freute mich um so mehr auf den Ausflug zu Silvester.


Ich weiß, daß an dem Abend eine Stimmung mich ergriff, die sich meiner Beherrschung entzog. Es war eine wilde Verzweiflung in mir, die sich in Form einer ziemlich »degagierten« Lustigkeit entlud. Die Champagnergläser wurden immer wieder gefüllt und immer wieder geleert. Van Haer selbst trank nicht. Wir waren etwa vierzig Personen, von denen ich mit den meisten bekannt war. Das Fehlen meines Mannes hatte ich oberflächlich entschuldigt.

Nach Zwölf, als der Ball begann, schlug mir van Haer einen Spaziergang vor. Niemand würde unsere Abwesenheit bemerken. Draußen ruhte der Wald im Schnee und Frieden. Er holte mir einen Pelz, und ich folgte ihm.

Die Luft befreite mich von meinem Champagnerschwips. Er hatte mir den Arm geboten und nahm meine Hand in seine. Ich ließ es geschehen. Er fragte nach meinem Mann. Ich gebrauchte eine Ausflucht.

Wir blieben nicht lange fort. Als wir wiederkamen, tanzte ich ein paar Runden und zog mich dann auf mein Zimmer zurück.

Als ich in dieses Zimmer eintrat, fand ich eine Tür, die ich auch früher bemerkt hatte, und die zu einem Nebenzimmer führte, geöffnet und angelehnt. Der Schlüssel fehlte.

Angesichts dieser Tatsache fand ich meine Kaltblütigkeit wieder. Also so dachte er sich das.

Ich vertauschte mein Ballkleid mit einem Schlafrock und legte mich merkwürdig unbesorgt aufs Sofa.


Es dauerte nicht lange, als es klopfte. Van Haer trat ein. Meine Frage nach dem Schlüssel und nach der Bedeutung dieser Vorgänge blieb mir in der Kehle stecken. Verdutzt sah ich ihn an: er hatte sich in ein sonderbares Gewand geworfen. Es war eine Art Toga, aber von bunten, orientalischen Geweben mit Seidenstickereien und Edelsteinen geschmückt. Meine Spannung entlud sich in einem Gelächter: »Sie hätten mich auf elegantere Weise verführen müssen, Herr van Haer.«

Und ich lachte und lachte.

Er war dunkelrot geworden.

Endlich sagte ich: »Und nun erklären Sie mir, bitte, die Situation. Sollte man sich, als man mein Gepäck hier heraufbrachte, geirrt haben? Gehört dieses Zimmer noch zu Ihren Appartements?«

»Nein,« sagte er, »es ist Ihr Zimmer. Ich habe den Schlüssel an mich genommen. Gestatten Sie, daß ich ihn hole.«

Er entfernte sich.

Ich war ernst und traurig geworden. Was berechtigte diesen Mann zu dieser Handlungsweise? Ohne Zweifel irgend etwas, was aus mir selbst gekommen war. Wahrscheinlich hatte er die Tatsache, daß ich die Einladung nur für mich allein annahm, in diesem Sinne gedeutet.

Und dann, diese schlimme Lust, die über mich gekommen war durch das Unheil meiner Ehe, sie hatte wohl irgendwie aus meinem Wesen gesprochen.

Er kam wieder und überreichte mir den Schlüssel. Sein Gesicht war noch immer gerötet, und er sah mich fast feindselig an. Er war jetzt im Jagdkostüm, das er während der Fahrt herauf getragen hatte.

»Sehen Sie, jetzt sehen Sie viel netter aus«, sagte ich, und ich weiß, daß es so weich und freundlich klang, als müsse ich ihn um Verzeihung bitten. Und plötzlich brach ich in Tränen aus.

»Verzeihung – Verzeihung. Um Gottes willen, verzeihen Sie mir!«

Und er bat und bat, während ich still weinte.

Und dann begann ich, wie um mich zu rechtfertigen für das, was ihn verführt hatte, mich zu beleidigen, ihm alles zu erzählen. Er hörte mit innigem Interesse.

Und als wollte er sein Unrecht sühnen, begann er, mir dann von sich zu erzählen. Und das Geheimnis, das ihn umgab, lüftete sich mir. Bis in die Wurzeln seiner Existenz ließ er mich blicken. Er hatte etwas wie einen Glauben. Eine »Lehre« beherrschte ihn.

Er zeigte mir ein Bild. Das der Frau, die er liebte. Eine überschlanke Erscheinung mit fast harten Zügen; unnahbar, unbeugsam, fanatisch war der Ausdruck dieses Gesichtes. Sie war die Tochter eines schottischen Edelmanns, Familienverhältnisse trennten sie von ihm. Am Tage ihrer Großjährigkeit wollte sie das Elternhaus verlassen, um zu ihm zu kommen.

Indem er mir dies Bild zeigte und von der Frau seiner Liebe sprach, gestand er die volle Größe des Unrechtes, das er an mir hatte begehen wollen. In diesem Bekenntnis lag aber auch die Abbitte.

Wir trennten uns versöhnt, nachdem es über unserem so vertraulichen Geplauder fast Morgen geworden war.


Er war ein Mystiker. Aber ein heidnischer. Kein christlicher. Ein Magier war er. Während der Sitzungen bei ihm, in denen er mein Bild vollendete, erfuhr ich von dieser Lehre, soviel er mir offenbaren »durfte«. Das Bild selbst war damals wenig ähnlich. Aber das Interessante daran war dieses: es zeigte mich so, wie ich nicht damals, aber ungefähr drei Jahre später aussah, in meiner eigentlichen sogenannten »Blüte«. Ich habe mich sehr verändert in diesen drei Jahren, Bekannte von früher erkannten mich oft nicht.

Dies Bild van Haers war ein »Gesicht«.

Er wollte es mir schenken, aber ich nahm die kostbare Gabe nicht, behielt nur die Skizze. Ein schottischer Earl, den er im Hause jener Dame kennen gelernt hatte und der ihn in Wien besuchte, hat es angekauft.

Später verlor ich van Haer aus den Augen. Er ging von Wien fort, auf Reisen, und man wußte lange nicht, wo er sich aufhielte. Dann hörte ich wieder von ihm, von dritter Seite. Er hat schwere, schwere Schicksale gehabt. Ob er an ihnen – Christ geworden ist?


Wir schieden dennoch, – genau so, wie wir geheiratet hatten: ohne »Einwilligung«.

Bei der Operette wollte ich um keinen Preis bleiben. Hier schien mir meine Zeit greulich vergeudet. Auch verschlangen die Toilettenkosten die Gage, so daß materiell nur dann etwas »herausgeschaut« hätte, wenn ich das Toilettebudget – anderweitig hätte decken lassen. Aus dieser Stimme konnte ich eben, außer ein paar Unterrichtsstunden, die ich gab, und der zeitweiligen Mitwirkung bei Akademien, Konzertabenden und ähnlichen Gelegenheiten noch keinen materiellen Gewinn schlagen. Ich wollte ja noch werden lassen! Kunst überhaupt ist eine Sparanlage, in die man lange, lange einlegen muß, bevor man von den Zinsen, die sie schließlich trägt, leben kann!

Unselige Schmach so vieler Frauen, dieser Alpdruck: was wird mit mir? Wie soll ich mich allein fortbringen?

Traurige Frage, traurige, schmachvolle Frage so vieler Frauen! Nicht ihre Schmach, freilich! Anders, anders wird das einmal alles sein.

Und viele Frauen sind dieser traurigen Schmach preisgegeben, ohne irgendein Talent, irgendeine »Stimme« zu besitzen, die sie – vielleicht – doch schließlich einmal frei macht.

Gouvernante werden???

Wie habe ich geächzt, wie habe ich gebangt, wie habe ich gezittert!

Frei, frei werden, um Gottes willen, – frei!

O daß mich meine Kunst einmal frei machte, meine Stimme! Ganz frei! Klinge mir voll auf, meine Stimme, und bringe mir sie, diese heißersehnte, heißerflehte Freiheit! Diese Lebenssicherheit, die ich brauche, um singen zu können, um atmen zu können! Dankbar werde ich sein, dankbar und helfend, wenn ich sie errungen haben werde, mit meiner Stimme, diese Sicherheit, die einzig die Freiheit ist!

 

Ich besaß, um mein kleines Heim zu erhalten, meine elterliche Rente als Grundlage meines Einkommens. Auch half mir meine Mutter, so sehr sie konnte. Endlich gab ich einige gutbezahlte Gesangstunden und wirkte während der Saison in Konzerten, Akademien und künstlerischen Veranstaltungen in privaten Kreisen mit.

Diese öffentliche Betätigung begann mir freundliche Erfolge zu bringen. Diese Stimme interessierte, so unfertig sie auch war. Vom ersten Piepser an, den sie von sich gab, wurde sie beachtet. Und es wurde nicht zurückgehalten mit dieser Kritik, und sie ermunterte und ermutigte mich, wenn ich mich stimmlos fühlte und an mir verzagen und an ihr, der Stimme, verzweifeln wollte.

Im allgemeinen kam ich viel in Gesellschaft. Und obwohl die Menschen meist inkognito leben, bemühte ich mich, hinter ihre Fiktionen zu blicken. Brennend interessierte mich immer der Mensch. Besonders in dem Punkt, wo sich sein Dasein mit einem andern verbindet. Die Ehe interessierte mich. Eine Einrichtung, ersonnen vom Menschen für den Menschen und vom selben Menschen immer wieder verstümpert.


Was es mit dieser Stimme eigentlich werden sollte, wußte ich nicht. Mein Leben selbst erschien mir nur wie ein Provisorium. Wo war sein Schwerpunkt, sein »Sinn«?

Kraft brauchte ich, das wußte ich wohl, um diesen Sinn aufzufinden und ihm gemäß, meiner gemäß zu leben. Kraft des Leibes und der Seele.

Nie war ich glücklicher, als wenn ich morgens, beim Erwachen schon, Kraft fühlte für den neuen Tag! Kraft in Hand und Blut und – Stimme! O das fühlt man, gleich morgens schon!

Und wenn ich matt erwachte – ach, wie so oft, matt wie eine Fliege, müde, kampfmüde, von Bangigkeiten belastet! – wenn ich so erwachte, ich weinte darüber in den Morgen hinein!

Denn wie sollte ich ihn bewältigen, den neuen Tag?!


Von Zeit zu Zeit mußte ich fort. Ich hielt's nie länger als zwei bis drei Monate freiwillig in Wien aus. Warum saß ich gerade hier? Das »Karma« hatte mich offenbar hierher gesetzt. Aber es hatte wohl auch diese flügelschlagende Unruhe in mich hineingelegt, meine Wanderlust. Fort, wenn es nur irgend ging!

Meine Mutter bedauerte die armen Koffer, die nie zur Ruhe kämen. Sie konnten kein Moos ansetzen, diese rollenden Koffer, – so wenig wie das Moos an ihrer Herrin hängen bleiben wollte.

Das Karma setzte oder stellte mich da oder dorthin, ich wußte nie recht warum. So stand ich einmal in St. Gallen auf einer staubigen Landstraße, im Mittagssonnenbrand an eine Telegraphenstange gelehnt, vor mir auf der Erde, im Staub, fünf Kolli Handgepäck. Warum? Ja, ich glaube, der Gepäckträger hatte mich da stehen lassen. Da stand ich, ahnungslos, wie ich je wieder weiterkäme, weit und breit kein Mensch, nur die staubige Landstraße, in der Nähe von St. Gallen. Ich stand da und haderte mit der Vorsehung: Warum, warum bin ich hier? Aber ein Narr wartet auf Antwort.

Ich muß aber doch irgendwie weitergekommen sein, denn am nächsten Tage promenierte ich unterm Rheinfall von Schaffhausen, im Gummimäntelchen, mutterseelenallein und doch vergnügt. Karma!


Und ich lernte die Verlassenheit kennen in den sonderbarsten Verkleidungen: an der Table d'hôte saß sie, unter hundert Personen, im Glanz der elektrischen Flammen. Auf der Promenade erwartete sie mich, wenn ich in Gesellschaft, die mir gestern der Zufall an die Seite gewirbelt hatte, zur Stunde des Kurkonzertes da erschien. In langen Stunden, die ich einsam im Hotelzimmer verbrachte, aus dem Fenster hinausblickend in eine fremde Gegend, ohne Ahnung, warum ich mich hier befände, das Kursbuch auf dem Tisch, um schon wieder die Stunde der Abfahrt zu bestimmen, war sie da.

Aber manchmal erschien sie mir auch in holder Gestalt. Auf einer Alpenwiese lag sie neben mir im Mittagssonnenglanz. Am Meer ging sie mit mir, wenn ich in langer Wanderung an seinem Ufer schritt und mich dem Sturm überließ in wilder Freude. Dann war sie, die Begleiterin, nicht mehr Verlassenheit, – Einsamkeit war sie dann geworden.


Ich war an der Riviera. In einem jener kleinen Nester zu Füßen der Seealpen, in der Nähe der vornehmen Badeorte der azurenen Küste. Villenkolonien, die wie Vororte jener Städte sind und von den Ruheliebenderen ihrer Bewohner und Besucher zum Aufenthalt gewählt werden.

Der Karneval war vorübergerast. Die Zeit der eigentlichen Erholung kam heran, und dem Pseudofrühling, der der Winter hier ist, sollte der wirkliche folgen. Die Regen, die hier so selten sind, leiteten ihn ein. Die Regen, les pluis. Sie dauerten nun schon einige Tage. Man konnte nicht viel anfangen.

Ich trat in ein Café, setzte mich in einen Winkel und las die Zeitungen, die gerade bei der Hand waren. Es war sehr voll, das Café. Kaum ein Plätzchen zu haben. Alle Welt flüchtete da herein. Ein Herr bat um Erlaubnis, an meinem Tisch Platz nehmen zu dürfen, es war kein Platz sonst frei. Ich erteilte sie, ohne von meiner Lektüre aufzusehen. Nach einiger Zeit traten Bekannte in das Café, Freunde aus Deutschland, mit denen ich hier zusammengetroffen war und viel verkehrte. Ein junges Ehepaar. Sie sahen mich und kamen auf mich zu. Ich rückte auf meiner roten Sammetbank beiseite. Es war gerade an jenem Ort der azurenen Küste wenig Deutsch zu hören. Die Sprache der Einwohner war italienisch. Die Fremden waren meist Russen, Franzosen, Engländer. Meine Freunde gingen zum Theater, ich blieb.

Ich hatte meine Zeitungen ausgelesen und blickte mich nach neuen um.

Der Herr, der an meinem Tisch Platz genommen hatte, schien das zu bemerken. Er reichte mir über den Tisch die Zeitung, die er in der Hand hielt, und fragte in italienischer Sprache, ob ich sie wünsche. Ich verneinte dankend, weil es ein italienisches Blatt war und ich zu mangelhaft italienisch verstehe.

Ich sah dabei eine Hand von edler Art. Allzu gepflegt vielleicht und allzu geschont. Aber von edlem Bau. Ich sah diese Hand und darauf auch diesen Herrn, der mir da seit drei Stunden gegenübersaß, ohne daß ich es bemerkt hatte.

Die Barttracht verlieh diesem Gesicht etwas Fremdartiges. Der Bart, rund um das Kinn, lief mit dem Schnurrbart zusammen. Wo trug man nur solche Bärte? Ein schöner Männerkopf im allgemeinen. Die Stirn vielleicht zu weiß, die Haare sorgfältig gescheitelt, lebhafte Augen, die die meinen suchten, und ein Mund mit überkräftigen Lippen, die sich fromm im Bart verbargen. Sehr kultiviert, und doch, sonderbarerweise dachte ich plötzlich französisch, – ich dachte das Wort: féroce.


Dieser Herr warf die Schlinge der Konversation mit großer Gewandtheit über mich. Er hatte dabei eine so respektvolle Art, daß ein Zurückweichen unmöglich war. Er sprach weltmännische Dinge, solche, die der Stimmung angepaßt waren, brachte sie gewandt und beinahe feurig und dabei ernsthaft vor. Nach einem Geplänkel von zehn Minuten, an dem ich viel Gefallen gefunden hatte, überreichte er mir seine Karte. Darauf waren Lettern zu sehen, die mir fremd waren, darunter stand in französischer Sprache:

Yussuff Hilmi Pascha Excellence
Ministre plénipotentiaire de Sa Majesté le Sultan.


Diese Bekanntschaft blieb keine flüchtige. Hilmi Pascha ließ mich nicht mehr aus den Augen. Um mich durch seine Gesellschaft nicht zu kompromittieren, führte er mich in seinen Kreis ein. Seine mütterliche Freundin – er nannte sie »ma seconde mére« – Madame Barozzi, die Gattin eines Balkandiplomaten, nahm mich unter ihren besonderen Schutz. Eine andere Freundin, Gräfin Etelka, eine junge italienische Consulesse génerale, ungarischer Abstammung, kam mir nicht minder liebenswürdig entgegen. Jeden Tag gab's Ausflüge oder Einladungen, Picknicks im Grünen oder elegante Tees. Und ich sang in diesen Salons und ließ mir Liebenswürdigkeiten sagen.


Hilmi Pascha hatte Paris und Petersburg hinter sich. Zuletzt war er Botschaftsrat gewesen, dann zum bevollmächtigten Minister vorgerückt und nun seit kurzem hier ansässig stationiert. Er stammte aus einer alten, christlichen, arabischen Adelsfamilie. Seine Vorfahren waren souverän gewesen bis zu ihrer Unterwerfung durch die Türken. Man hatte nun an leitender Stelle die Tendenz, die Nachkommen dieser Geschlechter Karriere machen zu lassen und ihre Interessen mit denen der Dynastie zu verknüpfen. Hilmi Paschas Laufbahn war für einen Mann von kaum dreißig Jahren eine ungewöhnliche.

Sein Interesse für mich brachte es mit sich, daß ich ihm meine »Geschichte« und meine Verhältnisse so unverhohlen mitteilte, als er mir die seinen.

Seine Aufmerksamkeit war unermüdlich. Sein Wagen stand mir immer zur Verfügung und seinen braunen Diener Abdullah hatte er mir »geschenkt.« Abdullah saß auf dem Bock, wenn wir ausfuhren, und verstand es ausgezeichnet, mitten in den Pinienwäldern der Corniche mit großer Gewandtheit ein Tischleindeckdich aus dem Boden zu stampfen. Dann saßen wir da oben, über uns die breiten, grünen Baumkronen, tief unten, funkelnd und unbeweglich das Mittelmeer. Ein orientalisches Frühstück wurde aus geheimnisvollen Körben mit Blitzeseile serviert, und wenn Hilmi Pascha sah, wie ich an den fremdartigen Leckereien herumknabberte, dann freute er sich, wie er sagte: »plus que jamais«.


Er sann darüber nach, was es wohl sei, das ihn so ganz und gar »gefangen« genommen habe. »Je suis votre prisonnier, chére madame.« Und er empfahl sich meiner Gnade. Ich verbot ihm das Thema. Aber er kam immer wieder darauf zurück. Der »coup de foudre« wurde mir beschrieben, der ihn damals im Café getroffen, bevor ich noch ein einziges Wort mit ihm gesprochen hatte. Als ich mit dem deutschen Ehepaar sprach (also in einer Sprache, die er nicht einmal verstand), war's geschehen. Was es gewesen sei, wisse er nicht. »Le sourire? Le regard? Le son de la voix? Ah, cette voix, cette voix!«

Und Yussuff Hilmi Pascha umklammerte mit seiner fürstlichen Hand die meine und flüsterte: »Le regard? Le sourire? La voix? Le sais-je, le sais-je?«


Ich sah, daß er einen Kampf kämpfte. Ich zog mich zurück. Er wußte mich zu finden. Und je mehr ich zurückwich, desto hartnäckiger folgte er mir.

Er sprach meinen Namen »Maja« gerne aus; das j ist der arabischen Zunge geläufig und kommt in dem zärtlichen Kosenamen Ajuni vor. Ajuni-Habibi hörte ich ihn öfters sagen.

Eines Tages fragte er mich: »Maja-Ajuni, pouririez-vous m'aimer un petit peu?«

Ich wußte nichts zu antworten. Aber ich überließ ihm meine Hände. Und er nahm ein Päckchen aus der Tasche und legte es mir in den Schoß. Seine Mutter sende es mir. Es war eine Perlenschnur, eine einzige lange Kette, die er mir dreimal um den Hals schlang. Er warf sie über mich, – wie damals im Café die Schlinge des Gesprächs.

Ich empfand das alles wie im Traum. Es »geschah« mit mir.


Liebte ich ihn? Ich fragte mich danach, als ich nachts, ruhelos und doch von einer köstlichen Wärme erfüllt, in meinem Zimmer auf und ab schritt. Ich trat auf die Terrasse. Magnoliendüfte schlugen mir entgegen. Das Meer rauschte auf. Liebte ich ihn?

Aber eine Antwort kam mir nirgends.

 

Da ich die Mutter nicht an der Seite hatte, so wurde die Verlobung nicht offiziell bekannt gegeben. Aber er ließ es seine Freunde vertraulich wissen, wie es um uns stand, und man verdoppelte die Aufmerksamkeit gegen mich. Im übrigen war er noch viel vorsichtiger als bisher, in allem, was meinen Ruf betraf. Ich durfte um keinen Preis kompromittiert werden, da ich als seine Frau hier leben würde. Ohne Begleitung waren wir überhaupt nicht mehr zu sehen, weder zu Fuß noch zu Wagen. Mich auf meinem Zimmer aufzusuchen, wagte er nicht. Mich im Salon des Hotels zu treffen und abends im öffentlichen Saal mit mir zu speisen, war das Äußerste, was er sich gestattete.

Dennoch sehnte er sich natürlich nach vertraulichem Beisammensein mit mir. Seine Wohnung durfte ich ohne Begleitung noch weniger betreten, als er die meine.

Endlich verfiel er auf einen Ausweg. Seine Chancellerie, sein offizielles Büro, war des Abends leer und gesperrt. Da sollte ich ihn aufsuchen.

Ängstlich schlich ich eines Abends dahin. Er erwartete mich im Finstern. Er hatte kein Licht zu machen gewagt. Eine Türe öffnete sich, und ein fremder Mann zog mich in ein dunkles Zimmer. Ich wollte fort. Augenblicks. Er beschwor mich, zu warten, er könne erst um zehn Uhr das Zimmer unbemerkt elektrisch beleuchten. Da ich nicht nachgab, zündete er schließlich eine Kerze an, und das beruhigte mich. Ich fand mich in einem Büro, zwischen Pulten und Sesseln, und atmete auf.

Hier verplauderten wir nun an freien Abenden, wenn wir nicht eingeladen waren, die Stunden.

Er schilderte mir das Leben, das mich an seiner Seite erwartete, mit seinen vielen Verpflichtungen. Und das »Ideal«, das er von seiner zukünftigen Frau sich gemacht hatte. In der Politik sollte sie so wohlunterrichtet sein wie er. Über alles wünsche er mit seiner Frau zu sprechen. »Même la philosophie«. Sogar über Philosophie. Ich wunderte mich über diesen Wunsch, denn die Namen der großen Philosophen waren ihm fremd. Goethe, Schopenhauer, Kant – sie hatten mit seiner Kultur nichts zu tun.

Er wünschte also seine Frau »intelligente«. »Pourtant elle doit être soumise. Car elle a besoin de protection.«

Dennoch sollte sie – soumise (wie ist das zu übersetzen? Unterwürfig?) sein, da sie des Schutzes bedarf. Daß sie des Schutzes bedarf, die Frau, räumte ich ein, aber gerade deswegen sollte sie, meiner Meinung nach, nicht allzu soumise sein!

In der freiwilligen, zarten Soumission dessen, der den Schutz spendet, schien mir der Begriff aller Kultur zu liegen.

Er schnitt das Thema ab und sagte mir: »Tu pourra me mener à un fil de soie, si tu seras prudente.«

An einem Seidenfaden konnte ich ihn führen? Mit Vorsicht?


Seine Muttersprache, in der er dachte, sollte mir nicht fremd bleiben.

Er trieb also in diesen Stunden in der Chancellerie Arabisch mit mir. Und da wir kein anderes Hilfsbuch hatten, nahm er seine Ausgabe des Koran vor. Er übersetzte mir Satz für Satz und Wort für Wort. Ich folgte mit großem Interesse. Und machte meine Einwürfe und fragte ihn dies und das, was über das Interesse an der Sprache hinausging und sich auf den Inhalt, den geheimnisvollen und bilderreichen Inhalt dessen, was wir da lasen, bezog. Er hatte diese Abstecher von dem Sprachunterricht eigentlich nicht gern und war nicht einverstanden, daß ich so sehr nach Deutungen suchte: »Je ne veux pas que tu soies trop profonde!«

Überhaupt hörte ich oft: »Je ne veux pas que tu soies« –, oder: »Je veux que tu soies«, oder: »La femme doit être« – und immer als Schluß aller seiner Ermahnungen: »Ai-je raison, oui ou non?«


Mit meiner öffentlichen Betätigung als Sängerin mußte es natürlich vorbei sein. Ausnahmsweise gestattete er mir bei einem Wohltätigkeitskonzert, das zu Gunsten der Ortsarmen von Damen der Gesellschaft veranstaltet wurde, mitzuwirken. Das Konzert trug einen dilettantischen Charakter. Die es veranstalteten, bestritten zum großen Teil das Programm, Damen und Herren, die einen vornehmen Namen als Anziehungspunkt aufs Programm setzten und sich wohltätig unterhalten wollten. Darum eben gestattete er mir die Mitwirkung.

Nicht als Künstlerin, als Mitglied dieser Gesellschaft durfte ich da öffentlich singen.

Meine Stimme schlug die der Salondilettanten, und meine Nummer hatte den stärksten Erfolg. Zum Schluß mußte ich eine Zugabe machen. Ich sang das italienische Lied »L'ombra di Carmen«: »Was du siehst, o Don José, es ist nicht Carmen. Den Schatten Carmens siehst du nur, o Don José« ...

Er trat zu mir hinein, ins Künstlerzimmer: »Ah cette voix, cette voix! Mais c'est la dernière fois que tu la fasses entendre publiquement. Dès aujourd'hui – pour le salon.«

Und er reichte mir den Arm und führte mich zum Ausgang, zurück durch den Saal, durch die Reihen des Publikums, stolz wie ein König.


Daß ich geschieden war, hatte für dieses Land der häufigsten Scheidungen nicht die geringste Bedeutung, besonders da ja aus meinen Scheidungspapieren (die er von mir verlangt hatte und verwahrte) hervorging, aus wessen Verschulden meine Ehe getrennt wurde.

Nur daß ich bei der Operette gewesen war, sollte ich verschweigen. Ich war Österreicherin, geschieden aus Verschulden des Mannes, Tochter eines Wiener Bankiers, die zu ihrem Vergnügen Musik und Gesang trieb, vielleicht auch mal zu Gunsten der Armen ihre Stimme öffentlich hören ließ, und damit basta.

Er war turcophil seiner innersten Überzeugung nach, wie es schien. Er sprach mir von den Okkupationsgelüsten aller Mächte, der Türkei gegenüber. Auf Syrien, seine Heimat, lauere Frankreich. Wenn jemals diese Absicht zur Wirklichkeit würde, würde er vorziehen, Muselman zu werden, wenn das dann nötig würde, und in den internen Dienst der nach Asien zurückgedrängten Türkei treten.

Wie mich's durchgruselte: Muselman – und ich dann seine Frau!

Aber, so wie ich damals zum erstenmal in seine Chancellerie trat, in dieses nächtliche Zimmer, mit diesem selben fast abergläubischen Gefühl, mir könne nichts »passieren«, das ich auch an jenem Silvesterabend auf dem Semmering hatte, als ich die Türe zum Nebenzimmer unverschlossen und unverschließbar fand, – wäre ich auch da hineingeschritten. Dieses starke Gefühl der Unentrinnbarkeit mancher Situationen habe ich oft gehabt. Und ich mußte dann – oder glaubte zu müssen, was ja wohl dasselbe ist, – in diese dunklen, dunklen Zimmer.


Madame Barozzi hatte sich meiner noch wärmer angenommen, seit sie wußte, daß ich mit Exzellenz Hilmi Pascha verlobt war. Ich kann nicht sagen, daß ich an ihrer Gesellschaft besonderes Vergnügen fand. Aber da Yussuff sie seine seconde mère nannte, blieb mir nichts anderes übrig, als mir ihre Bemutterung gefallen zu lassen. Sie war eine übermäßig dicke, kleine Dame, mit unnatürlich schwarzen Scheiteln und viel zu vielen Ringen an den alten, verwelkten Händen. Sie bemutterte alle jungen Leute, und Yussuff aus doppelten Gründen. Erstlich weil er ihr Landsmann (sie war geborene Türkin, aus christlich-levantinischer Familie), zweitens weil er Garçon war. Da könne man nicht genug auf ihn aufpassen. Ihr Gatte war ein hoher Funktionär, die »Regierung« seines Landes in Person, »Beschwichtiger« aller Unruhen und in großer Gunst bei seinem Monarchen.

Madame Barozzi besuchte mich eines Nachmittags und nahm den Tee bei mir. Ich wußte, daß ihre Neugier an ihrem mütterlichen Interesse einen nicht unerheblichen Anteil hatte. In einem geschickt verkleideten Kreuzverhör suchte sie mir immer wieder meine Personalien zu entlocken. Warum ich divorcée sei und warum ich keine Kinder hätte und ob mein Mann meine dot durchgebracht habe usw. Auch wollte sie wissen, ob ich als Sängerin in Wien bekannt sei. Ihre Neugier amüsierte mich, und ich hätte nicht übel Lust gehabt, ihr ein paar Enten aufzubinden. Aber Yussuff hatte gewünscht, daß ich Zurückhaltung bewahre über alle meine Verhältnisse. So stellte ich mich »dumm« und verstand nie, was sie eigentlich wissen wollte.

An diesem Nachmittag schwärmte sie in hohen Tönen von Yussuff. Sie lobte seine diplomatische Befähigung. Besondere Leistungen mußten es sein, die ihn in so jungen Jahren »sur un poste si important« gebracht hatten. Ich fand den Posten hier, an diesem unpolitischen Platz, mehr repräsentativ als important. Auch wußte ich, daß seine Abstammung einigen Anteil an dieser Karriere hatte, aber ich sagte natürlich nichts dergleichen.

Flüchtig erkundigte sich Madame Barozzi, ob Komtesse Etelka noch immer meine Freundin sei. Und sie drückte ihre Verwunderung darüber aus. »Car – la jalousie – – –.«

»Jalousie?«

Sie gab mir zu verstehen – daß – mein Gott, man hatte gemunkelt – Hilmi Pascha und die schöne Gräfin – ihr Mann, der kleine Italiener, konnte sich neben ihm nicht blicken lassen. »Dans la diplomatie – eh bien, que voulez-vous!«

Und zum Schluß gab sie eine ganz grauenhafte Geschichte zum Besten: von Hilmi Paschas – Köchin, die er schließlich entlassen mußte, mußte. »En garçon – que voulez-vous!«

Indem sie mir tiefe Diskretion auftrug, verließ mich die Holde.

Abends, als er zum Speisen kam und wir uns im Speisesaal des Hotels trafen, erzählte ich ihm von dem Besuch der Barozzi. Die Köchin würgte mich in der Kehle, aber ich schluckte sie tapfer hinunter. Aber das mit Etelka mußte angetippt werden. So ganz – leichthin: »Est – ce vrai, que vous avez été l'amant de cette femme?« Er raste und schäumte. Welch schändliche Verleumdung! »Ah cette vipère!« Damit meinte er die Barozzi.

»Mais voyons, – c'est ta seconde mère!«

»Ah ma seconde mère! Une vipère te dis-je! Méprise-la, cette vipère!«

Das mit der Köchin hätte ich nicht herausbringen können. Denn da hätte ich ihn in einem Punkt getroffen, in dem er keinen Spaß verstand. Dieser Punkt hieß »dignité!« Die männliche »Würde« lernte ich an Yussuff Hilmi Pascha in ihrer ganzen schrecklichen Wucht kennen und fürchten. Nimmermehr hätte er seine Schritte beschleunigt, um einen Zug, der abfahren wollte, zu erreichen. Nimmermehr den Gruß eines seiner Beamten so erwidert, wie den eines Kollegen. Nimmermehr einer – Frau erlaubt, in irgend etwas Kritik an ihm zu üben: dignité!


Was meine Vergangenheit betraf, so wollte er nun und nimmermehr glauben, daß ich seit meiner Scheidung – allein gelebt hatte. Unmöglich. Er verziehe mir alles, nur solle ich es ihm eingestehen. Käme er mir später auf etwas, so würde er sich betrogen fühlen. Und mein Nein wollte er durchaus nicht glauben.

Daß man ohne so einen lumpigen amant auskommen könne, schien ihm eine ganz unmögliche Sache, »Mais voyons, c'est impossible, étant separée de ton mari il y a deux ans, c'est impossible voyons!«

Und er preßte und drückte meine Hände und bohrte seine Augen in die meinen, wie Schrauben.

Zorn stieg in mir auf. Wie kam der Mann dazu, mir etwas zu »verzeihen«. Wäre es nicht mein gutes Recht gewesen, in meiner Einsamkeit mit mir zu tun, was mir beliebte? Und wenn es nicht geschehen war, – so war es wahrlich nicht um der »Verzeihung« des unbekannten Zukünftigen willen unterblieben, sondern deshalb, weil mir unter den Leuten meiner Bekanntschaft keiner begegnet war, der in meine Seele oder auch nur in mein Blut etwas hätte werfen können, was da Flammen aufschlagen machte. Wie erloschen schienen mir die meisten Männer. Man fühlte sein Geschlecht nicht in ihrer Nähe. Darum hatte er, Yussuff, auch auf mich gewirkt. Da war doch etwas, was einen erfaßte, mit der Macht eines Elementes. In dem, was mir aus seiner Werbung gekommen war, hatte ich etwas anderes gefühlt als in dem, was mir von anderen Männern kam. Seine blitzartige, schnelle Entscheidung für mich, die Kraft dieses Griffes nach mir, sie hatte mich erobert.

Und nun saß er vor mir und malmte meine Hände und wollte wissen, ob ich einen amant gehabt hätte.


Ein peinliches Ereignis verursachte mir, mehr aber noch ihm, nicht wenig Aufregung. Ein Prinz Odescalchi, den wir bei einem diplomatischen five o'clock kennen lernten, sollte sich irgendwann, irgendwo zu irgendwem geäußert haben, ob der türkische Minister zu der deutschen Sängerin »Beziehungen« habe. Die mütterliche Madame Barozzi hatte das hinterbracht.

Sofort schickte Yussuff dem Prinzen seine Zeugen. Umsonst versicherte der, diese Bemerkungen durchaus nicht in anstößigem Sinne gemeint zu haben. Schließlich sei doch eine Verlobung (von der er inzwischen erfahren hatte) tatsächlich eine »Beziehung«. Umsonst machte er sich zu jeder Art von friedlicher Satisfaktion erbötig, – »n'étant pas venu ici pour se battre«. Yussuff war nicht zu beschwichtigen.

»Mais il n'y a pas, il n'y a pas d'autre satisfaction, s'agissant de l'honneur de madame Neudorfer.« (Sprich: Nödorffère!)

Das Duell fand also statt. Es wurde dreimal in die Luft geknallt, und l'honneur de madame Nödorffère war wieder hergestellt.

Sonderbarerweise wurden wir, ich und mein Beleidiger, nach diesem famosen Duell – Freunde. Der Prinz machte mir einen Besuch. Alles sei ein Mißverständnis gewesen. Meiner Person irgendwie nahezutreten, sei ihm nie in den Sinn gekommen. Er blieb lange, und wir plauderten; nach langer Zeit konnte ich mich wieder einmal deutsch ausplaudern. Ich fand in ihm einen unterrichteten Mann von Kultur, der besonders über die Kunstschätze in den Kirchen und Privatvillen unseres Aufenthaltortes sehr gründlich unterrichtet war. Er erbot sich, mir den Führer zu machen und mir alles aus erster Hand zu zeigen. Auf diese Art wurden wir gute Freunde. Yussuff fand das unerhört. Er konnte aber nichts dagegen tun, denn sonst wäre es ja wieder zum Duell gekommen! »Mais voilà ce que je te dis pour tout l'avenir«: und er sagte mir, daß, wenn er jemals, bis ich seine Frau sei, mich außerhalb meines Jour in Konversation mit einem jeune homme finden würde, ja dann – »je suis d'une jalousie féroceFéroce: das war das Wort, das ich – gedacht hatte, als ich ihn das erstemal sah.

Und dabei rollte er die Augen, und plötzlich mußte ich denken: »Wüstensohn!«


Daß Mann und Frau immer einer Ansicht sein müssen, war für Yussuff ein Fundamentalprinzip. Auch mir schien Harmonie durchaus erwünscht. Nur meinte ich, müsse sie aus gegenseitigem Verständnis und aus einer gewissen Großzügigkeit der Natur des andern Menschen gegenüber erwachsen. Auch mußte man, meiner Meinung nach, durch freimütige Aussprachen einander kennen und erkennen zu lernen bemüht sein.

Diese blinde Zustimmung, diese »entente complette«, die er da immer verlangte, – sie hatte für mich etwas Larmoyantes. Ich bemerkte, daß er schlechterdings keinen Widerspruch vertrug. Er beharrte unbedingt auf seinem ersten Wort (wie man es eigentlich den Frauen nachsagt). Wollte man erklären, seine Meinung begründen, so nannte er das »des discussions«, und diese seien der Todfeind der Liebe, sagte er.

»Des discussions entre des amants produisent toujours des effets funestes.«

Also was tun? Schweigen? Wie ein Verrat erschien es mir, wenn man doch anderer Meinung war. Nicken und Schweigen, das kam ja einem chinesischen Götzenideal sehr nah. Nie anderer Meinung sein? Da könnten nur solche Leute sich verheiraten, die zur Welt kamen als zufammengewachsene Zwillinge verschiedenen Geschlechtes, dann mittels genialer Operation getrennt wurden und hierauf Inzest beginnen. Der gemeinsame Nabelstrang, die angeborene Einheitlichkeit ihres Verdauungsapparates, das alles garantierte einigermaßen jenes – Ideal.


Dieser rechthaberische Terrorismus erstreckte sich bis in die kleinlichsten Einzelheiten. Wenn ich eine andere Speise, ein anderes Getränk im Restaurant wählte als er, verdüsterte er sich. Wollte ich gehen, während er eine Fahrt vorgeschlagen hatte, – sofort ging er darauf ein, aber er belud mich während des ganzen Weges mit der »Verantwortlichkeit«. Erst wenn ich sagte, um diesen Nörgeleien ein Ende zu machen: »Tu a eu raison«, war er zufrieden. Ich hatte dann mein »Unrecht« eingesehen, nun war es an ihm, generös zu sein.

Sagte ich aber gar, wenn er etwas vorschlug: »Comme tu veux« – ich sagte es oft aus Gleichgültigkeit dem gegenüber, was ihm eine Streitfrage erschien, – dann kannte seine »generosité« keine Grenzen, und er tat dann sicher, was er glaubte, daß ich wollte.

Den »fil invisible«, an dem ich ihn führen konnte, sah ich schließlich ganz deutlich. Ein Kinderspiel war's, diesen Mann zu beherrschen. Ich mußte nur unbedingte Nachgiebigkeit zur Schau tragen, meine Lippen sozusagen immer ölen und salben und konnte ihn auf diese Art bugsieren, wohin ich wollte. Ja, er hatte recht. Man konnte ihn mener à un fil de soie.

Und ich sah diesen fil, brauchte ihn nur zu ergreifen!

Warum nur wurde mir so unbehaglich bei diesem Gedanken?

Trotz aller Vorsicht dem öffentlichen Gerede gegenüber, entgingen wir dem Klatsch natürlich nicht. Die Aufmerksamkeit unserer Umgebung beschäftigte sich mit unserem Verhältnis. Ich fand das ganz natürlich und hielt es für das Vornehmste, es nicht zu bemerken. Yussuff aber war, wie ich bemerkte, sehr aufgeregt über die »Meinungen« aller Leute. Ich fand mein Leben lang, daß, sich um die Meinung anderer viel zu bekümmern, eine hoffnungslose Aufgabe sei. Ich konnte meine Seelenphotographie doch nicht aller Welt präsentieren, mußte daher immer gefaßt sein, solchen Meinungen über mich zu begegnen. Konnte, sollte das etwas an meinem Leben, meinem Schicksal ändern?

Yussuff entschied schließlich, meine Mutter müsse zu mir kommen. Dann konnte die Beziehung erklärt werden und aller Klatsch hatte ein Ende.

»Il faut que tu fasses venir maman! il le faut absolument!«

Entweder müßte ich abreisen oder Mama kommen lassen. So ginge das nicht länger. Da entschloß ich mich, abzureisen, denn Mama kommen zu lassen, eigens um mich zu »gardieren«, schien mir zu ulkig. Wie verdutzt wäre meine gute Mutter über diesen aus meinem Munde so ungewohnten Wunsch gewesen! Ich rüstete also zur Abreise.

Meinen braunen Diener Abdullah hatte ich ihm dankend wieder zurückgestellt. Wo ihn unterbringen zu Hause in Wien? Meine alte Resi wäre in nicht geringer Verlegenheit gewesen, wenn sie ihr »Mädchengelaß« mit Abdullah hätte teilen sollen. Resi und Abdullah im Mädchengelaß! Als gemeinsames Gespann vor meiner Junggesellinnenwirtschaft! Göttlich!

Am Tag meiner Abreise ging ich auf seinen Wunsch mittags, während sein Personal fort war, hinüber zu ihm in die Chancellerie. Es war das erstemal, daß ich da bei Tag eintrat. Ich war erstaunt, daß er es wünschte. »En plein soleil?« – »En plein soleil.« Denn es war ja die letzte Gelegenheit, die er hatte, mich zum Abschied zu küssen. Auf dem Schiff selbst, das um fünf Uhr abging und wo er mich inmitten des ganzen Gesellschaftskreises, in dem wir verkehrt hatten, sehen würde, konnte sein Abschied nur ein offizieller sein. Und mich in meinem Hotelzimmer aufzusuchen, wagte er nicht. So ging ich hinüber, am Mittag, en plein soleil. Und er verschloß die Tür hinter uns und nahm mich in die Arme und küßte mich, ein letztes Mal, zum Abschied.


Ich fand die Gesellschaft an Bord des Schiffes, als ich da ankam, und nahm ihre Blumen und Liebenswürdigkeiten entgegen. Yussuff empfahl mich noch dem besonderen Schutz des Kapitäns, der sein Freund war.

Ich sagte ihm, daß ich durch das Fernrohr von der Kommandobrücke nach ihm blicken würde. Er war bleich und erregt und drückte immer wieder meine Hand. Abdullah hatte einen Riesenstrauß ins Hotel gebracht. Als ich nach den Blumen fragte, sagte man mir, daß sie samt meinem Gepäck in der »Fürstenkajüte« untergebracht seien.

Die hatte Yussuff, ohne mein Wissen, für mich bestellt.

Die Gesellschaft hatte sich längst von Bord begeben und stand nun auf dem Molo. Wahrscheinlich machte sie ihre letzten Bemerkungen über uns. Aber Yussuff ging erst, als der Kapitän auf ihn zutrat:

»Pardon, Excellence, nous allons partir.«


Wie er auf dem Molo stand, heroisch über alle Würdebedenken den Sieg davontragend, – er, dem »dignité« über alles ging! – ja, das war schön. Ich sah ihn durch das Fernrohr von der Kommandobrücke aus, und er blieb stehen, damit ich ihn sehen könne, obwohl er mich längst nicht mehr sehen konnte.

Pöbel und Gaffer, wie sie sich immer auf dem Molo bei der Abfahrt eines Schiffes herumtreiben, umstanden ihn und unterhielten sich auf ihre Art. Er blieb trotzdem stehen. Ich sah durchs Fernrohr, wie die Gesellschaft sich verabschiedete und auseinander ging, sah, wie Gräfin Etelka am Arm ihres Mannes, des kleinen Conte, absegelte und wie die Barozzi, die dicke vipère, wegrollte.

Und ich sah ihn stehen, bis er nur noch ein schwarzer Punkt für mein Auge war und der Hafen von C. mir entschwand.

Dann verließ ich die Kommandobrücke. Da bemerkte ich, daß neben der Schiffsflagge noch eine zweite gehißt war. Der Kapitän hatte die ottomanische Flagge hissen lassen, – eine Aufmerksamkeit für die Braut des Funktionärs einer fremden Großmacht. Die Flagge blieb auf Mast, solange ich an Bord war, – ich segelte dahin im Zeichen des Halbmonds.

 

Die Abmachung, die wir getroffen hatten, ging dahin, daß er im Sommer seinen Urlaub nehmen, in seine Heimat reisen und dann nach Wien kommen sollte, mich zu holen.

Seine Briefe waren liebevoll, aber sie strotzten von Vorschriften. Ohne Mamas »Begleitung« auszugehen, würde er durchaus unpassend finden. Theater zu besuchen, halte er für eine Verlobte, ohne ihren Bräutigam, überhaupt nicht für angezeigt. Daß er den Besuch eines Cafés, eines Restaurants u. dgl. unmöglich fand, hatte er mir schon mündlich auseinandergesetzt. Vergebens versuchte ich, ihm das Lächerliche klarzumachen, das darin lag, wenn ich, eine Frau, die jahrelang selbständig gelebt hatte, nun plötzlich auf Schritt und Tritt den »Schutz« meiner Mutter in Anspruch nehmen sollte. Er begriff nicht. Er interpellierte mich unaufhörlich über alle diese Dinge. Daß Hunger Grund genug sei, in ein Café zu treten, leuchtete ihm nicht ein.

Und immer war ich gesehen worden und immer so, wie er es nicht wünschte.

So war dieser Briefwechsel eigentlich ein fortgesetzter Streit. Und öde erschienen mir alle diese Streitfragen, die er mit solcher Wichtigkeit abhandelte.

Eine Ahnung beschlich mich, daß er als Verehrer ein Ideal war, aber als Ehemann ein böser Fall sein mußte.


Immer im Namen der ganzen Gattung wurden mir alle diese Vorschriften gemacht: der Mann ist, die Frau soll, la femme doit être usw.

Nie habe ich mich auf den »rechtlerischen« Standpunkt gestellt, am wenigsten in meinen Beziehungen zum Mann. Als Weib voll genommen zu werden, genügte meistenteils meinem Ehrgeiz. Aber ich kann auch diesen mannmännlichen Standpunkt von der anderen Seite nicht vertragen. Diesen ehernen Brustton: Pieter von der Butterseite ist ein Ehrenmann! Dieses »ich bin der Herr im Haus«. Dieses krampfhafte Überlegensein-Wollen. »La femme doit être«, – öde, wie aus einer Drommete hohl geblasen, klingt's.

Der Mann, dem seine Liebe zu einer Frau teuer ist, sollte wissen, daß es einen gefährlichen Punkt gibt, den er sorgsam behandeln muß: eben diese ihre Unbefangenheit. Dämpft oder verschreckt er ihr die, dann ist sie wie ein Vogel, der seine Melodie verloren hat, und ihres Gepiepses wird er wenig froh.

So erging es mir. Der freie Herzenston war weg. Und er wollte sich gar nicht wieder einfinden. Ich fand mein Ich nicht mehr diesem Du gegenüber, ich wußte Yussuff nichts mehr zu sagen, und was wir einander mitteilten, war ohne richtige Verbindung. Wir waren aus dem Takt gekommen miteinander.

Waren wir es denn überhaupt jemals gewesen? Hatten wir eine Sprache gesprochen? Wir hatten uns einer – Dolmetschsprache bedient. Nicht seine, nicht meine war es, in der wir uns verständigten. In der Dolmetschsprache der Verliebtheit hatten wir miteinander Konversation gemacht. Die unverbindliche, charmante Liebenswürdigkeit des gallischen Idioms hatte uns ihre Formeln geliehen. Wie schwer sagt sich's im Deutschen: ich liebe dich. Und zaghaft flüstert man da erst und stammelt: – ich – hab' dich – lieb.

Aber wie gewandt rollt es heraus: »Je t'aime! Mais je t'aime éperduement!« – »J'aime et je veux mourir, j'aime et je veux pâtir, j'aime et pour un baiser je donnerais ma vie.«

Nicht daß wir jeder eine andere Muttersprache hatten, meine ich natürlich. Nur wie ein Symbol erscheint es mir, daß wir einer uns fremden Zunge bedurften, um uns überhaupt einander verständlich zu machen. Es gibt eine Zusammengehörigkeit, die international ist und Brücken wirft über Erdteile und, was schwerer ist, über Geister. Und gleichgültig ist's dann, welcher Sprache sie sich bedient.

Hier aber war es nicht gleichgültig. Denn die Begriffe waren fremd, sowie sie das zärtliche Gehege des Eros verließen und, wie es schien, unverdolmetschbar.

»Écorcher« ist ein prächtiger Ausdruck. Écorcher une langue. Das heißt, eine Sprache radebrechen, sie zu Tode schinden. Écorcher – l'amour?


Überheblich, trotzig, anmaßend macht das Unrecht, das der Liebe zugefügt wird. Es ist ein Zeichen, daß man irgendwie miteinander aus dem Geleise gekommen ist, wenn man mit dem schwerfälligen, dräuenden Geschütz des Stolzes, der Berufung auf seine Person angefahren kommt. Es zeigt, daß man sich mißhandelt fühlt.

Ist in der Liebe alles »in Ordnung«, bleibt die Liebe der Liebe nichts schuldig, ach, wie wird man da so demütig. Nichts weiß man mehr von seinem »Ich«, trotz des gewaltigen Lebensgefühles, nichts in dem Sinn, daß man seine Person irgendwie ausspielen würde. Nur die andere geliebte Person wird gefühlt und die eigne scheint einem nur wie dazu da, sie aufzunehmen.

Ich rede von edleren Naturen. Bei gemeinen ist's umgekehrt: sie zerfließen in »Hingabe«, je mehr sie sich getreten fühlen und mißbrauchen es, wenn ihnen Liebe erwiesen wird.


Jetzt erst, wo ich ihn schriftlich und nicht mehr persönlich vor mir hatte, fiel mir auf, daß ich eigentlich nie von ihm ein Wort über mich gehört hatte, durch das ich mich irgendwie, in dankbarem Glück, erkannt hätte fühlen können. Wo blieb sie hier, die Entdeckungsreise der Liebe, die einer im andern macht, alle Sinne gespannt, das Herz hoch klopfend in Entdeckerlust? Wo blieb es, dieses stolze Gefühl: Land, Land, mein Eiland, das ich suchte, ahnte, wußte, an das ich glaubte, bevor ich noch einen Streifen seiner Küste sah! Wo war es hier, – dieses Kolumbusgefühl der Liebe?

»Was du siehst, o Don José, es ist nicht Carmen. Den Schatten Carmens siehst du nur, o Don José ...«

Er teilte mir mit, daß wir nach unserer Verheiratung wahrscheinlich versetzt würden. Das sei gebräuchlich in der Diplomatie. Sein Bruder, der Staatsrat bei der Pforte war, hatte erfahren, daß wir wahrscheinlich nach Indien kämen oder sonst auf einen asiatischen Posten.

Wir blieben also nicht an der Côte d'Azur. Nach Indien sollte ich ihm folgen.

Liebt man, über allen Zweifel, man folgt fraglos dem, den man liebt, und wäre es in ein Blockhaus auf den Nordpol. Wo die Liebe ist, ist die Heimat.

Aber mit Yussuff Hilmi Pascha nach Indien gehen? Warum, warum? Ich war dann in der Macht, oder besser gesagt in der Gewalt eines fremden Willens, fremden Gesetzen unterworfen, in fremdem Land.

Die Sorgen überfielen mich. Ich war wieder ratlos und erwartete wieder – eine Entscheidung.


Ich hatte bei einem Konzert mitgewirkt. Im letzten Moment hatte ich mich entschlossen, meine Kassenverhältnisse verlangten überdies wieder diese Tätigkeit. Ich schrieb Yussuff darüber. Vierzehn Tage erhielt ich keine Antwort.

In diesen vierzehn Tagen verbrannte ich mein Abenteuer von der Côte d'Azur.

Sein Brief kam und tat das übrige. »Je suis despote de toute ma nature«, hieß es da. Ich sah das Gesicht, sah es so, wie es bei der geringsten Meinungsverschiedenheit gewesen war, – mit dem grausamen Zug um den Mund, der sich im Bart verbarg, mit den Augen, die immer gleich »rollten«.

Daß er es wagte, mich zu »strafen« mit seinem Stillschweigen, gab den Ausschlag. Er schrieb es ganz ohne Scham: »J'ai voulu te punir.«

Es war wieder einer jener Momente, wo ich deutlich fühlte, daß ich mußte, wo ich mich geschoben fühlte, wie an einem Marionettendraht.

»Monsieur, veuillez me rendre mes papiers de divorce, mes lettres et mes photographies. Moi je m'engage de vous rendre vos lettres et votre photographie au moment où j'aurai les miens.«

Nichts weiter. Die Perlenschnur sandte ich gleich.


Als ich Hilmi Pascha diesen Brief schrieb, war mir, als hörte ich eine drohende, flehende, zwingende Stimme: Opfere mich nicht! Schütze mich dir! Mich, deine Stimme!

So endete meine Verlobung mit Yussuff Hilmi Pascha, Ministre plénipotentiaire de la Porte Sublime. Sie zerbrach mir unter den Händen. Warum, weshalb?

»Le sais-je?«

Nimmer kann eine Tintenfehde Menschen trennen, die ihrem innersten Wesen nach zusammengehören. Leicht entwickelt sich durch die Trennung, die Unvollständigkeit der schriftlichen Mitteilung, die Unberechenbarkeit der Stimmung, in der ein Brief empfangen wird, Gereiztheit und Mißverstehen auch zwischen wirklich Liebenden.

Aber unter allem Papiergeknister behält doch das Wesentliche einer Beziehung seine Stimme. Die Tinte ist ein dräuender schwarzer Mann. Macht er aber allzu gefährliche Mienen, dann wird die Stimme, die wahre Herzensstimme der Beziehung irgendwie laut und jagt ihn in die Flucht. Und alle geschriebenen Mißverständnisse müssen dann schleunigst auf ihren schwarzen Tintenfüßen das Weite suchen.

Nicht die Tinte hatte uns getrennt, den Diplomaten und mich. Das Wesen selbst, die innere Stimme dieser Beziehung war laut geworden und hatte es getan.


Ich hatte gefühlt, daß ich tun mußte, wie ich tat. Ich kann nicht sagen, daß es leicht war, und ich trug schwer daran. Es war ein Kampf um nichts weniger und nichts mehr, als sich selbst »treu zu bleiben« oder nicht. Doppelt schwer deshalb, weil man sich selbst ja noch nicht bestätigt worden war! Niemand war da gewesen, der einen ganz und gar umfaßt hätte und das, was er also umfaßte, für gut befand.

Man wußte nicht, ob nicht auf jener anderen Seite die Wahrheit liege, ob man nicht besser täte, sich nachzubilden den Forderungen, die dort gestellt wurden und sich – als das, was man im Widerspruch mit jenem anderen war, – aufzugeben.

Aber die Stimme rief mit einer Gewalt, die nicht zu übertönen war! Und wie eine mächtige Hand erfaßt es einen und schob und schob!

Ich glaube, nein, ich weiß es heute: eines starken Willens sein, heißt nicht wollen, sondern wollen müssen.


Warum hatte ich diese Werbung so ohne weiteres angenommen? Warum so zugegriffen? Neben den reizvollen Kulissen, die dieses »Stück« dekoriert hatten und eine so sympathische Stimmung hervorriefen, ist auch eines nicht zu vergessen: die Ödigkeit, die Vereinsamung, dieser schreckliche Mangel an auch nur normal »wohlgebildeten« Leuten, solchen, die nicht irgend etwas direkt Abstoßendes an sich haben. Dieser Mangel, der sich heute in allen gesellschaftlichen Kreisen so sehr fühlbar macht!

Ist das wirklich eine Naturnotwendigkeit, daß wir uns vom Menschen immer mehr entfernen? Daß es unter all den hunderttausend Leuten so wenig Menschen gibt, – so wenig Schönheit, an die man sich vertrauend und heiter anschmiegen könnte, ohne Schlimmes oder Groteskes dabei zu erleben?


Bald darauf erfuhr ich, daß er sich mit einer Tochter des Ministers der Zivilliste des Padischah vermählt habe, und daß er durch diese Karriereheirat Gesandter geworden und nach Ostasien versetzt war. Er sagte mir auch immer, daß er in der Botschafterkarriere sei. »Tu seras ambassaderesse un jour, tu le sais?«

Ambassaderesse in Ostasien! Würde ich dieses Klima vertragen haben?

Auch erzählte er mir von unseren gesellschaftlichen Verpflichtungen in dieser Stellung: vier große Diners müßten wir mindestens während des Karnevals geben. Und fast jeder Tag der Woche sei besetzt durch einen Jour bei den verschiedenen Damen. In der Diplomatie sei das nun einmal nicht anders. Darin bestehe sie ja eben (teilweise).

Jeden Tag ein Damentee? Würde ich dieses Klima vertragen haben?


Gibt es etwas wie ein »Schicksal«? Eines, das etwas anderes noch ist, als das Fazit eines unkonstruierbaren Rechenexempels, etwas anderes, als die nachgezogene Summe einer Addition? Eine voraufgestellte Summe, in die wir hineinleben, bis sie voll ist?

Woher kommt dieses Gefühl: dies mußte so sein. Warum kann ich mir nichts wegdenken, nicht anders denken in meinem Schicksal? Ist sie das Schicksal, anima? Hauch der Gottesseele? Gesetz und Nötigung, Motor geworden, in mir? Schiebend und zeugend geworden in mir, Folgen zeugend, unerbittlich, Folgen aus Gründen? Das treibende Agens, das, den Dingen innewohnend, sie zu logischer Wirkung führt, zur Entwicklung ihres eigenen Wesens und damit zur Erfüllung ihrer »Bestimmung« – Schicksal, Gott? – Gott – das logische Prinzip?

Warum kann ich mir nicht denken, daß du mich vor zehn Jahren gefunden hättest und ich allen meinen »Schicksalen« entronnen wäre? Warum das Gefühl, daß sie mir notwendig waren, wie Stationen auf einem Passionsweg?


Schicksal, Schicksal, wie es sich erfüllt, – was denke ich mir doch darunter?

Wirklich eine vorbestimmte Summe, in die hineingelebt werden muß, bis sie stimmt?

Doch, doch. Die Summe ist »vorbestimmt«, denn sie ist gegeben – durch die Ziffern, mit denen wir zur Welt kommen. Die Ziffern sind unänderbar, unauslöschbar und wollen sich bewegen und wollen sich kreuzen und wollen Resultate herausbringen, ihrem eingeborenen Drange gemäß. Und die Summe kann nicht übergriffen werden, und die Rechnung muß sich erschöpfen, immer enger und enger muß sie werden, auf die letzten gemeinsamsten Nenner will alles gebracht und Gerades durch Ungerades so lange geteilt und gebrochen werden, bis es »rein aufgeht«.

Schicksal, Gott: das bewegende, schiebende Prinzip.

Auch das denkende? Wenn rechnen – denken ist, auch das denkende.

Ziffern haben keine Absichten, und doch muß unentrinnbar aus ihnen folgen, was der Art ihrer Begegnung entspricht: Verminderung, Vermehrung, Vervielfältigung, Teilung. Und Quotient, Summe, Resultat sind aufs Haar genau »bestimmt«.

Wenn der absichtlichste Wille hinter dem Spiele stände, es könnte nicht »müssender« sein, nicht unentrinnbarer »ausgehen«, als dieses Ziffernspiel.

War nicht einmal einer, der da sagte, die Zahl sei Gott? –

Gott, Schicksal?

Braucht man noch anderes zu denken, das schicksalsvoller wäre? Einen noch lenkenderen Lenker als diesen? Noch deutlichere Marionettendrähte? Noch mehr Grund zur Frömmigkeit, Religion? Noch mehr, um in die Knie zu zwingen?

Gott, Schicksal – das logische Prinzip!

Alles Ding aber trägt das logische Prinzip seiner selbst als Motor, als Schieber seines Tuns und Erleidens in sich, trägt Gott und Schicksal unentrinnbar in sich und drückt sein Schicksal durch sich selbst aus, wie die Zahl sich selbst ausdrückt durch die Ziffer, ohne die sie nicht zu denken ist. Das den Dingen innewohnende, immanente logische Prinzip ist Gott.


Nun war ich wieder allein und einsam wie nur je.

Was uns verband, Freund, für den ich diese Blätter schreibe, du, dem ich an meinem Hochzeitstage begegnete, es waren flüchtige Grüße.

Grüße zu Neujahr, zu Ostern! Das war alles. Grüße und – Gratulationen. Von meiner Scheidung erfuhrst du erst, als ich meine zweite Verlobung einging.

»Ich gratuliere, gnädige Frau, zur Verlobung.«

»Ich danke, Herr Professor.«

Und dann – später: »Ich habe mich wieder verheiratet. Aber nicht mit dem, mit dem ich verlobt war.«

Und wieder: »Ich wünsche Ihnen Glück.«

 

Wie das so kam, diese zweite Heirat? Wenn ich dir davon sprechen will, so muß ich mitten hineinspringen in dieses Erlebnis. Ich will nicht lange erzählen von den einsamen Jahren, die zwischen jener gescheiterten Verlobung und dieser, meiner neuen Ehe lagen. Jahre waren es des schmerzlichen Kampfes um Kraft und Leben und Stimme. Nichts Lebendes erhält sich ohne Wärme. Ich aber sollte ohne diese Wärme nicht nur mein Leben behaupten, sondern noch das retten, was ein Überschuß an Lebenskraft ist: die Stimme.

Niemand begegnete mir, der mir vertraut erschienen wäre. Auch fürchtete ich mich nun beinahe vor allem, was aussah, wie eine neue Herausforderung des Schicksals. Hatte ich doch übergenug von »Abenteuern«.

Nie habe ich etwas »erzielen«, geschweige denn erzwingen wollen. Nur wenn es selbst mich zwang, erkannte ich es an als notwendig, erlaubt, – verhängt.

Während dieser Jahre erhielt ich verschiedene solide, ehrbare Anträge, wie sie ja wohl im Leben keiner Frau fehlen. Wenn ich nicht zugriff, geschah's deshalb, – weil ich nicht mußte. Nur wo ich ein Unentrinnbares fühlte, kam es mir in Betracht. Zu wem es mich nicht zuwarf, zu dem konnte ich nimmermehr gehen. Ich konnte immer nur Wege gehen, die ich geschoben wurde. Unentrinnbar mußte es sein.


Eines Tages trat mein Bruder in mein Zimmer und sagte: »Du, ich muß dir einen interessanten Menschen vorstellen.«

Ich lag auf dem Sofa und gähnte. »Ich interessiere mich nicht für ›interessante Menschen‹.«

»Seit du die Affäre mit dem Türken gehabt hast, bist du unausstehlich geworden.«

»Er war kein Türke«, sagte ich. »Er war ein Araber. Das sind die Feinde der Türken.«

»Übrigens ist er eigentlich ein Kollege von mir, – vielmehr war es.«

»Wer?«

»Nun der, von dem ich dir erzählen wollte. Er war Konzipist bei der Finanz-Landesdirektion in Slavonien.«

»Ich interessiere mich aber nicht für Konzipisten.«

Giorgio murmelte etwas, was ich zu überhören für gut fand. Schließlich sagte ich resigniert: »Also leg' los.«

Ich sah, er war zum Platzen voll. Er mußte sich Luft machen. Der Konzipist hatte ihm's angetan. Das war einmal ein Mensch! Er hatte ihn vor einigen Tagen bei einem anderen Kollegen kennen gelernt. Ein Mann, der Mut hatte. Seine Stellung hatte er aufgegeben, weil, nun weil er es unerträglich fand, als »Steuerspitzel« da unten in Slavonien zu sitzen und dem Bauer die fünf Gulden aus der Tasche zu reißen. Und dann war er ein Dichter.

»So?«

Und wollte jetzt davon leben.

»So???«

Er wagte es. Seine Frau und Kinder waren versorgt.

»Er hat eine Frau?«

Eigentlich ja. Oder eigentlich nein. Denn er war geschieden. In aller »Freundschaft« hatten sie sich getrennt. Der Vater der Frau, ein Wiener Geschäftsmann, hatte sie in sein blühendes Geschäft gerufen. Da war sie mit ihren drei Kindern aus Slavonien nach Wien gekommen und führte mit großer Tüchtigkeit das Geschäft, eine Eisenwarenfabrik, weiter. Sie und die Kinder hatten zu leben. Einverständlich hatten sie sich getrennt.

»Warum?«

»Ich weiß nicht recht, aber sie werden wohl ihre Gründe gehabt haben. Sie haben sich eben aufgebraucht.«

»So, so.«

»Übrigens verkehren sie wirklich freundschaftlich miteinander und erziehen ihre Kinder. Ich glaube, er wollte frei sein.«

»So wird es wohl sein.«

Seit kurzer Zeit war er nun auch hier, hatte ein Drama geschrieben, einen Roman begonnen und seine philosophischen Artikel erregten Sensation. »Kurzum – du mußt ihn kennen lernen.«


Nach drei Tagen gab Giorgio in seiner Junggesellenwohnung einen »Abend«. Diese Abende bei Giorgio waren philosophisch-alkoholischer Natur. Man redete immer schrecklich viel. Nach einiger Zeit schrie man. Sein Kanzlist Peterka wurde in einen schwarzen Rock gesteckt und fungierte als Diener. Peterka erschien mir an diesen Abenden immer als der einzige nüchterne Kopf. Wurde es zu arg da drin, so kochte er Lindenblütentee und reichte ihn den Gästen zur Beruhigung.

Als ich eintrat, sah ich einen fremden jungen Mann in der Mitte des Zimmers stehen und ungefähr zwanzig andere Personen »an seinen Lippen hängen«. Er sprach über Platons »Gastmahl«. Was über die Liebe zu sagen sei, sei in diesem Buche gesagt. Der Triumph des Werkes sei die Deutung der Liebe durch Diotima, die Priesterin, von Sokrates wiedererzählt: Eros ist kein Gott, er ist ein Dämon.

Es war, als wäre nun das Thema gegeben für den Abend: Dämon oder Gott.

Stimmen mischten sich. Es war kein Zusammenklang, ein Durcheinander von Stimmen war es. Man rief in die Mitte des Zimmers seine Meinung.

Dr. Gruschk saß und legte seinen blonden Kopf zurück. Ich weiß nicht, warum ich an das abgeschlagene Haupt des Jochanaan denken mußte. Es schien mir, als läge dieses Haupt flach auf einem Teller. Ich glaube, die Stirn, die stark zurückfloh, erzeugte diesen Eindruck. Die sehr hellen Haare fielen in dichten Büscheln zu beiden Seiten dieses Kopfes herab. Die blauen Augen schienen silbrig, schimmernd, grau, blitzten auf, verdunkelten sich wieder. Wie wenn ein Strom zu sehen wäre durch zwei Höhlen, unter denen er rollt. Dieser Kopf saß auf einem hochaufgeschossenen Jünglingskörper, von dem man den Eindruck hatte, er sei noch nicht »fertig«.

Schließlich übertönte die Stimme Dr. Gruschks die Gesellschaft. Er rettete das Gespräch vor Verflachung. Wollte man abbiegen ins Konkret-Gemeine, so zwang er immer wieder ins Uferlose hinein.

Es wurde geraucht. Die Luft wurde immer dicker. Die Flaschen waren leer. Die Gesichter rot. Mir schien es, als suche die Stimme Dr. Gruschks einzig mein Ohr. Aristophanes, Alkibiades waren übertrumpft. Zu Diotima drang die große Not: Priesterin, – was weißt du zu sagen? Eros – Dämon – Gott? –

Peterka kam mit dem Lindenblütentee.


Am nächsten Abend besuchte mich Dr. Gruschk. Er hatte seine Geige mitgebracht. Er spielte. Ich sang.

Spät nachts ging er nach Hause. Er erwartete mich am nächsten Abend bei sich.

Ich nahm mir vor, nicht hinzugehen, und teilte ihm das am Vormittag durch eine Rohrpostkarte mit. Am Nachmittag sandte ich eine andere, ich käme dennoch. Am Abend war ich entschlossen, auf keinen Fall hinzugehen und kleidete mich fürs Theater an. Ich ließ einen Wagen holen und fuhr zur Oper. Als der Wagen da vorfuhr, beugte ich mich aus dem Fenster und rief dem Kutscher die Adresse von Dr. Gruschks Wohnung zu.

Er erwartete mich wie einer, der lange gehungert hat. – – –

Und ich? Ich hatte Jahre hinter mir, in denen ich in einer Wüste gelebt hatte.


Das Sonderbarste war, daß Dimitri – er hieß Zdenko Dimitri, dankte diese beiden Namen einem slovenischen Vater und einer russischen Mutter und wurde von allen anderen Zdenko genannt, – das Sonderbarste war, daß er durchaus heiraten wollte. Daran hatte ich gar nicht gedacht. Auch Yussuff hatte ja kein »Abenteuer« mit mir gesucht. »Je ne veux pas te posséder, je veux t'avoir«, hatte er gesagt, als wir uns verlobten.

Auch Dimitri wollte mich »haben«. Ich sagte ihm, er täusche sich über sich selbst. Die Unbequemlichkeit des Nachhausegehens, die vielen »Sperrsechser«, das alles verlocke ihn zum Heiraten. Er gab mir recht. Aber seien das nicht die zwingendsten Gründe dazu?


Ehe ich mich recht besann, wie mir geschah, war ich zum zweitenmal verheiratet.


Es blieb bei der getrennten Menage und der doppelten Wohnung. Ich behielt die meine, er sein mehr als dürftiges Zimmer. Er wollte es nicht anders, da er weniger hatte als ich und an meinem »Sichern« nicht teilnehmen wollte. Er war ungemein stolz in diesem Punkt.

Ich sagte ihm immer: »Ich würde mich überschütten lassen, ich würde dich ausbeuten, wenn du reich wärst!«

Dann war er zufrieden und nahm leichteren Herzens die Tasse Tee bei mir. Aber wahr war's nicht; ich sagte es nur, weil er so arm war.


Dimitris erste Frau, Helene, war eine junge, ernsthafte Person.

Eine gewaltige Stirn hatte diese Frau. Eine Stirn, die sich hoch über den Augenbrauen wölbte, dann mit einem einzigen mächtigen Ruck sich zurückbog. Erfinder stelle ich mir mit einer solchen Stirn vor. Sie war, von innerstem Beruf, Naturforscherin. Hatte Physik studiert, bevor sie sich mit Dimitri verheiratet hatte. Er war zweiundzwanzig gewesen, sie achtzehn.

Dann waren sie hinuntergezogen nach Slavonien, wie in eine Verbannung. Weil er da gleich Konzipist wurde, während man hier »oben« jahrelang auf Ernennung warten mußte.

Sechs Jahre hatten sie da gelebt. Sie hatte zuviel Kinder geboren in dieser Zeit. Zwei waren nicht ausgetragen worden, drei lebten. Er hatte seine Prüfungen gemacht, um Brot gerackert und die Unruhe in seinem Kopf war von der Faust des Erwerbszwanges niedergedrückt und scheinbar niedergehalten worden. Da lag sie, geduckt, gehemmt, sprungbereit. An einander aufgerieben hatten sich diese beiden.

Dann wurden sie vom Vater der Frau nach Wien gerufen. Eine andere Existenz winkte. So kamen sie los von da unten.

Der Blick dieser Augen, unter solcher Stirn, war mir seltsam und schmerzlich: dieser arme verschreckte Blick. Doppelt bange wirkte er, da er hier an einer Frau von ganz selbständiger Persönlichkeit zu finden war, an einer Emanzipierten eigentlich, nicht etwa an einem hilflosen, schwächlichen, anlehnungsbedürftigen kleinen Frauenzimmer. Eine latente Angst vor wilden Griffen war in diesem Blick.

Als sie beide in Wien waren, hatten sie sich geschieden. »In Frieden«. Er wollte frei sein. Und sie war – weise.

Ich muß gestehen, daß mir dieses grandiose, dieses absolute Laufenlassen nicht wenig imponierte. So anscheinend tragödienlos, so ohne Szenen, Tränen, Jammer. Freilich sah ich es in dem Stadium, wo sie, Helene, eben schon da angelangt war. Vorher – mag es Szenen, Tränen und Jammer genug gegeben haben.

»Ich kann ihr nichts mehr anhaben, ihr nichts antun,« sagte Dimitri, »und das ist mir ein wunderbar angenehmer Gedanke und macht mir jetzt den Verkehr mit ihr zur reinen Seligkeit.«

Er hatte recht. Volle Berechtigung hatte er zu diesem wunderbar angenehmen Gedanken. Er konnte ihr nichts mehr anhaben. Ihr nichts mehr antun. Denn er hatte ihr schon alles angetan.

Sie nahm mich auf wie eine Freundin. Dimitri, sie nannte ihn Zdenko, war der Vater ihrer Kinder. Nun gehörten wir alle drei zusammen.

Ich wunderte mich nur über die sonderbare Verschiedenheit dieser drei Kinder: niemand hätte sie für Geschwister gehalten. (Das soll so sein, wenn die elterlichen Elemente allzu verschieden sind.) Elias war ein weißblonder Cherub, Ludo ein dicker, kleiner, brauner Bär und Zora ein schwarzes Mäuschen mit wunderbar blanken Äuglein.


Er besuchte mich täglich. Er kam gewöhnlich spät nachmittags. Bis dahin arbeitete er, oder suchte zu arbeiten. Der Abend sollte uns gehören.

Seine Art, ein Gespräch zu führen, war eine fast feindselige. Er warf Spieße, Lanzen, Keulen.

In der ersten Zeit unserer Verbindung trat das Aggressive seines Wesens zurück. Doch das dauerte nicht lange. Dann hatte er sich – gewöhnt.

Er »gewöhnte« sich gleich an alles. Obwohl Künstler durch und durch, hatte er mehr die schwebenden Elemente als die beharrenden in sich. Der Künstler gewöhnt sich nie und an nichts. Der Stephansturm – er sieht ihn immer wieder das erstemal. Er staunt und schaut und sieht. Dimitri ward alles, was ihn entzückte, erregte, entflammte, allzubald selbstverständlich. »Ich seh' nichts«, war eine seiner Lieblingsredensarten. »Ich bin leer.« Und ich »füllte« ihn. Aber, ach, alles rann blitzesgeschwind durch ihn hindurch! Man hatte immer das Gefühl, es sei zu schnell entwichen.

Voll Überschwang war er, wenn er arbeitete, und voll Haß gegen alles, wenn er es nicht konnte.

»Wenn ich unproduktiv bin, werde ich immer dich angreifen, als das, was mir trotzdem wohltut.«

Und das hat er redlich gehalten. Angefallen hat er mich oft. Zuzeiten war er wie überfüllt von gereizten Gefühlen und sagte dann am andern Tag: »Warum waren wir eigentlich gestern – im Widerstreit?«

Und ich, mit meinem Fanatismus des Gerechtwerdenwollens, nahm das alles ernst, beantwortete seine »Angriffe« – sachlich!

Mir ist, als täte ich manchmal etwas in meiner eigenen Abwesenheit, fast wie hinter meinem Rücken.


Dimitris Lieblingsworte waren so sehr charakteristisch für ihn: »Angreifen«. »Mich füllen«. »Sie leeren mich aus«. »Entwurzeln«.

Entwurzeln. Warum habe ich dieses Wort nie von dir gehört? Entwurzeln: Maulwurfsarbeit.

In jedes Menschen Wurzeln bohrte er sich wahrlich hinein. Er verachtete alles, was Menschen ersonnen haben, um dieses, ihr Wurzelhaftes, vor einander zu schützen, als »konventionell«.

Ich überließ ihn schrankenlos seiner eigenen Natur. Ich wollte ihn ja kennen lernen. Ich war hineingestürzt in diese Gemeinschaft. Nun war ich darin. Und alles, was ich tun konnte, war, – sehen, was daraus wurde.


Ist ein Liebesverhältnis das, – was der Mann daraus macht? Nein: was die Frau daraus macht. Aber das ist das, was der Mann ist. Denn die Frau kann nichts anderes daraus machen, als das, was ihm gemäß ist.


Das Sonderbare war, daß mir nach und nach meine Stimme verloren ging. Wenn ich sah, wie er dasaß, immer bereit zum »Angriff«, war mir, als würgte mich eine Hand an der Kehle. Mein Gesicht wurde eine Grimasse, die Hand, die spielen wollte, zitterte, daß sie schrille Mißgriffe beging, und ein dilettantenhaftes Geklimper, als Begleitung zum Gesang, war alles, was ich ihr abzwang. Und die Stimme verlor ihre Farbe, ihre Kraft, ihren Mut.

Dennoch zwang ich mich und versuchte es immer wieder, besonders wenn er nicht da war. Dachte ich aber auch nur an ihn, war's aus.


Dieses unaufhörliche Im-Kopf-Umherwälzen der Divergenzen, die man mit einem Menschen hat, dieses Memorieren der Reden und Gegenreden, die »gehalten« wurden, dieses Vorbereiten auf neue Angriffe, diese Sorge, Unruhe und Qual, die aus diesem Wust von Kampf und Gier erwächst, das alles verschüttet die Stimme, wie nichts sonst auf der Welt. Keinen Gedanken kann man fassen, der unbeeinflußt wäre von dieser Krankheit (so kann man es fast nennen), die einen da befallen hat, zu keinem Ding sich freien Sinnes hinwenden, keinen Ton seiner Seele entringen, der stark und rein wäre.

Das Merkzeichen eines glücklichen Verhältnisses, das Merkzeichen, daß man an den »Richtigen« gekommen ist, daß alles so ist in der Liebe, wie es ihrer Idee entspricht, ist: daß die Gedanken an ihn, den man liebt, einen nicht verschlingen. Man »stellt vor« (sich und ihn) in Anschauungen, aber man »denkt« nicht an ihn in Theorien. Er »beschäftigt« einen nicht, in dem Sinn, daß die produktiven Energien davon aufgezehrt würden. Man wendet sich, im Gegenteil, von einem feurig-freudigen Lebensgefühl durchtränkt, seiner Arbeit zu, beschäftigt sich mit ihr und trägt ihn dabei tief und fest im Gemüt. Und die »Stimmen« springen auf.

Das war meine Insel, meine Insel der irdisch Seligen, meine »Heimat«, von der ich immer träumte!

Messianisch ist das Wirken der Liebe. Und ihr Erlösertum besteht darin, daß einer dem andern die Spannung löst, diese Spannung seines eigenen isolierten Selbst. Und daran erkennt man den falschen Messias: daß der diese Spannung nicht löst.

Du bist die Ruh', du bist der Friede! – spricht die erlöste Liebe.


Er, – er »beschäftigte« mich. Er »füllte« mich. Mit Hangen, Bangen, Sorgen, Kombinationen, mit seiner ganzen Person füllte er mich, daß nichts anderes mehr in mir sich rühren und regen konnte. Immer wenn er wegging, ließ er etwas zurück, was Sorgen und Schmerzen machte und mit dessen »Erwägung«, besser gesagt Verschluckung und Verdauung ich bis zum nächsten Tag, wo er wiederkam, reichlich zu tun hatte.

Er »füllte« mich mit sich, – daß ich mir selbst abhanden kam, ob dieser »Fülle«.


Er wechselte jeden Tag die Gestalt und zwang mich, sie mit zu wechseln. Läßt es sich ermessen, das Gräßliche? Es ist dies die reine »Idee« der Zerstörung: eine Seele will Form werden, und eine andre Hand preßt sie immer wieder in eine andere Biegung. Und sie läßt sich biegen, eine Zeitlang wenigstens, bis ihre ureigenste Gravitation nicht übermächtig geworden ist. Sie hat ja Ansätze zu allem in sich, so eine Seele, Verwandlungskräfte. Die zu mißbrauchen, irrezuleiten, sie durcheinander zu brauen, in wüster Hexenküche, ist ein wahrhaftiges Teufelswerk.

Diese »Spannung«, – wie wird er heute kommen, – fraß meine ganze Zeit und meine ganze Kraft. Noch heute ist es mir in der Erinnerung.


Wie erwürgt war ich. Er ermunterte mich »sing', sing'«. Nicht einen Ton konnte ich singen, – wie ich ja auch kaum die Kraft fand, auch nur einen Brief zu schreiben. Was ich zu singen versuchte, war heiser, holprig, ein armes Gekrächze.

Anfangs, bevor ich ganz stimmlos wurde an ihm, hörte auch er meine Stimme gern.

Er beobachtete dieses ihr Verklingen und Versagen.

»Du hast keine Kraft«, sagte er.

Nein, ich hatte keine Kraft.

Etwas, irgendein vampirartig gefräßiges Etwas, fraß und sog an meiner Kraft, meiner Stimme. Wie man dies Ding zu nennen habe, erfuhr ich erst – später.


Eine gewisse Sorte von »Adelsmenschen« war es, die er als Gegensatz zu der »mondänen« Gesellschaft hoch pries.

Wenn solche Elemente auftauchten, so gab es nur ein beherrschendes Wort bei uns: »Sünde«. »Aber das verstehst du so wenig wie die Sprache des Zambesinegers«, sagte er in seiner wenig liebevollen Art. »Eine Frau fühlt sich nie schuldig, außer etwa in erotischen Dingen. Sünde, Gewissen, – was wißt ihr davon?«

»Sünde« war in solchen Zeiten, wo er mit jenen Adelsmenschen verkehrte, die jeden verachteten, der geputzte Nägel hatte, Sünde war zum Beispiel »die Art, wie du durch ein Zimmer gehst, wie du die Schleppe deiner Hauskleider über den Teppich schleifen läßt, wie du in einen Fauteuil sinkst! Sie entzückt mich ja eigentlich, diese deine Art, aber das eben ist das Schlimme: dieses mondäne, profane Element in deinem und meinem Wesen!«

Ich war da ganz Sündenpfuhl in seinen Augen: »Das korrumpiert mich!« (Korrumpieren war das zweite Zambesinegerwort.)

Zuzeiten konnte er wieder nicht genug von dem kriegen, was ihn angeblich »korrumpierte«, wenn mir auch gar nicht zumute war, es ihm zu spenden.

Heute sollte ich »Hetäre« sein, – morgen als Frau Diogenes in die Tonne ziehen.


Wenn er seinen »heiligen« Tag hatte, merkte ich ihm das schon beim Betreten meiner Wohnung an. Er sah sich dann mit grimmigen Augen um: »Du würdest in Schmach und Schande vergehen, wenn du wüßtest, wie abhängig du bist von all diesen Dingen da!«

Und er spie (innerlich!) auf meinen weichen Teppich, spie auf meinen Toilettetisch, und spie dreimal auf meine Ottomane. – – –


Nur das Notwendige sei das Erlaubte, sagte er, und betrachtete mit finsterer Miene meinen Toilettetisch.

»Nun, mir als Frau ist alles, was du da auf dem Toilettetisch siehst, eben das Notwendige.«

»Warum?«

»Weil ich nicht in der Wüste lebe, nicht allein lebe, sondern mit dir.«

»Nun und?«

»Nun und, soferne du das, was in der Ehe geschieht, überhaupt für notwendig hältst –«

»Und? Was hat das mit deinem Toilettetisch zu tun?«

»Nun, der enthält doch die Utensilien, mit denen ich meinen Körper pflege.«

»Und demnach pflegst du ihn, – um Leidenschaften zu erregen, nicht wahr?«

»Nicht allein deswegen. Aber auch.«

»Und Leidenschaften zu erregen ist notwendig?«

»Gewiß. Weil ohne sie jener Akt, der da zur Erhaltung der Gattung nicht ganz entbehrlich sein soll, einfach nicht – zustande käme.«

Er schwieg. Dann murmelte er nach einer Weile vor sich hin: »Das Weib muß reizend sein, – gewiß.«

Nur auf solchen theoretisch abstrakten Umwegen kam er zu dem, was andere, heil Geborene, im Blute haben.


Abhängigkeit! Alles was vom Wesen der Liebe war, nannte er »Abhängigkeit, hängen«. Ich bewies ihm, daß man in diesem seinem Sinne schon abhängig würde, wenn man sich einem Blumenstrauß zuwendete.

»Richtig, richtig. Wenn man hängt am Blumenstrauß, gerät man in Abhängigkeit!«

Wenn er auf diese Weise oft stundenlang in mir herumbohrte, mir Tränen des stummen Zorns in die Augen trieb und ich ein Gefühl hatte, als würde mir Gift ins Blut gespritzt, konnte ich mir sagen, – mein Gott, wohin bin ich geraten!


Seltsame und für ihn tief bezeichnende Redensarten hatte er:

»Ich weiß nicht, was es ist, – ob ich liebe oder hasse.« Oder: »Ich muß es zerschlagen, – um zu sehen, was drin ist«, wie ein Kind sein Spielzeug. »Nicht hinüberziehen!« sagte er scharf, wenn ich einen Versuch machte, einen werdenden Konflikt zu verhüten. »In alles hineinblicken, alles auseinanderlegen und dann – von frischem aufbauen!« Das war seine Maxime. Und diese Art von Verkehr entsetzte mich! Wie ein Fabelwesen kam er mir vor, das dann, wenn es alles getan hat, was es als solches tun muß und die Glocke eins schlägt, – sich umwandelt in einen liebenswürdigen Prinzen.

Oft mußte ich auch an den Golem denken, den Lehmdiener des Wunderrabbi, der zu rasen anfing, weil der Rabbi vergaß, ihm am Sabbat das heilige Gotteswort aus dem Munde zu nehmen.


Sanft, sanft, sanft! Wehe den Unsanften! Fluchbringer sind sie, die das zarte Instrument Seele zerrütten. Kein Heil kann durch grobe Worte kommen.

»Ich fange an,« sagte er, »dich zu – hassen. Für diese deine Güte. Du hast mich enttäuscht. Du erschienst mir, als ich dich kennen lernte, wie ein wunderbar wildes, gefährliches Liebestier. Aber daß du dabei das Herz eines Engels hast, das dachte ich mir nicht. Ich hoffte, du würdest mich vernichten. Aber du würdest dich eher von mir vernichten lassen, als mir auch nur ein Haar krümmen!«

»Ich – verstehe nicht. Was heißt das alles?«

Finster blickte er mich an: »Du kannst mich nicht – erlösen, du – du – Engel!«

Ich verstand ihn damals nicht. Ich zuckte nur unter diesen furchtbaren Griffen. Erst zum Schluß unserer Freundschaft – am letzten Tag – verstand ich.


Wenn er nicht hatte, was er eigentlich mochte, dann sprach er die Sprache der »Askese«. »Einsam sein, Wüste« usw. Bot sich ihm aber Gelegenheit, seine Einsamkeit und Wüste mit menschlichem Verkehr zu vertauschen, so zog ihn die fremde Natur so sehr an, daß er wieder das Beharrende vergaß.

Er nannte eine heitere Zimmereinrichtung »verdächtig«. Meine Ottomane betitelte er innerlich wahrscheinlich einen Sündenpfuhl. Meine Art zu essen fand er »mondäne«.

Und doch hatte er den ausgesprochenen Trieb zum normalen irdischen Wohlleben.

Dimitri – Du bist mir erschienen, wie ein unirdischer Halbgott!

Weib ist gleich Genuß – und Feindschaft dem Genuß! war zuzeiten seine Devise. Und dabei hatte er doch diese Neugier, – Gier nach Neuem – allem Frauenvolk gegenüber. Er hätte sie alle verspeisen mögen.

Und später, in der anderen, der »heiligen« Stimmung: der strafende Prophet mit dem Flammenschwert und dem Donnerwort.

Keine Heuchelei seinerseits lag vor. Nichts lag ihm ferner. Ein Doppelgesicht hatte er, ein Janusgesicht, vor dem mir anfing zu – grauen.


Zu grauen begann mir vor dieser in die Seele hineingewühlten Natur, die alles nur aus sich herausholte, in sich wieder zurückführte, in sich nur ging, und zu wenig im äußern Anschauen ruhte.

Erlösung: Eingehen ins Objekt. Es ist der Einzug in die Natur: erlebter Pantheismus. Ichsucht: verhängnisvollster Fetischismus. Zuviel Selbstanschauung – keine Weltanschauung, das trifft gewöhnlich zusammen.


Ich fühlte dunkel: man nahm ihn eigentlich zu ernst; ich vor allem. Man hätte über vieles hinweggehen müssen. Aber so schonungslos er in seiner Kritik anderen gegenüber war, so sehr es ihn trieb, ins Innerste hineinzuleuchten, für seine Person liebte er das nicht. Wenn ein scharfes Wort zu ihm flog, er erbleichte, wandte sich ab (für den Moment), um sich meist nachher, zu neuem »Angriff« vorzubereiten. Und immer war die Art seines »Angriffes« so – interessant, daß man gespannt hinhorchte, wenn es auch in den Nerven stach und brannte. Und wenn man nicht darauf einging, litt er drunter, »Du hast kein objektives Urteil, du verwandelst dich in eine feindliche Festung, du bist ein platter Mensch« – war dann sein Refrain. Und ich wollte ja Verständnis mit ihm, Übereinkommen, Frieden, Frieden!

Was hörte ich doch täglich von fünf Uhr nachmittags bis zwei Uhr nachts alles an! Mit erstaunlicher Geduld, erstaunlichem Interesse, erstaunlichem Ernst.

Meine gute Mutter pflegt ein Lied zu summen:

»Und der Himmel voller Huld
Hört das alles mit Geduld!«

Alles, was er sah, las, hörte, nahm er buchstäblich ernst. Wie ein Kind erschien er mir manchmal, wie ein unersättliches Kind. – Alles, dem er eben begegnete, war das Wahre. Allzu schnell gab er sich hin. Auch an ganze Kreise. Gestern noch in Wüstenstimmung und mit tiefer Verachtung für alles »Profane«, erzählte er heute, mit hartem Nachdruck mir gegenüber, von der Art des Fräulein X. Y. »Diese voraussetzungslose Art, sich hinzugeben, heute dem, morgen jenem, immer ihrem Impulse folgend und alle mit derselben Gleichgültigkeit beglückend, – die reine Seligkeit muß das für den Mann sein! Denn er geht weg und weiß, sie kann kein Teil an ihm haben wollen, da er ihr nicht mehr ist als zehn andere. Es ist schön, es ist nichts Moralinsaures darin.« Und er sah mir, – ja ich kann es nicht anders sagen, – herausfordernd ins Gesicht.

Diese seine Torheit war es, seine ewige, unheilbare Dummheit über sich selbst (denn der Ekel hätte ihn, den aufs äußerste Empfindlichen, gebeutelt bei Fräulein X. Y.), diese seine Torheit war es, die mir das Gefühl einflößte: ich müßte auch hier wieder fliehen ... aber der Schmerz ließ das noch nicht zu – – –

In vielen Stücken erinnerte er mich an Rudi. Gerade auch in puncto der Frauen. Nur war er, Dimitri, ein Ringender, ein Leidender, jener ein Genießer. Rudi Neudorfer ein Literat, – hier war hohe Gedankenkraft und tiefehrliches Streben zur Kunst. Beiderseits wurden Erlebnisse, Begierden, Triebe in endlosen Theorien ab- und ausgeschöpft. Hier bevor, dort nachdem sie Tat geworden waren. Dort platt! Hier interessant!

»Alles wird zerredet. Zerschabt und zernagt hängt es aus den Mäulern der Heutigen.« Also sprach Zarathustra.


Auf der Treppe wußte er noch nicht, – laut eigener Aussage, – ob er mich liebe oder »hasse«. Dann bei der Tür: – »wie kann einen ein Geschöpfchen, mit einem einzigen Blick, den man darauf wirft, so füllen

Später »füllten« ihn auch diese Blicke auf mich immer weniger und weniger. Was keinen Boden hat, wie könnte es wirklich jemals gefüllt werden? Und wenn der Niagara oder meinetwegen der heilige Ganges selbst hindurchflösse.

Dafür ward es ja auch als Beschäftigung für den Tartaros ersonnen, dieses Füllen eines durchlöcherten Fasses. Neunundvierzig Unselige arbeiteten daran, teilten sich darein. Ich Unseligste mußte es allein besorgen.


Als Grundzug seines unruhigen Wesens erschien mir seine Ungebärdigkeit.

Diese törichte, ungeniale Ungebärdigkeit einem sogenannten »toten Punkt« gegenüber, ob der nun bei der Gemütsfluktuation oder im geistigen Tempo zwischen ihm und anderen Menschen eintrat, ob in seinen äußeren Verhältnissen oder seiner inneren Produktivität, genug, wo und wann immer der tote Punkt auftauchte, an dem man doch nun einmal in diesem Leben nicht vorbeikommt, er fand ihn unweise, ungebärdig, machte ihn verblendet und wild.

Sein ältestes Kind war ihm am ähnlichsten.

Helene bat mich eines Tages, den Nachmittag bei den Kindern zu verbringen, da ihre Kinderfrau fort war und sie selbst ausgehen mußte, eine neue aufzutreiben. Ich sollte in ihrer Abwesenheit die Kinder beaufsichtigen. Ludo schlief und schnarchte wie ein kleiner Bär, Zora saß mit klugen Augen hinter Bausteinen, nur Elias wollte beschäftigt sein, immer ganz und gar erfüllt wollte er sein, wie sein Vater. Ich liebte dieses Kind sehr, es hatte für mein Herz irgend etwas, das mich ganz betörte.

Er horchte mit großer Aufmerksamkeit, als ich ihm aus dem Bilderbuch »Jugendland« vorlas. Als wir aber fertig waren, mußte schnell etwas Neues ersonnen werden, und das war ein sehr berechtigtes Verlangen.


Es waren aber auch schöne Tage in dieser unseren Gemeinschaft. Wir lasen zusammen die Philosophen, die alten und die neuen. Wir gingen zusammen durch Plato, Spinoza, Kant, Schopenhauer, Helmholtz, Mach. Dimitri studierte gern mit mir. Ich hatte mich, zwischen all meinen Schicksalen hindurch, doch immer mit diesen Dingen beschäftigt und vielleicht mehr davon hinter mir als er. Er hatte ja bisher in einer »Zwangsehe mit Frau Justitia« gelebt (wie Hartleben von sich erzählt), und seine wahre Geliebte, die Philosophie, nur verstohlen besuchen können. Er hatte nicht viel studiert bisher. Und wußte doch viel, erstaunlich viel.

»Ich habe alles in mir, alle Argumente, pro und kontra: die Gegengewichte aller Möglichkeiten!«

Ja, besonders die hatte er in sich. Viel, viel hatte er in sich. Tausend Wege trafen sich da, in ihm. Ströme und Straßen trafen sich, gangbare Flächen waren da, auf denen gut laufen war, und unwegsame Höhen, wo man »Jäger sein« mußte und »gemsengleich«. Und Grotten, in die wunderbar war, zu blicken, aus denen es magisch glühte. Und Schlünde, wie jene nicht schreckhafter waren, durch die die Verdammten des Inferno hindurch mußten. Eine Welt war in ihm, und ich habe hineingeblickt in sie.

Eines nur fehlte dieser Welt, damit sie eine wahrhaftige »Welt« sei: jener geheimnisvolle eingeborene Ordnungstrieb, jene Stimme, die die Elemente verteilt, beherrscht und sie in jene Verhältnisse zueinander bringt, in dem sie eines aus dem andern nehmen, wessen eines aus dem andern bedarf, bis aus den also geordneten Stoffen ein Bau ward!


In diesen philosophischen Stunden mit Dimitri konnte er sich über eines nicht genug wundern: über diese sonderbare Wirkung der Philosophie auf mich! Das Studium der Philosophie, es regte mich immer – musikalisch an. Setzte sich mir, fast sofort, in Musikerlebnis um. Je tiefer die Weisheit war, je heißer und inniger wir hineintauchten, desto mehr wurde mir's zum – Singen!


Über Weiningers großes Werk waren wir in besonderem Eifer. »Wie willst du ihn denn kontrollieren?« sagte er, indem er meine sachlichen Einwendungen abwehrte.

»Indem ich ihm dort nachgehe, wo sogar ich ihn kontrollieren kann.«

»Wo denn?«

»Am Gerippe, das seinen Bau trägt: am Tatsachengerüst, – an der Wahrheit der Tatsache an sich – der Tatsache: Weib.«

Aber wenn schon meine Argumente gegen den Weininger ihn nur ärgerten, mußte er doch zugeben, daß manches an meiner Person ihn einigermaßen ad absurdum führe.

 

Eine besondere Verachtung hatte Dimitri für Frauenbücher. Er analysierte sie mir im Detail. Er legte sie vor uns hin, auf den Tisch, nahm sie vor und zerfaserte die Worte, die Sätze, die Begriffe.

»Sie haben nicht Ehrfurcht vor der Majestät des Wortes. Sie wissen nicht, was für ein furchtbares Ding das ist: das Wort. Sie gehen damit um, wie ein Kind, das ahnungslos mit einem Rasiermesser herumspielt. Und, was das Schlimmste ist: sie haben kein Wissen. Und man merkt's ihren Büchern an! Wie das alles im Leeren tappt! Und kleine, niedliche Motive haben sie. Aber gibt es ein Frauenbuch, um ein Problem herum, um ein ewiges und doch bisher geheimnisvolles Problem? Und so, daß man doch das Zeitliche rauschen hörte darin? Und Gestalten sähe? Gestalten und Gesichte? Fleisch und Geist? Wo ist es, dieses Frauenbuch? Ein Frauenbuch, empfangen in einem besonderen Rhythmus? In einem Rhythmus, der nicht geplant werden kann, der »kommen« muß? Ein durchaus originäres Frauenbuch? Ein Frauenbuch, wie es kein zweites gibt?!

Männerbücher kann ich dir genug nennen, wie nur eine einzige Person sie schaffen konnte, keine zweite. Was Nietzsche gab, was Wagner gab! Ja, was Frenßen gibt, was Altenberg gibt, was Wilde im Dorian Gray gab! Das sind Mußbücher, wie es keine zweiten ›ähnlichen‹ gibt. Wo wäre solch ein Frauenbuch? Über Frauen ›kommt‹ es nicht.«

»Du vergißt, Dimitri, daß doch Frauen – Priesterinnen waren! Es ›kam‹ über Pythia, es ›kam‹ über Diotima, da sie einen Sokrates belehren konnte über das Wesen des Eros.«

»Das ist wahr«, sagte er nachdenklich. »Aber seit damals ist es eben nicht mehr über sie gekommen.«

Ich nannte einen Namen: Lagerlöf.

»Visionen. Wunderbare, unerschöpfliche Visionen. Aber neben Gesichten, die nur einem Einzigen werden, will ich Gestalten sehen, die der Zeit gehören. Ein Frauenbuch, das hineinträfe mitten ins Herz der Zeit, daß sie, die Zeit, auflachen und aufweinen müßte darüber, – wo wäre es, solch ein Frauenbuch?«


So oder ähnlich, – ich habe mir die Worte nicht genau gemerkt, – sprach Dimitri über Frauenbücher. Ich glaube, es war viel Wahres an dieser seiner Kritik. Und eine Schriftstellerin, die bisher vielleicht, ehrfurchtslos wie wilde Kinder, ihre Gefühle explodieren ließ, ohne abzuwarten, bis das, was aus ihnen stürzte, aus seinem »Henidenstadium« (o Weininger!) sich zu reinen Begriffen erlöst hatte, solch eine Schriftstellerin hätte durch Dimitris schonungslose Kritik aufgerüttelt werden müssen.

Und dann – dann hätte sie entweder für immer verstummen müssen, – oder –

Schade, daß ich keine Schriftstellerin bin!


Er, er hatte das Wort! Das einzelne Wort! Jedes einzelne: ein bewußt herbeigeholter und behauener Quader. Jedes einzelne! Aber – als ganze Masse wirkten diese Quader dunkel und lastend, schier dräuend. Und wuchteten nieder, wie ein Bau, den keine Kuppel, keine Wölbung, keine Weitung von der Erde erlöst, der sich selbst in den Boden zu drücken scheint. Das schwerte in Grund und Boden hinein. Auch fehlten diesen Bauten oft die – Fenster. Innen war alles solid, gediegen, durchaus anständig und komplett eingerichtet. Aber die – Fenster, durch die man hätte herausblicken können ins Unbegrenzte, ins Freie, ins andere, die, ja die fehlten meistens, wie weiland im Rathause zu Schilda. Dafür waren Versenkungen da, die sich plötzlich zu den Füßen des ahnungslosen Besuchers auftaten und ihn angähnten in undurchdringlicher Abgründigkeit.

Beinahe vollendet in ihrer Art waren seine Gedichte Was war es, daß sie trotzdem bei denen, die für uns in Frage kamen, nicht eine volle Würdigung finden ließ? Es war, ich glaube, es war der Geist, aus dem diese Dichtungen kamen. Dieser Geist, der verfallen schien, jenen Mächten verfallen, die wir in der Fünften Symphonie gehört hatten, gleich in den Eingangsakten, wo »das Schicksal an die Tür klopft«, wie Beethoven selbst es nannte. In vier Noten klopft da das Schicksal an die Tür:

Musiknoten

Dunkle Mächte sprechen durch diese Noten, Mächte, die die lichte Lebensstimme, die beschwörend, beschwichtigend hineinsingt in sie, – so süß, ach, so süß, –

Musiknoten

immer wieder überdröhnen.

Ihnen gehörte er, – er konnte nicht anders.


Ich brachte ihm ein Buch von Fiona Macleod: Schottische Balladen.

Kein Werk, das uns irgendwie durch seinen Gedanken hätte interessieren können, aber »geschrieben« war es! Die Kraft der Anschauung, die reinliche Durchführung der Bilder, neuer, originärer und doch wie notwendig sich ergebender Bilder, die er an Frauenbüchern immer vermißte, hier waren sie.

Er las und – staunte. »Allerdings,« sagte er, »das hätte ich einer Frau nicht zugetraut! Allerdings.«


Kurze Zeit darauf saßen wir in einem Café. Beide hinter Zeitungen vergraben. Plötzlich fährt Dimitri, »wie von einer Tarantel gestochen« (warum soll ich mich nach einem neuen, originäreren Bilde umsehen, da dieses alte von so anschaulicher Kraft ist?) empor.

»Da, da«, und er reicht mir ein illustriertes Blatt in einem Tempo über den Tisch, daß ein Wasserglas davor herunterfliegt. »Da, da!«

Was war da?

Da war ein schönes Männerporträt, mit hoher Stirn, klugen Augen und stattlichem Vollbart und darunter stand: Fiona Macleod.

So etwas von Triumphgeheul habe ich in meinem ganzen Leben nicht gehört!


»Deine Fehler kann ich dir nicht verzeihen!« sagte er. Ja, welche Fehler waren denn das?

Ich sinne darüber und kann sie jetzt in mir nicht auffinden, und dennoch weiß ich, daß er nicht ganz unrecht hatte, daß sie wirklich da waren. Es war, glaube ich, so, daß sein Wesen viel Auflehnung in mir hervorrief. Und nicht nur indem ich ihm entgegen war, sondern auch, indem ich – schmiegsam war, schadete ich mir vor ihm, und wir kamen nicht zu dem gewünschten Austausch in Harmonie. Daß er selbst jeden Tag ein anderer war, wirkte auf mich zerstörend und erschütterte den Ausgleich. Fehler war, was ich gestern gewesen war, um seinem Wesen von gestern zu entsprechen. Als zerwühlend empfand ich es schon damals triebhaft, – diesen verwirrenden Wirbeltanz mitgemacht zu haben.

Warum tat ich's? Wie war es mir denn nur möglich? Ja, warum war es mir, da ich mit ihm war, nicht anders möglich, als eben so?


Seine »Freundschaft« für Helene wurde nun wieder besonders kräftig. Dieses Hinschwingen zu ihr, von der er sich doch zu wenden beschlossen hatte, noch bevor er mich kannte, – es zeigte so recht seine Not über die verwirrenden Geschehnisse, sein Leiden an dem unerhörten Vorgang: eine neue Liebe im Gemüt zu einen – mit der unterdrückten Liebe zur eigenen Frau.

Er hatte dort die Kinder, und das mußte tiefe Schmerzen erzeugen – diese Trennung von den Kindern und von ihr.

Es hing mit seinem Mangel an Gedächtnis zusammen, Gefühlsgedächtnis (denn für abstrakte Gedankenketten war sein Gedächtnis sehr stark). Der Sich-Merkende ist immer der Beherrschende. Der Vergessende – der Ausgelieferte.

Gefühlsgedächtnis, eine ganz besondere Sache das. Eng verknüpft mit Treue. Treue – eine Kraft der Seele, wie Gedächtnis eine Kraft des Gehirns. Alles Kraft, Kräfte. Die Seele produziert Treue, lagert sie ab, als Überschuß eines Gefühles. Überschuß aber setzt Fülle voraus, Fülle und Sammlung, die festhält, ökonomisch anlegt, nichts verschüttet und nichts verrieseln läßt. Treue ist Abgrenzung im Gefühl, und hier waren die Grenzen seiner Kraft. Er lebte zu sehr von Theorien.

Ich fand so oft, daß der Intellektualismus die Leute rein blöde mache. Sie fanden sich nicht mehr zurecht im Theoriengestrüpp. Der Verlorenste der, der von Theorien lebt. Der in sie hineinlebt! Ein Intellektueller, bei dem durch den Intellektualismus der »innerste Sinn« nicht gelitten hätte, dieser Sinn, der von der hohen Instanz der Gefühle dirigiert wird, ein Intellektueller, der doch vernünftig wäre, – das war mein »Ideal«, das ich seit Jahren suchte!


Eines Abends, während er bei mir war, nannte ich – deinen Namen. Ich hatte am Vormittag ein Oratorium von dir in der Augustinerkirche gehört. Und ich erzählte ihm von dir und unserer Bekanntschaft an meinem Hochzeitstag.

»Ich bin bei dir, ich begehre dich und du – nennst einen fremden Namen, einen fremden Männernamen, du – du! – – –«


Er nannte sich oft einen »Lieblosen«. Er irrte sich. Er war kein Liebloser. Nur ein Ungebärdiger war er. Aber aus dieser seiner erschreckenden Ungebärdigkeit kam all dieses Zerstörende. Er war ungebärdig, selbst der Schönheit, dem Glück gegenüber. Wenn etwas einmal, zweimal, dreimal schön gewesen war, zum Beispiel unser Zusammensein, nun mußte es anders sein! Er hätte es nicht ertragen, wenn es heute wieder schön gewesen wäre!

Ach, und man wußte, daß, da es zweimal, dreimal schön gewesen war, es heute anders sein – mußte. Ein Ungebärdiger. Seine Unweisheit, seine Lieblosigkeit, seine Wildheit, alles aus dieser Quelle.

Es hätte so mit mir kommen müssen wie mit – Helene. Mit mir?


Etwas über drei Monate war ich mit ihm. Vom ersten Bekanntwerden bis zum letzten Fallen des Vorhangs – hundert Tage. Und welch' eine Fülle war in dieser Zuversicht, schon nach drei Wochen. Wie war sie da schon ganz und gar gewährt.

Waren es denn nicht drei, nein dreißig, nein dreimal dreißig – Jahre?

Hundert Jahre fühlte ich über mir!

O mein Elba!

Seit wann sind wir hier zusammen? Über ein halbes Jahr ist seit deinem ersten Besuch verflossen. War es gestern? Es muß gestern gewesen sein. Ein erster betauter Tag! Und doch: als wäre es immer so gewesen. Hold und zeitlos ist das, was zwischen uns.

Nur in »wirbelnden Blättern« wahrlich kann ich dir von Dimitri und meinem Leben mit ihm sprechen, Freund. Keine »Erzählung«, die chronisch herunterfließt. Unendlich ferne liegt es hinter mir und zittert doch noch nach ...


Wie ich mich veränderte, sagten mir andere. »Du wirst alt an diesem Mann«, sagte meine Mutter.

Mein Mund, den er immer »ein wenig geöffnet«, dessen Winkel er immer »schwebend« sehen wollte, ach, er preßte sich zusammen unter dem, was aus seinem Munde kam. Und die Mundwinkel, die »schweben« sollten, sanken – traurig und vergrämt.

Aufgewühlt von tausend Unsicherheiten, bot er mir nicht genügend Sicherheit für mein Frauenbedürfen und zu wenig Gewähr. Unsicher in seinem Inhalt, in allen seinen Ansichten, die sich niemals bis zu Überzeugungen festigten, unsicher in der Beobachtung, unsicher in seinen verschiedenen einander so widersprechenden Anschauungen, mischten sich doch diese verschiedenen Elemente in ihm zu einer Persönlichkeit von unerhörter Tragik und Gewalt, der niemand die Erkennung versagte und niemand den Gruß am Weg und die doch noch nicht begnaden konnte, weil sie noch nicht die ausgleichenden Kräfte der Reife hatte und daher im augenblicklichen Gefühl zerstob ...

Auch in der äußern Form entbehrte er manches, auch sie entnahm er zu sehr dem Augenblick, ohne ihre Bedeutung genügend zu würdigen.

Mangel an Sicherheit am Manne ist beängstigend für die Frau. Er hätte mich mehr beschützen müssen, aber er war zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Und so fühlte ich mich preisgegeben neben ihm und schutzlos.


Er verriet und vergaß seine eigenen Ideale von gestern zu heut. Thmyan, die Hetäre, Rebekka, die Adelsbezwungene, oder das »süße, kleine, schlanke Mädchen«, sie waren wütende Rivalinnen um seine, ach so wenig verläßliche Gunst.

Und ich? Ich hätte mich nachbilden müssen, jedem Tag einem anderen Idol.

Ich gab es auf, die Zahl dieser Rivalinnen zu mehren, um das was – ich war.

Eine »Herrin«, die sich nicht von ihm zerstören ließe, so sagte er einmal, wäre sein Ideal.

Ach, ich fürchte, die wird er nicht finden. Wenn eine selbst die Schönheit einer Venus und das Temperament einer Bajadere hätte – und die Heiligkeit einer Büßerin ihr fehlte, so würde er gerade nach dem fehlenden begehren.


Er war wie bloßliegend allem gegenüber. Was immer er sah, hörte, las, erfuhr, er war's, den es betraf, ihn ging es an, und unser Verhältnis wurde daran gemessen. Er sah »Cyprienne«. Und das tänzelnde, leichtgeschürzte weibliche Element war drei Tage lang sein Ideal. So etwas, was man »bewachen« müßte.

Er sah Rosmersholm. »Siehst du nicht, daß das wir sind, die da oben?« fragte er mich im Zwischenakt, und sein »strenges« Gesicht verhieß mir nichts Gutes. Er, der Adelsmensch, ich, was davon bezwungen werden müßte!

»Siehst du nicht, daß das wir sind?«

Nein ich sah es nicht.

Und er war es wirklich, der das alles war. Alles und – nichts? Nein. Etwas immerhin. Viel! Aber – ohne harte, abgegrenzte, sich behauptende Form. Er zerfloß nach allen Seiten. »Charakterlos« pflegte er selbst von sich zu sagen. Nein. Aber gestaltlos, ganz »Inhalt«, ganz »Fülle«, ohne den geheimnisvollen, eingeborenen, unerwerbbaren Willen zur Form.


Wie ohne Hülle war er. Diaphane Seele – in unendlichen Ausstrahlungen. Andre wollen umgekehrt: sammeln, begrenzen, abschließen, bergen, festigen. Und so wollten wir Entgegengesetztes und begegneten uns nur selten.


Was am wenigsten zu ihm zu stimmen schien, war doch da in ihm: sentimental war er zu Zeiten, pathetisch im Empfinden (nicht im Ausdruck, niemals), und unbewußt spießerhaft; er, der »Anarchist«. Daß er seine erste Ehe gelöst hatte, schien ihm eine ungeheuerliche »Tat«. Nicht um alles in der Welt hätte er sie nicht getan haben mögen, diese Tat. Dennoch legte er sie tagtäglich auf den immer geheizten Rost seines Gewissens. Er wurde aber nie fertig mit dem Rösten. Wäre er bei Helene geblieben, mit der zusammen er schlecht gelebt hatte, mit der er erst einen freundlichen, erträglichen Ton fand, seit er von ihr fort war und die er in dieser Ehe zerstört hatte bis an die engsten Wälle ihrer Jugend heran, – wäre er bei ihr geblieben, er hätte sein Bleiben nicht minder geröstet wie sein Gehen.


Ich warf ihm seinen Mangel an Courtoisie vor. Etwas wie eine geheime Gehässigkeit lag zwischen uns. Wenn er fremde Weiber begutachtete, in meiner Gegenwart, sagte ich: »Das ist mauvais genre, lieber Dimitri,« ich sagte es sehr sanft, »durchaus mauvais genre

Ich wußte, es konnte ihn nichts mehr ärgern, als wenn ich ihm auf diese Weise weltlich kam. Und nicht genug daran, fügte ich hinzu: »Giorgio, zum Beispiel, würde das in meiner Gegenwart nie tun. Obwohl er mein Bruder ist. Es zeigt, nun wie soll ich sagen, es zeigt eben, daß, daß man nicht von – Familie ist, ich meine, so etwas, diese Art von Courtoisie, sitzt eben im Blut.«

Er warf mir einen Blick zu, – wenn Blicke töten könnten! Aber, suggestibel wie er war, hatte er von Stund an Respekt vor meinem – Geblüt.


Immer »angreifen« mußte er. Was ein Ding nicht war, wußte er am ehesten davon auszusagen. »Nichts behält neben ihm den eigenen, unbedingten Wert«, sagt Möricke vom »Sehrmann«. Und immer, immer wollte und brauchte er »Auseinandersetzungen«. »Intensiv« sein, nannte er dieses Herumwühlen in dem – Innersten der Seele. In Wahrheit war es eine, wie ich glaube, übermäßige Gereiztheit, die alle diese Szenen entlud.

Er bohrte in der Seele, daß keine Faser darin heil blieb.

Er kannte kein anderes Thema, als den »Abgrund des Subjektes« (Goethe). Jene Gegend, die, meiner Meinung nach, der Künstler beschützen muß vor sich selbst, will er nicht erleben, was jener dreiste Jüngling zu Sais erlebte, was Faust bei den »Müttern« erlebte!

Im Abgrund des Subjektes wohnt, was das Symbol zerstört. »Alles Vergängliche ist nur Gleichnis.« Ist aber die Macht zum Symbol gebrochen, dann fahr' wohl, Kunst!

»Alle Kunst ist Oberfläche, Symbol!« sprach ein anderer, Wilde. Ein tiefes Wahrwort. Darin, daß wir jede Erscheinung nur durch die Kraft eines Gleichnisses, eines Bildes (also immer wieder nur durch Vergleich mit einem anderen Ding) dichterisch sinnfällig, anschaulich gestalten können, darin liegt ein Hinweis, daß wir dem Ding selbst nur durch Spiegelung seiner Oberfläche, von allen ihren zahlreichen Seiten, nahekommen können.

Darum wird alle Kunst und alle Weltanschauung, die »tiefer« dringen will, als zum Symbol, im Irrsinn scheitern. Der Mensch muß sein Selbst schützen vor sich selbst!

Das wollte er nimmermehr begreifen. Das heißt, theoretisch begriff er es wohl. Aber praktisch ging es ihm nicht ein. Der Abgrund des Subjektes war sein täglicher Hausspaziergang und ich auf diesem anstrengenden Pfad seine Begleiterin.


Ich weiß von Straßenszenen sogar, wo er bohrte und wühlte und ich laut schluchzend neben ihm ging.

Und es ging weiter, unbeschreiblich, unfaßbar für solche, die so etwas nicht erlebt haben.

Zu Hause angelangt, fiel ich dann erschöpft aufs Sofa. Er deckte mich mit einer Decke zu, legte mir einen Polster unter den Kopf und bereitete Tee, den er mir aufnötigte. Dann setzte er sich neben mich und spielte ganz leise, pianissimo, oft auch nur mit zupfenden Griffen (ohne Bogen, wie Mandoline), auf der Fiedel. Blaß und schmerzverwühlt war sein Gesicht. Seine blauen Augen schienen unnatürlich groß und flackerten dunkel.

Keiner von uns beiden hätte das Substrat des »Streites«, der aufwühlenden Szene, zu sagen gewußt.

Ich lag wortlos und stöhnte nur manchmal leise. Er saß und zupfte die Fiedel, pianissimo.

Solches haben wir erlebt miteinander, Dimitri Gruschk und ich.

Stunden vergingen so ...


Eines Tages kam er: »Sprich nicht, – deine Worte sind umsonst! Schau nicht, – deine Blicke sind umsonst! Ich bin leer, leer.«

Ich saß verzweifelt. Das Unglück, das über uns geschwebt hatte, war also richtig hereingebrochen: Er war »leer«. Wie sollte ich ihn »füllen«? Unmöglichkeit.

 

Um diese Zeit erhielt Dimitri einen Brief von seiner Schwester, die in Zürich Medizin studierte. Eine Kollegin von ihr, eine Russin, kam auf der Durchreise nach der Heimat nach Wien und hatte hier eine Erbschaftsangelegenheit zu ordnen. Dimitri sollte ihr mit Rat und Tat beistehen.

Die Dame kam und nahm Dimitri so sehr in Anspruch, daß er manchmal nur auf einen Sprung zu mir kommen konnte. Als Jurist konnte er ihr in ihrer Angelegenheit sehr dienlich sein. Aber auch »als Mensch« brauchte sie ihn, wie er mir sagte.

So oft ich ihn in diesen Tagen traf, fand ich die russische Studentin in lebhafter Konferenz mit Dimitri.

Er hatte ihr Unterkunft besorgt und kümmerte sich überhaupt sehr freundschaftlich um sie. Er habe eine wahre Verehrung für dieses Mädchen, sagte er mir. Er hätte nie gedacht, daß eine Frau ein so »moralisch leidender« Mensch sein könne. Ihr intellektueller Horizont sei begrenzt. Aber die »Moral« sei ihr »Problem geworden«, wie er dies nur bei Männern für möglich gehalten. Sie verstehe, was es heiße, »an sich selbst schuldig werden«. Sie war ein »Adelsmensch«.

Ich konnte dieser Meinung gegenüber keinerlei Kritik üben, denn mir gegenüber gab sie sich ja nicht zu erkennen.


Wie er mir zuzeiten die »Hetäre« als das wahre Idol für die Sehnsucht des Mannes hinstellte, so nun, seit diese Dame aufgetaucht war, das im Weibe verkörperte »ethische« Prinzip.

Er erzählte mir ihre Aussprüche. Nur ein »hochstehender« Mann könnte für sie in Frage kommen, hätte sie gesagt. Und gleichzeitig hätte sie hinzugefügt: ob sie einem solchen Mann wohl intellektuell und moralisch genügen könnte? Sie habe sich darauf gefaßt gemacht, »einsam« zu bleiben, weil sie nicht »besser« sei!

Und Dimitri sagte: »Hast du dich jemals gefragt, ob du einem solchen Manne genügen könntest?! Hast du dich jemals bemüht, besser zu sein?!«

Er sagte es, sagte es wörtlich, Johannes, du, für den ich diese Blätter schreibe!

Er sagte es wörtlich, Johannes!

Der Schweiß bricht mir aus, da ich diese Zeilen schreibe. Mein Gesicht ist über und über bedeckt davon. Meine Hand zittert, – ich kann nicht weiterschreiben für heute.


Unter meinen Freunden befand sich auch ein Schauspieler, der von Zeit zu Zeit öffentliche Vortragsabende veranstaltete, an denen man sicher sein konnte, eine edle Auswahl dichterischer Produkte vorgeführt zu erhalten. In dem Geschäfts- und Snobgetriebe der Literaturhyänen der Großstadt bildeten diese Abende eine Insel. Besonders für Verbreitung und Verständnis der Lyrik tat dieser Künstler viel. Er sprach auch oft mit Dimitri und mir über das Wesen der Lyrik, dieser, nach der Musik unmittelbarsten Ausdrucksform des geheimnisvollen Vorgangs der künstlerischen Exstase, – der Stimme.

Er lehrte uns, eine gereimte Mache von wirklicher und notwendiger Poesie unterscheiden. Und an solchen echten Produkten nicht vorüberzugehen, wie jene Sorte von Lesern zu tun pflegt, die ein Kunstwerk zu sich nimmt wie ein Glas Bier und weiterhastet. Verweilen, erkennen heißt erst genießen.

In der echten Lyrik sei von absichtlicher Reimerei nichts zu verspüren. Frei und doch notwendig finden sich die Verse zueinander, ohne daß Umstellungen, Inversionen, Gewalttaten am Satzbau dem Reim zuliebe notwendig wären. Es fließt dahin wie edle Prosa und doch nicht Prosa. Neue starke, seltsame Bilder tauchen auf, der Begriff ist aufgelöst in lauter Anschauung. Ein bloßes Wortgebimmel, und bimmelte es noch so glatt, macht aber noch kein Gedicht: der tiefe Gedanke erst läßt es berechtigt erscheinen. So scheinbar frei die Form, so eisern doch die gedankliche Logik jedes Satzes, jeder Strophe, des Ganzen. Erst diese Logik verleiht jedem Bilde Macht. Die Harmonie der Form strömt aus der des Inhaltes, es »bimmelt« nicht nur, es hat auch Sinn, hat tiefen, klaren Sinn und bimmelt doch leicht und lieblich – und geheimnisvoll. Und er demonstrierte diese Analyse an klassischen lyrischen Produkten.

Diese lyrische Bewußtheit suchte er dem Publikum zu vermitteln. Erst dann könne es ermessen, was ein Gedicht bedeutet, was der, der es erschuf, darin niedergelegt hat. Wissend trinken, das ist der Genuß.

Dieser Künstler interessierte sich sehr für Dimitris Gedichte. Ich selbst hatte niemals ein Gedicht gemacht.


Wir hatten zwei Billette zu einem solchen lyrischen Abend erhalten. Dimitri kam, mich abzuholen. Er teilte mir mit, er habe sein Billett der Russin abgetreten, er selbst werde sich ein anderes an der Kasse besorgen. Im Saale würden wir sie treffen. Ich fragte, warum sie nicht mit ihm gekommen sei, mich abzuholen.

»Sie – sie findet keinen Kontakt mit dir.«

»So.«

Ich sah im Spiegel meine Augen und fand in ihnen den Blick, den Helene hatte.


In der Pause, nach der ersten Hälfte des Abends, sprachen wir den Vortragenden im Künstlerzimmer. Wir hatten einander mehrere Wochen nicht gesehen. Er erkannte mich im ersten Augenblick nicht. Er sah mich schweigend an, dann sagte er: »Wenn man wissen will, was Zerstörung ist, so braucht man nur Sie anzusehen.« Und er warf einen zornigen Blick auf Dimitri.

Peinliches Schweigen. Der sonst so höfliche Mann war unhöflich gewesen. Endlich fand man einige Worte zum Thema des Abends.

Ich verlor, glaube ich, seine Freundschaft, weil er mich zerstört sah. Wie kann man sich so nur blicken lassen, – mag er sich wohl gedacht haben.


Ein Symphoniekonzert wollten wir am kommenden Sonntag besuchen. Die »Fünfte« war zu hören. Das durfte nicht versäumt werden. Dimitri hatte Karten besorgt, für mich, sich, Giorgio, Helene. Wir sollten uns vor dem Musikvereinssaal treffen. Giorgio, Helene und ich warteten vergeblich auf Dimitri. Er kam nicht. Das war uns ungewohnt an ihm, er war sonst verläßlich in solchen Dingen. Wir hatten unsere Karten und gingen hinein. Eine mir selbst nicht erklärliche Unruhe bemächtigte sich meiner. Was war vorgefallen, warum war er nicht da?

»Zdenko wird vergessen haben«, sagte Helene.

»Dimitri vergißt so etwas nicht«, sagte ich.

Die »Fünfte« durchbrauste den Saal. Der Schicksalsruf setzte ein. Hoffnung blitzt auf in dem wilden Getümmel. Die Violinen tragen sie durch zwei Oktaven und geben sie weiter an die Hörner. Die Zweifel mischen sich hinein, Flöte, Klarinett und Fagott. Bässe und Celli begleiten sie bang. Aber die Lebensmelodie, die lichte, ringt sich aus all der Bedrückung immer wieder heraus, sprengt und durchbricht ihre Gruft: Triumphlied der Posaunen.

Noch vor dem Allegro verließ ich den Saal. Ich war überzeugt, ein Unglück müsse geschehen sein. Ich verschwieg Helene, was ich eigentlich meinte: einem der Kinder mußte etwas zugestoßen sein. Sie waren allein zu Hause, mit dem Mädchen. Wer weiß, was da geschehen war.

Ich fuhr zu Helenes Wohnung, flog die Treppen hinauf, rüttelte an der Glocke.

Das Mädchen öffnete. Da lagen die Kinder friedlich schlafend in ihren Bettchen.

Ich weinte vor Freude und küßte leise und vorsichtig die rosigen Füßchen, die der kleine Elias unter der Bettdecke hervorstreckte.


Ich fragte in seiner Wohnung an.

Die Frage war überflüssig, denn ich sah seinen Hut und Mantel im Vorzimmer hängen.

»Nicht zu Haus, nicht zu Haus«, sagte die Wirtin und stellte sich breit vor mich hin.

Ich sah sie erstaunt an. Dann schob ich sie beiseite und ging direkt auf Dimitris Türe zu, klopfte und drückte die Klinke nieder.

Aber die Türe gab nicht nach, – sie war versperrt. Drinnen aufgescheuchte Stimmen, erschrecktes Geflüster, – Dimitri und die ethische Dame aus Rußland.


Ich kam ganz gut nach Hause. Ich ging langsam und beinahe heiter durch die Straßen. Ich weiß nicht, warum das so war. Zu Hause angelangt, heizte ich mein Feuer im Ofen. Ich legte soviel Kohlen nach, als darin Platz fanden. Mich fror sehr. Der Herbst war naßkalt und neblig.

Es wurde warm im Zimmer, wenn auch nicht warm genug für mich. Schließlich hüllte ich mich in Decken und legte mich aufs Sofa, stellte die Lampe neben mich und las ein Buch: den Briefwechsel Wilhelm von Humboldts mit seiner Braut und Frau – – –


Gegen elf Uhr läutete es. Ich kannte dieses Läuten: Dimitri. Das hatte ich nicht erwartet.

Ich öffnete, ohne im Vorzimmer Licht zu machen, klinkte die Türe auf und ging zurück in mein Zimmer. Er folgte.

Er sah verwüstet aus. Wie jemand, der sich obdachlos herumgetrieben, kam er mir vor. Seine Augen waren weit aufgerissen, die Pupille tanzte im Weißen. Er sank in einen Sessel. Plötzlich brach er in Schluchzen aus. Als wollte er sein Gesicht verbergen, warf er es in meinen Schoß.

Ich streichelte seinen Kopf und beruhigte ihn mit den besten Worten, die ich fand.

Er blieb lange so, dann gestand er alles.


Dieses Erlebnis ging wie ein Riß durch seine empfindliche Natur; für sensible Menschen gibt es in dieser Sphäre keine Bedeutungslosigkeit. Es ist immer ein Einbruch in die innerste Natur, eine Kraftausgabe. Geschieht sie zu Unrecht, so bleibt ein Riß, ein Chock, eine Verwundung des innersten Wesens zurück.

Auch zwischen uns wollte es nicht gut werden. Ich hatte verziehen und ohne merken zu lassen, daß ich verzieh, er aber konnte nicht verzeihen, daß ich etwas zu verzeihen hatte. Lauernd und mißtrauisch zerfaserte er jede meiner Äußerungen. Überall vermutete er Scheu und Überwindung.


Ich suchte mit allen Mitteln auf dieses zerstörte Gemüt zu »wirken«, mit allen Mitteln, ach! »Wozu sonst bist du gut, – Stimmlose,« dachte ich bei mir, »sei wenigstens zu etwas nütze!«


»Du – du Frau, – ich weiß nicht, – ich werde immer verwirrter. Wenn ich von dir bin, – habe ich so böse, böse Gefühle! Ich weiß nicht, warum. Und wenn ich dann da bin, mit dir, es ist dann einfach Glück. Ich weiß nichts mehr, ich weiß nichts mehr.«

Ich saß in einem Sessel am Klavier. Ich sah ihn an, voller Weh: »Dimitrino!« Lange, lange hatte ich ihn nicht mehr so genannt.

Er stürzte nieder, umschlang meine Füße, vergrub seinen Kopf in meinem Schoß und weinte da bitterlich.


Immer habe ich ein Wehgefühl für ihn im Herzen gehabt. Oft geschah es, daß ich nachts erwachte, in Tränen gebadet, mit einem dumpfen, schweren Druck im Herzen.

Dann war mir, als spräche ich zu ihm: über seine Leiden. Er war sehr zart, disponierte zu Lungenkrankheiten, und ich lebte in ewiger Angst darüber.


Wenn du diese Blätter manchmal an die Lippen führen solltest, wie Liebe tut, – es wird dir oft salzig schmecken. Aber die Liebe trinkt auch dies.

Meine Liebe zu ihm, sie war, glaube ich, von der Art, die Schopenhauer mit dem Welschwort benennt, dem tiefen, unübersetzbaren Welschwort: Pietà.

Leid, Mitleid, hohes Mitleid, überpersönliches Leid, das schier alle Kreatur zu umfassen sich sehnt, ist in solcher Liebe: Pietà.

Das Mitleid, das hohe Mitleid war in dieser meiner Liebe zu ihm.

Aber die Freude, die hohe Freude fehlte in dieser meiner Liebe zu ihm.


Immer fremder, immer unheimlicher wurde es zwischen uns. Ein Dunkles war da, ungreifbar. Dieses Unheimliche, es ging mit uns auch in jene Stunden, – wo Menschen sonst alles vergessen. Er nahm mir die Unbefangenheit – auch da! Das Schlimmste, das Unheimlichste, was von einem Mann gesagt werden, was von ihm einer Frau geschehen kann.

In den letzten Tagen vor meiner Abreise, – wie sie zustande kam, wirst du erst später erfahren, – in diesen letzten Tagen (ach, die Tage hatten ja hier das Maß von Wochen, Monaten!) kam nichts Gutes mehr von Dimitris Munde. Seine Arbeit lag brach. Ein toter Punkt wäre es gewesen in seiner Entwicklung, der überflutet worden wäre, wie jeder andere auch. Aber wo fand ihn ein toter Punkt je weise?

Und es war noch anderes. Es war eine verschlagene Sinnlichkeit in ihm. Schöne Frauen und hübsche Mädchen, die er auf der Gasse sah, – er begehrte sie alle! Er hätte sie angehalten am liebsten. Und er erzählte es mir, er schilderte mir diese Begierden. Wehe, wenn ich nicht gelassen, »objektiv« blieb! Gleich war ich ein »platter Mensch«.

Und ich blieb – objektiv. Hörte das alles, entgegnete darauf ganz »sachlich« und nahm es alles – ernst.

Er, der innerlich Abhängige, wie hätte er sie ertragen, diese Art »Abhängigkeit« die die Liebe bedeutet. Nur Unabhängige ertragen diese Abhängigkeit und vergöttern sie! Nur Freie reichen dem Weibe lächelnd beide Hände: Binde mich, du!

Goethe schrieb an die Stein: »Kniefällig bitte ich dich, lasse mich wieder einwohnen in der Heimat deines Herzens!«

Wagner an Mathilde: »Wie sehr ich von dir abhänge, du Geliebte! Das habe ich in dieser Zeit wieder so recht inniglich empfunden.« Und als sie ihn auf den Trost durch sein Schaffen verwies: »Mein wahrer Ernst ist nicht dabei! – – – O glaube! glaube mir, daß nur du mein Ernst bist!«

Lenau an Sophie: »Ich bin dir ganz verfallen. Wohl mir, daß ich es bin!«

Herwegh an seine Braut: »Ohne dich, merk' es, ist es zu Ende mit mir und mein Licht ist ausgeblasen.«

Sie knirschten nicht, diese Leute, da sie in »Abhängigkeit« geraten waren, sondern, die Sonderbaren, alle Throne der Welt hätten sie ausgeschlagen gegen diese Hörigkeit. Ja, ihr Werk, ihr Lebenswerk selbst, es erschien ihnen nichtig gegen diesen anderen Lebenswert. Ein Wagner nannte sein Werk – sein Werk! – unernsthaft gegen diesen Ernst seiner Liebe.

Sie knirschten nicht, diese Leute. Denn sie fühlten nicht nur diesen Lebenswert, sie wußten ihn. Deutlich!


Er aber wußte nicht. Daß vielleicht eine andere als ich ihm diese Bewußtheit und Seligkeit und darum Erlösung wird geben können? Ich glaube es nicht. Denn sein Ideal war ja eben das Unbewußte. Die Sphinx mit der Tatze sollte kommen und sein Bewußtsein betäuben. (So wünschte er sich's: Untergang in diesem Erlebnis!) So wäre seine Erlösung zusammengefallen mit Vernichtung. Die Melodie der dunkeln Mächte behielt die führende Stimme in ihm, nichts konnte sie übertönen.


Sein Kampf ums Brot, dieser rastlose, täglich neue Wurf ins Ungewisse, war mit Schuld an seinen tiefen, schweren Depressionen. Ein Dichter, ein Singender (oder doch ein Singen-Sollender), dem die bleiche Brotangst die Kehle zuschnürt, – ein Unding ist's, ein grausames, widersinniges Unding! Denn das Material, das kostbare, geht dahin in diesem verzweifelten Ringen mit ihr, der bleichen, der schlottrigen, der würgenden Brotfurcht. Wenn der Tischler, der Schuster oder wer sonst immer Sorgen hat, so wird ihm doch nicht sein Holz oder sein Leder davon ruiniert! Der Dichter, der Sänger ist der Einzige, dem diese gemeinste, fürchterlichste Sorge sein Material zerstört, das kostbare, das unersetzliche Material: die Stimme. Das Zarteste im Menschen, das Tönen seiner Seele, – anima, die Stimme wird gebrochen von der Not.


Warum laßt ihr sie verfliegen, verwehen, verdorren diese Stimmen? Warum duldet ihr, daß sie in Notrufen sich heiser gellen? Warum verwendet ihr sie als Ausschreier für Jahrmarktsbuden?

Sorget, sorget für diese Stimmen, wo immer Not und Jammer sie zu ersticken und zu erwürgen drohen: eine nationale Pflicht, so lange Nationen überhaupt bestehen und nicht eine einzige Weltbürgerschaft!

Sorget! Denn sind es nicht die deutlichsten, die vernehmbarsten Stimmen der Nation?


Dieser gemeine Kampf machte Dimitri irre. Irre an seiner Bestimmung, an seiner Berufung. Irr und wirr wurde ihm alles, was er tat und wollte. Sünde und Wahnsinn griffen nach ihm mit gekrallten Fingern.

Nie dachte ich mir: »Warum habe ich mein Schicksal mit diesem Elend verknüpft?« Meine Sache war es, mit ihm zu tragen, was hereinbrechen mochte über ihn, – von außen und aus ihm selbst. Tragen, tragen.

Aber das erstemal kam ich auf den Grund des Begriffes »Irrsinn«.

Irr – irr – ich wußte nichts mehr. Nichts mehr von mir vor allem. Zerpflückt und zernagt war ich in hunderttausend Fetzen. Was war Ernst? Was war Faselei? Wo war eine Wahrheit?

Und keine Stimme war da, das war das Schlimmste. Die Stimme, die Stimme, sie schwieg mir, – die Stimme meiner selbst. Ein Fremdes besaß mich, es hatte mir die Stimme gewürgt. Ich war in Besitz von etwas anderem, – Dunklem, Fremdem, Grauenhaftem, Unerklärlichem, – ich hatte mich nicht mehr, es besaß mich, und konnte mit mir machen, was es wollte.

Irrsinn – Besessenheit ...


Ich muß es tragen, – so hatte ich mir gedacht. Aber es kam anders.

Eines Abends hatten wir einen Wortwechsel. Es gab ja keine Stunde des Friedens mehr. Ich war nun auch nicht mehr bei klaren Sinnen. Ich weiß, daß ich aufschrie und meine Hände ballte gegen ihn.

»Warum, warum«, rief er mir zu. »Ich kann nicht aufkommen für dein Elend. Ich richte Unheil an, wohin ich greife. Rette dich! Sieh dich an« – und er riß mich beinahe zum Spiegel –, »du bist nicht wiederzuerkennen. Ist das die Frau, die ich vor drei Monaten sah? Warum läßt du dich denn zerstören, du! Dafür hasse ich dich, daß du dich zerstören läßt, du, wie die andern, an die ich gerührt habe, dafür verachte ich euch alle zusammen.

Und was habe ich denn davon. Furcht habe ich vor dir –«

Es blieb totenstill.

Plötzlich fühlte ich, wie er mir den Kopf hob.

Ich sah ihn über mich gebeugt in dem verschwimmenden Halbdunkel und hörte, wie er mit rauher, keuchender Stimme und doch, wie beschwörend, mit der ganzen Kraft der alten, wilden Liebe mir zurief: »Maja, rette dich vor mir!«

Und er sah mich an, mit ekstatischen Augen, die mir rieten, zu fliehen.


Die Koffer wurden wieder einmal vom Boden geholt. Aber nicht gepackt wie sonst, wo sorgliche Mutterhand das besorgte. Nicht hineingelegt, hineingeworfen wurde das Notwendigste. Nur schnell, nur schnell. In drei Stunden war ich reisefertig.

Und als mir, während der Zug an der Donau dahinbrauste, die Türme von Wien verschwanden, da holte ich erst Atem. Lebewohl, Wien, du strahlendes, schönes, üppiges! Lebewohl, du Stadt der Gesicherten, aber nicht der Werdenden!

Und ich fuhr dahin – in ein härteres Klima.

 

Ich kam hier an. Ich schrieb einen Brief an Dimitri. »Da es aus sein soll, soll es ganz aus sein. Gib mir keine Nachricht und verlange keine von mir.« – Er ist frei, wie er es im Grunde sein wollte und wohl auch sein muß. Unser »Eheband« wird keinen von beiden stören. Braucht einer von uns beiden auch formal seine Freiheit wieder, so wird er keiner Schwierigkeit beim anderen begegnen. Auch die Grimasse der »Freundschaft« wollen wir nicht schneiden. Freundschaft entsteht nicht, wenn die Liebe geflohen ist. Lieber begnüge ich mich mit Zwerghaftem, das in seiner Art ganz und heil ist – dem konventionellen Verkehr mit »Bekannten« –, als daß ich den Torso von etwas, das größer war, als dieses Zwerghafte, mit mir weiterschleppe. Auf den Scheiterhaufen damit! Ein reinlicher Brand – eine Handvoll Asche – Einsamkeit.


Keine Nachricht von Dimitri. Gottlob er hält sich an meinen Wunsch. Auch ich gebe keine. Wozu Erörterungen, Polemiken? Wir wissen genug. Wir wissen alles. Wir wissen, daß wir sehen müssen, uns wiederzufinden, – nicht einander wiederzufinden, nimmermehr! – sondern jeder sich selbst wiederzufinden, frei vom andern.


Gute Genien waren um mich in dieser Stadt. Große, stolze, gleichgültige Stadt. Gibt Raum dem Individuum. In meiner Heimat, dem schönen Wien, da fehlt einem manchmal dieser Raum. Ich verstand es nicht, dieses Wien, da ich darin festsaß. Ich litt an ihm, aber ich wußte nicht, woran es lag.

Wer hatte Wohlwollen für mich? Wohlwollen, – Himmelsmanna der werdenden Seele, die »gläubiger und schützender Kräfte bedarf«, wie Altenberg sagt. Wo waren diese gläubigen, schützenden, zärtlichen Kräfte, derer die Zarte, anima, bedarf?

Von niemandem habe ich jemals in einer schwierigen äußeren Lage meines Lebens, jemals in innerer Verwirrung einen Rat bekommen (einen, den ich hätte brauchen können, nämlich). Wie verschüttet war meine Situation zeitweilig, innerlich und äußerlich. Ich glaubte kaum je wieder herauszukommen aus solchem Zusammenbruch.

Keine Seele gab mir einen Wink. Geschweige denn, daß eine Hand sich mir entgegengestreckt hätte. Nichts, nichts. Und ich sah, die Sache lag so: komme herauf durch dich selbst, auferstehe durch deine eigene, innere Gewalt, sprenge Grüfte und Grabsteine und erlöse dich selbst, o messianische Seele, oder – bleibe unten und vermodere.

Und meine Seele wurde stark, da sie so erkannte.


Irgendwo müßte es doch jemanden geben, dachte ich mir immer, von dem es einen nicht fortschleuderte, bei dem man gern und willig bliebe. »Hinauskommen« lautet ja das moderne Wort für dieses Fortwollen, Fortmüssen.

Ich ersehnte nichts sehnlicher mein Lebenlang, als den zu finden, über den ich nicht »hinauskäme«. Von dem ich nicht hätte – wegreisen wollen.

Aber was ich an Menschen erlebte, schleuderte mich fort von ihnen. Wo wäre ein Mensch, zu dem man sagen könnte, was jener Magier zum Augenblicke sagen wollte: »Verweile doch! Du bist so schön!«

Einmal einem solchen »Menschen« begegnen und mit ihm verbunden sein, einmal nichts Häßliches erleben an einem Menschen, und gefeit wäre ich gegen alle Gefahr, – gegen alle Versuchung, auf falsche Geleise zu geraten, wenn ich es einmal nur erlebte!

An einem einzigen Tage bin ich immer mit Menschen fertig geworden. An einem einzigen, resoluten und resignierenden Schlußtag habe ich mich immer abwenden und weitergehen müssen – in Einsamkeit. Und meine Treue blieb unbelohnt.


Diese Versuchung, ja diese wahrhaftige Versuchung überkam mich öfters. Diese Versuchung – abzuschwören den Glauben, mit dem ich geboren war. Zur wahrhaftigen Renegatin zu werden, aufzuhören zu glauben an mein – Eiland. Zu kapitulieren, bevor alle Meere durchkreuzt waren.

Ich war nahe daran abzuschwören, diesen meinen Glauben daran. Und meine Abschwörungsformel hätte so gelautet: Begnüge Dich mit Oberfläche, damit du nicht ganz und gar verhungerst. Gib auf Deinen Traum von einem Eiland irdischer Seeligkeit! Es gibt nicht das, was du dir vorstellst. Nimm ein bißchen Schönheit, ein bißchen Wärme, wo du sie findest, und erwarte nichts weiter von denen, denen du in diesem Sinne begegnest.


Was' hab ich Tage, Monate und Jahre verbracht, von denen ich die meisten verrinnen lassen mußte, sie, die das Leben mit sich führen und es mir zuströmen sollten, die ich wartend am Ufer stand. Sie verrannen mir, sie verrieselten im Sand, im Nichts. Und eilig, eilig geht es mit solchen verschütteten, verrinnenden, versandenden Tagen!

Er strömt dahin auf dem Boden, der kostbare Lebenssaft, der Lebenstropfen, der Tag, und nichts wird durch ihn!

Die traurigsten Zeiten waren das, wo ich die Tage so verströmen sah und doch nichts, nichts daran ändern konnte! Denn ausgewartet will das sein. Es gab nichts anderes, als – warten. Man mußte sich hineinsetzen, die Hände im Schoß, und warten, warten, ob nicht doch angespült würde von ihnen, den Tagen, angeschwemmt würde ans Ufer das Erwartete, – Leben.


Tage gibt es wahrlich, die uns schleifen, wie ich es auf dem ersten dieser Blätter sagte. Schleifen und verschütten und begraben unter sich selbst. Sie wälzen sich auf uns und türmen sich da zu Wochen, Monaten, so lange, bis jene Kraft, welche Grüfte sprengt, auch diese Leichenhaufen toter Tage, unter denen sie, ein Lebendes, verschüttet ist, abwälzt und aus ihnen heraufdrängt, in engen Spalten erst, dann immer breiter und breiter, bis sie nicht mehr zu verdrängen und zu verschütten ist und, erlöst, sich über den Tag schwingt und ihn zwingt, ihr zu dienen.


Und Jahre vergingen mit dem Sichumsehen. Ich wußte, daß vieles zu erfahren sei. Aber niemand konnte es mir sagen, übermitteln. Es mußte eben selbst – erfahren werden. Man mußte es selbst herausbekommen, das Geheimnis: Wo der Fuß eigentlich hinzusetzen sei, auf daß man schön und sicher stehe. Und endlose Gehübungen zu diesem Zwecke! Zickzackwege, von denen keiner ein Ziel hatte, als das, wieder zurückzuführen auf die – Linie. Aber die Linie verlängerte sich doch. Und es wurde eine Straße und man kam doch weiter und weiter auf ihr.

Wanderjahre!

Und allmählich wurde die Linie glatter, direkter.

Wohl denen, die mit dem Ziele zu sich, mit den Wegweisern zu sich geboren sind! Das Ideal ihrer Linie führt sie, trotz allen Zickzackgeschlängels, immer wieder – zu sich.

Aber es gibt solche, deren Wege keine notwendige Biegung zu einer Hauptlinie haben. Deren Wege in Sackgassen einlaufen, aus denen es kein Zurück mehr gibt und an deren Mauern sich jene die Köpfe zerschellen. Oder in die Runde führen, ohne auffindbare, ruhende Ausgangsstelle, ein narreteiendes Ringelspiel. Oder in Gestrüppe, Klüfte und Höhlen münden. Oder sich verschlingen und kreuzen, lockend und den armen Läufer zu Tode hetzend. Betörend und problematisch, ihn immer tiefer verwirrend, – wie jener fünffach verschlungene Kreuzweg, den, nach buddhistischer Vorstellung, alle die durchirren müssen, die dem Sakyasohne nicht nachwandeln – – – oder zu Christus nicht finden.

 

Wie wild mein Leben doch eigentlich aussieht! Und dabei bin ich eine so treue, kleine Klette. Immer wenn ich mich zu einer Bindung entschloß, hatte ich den ehrlichen Wunsch, es möchte für ewig sein. Und ich hielt ja auch aus, – ach – so ewig wie möglich!


Nun habe ich soviel, soviel geplaudert in diesen Blättern.

»Für wen aber führt sie diese Blätter?« Ja, das ist das Geheimnis. »Wo ist der Freund, von dem sie immer spricht?«

Wo steckt er? Vexierbild. Dreht einmal das Buch um, dreht es nach allen Seiten, und vielleicht merkt ihr dann, wo er steckt. Vexierbild.


Der Freund kam in das Buch, der Freund kam in das Leben, – während ich plauderte. Er trat ein bei mir, und ich merkte es selbst nicht, daß er es sein sollte. Wie hätte ich es denn in diesen Blättern merken lassen sollen, früher, da ich es doch selbst so spät merkte.

Er trat eines Tages ein und sagte: »Daß ich Sie nun wiedersehe, nach so vielen Jahren! Wie kommen Sie in diese Stadt? Wie ist es Ihnen ergangen seit damals, wo ich Sie das erste- und letztemal sah, – an Ihrem Hochzeitstage?«

Und ich erzählte ihm, wie es mir ergangen.

Auch daß ich meine Stimme verloren hätte, erzählte ich ihm. Aber das wollte er nicht glauben.

Und da er ein Musiker ist und ein Meister – nahm er sich meiner Stimme an. Musik kam mir von ihm. Und er rief und lockte die Stimme.

Und eines Tages, als mir viel Musik von ihm gekommen war, – da schien mir's, als wäre ein Schweres von meiner Brust gewälzt und ein Scharfes und Stechendes aus meiner Kehle genommen.

Frei und rein erklang der Ton.

Und da sagte er: »Siehst du –«, und aus seinen Augen floß in mich, was nur mir gehörte, mir ganz allein.

Und dann bat er mich, ein Buch zu führen, und von meinem Leben zu erzählen. Ihm sollte ich es erzählen, damit meine Stimme ein Ziel hätte.

Bis zu dem Augenblick, wo Chronik und Gegenwart sich berühren, sollte ich ihm das Buch führen.

Der Augenblick ist da.

Zweiter Teil.

 

So sicher bin ich meines Wortes, wenn ich es an dich richte. Darum bist auch du es, an den ich alles schreibe, sage, denke, – singe. Ohne diese Richtung zu Dir hätte ich das, was ich da schreibe, nie schreiben können. Ich hätte den Rhythmus nicht gefunden. Du, du gibst mir Rhythmus und Ton. Indem mir an dir die Seele mächtig wurde, kam mir die Stimme. Die in der Kehle und jene andere. Sind sie denn nicht eines?

Dimitri hemmte mir den Ausdruck in der Kehle. Es war sein Unglaube, verstehst du? Er hat zuviel gezweifelt. Und die Seele wurde in dieser Mühle des Zweifels formlos.

Du, du gibst ihr – Form. Form und Ton.

Und das, gerade das will die Seele: Form werden. Das ist ihre Erlösung, wie der Stimme Erlösung ist, zu tönen, Melodie zu werden.

Form und Ton gibst du mir, ihr!


Dimitris Bildnis nahm ich aus dem Rahmen. In einem Fach des Schreibtisches hatte ich es liegen, das Bild im Rahmen. Ich wollte ein anderes Bild, ein Frauenporträt in den Rahmen geben. Aber wie es darin war, schien es mir ganz trüb und befleckt. Ich putzte und hauchte. Aber es half nichts, das Glas blieb fleckig, trüb.

Du kamst dazu, als ich es eben putzte. Dimitris Bild lag daneben auf dem Tisch.

Du kamst dazu.

»Du weinst?«

»Ja, – es will nicht blank werden, das – das Glas.«

Und du hast mir geholfen, – hast den Rahmen angehaucht und das Glas geputzt.

»Er – hat es – getrübt«, sagte ich.

»Ach nein, – dafür mußt du ihn nicht verantwortlich machen«, sagtest du mit deiner lieben, deutschen Ernsthaftigkeit.

Und dann putzten wir und hauchten wir – zusammen.

Du hast mir ja noch ganz anderes getan: Du hast mir ja die Tränen von den Augen geküßt, die ich um Dimitri geweint.


Als ich dieses Glas putzte am Rahmen und dieses Bild herausnahm, – da hatte ich etwas wie Furcht. Hatte er immer Furcht vor mir, jetzt habe ich sie vor ihm. Dieses schmerzdurchwühlte Gesicht, ich kann es nicht ertragen, es benimmt mir den Atem und erregt mir Beklommenheit.

Dein Bild hat dieses reine Glas getrübt.
Wie sollt' ich's anders meinen?
Dies Bild hatt' ich dem Rahmen längst entnommen,
Ein liebes Frauenantlitz war an seine Statt gekommen,
Und trüb, befleckt will's hinter diesem Glas erscheinen,
Wo deine strengen Augen durchgeglüht.
 
Wo dieser wilde Blick hineingelodert,
Da ist ein Lebendes daran vermodert.
Wo dieser Stirne Dräuen ward gesehen,
Da mußt' ein Herz in Bangen stille stehen.
Und war einst wie Kristallglas ein Gemüt, –
Dein Bild hat dieses reine Glas getrübt.
 
Aus diesem Mund ist nie ein Heil geblüht!
Fort mit dem Rahmen, der zu seiner Zeit
Gedient! Fort auf den Schutt: Vergangenheit.
Fort mit dem trüben Glas, fort mit dem toten Rahmen,
Denn ungemahnt nur geht sich's neue Bahnen,
Fort mit dem Bild, das mich mir selbst getrübt!

Das ist ja ein Gedicht?


Ich möchte gerne wissen, wann es so begonnen hat zwischen uns. Den Tag möchte ich wissen. Und kann ihn nicht herausbekommen. So wenig wie jenen, an dem ich begonnen habe mit diesen Blättern.

Wann begann es doch eigentlich? Dieses mit den Blättern und – jenes andere? Geheimnisvoll verbunden beides.

Aber ich kann es nicht herausbekommen. Wie man den Augenblick nicht feststellen kann, in dem ein Schiff in See sticht. Man spürt die Stöße der Maschine, man hört, wie die Schraube sich wühlend in die Tiefe bohrt, schäumend und brausend wallt es auf ringsum, – liegt man noch, fährt man schon?

Plötzlich ist man draußen auf See.


Was ist es, das uns so verbindet?

Sind wir denn so »gleich«? Nein. Oder so verschieden? Noch viel weniger. So wenig gleich und so wenig verschieden wie – Verse, die sich reimen.

Wie lauteten doch jene klugen Definitionen vom Wesen der Lyrik, die jener Künstler und Kenner gab? Wie sollen sich doch die Verse zueinander finden? »Frei und doch notwendig.« Und wie ist's mit uns? Ich glaube, ich glaube ganz wie in der echten Lyrik: »Ohne Umstellungen, Inversionen, Gewalttaten, Kompromisse. Es fließt dahin wie edle Prosa und doch nicht Prosa«, ganz wie in der echten Lyrik. Und der Gedanke, der Gedanke in dem Gedicht »Wir« ist auch nicht schlecht! »Die Harmonie der Form strömt aus der des Inhaltes, es bimmelt nicht nur, es hat auch Sinn, hat tiefen, klaren Sinn und bimmelt doch, leicht, lieblich und – geheimnisvoll!«

Stimmt! Stimmt alles!


Damals als ich mit Dimitri war und stimmlos wurde an ihm, hatte jener Künstler mir gesagt: »In diesem Katarakt ist Ihre Stimme untergegangen.«

Ja, sie war in einen Katarakt geraten.

Aber gibt es nicht Bäche, Quellen, Ströme, die so einen Katarakt durchfließen? Für verloren gehalten werden, so lange sie da drinnen sind, – bis sie dann plötzlich heraustreten aus dem Getöse und ihres Weges ziehen. Solche Gewässer, die ihre Form bewahren, auch wenn sie in andere Gewässer geraten, ihre Aggregate zusammenhalten, wie der Golfstrom, der ja bekanntlich so stark, so breit, so heiß wie er in seinem Flußbett dahinzieht, auch andere Gewässer durchfließt.

Diese Blätter lassen mich nicht! Von früh sieben Uhr, wenn ich die Augen aufschlage, bis Mitternacht und oft noch länger bin ich mit ihnen. Ich gehe nirgends hin, ich kann nicht fort von den Blättern. Ich denke, denke, auch da ich nicht denken will. Die Stimmen überfallen mich. Und ich halte krampfhaft zurück, was wie ein Strom aus der Feder stürzen will, ich halte sie zurück, diese verschiedenen Gewässer, bis zu dem Augenblick, wo sie münden dürfen, jedes einzelne dort, wo es soll.

Schaffen – Kraftfrage? Ja. Aber mehr noch als die Frage einer Kraft des Schöpfens, die des Eindämmenkönnens, und doch nicht Verströmen = Versickernlassens dessen, was tausendquellig zutage bricht!

Seltsam, seltsam geht es mir mit diesen Blättern!


Du sagst mir oft, ich sei schön. Es erscheint dir so, Lieber! Denn was ist denn schön an mir. Es kommt nur manchmal etwas wie ein Licht, daß alles das, was da ist, schön scheinen läßt. Auch Dimitri kannte dieses Licht – anfangs. Er sagte dann: Lux in dentibus, Lux in oculi, Lux in Maja. Das ist meine ganze Schönheit, diese Lux. Und daß du mich immer schön findest, kommt eben daher, daß dieses »Licht« nun dauert; von einer großen, stillen Flamme kommt es, die du entzündest hast und sie speisest, priesterlich, mit kostbaren Stoffen, daß sie Tag und Nacht brennt und nimmer erlöschen kann.

Darum siehst du die Lux in Maja, und Maja ist – schön.

Und wäre ich hundert Jahre in dieser deiner geliebten Gegenwart, – die Lux verhuschte mir nicht!


»Vierzehnjährig«, pflegte Dimitri zu sagen, wenn ich meine »guten Momente« hatte. Aber er vergaß, vergaß sofort, daß er sich eben noch entzündet hatte an jener Lux, vergaß es vollständig, wenn sie unter seinen wilden Worten verschwand, verhuschte.

Er vergaß. Gedächtnis, Treue und Ethik, ein Zusammenhang, den Weininger in einer jener Partien seines Buches, aus denen es quillt wie Licht aus dunkeln Höhlen, scharfsinnig dargetan hat.

Und ich wurde älter und älter an ihm, – uralt in rasendem Tempo, in dieser wilden, allzu wilden Gemeinschaft. Und als er mich damals, an jenem letzten Tag, vor den Spiegel schleppte: »Ist das die Frau, die ich vor drei Monaten (o mein Elba!) kennen lernte, warum läßt du dich denn zerstören, du?«, da, da war ich hundertjährig geworden.

Jetzt? »In seiner Liebe leucht' ich und lach' ich nun auf!«


Als er, Dimitri, mich das letztemal sah, da war ich ein grauer Schatten, ein zerstörtes Weib. Mit meiner Stimme hatte ich meinen Körper verloren!


»Hundertjährig war sie! Und was sie doch grünt und blüht! Die reine Rose von Jericho!«

»Bin aber auch schön in warmes Wasser gelegt worden! Da streckt und dehnt sie die zusammengerollten Blätter, die Rose von Jericho, bis sie wieder blühend und duftend auf dem Teller schwimmen.«

O Rose von Jericho! Und da warst du auch schon am Klavier, und wir sangen in Duo:

»Wie riecht sie süß, – nach Zimmet und Zymmanen,
Die Rose,
Die Rose,
Die Rose von Jericho!« – – –

Ein Spiel ist die Liebe. Ein Spiel um den Ernst. Wenn nur beide in fröhlicher Spielkraft bleiben! Sonderbare Figuren entstehen, Konstellationen sind plötzlich da, – man weiß nicht woher, wie Gestalten auftauchen im Dunkeln, im Dämmern, die sich bei Licht als gewöhnliche Gegenstände entpuppen. Nur Mut, nur näher hingesehen, nur unbeirrbar bleiben! Es wird heller werden! Es sind nur Spielgespenster, soferne ihr wollt.

Aber, so wie der Spuk beginnt, werden die meisten ungebärdig. Und furchtsam. Und werfen die Flinte ins Korn. Der Spieltrieb fehlt ihnen, dieser der Kunst so nahe verwandte.


Dimitri wußte Kränkungen einzuspritzen wie eine Seruminjektion. Mit einer feinen Nadel unter die Haut gezogen, die Nadel rasch heraus, und das Gift bleibt drinnen, geht ins Blut, wirkt, wirkt! Und wie eine solche Kränkungs-Seruminjektion gleich wirkte, auf der Stelle! Wirkte auf die Seele und auf das Aussehen.

Dann kam er, schaute mich an, schüttelte den Kopf und sagte: »Sonderbar, wie du dich verändert hast!«


Ich habe einmal irgendwo eine ganz eigenartige Definition von Glück gelesen: »Was ist Glück? – Einen langen Spaziergang in engen Lackstiefeletten gemacht zu haben und die dann auszuziehen.«

Oder: Drei Monate mit Dimitri in »Liebe« gelebt zu haben, – und dann nicht mehr mit ihm in »Liebe« zu leben.

Das ist Glück!


Dimitri, der Jüngling! Auch in seinem Körper. Nicht etwa der eines schwachen Mannes war es, – der eines Jünglings.

Jüngling auch in seinem Suchen, Stürmen und Irren.


Weißt du, diese Blätter da, – in denen bin ich drin. Mit ganzer Person, ganzer Stimme, mit meinem Lachen und Weinen. Und dieses letztere ist auch in dem Sinne zu verstehen, daß ich dieses Lachen und Weinen nicht nur hineingeschrieben habe in diese Blätter, sondern auch wirklich hineingelacht und hineingeweint, während ich schrieb.

Bei »richtigen Schriftstellern« kommt so was wohl nicht vor, beim Schreiben, – wie?


»Heulsäckchen, Lachsäckchen«, sagst du ja immer. Und »komm, komm an meine Brust! Schütte da alles aus! Alles, was vom Heulsäckchen, Lachsäckchen kommt, gehört hierher.«

Ja hier an dieser Brust: hier kann ich lachen, hier kann ich weinen. Hier kann ich alles hineinplaudern, hineinplätschern, hineinsingen. Hier kann ich alles klagen, fragen, sagen. Und hier kann ich – schweigen, schweigen und ruhen!


»Frowelin« nennst du mich immer. Weil ich dir nicht so erscheine wie eine Frau, so eine richtige, verheiratete, oder doch verheiratet gewesene »Ehefrau«, – eher wie ein Fräulein, »so ein kleines, unversehrbares Frovelin«. Früher schriebst du's: Frouvelin. Dann mit modernisierter Orthographie: Frowelin.

»Eine neue Änderung der Orthographie erscheint geboten«, sagtest du mir heute mit gründlichem Professorenernst.

»Nun?«

»Fro-welin, Froh-wellin! Froh-Welle, du, frohe Welle, Frohwelle, Frowelle!«

Und da kam es auch schon unter deinen Händen aus dem Klavier, – das Rheintöchterlied:

»Wigala weia, woge, du Welle –«

Und – »Frohwelle du, Frowelle du« wurde hineinparaphrasiert.

»Herzeliebez Frouwelin
Kunt ich baz gedenk dîn«,

so singt unser vieltrauter Vogelweid.

»Herzeliebez Frouwelîn – – – –«

 

Diese Blätter, diese Blätter! Ein halbes Dutzend gespitzter, gezückter Kohinore, die ich mir selbst schenkte (ich habe früher immer nur einen traurigen Bleistift besessen, und mein Ideal war, einmal welche in Hülle und Fülle zu haben), – sechs Kohinore schreibe ich täglich ein paarmal stumpf, bloß um meine wichtigsten »Einfälle« loszuwerden als Notizen. Diese Einfälle, sie fallen wahrhaftig in mich ein, über mich her, lassen mich nicht, jagen mich, bis ich sie – habe. Ich »denke und dichte« in einer halben Stunde mehr, als ich in drei Tagen niederschreiben kann.

Ja, wenn man nur schreiben müßte! Aber man muß ja auch denken! Ja, wenn man nur denken müßte! Aber man muß ja auch schreiben!

Seine Gedanken mit Jagdhundgeschwindigkeit apportieren und sie mit Jägertüchtigkeit erlegen und sie alle, alle zur Strecke bringen, gerade das ist hier die Frage.

Es ist schauderhaft. Wenn ich morgens, oft vor sechs Uhr schon, erwache (ich Langschläferin schlief sonst immer bis gegen elf Uhr vormittags so tief und fest, wie andere Leute angeblich vor Mitternacht) –, wenn »es« mich also schon mit dem frühesten Morgen weckt und mir den Schlaf aus den Augen scheucht, ist mein erster Griff nach dem Heft, das auf dem Tische neben meinem Bett liegt, und einem der immer gezückten Stifte. Und ich schreibe, schreibe im Bett, – eine Figur für die Meggendorfer. Fast täglich wird solch ein Heft vollgeschrieben, dann heißt's, ein neues nähen. Eine böse Sache, denn nähen war mir immer beschwerlich. Aber fertige Hefte kaufen? Das »tragt's nicht« bei einer – Sängerin, die ihre Stimme bisher nicht zum richtigen Klingen brachte.

Ich nähe also die Hefte selbst. Noch während ich nähe, schreibe ich schon in die halbgehefteten Bogen, – schreibe, während die Nadel am Faden baumelt!

Wäre ich eine – Schriftstellerin, man könnte von einer »produktiven Epoche« sprechen!

Dann würde ich aber sagen: so lange ihr nicht eine Schreibmaschine erfindet, die direkt mit den Gehirnganglien (so heißen doch die Tiere?) in Verbindung gebracht werden kann, während das Schreibpapier sich baldachinartig über dem »denkenden Haupte« wölbt, so daß, sowie »es« dadrinnen denkt, die Maschine das Gedachte auch schon aufs Papier tippt, – so lange ist die ganze Schreiberei eine Art Tortur.

Aber – eine wollüstige Pönitenz!


»Ich möchte Sie zu Pferde sehen«, sagte mir einmal Günther von Werfeld, einer meiner Freunde, ein junger Offizier. »Zu Pferde und auf der Jagd!«

»Warum?« fragte ich. »Sie meinen wohl, daß das Reitkleid mich kleiden müßte, weil es die kleine Figur streckt, und der Sitz zu Roß, weil er sie hebt?«

»Nicht an die Figur dachte ich. Ich dachte an Ihr Gesicht, zu Pferde, auf der Jagd, an dies Gesicht, wie es sein müßte, wenn Sie – jagen

Jagen, verfolgen, erlegen!

Ich hatte bisher nicht Gelegenheit, das wirklich auszuprobieren. Denn ich habe nicht Roß noch Jagd. Und nur die grünen Wälder meiner Phantasie.

Holla hopp! Vorwärts, hussa, hussa!

Hier ein paar Hasen, dort ein paar Enten, aufgescheucht wirbeln sie empor – Wildenten! –, und hier ein fliehendes Reh, vorwärts, hussa, hussa! Zur Strecke damit! Und da, was bricht da aus dem Gestrüpp? Ein Sechzehnender!

»Mädel, gehst du auf die Birsch, schieße nicht auf Hasen, aber kommt ein Edelhirsch –«, sang ich einst in der Operette.

Holla hopp! Ihm nach! Treibt mir nur alles zusammen – von allen Seiten, ihr Treiber, ihr Helfenden!

Und – was begegnet mir da? Ungetüme, die man in Europa längst ausgestorben glaubte, – Urochsen, Höhlenbären! Wie werde ich mit ihnen fertig? Soll ich sie erschießen oder erspießen? (Denn für alle Fälle habe ich auch eine Lanze mit.) Aber bei meinem bloßen jagdlichen Anblick tun sie, was die Sphinx tat, da sie den Ödipus erblickte: sie tötete sich selbst. Diese da? Ich jage auf sie zu, – holla, holla, nur Mut, blast mir das Jagdhorn dazu, halali, – ich bin in der Nähe, schon hören sie das Keuchen meines Rosses, die Lanze ist gezückt, – da trifft sie mein Blick! Und siehe: die Urochsen, die Höhlenbären, die man längst ausgestorben glaubte in Europa, – sie fallen hin vor meinem bloßen schrecklichen Anblick, sie strecken sich aus und sind dann wirklich »dod«, mausetot!

Ganz wie der selige Cuvier es seiner Zeit in seiner Katastrophaltheorie auseinandersetzte:

Eines Tages kam »die« Katastrophe, die alte Fauna wurde von ihr »hingerafft«, streckte sich aus und war »dod«. Bekam dann später, viel später, ein Kreuzel neben dem lateinischen Namen. Das bedeutet in der Zoologie: ausgestorben. Am Tage nach der »Katastrophe« war dann die Erde mit funkelnagelneuen Lebewesen frisch angefüllt.

Aber weiter, weiter, mein Roß! Holla! Hussa! Hussa! Vorwärts durch die grünen, die immergrünen Wälder!

»Ein Luftroß jagt
Im Laufe daher,
Auf der Wolke fährt es
Wetternd zum Fels!
Hussa, hussa!«

O Günther, könntest du mein Gesicht sehen: du wärest nicht enttäuscht!


Man sagt, wenn ein geborener Maler zur Welt käme, ohne Arme, er würde doch ein Maler. Wie? Womit? Seine Sache. Er würde sich sein Instrument schaffen und gälte es, den Pinsel an die Nase zu binden.

Und wenn ein Mensch zur Welt käme, in dem alles Musik ist, der in Rhythmen denkt, in Melodien fühlt, dem alles Erleben schon Takt und Tempo in sich trägt, der jenem unmittelbarsten Ausdrucksmittel der singenden Stimme, jenem, das dem Geheimnis am nächsten ist, – der Musik, – angehört, wie seiner wahrhaftigen Heimat, und der doch so zur Welt kam, daß er kein Musikinstrument meistern konnte?!

Dessen ungeschickte, nervöse Finger niemals ordentlich Klavierspielen erlernten, trotz – sagen wir – zwölfjähriger Lehrzeit?

Der nicht fünf Takte zu singen vermag, ohne daß ihm »mit einem Finger« zumindest, die Melodie zur Begleitung mitgespielt wird?

Und der doch schier birst vor Musik in sich?

Was würde er beginnen? Wie sich helfen? Wie? Womit?

Er würde sich das Instrument, das ihm zur Melodie verhilft, schaffen, und gälte es, mit der Nasenspitze in die Klaviatur zu tupfen, oder etwa gar mit der – Feder zu musizieren.


Ein Lied klingt in mir. Soll ich's halten, – soll ich's verklingen lassen?

Einen Rhythmus, der dir durch die Seele klingt, nicht festzuhalten, ihm nicht nachzugehen, – eine Todsünde. Etwas will geboren werden, und du achtest es nicht?

Empfang.
 
 Königliche Gäste kommen!
Den Weg gekehrt
Und das Haus geblankt,
Die Pfosten umrankt
Und den Störern gewehrt!
Königliche Gäste kommen,
Die Botschaft hab' ich vernommen,
Du Bote sei mir bedankt!
 
 Verlassen lag mir das Haus,
Von ihnen gemieden,
Von ihnen geschieden.
Freudlos wohnt' ich im Haus.
Schatten kamen und Schatten gingen
Zu dumpfen Gespensterfesten,
Doch nach den Gästen, den Königsgästen,
Sah ich das Herze mir aus.
 
 Königliche Gäste kommen!
Die Botschaft hab' ich vernommen,
Dem Boten will ich es danken.
Um die Pfosten soll es sich ranken,
Festlich stehe das Haus!
Denn sie kommen, die Gäste, die lange mich mieden,
Von denen die Störer mich frevelnd geschieden, –
Meine blühenden, jungen Gedanken!

Du sagtest mir gestern, Johannes: »Es müßte einmal ein Dichter etwas schreiben, woraus man entnimmt, wie es in diesem Kessel aussieht, während er, – hier muß man es wohl anwenden, das verdächtige Wort, – schafft. Wie es in ihn hineinkam, in den Kessel oder den Dichter, wie es nun ist in ihm, wie es wird und wie es herausquillt – Tropfen für Tropfen.«

Das Schaffen selbst, – ersichtlich aus dem Geschaffenen?

Als Hauptprodukt des ganzen Treibens – das Treiben selbst? Und das eigentliche Produkt – nur Nebenprodukt?

Eine geheimnisvolle Doppelgeschichte!

Die Stimme beobachten, die Stimme selbst, – während sie quillt?

Ist es denn – möglich?

Das Lied und die »Stimme«?

Eine geheimnisvolle Doppelgeschichte ...


Und jener Spruch von Goethe? »Die Frage: woher hat's der Dichter? geht auch nur aufs Was, vom Wie erfährt dabei niemand etwas.«

Er, Goethe, kann doch nicht eine Theorie des künstlerischen Schaffens gemeint haben. Die kann jeder fertigbringen, der den Mechanismus zerlegt und das Spielwerk darin untersucht.

Nicht dieses kann der Goethesche Spruch vermeinen und vermissen. Geheimnisvolleres: im Gesange selbst soll es sich offenbaren.

Das Schaffen selbst – ersichtlich aus dem Geschaffenen?

Als Hauptprodukt des ganzen Treibens – das Treiben selbst?

Das Lied und die »Stimme«?

War es denn noch nie?

Das wäre – das Buch der Inspiration.

Wäre es denn möglich? ...


Bei jeder Intimität, die ich bisher mit Menschen hatte, war mir, als stieße nur eine Seite meines Wesens, irgendeine schmale Kante, nachbarlich an sie. Der Rest blieb frei. Aber hier, hier bei dir, da bin ich ganz und gar hineingeschwommen in dich, wie so ein Fischlein in einen tiefen See. Da kann es herumplätschern wie es mag, die gewagtesten Voltigen aufführen, das Gewässer nach allen Seiten durchkreuzen, ohne doch auf irgendwelche Klippen zu stoßen, an die es wild angeworfen werden könnte. Und wenn es hinunterspäht, neugierig, in die blaue Tiefe, wie solche kecke Fischlein schon sind, da sieht es den Grund des Gewässers heraufleuchten, – wunderbar licht, wunderbar friedlich, wunderbar ruhend.

Es belästigt dich doch nicht, das Fischlein? Ach, ich weiß ja! Der See mag ja das Fischlein so gern!


Ich kann nichts von dem, was mir im Kopf herumspukt, vor dir bei mir behalten, nicht einmal, was ich von gestern auf heute in diese Blätter schreibe, – wenn du sie auch nicht zu sehen bekommst, bevor sie fertig sind. (Fertig? Wie? Wann? – Ach!)

Ich muß mir gewissermaßen immer eine Bestätigung holen, mir alles saldieren lassen von dir. So plauderte ich dir vor, daß ich in diesen unsterblichen Blättern von dir »ausgesagt« hätte, du seiest ein See und ich das, was darin plätschert.

Und du sagtest ganz nachdenklich: »Weißt du, kleine Maja, es gibt verschiedene Fische. Solche, die sich lustig und flink an der Oberfläche der Gewässer tummeln und manchmal sogar darüber hinaus einen Satz in die Luft machen. Andere wieder, die sich hinunterwälzen, in gewundenen, spiralartigen Bewegungen, in die Tiefe: aber langsam und in lauter breiten Umwegen, in lauter Serpentinen. Und dann gibt's noch andere Fischlein,« – und du sahst mich so lieb und so froh an, – »die pflegen blitzesgeschwind direkt auf den Grund der Dinge, – der Gewässer will ich sagen, – hinunterzuschnellen.«

Und du sahst mich wieder an, wie – nun, »wie ein edler Papa sein vergöttertes Baby« (nach Peter Altenberg das Merkmal echter Liebespaare), und lachtest, dein gutes, gutes Lachen! »O du schnelles, schnellendes Fischlein!« Sehr viel Vatergefühl oder umgekehrt: sehr viel Mütterlichkeit soll in jeder echten Liebe sein.

Und dann gab's natürlich viele, viele Küsse, mit denen alle unsere Diskussionen schön mosaikartig durchsprenkelt sind.


»Des discussions entre des amants produisent toujours des effets funestes.« Ich halte dieses erkenntnistheoretische Wort Yussuffs – Friede sei mit ihm! – an unsere: Diskussionen.


Unsere Zusammenkünfte sind lauter Picknicks. Jeder bringt was mit. Du besorgst die Weisheit, ich gebe meine Stimme dazu und Musik wir beide!


Picknicks sind auch unsere wahrhaft ambrosischen Mahlzeiten. Ich meine die wirklichen, diese lieben, lieben kleinen Soupers in meinem Zimmer. Ich entwickle Hausfrauenehrgeiz, du bringst »etwas fürs Leckermäulchen«. Das hast du schon glücklich herausbekommen, diese Achillesferse. Und dann, – ach, es ist so einzig! Wie du mich fütterst und wie du mir zusiehst, wenn ich esse! Es ist alles so voll Güte und Liebe und herzensfroh dabei.


Erscheinst du im Türrahmen, so gibt's mir immer »an Rucker« (ein wienerisches Wort, das du zum Glück nicht verstehst, – sonst würdest du sagen: du Racker!). Unter den männlichen Typen, denen ich in dieser degenerierten Welt begegnet bin, waren einige nicht üble Exemplare. Rudi, mein erster Mann, war ein hübscher Mensch, mehr läßt sich von ihm nicht sagen. Yussuff hatte seinen adligen Gang. Er schritt dahin, wie ein morgenländischer König. Sollte ich ihn recht deutlich machen, so möchte ich mich auf das Bild von Kainz als König Kandaules in »Gyges und sein Ring« berufen. Ihm glich er. Es mag auch bei dieser für mich so frappierenden Ähnlichkeit mit dieser Kainzschen Maske viel an der Barttracht gelegen sein. Gewiß ist, daß Kainz in dieser Maske des Kandaules den Typus des orientalischen Fürsten, intuitiv wahrscheinlich, vollendet getroffen hat. Dimitri, – er hatte den Körper eines Hinduknaben, die Mähne Beethovens, Augen eines Dämons. Aber eine Stirn, ach, eine furchtbare Stirn! Schreckhaft war auch der Mund, so prachtvoll auch das Gebiß daraus strahlte, wohl nur weil ich es so empfand.

Du – bist anders als sie alle: einwandfreier.

Mehr sage ich aber nicht! Wozu auch? Dich schildern? Fällt mir gar nicht ein. (Oder, wie man hier sagt, – ich denke gar nicht daran.) Die andern habe ich »geschildert«, weil ich sie dir zeigen wollte. Dich – will ich niemandem zeigen. Bleibe du mir nur hübsch in der Tarnkappe, mein lieber »Held«! Vielleicht habe ich dich nur in der Phantasie erzeugt, oder du warst einst für eine kurz bemessene Frist – mein Gast.


Ein mysteriöses Märchen ist es. Märchenhafter, mysteriöser als Märchen sind. Die Märchen haben immer mich geliebt. Aber ich wußte immer, wenn ich im Märchen stand, daß es nicht wirklich sei, nicht das wirkliche Feenland, nach dem ich ausgezogen war. Und daß ich vorsichtig sein müsse, – sehr vorsichtig, um mich nicht, aufwachend, im wilden Wald zu finden. Ach, und ich wachte immer auf, und immer so, wie ich es gefürchtet hatte.

Dies aber ist, ist. Ich zupfe mich an der Nase, ich schüttele und rüttele mich, – und wache nicht auf! Es ist, ist.


Was immer ich darüber sage, dem holden Wunder dieses Dinges kann ich mit dem Verstand nicht beikommen. Und was immer ich schreibe, – in diese Blätter, – das, was wir zusammen erleben, ist noch viel, viel wunderbarer. Es ist, nun es ist einfach so, daß ich mich, wenn ich allein bin und der Gedanke daran mich überfällt, aufs Sofa werfen muß und den Kopf in die Polster vergrabe.

Das »Wunderbare«, es kann sich offenbaren, nicht sich deuten lassen.

Nur niederstürzen – beten, beten!


Mir ist, als hätten mich früher fremde, dämonische Mächte in Händen gehabt und mir die Stimme in der Kehle – und in der Seele – erwürgt und erstickt. Was war es denn? Dunkel, dunkel liegt es hinter mir. Und kam doch – aus mir?

Dämonen.
 
 Was war es denn,
Daß mich mir selbst so ganz und gar entrückt?
Es brach aus mir heraus und stieß an mich zurück,
Daß ich in tausend Trümmer wollt zerschellen.
Schon hört' ich's schrill mir in die Seele gellen,
Schon kam es näher mit dem Eisesblick
Und drängte sich heran in dunkeln Wellen.
 
 So blickt der Tod.
Das ist die ewige Öde,
Die mich mir selber will begraben.
So bin ich dem verfallen, der nichts mehr läßt,
Du in mir, du, du Gott, o halt mich fest!
Wer sind sie, die mich da in gnadenlosen Händen haben,
Die mich mir selbst erpreßt?!
 
 Was war es denn?
Es flieht, es scheut das Licht!
Die Seele glüht in Scham und wächst aus dunkeln Nöten
Dem Tage zu.
Was war es denn?
O frage nicht, – Vermessenheit des lauten Wortes.
Nur niederstürzen: beten, beten!

 

Du sagst: »Das, was mir dieses Einzige mit dir von allen anderen früheren Schicksalen mit Frauen unterscheidet«, – du hast ja gleich mir Schicksale hinter dir –, »ist diese vollendete Zweifellosigkeit. Gegen dich gibt es keine Stimme, auch nicht die leiseste Flüsterstimme eines Zweifels in mir: sie war nie da, ist nicht da und wird nie da sein. Alles ist Gewißheit.«

O diese deine Worte! Und dennoch: gemeinsame Bahn zu gehen, für Zeit und Ewigkeit – Freund, wir wissen nicht, ob es beschlossen ist – aber bewahren wir uns: unsterbliche Güte!


Eigentlich hätte dieses Buch für dich schließen sollen, in dem Augenblick, »wo Chronik und Gegenwart sich berühren«. Bis dahin, sagtest du ja, solle ich es dir führen. Meine Reise wolltest du sehen, deutlich sehen, ach, meine Festlandsreise!

Aber: wir sind dann abgestoßen zusammen. Und: wir sind jetzt auf hoher See. Wer kann da sagen: Halt! Es fährt, nicht ich und du.

Wir, wir stehen beide auf der Brücke, fassen uns an den bebenden Händen und blicken hinaus, mit den seligen, treugläubigen Blicken, die nur die Märtyrer haben und die – Entdecker.

Halten werde ich, bis das Land, das ganze Eiland vor uns liegt, das wir beide dort drüben wissen, weil wir mit dem Glauben daran geboren wurden. Halten werde ich, bis wir anlegen an jener Küste, die wir schon ahnten, da nichts sie uns bestätigte, da wir schier unüberklimmbare Gebirge um uns fühlten, da es sich türmte mit hundertfachen Wällen und wir uns rettungslos eingeschlossen glaubten, tief, tief drinnen im Binnenland.


Ich schaudere beinahe, wie diese Blätter sich häufen, sich aufstapeln. Wie wieder eins und wieder eins, über das diese meine geheimnisvoll geschobene Hand dahinfuhr und es füllte mit Zeichen, Zeichen, zu Boden gleitet, und wie wieder ein neues weißes Blatt vor mir liegt, sich wieder füllend mit diesen seltsamen Zeichen, gespensterhaft, mir selbst unheimlich, und dahingleitet zu den anderen, hinab, mir zu Füßen, – weil die Blätter zu fassen und wegzulegen keine Zeit ist! Und wie sie da rascheln, wenn der Fuß sie berührt! Ich lasse sie gleiten, ich lasse sie stürzen, ich lasse sie rascheln. Und sie wachsen, wachsen, sie türmen sich, sie häufen sich, – ein Opferstoß!

Wer ist in mir, wer ist in mir, daß es also über mich kommt, zu – opfern?

»Nur ein ekstatischer Zustand ermöglicht ihm die Melodie.« – – –

An ein Wort Lenaus muß ich denken, aus jenen seinen geliebten Briefen an Sophie: »Genie, wer hat es? Kann es das Weib haben? Törichte Frage. Mann und Weib haben es zusammen.«


»Freude,« sagtest du, »hohe Freude kommt mir von dir! Jeder Blick auf dich, Freude. Die Worte von deinen geliebten Lippen, Freude. Jede Berührung mit diesem deinem Körper und dieser deiner Seele, eine einzige Freude. Ich habe keinen Augenblick noch neben dir verlebt, ohne diese Freude in mir zu fühlen.«

»Also eine Art Freuden-Frowelin?« sagte ich.

»Pfui doch!« und du klopftest mich böse.

»Nein du, du brauchst nicht böse zu sein,« sagte ich, da ich meine Schläge weg hatte, »es ist was dran: ich hatte immer das Gefühl, daß, wie soll ich sagen, hinter diesem häßlichen Schandwort ›Freudenmädchen‹ ein wunderbarer, transzendenter Gedanke verborgen sei: das Weib als einziger Freudenborn des Mannes, aus dem er sich Ekstase antrinkt, um seiner ihm aufgetragenen Melodie mächtig zu werden.«

»Und das Weib? Ist ihm keine Melodie aufgetragen? Besonders wenn es mit einer Singvogelkehle zur Welt kam?«

»Freilich. Darum müssen sie einander gegenseitig die Freudespendenden sein, soll ein edles Konzert zustande kommen. Man müßte sie erziehen zur Freude.«

»Erziehen?« Du sahst mich an mit diesem deinem tiefen deutschen Blick. »Erziehen zur Freude? Nein, Maja, das kann man nicht. Der schöne, das ist der freudige Mensch, wird geboren. Glaube mir, Maja, hier liegt's. Aber daß er schön geboren werde und daß der also Geborene dauern könne, – das ist die Frage: die Frage der Gelehrten, der Künstler und der Gesetzgeber.«


Zarathustra spricht: »Woher kommen die höchsten Berge? so fragte ich einst. Da lernte ich, daß sie aus dem Meere kommen. Dies Zeugnis ist in ihr Gestein geschrieben und in die Wände ihrer Gipfel. Aus dem Tiefsten muß das Höchste zu seiner Höhe kommen!«

So aus dem Tiefsten zum Höchsten lieben die Eingeborenen der Liebe, die echten Grands Amoureux.


Mann und Weib – ungeheuere, unerschöpfliche Gütespender für einander! Einander »zugewiesen«, um ihr Pfund an einander zu verdoppeln, zu verhundertfachen, mit Wucher auszubeuten, unerschöpfbar sich auseinander zu speisen! Und um die gesuchte eigene Melodie einer aus dem andern klingen zu hören, während dieser Ernte, in all der holden Üppigkeit.

Nur wenn diese Ernte sich einstellt, wenn es wuchert, das Pfund, wenn es sich verdoppelt, verhundertfacht und wenn es fröhlich klingt dabei, – horch: Erntemotiv! – dann »stimmt's«.


Laune, Laune, Menschenlaune, Wundervollbringerin! Menschenlaune, die sich über Dinge ergießt, horcht ihnen ihre Geheimnisse ab.

Wenn sich Bekannte nach dem Fortgange meiner Gesangsstudien erkundigten, pflegte meine Mutter zu erwidern: »Ja, wenn sie bei Laune ist!«

Und ich dachte mir immer: Könnte ich sie nur einmal durchhalten, diese wunderbare, göttliche Laune, die irgend etwas, mir selbst Unbegreifliches über mich herabschüttelte und -rüttelte, wie das Bäumlein im Aschenputtelmärchen. Aber immer kamen die »Störer«, und aus war's mit dem Segen.

Dauerlaune! Dauerekstase! Ein voller Gesang, ein richtiges Menschenlied, in dem es lacht und weint, wie wir Menschlein eben tun, soll mir vom Baum fallen! Daß ihr mich nicht stört bei dem Hokuspokus!

Bin hingelaufen zum verwunschenen Bäumlein, ein trauriges Puttel bin ich zum Bäumlein der göttlichen Laune gelaufen und halte mich da versteckt vor euch, bis ich alles heruntergeholt habe.

»Bäumlein rüttle und schüttle dich,
Wirf Gold und Silber über mich!«

Und das traurige Puttel kommt als Prinzessin wieder, paßt nur auf, als ganz waschechte Prinzessin, – ihr werdet es gar nicht wiedererkennen.


Ich habe in meinem Leben viel über die »Menna« geweint. Ja, ja, wie ich sie hasse! »Die Menna muaß ma kenna, die Menna, die san schlecht, so sagt die Mahm und nacha schimpft's af die Menna recht!« Ja, ja, wie ich sie hasse. Aber fast noch mehr habe ich über sie, durch sie, »mit sie« – gelacht. Und das stimmte mich immer wieder – versöhnlich.

Überhaupt: was habe ich nicht gelacht in diesem Leben – über dieses Leben! Mich ausgeschüttet vor Lachen über diese Pantomime. Selbst wenn ich selbst darin am wildesten zappelte und tanzte. Ich stand immer noch, außerdem, irgendwie über oder neben der Szene, in der ich agierte. Neben der Szene, in den Kulissen des Theaters stand eine zweite Person, die der »Heldin« darin aufs Haar ähnlich sah, – und wollte sich ausschütten. Oft an den verhängnisvollsten »Peripethien« des Dramas wollte jene sich darüber erheitern – oder sich gelassen darein ergeben.

Mein starker, tapferer, unzerbrechlicher Wille war es, der mich aus Schutt und Flammen immer wieder herausrettete. Mein Wille zu mir. Mir selbst unbewußt – als Wille! Sich kündend wie eine gewaltige, starke, schiebende Hand. Ein Wollenmüssen war es mehr, denn ein Wollenwollen. Ihm, diesem Willen zu mir, danke ich – mich. Er auch führte mich weiter, ja über mich selbst hinaus, ein gut Stück.

Dank dir, mein Wille! Mein strahlender, diamantharter, strenger, schöner Wille!


Mein Wille zu mir. Er hat nichts gemein, dieser mein Wille zu mir, mit jener Ichsucht, die den von ihr Befallenen in sich hinein bannt, ihn vom Objekte trennt. Jener Wille ist, so denke ich, der Wille zur Bewußtheit. Zur Deutlichkeit! Deutlichkeit meines Selbst, in allen seinen Elementen, ist sein Ziel. Selbstbewußtsein also, Selbstgefühl, wenn man will. Der Wille ist es, meiner wahren Gestalt auf die Spur zu kommen und diese meine Gestalt nicht zu verlieren an der Welt! Selbstgefühl, wenn man will. Ja, man heiße es meinetwegen Egoismus. Ich behaupte: nur Egoisten (in diesem Sinne), nur Menschen von dieser Art Selbstgefühl können lieben. Denn Liebe bedeutet Hingabe. Aber nur wer ein deutliches, bewußtes Selbst hat, vermag es hinzugeben. Nur der vermag auch abzuschätzen, was er empfängt. Die Lauen, die Dämmrigen, – man hänge ihnen einen Purpurmantel um die Schultern und sie werden nur bemerken, daß da etwas ist, was wärmt. Sie werden sich behaglich einrichten – im Purpurmantel! Und sie werden von Liebe zu sprechen wagen, wenn sie ein bißchen Gekribbel empfinden in den dicken Nervensträngen, ein bißchen Rührung vielleicht in der Kehle oder ein bißchen Erhitzung im lauen Blut. Verhaßt sind mir die Laublütigen, die Purpurmäntel benutzen, wie Schafpelze, die von Liebe sprechen, wenn's behaglich wird, von Hingabe, wenn sie Liebe über sich – ergehen lassen.

Nur die Egoisten, in diesem meinem Sinne, sind fähig, um der Liebe willen sich hinzugeben.


»Johannes, – wenn du mich enttäuschest, singe ich keinen Ton mehr«, sagte ich gestern.

»So.«

»Johannes, – ich habe Beweise, daß du mich nicht liebst.«

»Ei was! Wie hast du denn das so schnell gemerkt?«

»Das kam so. Ich schaute gestern nach dir aus, von meinem Balkon, gegen Westen, wo du ja wohnst, du feiner Herr. Es war gegen Mitternacht.«

»Da hast du mich doch wohl nicht erwartet, Maja, Maja!«

»Das nicht. Aber dein Antlitz hätte ich in der – Luft finden müssen, wenn du mich wahrhaft liebtest!«

»Ei, das ist wahr! Ich sehe, ich bin erkannt. Aber behalte mich trotzdem noch ein Weilchen, ja?«

»Johannes – ich hab' da was.«

»Was denn? – Der Tausend! Laß sehn! Ein Gedicht? ein Gedicht! Ja wahrhaftig – ein Gedicht – ein Lied. – – –

Du liebst mich nicht,
Da solang mir fernzubleiben dir gelingt.
Du liebst mich nicht!
Du liebst mich nicht,
Da meiner Sehnsucht stummes Rufen
Nicht bis zu dir in jeder Stunde dringt!
Du liebst mich nicht!
 
 Du liebst mich nicht,
Da meinem Blick du nicht begegnet,
Wenn über Meilen er zu dir gesandt,
Du liebst mich nicht,
Da ich mein Antlitz hin nach West gewandt
Und in der Luft das deine nicht erkannt!
Du liebst mich nicht!
 
 Du liebst –
Was hör' ich an der Tür,
Wer pocht, als wollt' er sprengen,
Was ihm verstellt den Weg zu mir?
Weit fliegt sie auf, da stehst du, bleich und rot.
Du liebst mich nicht! sprach's dieser Mund, der sich dem deinen,
Du liebst mich nicht? – auf Tod und Leben bot!

»Du – wo hast du diesen Ton her, diesen einfältigen Ton?«

Ja, das weiß Gott allein!

Und dann, – dann setzest du dich ans Klavier. Ein paar Griffe, ein weniges, kurzes Tasten und Suchen, – und eine Melodie war da. Kindische Jubelrufe stiegen aus dem Klavier auf. Und ich, – ich sang ganz keck in die werdende Komposition hinein und schmetterte es aus dem offenen Fenster über alle Dächer: »Du liebst mich nicht – du liebst mich nicht!«

Als wir einander dann in die Arme fielen, sagtest du in dieser deiner ernsthaften und doch lachenden Art, die ich vergöttere: »Dieses unser Lied ›Du liebst mich nicht‹ wird ein Volkslied werden, kleine Maja!«


Was mir so lieb ist an dir, ist – ist auch, denn was ist mir nicht lieb an dir? – daß dir die ironische Note so vollkommen fehlt. Du lieber, ernsthafter Deutscher. Ernst bist du, durchaus. Alles ist ernst an dir. Aber nicht bitterer, – süßer Ernst! Sonnig ernsthaft bist du. Ironie und alles, was ihres Wesens ist, – Hohn, Witz, – ist dir fern. Und das ist gut für mich. Denn es macht mich mir deutlich. Und hast doch ein so gutes Lachen: Humor.

Dimitri hatte so gar keinen Humor. Humor ist gute Sonne, die wohlwill, da sie lacht. Dimitri hatte keinen Humor. Sarkasmus hatte er. Und er konnte »ausgelassen« sein. Von tobender »Lustigkeit«. Er verschonte dann niemanden mit dieser Stimmung, in welchen Kreis immer er auch geraten mochte, und verlangte, man solle »mitvibrieren«. Diese – Lustigkeit ergoß sich in einer Flut von »Späßen«, die wie Distelköpfe auf die Leute geschleudert wurden. Aber anstatt »mitzuvibrieren«, wurden die Leute immer einsilbiger, eisiger, ablehnender. Bis Dimitri das plötzlich bemerkte und seine Lustigkeit mit einem Ruck stoppte.

Ich muß an ein Wort denken, das ein Freund Dimitris, ein Knabe von achtzehn Jahren, ein Jüngelchen von dürftigem Körper, aber mit den Augen Wolfgang Goethes, – auch ein Ernsthafter, aber ein ernsthafter Jude, – gesagt hat: »Nicht über die Unordnung lachen, der Ordnung zulachen!«

Ja, der Ordnung lachst du zu, Johannes!

 

Wenn ich manchmal mit Gott Zwiesprach hielt und ihm meine Wünsche vortrug (was vorzukommen pflegt!), so bat ich früher immer hübsch detailliert. Ich wünschte mir das und das und das. Gott, – ich will een Ding haben, – wat forn Ding, min Herzenskind, – Ding, Ding, Ding. Wilscht vielleicht een Püppche ha'n, nee, Gott, – nee – – –

Dann kam eine Zeit, da wußte ich nichts zu bitten. Da wußte ich nur zu blicken. Und der Blick bat Gott, seinerseits einen Blick in mich zu tun und mich zu durchblicken. Ich hatte auch Angst schließlich vor dem Wünschen. Wünsche pflegen in Erfüllung zu gehen! Das eben ist ja die Wirkung des Gebets: das Gebet ist der Wille, der sich sammelt und zusammenrafft. Drum Vorsicht mit dem Wünschen. Denk an die Frau, die sich mit ihren begierlichen Wünschen die Wurst an die Nase wünschte, du Wunschmaid, Maja Hertz!

Ach, was hat man zu tun, sich so eine Wurst wieder von der Nase zu wünschen! Die Normalnase wird dann für eine Zeit zum wahren Idol.

Schließlich bekam ich heraus, was zu wünschen sei: frohe Gefühle. Oder sagen wir, gute Gefühle. Meine Gebetformel lautete dann: lieber Gott, gib mir gute Gefühle und womöglich Grund dazu. Läßt sich aber der Grund gar zu schwer aufbringen, dann laß ihn meinetwegen fort! (Ich ließ mit mir handeln in diesem Punkt.) Nur die Gefühle sollen da sein! Besser die frohen Gefühle ohne besondern Grund als haufenweise Grund, glücklich zu sein, und stumpfe Bewußtlosigkeit für sein Glück. Gefühle sind alles! Gottes Segen sind gute Gefühle. Hätte ich jemanden zu segnen, ich würde ihm sagen, Gott gebe dir alles Gute und das Bewußtsein hierfür. Fluch: Gott gebe dir alles Böse und das Bewußtsein hierfür. Das Bewußtsein macht erst Glück und Unglück. Und aus dem Gefühle kommt es! Aus dem Herzen speist sich der Gedanke, aus dem Herzen die Stimmung, Stimme. »Seele ist Stimmung«, klang es um Sokrates an seinem Sterbetag. Aus dem Herzen kommt sie, und im Blute reist sie von da zum Gehirn, bevor sie als Überschuß an Lebenskraft schmetternd der Kehle entströmt.

Gute Gefühle.


Ich bin ein froher Vogel von Natur. Du weißt, Johannes, wie ich bade im Glück, wie die Vögel im Äther. Und wie ich dankbar und andächtig das Lied hinausschmettere aus der übervollen Seele. Aber selbst der gelassene Sokrates räumt ein, daß kein Vogel singen kann, wenn ihn hungert oder friert, oder ihm sonst etwas fehlt. Nicht die jubilierende Lerche, die doch sicher eine frohe Seele hat, nicht die Nachtigall, noch der Wiedehopf, von dem die Menschen lügen, er sänge aus Leid, während er, auch in Todesnähe, singt aus erhabenen, seligen Gefühlen, weil er, »wie alle, die dem Apollo angehören, wahrsagerisch« (!) Gutes ahnt.

Dunkle Fäuste aber hielten mich manchmal in meinem Leben umklammert. Und das war schlimm für einen Vogel wie mich.

Mich ihnen zu entwinden, verbrauchte ich alle meine Kraft, mühsam diese zerschmetterte, zerrissene Kraft sammelnd zu dem Werke der Rettung. Ein Überschuß blieb da nicht! Verbraucht wurde, was da war, zum bloßen Weiterfristen, zum Herausheben, Herauslösen aus dieser dunkeln, dräuenden Enge.

Verrat stieß mich in Verödung. Ich fror, fror entsetzlich. Rette dich, trotz dieser Erstarrung. Dann Not, die mir drohte, mich aus dem Wagen, in dem ich meinen Zielen zufuhr, immer wieder herauszuschleudern, daß ich unter die Räder käme. Gefangenschaft, Frost, Hunger, – die schlimmsten Dinge, die so ein Vogel mitmachen kann.

Von diesen Dingen allen ist mir etwas zurückgeblieben: Angstgefühle, die in einer Ecke des Herzens sitzen und herausschleichen, zu Zeiten, zu Zeiten. Das preßt und drückt und zieht und krampft zusammen. Das schleicht in die Adern. Das wandelt sich da in lauter Gift und jagt und erjagt die Seele und schlägt sie nieder und versenkt sie in Ohnmacht. Wie tot liegt sie dann da. Wie ohne Seele muß ich weiterschleichen, ein Stück Weges.

Sonderbare Krankheit das: an Gefühlen leiden. Ein »Angstherz« haben, wie andere ein Fettherz. Und wie andere sagen: »Ich bin bei Stimmung«, muß ich, in den glücklichen, gesegneten Zeiten, wo diese Angstgefühle nicht herausgetrieben werden von den Peitschen des Schicksals (nur dann regen sie sich), sagen: »Ich bin bei Seele.«

Gute Gefühle, Gott!


Das Schlimmste, das waren diese Frostgefühle. Wie es über mich kroch, kalt, kalt. Wie Schauer des Todes jagte es mir über den Rücken. Und drang ein, brennend, stechend, wie Eisnadeln im Schneesturm. Und Vereisung rings um mich her und fahle Öde. Und dann stieg es in mir auf, todeskalt, wie von den Füßen herauf, immer näher zum Herzen, nahe, nahe zum Herzen. Und das Herz – wie ein einziger brennender Punkt in dieser Vereisung, ein deutliches anderes, wie das Schwarze in der Scheibe, das auf die Kugel wartet.

Nur die Kugel, die Kugel da hinein, das war die Sehnsucht.

Eisige Verödung – jüngster Tag. Und das Schaurigste: Leben um mich herum und nur ich – wie ausgeschaltet aus der Kette des Lebens.

Ohne »Sinn« mein Sein. Ohne den Sinn, an den ich geglaubt hatte, als an das schiebende, logische Prinzip, das die Dinge in sich tragen und das sie zu ihrer »Bestimmung« schiebt.

Frost – Todesöde.


Verödung, Vereisung.

Nicht, daß man noch liebt, daß man nicht mehr liebt ist das Vereisende. Und wo ist der, den man liebte, wo, wo? Wo ist er denn hin? Hat ihn die Erde verschlungen? Denn der da, den man nicht liebt, eher haßt, verabscheut, ist denn das der, den man liebte? Wo ist er hin?

Und wo ist das, was ihm hingab all die warme Lebensfreude? Fort. Aus den Adern genommen und nichts kam dafür wieder. Leer, verblutet, verödet.

Alle Kraft, Lebenskraft aber kommt aus dieser flutenden Lebenswärme, die von Mensch zu Mensch strömt. Wird sie zu Unrecht vergeben und nichts kommt dafür wieder, dann nimmt sie die Kraft mit sich.

Ibsen hat die wandelnde Liebesleiche auf die Bretter gebracht, in »Wenn wir Toten erwachen«.

Vermessen wird an Schicksale gerührt. Und nicht aus Tücke, Schlechtigkeit werden Schicksale zerstört: aus Kraftlosigkeit geschieht es meistens. Sich kraftlos entgleiten lassen, was man eben noch begehrte, ist das typische Verbrechen der Heutigen. Und was da entgleitet, versickert, in Schutt und Sand zerrinnt, ist die Lebenskraft, die Lebensfreude, das Lebensblut eines andern.

In dieser Verödung, Verzweiflung war alles versiegt. Alle Kraft der Stimme. Alle Kraft kommt ja aus Lebenswärme. Ein Frierender ist kraftlos. Und ich mußte an den erfrorenen Vogel denken, von dem die Désiré im »Grafen von Charolais« erzählt: – »Das war etwas, das lebte, noch hätte leben können, unendlich Jubel in seiner Kehle barg und doch in Not und bitterem Frost verging.«

Wie Heimat fühle ich es nun um mich, Johannes. So ganz, als ginge ich meinen Weg, meinen wahrhaftigen, mir bestimmten Weg, ist mir's zumute. Meine bangen Fragen? Gelöst werden sie mir an die Lippen gedrückt. Gute, frische Höhenluft – und dabei Erde, Erde unter den Füßen, meine geliebte, braune, ernteschwangere Erde!


Heimatlich war's mir zuweilen auch bei den anderen, die ich lieb hatte. Dafür hatte ich sie ja lieb: für dies bißchen minutenlange Heimatsgefühl. Es kam, wenn ich mich von Verheißungen betäuben ließ. Mit wachen, klaren, frischen Augen kam es, neben jenen, nicht. Nur wenn ich mich einhüllen ließ von der Liebe, wie von Dämpfen, dann kam dieses Gefühl, und wie war ich jenen dann so gut dafür! Nahm es doch dieses Furchtbare von mir, das mich mein Lebenlang begleitet hat, dieses Gefühl der Verschollenheit, der Heimatlosigkeit und des verzehrenden Heimwehs. Ein Heimweh nach Herzensheimat! Wie eine Art seelischer Platzfurcht überfiel es mich oft. Dann kamen – jene, streichelten mich ein bißchen und vertrieben mir mit diesem Streicheln für kurze Minuten das Furchtbare, das Unerträgliche. Ans Ende der Welt wäre ich ihnen dafür gefolgt! Mein Seelenheil hätte ich verkauft für das bißchen – »weiches Gezottel«.

»Aber so warst du immer: immer kamst du vertraulich zu allem Furchtbaren. Jedes Ungetüm wolltest du noch streicheln. Ein Hauch warmen Atems, ein wenig weiches Gezottel an der Tatze –: und gleich warst du bereit, es zu lieben und zu locken.

Die Liebe ist die Gefahr des Einsamsten, die Liebe zu allem, wenn es nur lebt! Zum Lachen ist wahrlich meine Narrheit und meine Bescheidenheit in der Liebe! – Also sprach Zarathustra und lachte dabei zum andern Male.«*)

 *) Nietzsche.

 

Dein erster Kuß – ich weiß ihn. Wenn ich auch nicht weiß, – wie er so kam. Er erreichte mich. Er ward mir – angehaucht. Auf meine Lippen mir gehaucht. Ich glaube, es war, – ich glaube, wir saßen nebeneinander und sprachen. Sprachen wir nicht, als es geschah? Oder war da eine Pause? Oder kam die Pause erst nachher? Oder sprachen wir weiter? Ich weiß es nicht, Johannes, und möchte es so gern doch wissen. Ich weiß nur, er kam mir – angehaucht – auf meine Lippen. Und zweier Augen Licht sah ich in mich hineinfließen, wie einen goldenen Strom, von dem nie noch früher eine Welle mich traf. Nie noch!

Golden war, ja golden, was da in mich floß, und lange dauerte es an, der zitternde Hauch auf den Lippen, und das Goldene, das da in mich floß.

Was – war es doch, – Johannes?

Und du hältst mich in den Armen und fragst: »Was ist dir? Warum zitterst du so?« Und deine eigene Stimme ist schwer und mühsam, da sie so fragt. Und deine eigenen Arme, die mich umschlungen halten, ich fühle, – wie sie selbst – zittern. Du Ruhiger, – was bist du nicht ruhig?

Und ich, ich?

Was ist das mit mir?

Du, – deine Hand berührt die meine, dein Blick ruht auf meinen Fingerspitzen, und ich fange an zu zittern. Bis du erbleichend fragst: »Was ist dir?«

Was ist das, Johannes?

Was ist es?

Ist es das – Mysterium?

Wäre es – da?

Geoffenbart – das – Mysterium?

Was – was geschah doch – dort in den Tempeln – zu Eleusis?

Was war es doch?

Mir ist, als sollte ich mich – erinnern, was dort geschah, zu Eleusis ....


Ich dachte oft: Wird er dahin gehen, dahin sich wenden, auf dieser unserer Wanderung, – wohin ich es meine? Keinen Wink gab ich, nicht den Finger rührte ich. Und du, du gingst, gingst immer voraus, gingst lachend und ganz, ganz schwindelfrei! Und ich, ich folgte, ließ mich führen – meinen, meinen Weg!

Schwindelfrei!


Dimitris Schwanken zwischen »Heiligkeit« und »Übermenschentum« – es ist nur das typische Kampferlebnis des edleren Mannes. Nur freilich bei ihm zu dem geworden, was es gemäß seinem von Affekten durchwühltem Wesen werden mußte. Ein Ringender stand er an dem Scheideweg, an dem jeder Edle steht. Diesem Scheideweg des Herkules: Genuß oder Tugend. In früheren Zeiten hieß die Markierung: Schönheit oder Geist, Tugend. Heute wissen wir, daß die Schönheit als Fackel voranleuchtet dem Weg der Tugend, des Geistes, der einzig zum Glücke führt. Und daß jener andere Weg – Üppigkeit heißt, Ästhetentum, Verrat der Idee an die Materie. Aber nicht: Schönheit. Schönheit leuchtet zum Geist, der die Tugend ist; der Weg ist nicht minder bedrohlich und beschwerlich, als er damals war. Vielleicht noch schwieriger: gilt es doch, die Fackel nicht zu verlieren! Gilt es doch, nicht nur in die Dornen zu greifen, sondern die Rose zu erringen, die umdornte!

Du suchtest diesen Weg, wie Dimitri. In deiner Art du, in seiner er. Beide suchtet ihr ihn, ihr Verschiedenen. Die verschiedensten Gestalten gehen diesen Weg. »Heilige« von der Art jenes Nietzscheschen wunderlichen Heiligen, den er den »Erhabenen« nennt: »– o wie lachte meine Seele ob seiner Häßlichkeit .... Noch lernte er das Lachen nicht und die Schönheit. Finster kam dieser Jäger zurück aus dem Walde der Erkenntnis.«

Finsterlinge gehen ihn wie Lichthelden, solche, deren Haupt umschwirrt ist von dunkelm Flügelschlag und andere, um deren Kopf es leuchtet. Laute und Leise gehen ihn, vergrübelte Wanderer und fröhliche Ritter, Ritter der überpersönlichen Tat, die ihn überfliegen, wie jubilierende »eiserne Lerchen«.

Ein edles Suchen, das sie alle vereint auf demselben Weg, auf dem sie wandeln, jeder als ein anderer, jeder gemäß seiner selbst, jeder unter eigener Fahne.

Und doch ein Weg!

Auch – Frauen gehen mitunter diesen Weg. Auch sie stehen mitunter am Kreuzweg vor der Wahl.

Wahl? Wird man denn nicht geboren für den einen oder anderen Weg?

Wahl? Freiheit? Schicksal?

 

Verstört vermochte meine Seele niemals zu singen! Sie war dann nicht – Stimme.

Die mir die Seele, die Stimme verstörten, anima, die Zarte, die vom Herzen lebt, sie waren die wahren, furchtbaren Störer, die Verstörer, die Dämonen, vor denen ich zitterte mein Lebenlang!


In welcher Verödung habe ich doch gelebt. Ich, deren Herz die Freude und die Güte braucht, um nicht zu verenden, wie so ein Fisch im Sande.

Ihr, die ihr in Verödung lebt, – betet, betet zur Sonne! Und wendet den Kopf nur immer wieder fromm nach ihr. Bis sie euch gnädig mit ihren goldenen Feuernetzen erreicht hat, ihr armen Fische, und euch aus Sand und Schutt und Staub heraus- und in ihr Element hinüberzieht, indem ihr so leicht und frei werdet wie Seelen, die eine arme, schwere, schuppige Fischhaut losgeworden sind und frei, – frei und erlöst im Äther schweben.


Dunkle Zeiten habe ich in meinem Leben hinter mir. Verzweiflungen, aus denen ich mich zusammenklauben mußte, Stück für Stück. Das war, da sie, die Mächte, mir den Willen brechen wollten. Den Willen zu mir. Schwer rangen sie miteinander, er und jene. Nahe, nahe war er dem Untergang. Aber die Stimme, seine Stimme, rief ihn und trieb ihn und jagte ihn empor. Von ihr hing immer alles ab, das wußte ich! Entfloh sie mir, war er verloren und ich mit ihm und das Leben verwettet.

Ihr nach! Sie festhalten: das war die Aufgabe, das war die Frage.

O, wie ich meiner Seele nachjagte, da sie mich verlassen wollte! Wie ich sie, die flüchtige, die verzweifelte, immer noch gerade an einem Zipfelchen erwischte, wenn sie schon im Begriffe war, – sich aus mir zu stürzen. Halt!


Ich hatte heute nacht einen seltsamen Traum. Auf einer Bahre lag ein Leichnam, ein Frauenleichnam. Eine junge Selbstmörderin war es. Ich war es selber. In tiefer Not hatte ich ein Ende gemacht, hatte getan, wovor ich wachend immer zurückgebebt.

Aber, nicht doch, das war nicht ich. Eine andere war es. Wo hatte ich dieses Gesicht schon gesehen? Diesen langen, schmalen Fanatikerkopf? Eine Nacht tauchte auf, – ein Bild, – jetzt weiß ich es: jenes Mädchen ist es, das van Haer liebte. Sie ist seine Frau geworden, wie ich später erfuhr. Und sie hat ihr Leben selbst geendet, um seinetwillen, wie man sagte. Aus den Fenstern ihres Landhauses in Schottland ist sie in die See gesprungen.

Und wie ich mich über die Bahre beuge, verändern sich die Züge, es sind wieder die meinen. Ist sie es, bin ich es?

Die Tür fliegt auf, weit und geräuschlos. Und herein kommt, – nein wallt, – eine Schar schöner Mädchen. Unhörbar gleiten sie, schweben sie näher zur Bahre, auf der diese Fremde liegt, von eigener Hand getötet, und sie dennoch sieht, hört und erkennt: die Genien der Freude sind es. Glühende Gewänder tragen sie in bunten, strahlenden Farben. Aber ihre Gesichter, die holdseligen, sind weiß und todesernst.

Die Genien der Freude sind's, – die Seligkeiten, die ich nun mit dir erlebe, Johannes!

Und sie treten an die Bahre und singen mir – ihr – ein Lied.


Da ich erwachte, suchte ich Sinn und Rhythmus dieses Liedes wieder, das ich im Traum gehört.


Hast du zersprengt, was sich vollenden wollte,
War dies dein Sinn?
Daß ab vom Wege, jäh zerschmettert, rollte,
Was dich dir barg, zur Tiefe hin?
Zerschmettert den Becher, den übervollen,
Ach, du hättest nicht sollen, – ach, du hättest nicht sollen!
 
Trinken und warten und trinken
Und warten, von gestern zu heut,
Wie jenes zugrunde will sinken,
Wie dieses sich ewig erneut.
Ein »Morgen« hatte dir kommen wollen,
Ach, du hättest nicht sollen, – ach, du hättest nicht sollen!
 
Nun blieb von dem deinen, was immer geblieben,
Was aus den versenkten Särgen,
In jugendlich ewigem Grün getrieben,
Was die strandzerschmetterten Wellen bergen,
Wenn sie, eins mit dem Einen, neu wieder rollen,
Ach, du hättest nicht sollen, – ach, du hättest nicht sollen!

Was hinter mir liegt an Leid, Leiden und Leidenschaffendem, es genügte, um tausend andere tausend Tode sterben zu lassen. Aber, mir will scheinen, daß, wenn ein Einziger tausendfach leidet, er tausend andere – erlöse. Denn dieses tausendfache Leiden muß irgendwie aus ihm bluten. Und dieses Blut ist der wahre Balsam für die Leiden der tausend andern. Und wenn einer hohe Lust seliger erlebt, denn die andern, er beseligt sie mit dieser seiner Lust. Vertausendfachte Freude und vertausendfachtes Leiden einzelner – Erlösung, Messiastum.

Und wer sind diese Erlöser? Wie heißen sie, diese Opfer, die alle Tode sterben und alle Himmel bewahren, in ihrer einzigen Menschenbrust? Wie heißen sie, diese lebendigen Flammen? Nennt man sie nicht – Sänger, Dichter, diese Messiasherzen?

Wenn einer litt, wie der, der der größte aller Dichter war, der zu Golgatha am Kreuze verstarb, mußte es nicht balsamisch über die Welt tropfen, sein Blut?

Zuckende, strömende, tönende Herzen, – Dichterherzen, flammende Erlöserherzen!

 

Flaubert sagt: »Was für ein Künstler wäre man, wenn man nie etwas anderes als Schönes gesehen, Schönes gelesen, Schönes geliebt hätte!« (An anderer Stelle sagt er freilich wieder: »Begreift man, wieviel betrachteter Niedrigkeit es bedarf, damit sich die Größe der Seele bilde, alle die widerwärtigen Miasmen, die man verschlucken, den Gram, den man erleiden, die Qualen, die man ertragen mußte, bevor man eine gute Seite zu schreiben imstande war.« – Beides ist wahr.)

Seit ich mit dir bin, lebe ich in lauter Schönheit. Und, ich Frevlerin, immer hatte ich mir diesen Zustand als den natürlichen vorgestellt, und was anders war, Leid, Elend als Unnatur empfunden.

Unnatürlich ist, daß der Mensch schlecht lebt. Denn die Erde ist gut. Und reich. Die Sonne nicht erloschen. Sie wärmt, hellt und bebrütet. Läßt wachsen und reifen. Unnatürlich ist, daß Menschen schlecht leben. Als Schande wird es einmal empfunden werden, gleich Krankheit. Armut – Schande. Krankheit – Schande. Häßlichkeit – Schande.

Solange es nicht Privatschande ist, all dieses, ist es Gesellschaftsschande. Denn die Erde ist gut. Und reich. Und die Sonne glüht.

Nicht um da zu sein, erträgt man das Leben, sondern um schön da zu sein.


Ich habe gestern bis gegen Mitternacht in diesen Blättern geschrieben. Dann bin ich hinausgetreten auf den Balkon und habe, wie so oft schon, »mein Antlitz hin nach West gewandt«. Und da, da glaubte ich wirklich in der Luft das deine zu erkennen und deinem Blick in der Dunkelheit zu begegnen. Wunderbar strömte mir die Nachtluft entgegen und mir war's, als hörte ich aus ihr deine liebe, tiefe, innige Stimme ganz dicht an meinem Ohr flüstern, – jenen Gruß Lenaus an Sophie: »Gute Nacht, du Heißverlangte!«


April! Ich liebe diesen Monat. Und nicht nur um des Geruches von Geburtstagskuchen willen, der mir mit ihm verknüpft ist. Ich liebe ihn, weil er der Frühling ist. Im Mai ist's immer schon schwül und schwer in der Stadt. Hold und verheißend ist der April.


Aprilmorgen.
 
Ich sehe auf einen Friedhofsgarten
Von meinem Fenster herab.
Ich höre die Särge knarren
Und sehe, wie sie verscharren,
Worauf die Gruben warten.
Und doch: so friedlich wird mir's Gemüte, –
Der Friedhof steht in Blüte.
 
Im Ostermorgen zerfließen
Schwere Gewitterdünste,
Die der eilige Frühling hineingeweht
In den wunderzarten April.
Und Tränen den Friedhof gießen:
Daß er treu das Geliehene hüte!
Der Friedhof steht in Blüte.

Gestern war mein Geburtstag. Ein Bild kam mir, ein teures Bild: von der Mutter. Ja, das sind ihre Augen. Und mein Lachen und Weinen, – ich finde es in diesen Augen wieder! (Wenn sie ganz stillhält, und das tut sie ja nur auf dem Bild.) Wieviel müssen die geweint haben, diese Augen! Und wie blinken sie doch so lustig, so lieb, so unverwüstlich, trotz alledem. Seid gesegnet, liebe Augen!

Und dann, dann bekam ich einen Brief: deinen Brief!

Welch ein Brief! Welch ein Geburtstag.

Du kamst. Du brachtest mir ein Buch: »Also sprach Zarathustra«. Und meine Lieblingsblumen brachtest du mir, weiße Gardenien. Wo hattest du sie her, hierzulande?

Und ich erzählte dir, wo ich diese geliebte, wunderbare Blume das erstemal gesehen habe. In Genua war es. Da kam ich auf der Durchreise hin, als ich nach jener – azurenen Küste fuhr. Allein war ich. Und saß am Strand von Nervi. Im Schoß lagen mir die Gardenien. Und üppig und süß empfand ich damals, von ihrem Atem angeweht, meine Einsamkeit. Beinahe wie Glück war es, damals, eine kurze Stunde lang.

»Siehe,« sagte ich, – »ihre Blätter, der Gardenia weiße Blätter, sie beben, wie in Ekstase! Und sind doch so fest gewachsen im Kelch! Das ist das Wunderbarste an der Gardenia: du kannst sie rütteln und schütteln, soviel du willst, der Wind mag sie an ihrer weißen, samtenen Krone zausen, soviel er mag, sie entblättert nicht wie andere Blumen, wie die »stolze Rose«, Tulpe und wie sie alle heißen. Nicht eines ihrer sphärenhellen, frohen Blütenblätter entfällt ihr. Sie hält sie fest in ihrem wunderbaren Kelch. So, so müßte man sein: so unverwehbar!«

Und ich begann, sie zu einem Kranz zu flechten. Als er fertig war, setztest du mir ihn aufs Haar. Und Andacht war in deinem Blick bei dieser Handlung.

Und dann sahest du mich lange, lange an, und unsere Blicke flossen zusammen. Und endlich sagtest du, schweratmend flüsternd: »Was bist du schön! Wie blühst du mir jungfräulich, meine süße kleine Maja!«

Ich blieb still, mit erschüttertem Herzen. Aber in diesem meinem Herzen habe ich für dies Wort einen Altar errichtet, dir und mir.


Geheimnisvoll entringt, enthaucht sich mir, was ich mit dir erlebe. Alles wird Stimme. Der Blumen Stimme, ihr Gemüt, ihr Hauch, anima, – ihr Duft, – ihrer Seele Seele kann nicht leichter, nicht freier, nicht notwendiger ihrem Kelch entsteigen, als mir diese Stimme quillt. Und ich höre auch Stimmen, Stimmen, die ich nie vernommen, und die Seele meiner Seele, die Stimme selbst, nimmt sie auf und trägt sie in sich, bis sie ihr Eigen werden und dann meiner genesenen Brust entströmen.


Weiße Gardenia.
 
Weiße Gardenia:
Von allen Blumen du die Blume,
Ein frommes Lied klingt auf zu deinem Ruhme.
 
So wohnt das Licht auf himmelsnaher Stirn,
So erdenferne ruht der ewige Schnee am Firn,
Wie deiner Sammetblüte Glanz erglüht
In weißer Glut.
Und das Geheimnis, das im Kelch dir ruht,
Enthaucht ihm, da er sonnensehnend blüht,
Die Seele, deiner Seele: dein Gemüt.
 
So Wahrheit wie Geheimnis schließt sich rätselvoll in dir,
Weiße Gardenia, du.
So sphärenhell, geborgt von fremdem Stern, dein froher Glanz,
So irdisch süß, wie lust- und leiddurchbebt, dein Blätterkranz.
So unverwehbar deine keusche Krone!
Wie einst du dies zu solcher holden Ruh,
Weiße Gardenia, du?
 
Einst saß ich, still durchglüht, an einem fernen Strand,
Blau lag das Meer vor mir.
Da hielt ich dich in schwerem Strauß im Schoß,
Weiße Gardenia, du.
Gesegnet war die Seele mir.
Und, Seele deiner Seele, hauchst du mir
Den süßen Atem zu.
 
Und wieder strahlst du, in demüt'gem Ruhme,
Im Schoße mir, ein reicher Kranz.
Und anders ist die Seele mir gesegnet,
Kam mir das Glück aus deinem Hauch geweht?
Ein frommes Lied klingt auf, wie ein Gebet:
Daß ich dir gliche je, in meinem Frauentume,
Weiße Gardenia, du, du aller Blumen Blume!

Von dir kam mir dies Lied! Musik aus dir, Stimme geworden in mir!

Ich lege es nieder auf dem Altar in meinem Herzen, dein und meinem Altar, vor dem ich jungfräulich stehe, neben dir, jungfräulich, – Frouvelin.


Wenn ich auf den Balkon hinaustrete, – so fühle ich, wie die Luft mich streichelt. Und wenn ich meinen Blumen frisches Wasser gebe, – sie nicken mir zu! Alles liebt mich! Woher kommt mir, woher kommt mir dieser Segen?


Ein Gewitter zog auf, da du gestern bei mir warst.

Und wir saßen auf dem Balkon, eigentlich einer überdachten Loggia, eng aneinandergeschmiegt, und blickten hinein in diesen gelben, schweren Glast, der sich immer dunkler und dunkler am Himmel zusammenballte. Und wir blickten uns in die Augen. Von dir zu mir ging es wie ein Strom, ein Strom, in dem wir untergehen wollten.

Und draußen entlud sich das Aprilgewitter. Es flammte auf, in dem gelben Glast und rollte und brauste über unsern Köpfen dahin. Und dann war es vorbeigezogen, und kühl und wundersam umwehte es uns. April!


Und daß du nichts – wagst, es ist das Süßeste, das Schönste.


»Du sehnst dich nach mir?« Ich sagte es.

Ich weiß nicht, wie es mir so über die Lippen kam.

Und ich sah dich erbleichen.

»Wann wirst du mich – erdulden?«

So sagtest du es.

»Es darf kein Opfer sein.«

Ich legte dir die Hand auf die Lippen.

Du vergrubst den Kopf an meiner Brust.

So demütig sind nur die Freien!


»Es darf kein Opfer sein.« Doch. Es ist ein Opfer. Aber nicht: »Ich opfere mich«, sondern: »Ich opfere.« Ich trage einen Kelch, einen geweihten Kelch: opfernd trage ich ihn dir entgegen und halte ihn an deine frommen Lippen. Trinke, du! Und zu der heiligen Handlung – eine frohe, heidnische Melodie: Evoë!

Heidnisch bewußt und doch mystisch geheimnisvoll sei dir dieser Trunk – wie jener andere Trunk, der auf Mont Salvatsch den Frommen und Frohen wurde.


Evoë!
 
 Wie ein geweihter Kelch, wie eine Vase,
In der die Blume deiner Liebe blüht,
Scheint mir mein eigner Leib, durchglüht
Von dieser irdisch heiligen Ekstase.
 
 Wie Kelch gewordner weißer Stein von Laase,
Wenn ihm der Gott einhauchte sein Gemüt,
Daß er Gefäß sei seinem Schöpferlied,
Damit es becherlos ihm nicht im Busen rase.
 
 Geheimnisvoller Becher, der beim Mahle
Auf Mont Salvatsch sich frommen Lippen bot
Und sie entsühnt von allem Fluch der Erde!
 
 Wie jener rätselvolle Trunk vom Grale
Den, der ihn wissend tat, entwunden aller Not,
So dir der Trunk von diesem Kelche werde!

Ich erwartete dich. Drei Tage hatten wir uns nicht gesehen. Unsere Pflichten da draußen, abseits von der »Insel«, trennen uns oft für Tage. Ach, und auch das ist wunderbar. Denn was häuft sich nicht an in solchen drei Tagen!

Ich erwartete dich. Und ich schmückte mich.

Wie schön wird ein Weib, das sich schmückt für den Geliebten! Selbst wenn es so wenig schön ist, wie ich. Wie wellte es sich mir unter der Hand, dieses weiche, allzu feine Haar, das man zusammendrücken kann in nichts. Wie strömte es frühlingshaft aus jeder Pore meines Leibes, da ich ihn mit Wohlgerüchen wusch. Und wie leuchtet die »Lux« in ihm auf, alle Fenster der Seele erhellend, – eine einzige, aufflammende Illumination.

Und dann das Kleid. Ich wühlte in meinen Schränken. Welch grelle, bunte Lappen hatte ich da getragen. Fort! Ein weißes Kleid, ein strahlend ernstes, weißes Kleid!

Und weiß, weiß bis zu den Füßen herunter.

Und du kamst. Und ich ging dir entgegen. Und du sahest, wie ich ging. Du sahest, daß ich etwas dir zutrug, – opfernd, – diesen Kelch, von dem du trinken solltest.

Du hattest mir Blumen gebracht: rote, bräutliche, brennende Blüten.

Brennende Blüten fielen in meinen Schoß.

Heilige Bewußtheit: Sphärenhelle, von der die Gestirne leben! – – –


Du gingest von mir. Ich trat auf den Balkon hinaus und blickte dir nach. Sternfunkelnd war die Aprilnacht. Licht erschien sie mir, so licht, – wie ein Weib, von dem eben der Geliebte gegangen.


Daß ich mein Lied so hinausschmettern kann in alle Winde? In dieses Offene, Grenzenlose, wo es weiter und weitergetragen wird? Daß meine Stimme nicht zurückbebt vor dieser Verkündung ihrer geheimsten Melodie?

Ward sie mir denn nicht, die Melodie, damit ich sie sänge? Nicht vielleicht einzig deswegen mir »ermöglicht«?

Singen muß ich mein Lied, weil diese Ekstase über mich kam, aus der die großen, die bekennenden Gesänge quellen, die Psalmen, die Hohenlieder.

Ein Lied unterschlagen, das Gott selbst mir auftrug, hineinhauchte mit dem Schöpferhauch seiner eigenen Stimme in diese meine Menschenkehle, solch ein Lied unterschlagen?!

Ein Lied, das mir aufgetragen wurde, damit ein Wiederklang davon bleibe, wenn ich selbst nicht mehr bin, von mir zurückbleibe, als Stoff für weiteres, – Stoff und Wiederklang geheimnisvoll eines! – als ein rettender Rhythmus vielleicht, eine führende Melodie für jene, die auf die Stimme warten, die sie auf ihren Weg rufen soll, wenn sie, unbestätigten Glaubens, irregeworden, melodielos, steuerlos geworden, umherfahren auf hoher See.

Darum klinge, du Lied, so weit immer die Winde dich tragen mögen! Und wenn ich, dich aushauchend, mein Leben mit aushauchen sollte, dafür, daß ich dich sang, dich singen durfte, singen mußte!


Ein hohes und lachendes Lied der seufzenden Welt zu singen, dazu, so will es mir scheinen, mußte ich alle meine Leiden trinken. Und, da ich sie trank: nach einem Trunk aus der Sonne selbst mich verzehren! In meinem mir nun einmal »eingeborenen« überheblichen Frevelwahn schien es mir immer, als ob er mir gebührte, dieser unwahrscheinliche Trunk, als ob uns Menschen, die wir ja nach dem Ebenbild dessen – gedacht sind, der über allen Sonnen – denkt, als ob uns Menschen die Freude gebühre, die Sonne, die Ekstase! Gebühre – jawohl, gebühre! Ich hörte immer, »es müsse nun einmal so sein«, um uns und in uns, wie es meistens eben ist: so staubig, so dämmrig, so melodielos, und schlimmer. So sollte sein müssen, dachte ich immer hinter dieser meiner »Empörerstirn«. So sollte es gedacht sein, als Gesetz, von dem, der über allen Sonnen – denkt, so gedacht für uns, die nach ihm – Gedachten? Dies der Gedanke, im Stoff und in der Melodie, von der er ja nur wiederklingt, der Stoff?

Dies die – Stimme?

Mein überheblicher Frevlerwahn wollte sich nicht zufrieden geben.

Ich wollte nicht demütig werden im Leide, so tief mir auch die Stirn in den Staub gedrückt wurde. Nicht demütig werden: das ist schlimm. Es mußte erst das Glück kommen, um mich demütig zu machen, und fromm.

In diese meine Hand, diese kleine Rebellenhand, wie du sie nennst, mußte ich »richtig« – die Sonne selbst bekommen! Und aus ihr trinken, o, einen Trunk tun, den nur die innerlich ganz »Feuerfesten« vertragen.

Und siehe: ich wurde fromm an dem gefährlichen, lodernden Trunke. Und ich fing an zu beten. Zu ihr: zur Sonne!


Betet, betet zur Sonne! Betet zur Gnade! Und glaubet nicht, daß sie euch nicht erhöre! Der Kult wirkt zurück, und das ist die Wirkung des Gebetes.


Wer besser könnte in Staub verwühlte Stirnen zärtlich vom Staube heben, in die sie, – die Gottähnlichen! – gedrückt wurden, wer besser aufrichten das tief gedemütigte Haupt und es zart und zärtlich zur Sonne wenden, wer besser könnte es, wer einzig dürfte es, als wer selbst im Staube verwühlt und tief, tief gedemütigt gewesen? Und zu dem dann die Macht trat, das Haupt ihm hebend und es zart und zärtlich ihm zur Sonne wendend?

Ein hohes und lachendes Lied der seufzenden, gedemütigten Welt zu singen, ward mir – aufgetragen. Darum die Melodie mir »ermöglicht«. Damit dieser Glaube an die Gnade sie alle ergreife, die nach dem, der über allen Sonnen denkt, gedacht sind! Damit sie verlernen, am Unheil zu verzagen und glauben lernen an die Gnade der Liebe, die sie einstmals erreichen muß, wenn sie selbst liebten! – – –

So bezahle ich, was ich schuldig wurde, schuldig, da mir hohe Freude ward, da mir Rhythmus, Melodie und Stimme ward, – während Millionen in tiefster Verwühlung seufzen, stöhnen.

Ich bezahle mit diesem lachenden, weinenden, demütig-frommen Lied, das mir aufgetragen wurde, damit ich es sänge, und sollt' ich, es aushauchend, mein Geschick erfüllen.

 

»Sonderbare du, mit den vielen Gesichtern. Wenn du mir plaudernd und lachend zuhörst, – was bist du da doch, du weißt, das vergötterte Baby –«

»Ich weiß: – mit dem edlen Papa!«

»Dann, am Flügel, oder im Gespräch, in ernsthaftem Gespräch, da empfinde ich dich, nun, als was ich bisher eine Frau noch nie empfand.«

»Antifeministische Bemerkungen sind in meiner Gegenwart zu unterdrücken.«

»Da ist dein Gesicht ja ganz unzweifelhaft, jenes Jünglingsgesicht aus dem Uffizien, das des Philosophenschülers – du weißt!«

»Von Padua. Ich weiß. Aber was denn sonst noch? Habe ich denn noch mehr Verwandte, Ahnen, Doppelgänger oder Vorstadien meiner jetzigen Inkarnation?«

»Wenn deine Lider so schwer werden – –«

»Dann?«

»In diesem deinem Blick unter den schweren Lidern, – es ist dann etwas – etwas wie Urmüttertum darin, in diesem deinem Blick. Diana von Ephesus – du weißt?«

»Diana – eine Diana, der ich gliche? Nichts weiß ich von solcher Diana.«

»Es ist eine Diana im Tempel zu Ephesus. Sie wurde verehrt als eine Fruchtbare. Mit vielen Brüsten ist sie gebildet, so wie du mit vielen – Gesichtern. Diana von Ephesus – eine andere Ceres. Ceres – das ist die naive Fruchtbarkeit, die Gebärerin dessen, was bleibt oder nicht bleibt, erhalten wird oder ausgerottet. Diana von Ephesus ist eine andere Fruchtbare. Eine Erdgeheimnisse-Wissende ist sie. Eine Opfernde!

Und sie müßte dein Antlitz haben, das – mit den schweren Lidern. – – –

Welch ein Glück, daß ich dich sehe, du mir immer Vertraute!«


Der Trunk vom Weibe: Unwissende stehen sie davor. »Thumpe«, wenn auch nicht »Klare«, »Vale«, wenn auch nicht »Parsi«. Thumpe Toren. Aber nur dem Wissenden, dem immer Bewußten, dem immer vom Staub in den Geist Entrückbaren und Entrückenden, nur ihm, dem Ekstatischen, wird der Trunk vom Weibe das, was »jener rätselvolle Trunk vom Grale« dem, »der ihn wissend tat«.


Dieses dein entzücktes Lächeln! Dieses strahlende, in mich eindringende Lächeln, wenn du mit mir bist. Nie noch sah ich, soviel wir auch zusammen waren, dein Auge auf mich gerichtet, ohne daß dieses Lächeln dagewesen wäre in deinem Blick, um deine frohen Lippen, auf deiner lichten, freudigen Stirn.

Und wie trinke ich es, dieses Lächeln! Wie wandelt es sich in mir in freudige, feurige Säfte, in Kräfte, die die Seele mächtig werden lassen, – lebensmächtig und sangesmächtig.


Johannes, Johannes, es treibt mich, es versucht mich sehr, dir – für ein weniges nur, ich verspreche es, ein ganz klein weniges nur, – die Tarnkappe vom Kopfe zu stoßen! Dich sehen zu lassen! Einen einzigen, kurzen, blitzgeschwinden Augenblick.

Ja? Ja?

Daß du mir sichtbar wirst, – einen einzigen kleinen Augenblick. Das geschah ja auch andern, vermummten Helden. Plötzlich »rutschte« ihnen (vielleicht stießen sie mit dem Kopfe an eine niedrige Decke), – die Tarnkappe herunter, und die Leute im Gemach sahen erstaunt eine Erscheinung, die gleich wieder verschwand, versteht sich, da sie ja die heruntergeglittene Tarnkappe schnell erwischte.

Ähnlich war's ja auch in jenem Gemach, wo Rhodope plötzlich den Gyges sah: einen kurzen Augenblick lang. Hier war's der Ring, der sich verschob.

Ähnlich geht's auch bei der geheimnisvollen Laterna magica zu. Plötzlich sieht man auf einer weißen Fläche – ein Bild. Ein farbiges, bewegliches Bild. Das kommt von der magischen Laterne, die irgendwo versteckt ist im Hintergrund. Und die Person an der Laterne kann das Glas, das den Zauber wirkt, beliebig einschieben und wieder herausziehen.

Also – schieben wir's hinein.

Jetzt schnell, ein Bild.

Ihr schaut – eine Küstenlandschaft.

Einen Küstenstrich an der Nordsee erschaut ihr auf der magisch beleuchteten Fläche – dieser Blätter.

Über das frühlingsstürmende graue Meer strahlt die Sonne. In diesem Sturm und Sonnengefunkel zugleich (es ist das alles herstellbar bei der modernen Filmtechnik) nähert sich das Schiff der Küste.

Fröhlich und gewaltig fährt es dahin. Und in den Segeln braust's! Und jetzt – jetzt seht ihr – jetzt könnt ihr ihn erkennen: ihn, – den Steuermann. Er versteht sich aufs Seefahren, das werdet ihr gleich merken, wenn er an die Küste herankommt. Denn es ist gefährlich und schwer anzulegen an dieser Küste. Aber – Wikinger waren ja seine Leute! Und die verstanden das doch. Jetzt – jetzt seht ihr ihn in voller Figur. Und zwei Köpfe zumindest überragt er, was ihr drinnen im Binnenland an Leuten zu sehen gewohnt seid. Denn die von – oben – es ist eben ein anderer Menschenschlag da.

Dies Gesicht: das, was die Stirne sucht, – die Augen beleuchten dazu den Weg. Denn ein ordentliches Licht muß leuchten zu dem, was der Stirne Sache.

Die im Binnenland, sie verkneifen gewöhnlich die Augen und verfurchen die Stirn, wenn hinter ihr (angeblich) etwas vorgeht. An ein paar Gedanken verlieren sie gleich ihr Gesicht.

Hier? Je schwerer die Sache, desto heller das Leuchten!

Und sehet den Mund, den gefahrfrohen Mund!

Und sehet die Hand! Sie ist das Greifende, das Unbeirrbare. Wie liegt sie am Steuer, greift und lenkt.

Wegbeleuchtend, gefahrfroh, unbeirrbar.

Seht ihr's, – seht ihr's deutlich?

Das Schiff kommt ganz nah, ganz nah an die Küste heran.

Aber – das Glas heraus, aus der Laterna Magica.

Einen Augenblick nur, versprach ich ja euch!


Von dir Geschaffenes lebt in deiner Musik. In dem, was du bautest, in dir erst bautest, bis es klingend ward, – Musik. Und dann aus dir herausbauen konntest, was also geworden war. Werk deiner Stimme, es wird leben – deine Tat.

Aber – die Gestalt!

Daß ich diese deine Gestalt, als solche, in diese Blätter tragen, sie hier hereinretten durfte, – es macht mir die Blätter teuer.

Diese deine Gestalt »erhalten«, sie in diese Blätter eingezeichnet zu haben – trotz der Tarnkappe! – meine Tat!

Trotz der Tarnkappe! Denn der in der Tarnkappe steckt, – er wirft doch einen Schatten, wie? Die Tarnkappe macht doch nicht auch den Schatten unsichtbar, wie? Und wenn nun die Sonne recht voll auf ihn fällt, (auf den in der Tarnkappe), dann wird sein Schatten, in der Sonne, recht deutlich. Fast so deutlich wie die Gestalt, die vertarnkappte, die ihn wirft.

Und den Schatten, den Schatten durft ich zeichnen! Einzeichnen in diese darum so teueren Blätter.

Und nicht nur die »Gestalt«. Daß ich »es« einzeichnen darf, das – Wunderbare – unabhängig davon, was mit uns geschieht! Gerettet ist's, geborgen, hier, hier in den Blättern.

 

Was ich in diesen Blättern den Göttern entzünden will, wie ich es nannte, es verläßt mich keinen Augenblick. Ich muß es tragen, wo immer ich gehe und stehe. Auf die Vollendung der Konzeption eines Werkes bis ins kleinste, darauf kommt es, nach Goethe, einzig an. Ausgetragen muß sein, was geboren werden soll.

Und nicht einmal, nicht bloß auf eine einzige Art kann ich sagen und schreiben, was ich hier schreibe, – auf zehnerlei Arten könnte ich es und tue ich es oft. Ist es Übermut oder Überfülle, oder ist es mir selbst kaum bewußte Strebung nach möglichster Vollendung der Gestalt, – morphologische Strebung des Stoffes, möchte ich es nennen, (sein Wille zur Form, der ihm innewohnt!) – daß ich die einzelnen »Stellen«, ohne es recht zu wollen, manchmal wieder und wieder schreibe, bis ich mir unter zehn Blättern eines erkiese, welches ich da niederlege?!

Schrieb ich sonst etwas (Aufzeichnungen etwa, oder Briefe) in der einen armselig herausgedrückten Art, in der ich es einmal herausgebracht hatte, blieb es stehen und es durfte so wenig daran gerührt werden, wie etwa ein wackliges Häuschen angeblasen werden darf.

Jetzt, – ich bücke mich und die Wellen meiner Quelle bleiben mir als schimmernde feste Kugeln in der Hand (wie es jener Brahminenfrau am Ganges erging, solange sie sündlos war), und ich werfe sie in die Luft und spiele mit ihnen und werfe sie wieder hinein in die Quelle und fange sie wieder und forme sie wieder, wieder, wieder.

Ich glaube, ich glaube, das kommt, weil der Stoff, das Element, aus dem ich diese Wellen greife, von so besonderer Art ist. Er hat den Zauber wohl in sich. Der Stoff.

Oder – sollte es an mir liegen? Hat ein Zauber meine Hand berührt?


Daß Kunst ohne Herz gemacht werden kann, ist eine von den Narreteien, die jetzt gerade im Kurs sind und durch geschickte Konstrukteure illustriert werden. Wie merkt man es einem noch so »geschickt« verfertigten Machwerk an, daß es eine fingierte Gestalt des Lebens ist, gleich jener Olympia in »Hoffmanns Erzählungen«. Ein Apparat bleibt ein Apparat, und sei es selbst eine noch so flott arbeitende Denkmaschine.

Der Dichter, unter allen Künstlern insbesondere, ist ganz »Herz«. Alles muß ihn »angehen«. Er lebt hunderttausendfach. Wie der Bäcker für andere backt, der Schuster schustert, der Zimmermann baut, der Maler sieht, der Musiker hört, so – lebt der Dichter für alle andern. Er lebt ihnen etwas vor, erlebt es bis an die Grenze der Erlebnismöglichkeit und läßt so die andern das Leben durch und durch leben, wie sie es allein nie könnten.


Ich denke in »Stellen«, seit ich diese Blätter führe. Das will sagen, in besonderer Form. Nicht nur ein Gedanke »fällt« mir ein, der sich dann eine Gestalt sucht, sondern die Gestalt selbst kommt mir plötzlich daher, in ihrer Besonderheit, ihn, den Gedanken, den Gott in sich tragend. Sie fällt mir in den Schoß, wie vom Himmel. Wie der Goldregen plötzlich fiel in der Danaë Schoß. Blüten regnet es, wie aus dem Füllhorn der Mythe, Blüten, die den Gott verbergen. Und die Gestalt, in der er erscheint, ist sehr wesentlich. Auf die Bereitschaft zur Empfängnis kommt es dann einzig an. Zur Empfängnis gerade dieser Gestalt. Denn wäre der Goldregen nicht gerade in der Danaë brünstigen Schoß gefallen, die kostbare Begierde des Zeus wäre verloren gewesen.


Mir ist, als hätte ich bisher Volapük gesprochen. Oder meinetwegen Esperanto. Irgendeiner allgemeinen Verständigungssprache mich bedient, bedienen müssen. Aber meine Sprache, die dieser Blätter, hatte ich sie jemals früher gefunden? Wer hat sie je von mir gehört, diese meine Sprache? Ähnlich klang's, Esperanto ähnelt ja allem.

Zu dir nur konnte ich meine Sprache, mein Deutsch reden. An dir nur es finden.

Ungeheuerlich, »exotisch« möchte anderen vielleicht erscheinen, was ich zu sagen habe und wie ich es sage. Dir, dir ist's – was mir dein Wort ist: heimlich, heimatlich traut. O nimmer könnte ich sie missen, diese meine Heimat. Und verlöre ich Dich, so würde mein Herz doch immer die Heimat begehren – im Herzen eines Menschen.


Mir ist, als hätte ich sie – dich – nur wiedergefunden.

Vorher – wo war es doch?

War es zu Eleusis – Priester? Oder zu Padua – Meister? Oder zu Ephesus – Opfernder?

Träumereien wagen sich zu dir.


Oft scheint es mir auch, als wären wir – einst, einst – zusammengesessen, ich, deine Frouve, und du, mein lieber Herr, und hätten uns damals schon, »am stillen Herd, zur Winterszeit«, süßen Trunk kredenzen lassen von ihm, der auch jetzt unser liebster Mundschenk ist, – mein Landsmann Vogelweid, Freund Walthahari. Er saß uns gegenüber, ein teurer Hausgast, ein schwerer Winterabend war's und »eingeschneit« war uns Haus und Hof. Und wir saßen alle drei auf der Bank um den Ofen herum und brieten da Äpfel.

»Saget mir ieman, waz ist minne«, sprach Freund Walther.

Und wir beide, du und ich, sahen uns an und schwiegen und lösten dann die Blicke voneinander und lächelten ihm zu, dem lieben Dritten.

»Liebe Frouve,« sagtest du, »Freund Walthahari fragt uns um Minne.«

»Geh' er hin und seh' er selbst«, sagte ich.

»Weiset mich zurecht, warum sie schmerzet so sehr?« fragte er und horchte gespannt.

»Minn' ist Minne, tut sie wohl«, sagte ich.

»Tut sie weh, so ist es nicht die rechte Minne«, sprachst du, mein lieber Herr, – »ich weiß nicht, wie man sie dann nennen soll.« Und zogest dabei, umsichtig und aufmerksam, wie es deine liebe Art ist, die Äpfel aus der Ofenröhre, die sich da zischend gemeldet hatten.

»Wenn ich richtig deute, was der Minne Wesen sei –«

»– so sprecht ja!« unterbrach die Frouve den Freund. »Sprecht ja! Minn' ist zweier Herzen Freude! Sprechet ja!«

»Teilen beide gleich, so ist die Minne da«, sprach mein lieber Herr und schob uns die Äpfel, die er fürsorglich geschält hatte, auf den blitzenden zinnernen Tellern zu, daß uns ihr süßer Dampf gar lieblich in die Nase stieg.

»Ihr wohnet manche Tugend bei, und dabei Heiterkeit«, meinte nachdenklich Freund Walther.

»Ihr folget große Treu' und dazu Seligkeit«, sprach mein Herr und blickte mich an.

»Minn' ist zweier Herzen Freude! Da spracht ihr recht, vieledle Frouve«, sagte Walther.

Ich lächelte arg. »Und tut sie weh, wie nennt ihr sie dann?«

»Die könnt' Unminne heißen ehr«, sagte mein Herr.

»Die will ich immer hassen sehr.« Walter sprach's treuherzig, kreuzte Bein auf Bein und biß herzhaft in seinen leckern Bratapfel.

»Es wär' uns allen eines Heiles wieder not«, meinte er, da wir alle drei speisten.

»Welcher saelden waere uns nôt?« fragte mein Herr.

»Daß man rechter Freude wie früher hätte acht! Nicht kann gefallen mir, zu meiner Freude Tod, daß die Freud' den Jungen jetzt fast Schmerzen macht

»Des spracht Ihr wahr und recht!« sagte mein Herr.

Und dann bat er: »Frouve, spielt uns ein Lied! Wolltet Ihr Eure Laute holen? Wir sängen dann alle, zum süßen Spiel.«

Langsam schritt ich durch das Gemach, die Laute zu holen, die fremdartig, seltsam an der Wand hing. Da hörte ich flüstern: »Wo holtet Ihr sie?«

»Vom Kreuzzug bracht' ich mir sie. Und was klingt sie mir deutsch!«

»Die Laute?«

»Die Frouve, die traute!«

Da kam ich wieder. Und wir sangen, am deutschen Herd, ein Lied von der heiligen Minne! – –

Und Freund Walthahari schrieb, was wir ihm sangen und rieten, am selbigen Abend noch nieder, mit gar zierlichen Zeichen.

Und überreichte mir, da am anderen Morgen sein Roß gesattelt stand und ihn uns entführte, ein Röllchen. »Nehmet ein armes Gastgeschenk, vieltraute Frouve!«

Und ich entrollte es, und da stand:

»Minn' ist zweier Herzen Freude.«

Da galoppierte er schon ferne durch den Schnee und winkte uns, die wir unter dem Tore standen, grüßend mit dem Hute zurück. – – –


Pietà war meine Liebe zu ihm.

Freude, hohe Freude ist meine Liebe zu dir! »In jede hohe Freude mischt sich ein Gefühl der Dankbarkeit«, schrieb Wagner an Mathilde. Und jede solche demütige, hohe Freude ist, so will es mir scheinen, religiös. Fromm macht diese Freudigkeit.


Johannes, du herzlicher Mensch! Die anderen, die küßten mich um ihretwillen. Du aber küssest mich um meinetwillen. So deutlich, so sichtbarlich, so unverkennbar ist dieses. Heiß und doch zart, wie samtene, rote Blüten, so fallen sie auf mich, deine Küsse, so werden sie über mich gestreut, wie Blüten, die aus unerschöpfbarem Füllhorn quellen und niederfallen und immer wieder neu sprießen und fallen, fallen auf das, dem der Segen bestimmt ist, und was Erwartung wurde, von den Füßen bis zu Lippen und Augen und Haaren.

Und um meinetwillen!

Denn dein Blick wird nicht dunkel, nicht abseitig, nicht von mir fort entführt zu jenen Mächten, die den Mann erschüttern, wie das Rollen der Lava den Krater.

Nicht ihnen gehört die Gewalt über dich. Sie lenken mir ihn keinen Augenblick fort aus seinem Bette, meinen goldenen Strom, der aus der Quelle deiner Augen stürzt und fließt, fließt in mich, sein williges Bett.

Um meinetwillen fließt er. Und um meinetwillen regnet es Blüten, rote, samtene Blüten.


Voll von Sehnsucht war Dimitri. Voll von Sehnsucht, – Süchten, mehr ein Süchtiger, denn ein Sehnender. Nicht wie man sich Sehnsucht vorzustellen liebt, kann man sich die seine denken: nicht die vom Morgen Umwobene, zum Tage Ahnende – die Schwebende, Lockende, – die die Seele in den Garten der Ekstase geleitet. Nicht solcher Art war seine Sehnsucht. Er, der doch ein Dichter war, hatte keinen Träumerblick. Und den des Wissenden, den hatte er noch weniger. Wie der Strom dahinrollt, so empfand ich seinen Blick, silbern, rollend, wohin? woher? Rollend, ohne Möglichkeit, innezuhalten.

Seine Sehnsucht hatte ihn, wie eine wilde Reiterin ihr Roß. Sie saß auf ihm – und peitschte und jagte und peitschte; keuchend, mit geblähten Nüstern, rollenden Auges, fliegender Mähne, jagt es dahin, unter den Hieben und Sporen der Furchtbaren, die seine Meisterin ist, das Roß, – das edle.

Und seine Reiterin und Meisterin drückt ihm die Sporen ins Fleisch. Wohin sie will, muß der Weg führen, nicht wohin, er, der Jagende, selbst will. Ein Geknechteter, rast er dahin. Und die ihn jagt, seine Sehnsucht, peitscht ihn – mit Begierde, spornt ihn, mit schneidenden Eisen der Not, die tief in sein Fleisch dringen. Und wo sie vorbeikommen, die beiden, diese Sehnsucht und dieser ihr Träger, da lassen sie hinter sich – Zerstampfung, Zerstörung, Schrecken.

Und doch, und doch – ein edles Roß, das also gejagte, ein unfreies, gehetztes, geknechtetes, und doch ein edles!


Johannes, wie ist deine Sehnsucht eine andere. Eine mütterliche, im Schoße tragende, wohnt sie dort, wo Harmonien aufklingen aus der Masse erstickter, verröchelnder, verzweifelnder, lästernder und betender Stimmen! Wo Stimmenvielklang sich entwirrt, löst, ordnet nach geheimem Gesetz. Nach den geheimen Vorgängen der Vermählung. Und sie, die Sehnsucht, empfängt und trägt und birgt, – daß etwas werde! Ordnung werde! So trägt sie – die Schönheit. Denn Ordnung ist Schönheit.

Und auf verbindende, aufklingende Töne horchend, ahnend, ihnen entgegenlauschend, gehst du, suchst du, sammelst du: Töne, – Töne zur Ordnung! Und mit dieser tönenden Beute beladen, schreitest du, ein Lauschender, ein Wegebahnender, von deutlicher Melodie geführt, dorthin, wo es klingt, wo sie wohnt – Sehnsucht.

Der von der Sehnsucht Gejagte und der von der Sehnsucht Geführte – es ist zweierlei.


Nie sah ich Ruhe wie die deine: feurige Ruhe, – »bezähmt, bewacht«.

Dieses ist die Ruhe, die die Unruhigen erlöst. Dieses die Ruhe, die die Darbenden speiset und die Gehetzten erquickt, wie der Schatten des festwurzelnden, blühenden, belaubten Baumes. Dieses die Ruhe, die die Griechen – träumten, in Marmor, durch dessen Geäder man die Leidenschaften fließen sah, ohne daß sie das Marmorgeäder zersprengten!

Dieses, was das Weib sucht, an des Mannes Brust.

Wie klingt es doch im Hohenlied:

»Wer ist die, die herauffährt von der Wüste und lehnet sich an ihren Freund?«

Fürwahr – aus einer Wüste fuhr ich herauf. Nichts war da, woran ich mich hätte lehnen können, mein Lebenlang, in dieser meiner traurigen Wüstenfahrt. Nun aber kann ich mich lehnen. Nun ich heraufgefahren bin. An meinen Freund mich lehnen.

»Wie ein Apfelbaum unter den wilden Bäumen, so ist mein Freund unter den Söhnen. Ich sitze unter dem Schatten, deß ich begehre, und seine Frucht ist meiner Kehle süße.«

»Stehe auf, Nordwind, und komm, Südwind, – und wehe durch meinen Garten, daß seine Würze triefen!«


Auch Dimitri wünschte, was jeder Mann wünscht: das Weib möge sich an ihn lehnen. Und ich wollte es so gern und tat es auch, und siehe – es bog ihn, verbog ihn. Denn kein starker Baum, ein tausendästiger Busch war er, mit seltsamen, üppigen Blüten und Beeren an seinen Zweigen, seinen tausendfältigen Zweigen. Der Stamm aber fehlte. Ein Gebüsch, dessen Gezweig sich schier undurchdringlich ineinander schlingt. Und lehnte man sich da hinein, so gab es nach und bog sich und verbog sich. Eine Schwächere könnte auch wohl an den Busch sich lehnen. Kleine Vögelchen auch auf diesen Zweigen sich wiegen und Schatten da suchen und finden. Und gar wohl wäre dem Busch dabei, denn er sehnte sich zu geben, nach Art der starken, festverwurzelten, hoch in den Stamm geschossenen, dichtbelaubten und befruchteten Bäume. Freilich von den Beeren des Busches dürfte kein Vögelchen naschen, es stürbe daran.

Wohl könnte dann dem Busche sein. Wäre da nicht eine Menschenseele in ihm, die von Sehnsucht gejagt, von Begierde gepeitscht, von Not gespornt ist und begehrt und ergiert, was nicht ihr zugedacht war. Eine Seele, deren eigene Ideale sie verwirren und verraten. Die heute vermeint, ein paar Vögelchen, hüpfend in ihrem Gezweige, wären das, was Freude brächte. Und die morgen das gefiederte Getier am liebsten hinauswürfe und von einer Herrin träumet – die sich neiget – und seine Blüten bricht, – daß die verwundeten Zweige – bluten.


Alles sah er am Anfang, was er, balde, ach balde, nicht mehr sah.

»Wie sie sitzen kann!« Und ich mußte mich vorsetzen.

»Wie sie sich lehnt!« – »Lehn' dich, bitte, lehn' dich da an die Portiere!«

Und ich »lehnte« mich. »So!« Und er stand verzückt und schaute.

Er diktierte mir auch oft. Ich saß am Schreibtisch, der in der Zimmerecke stand. An der anderen Wand, gegen die ich den Rücken kehrte, stand die Ottomane. Da lag er gewöhnlich, während er mir diktierte. Er hatte es gern, wenn ich für ihn schrieb. Und ich schrieb gern für ihn, ich, die ich meine eigenen »Skripten«, – wenn ich eine Schriftstellerin wäre, – niemals selbst abschreiben könnte. – –

Und er lag und diktierte, und ich saß und schrieb.

»Du – bitte!«

»Was denn?«

»Stütze dich mit dem linken Arm auf, nicht so, nein, nicht an die Wange, mehr in den Nacken die Hand, so, ans Haar!«

»Warum denn?«

»Damit ich doch deine kleinen süßen Finger sehen kann.«

Oder er trat an den Schreibtisch, während ich schrieb, und legte seine Hand, leicht, ganz leicht, auf meine schreibende Hand.

Liebende sollten sich eines als Merkmal dienen lassen: wenn nicht jeder von ihnen ununterbrochen die Berührung mit dem andern sucht, dann ist »es« nicht, oder nicht mehr, dann hat sie das »Wunderbare« verlassen – die Liebe.


Vergessen hatte ich diese Dinge mit Dimitri. Tot und vergraben waren sie, längst. Wie kamen sie herauf?

In meinem Herzen ist es lebendig geworden durch die große Sonnenflut, die hineinbrach. So lebendig, daß selbst – Gräber darin zu blühen beginnen.

Erinnerung: Grabblume du, wunderbar üppige, üppiger denn alle anderen Blumen, die auf gemeinem Boden sprießen. Erinnerung, Grabblume du, du aus Verwestem blühende, du stolzestes Lebenssymbol!


Ganz Anspruch, ganz Forderung war Dimitris Art in der Liebe.

Das Wunderbare: das ist die rastlose Forderung an sich selbst, »zu Liebe« dem andern.

Und was anders ist, denn das »Wunderbare«, verdient nicht den Namen Liebe.


Wie umklammert halten wir uns, immer.

Stunden vergehen, – wir lösen uns nicht. Das Abendbrot steht bereit, vor uns auf dem Tisch. Du füllst die Tassen, über mich hinweg. Du nimmst die Bissen auf die Gabel, für mich, für dich. Und es ist, als wären wir versunken in einander.

»Du ißt ja nichts«, sagst du. Und die Bissen werden mir in den Mund hineingedrängt. Ich kann schwer essen jetzt. Und dann auch vor Glück kann ich nur schwer essen.

»Jetzt wirst du den Kakao trinken«, sagst du.

Ich sitze und rühre mich nicht. Habe ja auch keine Hand frei, habe beide Hände um deinen Hals, und da gehen sie nicht fort.

Und du nimmst die Tasse in die eine und den Löffel in die andere Hand, und Löffel für Löffel wird mir an die Lippen geführt. Bis die Tasse leer ist.

Ohne daß dieses Geschehen dir und mir wie ein absonderliches erschiene.

Dieses ist das Wunderbare. Und was anders ist, was weniger ist, verdient nicht den Namen des – Geheimnisses. Nur das Wunderbare ist das Geheimnis.


Sommer ist es geworden über alledem.

 

Lieben heißt, sich ein Geschöpf ganz zu eigen machen. Es ganz und gar begreifen, das, was man also begriffen hat, begreifen wollen und sich freudig erfüllt (»gefüllt«) fühlen von dem Begriffenen. Jeder gleicht wahrlich dem Geist, den er begreift. Nun herrscht aber diese Gefühlsimpotenz unter den Heutigen. Diese »Schwäche«. Diese Bröckligkeit der Gefühle. Wie kann man da »begreifen«? Begreifen heißt ja eingreifen in ein anderes und es dann halten, umfassen. Um einzugreifen, muß aber erst eingedrungen worden sein in das, was begriffen werden soll. Eindringen aber kann nicht der – seelisch Geschwächte. Ganz und gar eindringen. Gibt es Halbjungfrauen, so gibt es auch Halbentjungferer. Die letzten Hemmnisse zwischen ich und du bringen sie nicht zum Fallen. Nicht vollständig werden sie mit ihrer Aufgabe fertig. Nicht gänzlich vermögen sie, sich des Weibes zu bemächtigen. Das Liebesverhältnis wird nicht komplett »konsumiert«. Die Präliminarien der Liebe und die ersten Präludien bewältigen sie, aber was dann kommt, der schönste, aber auch der schwerste Teil, er bleibt ungenossen, unbewältigt, unkonsumiert.

Physiologisch – da reicht es bis zur Orgie. Nicht solche Schwäche ist natürlich hier gemeint. Nein, nein, diese viel ärgere, diese Gefühlsimpotenz, die den Eintritt in die tiefsten Erlebnisse der Liebe den an ihr Leidenden für ewig verwehrt. Nur starke Menschen sind fähig, Liebesgefühle für ein anderes Geschöpf emporwachsen zu lassen, »aus der Tiefe zur Höhe«, sie durchzuhalten, sie zu behaupten.

Schwächlinge »versuchen« am liebsten immer wieder, fangen am liebsten immer wieder neu an. Don Juan ist der banalste aller Bösewichter. So sehr man ihn auch »dämonisch« machen will. Mir scheint er banal, dieser Liebhaber in die flache Breite. In die Tiefe lieben, das ist die Frage, die Kraftfrage.

Wissend trinken, das ist die Liebe. Synthese! Schwächlinge sind aber nicht synthetisch. Entweder sie trinken, dann vergessen sie das »Wissen«. Oder sie wissen, und dann verfurchen sie die Stirn und kommen vor lauter Gegrübel nicht zum Trunk.


»Wirken, füllen, fesseln.« Ich kann nicht »wirken«, und »fesseln« liegt mir so wenig, vorsätzlich zumindest, wie manchem Mann »erobern«. Nicht dieses aufs immer frische »Füllen« berechnete Wirken, nicht »Behandeln« ist meine Sache. Nur sein kann ich.

Von dir, Johannes, habe ich das liebe Wort gehört, daß du mich lieb hast, weil ich bin. Nie habe ich ausgeschaut, ob ich auf dich wohl »wirke«.


Heroische Menschen sind selten in diesem Zeitalter. Das sind die Menschen der starken Lebensgefühle. Gäbe es starke Freundschaft, so gäbe es auch mehr starke, unverbrennbare Liebe. Aber die Gefühlskraft gehört der Antike an. Anarchronistisch, wie ein Koloß der Antike, ragt heute ein Mensch solcher Art in diese Zeit. Vereinsamt steht er gewöhnlich.

Auch die heroischen Gruppen gehören der Antike an. Solche, die verbunden waren durch überpersönliche Gefühle, – Gefühle, die der Idee »Mensch« gehörten. Jene Gruppen meine ich, deren Historie die Renaissance ausgrub und unter deren Studium sie Humanismus wurde.


Brüderlichkeit – diesen Gedanken habe ich tief im Herzen! Liebe war meine Lebensquelle immer. Sah ich Freude über mich in den Augen anderer, so wurden sie hell davon, meine dunklen Augen. Und ich glaubte so gern an Geneigtheit, Freundlichkeit, an die Idee der Vertraulichkeit, des Wohlwollens von Mensch zu Mensch, der Brüderlichkeit.

O meine Brüder und Schwestern, – möchte doch dieser Glaube über euch alle kommen!


Aber wenig Wohlwollen erfuhr ich. Niemand sprach zu mir, wenn ich litt: »Sei geduldig! Sei friedlich! Sie wird dir wiederkommen, deine Seele. Denn du mußt wissen, sie ist nicht immer in voller Bewußtheit da, so eine Seele. Sie verläßt einen – scheinbar – manchesmal. Aber sie wird dir wiederkommen. Und dann mußt du sie in beide Hände fassen und sie tief und fest verankern. Und zu ihr sprechen: Bleibe da, sei ruhig!«

Niemand sprach zu mir, wenn ich froh war: »Menschenskind! deine hellen Augen freuen mich!«

Und doch und doch, – mein Glaube blieb leben und sprach zu mir, da ich tief daniedergedrückt war: »Einer wird kommen einmal, der deine Blicke trinkt. Einer wird vor dir stehen einmal und wird dich nehmen, imstande sein, dich zu nehmen, so wie du bist. Der Freund wird es sein, der Freund! Und lehnen wirst du dich an deinen Freund, die du heraufgefahren bist aus der Wüste, die du dich dein Lebenlang an niemanden ungestraft lehnen durftest, auf dieser deiner traurigen Fahrt. An ihn wirst du dich lehnen. Denn stark und ragend wird er sein und »auserwählt seine Gestalt, wie Zedern auf Libanon«.


Wenn ich sie auch an dir erlebte diese – Gefühlsverbröckelung? Was dann? Würde das Herz es ertragen? Dieses wehe, strömende, singende Herz?

Und du kommst und fragst: »Hast du mich auch noch lieb, Frowelin?« Und ich erwidere Dir: »Freund! Wenn Du mich auch verlässest – so bleibt mir – Gott!« – – –

Die Liebe, die Liebe! Was ist sie närrisch, was ist sie zweifelsüchtig! Die süße, die närrische, die furchtbare!


Wie willst du denn die Macht in deine Hand bekommen,
Ist sie so schwach?
Besinne dich, wie oft das Schicksal dir in tausend Trümmer
In dieser Hand zerbrach.
Es sollte wohl so sein.
Es mußte ihr entgleiten,
Was nicht geschaffen war, dich führend zu geleiten,
In dieser deiner Hand dir magisch aufzublinken,
Zur Heimat leuchtend, die du sahst von Ferne winken.
Doch siehe zu, daß dir die rechte Kraft in deine Hand nun kommt,
Sie taste nimmermehr, – sie wisse, was ihr frommt.
Und jene Sehnsucht, die dir grausam überstrahlte,
Was du umklammert hieltst zu unrecht in der Hand,
Die Sehnsucht, die jedwedem Irrtum unbeugsam
schmerzlich dich entwand,
Sie leuchte heller dir und wandle sich in Macht:
Daß du beharren darfst, wenn dir die Heimat lacht!

 

Ob ich diese Blätter unvernichtet ließe, wenn du mich enttäuschtest, Johannes? Mich aus allen Himmeln meines Glaubens rissest? Mein holdes Wunder, unser Wunderbares, verneintest, vernichtetest?

Was heißt enttäuschen? Wenn ein Mensch etwas begeht, was man ihm durchaus und niemals zugemutet hätte. Enttäuschen heißt vernichten.

Wenn du nun begingest, was ich dir niemals zumute, ja mit aller Phantasie mir nicht vorstellen kann, wenn du Lieblosigkeit an mir begingest? Wenn du die Todsünde begingest, den Mord an der heiligen Liebe?

Ließ ich die Blätter, die Blätter, die an dieser Liebe wurden, unvernichtet?

Lange habe ich darüber gerungen. Mir schien es, als zwänge mich eine Stimme, mich zu entscheiden. Als lebte ich in beständiger Einsturzgefahr, bevor ich mich nicht deutlich entschieden hätte in dieser unwahrscheinlichen Frage.

Und die Stimme, sie sprach zu mir, wie sie schon öfter mir aus dunkler Bewußtlosigkeit hell heraustönte: »Was immer geschehen mag mit dir, – rette mich, deine Stimme!«

Und die Stimme, die Stimme – sie ist in den Blättern!

Ich rette die Blätter, was immer geschehen mag mit – mir.

Wäre das, was sie entstehen ließ, nicht ein Wirkliches, ein Seiendes, wie ich dachte und wähnte, so wäre es doch so wirklich, so seiend, wie die Idee davon, die göttliche, die mir eingeborene, Eidea, gegen die das »Ding« selbst zum nichtigen Schemen wird, gegen die es erbleicht, wie ein fahles Abbild des einzigen wahrhaft Seienden.

Um der Eidea willen, der hohen, der ewigen, um jener »Idee« willen, die vernehmbar und sichtbar ward durch mich, – rettete ich die Blätter, was immer geschehen möge mit mir.


Es könnte ja geschehen. Wie, warum, weshalb – ich weiß es nicht. Aber geschehen könnte es, sicherlich. Es könnte geschehen, daß ich an Johannes erlebte, was ich an Dimitri erlebte, nur in milderem Tempo, sicherlich, und in sanfterer Tonart, sicherlich. Und tausendmal schlimmer, sicherlich. Denn dort war ein Wildes und Banges, was zusammen erlebt wurde, von Anfang an, hier ein frommer, seliger Glaube, an dem meine Seele klingend wurde. Es könnte dennoch geschehen.

Und daß ich mich hingab an das, was ich mit Johannes erlebte, nicht nur mit meiner weiblichen Person (das wäre keine so große Sache, das), aber mit meinem innigsten Glauben, mit dem Glauben des Stroms an seine Mündung, daß ich das ganze wunderholde Erleben für gültig nahm, über den Augenblick hinaus, der es entstehen ließ, daß ich mir alle Zweifelei so gern und so willig verscheuchen ließ, es wäre – eine maßlose Überhebung von mir gewesen. Überhebung eben das, was das ganze Glück war! Hybris wäre das gewesen, tief verhaßt den Göttern und von ihnen mit Vernichtung bestraft.


Das Wunderbare, das Wunderbare – es wäre aber doch. Hier in den Blättern. Würden sie mich denn nicht erdrücken, in Scham und Schmerz begraben, gerade diese Blätter?

Das Wunderbare – das war ja diese Hybris! Das war ja der bestätigte Glaube, der holde Glaube. Und seine Gestalt, des Freundes Gestalt, war es, die das alles trug. Was wäre es dann mit dieser Gestalt, mit diesem Glauben, mit diesem Wunderbaren?

Wie könnte ich es verantworten, die Blätter leben zu lassen?


Johannes, der Freund, der eins war mit der Gestalt, die ich liebte, – er, er löste sich dann von der Gestalt. Und mein Johannes, der, den ich in diese Blätter trug, näher wäre er der Göttlichen, der Idee, ihr, die uns wachsen macht über uns selbst hinaus, näher ihr wäre er dann, denn ihm, dem – andern.

Nicht mehr eins wären dann die beiden. Was sie in eins verschmolz war dies Herz, dies Herz. Menschenherz, das denkende, – dessen pochen kein Sphärengedonner übertönt. Mein Menschenherz, das bei jenem Auseinanderriß der beiden, die eins waren, wohl zerrissen würde, mitten durch.

Und das Wunderbare dieser Blätter? Es wäre dann für – Spätere. Um Spätere, Bessere, Stärkere, Schönere als wir, näher zu ihr zu bringen, zur Idee – dessen, was meine Hybris mir zuteil geworden wähnte.

Johannes, mein Freund, an dessen Gestalt ich mich tiefatmend lehnte, da ich heraufgefahren kam aus meiner Wüste, du, woher kommen diese Noten in mein Lied? Wirst du wohl über den von dir fort und der »Idee« dafür näher rückenden, über den also »idealisierten« Johannes dein Lachen finden, – dein gutes, gutes Lachen?


Ein Glaube, dem ich einen – Opferstoß entzündete.

Und dem ich einen Tempel baute.

Wenn sie mich trotzdem erreichte, die – Verödung? Und da ich in diesem Erleben gewesen, wär's eine, wie noch keine war. »Die ungeheure Zone der Finsternis, des Schweigens und des Eises.« So nennt es Maeterlinck.

Sie wäre es, die mich erwartete.

Den Gott verjagen und den Tempel – lassen?

Und – aus ihm heraustreten – und meine Straße gehen – und führte sie – – –


Du tadeltest einmal, scherzend, daß deine kleine Welle nicht genug an den großen Ozean denke, dem sie angehört. Doch, doch. Unrecht tatest du der kleinen Welle. Mit hunderten weißer Schaumfüßchen krabbelt so eine Welle ihrer Küste zu. Wichtig, eifrig und unbeirrbar tut sie das. Solange sie Welle ist, solange sie diese ihre Wellengestalt nicht verloren hat, an eine andere größere Gestalt, solange sie nicht aufgelöst wurde, in einer größeren Einheit, muß sie, gerade gemäß ihrer Rolle im großen Ozean, die Rolle ihrer winzigen Einheit mit großem Eifer und großer Wichtigkeit durchführen. Würden nicht Milliarden Wellen mit hunderten weißer Füßchen ihr kleines Ich eifrig dahin tragen, wohin es will (oder muß?), keinen Ozean gäbe es dann.

Du weißt, du verstehst, was deine Welle meint?

Tief unter ihrer wilden Brandung trägt sie, die Welle, ihre Kraft. Ihre Kraft – zu fließen. Sich aufzulösen, zu vergehen, wenn es sein soll. Ihres Elementes ist sie. Das weiß die Welle, glaub' es! Tief unter ihrer Brandung, unter ihrem Schaumgekräusel, das ihr Fuß wird und sie zu ihrer Küste trägt, weiß sie sich ihres Elementes.

Du verstehst, Johannes?

Erinnerst du dich der Worte Lenaus, aus jenem Buch, das seine Briefe an Sophie sammelt?

Sie fragte ihn, was mit ihm würde, wenn sie ihn nicht mehr liebte. Und er suchte und antwortete:

»O still – ich könnte sonst erschrecken,
Könnt' ich den Winkel nicht entdecken,
Der unzerstört für Gott verbliebe,
Beim Tode deiner Liebe.«

Unter der Brandung – weiß sich die Welle ihres Elementes.

O still – ich könnte sonst erschrecken ...


In einer Ode von Walt Whitman heißt es: »Kommt dir, Träumer, denn kein Gedanke, daß dies alles nur Maja sein könnte und Täuschung?« Maja ... Nicht anders konnte die heißen, von der diese Blätter erzählen. Aber die lebende Maja weiß von keiner Täuschung dessen, – der ihrem Herzen Treue hält! Und bist nicht Du es, so ist es der Geliebte ihrer Sehnsucht und sie gehört ihm – für Zeit und Ewigkeit.

Warum, warum sind diese Gefühle über mich gekommen? Woher? Was fiel mir da ins Herz und wuchs und trieb darin, bis es herausquoll mit seltsamen, düsteren Tönen?

Wie ein Saitenspiel ist dieses mein Herz. Und mit lebenbebenden Händen greife ich selbst hinein, mitten hinein. Und was mir da unter diesen bebenden Händen, die nicht ruhen können, die nicht los mehr kommen vom Instrument, geheimnisvoll gezwungen zum Spiel, erbraust, – o großer Gott, es ist ein volles Lied. Ich fühl's an der Bewegung der Saiten dieser meiner wunderbaren Laute. Die Symphonie erbraust.

Warum geschah es mir, – daß dieses Dunkle mir hineinklingen mußte in mein Lied? War es vielleicht, damit das Lied – ein echtes Menschenlied? Ward es deswegen über mich verhängt?

Sym – phonie! Phoné – die Stimme, der Ruf. Stimmenzusammenklang!

War es, daß kein Ruf, keine Stimme fehle, die dem Leben gehört?

Und in die jubelnden Passagen der Violinen und in das Geschmetter der Hörner mußte es hineintönen – wie die Stimme der Dunkelheit:

»So klopft das Schicksal an die Tür.«

Und ich greife und greife die Saiten. Und sie zucken und schwingen und tönen.

Und das Blut rieselt unter meinen spielenden Händen und strömt dahin, mir zu Füßen.

Fließe, fließe über die Erde, die braune, die geliebte, laß dich trinken von ihr und wachse auf aus ihr in glühender Glorie. Verströme mein Blut, und verströmte mein Leben darob.


Du bliebst bei mir, die Nacht. Sommerlich war sie. Verstrich und verblich so schnell. Wir merkten es kaum, da dämmerte es schon. Da drang es in sie, in die Nacht, lichter und immer lichter. Und es kündete ihn, den Tag, bevor er sich selbst noch deutlich war, wie mit Flötenton, kündete es ihn, – horch!

Heller als er selbst noch war, der Tag, drang es in ihn: tirillili.


Die Nacht verstrich. Es drang in sie
So flötenfroh, es kam vom Hag:
Tirillili – tirillili.
Ein Vogel rang um Melodie.
Auf grauen Wellen trug der Tag
Zum Bett, wo ich im Arm dir lag,
Den Amselschlag
Und sie,
Die heller war, die Melodie:
Tirillili – tirillili.
 
Die Nacht verblich. Es drang in sie,
So wachensfroh, ein Flüsterwort:
»Ich seh' das Licht,
Das stärker denn der bleiche Tag
Und heller denn der Amselschlag
Dir aus den Augen bricht
Und eindringt in den bleichen Tag,
Wie sie,
Die heller war, die Melodie:
Tirillili – tirillili.«
 
Die Nacht entwich. Der in sie drang,
So flötenfroh, der Amselschlag,
Verklang im Hag.
Das Bette stand im Morgenlicht,
Und dein Gesicht und mein Gesicht
Blickt in den Tag,
Den jüngsten, den die Welt gebar,
Und trug in ihn, die heller war,
Die unser war, die Melodie:
Tirillili – tirillili.

Da liegt es vor mir, – ein Lied. Ich finde es hier und mich dabei, eine Feder liegt daneben und die Blätter, die Blätter vor mir. Es wird wohl so sein, daß ich es schrieb. Aber wie, wie geschah es?

Wie drang in das, was dämmerhaft, – »die heller war, die Melodie?«


»Es drang in sie.« Das Eindringende: das Bewältigende, das Stärkere. Der Tag, das männliche Prinzip, dringt in sie, die Nacht. Aber stärker und heller noch als er, ist, was der »Stimme«, des Vogels Stimme, da nach Melodie sie ringt, entquillt. Sie, die Melodie, überklingt den Tag.

Aber heller noch als diese Melodie, um die der Vogel rang, ist jene andere: die aus den Augen bricht als Licht! Menschenbewußtheit, deutlichste Melodie der Menschenstimme, – anima.

Sie überdringt, überklingt, überwältigt alles, alles, was dämmerhaft. Und dringt ein, zeugend.

Und siehe, – ein Paar auf dem Lager, ein Menschenpaar: Ursymbol des Gesanges von der Begattung des Dämmernden durch das Lichtere.

Näher, näher ist das Weib dem Dunkel, denn der Mann. Näher dem Kreißenden, aus dem – Welt ward, da die Stimme hineindrang, die das Licht befahl.

Es drang in sie, die Nacht, da sie als Chaos kreißte, – die heller war: die Melodie, – der Logos. Da ward sie Form und – Welt.


»Es drang in sie.« Wie drang es in mich, das Licht, das zeugende?

Woher?

Es klang in mir, und ich sang. Woher aber drang es in mich, so licht, so zeugend?

Mich schaudert.

Nicht wußt' ich, Johannes, da ich die Weise, die sich schlingende, in sich selbst eindringende, niederschrieb, nicht wußt' ich da, Johannes, – ihren Sinn.

Verstehe, verstehe, – Geheimnisvolles, Unsagbares: ich wußt' ihn nicht, den Sinn, der aus mir brach und sonnenklar jetzt niederliegt im Lied!

»Es drang in sie,
die heller war, – die Melodie.«
Es drang, woher?
Und wer ist – er?

Und sonnenklar darniederliegt – ein Sinn: Urgeheimnisse nahe. Und sonnenklar, schuf er, der Sinn, sich selbst die Form. Die Form, die wieder durch sich selbst schon – deutet, auf ihn, der sich sie schuf.


O sonderbares Geschehen. Ich schrieb das Lied nicht einmal, ich schrieb es mehrere Male. Und immer als ein anderes und doch dasselbe. Der Stoff, der Gedanke, der Gott kam in mehrfacher Gestalt. Ich hatte es hingeschrieben und dachte damit fertig zu sein. Aber siehe: der Vogel im Kopf sang weiter. Wie ohne mein Zutun. Er sang und sang dasselbe Lied, in anderer Tonart, und ich mußte ihnen nach, diesen Tönen.

O meine Lieder, ihr meine beschwingten! Werdet flügge, ihr Füße, werdet erbeutend ihr Hände, ihnen nach, meinen Liedern, ihnen nach!


Als ich mit Dimitri war, sagte er oft: »Singe doch! singe!« Und ich würgte und preßte an meiner Stimme, und nichts kam mir aus der Kehle, es sei denn ein Gekrächze. »Du hast keine Kraft«, sagte Dimitri. So war es. Unminne zerfraß meine Kraft!

Nun habe ich Kraft. Stark ist meine Stimme. Voll klingt mein Lied. Und das Lied, das Lied, das ist ja gerade – das Lied von dem Gesange! Was ich an ihr, der Stimme, erlebte, künde ich mit ihr! Und die vielen Lieder, die mir aufspringen, – ein einziger Gesang sind sie nur, tief in sich verbunden: der Gesang, den alle Singenden noch schuldig blieben, bis zum heutigen Tag.

Ich – bezahle. Für mich bezahle ich und alle die, die jemals sangen, denen Verkündigung ward, gleich mir. Für alle die, denen Gesang gegeben, bezahle ich, mit diesem Lied von der Stimme, meiner Stimme!


Ich weiß, ich weiß: eine Hand kann fallen auf mich, eine schwere Hand. Ein eisiger Hauch kann mich anwehen, plötzlich, von irgendwo, aus dem Geheimnis. Ein dunkler Blick kann mich treffen, aus einem Auge, das mir unsichtbar.

Und Anima, die tönende, verstummt, verfällt, versinkt mir, mit einem Schlag.

Es kann geschehen.

Aber ich will geopfert haben. Will entzündet haben den Stoß, für die hohe Zeit, da mir die Stimme, die eigene, einzige, mir selbst gehörende Stimme, – klang, ohne Unterlaß, vom frühen Morgen bis in den Schlaf der Nacht, da sie mir keine Stunde schwieg! Da ich außer mir war, außer dem Staube, ekstatisch, tönend, schauend. Fromm will ich mich dem Gott überlassen.


»Die Frage: Woher hat's der Dichter? geht auch nur aufs Was, vom Wie erfährt dabei niemand etwas.« Goethe.

Und wenn es doch gelänge, dieses zu künden? Dieses »Wie«?

Doch vielleicht einem Dichter gelänge?

»Gelänge« ist falsch. Es kann nicht »gelingen«. Geschehen muß es, mit ihm geschehen.

Und wenn es mit einer – Frau geschähe?

Aus dem Geschaffenen selbst, sich offenbarend – das Schaffen. Aus dem Gesange selbst – die Stimme!

Wenn es – geschähe?

Eine Antwort dann für Goethes fragenden Ruf?

Wenn ihr klänge Amselflöte,
Hell ins Dämmergrau,
Wenn ihr sprühte Morgenröte,
Flammend aus dem Tau,
Wenn sie, opfernd, im Gebete
Ein Gesicht erschau',
Eine Antwort dann für Goethe
Fände eine – Frau?

 

Eine Traumgestalt trat zum Sokrates und sprach zu ihm: »Mach und treibe Musik!«

Er aber deutete den Traum dahin, daß die Philosophie die vortrefflichste Musik sei.

Viel – Musik kommt mir von dir, du Musiker!

Von Unendlichkeit sprachst du mir. Ein Begriff ist's, über Menschenmaß. Diese Erde – eine Winzigkeit, gegen die ein Stecknadelkopf ein Kosmos erscheint.

Und ich, und ich?

Welten über Welten, Milchstraßen, Sphären, Sonnensysteme mit ihren Trabanten, unendlich, unermeßlich, unvergänglich.

Und ich, und ich?

Ich – denke sie. Ich bin das denkende Prinzip. Und nicht nur dies: Ich bin die Wärme. Die einzige Wärme im All – ist mein Menschenherz.

Kalt ist die Welt, kalt die Sphären, kalt die brennende Sonne. Allein das Menschenherz hat Wärme.

Das Herz ist die Wärme. Und die Wärme ist Helle. Und Helle ist der Gedanke. Und der Gedanke ist die Stimme, die rufende!

Und die Stimme ist Gott.

Das Herz ist Gott!

Und ich, ich Kreatur dieser Erde, gegen die, gemessen an der Unendlichkeit, ein Stecknadelknopf ein Kosmos ist, – ich trage es in mir, das Wärmende, Hellende, Rufende! Durch das die Sphären gedacht werden und die Milchstraßen – und der Amselschlag, am jüngsten Morgen.

Hörtest du das Tirillili?

Unser war es. Dein und mein. Unser Herz dachte es, wie es die Sphären denkt. Kein Gott nimmt uns das Tirillili. Kein Sphärengedonner übertönt's.


Und weh tut es oft, ob seiner großen Macht, mein – Herz. Es preßt und zieht sich oft so sonderbar zusammen – Johannes?

Wir wollen ja reisen. Es wird gut sein, wenn wir reisen. Das Herz –

Warum zittere ich so, wenn ich an die Blätter denke? Wenn wir reisen, ende ich die Blätter. Dann – singe ich nur noch, mit jener Kehlenstimme.

Zwei? Eine?

Ich schaudere, wie sie sich kündet, wie mir geschieht durch sie, anima mea.

Wir müssen reisen, Johannes. Das Herz –


Du spieltest mir gestern Wagner. Und ich versuchte meine Stimme, bis zur Brünhildhöhe. Und sie wuchs und wuchs mir und floß mit diesen Tönen fort. Und du stauntest, selig, daß es mir gelang. »Und das wird alles noch wachsen«, sagtest du, im Spiel.

Ich aber – sang:

»Geh hin zu der Götter
Heiligem Rat!
Von meinem Ringe
Raun' ihnen zu:
Die Liebe ließe ich nie,
Mir nehmen nie sie, die Liebe!«

Den Göttern wollte ich opfern. Daß sie uns gnädig vor Dämonen behüten mögen. Denn mir war immer bange vor Dämonen.

Und da entzündete ich diesen – Stoß.

Die Asche dir!

Hier stehe ich, – eine heidnische Priesterin. Eine »Stimme« habe ich gehört, die mir zu opfern befahl. Mit eigener Hand zu verbrennen, mein Eigenstes.

Und ich tue, wie mir geboten wurde.

Hier stehe ich, eine heidnische Priesterin! Gefäß war ich, in dem der Gott wohnte.

Herbei den Stoff, der verbrannt werden soll, den kostbaren Stoff: diese verrauschten Liebesjahre.

Herbei die Opfer, die Menschenopfer: meine Leichen.

Und nun: Feuer daran, mit eigener Hand.

Nicht gezittert, Priesterin! Tue, was deines Amtes ist!

Und ich werfe sie hinein, die brennende Fackel, mitten hinein, mit eigener Hand.

Wild und prasselnd schlägt es auf. Und Stimmen höre ich aus dem Brande:

»– – – Priesterin, – nahe, nahe bist du den Flammen! Siehe zu, daß sie nicht dein Gewand ergreifen!«

Und wenn sie es ergriffen?! Wäre es denn ein Priestergewand, ein geheimnisvoll geweihtes, gefeites, wenn sie es verzehren könnten, diese Flammen?

Und hier in dieser opfernden Hand halte ich den Becher, voll bis zum Rande, den vollen, wahrlich übervollen Becher meiner Leiden. Ich gieße ihn aus, auf Opfer und Altar.

Und hier – die Lust, die ich genossen habe, ich streue sie hinein in die Flammen, wie reifes Getreide.

Seid ihr's zufrieden, Götter?

Da war mir's, als hörte ich aus dem Brande ein wildes und doch heiliges Lied: ein christliches Lied, aus dem heidnischen Kult, ein fanatisches Büßerlied, wie die zornigen Apostel der Heilsarmee es den irdisch Versuchten in die Ohren gellen. Es dröhnte mir entgegen aus dem wilden Geprassel: »Rette, rette deine Seele!«

Und bange starrte ich in das Flammenmeer.

Und da – siehe, – da, was ist dies? Was flog da auf aus der Glut? Flammengerettet, schmetternd, alle Stimmen überschmetternd, übertönend, die Stimme, anima, mein Phönix, mein unverbrennbarer!

Werft mir Räucherwerk in die Flammen, daß das Opfer den Göttern gefällig sei. Wie es zischend hineinfällt und sie sprühen macht. Und wie mir alles, alles verbrennt und verglüht. Keine Schlacke bleibt mir im Opferstoß. Dämpfe, weiße Dämpfe steigen auf aus der Lohe, Dämpfe, die in den Lüften immer reiner, immer klarer und klarer werden.

In die Höhen entführt, was ich irdisch verbrannte!

Wohl mir: die Götter sind gnädig.

 

Ich habe verbrannt. Ich habe geopfert. Ich habe getan, was meines Amtes war, was mir geboten wurde.

Und nun, nun?

Mein Unverbrennbares weiß ich gerettet.

Und nun, nun?!

Ach, die frohen Noten da in dem Lied! All die frohen Noten, die da noch die Köpfchen heben und herausspringen möchten aus dem Lied, – ich glaube, – Scherze, Scherze.

Was wird kommen? Das Singen, das große Singen, Johannes, und das frohe, verfolgende Jagen und das Tragen dabei, und in alledem, – dazwischen, darüber, darunter, – das Strömen der gewaltigen Welle! Blutrot war, ist sie gefärbt, diese Lebenswelle.

Denn von meinem Herzen nährte sie sich.

Alles, alles aus meinem Herzen: mein Singen, mein Lieben, mein Sein.

Und dieses Herz, von dem das alles kam, kommt, das Herz, – es zieht, es preßt sich mir oft so sonderbar zusammen, es wird nicht mehr wollen, Johannes, nicht mehr können, wenn das Letzte gegeben ist, was ich noch schuldig bin, wenn ich herausgerettet habe aus mir, – was ich noch schuldig bin.

Es wird dann nicht mehr können, das Herz, – Johannes!

Und die Stimme, die Stimme, auch sie – was soll nun noch kommen mit ihr, von ihr?

Ein großer Gesang pflegt über manche Vögel zu kommen. Nicht nur über Schwäne, auch über die farbigen, sonnenfrohen, indischen Vögel, die Richard Wagner hielt und von denen er Mathilde erzählte. Ein großer Gesang kommt über sie und bricht heraus, strömt, strömt.

Und mit ihm verströmen sie ihr Leben. Denn davon nährte sich das Lied, und nahm es mit, da es verklang.

Unter meinen Fenstern, der Friedhof, er steht jetzt nicht in Blüte, – es kommt ja jetzt der Herbst. Und wir wollen nach Italien, zur Sonne, wallfahren, opfern.

Wenn es, wenn ich – wenn es geschehen sollte, – nicht trauern, niemals trauern! Es bleibt ja von mir – all mein Gesang und all meine Seele ...

Und die Blätter, die Blätter, die bleiben auch.

Und du, du wirst sie flattern lassen, in alle Winde, in alle Weiten, denn Majas Stimme ist darin, die du so sehr liebtest und die du gehört haben wolltest, über alle Weiten!

Und dann, dann?

Nicht trauern, wenn es geschieht, nicht, nicht trauern.

»Daß er treu das Geliehene hüte!«

Das Geliehene – es bleibt ja.

Die Vögel, die so verstarben, waren sie denn nicht die wahrhaft Geretteten?


Werde ich doch leben?

Entrissen werden von deinen geliebten, liebreichen, pflegenden Händen, allem, was mich bedroht, allen Dämonen entrissen werden, von deinen starken, liebreichen Händen, heil gepflegt, noch einmal, heil gepflegt von dir?

Oder muß ich vergehen an dieser Lebenswelle? Vergehen, bevor sie ein einziges Mal noch ebbte, – es wäre ein seliges Sterben.

Muß ich vergehen – weil das Lied so stark war?

Die Melodie, die Melodie, – wer lieh sie mir doch? Wer war denn da in mir? Wer lieh, – wer war – wie kam – wie war das doch, Johannes, das mit der – – – Stimme?

Eine geheimnisvolle Doppelgeschichte ....

Wie – war das doch – Johannes?

Urteile der Presse
über die Werke von Grete Meisel-Heß:

Über »Die sexuelle Krise« schreibt Karl Jentsch in der »Zeit« in Wien: »Schon dieser erste Teil ist ein großartiges Werk. Großartig durch die erschöpfende Darstellung aller erdenkbaren und wirklich vorkommenden Seelenzustände, die das Geschlechtsleben verursacht. (Die Verfasserin kennt auch die Psyche des Mannes auf das genaueste und wird ihr gerecht, was sie mehrfach in Gegensatz zu bekannten Forderungen der Frauenrechtlerinnen bringt.) Großartig auch durch die naive Kühnheit oder kühne Naivität, mit der sie das Intimste ausspricht, die aber, eben als Naivität einer edlen und reinen Seele, nichts Anstößiges hat und jeden Versuch einer Verdächtigung entwaffnen muß.«

Über »Das Wesen der Geschlechtlichkeit« urteilt u. a. Professor Gramzow: »Schon der Titel deutet die gewaltige, umfassende Aufgabe an, die hier in Angriff genommen ist. Aber nicht nur riesenhaftes Wissen liegt ihrem Buch zugrunde, sondern auch eindringende Denkkraft .... Man möchte vermuten, daß sich bodenlose Tiefen des Erlebens hinter dem Buche auftun. Kein Teilproblem der sexuellen Frage bleibt unerörtert. Nicht nur der Zusammenhang der Formen und Forderungen des sexuellen Lebens mit allen Angelegenheiten der Gesellschaft, sondern auch die Verschärfung der sexuellen Krise durch den Weltkrieg erfährt eingehende Behandlung .... Mit größtem Wahrheitsmut wird überall das letzte Wort der erreichten Erkenntnis ausgesprochen. Mir scheint es Bewunderung und Dank zu verdienen.«

(»Zeitgeist« des Berliner Tageblatts.)

Franz Graetzer: »Daß das Werk ein monumentales Kunstwerk geworden ist, daß es auf keiner Seite das Dichtertum seiner gedankenreichen Verfasserin verleugnet, ist dem Kritiker, der die Gesamterscheinung der – vielseitig bedeutenden – Frau im Auge behält, wesentlich. Wer in wesentlichen sachlichen Voraussetzungen anderer Meinung ist, wer so manchen Teil der großen Sexualsoziologie, die sie gibt, nicht restlos anzuerkennen vermag: der gerade legt Wert darauf, vor alle Einschränkungen und Einwände den Ausdruck seiner unbedingtesten Bewunderung und Verehrung gegenüber der hier vollbrachten Leistung und der genialen Persönlichkeit, die sie schuf, gesetzt zu wissen .... Das Werk weitesten Kreisen und allen Schichten unserer Zeitgenossen zugänglich und vertraut zu machen, sollten alle einflußreichen Deutschen, Parlamentarier, Ärzte, Erzieher, Kirchenfürsten und Künstler sich zur Pflicht machen! Die unmittelbarsten positiven Werte des Buches empfehlen sich allen Einsichtigen von selbst

(Exzerpta medica.)

Danziger Zeitung: »Das Buch ragt leuchtturmartig aus der Masse der Sexualliteratur hervor ....«

(Professor Dr. Kafemann.)

Der März: »Ihre Darlegungen lesen sich, wie sie geschrieben sind, »in einem Zuge«; sie ermüden trotz strenger Wissenschaftlichkeit nirgends ....«

(Otto Corbach.)

Über »Die Bedeutung der Monogamie« schreibt Professor Dr. Silbermann in der »Volkskraft«: »Alle Vorzüge der Einehe und all die Nachteile der Polygamie hat mit beredter Zunge unter Verwendung reichen und interessanten Materials Grete Meisel-Heß hierin geboten. Die Verfasserin hat in ergreifender Weise das dämonische Unheil ausgemalt, mit dem die Untreue Ehe und Familie schlägt. Ein »Hohes Lied« der Einehe wird angestimmt. Akkorde erhebenden Glücks paaren sich mit den finsteren Melodien unheilvoller Weissagungen. Die Art der Darstellung erinnert an Schopenhauer. Gleich ihm entwickelt die Verfasserin in ihrer ausführlichen Schrift nur einen einzigen Gedanken, den sie aber nach allen Seiten hin wendet, aus allen Ecken und Winkeln beleuchtet, bis nichts mehr an ihm dunkel und unklar bleibt. Aus Kunst, Wissenschaft, Literatur schafft sie reiches Material für und gegen ihre These herbei. Keinen Einwand läßt sie unerwidert, keine Behauptung ohne logischen oder materiellen Beweis.«


Alle drei Werke sind zu beziehen
durch jede Buchhandlung oder den Verlag
Eugen Diederichs, Jena.

Neuerscheinungen 1919

Die Türme des Schweigens
Phantastischer Roman aus Indien von
Maxim. Maulbecker

Das Heiratsgesuch
Heiterer Roman von
Marianne Westerlind

Seegespenster
Ein Nordseeroman von
Anny Wothe

Was ist Liebe?
Erotisch-sozialer Roman von
Arthur Zapp

Preis jedes Romans
 In Geschenbd. 6,50 Mk., broschiert 5,– Mk. 

Die Lore auf dem Dach
Heiterer Roman von
Fritz Skowronnek
In imit. Lederband 4,50 Mk.

Wie sie lieben
Zwölf Geschichten aus dem Leben von
Fr. W. v. Oestéren
Mit mehrfarb. Umschlag von Lutz Ehrenberger
Kartoniert 2,80 Mk.


Durch alle Buchhandlungen zu beziehen

Sehr geeignet zu Geschenkzwecken!

Sterngucker
Roman von
Max Geißler
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10. Tausend. Broschiert M. 5,–; gebunden M. 6,50

Roda Roda:
Das Rosenland
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Das umfangreiche Buch bringt neben einer kurzweilig geschriebenen Geschichte des Bulgarenvolkes meisterhaft gelungene Übersetzungen seiner hauptsächlichsten Literatur. Der Leser ist erstaunt über die Schönheit und dichterische Fülle, die sich ihm dabei offenbart. Wir lernen durch das Werk die ganze Wesensart des bulgarischen Volkes kennen.

In farbenprächtigem Originaleinband M. 8,80

Die Nebenehe
Eine unmögliche Geschichte von Hedda Vernon
Mit Einleitung von
Artur Landsberger
Reich illustriert, mit farbigem Titelbild, kartoniert M. 4,–


Gebrüder Enoch, Verlagsbuchhdlg., Hamburg I

Hinweise zur Transkription

Das Originalbuch ist in Fraktur gesetzt.

Darstellung abweichender Schriftarten: gesperrt, Antiqua, fett.

Im Originalbuch tragen die Kapitel jeweils zu Beginn und Ende einfachen floralen Schmuck, auf den in dieser Transkription verzichtet wurde.

Die Überschrift "Erster Teil." ist im Originalbuch nicht enthalten und wurde in dieser Transkription eingefügt.

Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, mit folgenden Ausnahmen,

Seite 16:
im Original "aufgelöst haben in sich zu, lauter Stimme"
geändert in "aufgelöst haben in sich zu lauter Stimme"

Seite 28:
im Original "der vollzogenen Tatsche unserer Vermählung"
geändert in "der vollzogenen Tatsache unserer Vermählung"

Seite 47:
im Original "Die Fremdenwaren meist Russen"
geändert in "Die Fremden waren meist Russen"

Seite 51:
im Original "Le regard, Le sourire? La voix?"
geändert in "Le regard? Le sourire? La voix?"

Seite 55:
im Original "L'ombro di Carmen"
geändert in "L'ombra di Carmen"

Seite 81:
im Original "Die sehr hellen Hare fielen"
geändert in "Die sehr hellen Haare fielen"

Seite 93:
im Original "In alles hineinblicken"
geändert in "»In alles hineinblicken"

Seite 108:
im Original "welch' eine Fülle war in in dieser Zuversicht"
geändert in "welch' eine Fülle war in dieser Zuversicht"

Seite 132:
im Original "Man wußte sich hineinsetzen"
geändert in "Man mußte sich hineinsetzen"

Seite 143:
im Original "wenn ich die Augen ausfchlage"
geändert in "wenn ich die Augen aufschlage"

Seite 145:
im Original "sich bei Licht, als gewöhnliche Gegenstände entpuppen"
geändert in "sich bei Licht als gewöhnliche Gegenstände entpuppen"

Seite 151:
im Original "Holla! Hussa! hussa!"
geändert in "Holla! Hussa! Hussa!"

Seite 154:
im Original "Geheimnisvollerers"
geändert in "Geheimnisvolleres"

Seite 158:
im Original "wie ich es gefürchtet hatte"
geändert in "wie ich es gefürchtet hatte."

Seite 162:
im Original "Feilich. Darum müssen sie einander"
geändert in "Freilich. Darum müssen sie einander"

Seite 165:
im Original "sich gelasseu darein ergeben"
geändert in "sich gelassen darein ergeben"

Seite 196:
im Original "Eine Erdgeheimnisse – Wissende ist sie."
geändert in "Eine Erdgeheimnisse-Wissende ist sie."