The Project Gutenberg eBook of Heiraten: Zwanzig Ehegeschichten

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Title: Heiraten: Zwanzig Ehegeschichten

Author: August Strindberg

Translator: Emil Schering

Release date: November 30, 2021 [eBook #66847]

Language: German

Credits: Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This ebook was created in honor of Distributed Proofreaders' 20th Anniversary. It was produced from images generously made available by The Internet Archive.

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK HEIRATEN: ZWANZIG EHEGESCHICHTEN ***

STRINDBERGS WERKE
DEUTSCHE GESAMTAUSGABE

HEIRATEN

AUGUST STRINDBERG

HEIRATEN

ZWANZIG EHEGESCHICHTEN

VERDEUTSCHT VON
EMIL SCHERING

1920
GEORG MÜLLER VERLAG MÜNCHEN

Deutsche Originalausgabe gleichzeitig mit der schwedischen Ausgabe unter Mitwirkung von Emil Schering als Übersetzer vom Dichter selbst veranstaltet. Geschützt durch die Gesetze und Verträge. Alle Rechte vorbehalten. Den Bühnen gegenüber Manuskript. Copyright 1909 by Georg Müller Verlag, München. Gedruckt im Münchner Buchgewerbehaus M. Müller & Sohn, München.

32. bis 36. Tausend.

Asra

Als die Mutter starb, war er dreizehn Jahre alt. Es war ihm, als habe er einen Freund verloren, denn während des Jahres, in dem die Mutter krank zu Bett lag, hatte er ihre persönliche Bekanntschaft gemacht, was Eltern und Kinder so selten tun. Er war nämlich früh entwickelt und hatte einen guten Kopf; er las viel mehr als die Schulbücher, denn sein Vater, der Professor der Botanik an der Akademie der Wissenschaften war, besass eine gute Bibliothek. Doch die Mutter hatte keine Erziehung genossen, sondern war in ihrer Ehe die erste Haushälterin des Mannes gewesen und die Pflegerin der vielen Kinder. Als sie jetzt mit neununddreissig Jahren bettlägerig wurde, nachdem sie ihre Kräfte durch die vielen Geburten und die vielen Nachtwachen (sie hatte seit sechzehn Jahren keine Nacht mehr durchgeschlafen) erschöpft hatte, und sich mit dem Haushalt nicht mehr befassen konnte, machte sie die Bekanntschaft ihres zweiten Sohnes; der älteste war Kadett und nur Sonntags zu Hause.

Da sie aufgehört hatte, Hausmutter zu sein und nur noch Patientin war, verschwand dieses altmodische Verhältnis der Disziplin, das sich immer zwischen Eltern und Kinder stellt. Der dreizehnjährige Sohn sass fast immer an ihrem Bett, wenn er nicht in der Schule war und nicht an Schulaufgaben arbeitete, und las ihr dann vor. Viel hatte sie zu fragen und viel hatte er zu erklären; dadurch fielen zwischen ihnen diese Gradzeichen, die Alter und Stellung errichten; sollte einer durchaus der Überlegene sein, so war es der Sohn. Aber die Mutter hatte aus ihrem vergangenen Leben viel zu lehren, und so waren sie abwechselnd Lehrer und Schüler. Sie konnten schliesslich über alles sprechen. Und der Sohn, der sich im Anfang der Mannbarkeit befand, erhielt über das Mysterium der Fortpflanzung manche Aufklärung, und zwar mit der Feinfühligkeit der Mutter und der Schamhaftigkeit des andern Geschlechts. Er war noch unschuldig, hatte aber in der Schule viel gehört und gesehen, das ihn anwiderte und empörte. Die Mutter erklärte ihm alles, was erklärt werden konnte; warnte ihn vor dem gefährlichsten Feind der Jugend und nahm ihm ein heiliges Versprechen ab, dass er sich niemals werde verleiten lassen, schlechte Frauen zu besuchen, nicht ein Mal aus Neugier, denn niemand könne sich in solchen Fällen auf sich verlassen. Und sie verwies ihn auf eine mässige Lebensweise und auf den Verkehr mit Gott im Gebet, wenn die Versuchung an ihn herantrete.

Der Vater ging ganz auf im selbstsüchtigen Genuss seiner Wissenschaft, die für seine Frau ein verschlossenes Buch war. Er hatte, gerade als die Mutter im Sterben lag, eine Entdeckung gemacht, die seinen Namen in der gelehrten Welt unsterblich machen sollte. Er hatte nämlich auf einem Abladeplatz vor den Toren Stockholms eine neue Art Gänsefuss gefunden, die geneigte Haare auf dem sonst geradhaarigen Blütenkelch hatte. Er pflog gerade Verhandlungen mit der Berliner Akademie der Wissenschaften, um die Spielart in die „Flora Germanica“ aufnehmen zu lassen; jeden Tag erwartete er den Bescheid, ob die Akademie ihn unsterblich machte, indem sie der Pflanze den Namen Chenopodium Wennerstroemianum gab. Am Sterbebette seiner Frau war er geistesabwesend, beinahe unfreundlich, denn er hatte gerade die bejahende Antwort der Akademie erhalten, und es grämte ihn, dass er sich, und noch weniger seine Frau, nicht mit der grossen Neuigkeit erfreuen konnte. Denn sie dachte nur an den Himmel und an ihre Kinder. Ihr jetzt mit einem krummhaarigen Blütenkelch zu kommen, erschien ihm selber lächerlich; aber, verteidigte er sich, es handelte sich nicht um einen krummhaarigen oder geradhaarigen Blütenkelch, sondern um eine wissenschaftliche Entdeckung; und, was mehr war, um seine Zukunft, um die Zukunft seiner Kinder, da ja die Ehre des Vater für sie Brot war.

Als seine Frau am Abend starb, weinte er sehr; seit vielen, vielen Jahren hatte er nicht geweint. Er fühlte die ganze furchtbare Gewissensqual über begangenes, wenn auch noch so kleines Unrecht, denn er war ein exemplarischer Ehemann; er empfand Reue und Scham über seine Unfreundlichkeit, seine Geistesabwesenheit des gestrigen Tages; und in einem Augenblick der Leere gingen ihm die Augen auf, wie kleinlich selbstsüchtig seine Wissenschaft sei, die, wie er sich eingebildet, für die Menschheit arbeite. Aber diese Regungen dauerten nicht lange: wenn man eine Tür öffnet, die eine Feder hat, so schlägt sie gleich wieder zu. Am nächsten Morgen, nachdem er die Todesanzeige aufgesetzt, schrieb er eine Dankadresse an die Berliner Akademie der Wissenschaften. Darauf ging er wieder an seine Arbeit.

Als er zum Mittagessen nach Haus kam, wollte er zu seiner Frau hinein gehen, um ihr seine Freude zu erzählen, denn sie war ihm stets die treueste Freundin im Leid gewesen, der einzige Mensch, der auf seine Erfolge nicht neidisch war. Jetzt fühlte er, wie sehr er diese Freundin vermisste, hatte er doch immer auf Zustimmung bei ihr rechnen können; hatte sie ihm doch nie widersprochen, denn sie wusste nicht, was sie dagegen sagen solle, da er ihr nur die praktischen Ergebnisse seiner Forschungen mitteilte. Einen Augenblick dachte er daran, mit dem Sohn Bekanntschaft zu schliessen, aber sie kannten einander zu wenig, und der Vater befand sich seinem Sohn gegenüber in der Stellung, die ein Offizier seinem Soldaten gegenüber einnimmt. Sein Rang verbot ihm eine Annäherung, und der Sohn war ihm übrigens auch etwas verdächtig, weil er einen schärferen Kopf als der Vater besass, weil er eine ganze Menge neuer Bücher gelesen hatte, die der Vater nicht kannte; ja, es konnte zuweilen der Fall eintreten, dass der Vater, der Professor, seinem Sohn, dem Gymnasiasten, gegenüber wie ein Unwissender dastand. Bei solchen Gelegenheiten musste der Vater entweder seine Verachtung über die neuen Dummheiten äussern, oder auch ein Machtwort sprechen, indem er den Schüler auf seine Schulaufgaben verwies. Da konnte es geschehen, dass der Sohn damit antwortete, dass er ein Lehrbuch vorzeigte; dann geriet der Professor ausser sich und wünschte die neuen Lehrbücher zur Hölle.

So kam es, dass sich der Vater in seine Herbarien vertiefte, und der Sohn seine eigenen Wege ging.

Sie wohnten in der Nordzollstrasse links von der Sternwarte. Ein kleines einstöckiges Backsteinhaus, umgeben von einem ausgedehnten Garten; der hatte früher ein Mal der Gärtnergesellschaft gehört und war durch Erbschaft dem Professor zugefallen. Da er aber die beschreibende Botanik studierte, ohne sich um die weit interessantere Pflanzenphysiologie und Pflanzenmorphologie zu kümmern, die in seiner Jugend noch in den Windeln lagen, war ihm die lebendige Natur beinahe fremd. Er liess daher den Garten mit seinen vielen Herrlichkeiten zuwachsen und verfallen; verpachtete ihn schliesslich an einen Gärtner unter der Bedingung, dass er und seine Kinder gewisse Freiheiten behielten. Der Sohn benutzte den Garten als Park, freute sich an dessen Natur, so wie sie war, ohne sich die Mühe zu machen, sie wissenschaftlich aufzufassen.

Sein Charakter war wie ein schlecht gearbeitetes Kompensationspendel: zu viel von dem weichen Metall der Mutter, zu wenig von dem harten des Vaters. Daher Reibungen und ungleichmässiger Gang. Bald äusserst gefühlvoll, bald hart und skeptisch. Der Mutter Tod packte ihn sehr. Er betrauerte sie so, dass er sie in seiner Erinnerung als Inbegriff alles Guten, Schönen und Grossen vergötterte.

Den Sommer, der auf den Tod folgte, brachte er mit Grübeleien und Romanlesen zu. Aber die Trauer, und nicht zuletzt die Beschäftigungslosigkeit, hatten sein ganzes Nervenleben erschüttert und seine Phantasie in Tätigkeit gesetzt. Die Tränen waren ein warmer Aprilregen gewesen, der die Obstbäume so früh weckt, dass sie sich zum Blühen verlocken lassen, um dann zu erfrieren: ehe die Befruchtung vollendet ist, kommt der Maifrost.

Er war fünfzehn Jahre alt, also an dem Zeitpunkt angelangt, an dem der Kulturmensch mannbar wird und reif ist, einem neuen Geschlecht Leben zu geben, davon aber abgehalten wird, weil ihm die Nahrung für die Jungen fehlt. Er war also im Begriff, in das mindestens zehnjährige Martyrium einzutreten, das der junge Mann im Kampf gegen die übermächtige Natur durchzumachen hat, ehe er daran denken kann, das Gesetz der Natur zu erfüllen.

 

Es ist um die Pfingstzeit an einem warmen Nachmittag. Die Apfelbäume prangen in ihren weissen Blüten, welche die Natur mit verschwenderischer Freigebigkeit über sie ausgestreut hat. Der Wind schüttelt die Kronen und der Blütenstaub wirbelt in der Luft umher; ein Teil kommt zu seiner Bestimmung und erweckt Leben, ein Teil fällt auf die Erde und vergeht. Was kümmert sich die unendlich reiche Natur um eine Handvoll Blütenstaub mehr oder weniger! Und wenn die Blüte befruchtet ist, lässt sie ihre zarten Blätter fallen, die bald auf dem Gange verwelken und beim nächsten Regen verfaulen, sich auflösen, Erde werden, um einmal wieder durch den Saft aufzusteigen und wieder Blüte zu werden und dieses Mal vielleicht Frucht. Jetzt aber beginnt der Kampf: die so glücklich gewesen sind, an die Sonnenseite zu kommen, die gedeihen; der Fruchtknoten schwillt, und wenn kein Frost eintritt, wird er bald fruchtbar. Die aber nach Norden geraten sind, die armen Dinger, die im Schatten der andern sitzen und nie die Sonne sehen, die welken und fallen ab; der Gärtner harkt sie zusammen und fährt sie in der Schiebkarre nach dem Schweinestall.

Jetzt steht der Apfelbaum da, die Zweige mit halbreifen Früchten beladen, kleinen runden goldgelben Äpfeln mit rosenroten Backen. Ein neuer Kampf bricht aus: bleiben alle leben, so brechen die Zweige von der Schwere und der Baum stirbt. Darum kommt der Sturm. Da muss man starke Stiele haben, um sich fest halten zu können; wehe den Schwachen, denn sie sind zum Untergang verdammt.

Dann kommt der Apfelblütenstecher! Der hat auch Leben erhalten und hat eine Pflicht gegen sein künftiges Geschlecht! Und die Larven durchfressen den Apfel bis zum Stiel, und dann fällt er auf den Weg hinunter. Aber die Larve hat Geschmack und wählt die stärksten und gesundesten, denn sonst würde es zu viele Starke im Leben geben, und dann würde der Kampf gar zu lebhaft werden.

Aber in der Abendstunde, wenn die Dunkelheit kommt, beginnen die dunkeln Begierden der Tiere zu erwachen. Die Nachtschwalbe legt sich auf das frisch gegrabene warme Gartenbeet und lockt ihren Gatten. Welchen? Das mögen die Männchen entscheiden!

Die Hauskatze schleicht satt und warm aus ihrer Ecke am Herd, nachdem sie ihre frischgeseihte Abendmilch getrunken, und tritt vorsichtig zwischen Narzissen und gelbe Lilien, bange, vom Tau feucht und zottig zu werden, ehe der Liebhaber kommt. Sie riecht an dem eben aufgesprungenen Lavendel, und dann lockt sie. Vom Zaun des Nachbarn kommt der schwarze Kater, breit im Rücken wie ein Marder, und antwortet auf den Lockruf; da aber kommt der dreifarbige Kater des Gärtners vom Kuhstall, und nun entbrennt der Kampf. Die schwarze, weiche Humuserde wird aufgewirbelt, und eben gesähte Radieschen und Spinatpflanzen werden aus ihrem stillen Schlaf und ihren Zukunftträumen gerissen. Der Stärkste siegt, und das Weibchen wartet neutral ab, bis sie die phrenetischen Umarmungen des Siegers empfängt. Der Besiegte flieht, um einen neuen Kampf zu suchen, in dem er der Stärkere bleibt.

Und die Natur lächelt, zufrieden, denn sie kennt keine andre Treulosigkeit als die gegen ihr Gebot, und sie gibt dem Stärkeren sein Recht, denn sie will starke Kinder haben, wenn sie auch das „unendliche“ Ich des kleinen Individuums dabei tötet. Und keine Prüderie, keine Bedenken, keine Furcht vor den Folgen, denn die Natur gibt allen zu essen – nur dem Menschen nicht.

Er ging in den Garten, als das Abendessen zu Ende war, während sich der Vater ans Fenster der Schlafstube setzte, um eine Pfeife zu rauchen und die Abendzeitungen zu lesen. Er ging durch die Wege und fühlte alle diese Düfte, welche die Pflanze nur verbreitet, wenn sie in Blüte steht; das feinste und stärkste Destillat ätherischer Öle, die in sich die ganze Kraft des Individuums verdichten sollen, um sich zum Vertreter der Art zu erheben. Er hörte, wie die Mücken über den Linden ihr Hochzeitslied sangen, das unserm Ohr wie eine Trauerklage lautet; er hörte die spinnenden Locktöne der Nachtschwalbe; das brünstige Schreien der Katzen, das klingt als zeuge der Tod und nicht das Leben; das Summen des Mistkäfers, das Flattern des Nachtschmetterlings, das Pipsen der Fledermäuse.

Er blieb vor einem Narzissenbeet stehen, brach eine Blüte ab und roch daran, bis ihm die Schläfen klopften. Noch nie hatte er sich diese Blüte genauer angesehen. Aber im letzten Schuljahr hatte er in Ovid gelesen, wie der schöne Jüngling in eine Narzisse verwandelt wurde. Einen weiteren Sinn hatte er in dieser Mythe nicht gefunden. Ein Jüngling, der aus unbeantworteter Liebe diese Brunst gegen sich selbst wenden muss und schliesslich von der Flamme verzehrt wird, als er sich in sein eigenes Bild verliebt, das er in der Quelle sieht! Wie er jetzt diese weissen Kelchblätter betrachtet, diese Becherblätter, wachsgelb wie die Wangen eines Kranken, mit diesen feinen roten Streifen, wie man sie bei einem Lungenkranken sieht, bei dem das Blut unter dem Druck eines wiederholten Hustens in die äussersten feinsten Gefässe der Haut getrieben wird, denkt er an einen Schulkameraden, einen jungen Edelmann, der im Sommer Seekadett war: der hatte dieses Aussehen.

Als er lange an der Blume gerochen hatte, verschwand der starke Nelkengeruch und hinterliess einen ekligen, seifenartigen Gestank, der ihm Übelkeit verursachte.

Er wanderte weiter, bis der Weg nach rechts unter eine gewölbte Allee einbog, die aus Ulmen ausgehauen war. In dem Halbdunkel sah er ganz hinten in der Perspektive die grosse grüne Strickschaukel sich auf und ab bewegen. Auf dem hinteren Brett stand ein Mädchen und setzte die Schaukel in Gang, indem sie die Knie beugte und den Körper nach vorne warf, während sie sich mit hochgehobenen Armen an den Seitenstangen hielt. Das war die Tochter des Gärtners, die Ostern konfirmiert worden war und eben lange Kleider bekommen hatte. Heute abend aber hatte ihre Mutter sie ein halblanges anziehen lassen, das sie zu Hause auftragen sollte.

Als sie den jungen Herrn erblickte, wurde sie zuerst verlegen, dass ihre Strümpfe zu sehen waren, aber sie blieb doch stehen. Herr Theodor trat vor und sah sie an.

– Stellen Sie sich nicht dorthin, Herr Theodor, sagte das Mädchen, indem es die Schaukel in vollen Schwung brachte.

– Warum denn nicht, antwortete der Jüngling, der den Zug von ihren flatternden Röcken um seine heissen Schläfen wehen fühlte.

– Pfui nein, sagte das Mädchen.

– Lass mich einsteigen, so werde ich dich schaukeln, Auguste, sagte Herr Theodor und warf sich schnell in die Schaukel.

So stand er in der Schaukel ihr gegenüber. Und wenn die Schaukel in die Höhe ging, schlug ihr Kleid um seine Beine; und wenn die Schaukel in die Tiefe ging, stand er über sie gebeugt und sah ihr gerade in die Augen, die von Bangigkeit und Behagen leuchteten. Ihre dünne baumwollene Jacke schloss sich dicht um die jungen Brüste, die sich unter dem gestreiften Kattun scharf abzeichneten; ihr Mund stand halb offen und die weissen gesunden Zähne lächelten ihm zu, als wollten sie ihn beissen oder ihn küssen.

Immer höher ging die Schaukel, bis sie gegen die höchsten Zweige des Ahorns schlug. Da stiess das Mädchen einen Schrei aus und fiel in seine Arme; er musste sich auf die Bank setzen. Als er den weichen warmen Körper zucken und sich zugleich gegen seinen drücken fühlte, ging es wie ein elektrischer Schlag durch sein ganzes Nervensystem; ihm wurde schwarz vor den Augen, und er hätte sie losgelassen, wenn er nicht ihre linke Brust an seinem rechten Oberarm gefühlt hätte.

Die Schaukel ging langsamer. Sie sprang auf und setzte sich auf die andere Bank, ihm gegenüber. Und sie sassen da und sahen auf die Erde nieder und wagten einander nicht ins Gesicht zu sehen.

Als die Schaukel anhielt, stieg das Mädchen aus und stellte sich, als antworte sie jemand, der sie gerufen. Herr Theodor blieb allein. Das Blut lief durch seine Adern. Er fühlte seine Lebenskraft verdoppelt. Aber er wusste nicht klar, was geschehen war. Er stellte sich dunkel vor, er sei ein Elektrophor, dessen positive Elektrizität sich bei einer Entladung mit der negativen vereinigt habe. Und zwar während einer geringen, äusserlich keuschen Berührung mit einem jungen Weib. Ähnliches hatte er nicht empfunden, wenn er zum Beispiel beim Ringen auf dem Turnplatz Kameraden fest umschlungen gehalten. Er hatte also die entgegengesetzte Polarität des Weiblichen gespürt, und er fühlte nun, was es heisst, Mann zu sein. Und er war Mann. Nicht ein Frühreifer, der durch Vergewaltigung der Natur vor der Zeit ausschlug, denn er war ein starker, abgehärteter, gesunder Jüngling.

Als er jetzt durch die Wege wanderte, stiegen neue Gedanken in ihm auf. Das Leben schien ihm ernster zu werden, das Gefühl der Pflicht trat an ihn heran. Aber er war erst fünfzehn Jahre alt. Er war noch nicht konfirmiert, konnte erst nach vielen Jahren in die Gesellschaft eintreten, also nicht daran denken, sich selber zu ernähren, geschweige denn Weib und Kind. Sein ernster Sinn liess ihn nämlich nicht an ein lockeres Leben denken, sondern das Weib war ihm etwas fürs Leben, sein anderer Pol, seine Ergänzung. Jetzt war er geistig und körperlich reif, um in die Welt hinauszutreten und sich Brot zu schaffen. Was hinderte ihn daran? Seine Erziehung, die ihn nichts Nützliches gelehrt; seine soziale Stellung, die ihm verbot, ein Handwerk zu betreiben. Die Kirche, die seinen Eid nicht darauf bekommen, der Priesterschaft treu zu sein; der Staat, der seinen Eid nicht darauf erhalten, Bernadotte und Nassau treu zu sein; die Schule, die ihn noch nicht soweit dressiert hatte, dass er für die Universität reif war; der geheime Ordensbund, den die Oberklasse gegen die Unterklasse geschlossen. Ein ganzer Berg von Albernheiten lag auf ihm und seiner Jugend. Jetzt da er fühlte, dass er ein Mann war, schien ihm die ganze Erziehung eine Anstalt zu sein, in der er erst kastriert werden sollte, ehe man ihn in den Harem zu lassen wagte, wo eine Mannbarkeit gefährlich sein konnte; einen anderen Sinn konnte er in all dem nicht entdecken. So versank er wieder in seinen jetzigen Zustand der Unmündigkeit. Er glaubte eine Pflanze Bleichsellerie zu sein, die man zusammenbindet und unter einen Blumentopf legt, damit sie so weiss und mürbe wie möglich wird, damit sie im Sonnenlicht keine grünen Blätter treibt, nicht in Blüten ausschlägt, noch, am wenigsten von allem, Samen ansetzt.

Während er diesen Gedanken nachhing, wanderte er auf den Gartenwegen hin und her, bis die Uhr der nächsten Kirche zehn schlug. Da wollte er ins Haus gehen, um sich schlafen zu legen. Aber die Haustür war schon geschlossen. Er musste ans Fenster der Mädchenstube klopfen. Das Hausmädchen kam im Unterrock, um zu öffnen, und er konnte über dem Hemd, das herabgeglitten war, ihre blossen Schultern sehen. Alle Schwärmerei verschwand in einem Nu, er wollte sie festhalten, ihre Brüste drücken, sich paaren mit einem Wort, denn jetzt war das Weib nur Weibchen für ihn. Aber das Mädchen war schon wieder hineingehuscht und schlug die Tür hinter sich zu. Da schämte er sich und ging in seine Kammer hinauf.

Als er glücklich oben war, öffnete er die Fenster, tauchte den Kopf ins Waschbecken und steckte seine Lampe an.

Als er im Bett lag, griff er zu Arndts „Geistlichen Morgenstimmen“, die er von seiner Mutter geerbt hatte und von denen er abends immer ein Stück las, mehr der Sicherheit wegen, denn morgens war die Zeit knapp. Das Buch erinnerte ihn an das Versprechen der Keuschheit, das er der Mutter gegeben, und er hatte ein böses Gewissen. Eine Fliege, die ans Lampenglas kam und mit verbrannten Flügeln um den Nachttisch summte, brachte seine Gedanken auf etwas anderes, Unbestimmtes; er legte Arndt fort und steckte sich eine Zigarre an. Er hörte, wie sich unter ihm im Erdgeschoss der Vater die Stiefel auszog; wie er am Kranz des Kachelofens die Pfeife ausklopfte; ein Glas Wasser aus der Karaffe eingoss und sich bereit machte, ins Bett zu gehen. Er dachte, wie einsam dieser Mann jetzt sein müsse, da seine Frau fort sei. Früher hatte er durch die Zwischendecke hören können, wie sie mit halber Stimme vertraulich plauderten, von Dingen, über die sie immer einig waren; jetzt aber war keine Stimme mehr zu hören, nur die toten Laute, wie ein Mensch seine Person bedient und besorgt; Laute, die wie die Figuren in einem Rebus zusammengestellt werden müssen, um etwas Lebendiges aus ihnen zu machen.

Schliesslich legte er die Zigarre fort, löschte die Lampe und betete leise das Vaterunser, kam aber nicht weiter als bis zur fünften Bitte: da schlief er ein.

Mitten in der Nacht erwachte er aus einem Traum. Er hatte das Mädchen des Gärtners in seinen Armen gehabt. Wo und wann, daran erinnerte er sich nicht, denn er war ganz betäubt, und er schlief sofort wieder ein.

Am nächsten Morgen war er schwermütig und hatte Kopfschmerzen. Dachte wieder an die Zukunft, die schwer auf ihm lag und sein ganzes Dasein bedrückte. Mit Bangen sah er, wie der Sommer verging, denn das Ende der Ferien brachte ihn wieder in den Erniedrigungszustand, den die Schule ihm bot: jeder seiner Gedanken sollte da von fremden Gedanken getötet werden; die Selbständigkeit half nichts, da nur eine bestimmte Anzahl Jahre ihn ans Ziel führen konnten. Es war wie eine Reise auf einem Güterzug; die Lokomotive musste so und so lange auf der Station stehen, und wenn der Dampfdruck aus Mangel an Kraftverbrauch zu stark wurde, musste man das Sicherheitsventil öffnen. Das Betriebsamt hatte den Fahrplan aufgestellt, und man durfte nicht zu früh nach den Stationen kommen. Das war die Hauptsache!

Der Vater sah, dass der Sohn blass und mager wurde, glaubte aber, er trauere um die Mutter.

 

Der Herbst kam. Zuerst mit der Schule. Theodor hatte während des Sommers, als er durch die Romane mit erwachsenen Menschen verkehrte und ihr Leben und ihre Kämpfe kennen lernte, sich daran gewöhnt, sich als Erwachsenen zu betrachten. Jetzt kamen die Lehrer und duzten ihn. Kameraden, Jungen, welche die körperliche Freiheit noch nicht achteten, erlaubten sich Handgreiflichkeiten, die ihn zu ähnlichen nötigten. Und diese Bildungsanstalt, die ihn für die Gesellschaft veredeln sollte, was lehrte sie und wie veredelte sie? Die Lehrbücher waren ja samt und sonders unter der Kontrolle der Oberklasse geschrieben und liefen alle darauf hinaus, die Unterklasse dazu zu bringen, die Oberklasse zu verehren. Die Lehrer sprachen oft mit Erregung zu den Schülern, wie undankbar sie seien; sie wüssten nicht, welche Vorteile ihre Eltern ihnen gewährten, indem sie ihnen diese Bildung schenkten, die so viele Arme entbehren müssten. Nein, wahrhaftig, die Jungen waren noch nicht verdorben genug, um diese grenzenlose Betrügerei und deren Vorteile zu durchschauen.

Gab der Unterricht den Schülern irgend ein Mal eine reine Freude durch den Lehrstoff selber? Nein! Darum mussten die Lehrer unaufhörlich an die niedrigen Leidenschaften der Schüler appellieren: an die Ambition (das war ein besserer Name für den kleinlichen Ehrgeiz, höher geschätzt zu werden als die andern), an das Interesse, an die Vorteile.

Welch elende Maskerade diese Schule! Nicht ein einziger von den Jünglingen glaubte an den Segen, der darin lag, verhasste Könige aufzuzählen, unbrauchbare Sprachen zu lernen, Axiome zu beweisen, Selbstverständlichkeit zu definieren, die Staubbeutel der Pflanzen und die Gelenke an den Hinterbeinen der Insekten zu zählen, um schliesslich nicht mehr zu wissen, als dass sie so und so auf lateinisch heissen. Wieviel lange Stunden wurden nicht darauf verwandt, um vergeblich einen Winkel in drei gleiche Teile zu teilen, während es „unwissenschaftlich“ (das heisst praktisch) in einer Minute mit einem Gradmesser gemacht wird.

Wie verachtet wurde alles, was nützlich war! Die Schwestern, die Ollendorffs französische Grammatik lernten, konnten nach zwei Jahren französisch sprechen; die Gymnasiasten konnten nach sechs Jahren noch nicht ein Wort sagen. Und mit welchem Mitleid sprachen sie den Namen Ollendorff aus! Das war der Inbegriff alles Dummen, das man verbrochen hatte, seit die Welt erschaffen worden.

Wenn aber die Schwestern eine Erklärung verlangten und fragten, ob die Sprache nicht dazu da sei, die Gedanken des Menschen auszudrücken, so antwortete der junge Sophist mit einer Phrase, die er von einem Lehrer borgte, der sie wieder als Talleyrands Worte zitiert gesehen: Nein, die Sprache ist dazu da, die Gedanken des Menschen zu verbergen. Das konnte ein junges Mädchen natürlich nicht begreifen, denn die Männer verstehen ihre Infamien zu verbergen, sondern glaubte, der Bruder sei furchtbar gelehrt, und disputierte nicht weiter.

Und dann die verfälschende Ästhetik, die ihren Schleier aus geborgtem Glanz und falscher Schönheit über alles warf. Man lernte von der „Ritterwache des Lichtes“ singen! Welche Ritterwache? Mit Adelsbriefen, Studentenzeugnissen; falschen Attesten, wie sie selber einsehen konnten. Des Lichtes? Das heisst der Oberklasse, die ihr grösstes Interesse daran hatte, die Unterklasse durch Schule und Religion in der Dunkelheit zu halten. „Und vorwärts, vorwärts auf der Bahn des Lichts!“

Immer wurde das Ding bei verkehrtem Namen genannt! Kam dann einer aus der Unterklasse mit Licht, so war alles vorbereitet, um es zu Dunkelheit machen zu können. Du junge, „gesunde“ Kämpferschar! Wie gesund sie waren, alle diese Jünglinge, die von Beschäftigungslosigkeit, unbefriedigten Trieben, Ehrgeiz entnervt waren, die jeden verachteten, der nicht die Mittel hatte, Student zu werden! O die Poeten der Oberklasse, wie haben sie so schön gelogen! Waren sie Betrüger oder Betrogene?

Wovon sprachen alle diese Jünglinge gewöhnlich? Von ihren Studien? Niemals! Höchstens von einem Zeugnis! Sie sprachen von Liederlichkeit. Vom Morgen bis zum Abend! Von Verabredungen mit Mädchen; von Billardspiel und Punsch; von Geschlechtskrankheiten, über die sie ältere Brüder hatten sprechen hören. Sie gingen mittags los und „nahmen die Parade ab“, und wer am weitesten gekommen war, konnte den Namen des Leutnants nennen und erzählen, wo dessen Mädchen wohnte.

Einmal waren zwei von der „Ritterwache des Lichtes“ ganz naiv mit zwei prostituierten Mädchen an einem Sommertag in das vornehme Restaurant „Haselhöhe“ im Tiergarten gegangen, um dort in der offenen Veranda zu Mittag zu essen. Wegen dieser Naivität wurden sie von der Anstalt gejagt. Wegen ihrer Naivität, nicht wegen ihrer Lasterhaftigkeit, denn ein Jahr später bestanden sie ihr Examen für die Universität, gewannen also ein ganzes Jahr; und als sie ihre Studien in Uppsala beendet hatten, wurden sie in eine Hauptstadt von Europa geschickt, um dort in der Gesandtschaft die vereinigten Königreiche Schweden und Norwegen zu vertreten.

In einer solchen Umgebung verbrachte Herr Theodor seine beste Jugend. Er hatte den Betrug durchschaut, konnte aber nicht mit ihm brechen! Wie soll ich das machen? fragte er sich oft, erhielt aber keine Antwort. Er wurde natürlich mitschuldig und lernte schweigen.

Die Konfirmation wurde für ihn ein Spektakel, wie die Schule es gewesen. Ein junger Hilfsprediger, der Pietist war, sollte ihn in vier Monaten Luthers Kathechismus lehren, ihn, der Theologie, Exegetik, Dogmatik gehabt und das Neue Testament auf Griechisch gelesen hatte! Aber der strenge Pietismus, der Wahrheit in Handel und Wandel forderte, musste auf ihn Eindruck machen.

Es war ein Novembermorgen, als sie in den Kirchensaal gerufen wurden, um eingeschrieben zu werden. Herr Theodor befand sich ganz unerwartet in einem ganz andern Kreis, als er täglich in der Schule um sich hatte. Wie er in das Versammlungszimmer eintrat, begegnete er den Blicken von wohl hundert Augen, die ihn alle wie einen Feind ansahen. Da waren Tabaksbinder, Schornsteinfegerjungen, Lehrlinge von allen Handwerken. Sie schienen auch Feinde unter einander zu sein, denn sie warfen sich gegenseitig Schimpfnamen zu; aber diese Feindschaft zwischen den Handwerken war mehr gelegentlich; und wie sie sich auch zankten, sie hingen doch zusammen. Eine seltsame erstickende Luft schlug ihm entgegen, und in dem Hass, mit dem er sich begrüsst fühlte, lag auch eine Verachtung, die Kehrseite eines gewissen Respektes oder Neides. Er sah sich vergebens nach einem Kameraden um, einem Gleichgesinnten, einem Gleichgekleideten. Es war keiner da. Die Gemeinde war arm, und die Reichen sandten ihre Kinder in die Deutsche Kirche, die damals in Mode war. Es waren Kinder des Volkes; es war die Unterklasse, mit der er jetzt vor den Altar des Herrn als Gleich und Gleich treten sollte. Er fragte sich, welcher Abgrund ihn eigentlich von diesen Kindern trenne? Waren sie körperlich nicht ebenso begabt wie er? Ja, besser vielleicht, denn alle verdienten bereits ihr Brot, und einige konnten sogar ihren alten Eltern helfen. Waren sie schlechter ausgerüstet in der Intelligenz? Das konnte er nicht behaupten, denn er hörte, wie sie bei ihren Stichelreden mit den schärfsten Beobachtungen um sich warfen; sie konnten radikale Witze aussprechen, die er gern mit einem Lachen belohnt hätte, wäre er dazu nicht zu hochmütig gewesen. Wenn er an all die Dummköpfe dachte, die er zu Kameraden in der Schule hatte, konnte er keinen bestimmten Strich zwischen sich und ihnen ziehen. Der war aber vorhanden! Waren es die schäbigen Kleider, die hässlichen Gesichter, die groben Hände? Ja, zum Teil war es wohl das! Besonders fühlte er sich von ihrer Hässlichkeit abgestossen! Aber waren sie deshalb schlechter, weil sie hässlich waren?

Er hatte ein Florett bei sich, da er nachher in die Fechtstunde wollte. Er stellte es in eine Ecke, damit es sich keine unangenehme Aufmerksamkeit zuzog. Aber es war schon bemerkt werden. Niemand wusste eigentlich, was es für ein Ding sei, aber sie verstanden, dass es eine Waffe vorstellte. Einige der Kühnsten machten sich in der Ecke zu schaffen, um es zu untersuchen. Sie befingerten die Umwindung des Heftes, kratzten mit den Nägeln auf dem Stichblatt, bogen die Klinge, befühlten den kleinen Ball aus Handschuhleder. Es war, als schnüffelten Hasen an einer Flinte, die sie im Walde gefunden. Sie verstanden nicht, wozu es anzuwenden sei, aber sie fühlten, es war etwas Feindliches, das einen verborgenen Zweck hatte. Schliesslich trat ein Gürtlerlehrling, dessen Bruder zur Leibgarde gehörte, an die Neugierigen heran und entschied die Frage sofort: Könnt ihr nicht sehen, dass es ein Säbel ist, ihr Kaulbarsche! Und damit warf er einen respektvollen Blick auf Herrn Theodor; doch lag in diesem Blick auch ein geheimes Einverständnis, das bedeutete: Wir verstehen das! Aber ein Seilerjunge, der einmal bei der Artillerie gewesen war, um Trompeter zu werden, hielt sich beim Fällen des Urteils für übergangen, konnte den Mund nicht halten, sondern erklärte: man könne ihn in den Rücken beissen, wenn das nicht ein Degen sei! Die Folge war eine Schlägerei, die den ganzen Kirchensaal in einen einzigen grossen Hundehof verwandelte, der von Staub rauchte und mit Geheul erfüllt war.

Da wird die Tür geöffnet und der Hilfsprediger steht da. Ein junger, blasser, magerer Mann, der Ausschlag im Gesicht und wässerige blaue Augen hat. Er schrie die Jungen zuerst an. Die wilden Tiere hörten auf, sich zu schlagen. Darauf liess er sich aus über Jesu teueres Blut und die Macht, die das Böse über die Herzen hat. Schliesslich brachte er die hundert Jungen dazu, sich auf Bänke und Stühle zu setzen. Bis dahin war er aber ganz ausser Atem gekommen und das Zimmer war voll von aufgewirbeltem Staub. Er warf einen Blick nach dem Fensterventil und sagte mit matter Stimme: Öffnet die Klappe! Damit weckte er aber den Sturm wieder. Fünfundzwanzig Knaben stürzten hin und stiessen beim Fenster auf einen Haufen zusammen, um die Schnur zum Ventil zu fassen.

– Geht und setzt euch! schrie der Geistliche von neuem und lief nach dem Stock.

Für einen Augenblick herrschte Ruhe. Der Geistliche dachte sich eine praktischere Art aus, um ohne Schlacht die Klappe zu öffnen.

– Du, sagte er und zeigt auf einen eingeschüchterten armen Teufel, geh und öffne die Klappe.

Der Kleine trat ans Fenster und suchte die zusammengezogene Schnur zu lösen. In atemlosen Schweigen warteten die versammelte Schar das Ergebnis ab, als ein grosser Bursche im Seemannsanzug, der eben mit der Brigg Carl Johan heimgekehrt war, die Geduld verlor:

– Nun sollt ihr mal sehen, hol mich der Teufel, was ein Junge kann, sagte er; im Nu hatte er den Rock abgeworfen, das Fensterbrett geentert, sein Messer gezogen und die Schnur durchgeschnitten.

– Kappen Bakstag! konnte er noch sagen, als der Geistliche einen neuen Schrei ausstiess, wie ein hysterisches Weib, und damit den Seemann buchstäblich hinunterscheuchte. Der beteuerte:

– Das Fall hatte sich so vertüdert, dass nichts anderes zu machen war, als kappen.

Der Pastor war ganz ausser sich. Er kam aus einer stillen Provinz und hätte nicht geglaubt, dass eine Jugend so tief verdorben sein könnte, so in Unsittlichkeit und Sünde versunken, so weit vorgeschritten auf dem Weg der Verdammnis. Und er erzählte ihnen lang und breit von Jesu teuerm Blut.

Keiner verstand, was er sagte, denn sie hatten keinen Begriff davon, dass sie gesunken seien, da sie nie oben gewesen. Die Jungen zeigten daher eine gleichgültige Kälte.

Der Geistliche sprach weiter von Jesu teuern Wunden; aber niemand bezog es auf sich, denn niemand hatte einen Jesus verwundet. Da versuchte er es mit dem Teufel; der war aber so in ihre tägliche Sprache eingegangen, dass er auch keinen Eindruck machte. Schliesslich kam er auf das Rechte! Er sprach von der auf den Frühling festgesetzten Konfirmation. Er erinnerte sie an die Eltern, die ihre Kinder ins Leben hinausführen wollten; und als er auf die Brotherren zu sprechen kam, die niemand anstellten, der nicht konfirmiert sei, da wurde er unwiderstehlich, und alle verstanden die tiefe Bedeutung der Konfirmation. Jetzt war er aufrichtig, und da begriffen ihn alle die jungen Gemüter; sogar die Wildesten wurden zahm.

Die Einschreibung begann! Wie viele Kirchenscheine waren mangelhaft! Wie sollten sie zu Jesus kommen, wenn ihre Eltern nicht getraut waren? Wie sollten sie an den Gnadentisch des Sünders gelangen, wenn der Vater schon bestraft war? Was für Sünder!

Herr Theodor wurde tief erschüttert von all diesem öffentlichen Schimpf, der ausgeteilt wurde. Er wollte ein Auge zudrücken, konnte es aber nicht. Als er schliesslich selber mit seinem Kirchenschein vortrat und der Prediger las: Sohn Theodor, an dem und dem Tage geboren; Eltern: Professor und Ritter ... da fuhr ein schwacher Sonnenschein über das Gesicht des Geistlichen, und er nickte ihm freundlich zu, als er fragte: Wie geht es dem Herrn Papa? Und dann zog ein Schleier von Wehmut über seine weissgelben Züge, als er sah, dass die Mutter gestorben war (was er schon wusste): Sie war ein Kind Gottes, sagte er, wie zu sich selber, mit überfreundlicher, beklagender, weinerlicher Stimme, mit einem gewissen Vorwurf gegen den Herrn Papa, der nur Professor und Ritter war. Dann konnte Herr Theodor gehen.

Als er hinauskam, meinte er etwas erlebt zu haben, das er nicht für möglich gehalten hätte. Waren diese Jünglinge so tief gesunken, weil sie Flüche und grobe Worte benutzten, wie alle seine Kameraden, sein Vater, sein Oheim und die ganze Oberklasse sie zuweilen benutzten! Von was für einer Sittenverderbnis war hier die Rede? Sie waren wilder als andere verwöhnte Kinder, weil sie stärker waren. Dass ihre Kirchenscheine Mängel hatten, war nicht die Schuld der Kinder. Sein Vater hatte nicht gestohlen, aber man braucht auch nicht zu stehlen, wenn man sechstausend Kronen Gehalt hat und tun und lassen kann, was man will. Es wäre ja lächerlich oder abnorm gewesen, wenn er gestohlen hätte.

Und Herr Theodor ging wieder in die Schule und da fühlte er, was es heisst, eine Erziehung erhalten zu haben: hier wurde niemand wegen eines kleinen Schnitzers schikaniert, hier wurden die eigenen Schwächen wie die der Eltern ziemlich in Frieden gelassen, hier war man unter seinesgleichen und hier verstanden alle einander.

Nach der Schule „nahm man die Parade ab“; schlich in ein Café, um einen Likör zu trinken; schliesslich ging man in den Fechtsaal. Und wenn er hier vom Leutnant mit Herr angeredet wurde, alle diese Jünglinge mit geschmeidigen Gliedern, freiem Benehmen und heiteren Mienen sah, alle sicher, dass zu Hause ein gutes Mittagessen auf sie warte, fühlte er, dass es zwei Welten gibt, eine obere und eine untere. Dann packte es ihn wie ein böses Gewissen, wenn er an den dunkeln Kirchensaal und die tristen Menschenkinder dachte; deren sämtliche Wunden und heimliche Mängel wurden unbarmherzig mit dem Vergrösserungsglas gemustert, damit die Unterklasse der wahren Demut teilhaftig würde, ohne welche die Oberklasse ihre liebenswürdigen Schwächen nicht in Frieden geniessen konnte. Damit war etwas Unharmonisches in sein Leben gekommen.

 

Wie auch Herr Theodor zwischen seinem natürlichen Verlangen nach den halbbekannten Lockungen des Lebens und seiner neuerworbenen Lust, dem ganzen Leben den Rücken zu kehren und seinen Sinn auf den Himmel zu richten, hin und her geworfen wurde, das Gelübde, das er der Mutter gegeben, brach er nicht. Die häufigen Konfirmationsstunden in der Kirche, mit den Kameraden und unter dem Geistlichen, verfehlten nicht, auf ihn Eindruck zu machen. Er war oft düster und grübelte, hatte ein Gefühl, das Leben sei nicht so, wie es sein müsse. Es war ihm, als sei einmal ein unerhörtes Verbrechen begangen werden, das jetzt durch massenhafte Betrügereien verhüllt werde; er glaubte eine Fliege zu sein, die in das Netz der Spinne geraten war und sich bei jedem Versuch, ein Loch zu reissen, immer mehr verwickelte, um schliesslich erstickt zu werden.

Eines Abends, denn der Geistliche benutzte alle Effekte, um den harten Köpfen der jungen Burschen zu imponieren, hatten sie im Chor der Kirche Unterricht gehabt. Es war im Januar. Zwei Gasflammen erleuchteten das Chor und zeigten die Marmorfiguren des Altars in verzerrten Proportionen. Die ganze grosse Kirche mit ihren beiden einander kreuzenden Tonnengewölben lag im Halbdunkel. Im Hintergrund sah man die blanken Zinnpfeifen der Orgel, welche die Gasflammen des Chores schwach reflektierten; darüber bliesen die Engel zum jüngsten Gericht ihre Posaunen, sahen jetzt aber nur wie finstere, drohende, übernatürlich grosse Menschenfiguren aus. Die Kreuzgänge endeten in vollständiger Dunkelheit.

Der Geistliche hatte das sechste Gebot ausgelegt. Er hatte von Unzucht in und ausserhalb der Ehe gesprochen. Wie Unzucht zwischen Ehegatten getrieben wird, das konnte er nicht auseinandersetzen, trotzdem er selber verheiratet war; aber ausserhalb der Ehe, da wusste er Bescheid. Dann kam er zum Kapitel der Selbstbefleckung. Als er das Wort nannte, ging es wie ein Rauschen durch die Jünglingsschar, und mit weissen Wangen und hohlen Augen starrten sie ihn an, als sähen sie ein Gespenst. Solange er von den Strafen der Hölle sprach, waren sie ziemlich ruhig; als er aber aus einem Buch Berichte vorlas, wie Jünglinge im Alter von fünfundzwanzig Jahren an Rückenmarkschwindsucht gestorben waren, da sanken sie auf den Bänken zusammen und fühlten den Boden unter sich wanken! Schliesslich erzählte er die Geschichte von einem Jungen, der im Alter von zwölf Jahren in ein Irrenhaus kam, um mit vierzehn Jahren zu sterben, im Glauben an seinen Erlöser. Da war es ihnen, als sähen sie hundert gewaschene Leichen an Stangen aufgestellt. Nur ein Heilmittel gegen dieses Übel gebe es: Jesu teure Wunden. Doch wie die gegen zu frühe Mannbarkeit anzuwenden seien, das zeigte er nicht. Aber man solle weder tanzen noch ins Theater gehen noch Spielstuben besuchen, vor allem aber sich des Weibes enthalten: das heisst das Gegenteil tun von dem, was man in Wirklichkeit tun müsste. Dass dieses Laster dem sozialen Gesetz, der Mann sei erst mit einundzwanzig Jahren mannbar, bis zur Vernichtung widerspricht, wurde mit Schweigen übergangen. Ob dieses Laster durch frühe Ehen verhindert werden kann, indem man allen ein notdürftiges Essen verschafft, statt wenigen Schmäuse, wurde dahingestellt. Das Resultat war: man solle sich Jesu in die Arme werfen, das heisst in die Kirche gehen und die Sorge um die Welt der Oberklasse überlassen.

Nach dieser Zurechtweisung bat der Geistliche die fünf Ersten auf der ersten Bank, dazubleiben; er wolle mit ihnen allein sprechen; nach und nach werde er es mit allen so machen. Die fünf Ersten sahen aus, als seien sie zum Tode verurteilt. Ihre Brust fiel in den Rücken, weil sie nicht Atem holen konnten; und wenn man genauer nachgesehen, hätte man gefunden, dass sich ihr Haar einige Zentimeter auf den Wurzeln in die Höhe gerichtet und feucht über den Schädel einer Leiche lag. Alles Blut war aus den Augenbetten gewichen; wie zwei runde Glaskugeln, in Handschuhleder eingenäht, sahen die Augen aus, unbeweglich, nicht wissend, ob sie zu einem Bekenntnis herauskriechen oder sich mit einer kühnen Lüge verbergen sollten.

Das Gebet wurde gesprochen und das Lied von Jesu Wunden gesungen; heute abend aber wurde es von Lungenkranken angestimmt und hörte zuweilen ganz auf oder wurde von einem trocknen Husten, gleich dem von Durstigen, unterbrochen. Dann begannen sie zu gehen. Einer von den fünf versuchte hinauszuschleichen, wurde aber vom Geistlichen zurückgerufen.

Es war ein furchtbarer Augenblick. Herr Theodor, der auf der ersten Bank sass, gehörte zu den fünf. Ihm war unangenehm zu Mut. Nicht weil er eine Sünde in diesem Sinne begangen, sondern weil er es in seinem Innersten als eine Kränkung für einen Mann empfand, sich so entkleiden zu müssen. Die vier andern setzten sich weit von einander. Der Gürtler, der unter ihnen war, versuchte zu scherzen, aber der Witz blieb ihm im Halse stecken. Sie sahen vor sich Polizei, Gefängnis, Hospital, und im Hintergrund das Irrenhaus. Sie wussten nicht, was ihnen bevorstand, dass es aber eine Art Stäupung war, das fühlten sie wohl. Ein Trost, der einzige in der Betrübnis war, dass er, Herr Theodor, dabei war. Sie wussten nicht, warum es ein Trost war, aber sie fühlten es in der Luft, dass ihm, dem Sohn eines Professors, nichts Böses geschehen könne.

– Kommen Sie, Wennerström, sagte der Geistliche, der das Gas in der Sakristei angesteckt hatte.

Wennerström ging und die Tür wurde geschlossen. Die vier sassen da, jeder auf seiner Bank, und versuchten alle möglichen Stellungen, um den Körper zur Ruhe zu bringen; aber es ging nicht.

Schliesslich kam Wennerström wieder heraus, verweint, aufgeregt, und ging sofort durch den Korridor davon.

Als er auf den Kirchhof, der ganz eingeschneit war, hinauskam, nahm er schnell noch ein Mal durch, was drinnen vorgefallen war. Der Geistliche hatte gefragt, ob er gesündigt habe. Nein, das habe er nicht. Habe er Träume? Ja! Träume sind ebenso sündig, denn sie zeigen, dass unser Herz böse ist, und Gott sieht auf das Herz. Er prüft die Nieren und wird uns ein Mal für jeden sündhaften Gedanken verurteilen, und die Träume sind Gedanken. Gib mir, mein Sohn, dein Herz, sagt Jesus. Geh zu Jesus, bete, bete, bete. Was keusch, was rein, was lieblich ist, das ist Jesus! Jesus von Anfang bis zum Ende, Jesus mein Alles, mein Leben, meine Seligkeit! Kasteiet das Fleisch und seid fest im Gebet, sagt Jesus! Geh in Jesu Namen und sündige hinfort nicht mehr!

Er war empört, aber auch vernichtet. Er konnte es nicht ändern, dass er vernichtet war, und in der Schule hatte er noch nicht soviel gesunde Vernunft gelernt, um sie gegen die jesuitische Sophistik anzuwenden. Den Satz, dass die Träume Gedanken sind, musste er allerdings, mit der Psychologie, die er gelernt, dahin modifizieren, dass sie Phantasien sind; aber Gott sieht nicht auf Worte! Seine Logik sagte ihm, es liege etwas Naturwidriges in dieser frühen Brunst. Mit sechzehn Jahren konnte er sich nicht verheiraten, da er keine Frau versorgen konnte. Aber den nächsten Gedanken, warum er keine Frau versorgen könne, obwohl er mannbar war, konnte er nicht zu Ende denken; wenn er es auch wollte, so hätte er doch vor dem Gesellschaftsgesetz, das von der Oberklasse gemacht war und von Bajonetten beschützt wurde, Halt machen müssen. Also war die Natur auf irgend eine Art verletzt worden, da die Mannbarkeit früher eintrat als die Fähigkeit, Brot zu schaffen. Das war Entartung! Seine Phantasie war entartet, und er wollte sie reinigen durch Entsagungen, Gebet, Kampf.

Als er nach Hause kam, sass der Vater mit den Geschwistern bei Tisch. Theodor schämte sich vor ihnen, als sei er unrein. Der Vater fragte wie gewöhnlich, wann sie konfirmiert würden. Das wusste Theodor nicht. Er ass nichts und schätzte Unwohlsein vor; die Wahrheit aber war, dass er abends nicht zu essen wagte. Er ging auf seine Kammer und setzte sich hin, um eine Schrift von Schartau zu lesen, die er vom Geistlichen erhalten hatte. Sie handelte von der Eitelkeit der Vernunft. Hier, gerade an dem letzten Punkt, wo er aus dem Unklaren herauszukommen glaubte, da erlosch das Licht. Die Vernunft, die ihm zuweilen die schwache Hoffnung gab, sich aus den dunkeln Bergen herausfinden zu können, auch die war Sünde; mehr Sünde als alles andere, denn sie erhob sich gegen Gott, wollte begreifen, was man nicht begreifen sollte! Warum man „es“ nicht begreifen sollte, stand nicht da; aber es war wohl darum: sobald man „es“ begriffen, war der Betrug entdeckt.

Er empörte sich nicht länger, sondern ergab sich! Ehe er zu Bett ging, las er zwei Morgenstimmen aus Arndt, das ganze Sündenbekenntnis, das Vaterunser und „Der Herr segne uns“. Er war sehr hungrig, das empfand er aber mit einer gewissen Schadenfreude, als leide sein Feind etwas Böses.

So schlief er ein. In der Nacht erwachte er. Er hatte geträumt, er sei ausgewesen, habe für zwei Reichstaler zu Abend gegessen und Champagner getrunken und schliesslich sei er mit einem Mädchen in ein besonderes Zimmer gegangen. So stand der ganze furchtbare Abend wieder vor ihm!

Er sprang aus dem Bett, warf Laken und Unterbett auf den Boden, legte sich auf die blosse Rosshaarmatratze und deckte sich nur mit einer dünnen Decke zu. Er fror und war hungrig, aber der Teufel musste getötet werden. Er betete noch ein Mal das Vaterunser, indem er auf eigene Hand einige Zusätze machte. Das Gehirn wird nach und nach umnebelt, die strengen Züge in seinem Gesicht lassen nach, der Mund lächelt: liebliche, heitere Gestalten, leichtes Gemurmel, ersticktes Lachen, Takte aus einem Walzer, funkelnde Gläser und offne, lebenslustige Gesichter mit freien Blicken, die seinen begegnen; da öffnet sich eine Türgardine: zwischen rotseidenen Vorhängen blickt ein Köpfchen, der Mund lächelt und die Augen leben, bloss ist der Hals bis zu den Steigungen der Brüste, die Schultern rund wie von einer weichen Hand modelliert; die Kleider fallen ab vor seinen Blicken und er hat das Weib in seinen Armen.

Als er erwachte, schlug die Uhr drei. Er war wiederum besiegt. Jetzt riss er auch noch die Matratze aus dem Bett. Auf die Steine vorm Kachelofen fiel er auf die Knie und betete mit eigenen Worten ein brennendes Gebet zu Gott um Rettung; denn jetzt fühlte er, dass er mit dem Teufel selber im Kampf lag. Er legte sich dann auf den blossen Bettboden und empfand mit einem eigenartigen Genuss, wie die Gurte in Arme und Schienbeine schnitten.

Am Morgen erwachte er in vollem Fieber.

 

Sechs Wochen lag er zu Bett. Als er endlich wieder aufstand, war er gesunder als er je gewesen. Die Ruhe, die ausgewählte Kost, die Medizin hatten seine Kräfte gesteigert, und daher wurde der Kampf nun doppelt so stark. Aber er kämpfte.

Im Frühling wurde er konfirmiert. Der erschütternde Auftritt, in dem die Oberklasse der Unterklasse auf Christi Leib und Blut den Eid abnimmt, dass die letzte sich nie mit dem befasse, was die erste tut, blieb lange in ihm haften. Dass des Weinhändlers Högstedts Piccardon à 65 Öre die Kanne und des Bäckers Lettströms Maisoblaten à 1 Krone das Pfund vom Geistlichen fälschlich für das Fleisch und Blut des vor 1800 Jahren hingerichteten Volksaufwieglers Jesus von Nazareth ausgegeben wurden, darüber dachte er nicht nach, denn man dachte damals nicht nach, sondern man bekam „Stimmungen“.

Ein Jahr später machte er sein Abiturientenexamen. Die Studentenmütze war ihm eine grosse Freude; ohne sich dessen bewusst zu werden, fühlte er, dass er als Oberklasse einen Freibrief erhalten habe. Etwas bildeten sich er und seine Kameraden auch auf ihr Wissen ein, und die Lehrer hatten sie darin für „reif“ erklärt. Wenn alle diese hochmütigen Jünglinge wenigstens den Unsinn gekonnt hätten, mit dem sie prahlten! Hätte man sie auf dem Studentenschmaus gehört, wie sie beteuerten, sie könnten nicht fünf Prozent von jedem Lehrbuch, in dem sie das Zeugnis erhalten; wie sie versicherten, es sei ein Wunder, dass sie die Prüfung bestanden: ein Uneingeweihter hätte es ihnen kaum geglaubt. Auf demselben Studentenkommers hörte man einige der jüngeren Lehrer jetzt, da der Zunftunterschied aufgehoben und keine Verstellung mehr nötig war, offen mit halbberauschten Gebärden darauf schwören, im ganzen Kollegium sei kein Lehrer, der im Examen nicht durchfallen würde. Ein Nüchterner musste glauben, das Studentenexamen sei eine Schnur, die man nach Belieben zwischen Oberklasse und Unterklasse spannen könne; dann kam ihm das Wunder wie ein grosser Betrug vor.

Ja, es war ein Lehrer, der bei der Bowle behauptete, man müsste ein Idiot sein, um sich einzubilden, ein Gehirn könne gleichzeitig auffassen: die dreitausend Jahreszahlen, welche die Geschichte enthält; die Namen der fünftausend Städte, die es auf der Erde gibt, die Namen von sechshundert Pflanzen und siebenhundert Tieren; die Knochen im menschlichen Körper, die Steine in der Erde, alle theologischen Lehrkämpfe, eintausend französische Vokabeln, eintausend englische, eintausend deutsche, eintausend lateinische, eintausend griechische, eine halbe Million Regeln und Ausnahmen; fünfhundert mathematische, physikalische, geometrische, chemische Formeln. Er wolle nachweisen, das Gehirn müsse, um das zu können, so gross sein wie die Kuppel der Sternwarte von Uppsala. Humboldt habe schliesslich nicht mehr das Einmaleins gekonnt, und der Professor der Astronomie in Lund habe zwei sechsstellige ganze Zahlen nicht dividieren können. Die neuen Studenten glaubten sechs Sprachen zu können, und doch könnten sie nicht mehr als fünftausend Worte höchstens von den zwanzigtausend, die ihre eigene Sprache enthalte. Und er habe ja gesehen, wie sie mogelten. Oh, er kenne alle Kniffe! Er habe gesehen, wie sie Jahreszahlen auf die Nägel geschrieben, wie sie die Bücher unter dem Tisch gehabt, und wie sich zugeflüstert! Aber, schloss er, was soll man machen? Wenn man nicht ein Auge zudrückt, bekommt man überhaupt keine Studenten mehr.

Während des Sommers blieb Theodor zu Hause im Garten. Er dachte viel an seine Zukunft; was er werden solle. In die grosse Jesuitenkongregation, die unter dem Namen der Oberklasse die Gesellschaft gestiftet, deren Geheimnisse er nicht durchschauen konnte, hatte er soviel Einblick gewonnen, dass er mit dem Leben unzufrieden war und Geistlicher werden wollte, um sich vor der Verzweiflung zu retten. Aber die Welt lockte ihn. Sie lag so hell und klar vor ihm, und sein starkes gärendes Blut rief nach Leben. Er rieb sich auf in seinem Kampf, und die Beschäftigungslosigkeit quälte ihn noch mehr.

Theodors zunehmende Düsterkeit und abnehmende Gesundheit begannen den Vater zu beunruhigen. Der sah wohl ein, wie es um ihn stand, konnte es aber nicht über sich gewinnen, mit dem Sohn in einer so delikaten Sache zu sprechen.

An einem Sonntagnachmittag hatte der Professor seinen Bruder, den Pionieroffizier, bei sich. Sie sassen im Garten und tranken Kaffee.

– Hast du gesehen, wie verändert Theodor ist? fragte der Professor.

– Ja, seine Zeit ist gekommen, antwortete der Hauptmann; ich glaube, sie ist es längst.

– Willst du nicht mit ihm sprechen; ich kann es nicht.

– Wenn ich Junggeselle wäre, würde ich die Rolle des Oheims spielen, sagte der Hauptmann; aber ich werde Gustav zu ihm schicken! Der Junge muss Mädchen haben, sonst verkommt er. Starke Rasse, diese Wennerströmsche. Was?

– Ja, sagte der Vater, ich war mit fünfzehn Jahren soweit; aber ich hatte einen Kameraden, der nicht konfirmiert wurde, weil er mit dreizehn Jahren einer Konfirmandin ein Kind gemacht hatte.

– Sieh Gustav an: das ist ein Kerl! Der Teufel soll mich holen, wenn er nicht so breit über die Lenden ist und solche Schenkel hat wie ein alter Hauptmann! Er macht sich!

– Ja, ich weiss wohl, was es kostet, aber das ist immer noch besser, als sich anstecken, sagte der Vater. Willst du Gustav bitten, Theodor mitzunehmen, um ihn etwas aufzurütteln.

– Ja, das will ich tun, sagte der Hauptmann.

Und damit war die Sache klar.

 

Eines Abends im Juli, als es am allerwärmsten war und alles im höchsten Flor stand; während der Schwangerschaft der Natur, als alles, das im Frühling befruchtet war, Frucht werden wollte, sass Herr Theodor auf seiner Kammer und wartete. Er hatte an die Wand ein „Komm zu Jesus“ angeschlagen, das „Lass uns nicht disputieren“ bedeuten sollte, dem Bruder Leutnant gegenüber, der dann und wann aus der Kaserne für einen Augenblick nach Hause kam. Gustav war ein heiteres Gemüt, das sich immer „machte“, wie der Onkel sagte; er dachte nicht daran, an den Lauf der Welt Grübeleien zu verschwenden. Für heute abend hatte er Theodor versprochen, ihn um sieben Uhr abzuholen; sie wollten dann besprechen, wie des Vaters Geburtstag zu feiern sei. Theodors geheimer Plan war, den Bruder zu überrumpeln, um ihn auf bessere Gedanken zu bringen. Aber Gustavs geheimer Plan war, Theodor zur Vernunft zu bringen.

Punkt sieben hielt eine Droschke (Herr Leutnant kam immer in einer Droschke) vorm Hause, und gleich darauf hörte Theodor auf der Treppe Sporen klirren und einen Säbel rasseln.

– Guten Tag, alter Maulwurf, grüsste der ältere Bruder.

Es war eine junge kräftige Gestalt. Man sah die prächtigsten Waden unter den blanken Schäften seiner Stiefel; und unter dem langen Schoss des Überrocks zeichneten sich die Lenden eines Percheronpferdes ab. Das goldene Kartuschenbandelier machte die Brust breiter und das Säbelkoppel hing an einem Paar Hüften, auf denen man sitzen konnte!

Er warf einen Blick auf „Komm zu Jesus“, grinste, sagte aber nichts darüber.

– Komm, Theodor, wir fahren nach Bellevue zum Gärtner und bestellen alles für den Geburtstag des Alten. Zieh dich an und komm, alter Baruch.

Theodor wollte Einwendungen machen, aber der Bruder nahm ihn unterm Arm, setzte ihm die Mütze verkehrt auf den Kopf, steckte ihm eine Zigarre in den Mund und öffnete die Tür. Theodor fühlte sich lächerlich und aus seiner Rolle gerissen, ging aber mit.

– Jetzt fährst du nach Bellevue, sagte der Leutnant zum Kutscher, aber fahr so, dass deine Vollblut wie Riemen auf den Strassensteinen liegen.

Theodor musste über die Sicherheit des Bruders lachen. Niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, einen Kutscher, einen ältern verheirateten Mann, du zu nennen.

Auf dem Wege plauderte und schwatzte der Leutnant von allem Möglichen, und alle Mädchen, die er traf, sah er an.

Sie kamen an einem heimkehrenden Leichenzug vorbei.

– Hast du gesehen, sagte Gustav, was für ein verflucht hübsches Mädchen im letzten Wagen sass.

Nein, Theodor hatte es nicht gesehen und wollte es nicht sehen.

Und dann begegneten sie einem Omnibus, in dem lauter Kellnerinnen sassen. Da stand der Leutnant in der Droschke auf und warf ihnen Kusshände zu, mitten auf der Strasse. Er war zu verrückt.

Sie richteten ihre Sache in Bellevue aus. Auf dem Heimweg bog der Kutscher ohne weitere Ordre nach der Gastwirtschaft „Stallmeisterhof“ ab.

– Wir wollen etwas essen, sagte Gustav und stiess den Bruder aus der Droschke.

Theodor war wie betört. Ein Gelübde der Nüchternheit hatte er nie abgelegt und er sah nichts Sündhaftes darin, in ein Wirtshaus zu gehen, wenn er es auch nicht von selber tat. Er folgte, allerdings mit dem Atem im Halse.

Im Flur wurde der Leutnant von zwei Mädchen empfangen, die im nächsten Augenblick an seiner Brust lagen.

– Guten Tag, meine Tauben, begrüsste er sie und küsste beide auf den Mund. Hier habt ihr meinen gelehrten Bruder, er ist noch jungfräulich; das bin ich aber nicht mehr, was, Jossa?

Die Mädchen sahen schüchtern Theodor an, der nicht wusste, wohin er sich wenden solle, so beispiellos frech, beinahe naiv kam ihm die Sprache des Bruders vor.

Als sie eine Treppe hinaufgingen, trafen sie ein kleines schwarzes Mädchen mit verweinten Augen, das manierlich aussah und einen guten Eindruck auf Theodor machte.

Der Leutnant küsste sie nicht, zog aber sein Taschentuch und trocknete ihr die Augen. Dann befahl er einen kolossalen Schmaus.

Es war ein heller, heiterer Raum, mit Spiegeln und Klavier, zu Bacchanalen eigens eingerichtet. Der Leutnant öffnete den Deckel des Klaviers mit dem Säbel, und ehe Theodor sichs versah, sass er auf dem Stuhl und hatte die Hände auf der Klaviatur.

– Jetzt spielst du einen Walzer, sagte der Bruder.

Und siehe, Herr Theodor spielte einen Walzer. Und der Leutnant schnallte den Säbel ab und tanzte mit seiner Jossa einen furchtbaren Walzer, dass die Sporenräder in Stuhlbeine und Tischfüsse hieben. Dann warf er sich auf ein Sofa und schrie:

– Kommt her, Sklavinnen, und fächelt mir Kühlung zu.

Theodor ging in Mollakkorde über und war bald in Gounods Faust. Er wagte sich nicht umzudrehen.

– Geht und gebt ihm einen Kuss, flüsterte der Bruder.

Das getraute sich aber keins von den Mädchen. Nein, sie hatten beinahe Furcht vor ihm und seiner düstern Musik.

Aber die Kühnste trat ans Klavier heran, um etwas zu sagen:

– Ist das nicht Freischütz?

– Nein, antwortete Theodor höflich, das ist Faust!

– Er sieht so ordentlich aus, dein Bruder, sagte die kleine schwarze, die Rieke hiess. Der ist anders als du, du alter Schlingel!

– Er will ja auch Geistlicher werden, flüsterte der Leutnant.

Das machte einen tiefen Eindruck auf die Mädchen, und sie küssten den Leutnant nur noch heimlich, und nach Theodor sahen sie so verlegen und so scheu wie Hühner nach einem Kettenhund.

Das Abendessen wurde aufgetragen. So viel Speisen! Es waren achtzehn Schüsseln, dazu die warmen Gerichte.

Gustav goss die Schnäpse ein.

– Prosit, alter Pfaffe, sagte er.

Theodor musste den Branntwein kosten. Der wärmte so gut, und es fiel ein dünner warmer Schleier über seine Augen, und die Esslust raste wie ein wildes Tier in seinen Eingeweiden. Der frische Lachs mit seinem halb angegangenen Geschmack und der Dill mit seinem betäubenden narkotischen; die Radieschen kratzten die Kehle und verlangten Bier; die kleinen Beefsteaks mit süsser portugiesischer Zwiebel rochen wie ein tanzendes Mädchen; der geschmorte Hummer duftete nach dem Meer; die ersten Pressgurken mit dem Geschmack des giftigen Grünspans knirschten so schön zwischen den Zähnen; und das Küken, das mit Petersilie ausgestopft war, erinnerte an den Gärtner. Der Porter rann wie warme Lavaströme durch seine Adern; aber auf die Erdbeeren da knallte der Champagner, und das Mädchen kam mit dem brausenden Getränk, das wie eine Quelle rann. Auch das Mädchen musste sich ein Glas nehmen. Und dann sprachen sie von allem Möglichen.

Theodor sass da wie ein Baum, der in neuem Saft steht; das Essen gärte so in seinem Körper, dass er sich wie ein Vulkan fühlte. Neue Gedanken, neue Gefühle, neue Ansichten, neue Gesichtspunkte flatterten wie Schmetterlinge um seine Stirn. Er setzte sich ans Klavier; aber was er spielte, wusste er nicht. Die Tangenten waren unter seinen Fingern ein Haufen harter Knochenstücke, aus denen sein Geist Leben pressen wollte: er ordnete, sammelte sie, um sie dann zu zerbrechen, aufzulösen.

Er wusste nicht, wie lange er spielte, als er aber aufhörte und sich umdrehte, kam der Bruder ins Zimmer. Er sah glücklich aus wie ein höheres Wesen, und sein Gesicht strahlte von Leben und Kraft. Und dann kam Rieke mit einer Bowle, und gleich danach kamen alle Mädchen herauf. Und der Leutnant brachte Gesundheiten auf sie aus, auf die eine nach der andern. Und Theodor fand, es sei alles so, wie es sein sollte, und er wurde schliesslich so kühn, dass er Rieke auf die Schulter küsste. Sie entzog sich ihm aber und sah gekränkt aus, und dann schämte sich Theodor.

Als die Uhr eins war, mussten sie gehen.

Als Theodor auf seine Kammer in die Einsamkeit kam, war er ganz auf den Kopf gestellt. Er riss „Komm zu Jesus“ herunter, nicht weil er an Jesus nicht mehr glaubte, sondern weil er es für eine Prahlerei hielt. Er war erstaunt, dass seine Religion so lose sass, wie ein Festtagsrock, und er fragte sich, ob es nicht unpassend sei, die ganze Woche in Sonntagskleidern zu gehen. Er fand in sich einen einfachen Alltagsmenschen, den er gut leiden mochte, und er glaubte mehr in Frieden mit sich selber zu sein, wenn er sich so einfach, anspruchslos, ungeschraubt gab.

Nachts schlief er einen schweren, guten Schlaf ohne Träume.

Als er am nächsten Morgen aufstand, waren seine blassen Wangen etwas voller und er fühlte eine frohe Lebenslust. Er ging spazieren, und wie er so ging, kam er zur Stadt hinaus. Wenn ich nach der Gastwirtschaft ginge, dachte er, und nachsähe, wie es den Mädchen geht.

Er trat in den grossen Saal; dort sassen Rieke und Jossa allein im Morgenrock und putzten Stachelbeeren. Und ehe er es sich versah, sass er an ihrem Tisch, nahm eine Schere und putzte ebenfalls Stachelbeeren. Und sie plauderten über den gestrigen Abend und über den Bruder und freuten sich, dass es so lustig hergegangen. Man sprach nicht ein unanständiges Wort. Theodor fand, es sei wie in einer Familie, und das konnte nicht sündhaft sein.

Später trank er Kaffee und lud die Mädchen dazu ein. Und dann kam die Wirtin und las ihnen aus der Zeitung vor: es war ganz, als sei er bei sich zu Hause gewesen.

So kam er wieder. An einem Nachmittag ging er eine Treppe hoch zu Rieke. Sie sass oben und nähte an einem Hohlsaum. Theodor fragte, ob er sie belästige. Nein, keineswegs, im Gegenteil, antwortete sie. Und sie sprachen über den Bruder. Er war im Manöver und sollte erst in zwei Monaten zurückkommen. Schliesslich tranken sie Punsch und duzten einander.

Ein anderes Mal traf Theodor sie im Hagapark. Sie pflückte Blumen. Und beide setzten sich ins Gras. Sie hatte ein leichtes Sommerkleid an, das war so dünn, dass er sah, wie die Spitzen ihrer Brüste zwei helle Erhebungen bildeten, mit einer dunklen Senkung dazwischen. Er fasste sie um den Leib und küsste sie. Sie küsste ihn wieder, und es wurde ihm schwarz vor den Augen. Da zog er sie an sich, als wolle er sie ersticken; sie aber riss sich los und sagte recht ernst, er müsse artig sein, sonst könnten sie sich nie wieder treffen.

Zwei Monate trafen sie sich. Theodor war in sie verliebt. Er hielt lange, ernste Gespräche über die höchsten Aufgaben des Lebens, über die Liebe, über die Religion, über alles, und dazwischen machte er seine Angriffe auf ihre Tugend, wurde aber immer mit seinen eigenen Worten zurückgeschlagen. Dann schämte er sich furchtbar, dass er von einem unschuldigen Mädchen so niedrig denken könne. Seine Leidenschaft ging schliesslich in hohe Bewunderung über für dieses arme Mädchen, das sich mitten in den Versuchungen rein erhalten konnte. Er hatte sich den Geistlichen aus dem Sinn geschlagen, wollte den Doktor machen und – wer weiss – sich vielleicht mit Rieke verheiraten. Er las ihr jetzt Poesie vor, während sie nähte. Küssen durfte er sie, soviel er wollte, sie an sich drücken, zudringlich sein; mehr aber erlaubte sie nicht.

Schliesslich kam der Bruder nach Haus. Sofort gab er ein Festessen im „Stallmeisterhof“, und Theodor wurde dazu eingeladen. Aber er musste ihnen vorspielen, unaufhörlich spielen. Er war mitten in einem Walzer, nach dem niemand tanzte, als er sich umsah: er war allein. Da stand er auf und ging in den Flur. Kam in eine lange Reihe von kleinen Zimmern, schliesslich in ein Schlafzimmer. Da hatte er einen Anblick, dass er sofort hinausstürzte, seinen Hut nahm und in die Nacht verschwand.

Erst gegen Morgen befand er sich wieder zu Hause auf seiner Kammer, allein, vernichtet, jedes Glaubens beraubt, ans Leben, an die Liebe und ans Weib natürlich, denn es gab für ihn nur ein Weib in der Welt, und das war Rieke vom Stallmeisterhof.

Als der fünfzehnte September kam, fuhr er nach Uppsala, um Theologie zu studieren.

 

Die Jahre vergingen. Sein guter Verstand erlosch so allmählich unter all den Dummheiten, die er jetzt täglich und stündlich seinem Gehirn eintrichtern musste. Wenn aber die Nacht kam und der Widerstand aufhörte, brach die Natur los und nahm mit Gewalt, was der aufrührerische Mensch ihr streitig machen wollte. Er wurde kränklich. Sein Gesicht fiel so ein, dass man alle hervortretenden Knochen des Schädels sehen konnte; die Haut wurde gelbweiss wie die einer in Spiritus gelegten Leibesfrucht und sah immer feucht aus; und zwischen den dünnen Bartsträhnen traten Finnen auf. Das Auge war erloschen; die Hände so mager geworden, dass alle Gelenke durch die Haut guckten. Er sah aus wie das Bild zu einer Tendenzarbeit über die menschlichen Laster, und doch war er rein.

Eines Tages bat ihn der Professor der Moraltheologie, der ein verheirateter, aber strenger Mann war, um ein Gespräch unter vier Augen. Der Professor fragte so diskret wie möglich, ob er etwas auf dem Herzen habe; dann solle er sich erleichtern. Nein, er habe keine Sünde zu gestehen, aber er sei unglücklich. Der Professor ermahnte ihn, zu wachen und zu beten und stark zu sein.

Vom Bruder hatte er einen langen Brief erhalten, in dem dieser ihn bat, jene bewusste Bagatelle nicht so ernst zu nehmen. Es sei dumm, ein Mädchen ernst zu nehmen! Bezahlen und gehen, sei seine Philosophie, und mit der stehe er sich gut. Spielen, solange man jung sei; der Ernst komme immer noch früh genug. Die Ehe sei eine bürgerliche Einrichtung, um die Kinder aufzuziehen, weiter nichts. Wenn wir älter geworden, sollten wir uns verheiraten ...

Hierauf antwortete Theodor in einem langen, von wahrem christlichen Geist durchdrungenen Brief, der unbeantwortet blieb.

 

Nachdem Theodor im Frühling das erste Examen gemacht hatte, musste er im Sommer nach Sköfde fahren, um eine Kaltwasserkur durchzumachen. Im Herbst kehrte er nach Uppsala zurück. Aber die neuen Kräfte, die er erworben hatte, waren natürlich nur neues Material fürs Feuer.

Es wurde immer schlimmer und schlimmer mit ihm. Sein Haar war jetzt so dünn, dass die Haut durchschien. Seine Schritte waren schleppend, und wenn Kameraden ihn auf der Strasse sahen, schauderte ihnen wie vor einem lasterhaften Menschen. Er begann es selbst zu merken und wurde scheu. Ging nur abends aus. Wagte nachts nicht im Bett zu schlafen. Das Eisen, das er im Übermass eingenommen, hatte seine Verdauung verdorben. Im nächsten Sommer wurde er nach Karlsbad geschickt.

Im folgenden Herbst durchlief ein Gerücht die Universitätsstadt, ein garstiges Gerücht, das wie eine dunkle Wolke über den Horizont zog. Es war, als habe man vergessen, eine Kloakenklappe zu schliessen, und ein furchtbarer Gestank erinnerte plötzlich daran, dass die Stadt, die herrliche Schöpfung der Kultur, auf einem Untergrund von Fäulnis ruhte, der jeden Augenblick die Röhren sprengen und die ganze Gesellschaft vergiften konnte. Man flüsterte, Theodor Wennerström habe in einem Wutanfall einen Kameraden in seiner Wohnung überfallen und ihm schändliche Anträge gemacht. Dieses Mal hatte das Gerücht die Wahrheit geflüstert.

Der Vater kam nach Uppsala und beriet sich mit dem Dekan der theologischen Fakultät. Der Professor der Pathologie wurde zugezogen. Was war zu machen? Der Arzt schwieg. Schliesslich wurde er gefragt.

– Da ich gefragt werde, muss ich wohl antworten, sagte er; aber, meine Herren, Sie wissen doch ebenso gut wie ich, dass es nur ein Mittel gibt.

– Und das ist? fragte der Theologe.

– Müssen Sie wirklich noch fragen, wodurch die Natur geheilt wird, antwortete der Arzt.

– Ja, das muss man wirklich, sagte der Theologe, der verheiratet war; denn es ist nicht Natur, dass der Mensch unzüchtig sein soll.

Der Vater sagte, er wisse wohl, dass nur der Verkehr mit einer Frau helfen könne, aber er wolle seinem Sohn nicht solchen Rat geben, denn er könne sich dabei eine Krankheit holen.

– Dann ist er ein Esel, wenn er sich nicht in acht nehmen kann, antwortete der Arzt.

Der Dekan ersuchte, ein so aufregendes Gespräch an einem Ort zu führen, der besser dazu geeignet sei. Hinzuzufügen habe er nichts.

Und dabei blieb es.

Da Theodor Oberklasse war, wurde die Sache totgeschwiegen. Nach einigen Jahren machte er das zweite theologische Examen und wurde nach Spaa geschickt. Das Chinin, das er eingenommen, hatte sich in die Knie gesetzt, und er musste zwischen zwei Stöcken gehen. In Spaa erschreckte er sogar Kranke mit seinem furchtbaren Aussehen.

Aber eine fünfunddreissigjährige unverheiratete Deutsche schien Mitleid mit dem Unglücklichen gefasst zu haben. Sie sass bei ihm in einer einsamen Laube im Brunnenpark und sprach über die höchsten Fragen des Lebens. Sie gehörte zu einer grossen evangelischen Vereinigung, welche die Sitten verbessern wollte. Sie hatte Prospekte zu Zeitungen und Zeitschriften, welche die Unsittlichkeit zwischen Unverheirateten abschaffen, besonders die Prostitution aufheben wollten.

– Sehen Sie mich an, sagte sie, ich bin fünfunddreissig Jahre alt und bei voller Gesundheit! Was sprechen die Toren davon, dass die Unsittlichkeit ein notwendiges Übel ist. Ich habe gewacht und gebetet, und ich habe einen guten Kampf gekämpft des Herrn Jesu Christi wegen.

Der junge Geistliche sah sie an, ihren vollen Busen und ihre hohen Hüften, und dann sah er sich selber an und dachte:

– Wie verschieden es doch mit Menschen und Menschen in dieser Welt bestellt ist!

Im Herbst waren Prediger Theodor Wennerström und die tugendsame Jungfrau Sophia Leidschütz verlobt.

– Gerettet, seufzte der Vater, als er die Nachricht in seinem Haus zu Stockholm empfing.

– Wollen sehen, wie es geht, dachte der Bruder in seiner Kaserne. Wenn mein lieber Theodor nur nicht einer „jener Asra ist, die sterben, wenn sie lieben“.

Theodor Wennerström verheiratete sich. Neun Monate später brachte seine Frau einen rachitischen Sohn zur Welt. Dreizehn Monate darauf war Theodor Wennerström tot.

Der Arzt, der den Totenschein ausstellte, schüttelte den Kopf, als er die üppige hochgewachsene Frau weinend an dem kleinen Sarg stehen sah, in dem das Skelett des zwanzigjährigen jungen Mannes ruhte.

– Das Plus war zu gross und das Minus zu klein, dachte er; darum ass das Plus das Minus auf.

Aber der Vater, der die Todesnachricht an einem Sonntag empfing, setzte sich hin, um eine Predigt zu lesen. Als er die beendet, dachte er:

– Die Welt muss sehr verkehrt sein, wenn die Tugendhaften solch einen Lohn erhalten.

Und die tugendsame Witwe, geborene Leidschütz, verheiratete sich noch zwei Male und bekam acht Kinder; schrieb Aufsätze über Überbevölkerung und Unsittlichkeit. Aber der Schwager sagte, sie sei eine verfluchte Frau, die ihren Männern das Leben nehme.

Aber der nicht tugendhafte Leutnant verheiratete sich und bekam sechs Kinder, wurde Major und war glücklich bis ans Ende seiner Tage.

Liebe und Brot

Der Assistent hatte nicht daran gedacht, nach dem Stand der Getreidepreise zu sehen, als er zum Major hinausfuhr, um zu freien; aber der Major hatte nachgesehen.

– Ich liebe sie, sagte der Assistent.

– Wieviel verdienst du? fragte der Alte.

– Zwölfhundert Kronen allerdings nur, aber wir lieben einander ...

– Das geht mich nichts an; zwölfhundert ist zu wenig.

– Und dann habe ich noch eine besondere Einnahme, und Luise kennt mein Herz ...

– Schwatz keinen Unsinn! Wie gross ist die besondere Einnahme?

– Wir haben uns zum ersten Mal getroffen auf ...

– Wie gross ist die besondere Einnahme?

Und er setzte den Bleistift an.

– Und meine Gefühle ...

– Wie gross ist die besondere Einnahme?

Und er zeichnete Krähenfüsse auf dem Löschpapier.

– Oh, es wird schon werden, wenn man nur ...

– Willst du mir antworten oder willst du nicht? Wie gross ist deine besondere Einnahme? Zahlen! Zahlen! Tatsachen!

– Ich habe Übersetzungen für zehn Kronen den Bogen, ich habe Schüler im Französischen, ich habe Zusagen für Korrekturlesen ...

– Zusagen sind keine Tatsachen! Zahlen, Junge, Zahlen! So, jetzt schreibe ich. Was hast du für eine Übersetzung?

– Was ich für eine Übersetzung habe? Das kann ich nicht so vom Fleck weg sagen.

– Das kannst du nicht so vom Fleck weg sagen? Du hast doch eine Übersetzung, sagst du: kannst du nicht sagen, was das für eine ist? Was ist das für ein Geschwätz?

– Ich habe Guizot, Geschichte der Kultur, fünfundzwanzig Bogen.

– Zu je zehn Kronen, gleich 250 Kronen. Und dann?

– Dann? Das weiss man doch nicht vorher!

– Ei ei, weiss man das nicht vorher? Aber das gerade soll man vorher wissen! Du glaubst, Heiraten ist nur Zusammenziehen und Spielen! Nein, mein Junge, in neun Monaten kommt ein Kind, und Kinder müssen Essen und Kleider haben!

– Es muss doch nicht sofort ein Kind kommen, wenn man einander liebt, wie wir uns lieben.

– Wie zum Teufel liebt ihr euch denn?

Wie wir uns lieben!

Er legte die Hand auf den Aufschlag seiner Weste.

– Kommt kein Kind, wenn man einander liebt wie ihr! Bist du verrückt? Doch du sollst ein ordentlicher Mensch sein, und darum darfst du dich verloben; aber benutze deine Verlobungszeit, um dir Brot zu schaffen, denn es nahen schwere Zeiten: das Getreide steigt!

Der Assistent wurde ganz rot im Gesicht, als er die Schlussworte hörte, aber die Freude, sie zu bekommen, war so gross, dass er dem Alten die Hand küsste. Und Gott im Himmel, wie glücklich war er! Als sie zum ersten Male Arm in Arm die Strasse hinunterzogen, ging ein Leuchten von ihnen aus; und es war ihnen, als blieben die Menschen auf dem Trottoir stehen und bildeten Reihen, um ihnen auf ihrem Triumphzug das Ehrengeleit zu geben; und sie gingen dahin mit stolzen Blicken, hocherhobenen Kopfes und federnden Schrittes.

Und abends kam er zu ihr; und sie setzten sich mitten in den Saal und lasen Korrektur; sie las die Gegenkorrektur. Und der Alte dachte, das ist ein tüchtiger Kerl. Und als sie fertig waren, sagte er: Jetzt haben wir drei Kronen verdient! Und dann küssten sie sich. Und am nächsten Abend waren sie im Theater und fuhren nach Haus und das kostete zwölf Kronen.

Zuweilen, wenn er abends Unterricht geben sollte, liess er – was tut man nicht für die Liebe – die Stunde ausfallen und kam zu ihr. Und dann gingen sie spazieren.

Aber die Hochzeit rückte näher. Da hatte man etwas anderes zu tun. Sie sahen sich Möbel an. Mit dem Wichtigsten mussten sie beginnen. Luise wollte nicht dabei sein, wenn er das Bett kaufte, aber dann ging sie doch mit. Sie wollten zwei Betten haben, natürlich; die sollten nebeneinander stehen, damit sie nicht so viele Kinder kriegten, natürlich. Und Nussbaum musste es sein, jedes einzige Stück, echt Nussbaum. Und dann wollten sie rotgestreifte Matratzen mit Sprungfedern haben und mit Federn gestopfte Langkissen. Und jeder seine eigene Decke, aber gleiche natürlich, und Luise wollte ihre blau haben, denn sie war blond.

Dann gingen sie ins erste Warenhaus. Vor allem natürlich eine rote Ampel für die Schlafstube und eine Venus aus Biskuit. Und dann das Tischservice: sechs Dutzend Gläser von jeder Sorte mit geschliffenen Ecken; und dann Messer und Gabeln, gerieft und gezeichnet. Und schliesslich die Kücheneinrichtung. Da aber musste Mama mitgehen.

Und wieviel er zu tun hatte! Wechsel akzeptieren, zu Banken laufen, Handwerker suchen, Wohnung finden, Gardinen anbringen. Und er kriegte alles fertig. Seine Arbeit musste er allerdings liegen lassen; aber wenn er nur erst verheiratet wäre, dann würde er sie schon wieder aufnehmen!

Sie wollten nur zwei Zimmer haben, für den Anfang, sie wollten ja so verständig sein! Da man aber nur zwei Zimmer hatte, so konnte man sie wenigstens gut einrichten. Und er mietete zwei Zimmer mit Küche eine Treppe hoch in der Regierungsstrasse für sechshundert Kronen. Und als Luise bemerkte, sie hätten ebensogut drei Zimmer mit Küche vier Treppen hoch für fünfhundert Kronen haben können, wurde er etwas verlegen; aber was tut das, wenn man einander nur liebt. Ja, das meinte Luise auch, aber man könne sich in drei Zimmern für niedrigere Miete ebenso lieb haben als in vier für höhere. Ja, er sei dumm, das wisse er, aber das mache nichts aus, wenn man einander nur liebe.

Die Zimmer waren in Ordnung. Und die Schlafstube war wie ein kleiner Tempel. Und die beiden Betten standen nebeneinander wie zwei Equipagen. Und die Sonne schien auf die blaue Decke und die weissen, weissen Laken und auf die kleinen Kopfkissen, die von einer unverheirateten Tante mit Namen bestickt waren; es waren grosse blumige Buchstaben, die sich in einer einzigen Umarmung umschlangen und sich hier und dort küssten, wenn sie einander an den Ecken trafen. Und die junge Frau hatte ihren kleinen Alkoven für sich, vor dem ein japanischer Schirm stand. Und im Salon, der Esssaal, Arbeitszimmer und Wohnstube zugleich war, stand ihr Klavier (das zwölfhundert Kronen gekostet), stand sein Schreibtisch mit zehn Fächern („Nussbaum jedes einzige Stück“), standen die Pfeilerspiegel aus lauter Glas, Sessel, Büfett, Esstisch. „Es sieht aus, als wohnten vornehme Leute in dem Zimmer“; und sie konnten nicht verstehen, was man mit einem Esssaal machen sollte, der mit seinen Rohrstühlen immer ungemütlich war.

Und an einem Sonnabend war die Hochzeit! Und am Sonntagmorgen! Hei, welches Leben! Ist es nicht schön, verheiratet zu sein! Ist nicht die Ehe eine herrliche Erfindung! Man darf ja ganz tun, was man will, und dann kommen Eltern und Geschwister und gratulieren einem noch obendrein!

Die Schlafstube ist um neun Uhr morgens noch dunkel. Er will nicht die Läden öffnen, um das Tageslicht hereinzulassen, sondern steckt noch ein Mal die rote Ampel an, und die wirft ihren zauberischen Schein über die blaue Decke und die weissen Laken, die etwas zerknittert sind, und die Biskuit-Venus steht dort rosenrot und ohne Scham. Und dort liegt das Frauchen, so seelisch zerknirscht, aber so ausgeschlafen, als habe sie die erste Nacht ihres Lebens geschlafen. Und auf der Strasse rollen heute keine Wagen, denn es ist Sonntag, und die Glocken läuten zum ersten Male, so jubelnd, so hurtig, als riefen sie die ganze Welt zusammen, um den, der Mann und Weib geschaffen, zu loben und zu preisen. Und er flüstert der kleinen Frau ins Ohr, sie möge sich abwenden, denn er wolle hinausgehen und das Frühstück bestellen. Und sie steckt den Kopf in die Kissen. Und er schlüpft in den Schlafrock und geht hinter den Schirm, um sich einige Kleider anzuziehen.

Und dann kommt er in den Salon hinaus, und die Sonne hat eine grosse strahlende Bahn auf den Boden geworfen; und er weiss nicht, ob es Frühling, Sommer, Herbst oder Winter ist; er weiss nur, dass es Sonntag ist! Und er fühlt, wie seine Junggesellenzeit als etwas Garstiges und Dunkles entweicht, und in seiner Häuslichkeit spürt er einen Hauch vom alten Elternhaus und zugleich vom Heim seiner künftigen Kinder.

Hei, wie stark er ist! Die Zukunft empfindet er wie einen Berg, der ihm entgegen kommt! Er wird ihn anblasen und der Berg wird einstürzen wie Sand vor seinen Füssen; er wird über Schornsteine und Dachfirste dahinfliegen mit seinem Frauchen im Arm.

Und er liest seine Kleider zusammen, die er im Zimmer verstreut hat; und das weisse Halstuch findet er an einem Bilderrahmen: dort sitzt es wie ein weisser Schmetterling.

Und dann geht er in die Küche hinaus. Wie das neue Kupfer glänzt, wie die neuverzinnten Kasserollen leuchten! Das gehört ihm und ihr! Und er weckt das Mädchen, das im Unterrock aus ihrer Kammer kommt. Und er wundert sich, dass er ihre nackte Brust nicht sieht: sie ist geschlechtslos für ihn! Denn für ihn gibt es nur noch eine Frau! Er fühlt sich keusch wie ein Vater vor seinem Kind. Er gibt ihr den Auftrag, ins Restaurant hinunter zu gehen und ein Frühstück zu bestellen, sofort, aber brillant soll es sein. Porter und Burgunder! Der Wirt weiss schon Bescheid. Grüssen Sie nur von mir.

Und er geht an die Tür zum Schlafzimmer und klopft.

– Darf ich hereinkommen?

Ein leichter Aufschrei:

– Nein, Liebster, warte ein wenig!

Und dann deckt er selber. Als das Frühstück kommt, tischt er es auf ihren neuen Tellern auf. Und dann legt er die Servietten kunstgerecht zusammen. Und dann wischt er die Weingläser aus. Und dann stellt er das Brautbukett in ein Glas vor ihr Kuvert.

Als sie schliesslich in ihrem gestickten Morgenrock aus dem Schlafzimmer tritt, und die Sonne sie blendet, bekommt sie einen kleinen Ohnmachtsanfall, nur einen kleinen: er muss sie in den Sessel vorm Frühstückstisch setzen. Und sie muss einen kleinen Kümmelschnaps aus einem Likörgläschen trinken und dann ein Kaviarbrötchen essen.

– Oh, wie nett! Man kann ja machen, was man will, wenn man verheiratet ist! Was würde Mama sagen, wenn sie ihre Luise trinken sähe.

Und er tischt ihr auf und bedient sie, ganz als wäre sie noch seine Braut. Welches Frühstück nach einer solchen Nacht! Und niemand hat ein Recht, „etwas zu sagen“. Und es ist schön und gut, und man amüsiert sich mit dem allerschönsten Gewissen, und das ist das Beste von allem. Er hat wohl schon solch ein Frühstück genossen, aber welch ein himmelweiter Unterschied! Unruhe, Unlust hatte er damals empfunden: er wollte nicht mehr daran denken! Und als er nach den Austern ein Glas echten schwedischen Porter trinkt, kann er alle Junggesellen nicht genug verachten.

– Wie dumm die Menschen sind, die sich nicht verheiraten! Solche Egoisten! Man müsste sie besteuern wie Hunde!

Aber seine Frau wagt einzuwenden, so freundlich und bescheiden wie möglich:

– Es ist doch wohl schade um die armen Männer, dass sie nicht alle die Mittel haben, sich zu verheiraten, denn hätten sie die Mittel, würden sich wohl alle verheiraten!

Der Assistent fühlt einen Stich im Herzen und einen Augenblick wird ihm bange, als sei er zu übermütig gewesen. Sein ganzes Glück ruhte ja auf einer wirtschaftlichen Frage, und wenn, wenn ... Pah! Ein Glas Burgunder! Jetzt sollte gearbeitet werden! Sie würden schon sehen!

Und dann kommt ein gebratenes Birkhuhn mit Preiselbeeren und Gurken. Die junge Frau wird etwas bestürzt, aber es ist ja so nett.

– Lieber Ludwig, und sie legt ihr zitterndes Händchen auf seinen Oberarm, haben wir denn die Mittel dazu?

Sie sagt glücklicherweise „wir“!

– Pah, ein Mal ist kein Mal! Später können wir Kartoffeln und Hering essen!

– Isst du Kartoffel und Hering?

– Ich glaube, ja!

– Wenn du gekneipt hast und ein Beefsteak hinterher bekommst!

– Nicht schwatzen! Nein, Gesundheit! Das ist ein ausgezeichnetes Birkhuhn! Und dann Artischocken!

– Nein, aber du bist ja ganz verrückt, Ludwig! Artischocken, zu dieser Jahreszeit? Was müssen die kosten!

– Kosten? Sind sie nicht gut? Nun, das ist die Hauptsache. Und dann Wein! Mehr Wein! Findest du nicht, dass das Leben schön ist! Oh, es ist herrlich, herrlich!

Am Nachmittag um sechs Uhr stand eine Kalesche vor der Tür. Die junge Frau wäre beinahe böse geworden. Aber wie schön war es, so auf dem Rücksitz neben einander halb zu liegen und langsam nach dem Tiergarten zu schaukeln.

– Das ist ja ganz wie im selben Bett liegen, flüsterte Ludwig.

Sie schlug ihn mit dem Sonnenschirm auf die Finger.

Bekannte blieben auf dem Trottoir stehen und grüssten. Kameraden winkten mit der Hand, als sagten sie:

– Haha, du Schelm, du hast Geld bekommen!

Und wie klein die Menschen dort unten aussehen, wie glatt die Strasse war, wie leicht die Fahrt auf Federn und Polstern ging.

So müsste es immer sein!

 

Es dauerte einen ganzen Monat! Bälle, Besuche, Diners, Soupers, Theater. Aber dazwischen waren sie zu Hause. Da war es doch am besten! Wie herrlich, nach einem Souper seine Frau ihrem Papa und ihrer Mama fortzunehmen, gerade vor der Nase fortzunehmen, sie in einen geschlossenen Wagen zu setzen, die Tür zuzuwerfen, den Eltern zuzunicken und zu sagen:

– Jetzt fahren wir nach Haus zu uns! Und dort machen wir, was uns gefällt.

Und dann zu Hause einen kleinen Nachtschmaus einzunehmen und bis gegen Morgen dabei zu sitzen und zu plaudern!

Und zu Hause war Ludwig immer verständig. Wenigstens im Prinzip. Eines Tages wollte seine Frau ihn mit gesalzenem Lachs und Milchkartoffeln und Hafersuppe auf die Probe stellen. Oh, wie gut das schmeckte! Er habe die verwünschte Speisekarte satt.

Am nächsten Freitag, als es wieder gesalzenen Lachs geben sollte, kam Ludwig mit zwei Schneehühnern nach Haus! Er blieb in der Tür stehen und schrie:

– Kannst du dir denken, Luise, kannst du dir etwas so Unerhörtes denken?

– Nein, was denn?

– Du wirst es nicht glauben, wenn ich dir sage, dass ich ein Paar Schneehühner gekauft habe, selbst auf dem Markt gekauft habe, für – rate!

Seine Frau sah eher verstimmt als neugierig aus.

– Denk dir, eine Krone das Paar!

– Ich habe Schneehühner schon für achtzig Pfennige das Paar gekauft; aber (fügte sie versöhnend hinzu, um ihren Mann nicht ganz aus der Fassung zu bringen) es gab viel Schnee in jenem Winter!

– Ja, aber du musst doch jedenfalls zugeben, dass es billig ist.

Was würde sie nicht zugeben, um ihn froh zu sehen!

Abends aber hatten sie Grütze auf dem Tisch, um eine Probe zu machen. Nachdem Ludwig jedoch ein Schneehuhn gegessen hatte, bedauerte er sehr, dass er nun nicht mehr so viel Grütze zu essen vermöchte, wie er gern gewollt hätte, um ihr zu zeigen, dass er wirklich Grütze essen wolle. Und Grütze esse er gern, aber Milch sei ihm kaum möglich, nachdem er kaltes Fieber gehabt. Er könne Milch nicht hinunterbringen, aber Grütze wolle er jeden Abend essen, jeden einzigen Abend, damit sie nur nicht böse auf ihn werde.

Seitdem gab es nie mehr Grütze!

Als sechs Wochen vergangen waren, wurde die junge Frau krank. Sie hatte Kopfschmerzen und musste brechen. Es könne nur eine leichte Erkältung sein. Aber das Erbrechen hörte nicht auf. Hm! Konnte sie etwas Giftiges gegessen haben? War nicht das Kupfer neu verzinnt? Der Arzt wurde geholt. Er lächelte und sagte, es sei, wie es sein solle.

– Was ist, wie es sein soll? Etwas Tolles? Ach Unsinn! Das ist nicht möglich. Wie soll das möglich sein können? Nein, das sind die Tapeten in der Schlafstube; sicher ist Arsenik darin. Schicken wir sofort ein Stück nach der Apotheke zur Untersuchung!

Arsenikfrei, schrieb der Apotheker.

– Das ist doch merkwürdig! Kein Arsenik in den Tapeten?

Die junge Frau war noch immer krank. Er las in einem medizinischen Buch nach, und dann sagte er seiner Frau eine Frage ins Ohr.

– Siehst du, da haben wirs! Nur ein warmes Fussbad!

Vier Wochen später erklärte die Hebamme, alles sei, „wie es sein solle“.

– Wie es sein soll? Ja, natürlich, aber das kommt etwas schnell!

Da es nun einmal so war, oh wie schön das werden würde! Man denke nur, ein Kind! Hurrah! Sie sollten Papa und Mama werden! Wie sollte er heissen? Denn es musste ein Junge sein. Das war klar!

Jetzt aber nahm sie ihren Mann vor und sprach ernst mit ihm! Er hatte weder eine Übersetzung noch eine Korrektur gemacht, seit sie sich verheiratet hatten. Und der blosse Gehalt reichte nicht.

– Ja, man hat in Saus und Braus gelebt. Herr Gott, man ist eben nur ein Mal jung! Jetzt aber soll es anders werden!

Am nächsten Tag ging der Assistent zu seinem alten Freund, dem Aktuar, um dessen Bürgschaft für ein Darlehen zu erbitten.

– Wenn man im Begriff ist, Vater zu werden, siehst du, lieber Freund, muss man an die Ausgaben denken.

– Ganz mein Gedanke, lieber Freund, antwortete der Aktuar; darum habe ich nicht die Mittel gehabt mich zu verheiraten. Aber du bist so glücklich, die Mittel zu haben!

Der Assistent schämte sich, die Bürgschaft zu verlangen. Wie konnte er die Stirn haben, diesen Junggesellen zu bitten, ihm für sein Kind zu helfen? Diesen Junggesellen, der selber nicht die Mittel hatte, sich Kinder zu leisten! Nein, das konnte er nicht.

Als er zum Mittagessen nach Haus kam, erzählte seine Frau, es seien zwei Herren dagewesen, um ihn zu sprechen.

– Wie sahen sie aus? Waren sie jung? Trugen sie Gläser? Dann waren es bestimmt zwei Leutnants, alte gute Freunde aus dem Badeort Waxholm.

– Nein, es waren keine Leutnants; sie sahen älter aus!

– Dann weiss ich! Das waren alte Freunde von der Universität Uppsala, wahrscheinlich der Dozent P. und der Hilfsprediger O. Die wollten einmal nachsehen, wie ihr alter Ludwig als Ehemann ausschaut.

– Nein, sie waren nicht aus Uppsala, sie waren aus Stockholm!

Das Mädchen wurde hereingerufen. Sie meinte, die Leute hätten schäbig ausgesehen und Stöcke getragen.

– Stöcke! Hm! ich kann nicht verstehen, was das für Leute gewesen sind. Nun, das wird man schon früh genug erfahren; sie wollten ja wiederkommen. Übrigens habe ich zufällig eine Kanne Gartenerdbeeren gefunden zu einem wirklichen Schleuderpreis; ja es ist beinahe lächerlich! Kannst du dir denken, Gartenerdbeeren für einsfünfzig die Kanne, in dieser Jahreszeit!

– Ludwig, Ludwig, wohin soll das führen?

– Es wird ausgezeichnet gehen. Heute habe ich eine Übersetzung bekommen.

– Aber du hast Schulden, Ludwig!

– Kleinigkeiten! Kleinigkeiten! Warte nur, wenn ich meine grosse Anleihe mache.

– Deine Anleihe! Das wird ja eine neue Schuld!

– Ja, aber auf was für Bedingungen! Sprechen wir jetzt aber nicht von Geschäften! Sind die Erdbeeren nicht gut? Was? Wird es nicht schmecken, darauf ein Glas Sherry zu trinken? Was? Lina, geh zum Kaufmann hinunter und hol eine Flasche Sherry, echten Sherry!

Nachdem er auf dem Sofa im Salon ein Mittagsschläfchen gehalten hatte, bat seine Frau, ihm ein Wort sagen zu dürfen.

– Aber du musst nicht böse werden!

– Böse? Ich! Gott bewahre! Es ist wohl das Haushaltungsgeld?

– Ja! Der Kaufmann ist nicht bezahlt! Der Schlächter drängt, der Mietskutscher läuft einem ins Haus; mit einem Wort, es ist peinlich!

– Weiter nichts? Sie werden morgen jeden Schilling bekommen! Wie unverschämt, wegen solcher Kleinigkeiten zu drängen! Sie werden morgen jeden Schilling erhalten, aber einen Kunden verlieren. Jetzt wollen wir aber nicht mehr von dieser Sache sprechen. Sondern spazieren gehen. Kein Wagen! Wir fahren mit der Strassenbahn nach dem Tiergarten und erfrischen uns ein wenig.

Und sie fuhren in den Tiergarten. Als sie ins Restaurant gingen und ein besonderes Zimmer nahmen, flüsterten die jungen Herren im grossen Saal.

– Man glaubt, wir seien auf Abenteuer aus. Wie lustig! Wie verrückt.

Seiner Frau aber war es nicht angenehm.

Und nachher die Rechnung!

– Wenn wir zu Hause geblieben wären, was hätten wir für das Geld nicht alles haben können!

 

Monate vergehen! Die Zeit nähert sich! Eine Wiege muss angeschafft werden und Kinderkleider. Und es muss so vieles angeschafft werden! Herr Ludwig ist den ganzen Tag in Geschäften unterwegs. Aber das Getreide ist gestiegen. Die harten Zeiten kommen! Keine Übersetzung, keine Korrektur. Die Menschen sind Materialisten geworden. Sie lesen keine Bücher mehr, sondern kaufen Essen für ihr Geld. In welch prosaischer Zeit man lebt! Die Ideale verschwinden aus dem Leben und die Schneehühner werden nicht unter zwei Kronen das Paar verkauft. Die Mietskutscher wollen Assistenten nicht mehr umsonst nach dem Tiergarten fahren, denn sie haben auch Weib und Kind; und sogar der Kaufmann will sich seine Waren bezahlen lassen. O, welche Realisten!

Der Tag kommt und die Nacht ist da! Er muss sich anziehen und nach der Hebamme laufen! Vom Krankenbett muss er in den Flur hinaus, um Gläubiger zu empfangen.

Schliesslich hat er seine Tochter in den Armen! Da weint er, denn er fühlt die Verantwortung, eine Verantwortung, die schwerer ist, als seine Kraft zu tragen vermag. Und er fasst neue Vorsätze. Aber seine Nerven sind ruiniert. Er hat eine Übersetzung erhalten, aber er kann nicht dabei bleiben, denn er muss immerzu in Geschäften ausgehen.

Er stürzt zum Schwiegervater, der nach der Stadt gekommen ist, und bringt ihm die frohe Neuigkeit.

– Ich bin Vater!

– Gut, sagt der Schwiegervater. Hast du Brot für das Kind?

– Nein, augenblicklich nicht. Du musst helfen, Schwiegervater!

– Ja, für den Augenblick! Aber dann nicht mehr. Ich besitze nicht mehr, als sie und die anderen Kinder brauchen!

Und jetzt muss die junge Frau Hühner haben, die er selbst auf dem Markt kauft, und Johannisberger für sechs Kronen die Flasche. Echt muss es sein!

Und dann muss die Hebamme hundert Kronen haben.

– Warum sollten wir weniger als andere geben? Hat der Hauptmann nicht hundert gegeben?

Bald ist die junge Frau wieder auf den Beinen. Sie ist wieder wie ein Mädchen geworden, schmal um die Taille wie eine Gerte, etwas blass allerdings, aber das kleidet sie.

Der Schwiegervater kommt und spricht mit Ludwig unter vier Augen.

– Nun kommst du vorläufig aber nicht mit mehr Kindern, sagt er; sonst bist du ruiniert.

– Welche Sprache von einem Vater! Man ist doch verheiratet! Liebt man einander nicht! Soll man keine Kinder haben?

– Doch, aber man muss auch Brot für die Kinder haben! Lieben, das möchten wohl alle jungen Menschen, spielen, ins Bett kriechen, sich belustigen; aber die Verantwortung!

– Der Schwiegervater ist auch Materialist geworden. O welch eine erbärmliche Zeit. Keine ideale mehr!

Das Haus war unterminiert. Die Liebe lebte, denn die war stark, und die Herzen des jungen Paares waren weich. Aber der Gerichtsvollzieher war nicht weich. Pfändung stand bevor und Konkurs drohte. Dann lieber noch Pfändung!

Der Schwiegervater kam mit einem grossen Reisewagen, um seine Tochter und seine Enkelin abzuholen. Dem Eidam verbot er, sich zu zeigen, bevor er Brot habe und seine Schulden bezahlen könne. Zu seiner Tochter sagte er nichts; als er sie aber nach Haus brachte, war es ihm, als bringe er eine Verführte zurück. Er hatte sein unschuldiges Kind einem jungen Herrn auf ein Jahr ausgeliehen, und nun erhielt er es „entehrt“ zurück. Sie wäre wohl gern bei ihrem Mann geblieben, aber sie konnte mit ihrem Kinde doch nicht auf der Strasse wohnen!

So musste Herr Ludwig allein zurückbleiben, um zu sehen, wie seine Häuslichkeit geplündert wurde. Aber es war ja nicht seine, da er sie nicht bezahlt hatte. Huh! Die beiden Herren mit Gläsern nahmen die Betten und das Bettzeug; sie nahmen die kupfernen Kasserollen und die blechernen Gefässe; Tischservice und Kronen und Leuchter: alles, alles!

Und als er dann allein in den beiden Zimmern stand, o wie leer, wie jammervoll! Wenn er nur sie noch gehabt hätte! Was aber sollte sie hier in den leeren Zimmern machen! Nein, dann war es noch besser, wie es war. Ihr selber ging es ja gut!

Nun begann der bittere Ernst des Lebens! Er fand eine Stelle bei einer Morgenzeitung als Korrektor. Um Mitternacht musste er auf der Redaktion sein, um drei Uhr konnte er wieder gehen. Auf seinem Amt konnte er bleiben, da es nicht zum Konkurs gekommen war, aber mit der Beförderung war es vorbei!

Schliesslich wurde ihm erlaubt, ein Mal in der Woche Weib und Kind zu besuchen, aber immer unter Bewachung. Und er musste in der Nacht zum Sonntag in einer Kammer schlafen, die neben der Schlafstube des Schwiegervaters lag. Am Sonntagabend musste er wieder in die Stadt, denn die Zeitung erschien auch am Montag.

Wenn er dann Abschied von Weib und Kind nimmt, die ihn bis an die Gartentür begleiten dürfen, denen er vom letzten Hügel noch ein Mal zuwinkt, dann fühlt er sich so elendiglich, so unglücklich, so gedemütigt. Und sie erst!

Er hat ausgerechnet, dass er zwanzig Jahre braucht um seine Schulden zu bezahlen! Und dann? Dann kann er doch nicht Weib und Kind versorgen. Aber seine Hoffnung? Nichts! Wenn der Schwiegervater stirbt, stehen seine Frau und sein Kind auf der Strasse; er wagt also nicht, ihrer einzigen Stütze den Tod zu wünschen.

O wie grausam ist das Leben, das den Menschenkindern kein Essen schaffen kann, während es doch allen anderen Geschöpfen Nahrung umsonst gibt.

O wie grausam, wie grausam! Dass das Leben nicht allen Menschen Erdbeeren und Schneehühner geben kann! Wie grausam, wie grausam!

Musste

Punkt halb neun Uhr abends im Winter steht er in der Tür zur Glasveranda des Restaurants. Während er mit mathematischer Genauigkeit die Kastorhandschuhe auszieht, guckt er über die angelaufenen Gläser erst nach rechts, dann nach links, ob Bekannte da sind. Dann hängt er den Überrock an seinen Haken, den rechts vom Kamin. Der Kellner Gustav, der ein Schüler des Lehrers gewesen ist, hat, ohne eine Ordre abzuwarten, die Brotkrumen von dessen Tisch gefegt, die Senfdose umgerührt, das Salzfass geharkt und die Serviette umgedreht. Darauf holt er, ohne dass es ihm erst gesagt zu werden braucht, eine Flasche Medhamra, macht eine halbe Flasche Vereinsbier auf, überreicht dem Lehrer, nur des Scheins wegen, die Speisekarte und fragt, mehr der Form wegen als um zu fragen:

– Krebse?

– Weibliche Krebse! sagt der Lehrer.

– Grosse weibliche Krebse, sagt Gustav, geht nach der Küchenklappe und ruft: Grosse weibliche Krebse, für den Herrn Lehrer, und viel Dill!

Dann holt er eine Garnitur Butter und Käse, schneidet zwei Scheiben Pumpernickel und stellt alles auf den Tisch des Lehrers. Der hat in der Veranda eine Razzia nach den Abendzeitungen gehalten, aber nur die offizielle „Postzeitung“ gefunden. Zum Ersatz nimmt er das „Tageblatt“, mit dem er mittags nicht fertig geworden ist, und setzt sich hin, um es zu lesen, nachdem er die Postzeitung aufgeschlagen, umgefaltet und links neben sich auf den Brotkorb gelegt hat. Dann streicht er mit dem Messer einige geometrische Butterfiguren auf den Pumpernickel, schneidet aus dem Schweizerkäse ein Rechteck, giesst den Schnaps zu drei Vierteln ein und führt ihn bis zur Höhe des Mundes: dort macht er eine Pause, als zögere er vor einer Medizin, wirft den Kopf zurück und sagt huh!

Das hat er nun zwölf Jahre getan und wird es tun bis zu seinem Sterbetage.

Als die Krebse, sechs Stück, angelangt sind, untersucht er deren Geschlecht, und da nichts einzuwenden ist, geht er an den genussreichen Akt. Die Serviette wird mit der einen Ecke hinter den Kragen gesteckt, zwei Brotscheiben mit Käse werden neben den Teller bereit gestellt, und er giesst sich ein Glas Bier und einen halben Schnaps ein. Darauf nimmt er das kleine Krebsmesser und beginnt die Schlacht. Nur er allein kann in Schweden Krebse essen, und wenn er einen andern Krebse essen sieht, sagt er: Du kannst nicht Krebse essen. Zuerst macht er einen Schnitt um den Kopf des Krebses, und nachdem er das Loch für den Mund bekommen hat, saugt er.

– Das ist das Feinste, sagt er.

Dann löst er den Thorax vom Untergestell, ritzt Blutadler, wie er es nennt, setzt die Zähne an den Rumpf und saugt mit tiefen Zügen; darauf schlürft er die kleinen Beine wie Spargel. Dann isst er eine Prise Dill, trinkt einen Schluck Bier, beisst in den Pumpernickel. Nachdem er die Klauen genau geschält und die feinsten Kalkröhren ausgesogen hat, verzehrt er das Fleisch, um dann zum Schwanz überzugehen. Als er drei Krebse gegessen hat, nimmt er einen halben Schnaps und liest die Ernennungen in der Postzeitung. So hat er es zwölf Jahre gemacht und so wird er es immer machen.

Er war zwanzig Jahre alt, als er in diesem Lokal zu essen anfing, jetzt ist er zweiunddreissig, und Gustav ist zehn Jahre Kellner hier! Der Lehrer ist der Älteste hier, er ist älter als der Wirt, denn der hat den Betrieb erst seit acht Jahren! Er hat viele Reihen von Mittagsgästen gesehen; einige hielten ein Jahr, zwei Jahre, fünf Jahre aus; dann verschwanden sie, gingen nach einem andern Lokal, zogen nach einem andern Ort, oder verheirateten sich. Er fühlte sich sehr alt, und doch zählte er nur zweiunddreissig Jahre! Dies ist sein Heim, denn in seinem möblierten Zimmer schläft er nur.

Die Uhr wird zehn. Da erhebt er sich und geht in den kleinen Saal, wo sein Grog auf ihn wartet. Jetzt kommt der Buchhändler. Sie spielen Schach oder sprechen über Bücher. Um halb elf kommt die zweite Geige vom Dramatischen Theater. Es ist ein alter Pole, der nach 64 nach Schweden floh und sich nun sein Leben damit verdienen muss, was ihm früher ein Vergnügen gewesen. Der Pole und der Buchhändler haben die fünfzig erreicht, aber sie gedeihen mit dem Lehrer, als sei er vom gleichen Alter.

Hinter dem Ladentisch sitzt der Wirt. Er ist ein alter Schiffskapitän, der sich in die Restauratrice verliebte und beschloss, sein Schicksal mit dem ihren zu vereinen. Sie herrscht jetzt in der Küche und hält immer die Klappe offen, um ein Auge auf den Alten zu haben, damit er sich nicht etwa ein Räuschchen antrinkt, ehe die Gäste gehen. Wenn aber das Gas gelöscht und das Bett gemacht ist, kriegt der Alte einen Napf mit Grog von Rum als Schlaftrunk.

Um elf Uhr beginnen die jungen Herren zu kommen, die vorsichtig an den Ladentisch herantreten und den Wirt flüsternd fragen, ob eine Treppe hoch ein „Privatzimmer“ frei sei; und dann hört man das Rauschen von Röcken, die durch den Flur schlüpfen, um ungesehen die Treppe hinaufzukommen.

– Nun, sagt der Buchhändler, der ein Gesprächsthema gratis bekommen hat, wirst du nicht daran denken, dich fortzupflanzen, alter Blom?

– Ich habe nicht die Mittel dazu, sagt der Lehrer. Warum verheiratest du dich nicht selber?

– Jetzt nimmt mich keine mehr, sagt der Buchhändler, nachdem mein Kopf einem alten Seehundskoffer gleich geworden ist. Übrigens habe ich ja meine alte Stafva.

Stafva war eine mystische Person, an die niemand glaubte. Sie war die Verkörperung der nicht erfüllten Träume des Buchhändlers.

– Aber Herr Potocki? wandte der Lehrer ein.

– Er ist ja verheiratet gewesen; das ist doch genug, sagt der Buchhändler.

Der Pole nickt wie ein Taktmesser und sagt:

– Ja, ich bin glücklich verheiratet gewesen. Huh!

Und damit trinkt er seinen Grog aus.

– Ja, sagt der Lehrer, wenn sie nicht solche Gänse wären, diese Frauen, dann könnte man an die Sache denken; aber es sind verdammte Gänse.

Der Pole nickt wieder und lächelt, denn als Pole versteht er das Wort „Gänse“ nicht.

– Ich bin sehr glücklich verheiratet gewesen – huh!

– Und dann hat man Kindergeschrei und saure Kleider am Ofen, fuhr der Lehrer fort, und dann Mägde und Küchengeruch. Nein, danke! Und dann kann man vielleicht nachts nicht schlafen.

– Huh! vollendete der Pole.

– Herr Potocki sagt huh, fiel der Buchhändler ein, mit der gewöhnlichen Schadenfreude des Junggesellen, der einen Verheirateten sich unvorteilhaft über die Ehe äussern hört.

– Was sagte ich? fragte der Witwer erstaunt.

– Huh, ahmte der Buchhändler ihm nach, und das Gespräch löste sich in ein gemeinsames Grinsen und eine Tabakswolke auf.

So wird es zwölf. Das Klavier, das eine Treppe hoch einen gemischten Chor männlicher und weiblicher Stimmen begleitet hat, schweigt. Der Kellner hört auf, von der Küchenklappe nach der Veranda zu laufen; der Wirt trägt in die Kladde die letzten Champagnerflaschen ein, die eine Treppe hoch bestellt sind; die drei Freunde erheben sich und gehen, jeder heim zu seinem „keuschen Junggesellenbett“, aber der Buchhändler heim zu seiner Stafva.

 

Lehrer Blom hatte im Alter von zwanzig Jahren seine Studien auf der Universität Uppsala unterbrochen und war nach der Hauptstadt Stockholm gekommen, um als Hilfslehrer sein Brot zu verdienen. Da er ausserdem noch Privatstunden gab, kam er ganz gut aus. Er verlangte nicht viel vom Leben. Ordnung und Ruhe war alles. In seinem möblierten Zimmer, das er von einer alten Mamsell gemietet hatte, fand er mehr, als ein Junggeselle zu verlangen pflegt; er fand Pflege und Freundlichkeit; all die Zärtlichkeit, welche die Natur bei dieser Frau für ein neues Geschlecht aus ihrem Blut bestimmt hatte, fiel ihm gratis zu. Sie besserte seine Kleider aus und sorgte für ihn. Er hatte aber früh seine Mutter verloren und war daher nicht gewohnt, dergleichen umsonst zu bekommen; deshalb nahm er das Geschenk als einen Eingriff in seine Freiheit hin, nahm es aber an! Die Kneipe war jedoch sein Heim. Dort bezahlte er für alles und blieb nichts schuldig.

In einer Provinzstadt des mittleren Schweden geboren, war er ein Fremdling in Stockholm. Besuchte niemand! Verkehrte nicht in Familien und traf nur seine Bekannten in der Kneipe, plauderte mit ihnen, schenkte ihnen aber nicht sein Vertrauen und hatte auch keins zu verschenken. Da er in der Schule nur in der dritten Klasse unterrichtete, hatte er ein Gefühl, als sei er im Wachstum zurückgeblieben. Er hatte ja einmal die dritte Klasse bis zur siebenten durchgemacht und war Student geworden; nun sass er doch wieder in der dritten, hatte zwölf Jahre dort gesessen und kam nicht weiter. Er lehrte das zweite und dritte Buch des Euclid, das war der Kursus der Klasse. Das ganze Leben zeigte sich also für ihn nur als ein Fragment; als ein Fragment ohne Anfang oder Ende: das zweite und dritte Buch. In freien Stunden las er Altertumskunde und Zeitungen. Altertumskunde ist eine moderne Wissenschaft, eine Krankheit der Zeit, kann man sagen. Und sie ist gefährlich, denn sie zeigt in den meisten Fällen, dass die menschliche Albernheit ziemlich konstant gewesen ist.

In den Zeitungen sah er nur eine Partie Schach; die Politik war für ihn ein interessantes Spiel – um den König, nichts weiter, denn er war erzogen wie alle andern: es war für ihn ein Glaube, was in der Welt geschieht, gehe uns nichts an, dafür sorgten die, denen Gott die Macht gegeben habe. Diese Art, die Dinge zu sehen, gab seiner Seele eine grosse und stille Ruhe; er beunruhigte niemanden und wurde von nichts beunruhigt. Wenn er zuweilen fand, etwas sei besonders töricht, tröstete er sich damit, dass es eben nicht zu ändern sei! Die Erziehung hatte ihn zum Egoisten machen müssen, und der Katechismus hatte ihn gelehrt: wenn jeder seine Pflicht tut, so geht alles gut, was uns auch zustösst. Er tat seine Pflicht auch musterhaft in der Schule; kam nie zu spät; war niemals krank. Auch in seinem Privatleben war er ohne Tadel; bezahlte seine Miete auf den Tag, ass nie auf Kredit und ging zu „Frauen“ ein Mal in der Woche (er sagte nie, dass er zu „Mädchen“ gehe). Sein Leben zog dahin wie ein Zug auf blanken Schienen, nach dem Sekundenzeiger, durch die bestimmten Stationen, und als kluger Mann vermied er jeden Zusammenstoss. Die Zukunft, an die dachte er nicht, denn ein wahrer Egoist denkt nicht so weit, aus dem einfachen Grund, weil die Zukunft sein nicht mehr ist als höchstens zwanzig, dreissig Jahre.

So verging sein Leben!

 

Es war Mittsommermorgen, strahlend, sonnig, wie er sein soll. Der Lehrer lag in seinem Bett und las über die Kriegskunst der Egypter, als Mamsell Auguste mit dem Kaffee herein kam. Sie hatte dem Tage zu Ehren Safranbrot geschnitten und Fliederblüten auf die Serviette gelegt. Schon am Abend vorher hatte sie einige Birkenzweige hinter den Ofen gesteckt, reinen Sand mit einigen Schlüsselblumen in den Spucknapf getan und ein Glas mit Maiblumen auf den Spiegeltisch gestellt.

– Nun, werden Sie nicht auch heute eine Vergnügungstour unternehmen, Herr Blom? fragte die Alte und liess die Augen über die Ausschmückung schweifen, die sie für die kleine Kammer angewandt hatte, um ein Wort der Anerkennung oder des Dankes zu erhalten.

Aber Herr Blom hat die Ausschmückung gar nicht bemerkt, sondern antwortete ganz trocken:

– Nein, das wissen Sie doch, Mamsell Auguste, dass ich nie Vergnügungstouren mache, weil ich von der Menge nicht gestossen noch von Kindern totgeschrien werden will.

– Aber an solch einem schönen Mittsommertag kann man doch nicht in der Stadt bleiben. Wenigstens in den Tiergarten werden Sie doch gehen?

– Das wäre wohl das letzte für mich, besonders heute, wo alle möglichen Leute dort sind. Nein, ich habe es hier in der Stadt so gut, und diese Faxen mit den Feiertagen werden doch einmal ein Ende nehmen.

– Lieber Herr Blom, wandte die Alte ein, viele Menschen finden, es sind noch viel zu wenig Feiertage in dem schweren Arbeitsjahr. Wollen Sie mir aber bitte sagen, ob Sie noch etwas wünschen; meine Schwester und ich wollen eine Dampferfahrt machen, von der wir nicht vor zehn Uhr abends zurückkommen?

– Viel Vergnügen, Mamsell Auguste, ich brauche nichts und sorge schon selber für mich! Die Portierfrau kann das Zimmer in Ordnung bringen, wenn ich gegen Mittag ausgehe.

Und er blieb allein mit seinem Kaffee. Als er getrunken hatte, steckte er sich eine Zigarre an und blieb im Bett liegen mit seiner ägyptischen Kriegskunst. Das Fenster, das offen stand, riss an seinem Haken bei einem schwachen Südwind. Um acht Uhr läutete die nächste Kirche mit allen ihren Glocken, grossen und kleinen, und die anderen Kirchen von Stockholm, Katharina, Maria und Jakob, fielen ein; es bimmelte und bammelte, dass es einen Heiden zur Verzweiflung bringen konnte. Als das Läuten schwieg, begann ein Kanoniersextett auf der Kommandobrücke eines Dampfers eine Française aus dem Theaterstück „Die schwache Seite“. Der Lehrer wand sich auf dem Laken seines Bettsofas und hätte sich gern die Mühe gemacht, aufzustehen und das Fenster zu schliessen, wenn es nicht zu warm gewesen wäre. Und dann waren Trommelwirbel zu hören, die aber unterbrochen wurden von einem neuen Messingquintett, das auf einem anderen Dampfer den Jägerchor aus dem „Freischütz“ spielte. Aber die unglückverheissenden Trommelschläge näherten sich. Das waren die Scharfschützen, die aufs freie Feld hinauszogen und die Strasse passieren mussten. Jetzt hörte er den Scharfschützenmarsch sechs Male, dazwischen die Pfiffe, die Glocken, die Messingmusik der Dampfer, bis diese Töne schliesslich mit den Schraubenschlägen verklangen.

Er stand um zehn Uhr auf und setzte das Rasierwasser auf seinen Spirituskocher. Das gestärkte Hemd lag auf der Kommode so weiss und so steif wie ein Brett. Er brauchte eine Viertelstunde, um die Knöpfe in die Knopflöcher zu stecken. Dann rasierte er sich eine halbe Stunde. Kämmte sich sorgfältig, als führe er eine äusserst wichtige Verrichtung aus. Als er die Hosen anzog, hielt er das untere Ende hoch, damit es auf dem Boden nicht staubig werde.

Sein Zimmer war einfach, äusserst einfach und ordentlich. Es war unpersönlich, abstrakt wie ein Hotelzimmer. Und doch hatte er dort zwölf Jahre gewohnt. Bei den meisten Menschen pflegen sich während eines solchen Zeitraums eine Menge Kleinigkeiten anzusammeln: Geschenke, kleine Überflüssigkeiten, Zierat, Luxusgegenstände. Nicht eine Gravüre hing hier an der Wand, die als Beilage einer illustrierten Zeitung eine Gefühlssaite angeschlagen; keine Decke, von freundlichen Schwestern gehäkelt, lag auf den Stühlen; keine Photographie eines lieben Gesichts stand, kein gestickter Federwischer lag auf dem Schreibtisch. Alles war zum besten Preis gekauft, um unnötige Ausgaben zu ersparen, welche die Unabhängigkeit des Besitzers beeinträchtigt hätten.

Er legte sich ins Fenster, um auf die Strasse und über den Artillerieplatz hinweg bis zum Hafen zu sehen. In dem Haus, das schräg gegenüber lag, sah er eine Frau im Korsett ihre Toilette machen. Er wandte sich fort, wie von etwas Hässlichem, oder von etwas, das seine Ruhe stören konnte. Unten im Hafen flaggten alle Segelschiffe und Dampfer, und das Wasser glitzerte im Sonnenschein. Zur Kirche hinauf wanderten einige alte Frauen mit Gesangbüchern in den Händen. Vor dem Hof der Artillerie ging der Posten mit seinem Säbel und sah missvergnügt aus, dann und wann nach der Turmuhr blickend, um nachzusehen, wie weit es noch zur Ablösung sei. Sonst lagen die Strassen leer, grau, heiss da. Er sah wieder zu der Frau hinüber, die sich ankleidete. Sie hatte eine Puderquaste genommen und puderte sich die Nasenwinkel vor dem Spiegel mit einer Miene, die sie einem Affen ähnlich machte. Er stand vom Fenster auf und setzte sich in den Schaukelstuhl.

Er machte sein Programm für den Tag, denn er hatte nun einmal eine dunkle Furcht vor der Einsamkeit. Am Alltag hatte er die Schuljugend um sich, und obwohl er diese wilden Tiere nicht liebte, die er zähmen, das heisst die schwere Kunst der Verstellung lehren sollte, fühlte er doch eine gewisse Leere, wenn er nicht bei ihnen war. Jetzt während der Sommerferien hatte er eine Ferienschule eingerichtet, aber auch deren Besucher hatten kurze Mittsommerferien, und er war nun mehrere Tage allein gewesen, die Stunden der Mahlzeiten ausgenommen, in denen er immer auf den Buchhändler und die zweite Geige rechnen konnte.

– Um zwei Uhr, dachte er, wenn die Parade vorbei ist und der Volksstrom sich aufgelöst hat, gehe ich in meine Kneipe und esse zu Mittag; dann nehme ich den Buchhändler mit mir nach Strömsborg; dort ist es heute still und leer, und dort trinken wir Kaffee und Punsch, bis es Abend wird, dann kehren wir nach Rejners (so hiess seine Kneipe am Berzeliuspark) zurück.

Punkt zwei nahm er seinen Hut, bürstete sich sorgfältig und ging.

– Ich möchte wissen, ob es heute gedämpfte Barsche gibt, dachte er. Und soll man sich heute Spargel leisten, da es Mittsommer ist!

So spazierte er seinen Weg, längs der hohen Mauer der Staatsbäckerei. Im Berzeliuspark sassen Arbeiterfamilien mit Kinderwagen auf denselben Bänken, auf denen an Alltagen die Bonnen der Vornehmen zu sitzen pflegten. Er sah, wie eine Mutter ihrem Kind die Brust gab. Eine grosse volle Brust, in die das Kind mit seinem fleischigen Händchen so tief hineingriff, dass das Händchen zur Hälfte verschwand. Der Lehrer wandte sich mit Ekel ab. Es störte ihn, diese Fremden in seinem Park zu sehen. Das war für ihn Dienerschaft im Salon, wenn die Herrschaft fort ist, und er konnte ihnen nicht verzeihen, dass sie hässlich waren.

Er kam an die Glasveranda und wollte die Hand auf die Türklinke legen, noch ein Mal an die schönen Barsche denkend, „mit viel Petersilie“, als er an der Glasscheibe ein weisses Papier sieht, auf dem etwas geschrieben steht. Er braucht es nicht zu lesen, denn er weiss, was es enthält: dass die Kneipe über Mittsommer geschlossen ist; aber er hat es vergessen! Es war, als sei er mit dem Kopf an einen Laternenpfahl gestossen! Er war wütend. Zuerst auf den Wirt, dass er geschlossen hatte; dann auf sich selbst, dass er vergessen, dass heute geschlossen werden sollte! Er fand es so ungeheuerlich, dass er etwas so Wichtiges hatte vergessen können, dass er es nicht glauben wollte, sondern nach einem andern suchen musste, der schuld war, dass er es hatte vergessen können. Das war natürlich der Wirt. Er war entgleist, zusammengestossen, vernichtet. Er setzte sich auf eine Bank und hätte vor Wut beinahe geweint.

Pardauz! Da kam ein Ball und traf ihn direkt auf das gestärkte Vorhemd. Wie eine gereizte Wespe flog er auf und wollte den Schuldigen ausbringen, als ein hässliches Mädchengesichtchen ihm in die Augen lachte und hinter ihr ein Arbeiter in Festtagsanzug und Panamahut auftauchte, der das Kind lächelnd bei der Hand nahm und fragte, ob es weh getan habe; und dann erblickte er eine ganze Menge Dienstboten und Soldaten, die lachten. Er sah sich nach einem Schutzmann um, denn er fühlte sich in seinen Rechten als Mensch verletzt. Als er den Schutzmann aber im vertraulichen Gespräch mit der Mutter des Kindes sah, verlor er die Lust, Lärm zu schlagen, sondern ging direkt zum nächsten Droschkenhalteplatz, um einen Wagen zu nehmen und zum Buchhändler zu fahren, denn jetzt konnte er nicht länger allein sein.

Als er in der Droschke sass, fühlte er sich einigermassen geschützt, und nun wischte er mit dem Taschentuch sein Vorhemd ab, das vom Ball staubig geworden.

Als er in die Gotenstrasse des Südens kam, verabschiedete er den Kutscher, da er sicher war, den Buchhändler zu Hause anzutreffen. Wie er aber die Treppen hinaufstieg, wurde er ängstlich! Wenn er nicht zu Hause wäre!

Er war nicht zu Hause! Niemand von den Bewohnern des Hauses war daheim. Es klang so leer, als er an die Türe klopfte, und er hörte das Echo seiner Schritte.

Als er schliesslich einsam auf der Strasse stand, wusste er nicht, wohin er sich wenden solle. Potockis Adresse kannte er nicht, und heute, wo alle Läden geschlossen waren, ein Adressbuch aufzutreiben, hielt er für unmöglich!

Er ging, ohne zu wissen, wohin, die Strasse hinunter, am Hafen entlang, über die Brücke. Nicht ein bekanntes Gesicht traf er, und er fühlte sich verletzt von dieser Volksmenge, welche die Stadt während der Abwesenheit der Herren eingenommen hatte, denn er war, wie wir alle, in den Schulen des Staates zum Aristokraten erzogen.

Der Hunger, der sich bei der ersten Aufwallung gelegt hatte, begann wieder zu erwachen. Da kam ein neuer furchtbarer Gedanke über ihn, den er aus Feigheit nicht auszudenken gewagt: wo soll ich zu Mittag essen? Er war mit seinen Essmarken ausgegangen, und seine ganze Kasse bestand nur aus einer Krone fünfzig Öre. Die Marken galten ja nur bei Rejners, und eine Krone hatte er verfahren.

Er kam wieder in den Berzeliuspark. Dort sassen die Arbeiterfamilien und assen aus ihren Esskörben: gekochte Eier, Krebse, Pfannkuchen! Und die Polizei sagte nichts! Dort stand sogar ein Schutzmann, der ein Butterbrot in der einen und ein Glas Bier in der andern Hand hatte. Was ihn am meisten reizte, war, dass diese Menschen, die er verachtete, ihm augenblicklich überlegen waren! Aber warum konnte er nicht in eine Milchhandlung gehen und seinen Hunger stillen? Warum nicht? Ja! Die Antwort darauf liess er von sich gehen wie ein Aufstossen.

Schliesslich ging er an den Hafen hinunter, um nach dem Tiergarten hinüberzufahren. Dort musste er Bekannte treffen, von denen er, so unangenehm es ihm war, Geld leihen konnte, um zu Mittag zu essen. Dann aber auch fein im vornehmsten Restaurant „Haselhöhe“.

 

Auf dem Dampfer waren so viel Menschen, dass Lehrer Blom neben der Maschine stehen musste; die heizte ihm den Rücken und spritzte geschmolzenen Talg auf seinen Gehrock, während er einer Köchin auf den Zopf gucken und deren ranzige Pomade riechen musste. Aber nicht ein bekanntes Gesicht!

Als er in das Tiergarten-Restaurant trat, machte er sich so gerade wie möglich und versuchte ein distinguiertes und freies Wesen anzunehmen. Der Platz vor dem Gasthaus glich dem Zuschauerraum eines Theaters und schien die gleiche Bestimmung zu haben: nämlich ein Ort zu sein, wo man sich trifft und sich zeigt. Oben sassen die Offiziere, blau im Gesicht von Essen und Trinken; neben ihnen einige Vertreter der fremden Mächte, ergraut und mitgenommen von der anstrengenden Arbeit, für betrunkene Landsmänner, die sich am Hafen geschlagen, einzutreten oder Galaschauspielen, Kindtaufen, Hochzeiten und Begräbnissen beizuwohnen. Aber damit war es auch aus mit dem feinen Publikum. Denn mitten auf dem Platze entdeckt Herr Blom den Schornsteinfeger seines Viertels, den Wirt einer kleinen Winkelkneipe, den Provisor einer Apotheke und andere mehr. Um sie herum geht der grüne Jäger mit silbernen Tressen und einem vergoldeten Stab und wirft verächtliche Blicke auf die Gesellschaft, als frage er, was sie hier zu tun haben. Der Lehrer fühlt sich schrecklich geniert von den vielen Blicken, die zu sagen scheinen: seht, dort geht er und sucht nach seinem Mittagessen. Aber er muss weiter. Und er kommt in die Veranden hinauf, wo man Barsche und Spargel isst, wo man Sauternes und Champagner trinkt. Und eins, zwei, drei fühlt er eine freundliche Hand auf seiner Schulter und als er sich umwendet, sieht er das strahlende Gesicht des Kellners Gustav, der ihm die Hand drückt und unverstellt ausruft:

– Nein, sind Sie hier, Herr Blom! Wie gehts?

Und der Kellner Gustav, der so erfreut ist, sich einen Augenblick auf gleicher Höhe mit seinem Herrn zu fühlen, hält einen steifen Holzkloben in seiner warmen Hand und trifft ein paar Blicke, die aus einem Brief Stecknadeln genommen sind. Und diese harte Hand drückte ihm gestern noch so warm einen Zehnkronenschein in die seine, und dieser Mann dankte ihm für ein halbes Jahr Dienst und Aufmerksamkeit, wie man einem Freund dankt. Und der Kellner Gustav geht zurück und setzt sich unter seine Kameraden, verlegen und traurig. Aber Herr Blom geht mit Bitterkeit im Herzen wieder hinaus, durch die Volksmenge hindurch, als höre er höhnend hinter sich flüstern: Er hat kein Mittagessen gekriegt!

Er kommt hinaus auf die Tiergartenebene. Dort steht der Kaspar und kriegt Schläge von seiner Frau. Dort steht ein Seemann und zeigt im „Glücksstern“ Dienstmädchen, Kanonieren, Gardisten und Gesellen den oder die Zukünftige. Alle haben zu Mittag gegessen und sehen froh aus, und er glaubt einen Augenblick, er sei schlechter als sie; dann aber erinnert er sich, dass sie nicht wissen, wie das egyptische Lager befestigt wurde; da fühlt er sich wieder obenauf, und er kann nicht verstehen, wie die Menschen so tief sinken können, dass sie an einem solchen Tand Vergnügen finden!

Er hatte indessen die Lust verloren, andere Lokale zu untersuchen und ging an Tivoli vorbei weiter in den Tiergarten hinein. Dort im grünen Gras tanzte die Jugend zu einer Geige; ein Stückchen davon hatte sich eine Familie unter einer Eiche niedergelassen; der Familienvater stand auf seinen Knien, in Hemdsärmeln, mit blossem Kopf, ein Bierglas in der einen und ein Butterbrot mit Mettwurst in der andern Hand; sein feistes, fröhliches Gesicht, um den Mund gut rasiert, glänzte von Freude und Wohlwollen, als er seine Gäste, die deutlich aus Frau, Schwiegereltern, Schwägern, Ladendienern und Dienstmädchen bestanden, aufforderte, zu essen und zu trinken und fröhlich zu sein, denn heute sei Mittsommer, den ganzen Tag. Und der frohe Mann machte Witze, dass sich die ganze Gesellschaft unter den aufrichtigsten Lachsalven im Grase wand. Und als der Pfannkuchen aufgetischt und mit den Fingern gegessen wurde und die Portweinflasche herumging, hielt der älteste Ladendiener eine Rede, bald so herzlich, dass die Frauen die Taschentücher hervorholten und der Familienvater den einen Zipfel seines Backenbarts in den Mundwinkel steckte; bald so lustig, dass Bravorufe und Gelächter den Redner unterbrachen.

Da wurde der Lehrer finster; aber er ging nicht seiner Wege, sondern setzte sich hinter einer Kiefer auf einen Stein, um sich „die Tiere“ anzusehen.

Als die Rede aus war und man Hausvater und Hausmutter hatte leben lassen, und zwar mit Hurrarufen und Fanfaren auf einer Handharmonika und allen Tellern und Tassen, die frei waren, stand die Gesellschaft auf, um das Bewegungsspiel „den Dritten abschlagen“ zu spielen. Und Schwiegermutter geht hinter einen Haselbusch, um das Kleinste abzuhalten, und Mutter selbst knöpft dem Halbgrossen die Hosen auf.

– Welche Tiere, dachte der Lehrer und wandte sich ab, denn das Natürliche war für ihn unschön, da das Schöne das Unnatürliche war; die Gemälde „anerkannter“ Meister im Nationalmuseum ausgenommen.

Und nun sah er, wie die jungen Männer die Röcke auszogen und die Mädchen ihre Manschetten auf die Hagedornbüsche hingen, und dann stellten sie sich auf und nun liefen sie.

Und die Mädchen hoben die Röcke so hoch, dass die Strumpfbänder zu sehen waren, rote und blaue Topfbänder, die man im Spezereiladen kauft; und wenn der Kavalier seine Dame gefangen hatte, nahm er sie in die Arme und drehte sich so mit ihr im Kreis herum, dass sie bis zu den Kniekehlen zu sehen war; und dann lachten Alte und Junge, dass es im Walde widerhallte.

– Ist das Unschuld oder Korruption? fragte sich der Lehrer.

Aber sicher wusste die Gesellschaft nicht, was das gelehrte Wort Korruption bedeutet, und darum waren sie fröhlich.

Als sie des Bewegungsspiels müde wurden, war der Kaffee fertig. Und der Lehrer konnte nicht verstehen, wo die Kavaliere es gelernt hatten, so artig gegen die Damen zu sein, denn sie krochen auf allen Vieren, um den Mädchen Zuckerdose und Brotkorb zu reichen; dabei sahen die Schnallenbänder an den mit Schweiss getränkten Westen wie Anfasser aus.

– Das sind die Männchen, die sich vor den Weibchen brüsten, dachte der Lehrer. Aber wartet nur!

Dann aber sah er, wie der Vater, die fröhliche Seele, dem Schwiegervater und der Schwiegermutter höflich servierte, ja sogar seiner Frau und allen Ladendienern und Dienstmädchen; und wenn einer sein Anerbieten mit den Worten „Der Herr nehme sich doch selber“ ablehnen wollte, antwortete der, dazu komme er auch noch.

Und dann sah er, wie der Schwiegervater dem kleinen Jungen Weidenpfeifen abzog; wie die Schwiegermutter gleich einer Magd daran ging, alles aufzuwaschen! Da fand der Magister, die Selbstsucht sei ein sonderbares Ding, da sie so menschliche Formen annehmen, so verteilt werden konnte, dass es aussah, als gäben und nähmen alle gleich viel; denn es war Selbstsucht, das war klar!

Und sie spielten Pfänderspiele, und sie lösten jedes einzige Pfand mit Küssen ein, regelrechten Küssen auf den Mund, dass es nur so schmatzte; und wenn der fröhliche Buchhalter „im Brunnen stand“ und die grosse Eiche küssen musste, tat er das auf ganz verrückte Art, umfasste mit den Armen den dicken Stamm, ganz wie man ein Mädchen liebkost, wenn niemand es sieht; da wurde laut gelacht, denn alle wussten wohl, wie man es tut, ob auch niemand es tun will, wenn es gesehen wird.

Der Lehrer, der anfangs das Schauspiel von seinem hohen Standpunkte kritisch betrachtet hatte, wurde schliesslich so in ihre Freude hineingezogen, dass er beinahe glaubte, zur Gesellschaft zu gehören. Er konnte bei den Witzen der Ladendiener sogar den Mund verziehen, und der Familienvater hatte in einer Stunde seine Sympathie gewonnen. Und der war auch ein Spassmacher ersten Ranges. Er konnte „Katze schinden“, „Krebsgang gehen“, auf Baumstämmen „liegen“, Münzen verschlingen, Feuer essen und alle möglichen Vogellaute nachahmen. Und als er ein Safranbrötchen aus dem Mieder eines jungen Mädchens nahm und es dann im rechten Ohr verschwinden liess, da lachte der Lehrer so, dass sein leerer Magen hüpfte.

Dann begann der Tanz. Der Lehrer hatte in Rabes Grammatik die Weisheit gelesen: „Nemo saltat sobrius, nisi forte insanit“ und hatte immer gedacht, Tanz sei ein Ausbruch von Wahnsinn. Er hatte allerdings junge Hunde und Kälber tanzen sehen, wenn sie fröhlich waren, aber er glaubte nicht, dass Cicero seine Maxime bis auf die Tiere hätte ausdehnen können, und zwischen Tier und Mensch hatte der Lehrer einen dicken Strich ziehen gelernt. Als er aber nun diese jungen Menschen, die nüchtern, aber satt und ohne Durst waren, sich nach den schleppenden, aber taktmässigen Klängen der Harmonika herum schwenken sah, war es, als sei seine Seele in eine Schaukel gekommen, die von seinen Augen und Ohren in Schwung gesetzt wurde, und er konnte sich nicht erwehren, dass sein rechter Fuss gegen das Moos leise den Takt trat.

Als drei Stunden vergangen waren, stand er auf. Aber es fiel ihm beinahe schwer, fortzugehen; es war, als breche er von einem fröhlichen Gelage auf, denn er glaubte mit ihnen zusammen gewesen zu sein; aber er war milder geworden und empfand einen Frieden und eine angenehme Müdigkeit, als habe er sich vergnügt.

Der Abend war gekommen. Einige lackierte Wagen schleppten Damen, die in ihren weissen Theatermänteln wie eingehüllte Leichen auf den Rücksitzen lagen, denn es war damals Mode, so auszusehen, als sei man ausgegraben. Der Lehrer, dessen Gedanken eine neue Richtung eingeschlagen hatten, dachte, diese Damen müssten sich langweilen, und er empfand nicht eine Spur von Neid. Aber unterhalb der grossen Landstrasse, draussen auf dem Meer kamen jetzt die Dampfer mit Flaggen und Musik von ihren Vergnügungsfahrten zurück; man hurrate und spielte und sang auf ihnen, dass es noch in den Bergen des Tiergartens zu hören war.

Niemals in seinem Leben hatte sich der Lehrer so allein gefühlt wie in diesem Volksgewimmel; er glaubte, die Menschen blickten ihn mit Teilnahme an, wie er da allein gleich einem Einsiedler ging, und er selber fand, es sei schade um ihn. Er wäre gern auf den ersten Besten zugegangen, nur um zu sprechen und seine Stimme wieder zu hören, denn er fand in seiner Einsamkeit, er habe einen Fremden neben sich. Und jetzt erwachte sein böses Gewissen. Er erinnerte sich an den Kellner Gustav, der seine Freude, ihn wiederzusehen, nicht hatte zügeln können. Jetzt war er soweit gekommen, dass er wünschte, irgend jemand komme ihm entgegen und zeige seine Freude, ihn zu sehen! Aber es kam niemand.

Doch, als er auf der Dampfschaluppe sass, kam ein Hühnerhund, der seinen Herrn verloren, und legte den Kopf auf seine Knie. Der Lehrer mochte Hunde sonst nicht leiden, aber er jagte ihn jetzt nicht fort; es war ein so weiches und warmes Gefühl am Knie, und das verlassene Tier sah ihm in die Augen, als bitte es ihn, seinen Herrn ausfindig zu machen.

Als sie aber ans Land stiegen, lief der Hund seiner Wege.

– Er brauchte mich nicht länger, dachte der Lehrer, und dann ging er nach Hause und legte sich nieder.

 

Diese unbedeutenden Ereignisse des Mittsommertages hatten dem Lehrer seine Sicherheit genommen. Er sah nämlich ein, dass alle Vorsorge, alle Voraussicht, alle kluge Berechnung dem Menschen nicht genug sei. Er fühlte eine gewisse Unsicherheit um sich herum. Sogar die Kneipe, sein Heim, war so wenig zuverlässig, dass es jeden Augenblick geschlossen werden konnte. Eine gewisse Kühle von Gustavs Seite begann auch störend auf ihn einzuwirken. Der Kellner war ebenso höflich wie früher, aufmerksamer als sonst, aber die Freundschaft war fort, das Vertrauen war gebrochen. Das machte den Lehrer bedenklich, und jedes Mal, wenn er ein trockenes Stück Fleisch oder zu wenig Kartoffel bekam, dachte er immer:

– Haha! Er rächt sich an mir!

Der Sommer war schlimm für den Lehrer: die zweite Geige verreiste und der Buchhändler hielt sich meistens auf der „Moseshöhe“ auf, dem hochgelegenen Gartenrestaurant seines Viertels.

An einem Herbstabend sassen der Buchhändler und die zweite Geige in der Stammkneipe und tranken ihren Grog, als der Lehrer eintrat, unterm Arm ein Paket tragend, das er sorgfältig in einem leeren Flaschenkorb verbarg, in der Kammer, in die man Gerümpel fortstellte. Der Lehrer war mürrisch und ungewöhnlich nervös.

– Nun, alter Junge, begann der Buchhändler wohl zum hundertsten Mal, wirst du dich nicht doch noch verheiraten?

– Der Teufel mag sich verheiraten! Man hat doch genug Sorgen! Und warum verheiratest du dich nicht? wies ihn der Lehrer ab.

– Oh, ich habe ja meine alte Stafva, antwortete der Buchhändler, der eine Menge Antworten auf eine Menge Fragen stereotypiert hatte.

– Ich bin glücklich verheiratet gewesen, sagte der Pole. Aber meine Frau ist jetzt tot, huh!

– Ist sie das, ahmte der Lehrer ihm nach; und der Herr ist Witwer, wie reimt sich das?

Der Pole verstand die Wendung nicht, nickte aber beifällig. Der Lehrer fand, dass die beiden anfingen, ihn zu ermüden. Das Gespräch drehte sich immer in derselben Richtung, um dieselben Dinge; und er konnte ihre Antworten auswendig.

Als er aufstand, um sich eine Zigarre aus seinem Überrock, der draussen im Flur hing, zu holen, eilte der Buchhändler nach der Rumpelkammer und holte das Paket des Lehrers. Da es nicht versiegelt war, hatte er es bald aufgemacht, und rollte nun ein prächtiges amerikanisches Nachthemd auf; das hängte er sorgfältig über den Stuhl des Lehrers.

Huh! sagte der Pole und grinste, als habe er etwas Garstiges gesehen.

Der Wirt, der einen guten Scherz liebte, legte sich auf den Ladentisch und lachte laut; der Kellner blieb im Saal stehen, und bald steckte eine Köchin den Kopf durch die Klappe.

Als der Lehrer wieder hereinkam und den Scherz sah, wurde er blass vor Wut; er hatte sofort den Buchhändler in Verdacht; als er aber Gustav in einer Ecke stehen und lachen sah, kam ihm wieder eine fixe Idee: Er rächt sich! Und ohne ein Wort zu sagen, riss er das Hemd an sich, warf Geld auf den Ladentisch und ging!

Von diesem Tage an liess sich der Lehrer nicht mehr bei Rejners sehen. Der Buchhändler wollte wissen, dass er in einem Restaurant seines Viertels ass. Das tat er auch! Aber er war tief missvergnügt! Das Essen war ja nicht schlecht, aber es war nicht so zubereitet, wie er es gewohnt war. Die Kellner waren nicht aufmerksam. Oft dachte er nach Rejners zurückzukehren, aber sein Stolz verbot es ihm. So war er aus seinem Heim hinausgeworfen; so war eine vieljährige Bekanntschaft in fünf Minuten gebrochen worden.

Im Herbst kam ein neuer Schlag. Mamsell Auguste hatte in der Provinz eine kleine Erbschaft gemacht und wollte Stockholm am ersten Oktober verlassen. Der Lehrer musste ziehen.

Da ihm aber nichts mehr recht gemacht werden konnte, zog er jeden Monat um. Das eine Zimmer war nicht schlechter als das andere, aber es war nicht dasselbe! Er war so gewohnt, seine alten Strassen zu gehen, dass er sich oft vor der Tür seiner früheren Wohnung befand, ehe er seinen Irrtum entdeckte. Mit einem Wort, er war ganz verloren.

Schliesslich ging er in ein Pensionat, obwohl er das immer gehasst und einen Schrecken davor gehabt hatte. Und da verloren die Bekannten seine Spur.

Eines Abends sitzt der Pole in der Stammkneipe, allein, rauchend, trinkend, nickend, mit des Orientalen Fähigkeit, in Gedankenlosigkeit zu versinken. Da kommt der Buchhändler wie ein Gewitter angestürmt und schlägt den halb zerquetschten Hut gegen die Tischscheibe, indem er ausruft:

– Himmelkreuzdonnerwetter! Hat man so etwas gehört?

Der Pole erwacht aus seinem Kognak- und Tabaknirwana und rollt die Augen.

– Himmelkreuzdonnerwetter! Hat man so etwas gehört? Er hat sich verlobt!

– Wer hat sich verlobt? fragt der Pole, ganz erschrocken von dem Hinwerfen des Hutes und dem üppigen Fluchen.

– Lehrer Blom!

Und der Buchhändler verlangt einen Grog, als Ersatz für die Bewirtung, die er gegeben. Und der Kellermeister muss vom Ladentisch aufstehen und zuhören.

– Hat sie Geld? fragt er gerieben.

– Nein, das glaube ich nicht, sagt der Buchhändler, der jetzt ein Held ist und seine Gaben stückweise verkauft.

– Ist sie schön? fragt der Pole. Meine Frau war so schön, huh!

– Nein, sie ist auch nicht schön, sagt der Buchhändler. Aber sie sieht nett aus!

– Haben Sie sie denn gesehen? fragt der Wirt. Ist sie alt?

Und er blickt nach der Küchenklappe.

– Nein, sie ist jung!

– Und ihre Eltern? fährt der Wirt fort.

– Der Vater soll Gelbgiesser in Örebro sein!

– Nein, solch ein Schelm! meint der Wirt.

– Ich habs ja immer gesagt, der Mann war geboren zum heiraten, sagt der Buchhändler.

– Das sind wir wohl alle, sagt der Wirt; und glauben Sie mir, glauben Sie mir, niemand entgeht seinem Schicksal!

Mit dieser Weisheitsregel schliesst er das Gespräch und geht wieder an den Ladentisch.

Nachdem man sich damit beruhigt hat, dass es keine Geldheirat ist, stellt man Betrachtungen darüber an, „wovon sie leben werden“. Und der Buchhändler schätzt den Gehalt des Lehrers ab, und „was er an Stunden verdienen kann“.

Nachdem diese Frage entschieden ist, will der Wirt Einzelheiten wissen.

– Wo hat er sie getroffen? Ist sie blond oder dunkel? Liebt sie ihn?

Die letzte Frage liegt durchaus nicht aus dem Wege, und der Buchhändler „glaubt es“, denn er hat gesehen, wie sie vor einem Schaufenster an seinem Arm hing.

– Ja, aber dass er, der so hölzern war, sich verlieben konnte! Das ist doch ganz unglaublich!

– Aber was für ein Ehemann er werden wird!

Der Wirt weiss, dass ers mit dem Essen „verflucht“ genau nimmt, und das dürfe man nicht, wenn man sich verheiratet (ein Blick nach der Küchenklappe)!

– Und dann will er gern einen Grog abends trinken; aber man kann doch nicht jeden Abend einen Grog trinken, wenn man verheiratet ist? Und dann mag er Kinder nicht leiden! Das geht nicht gut, flüstert er. Glauben Sie mir, das geht nicht gut. Und dann noch eine Sache, meine Herren (hier stand er auf, sah sich um und fuhr flüsternd fort), ich glaube, hol mich der Teufel, er hat ein kleines Verhältnis gehabt, der alte Heuchler. Erinnern Sie sich nicht jenes Abends, meine Herren, mit dem – hihihihi! – Nachthemd? Den finden Sie nicht wieder, wo Sie ihn gelassen haben! Passen Sie auf, Frau Blom, nehmen Sie sich in acht! Aber ich will nichts gesagt haben!

Die Tatsache stand jedenfalls fest, dass der Lehrer verlobt war und dass er in zwei Monaten heiraten wollte.

Wie es weiter ging, das gehört nicht zur Geschichte, und schwer ist es ausserdem, wirklich zu wissen, was hinter den Klostermauern der Häuslichkeit geschieht, wenn das Gelübde des Schweigens gehalten wird.

Sicher ist so viel, dass der Lehrer seitdem nie mehr in einer Kneipe zu sehen war.

Der Buchhändler, der ihn eines Abends allein auf der Strasse traf, musste eine lange Vorlesung anhören, dass er sich verheiraten solle. Ja, der Lehrer war gegen Junggesellen losgezogen und hatte gesagt, sie seien Egoisten, die sich nicht fortpflanzen wollten; man müsse eine hohe Steuer auf diese Kuckucke legen, denn alle indirekten Steuern träfen am meisten den Familienvater; ja, er ging so weit, dass der Junggesellenstand durch das Gesetz „als ein Verbrechen gegen die Natur“ bestraft werden müsse.

Der Buchhändler, der ein gutes Gedächtnis hatte, sprach seine Bedenken aus, ob man sein Schicksal mit einer „Gans“ vereinigen solle. Da antwortete der Lehrer, seine Frau sei die intelligenteste Dame, die er kenne.

Zwei Jahre später hatte der Pole den Lehrer mit seiner Frau im Theater gesehen und gefunden, „dass sie glücklich aussahen, huh!“

Drei Jahre später war der Wirt an einem Mittsommertag auf einer Vergnügungstour durch den Mälarsee nach Mariefred gefahren. Dort draussen auf dem grünen Rasen, vor dem Schloss Gripsholm, schob der Lehrer Blom einen Kinderwagen und trug einen Korb mit Speisen, während ihm eine ganze Karawane Herren und Damen folgten, die „vom Land zu sein schienen“. Der Lehrer sang nach dem Mittagessen Lieder und sprang Bock mit den jungen Herren. Er sah zehn Jahre jünger aus und war wie ein richtiger Kavalier gegen die Damen.

Der Wirt, der sich der Gesellschaft ganz nahe befand, hatte während des Mittagessens einen kleinen Dialog zwischen Herrn Blom und seiner Frau angehört. Als die Frau eine Schüssel Krebse aus dem Speisekorb nahm, bat sie Albert, nicht verdriesslich zu werden, aber es sei ihr ganz unmöglich gewesen, weibliche Krebse zu bekommen, obwohl sie den ganzen Markt abgesucht habe. Da fasste der Lehrer sie um die Taille, küsste sie und sagte, er esse ebenso gern männliche Krebse und er sei ganz zufrieden. Als dann das Kind im Wagen zu schreien anfing, hob der Lehrer es auf seine Arme und trug es, bis es still wurde.

– Nun, das sind ja alles Kleinigkeiten, aber wie die Menschen als Verheiratete leben können, während sie kaum als Junggesellen zu leben haben, das ist ein Rätsel. Aber es sieht aus, als bringen die Kinder Essen mit, wenn sie zur Welt kommen, so sieht es aus!

Ersatz

Er war zu seiner Zeit ein Genie auf der Universität gewesen, und es war kein Zweifel, dass etwas Grosses aus ihm werden würde. Als cand. jur. musste er indessen nach Stockholm gehen, um sich eine Stellung zu suchen. Die Doktorarbeit wurde aufgeschoben. Er war recht ehrgeizig, besass aber kein Vermögen. Darum hatte er beschlossen, sich reich und vornehm zu verheiraten. Man sah ihn daher auf der Universität Uppsala und später in der Hauptstadt Stockholm nur in den feinsten Gesellschaften. In Uppsala trank er als älterer Student immer Brüderschaft mit den neu ankommenden Adeligen, die sich von der Bekanntschaft des älteren Landsmannes geehrt fühlten. So schloss er „essbare“ Freundschaften mit ihnen, und während des Sommers wurde er dann immer auf das Schloss der Eltern eingeladen.

Dort war sein Jagdgebiet. Er hatte gesellige Talente, spielte und sang und konnte die Damen unterhalten; darum war er gern gesehen. Seine Kleidung deutete auf grössere Eleganz, als seine Mittel erlaubten; aber er lieh niemals Geld von Adeligen oder Freunden. Er hatte sogar zwei wertlose Aktien gekauft, und er vergass nicht zu erzählen, dass er die Generalversammlung besuchen müsse.

Zwei Sommer hatte er einem adeligen Fräulein, das etwas Grundbesitz besass, den Hof gemacht, und man sprach schon von seinen Aussichten, als er plötzlich aus dem vornehmen Horizont verschwand und sich mit einem armen Mädchen verlobte, deren Vater Böttcher ohne Grundbesitz war.

Seine Freunde konnten nicht verstehen, wie er sich selber so ins Licht treten konnte. Er hatte ja so gut vorgespannt, dass er sofort fahren konnte; er hatte ja den Bissen schon auf der Gabel, dass er nur den Mund zu öffnen brauchte. Ja, er verstand es selbst nicht, wie seine vieljährigen Pläne so schnell von einem kleinen Mädchengesicht gekreuzt werden konnten, das er ein einziges Mal auf einem Dampfer gesehen. Er war behext, er war besessen.

Er fragte seine Freunde, ob sie sie nicht schön fänden.

Nein, das könnten sie nicht finden, wenn sie aufrichtig sein sollten.

– Aber sie ist intelligent. Seht ihr nur in die Augen! Wie sprechend sind die!

Die Freunde konnten nichts sehen und noch weniger hören, denn das Mädchen sprach nie.

Aber er war jeden einzigen Abend im Haus des Böttchers; oh das war ein intelligenter Mann. Er lag auf den Knien, das war eine Erinnerung an die Sommerschlösser, und hielt ihr das Garn; er sang ihr vor, spielte, sprach über Theater und Religion; und er las immer eine bejahende Antwort in ihren tiefen Augen. Er schrieb Verse an sie und legte ihr seinen Lorbeerkranz, seine ehrgeizigen Träume, ja seine Doktorarbeit zu Füssen.

Und dann verheiratete er sich.

Der Böttcher trank zuviel auf der Hochzeit und hielt eine unanständige Rede auf die Mädchen. Der Schwiegersohn fand aber so viel Natur, so viel Liebenswürdigkeit im Auftreten des Alten, dass er ihn noch aufmunterte, statt ihn zum Schweigen zu bringen. Er fühlte sich so wohl unter diesen einfachen Menschen, da konnte er er selber sein.

– Seht, das ist die Liebe, sagten seine Freunde. Es ist doch etwas merkwürdiges mit der Liebe!

Und so waren sie verheiratet. Einen Monat. Zwei Monate. Und er war so glücklich. An den Abenden sassen sie zusammen, und er sang wieder von der „Rose im Walde“; das war ihr Lieblingslied. Und er sprach über Theater und Religion, und sie sass andächtig da und hörte zu. Aber sie sagte nichts, sie war immer seiner Meinung und häkelte Decken.

Im dritten Monat nahm er die alte Gewohnheit des Mittagschlafes wieder auf. Seine Frau wollte neben ihm sitzen, denn sie konnte nicht allein sein. Das genierte ihn, denn er hatte ein grosses Bedürfnis, mit seinen Gedanken allein zu sein.

Zuweilen ging sie ihm mittags entgegen; dann war sie so stolz, wenn er seine Kameraden verliess und zu ihr hinüberkam. Und dann brachte sie ihn im Triumph nach Haus: es war ihr Mann!

Im vierten Monat begann er müde zu werden, ihr Lieblingslied zu singen. Das war so verbraucht! Und er nahm ein Buch, und beide sassen still da.

Eines Abends musste er auf eine Sitzung, der ein Schmaus folgte. Es war der erste Abend, an dem er nicht zu Hause war. Seine Frau musste sich eine Freundin einladen und sollte früh zu Bett gehen, denn er würde erst spät nach Haus kommen.

Die Freundin kam; um neun Uhr ging sie wieder. Die junge Frau setzte sich in den Salon, um zu warten, denn sie wollte sich bestimmt nicht früher niederlegen, bis ihr Mann nach Haus gekommen. Sie hatte keine Ruhe zum Schlafen.

So sass sie allein in der Wohnung. Was sollte sie tun? Das Mädchen war schlafen gegangen, und im Haus wurde es still. Die Wanduhr tickte und tickte. Aber es war erst zehn, als sie müde die Decke, an der sie häkelte, fortlegte. Sie ging umher, räumte etwas auf, war nervös.

– So ist es also, verheiratet sein! Man wird aus seiner Umgebung gerissen und in drei leere Zimmer gesetzt, bis der Mann halbberauscht nach Haus kommt. Aber er liebt mich doch, und er muss ja heute abend in Geschäften von Hause fort sein. Ich bin eine Närrin, dass ich das nicht verstehe. Aber liebt er mich noch? Hat er sich dieser Tage nicht geweigert, mir das Garn zu halten, wie er früher so gern getan – ehe wir verheiratet waren. Sah er gestern mittag nicht etwas missvergnügt aus, als ich kam und ihn holte! Und wenn er heute abend auch eine geschäftliche Sitzung hat, so braucht er doch den Schmaus nicht mitzumachen!

Die Uhr war halb elf, als sie mit diesem Examen zu Ende kam. Sie war erstaunt, dass ihr diese Gedanken nicht früher gekommen waren. Und sie stellte die dunkeln Gedanken noch ein Mal auf, und sie defilierten wieder an ihr vorbei. Jetzt aber war Verstärkung angelangt. Er sprach ja nie mehr mit ihr. Er sang nie, und das Klavier war geschlossen. Er hatte gelogen, als er sagte, er müsse Mittagsschlaf halten, denn er las dabei einen französischen Roman.

Er hatte sie belogen!

Die Uhr war erst halb zwölf. Das Schweigen wurde schauerlich. Sie öffnete das Fenster und sah auf die Strasse hinaus. Dort unten standen zwei Herren und verhandelten mit zwei Frauenzimmern. Ja, so sind die Männer! Wenn er das auch täte! Dann ginge sie ins Wasser!

Sie schloss das Fenster und steckte die Krone in der Schlafstube an. Man muss sehen, was man macht, hatte er bei einer intimen Gelegenheit gesagt. Noch war alles so blank, so fein. Die grüne Bettdecke sah wie eine gemähte Wiese aus, und die kleinen weissen Kissen lagen wie junge Katzen im Grase. Die Politur ihres Toilettentisches leuchtete: das Glas hatte noch nicht diese hässlichen Flecken, die es vom spritzenden Wasser bekommt; das Silber auf der Haarbürste, auf der Puderschachtel, der Zahnbürste, alles war noch blank. Ihre Pantoffeln dort unter dem Bett waren noch so schön und neu, als würden sie niemals niedergetreten werden. Alles war frisch, aber doch schon alt. Sie kannte alle seine Lieder, alle seine Salonstücke, alle seine Worte, alle seine Gedanken. Sie wusste genau, was er sagen würde, wenn er sich mittags zu Tisch setzte; alles was er sagen würde, wenn sie abends allein waren.

Sie war des Allen müde. Hatte sie ihn geliebt? Oh ja! Gewiss, das hatte sie! Aber war das alles, waren das alle Träume ihrer Jugend? Sollte das ganze Leben so werden? Ja! Aber, aber, aber, sie würden doch wohl ein Kind bekommen. Ja, aber noch waren keine Anzeichen da! Dann wäre sie nicht mehr allein! Dann könnte er so oft fortgehen, wie er wollte, denn dann hätte sie ja stets jemand, mit dem sie sprechen, mit dem sie sich beschäftigen konnte. Vielleicht war es ein Kind, das fehlte. Vielleicht war die Ehe wirklich für etwas anderes geschaffen, als dafür, dass sich ein Herr eine Geliebte hält, die das Gesetz ihm schützt. Jawohl! Aber er musste sie doch lieben, und das tat er nicht! Und sie weinte!

Als der Mann um ein Uhr nach Haus kam, war er durchaus nicht berauscht. Aber er wurde beinahe böse, als er seine Frau noch aufsitzen sah.

– Warum hast du dich nicht schlafen gelegt? war sein erster Gruss.

– Wie kann ich Ruhe finden, wenn ich auf dich warte?

– Das kann ja schön werden! Dann darf ich ja nie wieder fortgehen! ich glaube, du hast auch geweint!

– Ja, ich habe geweint, und das muss ich wohl, wenn du – mich – nicht – mehr – liebst!

– Liebe ich dich nicht mehr, weil ich in Geschäften fort sein muss?

– Ein Schmaus ist kein Geschäft.

– Sieh da! Nun kann man nicht einmal mehr ausgehen! Die Frauen sind doch wirklich gar zu aufdringlich!

– Aufdringlich? Ja, ich habe es gestern Mittag gesehen, als ich dir entgegen kam. Aber ich werde dir nie mehr entgegen kommen.

– Aber, Kind, wenn ich mit meinem Chef gehe ...

– Huhuhu!

Sie brach in Tränen aus, und ihr Körper zuckte.

Er musste das Mädchen wecken, um ihr eine Wärmflasche heiss machen zu lassen.

Er weinte, er auch! Heisse Tränen! Über sich selbst, seine Härte, seine Schlechtigkeit, über die Illusionen, über alles!

Aber es war doch mehr als Illusionen! Er liebte sie ja! Tat er das nicht? Und sie sagte ja, sie liebe ihn wieder, als er jetzt beim Sofa auf den Knien lag und ihre Augen küsste. Ja, sie liebten einander! Nur eine Wolke war vorbeigezogen! Garstige Gedanken, die einem in der Einsamkeit kommen. Sie wollte niemals, niemals mehr allein bleiben. Und sie schliefen umarmt ein, und sie lächelte wieder.

Am nächsten Tag aber ging sie ihm nicht entgegen. Er tat keine Frage beim Mittagstisch. Er sprach viel, aber mehr um zu sprechen; und es klang, als spreche er mit sich selber.

Am Abend unterhielt er sie mit langen Schilderungen über das Leben auf dem Schlosse Sjöstaholm: was die jungen Damen zum Baron sagten, und wie die Pferde des Grafen hiessen. Und am nächsten Tag sprach er von seiner Doktorarbeit.

Eines Mittags kam er sehr müde nach Haus. Sie sass im Salon und wartete auf ihn. Ihr Garnknäuel war auf den Boden gefallen. Als er an ihr vorbei geht, wickelt sich das Garn um seinen Fuss, er reisst ihr damit die Decke aus der Hand und schleppt sie mit; wird böse und schleudert das Garn mit einem Fusstritt fort.

Sie sagt etwas Scharfes über seine Unhöflichkeit.

Er antwortet: er habe keine Zeit, an ihren Kram zu denken, und sie könne übrigens etwas Nützlicheres vornehmen. Er müsse an seine Doktorarbeit denken, wenn er sich eine Zukunft schaffen wolle. Darum müssten sie darauf bedacht sein, sich einzuschränken.

So weit war es also gekommen!

Am nächsten Tag sass die junge Frau mit verweinten Augen da und strickte einen Strumpf für ihren Mann. Er sagte ihr, es sei billiger, gewebte Strümpfe zu kaufen. Da brach sie in Tränen aus. Was solle sie tun? Das Mädchen besorge ja das Haus, und in der Küche sei für eine zweite Person nichts mehr zu tun. Die Zimmer räume sie selber auf. Wolle er, dass sie das Mädchen verabschiede?

– Nein, Nein!

– Wie wolle er es denn haben?

– Das könne er nicht sagen, aber es sei bestimmt etwas nicht richtig. Der Haushalt sei zu teuer. Das sei alles. Auf die Dauer ginge es nicht so weiter, und er komme nie dazu, an seiner Abhandlung zu arbeiten.

Tränen und Küsse und grosse Versöhnung!

Er fing nun aber an, einige Abende in der Woche auszugehen. Geschäfte! Ein Mann müsse sich unter den Leuten sehen lassen. Das sei nun ein Mal so; sonst werde er vergessen.

O die langen, langen Abende! Jetzt aber ging die Frau zu Bett und stellte sich schlafend, als ihr Mann nach Hause kam.

 

Ein Jahr war vergangen, aber von einem Kind war nichts zu merken. Der Mann dachte: das gleicht ja ganz einem kleinen Verhältnis, das ich früher ein Mal gehabt habe; nur ist das jetzige langweiliger und teuerer. Die Gespräche hörten auf, und nur Geschwätz über Angelegenheiten des Haushalts blieb übrig. Sie ist ja dumm, dachte er. Auf mich selber lausche ich ja, wenn ich spreche, und die Tiefe in ihren Blicken kam ja nur daher, dass sie so grosse Pupillen hat, so ungewöhnlich grosse Pupillen.

Er sprach jetzt offen mit ihr von seiner früheren Liebe zu ihr, als von etwas, das vergangen sei. Nein, das gab ihm wieder einen Stich ins Herz, wie etwas Aufreizendes, Unbarmherziges, etwas das niemals sterben konnte.

Dann aber sprach er zuweilen zu sich selber.

– Alles auf Erden ist der Abnutzung unterworfen. Warum soll denn ihr Lieblingslied unvergänglich sein. Wenn man es dreihundertfünfundsechzig Male gehört hat, ist es verbraucht; daran ist nichts zu ändern. Aber hat denn meine Frau recht, wenn sie daraus schliesst, dass es mit der Liebe auch zu Ende ist? Nein, und ein leises ja! Wenn es aber nur ein Konkubinat ist? Das ist es, da wir kein Kind haben!

Eines Tages entschloss er sich, mit einem verheirateten Kameraden zu sprechen; sie waren ja beide Mitglieder des Freimaurerordens der Verheirateten.

– Wie lange bist du verheiratet?

– Sechs Jahre!

– Findest du das Verheiratetsein langweilig?

– Anfangs war es ja etwas fade; als aber die Kinder kamen, konnte man wieder atmen.

– Nein, was du sagst? Es ist merkwürdig, dass ich keine Kinder bekomme.

– Das ist nicht deine Schuld; ist aber leicht zu ändern. Schick deine Frau zum Arzt!

Er sprach vertraulich mit der Frau, und sie ging zum Arzt.

Sechs Wochen später war es so weit.

Jetzt kam ein anderes Leben ins Haus! Oh, wieviel war da zu tun! Auf dem Tisch des Salons lagen Kinderkleider umher, die unter das Photographiealbum geschmuggelt wurden, wenn jemand in die Tür trat. Und sie kamen wieder zum Vorschein, wenn man sah, dass nur er es war, der kam. Und dann musste man einen Namen für ihn finden. Denn ein Junge musste es werden. Und dann musste man die „Frau“ konsultieren, und medizinische Bücher kaufen, und eine Wiege und Bettzeug.

Das Kind kam! Und siehe da, es war ein Junge!

Als er „den kleinen Pavian, der nach Butter roch“ an diesen Brüsten, die bisher nur sein Spielzeug gewesen, liegen sah, da lernte er in seiner kleinen Frau die Mutter kennen; und als er sah, wie die grossen Pupillen das Kind so tief ansehen, als schauten sie in die Zukunft hinein, da verstand er, dass doch etwas Tiefes in den Augen lag; ja das war tiefer, als sein Theater und seine Religion verstehen konnten. Und jetzt flammte all das Alte, das liebe, erste Alte wieder auf, und es kam mit etwas Neuem, das er geahnt, aber niemals verstanden hatte.

Wie schön sie war, als sie wieder aufstand. Und wie intelligent in allem, was das Kind betraf.

Und er fühlte sich als Mann. Statt von den Pferden des Grafen und den Kricketpartien des Barons zu sprechen, sprach er jetzt fast zuviel von seinem Sohn.

Und wenn er jetzt eines Abends fort war, sehnte er sich nach Haus; nicht weil seine Frau wie ein böses Gewissen dort sass und wartete, sondern weil er wusste, dass sie nicht allein war. Und wenn er nach Haus kam, so schliefen sie, sowohl sie wie das Kind. Er wäre beinahe eifersüchtig auf den Kleinen geworden, denn es hatte doch einen gewissen Reiz, wenn man sehnsüchtig erwartet wurde.

Nun durfte er sein Mittagschläfchen halten. Und wenn der Vater fort war, wurde das Klavier wieder aufgemacht und das Lieblingslied von der „Rose im Walde“ gesungen, denn das war ganz neu für Harald, und es wurde auch neu für die arme Laura, die es lange nicht gehört hatte.

Zum Häkeln hatte sie nie mehr Zeit, aber das Haus war auch voll genug von Decken. Aber auch zu seiner Abhandlung fand er nicht die Zeit.

– Die soll Harald schreiben, sagte der Vater, denn er wusste jetzt, dass sein Leben nicht zu Ende war, wenn es einmal zu Ende ging.

Manchen Abend sassen sie wie früher zusammen und plauderten; jetzt aber sprachen sie beide, denn jetzt verstand sie, wovon sie sprachen.

Sie bekannte, sie sei ein einfältiges Ding, das von Theater und Religion nichts verstehe; das habe sie ihm aber gesagt, obwohl er es nicht habe glauben wollen.

Jetzt aber glaubte er es erst recht nicht.

Und sie sangen das Lieblingslied und Harald schrie mit, und sie tanzten nach der Melodie, und sie wiegten das Kind danach, und das Lied wurde doch nicht verbraucht!

Reibungen

Ihm waren die Augen aufgegangen über die Verkehrtheit der Welt, aber er besass nicht die Kraft, das Dunkel zu durchdringen, um zu sehen, worin die Ursache zu dieser Verkehrtheit lag; darum verzweifelte er, wurde, was man „zerrissen“ nennt. Da verliebte er sich in ein Mädchen, das sich mit einem andern verheiratete. Er beklagte sich seinen Freunden und Freundinnen gegenüber, aber die lachten nur über ihn. So ging er allein, „unverstanden“, seinen Weg ein Stück weiter. Er gehörte zur „Gesellschaft“ und nahm an deren Vergnügungen teil, weil die ihn zerstreuten; im Grunde aber verachtete er diese Vergnügungen, und das verbarg er nicht.

Eines Abends war er auf einem Ball. Er tanzte mit einem jungen Mädchen von ungewöhnlicher Schönheit und von lebhaften Zügen. Als der Walzer zu Ende war, stellte er sie an eine Wand. Er musste mit ihr sprechen, wusste aber nicht, was er sagen sollte. Schliesslich brach das Mädchen das Schweigen und sagte mit einem harten Lächeln:

– Sie tanzen wohl sehr gern, Herr Baron?

– Nein, durchaus nicht! antwortete er. Und Sie?

– Ich kenne nichts Alberneres, antwortete sie.

Er hatte seinen Mann, oder richtiger, seine Frau gefunden.

– Warum tanzen Sie denn? fragte er.

– Aus demselben Grunde wie Sie, sagte sie.

– Kennen Sie denn meine Gedanken? fragte er.

– Das ist doch nicht schwer: von Menschen, die dasselbe denken, kennt doch immer der eine die Gedanken des andern.

– Hm! Sie sind ein sonderbares Mädchen; glauben Sie an die Liebe?

– Nein!

– Ich auch nicht! Aber man muss sich jedenfalls verheiraten.

– Ja, ich fange an es zu glauben!

– Würden Sie sich mit mir verheiraten?

– Warum nicht? Wir werden uns wenigstens nicht schlagen!

– Pfui! Aber wie können Sie das wissen?

– Weil wir derselben Meinung sind!

– Ja, aber das kann etwas einförmig werden! Wir haben ja über nichts zu sprechen, denn der eine kennt ja die Gedanken des andern.

– Ja, aber noch einförmiger wäre es, unverheiratet zu bleiben, unverstanden zu sein!

– Das ist wahr! Wollen Sie Bedenkzeit haben?

– Ja, bis zum Kotillon!

– Nicht länger?

– Warum länger?

Er führte sie in den Salon und verliess sie. Darauf trank er einige Glas Champagner. Beim Souper beobachtete er sie. Sie liess sich von zwei jungen Diplomaten servieren, schien sie aber zu verhöhnen und wie Diener zu behandeln.

Als der Kotillon kam, ging er sofort zu ihr und überreichte sein Bukett.

– Angenommen? fragte er.

– Ja, antwortete sie.

Also waren sie verlobt.

Es ist eine rechte Ehe, sagte die Welt. Sie sind wie geschaffen für einander. Dieselbe gesellschaftliche Stellung, das gleiche Vermögen und dieselben „blasierten“ Ansichten über das Leben. Mit blasiert meinte die Welt, dass sie nicht Bälle, Theater, Bazare und andere edle Vergnügungen liebten, die dem Leben erst seinen Wert verliehen.

Sie waren wie zwei frisch gewaschene Schiefertafeln, ganz gleich jetzt, aber ohne eine Ahnung, ob das Leben denselben Text auf beide schreiben werde. Niemals fragten sie einander während der zärtlichen Stunden der Verlobung: liebst du mich, denn sie wussten ja, dass sie einander nicht liebten, da sie an die Liebe nicht glaubten. Sie sprachen wenig, aber sie verstanden einander so gut.

Und so verheirateten sie sich.

Er war immer aufmerksam, immer höflich, und sie waren gute Freunde.

Das Kind wirkte nur insofern auf ihr Verhältnis ein, dass sie nun über etwas zu sprechen hatten.

Beim Mann zeigte sich jetzt eine gewisse Lust zu Tätigkeit. Er fühlte Verantwortung und, was mehr ist, er war der Untätigkeit müde. Er war Rentier, aber er hatte keine Stellung im Dienst des Staates. Er sah sich jetzt nach einer Beschäftigung um, welche die Leere in seinem Leben ausfüllen konnte. Er hörte den ersten Morgenruf der erwachenden Geister, und er fühlte es als eine Pflicht, an der grossen Forschungsarbeit nach den Ursachen des menschlichen Elends teilzunehmen. Er studierte, verfolgte die Politik und schrieb schliesslich in einer Zeitung ein Gutachten über die Schulfrage. Daraufhin wurde er in die Schulkommission gewählt. Jetzt aber musste er eingehende Studien treiben, denn die Fragen sollten gründlich aufgeklärt werden.

Die Baronin lag auf dem Sofa und las Chateaubriand oder Musset. Sie hatte alle Hoffnung auf Besserung der Menschheit aufgegeben, und dieses Herumstöbern in allem Staub und Moder, den Jahrhunderte auf die menschlichen Einrichtungen gelegt hatten, quälte sie. Doch sah sie, dass sie nicht gleichen Schritt mit dem Mann hielt. Sie waren wie zwei Pferde auf einem Wettrennen. Sie wurden gewogen, ehe sie starteten, und hatten das gleiche Gewicht; sie hatten versprochen, auf der Laufbahn gleichen Schritt zu halten; es war so gut berechnet, dass sie den Lauf zur selben Zeit vollenden und auf ein Mal aus dem Wettstreit heraus gehen sollten. Jetzt aber war der Mann ihr schon eine Pferdelänge voraus. Beeilte sie sich nicht, musste sie zurückbleiben.

So geschah es auch! Im nächsten Jahr wurde er Budgetkontrolleur des Reichstages. Er blieb zwei Monate auf Reisen fort. Jetzt fühlte die Baronin, dass sie ihn liebte; sie fühlte es, weil sie fürchtete, den zu verlieren, der sie so für sich eingenommen hatte.

Als er zurückkam, war sie Feuer und Flamme; er aber hatte den Kopf voll von dem, was er während der Reise gesehen und gehört. Er sah wohl ein, dass der Augenblick der Trennung gekommen sei, aber er wollte sie aufschieben, sie verhindern, wenn es möglich war. Er zeigte ihr in grossen lebenden Bildern, wie diese kolossale Riesenmaschine, die Staat heisst, eingerichtet ist; suchte den Gang der Räder zu erklären, die Mannigfaltigkeit der Übertragungen, die Regulatoren und Sperrhaken, schlechte Pendel und unsichere Ventile.

Eine Weile folgte sie ihm, dann aber ermüdete sie. Ihre Inferiorität, ihre Wertlosigkeit fühlend, warf sie sich auf die Erziehung des Kindes; als Muster einer Mutter wollte sie zeigen, dass sie doch einen Wert besass. Aber der Mann wusste diesen Wert nicht zu schätzen. Er hatte sich mit einem guten Kameraden verheiratet, und nun hatte er eine gute Bonne. Wer konnte das ändern? Wer konnte alles voraussehen?

Das Haus war jetzt voller Abgeordneter, und die Herren sprachen über Politik beim Essen. Die Frau beschränkte sich darauf, nachzusehen, dass tadellos serviert wurde. Der Baron dachte allerdings immer daran, neben die Wirtin junge Leute zu setzen, die über Theater und Musik mit ihr sprachen; aber die Baronin antwortete immer mit Kindererziehung. Beim Nachtisch vergass man nie, auf das Wohl der Wirtin zu trinken, floh dann aber Hals über Kopf ins Zimmer des Mannes, um dort zu rauchen und die Politik fortzusetzen. Die Baronin ging dann in die Kinderstube und fühlte mit Bitterkeit, dass er ihr jetzt so weit voraus war, dass sie ihn nie mehr einholen konnte.

Er arbeitete abends viel zu Hause und schrieb bis tief in die Nacht, schloss sich aber immer ein. Wenn er dann seine Frau verweint sah, fühlte er einen Stich im Herzen, aber sie hatten ja einander nichts zu sagen.

Zuweilen aber, wenn die Arbeit ihn ekelte, wenn er fühlte, wie seine eigene Persönlichkeit immer ärmer wurde, empfand er eine Leere, eine Sehnsucht nach etwas Warmem, Intimem, von dem er ein Mal in seiner Jugend geträumt hatte. Aber jedes Gefühl der Art verbot er sich als Untreue, und er hatte eine tiefe Vorstellung von der Pflicht gegen seine Frau.

Um ihr das Leben etwas erträglicher zu machen, schlug er ihr vor, sie möge eine Kusine, von der sie immer gesprochen und die er nie gesehen, einladen, bei ihnen den Winter zu verbringen.

Das war lange der Wunsch der Baronin gewesen, als er jetzt aber erfüllt werden sollte, wollte sie nicht. Sie wollte es bestimmt nicht. Der Mann verlangte Gründe; sie konnte aber keine angeben. Das reizte seine Neugier, und schliesslich gestand sie, ihr sei bange vor der Kusine: die werde ihr ihren Mann nehmen, er werde sich in sie verlieben.

– Das muss ja ein sonderbares Mädchen sein, das müssen wir sehen.

Die Baronin weinte und warnte, aber der Baron lachte, und die Kusine kam.

Es war eines Mittags. Der Baron kam wie gewöhnlich müde nach Haus, hatte die Kusine wie seine Neugier nach ihr vergessen. Sie setzten sich zu Tisch. Der Baron fragte die Kusine, ob sie Theater liebe. Nein, das tue sie nicht. Sie liebe mehr die Wirklichkeit als deren Scheinbild. Sie habe zu Hause eine Schule für Lumpen eingerichtet und einen Verein für freigelassene Gefangene gegründet. Aha! Der Baron studierte gerade das Gefängniswesen. Die Kusine konnte ihm manche Auskunft geben. Und bis das Essen zu Ende war, wurde über Gefängniswesen gesprochen. Schliesslich hatte die Kusine versprochen, die Frage in einer kleinen Schrift zu behandeln, die der Baron durchsehen und ausarbeiten wollte.

Alles was die Baronin vorausgesehen, traf ein. Der Herr Baron schloss eine geistige Ehe mit der Kusine, und die Frau war verlassen. Aber die Kusine war auch schön, und wenn sie sich am Schreibtisch über den Baron beugte, empfand er ein warmes Behagen daran, ihren weichen Arm an seiner Schulter zu fühlen und ihren heissen Atem auf seiner Wange zu spüren. Und sie sprachen nicht immer vom Gefängniswesen. Sie sprachen auch von Liebe. Sie glaubte an die Liebe der Seelen und sie erklärte so deutlich, wie sie konnte, eine Ehe ohne die Liebe der Seelen sei Prostitution. Der Baron hatte die Entwicklung der neuen Ansichten über die Liebe nicht mitgemacht und fand, es sei eine harte Rede, aber doch wohl nicht ganz unbegründet.

Aber die Kusine hatte auch andere Eigenschaften, die unschätzbar waren für eine richtige geistige Ehe. Sie vertrug Tabak und konnte Zigaretten rauchen. Daher konnte sie nach dem Diner mit den Herren ins Rauchzimmer gehen, um über Politik mitzusprechen. Dann war sie entzückend.

Von kleinen Gewissensbissen geplagt, konnte der Baron dann aufstehen, für einen Augenblick zu seiner Frau in die Kinderstube gehen, sie und das Kind küssen und fragen, wie es ihnen gehe. Und die Baronin war dankbar, aber sie war nicht glücklich. Der Baron kehrte dann in brillanter Laune zur Gesellschaft zurück, als habe er eine Pflicht erfüllt. Oft allerdings verstimmte es ihn, dass seine Frau, als seine Frau, nicht dabei sein konnte; und er fühlte sich von dieser Last bedrückt.

Als der Frühling kam, fuhr die Kusine nicht nach Haus, sondern begleitete das Ehepaar in einen Badeort. Dort führte sie für die Armen kleine Schauspiele auf, und sie und der Baron spielten gegen einander, natürlich Liebhaber und Liebhaberin. Das hatte die ganz natürliche Folge, dass die Flamme aufloderte. Aber es war nur geistiges Feuer. Gemeinsame Interessen, dieselben Ansichten, und vielleicht ähnliche Naturen.

Die Baronin hatte Zeit genug gehabt, um über ihre Stellung nachzudenken. Eines Tages sagte sie dem Mann, da es zwischen ihnen aus sei, so sei es das Beste, sich zu trennen. Das wollte er denn doch nicht, und Verzweiflung ergriff ihn. Die Kusine sollte nach Haus reisen und seine Frau sollte sehen, dass er ein Mann von Ehre sei.

Die Kusine reiste ab. Aber der Briefwechsel begann. Die Baronin musste alle Briefe lesen. Sie wollte es nicht, aber der Baron verlangte es. Bald aber gab er nach und las seine Briefe allein.

Schliesslich kam die Kusine zurück! Da brach es los! Der Baron hatte entdeckt, dass er nicht mehr ohne sie leben könne! Was war zu tun? Trennung? Das wäre der Tod! Fortsetzen? Unmöglich! Die Ehe auflösen, die der Baron jetzt nur noch für eine Prostitution hielt, und sich mit einander verheiraten? Ja, das war das einzig Ehrliche, wenn es auch schmerzhaft war.

Das aber wollte die Kusine nicht! Es sollte nicht heissen, sie habe einen Mann von seiner Frau gelockt; und der Skandal, der Skandal!

– Aber es sei unehrlich, wenn er seiner Frau nicht alles sage; es sei unehrlich, weiter zu gehen; man wisse nicht, wie weit es gehen könne.

– Was? Was meine er? Wie weit könne es gehen?

– Das könne man nicht wissen!

– Oh, wie schändlich! Was er von ihr denke?

– Dass sie ein Weib sei!

Und er fiel auf die Knie und betete sie an und erklärte, der Teufel möge ihr Gefängniswesen und ihre Schulen für Lumpen holen, er wisse nicht, ob sie die oder die sei, aber er wisse, dass er sie liebe.

Da verachtete sie ihn und reiste Hals über Kopf nach Paris.

Er reiste ihr augenblicklich nach. Von Hamburg schrieb er einen Brief an seine Frau. Erklärte, sie hätten einen Irrtum begangen, und es sei unmoralisch, den nicht zu berichtigen. Bat um Scheidung.

Sie liessen sich scheiden.

 

Ein Jahr später war der Baron mit der Kusine verheiratet. Sie bekamen ein Kind. Aber das störte ihr Glück nicht, im Gegenteil. Wieviel neue Ideen hier draussen keimten, wieviel starke Winde hier draussen wehten!

Er veranlasste sie, ein Buch über „Junge Verbrecher“ zu schreiben. Das wurde von der Kritik heruntergemacht. Da ward sie wütend, und schwur, nie wieder zu schreiben. Er nahm sich die Freiheit, sie zu fragen, ob sie schreibe, um gelobt zu werden; ob sie ehrgeizig sei. – Sie antwortete mit der Frage, weshalb er denn schreibe! – So entstand ein kleiner Wortwechsel. – Es sei ja nur erfrischend, einmal eine andere Ansicht zu hören als immer die eigene. – Immer die eigene? Was solle das heissen? Habe sie nicht ihre Ansichten? – Sie setzte jetzt ihren Stolz darin, zu zeigen, dass sie eigene Ansichten besitze, und die mussten darum immer von denen des Mannes verschieden sein, damit kein Irrtum vorkam. – Da erklärte er, sie könne Ansichten haben, welche sie wolle, wenn sie ihn nur liebe. – Liebe? Was sei denn das! Er sei ja ein Tier wie alle andern Männer, und er sei falsch gegen sie gewesen. Nicht ihre Seele liebe er, sondern ihren Körper. – Nein, beide, sie ganz und gar! – O, wie falsch er gewesen! – Nein, nicht falsch, sondern der Raub eines Selbstbetrugs sei er gewesen, als er glaubte, nur ihre Seele zu lieben.

Sie hatten sich müde gegangen auf dem Boulevard und mussten sich vor einem Café niedersetzen. Sie steckte sich eine Zigarette an. Da trat der Kellner heran und sagte recht unhöflich, man dürfe hier nicht rauchen. Der Baron verlangte eine Erklärung. Der Kellner antwortete, es sei ein besseres Café, das seine Gäste nicht verscheuchen wolle, indem es „solche Damen“ hereinlasse.

Sie standen auf, bezahlten und gingen. Der Baron war zornig, der jungen Baronin kamen die Tränen. – Da habe man die Macht des Vorurteils! Rauchen sei für den Mann eine Dummheit, denn es sei dumm zu rauchen, aber für die Frau sei es ein Verbrechen! Wer es könnte, möge dieses Vorurteil aufheben! Und wer es wolle! Der Baron wollte nicht, dass seine Frau das erste Opfer werde, mit der dürftigen Ehre, mit dem Vorurteil gebrochen zu haben. Denn etwas anderes sei es ja nicht. In Russland rauchten ja die Damen der Gesellschaft zwischen den Gerichten der grossen Diners. Die Sitten änderten sich mit den Breitengraden. Und doch seien diese Kleinigkeiten nicht bedeutungslos im Leben, denn das Leben bestehe aus Kleinigkeiten. Hätten Männer und Frauen dieselben schlechten Gewohnheiten, könnten sie leichter mit einander verkehren, einander kennen lernen und eher gleichen Schritt mit einander halten als jetzt! Hätten sie dieselbe Erziehung, so würden sie dieselben Interessen haben und während des ganzen Lebens nicht aus einander kommen.

Der Baron hielt inne, als habe er etwas Dummes gesagt. Aber sie hörte nicht zu, denn ihre Gedanken waren nicht bei der Beschimpfung stehen geblieben.

– Sie sei von einem Kellner beschimpft, aus der besseren Gesellschaft gewiesen worden. Dahinter liege etwas! Bestimmt! Man habe sie erkannt! Sicher, denn sie habe es schon früher bemerkt!

– Was habe sie bemerkt?

– Dass man sie in Restaurants mit Geringschätzung behandle. Die Menschen hielten sie nicht für Eheleute, weil sie Arm in Arm gingen und höflich gegen einander seien. Lange habe sie das mit sich herumgetragen, nun aber vermöchte sie es nicht mehr. Aber das sei nichts gegen das, was sie von Hause hören müsse!

– Was habe sie denn von Hause gehört, das sie ihm nicht mitgeteilt?

– Oh, was für Dinge! Was für Briefe! Und die anonymen erst!

– Nun, und er? Man behandle ihn wie einen Verbrecher! Und er habe doch kein Verbrechen begangen! Er habe alle gesetzlichen Forderungen beobachtet und nicht die Ehe gebrochen. Er habe das Land verlassen, wie das Gesetz vorschreibt; das königliche Konsistorium habe sein Scheidungsgesuch bewilligt; die Geistlichkeit, die heilige Kirche habe ihn auf gestempeltem Papier von seinem ersten Eheversprechen entbunden; er habe es also nicht gebrochen! Man könne ja ein ganzes Volk von dem Treueid lösen, den es seinem Monarchen gegeben, wenn ein Land erobert wird: warum anerkenne die Gesellschaft denn nicht die Entbindung von einem Versprechen? Habe die Gesellschaft nicht selber dem Konsistorium das Recht gegeben, die Ehe aufzulösen? Wie könne sich denn die Gesellschaft als Richter über ihr eigenes Gesetz stellen? Die Gesellschaft liege also im Streit mit sich selber! Er werde wie ein Verbrecher behandelt! Habe nicht der Sekretär der Gesandtschaft, sein alter Freund, als er ihm seine Karte und die seiner Frau gesandt, ihm bloss eine Karte zurückgeschickt! Werde er nicht bei allen öffentlichen Austeilungen von Karten übergangen!

– Oh, sie habe noch Schlimmeres ertragen müssen. Eine von ihren Freundinnen in Paris habe ihr die Tür geschlossen, und mehrere hätten sich auf der Strasse abgewandt, als sie ihnen begegnet sei.

Nur der weiss, wo der Schuh drückt, der ihn anhat! Sie hatten jetzt die Schuhe an, richtige spanische Stiefel, und sie fühlten sich in Fehde mit der Gesellschaft. Die Vornehmen hatten sie desavouiert! Die Vornehmen! Diese Gemeinde von Halbkretins, die insgeheim wie Hunde leben, einander aber ehren, solange es nicht zum Skandal kommt; das heisst so lange man so ehrlich ist, den Vertrag zu kündigen, die Verfallzeit abzuwarten und die vom Gesetz gewährte Freiheit wiederzugewinnen. Und diese vornehme Gesellschaft sass da in ihrer Lasterhaftigkeit und teilte soziales Ansehen aus, nach einer Skala, auf der die Ehrlichkeit tief unter Null steht. Die Gesellschaft war also ein Gewebe von Lüge! Dass man das nicht längst gesehen! Jetzt aber musste man das schöne Gebäude untersuchen, um nachzusehen, wie es mit dessen Fundament bestellt sei.

Sie waren lange nicht so einig gewesen, wie jetzt, als sie nach Haus kamen. Die Baronin blieb nun zu Hause bei ihrem Kind, und sie erwartete bald ihr zweites. Dieser Kampf war für sie zu schwer, und sie war schon müde geworden! Sie hatte alles satt! In einem elegant möblierten und warmen Zimmer über freigelassene Gefangene schreiben und ihnen aus gehöriger Entfernung eine gut behandschuhte Hand reichen, das billigte die Gesellschaft; aber einer Frau, die sich mit einem freigelassenen Ehemann verheiratet, die Hand reichen, das wollte die Gesellschaft nicht. Warum nicht? Die Antwort lag nicht nahe.

Der Baron stand mitten im Leben. Besuchte die Kammern, war auf Versammlungen und überall hörte er wilde Ausbrüche gegen die Gesellschaft. Er las Zeitungen und Zeitschriften, verfolgte die Literatur, machte Studien. Seiner Frau drohte dasselbe Schicksal wie der ersten: zurückzubleiben! Seltsam aber war es! Sie konnte nicht allen Einzelheiten seiner Untersuchungen folgen, sie missbilligte vieles in den neuen Lehren, aber sie fühlte, dass er recht habe und für eine gute Sache wirke. Er wusste immer, dass er zu Hause eine Zustimmung fand, die nicht müde wurde; eine Freundin, die ihm wohl wollte. Ihr gemeinsames Schicksal trieb sie zusammen wie erschrockene Tauben, wenn das Gewitter heraufzieht. Das Weibliche bei ihr, das jetzt so wenig geachtet wird, und das doch nur eine Erinnerung an die Mutter ist, an die Naturkraft, die das Weib mitbekommen hat, brach nun hervor. Es fiel wie die Wärme eines abendlichen Feuers über die Kinder, wie Sonnenschein über den Mann, wie Friede über die Häuslichkeit. Er wunderte sich oft, dass er diesen Kameraden nicht vermisste, mit dem er früher über alles hatte sprechen können; er entdeckte, dass seine Gedanken an Stärke gewannen, seit er sie nicht mehr sofort ausplauderte; und er glaubte mehr an dem stillen Beifall, dem freundlichen Nicken, der teilnehmenden Hilfe gewonnen zu haben. Er fühlte sich stärker als früher, seine Ansichten wurden weniger kontrolliert; er war jetzt einsam, aber nicht so einsam wie früher, denn damals stiess er oft auf Widersprüche, die nur Zweifel erregten.

 

Es war Weihnachtsabend in Paris. In ihrem kleinen Châlet am Cours la Reine war die Aufräumung beendet und ein grosser Tannenbaum war aus dem Wald von Saint-Germain geholt. Der Baron und die Baronin wollten nach dem Frühstück zusammen ausgehen, um Weihnachtsgeschenke für die Kinder einzukaufen. Der Baron war etwas gedankenvoll, denn er hatte eben eine kleine Schrift „Ist die Oberklasse die Gesellschaft“ erscheinen lassen. Sie sassen am Kaffeetisch in dem schönen Speisesaal, und die Türen bis zur Kinderstube standen offen. Sie hörten, wie die Amme mit den Kleinen spielte, und die Baronin lächelte vor Glück und Zufriedenheit. Sie war so mild geworden, und ihre Freude war ruhig. Da schrie eins von den Kindern, und sie stand vom Tisch auf, um nachzusehen, warum es schreie. Im selben Augenblick kam der Diener in den Speisesaal und brachte die Post. Der Baron öffnete zwei Drucksachen. Die erste war eine „grosse, angesehene“ Zeitung. Er schlug sie auf und sah sofort eine Überschrift in fetten Buchstaben: „Ein Frevler!“ Und dann las er einige Zeilen: „Die Weihnacht ist gekommen! Dieses Fest, das allen reinen Herzen lieb ist. Dieses Fest, das von allen christlichen Völkern heilig gehalten wird, an dem Friede und Versöhnung über die ganze Menschheit herrschen, an dem sogar der Mörder sein Messer in die Tasche steckt und der Dieb das heilige Besitzrecht achtet; dieses Fest, das besonders in den nordischen Ländern sowohl die historischen Voraussetzungen besitzt wie von uraltem Herkommen ist usw. Und da kommt, wie der Gestank aus einer Kloake, ein Individuum, das sich nicht gescheut hat, die heiligsten Bande zu brechen, und speit seine Bosheit gegen die geachteten Mitglieder der Gesellschaft aus; eine Bosheit, die von der kleinlichsten Rache diktiert wird ...“ Er legte die Zeitung zusammen und steckte sie in die Tasche seines Schlafrocks. Dann riss er die zweite Drucksache auf. Das war eine Karikatur über ihn und seine Frau. Er liess die Zeitung den gleichen Weg gehen wie die erste, musste sich aber beeilen, denn seine Frau trat ein. Er beendete das Frühstück und eilte in sein Zimmer, um sich zum Ausgehen anzukleiden. Dann gingen sie.

Die Sonne schien auf die bereiften Platanen der Champs Elysées, und der Concordiaplatz öffnete sich wie eine grosse Oase von Sonnenlicht mitten in der Steinwüste. Er hatte ihren Arm unter seinem, es war ihm aber, als stütze sie ihn. Sie sprach davon, was sie den Kindern kaufen sollten, und er antwortete, so gut er konnte. Schliesslich unterbrach er auf ein Mal das Gespräch und fragte, ohne eine Veranlassung dazu zu haben:

– Weisst du, was für ein Unterschied zwischen Strafe und Rache ist?

– Nein, darüber habe ich nicht nachgedacht.

– Ich möchte wissen, ob es nicht dieser ist: wenn sich ein anonymer Zeitungsschreiber rächt, dann ist es Strafe; wenn aber ein namhafter Nichtzeitungsschreiber straft, dann ist es Rache! Tragen wir uns ein unter die neuen Propheten!

Sie bat ihn, doch das Weihnachtsfest nicht zu stören, indem er von Zeitungen spreche.

– Dieses Fest, wiederholte er für sich, an dem Friede und Versöhnung ...

Sie gingen durch die Arkaden der Rivolistrasse, bogen in die Boulevards ab und kauften ein. Im Grand-Hôtel essen sie. Sie war in sonniger Laune und suchte ihn zu erheitern. Er aber blieb gedankenvoll. Schliesslich warf er die Frage auf:

– Wie kann man ein böses Gewissen haben, wenn man recht gehandelt hat?

Das wusste sie nicht.

– Kommt es daher, dass die Oberklasse uns dazu erzogen hat, ein böses Gewissen zu haben, jedes Mal wenn wir uns gegen sie erheben? Wahrscheinlich! Warum hat der nicht das Recht, die Ungerechtigkeit anzugreifen, der von der Ungerechtigkeit gekränkt worden ist? Weil nur der, der gekränkt worden ist, angreifen wird, und die Oberklasse nicht angegriffen werden will. Warum habe ich die Oberklasse früher, als ich zu ihr gehörte, nicht angegriffen? Weil ich damals natürlich nicht wusste, was sie ist! Man muss sich von einem Bild entfernen, um den richtigen Gesichtspunkt zu finden!

– Am Weihnachtsabend spricht man nicht von solchen Dingen.

– Es ist wahr, es ist Weihnachten, „dieses Fest ...“

Und sie fuhren nach Haus. Der Tannenbaum wurde angesteckt, und Friede und Glück strahlten von ihm aus; aber die dunklen Tannenzweige rochen nach Begräbnis und sahen düster aus, düster wie das Gesicht des Barons. Dann aber kam die Amme mit den Kleinen. Da klärte er sich auf, denn, dachte er, wenn sie herangewachsen sind, dann werden sie in Freude ernten, was wir in Tränen gesäet haben; dann werden sie nur ein böses Gewissen haben, wenn sie sich gegen die Gesetze der Natur vergehen; werden nicht wie wir jetzt von Grillen geritten werden, die mit dem Rohrstock eingebläut, mit Pfaffengeschichten eingetrichtert, von der Oberklasse zum Nutzen der Oberklasse verfasst sind.

Die Baronin setzte sich an den Flügel, als die Mädchen von der Küche und der Diener hereinkamen. Und sie spielte alte wehmütige Tänze, über die sich der Nordländer freut, und die Leute tanzten mit den Kindern, sahen aber nicht fröhlich aus. Es war wie der schuldige Teil eines öffentlichen Gottesdienstes.

Dann erhielten die Kinder und die Leute ihre Weihnachtsgeschenke. Und dann mussten die Kinder schlafen gehen.

Die Baronin ging in den Salon und setzte sich in einen Sessel. Der Baron setzte sich auf einen Schemel ihr zu Füssen. Darauf liess er seinen Kopf auf ihre Knie sinken. O, der war so schwer, so schwer! Und sie streichelte ihm die Stirn, sagte aber nichts.

– Was! Er weine?

– Ja, das tue er!

Sie hatte noch nie einen Mann weinen sehen. Das war furchtbar! Die ganze kräftige Gestalt schlotterte, aber er schluchzte nicht, und kein Laut war von ihm zu hören.

– Warum er weine?

– Er sei so unglücklich!

– Unglücklich mit ihr?

– Nein, nein, nicht mit ihr, aber doch unglücklich!

– Sei man garstig gegen ihn gewesen?

– O, ja!

– Könne er davon sprechen?

– Nein! Er wolle nur bei ihr sitzen! Wie er ein Mal, vor langer Zeit, bei seiner Mutter gesessen!

Sie plauderte mit ihm, wie mit einem Kind! Sie küsste seine Augenlider und trocknete ihm das Gesicht mit ihrem Taschentuch. Sie fühlte sich so stolz, so seltsam stark, und sie weinte nicht. Als er sie so sah, fasste er wieder Mut.

– Dass er so schwach sein könne! Es sei doch furchtbar, dass es in der Tat so schwer sei, diese fabrizierten Ansichten der Gegner zu ertragen. Glaubten denn seine Feinde selber, was sie sagten?

– Schrecklicher Gedanke, aber das täten sie wohl. Man sehe ja Steine in Kiefern festwachsen, warum nicht Ansichten in Gehirnen. Aber sie glaube doch, dass er recht habe, dass er das Gute wolle?

– Ja, das glaube sie! Aber er dürfe nicht böse werden: vermisse er nicht sein Kind, das erste?

– Doch gewiss, aber dem sei ja nicht zu helfen. Wenigstens jetzt noch nicht! Aber er und die andern, die für die Zukunft arbeiteten, müssten auch dafür eine Hilfe finden! Noch wisse er nicht wie, aber stärkere Köpfe als seiner, und viele zusammen, würden wohl einmal diese Frage, die jetzt unlösbar erscheine, lösen.

– Ja, das müssten sie!

– Aber ihre Ehe? Sei das noch eine rechte Ehe, da er ihr seinen Kummer nicht sagen wolle? Sei das nicht auch Pro ...?

– Nein, das sei eine rechte Ehe, denn sie liebten einander; das hätten er und seine erste Frau nicht getan! Sie liebten doch einander? Könne sie das leugnen?

– Nein, lieber Geliebter, das könne sie nicht!

– Nun, dann sei es eine rechte Ehe, von Gott, von der Natur!

Unnatürliche Auslese
oder
Die Entstehung der Rasse

Der Baron hatte mit grossem und edlem Verdruss im „Lebenssklaven“ gelesen, dass die Kinder der Oberklasse untergehen würden, wenn sie nicht die Muttermilch von den Kindern der Unterklasse nähmen. Er hatte Darwin gelesen und zu verstehen geglaubt, durch die Auslese seien adelige Kinder eine höhere Entwicklungsstufe der Gattung Mensch. Durch die Lehre von der Erblichkeit aber hatte er einen Widerwillen gegen den Gebrauch von Ammen gefasst: indem Blut der Unterklasse in adelige Adern fliesst, könnten ja gewisse Begriffe, Vorstellungen, Intentionen eingepflanzt werden. Er hatte also den Grundsatz angenommen, seine Frau solle selber säugen; wenn ihre Milch nicht reiche, solle das Kind mit der Flasche genährt werden. Die Milch von den Kühen zu nehmen, war wohl sein Recht, wenn die Kühe sein eigenes Heu frassen, ohne das sie verhungern würden oder gar nicht geboren wären.

Das Kind kam zur Welt. Es war ein Sohn! Der Vater war etwas unruhig gewesen, bis die Schwangerschaft festgestellt wurde, denn er selber war ein armer Teufel, aber seine Frau war sehr reich, und er konnte nur in Genuss ihres Reichtums kommen, wenn die Ehe mit einem gesetzlichen Erben gesegnet wurde, nach dem Erbgesetz Kap. 00, § 00. Die Freude war daher gross und ungeheuchelt. Der Sohn war ein kleines durchsichtiges Vollblutwesen mit blauen Adern auf der Hautfläche. Aber das Blut war trotzdem dünn. Die Mutter hatte die Figur eines Engels, war mit ausgewählter Nahrung aufgezogen, durch Pelzwerk gegen die ungünstigen Einflüsse des Klimas geschützt worden, und von dieser vornehmen Blässe, die das Weib von Rasse andeutet.

Sie gab ihrem Kinde selber die Brust. Man brauchte also nicht Bäuerinnen zu melken, um die Ehre des Lebens zu geniessen. Das waren alles Fabeln. Das Kind sog und schrie vierzehn Tage. Da alle Kinder schreien, hatte das nichts zu bedeuten. Aber das Kind magerte ab. Es magerte ganz schrecklich ab. Der Arzt wurde gerufen. In geheimer Konsultation mit dem Mann erklärte er offen, das Kind werde sterben, wenn die Mutter es weiter säuge, denn teils sei sie zu nervös, teils habe sie nichts zu geben. Ja, er machte eine quantitative Analyse der Milch und zeigte mit Gleichungen, das Kind werde verhungern, wenn man auf diese Weise fortfahre.

Was sei zu tun, denn sterben dürfe das Kind nicht? Amme oder Flasche. Die Amme kam nicht in Frage, unter keiner Bedingung. Wir wollen es mit der Flasche versuchen! Der Arzt verordnete jedoch eine Amme.

Die beste holländische Kuh, welche die goldene Medaille des Kreises erhalten hatte, wurde isoliert und mit Heu gefüttert; mit trocknem Heu von der Hochwiese. Der Arzt analysierte die Milch, und alles war gut. Es war so einfach mit der Flasche! Dass man nicht schon längst daran gedacht hatte! Und man brauchte keine Amme, diese Haustyrannin, der man schmeicheln, dieses Faultier, das man mästen musste; und obendrein konnte sie noch eine ansteckende Krankheit haben!

Aber das Kind magerte trotzdem ab und schrie immer noch. Schrie Nacht und Tag! Es hatte ganz deutlich Magenschmerzen. Eine neue Kuh und eine neue Analyse. Die Milch wurde mit Karlsbader Wasser (echtem Sprudel) verdünnt, aber das Kind schrie doch noch.

– Hier ist weiter nichts zu machen, als eine Amme zu nehmen, erklärte der Arzt.

– Nein, das wolle man nicht. Man wolle andern Kindern nicht die Milch fortnehmen, das sei unnatürlich, und man sei nicht sicher vor der „Erblichkeit“.

Als der Baron von Natur und Unnatur sprechen wollte, konnte der Arzt den Baron darüber aufklären, wenn man die Natur wirken lasse, so würden alle adeligen Familien aussterben und ihr Grundbesitz an die Krone fallen. So weise habe die Natur es eingerichtet, und die Kultur des Menschen sei nur ein törichter Kampf gegen die Natur, in dem der Mensch schliesslich untergehen müsse. Die Rasse des Herrn Baron sei zum Untergang verurteilt; das zeige sich darin, dass seine Frau nicht genügend Nahrung für die Frucht ihres Leibes habe; um leben zu können, müsse man also die Milch von andern Weibchen rauben oder kaufen. Die Rasse lebe also bis in die geringste Einzelheit von Raub.

– Sei das auch Raub, wenn man die Milch kaufe? Sie kaufe!

– Ja, denn das Geld, mit dem man die Muttermilch des Volkes kaufe, sei ja das Produkt einer Arbeit. Und wessen Arbeit? Des Volkes! Denn der Adel arbeite ja nicht.

– Aber der Doktor sei ja Sozialist!

– Nein, er sei Darwinist. Übrigens könne man ihn seinetwegen ruhig Sozialist nennen, das sei ihm ganz einerlei!

– Ja, aber raube man, wenn man kaufe? Das sei doch zu streng!

– Ja, wenn man mit Geld kaufe, das man nicht erarbeitet.

– Mit dem Körper also erarbeitet?

– Ja!

– Dann sei ja der Doktor auch ein Räuber!

– Gewiss! Das könne ihn aber nicht davon abhalten, die Wahrheit zu sagen! Ob der Baron sich nicht an den reuigen Räuber erinnere, der so wahr gesprochen?

Das Gespräch wurde abgekürzt, und der Baron liess den Professor kommen.

Der nannte den Baron einen Mörder, weil er nicht längst für eine Amme gesorgt habe!

Der Baron musste seine Frau überreden. Er musste seine ganze frühere Beweisführung aufheben und die einfache Tatsache betonen: die Liebe zu seinem Kind (verglichen mit dem Erbgesetz).

Aber wo sollte man eine Amme hernehmen? An die Stadt brauchte man erst garnicht zu denken, denn da waren alle Menschen verdorben! Nein, ein Mädchen vom Lande musste es sein. Aber die Baronin wollte kein Mädchen haben, denn ein Mädchen, das ein Kind habe, sei ja ein unsittliches Geschöpf: da könne ja der Sohn eine erbliche Anlage bekommen.

Der Arzt sagte, alle Ammen seien Mädchen, und wenn der junge Baron die Anlage, zu Mädchen zu gehen, erben werde, so sei er ein tüchtigen Kerl, und solche Anlagen müsse man pflegen. Eine Bauernfrau bekomme man bestimmt nicht, denn wer Grund und Boden habe, wolle auch seine Kinder selber besitzen.

– Aber wenn man ein Mädchen mit einem Knecht verheirate.

– Dann müsse man neun Monate warten.

– Aber wenn man ein Mädchen verheirate, das schon ein Kind habe?

– Das sei eine Idee!

Der Baron wusste wohl von einem Mädchen, das ein Kind von drei Monaten hatte. Er wusste es nur allzu gut, denn seine Verlobungszeit hatte drei Jahre gedauert und der Arzt hatte ihm schliesslich „verordnen“ müssen, untreu zu sein.

Er ging selber zu ihr und fragte sie. Sie solle einen eigenen Hof bekommen, wenn sie sich mit dem Knecht Anders verheirate und Amme im Herrnhaus werde. Nun, es war klar, dass sie das lieber wollte, als allein die Schande tragen.

Am nächsten Sonntag sollten sie zum ersten, zweiten und dritten Mal aufgeboten werden, und Anders sollte auf zwei Monate nach Haus reisen.

Der Baron sah ihr Kind mit einem seltsamen Gefühl von Neid. Es war ein grosses, starkes Ding. Schön war es nicht, aber sicher würde es sich durch viele Familienglieder fortpflanzen können. Das Kind war zum Leben geboren, aber es wurde nicht sein Los.

Anna weinte, als es ins Waisenhaus gebracht wurde, aber das gute Essen im Herrnhaus, denn sie ass vom Essen der Herrschaft und bekam Porter und Wein, so viel sie wollte, tröstete sie allmählich. Auch durfte sie ausfahren in der grossen Kalesche, auf deren Kutschbock ein Bedienter sass. Und dann konnte sie „Tausendundeine Nacht“ lesen. Noch nie in ihrem Leben war sie so gepflegt worden.

Aber nach zwei Monaten kam Anders zurück. Er war bei seinen Eltern auf Besuch gewesen. Hatte gegessen, getrunken und sich ausgeruht. Er nahm den Hof in Besitz, verlangte aber nach seiner Anna. Könnte sie nicht wenigstens bei ihm vorsprechen? Nein, das wollte die Baronin nicht. Keinerlei Geschichten!

Anna begann abzunehmen und der kleine Baron schrie. Der Arzt wurde um Rat gefragt.

– Man lasse sie zusammen, sagte er.

– Wenn das aber schädlich ist?

– Im Gegenteil!

Aber Anders sollte erst „analysiert“ werden.

Das wollte Anders nicht. Anders erhielt einige Schafe und dann wurde er analysiert.

Der kleine Baron schrie nicht mehr.

Da aber kam die Nachricht vom Waisenhaus, Annas Junge sei an Diphtheritis gestorben. Anna bekam Milchversetzung und der kleine Baron schrie ganz schrecklich.

Anna musste verabschiedet und zu Anders geschickt werden, und man musste eine neue Amme annehmen. Anders freute sich, endlich richtig verheiratet zu sein, aber Anna hatte feine Gewohnheiten angenommen. Sie konnte nicht mehr brasilianischen Kaffee trinken, sondern musste Java haben. Und ihre Gesundheit verbot ihr, sechs Mal in der Woche Fisch zu essen. Sie konnte die Erde nicht graben, und darum wurde das Brot knapp.

Nach einem Jahr hätte Anders den Hof aufgeben müssen; doch der Baron war ihm gewogen, und er durfte als Kätner bleiben.

Anna tagewerkte auf dem Herrnhof und sah oft den kleinen Baron; er aber erkannte sie nicht wieder, und das war gut. Aber er hatte doch an ihrer Brust gelegen. Und sie hatte sein Leben gerettet und dafür das ihres eigenen Kindes gegeben. Doch sie war fruchtbar und bekam mehrere Söhne, die Kätner, Bahnarbeiter wurden; einer wurde Zuchthäusler.

Aber der alte Baron sah mit Unruhe den Tag kommen, an dem der junge Baron sich verheiraten und einen Erben zeugen würde. Stark sah er nicht aus! Er wäre sehr viel ruhiger gewesen, wenn der andere kleine Baron, der im Waisenhaus starb, auf dem Herrnhof gesessen hätte. Und als er den „Lebenssklaven“ noch ein Mal las, musste er eingestehen, dass die Oberklasse von der Gnade der Unterklasse lebt; und als er Darwin noch ein Mal las, konnte er nicht leugnen, dass die Auslese, so wie sie jetzt war, alles andere als natürlich sei. Aber das war nun einmal so, und das konnte man nicht ändern, der Doktor und die Sozialisten mochten sagen, was sie wollten.

Reformversuch

Sie hatte mit Ekel gesehen, wie die Mädchen zu Haushälterinnen für ihre künftigen Männer erzogen wurden. Darum hatte sie eine Fertigkeit gelernt, die sie unter allen Verhältnissen des Lebens ernähren konnte. Sie machte Blumen.

Er hatte mit Schmerz gesehen, wie die Mädchen darauf warteten, von ihren künftigen Männern versorgt zu werden; er wollte sich mit einer freien, selbstständigen Frau verheiraten, die sich selber ernähren konnte; dann würde er in ihr eine Seinesgleichen sehen und eine Kameradin fürs Leben haben, keine Haushälterin.

Und das Schicksal wollte, dass sie sich trafen. Er war Maler, und sie machte, wie gesagt, Blumen, und in Paris hatten sie diese neuen Ideen bekommen.

Es war eine stilvolle Ehe. Sie hatten sich in Passy drei Zimmer gemietet. Das Atelier lag in der Mitte, sein Zimmer auf der einen Seite, ihr Zimmer auf der andern. Ein gemeinsames Bett wollten sie nicht haben; das sei eine Schweinerei, die durchaus kein Gegenstück in der Natur besitze und nur Übertreibung und Ausschweifung veranlasse. Und sich im selben Zimmer entkleiden! Nein, jeder sein eigenes Zimmer; und dann einen gemeinsamen neutralen Raum, das Atelier. Keine Dienstboten; denn die Küche wollten sie gemeinsam besorgen. Nur eine alte Frau, die morgens und abends kam.

Es war gut ausgerechnet, und es war ganz richtig gedacht.

– Wenn ihr aber Kinder bekommt? wandte der Zweifler ein.

– Wir werden keine Kinder bekommen!

Gut! Sie würden keine Kinder bekommen!

Es war entzückend! Er ging morgens auf den Markt und kaufte ein. Darauf kochte er den Kaffee. Sie machte die Betten und räumte die Zimmer auf. Dann setzten sie sich an die Arbeit.

Wenn sie müde wurden, plauderten sie eine Weile, gaben einander einen guten Rat, lachten und waren sehr lustig.

Wenn der Mittag kam, machte er Feuer in der Küche, während sie das Gemüse wusch. Er kochte Rindfleisch in der Brühe, während sie zum Kaufmann hinunterlief; dann deckte sie, während er das Essen auftischte.

Aber wie Geschwister lebten sie nicht. Sie sagten sich abends gute Nacht, und jedes ging in sein Zimmer. Dann aber klopfte es an ihre Tür und sie rief: herein! Doch das Bett war eng und es kam nie zu Ausschweifungen, sondern jedes erwachte morgens im eigenen Bett. Und dann klopfte er an die Wand:

– Guten Morgen, mein Mädchen! Wie steht es heute?

– Danke, gut; und dir?

Es war immer etwas Neues, wenn sie sich morgens trafen, und es wurde nie alt.

Abends gingen sie oft zusammen aus und trafen mit Landsleuten zusammen. Und sie wurde nicht geniert von Tabaksrauch, und sie genierte auch selber nicht.

Das sei das Ideal einer Ehe, meinten die andern, ein so glückliches Paar hätten sie noch nicht gesehen.

Aber das Mädchen hatte Eltern, die weit entfernt wohnten. Und die schrieben und fragten unaufhörlich, ob Luise noch nicht guter Hoffnung sei, denn sie sehnten sich nach einem Enkelkind. Luise solle daran denken, dass die Ehe der Kinder und nicht der Eltern wegen da sei. Das hielt Luise für eine altmodische Ansicht. Da fragte die Mama, ob man denn mit den neuen Ideen die Absicht habe, das Menschengeschlecht auszurotten. Daran habe Luise nicht gedacht, und darum kümmere sie sich auch nicht. Sie sei glücklich und ihr Mann auch, und jetzt habe die Welt endlich eine glückliche Ehe gesehen, und darum sei die Welt neidisch.

Aber angenehm lebten sie. Keiner war der Herr des andern, und zur Kasse schossen sie zusammen. Das eine Mal verdiente er mehr, das andere Mal sie, aber das wurde unter einander ausgeglichen.

Und wenn sie Geburtstag hatten! Da erwachte sie davon, dass die Aufwartefrau hereinkam mit einem Blumenstrauss und einem Briefchen, auf das Blumen gemalt waren und in dem zu lesen stand:

– Der Frau Blumenknospe gratuliert ihr Anstreicher und ladet sie zu einem feinen kleinen Frühstück ein – und zwar sofort!

Und dann klopfte es an seine Tür und dann – herein! Und sie assen Frühstück auf dem Bett, auf seinem Bett; und die Aufwartefrau arbeitete dann den ganzen Vormittag. Es war entzückend.

Und nie ward es etwas Altes. Denn es dauerte zwei Jahre. Und alle Weissager weissagten falsch.

So müsste die Ehe sein!

Dann aber geschah es, dass die Frau krank wurde. Sie glaubte, es seien die Tapeten; er aber vermutete Bakterien. Ja, es waren bestimmt Bakterien!

Aber es war auch etwas in Unordnung. Es war nicht so, wie es sein sollte. Es war bestimmt eine Erkältung. Und dann wurde sie so stark. Sollte es vielleicht ein Gewächs sein, von dem man soviel las? Ja, es war bestimmt ein Gewächs. Sie ging zu einem Arzt. Als sie nach Haus kam, weinte sie. Es war wirklich ein kleines Gewächs, aber eins, das zu seiner Zeit ans Tageslicht kommen werde, um Blume zu werden und Frucht anzusetzen.

Der Mann weinte nicht. Er fand Stil darin, und dann ging der Lümmel in die Kneipe und prahlte noch damit. Aber die Frau weinte wieder. Wie würde jetzt ihre Stellung zu ihm werden? Mit Arbeit könne sie jetzt bald nichts mehr verdienen, und dann müsse sie sein Brot essen. Und dann müssten sie sich eine Magd halten. Huh, diese Mägde!

Alle Vorsorge, aller Vorbedacht, alle Voraussicht waren an dem Unvermeidlichen gescheitert.

Aber die Schwiegermutter schrieb begeisterte Gratulationsbriefe und wiederholte immer wieder, die Ehe sei von Gott der Kinder wegen gestiftet, das Vergnügen der Eltern sei nur Nebensache.

Hugo beteuerte, sie brauche niemals daran zu denken, dass sie nichts verdiene! Trage sie nicht mit ihrer Arbeit für sein Kind genug zum Haushalt bei? Sei das nicht auch Geldeswert? Geld sei doch nur Arbeit! Also bezahle sie ja auch ihr Teil.

Doch sie konnte es lange nicht verschmerzen, dass sie sein Brot essen musste. Als aber das Kind kam, vergass sie alles. Und sie war seine Frau und Kameradin wie früher, aber sie war ausserdem die Mutter seines Kindes, und er fand, das sei das Beste von allem.

Naturhindernis

Ihr Vater hatte sie Buchführung lernen lassen, damit sie dem gewöhnlichen Los der Mädchen entgehe: darauf zu warten, bis sie geheiratet wird.

Sie war jetzt Buchführerin bei der Gepäckabteilung der Eisenbahnen und wurde allgemein als tüchtig anerkannt. Sie wusste die Leute zu behandeln, dass es eine Lust war, und sie hatte eine schöne Zukunft vor sich.

Da kam der grüne Jäger von der Forstakademie, und sie heirateten sich. Aber Kinder wollten sie nicht haben. Es sollte eine geistige Ehe von der rechten Art werden, und die Welt sollte sehen, dass die Frau auch ein seelisches Wesen und kein Weibchen sei.

Die beiden Gatten trafen sich mittags und nachts, und es war eine wirkliche Ehe, die Verbindung zweier Seelen, und allerdings auch die zweier Körper, aber davon sprach man natürlich nicht.

Eines Tages kam die Frau nach Hause und erzählte, die Dienstzeit sei geändert. Ein neuer Nachtzug nach Malmö sei vom Reichstag beschlossen worden, und sie habe künftig zwischen sechs und neun Uhr abends Dienst. Das war ein Strich durch die Rechnung. Denn er konnte nicht vor sechs Uhr nach Haus kommen. Unmöglich!

Jetzt musste jedes allein zu Mittag essen, und sie trafen sich nur nachts. Er fand das etwas wenig. Und dann die langen Abende.

Er kam und holte sie ab. Es war ihm aber nicht angenehm, in der Gepäckexpedition auf einem Stuhl zu sitzen und von den Trägern gestossen zu werden. Er war immer im Wege. Und wenn er mit ihr, die mit der Feder hinterm Ohr dasass, plaudern wollte, konnte sie ihm das Wort abschneiden:

– Bitte, sei doch so lange still!

Dann wandten die Leute sich ab, und er konnte an ihren Rücken sehen, dass sie grinsten.

Zuweilen wurde er von einem Buchhalter mit diesen Worten angemeldet:

– Ihr Mann wartet auf Sie, Frau X.

„Ihr Mann“, das klang so geringschätzig.

Was ihn aber am meisten reizte, war, dass sie zum Nebenmann am Pult einen jungen Laffen hatte, der ihr direkt in die Augen guckte und sich oft, um ins Hauptbuch zu sehen, so über ihre Schulter beugte, dass sein Kinn fast auf ihrer Brust lag! Und die beiden sprachen von Fakturen und Zertifikaten; von Dingen, die alles mögliche bedeuten konnten, denn er verstand sie nicht. Und sie kollationierten zusammen und schienen vertrauter mit einander zu sein, als Mann und Frau waren. Und das war sehr natürlich, denn sie war mehr mit dem fröhlichen Laffen zusammen als mit ihrem Mann. Er begann zu denken, es sei doch keine rechte geistige Ehe; damit sie das sei, hätte er auch bei der Gepäckabteilung sein müssen. Jetzt aber war er bei der Forstakademie.

Eines Tages, oder richtiger eines Nachts, verkündete sie, sie müsse am nächsten Sonnabend die Versammlung der Eisenbahner besuchen, die mit einem gemeinsamen Schmaus beschlossen würde. Der Mann nahm die Mitteilung etwas verlegen auf.

– Du willst dahin gehen? war er naiv genug zu fragen.

– Welche Frage?

– Aber du bist die einzige Frau unter so vielen Männern, und wenn Männer getrunken haben, werden sie roh!

– Besuchst du denn nicht Forsttage ohne mich?

– Allerdings, aber nicht als einziger Mann unter Frauen!

– Männer und Frauen seien doch gleich, und sie sei erstaunt, dass er, der doch immer die Befreiung des Weibes gepredigt, etwas dagegen habe, dass sie die Sitzung besuche!

– Er räume ein, es seien alte Vorurteile, die bei ihm noch festsässen; er räume ein, sie habe recht und er habe unrecht, aber er bitte sie, nicht hinzugehen: es sei ihm nun einmal unangenehm! Er könne nicht davon loskommen!

– Das sei inkonsequent von ihm!

– Ja, es sei inkonsequent von ihm, aber es seien auch zehn Generationen nötig, bis sich die Individuen da herausgearbeitet hätten!

– Dann dürfe er auch nicht mehr Versammlungen besuchen.

– Das sei nicht dasselbe, denn dort seien nur Männer! Nicht dass sie ohne ihn ausgehe, sei ihm unangenehm, sondern dass sie allein mit so vielen Männern ausgehe!

– Allein würde sie nicht sein, denn die Frau des Kassierers werde dabei sein als ...

– Als was?

– Als Frau des Kassierers!

– Dann könne er vielleicht mitgehen als „ihr Mann“!

– Warum wolle er sich demütigen, indem er lästig falle!

– Er wolle sich demütigen!

– Er sei eifersüchtig?

– Ja, warum nicht! Ihm sei bange, dass etwas zwischen sie kommen könne.

– Pfui, er sei eifersüchtig, welche Kränkung! Welche Beschimpfung, welches Misstrauen! Was denke er von ihr?

– Das Allerbeste! Er wolle es ihr beweisen: sie könne allein gehen!

– Sie dürfe also wirklich allein gehen! Wie gnädig!

Sie ging! Und kam erst gegen Morgen nach Haus, Sie musste ihren Mann wecken und ihm erzählen! wie angenehm es gewesen sei! Und wie es ihn freute, das zu hören! Sie hätten eine Rede auf sie gehalten, und sie hätten Quartett gesungen und getanzt.

– Wie sei sie denn nach Haus gekommen?

– Herr Latte habe sie bis zur Haustür gebracht.

– Wenn nun ein Bekannter seine Frau um drei Uhr morgens am Arm des Herrn Laffen getroffen hätte!

– Warum nicht! Sie habe doch keinen schlechten Ruf!

– Nein, aber sie könne einen bekommen!

– Ach, er sei eifersüchtig, und, was schlimmer sei, er sei neidisch! Er gönne ihr kein Vergnügen. So sei es, wenn man verheiratet sei! Wenn man ausgehe und sich amüsiere, kriege man Schelte, sobald man nach Haus komme! Pfui, wie dumm die Ehe sei! Und sei es überhaupt eine Ehe? Sie träfen sich nachts, ganz wie andere Verheiratete. Und die Männer seien alle gleich. Höflich, bis sie sich verheirateten, aber dann, dann! Ihr Mann sei gerade so, wie alle anderen Männer: er glaube sie zu besitzen, sie zu beherrschen!

– Er habe geglaubt, ein Mal hätten sie gemeint, einander zu besitzen, aber er habe sich geirrt. Sie besitze ihn, wie man einen Hund besitze, dessen man immer sicher ist. Sei er etwas anderes als ihr Diener, der sie abends abhole? Sei er etwas anderes als „ihr Mann“? Aber wolle sie „seine Frau“ sein? Sei das Gleichstellung?

– Sie sei nicht nach Haus gekommen, um sich zu zanken. Sie wolle immer seine Frau sein, und er solle immer ihr Männchen sein.

– Der Champagner wirkt! dachte er und drehte sich nach der Wand.

Sie weinte und bat ihn, doch gerecht zu sein und ihr zu – verzeihen.

Er verbarg sich unter der Decke.

Sie fragte noch ein Mal, ob er – ob er nicht wolle, dass sie seine Frau sei.

– Doch, gewiss wolle er das! Aber er habe sich heute abend so furchtbar gelangweilt, dass er nie mehr einen solchen Abend erleben wolle.

– Aber das sollten sie jetzt vergessen!

Und sie vergassen es und sie war wieder sein Frauchen.

Am nächsten Abend, als der grüne Jäger seine Frau abholen wollte, war sie in die Magazine gegangen. Er war allein im Kontor und setzte sich auf ihren Stuhl. Da öffnet sich eine Glastür und Herr Laffe steckt den Kopf herein:

– Annchen, bist du hier?

Nein, es war ihr Mann!

Er stand auf und ging seiner Wege! Herr Laffe nannte seine Anna Annchen und duzte sie! Annchen! Das war zuviel.

Als sie nach Haus kam, gab es einen grossen Auftritt. Sie wies dem grünen Jäger nach, seine Lehren von der Befreiung des Weibes seien nicht ernst zu nehmen, da er es übel auffasse, wenn seine Frau ihre Kameraden duze.

Das Schlimmste war, dass er zugab, seine Lehren seien nicht ernst zu nehmen.

– Das sei nicht seine Meinung! Er ändere seine Ansichten! Was?

– Ja, freilich! Die Ansichten änderten sich nach der Wirklichkeit, die so veränderlich sei! Habe er aber früher an eine geistige Ehe geglaubt, so glaube er jetzt an gar keine Ehe mehr. Das sei ja ein Fortschritt in radikaler Richtung! Und was das Geistige betreffe, so sei sie jetzt geistig mehr mit Herrn Laffe verheiratet, dessen Gedanken über Gepäckwesen sie täglich und stündlich teile, als mit ihm, für dessen Forstkultur sie sich ganz und gar nicht interessiere! Sei schliesslich ihre Ehe geistig? Sei sie so geistig!

– Nein, jetzt nicht mehr! Ihre Liebe sei tot! Er habe sie getötet, als er den grossen Glauben an – die Befreiung des Weibes aufgegeben!

Es wurde immer giftiger, und der grüne Jäger suchte geistige Ehe mit Forstmännern und gab das Gepäckwesen, das er nie verstanden hatte, auf.

– Du verstehst mich nicht, wiederholte sie so oft!

– Nein, Gepäckwesen habe ich nicht gelernt, antwortete er.

Eines Nachts, oder richtiger eines Morgens, erzählte er, er müsse mit einem Mädchenpensionat botanisieren gehen. Er lehre Botanik in einem Mädchenpensionat.

So? Davon habe er ihr ja noch nichts gesagt! Grosse Mädchen?

– Kolossale! Sechzehn bis zwanzig Jahre alt!

– Hm! ... Am Vormittag?

– Nein, am Nachmittag! Und nachher würden sie draussen zu Abend essen.

– Hm! Die Vorsteherin sei doch dabei?

– Nein! Aber sie habe volles Vertrauen zu ihm, da er verheiratet sei! Es sei also zuweilen gut, verheiratet zu sein.

Am nächsten Tag war sie krank.

– Er könne doch nicht das Herz haben, sie zu verlassen?

– Der Dienst vor allem! Sei sie sehr krank?

– Oh, furchtbar!

Der Arzt wurde geholt, trotzdem sie es nicht wollte. Er erklärte, es sei nicht gefährlich, der Mann könne gehen!

Gegen Morgen kam der grüne Jäger nach Haus! Wie lustig er war! Und wie er sich amüsiert habe! Solch einen Tag habe er lange, lange nicht erlebt!

Da brach es los: Huhuhuhu! Dieser Kampf sei ihr zu schwer! Und er musste einen Eid ablegen, dass er nie eine andere als sie lieben werde! Niemals!

Krämpfe und Weinessig!

Er war zu edelmütig, um von Einzelheiten des Schmauses mit den Mädchen zu sprechen, aber er konnte es nicht lassen, das alte Gleichnis von seinem Hundetum wieder vorzubringen, und er erlaubte sich, sie darauf aufmerksam zu machen, dass zur Liebe der Begriff Besitzrecht gehöre – auch von Seiten der Frau. Warum weine sie denn? Über dasselbe, über das er fluchte, wenn sie mit zwanzig Männern ausgehe! Die Furcht, ihn zu verlieren! Aber man verliert nur, was man besitzt! Besitzt!

So wurde das Loch wieder geflickt. Aber die Gepäckabteilung und das Mädchenpensionat standen mit ihren Scheren bereit und schnitten wieder ab, was man angeheftet hatte. Eine harmonische Ehe war es nicht mehr.

Da wurde die Frau krank!

Sie habe sich bestimmt an einem Gepäckstück im Magazin verhoben. Sie sei so eifrig und könne es nicht leiden, wie die Gepäckträger dastehen und auf sich warten lassen. Sie müsse immer selber mit anfassen. Es sei sicher ein Bruch.

Es sei etwas Hartes zu fühlen, sagte die Hebamme.

Es war so weit! Wie böse sie wurde! Böse auf ihn, denn es sei bestimmt nur Bosheit von ihm! Wie werde es ihr jetzt ergehen, mit ihrer Zukunft. Sie müssten das Kind in ein Findelhaus geben. So habe es Rousseau getan. Sonst sei der ja ein Dummkopf, aber in diesem Punkt habe er recht.

Und so viel Launen! Der Jäger musste augenblicklich seine Botanik im Mädchenpensionat aufgeben!

Aber das Schlimmste: sie konnte nicht mehr ins Magazin gehen. Sie musste im Kontor sitzen und buchen. Und das Allerschlimmste: sie erhielt einen Gehilfen, dessen geheime Aufgabe es war, sie zu vertreten, wenn sie zu Haus bleiben musste.

Und die Kollegen waren nicht mehr wie früher. Und die Leute grinsten. Sie hätte sich vor Scham verstecken mögen. Lieber sich in ihrer Häuslichkeit verkriechen und das Essen kochen als hier wie ein Spektakel sitzen. O welche Abgründe von Vorurteilen in den falschen Herzen der Männer verborgen liegen.

Für den letzten Monat nahm sie Urlaub. Sie vermochte nicht mehr vier Male am Tage den Weg zu machen. Und dann wurde sie hungrig mitten am Vormittag und musste Butterbrote holen lassen. Und oft war sie krank und musste eine Pause machen. Was für ein Leben! Was für ein klägliches Los der Frau zugefallen war!

Und dann kam das Kind!

– Wollen wirs ins Findelhaus schicken? sagte der Jäger.

– Oh, er habe wohl kein Herz?

– Doch, das habe er!

Und das Kind blieb zu Hause!

Dann aber kam ein sehr höflicher Brief vom Betriebsamt und fragte, wie es dem Frauchen gehe!

Es gehe ihr gut und sie könne übermorgen wieder Dienst tun.

Sie war schwach und musste einen Wagen nehmen. Aber sie wurde bald wieder stark. Doch sie musste einen Laufburschen nach Haus schicken, um zu fragen, wie es dem Kinde gehe; erst zwei Male am Tage, dann alle zwei Stunden. Und als sie hörte, es habe geschrien, wurde sie ganz wild und eilte nach Haus. Aber der Gehilfe stand bereit, um sie zu vertreten. Die Vorgesetzten waren sehr höflich und sagten nichts.

Eines Tages entdeckte die Frau, dass die Milch der Amme versiegt war und dass die Person das nicht gemeldet habe, aus Furcht, ihre Stelle zu verlieren. Sie nahm sofort Urlaub, um eine neue Amme zu suchen! Ach, die waren sich alle gleich. Kein Interesse für fremde Kinder, nur rohe Egoisten. Man konnte sich nie auf sie verlassen!

– Nein, sagte der Mann, in diesem Fall kann man sich nur auf sich selber verlassen!

– Du meinst, ich soll meine Stellung aufgeben?

– Ich meine, du tust, was du willst!

– Und deine Sklavin werden!

– Nein, das meine ich durchaus nicht!

Der Kleine wurde krank, wie alle Kinder werden. Er kriegte Zähne! Urlaub auf Urlaub. Das Kind bekam sogenanntes Zahnreissen! Nachts wiegen, tagsüber Dienst, schläfrig, müde, unruhig, und dann Urlaub. Der grüne Jäger war nett und trug das Kind nachts, sagte aber nie etwas über die Stellung seiner Frau.

Doch sie kannte seine Gedanken. Er warte nur darauf, dass sie zu Hause blieb; aber er sei falsch und darum schweige er! Wie falsch die Männer seien! Sie hasse ihn; lieber würde sie sich töten, als ihre Stelle aufgeben und seine Sklavin werden!

Der Jäger hatte jetzt vollständig jede Hoffnung aufgegeben, dass sich die Frau von den Naturgesetzen emanzipieren könne; unter den jetzigen Verhältnissen, war er klug genug, hinzuzufügen.

Als das Kind fünf Monate alt war, wurde die Frau wieder schwanger.

Himmelkreuzdonnerwetter!

– Ja, wenn es ein Mal anfängt, dann ist der Teufel los!

Der Jäger musste seine Stellung im Mädchenpensionat wieder übernehmen, um das Einkommen zu erhöhen, und jetzt – jetzt streckte sie das Gewehr!

– Ich bin deine Sklavin, rief sie aus, als sie mit dem Abschied nach Haus kam; ich bin deine Sklavin.

Nichtsdestoweniger leitet sie den Haushalt, und er liefert jeden einzigen Pfennig unter ihre Schlüssel. Wenn er eine Zigarre haben will, kommt er und hält eine lange Rede, ehe er seine Bitte vorzubringen wagt. Sie verweigert es ihm nicht, niemals, aber er findet es doch etwas lästig, um das Geld bitten zu müssen. Und Sitzungen darf er besuchen, aber einen Schmaus nicht, und Botanisieren mit Mädchen gibt es nicht mehr!

Er vermisst es auch nicht so sehr, denn er findet, das Beste ist, mit den Kindern zu spielen!

Seine Kameraden sagen, er stehe unterm Pantoffel; doch darüber lächelt er, indem er sagt, er befinde sich am besten dabei, denn sein Weib sei eine sehr verständige und nette Frau.

Sie aber behauptet immer noch, sie sei seine Sklavin, sie sei es doch, und das ist ihr einziger Trost in der Betrübnis: das arme Frauchen.

Ein Puppenheim

Sie waren sechs Jahre verheiratet, aber sie glichen noch Verlobten. Er war Kapitän der Flotte und musste jeden Sommer einige Monate fort; zwei Male hatte er eine lange Tour gemacht. Die kleinen Dienstreisen taten so gut: war ihr Verhältnis in dem langen Winter etwas muffig geworden, so wurde es durch diese Sommertour wieder aufgefrischt.

Im ersten Sommer schrieb er förmliche Liebesbriefe an seine Frau, und er konnte auf dem Meer keinen Segler treffen, ohne dass er sofort Post signalisieren liess! Und als er vom Stockholmer Inselmeer Landkennung hatte, wusste er nicht, wie er sie schnell genug sehen konnte. Aber das wusste sie. In Landsort erreichte ihn ein Telegramm, dass sie ihm nach Dalarö entgegen kommen werde. Und als Anker geworfen wurde, sah er ein kleines, blaues Taschentuch auf der Veranda des Gasthauses: da wusste er, dass sie es war. Aber es war an Bord so viel zu tun, dass es Abend wurde, ehe er an Land gehen konnte. Als er dann aber mit der Gig kam und der vorderste Ruderer den Anprall abwehrte, sah er sie auf der Landungsbrücke: sie war noch ebenso jung, noch ebenso hübsch, noch ebenso gesund wie vorher; es war ihm, als lebte er seine erste Liebeszeit noch ein Mal. Und als sie ins Gasthaus kamen, welch kleines Souper hatte sie in den beiden kleinen Zimmern, die sie bestellt, zu arrangieren verstanden! Und wieviel sie mit einander zu besprechen hatten. Die Reise, die Kinder, die Zukunft! Und der Wein funkelte und die Küsse schmatzten. Vom Schiff war der Zapfenstreich zu hören. Um den kümmerte er sich aber nicht, denn er wollte nicht vor ein Uhr gehen.

– Was, er wolle gehen?

– Ja, er müsse an Bord sein; wenn er aber zur Tagwache da sei, genüge es.

– Wann denn die Tagwache beginne?

– Um fünf Uhr!

– O pfui so früh!

– Wo wolle sie aber heute nacht wohnen?

– Das brauche er nicht zu wissen!

Er erriet es und wollte nun sehen, wo sie wohne. Aber sie stellte sich vor die Tür! Er küsste sie, nahm sie wie ein Kind auf den Arm und öffnete die Tür.

– Was für ein grosses Bett! Das war ja wie die grosse Barkasse! Wo hatten die Leute das her?

Wie sie errötete!

– Aber sie habe ja seinen Brief so verstanden, dass sie beide im Gasthaus „wohnen“ würden.

– Gewiss würden sie dort wohnen, wenn er auch zur Tagwache an Bord sein müsse: auf dieses verd. Morgengebet komme es doch auch nicht an!

– Wie er so sprechen könne!

– Jetzt wollen wir Kaffee trinken und etwas Feuer machen, denn die Laken fühlen sich feucht an! Was für ein verständiger Schalk sie sei, solch ein grosses Bett anzuschaffen! Wo sie das her habe?

– Das habe sie nirgendswoher!

– Nein, das könne er sich wohl denken! Er könne sich alles denken!

– Er sei doch so dumm!

– Er sei dumm?

Und er fasste sie um den Leib.

– Nein, er müsse artig sein!

– Artig? Das sei leicht zu sagen!

– Jetzt komme das Mädchen mit dem Holz!

Als die Uhr zwei schlug und es im Osten über Schären und Wasser zu brennen anfing, sassen sie am offenen Fenster.

– Es sei ja, als sei sie seine Geliebte und er ihr Liebhaber. Nicht wahr? Und jetzt müsse er gehen! Aber er werde um zehn Uhr wiederkommen, zum Frühstück, und nachher würden sie segeln.

Er setzte Kaffee auf seinem Reisekocher auf, und dann tranken sie Kaffee, während die Sonne aufging und die Möwen schrien. Draussen auf dem Wasser lag das Kanonenboot, und er sah den Hauer der Vorwache dann und wann aufleuchten. Die Trennung war schwer, aber die Gewissheit, dass sie sich schon am nächsten Tag wiedersehen würden, half ihnen darüber hinweg. Er küsste sie zum letzten Mal, schnallte den Säbel um und ging.

Als er auf die Brücke hinunterkam und „Boot ahoi“ rief, versteckte sie sich hinter der Gardine, ganz als schäme sie sich. Er aber warf ihr lauter Kusshände zu, bis die Matrosen mit der Gig anlangten. Und dann noch ein letztes: „Schlaf’ gut und träum’ von mir!“ Als er mitten auf dem Wasser sich umsah und das Fernglas ans Auge setzte, sah er noch eine kleine Gestalt mit schwarzem Haar in der Kammer, und die Sonne schien auf ihr Hemd und ihre blossen Schultern, dass sie wie eine Seejungfrau aussah!

Da wurde das Wecken geblasen. Die langen Töne des Signalhorns rollten zwischen grünen Inseln über das blanke Wasser hinaus und kamen auf andern Wegen hinter Fichtenwäldern zurück. Und dann alle Mann auf Deck und das Vaterunser und „Jesu, lass mich stets beginnen.“ Der kleine Glockenstuhl von Dalarö antwortete mit seinem schwachen Geläut, denn es war Sonntag. Und jetzt kamen Kutter in der Morgenbrise, und Flaggen wurden geflaggt, Schüsse knallten, helle Sommerkleider erschienen auf der Zollbrücke, der Dampfer mit dem roten Wassergang kam, die Fischer nahmen ihre Netze auf, und die Sonne schien auf das wellige blaue Wasser und auf die grünenden Inseln.

Um zehn Uhr stiess die Gig ab und ging mit sechs Paar Rudern an Land. Sie hatten einander wieder. Und als sie in dem grossen Esssaal Frühstück assen, flüsterten die andern Gäste unter sich: Ist das seine Frau? Er sprach halblaut wie ein Geliebter und sie schlug die Augen nieder und lächelte, oder klopfte ihm mit der Serviette auf die Finger.

Das Boot lag an der Brücke, und sie setzte sich ans Steuer; er besorgte die Fock. Aber er konnte die Augen nicht abwenden von ihrer hellen, sommerlich gekleideten Gestalt mit der hohen festen Brust, der entschlossenen Miene und dem starken Blick, der gegen den Wind aufsah, während die mit Wildleder behandschuhte Hand die Grossschot hielt. Er wollte nur plaudern und stellte sich manchmal dumm an beim wenden: dann kriegte er einen Rüffel wie ein Schiffsjunge, und das machte ihm höllischen Spass.

– Warum hast du das Kind nicht mitgenommen? fragte er, um sich mit ihr zu necken.

– Wo hätte ich es denn schlafen legen sollen?

– In die grosse Barkasse natürlich!

Und dann lächelte sie, und es machte ihm soviel Freude, sie auf diese Art lächeln zu sehen.

– Nun, was hat die Wirtin heute morgen gesagt? fuhr er fort.

– Was sollte sie sagen?

– Hat sie heute nacht ruhig schlafen können?

– Warum sollte sie das denn nicht?

– Ich weiss nicht, aber es hätten ja Ratten sein können, die an den Dielen knapperten; oder eine alte Bodenluke, die knarrte; man kann nicht wissen, was den süssen Schlaf einer alten Mamsell beunruhigt.

– Wenn du nicht still bist, so mache ich die Schot fest und segle dich in die See!

Sie landeten an einem kleinen Holm und nahmen aus einem Körbchen ein Mittagsmahl. Dann schossen sie mit dem Revolver nach der Scheibe. Darauf legten sie Angelruten aus und taten so, als angelten sie, aber es biss nicht; und dann segelten sie wieder, auf die freien Meeresflächen hinaus, wo die Eidergänse strichen; in einen Sund hinein, wo die Hechte im Schilf schlugen, und dann wieder hinaus. Er wurde es nicht müde, sie zu sehen, mit ihr zu plaudern, sie zu küssen, wenn er konnte.

So trafen sie sich sechs Sommer, und immer waren sie ebenso jung, immer ebenso toll, und sie waren glücklich. Im Winter sassen sie in Stockholm in ihren kleinen Kajüten. Und dann takelte er Boote für die jungen auf oder belustigte sie mit Abenteuern aus China und den Südseeinseln, und seine Frau sass dabei und hörte zu und musste lachen über seine drolligen Geschichten. Und es war ein entzückender Raum, der nicht seinesgleichen hatte. Da hingen japanische Sonnenschirme und Rüstungen, ostindische Miniaturpagoden, australische Bogen und Lanzen; Negertrommeln und gedörrte fliegende Fische, Zuckerrohr und Opiumpfeifen. Und Papa, der anfing kahl zu werden, fühlte sich ausserhalb der Häuslichkeit nicht wohl. Manchmal spielte er Brett mit seinem Freund, dem Auditor, und manchmal leistete man sich ein Spielchen Boston und einen mässigen Grog. Früher hatte seine Frau mitgespielt, nachdem sie aber vier Kinder bekommen, hatte sie keine Zeit mehr; sie sass aber gern ein Weilchen dabei und guckte in die Karten, und wenn sie an Papas Stuhl kam, fasste er sie um den Leib und fragte sie, ob er sich über seine Karten freuen könne.

Die Korvette sollte dieses Mal sechs Monate fortbleiben. Dem Kapitän war es unheimlich, denn die Kinder waren erwachsen und für Mama war es etwas schwer, den weitläufigen Haushalt zu besorgen. Und der Kapitän war nicht mehr so jung und nicht ganz so lebendig mehr wie früher, aber – es musste geschehen, und er fuhr ab.

Schon bei Kronborg gab er den ersten Brief auf, der also lautete:

Meine liebe geliebte Toppnant!

Wind schwach SSO. z. O., + 10° C., 6 Glas Freiwache. Ich kann nicht schreiben, was ich auf dieser Fahrt, auf der ich Dich nicht sehen werde, empfinde. Als wir den Warpanker ausfuhren (6 Uhr 30 nachmittags bei starkem NO. z. N.), war es mir, als hätte man mir einen Pall in den Brustkasten gesetzt, und ich hatte wirklich ein Gefühl, als habe man mir die Kette durch beide Ohrklüsen gesteckt. Man sagt, Seeleute haben ein Vorgefühl von Unglück. Davon weiss ich nichts, aber bis ich Deine ersten Zeilen erhalte, bin ich recht unruhig! An Bord ist nichts passiert, aus dem einfachen Grunde, weil nichts passieren darf. Wie geht es Euch? Hat Bob seine neuen Stiefel bekommen? Passen sie? Ich bin ein schlechter Briefschreiber, wie Du weisst, und höre jetzt auf! Mit einem grossen Kuss mitten auf dieses Kreuz ×!

Dein alter Pall.

NS. Du musst Dir etwas Gesellschaft suchen (weibliche natürlich!). Und vergiss nicht, die Mamsell auf Dalarö zu bitten, dass sie die grosse Barkasse verhäutet, bis ich zurückkomme! (Der Wind wird stärker; wir werden ihn nachts von Norden haben!)

Vor Portsmouth erhielt der Kapitän von seiner Frau diesen Brief:

Lieber alter Pall!

Hier ist es schaurig ohne Dich, das kannst Du mir glauben! Und schwer ist es gewesen, denn Alice hat jetzt ihren Zahn bekommen. Der Doktor sagte, es sei ungewöhnlich früh, und es soll bedeuten (ja, das darfst Du nicht wissen!). Bobs Stiefel passen ausgezeichnet, und er ist sehr stolz auf sie.

Du erwähnst in deinem Brief, ich müsse eine weibliche Bekanntschaft suchen. Das habe ich schon getan, oder richtiger, sie hat mich gesucht. Sie heisst Ottilie Sandegren und hat das Seminar durchgemacht. Sie ist sehr ernst: Du brauchst also nicht zu fürchten, Pall, dass man Deine Toppnant auf Abwege führt. Und dann ist sie religiös. Ja, ja, wir könnten wirklich etwas strenger in unserer Religion sein, und zwar jeder. Sie ist eine ausgezeichnete Person. Und nun schliesse ich für dieses Mal, denn Ottilie kommt und holt mich. Sie ist eben jetzt gekommen und lässt Dich grüssen!

Deine Gurli.

Der Kapitän war mit diesem Brief nicht zufrieden. Der war zu kurz und war nicht so munter wie gewöhnlich. – Seminar, religiös, ernst, und Ottilie: zwei Male Ottilie! Und dann Gurli! Warum nicht Gulla wie früher! Hm!

Acht Tage später erhielt er vor Bordeaux einen neuen Brief, der von einem Buch in Kreuzband begleitet war. „Lieber Wilhelm!“ – Hm, Wilhelm! Nicht Pall mehr! – „Das Leben ist ein Kampf“ – Was zum Teufel war das? Was haben wir beide mit dem Leben zu tun! – „von Anfang bis zum Ende“. „Ruhig wie ein Bach in Kidron“ – Kidron, das ist ja die Bibel! – „ist unser Leben verflossen. Wir sind wie Schlafwandler über Abgründe gegangen, ohne sie zu sehen!“ – Seminar, Seminar! – „Dann aber kommt das Ethische“ – Ethische? Ablativus! Hm, hm! – „und macht sich in seinen höheren Potenzen geltend!“ – Potenzen?! – „Wenn ich jetzt aus unserem langen Schlaf erwache und mich selber frage: ist unsere Ehe eine rechte Ehe gewesen? so muss ich mit Reue und Scham bekennen, sie ist es nicht gewesen! Die Liebe ist himmlischen Ursprungs (Matth. XI, 22 ff.).“ – Der Kapitän musste aufstehen und sich ein Glas Wasser mit Rum nehmen, ehe er fortfuhr. – „Wie irdisch, wie konkret ist sie gewesen! Haben unsere Seelen in dieser Harmonie gelebt, von der Plato (Phaidon, Buch VI, Kap. II, § 9) spricht? Nein, müssen wir antworten! Was bin ich für Dich gewesen? Deine Haushälterin und, wie ich mich schäme, Deine Geliebte! Haben unsere Seelen einander verstanden? Nein, müssen wir antworten!“ – Zum Teufel mit allen Ottilien und Seminaren! Ist sie meine Haushälterin gewesen? Sie ist meine Frau gewesen und die Mutter meiner Kinder! – „Lies dieses Buch, das ich Dir sende! Es wird Dir auf alle Fragen Antwort geben. Es hat ausgesprochen, was Jahrhunderte lang im Herzen des ganzen Frauengeschlechtes verborgen lag! Lies es und sag mir dann, ob unsere Ehe eine rechte Ehe gewesen ist. Deine Gurli.“

Das war seine böse Ahnung! Der Kapitän war ganz ausser sich und konnte nicht verstehen, was über seine Frau gekommen sei! Das war ja schlimmer als Muckertum!

Er riss das Kreuzband auf und las auf dem Umschlag eines gehefteten Buchs: Et Dukkehjem af Henrik Ibsen. Ein Puppenheim? Ja! Nun und? Seine Häuslichkeit war ein feines Puppenhaus gewesen, und sein Frauchen war seine kleine Puppe und er war ihre grosse Puppe gewesen. Sie waren dahingetanzt über die harte Strasse des Lebens, und sie waren glücklich gewesen! Was fehlte ihnen denn? Was war für ein Unrecht begangen worden? Er musste nachlesen, da das ja in diesem Buch stehen sollte.

In drei Stunden hatte ers gelesen! Aber sein Verstand stand still. Was hatten er und seine Frau damit zu tun? Hatten sie Wechsel gefälscht? Nein! Hatten sie einander nicht geliebt? Doch!

Er schloss sich in der Kajüte ein und las das Buch noch ein Mal; und er unterstrich mit blau und rot, und als es Morgen wurde, setzte er sich hin und schrieb an seine Frau:

Ein wohlgemeinter kleiner Ablativus über das Stück „Ein Puppenheim“, vom alten Pall an Bord der Vanadis im Atlantischen Ozean vor Bordeaux (B. 45°, L. 16°) zusammengeschrieben.

§ 1. Sie verheiratete sich mit ihm, weil er sie liebte, und da tat sie verdammt recht. Denn hätte sie auf den gewartet, den sie liebte, so hätte der Fall eintreten können, dass er sie nicht liebte, und dann hätte sie den Teufel in einer Rüstkausch gehabt. Dass nämlich beide ganz verliebt in einander sind, trifft äusserst selten ein.

§ 2. Sie fälscht einen Wechsel. Das war dumm von ihr; aber sie darf nicht sagen, dass es nur des Mannes wegen geschah, denn sie hat ihn ja nie geliebt; wenn sie sagte, es sei für beide und für die Kinder geschehen, dann würde sie die Wahrheit sprechen! Ist das klar?

§ 3. Dass er sie nach dem Ball liebkosen will, beweist nur, dass er sie liebt, und das ist kein Fehler bei ihm; nur dass es auf dem Theater gezeigt wird, ist ein Fehler. Il y a des choses qui se font, mais qui ne se disent point, sagt ein Franzose, glaube ich. Übrigens hätte der Dichter, wenn er gerecht gewesen wäre, auch einen entgegengesetzten Fall gezeigt: la petite chienne veut, mais le grand chien ne veut pas, sagt Ollendorf. (Vergleiche die Barkasse von Dalarö.)

§ 4. Dass sie, als sie entdeckt, dass der Mann ein Ochse ist, denn das ist er, als er ihr verzeihen will, weil ihr Streich nicht ruchbar geworden, ihre Kinder verlassen will, „weil sie nicht würdig sei, sie zu erziehen“, ist eine nicht sehr scharfsinnige Koketterie. Wenn sie eine Kuh war (denn auf dem Seminar lernt man doch nicht, dass es erlaubt ist, Wechsel zu fälschen) und er ein Ochse, so müssten sie ein gutes Gespann abgeben. Am allerwenigsten dürfte sie die Erziehung ihrer Kinder einem Vater überlassen, den sie verachtet.

§ 5. Nora hat also viel eher Grund, bei den Kindern zu bleiben, wenn sie sieht, was für ein Rindvieh der Mann ist.

§ 6. Dass der Mann sie früher nicht nach ihrem wirklichen Wert geschätzt hat, dafür konnte er nicht, denn ihren wirklichen Wert erhielt sie ja erst nach der Balgerei.

§ 7. Nora war früher eine Gans; das leugnet sie selbst nicht.

§ 8. Alle Garantien, dass sie künftighin ein besseres Gespann bilden werden, liegen ja vor: er hat bereut und will sich bessern; sie auch! Gut! Hier meine Hand, und nun fangen wir von neuem an! Gleich und gleich gesellt sich gern! Wie gehauen so gestochen. Du warst eine Kuh und ich habe mich wie ein Ochse benommen! Du, kleine Nora, warst schlecht erzogen; ich altes Aas habe es nicht besser gelernt. Beklage uns beide! Wirf faule Eier auf unsere Erzieher, aber schlag nicht mich allein auf den Schädel. Ich bin, obwohl ein Mann, ebenso unschuldig wie du! Vielleicht noch etwas unschuldiger, denn ich habe mich aus Liebe verheiratet, du aus Wirtschaft! Lass uns daher Freunde sein und zusammen unsere Kinder die kostbare Lehre lehren, die das Leben uns gegeben hat!

Ist das klar? All right!

Das hat Kapitän Pall mit seinen steifen Fingern und seinem trägen Verstand geschrieben!

So, mein geliebtes Püppchen, jetzt habe ich Dein Buch gelesen und meine Meinung gesagt. Was aber geht das Buch uns an? Haben wir einander nicht geliebt? Haben wir uns beide nicht erzogen und die Ecken abgeschliffen, denn Du erinnerst Dich wohl, da waren anfangs Äste und Schelfen! Was sind denn das für Grillen! Zur Hölle mit Ottilien und Seminaren!

Das war ein verzwicktes Buch, das Du mir gegeben hast. Es war wie ein schlecht bebaktes Fahrwasser, wo man jeden Augenblick auffahren kann. Aber ich nahm Besteck und prickte auf der Karte aus, so dass ich ruhiges Wasser bekam. Doch ich mache es wahrhaftig nicht noch ein Mal. Der Teufel mag diese Nüsse knacken, die inwendig schwarz sind, wenn man schliesslich ein Loch gemacht hat. Und nun wünsche ich Dir Friede und Glück und Deinen guten Verstand wieder.

Wie geht es meinen Kleinen? Du hast vergessen, von ihnen zu schreiben. Das kam wohl daher, dass Du zu sehr an die verwünschten Kinder Noras dachtest (die nirgends anders als in dem Stück zu finden sind). Weint mein Sohn, spielt meine Linde, singt meine Nachtigall, tanzt mein Püppchen? Das muss sie immer tun, dann freut sich der alte Pall. Und nun segne Dich Gott und lass keine bösen Gedanken zwischen uns kommen. Ich bin so traurig, dass ichs kaum sagen kann. Und da soll ich mich hinsetzen und Kritiken über Theaterstücke schreiben! Gott behüte Dich und die Kinder, und küss sie mitten auf den Mund von deinem alten treuen Pall.

Als der Kapitän den Brief abgeschickt hatte, ging er in die Offiziersmesse und trank einen Grog. Der Arzt war dabei.

– Hast du gemerkt, sagte er, wie es nach alten schwarzen Hosen riecht? Möchte mich im Kattblock auf den Vortopp hissen und von einem dichtgerefften NW. z. N. durchpusten lassen.

Aber der Arzt verstand nichts. –

– Ottilie, Ottilie ... Eine Ration Handspake müsste sie haben! Die Hexe in die Schanze schicken und die zweite Backschaft auf sie loslassen, bei geschlossenen Luken. Man weiss wohl, was eine alte Jungfer nötig hat!

– Aber was ist dir denn, alter Pall? fragte der Arzt.

– Plato! Plato! Zum Teufel mit Plato. Ja, wenn man sechs Monate auf See ist, dann ist es Plato! Dann wird man ethisch! Ethisch? Ich wette einen Marlspieker gegen einen Doppelhaken: bekäme Ottilie ihr warmes Essen, so würde sie nicht mehr von Plato sprechen!

– Aber was ist denn?

– Nichts. Hörst du! Du bist ja Arzt! Wie ist es eigentlich mit den Frauenzimmern? Was? Ist es nicht gefährlich, lange unverheiratet zu bleiben? Werden sie nicht etwas ... kikeriki, so auf einen Hals? Was?

Der Arzt sprach seine Ansicht aus und beklagte, dass nicht alle Weibchen befruchtet werden können.

– In der Natur lebt das Männchen meist in Polygamie, denn das kann es in den meisten Fällen tun, da Essen für die Jungen vorhanden ist (die Raubtiere ausgenommen): in der Natur gibt es solche Abnormitäten wie unverheiratete Weibchen nicht. Aber in der Kultur, wo es ein Glück ist, wenn man Brot genug hat, da ist es gewöhnlich, zumal es mehr Frauen als Männer gibt. Man müsste daher freundlich gegen unverheiratete Mädchen sein, denn ihr Los ist traurig.

– Freundlich? Das ist leicht gesagt; wenn sie aber selber nicht freundlich sind!

Und alles kam aus ihm heraus, sogar, dass er eine Theaterkritik geschrieben.

– Ach, man schreibt so viel dummes Zeug, sagte der Arzt und legte den Deckel auf die Grogkanne. Schliesslich entscheidet doch die Wissenschaft die grossen Fragen! Die Wissenschaft!

Als der Kapitän, nachdem er sechs Monate fort gewesen und einen nicht sehr angenehmen Briefwechsel mit seiner Frau geführt (sie hatte seine Kritik scharf mitgenommen), schliesslich in Dalarö ans Land stieg, wurde er von seiner Frau, allen Kindern, zwei Mägden und Ottilie empfangen. Seine Frau war zärtlich, aber nicht herzlich. Sie reichte ihm ihre Stirn zum Kuss. Ottilie war lang wie ein Stag und hatte sich das Haar abgeschnitten: im Nacken sah sie aus wie ein Schwabber. Das Souper war langweilig und es gab nur Tee. Die Barkasse wurde mit Kindern gestaut, und der Kapitän bekam eine Bodenkammer. O wie anders war das als früher! Der alte Pall sah alt aus, und verdutzt war er auch.

– Das ist ja die reine Hölle, dachte er, verheiratet zu sein und keine Frau zu haben!

Am nächsten Morgen wollte er mit seiner Frau segeln. Aber Ottilie vertrug die See nicht. Sie hatte eine schlechte Dampferfahrt hinter sich. Und übrigens sei es Sonntag. Sonntag? Da haben wirs! Aber sie wollten statt dessen spazieren gehen. Sie hätten wohl viel mit einander zu besprechen! Ja freilich, sie hatten sich viel zu sagen. Aber Ottilie sollte nicht dabei sein!

Sie gingen Arm in Arm aus. Aber sie sprachen nicht viel; und was gesagt wurde, waren mehr Worte, um die Gedanken zu verbergen, als durch Worte ausgedrückte Gedanken.

Sie kamen an dem kleinen Cholerakirchhof vorbei und schlugen den Weg nach dem Schweizer Tal ein. Eine schwache Brise rauschte in den Fichten, und durch die dunkeln Zweige leuchtete das blaue Meer.

Sie setzte sich auf einen Stein. Er setzte sich ihr zu Füssen. Jetzt geht es los, dachte er. Und es ging los.

– Hast du über unsere Ehe nachgedacht, begann sie.

– Nein, sagte er, als habe er seine Parade schon ausgedacht, ich habe sie nur empfunden! Ich glaube nämlich, die Liebe ist Gefühlssache: man segelt auf Landkennung und läuft in den Hafen; greift man aber zu Kompass und Karte, so stösst man auf Grund.

– Ja, aber unsere Ehe ist nichts anderes gewesen als ein Puppenheim.

– Verzeih, das ist eine Lüge. Du hast nie einen Wechsel gefälscht; du hast niemals einem syphilitischen Doktor, von dem du Geld gegen Sicherheit in natura leihen wolltest, deine Strümpfe gezeigt; du bist niemals so romantisch stupid gewesen, zu erwarten, dein Mann würde sich eines Verbrechens wegen anzeigen, das seine Frau aus Dummheit begangen und das kein Verbrechen wurde, weil kein Ankläger da war; und du hast mich nie belogen! Ich habe dich ebenso ehrlich behandelt, wie Helmer seine Frau behandelte, als er sie zur Vertrauten seiner Seele machte, sie über die Geschäfte der Bank mitsprechen liess; duldete, dass sie sich in die Besetzung einer Stelle einmischte! Wir sind also Mann und Weib nach allen Begriffen gewesen, sowohl altmodischen wie neumodischen!

– Ja, aber ich bin deine Haushälterin gewesen!

– Verzeih, das ist eine Lüge! Du hast niemals in der Küche gegessen, du hast keinen Lohn erhalten, niemals über Ausgaben Rechnung legen müssen, niemals Schelte gekriegt, weil dies und jenes nicht richtig war! Und hältst du meine Arbeit: holen und brassen, Tau fieren und „präsentiert“ schreien, Heringe auszählen und Schnäpse ausmessen, Erbsen wiegen und Mehl prüfen – hältst du das für ehrenvoller als: nach Mägden sehen und auf den Markt gehen, Kinder ernähren und Kinder erziehen!

– Nein, aber du wirst dafür bezahlt! Du bist dein eigener Herr! Du bist ein Mann!

– Mein liebes Kind! Willst du einen Lohn von mir haben? Willst du meine wirkliche Haushälterin werden? Dass ich ein Mann bin, das ist ein Zufall, denn das soll erst im sechsten Monat entschieden werden! Das ist traurig, denn es ist jetzt ein Verbrechen geworden, Mann zu sein; es ist aber kein Fehler. Und der Teufel hole den, der die beiden Hälften der Menschheit gegen einander erhoben hat! Der hat viel zu verantworten. Bin ich der Herr? Herrschen wir nicht beide? Tue ich etwas Wichtiges, ohne dich um Rat zu fragen? Was? Aber du, du erziehst deine Kinder nach deinem Kopf! Erinnerst du dich nicht, dass ich das Wiegen abschaffen wollte, weil es die Kinder zum Schlaf berauscht. Da durftest du herrschen! Ein ander Mal habe ich geherrscht, das nächste Mal wieder du! Einen Mittelweg gibt es nicht, denn zwischen Wiegen und Nichtwiegen gibt es kein Mittelding! Es ist doch ganz gut gegangen bis jetzt! Du hast mich für Ottilie verlassen!

– Ottilie! Immer Ottilie! Hast du nicht selber sie zu mir geschickt?

– Nicht gerade sie! Jetzt aber herrscht sie jedenfalls!

– Von allem, was ich liebe, willst du mich trennen!

– Ist Ottilie alles? Es sieht beinahe so aus!

– Aber ich kann sie jetzt nicht fortschicken, da ich sie engagiert habe, damit sie Pädagogik und Latein mit den Mädchen treibt!

– Latein! Ablativus! Herr Jesus, sollen die Mädchen auch damit verdorben werden?

– Ja, sie sollen ebensoviel wissen, wie ein Mann weiss, wenn sie sich einmal verheiraten: dann wird es eine rechte Ehe geben.

– Aber, liebes Kind, alle Ehemänner können doch nicht Latein! Ich kann ja nicht mehr als ein einziges Wort Latein, und das ist Ablativus! Und wir sind doch glücklich! Übrigens ist man ja dabei, Latein auch für die Männer, als überflüssig, abzuschaffen! Könnt ihr aus dem Beispiel nichts lernen? Ist es nicht genug, dass das männliche Geschlecht verdorben ist; will man nun auch noch das weibliche verderben? Ottilie, Ottilie, warum hast du mir das getan?

– Von dieser Sache will ich nicht mehr sprechen. Aber unsere Liebe, Wilhelm, ist nicht gewesen, wie sie hätte sein müssen. Sie ist sinnlich gewesen!

– Aber, liebes Herz, wie hätten wir denn Kinder bekommen sollen, wenn unsere Liebe nicht auch sinnlich gewesen wäre. Aber sie ist nicht nur sinnlich gewesen!

– Kann etwas auf ein Mal schwarz und weiss sein? Das möchte ich fragen. Antworte darauf!

– Ja, das kann es; dein Sonnenschirm ist aussen schwarz, aber inwendig weiss.

– Sophist!

– Hör mal, mein geliebtes Kind, sprich mit deiner eignen Zunge und deinem eignen Herzen, und nicht mit Ottiliens Büchern! Nimm deinen Verstand gefangen und werde du selbst, meine geliebte, kleine Frau!

– Dein, dein Eigentum, das du mit deiner Arbeit kaufst!

– Ebenso wie ich dein Mann bin, den keine andere Frau ansehen darf, wenn sie ihre Augen im Kopf behalten will; und den du geschenkt erhalten hast, nein, zum Ersatz dafür, dass er dich bekam! Ist das nicht partie égale!

– Aber wir haben unser Leben im Spiel verbracht! Haben wir etwa höhere Interessen gehabt, Wilhelm?

– Ja, wir haben die höchsten Interessen gehabt, Gurli; wir haben nicht immer gespielt, denn wir haben auch ernste Stunden durchgemacht! Wir haben die höchsten Interessen gehabt, die man haben kann; denn wir haben dem künftigen Geschlecht Leben gegeben; wir haben tapfer gestrebt und gearbeitet, du nicht am wenigsten, für die Kleinen, die gross werden sollen. Bist du nicht ihretwegen vier Male dem Tod nahe gewesen? Hast du nicht den Schlaf der Nacht verachtet, um sie zu wiegen; die Vergnügungen des Tages, um sie zu pflegen? Könnten wir nicht eine Wohnung von sechs Zimmern in der Hauptstrasse und einen Diener haben, wenn wir nicht die Kinder besässen? Könntest du nicht Seide und Perlen tragen, Gulla? Und ich alter Pall brauchte nicht Elsternnester in den Knien zu haben, wenn wir die Kinder nicht auf die Welt gesetzt hätten! Sind wir solche Puppen? Sind wir denn so selbstsüchtig, wie alte Jungfern behaupten? Die oft Männer verschmäht haben, weil sie nicht für sie passten! Warum bleiben so viele Mädchen unverheiratet? Sie wissen doch alle damit zu prahlen, dass sie Angebote gehabt haben, wollen aber doch gern Märtyrer sein! Höhere Interessen! Latein lernen! Sich für einen wohltätigen Zweck halbnackt kleiden und die Kinder in nassen Windeln liegen lassen! Ich glaube, ich habe höhere Interessen als Ottilie, wenn ich starke und frohe Kinder haben will, die einmal im Leben das ausrichten sollen, was wir nicht gekonnt haben! Aber mit Latein geht es nicht! Leb’ wohl, Gurli! Ich muss auf Wache! Kommst du mit?

Sie blieb sitzen und antwortete nicht. Er ging; mit schweren Schritten, so schweren. Und das blaue Meer wurde dunkel, und die Sonne schien nicht mehr.

– Pall, Pall, wohin soll dies führen, seufzte er, als er über den Zauntritt am Kirchhof stieg; ich wünschte, ich läge dort unter einem Holzkreuz, dort zwischen den Baumwurzeln; aber ich hätte sicher keine Ruhe, wenn ich dort allein läge! Gurli! Gurli!

 

– Jetzt gehts ganz verkehrt, Schwiegermutter, sagte der Kapitän eines Tages im Herbst, als er die Alte besuchte.

– Was ist denn los, lieber Willy?

– Sie waren gestern bei uns zu Hause. Vorgestern waren sie bei der Prinzessin. Und da wurde die kleine Alice elend. Das war natürlich Pech, und ich wagte nicht Gurli holen zu lassen, denn dann hätte sie geglaubt, es sei beabsichtigt. Oh! Wenn das Vertrauen einmal erschüttert ist, so ... Ich war in diesen Tagen beim Korpsintendant und fragte, ob man nach schwedischem Gesetz das Recht habe, die Freundinnen seiner Frau tot zu rauchen. Nein, das habe man nicht. Und hätte man das Recht, so wagte man es nicht, denn dann sei es ganz aus. Wenn es nur ein Liebhaber wäre: den könnte man beim Kragen nehmen und hinauswerfen. Was soll ich tun?

– Ja ja, das ist ein schwerer Fall, lieber Willy, aber wir werden schon auf etwas kommen. Du kannst doch nicht wie ein Unverheirateter leben!

– Nein, das sage ich auch!

– Ich sagte ihr in diesen Tagen derb: wenn sie nicht nett sei, würde ihr Mann einfach Mädchen besuchen!

– Und was antwortete sie?

– Sie antwortete: das könne er, denn über seinen Körper verfüge jeder selbst.

– Sie also auch? Das ist eine schöne Lehre! Ich kriege graue Haare, Schwiegermutter!

– Eine alte gute Art ist, sie eifersüchtig zu machen. Das pflegt die Radikalkur zu sein, denn dann kommt die Liebe wieder zum Vorschein, wenn sie noch da ist.

– Sie ist noch da!

– Sicher! Denn die Liebe stirbt nicht Knall und Fall; sie kann nur im Lauf der Jahre verbraucht werden, wenn sie’s kann. Mach Ottilie den Hof, dann werden wir weiter sehen!

– Den Hof machen? Ihr?

– Versuchs! Kannst du nicht etwas, das sie interessiert?

– Doch, gewiss! Sie sind jetzt gerade bei der Statistik angekommen! Gefallene Frauen, ansteckende Krankheiten! Wenn man das Gespräch auf die Mathematik bringen könnte! Die verstehe ich!

– Siehst du! Beginn mit der Mathematik, geh dazu über, ihr den Schal umzulegen und ihr die Überschuhe zuzuknöpfen. Bring sie abends nach Haus. Trink mit ihr und küss sie, wenn Gurli es sieht. Ist es nötig, so sei zudringlich. Oh, sie wird nicht böse werden, das kannst du mir glauben. Und dann viel Mathematik, so viel, dass Gurli still dasitzen und schweigend zuhören muss. In acht Tagen komm wieder und erzähle mir den Verlauf!

Der Kapitän ging nach Haus, las die letzten Broschüren über die Unsittlichkeit und ging dann ans Werk.

Acht Tage später sass er heiter und vergnügt bei seiner Schwiegermutter und trank ein gutes Glas Sherry. Er war direkt fröhlich.

– Erzähle, erzähle, sagte die Alte und schob die Brille in die Höhe.

– Es war eine harte Arbeit, die ersten Tage, denn sie misstraute mir. Sie glaubte, ich triebe meinen Scherz mit ihr. Dann aber sprach ich davon, welch unerhörten Einfluss die Wahrscheinlichkeitsrechnung in Amerika auf die Sittlichkeitstatistik gehabt habe. Sie habe ganz einfach Epoche gemacht. Das wusste sie nicht und das reizte sie. Ich nahm ein Beispiel und zeigte mit Zahlen und Buchstaben, dass man mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit berechnen könne, wie viele Frauen fallen. Das setzte sie in Erstaunen. Jetzt sah ich, dass sie neugierig wurde und sich einen Trumpf für die nächste Sitzung verschaffen wollte. Gurli freute sich, dass Ottilie und ich Freunde wurden, und sie brachte uns direkt zusammen. Sie stiess uns in mein Zimmer und schloss die Tür; und dort sassen wir und rechneten den ganzen Nachmittag. Sie war glücklich, die Hexe, denn sie fühlte, dass sie etwas durch mich gewann, und in drei Stunden waren wir Freunde. Beim Souper fand meine Frau, Ottilie und ich seien so alte Bekannte, dass wir uns duzen müssten. Ich holte meinen alten guten Sherry hervor, um das grosse Ereignis zu feiern. Und dann küsste ich sie mitten auf den Mund, Gott verzeihe mir meine Sünden. Gurli sah etwas verdutzt aus, wurde aber nicht böse. Sie war lauter Glück. Der Sherry war stark und Ottilie war schwach. Ich half ihr mit dem Mantel und brachte sie nach Haus. Drückte ihren Arm unterwegs und erklärte ihr die ganze Sternkarte. Ah! Sie war hingerissen! Sie habe immer die Sterne geliebt, aber nie lernen können, wie sie heissen. Die armen Frauen dürften eben nichts lernen. Sie schwärmte ordentlich und wir trennten uns als die allerbesten Freunde, die einander so lange, so lange verkannt hatten.

Am nächsten Tag noch mehr Mathematik. Wir sassen dabei bis zum Souper. Gurli kam einige Male herein und nickte uns zu. Aber bei Tisch wurde nur Mathematik und Sterne gesprochen, und Gurli sass still dabei und musste zuhören. Dann brachte ich sie nach Haus. Aber auf dem Rückweg traf ich einen befreundeten Kapitän. Wir schlüpften ins Grand Hotel und tranken ein Glas Punsch. Erst um ein Uhr kam ich heim.

Gurli sass auf.

– Wo bist du so lange gewesen, Wilhelm? sagte sie.

Da fuhr der Teufel in meine Seele und ich antwortete:

– Wir haben unterwegs so lange geplaudert, dass ich ganz vergass, was die Uhr war.

Die Schraube zog an.

– Ich finde es nicht recht passend, nachts mit einer jungen Dame herumzulaufen, sagte sie.

Ich stellte mich verlegen und stammelte hervor:

– Wenn man so viel zu besprechen hat, so weiss man nicht immer, was passend ist.

– Wovon habt ihr denn gesprochen, sagte Gurli und machte ein Gesicht.

– Ich kann mich wirklich nicht mehr daran erinnern.

Das ist gut marschiert, mein Junge, sagte die Alte. Weiter, weiter.

Am dritten Tag, fuhr der Kapitän fort, kam Gurli mit einer Arbeit herein und blieb, bis die Mathematik zu Ende war. Das Souper war nicht ganz so fröhlich, aber um so astronomischer. Half der Hexe bei den Überschuhen, was einen tiefen Eindruck auf Gurli machte! Als Ottilie ging, bot sie ihr nur die Backe zum Kuss. Unterwegs drückte ich ihr den Arm und sprach von der Sympathie der Seelen, und von den Sternen als der Heimat der Seelen. Trank Punsch im Grand Hotel und kam um zwei Uhr nach Haus. Gurli sass noch auf; ich sah es, aber ich ging direkt in mein Zimmer, als Junggeselle, der ich war, und Gurli schämte sich, nachzukommen und zu fragen.

Am nächsten Tag Astronomie. Gurli erklärte, sie habe grosse Lust, dabei zu sein; Ottilie aber sagte, sie seien schon zu tief in den Stoff eingedrungen, sie werde Gurli später die Anfangsgründe mitteilen. Gurli war gereizt und ging. Viel Sherry zum Souper. Als Ottilie für das Essen dankte, fasste ich sie um die Taille und küsste sie. Gurli ward bleich. Als ich ihr die Überschuhe zuknöpfte, griff ich mit der Hand zu, hm ...

Geniere dich nicht vor mir, Willy, sagte die Alte, ich bin eine alte Frau!

– ... so hier um den Schenkel. Nicht so schlecht übrigens! Hm! Wirklich nicht so übel! Als ich aber meinen Überrock anziehen wollte, da, hast du nicht gesehen, stand das Mädchen da, um Ottilie nach Haus zu bringen. Und Gurli entschuldigte mich: ich hätte mich gestern erkältet, und sie fürchte die Nachtluft. Ottilie sah verlegen aus und küsste Gurli nicht, als sie ging.

Am nächsten Tag wollte ich Ottilie astronomische Instrumente zeigen, um zwölf in der Schule. Sie kam auch, war aber traurig. Sie war eben bei Gurli gewesen, die sich unfreundlich gegen sie gezeigt habe. Den Grund könne sie nicht verstehen. Als ich zum Mittagessen nach Haus kam, war Gurli ganz verändert. Sie war kalt und stumm wie ein Fisch. Sie litt. Ich sah es. Jetzt aber musste das Messer hinein.

– Was hast du zu Ottilie gesagt? Sie war so traurig! fing ich an.

– Was ich gesagt habe? Ja, ich habe ihr gesagt, sie sei kokett. Das habe ich gesagt.

– Wie konntest du das sagen, sagte ich. Du bist doch nicht eifersüchtig!

– Ich eifersüchtig auf die! brach sie los.

– Ja, das wundert mich, denn eine so intelligente und verständige Person kann es doch nicht auf den Mann einer andren abgesehen haben!

– Nein (jetzt kam es!), aber der Mann einer andern kann sich schlecht gegen eine andere Frau betragen.

Huhuhu! Jetzt war es fertig. Ich verteidigte Ottilie, bis Gurli sie alte Jungfer nannte, und ich fuhr fort, sie zu verteidigen. Und an diesem Nachmittag kam Ottilie nicht. Sie schrieb einen kühlen Brief und entschuldigte sich, aber sie sehe wohl, sie sei überflüssig. Ich protestierte und wollte sie holen. Da aber wurde Gurli wild. Sie sehe wohl, ich sei in diese Gurli verliebt, und sie (Gurli) sei mir nichts mehr. Sie wisse wohl, dass sie eine Gans sei, dass sie nichts könne, zu nichts tauge, und dass, huhuhu, die Mathematik ihr ganz unmöglich sei. Ich schickte nach einem Schlitten und wir fuhren aus. In einem Gasthaus am Meer tranken wir Glühwein und assen ein prächtiges Souper. Es war, als sei wieder Hochzeit, und dann fuhren wir nach Haus.

– Und dann? fragte die Alte und sah über ihre Brille hinweg.

– Und dann? Hm! Gott verzeihe mir meine Sünden! Dann habe ich sie verführt. Hol mich der Teufel, ich habe sie auf meinem Junggesellenbett verführt. Es war ganz wie auf der Hochzeit. Was sagst du dazu, Grossmutter?

– Da hast du recht getan! Und dann?

– Und dann? Seitdem ist es all right, und jetzt sprechen wir davon, wie Kinder zu erziehen und Frauen von Aberglauben und Altjüngferlichkeit, von Romantik und dem Teufel und seinem Ablativus zu befreien sind; aber wir sprechen jetzt unter vier Augen, und da versteht man einander am besten! Nicht wahr, Alte?

– Ja, lieber Willy, und jetzt werde ich euch wieder besuchen.

– Tu das, du! Da wirst du sehen, wie die Puppen tanzen und die Lerchen und die Spechte singen und zwitschern; da wirst du sehen, wie die Freude bis an die Decke reicht, denn dort wartet niemand auf das Wunderbare, das nur in den Märchen zu finden ist. Da wirst du ein wirkliches Puppenheim sehen!

Vogel Phönix

Es war zur Zeit der Walderdbeeren, als er sie in der Pfarre zum ersten Male sah. Er hatte schon viele Mädchen gesehen, als er sie aber sah, da wusste er: das ist sie! Aber er wagte es nicht, etwas zu sagen, und sie lächelte über ihn, denn er war nur Gymnasiast noch.

Aber er kam wieder als Student. Und da fasste er sie um den Leib und küsste sie, und er sah Raketen stieben, hörte Glocken läuten und Jagdhörner klingen, fühlte die Erde unter seinen Füssen beben.

Sie war ein Weib von vierzehn Jahren. Ihre Brüste standen schwellend hoch, als warteten sie auf kleine gierige Mäuler und kleine zugreifende Fäuste; ihr Gang war fest, auf elastischen Waden und wiegenden Hüften, als könne sie jeden Augenblick ein Kind unter ihrem Herzen tragen. Ihr Haar war gelb und zart wie geklärter Honig und stand immer wie Sprühregen um ihre Stirn. Das Auge brannte und die Haut war weich wie ein Handschuh.

Sie waren verlobt und küssten sich wie Vögel im Garten unter der Linde, im Wald, und das Leben lag wie eine sonnige, ungemähte Wiese vor ihnen. Aber er musste erst sein Examen machen, das Bergexamen, und das dauerte, die Reise ins Ausland mitgerechnet, zehn Jahre! Zehn Jahre!

So fuhr er nach der Universität. Im Sommer kam er wieder nach der Pfarre, und sie war noch ebenso schön. Drei Male kam er wieder, aber beim vierten Mal war sie blass. Sie hatte kleine rote Streifen in den Nasenwinkeln und der Busen war eingesunken. Als der Sommer zum sechsten Male kam, nahm sie Eisen. Im siebenten fuhr sie nach einem Badeort. Im achten hatte sie Zahnschmerzen und war nervös. Das Haar hatte seinen Glanz verloren, die Stimme war scharf, die Nase hatte schwarze Pünktchen, der Busen war fort, der Gang war schleppend und die Wangen waren hohl. Im Winter bekam sie Nervenfieber und musste sich das Haar abschneiden lassen. Als es wieder wuchs, wurde es aschgrau. Er hatte sich in eine blonde Vierzehnjährige verliebt, eine Brünette konnte er nicht leiden, und er heiratete eine aschgraue Vierundzwanzigjährige, die als Braut den Hals nicht bloss tragen wollte.

Aber er liebte sie doch. Seine Liebe war nicht mehr so stürmisch wie früher, sondern beständig und ruhig. Und in der kleinen Bergstadt war nichts, was ihr Glück störte.

Sie gebar zwei Knaben hinter einander, aber der Mann wollte so gern ein Mädchen haben. Und dann kam ein kleines blondes Mädchen.

Das wurde der Augapfel des Vaters. Es wuchs heran und ward der Mutter ähnlich. Es wurde sieben Jahre und mit acht war es ganz so, wie die Mutter einmal gewesen. Und der Vater beschäftigte sich in seinen freien Stunden nur noch mit seiner Tochter.

Die Mutter hatte durch die häusliche Arbeit grobe Hände bekommen. Die Nase war wurmstichig und die Schläfen ausgehöhlt. Ihre Gestalt war von der Gewohnheit, sich über den Herd zu beugen, etwas geneigt. Und Vater und Mutter trafen sich nur bei den Mahlzeiten und nachts. Sie weinten nicht, aber es war doch nicht mehr so wie früher.

Aber die Tochter, das war des Vaters Freude. Man hätte beinahe sagen können, er sei in sie verliebt. Es war, als sehe er in ihr die wieder auferstandene Mutter, und als solle sein erster Anblick, der so schnell verschwunden war, wiederkommen. Er war beinahe schüchtern ihr gegenüber und ging nie in ihr Zimmer, wenn sie sich anzog. Er vergötterte sie.

Eines Morgens blieb sie im Bett liegen und wollte nicht aufstehen. Mama glaubte, sie habe Faulfieber, Papa aber schickte nach dem Arzt. Der Mordengel war auf Besuch gekommen; es war Diphtheritis. Entweder der Vater oder die Mutter musste mit den andern Kindern fliehen. Der Vater wollte nicht. Die Mutter musste mit den andern Kindern aus der Stadt ziehen, und der Vater blieb bei der Kranken. Und da lag sie jetzt! Man räucherte mit Schwefel, dass die Vergoldung der Bilderrahmen schwarz wurde, und die Silbersachen auf dem Toilettentisch auch! Der Vater war ausser sich, wenn er durch die leeren Zimmer ging; und wenn er nachts allein in dem grossen Bett lag, war es ihm, als sei er Witwer. Er kaufte dem Kinde Spielsachen und es lächelte, wenn er am Bettrande Kasper spielte, und es fragte nach Mama und den Geschwistern.

Und der Vater musste hingehen und von der Strasse aus der Mutter zum Fenster hinauf zunicken und den Kindern Kusshände zuwerfen. Und die Mutter telegraphierte mit blauen und roten Papierbogen durch die Fensterscheiben.

Aber eines Tages wollte das Mädchen den Kasper nicht mehr sehen, und es lächelte nicht mehr. Auch konnte es nicht mehr sprechen. Der Tod kam, kam mit seinen langen knochigen Armen und erstickte das Kind. Es war ein harter Kampf.

Da kam die Mutter! Und sie hatte Gewissensbisse, dass sie ihr Kind verlassen. Und es war grosser Jammer und grosse Not.

Als der Arzt das Kind obduzieren wollte, liess es der Vater nicht zu. Sie sollten ihr mit den Messern nichts zuleide tun; denn für ihn sei sie nicht tot. Aber es musste geschehen. Und da wollte er den Arzt schlagen und ihn beissen.

Als sie aber in die Erde kam, baute er ein Grabmal und ging das ganze Jahr hindurch jeden einzigen Tag dorthin. Das zweite Jahr weniger oft. Die Arbeit war schwer und die Zeit knapp. Die Jahre begannen sich fühlbar zu machen, die Schritte wurden weniger leicht, und die Trauer verwuchs. Zuweilen schämte er sich, dass er nicht mehr so viel trauere; dann aber vergass er es.

Er bekam noch zwei Töchter; das war aber nicht dasselbe; sie, die von hinnen gegangen, konnte nicht ersetzt werden.

Das Leben war hart, die Vergoldung war unmerklich von der jungen Frau abgegangen, die einmal wie – wie kein anderes Weib auf der Erde gewesen war. Die Vergoldung war abgegangen von der einmal so blanken und strahlenden Häuslichkeit. Die Kinder hatten Beulen in die Hochzeitsgeschenke der Mutter gemacht, das Bett verdorben, die Stuhlbeine angetreten. Die Polsterung kam aus den Sofas heraus, und das Klavier war seit Jahren nicht geöffnet werden. Der Gesang war verstummt vorm Kindergeschrei, und die Stimmen waren rauh geworden. Die Koseworte hatte man mit den Kinderkleidern abgelegt, die Liebkosungen waren Massage geworden. Man fing an, alt und müde zu werden. Papa lag nicht mehr vor Mama auf den Knien, sondern sass in seinem abgenutzten Lehnstuhl und liess sich von Mama die Streichhölzchen holen, wenn er seine Pfeife anstecken wollte. Man war alt geworden!

Da starb die Mama, als der Papa fünfzig Jahre alt war. Da aber tauchte es wieder auf, all das Alte. Als ihre gebrochene Gestalt, die der Todeskampf hässlich gemacht hatte, in die Erde gegraben wurde, stand die Erinnerung an die junge Vierzehnjährige wieder auf. Da betrauerte er diese, die er vor so langer Zeit verloren hatte, und mit der Sehnsucht kam die Reue. Aber er war nie schlecht gegen die alte Mama gewesen; und die Vierzehnjährige vom Pfarrhaus, die er nie bekommen, denn er kriegte ja nur die bleichsüchtige Vierundzwanzigjährige, die hatte er verehrt, vor der hatte er gekniet, der war er treu gewesen. Und wenn er aufrichtig war, so war es sie, nach der er sich jetzt sehnte; doch hatte der alten Mama gutes Essen und unermüdliche Fürsorge auch einen Anteil an der Sehnsucht, aber auf eine andere Art.

Jetzt aber wurde er intimer mit den Kindern. Einige waren aus dem Nest geflogen, andere aber noch zu Hause.

Als er ein ganzes Jahr lang seine Freunde damit ermüdet hatte, dass er ihnen das Leben seiner verstorbenen Frau erzählte, geschah etwas Merkwürdiges. Er sah ein junges Mädchen, eine blonde Achtzehnjährige, die seiner Frau, wie sie mit vierzehn Jahren gewesen, glich. Er nahm es wie einen Wink des freigebigen Himmels, der ihm also endlich sie, die erste, geben wolle. Er verliebte sich in sie, weil sie der ersten glich. Und er verheiratete sich wieder. Jetzt hatte er sie endlich bekommen.

Die Kinder aber, besonders die Mädchen, waren der jungen Stiefmutter abgeneigt; sie schämten sich, sie anzusehen; sie fanden das Verhältnis der Eltern unrein; glaubten, der Vater sei ihrer Mutter untreu geworden. Und sie gingen aus dem Hause, in die Welt hinaus!

Er war glücklich! Aber er war noch stolzer darauf, dass ein junges Mädchen ihn hatte haben wollen.

– Nur Nachmahd! sagten seine alten Freunde.

Nach einem Jahr bekam die Frau ein Kind. Papa war nicht mehr an Kindergeschrei gewöhnt und wollte nachts schlafen. Zog in sein eigenes Zimmer; seine Frau aber weinte. Er fand die Frauen etwas aufdringlich. Und dann war sie eifersüchtig auf die erste Frau. Er war nämlich, als sie verlobt waren, so dumm gewesen, ihr zu sagen, sie gleiche seiner ersten Frau. Und dann hatte er sie deren Liebesbriefe lesen lassen. Als sie jetzt oft allein war, erinnerte sie sich an alles. So wusste sie, dass sie alle Kosenamen von der ersten geerbt, dass sie nur eine Stellvertreterin sei. Das reizte sie, und sie machte alle möglichen Dummheiten, um ihn für sich persönlich zu gewinnen. Das ermüdete ihn aber. Und wenn er in der Einsamkeit Vergleiche anstellte, verlor die neue Frau sehr. Sie war nicht so milde wie die andere; sie reizte seine Nerven. Dazu kam die Sehnsucht nach den Kindern, die er aus ihrem Elternhaus vertrieben. Dazu kamen schlechte Träume, denn er glaubte seiner verstorbenen Frau untreu zu sein.

Es war nicht mehr gemütlich zu Hause. Es war dumm, was er getan, und es wäre besser nicht geschehen.

Er fing an in den Ratskeller zu gehen. Da aber wurde die Frau böse. Er habe sie betrogen. Er sei ein alter Mann, und er solle sich in Acht nehmen. Ein so alter Mann dürfe seine junge Frau nicht allein lassen; das könne gefährlich werden!

– Alt? Sei er alt? Er werde ihr zeigen, dass er nicht alt sei!

Und sie zogen wieder zusammen. Da aber wurde es sieben Male schlimmer. Er wollte ihr nachts nicht wiegen helfen, und das Kind sollte in die Kinderstube! Nein, mit dem Kind der ersten Frau habe er es nicht so gemacht.

Er musste sich quälen lassen.

Zwei Male hatte er geglaubt, den Vogel Phönix aus der Asche der Vierzehnjährigen aufsteigen zu sehen, zuerst in der Tochter, dann in der zweiten Frau; aber in seiner Erinnerung lebte nur die erste, die Kleine aus dem Pfarrhof, die er zur Zeit der Walderdbeeren sah, die er unter der Linde im Walde küsste, die er aber nie bekommen.

Doch jetzt, als seine Sonne im Untergehen war und die Tage kürzer wurden, sah er in seinen dunkeln Stunden nur noch das Bild der „alten Mama“, die freundlich gegen ihn und seine Kinder gewesen, die nie zankte, die hässlich war, die in der Küche stand, die die Hosen der Knaben und die Röcke der Mädchen flickte. Und da sein Siegesrausch vorüber war und sein Auge klar sah, fragte er sich, ob nicht die „alte Mama“ doch der rechte Vogel Phönix gewesen sei, der so schön und so ruhig aus der Asche des vierzehnjährigen Goldvogels stieg; der seine Eier legte und sich die Daunen für die Jungen aus der Brust rupfte, um sie mit seinem Blut zu nähren, bis er starb.

Er fragte lange danach, und als er endlich seinen müden Kopf auf das Kissen legte, um nicht mehr aufzustehen, da war er davon überzeugt.

„Romeo und Julia“

Der Mann kam eines Abends mit einem Notenheft nach Haus und sagte zu seiner Frau:

– Nach dem Essen wollen wir vierhändig spielen.

– Was hast du da für ein neues Stück? fragte die Frau.

– Ich habe „Romeo und Julia“ gekauft. Kennst du das?

– Ja, gewiss kenne ich das, antwortete sie, aber ich weiss nicht, ob ich es je habe aufführen sehen.

– Oh, es ist herrlich! Ich denke daran wie an einen Jugendtraum, aber ich habe es nicht mehr als einmal gehört, und das war vor zwanzig Jahren.

Nach dem Abendessen, nachdem die Kinder zu Bett gebracht waren und es still im Hause geworden, zündete der Mann die Lichter auf dem Pianino an. Er liest auf dem fein lithographierten Titelblatt: „Romeo und Julia.“

– Dies ist Gounods schönste Komposition, sagt er, und ich glaube nicht, dass sie allzu schwer ist.

Seine Frau übernimmt wie gewöhnlich die erste Stimme, und so beginnt man. D-dur, Vier-Viertel-Takt, Allegro giusto.

– Das ist schön, nicht wahr? sagt der Mann nach dem Schluss der Ouvertüre.

– Oh ja, gibt die Frau zu, wenn auch etwas widerstrebend.

– Lass uns nun das Marziale nehmen, sagt der Mann, das ist etwas ganz Feines. Ich erinnere mich noch an die prächtigen Chöre des königlichen Theaters.

Der Marsch beginnt.

– Nun, ist es nicht prächtig? sagt der Mann triumphierend, als habe er „Romeo und Julia“ selber geschrieben.

– Ich finde, es klingt wie Messingmusik, antwortete seine Frau.

Die Ehre und der gute Geschmack des Mannes stehen auf dem Spiel, und er sucht nach der Mondscheinarie im vierten Akt. Nach langem Suchen stösst er auf eine Arie für Sopran; die muss wohl die rechte sein.

Und er beginnt von neuem:

– Tram-tramtram, tram-tramtram, so klingt es im Bass, der sehr leicht ist.

– Weisst du, meint die Frau, als es zu Ende ist, die Musik ist sehr mässig.

Der Mann ist ganz niedergeschlagen und gibt zu, dass es wie ein Leierkasten klingt.

– Das habe ich schon die ganze Zeit gefunden, bekennt die Frau.

– Ich finde auch, es klingt so altmodisch. Dass Gounod so schnell veraltet ist, bemerkt er ganz kleinlaut. Willst du weiter spielen? Lass uns die Cavatina und das Terzett durchnehmen; ich erinnere mich besonders an die Sängerin, die war göttlich.

Nach diesem Stück sieht der Mann wirklich betrübt aus und legt das Heft fort, als wolle er die Tür hinter der Vergangenheit schliessen.

– Wollen wir nicht ein Glas Bier trinken? fragt er.

Sie setzen sich an den Tisch und trinken ein Glas Bier.

– Es ist doch merkwürdig, beginnt der Mann, ich hätte nicht geglaubt, dass wir so alt geworden sind, denn wir sind wirklich mit „Romeo und Julia“ um die Wette gealtert. Es sind zwanzig Jahre her, seit ich die Oper zum ersten Mal hörte. Ich war eben Student geworden, hatte Freunde und die Zukunft lächelte mir hell und froh entgegen. Seit kurzer Zeit machte ich mit einem keimenden Schnurrbart und der Studentenmütze Staat, und besonders der Abend ist mir in Erinnerung, an dem Fritz, Philipp und ich in die Oper gingen. Einige Jahre früher hatten wir die Bekanntschaft des „Faust“ gemacht, waren also grosse Bewunderer Gounods. Doch „Romeo“ übertraf noch unsere Erwartungen, und wir wurden von der Musik ganz hingerissen. Jetzt sind meine beiden Freunde tot. Fritz, der zu den höchsten Stellen hinaufstrebte, starb als Sekretär; Philipp als Kandidat der Medizin; und ich, der Minister werden wollte, musste mich schliesslich damit begnügen, Regimentsauditor zu sein. Wie die Jahre verschwunden sind, ohne dass wir es gemerkt haben! Zwar habe ich gesehen, dass die Runzeln um meine Augen deutlicher geworden sind, und dass das Haar an den Schläfen ergraut ist, doch dass wir bereits so weit auf dem Weg zum Kirchhof gekommen sind, das hätte ich nicht geglaubt.

– Ja, mein Freund, wir sind alt geworden; das kannst du an unseren Kindern sehen. Und auch an mir siehst dus, wenn du auch davon schweigst.

– Ach wie kannst du so etwas sagen!

– Das weiss ich sehr wohl, mein Lieber, fuhr die Frau in wehmütigem Ton fort; ich weiss wohl, dass ich anfange hässlich zu werden, dass mein Haar dünner wird und dass ich bald meine Vorderzähne ziehen lassen muss ...

– Aber bedenke doch, dass jetzt nichts mehr dauert, – unterbricht sie der Mann. Es scheint heutzutage mit dem Altwerden viel geschwinder zu gehen als früher. Im Haus meines Vaters wurden noch Haydn und Mozart gespielt, obgleich sie tot waren, lange ehe er geboren wurde. Und jetzt – jetzt ist Gounod bereits alt! Es ist betrübend, seinem Jugendideal auf die Weise wieder zu begegnen! Und wie schauerlich ist es, zu fühlen, dass man alt geworden ist!

Er steht auf und setzt sich wieder ans Pianino; er nimmt das Notenheft und blättert darin, wie wenn er in einer Schreibtischlade nach Jugenderinnerungen, Haarlocken, getrockneten Blumen und Bandenden, suche. Seine Augen starren auf die schwarzen Noten, die wie kleine Vögel aussehen, die an einem Stahldrahtgitter auf und nieder klettern; er versucht, in ihnen auf Frühlingstöne, Liebeslockungen, jubelnde Triller aus den rosenroten Tagen der ersten Liebe zu lauschen. Doch alles blickt ihm so fremd entgegen, als sei die Erinnerung an die Blütezeit der Jugend mit Unkraut überwachsen. Ja, so ist es; die Saiten sind mit Staub bedeckt, der Resonanzboden ist eingetrocknet, der Filz abgenützt.

Ein Seufzer hallt durchs Zimmer, schwer wie aus einer hohlen Brust, und dann wird es ganz still.

Plötzlich hört man den Mann sagen:

– Aber sonderbar ist es doch, dass der herrliche Prolog in diesem Klavierauszug fehlt. Es war, wie ich mich bestimmt erinnere, ein Prolog mit Harfenbegleitung und ein Chor, der so lautete.

Er trällert leise die Melodie, die wie ein Bach aus einer Bergeskluft hervorsprudelt; der eine Ton gibt den andern, sein Gesicht klärt sich auf, der Mund lächelt, die Runzeln glätten sich und die Hände fallen auf die Tasten nieder, die kräftig, jugendlich und schmeichelnd die herrlichen Töne wiedergeben, und mit starker klangvoller Stimme singt er die Basspartie.

Seine Gattin ist aus ihren schwermütigen Gedanken erwacht, sie lauscht mit tränendem Auge und fragt verwundert:

– Was ist das?

– Romeo und Julia! Unser Romeo und unsere Julia!

Und er springt vom Stuhl auf und legt das Notenheft vor die erstaunte junge Frau.

– Siehst du! Dies war der Romeo unserer Oheime und Tanten, das war – lies nur – Bellini! Oh! Wir sind also noch nicht alt!

Die Frau blickt auf das dichte, noch glänzende Haar des dreissigjährigen Mannes, auf seine glatte Stirn und seine feurigen Augen. Und sie sagt freudestrahlend:

– Ja, du siehst aus wie ein Fünfundzwanzigjähriger!

– Und du? Du siehst aus wie ein junges Mädchen. Dass wir uns von dem alten Bellini so haben anführen lassen. Ich dachte gleich, dass etwas nicht stimme.

– Nein, lieber Freund, das habe ich zuerst gedacht.

– Wahrscheinlich, weil du jünger bist als ich.

– Nein, du ...

Und Mann und Frau sitzen da und streiten scherzend darüber, wer von ihnen älter sei, ganz wie ein Paar Kinder, und sie wundern sich, wie sie früher Runzeln und graue Haare haben entdecken können, wo keine da sind.

Herbst

Sie waren zehn Jahre verheiratet gewesen! Glücklich? So glücklich, wie die Umstände es erlaubten. Sie hatten am gleichen Strang gezogen, gleichmässig wie zwei gleichstarke junge Ochsen, von denen jeder an einer Seite des Strickes zieht.

Im ersten Jahr wurden natürlich eine Menge Illusionen von der Ehe als der absoluten Seligkeit begraben. Im zweiten Jahr kamen die Kinder, und die tägliche Arbeit des Lebens liess wenig Zeit zum Grübeln übrig.

Er war sehr häuslich, vielleicht zu sehr, und hatte in der Familie seine kleine Welt gefunden, deren Mittelpunkt er war; die Kinder waren die Radien. Die Frau suchte auch Mittelpunkt zu sein, aber niemals in der Mitte des Kreises, denn dort sass der Mann, und darum fielen die Radien bald auf einander bald aus einander, und darum stimmte das Ganze nicht.

Im zehnten Jahr wurde der Mann zum Sekretär der Gefängnisinspektion ernannt und musste als solcher Reisen machen. Das gab seinen häuslichen Gewohnheiten einen argen Stoss; er fühlte eine wirkliche Unlust, wenn er daran dachte, dass er für einen ganzen Monat seine Häuslichkeit verlassen müsse. Es war ihm nicht ganz klar, ob er seine Frau oder seine Kinder am meisten vermissen werde, vielleicht alle beide.

Am Abend vor der Abreise sitzt er in seinem Sofa und sieht zu, wie sie seine Reisetasche packt. Sie liegt mit den Knieen auf dem Boden und legt seine Wäsche hinein. Sie bürstet den schwarzen Anzug ab, legt ihn sorgfältig zusammen, damit er so wenig Platz wie möglich einnimmt. Darauf versteht er sich nämlich nicht.

Sie hatte ihre Stellung im Hause niemals als seine Dienerin, kaum als seine Frau aufgefasst. Sie war Mutter: Mutter für die Kinder und Mutter für ihn. Sie fühlte sich niemals davon gedemütigt, dass sie seine Strümpfe stopfte, und verlangte auch keinen Dank. Und sie glaubte nie, er stehe dafür in ihrer Schuld; er gab ja ihr und ihren Kindern dafür ganze Strümpfe und noch viel mehr; das hätte sie sich sonst ausser dem Hause verdienen müssen und dann hätte sie ihre Kinder allein zu Hause lassen müssen.

Er sass in der Ecke des Sofas und sah sie an. Jetzt, da sich der Abschied näherte, hob er kleine Vorschüsse auf die Sehnsucht ab. Er betrachtete ihre Figur. Die Schulterblätter hatten sich etwas vorgeschoben, und der Rücken war gekrümmt von der Arbeit über Wiege, Plättbrett und Herd. Auch er war gebeugt von der Arbeit über den Schreibtisch und seine Augen hatten Gläser zu Hilfe nehmen müssen. Jetzt aber dachte er wirklich nicht an sich. Er sah, dass ihre Zöpfe dünner als früher waren und dass ein schwacher Schein auf dem Scheitel zu sehen war. Hatte sie für ihn ihre Schönheit verloren, für ihn allein? Nein, für die kleine Gemeinde, die von ihnen allen gebildet wurde; denn sie hatte ja auch für sich selber gearbeitet. Und sein Haar hatte sich auch verdünnt im Kampf für sie alle. Er hätte vielleicht mehr Jugend besessen, wenn nicht so viel Münder gewesen wären, wenn er allein gewesen; aber er wollte nicht einen Augenblick allein gewesen sein.

– Es wird dir gut tun, etwas hinauszukommen, sagte seine Frau; du hast zu viel zu Hause gehockt.

– Du freust dich wohl, dass du mich los wirst, sagte er, nicht ohne ein wenig Bitterkeit; ich aber werde euch schon vermissen.

– Du bist wie die Hauskatze, du vermissest die warme Ofenecke, aber mich wirst du nicht so sehr vermissen; das glaubst du selber nicht.

– Und die Kinder?

– Ja, wenn du fort gehst, aber wenn du zu Hause bist, so schiltst du sie; nicht heftig allerdings, aber doch! Oh nein, du liebst sie wohl; ich will nicht ungerecht sein.

Beim Abendessen war er sehr milde, und ihm war schlecht zu Mut. Er las nicht die Abendzeitungen, sondern suchte nur mit seiner Frau zu sprechen. Die war aber so beschäftigt, dass sie sich zum Plaudern keine Zeit liess; auch hatten sich ihre Gefühle während der zehnjährigen Campagne in Kinderstube und Küche genügend stählen können.

Er war gefühlvoller, als er zeigen wollte, und die Unordnung im Zimmer machte ihn unruhig. Er sah Stücke seines täglichen Lebens, seiner Existenz auf Stühlen und Kommoden durcheinander liegen; die offene, schwarze Reisetasche gähnte ihn an wie ein Sarg, weisse Wäsche umhüllte darin schwarze Kleider, die noch die Spuren seiner Kniee und Ellbogen trugen; es war ihm, als liege er selber da mit dem weissen, gestärkten Vorhemd; gleich werde man zumachen und ihn forttragen.

Am nächsten Morgen, es war im August, stürzte er aus dem Bett, kleidete sich atemlos an und war sehr nervös. Er ging in die Kinderstube und küsste alle Kinder, die sich den Schlaf aus den Augen rieben. Nachdem er seine Frau umarmt hatte, setzte er sich in die Droschke, um nach dem Bahnhof zu fahren.

Die Reise, die er in Gesellschaft seiner Vorgesetzten machte, zerstreute ihn; es tat ihm wirklich wohl, sich einmal etwas aufzurütteln. Die Häuslichkeit lag hinter ihm wie eine dumpfe Schlafstube, und er war wirklich aufgeräumt, als er nach Linköping kam.

Den Rest des Tages füllte ein feines Gefängnisessen im grossen Hotel aus. Man trank auf das Wohl des Landeshauptmannes, aber nicht auf das der Gefangenen, die doch der Zweck der Reise waren.

Dann aber kam der Abend auf dem einsamen Zimmer. Ein Bett, zwei Stühle, ein Tisch, eine Waschtoilette und ein Stearinlicht, das seinen dürftigen Schein über die nackten Tapeten verbreitete. Ihm war ängstlich zu Mute. Alles fehlte: die Pantoffeln, der Schlafrock, das Pfeifengestell, der Schreibtisch; alle diese Kleinigkeiten, die er zu Bestandteilen seines Lebens gemacht hatte. Und dann die Kinder und seine Frau. Wie ging es ihnen? Waren sie gesund? Er wurde unruhig und düster. Als er seine Uhr aufziehen wollte, vermisste er den Uhrschlüssel. Der hing zu Hause am Uhrhalter, den ihm seine Frau als Braut gestickt hatte. Er legte sich nieder und steckte sich eine Zigarre an. Doch er musste noch einmal aufstehen und ein Buch aus der Reisetasche holen. Alles war so ordentlich eingepackt, dass er fürchtete, es in Unordnung zu bringen. Wie er aber nach dem Buch suchte, fand er die Pantoffeln! Sie dachte doch an alles! Dann fand er das Buch! Aber er las nicht. Er lag da und dachte an die Vergangenheit, an seine Frau, wie sie vor zehn Jahren war. Das Bild von früher trat hervor, und das gegenwärtige verschwand in den blaubraunen Wolken der Zigarre, die in Wirbeln zu der regenfleckigen Decke aufstiegen. Er empfand eine grenzenlose Sehnsucht. Jedes harte Wort, das er ihr gesagt, schmerzte ihm im Ohr, und er bereute jede bittere Stunde, die er ihr bereitet. Endlich schlief er ein.

Am nächsten Tag Arbeit und neues Essen, mit einem Toast auf den Direktor, aber noch keinen für die Gefangenen. Am Abend Einsamkeit, Leere, Kälte. Er hatte ein Bedürfnis, mit ihr zu sprechen. Er holte Papier und setzte sich an den Tisch. Gleich beim ersten Federzug stockte er. Wie sollte er schreiben? „Liebe Mama“ schrieb er immer, wenn er ihr in wenigen Zeilen mitteilte, dass er auswärts essen musste. Jetzt aber schrieb er nicht an die Mama, sondern an die Verlobte, an die Geliebte. Und er schrieb „Meine geliebte Lilly“ wie früher. Anfangs ging es träge, denn so viele schöne Worte waren aus der schweren trockenen Sprache des täglichen, alltäglichen Lebens verschwunden; bald aber wurde er warm und jetzt tauchten sie aus der Erinnerung hervor wie vergessene Melodien, Walzertakte, Romanzenfragmente, Fliederblüten und Schwalben, Abendstunden bei Sonnenuntergang auf spiegelblankem Meer; alle Frühlingserinnerungen des Lebens tanzten daher in Sonnenwolken und gruppierten sich um sie. Ganz unten auf die Seite setzte er einen Stern, wie Liebende zu tun pflegen, und daneben schrieb er, ganz wie früher: „Küsse hier!“

Als er den Brief beendigt hatte und ihn wieder durchlas, brannten ihm die Wangen und er ward verlegen. Warum, das wusste er nicht recht. Aber ihm war, als habe er seine innersten Gefühle einem mitgeteilt, der kein wirkliches Verständnis für sie besass.

Doch sandte er den Brief ab.

Einige Tage vergingen, bis die Antwort kam. Während er darauf wartete, empfand er eine kindliche Schüchternheit und Verlegenheit.

Dann aber kam die Antwort! Er hatte den rechten Ton getroffen, und aus Küchendunst und Kinderstubenlärm stieg ein Lied auf, klar und wohllautend, warm und rein, wie die erste Liebe.

Jetzt begann ein Austausch von Liebesbriefen. Er schrieb jeden Abend, sandte auch zuweilen im Lauf des Tages noch eine Karte ab. Seine Kollegen erkannten ihn nicht wieder. Er fing nämlich an, so viel Wert auf seine Kleidung und sein Aussehen zu legen, dass er in Verdacht kam, einen Liebeshandel zu haben. Und er war verliebt, von neuem verliebt. Er sandte ihr seine Photographie, ohne Brille, und sie ihm eine Locke von ihrem Haar. Sie waren kindlich in ihren Ausdrücken, und er hatte farbiges Briefpapier mit Täubchen gekauft. Aber sie waren ja auch Menschen mittleren Alters, die noch lange nicht die vierzig erreicht, wenn auch die Kämpfe des Lebens sie dazu gebracht, sich alt zu fühlen. Er hatte sie auch im letzten Jahr in der Ehe vernachlässigt, nicht so sehr aus Kälte wie aus Achtung, da er immer in ihr die Mutter seiner Kinder sah.

Die Reise ging ihrem Ende zu. Wenn er ans Wiedersehen dachte, empfand er eine gewisse Unruhe. Er hatte mit der Geliebten korrespondiert; würde er die in der Mutter und Hausfrau wiederfinden? Er fürchtete, sich bei der Heimkehr enttäuscht zu fühlen. Er wollte kein Küchenhandtuch in ihrer Hand sehen, auch nicht die Kinder an ihren Röcken, wenn er sie umarmte. Sie mussten sich an einem andern Ort treffen, allein. Sollte er sie zum Beispiel nach Waxholm ins Stockholmer Inselmeer kommen lassen, in das Gasthaus, in dem sie während ihrer Verlobungszeit so manche frohe Stunde verbracht? Das wäre eine Idee! Dort könnten sie zwei Tage lang die ersten schönen Frühlingstage, die geflohen waren und nicht wiederkamen, noch einmal in der Erinnerung durchleben.

Er setzte sich hin und machte seinen Vorschlag in einem langen Brief, der von Liebe glühte. Sie beantwortete ihn mit umgehender Post, und zwar bejahend, glücklich, dass er auf denselben Gedanken gekommen sei wie sie.

 

Zwei Tage später war er in Waxholm und hatte Zimmer im Gasthaus bestellt. Es war ein schöner Septembertag. Er sass allein im grossen Saal zu Mittag, trank ein Glas Wein und fühlte sich wieder jung. Es war hier so hell und luftig. Draussen lag das blaue Meer und nur die Birken an den Ufern hatten ihre Farbe gewechselt. Im Garten standen noch die Dahlien in voller Blüte und der Reseda duftete am Rand der Beete. Einige Bienen besuchten noch die versiegenden Kelche, kehrten aber enttäuscht zu ihren Körben zurück. Im Sund zogen die Segler vorbei vor einer schwachen Brise, und beim Wenden flatterten die Segel und schlugen die Schoten; und die Möwen flogen erschrocken und schreiend fort von den Fischern, die in ihren Booten mit der Rollangel Strömling fischten.

Er trank seinen Kaffee auf der Veranda und begann den Dampfer, der um sechs Uhr kommen sollte, zu erwarten.

Unruhig, als gehe er etwas Ungewissem entgegen, schlenderte er auf dem Balkon hin und her, spähte auf Fjärd und Sund hinaus, nach der Seite, wo Stockholm lag, um den Dampfer zu sichten.

Schliesslich stieg ein Rauch über den Fichtenwald am Horizont auf. Sein Herz fing an zu klopfen und er trank einen Likör. Darauf ging er an den Strand hinunter.

Jetzt war der Schornstein mitten im Sund zu sehen, und bald sah er die Flagge auf der Vorstenge. War sie auf dem Dampfer oder war sie verhindert worden? Eins von den Kindern brauchte nur erkrankt zu sein, dann war sie zu Hause geblieben, und er musste eine einsame Nacht im Hotel verbringen. Die Kinder, die während der letzten Wochen in den Hintergrund getreten waren, traten jetzt zwischen ihn und sie. In den letzten Briefen hatten sie sehr wenig über die Kinder gesprochen, als wollten sie Störenfriede oder Zeugen entfernen.

Er stampfte die Landungsbrücke, die unter seinen Füssen knarrte, bis er schliesslich bei einem Poller unbeweglich stehen blieb, starr dem Dampfer entgegen blickend, dessen Rumpf sich vergrösserte und dessen Kielwasser sich wie ein Fluss von schmelzendem Gold über die blaue, schwach gekräuselte Fläche legte.

Jetzt sieht er auf dem obern Deck Leute, die sich bewegen, und im Bug Matrosen, die sich mit dem Tauwerk beschäftigen. Und dann bewegt sich etwas Weisses neben dem Steuerhäuschen. Er ist allein auf der Landungsbrücke und man kann nicht gut einem andern als ihm winken; und keine andere kann ihm winken als sie. Er zieht sein Taschentuch und beantwortet den Gruss. Aber er bemerkt, dass sein Taschentuch nicht weiss ist, denn er gebraucht seit langer Zeit farbige, aus Sparsamkeit.

Der Dampfer pfeift, gibt Signale, die Maschine stoppt; auf die Brücke zu gleitet jetzt das Fahrzeug und er erkennt sie wieder. Sie grüssen mit den Augen, können aber noch kein Wort wechseln, weil sie zu entfernt von einander sind.

Der Dampfer legt an. Er sieht sie, wie sie langsam über den Landungssteg gedrängt wird. Sie ist es, und sie ist es nicht. Zehn Jahre liegen dazwischen! Die Mode hat sich verändert, der Schnitt der Kleider ist ein anderer. Früher war ihr feines dunkelhäutiges Gesicht zur Hälfte von der damals gebräuchlichen Haube eingefasst, welche die Stirn offen liess; jetzt ist die Stirn von einer bösen Nachahmung des Herrnhutes beschattet. Damals zeichnete sich ihre hübsche Gestalt in spielenden Linien unter dem so schön drapierten Besuchsmantel ab, der die Rundung der Schultern und die Bewegung der Arme schelmisch verbarg und hervorhob; jetzt ist die ganze Figur von einem langen Kutscherrock entstellt, der die Kleider abzeichnet, aber nicht die Gestalt. Als sie den letzten Schritt auf dem Landungssteg tut, sieht er ihren kleinen Fuss, in den er sich verliebt hat, als er noch in einem Knöpfstiefel von der Form des Fusses sass, während ihr jetziger Schuh zu einem chinesischen Spitzpantoffel ausgezogen ist, der dem Fussblatt nicht erlaubt, sich in diesen tanzenden Rhythmen zu erheben, die damals sein Entzücken waren.

Sie war es, und sie war es nicht! Er umarmte und küsste sie! Sie fragten einander nach dem Ergehen, und er fragte nach den Kindern. Dann gingen sie den Strand hinauf.

Die Worte fielen langsam, trocken, gezwungen. Wie sonderbar! Sie schämten sich beinahe vor einander, und keiner spielte auf den Briefwechsel an.

Schliesslich fasste er sich ein Herz und fragte:

– Wollen wir einen Spaziergang machen, ehe die Sonne untergeht?

– Gern, sagte sie und nahm seinen Arm.

Sie gingen die Strasse nach dem Städtchen hinauf. Alle Sommerhäuschen waren mit Läden verschlossen, und die Gärten waren geplündert. Hier und dort sass noch ein Apfel, der sich hinterm Laub versteckt hatte, in den Bäumen, aber die Beete waren jeder einzigen Blume beraubt. Die Veranden, die jetzt ihre Zeltmarquisen verloren hatten, sahen aus wie Skelette; wo man früher Gesichter sah und frohes Lachen hörte, war es still geworden.

– Es sieht so herbstlich aus, sagte sie.

– Ja, es ist schaurig, die Sommerfrischen in diesem Zustand zu sehen.

Sie wanderten weiter.

– Wir wollen nachsehen, wo wir gewohnt haben, sagte sie.

– Ja, das wird nett sein.

Sie gingen an der Badeanstalt entlang.

Dort lag das kleine Häuschen, eingeklemmt zwischen denen des Gärtners und des Lotsenaltermanns, mit seinem roten Lattenzaun, mit seiner Veranda, mit seinem Gärtchen.

Die Erinnerungen an die Vergangenheit tauchten auf. Dort in der Kammer wurde das Erste geboren. Jubel und Fest! Gesang und Jugend! Dort stand der Rosenbusch, den sie pflanzten. Dort lag das Erdbeerenbeet, das sie angelegt; nein, es lag nicht mehr da, denn es war zu einem Grasplatz zugewachsen. Dort in den Eschen waren noch die Spuren der Schaukel zu sehen, die nicht mehr vorhanden war.

– Hab Dank für deine schönen Briefe, sagte sie und drückte seinen Arm.

Er errötete und antwortete nichts.

Dann kehrten sie zum Hotel zurück, während er Einzelheiten von der Reise erzählte.

Er hatte im grossen Speisesaal den Tisch decken lassen, an dem sie damals zu sitzen pflegten. Ohne ein Tischgebet zu sprechen, setzten sie sich.

So sassen sie wieder da unter vier Augen. Er nahm den Brotkorb und bot ihr an. Sie lächelte. Es war lange her, dass er so höflich gegen sie gewesen. Aber es war etwas Neues und Angenehmes, in einem Gasthaus am Meer zu essen, und bald waren sie in einem lebhaften Gespräch begriffen; es war ein Duett, in dem der eine in das Damals fiel und der andere eine Erinnerung aussprach; sie lebten in den Erinnerungen. Die Blicke leuchteten und die kleinen Runzeln der Gesichter glätteten sich. O die goldene, rosenrote Zeit, die man nur einmal erlebt, wenn man sie erlebt, und die so viele, viele niemals erleben.

Beim Nachtisch flüsterte er der Kellnerin etwas zu; gleich darauf kam sie mit einer Flasche Champagner zurück.

– Lieber Axel, was denkst du? sagte sie halb vorwurfsvoll.

– An den Frühling, der vergangen ist, aber wiederkehren wird.

Aber er dachte nicht ausschliesslich daran, denn beim Vorwurf seiner Frau tauchte, wie wenn eine Katze durchs Zimmer schleicht, ein dunkles Bild von der Kinderstube und der Mehlbreischüssel auf.

Dann aber wurde es wieder klar und der rosenrote Wein rührte wieder an die Saiten der Erinnerung, und sie warfen sich wieder in den zauberischen Rausch der Vergangenheit.

Er stützte jetzt den Ellbogen auf den Tisch und hielt die Hand vor die Augen, als wolle er sich von der Gegenwart nicht stören lassen, dieser Gegenwart, die er doch gerade gesucht hatte.

Die Stunden verrannen. Sie standen auf und gingen in den Salon, wo das Klavier stand, um Kaffee zu trinken.

– Ich möchte wissen, wie es den Kindern geht, sagte sie, die jetzt erst aus dem Rausch erwachte.

– Setz dich und sing, sagte er und schlug das Instrument auf.

– Was soll ich singen? Du weisst doch, dass ich lange nicht gesungen habe.

Ja, das wisse er, jetzt aber wolle er ein Lied haben.

Sie setzte sich ans Piano und präludierte. Es war ein kreischendes Wirtshausklavier, das wie lose Zähne klang.

– Was soll ich singen? fragte sie und drehte sich auf dem Stuhl um.

– Das weisst du, Lilly, antwortete er, ohne dass er es wagte, ihrem Blick zu begegnen.

– Dein Lied! Ja! Wenn ichs noch kann!

Und sie sang: „Wie mag das Land wohl heissen, in dem mein Liebster wohnt?“

Aber ach, die Stimme war dünn und scharf, und vor Rührung wurde sie unrein. Es war zuweilen wie ein Schrei aus der Tiefe der Seele, die fühlt, dass der Mittag vorbei ist und der Abend sich nähert. Die Finger, die schwere Arbeit getan, konnten die rechten Töne nicht finden; auch war das Instrument ausgespielt; das Tuch auf den Hämmern abgenutzt, und das blosse Holz klopfte gegen die Metallsaiten.

Als das Lied zu Ende war, wagte sie sich zuerst nicht umzudrehen, als erwarte sie, dass er zu ihr komme und etwas sage. Aber er kam nicht, und es war still im Zimmer. Als sie sich schliesslich auf ihrem Stuhl umwandte, sass er im Sofa und weinte. Sie wollte aufspringen, seinen Kopf in ihre Hände nehmen und ihn küssen wie früher, aber sie blieb sitzen, unbeweglich, die Blicke auf den Boden gerichtet.

Er hatte eine nicht angesteckte Zigarre zwischen Daumen und Zeigefinger. Als er hörte, dass es still wurde, biss er die Spitze ab und machte mit einem Streichholz Feuer.

– Danke, Lilly, sagte er und qualmte. Willst du jetzt Kaffee trinken?

Sie tranken Kaffee und sprachen von der Sommerfrische im allgemeinen, und wo sie im nächsten Sommer wohnen würden. Aber das Gespräch begann einzutrocknen, und man wiederholte sich.

Schliesslich sagte er in einem langen rückhaltlosen Gähnen:

– Jetzt gehe ich schlafen!

– Das werde ich auch tun, sagte sie und stand auf. Erst aber will ich etwas hinausgehen – auf den Balkon.

Er ging in die Schlafstube. Sie blieb einen Augenblick im Esssaal stehen und plauderte mit der Wirtin über Sommerzwiebeln, um sich auf Wollwäsche zu verirren, bis eine halbe Stunde um war.

Als sie zurückkam, blieb sie an der Tür der Schlafstube stehen und lauschte. Drinnen war alles still, und die Stiefel standen draussen. Sie klopfte, aber niemand antwortete. Da öffnete sie die Tür und trat ein. Er schlief.

Er schlief!

 

Am nächsten Morgen sassen sie am Kaffeetisch. Er hatte Kopfweh und sie sah unruhig aus.

– Was für ein Kaffee, sagte er und machte ein Gesicht.

– Das ist Brasilianer, sagte sie.

– Was sollen wir heute anfangen, fragte er und sah nach der Uhr.

– Du solltest dir ein Butterbrot nehmen, meinte sie, statt über den Kaffee zu schelten.

– Ja, das will ich tun, sagte er, und ein Schnäpschen dazu. Der Champagner, brr!

Er liess sich Brötchen mit Branntwein bringen und wurde heiterer.

– Jetzt gehen wir auf den Lotsenberg und sehen uns die Aussicht an.

Sie standen auf und gingen aus. Das Wetter war herrlich und der Spaziergang tat ihnen wohl. Als sie aber den Berg hinaufstiegen, ging es langsam: ihr fiel das Atmen schwer, und er hatte steife Knie. Parallelen mit der Vergangenheit wurden nicht mehr gezogen.

Dann gingen sie in die Hage hinaus.

Die Wiesen waren längst gemäht und dann so abgeweidet, dass keine Blume mehr zu sehen war. Sie setzten sich beide auf Steine.

Er sprach von der Gefängnisinspektion und von seinem Amt. Sie von den Kindern.

Dann gingen sie ein Stück weiter, ohne zu sprechen. Er zog die Uhr.

– Es sind noch drei Stunden bis zum Mittagessen, sagte er.

Und dann dachte er: ich möchte wissen, was wir morgen tun werden.

Sie kehrten um und gingen zum Hotel zurück. Er begann nach Zeitungen zu suchen. Sie lächelte und sass schweigend neben ihm.

Das Essen war recht still. Schliesslich fing sie von den Mägden an.

– Um Gottes willen, verschone uns mit den Mägden, rief er aus.

– Ja, wir sind nicht hergekommen, um uns zu zanken.

– Habe ich mich gezankt?

– Ja, ich doch nicht.

Eine furchtbare Pause entstand. Jetzt hätte er gewünscht, es komme jemand dazwischen. Die Kinder! Ja! Dieses tête-à-tête fing an ihm lästig zu werden. Dann aber fühlte er einen Stich im Herzen, wenn er an die hellen Stunden von gestern dachte.

– Lass uns nach der Eichenhöhe gehen und Walderdbeeren pflücken, sagte sie.

– Zu dieser Jahreszeit gibt es keine Walderdbeeren mehr, es ist ja Herbst!

– Lass uns doch gehen!

Und sie gingen wieder. Aber kein Gespräch kam auf. Er suchte mit den Augen nach einem Gegenstand, nach einem Punkt am Wege, von dem man sprechen konnte, aber alles war schon besprochen. Sie kannte alle seine Ansichten und missbilligte einen grossen Teil davon. Auch sehnte sie sich nach Haus, nach den Kindern, nach der Häuslichkeit. Es sei doch zu verrückt, hier wie ein Spektakel herumzulaufen, um sich jeden Augenblick einem Streit auszusetzen.

Schliesslich machten sie Halt, denn sie war müde. Er setzte sich und fing an mit seinem Stock im Sande zu zeichnen; er wünschte nur, sie rufe einen Ausbruch hervor.

– An was denkst du, fragte sie schliesslich.

– Ich, antwortete er, wie von einer Last befreit, ich denke: wir sind alt, Mama; wir haben ausgespielt und wir müssen zufrieden sein mit dem, was gewesen ist. Denkst du wie ich, so fahren wir mit dem Abenddampfer nach Haus.

– Das habe ich die ganze Zeit gedacht, lieber Alter: aber du solltest deinen Willen haben.

– Dann komm, wir fahren nach Haus. Es ist kein Sommer mehr, es ist Herbst.

– Ja, es ist Herbst!

Mit leichten Schritten gingen sie zurück. Er war etwas verlegen über die prosaische Wendung, welche die Sache genommen, und hatte das Bedürfnis, der Tatsache eine philosophische Deutung zu geben.

– Siehst du, Mama, sagte er, meine Lie– hm (das Wort war zu stark), meine Neigung für dich hat im Lauf der Jahre eine Evolution durchgemacht, wie man jetzt sagt. Sie hat sich entwickelt, sich erweitert: anfangs umfasste sie nur ein Individuum, später die Familie als ein Ganzes. Es handelt sich jetzt nicht mehr um dich persönlich, auch nicht um die Kinder, sondern um das Ganze ...

– Also, wie Onkel immer sagte, Kinder sind Blitzableiter!

Er war nach seiner philosophischen Erklärung wieder er selber geworden. Es war schön, den Gehrock ablegen zu können; und es war ihm, als ziehe er den Schlafrock wieder an.

Als sie ins Gasthaus kamen, begann sie sofort zu packen, und da war sie in ihrem Element.

Als sie an Bord des Dampfers kamen, gingen sie sofort hinunter in den Speisesaal. Anstandshalber hatte er jedoch zuerst gefragt, ob sie sich den Sonnenuntergang ansehen wolle; sie hatte aber abgelehnt.

Als sie zu Abend assen, nahm er sich selber zuerst, und sie fragte die Wirtin, was das Hartbrot koste.

Als er sich satt gegessen hatte und das Porterglas an den Mund setzte, konnte er einen Gedanken, der ihn schon lange amüsiert hatte, nicht mehr unterdrücken.

– Alter Tollkopf! Was! sagte er und lächelte seine Frau an, die gerade während eines Bissens zu ihm aufsah.

Sie aber beantwortete das Lächeln seines fettglänzenden Gesichts nicht, sondern ihre Augen, die eine Sekunde aufgeblitzt hatten, nahmen einen so vernichtenden Ausdruck von Würde an, dass er ganz verlegen wurde.

Jetzt war die Verzauberung gebrochen, die letzte Spur der Geliebten verschwunden: er sass da mit der Mutter seiner Kinder, und er fühlte sich geduckt.

– Weil ich einen Augenblick albern gewesen, brauchst du mich nicht geringzuschätzen, sagte sie ernst. Aber in des Mannes Neigung liegt immer ein gut Teil Verachtung; das ist sonderbar.

– Und in des Weibes?

– Noch mehr! Das ist wahr! Aber sie hat auch eher Veranlassung.

– Das ist wohl gleich, wenn auch nicht dasselbe. Wahrscheinlich aber haben sie alle beide unrecht. Was man überschätzt hat, weil es so schwer zu erlangen war, schätzt man nachher leicht gering.

– Warum überschätzt man es denn?

– Warum ist es so schwer zu erlangen?

Die Dampfpfeife über ihren Köpfen unterbrach das Gespräch.

Sie waren am Ziel.

Als sie wieder in ihrer Wohnung waren und er sie mitten in der Kinderschar sah, da fühlte er, dass seine „Neigung“ für sie eine Umwandlung durchgemacht habe und dass ihre Neigung für ihn auf alle diese kleinen Schreihälse übergegangen und verteilt sei. Vielleicht hatte er ihre Neigung nur als Mittel zum Zweck besessen. Seine Rolle war ja so vorübergehend, und darum fühlte er sich abgesetzt. Wenn er nicht nötig gewesen wäre, um Brot zu schaffen, würde er wahrscheinlich längst verstossen sein.

Er ging in sein Arbeitszimmer, schlüpfte in Schlafrock und Pantoffeln, steckte sich eine Pfeife an und fühlte sich wieder zu Hause.

Draussen peitschte der Wind den Regen, und es pfiff in der Ofenröhre.

Nachdem sie die Kinder zu Bett gebracht hatte, kam seine Frau.

– Es ist kein Wetter, um Walderdbeeren zu pflücken, sagte sie.

– Nein, liebe Alte, der Sommer ist zu Ende und der Herbst ist da.

– Ja, es ist Herbst, antwortete sie, aber es ist noch nicht Winter, immer ein Trost.

– Ein Trost! Ein schwacher Trost, wenn man nur einmal lebt!

– Zwei Male, wenn man Kinder hat; drei Male, wenn man seine Enkel erlebt!

– Dann aber ist es wirklich zu Ende.

– Wenn es nicht ein Leben nach diesem gibt.

– Das ist nicht sicher! Wer weiss es denn? Ich glaube daran, aber mein Glaube ist kein Beweis!

– Aber es ist gut, daran zu glauben, lass uns daran glauben; lass uns glauben, dass es noch einmal Frühling für uns werden kann! Lass es uns glauben!

– Ja, wir wollen es glauben, sagte er und schloss sie in seine Arme.

Fruchtbarkeit

Er war Hilfsarbeiter im Handelsamt mit zwölfhundert Kronen Gehalt. Er hatte ein junges Mädchen ohne Mitgift geheiratet; aus Liebe, wie er selber erklärte; um nicht mehr auf Bällen und Strassen umherlaufen zu müssen, wie seine Freunde meinten. Jedenfalls war das Zusammenleben des Paares anfangs glücklich.

– Wie billig es ist, als Verheiratete zu leben, rief er eines Tages aus, nachdem die Hochzeit überstanden war. Die selbe Summe, die kaum verschlug, als man Junggeselle war, reicht jetzt für Mann und Frau. Die Ehe ist doch eine ausgezeichnete Erfindung. Man hat alles zwischen seinen vier Wänden: Wohnung, Kneipe, Café – alles. Keine Speisekarte mehr, kein Trinkgeld, kein neugieriger Portier, wenn man morgens mit seiner Frau ausgeht.

Das Leben lächelte ihm, seine Kräfte wuchsen und er arbeitete wie ein ganzer Mann. Noch nie hatte er sich so voll überströmender Lebenskraft gefühlt; des Morgens sprang er elastisch und bei allerbester Laune aus dem Bett; er war verjüngt.

Als zwei Monate verstrichen waren, noch ehe sich die Langeweile eingefunden hatte, teilte ihm die Frau gewisse Hoffnungen mit. Neue Freude, neue Sorgen, aber so angenehm zu tragen! Es war notwendig, sofort die Einkünfte zu vermehren, um den unbekannten Weltbürger würdig empfangen zu können. Er ging hin und verschaffte sich eine Übersetzung.

Niedliche Kinderkleidchen lagen auf den Möbeln umher, im Flur stand die Wiege und wartete, und das Kindchen kam gesund auf die Welt der Sorgen.

Der Vater war entzückt. Doch konnte er sich einer gewissen Angst nicht erwehren, wenn er an die Zukunft dachte. Ausgaben und Einkünfte wollten sich nicht die Wage halten. Es war nichts anderes zu machen, als sich in der Kleidung etwas einzuschränken. Der Gehrock begann in den Nähten zu glänzen, die Hemdbrust wurde unter einer grossen Krawatte verborgen, die Hosen bekamen Fransen. Die Diener im Amt verachteten ihn allerdings wegen dieser schäbigen Kleidung.

Ausserdem sah er sich gezwungen, seinen Arbeitstag zu verlängern.

– Jetzt muss man aber Schluss machen mit diesen kleinen Dingern, sagte er sich. Doch wie soll man das anfangen?

Das wusste er nicht.

 

Drei Monate später bereitete seine Frau ihn in gewählten Worten darauf vor, dass sich seine Vaterfreude bald verdoppeln werde. Sehr freuen tat er sich über diese Mitteilung nicht. Aber es kam jetzt darauf an, den einmal eingeschlagenen Weg zu Ende zu gehen, wenn sich auch die Ehe als eine durchaus nicht billige Sache erwies.

– Es ist wahr, dachte er und sah heiterer aus, der Jüngere erbt die Windeln des Älteren! Auf diese Weise kostet er nichts. Übrigens leben werden sie schon, sie ebenso gut wie andere.

Er wurde Vater zum zweiten Mal.

– Du gehst ja tüchtig ins Zeug, liess sich ein Kamerad hören, der verheiratet war, aber nur ein Kind hatte.

– Was soll man machen?

– Man muss verständig sein!

– Verständig? Hör mal, mein guter Freund, man verheiratet sich doch, um ... ich meine, nicht nur um ... aber jedenfalls auch um ... Wir sind eben verheiratet, und da ist die Sache doch klar.

– Durchaus nicht. Etwas anderes, Freund: wenn du die Mittel erhalten willst, ein frisch gestärktes Hemd zu tragen, und dir an Beförderung liegt, so ist es durchaus notwendig, dass du Hosen ohne Fransen hast und einen Hut, der nicht in Rotbraun übergeht.

Und der Verständige flüsterte ihm verständige Worte ins Ohr.

So war denn der arme Ehemann, der es so gut zu haben glaubte, auf halbe Kost gesetzt.

Jetzt begannen die Wirrungen.

Zuerst waren die Nerven überreizt, die Nächte schlaflos, die Arbeit am Tage schlecht. Dann kam der Arzt. Drei Kronen für jedes Rezept. Und was für ein Rezept! Er müsse sich der Arbeit enthalten. Er habe zu viel gearbeitet, sein Gehirn sei überanstrengt. Aber nichts tun, das wäre ja der Tod für sie alle! Und arbeiten, das sollte auch der Tod sein!

Und er arbeitete!

Eines Tages, als er auf dem Amt sass, und sich über die endlosen Zahlenreihen beugte, bekam er einen Schwindel und sank zu Boden.

Ein Besuch bei einem Arzt, der Spezialist war – achtzehn Kronen. Neue Verordnung: Urlaub infolge von Kränklichkeit, eine ordentliche Reittour jeden Morgen, zum Frühstück Beefsteak mit einem Glas Portwein.

Reiten und Portwein!

Was aber schlimmer war, eine gewisse Kälte gegen die geliebte Frau stieg in ihm auf; woher sie kam, wusste er nicht. Er hatte Furcht, sich ihr zu nähern, und zu gleicher Zeit fühlte er ein Verlangen nach ihr; er liebte sie, liebte sie noch immer, aber dieses Gefühl war mit einer gewissen Bitterkeit gemischt.

– Du magerst ab, sagte ein Kamerad.

– Ja, ich glaube wirklich, ich bin mager geworden, erwiderte der arme Ehemann.

– Du spielst ein falsches Spiel, alter Junge!

– Ich begreife nicht!

– Ein verheirateter Mann mit Halbtrauer! Nimm dich in Acht, mein Freund!

– Ich verstehe wahrhaftig nicht ein Wort von dem, was du sagst.

– Gegen den Wind fahren, geht auf die Dauer nicht. Nein, brasse nur voll, du, und du wirst sehen, dass alles wieder gut wird. Glaub mir, ich kenne das. Die Anspielung verstehst du doch!

Er liess die guten Ratschläge vorläufig liegen, wohl wissend, dass sich die Einkünfte nicht im Verhältnis zu den Kindern vermehren, aber überzeugt, dass er jetzt die Wurzel zu seiner Krankheit gefunden hatte.

 

Der Sommer war gekommen. Die Familie war aufs Land gezogen. An einem schönen Abend waren die Gatten allein spazieren gegangen, an dem steilen Seeufer entlang, das von eben grün gewordenen Erlen beschattet wurde. Sie setzten sich ins Gras, still und niedergeschlagen. Er war finster und mutlos; düstere Gedanken arbeiteten in seinem schmerzenden Gehirn. Das Leben kam ihm wie ein Abgrund vor, der sich öffnete, um sie alle zu verschlingen, alle, die er so liebte.

Sie begannen davon zu sprechen, dass er bald seine Stellung verlieren werde; sein Chef hatte es nämlich übel aufgenommen, dass er neuen Urlaub verlangt. Er beklagte sich über das Betragen der Kameraden, er fühlte sich von allen verlassen; besonders aber leide er darunter, dass sie seiner müde sei.

Nein, keineswegs, sie liebe ihn noch immer ebenso sehr wie in den glücklichen Tagen, als sie sich eben verlobt! Könne er daran zweifeln?

Nein, aber er habe so viel gelitten, dass er nicht Herr seiner Gedanken sei.

Und er drückte seine glühende Wange an ihre, legte seinen Arm um ihren Leib und bedeckte ihre Augen mit heissen Küssen.

Die Mücken tanzten ihren Hochzeitstanz über der Birke, ohne sich um die Tausende von Jungen zu kümmern, die ihre erlaubte Lust zur Welt bringen würde; im Schilf laichten die Hechte, sorglos Millionen ihrer Brut absetzend; die Schwalben küssten sich am hellen Tage, auf ihrem Flug durchaus nicht ängstlich vor den Folgen solcher unregelmässiger Liebesverbindungen.

Auf ein Mal sprang er auf und reckte sich, als habe er in einem langen Schlaf schwer geträumt, und atmete in tiefen Zügen die warme Luft ein.

– Was ist dir? flüsterte seine Frau, indem sie tief errötete.

– Ich weiss nicht. Das aber weiss ich, dass ich lebe, das ich wieder atme!

Und strahlend, mit heiterem Gesicht und glänzenden Augen, streckte er seine starken Arme nach ihr aus, hob sie in die Höhe wie ein Kind und drückte einen Kuss auf ihre Stirn. Seine Wadenmuskeln schwollen wie bei einem antiken Gott, der Rumpf richtete sich elastisch wie ein junger Baum, und berauscht von Glück und Lebenskraft, trug er seine liebe Last bis zum Fusssteig, wo er sie niedersetzte.

– Du verhebst dich, Geliebter, sagte sie abwehrend, indem sie sich vergebens aus seinen Armen loszumachen suchte.

– Ach nein! Ich könnte dich bis ans Ende der Welt tragen, und ich werde euch alle tragen, so viele ihr auch seid und (fügte er hinzu) so viele ihr auch werdet!

Und voller Freude gingen sie Arm in Arm nach Haus.

– Wenn alles zusammenkommt, Geliebte, muss man zugeben, dass es doch sehr leicht ist, über jenen Abgrund zu springen, der Körper und Seele trennt.

– Wie du sprichst!

– Hätte ich das nur früher gewusst, so wäre ich weniger unglücklich gewesen. O diese Idealisten!

Und sie traten in ihre Häuslichkeit.

Die alte gute Zeit beginnt aufs neue, und die bessere neue scheint von Dauer zu sein. Der Mann geht wieder in sein Bureau. Die Gatten erleben noch einmal den Liebesfrühling. Einen Doktor braucht man nicht mehr, und immer ist man bester Laune.

 

Nach der dritten Taufe findet der Mann die Sache bedenklich und beginnt wieder das falsche Spiel, mit den gleichen Folgen wie früher: Doktor, Urlaub, Reiten, Portwein! Man muss ein Ende machen. Und jedes Mal zeigt sich ein Fehlbetrag im Budget.

Als aber schliesslich sein ganzes Nervensystem aus den Fugen geriet, musste er der Natur ihren Lauf lassen. Und sofort stieg die Ausgabe und sank die Einnahme.

Allerdings war er nicht arm, aber reich auch nicht.

– Um die Wahrheit zu sagen, liebe Alte, es wird wieder genau dieselbe Geschichte wie früher, sagte er.

– Beinahe, lieber Freund, antwortete die arme Frau, die ausser ihren Mutterpflichten alle Arbeiten einer Magd zu besorgen hatte.

Nach dem vierten Kindbett wurde es ihr zu schwer, und man war gezwungen, ein Kindermädchen zu halten.

– Jetzt muss es genug sein, gestand der trostlose Gatte. Hier machen wir Punkt.

Die Armut grinste sie an. Das Fundament, auf dem das Haus gebaut war, begann zu sinken.

Und mit dreissig Jahren, dem reifen Alter, da alle Blumen befruchtet werden müssten, sahen die jungen Gatten sich auf ein schändliches Zölibat angewiesen. Der Mann wurde mürrisch, sein Gesicht färbte sich aschgrau und sein Blick erlosch. Die reiche Schönheit der Frau welkte, ihr kräftiger Busen fiel ein; dazu hatte sie alle Leiden einer Mutter auszustehen, die ihre Kinder blutarm und schlecht gekleidet sieht.

Eines Tages stand sie am Herd und briet Hering, als eine Frau aus der Nachbarschaft kam, um mit ihr zu plaudern.

– Wie geht es ihnen, begann sie.

– Danke, so ziemlich! Und Ihnen?

– Ach, ich bin recht schwächlich! Es ist nichts los mit der Ehe, wenn man beständig auf seiner Hut sein muss.

– Glauben Sie, Sie sind die einzige?

– Was?

– Wissen Sie, was er zu mir gesagt hat? Man muss das Zugvieh schonen! Und ich leide, das können Sie mir glauben! Schön ist es nicht, verheiratet zu sein! Er oder sie muss es fühlen. Das kommt auf eins heraus.

– Oder alle beide!

– Man scheint nichts dabei machen zu können.

– Aber die Gelehrten, die sich auf Staatskosten den Bauch mästen?

– Die Gelehrten, ja, die haben an so viel anderes zu denken, und übrigens ist es ja unpassend, über solche Dinge zu schreiben: man könnte sie nicht laut vorlesen.

– Aber das wäre doch die Hauptsache.

Und dann teilten die beiden Frauen einander ihre bitteren Erfahrungen mit.

 

Im nächsten Sommer muss man in der Stadt bleiben, im Erdgeschoss einer Gasse hausen, von dem man die Aussicht auf einen Rinnstein geniesst, der so stinkt, dass man nicht die Fenster zu öffnen wagt.

Die Frau arbeitet mit der Nadel im selben Zimmer, in dem die Kinder spielen; der Mann, der aus seiner Stellung verabschiedet ist, weil er keinen sauberen Anzug mehr besitzt, schreibt ab in einem Zimmer nebenan und brummt über den Lärm, den die Kinder machen. Man wirft einander harte Worte durch die Tür.

Es ist Pfingsten. Der Mann liegt am Nachmittag auf dem zerlumpten Ledersofa und betrachtet durch die Scheibe ein Fenster auf der andern Seite der Gasse. Er sieht dort ein Mädchen, das in schlechtem Ruf steht, wie sie sich für die Abendpromenade schmückt. Neben ihrem Spiegel liegen ein Fliederzweig und zwei Apfelsinen. Ohne sich an neugierige Blicke zu kehren, schnürt sie ihr Mieder über ihren festen Busen zu.

– Das ist kein schlechtes Leben, sagt der zu Zölibat Verurteilte sich, indem er plötzlich auflodert. Man lebt nur einmal hier auf der Welt, und leben muss man, wie es auch gehen mag.

Da kommt seine Frau ins Zimmer und erblickt den Gegenstand seiner Beobachtungen. Es flammt in ihrem Auge auf; der letzte Funke einer ausgebrannten Liebe glimmt unter der Asche und nimmt die Form einer vorübergehenden Eifersucht an.

– Wollen wir nicht die Kinder nehmen und in den Tiergarten gehen? fragt sie.

– Um unser Elend auszustellen? Nein, danke!

– Aber hier drinnen ist heiss. Ich werde die Rollgardinen herunterlassen.

– Dann öffne lieber ein Fenster!

Er errät die Gedanken seiner Frau und steht auf, um es selber zu tun. Dort draussen am Rand des Bürgersteigs sitzen seine vier Kleinen, dicht neben Ablaufröhren. Sie haben die Füsse in dem trocknen Rinnstein und spielen mit Apfelsinenschalen, die sie aus dem Strassenkehricht hervorgesucht haben. Er fühlt einen Stich im Herzen und das Schluchzen kommt ihm in den Hals. Aber die Armut hat ihn so abgestumpft, dass er untätig stehen bleibt und die Arme kreuzt.

Plötzlich quellen zwei Schlammströme aus den Röhren hervor, überschwemmen den Rinnstein und begiessen die Füsse der Kinder, die aufschreien, von dem Gestank halb erstickt.

– Zieh die Kinder zum Ausgehen an, aber beeile dich, ruft er, den die herzzerreissende Szene ganz verzagt gemacht hat.

Der Vater schob den Korbwagen, in dem das Kleinste lag, während die Mutter die andern an der Hand führte.

Sie kamen nach dem Klarakirchhof, ihrem gewöhnlichen Zufluchtsort, dessen dunkelstämmige Linden üppig grünten, als sei der Boden von den dort beerdigten Leichen gedüngt.

Es läutete zum Abendgottesdienst. Armenhäuslerinnen gingen in Scharen in die Kirche, um sich auf die Stühle zu setzen, die ihre reichen Eigentümer leer gelassen; die hatten ihre Seele beim Hauptgottesdienst erquickt und schaukelten jetzt auf ihren Equipagen im königlichen Tiergarten. Die Kinder kletterten auf den flachen Gräbern herum, die mit Wappenschilden und Inschriften geschmückt waren.

Die Gatten setzten sich auf eine Bank und stellten den Kinderwagen, in dem das Kleinste lag und an der Flasche sog, neben sich. Halb vom Gras eines nahen Grabes verborgen, gaben sich zwei Hunde beim Klang der heiligen Glocken ihren Frühlingsgefühlen hin.

Ein junges elegantes Ehepaar, das ein kleines in Samt und Seide gekleidetes Mädchen an der Hand führte, kam vorbei. Der arme Reinschreiber hob die Augen zu dem jungen Stutzer und erkannte einen früheren Kameraden aus dem Handelsamt, der ihn aber nicht grüsste. Ein Gefühl bitteren Neides packte ihn so heftig, dass er sich mehr von diesem „unedlen“ Gefühl gedemütigt fühlte als von seiner beklagenswerten Lage. Grollte er dem andern, weil der jetzt eine Stelle bekleidete, nach der er selber gestrebt? Sicher nicht. Aber sein Neid konnte ja die Kehrseite seines Rechtsgefühls sein, und sein Leiden war um so tiefer, weil es von einer ganzen enterbten Klasse geteilt wurde. Er war überzeugt, dass die Armenhäuslerinnen, die das Joch der kommunalen Wohltätigkeit trugen, seine Frau beneideten; und es war ganz sicher, dass viele von diesen Herrschaften, die hier in ihren mit Wappenschilden geschmückten Gräbern ruhten, ihn um seine Kinder beneidet hätten, wenn sie selber gestorben waren, ohne einen Erben für das Majorat zu hinterlassen. Allerdings hat das Leben seine Mängel, aber warum sollen die fetten Bissen denen zufallen, die es schon gut haben? Und wie kommt es, dass der Gewinn immer bei denen bleibt, welche die grosse Lotterie eingerichtet haben? Die Enterbten müssen sich mit der Messe begnügen, nämlich der des Abendgottesdienstes; für sie ist die Moral bestimmt und die Tugenden, die von den andern verachtet werden, denn die Pforten des Himmels springen gegen klingende Bezahlung für sie auf. Aber der gute und gerechte Gott, der die Gaben so schlecht verteilt hat? Besser wäre es in der Tat, ohne einen schlechten Gott zu leben, der obendrein so aufrichtig gewesen war, einzugestehen, „der Wind wehe, wohin er (der Wind) will“; damit habe er ja bekannt, dass er sich nicht mit unseren Angelegenheiten befasse. Aber ohne Kirche kein Trost unter den jetzigen Verhältnissen! Aber warum gerade Trost? Besser, sich so einzurichten, dass man keinen Trost nötig hat. Nicht wahr?

In diesen Gedanken wurde er von seiner ältesten Tochter unterbrochen, die ein Lindenblatt als Sonnenschirm für ihre Puppe haben wollte. Der Vater war kaum auf die Bank gestiegen, um einen Zweig abzubrechen, als ein Schutzmann ihm in barschem Ton zurief, man dürfe die Bäume nicht anrühren. Neue Demütigung! Gleichzeitig ersuchte ihn der Schutzmann, die Kinder nicht auf die Grabsteine steigen zu lassen, denn das sei nach der Kirchhofsordnung verboten.

– Das Beste ist wohl, wir gehen nach Haus, rief der Vater vernichtet aus. Wie viel Mühe man sich um die Toten macht und wie wenig um die Lebenden!

Und sie gingen wieder nach Haus.

Der Mann setzte sich an seine Arbeit. Er hatte das Manuskript einer akademischen Abhandlung über die Überbevölkerung abzuschreiben.

Er konnte nicht anders, als sich für den Inhalt zu interessieren, und las daher das ganze Heft.

Der junge Autor, der zu der sogenannten ethischen oder Damenschule gehörte, predigte gegen das Laster.

– Was für ein Laster? fragte sich der Abschreiber. Durch das wir alle zur Welt kommen? Das bei der Trauung geboten wird durch die Worte: „Vermehret euch und erfüllet die Erde!“

Und der junge Autor schrieb weiter: Ausser der Ehe sei die Vermehrung ein unheilvolles Laster, weil die Kinder, die nicht die nötige Pflege erhalten, ein trauriges Schicksal haben. In der Ehe dagegen sei es eine Pflicht, seinen Neigungen freien Lauf zu lassen. Dafür spreche unter anderm der Umstand, dass das Gesetz sogar das Ei des Weibes schützt, und zwar mit Recht.

– Es gibt also, dachte der Abschreiber, eine Vorsehung für eheliche, aber keine für uneheliche Kinder. Oh dieser junge Philosoph! Und das Gesetz, das das Ei schützt! Mit welchem Recht machen sich denn die kleinen mikroskopischen Dinger bei jedem Mondwechsel los? Man müsste wirklich die Polizei holen, um über die heiligen Eier zu wachen!

Alle diese Albernheiten musste er mit seiner schönsten Handschrift ins Reine schreiben.

Eine solche Menge Moral, aber nicht ein Wort der Aufklärung.

Der moralische oder richtiger der unmoralische Sinn des Gedankengangs war: Es gibt einen Gott, der alle in der Ehe geborenen Kinder nährt und kleidet; einen Gott im Himmel, wahrscheinlich, aber auf der Erde? Allerdings soll er einmal auf die Erde niedergestiegen sein, um sich kreuzigen zu lassen, nachdem er sich vergebens bemüht, Ordnung in die verworrenen Geschäfte der Menschheit zu bringen: er wurde nicht damit fertig.

Zum Schluss schrie sich der Philosoph heiser, der reichliche Vorrat an Weizen sei ein unwiderlegbarer Beweis, dass es keine Überbevölkerung gebe; dass die Lehre des Malthus falsch sei, und dazu verbrecherisch, sowohl vor dem bürgerlichen Gesetz wie vor dem moralischen.

Und der arme Familienvater, der seit Jahren kein Weizenbrötchen gekostet hatte, stand auf, um die Kinder anzutreiben, Roggenmehlgrütze und bläuliche Milch hinunter zu würgen, mit denen sie den Magen füllten, ohne sich satt zu fühlen.

Es war trostlos, nicht weil Wassergrütze das Schlimmste ist, sondern weil der alte prächtige Humor verschwunden war; dieser Zauberer, der den dunkeln Roggen in goldenen Weizen zu verwandeln weiss; die allmächtige Liebe, die ihr Füllhorn ausschüttet, war nicht mehr da. Die Kinder waren Lasten geworden, und die geliebte Frau ein versteckter Feind, der heimlich verachtete und verachtet wurde.

Und die Quelle zu all diesem Unglück? Der Mangel an Brot! Und doch stürzen jetzt die grossen Handelshäuser der neuen Welt unter der Last des allzu reichlichen Vorrats von Getreide zusammen! Eine Welt der Widersprüche! Die Art und Weise, nach der das Brot verteilt ist, muss also mangelhaft sein.

Die Wissenschaft, welche die Stelle der Religion eingenommen hat, vermag keine Antwort darauf zu geben; sie stellt nur die Tatsache fest und lässt die Kinder vor Hunger sterben und die Eltern vor Durst.

Zwangsehe

Sein Vater starb ihm früh, und seitdem war er in den Händen einer Mutter, zweier Schwestern und einiger Tanten. Einen Bruder hatte er nicht. Sie lebten auf einem Besitztum in der schwedischen Provinz Södermanland und hatten keine Nachbarn, mit denen sie verkehren „konnten.“ Im Alter von sieben Jahren erhielt er, zusammen mit den Schwestern, eine Gouvernante, und gleichzeitig wurde eine Cousine ins Haus aufgenommen.

Er schlief im selben Zimmer wie die Schwestern, spielte deren Spiele, badete mit ihnen, und niemand dachte daran, dass er von anderem Geschlecht sei als die Mädchen. Die älteren Schwestern nahmen ihn auch bald in die Hand und wurden seine Schulmeister und Tyrannen.

Er war ein recht kräftiger Junge, aber der Zärtlichkeit so vieler überlassen, wurde er allmählich verzärtelt und hilflos.

Einmal machte er einen Versuch, mit den Jungen der Instleute zu spielen. Sie gingen in den Wald, kletterten auf die Bäume, plünderten die Vogelnester, warfen Steine nach Eichhörnchen. Frithiof war glücklich, als sei er aus einem Gefängnis entlassen, und kam nicht zum Mittagessen zurück. Die Jungen pflückten Blaubeeren und badeten im See. Es war der erste Tag seines Lebens, an dem er lustig gewesen.

Als er gegen Abend zurückkam, war grosse Aufregung im Hause. Die Mutter war unruhig und betrübt, zeigte aber ohne Verstellung ihre Freude, ihn wieder zu Hause zu haben; doch die unverheiratete Tante Agathe, die ältere Schwester der Mutter, die Herrin im Hause war, wütete. Es sei ein Verbrechen, wenn man ihn nicht züchtige. Frithiof begriff nicht, worin das Verbrechen bestand, aber Tante sagte, Ungehorsam sei ein Verbrechen. Frithiof wendete ein, man habe ihm nie verboten, mit den Kindern der Instleute zu spielen. Das habe man allerdings nicht, denn das sei überhaupt nicht in Frage gekommen. Die Tante blieb bei ihrem Vorsatz und vor den Augen der Mutter nahm sie den Jungen auf ihr Zimmer, um ihn durchzuhauen. Er war acht Jahre alt und schon ziemlich gross.

Als die Tante sein Hosenbund anfasste, um ihm die Hosen abzuknöpfen, überlief ihn ein Fieberschauer; der Atem blieb ihm im Hals stecken und das Herz klopfte. Er schrie nicht, aber er starrte entsetzt die alte Frau an, die ihn beinahe liebkosend hat, gehorsam zu sein und keinen Widerstand zu leisten. Als sie aber seinen Körper entblösste, überfiel ihn ein Gefühl von Scham und Wut: er sprang vom Sofa auf und schlug um sich. Etwas Unreines, etwas Dunkles, Widriges schien von dieser Frau auszugehen, und die Scham seines Geschlechts erhob sich wie gegen einen Feind.

Aber die Tante wurde wütend, warf sich über ihn, legte ihn über einen Stuhl, riss sein Hemd auf und schlug ihn. Zuerst schrie er aus Wut, denn den Schmerz fühlte er nicht, strampelte konvulsivisch mit den Füssen, um loszukommen; dann wurde er plötzlich still und schwieg.

Als die Alte aufhörte, blieb er liegen.

– Steh auf, sagte sie mit gebrochener Stimme.

Er stand auf und sah sie an. Sie war blass auf der einen Backe und rot auf der andern. Die Augen leuchteten von einem dunkeln Feuer und sie zitterte am ganzen Körper. Der Junge sah sie an, als sei sie ein böses Tier, und lächelte überlegen, als fühle er sich in der Verachtung, die sie ihm einflösste, hoch über ihr. Dann schleuderte er ihr ein einziges trotziges verächtliches „Teufelin“ ins Gesicht, einen Ausdruck, den er eben von den Kindern der Instleute gelernt hatte. Dann nahm er seine Kleider und lief hinaus; hinunter zur Mutter, die weinend im Esssaal sass.

Er wollte sich bei ihr beklagen, sie wagte ihn aber nicht zu trösten. Da ging er in die Küche hinunter, wo die Mädchen ihm Rosinen zu essen gaben.

Von diesem Tag an durfte er nicht mehr im Zimmer der Schwestern schlafen, sondern wurde von der Mutter mit in ihre Schlafstube genommen. Er fand es dort dumpf und langweilig, und wenn die Mutter in ihrer Zärtlichkeit mehrere Male in der Nacht aufstand, um ihn zuzudecken, wurde er in seinem Schlaf gestört und antwortete zornig auf ihre Fragen, ob es ihm gut gehe.

Er durfte niemals ausgehen, ohne dass ihn jemand anzog, und er hatte so viele wollene Halstücher, dass er nicht wusste, welches er nehmen sollte. Schlich er sich hinaus, so wurde sofort durchs Fenster gerufen, er solle hinaufkommen und etwas überziehen.

Die Spiele der Schwestern fingen an ihn zu quälen. Federballwerfen genügte seinen starken Armen nicht mehr: die wollten Steine werfen. Bei dem kleinlichen Krocketspiel, das weder Muskelanstrengung noch Verstand verlangt, sich herumzuzanken, reizte seine Nerven.

Dann hatte er die Gouvernante auf dem Nacken. Sie sprach ihn französisch an, während er schwedisch antwortete. Ein dumpfer Hass gegen das ganze Dasein und seine Umgebung begann zu keimen.

Er sah auch bald eine Geringschätzung in der ungenierten Art, die man sich in seiner Gegenwart erlaubte, und alle wurden ihm schliesslich zuwider. Die Einzige, die auf seine Gefühle etwas Rücksicht nahm, war die Mutter; so hatte sie einen grossen Schirm um sein Bett stellen lassen.

Seine Zuflucht wurde schliesslich die Küche und die Mädchenstube; dort fand er immer Zustimmung. Zuweilen bekam er dort jedoch Dinge zu hören, welche die Neugier eines Knaben hätten reizen können, aber für ihn gab es keine Geheimnisse. So war er einmal zufällig an die Badestelle der Mädchen gekommen. Die Gouvernante hatte geschrieen, aber er verstand nicht warum und fing mit den Mädchen, die nackt im Wasser standen oder lagen, zu plaudern an. Ihre Nacktheit machte gar keinen Eindruck auf ihn.

Er wuchs auf und wurde ein Jüngling. Nun musste man einen Inspektor halten, der ihn die Landwirtschaft lehrte, denn er war ja dazu bestimmt, einmal das Gut zu übernehmen. Man nahm einen alten Mann, der gläubig gesinnt war. Dessen Gesellschaft war nicht gerade dazu angetan, den Jüngling zu beleben, aber sie war immer noch besser, als er sie bisher gehabt hatte. Er sah die Dinge von neuen Gesichtspunkten und war tätig. Aber der Inspektor erhielt täglich und stündlich so viel Instruktionen von den Damen, dass er schliesslich deren Sprachrohr wurde.

Mit sechzehn Jahren wurde Frithiof konfirmiert, bekam eine goldene Uhr und durfte jetzt reiten; aber mit der Flinte in den Wald zu gehen, was sein Traum war, das erlaubte man ihm nicht. Er hatte allerdings keine Schläge mehr von seiner Erzfeindin zu fürchten, aber er hatte Angst vor den Tränen der Mutter. Er blieb immer das Kind, und die Gewohnheit, das Urteil der andern zu respektieren, konnte er nicht los werden.

 

Frithiof wuchs heran und wurde zwanzig Jahre alt. Eines Tages stand er in der Küche und sah zu, wie die Köchin Barsche schuppte. Sie war ein junges hübsches Mädchen von feiner Gesichtsfarbe. Er fing an mit ihr zu scherzen, steckte ihr schliesslich seine Hand in den Rücken.

– Seien Sie doch artig, Herr Frithiof, sagte das Mädchen.

– Ich bin ja artig, sagte er und wurde zudringlich.

– Wenn die gnädige Frau kommt!

– Nun und?

In diesem Augenblick ging seine Mutter an der offenen Küchentür vorbei, bog aber sofort ab und ging hinaus auf den Hof.

Frithiof fand die Situation peinlich und verschwand auf sein Zimmer.

Sie hatten einen neuen Gärtner bekommen. In ihrer Weisheit hatten die Damen einen verheirateten genommen, damit er nicht hinter den Mägden herlaufe. Das Unglück aber wollte, dass der Gärtner so lange verheiratet gewesen war, dass die Frucht seiner Ehe in der lieblichen Gestalt einer Tochter hatte reifen können.

Herr Frithiof entdeckte bald die schöne Blume unter den andern Rosen des Gartens. Alles, was sich bei ihm an Wohlwollen gegen die Hälfte der Menschheit, zu der er nicht gehörte, angesammelt hatte, begann sich jetzt diesem jungen Mädchen gegenüber, das verhältnismässig fein gewachsen war und etwas Erziehung erhalten hatte, zu äussern.

Er ging oft in den Garten und plauderte lange mit ihr, wenn sie an einem Beet arbeitete oder Blumen pflückte. Sie aber verhielt sich ablehnend gegen ihn; doch wuchs dadurch seine Neigung nur noch mehr.

Eines Tages ritt er durch den Wald und hatte wieder wie gewöhnlich Hallucinationen von ihrer Gestalt, die für ihn die Natur des Vollkommenen angenommen. Er war krank vor Sehnsucht, allein in ihrer Nähe zu sein, ohne fürchten zu müssen, dass jemand darüber unwillig werde. Dieses Glück hatte für seine erhitzte Einbildung so ungeheuerliche Proportionen angenommen, dass er ohne sie nicht mehr leben wollte.

Das Pferd ging Schritt vor Schritt mit losen Zügeln den Pfad dahin, während der Reiter auf seinem Rücken in Gedanken versank. Plötzlich sah er etwas Helles zwischen den Bäumen schimmern, und hervor trat das Mädchen des Gärtners. Herr Frithiof stieg ab und grüsste. Dann gingen sie zusammen weiter und plauderten, während er das Pferd hinter sich herzog. Er sprach in dunkeln Worten von seiner Liebe zu ihr; sie aber wies jeden Antrag zurück.

– Warum sollen wir von dem Unmöglichen sprechen, sagte sie.

– Was ist unmöglich? rief er aus.

– Für mich als armes Mädchen ist es unmöglich, die Frau eines reichen und feinen Herrn zu werden.

Die Bemerkung war richtig, und Herr Frithiof fühlte sich geschlagen. Seine Liebe war grenzenlos, aber er sah keine Möglichkeit, seine Hindin durch die Koppel zu führen, die Haus und Hof bewachte; die würde sie sicher in Stücke reissen.

Nach diesem Gespräch überliess er sich einer stillen Verzweiflung.

Im Herbst zog der Gärtner fort, ohne dass man erfuhr, warum. Herr Frithiof war sechs Wochen lang untröstlich, denn er hatte seine erste und einzige Liebe verloren: nie würde er wieder lieben.

 

So verging der Herbst. Um die Weihnachtszeit liess sich der neue Kreisarzt in der Nachbarschaft nieder. Er hatte erwachsene Kinder, und da die Tanten immer krank waren, fingen sie an mit der Familie zu verkehren. Unter den erwachsenen Kindern befand sich auch ein Mädchen. Es dauerte nicht lange, bis Herr Frithiof sterblich in sie verliebt war. Er schämte sich zuerst, dass er der ersten untreu werde, bekehrte sich aber schnell zu der Ansicht, die Liebe müsse etwas Unpersönliches sein, da sie ihren Gegenstand wechseln könne; es schien eine Vollmacht zu sein, die auf den Inhaber ausgestellt ist.

Sobald diese neue Neigung von seinen Wächterinnen gewittert wurde, bat die Mutter ihren Sohn um ein Gespräch unter vier Augen.

– Du bist jetzt in den Jahren, begann sie, in denen sich ein Mann nach einer Frau umzusehen pflegt.

– Das ist bereits geschehen, liebe Mama, sagte er.

– Ich fürchte, du hast dich übereilt, sagte sie. Das Mädchen, das du gewählt haben willst, besitzt nicht die moralischen Grundsätze, die ein gebildeter Mann verlangen muss.

– Was? Amaliens moralische Grundsätze! Wer hat etwas gegen die zu sagen?

– Ich will nichts Böses von ihr sagen, aber ihr Vater ist, wie du weisst, ein Freidenker ...

– Es freut mich, dass ich mit einem Mann verwandt werde, der frei denkt, ohne auf Interessen Rücksicht zu nehmen.

– Lassen wir ihn; aber, Frithiof, du hast ältere Verpflichtungen.

– Was? Sollte ...

– Ja, du hast mit Luises Herz gespielt ...

– Meinst du die Cousine?

– Ja! Habt ihr euch nicht seit der Kindheit als ein künftiges Paar betrachtet? Glaubst du nicht, dass sie ihre Hoffnung und ihre Zukunft auf dich gesetzt hat?

– Ihr, ihr habt mit uns gespielt, habt uns zusammen gehetzt, nicht ich! antwortete der Sohn.

– Aber denk doch an deine alte Mutter und deine Schwestern, Frithiof. Willst du in dieses Haus, das immer unser aller Heim gewesen ist, ein wildfremdes Mädchen bringen, das das Recht besitzt, über uns zu befehlen.

– Das ist also der Grund! Luise ist zur Herrin auserkoren!

– Niemand ist auserkoren, aber eine Mutter hat immer das Recht, die künftige Frau ihres Sohnes auszuwählen, und niemand kann das so gut wie sie. Zweifelst du an meinen guten Absichten? Sag, kannst du deine eigene Mutter in Verdacht haben, dass sie dir schaden will?

– Nein, das kann ich nicht, aber ich – liebe Luise nicht; ich habe sie gern wie eine Schwester, aber ...

– Lieben? Ach die Liebe ist ein so unbeständiges Ding. Auf die kann man sich nicht verlassen, die verschwindet wieder, aber Freundschaft, Übereinstimmung in Ansichten und Gewohnheiten, gemeinsame Interessen, genaue Bekanntschaft mit einander bilden die beste Garantien für das eheliche Glück. Luise ist ein tüchtiges Mädchen, häuslich und ordentlich, und sie wird dein Heim so glücklich machen, wie du es nur wünschen kannst.

Frithiof sah keine andere Aussicht, für dieses Mal noch loszukommen, als dadurch, dass er um Bedenkzeit bat.

Inzwischen wurden die Damen auf einmal so gesund, dass sie keinen Arzt mehr nötig hatten. Der Doktor machte doch noch einen Besuch, wurde aber wie ein Einbrecher empfangen, der Schlösser und Riegel auskundschaften wollte. Er war ein scharfsichtiger Mann und sah sofort, wie es bestellt war. Frithiof machte einen Gegenbesuch, wurde aber als falscher Angeber aufgenommen. Damit war es aus mit dem Verkehr.

 

Frithiof wurde mündig.

Jetzt begann man Sturm zu laufen. Die Tanten krochen vor ihm und zeigten dem neuen Herrn ihre Unentbehrlichkeit, indem sie ihn wie ein unverständiges Kind behandelten. Die Schwestern zeigten sich mütterlicher als je, und Luise begann Toilette zu machen. Sie schnürte sich und brannte sich das Haar. Sie war durchaus kein hässliches Mädchen, aber sie hatte einen kalten Blick und eine scharfe Zunge.

Für Frithiof war sie gleichgültig, geschlechtslos; er hatte nie das Mädchen in ihr gesehen. Jetzt aber, nachdem die Mutter von ihr gesprochen, fühlte er sich verlegen in ihrer Nähe, besonders da sie zu kleben anfing. Er traf sie überall, auf der Treppe, im Garten, sogar im Stall. Eines Morgens, als er noch zu Bett lag, kam sie auf sein Zimmer, um Stecknadeln zu holen; sie trug einen Frisiermantel und spielte die Schüchterne.

Sie begann ihm widrig zu werden, aber doch beschäftigte sie seine Gedanken.

Inzwischen erneuerte die Mutter ihre Gespräche mit dem Sohn, und Tanten und Schwestern spielten unaufhörlich auf die erwartete Hochzeit an.

Das Leben wurde dem jungen Mann unerträglich. Er sah keinen Ausweg aus diesem Netz. Luise war wohl etwas anderes für ihn geworden als die Schwester und die Kameradin, aber sie war ihm darum nicht lieber geworden; doch indem er an die Möglichkeit einer ehelichen Verbindung dachte, war sie für ihn schliesslich zum Weib geworden, zwar zu einem unsympathischen, aber doch zu einem Weib. Die Heirat bedeutete immerhin eine Veränderung seiner Stellung und vielleicht eine Rettung aus der Knechtschaft. Er bekam im ganzen Kirchspiel kein anderes Mädchen zu sehen, und sie war vielleicht ebenso gut oder ebenso schlecht wie eine andere.

Schliesslich ging er zur Mutter und sagte ihr, unter welchen Bedingungen er sich mit Luise verheiraten wolle: eigener Haushalt im Flügelgebäude und eigener Tisch; auch solle die Mutter für ihn freien, denn das könne er nicht über sich gewinnen.

Der Kompromiss wurde angenommen, und man führte Luise herein, um Frithiofs Umarmung und schüchternen Kuss zu empfangen. Sie weinten alle beide; warum sie weinten, wussten sie nicht; aber sie schämten sich vor einander den ganzen Tag über bis zum Abend.

Dann war alles wie vorher zwischen ihnen, aber die Mütterlichkeit der Tanten und Schwestern kannte jetzt keine Grenzen mehr. Sie richteten den Flügel ein, stellten die Möbel auf, verteilten die Zimmer, bestimmten alles. Frithiof wurde nicht gefragt.

Dann begann man die Hochzeit zu rüsten. Alte Verwandte, die in der Provinz begraben waren, wurden aufgesucht und als Trauzeugen geladen.

Die Hochzeit fand statt.

Am Morgen nach der Hochzeit war Herr Frithiof früh auf den Beinen. Er verliess die Schlafstube so schnell wie möglich, indem er vorgab, eine wichtige Arbeit auf dem Felde verrichten zu müssen. Luise, die noch schläfrig war, hatte nichts dagegen einzuwenden; aber gerade als er gehen wollte, sagte sie:

– Du vergisst doch nicht, dass um elf Uhr Frühstück ist.

Das sagte sie wie einen Befehl.

Er ging in sein Zimmer, zog Jagdrock und Wasserstiefel an und nahm seine Flinte, die er in einem Schrank versteckt hielt. Dann ging er in den Wald.

Es war ein schöner Oktobermorgen mit Rauhreif. Er ging sehr schnell, als fürchte er, zurückgerufen zu werden, oder als fliehe er vor etwas. Die frische Waldluft wirkte wie ein Bad. Er fühlte sich frei, und es war das erste Mal, dass er seine Freiheit benutzte, um mit der Flinte auszugehen. Aber diese körperliche Freiheit war nur vorübergehend. Bisher hatte er wenigstens sein Schlafzimmer für sich gehabt. Über seine Gedanken am Tage und seine Träume bei Nacht hatte er geherrscht. Das war aus. Besonders quälte ihn der Gedanke, das gemeinsame Schlafzimmer sei etwas Garstiges. Jede Scham wurde wie eine Maske abgeworfen, jedes Feingefühl abgelegt, jede Illusion von dem „hohen Ursprung“ des Menschen zerstört; nur das Tier vor sich zu haben, war zu viel für ihn, da er ja von Idealisten erzogen war. Nie hätte er geglaubt, dass die Heuchelei des Zusammenlebens so gross sein könne, und dass nur die Furcht vor den Folgen der Kern des unsagbar Weiblichen sei. Wenn es aber die Tochter des Arztes oder des Gärtners gewesen wäre? Dann wäre die Einsamkeit mit ihr eine Seligkeit gewesen, während sie jetzt bedrückte und unschön war; dann hätte die rohe Begierde, eine Neugier und ein Bedürfnis zu befriedigen, die Form eines Rausches angenommen, der wie der Rausch mehr seelisch als körperlich war.

Er streifte durch den Wald, ohne ein Ziel zu haben, ohne zu wissen, was er schiessen solle; er empfand nur eine dunkle Lust, die Flinte knallen zu hören und ein Tier fallen zu sehen; aber er erblickte nichts. Die Vögel waren schon fortgezogen. Nur ein Eichhörnchen hüpfte auf einem Kiefernstamm herum und guckte ihn mit seinen Glotzaugen an. Er warf die Flinte an die Backe und drückte ab; aber das schnelle Tier war schon auf der andern Seite des Stammes, als die Hagelkörner einschlugen. Doch machte der Knall einen angenehmen Eindruck auf seine Nerven.

Er verliess den Fusssteig und ging in den Niederwald. Wo er einen Pilz aufragen sah, trat er ihn entzwei. Er war in einer rechten Zerstörungslaune. Er sehnte sich danach, eine Schlange zu sehen, um sie zu zertreten oder einen Schuss auf sie abzugeben.

Dann aber überkam ihn der Gedanke, dass er heim müsse, und dass es sein Hochzeitsmorgen sei. Die Vorstellung, welche zudringlichen Blicke er auszuhalten haben werde, wirkte so stark auf ihn, als solle er für ein Verbrechen entlarvt werden, ein Verbrechen gegen die Sitte und, was mehr war, gegen die Natur. Er wäre am liebsten aus der Welt geflohen, aber wie sollte er das anfangen?

Schliesslich wurden die Gedanken müde, immer dieselben Kreise zu ziehen, und er hatte zuletzt nur noch die eine Empfindung, dass er hungrig sei. Er ging daher nach Haus, um Frühstück zu essen.

Als er auf den Hof kam, standen alle Hochzeitsgäste, die übernachtet hatten, auf der Treppe des Vorbaus und begrüssten ihn mit scherzhaften Hurrarufen. Mit unsicheren Schritten ging er über den Hof und hörte mit schlecht verborgenen Gefühlen die scherzhaften Fragen der Gäste nach seinem Befinden an. Er riss sich von ihnen los und eilte ins Haus, ohne zu bemerken, dass seine Frau in der Gruppe stand und darauf wartete, dass er sie begrüsse.

Am Frühstückstisch machte er eine Folter durch, die er glaubte nie wieder vergessen zu können: die Stichelreden der Gäste stachen ihn und die Liebkosungen seiner Frau brannten ihn. Sein Freudentag war der widrigste, den er erlebt hatte.

 

Als einige Monate vergangen waren, hatte sich die junge Frau als Herrin im Hause eingerichtet, unter dem Beistand von Tanten und Schwestern. Frithiof blieb immer der Jüngste und Unverständigste. Man fragte ihn um Rat, befolgte seine Ratschläge aber nicht; man sorgte immer noch für ihn, als sei er noch ein Kind. Dass er mit seiner Frau allein ass, erwies sich bald als unmöglich, denn er schwieg eigensinnig; Luise hielt es nicht aus, sondern musste einen Blitzableiter haben: eine Schwester zog in den Flügel.

Mehrere Male machte Frithiof den Versuch, sich zu emanzipieren, wurde aber immer von der Übermacht zurückgeschlagen; ihrer waren zu viele, und sie redeten so lange auf ihn ein, bis er in den Wald floh.

Die Abende wurden jetzt ein Schrecken für ihn. Er hasste die Schlafstube, ging dahin wie zum Richtplatz. Er wurde scheu und blieb für sich allein.

Sie waren ein Jahr verheiratet gewesen, ohne ein Kind zu bekommen, als die Mutter ihn eines Tages beiseite nahm, um mit ihm zu sprechen.

– Würdest du nicht erfreut sein, wenn du einen Sohn bekämst, fragte sie.

– Gewiss, antwortete er.

– Du bist nicht nett gegen deine Frau, sagte die Mutter so milde wie möglich.

Da brauste er auf.

– Was? Was? Habt ihr etwas auszusetzen? Verlangt man, dass ich tagewerken soll? Hm! Luise ist ganz anders, als ihr glaubt! Aber wen geht das etwas an? Formuliere die Anklage so, dass ich darauf antworten kann.

Nein, dazu hatte die Mutter keine Lust!

Er entdeckte jetzt in seiner Einsamkeit, dass der Inspektor ein junger Mann sei, der gern Karten spielte und gern trank. Er suchte dessen Gesellschaft und vertrieb sich die Abende auf dessen Zimmer; kam spät in die Schlafstube, so spät wie möglich.

Eines Abends lag seine Frau noch wach und wartete auf ihn.

– Wo bist du gewesen? fragte sie scharf und bestimmt.

– Das geht dich nichts an, antwortete er.

– Es ist nicht angenehm, auf die Weise verheiratet zu sein. Wenn wir wenigstens ein Kind hätten.

– Das ist nicht meine Schuld!

– Meine auch nicht.

Und nun entspann sich ein Streit darüber, wessen Schuld es sei, und der dauerte zwei Jahre.

Da keiner den einfachen Ausweg einschlagen wollte, den sachverständigen Arzt zu fragen, kam es zu dem gewöhnlichen Ergebnis: der Mann wurde lächerlich und die Frau tragisch. Eine kinderlose Frau sei heilig, denn „Gottes“ Fluch ruhe aus unbekannten Gründen auf ihr. Dass „Gott“ sich so weit herablassen werde, einen Mann in den Bann zu tun, das konnten sich die Frauen nicht vorstellen.

Aber Herr Frithiof fühlte deutlich, dass ein Fluch auf seinem Dasein lag, denn es war düster und ungesund. Die Natur hatte zwei Geschlechter geschaffen, die einander unter gewissen Verhältnissen als Freunde suchen, aber unter andern Verhältnissen als Feinde auftreten. Er hatte das andere Geschlecht als Feind getroffen, und zwar als übermächtigen Feind.

Eines Tages fragte eine der Schwestern, während sie mit einer Näharbeit beschäftigt war, wie zufällig Frithiof, was das Wort Kapaun bedeute.

Er antwortete nicht, sah sie scharf an, fand aber, dass sie nicht Bescheid wusste, sondern wahrscheinlich gelauscht hatte und ihre Neugier nicht unterdrücken konnte.

Jetzt war sein Leben vergiftet. Er war lächerlich. Und er wurde misstrauisch. Alles, was er hörte und sah, brachte er in Zusammenhang mit dieser Beschuldigung. Schliesslich geriet er ausser sich und verführte ein Dienstmädchen.

Mit dem erwünschten Erfolg! Er wurde Vater!

Jetzt aber war Luise eine Märtyrerin und Frithiof ein Elender. An das letzte kehrte er sich nicht, denn seine Ehre war gerettet; es galt nämlich für eine Ehre, ohne Gebrechen zu sein, nicht für ein Glück.

Aber durch dieses Ereignis war Luises Eifersucht geweckt, und, seltsam, eine Art Liebe zu ihrem Mann begann zu erwachen. Eine Liebe, die ihm recht lästig wurde, denn sie äusserte sich in einem unermüdlichen Bewachen und einer nervösen Zudringlichkeit; zuweilen mit einem mütterlichen Wohlwollen, das keine Grenzen kannte. Sie wollte nachsehen, ob die Flinte geladen sei; sie bat ihn auf Knien, sich beim Ausgehen warm anzuziehen ... Im Hause war sie pedantisch, räumte und staubte den ganzen Tag; liess jeden Sonnabend scheuern, klopfte Teppiche und lüftete Kleider. Er hatte keine Ruhe mehr und konnte nie sicher sein, dass man ihn nicht aus seinem Zimmer jagte, um es reinzumachen.

Seine Arbeit füllte seine Zeit nicht aus, denn der Hof wurde von den Frauen verwaltet. Er begann Landwirtschaft zu studieren und wollte Verbesserungen einführen, wurde aber daran gehindert. Als er allein zu herrschen versuchte, machte man ihm jede Tätigkeit unmöglich.

Schliesslich wurde er müde. Er hatte längst zu sprechen aufgehört, weil er immer sicher war, dass man ihm widersprach. Durch Mangel an gleichdenkenden Kameraden und Unglücksgenossen wurde sein Verstand allmählich stumpf; sein Nervensystem war ruiniert; er vernachlässigte sein Aussehen und begann zu trinken.

Bald war er kaum noch zu Haus. Oft lag er betrunken im Gasthaus oder bei Bauern. Er trank mit jedem und ohne aufzuhören. Es war ihm eine Linderung, sein Gehirn durch Alkohol in Arbeit zu setzen, und dann konnte er sprechen. Es war schwer zu entscheiden, ob er trank, um mit jemand sprechen zu können, der nicht widersprach; oder ob er trank, um zu trinken.

Um sich Geld zu schaffen, verkaufte er an die Bauern heimlich Vorrechte oder Getreide, denn die Kassen wurden von den Frauen verwaltet. Schliesslich brach er in seine eigene Kasse ein und stahl.

Man hatte jetzt immer einen kirchlich gesinnten Inspektor, denn der letzte war wegen Trunksucht verabschiedet. Als man endlich, mit Hilfe des Pastors, so weit gekommen war, dass dem Gastwirt der Verkauf von Alkohol verboten wurde, begann Herr Frithiof mit den Knechten zu trinken. Skandal folgte auf Skandal.

Herr Frithiof wurde schliesslich ein ausgebildeter Trinker, der die Fallsucht bekam, wenn man ihm nicht etwas Starkes zu trinken gab.

Schliesslich musste er in eine Anstalt gebracht werden, um dort als unheilbar zu bleiben.

In hellen Zwischenstunden, wenn er sein Leben überschauen konnte, empfand er ein tiefes Mitleid mit allen jungen Mädchen, die an ungeliebte Männer verheiratet werden; er fühlte es um so tiefer, als er den ganzen Fluch, den die Vergewaltigung der Natur zur Folge hat, am eigenen Leibe erfahren hatte; und er war doch nur ein Mann.

Er suchte die Ursache zu seinem Unglück in der Familie als wirtschaftlicher Einrichtung; die verhindert ja, dass das Kind zur rechten Zeit für ein selbständiges Leben als Individuum frei wird.

Seine Frau klagte er niemals an, denn sie war wohl ebenso unglücklich wie er, ein Opfer derselben Missverhältnisse, die man mit dem Namen Gesetz ehrt.

Die verbrecherische Natur

Der Kutter ging vor halbem Wind durch die letzten Schären des Stockholmer Inselmeeres, und das Meer öffnete sich in Nachmittagsbeleuchtung.

Der Doktor suchte nach Worten, um sein Entzücken darüber auszudrücken, denn er war im Innern des Landes geboren und hatte das Meer nur einige Male von dem Deck eines Dampfers gesehen.

Nachdem der Leutnant das Steuerruder umgelegt und Kurs auf den Leuchtturm von Landsort genommen, befahl er Punsch und Zigarren.

Die Einsamkeit, die Stille, der Mangel an Gegenständen, auf denen das Auge haften konnte, stimmte den Sinn mitteilsam, und trotzdem die beiden Jugendfreunde bereits drei Stunden von alten und neuen Dingen gesprochen, fand sich immer wieder neuer Stoff zu neuen Gesprächen.

– Es muss doch herrlich sein, auf dem Meer leben zu können, sagte der Doktor und liess das Auge rings um den Horizont schweifen.

– Ja, in guter Gesellschaft, wenn man sein eigener Herr ist, sagte der Leutnant. Aber im Dienst an Bord, das ist etwas anderes! Erstens ist man eingeschlossen; das Schiff ist ein Käfig, merk dir das, und der Horizont wird eng, wenn du dich an ihn gewöhnt hast; der blaue Rand, hinter dem man etwas träumt, wenn man jung ist, wird eine graue Steinmauer. Denke dir, du seist in einem Käfig auf dem eingeschlossenen Hof eines Gefängnisses. Und noch eins: hast du einen Unfreund an Bord, so merkst du, dass du lebst.

– Es ist doch jedenfalls ein gesundes Leben.

– Gesund? Das sieht so aus, aber die Gedanken werden nicht gesund, wenn das Gehirn keine Eindrücke von aussen empfängt; und immer auf das blosse Nichts sehen, macht auf die Dauer stumpfsinnig. Aber es gibt noch andere Schattenseiten im Leben des Seemannes, die durchaus nicht gesund sind.

Das Gesicht des Leutnants wurde finster, und er sah erst nach, ob die Leute auch so weit entfernt waren, dass sie nicht lauschen konnten.

– Bedenke doch, es ist das vom andern Geschlecht abgesonderte Leben des Mönches und des Gefangenen.

– Ihr lebt schön abgesondert, wenn ihr an Land kommt, fiel der Doktor ein.

– Aber ehe man an Land kommt! Einen Monat, zwei Monate auf See! In halber Untätigkeit. Die Gedanken suchen ihre eigenen Wege, der Wille herrscht auf eigene Faust, kriecht über Rechtsgefühl, springt über Begriffe von Moral, Ehre und dergleichen. Man hat schon recht seltsame Dinge auf See gesehen.

– Ich habe allerdings gehört, dass die Mannschaft es toll treiben kann, sagte der Doktor.

– Es ist schade um die Verheirateten! Dieses Gedicht von der Gattin des Seemanns, die trauernd am Fenster sitzt, ist nur ein Gedicht. Aber der Mann, der verheiratete Mann, der beschmutzt sich nicht gern, wenn er an Land geht; ein Vergnügen hat er nicht für sein Geld! Gewöhnlich ist die Frau längst getröstet, wenn der Mann heimkehrt! Aber es gibt andere Seiten, Nachtseiten, wie man sie nennt, diese Ausbrüche der sich rächenden Natur, die uns unheimlich vorkommen, weil wir sie zuerst nicht erklären können; für die der Mensch bestraft wird, trotzdem er nur das Opfer ist.

– So, ihr habt das auch an Bord? Man erfährt so wenig davon, trotzdem es eine der merkwürdigsten Erscheinungen ist, die es zu allen Zeiten gegeben hat.

– Du hältst es also nicht für ein Verbrechen, fragte der Leutnant mit einem gewissen Eifer und zog an seiner Zigarre.

– Ein Verbrechen? Was ist ein Verbrechen? Was vor Staatsanwalt und Gericht kommt. Von der Natur kann es ein Verbrechen sein, wie in den Fällen, in denen das Geschlecht bis lange nach der Geburt unentschieden bleibt; das kann man aus den Anzeigen über Namensänderungen sehen, die zuweilen in den Zeitungen stehen. Die Natur hat Launen und die Kultur hilft dabei, aber die Menschen sollten heute so aufgeklärt sein, dass sie Gebrechen nicht bestrafen.

– So, das sagst du? Es freut mich, einmal ein wahres Wort in dem allgemeinen Geheul zu hören.

– In Frankreich hat man schon in der Kammer beantragt, den Paragraph, der das vermeintliche Verbrechen bestraft, zu streichen.

– Wirklich? Und hier laufen sie wie Aussätzige herum, werden von einer ewigen Unruhe verzehrt, dass sie verdächtigt oder entdeckt werden. Ich will einen Fall erzählen, den ich mit eigenen Augen gesehen habe. Dann magst du urteilen, ob es ein Laster, eine Entartung oder ganz einfach eine Erscheinung ist, deren Gründe wir nicht kennen.

– Es ist mir gleichgültig, wie man es nennt; eine Berufskrankheit bei Mönchen und Seeleuten; die Erscheinung ist ebenso interessant wie eine menschliche Frucht, welche die Natur mit einem Kalbskopf oder drei Armen ausgestattet hat.

– Etwas merkwürdiger ist es doch wohl, besonders wenn sie in seelischer Form auftritt und alle Symptome zeigt, die bei einer unschuldigen Schwärmerei zwischen Mann und Weib vorkommen.

– Bei einer unschuldigen? Hm!

– Ja, du, unschuldig, betonte der Leutnant. Ich weiss, dass ein solches Verhältnis unschuldig sein kann.

– Ja, eine Zeit lang! Du darfst nicht, und sie wagt nicht! Das kennen wir! Aber erzähle deine Geschichte.

Sie nippten am Punsch und steckten neue Zigarren an.

– Weisst du, was der Chef einer Fregatte ist? begann der Leutnant und legte die Ruderpinne ins Hackbrett. Das ist ein Porzellangott. Er ist da, aber er zeigt sich nicht. Er hat nicht den höchsten Befehl, denn den hat der Sekond, aber er steht über dem höchsten Befehl. Seeleute pflegen den Schiffer den „Alten“ zu nennen, ganz wie die Bauern vom Donner sprechen und „Gevatter“ sagen. Der Sekond ist der „Alte“ auf einem Kriegsschiff; für den Chef hat man keinen Namen. Er sitzt eingeschlossen in seiner Kajüte, spricht nur mit dem Sekond; isst allein, bis auf einen Tag in der Woche, an dem er die Offiziere an seinen Tisch ladet, und einen zweiten Tag, an dem er sich von den Offizieren einladen lässt. Er tadelt nie, belohnt nie, kommandiert nie. Was er tut, weiss nur der Sekond. Kommt er auf Deck, so geht er nie über den Besan hinaus.

Das Schiff ist die vollkommenste aller Gemeinden, die in der Organisation tausend Jahre hinter der Zeit zurückbleibt! Sie würde unvollkommen sein, wenn Frauen dabei wären.

Meine erste Fahrt machte ich als Kadett auf der Fregatte Thor.

Das Leben war nicht so, wie es sich der Schüler geträumt, als er voll Neid auf die kokette Jacke und das hübsche Seitengewehr der Seekadetten sah. Es war etwas ganz anderes; etwas sehr Rohes und sehr Hässliches; vor allem sehr Unpoetisches.

Eines Tages hatte ich die Wache und stand am Steuerrad, also auf einem sehr verantwortungsvollen Posten; ich sah starr voraus durch Taue und Takelung über die Mannschaft auf Deck hinweg; versuchte die Gedanken zusammen zu halten, indem ich sie nur auf den Kurs richtete. Aber teils unruhig über die wichtige Aufgabe, da ich die ganze Bevölkerung des Schiffes in meiner Hand hatte, teils nervös infolge eines unbestimmten Gefühls, dass jemand seine Augen auf mich richte, vergass ich mich. Die Talje knirschte, das Bugspriet gierte und es begann im Jager lebendig zu werden. Da rief der Flaggschiffer, der an meiner Seite stand:

– Festhalten!

Ich fühlte, wie das Rad meinen Händen entrissen wurde, während ich zugleich einen Stoss bekam, dass ich aufs Deck flog.

Ich taumelte zur Seite wie ein hingeworfener Handschuh und stand zu meiner grossen Bestürzung unmittelbar vor den Zehen keines Geringeren als meines Chefs. Ich sah in ein gelbgraues Gesicht, das dem eines reichen Grosshändlers glich. Der Mund war scharf geschnitten und von zwei schrägen Zügen eingefasst, die ihm einen boshaften Ausdruck gaben, der jedoch von einem hellen Backenbart gemildert wurde. Er sah aus, als wolle er mich in die See werfen, aber er schwieg. Er schien sich zu fragen, ob er sich so weit herablassen könne, dass er mich Würmchen ansprach.

Schliesslich erweichten sich die strengen Züge, und er sah mich an, als sei ich ein kleines Kind.

– Wie heissest du, Kadett? fragte er.

Ich nannte meinen Namen.

– Und dein Vater ist?

– Tot, antwortete ich. Aber er war Oberstleutnant bei den Pionieren.

– Ich habe deinen Vater gekannt; wir waren Jugendfreunde, und ich schätzte ihn sehr. Geh auf deinen Posten zurück und halt die Gedanken beisammen.

Ich trat wieder ans Rad und tat mein Äusserstes, um aufmerksam zu sein. Aber der Chef ging auf und ab, und ich fühlte, wie er mich ansah.

Als die Wache zu Ende war und ich in die Kadettenmesse hinunter kam, wurde ich von den Kameraden umringt und gefragt, was der Chef gesagt habe.

Als sie hörten, dass er meinen Vater gekannt habe, sahen die Jüngeren mit einer gewissen Achtung zu mir auf; aber die Älteren sahen arglistig aus, ich konnte nicht verstehen, warum.

Einige Tage später sassen wir, einige Kameraden und ich, auf Halbdeck und splissten Taue. Wir schwatzten über alles Mögliche. Ich aber, der ich immer ein sehr nervöses Temperament gehabt habe, so empfindlich wie eine Kompassnadel, empfand eine gewisse Unruhe, als ob jemand mich fixiere. Ich drehte mich mehrere Male um, um nachzusehen, wessen Augen mich so eigensinnig und energisch verfolgen könnten. Schliesslich blieben meine Blicke auf einem kleinen runden Fenster haften, das zu der äusseren Kajüte des Chefs gehörte, und da sah ich die beiden schrägen Falten um seinen Mund, nicht mehr, die Augen hatte er hinter der Gardine verborgen. Das beunruhigte mich, ohne dass ich hätte sagen können, warum.

Zwei Tage später erhielt ich abends den Befehl, mich in der Kajüte des Chefs einzufinden. Es war ein elegant möblierter Raum mit Büchergestellen, Gemälden, Photographien und einem Orgelharmonium. Drinnen beim Chef sass der Sekond. Er hielt seine Mütze in der Hand und sah verlegen aus.

– Herr Korvettenkapitän, begann der Chef mit einem unnatürlich geläufigen Ton; dieser junge Mann ist der Sohn meines verstorbenen Jugendfreundes, der mir einmal einen unschätzbaren Dienst geleistet hat. Ich fühle mich dem edlen Mann verpflichtet und will deshalb seinen Jungen etwas in die Hand nehmen. Ich werde seine Erziehung leiten, solange er mit mir an Bord ist.

– Willst du mein Schüler werden? wendete er sich zu mir.

Ich war von dieser grossen Gunst, die mir der Freund meines verstorbenen Vaters anbot, so verwirrt, dass ich nur einige unverständliche Worte der Dankbarkeit stammeln konnte.

Er lud mich zum Sitzen ein, und der Sekond bekam einen Wink, dass die Audienz aus sei.

Wir waren allein. Ich weiss nicht, was in seiner Art war, das mich bange machte. Es war nicht der Chef, das Götzenbild, sondern es war ein anderer. Sein Benehmen war verlegen und seine Sprache gezwungen. Auch begegnete er meinen Blicken anfangs nicht.

– Bist du für Mathematik begabt, mein Junge? begann er.

– Nicht besonders, antwortete ich.

– Aber du kannst Gleichungen zweiten Grades lösen?

– Ja, das kann ich ganz gut.

– Dann wollen wir zu den Logarithmen übergehen. Siehst du, ein Seemann ohne Logarithmen, das ist ein Fahrzeug ohne Kompass.

Er stand auf und holte die Logarithmentafel. Schob einen Stuhl an den Tisch heran und griff zu Papier und Feder.

Nachdem er eine Weile über Charakteristik und Mantisse, die er, wie ich später sah, verwechselte, gesprochen hatte, legte er die Feder fort.

– Nun, wie gefällt es dir an Bord?

– Gut, Herr Admiral, antwortete ich.

– Und die Kameraden?

– Von denen spricht man nicht, entschlüpfte es mir, ehe ich hatte einsehen können, welche Zurechtweisung die Antwort enthielt.

– Das ist gut geantwortet, mein Junge, sagte er und sah mich an mit einer Miene, die ältere Leute jüngeren zeigen, wenn die sich eine Freiheit herausnehmen.

– Willst du ein Glas Punsch haben? fragte er; es ist hier etwas feucht.

Nein zu antworten, war nicht möglich, da ich nicht Temperenzler bin. Aber im selben Augenblick überfiel mich ein Gefühl der Furcht: Wenn nun jemand hereinkommt und den Chef mit dem Kadetten trinken sieht! Die Situation war peinlich. Hast du schon empfunden, wie man sich für einen andern schämt? Um ihn war mir bange!

Er öffnete eine Klappe und holte Gläser und eine Karaffe hervor, die er in seine Kabine trug.

– Tritt näher, sagte er.

Meine Unruhe stieg noch mehr; die ganze Situation war so falsch, und der Abgott fiel, fiel unrettbar.

In der Kabine setzte er sich mir gegenüber und sah mich an, wie der Riese, ehe er den Däumling fressen wollte.

– Du bist ein guter Junge, sagte er, indem er (jedoch ohne anzustossen) sein Glas austrank, und dein Aussehen wird dir in deiner Laufbahn weiterhelfen. Weisst du, dass du gut aussiehst?

Ich errötete, das fühlte ich, und wusste nicht, wo er hinaus wollte. Ich sah nur in seinem Gesicht einen neuen seltsamen Ausdruck, und seine Augen flackerten wie Gasflammen.

– Hast du schon Liebesabenteuer gehabt? fragte er von neuem, und seine Augen begannen zu glühen.

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, denn ich hatte Respekt vor dem Freund meines Vaters.

Er stand auf und begann auf und ab zu gehen.

– Du hättest mein Sohn sein sollen, sagte er schliesslich; das hättest du!

Er war nicht verheiratet, das wusste ich, und ich verstand, dass das ganze Einsamkeitsgefühl des alten Junggesellen in diesem Ausruf lag.

Jetzt wurde zum Essen geblasen, und ich musste gehen.

– Morgen Abend um dieselbe Zeit, sagte er!

Ich machte Honneur und ging.

Meine Abendstunden wurden eine Zeit lang fortgesetzt. Seine Art wurde immer intimer. Zuweilen belästigte sie mich unbeschreiblich. Kam ich absichtlich zu spät, sah er betrübt aus.

– Du wirst meiner überdrüssig, sagte er. Ich bin alt und langweilig.

Dann wurde ich von Mitleid ergriffen mit dem armen Einsamen, dessen hohe Stellung ihm verbot, sich Verkehr zu suchen.

Wir liefen schliesslich Havana an; ich erhielt Erlaubnis, an Land zu gehen, musste dem Chef aber versprechen, nicht mit den Kameraden schlechte Häuser zu besuchen. Er nahm mir förmlich ein Gelübde ab.

Als ich wieder an Bord kam, fragte er mich, ob ich bei einem Mädchen gewesen sei. Ich antwortete nein, der Wahrheit gemäss.

– Das ist recht, mein Junge, sagte er. Nimm dich vor den Weibern in Acht! Hörst du!

Und dann segelten wir wieder.

Eines Abends, ich vergesse ihn nie, es war auf der Höhe von Madeira, die Luft war heiss wie in einem Gewächshaus, wir trugen nur Hemd und Hosen, und die Windstille hatte vier Tage gedauert.

Um acht Uhr betrat ich die Kajüte des Chefs, vollständig bekleidet. Er war sehr erregt. Konnte kaum sprechen.

– Das ist eine furchtbare Hitze, seufzte er; zieh den Spenzer aus.

Dagegen hatte ich nichts einzuwenden, obwohl es im höchsten Grad gegen Reglement und gute Sitte verstiess.

Er setzte sich neben mich, halb hinter mich. Ich fühlte seinen heissen Atem in meinem Nacken und empfand eine Bangigkeit und Beklommenheit, wie ich sie nicht beschreiben kann.

Wir waren mit Trigonometrie beschäftigt und ich beugte mich über das Papier. Mein Kopf wurde schwer, und um mich zu wecken, machte ich den Rumpf gerade und warf den Kopf zurück. In diesem Augenblick fielen meine Blicke auf den Spiegel mir gegenüber. Was ich da sah, flösste mir ein solches Entsetzen ein, als habe ich plötzlich gesehen, wie die Natur sich umkehrt und ihre Kehrseite zeigt. Als ob die Sonne blau und der Himmel gelb und die Bäume rot geworden seien, oder als ob der Mond Blitze schiesse. Sein Gesicht lag über meiner Schulter und seine Augen suchten unter den Aufschlägen meines Hemdes. Ich schrie, glaube ich, und wollte aufspringen, wurde aber von zwei Armen festgehalten und fühlte einen Kuss auf meinen Lippen, einen Kuss wie von der scharfen Zunge eines Stiers, und es schnaubte über mein Gesicht, als hätte ein Seehund mich geleckt.

Als ich aufs Deck hinauskam, musste ich mich an der Verschanzung halten, um nicht zu fallen, denn meine Beine zitterten. Es war für mich eine Offenbarung des Widrigen, ein Erscheinen des Bösen.

– Und damit war die Bekanntschaft zu Ende! sagte der Doktor kalt und trank sein Glas aus.

– Nicht ganz! Weisst du, was er jetzt tat? Er schrieb Briefe an mich. Ich las nur einen! Es war ein Liebesbrief. Er liebte mich!

– Wie Sokrates Alcibiades liebte! Glaubst du, du hast eine Entdeckung gemacht? Und glaubst du, dass nur Absonderung oder Überkultur diese Erscheinung hervorrufen. Sie kommen auch bei wilden Volksstämmen vor, ja bei Tieren. Ich meine, man müsse bei solchen Launen der Natur ein Auge zudrücken, wenigstens den Unschuldigen nicht bestrafen, wie ich schon sagte. Willst du eine Geschichte im selben Genre hören?

– Ja, aber lass uns erst etwas essen; ich sehe, drinnen ist gedeckt.

Er rief einem der Gäste zu, das Ruder zu übernehmen, und sie gingen in die Kajüte.

Sie versuchten von etwas anderem zu sprechen, immer aber kamen sie auf das erste Thema zurück.

– Erinnerst du dich, fing der Doktor an, wie du als Schüler mit Kameraden gleichen Alters befreundet warst? Ihr kamet immer zusammen aus der Schule, suchtet einander in freien Stunden auf, teiltet Ansichten und Kasse. Ja, du konntest sogar eifersüchtig auf deinen Freund sein, wenn er andere dir vorzog. Nicht wahr?

– Ja, aber das war Freundschaft!

– Ja, das war es! Aber so beginnt ja auch die Liebe zwischen den verschiedenen Geschlechtern. Es muss weit kommen, ehe einer von Beiden sich eine körperliche Berührung in einem Kuss oder einer Liebkosung erlaubt oder überhaupt ein Bedürfnis danach empfindet. Bei Mädchen dagegen äussert sich diese Freundschaft in Umarmungen und Küssen. Das ist ganz unschuldig natürlich, aber die Symptome gleichen sehr dem, was man Liebe nennt. Es ist ebenso unschuldig wie das Gefühl, das Eltern dazu treibt, ihre Kinder in die Arme zu nehmen und zu küssen. Kannst du sagen, was rein und unrein ist, körperlich oder geistig? Das ist schwer, denn die Liebe der Eltern zu den Kindern hat ein unwiderstehliches Bedürfnis, sich in körperlicher Berührung zu äussern und steht doch über jeden Verdacht, sinnlich zu sein. Haust aber eine arme Familie zusammen in einem Zimmer, schlafen Vater und Töchter zusammen, während die Mädchen heranwachsen, dann kann es geschehen, dass die Gefühle ihre Natur ändern. Die äusseren Umstände sind es, die da wirken, wie man auch nur bei Hirten und Reitern Fälle von Bestialität trifft. Sag nicht, das ist ein neues, unnatürliches Element, sondern das ist dieselbe Natur, die aber aus Mangel an Gelegenheit sich andere Auswege sucht, wie sich die Gewebe des Körpers einem Fistelgang öffnen, wenn die natürlichen Kanäle von einer Krankheit geschlossen werden.

Jetzt sollst du meine Geschichte hören.

Er war klein und unbedeutend und wurde von den Mädchen übersehen, denn sie fanden, er sei weder als Liebhaber noch als Beschützer vielversprechend. Das flösste ihm Misstrauen zu sich selber und Abneigung gegen das andere Geschlecht ein. Als er älter wurde und Dirnen besuchte, fiel es ihm auf, was wir andern ganz natürlich fanden, dass sie sich bezahlen liessen. Das chokierte ihn. Warum sollte nur der eine Teil bezahlt nehmen und nicht der andere, wenn alle beide das Vergnügen genossen.

Dann ging er ein Verhältnis mit einer Näherin ein. Sie hatte ihn lieb und sie nahm nicht bezahlt. Aber sie wurde von seltsamen Träumen beunruhigt, die auch ihn zu beunruhigen anfingen. Das eine Mal träumte sie, er lade sie ins Theater ein; das zweite Mal, er schenke ihr Handschuhe; das dritte Mal, er bezahle ihre Miete. Mein Freund war nicht stark darin, Träume zu deuten, weil er arm war, und dem Mädchen wurden ihre Träume nicht erfüllt. Der Freund dachte, ich habe alle Soupers bezahlt und sie keins; aber das sagte er nicht. Doch sie ward es müde, ein Traumleben zu leben, und schenkte ihre Liebe bald einem Buchhalter, der die Mittel hatte, ihre Träume zu erfüllen. Mein Freund wurde sehr bitter gegen die Frauen: das seien Materialisten, da sie nicht aus reiner Liebe lieben könnten.

Später verliebte er sich wieder. Als er ans Heiraten denken konnte, ging er zum Vater; der fragte ihn natürlich, ob er Geld habe.

– So, man muss auch das Heiraten bezahlen, dachte er. Nur bezahlen, immer und überall!

Aber er war verliebt, und er entschloss sich zu dem Handel. Er war Turn- und Schwimmlehrer. Jetzt fängst du an zu verstehen. Er verheiratete sich. Entdeckte nach dem ersten Kind, dass seine Frau Anlage für „höhere Aufgaben“ besitze und nicht mehr Kinder haben wolle. Sturm und Gewitter! Und dann halbe Ruhe. Oft fand er es hart, für nichts bezahlen zu müssen; aber es war nicht mehr zu ändern.

Fünfzehn Jahre dauerte das Zölibat und seine Frau wusste ihre Stellung gut zu verteidigen.

– Ich bin die Mutter deines Kindes, und in dieser Eigenschaft bin ich im Haus.

Aber sie war nicht die Mutter seines Kindes, denn sie besuchte fromme Sitzungen und hatte andere höhere Zwecke, die nicht gerade der Aufklärung dienten, aber sie vergass, dass sie seine Gattin war.

Nach fünfzehn Jahren gab es einen Skandal in der Schwimmschule. Mein Freund hatte sich dem ausgesetzt, was Darwin einen Generationswechsel genannt hätte. Aus der Analyse der fünfzehn Jahre Zölibatleben kannst du einen russischen Roman machen; ich vermag es nicht! Das Resultat war eine geheime Untersuchung. Er wurde freigesprochen und – zeugte ein neues Kind in der Ehe. Damit war der Sache abgeholfen.

Da hast du zwei Faktoren, die zusammen wirkten: Berufskrankheit oder günstige Gelegenheit und auf der anderen Seite fehlende Versorgung.

– Noch ein dritter Faktor war vorhanden, fiel der Leutnant ein.

– Welcher denn?

– Dass er schon als junger Mann darben musste.

– Dann kannst du auch einen vierten nehmen!

– Welchen?

– Den hohen Arbeitslohn.

– Nein jetzt gehen wir auf Deck, sagte der Leutnant; das fängt an unheimlich zu werden, wenn man sich darin vertieft.

– Ja, das wird es, aber Alles zu seiner Zeit. Weisst du, dass die Akademie von Dijon im vorigen Jahr einen Preis von zehntausend Franken ausgesetzt hat für den, der befriedigend die Frage beantwortet: Warum darf man nicht schreiben, wie man spricht?

– Nun, wer hat den Preis gewonnen?

– Der Beschäler von Växjö. Er fand, die Ursache liege darin: wenn er schreiben würde, wie er spreche, dann käme er ins Gefängnis.

– Du bist verrückt!

– Nein, sieh, der Mond ist aufgegangen, rief der Doktor aus, als sie auf Deck kamen.

– Bei uns ist der Mond ein Maskulinum, aber in Griechenland ist er ein Femininum!

– Die Griechen haben ja nie die Geschlechter auseinander gehalten. Weisst du, warum nicht?

– Nein!

– Es lag wohl in ihrer religiösen Überzeugung. Zeus liebte ja Ganymedes! Und es war ein grosses und gebildetes Volk, das die religiöse Überzeugung achtete!

Corinna

Ihr Vater war General, und die Mutter starb ihr früh. Seitdem wurde das Haus meist von Herren besucht. Und der Vater erzog sie selber.

Sie ritt mit ihm aus, sah sich die Manöver an, wohnte Schauturnen bei, machte Kontrollversammlungen mit.

Da der Vater unter allen, die in seinen Verkehrskreis kamen, den höchsten Rang einnahm, bezeigten ihm alle eine Ehrerbietung, wie sie Ebenbürtige einander niemals bezeigen. Und da sie die Tochter des Generals war, erwies man ihr die gleiche Ehre wie dem Vater. Sie hatte den Rang eines Generals und sie fühlte es.

Im Flur sass immer eine Ordonnanz, die sich mit furchtbarem Gerassel erhob, wenn sie kam und wenn sie ging. Auf den Bällen wurde sie immer von Majoren zum Tanz aufgefordert; einen Hauptmann hielt sie für eine niedrige Menschenklasse, und die Leutnants waren für sie unartige Jungen.

So gewöhnte sie sich daran, die Menschen nach der Rangliste zu beurteilen; Zivilpersonen waren für sie „Fische“, dürftig gekleidete Menschen Lumpen, arme Leute Pack.

Aber über dieser Rangskala standen die Damen. Der Vater, der alle Männer unter sich hatte und mit Ehrenbezeigungen begrüsst wurde, sobald er sich sehen liess, stand doch immer vor einer Dame auf, sie mochte jung oder alt sein, küsste bekannten Damen die Hand, bediente jede Schönheit. Dadurch bekam sie früh hohe Gedanken von der Überlegenheit des weiblichen Geschlechts und gewöhnte sich daran, Männer für niedrigere Wesen zu halten.

Wenn sie ausritt, hatte sie immer einen Reitknecht hinter sich. Wenn es ihr gefiel, Halt zu machen, um sich die Landschaft anzusehen, machte er Halt. Er war ihr Schatten. Aber wie er aussah, ob er jung oder alt war, das wusste sie nicht. Wenn man sie gefragt, was für ein Geschlecht er habe, hätte sie es nicht sagen können; sie hatte nie daran gedacht, dass der Schatten auch ein Geschlecht haben könne; wenn sie in den Sattel stieg und dabei mit ihrem kleinen Stiefel auf seine Hand trat, so war die für sie ein gleichgültiges Ding; und sie konnte dann ihr Kleid etwas anheben, als sei niemand zugegen.

Diese eingeborenen Rangvorstellungen durchdrangen ihr ganzes Leben. Sie konnte mit den Töchtern des Majors oder des Hauptmanns nie vertraut werden, denn deren Väter standen unter ihrem Vater. Auf einem Ball hatte ein Leutnant einmal gewagt, sie aufzufordern. Um seine Vermessenheit zu bestrafen, antwortete sie nicht, als er zwischen den Tänzen sich unterhalten wollte. Nachher aber erfuhr sie, es sei einer der Prinzen gewesen: da war sie untröstlich. Sie, die den Rangunterschied der Offiziere wusste, die alle Orden und Titel kannte, sie hatte einen Prinzen nicht erkannt. Das war zuviel.

Sie war schön, aber der Stolz gab ihren Zügen eine Starrheit, die jeden Anbeter abschreckte. Sich zu verheiraten, daran hatte sie nie gedacht. Die jungen Leute waren dazu nicht qualifiziert, und die Alten, die den Rang hatten, waren zu alt. Wenn sie sich mit einem Hauptmann verheiratet hätte, würde sie ja bei Tisch hinter allen Majorsfrauen gesessen haben, sie, die Tochter des Generals. Das wäre ja eine Degradierung gewesen. Übrigens wollte sie durchaus kein Anhang oder eine Salonzierde für einen Mann sein. Sie war gewohnt zu befehlen, gewohnt, dass man ihr gehorchte; sie konnte keinem gehorchen. Das freie männliche Leben unter Männern hatte ihr ausserdem einen entschiedenen Widerwillen gegen weibliche Beschäftigung eingeflösst.

Spät erwachte ihr geschlechtliches Leben. Da sie zu einer alten Familie gehörte, die väterlicherseits durch seelenloses Soldatentum, durch Zechen und durch Schlemmen mit ihrer Kraft schlecht hausgehalten, mütterlicherseits die Fruchtbarkeit unterdrückt hatte, um das Vermögen nicht teilen zu müssen, schien die Natur bei Bestimmung ihres Geschlechts in letzter Stunde gezögert zu haben; oder hatte vielleicht nicht Kraft genug besessen, um sich für Fortsetzung der Rasse zu entschliessen. Ihrer Gestalt fehlte das bestimmte weibliche Gepräge, wie eine gesunde Natur es für ihre Zwecke erzeugt, und sie tat auch nichts, um den Mängeln durch Kunst abzuhelfen.

Ihre wenigen weiblichen Kameraden fanden sie kalt, gleichgültig gegen alles, was das Verhältnis der Geschlechter betraf. Sie selber sprach sich geringschätzig darüber aus, hielt es für unsauber, konnte nicht begreifen, wie sich ein Weib einem Manne hingeben könne. Die Natur war unrein für sie und Tugend bestand für sie in reiner Wäsche, gestärkten Röcken und heilen Strümpfen. Arm sein bedeutete für sie schmutzig und lasterhaft sein.

Im Sommer wohnte sie mit ihrem Vater auf dem Landgut.

Das Land liebte sie nicht. Draussen in der Natur wurde sie klein; der Wald war ihr unheimlich, der See machte sie schauern, das hohe Gras der Wiese barg Gefahren. Die Bauern waren eine Art arglistige Tiere, und unsauber dazu. Auch hatten sie so viele Kinder, und Burschen wie Mädchen waren für sie lasterhaft.

Bei grossen Festen wie Mittsommer und Geburtstag des Generals wurden sie jedoch auf den Herrenhof geladen, um wie der Chor in der Oper zu fungieren, Hurra zu schreien, und zu tanzen, wie die Figuren auf einem Gemälde.

 

Es war wieder Frühling. Helene war allein auf ihrer Rassestute ausgeritten und weit hinaus ins Land gekommen. Sie wurde müde und sass ab; band die Stute an eine Birke, die an einer umzäunten Waldweide stand. Dann trat sie an den Rand des Grabens, um einige Orchideen zu pflücken. Die Luft war warm, und Birken und Rasen dampften. Im Wasser des Grabens plumpsten die Frösche.

Plötzlich wieherte die Stute, und Helene sah das schlanke Tier seinen Hals über den Zaun strecken und mit aufgerissenen Nüstern die Luft einsaugen.

– Alice, rief sie, still mein Mädchen!

Und dann fuhr sie fort, einen Strauss aus diesen schüchternen Blumen zusammenzusetzen, die so sorgfältig ihre Geheimnisse hinter den hübschsten und nettsten Gardinen verstecken, die gedrucktem Kattun gleichen.

Aber die Stute wieherte wieder. Aus den Haselbüschen der Waldweide antwortete ein anderes Wiehern, das aber stärker und tiefer war. Der sumpfige Boden der Waldweide dröhnte, die Sterne rasselten unter gewaltigen Hufschlägen, und heran trabte ein schwarzer Hengst. Der Kopf war stark, der Hals gespannt, und die Muskeln lagen in Wulsten unter der glänzenden Haut. Die Augen leuchteten, als sie die Stute erblickten. Zuerst machte er Halt und streckte den Hals, als ob er gähnte; zog die Oberlippe in die Höhe und zeigte die Zähne. Dann galoppierte er über das Gras und näherte sich dem Zaun.

Helene raffte ihr Kleid und lief hin, um die Kandare zu fassen, aber die Stute hatte sich losgerissen und setzte jetzt über den Zaun. Dann begann das Freien.

Helene stand draussen und lockte, aber das wilde Tier hörte nicht mehr. Drinnen jagten sich die Pferde und die Situation begann heikel zu werden. Der Hengst schnob weissen Schaum, der wie Rauch aus den Nüstern kam.

Helene wollte fliehen, denn die Szene flösste ihr Entsetzen ein. Sie hatte noch nie gesehen, wie die Naturmacht in lebendigen Körpern rast. Bis zum äussersten war sie erregt über diesen unverhüllten Ausbruch.

Sie dachte hinzulaufen und ihre Stute zu holen, aber sie fürchtete den wilden Hengst. Sie wollte forteilen und um Hilfe rufen, aber dann hätte sie ja Zeugen erhalten. Sie kehrte dem Auftritt den Rücken und beschloss zu warten.

Da war Pferdegetrappel auf der Landstrasse zu hören. Ein Wagen rollte heran.

Helene konnte nicht fliehen, und sie schämte sich zu bleiben. Aber es war zu spät, denn die Kalesche fuhr langsamer und stand unmittelbar vor ihr still.

– Aber das ist schön, sagte die eine Dame, die im Wagen sass, und nahm ihre goldene Lorgnette, um sich das Naturschauspiel, das jetzt in vollem Gang war, anzusehen.

– Aber warum halten wir denn, schrie die andere Dame. Fahren Sie doch weiter!

– Ist das nicht schön? antwortete die ältere Dame.

Der Kutscher lächelte in seinen grossen Bart und trieb die Pferde an.

– Du bist so prüde, meine liebe Amalie, sagte die erste Stimme. Für mich ist es wie ein Gewitter oder eine Sturzsee ...

Mehr konnte Helene nicht hören. Sie war ganz vernichtet von Ärger, Scham, Entsetzen.

Da kam ein Bauernknecht des Weges. Helene eilte ihm entgegen, um ihn nicht das Schauspiel sehen zu lassen und zugleich um seine Hilfe zu bitten. Aber er war bereits zu weit heran gekommen.

– Ich glaube, das ist der Schwarze des Müllers, sagte er mit ernster Miene. Dann ist das Beste, zu warten, bis es vorbei ist, denn mit dem ist nicht zu spassen. Wenn Fräulein nach Haus gehen wollen, werde ich den Gaul nachbringen.

Froh, aus der Sache herauszukommen, eilte Helene davon.

Als sie nach Haus kam, war sie krank.

Die Stute wollte sie nicht wieder sehen. Die war unrein.

 

Dieses unbedeutende Ereignis hatte einen grösseren Einfluss auf Helenes seelische Entwicklung, als zu erwarten war. Der brutale Ausbruch eines Naturtriebes, dessen unverhüllte Darstellung einem Menschen Gefängnis einbringt, verfolgte sie, als habe sie einer Hinrichtung beigewohnt. Er störte ihre Gedanken am Tage und ihre Träume bei Nacht. Er steigerte ihre Furcht vor der Natur, und sie brach mit ihrem früheren Amazonenleben. Schloss sich ein und begann zu lesen.

Es war eine Bibliothek auf dem Gut vorhanden. Aber das Unglück wollte, dass sie seit dem Tode des Grossvaters nicht vermehrt worden war. Alle Bücher waren also ein Menschenalter zu alt, und Helene fand veraltete Ideale. Zuerst fiel ihr „Corinna“ von Frau von Staël in die Hände. Der Band war so in ein Fach hineingestellt, als sei er zu besonderer Benutzung bestimmt, und das war er auch. In Grün und Gold gebunden, mit abgegriffenem Schnitt, mit Bemerkungen und Unterstreichungen versehen, die von der verstorbenen Mutter herrührten, wurde das Buch für die Tochter ein geistiger Verkehr mit der Toten, deren Bekanntschaft das erwachsene Mädchen damit erneuerte. Es war eine ganze Seelengeschichte, diese Aufzeichnungen mit Bleistift. Das Missvergnügen mit der Prosa des Lebens und der Roheit der Natur feuerte die Phantasie an, sich eine Traumwelt zu bauen, in der die Seelen ohne Körper lebten. Diese Welt war aristokratisch, denn sie verlangte wirtschaftliche Unabhängigkeit, nur um der Seele Gedanken schenken zu können. Es war das Evangelium der Reichen, diese Gehirnentzündung, die Romantik genannt wird und die lächerlich wurde in ihrer Kläglichkeit, als sie zur Unterklasse hinunter drang.

Aus Corinna machte Helene nun ein Ideal: die Dichterin, die Eingebungen von oben erhielt, die gleich der Nonne des Mittelalters das Gelübde der Keuschheit ablegte, um ein reines Leben zu führen, die natürlich von einer glänzenden Menge bewundert wurde, erhob sich über die kleinen Sterblichen des Alltags. Es war nichts anderes als das Generalideal, nur übertragen: Ehrenbezeigen, Gewehrrufe, erster Platz. Dass Frau von Staël selber das Corinnaideal überlebte und erst von Bedeutung wurde, als sie sich mit der Wirklichkeit befasste, wusste Helene nicht.

Sie gab jede Beschäftigung mit der äusseren Welt auf, zog sich in sich selber zurück und grübelte über ihr Ich. Das Erbe, das die Mutter ihr in den posthumen Anmerkungen hinterlassen, begann zu keimen. Sie identifizierte sich mit Corinna und mit der Mutter und verwendete viel Zeit darauf, über ihren Beruf nachzudenken. Dass sie von der Natur für das Geschlecht bestimmt sei, dass sie die Pflicht habe, für das Keimen und Wachsen des Eies zu sorgen, das die Natur in ihren Körper niedergelegt, das wies sie weit von sich. Die Menschheit darüber aufzuklären, was Frau von Staëls Corinna vor fünfzig Jahren gedacht hatte, das war ihr Beruf; aber sie bildete sich ein, es seien ihre eigenen Gedanken, die nach Ausdruck rangen.

Sie begann zu schreiben. Eines Tages versuchte sie es mit Versen. Es gelang. Die Zeilen wurden gleich lang und die letzten Worte reimten sich. Da ging ihr ein Licht auf: sie war zur Dichterin geboren. Blieben nur noch die Gedanken, und die konnte sie aus „Corinna“ nehmen.

So entstanden eine Menge Gedichte.

Nun sollte aber auch die Welt damit beglückt werden, und das konnte nur durch den Druck geschehen. Eines Tages sandte sie ein Gedicht mit dem Titel „Sappho“ an die Illustrierte Zeitung und zeichnete Corinna. Mit klopfendem Herzen trug sie den Brief zur Post, und als sie ihn in den Kasten legte, betete sie leise zu „Gott“.

Die vierzehn Tage, die folgten, waren furchtbar. Sie ass nicht, schlief kaum und suchte die Einsamkeit.

Am ersten Sonnabend, als die Zeitung kam, zitterte sie wie bei einem Fieber; und als sie ihr Poem weder gedruckt sah, noch ein Wort im „Briefkasten“ fand, fiel sie zusammen.

Am nächsten Sonnabend, als sie wenigstens eine Antwort bestimmt erwarten konnte, nahm sie die Zeitung, ohne sie aufzumachen, mit in den Wald. Dort, tief in einem Dickicht, zog sie das Blatt heraus, nachdem sie sich nach allen Seiten umgesehen, ob auch niemand auf der Lauer stehe; dann schlug sie die Zeitung auf und liess das Auge über die Spalten gleiten. Da stand ein einziges Gedicht, das hiess „Bellmanstag“. Dann aber glitt das Auge zum Briefkasten hinunter. Beim ersten Blick, den sie auf die Zeilen in kleinem Druck warf, fuhr sie zusammen, ihre Finger packten die Zeitung, rollten sie zu einem Ball und warfen den ins Gebüsch. Dann starrte sie unablässig auf den weissen Fleck, den das Papier im Gebüsch bildete. Diese Beschimpfung war die erste, die sie in ihrem Leben empfangen hatte. Sie war auch ganz aus dem Sattel geworfen. Dieser unbekannte Zeitungsschreiber hatte gewagt, was noch niemand gewagt: er hatte ihr eine Unhöflichkeit gesagt. Sie hatte ihre Verschanzungen verlassen und sich auf ein Feld begeben, auf dem die Rangliste wenig bedeutete, auf dem die Naturmacht siegte, die Talent genannt wird. Vor diesem Talent beugte sich selbst die Macht, wenn sie es nicht länger leugnen konnte. Aber der Unbekannte hatte sie auch als Weib verletzt. So hatte er sich zu schreiben erlaubt:

– Corinna von 1807 hätte Essen gekocht und Kinder gewiegt, wenn sie nach 1870 gelebt hätte. Aber Sie sind keine Corinna!

Da hörte sie zum ersten Mal den Feind, den Erzfeind, den Mann. Kochen und wiegen! Der sollte mal sehen!

Helene ging nach Haus. Sie fühlte sich so vernichtet, dass die Muskeln kaum den schlaffen Nerven gehorchten.

Als sie aber ein Stück gegangen war, kehrte sie ganz plötzlich um. Wenn einer die Zeitung fände! Dann wäre sie verraten. Sie ging zurück, nahm eine Gerte, zog das Blatt aus den Büschen hervor und glättete es. Dann hob sie eine Moosscholle auf, versteckte das Blatt darunter und rollte einen Stein darauf. Es war eine Hoffnung, die da begraben wurde, aber auch ein Beweis. Dass sie schuldig war? Ja, so fühlte sies! Als habe sie ein Unrecht getan. Als habe sie sich vor dem andern Geschlecht entblösst!

Nach diesem Tage begann sie einen neuen Kampf mit sich selber. Der Ehrgeiz und die Furcht vor der Öffentlichkeit kämpften miteinander, ohne dass es zu einer Entscheidung kam.

 

Im Herbst starb der Vater. Da er nachts Karten gespielt hatte, ohne Glück zu haben, hinterliess er Schulden. Da er aber General war, so machte das nichts aus. Helene brauchte sich nicht in einen Zigarrenladen zu stellen, sondern wurde von einer bisher unsichtbaren Tante aufgenommen.

Doch trat mit dem Tod des Vaters eine völlige Veränderung in ihrem Leben ein. Alle Ehrenbezeigungen hörten von selber auf; die Offiziere des Regiments begannen ihr onkelhaft zuzunicken, und die Leutnants wagten sie auf den Bällen zum Tanz aufzufordern. Jetzt merkte sie selbst, dass ihre Hoheit nicht in ihrem persönlichen Wert gelegen, sondern geliehen war. Sie fühlte sich degradiert und empfand eine lebhafte Sympathie für alle Subalternen; ja sie fühlte, wie eine Art Hass in ihr wuchs gegen alle, welche die Vorrechte des Ranges genossen, den sie früher bekleidet. Damit wuchs auch das Bedürfnis, persönliche Anerkennung zu erringen, einen Rang zu erreichen, der jeden andern übertraf, wenn er auch nicht in der Rangliste stand.

Sie wollte sich auszeichnen, durchdringen, und, warum nicht, herrschen. Sie besass ein Talent, das sie auszuüben gewagt, obwohl sie es noch nicht über den Durchschnitt erhoben hatte: sie spielte Klavier. Jetzt begann sie Harmonie zu studieren und sprach von der G-mollsonate und der Fis-dursymphonie, als habe sie sie selber geschrieben. Und damit begann sie Tonkünstler zu fördern.

Ein halbes Jahr nach dem Tode des Vaters wurde ihr eine Stellung als Hoffräulein angeboten. Sie nahm an. Damit stellten sich wieder Trommelwirbel und Gewehrrufe ein, und Helene begann ihre Sympathien für Subalterne zu verlieren. Aber der Sinn ist unbeständig wie das Glück, und Helene bekam mit neuen Erfahrungen neue Ansichten.

Sie entdeckte nämlich eines Tages, und zwar recht bald, dass sie Dienerin war. Die Herzogin und sie sassen im Schlossgarten. Die Herzogin häkelte.

– Ich finde, diese Blaustrümpfe sind dumm, sagte die Herzogin.

Helene wurde aschgrau im Gesicht und fixierte ihre Herrin. Darauf antwortete sie:

– Das finde ich nicht.

– Ich habe nicht zu wissen verlangt, was Sie finden, antwortete die Herzogin und liess ihr Knäuel auf den Weg rollen.

Helene zitterten die Beine, sie sah Zukunft und Stellung in einem Zuge an sich vorbei sausen. Dann ging sie, um das Knäuel zu holen. Es krachte in der Taille, als sie sich niederbeugte, und sie war flammend rot, als sie das Knäuel zurückgab, ohne einen Dank zu erhalten.

– Sind Sie böse? fragte die Herzogin und sah das Opfer mit einer impertinenten Miene an.

– Nein, Königliche Hoheit, log Helene.

– Man hat gesagt, Sie seien ein Blaustrumpf, fuhr die Herzogin fort. Ist das wahr?

Helene fühlte sich entkleidet und antwortete nichts.

Das Knäuel fiel wieder. Helene stellte sich, als sehe sie nichts, und biss sich in die Lippe, um die Tränen des Ärgers zurückzuhalten.

– Bitte, reichen Sie mir mein Knäuel, sagte die Herzogin.

Helene richtete sich auf, sah der Despotin ins Auge und sagte:

– Nein, das will ich nicht.

Und damit ging sie. Der Sand knirschte unter ihren Stiefeln, und die Schleppe wirbelte Staubwölkchen auf. Sie lief beinahe die Treppe hinunter und verschwand.

Damit war ihre Laufbahn am Hof zu Ende. Aber ein Stachel blieb sitzen. Helene musste jetzt fühlen, was es heisst, in Ungnade gefallen zu sein; und noch deutlicher wurde ihr, was es heisst, seine Stellung aufzugeben. Die Gesellschaft liebt es nicht, dass man seine Stellung wechselt, und niemand konnte verstehen, wie sie aus freiem Willen den Sonnenschein des Hofes hatte verlassen können. Sie war natürlich „fortgejagt“. Das war der Ausdruck: Fortgejagt! Das war die grösste Demütigung, die sie erlitten; das war eine Beschimpfung. Sie kam sich wie eine Deklassierte vor; sie sah, wie sich Verwandte von ihr zurückzogen, als fürchteten sie, die Ungnade werde sie anstecken. Sie sah, wie Freundinnen bei der Begegnung kühl wurden und die Begrüssung auf ein Minimum beschränkten.

Andererseits aber wurde sie mit einer rührenden Vertraulichkeit von der Mittelklasse aufgenommen, der sie sich von ihrer früheren Höhe näherte. Doch verletzte sie deren Freundlichkeit zuerst mehr als die Kälte der andern; schliesslich aber fand sie es besser, dort unten die Erste als dort oben die Letzte zu sein: Sie ging also zu einer Gruppe von Zivilbeamten und Universitätslehrern über, von der sie mit offenen Armen empfangen wurde. Bei der abergläubischen Ehrfurcht, welche die Mittelklasse vor dem Schloss hat, wurde sie sofort Gegenstand von Huldigungen. Sie ward selber General und beeilte sich, eine Truppe zu bilden. Eine Reihe junger Gelehrter nahm sofort Sold, und sie begann Vorlesungen für Frauen zu veranstalten. Alter akademischer Plunder wurde zusammengelesen, abgestaubt und als neue Ware verhökert. In einem ausgeräumten Speisesaal wurde über Plato und Aristoteles gelesen vor einem Publikum, das natürlich nicht die Schlüssel zu diesem Heiligenschrein von Weisheit besass.

Helene fühlte sich der unwissenden Aristokratie überlegen, als sie diese Freimaurergeheimnisse eroberte. Diese angebliche Überlegenheit gab ihrem Auftreten eine Sicherheit, die imponierte. Die Männer verehrten sie wegen ihrer Schönheit und Unnahbarkeit; sie aber empfand nie etwas Beunruhigendes in der Gegenwart von Männern. Deren Huldigung nahm sie als Tribut hin, den sie der Frau schuldig waren, und eine Achtung vor diesen Bedienten, die von ihrem Sitz aufsprangen und sich in Positur stellten, wenn sie vorbeikam, konnte sie nicht empfinden.

Aber ihre Stellung als Unverheiratete war auf die Dauer nicht befriedigend, und sie sah mit Neid, welche Freiheit die verheirateten Frauen genossen. Sie konnten sich frei auf der Strasse bewegen, mit jedem Herrn sprechen, abends ausbleiben, solange sie wollten, und immer hatten sie den Gatten als Bedienten, der sie abholte. Auch hatte eine Frau mehr Rang, mehr Macht. Wie herablassend behandelten doch die Matronen alle diese jungen Mädchen. Wenn sie aber ans Heiraten dachte, tauchte das Abenteuer mit der Stute wieder auf, und ein Entsetzen überkam sie, das sie krank machte.

Als das zweite Arbeitsjahr begann, erschien in Helenes Kreis eine Professorenfrau aus Uppsala, die mit ihrer Stellung körperlichen Reiz vereinigte. Helenes Stern erbleichte, und alle ihre Anbeter fielen ab, um die neue Sonne zu verehren. Da Helene nicht mehr ihren früheren gesellschaftlichen Rang besass und der Duft vom Hofe verdunstet war wie das Parfüm von einem Taschentuch, wurde sie geschlagen. Der Einzige, der ihr treu blieb, war ein Dozent der Ethik, der sich bisher nicht vorzudrängen gewagt hatte. Jetzt war seine Zeit gekommen. Seine Aufmerksamkeit wurde gut aufgenommen, und seine strenge Ethik flösste ihr ein unbegrenztes Vertrauen ein. Da er ihr fleissig den Hof machte, fingen die Leute an zu klatschen; daran kehrte sich Helene aber nicht; darüber war sie erhaben.

Eines Abends sassen sie in dem ausgeräumten Speisesaal auf ihren Rohrstühlen, nachdem der Dozent gegen freie Reise und einen Händedruck diesen Vortrag gehalten hatte:

Das ethische Moment in der ehelichen Liebe
oder
Die Ehe als Manifestation der absoluten Identität.

– Sie meinen also, fuhr Helene fort, dass die Ehe ein Koexistenzverhältnis zwischen zwei identischen Ichs ist?

– Ich meine, wie ich schon die Ehre gehabt habe, in meinem Vortrag auszusprechen, dass das Sein nur unter dem Relationsverhältnis zweier kongruenter Identitäten in ein Werden von höherer Potenz konfluieren kann.

– Was ist ein Werden? fragte Helene und errötete.

– Das ist die Postexistenz zweier Vitalitäten in einem neuen Ich.

– Was? Sie meinen, dass die Kontinuität des Ich, die durch die Kohabitation zweier analoger Sein sich notwendig in einem Werden inkorporieren wird ...

– Nein, mein Fräulein, ich wollte nur sagen, dass die Ehe, um die profane Sprache zu benutzen, nur unter der Kompatibilität der Seelen ein neues geistiges Ich durch Reciprocität erzeugen wird, das nicht als Sexus differentiiert werden kann. Ich will sagen, dass das neue Wesen, das in der Ehe geboren wird, ein Konglomerat von Mann und Frau sein wird; ein neues Wesen, in dem beide ihre Persönlichkeit aufgegeben haben, eine Einheit in der Vielheit, ein, um einen bekannten Ausdruck zu gebrauchen, ein homme-femme. Der Mann wird aufhören Mann zu sein und das Weib Weib zu sein.

– Das ist die Verbindung der Seelen! rief Helene aus, froh an den schweren Klippen vorbei gekreuzt zu haben.

– Das ist die Harmonie der Seelen, von der Plato spricht. Das ist die wahre Ehe, so wie ich sie geträumt habe, die ich aber leider, hm, unter dieser Form kaum verwirklicht sehen werde. Hm!

Helene sah nach der Decke hinauf und sagte flüsternd:

– Warum sollten Sie nicht, als ein Elitegeist, diesen Traum verwirklicht sehen?

– Weil die, welche meine Seele anzieht, nicht an die, hm, Liebe glaubt.

– Das ist ja noch nicht entschieden.

– Wenn sie es täte, würde sie immer von dem Verdacht gequält werden, das Gefühl sei nicht aufrichtig. Übrigens, es gibt keine Frau, die mich lieben würde. Keine!

– Doch, sagte Helene und sah ihm in sein Emailauge. (Er hatte nämlich ein Emailauge, das sehr gut gemacht war.)

– Sind Sie davon überzeugt?

– Ja, sagte Helene. Denn Sie sind nicht wie andere Männer! Sie verstehen, was die Liebe der Seelen ist! Der Seelen!

– Wenn es die Frau gäbe, würde ich doch keine Ehe mit ihr schliessen.

– Warum nicht?

– Im selben Zimmer hausen!

– Das ist nicht notwendig! Frau von Staël wohnte nur in derselben Wohnung wie ihr Mann.

– Wirklich?

– Was ist das für ein interessantes Gespräch, in das sich die Herrschaften vertiefen? fragte die Professorin, die in diesem Augenblick aus dem Salon trat.

– Wir sprachen von Laokoon, antwortete Helene und stand auf, verletzt von dem überlegenen Ton, den die Professorin anschlug. Und damit war ihr Entschluss gefasst.

Acht Tage später wurde die Verlobung zwischen dem Dozenten und Helene verkündigt. Sie wollten im Herbst heiraten und sich in Uppsala niederlassen.

 

Man hatte dem Dozenten der Ethik ein glänzendes Bankett gegeben, um seinen Abschied vom Junggesellenleben zu feiern. Es war unerhört getrunken werden, und der einzige Künstler der Stadt, der Zeichenlehrer an der Domschule, hatte in gewaltigen Kartons das bisherige Geschlechtsleben des Opfers historisch geschildert. Das war der Glanzpunkt des Festes. Die Ethik war ein Lehrstoff und eine Milchkuh wie viele andere, aber für das bürgerliche und private Leben hatte sie keine Bedeutung. Der Dozent war kein Heiliger gewesen, sondern hatte wie alle andern seine Abenteuer hinter sich; die waren allgemein bekannt, weil er keine Veranlassung gehabt, sie geheim zu halten. Mit ungezwungenem Lächeln sah er daher zu, wie sie, in Kohle und Farbe dargestellt, sich abrollten, von lustigen Versen begleitet. Als jedoch zuletzt seine nahende Seligkeit in einfachen aber kräftigen Zügen geschildert wurde, fühlte er sich tief verlegen, und wie ein Blitz durchfuhr es sein Gehirn: Wenn Helene das sähe!

Nach dem Bankett, auf dem er nach alter ehrlicher Sitte acht Glas Branntwein getrunken hatte, war er so berauscht, dass sich seine Befürchtungen in vertraulichen Mitteilungen äusserten. Unter den Gastgebern war auch ein verheirateter Mann, und an den wendete sich der Verbrecher, um Rat und Auskunft einzuholen. Da sie alle beide betrunken waren, wählten sie als geheimen Ort der Beratung zwei Stühle, die mitten im Saal unter dem Kronleuchter standen. Sie waren denn auch bald von einer lauschenden Menge umringt.

– Hör mal! Du bist ein verheirateter Mann, begann der Dozent und schrie möglichst laut, um, wie er glaubte, von den Umstehenden nicht gehört zu werden. Du musst mir ein Wort sagen, aber nur eins, denn ich bin heute abend ausserordentlich empfindlich, besonders in dieser Frage.

– Ich will dir, Bruder, nur ein Wort sagen, nur eins, schrie der Freund und legte seinen Arm um den Hals des andern, um zu flüstern; dann fuhr er laut schreiend fort: Jede Handlung, hoc est jeder Actus, zerfällt in drei Momente, mein Bruder, Progressus, Culmen, Regressus. Über den Progressus will ich sprechen, vom Culmen spricht man nicht. Ja, siehst du, die Initiative, um sie so zu nennen, die kommt dem Mann zu, die ist dein Teil! Du musst also die Initiative ergreifen, du musst einschreiten, verstehst du!

– Wenn aber die andere Partei die Initiative nicht billigt?

Der Freund sah den Novizen verdutzt an; stand auf und kehrte ihm mit einem verächtlichen Blick den Rücken.

– Narr! sagte er.

– Danke! war alles, was der dankbare Schüler antworten konnte.

Jetzt war ihm die Sache klar.

Am nächsten Tage hatte er Feuer im Leib von all den starken Getränken, die er vertilgt; er ging hin und nahm ein warmes Bad, denn er sollte sich am dritten Tag verheiraten.

 

Die Hochzeitsgäste waren gegangen, die Dienstboten hatten im Esssaal abgedeckt, sie waren allein.

Helene war verhältnismässig ruhig, er aber war recht nervös. Ihre Verlobungszeit war in ernsten Gesprächen hingegangen; nie waren sie wie andere Verlobte gewesen, hatten einander nicht umarmt, einander nicht geküsst. Jedes Mal, wenn er sich ihr hatte nähern wollen, hatten Helenes kalte Blicke ihn entwaffnet. Aber er liebte sie, wie ein Mann eine Frau liebt: sowohl körperlich wie seelisch.

Sie gingen auf dem Teppich des Salons auf und ab und suchten nach einem Gesprächsstoff. Aber ein eigensinniges Schweigen herrschte. Die Lichter der Krone waren niedergebrannt, und das Stearin tropfte in langen Tropfen über die Manschetten. Das Zimmer war von dem Geruch der Speisen und den Dünsten der Weine erfüllt, und auf dem Spiegeltisch lag das Bukett Helenes und sandte betäubende Düfte von Nelke und Heliotrop aus.

Schliesslich blieb er vor ihr stehen, streckte die Arme aus und sagte in gekünsteltem Ton, der ungezwungen klingen sollte:

– Und jetzt bist du mein Weib!

– Was willst du damit sagen? war Helenes schroffe Antwort.

Er wurde ganz entwaffnet und liess die Arme sinken. Dann aber ermannte er sich und sagte mit verlegenem Lächeln:

– Ich will damit sagen, dass wir Mann und Weib sind.

Helene sah ihn an, als sei er berauscht, und antwortete:

– Erkläre dich!

Das konnte er eben nicht. Alle Hilfsmittel der Philosophie und der Ethik versagten; er stand einer kalten und höchst unangenehmen Wirklichkeit gegenüber.

Sie ist schamhaft, dachte er; das ist ihr Recht, aber ich muss einschreiten und meine Pflicht tun.

– Hast du mich missverstanden? fragte Helene und die Stimme zitterte ihr.

– Nein, gewiss nicht, aber, liebes Kind, hm, wir, hm ...

– Was ist das für eine Sprache? „Liebes Kind?“ Für was hältst du mich? Und was sind deine Absichten? Albert, Albert! fuhr sie fort, ohne eine Antwort abzuwarten, die sie nicht haben wollte. Sei gross, sei edel, und lerne im Weibe etwas Höheres sehen als nur ein Weib! Tue das und du wirst glücklich und gross werden!

Albert war besiegt! Von Scham vernichtet und zornig auf den falschen Freund, der ihm einen schlechten Rat gegeben, fiel er auf seine Kniee und stammelte:

– Verzeih, Helene! Du bist edler als ich, reiner, besser, du bist eine bessere Natur, und du wirst mich erheben, wenn ich in die Materie versinken will!

– Steh auf und sei stark, Albert, sagte Helene mit dem Tonfall einer Prophetin; geh in Frieden und zeig der Welt, dass die Liebe etwas anderes ist, als die niedrige tierische Begierde. Gute Nacht!

Albert stand auf und sah unschlüssig seiner Frau nach, wie sie in ihr Zimmer ging und die Tür hinter sich schloss.

Von den reinsten Gefühlen und edelsten Absichten erfüllt, ging Albert ebenfalls in sein Zimmer. Er warf den Frack ab und steckte eine Zigarre an. Es war ein Junggesellenzimmer, das er sich eingerichtet hatte. Ein Bettsofa, ein Schreibtisch, einige Büchergestelle, eine Waschtoilette.

Als er sich ausgekleidet hatte, rieb er sich mit dem nassen Handtuch kalt ab. Dann legte er sich auf sein Sofa und schlug die Abendzeitung auf. Während er seine Zigarre rauchte, wollte er lesen. Er las einen Artikel über Schutzzoll. Nachdem er durch diese Lektüre seine Gedanken in ihren normalen Lauf zurückgeführt hatte, begann er über seine Stellung nachzudenken.

War er verheiratet oder war er ein Junggeselle? Er war Junggeselle wie vorher, nur mit dem Unterschied, dass er einen weiblichen Pensionär hatte, der aber nicht für sich bezahlte. Der Gedanke war unangenehm, aber er sagte die Wahrheit. Die Köchin besorgte den Haushalt und das Hausmädchen räumte die Zimmer auf. Was sollte Helene denn tun? Sich entwickeln! Ach, das ist ja Unsinn, dachte er, und er fand sich lächerlich. Aber, dachte er, wenn der Freund recht hätte, wenn es nur die gewöhnliche alberne Art der Frauen war? Sie konnte nicht gut zu ihm kommen, also musste er wohl zu ihr gehen. Ging er nicht, so würde sie ihn morgen vielleicht auslachen, ja, was schlimmer war, sich verletzt fühlen. Ja, ja, die Frauen sind unbegreiflich, und der Versuch muss gemacht werden.

Er sprang auf, warf den Schlafrock über und ging in den Salon. Mit zitternden Knieen lauschte er, ob ein Laut aus Helenes Zimmer zu hören sei.

Nichts! Da fasste er sich ein Herz und trat an die Tür. Blaue Blitze funkelten ihm vor den Augen, als er klopfte.

Keine Antwort. Er zitterte am ganzen Körper und der Schweiss rann ihm über die Stirn.

Darauf klopfte er noch ein Mal, und mit einer Fistelstimme, wie sein trockener Mund sie nur hervorbringen konnte, sagte er:

– Ich bin es nur!

Keine Antwort! Da überkam ihn die Scham, und er kehrte wieder in sein Zimmer zurück, verdutzt und abgekühlt.

Es war also Ernst!

Er kroch ins Bett und griff wieder zu der Zeitung.

Lange hatte er noch nicht gelesen, als er unten auf der Strasse Schritte hörte, die allmählich langsamer wurden und schliesslich verstummten. Dann erklangen leise musikalische Laute, und ein Doppelquartett begann:

– Integer vitae scelerisque purus ...

Er fühlte sich gerührt! Das war schön! Purus! Er fühlte sich über die Materie erhoben. Im Zeitgeist also lag diese Mahnung, höhere Forderungen an die Ehe zu stellen; die Jugend war von dem ethischen Strom, der die Epoche durchdrang, ergriffen worden ...

– Nec venenatis ...

Wenn Helene geöffnet hätte!

Er nickte leise den Takt und fühlte sich so gross, so edel, wie Helene ihn hatte haben wollen.

– Fusce pharetra!

Sollte er das Fenster öffnen und der studierenden Jugend im Namen seiner Gattin danken.

Er stand auf!

Ein vierfaches schallendes Hohngelächter schmetterte gegen die Fensterscheiben, gerade als er die Schnur der Rollgardine ziehen wollte.

Ja, wirklich, man lachte!

Ausser sich taumelte er ins Zimmer zurück und stiess gegen den Schreibtisch. Er war lächerlich. Ein leiser Hass gegen die Frau, die diese demütigende Szene verschuldet, begann in ihm zu keimen, aber seine Liebe sprach sie wieder frei. Dann warf er sich über die schelmischen Spassvögel, die er vor den Senat bringen wollte. Doch immer kam er auf sich selber zurück, und er war wütend, dass er sich hatte nasführen lassen.

Bis gegen Morgen ging er im Zimmer auf und ab, dann fiel er auf sein Bett und schlief ein, in bitterer Trauer über ein solches Ende seines Hochzeitstages, des schönsten Tages seines Lebens, der auch der seligste hätte werden sollen.

 

Am nächsten Tage traf er Helene am Kaffeetisch. Sie war kalt und vornehm wie gewöhnlich. Albert wollte sich natürlich von der Serenade nichts merken lassen. Helene sprach von grossen Plänen für die Zukunft, besonders über die Aufhebung der Prostitution. Albert war entgegenkommend und versprach, zu tun, was in seiner Macht stehe. Die Menschen müssten keusch werden, denn nur die Tiere seien unkeusch.

Dann ging er in seine Vorlesung. Da er durch die Serenade misstrauisch geworden war, glaubte er beim Auditorium allerlei Mienenspiel zu bemerken, und die Kollegen schienen ihm auf eine Art zu gratulieren, die ihn kränkte.

Ein grosser, fetter, lebensfreudiger Kollege stellte sich ihm im Flur der Bibliothek in den Weg, packte ihn beim Kragen und fragte mit kolossalem Grinsen:

– Nun?

– Schäme dich! war das einzige, was er antworten konnte, indem er sich losriss und auf der Treppe verschwand.

Als er nach Haus kam, war das Heim voll von Freundinnen. Frauenröcke schlugen Albert um die Beine, und als er sich in einen Sessel setzte, verschwand er hinter Frauenkleidern.

– Sie hatten ja ein Ständchen gestern abend, sagte die Professorin.

Albert erblasste, aber Helene nahm das Wort:

– Das war ja nicht zu viel, aber sie hätten wenigstens nüchtern sein können. Diese Trunksucht unter der studierenden Jugend ist doch ganz fürchterlich.

– Was haben sie denn gesungen? fuhr die Professorin fort.

– Es waren die gewöhnlichen Lieder: „Mein Leben ein Meer“ und andere, sagte Helene.

Albert sah sie erstaunt an, musste sie aber bewundern.

Der Tag verging unter Geschwätz und Erörterungen. Albert empfand ein gewisses Gefühl von Müdigkeit. Nach der Arbeit des Tages einige Abendstunden mit Frauen plaudern, war ja ganz angenehm; dies war aber zu viel. Und dann musste er zu allem ja sagen. Machte er einen Versuch, zu widersprechen, wurde er sofort zurechtgewiesen.

Es wurde Abend, und man musste schlafen gehen. Die Gatten sagten sich gute Nacht, und jeder ging in sein Zimmer.

Wieder begannen Zweifel und Unruhe ihn anzufechten. Er glaubte einen zärtlichen Blick bei Helene bemerkt zu haben, und er war nicht ganz sicher, ob sie ihm nicht die Hand gedrückt. Dann steckte er eine Zigarre an und nahm die Zeitung. Fing er nur an von der Wirklichkeit zu lesen, so schienen ihm die Augen aufzugehen.

– Verrückt, sagte er halblaut, indem er die Zeitung hinwarf.

Er zog den Schlafrock an und ging in den Salon.

Er hörte, dass sich in Helenes Zimmer etwas rührte.

Er klopfte.

– Sind Sie es, Luise? wurde von innen gerufen.

– Nein, ich bins nur, flüsterte er, halb den Atem im Halse.

– Was ist? Was willst du?

– Ich möchte mit dir sprechen, Helene, antwortete er beinahe bewusstlos.

Der Schlüssel im Schloss wurde umgedreht. Albert traute seinen Ohren nicht. Die Tür wurde geöffnet.

Helene stand da, noch angekleidet.

– Was willst du? fragte sie. Da aber sah sie, dass er nur den Schlafrock anhatte und dass seine Augen seltsam glänzten.

Mit ausgestrecktem Arm schob sie ihn zurück und schlug die Tür zu.

Er hörte einen Körper zu Boden fallen und gleich darauf ein lautes Weinen.

Wütend, aber beschämt, kehrte er in sein Zimmer zurück. Es war also ernst! Aber das war bestimmt nicht normal!

Er durchwachte die Nacht unter Grübeleien, und am Morgen musste er allein Kaffee trinken.

Als er mittags nach Haus kam, empfing Helene ihn mit einer schmerzlichen und ergebenen Miene:

– Warum hast du mir das getan? sagte sie.

Er bat um Verzeihung, aber recht kurz. Dann reute seine Kürze ihn und er gab klein bei.

So war sein eheliches Leben ein halbes Jahr lang. Zwischen Zweifel, Wut, Liebe wurde er hin und her geworfen, blieb aber immer an der Kette.

Sein Gesicht wurde grau, und seine Augen erloschen. Er war oft schlechter Laune, und unter einem kalten Äussern siedete stets eine dumpfe Wut.

Helene fand ihn verändert und despotisch, weil er zu opponieren anfing und oft die Sitzungen verliess, um ausser dem Haus Verkehr zu suchen.

Eines Tages wurde er aufgefordert, sich um eine Professur zu bewerben. Da er seine Mitbewerber für überlegen hielt, machte er keinen Versuch, aber Helene bestürmte ihn so lange, bis er die Bedingungen erfüllte. Er wurde gewählt. Warum, wusste er nicht, aber Helene wusste es.

Um dieselbe Zeit sollte ein Reichstagsabgeordneter gewählt werden. Der neue Professor, der nie davon geträumt hatte, an öffentlichen Angelegenheiten teilzunehmen, war ganz bestürzt, als er sich als Kandidat aufgestellt sah. Noch mehr bestürzt war er, als er gewählt wurde. Er dachte abzulehnen, aber Helenes Vorstellungen, wie schön es sei, die Kleinstadt gegen die Hauptstadt vertauschen zu können, veranlassten ihn, die Wahl anzunehmen.

Sie zogen also nach Stockholm.

Während dieses halben Jahres hatte der neue Professor und Reichstagsabgeordnete in der Welt der Junggesellen die neuen Ideen kennen gelernt, die von England kamen und die alte Gesellschafts- und Moral-Lehre umschaffen wollten. Dabei fühlte er, dass der Augenblick kommen werde, in dem er mit seiner „Pensionärin“ brechen müsse. In Stockholm, wo neue Geister ihm Mut machten, diese Lehren, die er innerlich schon anerkannt, auch zu bekennen, lebte er auf.

Helene dagegen witterte Konjunktur im Gegenstrom und warf sich auf die kirchliche Seite. Da aber wurde es Albert zu viel, und er bäumte sich auf. Seine Liebe war erkaltet, und er hielt sich „ausser dem Hause“ schadlos. Seiner Frau glaubte er dadurch nicht untreu zu werden, denn sie hatte in einem Verhältnis, das gar nicht existierte, niemals Treue verlangt.

Durch den Verkehr mit dem andern Geschlecht erwachte das Gefühl seiner Männlichkeit, und bald sah er den Zustand der Erniedrigung, in dem er lebte, ein.

Helene merkte, wie er sich von ihr löste. Ihr Zusammenleben wurde ungemütlich, und jeden Augenblick war eine Katastrophe zu erwarten.

Es war nicht mehr lange bis zur Eröffnung des Reichstages. Helene sah unruhig aus und schien ihren Sinn geändert zu haben. Ihr Tonfall war weicher als früher, und ihr schien daran zu liegen, ihm alles recht zu machen. Sie sorgte dafür, dass die Dienstmädchen das Haus in Ordnung hielten und dass das Essen pünktlich auf den Tisch kam.

Er wurde misstrauisch und wunderte sich, beobachtete sie und hielt sich bereit auf das, was kommen sollte.

Eines Morgens beim Kaffee sah Helene verlegener als gewöhnlich aus. Sie zupfte an der Serviette und hustete einige Male leise und trocken. Schliesslich fasste sie sich ein Herz und rückte mit ihrem Anliegen heraus.

– Albert, begann sie, du wirst doch mir und der Sache, der ich diene, einen Dienst tun?

– Was ist das für eine Sache? fragte er kurz und trocken, denn jetzt hatte er die Oberhand.

– Du wirst doch etwas für das unterdrückte Weib tun? Nicht wahr?

– Wo ist das unterdrückte Weib?

– Was, du hast unsere grosse Sache verlassen? Du lässt uns im Stich?

– Was ist das für eine Sache?

– Die Frauenfrage!

– Die kenne ich nicht.

– Die kennst du nicht? O! Du! Ist nicht die Frau aus dem Volke in einer ganz bedrückten Lage?

– Nein, ich kann nicht sehen, dass sie sich in einer schlimmeren Lage befindet als der Mann aus dem Volke. Befreie ihn von seinen Ausbeutern, und sein Weib wird auch befreit sein.

– Aber die Unglücklichen, die sich verkaufen müssen ... und die elenden Männer ...

– Die so elend sind, dass sie bezahlen! Hat sich je ein Mann für ein Vergnügen, das beide geniessen, bezahlen lassen?

– Darum handelt es sich nicht! Es handelt sich vielmehr darum, ob das Gesetz nicht ungerecht ist, da es die eine aber nicht den andern bestraft.

– Das ist keine Ungerechtigkeit. Die eine hat sich zu einer Quelle der Ansteckung erniedrigt, deshalb behandelt der Staat sie wie einen tollen Hund. Wenn du einen Mann triffst, der sich so tief erniedrigt, gut, dann stelle ihn auch unter polizeiliche Aufsicht. Ach, ihr reinen Engel, die ihr den Mann als ein unreineres Tier verachtet! Was willst du von mir? Was soll ich tun?

Er sah, dass sie ein Schriftstück in der Hand hatte, das sie vom Büfett genommen. Ohne ihre Antwort abzuwarten, nahm er es ihr fort und las.

– Einen Antrag für den Reichstag! Ich soll der Strohmann sein und diesen Antrag einbringen! Ist das moralisch? Hältst du das, streng genommen, für ehrlich?

Helene erhob sich, brach in Tränen aus und warf sich auf das Sofa.

Er stand auf und näherte sich ihr. Er nahm ihre Hand, um den Puls zu untersuchen und nachzusehen, ob ihr Anfall irgendwie gefährlich sei. Sie ergriff konvulsivisch seine Hand und drückte sie gegen ihre Brust.

– Geh nicht von mir, schluchzte sie; verlass mich nicht, sondern bleib und lass mich an dich glauben.

Zum ersten Mal sah er einen Ausbruch ihrer Gefühle. Dieser feine Körper, den er bewundert und geliebt hatte, konnte also Leben bekommen. Es rollte also warmes Blut in diesen Adern! Blut, das Tränen destillieren konnte. Er streichelte ihre Stirn.

– O, sagte sie, es ist schön, wenn du mich so streichelst. O, Albert, so müsste es immer sein!

– Ja, antwortete er, warum ist es nicht so gewesen? Warum nicht?

Helene schlug die Augen nieder und wiederholte nur:

– Warum nicht?

Ihre Hand blieb in seiner, und er fühlte, wie eine schöne Wärme von dem sammetweichen Glied ausging; alle seine alten Gefühle für sie flammten wieder auf, jetzt aber nicht mehr ohne Hoffnung.

Schliesslich erhob sie sich.

– Verachte mich nicht, sagte sie; hörst du, verachte mich nicht.

Und sie ging in ihr Zimmer.

Was ist das? fragte Albert sich, als er in die Stadt ging. Macht sie eine Krisis durch? Beginnt ihr Leben als Frau jetzt erst?

Er blieb den ganzen Tag in der Stadt. Ging abends ins Theater. Man gab „Die Welt, in der man sich langweilt“. Wurde er böse, als er die platonische Liebe, die Verbindung der Seelen, entlarvt und belächelt sah? Nein, er wurde durchaus nicht böse. Es war ihm, als werde ein Schleier aus feingewebten Lügen von seinem guten Verstand fort gezogen; er lächelte über das liebenswürdige Tier, das seinen Kopf unter den Kartonflügeln der Theaterengel hervorsteckte; er lächelte beinahe Tränen über seinen langen, langen Selbstbetrug; er lachte über seine Torheit. Welche Fäulnis lag doch hinter dieser lügnerischen Moral, dieser wahnsinnigen Sucht, sich von der gesunden Natur emanzipieren zu wollen; die asketischen Lehren des Idealismus und des Christentums hatten diesen Keim dem neunzehnten Jahrhundert eingepflanzt.

Wie er sich schämte! Dass er sich so lange hatte dupieren lassen!

Als er nach Haus kam, sah er noch Licht in Helenes Zimmer. Er ging so leise, wie er konnte, an ihrer Tür vorbei. Drinnen wurde gehustet.

Er ging in sein Zimmer und legte sich zu Bett. Las seine Zeitung und rauchte seine Zigarre. Er hatte sich gerade in einen Artikel über die Wehrpflicht vertieft, als plötzlich die Tür von Helenes Kammer aufgeht und Schritte und Geschrei im Salon zu hören sind. Er springt auf, um nachzusehen, was es gibt, im Glauben, Feuer sei ausgebrochen.

Im Salon steht Helene, im Nachtkleid. Als sie ihren Mann erblickt, schreit sie auf und eilt bis an ihr Zimmer zurück; dort bleibt sie stehen, den Kopf vorgestreckt.

– Verzeih, Albert! Du bist es, ich wusste nicht, dass du noch auf warst, und glaubte, es seien Diebe! Verzeih!

Und die Tür schliesst sich.

Was bedeutete das? Liebte sie ihn?

Er ging in sein Zimmer und trat vor den Spiegel. Konnte eine Frau ihn lieben? Er war ja hässlich! Aber die Seelen lieben einander, und so mancher hässliche Mann hatte eine schöne Frau bekommen. Dann aber war der Mann fast immer reich und mächtig gewesen!

Sollte Helene ihre falsche Stellung eingesehen haben? Oder hatte sie gemerkt, dass er sie verlassen wollte, und hatte sie die Absicht, ihn wieder zu erobern?

Am nächsten Morgen, als sie sich beim Kaffeetisch trafen, war Helene überaus sanft. Der Professor bemerkte, dass sie einen neuen Morgenrock trug, der mit Spitzen besetzt war und ihre Schönheit bedeutend hob.

Als er sich Zucker nehmen wollte, trafen sich ihre Hände zufällig.

– Verzeih, lieber Mann, sagte sie mit einer Miene, die er noch nie gesehen hatte und die an ein junges Mädchen erinnerte.

Sie sprachen über gleichgültige Dinge.

Am Vormittag wurde der Reichstag eröffnet.

Helene blieb bei ihrer nachgiebigen Art und wurde von Tag zu Tag gefühlvoller.

Die Frist, in der Anträge eingebracht werden mussten, ging zu Ende.

Der Professor kam eines Abends, nachdem er im Klub gewesen, ungewöhnlich aufgeräumt nach Haus. Er ging in sein Zimmer und legte sich wie gewöhnlich mit seiner Zigarre und seiner Zeitung zu Bett. Nach einer Weile hörte er, wie Helenes Tür geöffnet wurde. Dann blieb es einige Minuten still. Schliesslich klopfte es an seine Tür.

– Wer ist da? rief er.

– Ich bin es, Albert! Zieh dich an und komm heraus, ich muss mit dir sprechen.

Er zog sich an und kam in den Salon. Helene hatte einen Kronleuchter angesteckt und sass auf dem Sofa, in ihren Spitzenmorgenrock gekleidet.

– Verzeih mir, sagte sie, aber ich konnte nicht schlafen. Mein Kopf ist so sonderbar. Setz dich her und sprich mit mir.

– Du bist nervös, mein Kind, sagte Albert und nahm ihre Hand. Du musst ein Glas Wein trinken.

Er ging in den Esssaal und holte eine Karaffe voll Wein und zwei Gläser.

– Auf dein Wohl, Geliebte, sagte er.

Helene trank, und ihre Wangen fingen Feuer.

– Was ist dir? fragte er und legte seinen Arm um ihren Leib. Du fühlst dich unharmonisch?

– Ja, ich bin nicht glücklich!

Er hörte wohl, dass die Worte trocken und gesucht kamen, aber seine Leidenschaft war geweckt, und ihm war alles recht.

– Weisst du, warum du unglücklich bist? fragte er.

– Nein, das ist mir selber nicht klar. Aber eins weiss ich: dass ich dich liebe.

Albert nahm sie in seine Arme, drückte sie an sich und küsste ihr Gesicht.

– Bist du mein Weib oder bist du es nicht? flüsterte er.

– Ich bin dein Weib, hauchte Helene, und ihr Körper fiel zusammen, als seien alle Nerven zersprungen.

– Ganz und gar? flüsterte er, während er sie mit seinen Küssen paralysierte.

– Ganz und gar, ächzte sie, während sich ihr Körper in unbewussten Konvulsionen wand, als wolle sie sich im Traum gegen eine Gefahr wehren.

 

Als Albert am nächsten Morgen erwachte, erwachte er klar, ausgeschlafen, bei vollem Bewusstsein. Seine Gedanken waren stark und bestimmt wie nach einem guten tiefen Schlaf. Das Ereignis des gestrigen Tages stand ihm lebendig vor Augen. Der wahre Sachverhalt trat vor, unbestechlich, nüchtern, bestimmt.

Sie hatte sich verkauft!

Gegen drei Uhr hatte er, berauscht, blind, wahnsinnig, wie er war, versprochen, ihren Antrag im Reichstag einzubringen.

Und der Preis! Ruhig, kalt, unbeweglich hatte sie ihn empfangen.

Wer war die erste Frau, die erfand, das sie ihre Gunst verkaufen kann? Und welche Frau entdeckte, dass der Mann kaufen will? Diese Frau hat die Ehe und die Prostitution gestiftet. Und man behauptete, Gott habe die Ehe gestiftet!

Er sah seine Erniedrigung und ihre! Sie wollte über ihre Freundinnen triumphieren, dass sie die erste Frau sei, die in die Gesetzgebung eingegriffen; um diesen Triumph zu erreichen, hatte sie sich verkauft.

Aber er wollte sie entlarven. Er wollte ihr zeigen, wer sie war. Er wollte ihr sagen, die Prostitution könne nicht abgeschafft werden, solange die Frau ihren Vorteil dabei finde, sich zu verkaufen.

Und mit dem Entschluss kleidete er sich an.

Als er in den Esssaal kam, musste er eine Weile warten. Er dachte sich aus, was folgen würde, und ermannte sich, ihr zu begegnen.

Dann kam sie! Ruhig, lächelnd, triumphierend; aber schöner, als er sie je gesehen. Ein dunkles Feuer brannte in ihrem Auge, und er, der erwartet, sie werde wie eine Neuvermählte die Blicke niederschlagen und erröten, war vernichtet. Sie, sie spielte die siegreiche Verführerin und er war der schüchterne Verführte.

Die Worte, die er hatte sagen wollen, kamen nicht über seine Lippen; er stand auf, besiegt, ging ihr demütig entgegen und küsste ihr die Hand.

Sie konversierte wie gewöhnlich, ohne anzudeuten, dass ein neues Moment in ihr Leben eingetreten war.

Als er dann ihr Schriftstück in den Reichstag trug, raste er innerlich, aber der Gedanke an die künftige Seligkeit beruhigte ihn wieder.

Als er dann abends ganz kühn an Helenes Tür klopfte, war sie verschlossen.

Sie blieb drei Wochen geschlossen. Wie ein Hund kroch er vor ihr, gehorchte jedem Wink von ihr, tat alles, was sie wünschte, vergebens.

Da brach seine Empörung los, und er sagte ihr alles. Sie antwortete scharf. Als sie aber sah, dass sie zu weit gegangen war, dass er seine Kette abfeilte, ergab sie sich ihm.

Und er trug seine Kette. Er biss in sie, er riss an ihr, aber sie hielt.

Bald lernte sie, wie weit sie gehen durfte, und wenn es ihm zuviel zu werden schien, gab sie nach.

Er bekam eine fanatische Sehnsucht, sie als Mutter zu sehen. Das wird sie vielleicht zum Weib machen, dachte er; das wird die gesunde Natur hervorlocken.

Aber sie wurde nicht Mutter.

Hatte der Ehrgeiz, der selbstsüchtige Brand des Individuums, die Quelle des Lebens verzehrt? Das konnte er nicht wissen.

Eines Tages teilte sie ihm mit, sie müsse auf einige Tage zu Verwandten reisen.

Als Albert abends nach ihrer Abreise heimkehrte und das Haus leer sah, überfiel ihn ein grausames Gefühl der Leere, der Sehnsucht. Jetzt wurde ihm klar, wie sein ganzes Wesen von Liebe zu ihr durchwebt war. Die Zimmer waren öde; es war wie nach einem Begräbnis.

Ihr Platz am Tisch war leer, und er ass beinahe nichts.

Nach dem Abendbrot steckte er die Krone im Salon an. Er setzte sich auf ihren gewöhnlichen Platz ins Sofa; er nahm ihre zurückgelassene Handarbeit – eine Kinderjacke, für ein unbekanntes Kind in einer neugegründeten Kinderkrippe bestimmt. Da sass noch die Nadel. Er stach sich damit in den Finger, als wolle er fühlen, wie süss der Schmerz sei.

Darauf steckte er ein Licht an und ging in ihr Schlafzimmer. Er hielt die Hand vors Licht, als er eintrat, wie wenn er ein Verbrechen begehe. Aber der Raum glich nicht dem Schlafzimmer einer Frau. Ein schmales Bett ohne Umhang. Ein Sekretär, ein Büchergestell, ein Nachttisch, ein Sofa. Ganz wie in seinem Zimmer. Kein Toilettentisch, nur ein kleiner Wandspiegel.

Dort hing ihr Kleid. Er sah, wie die dicke durchwirkte Serge die Formen ihres Körpers abgedrückt hatte. Er fuhr mit der Hand über den Stoff und legte sein Gesicht an die Halskrause; dann schlang er den Arm um die Taille, aber das Kleid fiel wie ein Schemen zusammen.

– Und man sagt, die Seele sei ein Geist, dachte er. Aber dann muss sie wenigstens ein körperlicher Geist sein.

Er näherte sich dem Bett, als erwarte er, eine Erscheinung zu sehen. Er berührte alles, nahm alles in die Hand.

Schliesslich, als habe er etwas gesucht, etwas, das ihm ein Rätsel lösen sollte, begann er an den Handgriffen der Sekretärschubladen zu ziehen; sie waren alle verschlossen. Dann zog er wie zufällig die Schublade des Nachttisches auf. Stiess sie aber schnell wieder zu. Hatte jedoch schon den Titel einer Broschüre lesen und den Zweck einiger ungewöhnlicher Gegenstände ahnen können.

Das war es also! „Fakultative Sterilität!“ Was für die Unterklasse, der man die Existenzmittel genommen, eine Rettung von der Armut sein sollte, war das Werkzeug des Egoismus, der letzten Konsequenz des Idealismus, geworden. War die Oberklasse degeneriert, da sie sich nicht mehr vermehren wollte, oder war sie moralisch verfault? Wohl beides, da sie es für unmoralisch hielt, uneheliche Kinder zu gebären, und für niedrig, eheliche zu gebären.

Aber er wollte Kinder haben! Er hatte die Existenzmittel dazu, und er hielt es sowohl für eine Pflicht wie für einen berechtigten Genuss, sein Wesen in ein neues Dasein übergehen zu lassen. Das war des wahren, des gesunden Egoismus natürlicher Weg zum Altruismus. Sie aber ging einen anderen Weg und arbeitete Jacken für fremde Kinder. War das schöner? Es sollte nach etwas aussehen! Aber es war nur die Furcht vor der Last der Mutterschaft, und es war billiger und weniger mühsam, auf dem Sofa eines Salons eine Jacke zu arbeiten, als das arbeitsreiche Leben einer Kinderstube durchzumachen.

Es war eine Schande geworden, Weib zu sein, Geschlecht zu haben, Mutter zu werden.

Darin lag es. Arbeiten für den Himmel, für höhere Interessen, für die Menschheit, so hiess es; aber für die Eitelkeit, für die Selbstsucht, für die Öffentlichkeit, das war es.

Und er hatte sie noch beklagt, er hatte bedauert, dass er über ihre Unfruchtbarkeit unwillig gewesen. Er hatte sich einmal die Verachtung „guter und rechtschaffener“ Menschen zugezogen, weil er nicht mit der Achtung, die man dem Unglück schuldet, von den unfruchtbaren Frauen gesprochen: die seien heilig, weil sie von dem grössten Unglück getroffen seien, das ein Weib treffen könne.

Und für was arbeitete diese Frau? Für den Fortschritt? Für die Rettung der Menschheit?

Nein, gegen den Fortschritt, gegen Freiheit und Aufklärung. Hatte sie nicht kürzlich einen neuen Antrag, die Religionsfreiheit zu beschränken, niedergeschrieben? Hatte sie nicht eine Broschüre über die Zuchtlosigkeit der Dienstboten verfasst? Arbeitete sie nicht für die Verschärfung der Militärgesetze? Unterstützte sie nicht die Agitation, welche die Mädchen durch dieselbe elende Erziehung, welche die Knaben erhalten, verderben will.

Er hasste ihre Seele, denn er hasste ihre Gedanken! Und doch liebte er sie? Was liebte er denn bei ihr?

– Wahrscheinlich, antwortete er sich, indem er es nicht unterlassen konnte, auf die Philosophie zu kommen, wahrscheinlich, den Keim zu einem neuen Wesen, den sie trägt, den sie aber ersticken will!

Was konnte es sonst sein?

Was aber liebte sie an ihm? Seinen Titel, seine Stellung, seine Macht!

Und mit diesen alten Menschen sollte man an dem Aufbau der neuen Gesellschaft arbeiten!

Er wollte ihr all das sagen, wenn sie nach Haus kam; aber er wusste, dass er es nicht tun werde. Er wusste, dass er vor ihr kriechen und um ihre Gunst betteln werde; dass er ihr Sklave bleiben und immer wieder seine Seele verkaufen werde, wie sie ihren Körper verkaufte. Er wusste, dass er das tun werde, denn er liebte sie.

Ungetraut und getraut

Der Referendar ging an einem schönen Frühlingstage im alten Stockholmer Hopfengarten spazieren. Er hörte aus der Rotunde Gesang und Musik klingen und sah aus den grossen Fenstern Licht strömen, das seinen Schein bis unter die Schatten der eben ausgeschlagenen Linden warf.

Er ging hinein, setzte sich an einen freien Tisch nahe der Estrade und verlangte einen Grog.

Zuerst sang ein Komiker ein trauriges Lied von der „Toten Ratte“. Dann kam ein junges Mädchen in rosenrotem Kleid und trug das dänische Lied vor: „Und nichts ist so lieblich wie eine Mondscheinfahrt“. Sie sah verhältnismässig unschuldig aus und richtete das Lied an unsern unschuldigen Referendar. Von einer solchen Auszeichnung geschmeichelt, leitete der Unterhandlungen ein, die mit einer Flasche Wein begannen und mit zwei möblierten Zimmern nebst Küche und den nötigen Bequemlichkeiten endeten.

Die Gefühle des jungen Mannes zu analysieren, gehört nicht in den Plan dieser Arbeit, ebensowenig wie eine Beschreibung des Meublements und der nötigen Bequemlichkeiten zu geben. Genug, sie waren gute Freunde.

Aber von den sozialistischen Tendenzen der Zeit angesteckt und immer sein Glück vor Augen haben wollend, beschloss der junge Mann, selber in die Wohnung zu ziehen und die Freundin als Haushälterin anzustellen. Darauf ging sie gern ein.

Aber der junge Mann hatte Familie, das heisst seine Familie zählte ihn zu ihrem Mitglied, und da er nach deren Meinung die allgemeine Moral verletzt und einen Schatten auf das Ansehen der Familie geworfen hatte, wurde er vor Eltern und Geschwister zitiert, um zurechtgewiesen zu werden. Er aber glaubte für solche Zurechtweisungen zu alt zu sein und brach Unterhandlungen und Verkehr ab.

Das machte ihm sein eigenes Heim nur noch lieber, und er wurde ein recht häuslicher Ehemann, Verzeihung, „unehelicher“ Mann. Sie waren selig, denn sie liebten einander, und keine Fessel drückte sie. Sie lebten in einer fröhlichen Unruhe, dass sie einander verlieren könnten, und taten daher alles, um einander zu behalten. Die Beiden waren eins.

Etwas aber fehlte ihnen in ihrem Leben; das war der Verkehr. Die Gesellschaft wollte nichts von ihnen, und der junge Mann wurde von der „grossen Welt“ nicht eingeladen.

Es war der Tag vor der Weihnacht, ein trauriger Tag für die, welche Familie gehabt haben. Als er morgens beim Kaffee sass, empfing er einen Brief. Der war von einer Schwester, die ihn inständig bat, am Weihnachtsabend nach Haus zu kommen. Die Saiten seiner alten Gefühle waren angeschlagen, und er wurde verstimmt. Sollte er seine Freundin an einem solchen Abend allein zu Hause sitzen lassen? Nein! Sollte sein Platz im Elternhaus zum ersten Mal am Weihnachtsabend leer bleiben? Hm! So standen die Dinge, als er aufs Gericht ging.

In der Frühstückspause trat ein Kamerad an ihn heran und fragte so vorsichtig wie möglich:

– Wirst du den Weihnachtsabend bei deiner Familie verleben?

Er flammte auf. Sollte der eingeweiht sein? Oder was meinte er?

Der andere sah, dass er auf ein Hühnerauge getreten hatte, und fuhr fort, ohne die Antwort abzuwarten.

– Ja, siehst du, wenn du allein bist, habe ich gedacht, du könntest mit mir, hm, mit uns zusammen sein. Du weisst vielleicht, hm, ich habe ein kleines Verhältnis, hm, ein nettes, prächtiges Mädchen, siehst du.

Das klang gut, und er sagte, er wolle den Vorschlag gern annehmen, wenn sie beide kommen könnten. Natürlich dürften sie das, und damit war die Weihnachtsfrage und die Verkehrsfrage gelöst.

Sie trafen sich um sechs Uhr bei dem Freunde, und die beiden „Alten“ setzten sich hin, um Portwein zu trinken, während die Frauen in die Küche gingen.

Dann halfen sie alle vier beim Decken: die beiden Alten knieten auf den Boden nieder und machten mit Keilen und Querhölzern den Tisch breiter. Die Frauen waren schon die besten Freundinnen geworden, denn sie wurden von dem recht sichtbaren Band zusammengehalten, das den grossen Namen „Urteil der Welt“ trägt. Sie achteten einander, sie waren feinfühlig gegen einander. Sie vermieden diese zweideutige Sprache, an der sich Eheleute ergötzen, wenn die Kinder sie nicht hören, als wollten sie sagen: jetzt haben wir das Recht dazu.

Bei der Torte brachte der Jurist einen Toast auf die eigene Häuslichkeit aus, in die wir vor der Welt und den Menschen fliehen, in der wir unsere besten Stunden mit unsern wirklichen Freunden verleben.

Da fing Marie-Luise an zu weinen, und als er sie fragte, warum sie betrübt sei, warum sie nicht glücklich sei, schluchzte sie, sie sehe wohl, dass er seine Schwestern und seine Mutter vermisse.

Er antwortete, er vermisse sie durchaus nicht, und sie selber würde sie sicher weit fort wünschen, wenn sie in ihre Nähe käme.

– Ja, aber warum könnten sie sich nicht verheiraten?

– Seien sie denn nicht verheiratet?

– Ja, aber nicht richtig!

– Vorm Pastor? Er glaube nicht, dass Pastoren etwas anderes seien als examinierte Studenten, und ihre Beschwörungsworte seien nur Mythologie.

– Das verstehe sie nicht, aber gut sei es nicht, das wisse sie, und die Leute im Hause zeigten mit Fingern nach ihr.

– Mögen sie doch zeigen!

Sophie fiel ein, sie wisse wohl, sie seien nicht fein genug für die Verwandten; aber daran kehre sie sich nicht. Jeder bleibe da, wo er hingehöre, und solle damit zufrieden sein.

Jedenfalls hatte man einen Verkehr, und man lebte in Eintracht, wie Familien selten tun. Das Band, das sie zusammenhielt, war immer vorhanden; dafür aber waren sie frei von andern Fesseln. Und die Gatten waren immer wie Verliebte, ohne schlechte eheliche Gewohnheiten anzunehmen, wie zum Beispiel unhöflich gegen einander zu sein.

 

Nach einigen Jahren wurde die Verbindung durch einen Sohn gesegnet. Damit war die Geliebte zu dem Rang einer Mutter gestiegen, und alles andere wurde jetzt vergessen. Das Leiden bei der Geburt und die Fürsorge für den Neugeborenen nahmen ihr die alten selbstsüchtigen Züge, immer angenehm sein zu wollen und allein die Liebe des Mannes zu beanspruchen.

Als Mutter zeigte sie sich der Freundin gegenüber etwas überlegen, und dem Mann gegenüber trat sie mit grösserer Sicherheit auf.

Eines Tages kam dieser nach Haus und verkündigte eine grosse Neuigkeit. Er habe seine älteste Schwester auf der Strasse getroffen, und sie wisse natürlich genau Bescheid. Sie sei sehr neugierig auf ihren Neffen und wolle endlich einen Besuch bei ihnen machen.

Marie-Luise war erstaunt und begann aufzuräumen und abzustauben, und ihr Mann musste ihr endlich ein neues Kleid kaufen. Und dann wartete sie acht Tage lang. Die Gardinen wurden gewaschen, die Messingtüren an den Kachelöfen geputzt, die Möbel wurden gerieben. Die Schwester sollte sehen, dass ihr Bruder an eine ordentliche Person geraten sei.

Und dann wurde Kaffee gekocht, um elf Uhr vormittags, zu welcher Zeit die Schwester kommen sollte.

Sie kam, gerade wie ein Stock, und reichte der Schwägerin eine Hand, die so steif war wie ein Waschbleuel. Sie besichtigte die Einrichtung der Schlafstube, lehnte es aber ab, Kaffee zu trinken und sah der Schwägerin nicht ins Gesicht. Doch für den Neugeborenen interessierte sie sich etwas. Dann ging sie wieder.

Aber Marie-Luise hatte ihrem Mantel Mass genommen, den Stoff ihres Kleides abgeschätzt, eine neue Idee von ihrer Haarfrisur bekommen. Auf grosse Herzlichkeit hatte sie nicht gerechnet. Für den Anfang war ihr der Besuch genug, und das Haus wusste bald, dass die Schwägerin dagewesen.

Der Junge wuchs und bald folgte ihm ein Mädchen.

Jetzt zeigte sich Marie-Luise zärtlich besorgt um die Zukunft der Kinder, und der Vater wurde täglich zu überzeugen gesucht, nur eine Trauung könne die Kinder retten.

Dazu kam die Andeutung der Schwester, eine Versöhnung mit seinen Eltern sei möglich, wenn er sich regelrecht verheirate.

Nachdem er zwei Jahre, Tag und Nacht, dagegen gekämpft hatte, beschloss er endlich, um die Zukunft seiner Kinder sicher zu stellen, die mythologische Zeremonie über sich ergehen zu lassen.

Wen aber sollte er zur Hochzeit einladen? Marie-Luise wollte die Trauung in der Kirche haben. Dann aber konnte Sophie nicht dabei sein. Das ging bestimmt nicht. Ein Mädchen wie sie! Marie-Luise konnte bereits das Wort „Mädchen“ mit einem moralischen Accent aussprechen. Ihr Mann aber erinnerte sie, dass Sophie eine gute Freundin gewesen sei und man nicht undankbar sein dürfe. Marie-Luise dagegen betonte, man müsse seiner Kinder wegen private Sympathien aufgeben; und sie drang mit ihrer Ansicht durch.

Die Hochzeit fand statt.

Die Hochzeit war vorüber. Keine Einladung von seinen Eltern. Von Sophie ein zorniger Brief, und dann vollständiger Bruch.

So war also Marie-Luise Frau. Aber einsamer als vorher war sie. Über die Enttäuschung erbittert, ihres jetzt gebundenen Mannes sicher, begann sie sich alle Freiheiten herauszunehmen, die einer Ehefrau zukommen. Was früher aus gutem Willen gegeben wurde, nahm sie jetzt als schuldigen Tribut hin. Sie verschanzte sich hinter dem Ehrentitel der Mutter seiner Kinder und machte von dort ihre Ausfälle.

Einfältig wie alle angeführten Männer, konnte er nie begreifen, was für eine Helligkeit darin lag, dass sie die Mutter seiner Kinder war. Warum seine Kinder merkwürdiger sein sollten als andere Kinder und als er selber, das begriff er nicht.

Doch beruhigt, dass seine Kinder eine gesetzliche Mutter bekommen hatten, fing er an, sich wieder in der Welt umzusehen, die er während des ersten Liebesrausches etwas vergessen und später nicht aufgesucht hatte, weil er Weib und Kind nicht allein lassen wollte.

Diese Freiheiten missfielen seiner Frau, und da sie sich jetzt nicht mehr zu genieren brauchte, auch eine aufrichtige Natur war, so sagte sie, was sie dachte.

Da er alle Schleichwege der Juristik studiert hatte, war er um die Antwort nicht verlegen.

– Findest du es anständig, fragte sie, die Mutter deines Kindes allein sitzen zu lassen, um in die Kneipe zu gehen?

– Ich glaube nicht, dass du mich vermisst hast, antwortete er vorbereitend.

– Vermisst? Wenn der Mann das Wirtschaftsgeld vertrinkt, so vermisst man manches im Hause.

– Erstens trinke ich nicht, denn ich esse nur einen Bissen und trinke nur eine Tasse Kaffee; zweitens vertrinke ich nicht das Wirtschaftsgeld, denn das hast du eingeschlossen; ich habe nämlich eine andere Art Geld, das ich „vertrinke“.

Unglücklicher Weise lieben die Frauen Ironie nicht, und die aus Scherz gemachte Schlinge wurde sofort um seinen Hals geworfen.

– Du gestehst also ein, dass du trinkst?

– Nein, ich habe nur deinen Ausdruck scherzhaft benutzt.

– Scherzhaft? So, man scherzt mit seiner Frau! Das hast du früher nicht getan!

– Du hast ja die Zeremonie selber gewünscht. Warum ist es jetzt nicht mehr so wie früher?

– Weil man verheiratet ist natürlich.

– Teils deshalb, und teils weil der Rausch die Eigenschaft hat, zu verdunsten.

– Es war also nur ein Rausch bei dir.

– Nicht nur bei mir; bei dir auch, und bei allen andern auch. Er dauert nur mehr oder weniger lang, siehst du!

– Also die Liebe ist nur ein Rausch bei den Männern.

– Nein, auch bei den Frauen!

– Sie ist jedenfalls ein Rausch!

– Ja, ja, ja! Aber man kann darum doch Freundschaft halten.

– Aber dann braucht man sich ja nicht erst zu verheiraten.

– Nein, das meinte ich ja auch.

– Du? Warst du es nicht, der wollte, dass wir uns trauen lassen sollten?

– Ja, weil du es Tag und Nacht wolltest, drei Jahre lang.

– Ja, aber du hast es doch gewollt!

– Ja, weil du es wolltest. Danke mir dafür.

– Soll ich dir dafür danken, dass du die Mutter deiner Kinder mit deinen Kindern allein lässt, während du in die Kneipe gehst?

– Nein, nicht dafür, sondern dass ich mich mit dir habe trauen lassen.

– Aber dankbar soll ich jedenfalls sein?

– Ja, das sollst du, wie jeder anständige Mensch, der seinen Willen bekommen hat.

– Nun, schön ist es nicht, so verheiratet zu sein! Wie irgend ein Mädchen, das von den Verwandten des Mannes nicht geachtet wird.

– Was hast du mit meinen Verwandten zu tun? Ich habe mich nicht mit deinen verheiratet.

– Weil sie nicht fein genug waren!

– Aber meine waren zu fein für dich. Wenn sie Schuhmacher gewesen wären, so hätte dir nicht so viel an ihnen gelegen.

– Schuhmacher? Taugen die vielleicht nichts? Sind das nicht auch Menschen?

– Doch gewiss, aber ich glaube nicht, dass du ihnen nachlaufen würdest.

– Nun, dann ist es gut!

Aber es war nicht gut, und es wurde nicht wieder gut. Ob es nun an der Trauung lag oder an etwas anderm, jedenfalls fand Marie-Luise, es sei früher besser gewesen; es sei „fideler“ gewesen, wie sie sich ausdrückte.

Er glaubte nicht, dass gerade die Trauung schuld sei, denn er hatte auch bürgerliche Ehen gesehen, die nicht glücklich waren. Und das Schlimmste von allem war: als er eines Tages wieder, wie er insgeheim zu tun pflegte, seinen alten Kameraden und Sophie besuchen wollte, erfuhr er, dass sie „ein Ende gemacht“ hatten. Und sie waren nicht getraut. Die Trauung hatte also nicht die Schuld!

Zweikampf

Sie war hässlich und darum wurde sie von den rohen jungen Männern, die eine schöne Seele unter einem hässlichen Äussern nicht zu schätzen wissen, übersehen. Aber sie war reich, und sie wusste, dass die Männer dem Geld der Frauen nachjagen; ob deshalb, weil alles Geld von den Männern erworben ist und diese daher das Kapital für ihr Geschlecht beanspruchen, oder aus anderen Gründen, das machte sie sich nicht klar. Da sie reich war, lernte sie allerhand, und da sie den Männern grosses Misstrauen und tiefe Verachtung zeigte, galt sie für eine begabte Dame.

Sie war zwanzig Jahre alt geworden. Die Mutter lebte noch, und sie wollte nicht fünf Jahre warten, bis sie über ihr Vermögen verfügen konnte. So wurden ihre Freundinnen eines Tages mit ihrer Verlobungskarte überrascht.

– Sie verheiratet sich, um einen Mann zu bekommen, sagten die einen.

– Sie verheiratet sich, um einen Bedienten zu haben und die Freiheit zu geniessen, sagten die andern.

– Wie dumm von ihr, sich zu verheiraten, sagten die dritten; sie weiss nicht, dass sie dann erst unmündig wird.

– Seid nicht bange, sagten wieder andere: sie wird mündig, obwohl sie sich verheiratet.

Wie sah er aus? Wer war er? Wo hatte sie ihn gefunden?

Er war ein junger Advokat, von weiblichem Aussehen, mit hohen Hüften, von schüchternem Wesen. Er war der einzige Sohn und von einer Mutter und einer Tante erzogen. Er hatte immer eine grosse Furcht vor jungen Mädchen gehabt und hasste die Leutnants, weil sie männlich auftraten und auf Bällen und Gesellschaften immer bevorzugt wurden. So war er.

Sie trafen sich auf einem Ball im Kurhaus. Er war spät gekommen und es waren keine Damen mehr für ihn übrig. Die jungen Mädchen antworteten ihr fröhliches, triumphierendes nein, wenn er kam, um sie aufzufordern; sie winkten ihm mit ihren Tanzkarten ab, als wollten sie eine zudringliche Fliege verscheuchen.

Verletzt, gedemütigt ging er hinaus und setzte sich auf die Veranda, um zu rauchen. Der Mond stand über den Linden des Parkes, und der Reseda duftete auf den Beeten. Durch die Fenster sah er, wie Paar nach Paar im Tanzsaal vorbeirauschte, während die wollüstigen Rhythmen des Walzers ihn beben liessen: das war das ohnmächtige Verlangen des Krüppels.

– Sitzen Sie hier allein, um zu schwärmen? hörte er eine Stimme ihn ansprechen. Und tanzen nicht?

– Warum tanzen Sie denn nicht, mein Fräulein, sagte er und sah auf.

– Weil ich hässlich bin und niemand mich haben will, antwortete sie.

Er betrachtete sie. Sie waren alte Bekannte, aber er hatte sich ihre Züge noch nie genauer angesehen. Sie war ausgesucht gekleidet, und ihre Augen drückten in diesem Augenblick einen solchen Schmerz aus, den Schmerz der Verzweiflung und der fruchtlosen Empörung gegen eine ungerechte Natur, dass er eine lebhafte Sympathie für sie empfand.

– Auch mich will niemand haben, sagte er. Aber die Leutnants haben ja Recht. In der natürlichen Auslese haben ja die Stärkeren und die Schöneren Recht. Sehen Sie nur ihre Schultern und Epauletts ...

– Pfui, wie Sie sprechen!

– Verzeihen Sie! Aber man wird bitter, wenn man einen ungleichen Kampf zu kämpfen hat! Wollen Sie vielleicht mit mir tanzen?

– Aus Barmherzigkeit?

– Ja, gegen mich!

Er warf seine Zigarre fort.

– Haben Sie empfunden, was es heisst, vom Schicksal gezeichnet, verworfen zu sein? Haben Sie empfunden, was es heisst, immer der Letzte zu sein? fing er wieder mit Wärme an.

– Ob ich das empfunden habe? Aber die Letzten bleiben nicht immer die Letzten, fügte sie mit Nachdruck hinzu. Andere Eigenschaften als nur Schönheit haben im Leben Wert.

– Welche Eigenschaften schätzen Sie denn bei einem Mann am höchsten?

– Güte, antwortete sie bestimmt. Denn diese Eigenschaft ist so selten bei einem Mann.

– Güte und Schwäche pflegen ja zusammen zu gehen, und die Frau liebt doch die Stärke beim Mann.

– Welche Frauen? Die rohe Kraft hat ihre Zeit gehabt, und da wir in der Zivilisation weiter gekommen sind, müssten wir doch so viel Verstand besitzen, dass wir die Muskelkraft und die Roheit nicht höher als das gute Herz stellen.

– Wir müssten! Ja, und doch! Sehen Sie nur den Tanz an!

– Die wahre Männlichkeit liegt für mich im Adel des Gefühls und in der Intelligenz des Herzens.

– Sie würden also einen Mann, den die ganze Welt schwach, feige nennt ...

– Was kümmere ich mich um die Welt! Und um das, was die Welt sagt!

– Wissen Sie, Sie sind ein ungewöhnliches Mädchen, sagte der Advokat, immer mehr interessiert.

– Durchaus nicht ungewöhnlich! Aber Ihr Männer seid so gewohnt, die Frauen für eine Art von Spielpuppen zu halten ...

– Welche Männer? Ich, mein Fräulein, habe seit der Kindheit zu der Frau aufgesehen als einer höheren Offenbarung der Gattung Mensch, und von dem Tage, an dem eine Frau mich liebte und ich sie wieder liebte, würde ich ihr Sklave sein.

Adele sah ihn lange und tief an. Dann sagte sie:

– Sie sind ein ungewöhnlicher Mann.

Nachdem die Beiden einander für ungewöhnliche Spezies der schlechten Gattung Mensch erklärt und sich über die Eitelkeit des Tanzvergnügens ausgelassen hatten, stellten sie Betrachtungen über die Melancholie des Mondes an. Dann gingen sie in den Tanzsaal, um an der Française teilzunehmen.

Adele tanzte ausgezeichnet, und der Advokat gewann sich ihr Herz vollständig, weil er wie ein „unschuldiges Mädchen“ tanze.

Nach der Française setzten sie sich wieder auf die Veranda.

– Was ist die Liebe? fragte Adele und sah den Mond an, als wolle sie eine Antwort vom Himmel haben.

– Die Sympathie der Seelen, flüsterte er mit einer Stimme, als komme sie vom Wind.

– Aber die Sympathie kann leicht in Antipathie umschlagen, wie es schon vorgekommen ist, fuhr Adele fort.

– Dann war es nicht die rechte Sympathie! Es gibt Materialisten, die sagen, die Liebe würde nicht vorhanden sein, wenn es nicht zwei Geschlechter gebe; und sie wagen zu behaupten, dass die sinnliche Liebe länger dauert als die andere. Ist es nicht niedrig, tierisch, in der Geliebten nur das Geschlecht zu sehen.

– Sprechen Sie nicht von den Materialisten.

– Doch, ich muss von ihnen sprechen, damit Sie verstehen, wie hoch ich meine Liebe zu einer Frau stelle, wenn ich eine lieben würde. Sie brauchte nicht schön zu sein; Schönheit vergeht. Ich würde einen guten Kameraden in ihr sehen, einen Freund. Ich würde mich nie schüchtern vor ihr fühlen wie vor einem Mädchen. Ich würde direkt auf sie losgehen, wie ich auf Sie losgehe und sagen: Wollen Sie meine Freundin fürs Leben werden? Und das würde ich sagen, ohne die Verlegenheit zu empfinden, die ein Freier fühlen muss, wenn er sich der, die er liebt, erklärt, weil seine Gedanken nicht rein sind.

Adele sah mit Entzücken auf den jungen Mann, der ihre Hand ergriffen hatte.

– Sie sind eine ideale Natur, sagte sie, und Sie haben mir aus dem Herzen gesprochen. Sie bitten um meine Freundschaft, wenn ich Sie recht verstehe. Sie sollen sie haben, erst aber eine Prüfung. Wollen Sie zeigen, dass Sie eine Demütigung erleiden können, für die, welche Sie gern haben.

– Ob ich will? Sprechen Sie, und ich gehorche!

Adele nahm ihr Halsband aus getriebenem Gold ab, an dem ein Medaillon hing.

– Tragen Sie dies als ein Wahrzeichen unserer Freundschaft.

– Ich werde es tragen, sagte er etwas unsicher; aber man wird vielleicht sagen, dass wir verlobt sind.

– Und das fürchten Sie?

– Nein, wenn du es willst! Willst du?

– Ja, Axel! ich will es; denn die Welt erlaubt keine Freundschaft zwischen Mann und Weib; die Welt ist so erbärmlich, dass sie nicht an ein reines Verhältnis zwischen Personen verschiedenen Geschlechts glaubt.

Und er trug seine Kette.

Die Welt, die unter vier Augen sehr materialistisch ist, sagte wie die Freundinnen:

– Sie verheiratet sich, um sich zu verheiraten; er, um sie zu besitzen.

Die Welt machte auch hässliche Anspielungen, er nehme sie ums Geld, da er selber erklärte, etwas so Niedriges wie Liebe existiere nicht zwischen ihnen; Freundschaft zwinge ja niemand, dieselbe Schlafstube zu benutzen, wie Verheiratete zu tun pflegen.

Sie verheirateten sich. Die Welt hatte einen Wink bekommen, sie würden wie Geschwister leben, und die Welt wartete mit einem boshaften Grinsen ab, wie die grosse Reform, welche die Ehe umschaffen sollte, ablaufen würde.

Die Neuvermählten reisten ins Ausland.

Als die Neuvermählten zurückkehrten, war die Frau blass und schlechter Laune. Sie begann sofort Reitstunden zu nehmen. Die Welt witterte Unrat und wartete. Der Mann sah aus, als habe er etwas Hässliches begangen und schäme sich. Es wurde schliesslich festgestellt.

– Sie haben im „Geschwisterbett“ geschlafen, sagte die Welt.

– Es wird wohl ein Geschwisterkind sein, sagten die Freundinnen.

– Und ohne Liebe? Aber das ist ja – Ja, was ist es?

– Verbotene Verwandtschaft! sagten die Materialisten.

– Es ist eine geistige Ehe.

– Oder Blutschande, sagte ein Anarchist.

An der Tatsache war nichts zu ändern, aber die Sympathie der Seelen begann abzunehmen. Die verhasste Wirklichkeit brach ein, um sich zu rächen.

Der Advokat übte seinen Beruf aus, und die Frau liess ihren Beruf von einer Amme und einer Magd ausüben. Daher hatte sie keine Beschäftigung. Die Beschäftigungslosigkeit gab ihren Gedanken Gelegenheit, sich zu entwickeln, und sie begann über ihre Stellung nachzudenken. Sie fand sie nicht befriedigend. War es eine Tätigkeit für eine begabte Frau, nichts zu tun?

Der Mann wagte ein Mal eine Bemerkung, sie sei doch nicht gezwungen, nichts zu tun! Aber er wiederholte sie nie mehr.

– Sie habe keine Tätigkeit.

– Nein, beschäftigungslos sein sei keine Tätigkeit. Warum gebe sie dem Kind nicht die Brust.

– Die Brust geben? Sie wolle etwas haben, an dem sie verdiene.

– Sei sie denn geizig? Sie habe ja mehr, als sie verbrauche; warum sollte sie denn Geld verdienen?

– Um es ihm gleich zu tun.

– Gleich könnten sie nie werden, denn sie werde immer eine Stellung einnehmen, die er nie erreichen könne. Die Natur habe es so eingerichtet, das die Frau Mutter werde, der Mann aber nicht.

– Das sei dumm!

– Es hätte ja auch umgekehrt sein können, aber das wäre ebenso schlimm gewesen.

– Ja, aber dieses Leben werde unerträglich. Sie könne nicht nur für die Familie leben, sie wolle auch für andere leben.

– Sie solle nur erst mit der Familie anfangen; später könne man immer noch an die andern denken.

Das Gespräch hätte Ewigkeiten dauern können, aber eine gute Stunde dauerte es doch.

Der Advokat war natürlich fast den ganzen Tag fort, und wenn er nach Haus kam, hatte er Sprechstunde. Dann wollte Adele verzweifeln. Er schloss sich mit andern Frauen ein, und die machten ihm vertrauliche Mitteilungen, die er ihr nicht weiter erzählen durfte. Immer standen Geheimnisse zwischen ihnen, und sie fühlte, dass er ihr überlegen war.

Ein dumpfer Hass begann bei ihr zu wachsen, ein Hass gegen das Ungerechte in diesem Verhältnis; sie suchte nach einem Mittel, um ihn hinunter zu ziehen. Hinunter musste er, damit sie beide auf gleiche Höhe kamen.

Eines Tages machte sie den Vorschlag, eine Heilanstalt zu gründen. Er riet ab, weil er mit seiner Praxis genug zu tun habe. Dann aber dachte er, es wäre gut, wenn sie eine Beschäftigung bekomme; dann würde sie ruhiger werden.

Sie bekam ihre Anstalt, und er trat mit ihr in die Direktion ein.

Sie sass nun in der Direktion und herrschte. Als sie ein halbes Jahr regiert hatte, fühlte sie sich so bewandert in der ärztlichen Kunst, dass sie auf eigene Hand Ratschläge gab und Auskünfte erteilte.

– Das sei keine Kunst, meinte sie!

Einmal hatte der Arzt der Anstalt einen Irrtum begangen, und seitdem besass sie kein Vertrauen mehr zu ihm. Die Folge war, dass sie eines Tages im Gefühl ihrer natürlichen Oberhoheit, als er abwesend war, selber ein Rezept schrieb. Das Rezept wurde ausgefertigt, auch vom Patienten eingenommen, jedoch mit tödlichem Ausgang.

Man musste sofort nach einer andern Stadt ziehen. Damit aber war das Gleichgewicht gestört. Noch mehr wurde es gestört durch einen neuen Erben, der zur Welt kam. Auch hatte sich das Gerücht von dem fatalen Ereignis verbreitet.

Traurig und unschön war das Verhältnis zwischen den Gatten geworden, denn die Liebe war ja nicht vorhanden gewesen. Der gesunde starke Naturtrieb, der nicht überlegt, fehlte; so blieb nur ein unangenehmes Konkubinat übrig, das auf den unsicheren Berechnungen der selbstsüchtigen Freundschaft beruhte.

Was jetzt in ihrem brennenden Kopf vorging, nachdem sie entdeckt hatte, welchen Irrtum sie begangen, als sie etwas angeblich Höheres suchte, davon sprach sie nicht, aber der Mann musste es fühlen.

Ihre Gesundheit begann schwächer zu werden, sie verlor den Appetit und wollte nicht ausgehen. Sie magerte ab und fing an zu husten. Der Mann liess sie mehrere Male untersuchen, aber der Arzt konnte die Ursache der Krankheit nicht finden. Schliesslich gewöhnte er sich so an das ständige Klagen, dass er nicht mehr darauf achtete.

– Es ist unangenehm, eine kranke Frau zu haben, sagte sie.

Er gab es innerlich zu, dass es kein Vergnügen sei; wenn er sie aber geliebt hätte, würde er das nie empfunden noch zugegeben haben.

Sie nahm so ab, dass es zu merken war, und er musste schliesslich ihren Entschluss, zu dem berühmten Professor zu reisen, gutheissen.

Adele reiste zu dem Professor.

– Wie lange sind Sie krank gewesen? fragte er.

– Ich bin nie recht gesund gewesen, seit ich das Land verlassen habe, denn auf dem Lande bin ich aufgewachsen.

– Sie fühlen sich also in der Stadt nicht wohl?

– Wohl? Wer kümmert sich darum, ob ich mich wohl fühle oder nicht, antwortete sie und machte ein Märtyrergesicht.

– Glauben Sie, dass die Landluft Ihnen gut bekommen würde? fragte der Professor.

– Ich glaube, es ist das einzige, was mich retten könnte, wenn ich aufrichtig sein soll.

– Dann ziehen Sie doch aufs Land!

– Aber mein Mann kann doch nicht meinetwegen seinen Beruf aufgeben.

– Er ist ja reich verheiratet, und Advokaten haben wir genug.

– Sie meinen also, Herr Professor, dass wir aufs Land ziehen müssen?

– Ja, wenn Sie glauben, dass es Ihnen nützen wird. Ich sehe keine andere Krankheit als sogenannte Nervosität und glaube, die Landluft würde Ihnen gut bekommen.

Adele kam niedergeschlagen nach Haus.

– Nun?

– Der Professor habe sie zum Tode verurteilt, wenn sie in der Stadt bleibe.

Der Advokat geriet ausser sich. Da er aber nicht verbergen konnte, dass er hauptsächlich deshalb ausser sich war, weil er seine Praxis aufgeben musste, erhielt sie einen sicheren Beweis, dass er sich nicht im geringsten um das Leben seiner Frau kümmere.

– Er glaube nicht, dass ihr Leben auf dem Spiel stehe? Verstehe der Professor das nicht besser als er? Wolle er sie sterben lassen?

Das wollte er wirklich nicht, und darum wurde ein Landgut gekauft. Ein Inspektor sollte es verwalten.

Da ein Landrat und ein Amtsvorsteher vorhanden waren, hatte der Advokat keine Beschäftigung. Die Tage wurden ihm endlos lang, und er führte kein angenehmes Dasein. Da seine Einkünfte mit seiner Praxis aufgehört hatten, musste er von den Zinsen seiner Frau leben. Das erste halbe Jahr las er und spielte Fortuna. Im zweiten Halbjahr hörte er mit dem Lesen auf, da er keinen Zweck darin sah. Im dritten fing er an zu sticken.

Aber seine Frau warf sich sofort auf die Landwirtschaft, ging selber mit bis zu den Knien gerafften Röcken in den Stall, kam schmutzig ins Haus, roch nach der Kuh. Sie fühlte sich wohl und kommandierte die Leute herum, das es eine Lust war, denn sie war auf dem Lande aufgewachsen und verstand sich darauf.

Als sich ihr Mann über Beschäftigungslosigkeit beklagte, antwortete sie:

– Such dir doch etwas. In einem Hause braucht man nicht beschäftigungslos zu sein.

Er wollte mit der Tätigkeit ausser dem Hause kommen, aber er hütete sich.

Er ass, schlief, ging spazieren. Kam er in die Scheune oder in den Stall, war er immer im Wege und bekam Schelte von seiner Frau.

Als er eines Tages mehr als gewöhnlich geklagt und gleichzeitig die Kinder von den Mädchen ohne Aufsicht gelassen waren, sagte seine Frau:

– Sieh nach den Kindern, da hast du etwas zu tun.

Er sah zu ihr auf, ob es ihr Ernst sei.

Ja, warum sollte er nicht nach seinen eigenen Kindern sehen können? Sei das so merkwürdig?

Er dachte genau nach und fand wirklich nichts Merkwürdiges dabei.

So ging er täglich mit den Kindern spazieren.

Eines Morgens, als sie ausgehen wollten, waren die Kinder nicht angezogen. Der Advokat wurde böse und ging zu seiner Frau, da er sich vor den Mägden fürchtete.

– Warum sind die Kinder nicht angezogen? fragte er.

– Weil Marie etwas anderes zu tun hat! Zieh du sie doch an, du hast ja nichts zu tun. Es ist doch keine Schande, seine eigenen Kinder anzuziehen?

Er überlegte eine Weile, konnte aber nicht sehen, dass es eine Schande sei. Er zog sie also an.

Eines Morgens machte es ihm Spass, allein auszugehen und die Flinte mitzunehmen, obwohl er niemals schoss.

Als er nach Haus kam, empfing seine Frau ihn.

– Warum bist du heute nicht mit den Kindern spazieren gegangen? sagte sie mit scharfer vorwurfsvoller Stimme.

– Weil es mir heute keinen Spass machte!

– Spass machte? Macht es mir Spass, den ganzen Tag in Stall und Scheune zu arbeiten? Etwas Nützliches kann man wohl für sich tun, ohne dass es einem Spass macht.

– Für sich? Für sein Essen, meinst du vielleicht.

– Für was es auch sei, meine ich. Und ich finde wirklich, ein alter Mann wie du sollte sich schämen, auf einem Sofa zu liegen und nichts zu tun.

Er schämte sich wirklich, und jetzt wurde er als Kindermädchen angestellt. Pünktlich tat er seine Pflicht. Er fand nichts Unrichtiges darin, aber er litt darunter. Es sei etwas verkehrt, meinte er, aber seine Frau verstand immer, es nach der rechten Seite zu kehren.

Die Frau sass im Kontor und empfing Inspektor und Grossknecht; sie stand im Speicher und wog ab für die Instleute. Alle, die auf den Hof kamen, wollten die Frau sprechen, aber niemand den Herrn.

Auf einem Spaziergang kam er eines Tages auf eine Wiese, auf der Vieh weidete. Er wollte den Kindern die Kühe zeigen, und führte sie behutsam an die weidende Herde heran. Plötzlich guckte ein schwarzer Kopf über die Rücken der andern Tiere und sah unter schwachem Brüllen den Besuch an.

Der Advokat nahm die Kinder auf den Arm und lief, so schnell er konnte, bis an den Zaun zurück. Dort angelangt, warf er die Kinder über den Zaun und wollte selber hinüberspringen, blieb aber hängen. Da er einige Frauen drüben erblickte, schrie er ihnen, so laut er konnte, entgegen:

– Der Stier, der Stier!

Aber die Frauen lachten und hoben die Kinder auf, die im Graben übel zugerichtet waren.

– Sehen Sie den Stier nicht! schrie er.

– Nein, es ist kein Stier, sagte die älteste Frau. Der wurde vor vierzehn Tagen geschlachtet.

Er kam beschämt und böse nach Haus. Beklagte sich bei seiner Frau über die Leute. Sie lachte nur.

Als die beiden Gatten am Nachmittag allein im Saal sassen, klopfte es an die Tür.

– Herein! rief sie.

Eine Frau, die dem Abenteuer mit dem Stier beigewohnt hatte, trat ein und hielt in der Hand das Halsband des Advokaten.

– Das gehört sicher der gnädigen Frau, sagte sie zögernd.

Adele sah zuerst das Weib an, dann ihren Mann, der mit aufgerissenen Augen seine Kette betrachtete.

– Nein, das gehört dem Herrn! sagte sie und nahm der Frau das Halsband ab. Hab Dank! Der Herr gibt dir wohl Finderlohn.

Der sass blass und unbeweglich da.

– Ich habe kein Geld, wende dich an meine Frau, sagte er und nahm das Halsband.

Seine Frau holte eine Krone aus ihrer grossen Geldtasche und reichte es dem Weibe, das sich entfernte, augenscheinlich, ohne etwas zu begreifen.

– Das hättest du mir doch ersparen können! sagte er schmerzlich.

– Bist du nicht Manns genug, für deine Worte und Handlungen einzutreten? Schämst du dich, ein Geschenk von mir zu tragen, während ich deine trage? Eine Memme bist du! Und das will ein Mann sein!

Seit diesem Tag war der Friede des Mannes aus. Wohin er kam, kicherten Gesichter, und Mägde wie Knechte konnten hinter den Ecken „Der Stier! Der Stier!“ rufen, wenn er vorbeiging.

 

Die Frau wollte nach einer Auktion reisen und acht Tage fortbleiben. Der Mann sollte während der Zeit ein Auge auf die Leute haben.

Am ersten Tag kam die Köchin und bat um Geld für Zucker und Kaffee. Er gab es ihr. Drei Tage später kam sie wieder und verlangte noch einmal Geld für Zucker und Kaffee. Er drückte sein Erstaunen aus, dass das erste Geld schon verbraucht sei.

– Ich esse es nicht allein auf, sagte die Köchin. Und die gnädige Frau hat nie etwas auszusetzen.

Er gab ihr das Geld. Aber neugierig, ob er wirklich Unrecht habe, schlug er das Haushaltungsbuch auf und begann zu addieren.

Er erhielt eine merkwürdige Summe bei den beiden Posten. Als er für einen Monat alle Pfunde zusammenzählte, ergaben sie ein Liespfund.

Er setzte seine Forschungen fort und kam überall zu ähnlichen Resultaten. Er ging zum Hauptbuch über und fand ausser den hohen Ziffern auch dumme Fehler beim Addieren. Augenscheinlich konnte seine Frau weder benannte Zahlen noch Dezimalbrüche. Diese unerhörte Betrügerei der Dienstboten musste jedenfalls zum Untergang des Hauses führen.

Seine Frau kam nach Haus. Er musste den Auktionsbericht bis zum Ende anhören. Darauf räusperte er sich und dachte anzufangen, aber seine Frau nahm den Faden selber auf:

– Nun, wie bist du mit den Mägden fertig geworden?

– Ich bin sehr gut mit ihnen fertig geworden, aber sie sind bestimmt nicht ehrlich.

– Sie sind nicht ehrlich?

– Nein, zum Beispiel sind die Posten für Zucker und Kaffee zu gross.

– Wie weisst du das?

– Ich habe es im Haushaltungsbuch gesehen.

– Was, du schnüffelst in meinen Büchern.

– Schnüffelst? Nein, es machte mir Spass, nachzuforschen ...

– Was hast du damit zu schaffen?

– Und ich fand, dass du Bücher führst, ohne benannte Zahlen noch Brüche zu können.

– Was? Kann ich das nicht?

– Nein, das kannst du nicht! Und darum ist das ganze Haus unterminiert. Deine Buchführung ist Humbug, meine Alte, das ist sie!

– Wen geht es etwas an, wie meine Bücher aussehen?

– Das Gesetz bestraft falsche Buchführung; wenn nicht dich, so mich.

– Das Gesetz? Ich pfeife auf das Gesetz!

– Ja, das glaube ich, aber fassen tut es uns doch, das heisst mich. Und deshalb will ich künftighin die Bücher selber führen.

– Wir können einen Buchhalter nehmen!

– Nein, das ist nicht nötig! Ich habe ja sonst nichts zu tun.

Und dabei blieb es.

 

Seit aber der Mann den Platz am Pult einnahm und die Leute zu ihm kamen, verloren Landwirtschaft und Viehzucht ihr Interesse für die Frau.

Eine heftige Reaktion trat ein, und sie sah bald weder nach Kühen noch nach Kälbern, sondern blieb im Hause sitzen. Da hockte sie, und neue Gedanken gärten in ihrem Gehirn.

Der Mann dagegen erwachte zu einem neuen Leben. Er warf sich auf die Landwirtschaft und rüttelte die Leute auf. Jetzt hatte er die Oberhand. Er schaltete und waltete, bestellte und bezahlte.

Eines Tages kam seine Frau aufs Kontor und bat um tausend Kronen für ein Klavier.

– Was denkst du? sagte der Mann. Jetzt, wo der Stall umgebaut werden soll! Dazu haben wir nicht die Mittel.

– Was soll das heissen, antwortete sie. Haben wir nicht die Mittel? Reicht mein Geld nicht.

– Dein Geld?

– Ja, meins, das ich in die Ehe gebracht habe.

– Das ist durch die Ehe Eigentum der Familie geworden.

– Das heisst deins.

– Nein, der Familie. Die Familie ist eine kleine Gemeinde, die einzige, die ein gemeinschaftliches Eigentum hat, mit dem Mann als Verwalter, in den gewöhnlichen Fällen.

– Warum soll er Verwalter sein und nicht die Frau?

– Weil er mehr Zeit hat, da er keine Kinder gebiert.

– Warum können nicht beide Verwalter sein?

– Aus denselben Gründen, aus denen eine Aktiengesellschaft nur einen geschäftsführenden Direktor hat. Würde die Frau auch verwalten, so würden es die Kinder ebenfalls wollen, da es auch ihr Eigentum ist.

– Das ist nur Spitzfindigkeit. Ich finde es hart, dass ich noch um Erlaubnis bitten soll, ob ich mir für mein eigenes Geld ein Klavier kaufen darf.

– Es ist nicht mehr dein Geld.

– Ist es denn deins?

– Nein, auch nicht meins, sondern das der Familie. Du musst auch nicht so falsch sein, und mich „um Erlaubnis bitten“; die Klugheit gebietet nur, dass du den Verwalter fragst, ob der Stand des Vermögens eine grosse Luxusausgabe zulässt.

– Ist ein Klavier denn ein Luxus?

– Ein neues Klavier, wenn man ein altes hat, kann Luxus sein. Nun ist der Stand des Vermögens schlecht, daher erlaubt der nicht, dass du jetzt ein neues Klavier kaufst, obwohl ich natürlich nichts dagegen haben kann noch will.

– Durch eine Ausgabe von tausend Kronen ruiniert man sich nicht.

– Doch man kann den Grund zu seinem Ruin legen, wenn man zur Unzeit für tausend Kronen Schulden macht.

– Das heisst, du weigerst dich also, mir ein neues Klavier zu kaufen?

– Nein, das will ich nicht sagen. Der unsichere Stand des Vermögens ...

– Wann, wann wird der Tag kommen, an dem die Frau ihr Vermögen selbst verwaltet und nicht mehr wie eine Bettlerin zu ihrem Mann zu kommen braucht?

– Wenn sie selber arbeitet. Ein Mann, dein Vater, hat dein Vermögen erarbeitet. Männer sind es, die alles Vermögen erarbeitet haben; darum, siehst du, ist es gerecht gewesen, dass die Schwester weniger erbt als der Bruder, zumal der Bruder mit der Pflicht, eine Frau zu ernähren, geboren wird, während die Schwester keinen Mann zu ernähren braucht. Verstehst du?

– Das ist also Gerechtigkeit: ungleich teilen! Ist es gerecht, ungleich zu teilen? Kannst du das bei deinem guten Kopf wirklich behaupten? Soll man nicht immer in gleiche Teile teilen?

– Nein, nicht immer. Man soll verhältnismässig oder nach Verdienst teilen. Der Faule, der im Gras liegt und zusieht, wie der Maurer baut, soll weniger haben als der Maurer.

– So, du sagst, ich sei faul!

– Hm! Es ist am besten, nichts zu sagen. Als ich aber auf dem Sofa lag und las, hieltst du mich für sehr faul, und ich will mich erinnern, dass du auch etwas ähnliches gesagt hast und zwar recht deutlich.

– Was soll ich denn tun?

– Geh mit den Kindern spazieren!

– Ich passe nicht für Kinder.

– Aber ich musste passen. Hör mal: eine Frau, die sagt, sie passe nicht für Kinder, ist keine Frau. Ein Mann ist sie auch nicht! Was ist sie denn?

– Pfui, pfui, dass du so von der Mutter deiner Kinder sprichst!

– Was sagt man von dem Mann, der nicht nach Frauen sieht? Sagt man nicht etwas sehr Hässliches von ihm?

– Ich will nichts mehr hören.

Und darum verliess sie das Zimmer und schloss sich ein.

Sie wurde krank. Der Arzt, der allmächtige, der die Körper übernommen, nachdem der Pastor die Seelen verloren, erklärte Landluft und Einsamkeit für ungesund.

Man musste also wieder in die Stadt ziehen, damit sich die Frau ärztlich behandeln lassen konnte.

Die Stadt hatte einen sehr guten Einfluss auf den Gesundheitszustand der Frau, und die Rinnsteinluft gab ihren Wangen Farbe.

Der Advokat suchte sich Praxis, und die Gatten hatten Ableiter für ihre Naturen, die sich nicht versöhnen konnten.

Seine Magd
oder
Debet und Kredit

Mr. Blackwood war Werkdirektor in Brooklyn und hatte sich mit Miss Danckward verheiratet, die in die Ehe eine Mitgift moderner Anschauungen brachte. Um seine geliebte Frau nicht als seine Magd sehen zu müssen, hatte Mr. Blackwood sich mit ihr in einem Boardinghouse in Pension gegeben.

Die Frau, die nichts zu tun hatte, verbrachte den Tag mit Musik und Billardspiel und die halbe Nacht mit Gesprächen über die Frauenfrage und Grogtrinken.

Der Mann hatte 5000 Dollar Gehalt; die lieferte er regelmässig an seine Frau ab, damit die sie verwalte. Sie hatte 500 Dollar Nadelgeld, über die sie selbst verfügte.

Da kam ein Kind. Ein Kindermädchen wurde angestellt, das mit 100 Dollar den kostbaren Beruf der Mutter übernahm.

Es kamen noch zwei Kinder.

Und die Kinder wuchsen heran, und die beiden ältesten begannen in die Schule zu gehen. Aber die Frau langweilte sich und hatte nichts zu tun.

Eines Tages kam sie angeheitert zum Frühstückstisch.

Der Mann nahm sich die Freiheit, sie daran zu erinnern, das sei unpassend.

Sie wurde hysterisch und legte sich zu Bett, und alle Freundinnen des Hauses warteten ihr mit Blumen auf.

– Warum trinkst du, fragte der Mann so zärtlich wie er nur konnte. Hast du einen Kummer?

– Soll ich keinen Kummer haben, wo mein Leben verfehlt ist?

– Wieso verfehlt? Du hast drei Kinder geboren und könntest deinen Tag dazu anwenden, sie zu erziehen.

– Ich eigne mich nicht für Kinder.

– Dann solltest du es lernen, mit Kindern umzugehen. Das ist eine Arbeit für die Gesellschaft und eine ehrenvolle Lebensaufgabe, ehrenvoller als Leiter einer Werft zu sein.

– Ja, wenn ich frei wäre.

– Du bist freier als ich. Ich stehe unter deiner Administration. Du bestimmst von meinen Einkünften die Ausgaben. Du hast 500 Dollar Nadelgeld, über die du frei verfügen kannst, aber ich habe kein Nadelgeld. Ich muss aus der Kasse, das heisst von dir betteln, wenn ich Tabak kaufen will. Bist du also nicht freier als ich?

Sie antwortete nicht, versuchte aber zu denken.

Das Resultat war, dass sie einen eigenen Haushalt haben müssten. Und sie richteten einen eigenen Haushalt ein.

– Teure Freundin, schrieb Mrs. Blackwood einige Zeit nachher an ihre Freundin, ich leide und bin todmüde. Aber ich will bis ans Ende leiden, denn das Leben hat einer unglücklichen Frau, die für nichts zu leben hat, nichts mehr zu bieten. Ich will der Welt zeigen, dass ich nicht die bin, die von der Gnade ihres Mannes lebt, und darum will ich mich – tot arbeiten ...

Sie stand am ersten Tag um neun Uhr auf und brachte das Zimmer ihres Mannes in Ordnung. Dann verabschiedete sie die Köchin und ging um elf Uhr fort, um einzukaufen.

Als der Mann um ein Uhr nach Haus kam, um Frühstück zu essen, war das Essen nicht fertig. Das war die Schuld der Magd.

Die Frau war furchtbar müde und weinte. Der Mann hatte nicht das Herz, sich zu beklagen. Und er ass ein verbranntes Kotelett und ging wieder. Aber er sagte noch:

– Arbeite dich nicht ab, mein Kind!

Abends war die Frau so müde, dass sie einen Teil der Arbeit lassen und um zehn Uhr zu Bett gehen musste.

Am nächsten Tage, als Mr. Blackwood ihr guten Morgen sagte, war er erstaunt über die gesunde Farbe, die seine Frau hatte.

– Hast du gut geschlafen? fragte er.

– Wie so?

– Ich finde, du siehst so gesund aus.

– Sehe – ich – gesund – aus?

– Ja! Etwas Beschäftigung scheint dir gut zu tun.

– Etwas? Nennst du das etwas? Ich möchte wissen, was du dann viel nennst?

– Nun nun, ich meinte es nicht böse.

– Doch, du meintest, ich arbeite zu wenig. Und doch habe ich wie eine Magd dein Zimmer aufgeräumt und wie eine Köchin am Herd gestanden. Vielleicht leugnest du auch, dass ich deine Magd bin?

Als der Mann ging, sagte er zum Mädchen:

– Sie müssen um sieben Uhr aufstehen und mein Zimmer aufräumen. Meine Frau soll nicht Ihre Arbeit tun!

Am Abend kam Mr. Blackwood fröhlich nach Haus; aber seine Frau war böse.

– Warum darf ich dein Zimmer nicht aufräumen? fragte sie.

– Weil ich nicht will, dass du meine Magd bist.

– Warum willst du das denn nicht?

– Weil es mich quält!

– Aber es quält dich nicht, dass ich dein Essen koche und nach deinen Kindern sehe?

Jetzt wurde er nachdenklich.

Während er mit der Trambahn nach Brooklyn fuhr, dachte er hin und her.

Als er abends heim kam, hatte er ein gut Stück gedacht.

– Hör mal, mein Kind, ich habe viel über deine Stellung im Hause nachgedacht, und ich will natürlich nicht, dass du meine Magd sein sollst. Ich habe daher so gedacht. Ich gebe mich bei dir in Pension und bezahle für mich. Dann bist du Herrin im Hause und ich esse bei dir gegen Bezahlung.

– Was meinst du? fragte seine Frau etwas unruhig.

– Wie ich sage. Wir nehmen an, du hältst ein Boardinghouse und ich gebe mich bei dir in Pension. Wir nehmen es nur an.

– Gut! Was willst du bezahlen?

– Ich will natürlich so viel bezahlen, dass ich auf keinen Fall in deiner Schuld stehe. Meine Stellung wird dadurch auch angenehmer, denn ich erhalte dann nicht mehr alles aus Gnade.

– Aus Gnade?

– Ja, du setzest mir ein Essen vor, das nicht gargekocht ist, und wiederholst unaufhörlich, du seist meine Magd, das heisst, du arbeitest dich für mich ab.

– Wohinaus willst du?

– Sind drei Dollar täglich genug für meine Pension? Im Boardinghouse bekomme ich sie für zwei.

– Drei Dollar müssen sehr gut reichen.

– Gut! Das sind jährlich rund 1000 Dollar. Sieh, hier hast du sie im voraus!

Und er legte eine Rechnung auf den Tisch.

– Hier ist die Berechnung:

Miete 500 Dollar
Lohn des Kindermädchens 100
Lohn der Köchin 150
Unterhalt der Frau 500
Kleider der Frau 500
Unterhalt des Kindermädchens 300
Unterhalt der Köchin 300
Unterhalt der Kinder 700
Kleider der Kinder 500
Holz, Licht, Hilfe 500
  ––––––––––––
  4050 Dollar

– Teile diese Summe mit zwei, da wir repartieren, so bleiben 2025 Dollar übrig. Zieh meine 1000 ab und gib mir 1025 Dollar. Hast du sie bei dir, um so besser.

– Repartieren? war das einzige Wort, das die Frau hervorbringen konnte. Soll ich dich bezahlen?

– Ja, natürlich, wenn es gleich sein soll. Ich bezahle den halben Unterhalt für dich und die Kinder. Oder willst du, dass ich alles bezahle? Gut, dann bezahle ich also 4050 Dollar plus 1000 Dollar für meine Pension. Aber ich bezahle besonders: Miete, Essen, Licht, Holz, Bedienung. Was bekomme ich denn für meine Pension? Das Essen bereitet? Das Essen bereitet für 4050 Dollar? Ziehe ich nun wirklich die Hälfte ab, das heisst, was ich zu bezahlen schuldig bin, 2025 Dollar, so bleiben 2025 für die Bereitung des Essens. Nun aber bezahle ich die Köchin besonders für die Bereitung des Essens, wie kann ich da 2025 für Bereitung des Essens bezahlen, und noch 1000 Dollar dazu?

– Das verstehe ich nicht!

– Ja, ich auch nicht. Aber das weiss ich, dass ich dir nichts schuldig bin, wenn ich dir deinen ganzen Unterhalt, den ganzen Unterhalt deiner Kinder, den ganzen Unterhalt deiner Mädchen bezahle; der Mädchen, die deine Arbeit tun, die nach deiner Ansicht meiner gleichkommt oder sie noch übertrifft. Auch wenn deine Arbeit mehr wert wäre, so hast du auch 500 Dollar extra, die von den Ausgaben des Hauses ausgenommen sind, während ich nichts habe, das davon ausgeschlossen wäre.

– Ich wiederhole noch einmal, dass ich deine Berechnung nicht verstehe.

– Ich verstehe sie auch nicht! Vielleicht lassen wir deshalb diese Pension. Das ist vielleicht das beste. Und stellen einfach das Debet und Kredit des Hauses auf. Willst du dein Konto kennen lernen, hier hast du es:

Mrs. Blackwood für Hilfe im Haus,
Mrs. Blackwoods Köchin und Kindermädchen geleistet:
Unterhalt mit Miete 1000 Dollar
Kleider 500
Vergnügungen 100
An Nadelgeld bar 500
Unterhalt für ihre Kinder 1200
Und Erziehung 600
Für die Mägde, die ihre Arbeit leisten 850
  ––––––––––––
  4750 Dollar
Bezahlt: Mr. Blackwood, Werftleiter.

– Ah, es ist schändlich, seiner Frau mit Rechnungen zu kommen.

– Mit Gegenrechnungen! Und du brauchst auch die nicht zu bezahlen, denn ich bezahle alle Rechnungen.

Die Frau knüllte das Papier zusammen.

– Soll ich auch die Erziehung deiner Kinder bezahlen?

– Nein, das will ich, und das tue ich, und ich bezahle die Erziehung deiner Kinder auch! Aber du bezahlst nicht einen Cent für meine. Ist das Gleichstellung? Aber ich will den Unterhalt meiner Kinder und meiner Mägde abziehen: dann geniessest du noch 2100 Dollar für die Hilfe, die du meinen Mägden im Haus leistest. Willst du noch mehr Berechnungen?

Sie wollte keine Berechnungen mehr, niemals mehr!

Der Familienversorger

Er erwacht am Morgen aus schweren Träumen von verfallenen Wechseln und nicht geliefertem Manuskript. Der Angstschweiss klebt in seinem Haar, und seine Wangen zittern, als er sich ankleidet. Aber er hört die Kinder im Nebenzimmer zwitschern, und er wäscht seinen heissen Kopf mit kaltem Wasser. Er trinkt seinen Kaffee, den er selber kocht, um das arme Kindermädchen nicht so früh, nämlich um 8 Uhr, aufzujagen. Dann macht er sein Bett, bürstet seine Kleider und setzt sich hin, um zu schreiben.

Das Fieber kommt, das Fieber, das Halluzinationen von Zimmern erzeugen soll, die er nie gesehen, von Landschaften, die es nie gegeben, von Menschen, die im Adressbuch nicht zu finden sind. Er ist am Schreibtisch in einer Todesangst. Die Gedanken sollen klar, prägnant und malend sein, die Handschrift leserlich, die Handlung soll vorwärts gehen, das Interesse darf nicht nachlassen, die Bilder sollen schlagend sein, die Reden und Gegenreden blitzend. Und dann grinsen ihm die Automaten des Publikums entgegen, deren Gehirne er aufziehen, die Kritiker mit dem Kneifer des Neides, die er überwinden, das bewölkte Gesicht des Verlegers, das er aufheitern soll. Er sieht die Männer der Jury um den schwarzen Tisch sitzen, auf dem die Bibel liegt; er hört die Türen des Gefängnisses sich öffnen, in dem Freidenker das Verbrechen, freie Gedanken für Trägen die gedacht zu haben, sühnen sollen; lauscht auf die schleichenden Schritte des Hotelwirtes, der mit der Rechnung kommt ...

Währenddessen brennt das Fieber, und die Feder läuft, läuft ihren Weg, ohne beim Anblick der Verleger oder Jurymänner zu zögern, und hinterlässt rote Streifen wie von geronnenem Blut, die dann liegen bleiben und schwarz werden.

Als er nach zwei Stunden aufsteht, hat er gerade noch so viel Kraft, dass er bis an sein Bett kommt, auf das er niedersinkt. Dann liegt er da, als ob der Tod ihn gepackt hätte. Das ist nicht der erquickende Schlaf, sondern Betäubung. Es ist eine lange Ohnmacht, aber eine bewusste, die von dem Entsetzen begleitet ist, dass die Kräfte fort sind, die Nerven schlaff, das Gehirn leer ist.

Da läutet die Glocke des Hotelpensionates. Voilà le facteur! Die Post ist gekommen!

Er fährt auf und schwankt hinaus. Empfängt eine Menge Postsachen. Da ist eine Korrektur, die sofort gelesen werden muss; ein Buch von einem jungen Schriftsteller, der um ein Urteil bittet; eine Zeitung mit einem polemischen Artikel, der zu beantworten ist; ein Brief mit dem Ersuchen, an einem Kalender mitzuarbeiten; schliesslich ein warnender Brief vom Verleger. Das alles soll jetzt von einem Kraftlosen erledigt werden.

Das Kindermädchen ist inzwischen aufgestanden, hat die Kinder angezogen, Kaffee getrunken, den das Hotel ihr gekocht, und Brötchen mit Honig gegessen, die das Hotel ihr gestrichen hat. Dann geht sie im Grünen spazieren.

Um ein Uhr läutet es zum Déjeuner. Alle Gäste versammeln sich um den Esstisch. Auch er setzt sich; allein.

– Wo ist ihre Frau? wird von rechts und links gefragt.

– Das weiss ich nicht, antwortet er.

– Welches Untier! flüstern die Damen, die eben ihren Morgenrock angezogen haben.

Dann kommt seine Frau. Die Bedienung wird ihretwegen unterbrochen, und die Hungrigen, die pünktlich gekommen sind, müssen auf den zweiten Gang warten.

Die Damen fragen seine Frau nach ihrem Befinden: ob sie gut geschlafen habe, ob ihre Nerven in Ordnung sind. Niemand aber fragt den Mann nach seinem Befinden. Das glauben sie im Voraus zu kennen.

– Er sieht aus wie ein Kadaver, sagt eine Dame.

Und das tut er auch.

– Er ist sicher lasterhaft, sagt eine andere Dame.

Das aber ist er nicht.

Er spricht nicht bei Tisch, denn er hat diesen Damen nichts zu sagen. Aber seine Frau spricht an seiner Stelle.

Und er würgt sein Essen hinunter, während seine Ohren die Freude haben, alles Erbärmliche rühmen und alles Gute schmähen zu hören.

Als sie vom Tisch aufstehen, bittet er seine Frau um einige Worte.

– Willst du so gut sein, Luise mit meinem Rock zum Schneider zu schicken; eine Naht ist aufgegangen, und ich habe keine Zeit, selber zu gehen.

Sie antwortet nichts; statt aber Luise zu schicken, nimmt sie selber den Rock auf den Arm und geht ins Dorf hinunter, wo der Schneider wohnt.

Im Garten trifft sie einige emanzipierte Damen, die sie fragen, wohin sie gehe.

Sie antwortet so ehrlich wie möglich, dass sie für ihren Mann zum Schneider gehe.

– Er schickt sie zum Schneider! Und sie lässt sich als wie eine Magd behandeln.

– Und jetzt liegt er auf dem Bett und hält Mittagsschlaf. Ein netter Mann!

Er hält wirklich Mittagsschlaf, denn er ist blutarm.

Um drei Uhr läutet der Postbote wieder, und jetzt soll er einen Brief aus Berlin deutsch, einen aus Paris französisch, einen aus London englisch beantworten.

Dann fragt seine Frau, die vom Schneider zurückgekommen ist und einen Cognac getrunken hat, ob er mit den Kindern einen Ausflug machen will. Nein, er müsse Briefe schreiben.

Als er mit den Briefen fertig ist, steht er auf, um vor dem Essen einen Spaziergang zu machen. Er möchte jetzt gern einen haben, mit dem er sprechen könnte. Aber er ist allein. Er geht hinunter zu den Kindern.

Das fette Mädchen sitzt auf einem Gartensofa und liest Frau Lefflers „Wahre Frauen“, die sie von seiner Frau geliehen hat. Die Kinder langweilen sich und wollen weiter gehen, wollen sich bewegen.

– Warum gehen Sie mit den Kindern nicht spazieren, Luise, fragte er.

– Die gnädige Frau hat gesagt, es sei zu warm.

Die Frau hat gesagt!

Er nimmt die Kinder mit und geht nach der Landstrasse; dann aber sieht er, dass sie nicht gewaschen sind und zerrissene Stiefel haben. Er kehrt um.

– Warum haben die Kinder zerrissene Stiefel? fragt er Luise.

– Die gnädige Frau hat gesagt ...

Die Frau hat gesagt!

Er geht allein spazieren.

Es wird sieben Uhr und das Essen beginnt. Die jungen Damen sind noch nicht nach Haus gekommen. Man hat die ersten beiden Gänge serviert, als sie kommen; lärmend, lachend und rot im Gesicht.

Seine Frau und ihre Freundin sind besonders aufgeräumt und riechen nach Cognac.

– Womit hast du dich unterhalten, Väterchen, fragt sie ihren Mann.

– Ich bin mit den Kindern spazieren gegangen, sagt er.

– Ist denn Luise nicht zu Hause gewesen?

– Doch, aber sie hatte keine Zeit.

– Das ist doch nicht zu viel verlangt von einem Mann, das er sich um seine eigenen Kinder bekümmert, sagt die Freundin.

– Nein, sicher nicht, antwortet der Mann. Und darum habe ich Luise zurecht gewiesen, dass sie die Kinder schmutzig und zerrissen gehen lässt.

– Immer kriegt man Schelte, wenn man nach Haus kommt, sagt die Frau. Nie kann man ein Vergnügen haben, ohne dass man getadelt wird.

Und eine kleine zerdrückte Träne stiehlt sich aus dem geröteten Auge.

Der Mann wird von der Freundin und den andern Damen mit wütenden Blicken betrachtet.

Man bereitet einen Angriff vor, und die Freundin wetzt ihre Zunge.

– Haben die Herrschaften Luthers Ansicht über das Recht der Frau gelesen? beginnt sie.

– Was ist das für ein Recht? fragt seine Frau.

– Sich einen andern Mann zu suchen, wenn ihr Mann ihr nicht passt.

Pause.

– Das ist eine gefährliche Lehre für die Frauen, sagt der Mann. Denn daraus folgt, dass auch der Mann ein Recht hat, sich eine andere Frau zu suchen, wenn seine Frau ihm nicht passt. Dieser letzte Fall kommt viel häufiger vor.

– Das verstehe ich nicht, sagt seine Frau.

– Das braucht weder Luthers noch meine Schuld zu sein, antwortet der Mann. Ebenso wenig wie es die Schuld des Mannes zu sein braucht, dass er nicht für seine Frau passt. Er kann nämlich für eine andere ganz ausgezeichnet passen.

Unter Todesschweigen steht man vom Tisch auf.

Der Mann geht auf sein Zimmer. Seine Frau und ihre Freundin setzen sich in den Pavillon.

– Welche Brutalität, sagt die Freundin. Und du, die feinfühlige, intelligente Frau, willst die Magd dieses rohen Egoisten sein!

– Er hat mich nie verstanden, seufzt die Frau.

Ihre Selbstzufriedenheit, dass sie diese vernichtenden Worte sagen kann, ist zu gross, als dass sie in ihrem Innern die Antwort hörte, die ihr Mann ihr so oft gegeben hat:

– Bist du so tief, dass ich, der ich einen guten Kopf habe, dich nicht verstehen sollte? Hast du nie daran gedacht, dass es vielleicht deine Oberflächlichkeit ist, die macht, dass du mich nicht verstehst!

Auf seinem Zimmer sitzt er, allein. Er leidet, als habe er seine Mutter geschlagen. Aber sie hat ihn ja zuerst geschlagen; sie hat ihn Jahre lang geschlagen, und er hat bisher noch nie zurückgeschlagen.

Diese rohe, herzlose, cynische Frau, der er seine ganze Seele hat geben wollen, mit all ihren Gedanken, mit all ihren feinen Gefühlen, hat seine Überlegenheit empfunden und darum ihn erniedrigt, ihn in den Schmutz gezogen, ihn bei den Haaren gerissen, ihn geschmäht. War es da ein Verbrechen von ihm, dass er ein Mal zurückgeschlagen, als sie ihn öffentlich verhöhnt? Ja, er fühlte sich so schuldig, als habe er seinen besten Freund ermordet.

Der warme Sommerabend kommt mit seiner Dämmerung, und der Mond geht auf.

Vom Salon ist Gesang zu hören. Er geht in den Garten hinunter und setzt sich unter den Walnussbaum. Allein! Und mit den Akkorden des Klaviers verschmilzt das Lied:

Oft wenn die Nacht den Schleier

Über das Erdgewimmel

Und um die Meere zog,

Hatten wir unsre Feier,

Während vom Sternenhimmel

Helle des Mondes flog.

Jetzt aber still ich weinen

Tränen der Sehnsucht muss,

Denn du wirst nie mehr erscheinen,

Frühling der Liebe mit deinem Kuss.

Er ging durch den Garten und sah durchs Fenster. Dort sass sie, sein Poem, das er sich gedichtet hatte. Und sie sang mit Tränen in der Stimme. Die Damen auf den Sofas sahen mit bedeutungsvollen Blicken einander an.

Aber hinter den Lorbeerbüschen sassen auf einem Gartensofa zwei Herren, die rauchten und flüsterten. Er hörte:

– Das ist nur Cognac.

– Ja, sie soll trinken.

– Und dem Mann schieben sie die Schuld zu.

– Das ist schändlich. Sie lernte schon in Julians Atelier trinken. Du weisst, sie wollte Malerin werden, konnte es aber nicht. Und als sie von der Ausstellung zurückgewiesen wurde, warf sie sich auf diesen armen Kerl und verbarg ihre Niederlage hinter einer Heirat.

– Ja, ich habe es gehört. Und sie hat ihn so lange gequält, bis er nur noch ein Schatten ist. Sie begannen mit einem eigenen Haushalt, und obwohl sie in Paris zwei Mägde hatte, nannte sie sich seine Magd. Obwohl sie allein im Haus zu bestimmen hatte, nannte sie sich seine Sklavin. Sie vernachlässigte das Haus, die Mägde plünderten es, und er sah den Ruin kommen, ohne etwas bestimmen zu dürfen. Wenn er einen Vorschlag zur Rettung machte, widersetzte sie sich; sagte er schwarz, wollte sie weiss haben. Dadurch hat sie seinen Willen gebrochen und seine ganze Intelligenz erschüttert. Dann gingen sie in ein Pensionat, damit sie keinen Haushalt zu führen brauche und sich ihrer Kunst widmen könne. Jetzt, da sie weder zu kochen, noch sonst etwas zu tun hat, rührt sie keinen Pinsel an, sondern amüsiert sich mit ihrer Freundin. Sie hat ihn auch von seiner Arbeit ablenken und durch Trinken erniedrigen wollen; das ist ihr aber nicht gelungen: darum hasst sie ihn, denn er ist ihr moralisch überlegen.

– Aber als Mann muss er doch ein Tropf sein, antwortet der andere.

– Ja, in dem Punkt freilich, aber das sind wir leider alle in dem Punkt. Er ist noch nach zwölf langen Jahren in sie verliebt. Aber das schlimmste ist, dass er, der früher so stark war, dessen Worte in Kammer und Zeitung gefürchtet wurden, jetzt anfängt schlaff zu werden. Ich sprach heute Vormittag mit ihm, und er ist zum mindesten krank.

– Ja, man sagt, seine Frau habe ihn ins Irrenhaus bringen wollen, und ihre Freundin habe sie in diesem Bemühen unterstützt.

– Und er sitzt da und arbeitet sich ab, damit sie sich amüsieren kann.

– Weisst du, warum sie ihn am meisten verachtet? Weil er sie nicht so versorgen kann, wie sie versorgt werden möchte. Ein Mann, der seine Frau nicht versorgen kann, ce n’est pas grande chose, sagte sie kürzlich beim Mittagstisch. Und ich habe gute Gründe zu der Annahme, dass sie einmal darauf gerechnet hat, er werde sie als Malerin in die Höhe schreiben. Unglücklicher Weise verboten ihm seine politischen Ansichten, mit den tonangebenden Zeitungen zu tun zu haben; auch verkehrte er nicht in Künstlerkreisen, da er andere Interessen hatte.

– Sie wollte ihn also benutzen; als er sich aber nicht benutzen liess, wurde er verworfen. Zum Familienversorger scheint er aber noch gut genug zu sein.

Jetzt aber still ich weinen

Tränen der Sehnsucht muss,

klang es aus dem Salon.

– Puff, erklang es hinter dem Walnussbaum. Zweige knackten und der Sand knirschte.

Die Herren sprangen auf.

Auf dem Weg lag eine gut gekleidete Leiche, deren Kopf an ein Stuhlbein stiess.

Der Gesang verstummte, und die Damen stürzten hinaus.

Die Freundin goss ihr kölnisches Wasser auf den Toten.

– Pfui, eine Leiche, sagte sie, fuhr zurück und hielt sich die Nase zu, als sie sah, dass es keine Ohnmacht war.

Der ältere der beiden Männer, der sich zu dem Toten niedergebeugt hatte, hob den Kopf und sagte:

– Still, Weiber!

– Welche Brutalität, sagte die Freundin.

Die Frau des Toten fiel in Ohnmacht, wurde aber von den Armen der Freundin aufgefangen und von den Damen zärtlich gepflegt.

– Holt den Arzt, schrie der ältere Herr. Lauft!

Niemand rührte sich, sondern alle scharten sich um die ohnmächtige Frau.

– Seiner Frau einen solchen Kummer zu machen! Solch ein Mann, solch ein Mann, jammerte die Freundin.

– Nicht einen Gedanken an den Sterbenden, aber alles für die Ohnmächtige. Giesst ihr einen Cognac hinunter, dann lebt sie wieder auf!

– Der elende Mann hat sein Los verdient, erklärte die Freundin.

– Nein, er hat allerdings ein besseres Los verdient als lebend in eure Hände zu fallen. Schämt euch, Weiber, und Respekt vor dem Familienversorger!

Er stand auf und liess die Hand des Toten los.

– Es ist aus! sagte er.

Und es war aus.

Inhalt

  Seite
Asra 1
Liebe und Brot 45
Musste 63
Ersatz 91
Reibungen 103
Unnatürliche Auslese 121
Reformversuch 129
Naturhindernis 133
Ein Puppenheim 143
Vogel Phönix 169
„Romeo und Julia“ 177
Herbst 183
Fruchtbarkeit 201
Zwangsehe 215
Die verbrecherische Natur 233
Corinna 249
Ungetraut und getraut 287
Zweikampf 297
Seine Magd 317
Der Familienversorger 325

Druck: Münchner Buchgewerbehaus M. Müller & Sohn

Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):