The Project Gutenberg eBook of Anspruchslose Geschichten

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Title: Anspruchslose Geschichten

Author: Pauline Hann

Release date: October 17, 2021 [eBook #66553]

Language: German

Credits: the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This book was produced from images made available by the Universitätsbibliothek Leipzig.)

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK ANSPRUCHSLOSE GESCHICHTEN ***

ANSPRUCHSLOSE
GESCHICHTEN

VON
P. HANN

LEIPZIG 1891
A. G. LIEBESKIND.

Druck von W. Drugulin in Leipzig.

INHALT.

  Seite.
Sein bedeutender Freund   1
Kein Schwan 29
Ein Aprilscherz 51
Beim Ehestiften 87
Im Herbst 113
Brennende Liebe 145
Ein Unglücksmensch 169
Unkraut am Wege 189
Herbstblätter 211
Schwiegermütterchen 255
Das Pflegetöchterchen 281

SEIN BEDEUTENDER FREUND.

Wie Alles auf dieser mangelhaften Welt, hat ein bedeutender Freund eine Licht- und eine Schattenseite; aber Rudolf Müller sollte von rechtswegen heute bloss die erstere anerkennen: Aus der Ferne schallt abgedämpfter Walzerklang, das Rascheln und Knistern seidener Ballkleider herüber, – und er tanzt nicht. Im Nebenzimmer rufen begeisterte Skatbrüder ihr Grand Solo mit Matadoren aus, – und er kann eine Karte von der anderen kaum unterscheiden. Die grosse Gesellschaft, in die er, Dank seiner Verwandtschaft mit der Hausfrau, gerieth, würde ihm die unverfälschtesten Tantalusqualen bereiten, wenn er seinen bedeutenden Freund nicht hätte. Diesem allein, und nicht etwa den eigenen bestechenden Eigenschaften, – Niemand sollte das besser wissen als Rudolf Müller selbst, – verdankt er es, dass er mit der schönsten, liebenswürdigsten Dame der Gesellschaft, – nein, der Welt! – in einem Glaskasten plaudern darf, der auf den stolzen Titel Wintergarten Anspruch erhebt und mit Palmen, Gummibäumen und blühenden Azaleen so vollgestopft ist, dass ausser dem Bänkchen, auf welchem Else Friedjung sitzt, und einer Handbreit Raum, auf welcher er steht, kein Platz für etwaige Eindringlinge wäre. Seit dreiviertel Jahren betet er die junge Dame an, aber leider aus gemessener Entfernung, denn für einen mit dem Laster der Bescheidenheit behafteten Menschen giebt es keine Möglichkeit, sich durch die dreifache Reihe von schwarzen Fräcken durchzuwinden, die beständig das schöne, lebhafte Millionärskind umschliesst, wie die Midgardsschlange die Weltesche. Aber vor etwa einer halben Stunde hat ihm seine Cousine zugeraunt:

»Else Friedjung wünscht, Dich kennen zu lernen, Du Glückspilz, versteht Du, sie wünscht es.«

Ob er versteht! Wenn er sich noch nicht die Karte »ami de Beethoven« drucken liess, so liegt dies bloss daran, dass er noch ein Weilchen warten will, bis ausser dem niedlichen Einacter, der vor etwa vierzehn Tagen im Hoftheater aufgeführt wurde, auch noch die anderen unsterblichen Werke erschienen sind, mit welchen sein bedeutender Freund heute oder morgen, bis er in der richtigen Stimmung dazu ist, die Welt aus den Angeln heben und sämmtliche Classiker, Romantiker und moderne Theaterdichter in das Nichts zurückschleudern wird.

Das schöne Mädchen wies ihm auf der eng beschriebenen Tanzkarte eine leere Stelle. »Ich habe den Walzer für Sie aufgespart, Herr Müller«, sagte sie liebenswürdig.

Er ballte die Faust, – in Gedanken natürlich, – gegen den Tanzmeister, der ihn als hoffnungslosen Fall aufgegeben; aber Elsen Friedjung stand der Sinn nicht nach Tanzen. In all ihrer Anmuth, die dem armen Jungen den Kopf vollständig verdreht hat, erhob sie sich, legte die Hand auf seinen Arm und liess sich von ihm in die Tropenlandschaft führen. Selbst das tugendhafteste Mauerblümchen entdeckte nichts Ungehöriges darin; ein heimliches Zwiegespräch mit Rudolf Müller gehört zu den Dingen, die Jede begreift und Jede entschuldigt. Es ist nicht die geringste Gefahr dabei; nicht dass er etwa abschreckend hässlich, oder unerlaubt dumm wäre, oder auf dem grossen Theater eine allzu verächtliche Lampenputzerrolle spielte, – verständige Papas unverständiger Töchter schätzen ihn als tüchtigen, aufstrebenden Kaufmann, – aber sein bedeutender Freund, der einen Schatten wie der Kölner Dom wirft, lässt ihn pygmäenhaft klein, ja zu Zeiten mit freiem Auge gar nicht wahrnehmbar erscheinen.

Else Friedjung liess die Stäbe ihres Fächers durch die Finger gleiten und heftete die Augen auf dieses Spiel.

»Ich höre, Sie sind mit Doctor Engelbert Holstein näher befreundet«, fing sie in leichter Verlegenheit an.

Rudolf knickte innerlich zusammen. Die leise Hoffnung, die ihn trotz aller Erfahrungen umschmeichelt, liess ihre Flügel kläglich hängen und er bereitete sich für die Antworten vor, die er, zum beliebigem Gebrauch bei jedem Tête-à-tête auswendig gelernt:

»Wir wohnen beisammen.« (Und eine recht vernünftige Theilung der Arbeit besorgen sie dabei, der Bedeutende bestrahlt mit seinem Ruhm das elegante Junggesellenheim nahe dem Thiergarten, und Rudolf Müller bezahlt es; doch diese intimen Details gehören nicht hierher.) »Er wird kommenden November 24 Jahre alt.«

»Sein Geburtstag fällt sechs Tage später als der Schiller's« (Die gestickten Schreibmappen, Federwischer, Cigarrentaschen, die diese Enthüllung in die Welt gesetzt, lassen sich kaum zählen.) »Er ist vollständig unverheirathet.«

Dann eine Verbeugung, und der junge Mann weiss, dass er aus den Gedanken seiner schönen Nachbarin fortgewischt ist, wie eine Null mit dem Schwamm von einer Rechentafel.

Aber Else Friedjung ist ein geistreiches Mädchen; sie bringt doch wenigstens einige Abwechselung in das grausame Spiel.

»Doctor Holsteins Name auf dem Theaterzettel rief mir eine Begebenheit, einen kleinen Roman, eigentlich nur den Anfang eines solchen, in's Gedächtniss zurück. – Meine Freundin, – meine beste Freundin erlebte ihn vor einem Menschenalter, es sind gewiss sieben Jahre her.« Rudolf richtete sich erwartungsvoll auf.

»Ich kann mit einigen Aenderungen die Eingangszeilen unseres besten deutschen Romans wiederholen: Westerode ist eine Stadt mit etlichen tausend Einwohnern, einem Gymnasium – und einer Heilquelle. Die etlichen Einwohner und das Gymnasium besitzt sie schon seit längerer Zeit, die Heilquelle wurde erst vor einem Jahrzehnt entdeckt.« Sie unterbrach sich, denn er machte eine Bewegung.

»Sie sprechen von meiner Vaterstadt,« sagte er, »ich bitte mit aufgehobenen Händen, verfahren Sie glimpflich mit ihrem Curort-Ehrgeiz.«

»Ihre Vaterstadt? Dann ist die Freundschaft zwischen Ihnen und dem Doctor wohl schon auf den Schulbänken geschlossen worden?«

Rudolf verbeugte sich bestätigend. Immer sein bedeutender Freund! Er ist ihm so anhänglich wie – er weiss selber keinen passenderen Vergleich – wie ein treuer, oft geprügelter Pudel, aber selbst ein solcher kennt Augenblicke, in welchen sein Herz ins Spiel kommt und er bei dem weissgelockten Gegenstand seiner Neigung etwas für sich selber vorstellen möchte.

»Ich habe Sie von Ihrer Erzählung durch meinen unzeitigen Einwurf abgelenkt,« murmelte er.

»O, ganz recht. Die Heilquelle trotzte zwar bisher standhaft jedem Analysirungsversuch, – so viel darf ich doch sagen, ohne ihr heimathliches Weltbad zu beleidigen? – dennoch wirkte sie Wunder in Reclamen und ärztlichen Anpreisungen. Meine Freundin, damals ein Backfisch mit etwas blässlichen Wangen, sollte, begleitet von einer ältlichen, unverheiratheten und etwas verschrobenen Erzieherin, das Wunderwasser trinken.«

Ihr Zuhörer sah auf, als schiesse ihm eine Erinnerung – aber keine sonderlich freudige – durch den Sinn.

»Es schmeckte abscheulich. So oft es unbemerkt geschehen konnte, goss sie es aus. Dessenungeachtet wirkte die Cur. Entweder war die Quelle so heilkräftig, dass man schon durch die Betrachtung des Geländers, das sie umgab, Farbe und Rundung der Wangen bekam, oder waren es die prächtigen Buchenwälder, die förmlich zum Thore der Stadt hereinwuchsen. Meine Freundin mochte das Letztere glauben und lief den grössten Theil des Tages auf den weltbadmässig gebahnten, mit Bänken besäeten Waldpfaden herum. Es war eine so schöne Abwechselung nach der vielstündigen Marter vor dem Piano und den Schulbüchern, die bisher ihre Tage ausgefüllt. Niemand störte sie; es stand ihr frei, sich als unumschränkte Besitzerin all' der Herrlichkeit zu betrachten, die, steil aufsteigend, das Städtchen umschliesst. Das übrige Curpublikum sammt der Ureinwohnerschaft steckte träge in Hausgärten oder auf Veranden, ihre Gouvernante im verdunkelten Zimmer, denn die gute Antoniette besass eine Leidenschaft, mit welcher ihre Pflichttreue einen aussichtslosen Kampf führte, sie dehnte ihr Mittagsschläfchen bis zum Abend aus, wenn Niemand sie weckte; und meiner Freundin war der Schlaf heiliger als Macbeth. Dreist erstreckte sie in drückender Nachmittagshitze ihre Spaziergänge immer tiefer in den Wald hinein. Da begegnete ihr einmal das Verhängniss in Gestalt eines jungen, hübschen Menschen mit flatternden Locken und blitzenden Augen. Er sass auf einer Bank, ein Notizbuch auf den Knieen, die Rechte schrieb eifrig, die Linke scandirte auf der Holzlehne. Bei dem plötzlichen Auftauchen meiner Freundin fuhr er in die Höhe, starrte sie an und lief spornstreichs den Berg hinab. Sie folgte ihm mit den Blicken. Wie er, musste, ihrer Ansicht nach, der junge Goethe in Frankfurt ausgesehen haben, nur blieb es freilich fraglich, ob er auch die scharlachrothe Burschenmütze sorgfältig mit einem schwarzen Ueberzug bedeckt hätte, bevor er in die Strassen der Stadt einbog, wie es der junge Mann that.«

»Unser Director,« warf ihr Zuhörer erklärend ein, »verfolgte das Burschenspielen im Gymnasium mit draconischer Strenge. Und Engelbert musste sich besonders hüten, dass Missfallen unseres Schulmonarchen zu erregen.«

»Meine Freundin traf ihn nun fast täglich im Walde, aber ihr fünfzehnjähriges Gewissen bohrte und nagte. Sie weckte Fräulein Antoniette am hellen Nachmittage. Die gute Seele schleppte sich keuchend die Waldhügel hinauf, bis zur ersten Bank, von welcher man gerade auf den Marktplatz hinuntersah. Dann empfahl sie ihren Geist dem Herrn, sank auf den Hochsitz und entschlief. Meine Freundin las im »Ekkehard«. Da, als sie zufällig aufblickt, steht, kaum zwanzig Schritte von ihr entfernt, ihr junger Goethe im vollen Glanz der unbezogenen Burschenkappe, einen Strauss poetischer Waldblümelein in den Händen und einen gewissen Was-frage-ich-um-die-Welt-Ausdruck im Gesicht, der ihr anzeigte, dass es heute mit gegenseitigem Anstarren, Rothwerden und Grüssen nicht sein Bewenden haben werde. Statt ihre regelmässig und laut athmende Begleiterin – ruchlose Menschen hätten behauptet, sie schnarche – zu wecken, that sie das Unvernünftigste, was sie begehen konnte, sie lief davon. In einigen Secunden hatte er sie eingeholt, ihr die Blumen überreicht und einen Strom sehr lauter, aber dennoch unverständlicher Bitten und Beschwörungen über sie ergossen. Bei ruhiger Rückerinnerung würdigt dies meine Freundin als den Ausfluss grünster Jugendlichkeit, damals jedoch erschien es ihr hochbedeutsam, erschütternd, sie bis zu den Regionen der langen Kleider und vollbeschriebenen Tanzkarten emportragend. Er drückte ihre Hände, dass sich die Stengel des Strausses ihren Handflächen einpressten und sie eher ein schmerzliches, denn ein beseligtes Gesicht zog. Plötzlich stürzte Antoniette, zum Bewusstsein und zu ihrer Verantwortlichkeit erweckt, herbei, riss das unflügge Nestkücken aus dem Griff des Falken, und wenn Worte und Blicke die Wirkung der Blitze hätten, so wäre er ohne Zweifel todt zu Boden gestreckt worden. In den Augen des alten Fräuleins schwoll die Kinderei zu einem ungeheuren Frevel, zu einem Vergehen gegen die Moral an; sie drohte mit Gericht und Polizei. Aber lag es an ihrem fragwürdigen Deutsch oder an den von Schlaf und Bestürzung übermässig gerötheten Zügen und den rollenden Augen, – ihr Zögling biss sich krampfhaft auf die Lippen, der junge Goethe, weniger vorsichtig, lachte ihr helllaut in's Gesicht, wodurch sich ihr Grimm selbstverständlich nicht verringerte. Nach einem Blick auf das junge Mädchen, der einen ganzen Band lyrischer Gedichte ersetzte, drehte er sich um und ging. Die Nachblickenden sahen ihn im Hause des Kaufmanns auf dem Markte verschwinden. Es war ihre letzte persönliche Begegnung, denn Fräulein Antoinette bewachte ihren Schützling wie ein geschwänzter Schatzhüter der Sage. Nur ein glühendes Gedicht von ansehnlicher Ausdehnung, Engelbert Holstein unterzeichnet, gelangte durch einen Liebesboten, dessen Hauptkennzeichen Wasserscheu, durchstossene Ellbogen und vorwitzig in die Sonne hinausguckende Zehen waren, in die Hände meiner Freundin. Sie verwahrte es sorgfältig, Fräulein Antoinette hat nie etwas davon erfahren. Kaum eine Woche später verliessen sie das Weltbad. – Sie können sich vorstellen, wie überrascht und stolz meine Freundin war, als ihr jugendlicher Bewunderer sich plötzlich als Mann von Bedeutung entpuppte, von dem alle Welt spricht, dem man eine glänzende Zukunft vorhersagt.«

Das Gesicht des jungen Mannes trug einen sonderbaren Ausdruck.

»Wollen Sie mir erlauben, Ihrer rührenden Historie einen ganz unerwarteten Schluss anzufügen?« fragte er lachend, »Ueberraschungen sollen zwar den Werth eines literarischen Kunstwerkes nicht erhöhen, aber – arme Leute kochen mit Wasser.«

Else Friedjung blickte ihn verwundert an.

»Fräulein Antoinette klagte die erlittene Insulte der Badeverwaltung, den städtischen Behörden, dem Schulmonarchen und der Himmel weiss wem noch. Sie hatte den Frevler im Kaufmannshaus verschwinden gesehen. Hier hebt das tragische Verhängniss an, das Factum, das dem griechischen Trauerspiel zu so hoher Wirkung verhalf und vom modernen Fürwitz sammt den Göttern aus der Flugmaschine in die dramatische Rumpelkammer verwiesen wird: das Kaufmannshaus beherbergte ständig nur einen Gymnasiasten mit je nach den Verhältnissen scharlachfarbener oder schwarzbezogener Mütze. Freund Engelbert stellte sich nur strichweise ein; an jenem denkwürdigen Nachmittage kam er, um mir etwas Immenses von seiner Leidenschaft, von Drachen und lieblichen Waldfräulein zu berichten. Ich lauschte mit offenem Munde, nicht ahnend, was die Götter über mein schuldloses Haupt verhängt: Ein gewaltiger Aufruhr erhob sich. Ich hatte nicht nur den untadelhaften Ruf unseres Gymnasiums durch eine sittenlose Ausschreitung befleckt, ich schädigte auch den aufstrebenden Curort, wie der Mehlthau die grünen Bäume. »Wenn junge Galgenvögel die Curgäste im Walde straflos überfallen dürfen – denn bis zum Überfall war man, Dank Fräulein Antoinettens Beleuchtung des Ereignisses, gediehen, – dann werden sie der Heilquelle den Rücken kehren, und Westerode bleibt bis an's Ende aller Dinge eine Stadt mit etlichen Einwohnern und einem Gymnasium.« Als die Wogen sich legten, fand ich mich auf den Strand geworfen: Unter einem beträchtlichen Aufwand von Jüngsten-Gerichtposaunen war ich aus dem Gymnasium gestossen worden, damit nahm meine etwaige gelehrte Laufbahn ein vorzeitiges Ende. Wenn Sie ahnten, mein Fräulein, was für ein grosser Mann in der Knospe geknickt ward! Meine Mutter behauptete es, und sie musste es wissen, denn Niemand kannte mich genauer als sie. Ich erzeugte in meiner Dachkammer Schwefelwasserstoff und ähnliche Parfüms in einem Alter, wo andere Knaben einander die Stirnen voll Beulen schlagen. Wehe Liebig! prophezeite meine Mutter. Ich verwendete den Spiritus aus ihrem Schnellsieder und ihre Einmachgläser für alle Arten von Reptilien, fing Schmetterlinge, lief in der ärgsten Sonnenhitze mit einer grünen Blechbüchse herum, um Pflanzen mit Wurzeln und Erdreich auszureissen; nur Uebelwollende konnten leugnen, dass in mir die Keime zum Naturforscher lagen. Ich sammelte rostige Messer, grünspanbezogene Kupfermünzen, auf meiner Dachkammer fand eine zerschlagene Ofenfigur, der unvermeidliche Knabe mit dem Muschelkorbe, einen geehrten Platz, der künftige Archäologe war fertig. Und als ich in wilder Knabenzeit die Ruchlosigkeit beging, einer Katze den Schwanz abzuschneiden, erklärte meine Mutter, dies sei die liebste Beschäftigung aller grossen Chirurgen in ihrer Kindheit gewesen. Und nun sollte ich, ein so vielerlei versprechender Jüngling, lange Zahlenreihen addiren und meines Vaters Kunden Schnupftabak und Rosinen verkaufen. Es war herzbrechend.«

Das wohlwollend-überlegene Lächeln, mit dem Else gleich allen jungen Damen seiner Bekanntschaft ihm gegenübergesessen, war schon seit einer Weile von ihren Lippen gewichen. Sie blickte ihn an, als hätte ein geschickter Taschenspieler die dunkle, unscheinbare Gestalt verschwinden lassen und an ihrer Statt einen anderen Rudolf Müller in bengalischer Beleuchtung, mit ganz ungeahnten Tugenden und Vorzügen ausgerüstet, auf die Handbreit Raum zwischen Palmen und Azaleen hingestellt.

»Und wo blieb Ihr Freund?« fragte sie mit zusammengezogenen Brauen, eine rothe Zornwelle im reizenden Gesicht. »Wie konnte er Sie, den Unschuldigen, die Last tragen lassen! Es ist abscheulich! Ich hatte eine hohe Meinung von ihm, aber jetzt verachte ich ihn. Sobald ich nach Hause komme, verbrenne ich sein Gedicht!«

Rudolf blickte sie betreten an. Auf diese Wendung war er nicht gefasst gewesen. Dass man an einen bedeutenden Menschen denselben Massstab legen könnte, wie an gewöhnliche Muttersöhne, war ihm nicht eingefallen. »Judas Ischarioth!« flüsterte er sich zu. »Verurtheilen Sie ihn nicht!« bat er und setzte sich in seiner Rathlosigkeit zu ihr auf das Bänkchen, das wirklich nur für zwei schlanke Menschen Raum bot. »Seine Laufbahn stand auf dem Spiel, und bei ihm handelte es sich um mehr, als bei solch einem Dutzendmenschen, wie ich bin. An seinen Schöpfungen werden sich noch Tausende erfreuen, wenn von mir längst keine Spur mehr vorhanden sein wird.«

»Ich glaube nicht mehr an seine Zukunft,« versetzte Else mit der Energie einer bekehrten Heidin, die soeben ihren Thongötzen in Stücke zerschlagen hat, »ein charakterloser, schwacher Mann wird nie ein grosser Mann. Auch ist mir unverständlich, wie die Ungnade einer kleinen Stadt und selbst die Ausschliessung aus ihrer Schule seine Laufbahn zu zerstören vermocht hätte.«

»Wenn Sie sein Gemüth, das jede Widerwärtigkeit niederdrückt, und seine Verhältnisse kennten, dann würden Sie begreifen, dass es sich wirklich um seine Zukunft handelte,« erwiderte Rudolf, Angstschweiss auf der Stirn. »Weitläufige Verwandte hatten murrend und widerwillig die Schnüre ihres Beutels geöffnet, um ihn studieren zu lassen. Der Skandal, der seine Ausschliessung begleitet hätte, wäre ihnen ein willkommener Anlass gewesen, ihm ihre Unterstützung zu entziehen. Mit dieser schlossen sich vor ihm die Thore der Universität, die Grundlagen wissenschaftlicher Schulung, ohne welche sein Schaffen dilettantisch bleiben musste.«

Aber Else, statt sich zu der Höhe seiner Auffassung aufzuschwingen, hielt eigensinnig an ihrer Meinung fest.

»Selbstsüchtig Ihre Zukunftspläne zu zerstören, o, es war feige, es war schlecht!«

»Mein theueres Fräulein,« rief der junge Mann und rückte so nahe an sie heran, dass die Blattpflanzen, die sich als spanische Wand zwischen ihnen und dem Nebenzimmer erhoben, als Segen der Vorsehung erschienen. »Sie fassen die Geschichte viel zu tragisch auf. Das Unglück für Menschheit, Vaterland und mich selber ist wahrlich zu ertragen, wenn statt eines mässig begabten Doctors ein an Erfolgen nicht ganz armer Kaufmann in der Welt herumläuft.«

»Davon spreche ich nicht. Glauben Sie etwa, dass ich Ihren Beruf gering schätze?« vertheidigte sich Else eifrig, »mein Papa war auch Kaufmann und lehrte mich, seinen Stand hochhalten. Vielleicht schlug Antoinettens Bosheit – ich werde ihr nächstens meine Meinung sagen! – Ihnen sogar zum Glück aus; aber das entschuldigt ihren Freund nicht. Sie müssen in ihrem heimathlichen Neste – verzeihen Sie, im Weltbad Westerode – wie der verlorene Sohn angesehen worden sein.«

»Was schadete mir das? Ich hörte Predigten von unerlaubter Länge, sah wolkenverhängte Gesichter, bekam etliche Wochen Zimmerarrest; es hat mir, wie Sie sehen, den Humor nicht verdorben.«

»Es war im Sommer, und der Wald so nahe,« sagte Else bedauernd.

»Vergessen Sie nicht, dass auf meine Dachstube erhabene Gefühle zu Besuch kamen: Ich schützte meinen Freund, siehe die Bürgschaft; ich erlitt unverschuldetes Uebel, siehe die christlichen Märtyrer; ich fiel als Opfer für das Gedeihen meiner Vaterstadt, ein – allerdings etwas passiver – Curtius. – Ihr Antheil ist mir unendlich werthvoll, werthvoller als Sie denken, doch nein, Sie wissen ohne Zweifel, dass Sie mir die Verkörperung alles Schönen, Liebenswürdigen, Begehrenswerthen sind – allen Mädchen sagt es ihr Seherblick, wenn sie sich ein Männerherz unterjochten –, aber so glücklich mich Ihre Theilnahme auch macht, meine kleinen Leiden von damals verdienen sie nicht.« Er stockte; mit leiser Stimme hub er wieder an. »Der Gedanke, dass ich das Herrlichste, was mir das Leben gewähren könnte, Ihre Freundschaft, dem Ausnützen einer von mir selbst geschaffenen Gelegenheit, einer Indiscretion verdanken sollte, wäre mir unerträglich.«

Sie sah ihn mit seltsam schimmernden Augen an.

»Es ist zwar gegen alle Lehren Antoinettens, aber zuweilen überfällt mich ein förmlich krankhafter Drang, die Wahrheit herauszusagen und so mögen Sie denn nur wissen« – sie erhob sich schnell, der Walzer war längst zu Ende, ihre Tänzer traten suchend in die Thüre des Spielzimmers. Zurückgewendet sprach sie hastig, über und über erglühend, »mir ist es nicht viel anders gegangen als dem glücklichen Sohne des Kiss, ich bin ausgezogen, um Kunde von einem bedeutenden Mann zu hören, und fand einen echten Mann. Ich bin ein Sonntagskind, wissen Sie das?«

Damit war sie entschlüpft; er blickte ihr nach und machte das närrisch beseligte Gesicht, das jeder Sterbliche nur einmal im Leben zieht.

Das Zwiegespräch unter Palmen hatte selbst für ein Tête-à-tête mit dem Freunde eines bedeutenden Mannes zu lange gedauert, um nicht Anlass zu verschiedenartigen Randbemerkungen über den Fächer hinüber zu geben. Aber die Gesellschaft gewöhnte sich durch zahlreiche Wiederholungen daran, Herrn Rudolf Müller mit Fräulein Else Friedjung in allerhand Ecken und Winkeln der Ballsäle erschöpfende, tiefe und für Fernstehende nicht allzu interessante Gespräche führen zu sehen. Man wollte bemerken, dass er dem abnehmenden Monde glich, wenn sie nicht da war und dass sich eine Wolke der Verstimmung auf ihre Stirn lagerte, wenn er fehlte. Zuletzt verschwanden sie wochenlang spurlos aus ihrem Bekanntenkreise, und als die Lösung in Gestalt weisser Kärtchen erschien, bildete sie nicht einmal das bekannte Neuntagswunder. – Rudolf verdankt seine Braut eigentlich doch nur seinem bedeutenden Freunde. Als dieser dem schönen Mädchen vorgestellt wurde, erkannte er in ihr seine »unvergessliche« Jugendliebe, über deren Verlust ihn alle später besungenen Vertreterinnen edler Weiblichkeit nur scheinbar getröstet hatten. Sie war das Weib seiner Träume, das Rudolf ihm geraubt. Selbstverständlich kann ihm Niemand die Ueberzeugung nehmen, dass er eine Schlange an seinem Busen gehegt habe, schnöde missbraucht und verrathen worden sei. Rudolf Müller mag nur zusehen, wie er mit der Nachwelt, die Engelberts Tagebücher lesen wird, zurecht kommt! Ich gebe seine Sache verloren!

KEIN SCHWAN.

»Was hilft vortreffliches Beispiel, tadellose Erziehung, wenn der angeborene Hang den Menschen in den Schlamm hinabzieht!« schrie Fräulein Möller, die Vorsteherin des berühmten Damenpensionats in Dresden, roth vor Zorn, aber selbst im höchsten Affect die Gewohnheit, in Sentenzen zu sprechen, beibehaltend. »Ein hässliches Mädchen zu hüten, ist schwerer, als alle Herkulesarbeiten zusammen«, (Fräulein Müller hat übrigens noch keine probirt), »denn die Stummen wollen am meisten sprechen, und die Tauben machen die lauteste Musik.«

Das war ein Strafgericht! Der bewusste Feuerregen, der sich über Sodom und Gomorrha ergoss, muss dagegen ein angenehmes Nachmittagsvergnügen gewesen sein.

Die Mädchen aus der obersten Klasse blickten schaudernd auf einen schwarzen Punkt.

Der schwarze Punkt war ich!

Ich habe niemals besondere Lust gehabt, der Urkraft (von der Professor Henkel so dunkel und gelehrt zu reden wusste, dass uns nach jedem Vortrag in der Naturkunde eine Hammerschmiede in den Köpfen arbeitete) in ihre Töpfe zu gucken, aber was sie eigentlich im Sinne gehabt, welchen Zweck sie verfolgt, als sie den erwähnten schwarzen Punkt in der obersten Klasse des Pensionats geschaffen, das möchte ich gar zu gern wissen. Sie muss keinen Zierrath beabsichtigt haben, sonst hätte sie mich mit irgend einer Eigenschaft ausgerüstet, die den Augen des Beschauers wohlgefällig erscheint, keine Säule an ihrem Bau, sonst hätte ich nicht seit meiner frühesten Kindheit das Bewusstsein vollständiger Ueberflüssigkeit mit mir herumgetragen. Wenn ich heute die Augen schloss, dann wurde keine Wimper nass, keine stecknadelkopfgrosse Lücke entstand, nein, ich war zu keiner stützenden Säule bestimmt, denn ich war keinem Menschen auf Erden unentbehrlich. Halt, doch Einem! Und das bringt mich wieder in meine Klasse und in das Strafgericht zurück.

Hätte ich zärtliche Eltern gehabt, wie die anderen Mädchen, oder wäre ich hübsch und liebenswürdig gewesen, dann hätte Fräulein Möller mir eine Privatvorlesung im Allerheiligsten ihres Arbeitskabinets gehalten, und die ganze Klasse hätte sich nicht an den Weisheitssprüchen erbauen dürfen. Das Pensionat war zwar ob seiner Tugend und Sittenstrenge berühmt, aber durch die Thürritzen hatte der Klatsch doch die Kunde von Lieutenantsbriefen und darauf folgenden Thränen und Sentenzen in Fräulein Möller's Privatgemach getragen. Aber zwischen Julie von Minkwitz und mir war ein kleiner Unterschied. Als sie in die Schule eintrat, bat man um Nachsicht und Güte für das liebe Mädchen, während meine Mama nur von vulgären Neigungen sprach, die mir angeboren und streng im Zaum zu halten seien.

Meine Pflegeeltern haben viel für mich gethan, sie liessen mir eine Erziehung geben, als wäre ich wirklich eine der ihrigen und bestimmt, mit anmuthigem Flügelschlag durch ihre vornehmen Gesellschaftskreise zu schweben. Aber als ich in das berühmte Pensionat kam, hatte ich, damals noch ein halbes Kind, die Ueberzeugung, ich werde aus dem Hause entfernt, damit Robert und Lili nicht von meinen vulgären Neigungen angesteckt würden. Da diese mir angeboren waren, liessen sie sich nicht ausrotten, trotz der heilsamen Strenge, die angewendet ward. Dafür waren aber auch der ehemalige Kutscher und die ehemalige Kammerjungfer von Papa und Mama mein Vater und meine Mutter. Sie starben beide während einer Epidemie; ich kann mich ihrer kaum erinnern, denn ich zählte erst vier Jahre, als mich das unersetzliche Unglück traf. Unersetzlich – wiewohl Papa und Mama, die in kinderloser Ehe lebten und längst daran gedacht hatten, eine Waise an Kindesstatt anzunehmen, mich in ihr leeres grosses Haus nahmen. Auch an ihr Herz? Vielleicht. Ich habe nur dunkle Erinnerungen an die ersten Jahre im Hause meiner Pflegeeltern. Aber mir schwebt vor, als habe Mama mit ihren eigenen weissen, feinen Händen mich zuweilen in schöne gestickte Kleidchen gehüllt und sei am Abend, wenn sie keine Gesellschaft hatte, an mein Bett getreten, um mich ein kurzes Kindergebet zu lehren. Und Papa hob mich im Sommer, den wir stets auf seiner Besitzung an der Elbe verlebten, in die Zweige der Kirschbäume empor, damit ich mir mit meinen Kinderhänden – sie waren leider immer von ansehnlicher Grösse – die rothen Herzkirschen pflücke. Ich vermuthe, dass ich mich damals von anderen Kindern wenig unterschied. Vielleicht hatten die häufigen Lobsprüche, die ich erhielt, ein gewisses kindliches Pharisäerthum in mir grossgezogen. Mit ausgesprochenem Grauen betrachtete ich den schmutzigen wilden Burschen des Pächters. Der Knabe war nur etwa fünf Jahre älter als ich und kam täglich mit zerrissenen Kleidern und zerschlagenem Gesicht nach Hause, so dass seine Mutter kläglich prophezeite: »Wenn der Junge erwachsen ist, läuft er ohne Nase in der Welt umher.«

Meine angeborenen Neigungen schlummerten noch unentdeckt in meiner Brust. Sie haben sich erst später entwickelt. Und ich kann mit Bestimmtheit angeben, wenn das geschah.

Papa und Mama waren überselig. Der Erbe, den sie nicht mehr erhofft, lag schreiend in seiner Wiege. Das ganze Haus ging auf den Zehenspitzen. Die Dienstleute hatten anderes zu thun, als sich um mich zu kümmern, die sie wohl stets im Stillen als in die Gesindestube gehörig betrachtet hatten. Es war im Sommer. Hinter Papas Schlösschen zog sich der grosse Park, von einer alten Steinmauer umschlossen, hin. Daran stiess die Pächterwohnung mit den Wirthschaftsgebäuden. Im Park war es langweilig. Ich reckte mich auf den Zehen empor und klinkte ein Seitenpförtchen auf, um auf Entdeckungen auszuziehen. Ich brauchte nicht in die Ferne zu schweifen, das Gute in Gestalt eines Ententümpels lag vor mir, und Balthasar (er heisst wirklich Balthasar, möglicherweise verschärft dies sein Vergehen in Fräulein Möllers Augen) warf Steine in das grünlich schmutzige Wasser. Vor einigen Wochen hätte ich vermuthlich mein weisses Kleidchen zusammengenommen und wäre mit dem stillen Gedanken: »wohl mir, dass ich nicht bin wie dieser,« aus der vulgären Welt, in der Hühner scharrten, Gänse gackerten und Enten auf schmutzigem Tümpel schwammen, in die vornehme Abgeschlossenheit des Parks zurückgewichen; aber man liess mich nun viel allein, und ich langweilte mich. Und so trat ich näher und sagte:

»Du, das kann ich auch.«

Der schmutzige Bursche starrte mich verdutzt an, aber ich imponirte ihm nicht lange, denn als ich den ersten Stein warf und er mit einem Plumps versank, ohne wie die Wurfgeschosse Balthasars über das Wasser Kreise ziehend, hinzutanzen, lachte er mich aus. Doch zeigte er mir gleich darauf die Handgriffe. Das Wasser spritzte nach jedem Wurf hoch auf, und als mich nach geraumer Zeit der Gärtner entdeckte und das verirrte Schäflein heimgeleitete, triefte ich von Nässe. Die Folge davon war ein heftiger Schnupfen, der mir die Augen thränen, die Nase aufschwellen, das ganze Gesicht, wie Papa (leise zu Mama aber von mir dennoch gehört) bemerkte, dem seines ehemaligen Kutschers ähnlich machte. Mama gerieth in Todesangst, ich könnte meine Erkältung dem »Kinde« mittheilen und so blieb ich aus ihrer und Roberts Nähe wochenlang streng verbannt. Ich müsste lügen, wenn ich behauptete, ich hätte meine Acht besonders schwer empfunden; denn in diese Zeit fielen meine Herumstreifereien mit meinem neuen Freunde, der mich zu Haselbüschen führte und mir zeigte, wie man die Nüsse mit den Zähnen aufbiss. Seit damals war ich vulgär. Je grösser Robert wurde, desto schlimmer trat meine Erbsünde zu Tage. Ich steckte beständig mit Balthasar zusammen und wurde einmal im Kuhstall ertappt, das anderemal aus den höchsten Zweigen eines Birnbaumes herabgeholt. Balthasar war ein rührend treuer Kamerad. Das prächtige Obst, das er in Papas Garten gemaust, theilte er gewissenhaft mit mir, und (wer zweifelt noch, dass ich das vernichtende Urtheil meiner Pflegeeltern verdiente!) es schmeckte hundertmal besser in einem Winkel der Scheune, als von den Krystallschalen an der Tafel.

Mama und Papa, die meinen unpassenden Verkehr missbilligend bemerkten, hofften, der Winter werde ihm ein Ende bereiten. Unterbrochen wurde die Freundschaft, aber jedes Frühjahr knüpfte sie fester. Damals wusste ich mir keine Rechenschaft darüber zu geben, was mich zu Balthasar und seinen braven, tüchtigen Eltern hinzog, aber heute ist mir's klar, dass es nicht bloss die ererbte Vorliebe für vulgäre Gesellschaft war, sondern die Thatsache, dass ich jenseits der Gartenmauer etwas galt und gut gelitten war, während ich dieseits kalt übersehen oder getadelt wurde. Allerdings als zwei Jahre nach Robert die kleine zarte Lilli zur Welt kam, besserte man nicht mehr an mir herum und liess mich treiben, was mir gefiel, bis ich alle Grenzen des Erlaubten überstieg. Ich zählte vierzehn Jahre und sollte bei Lilli's Gouvernante die Lücken in meiner Bildung ausfüllen. Statt dessen lief ich tagaus tagein zur Pächtersfrau hinüber. Sie war einsam; ihr Abgott Balthasar befand sich auf einer landwirthschaftlichen Schule. Ich ging ihr in Küche und Maierei zur Hand, butterte, streute dem Geflügel das Futter, knetete und buck ordinäres schwarzes Brod. Wurde ich entdeckt, dann sah ich ein, dass mein Vergehen zum Himmel schrie. Ueberhaupt war ich in Gegenwart von Papa, Mama, Robert und Lilli meist in so bussfertiger, zerknirschter Armensündenstimmung, dass es mich gar nicht Wunder nahm, wenn mich alle für feige, unaufrichtig, lakaienhaft hielten. Die geringschätzigen Bemerkungen, die kalten Blicke daheim drückten mein Selbstgefühl herab, ich begann, mich für einen dunkeln Flecken auf dem sonnigen Familienbilde zu halten, für eine Art von Schlagschatten, der die Vortrefflichkeit und feine Ausführung der anderen Schöpfungswerke gebührend hervorhob, sich aber nichtsdestoweniger ziemlich überflüssig dünkte. Die Andern mochten dasselbe finden; ich wurde Fräulein Möller ausgeliefert. Sie sollte den letzten Versuch machen, mein ererbtes Uebel zu kuriren. Seit zwei Jahren bin ich nicht einmal in den Ferien nach Hause gekommen. In der ersten Sommervacanz, während ich mit meinem baumlangen Kameraden Pflanzen und Steine suchte, kam Miss Burton, Lilli's Gouvernante, auf die Idee, ein geheimes Einverständniss bestehe zwischen mir und dem lieben, langen, unbeholfenen Jungen. Und so erfloss das Verbot meiner Heimkehr, und während die anderen Mädchen in die Berge, an die See in den Sonnenschein hinauszogen, sass ich wie ein Sträfling hinter den Mauern des verstaubten Pensionsgartens. Nächstes Jahr durfte ich wohl Papa und Mama besuchen, denn (ich konnte meine Thränen nicht zurückhalten, wiewohl die ganze Klasse mich spöttisch betrachtete) Balthasar sollte nicht mehr als Schlange im Paradies lauern. Der Bruder seiner Mutter war kinderlos verstorben und hatte ihm ein hübsches Gut in Pommern hinterlassen. Er hatte es mir geschrieben und mich gefragt, wann er mich sehen könne. Mama und Papa, welchen er einen Abschiedsbesuch gemacht, hätten ihm die Bitte, mir vor seiner Abreise die Hand drücken zu dürfen, rundweg abgeschlagen. Ich dürfe meine Studien nicht unterbrechen. Du lieber Gott, als ob nicht Hopfen und Malz an meiner Wasserfarbenmalerei, meinen Chopin'schen Nocturno's und Stickereien in Seide und Chenille verloren wären.

Dieser Brief, der erste heimliche Brief in meinem achtzehnjährigen Leben, fiel einer Aufseherin in die Hände, und ich hörte Sentenzen vor der ganzen Klasse über mein unpassendes Benehmen. Zuletzt wurde mir verboten, das Haus zu verlassen. Wie ein Häuflein Unglück sass ich in meinem Zimmer und bekam zu meiner übrigen Schönheit vom Weinen rothe geschwollene Augen.

Vermuthlich verdankte ich es meiner vulgären Neigung, dass ich unter all den Gewerbsleuten der Schule warme Freunde hatte.

Meine Antwort an Balthasar hatte die Bäckerstochter bestellt, und nun wartete er ohne Zweifel in dem windschiefen Gartenhäuschen an der Mauer, in welches er sich, dank seinen früh erworbenen Kletterkünsten, leicht genug hinaufzuschwingen vermochte. Ich aber war gefangen, und wenn auch nicht in Banden, so doch durch eine gut und sicher verschlossene Thüre von der Aussenwelt getrennt, denn zu diesem äussersten Mittel hatte Fräulein Möller gegriffen, da ich mich nicht dazu verstehen wollte, meinen Verzicht auf eine Zusammenkunft mit meinem Jugendfreunde zu versprechen.

Mein Zimmer lag eine Treppe hoch, aber das Haus war niedrig, und unter meinem Fenster befanden sich ein paar kümmerliche Blumenbeete. Ich würde weich fallen. Natürlich würden die zerdrückten Blumen meinen Frevel morgen aller Welt verkünden, aber ich war in einer Stimmung, so verzweifelt und aufgeregt, dass mich keine Bedenken abhielten. Mit Balthasar ging meine glückliche Kinderzeit von mir. Ohne Abschied liess ich den einzigen Menschen, der mich an's Herz geschlossen, nicht von dannen ziehen.

In minder verlockender Gestalt ist wohl noch nie eine junge Dame bei einer heimlichen Zusammenkunft erschienen. Die weiche, von Regen getränkte Erde des Gartens hatte sich in rührender Anhänglichkeit meinem Kleide mitgetheilt, ich hinkte, denn ich hatte mir bei dem Sprung den Fuss verstaucht, und zum Ueberfluss fing ich noch laut zu weinen an, als bei dem Schein einer Laterne, die in dem Gässchen hinter dem Gartenzaun brannte, mein Jugendfreund in dem windschiefen Gartenhäuschen vor mir auftauchte.

Er hatte mit seiner grossen, ehrlichen Rechten meine Hand gefasst und begann mir mit der Linken unbeholfen das Haar zu glätten. Und da ich dadurch nicht beruhigt ward, wollte er mich an sich ziehen. Aber ich machte mich los.

»Wir wollen nicht den geringsten Anlass zum Tadel geben. Wenn wir auch gezwungen sind, auf heimlichen Wegen zu gehen, so wollen wir uns doch benehmen, als wären Mama, Papa und Institutsvorsteherin zugegen.« Damit setzte ich mich auf die eine Seite des wackeligen Tisches und wies ihm den Platz mir gegenüber an.

»Doch wenn ich deine Hand nicht in meinen ungeschlachten Fingern halten kann, Jenni, dann weiss ich nicht recht, wie ich anfangen soll,« sagte mein langer Freund hilflos. Die freundliche Strassenlaterne fiel ihm gerade auf das Gesicht. Was für ehrliche, treue Augen er hatte und wie warm Einem um's Herz wurde, wenn man in sie hineinsah! Ich gab ihm meine Hand, und nun begann er:

»Du weisst wohl, dass ich ein Gut geerbt habe, Jenni, keine Herrschaft, aber ein ganz stattliches Bauerngut.« Dabei drückte er mir die Hand; aber da ich nicht wusste, wo er hinaus wollte (vielleicht wusste ich's auch und behielt es blos für mich), so wünschte ich ihm blos Glück. Es werde ihm gut thun für sich selber, auf seinem eigenen Grund und Boden zu arbeiten.

»Hm,« sagte er, stockte und fing mit einiger Anstrengung wieder an: »Zu solch' einer Farm gehört eine hübsche, junge Frau, Jenni.«

Das überraschte mich. Seine Mutter war ja noch so rüstig und würde ihm gewiss mit Freuden haushalten.

Aber ich wurde feuerroth, als ich diese passende Bemerkung murmelte und segnete die Strassenlaterne, in deren Schatten ich sass.

Er schüttelte den Kopf. Die Alten wollten nicht mehr wirthschaften. Sie hatten sich ein hübsches Sümmchen erspart und gedachten sich im Hause des Sohnes zur Ruhe zu setzen.

Und dann meinte er mit einem verlegenen Lachen, er wisse auch schon von einer Frau. Die Frage sei nur, ob ihr das Loos, das er ihr bieten könne, glänzend genug sei, sie habe bessere Aussichten. Aber ein treueres Herz fände sie sicher niemals und wärmere Liebe auch nicht.

Dabei blickte er mich so bittend an, und in seinem Gesicht lag solch' eine Sorge wegen der glänzenden Aussichten, dass ich ein Stück Holz hätte sein müssen, um länger an mich zu halten.

»Kein glücklicheres Loos kann es geben, als an Deiner Seite, Balthasar!« rief ich.

Und da zog er mich an sein treues Herz. Am liebsten hätte er mich, wie ich ging und stand über die Gartenmauer und zu seinen Eltern getragen, um alle Förmlichkeiten abzuschneiden. Aber ich konnte ihm den Gang zu Papa und Mama nicht ersparen, wenn er ihm auch vielleicht schlimmer erschien, als der Marsch in einem Kugelregen.

Er erzählte mir später, er hätte nie längere Gesichter gesehen als die ihren, nachdem er um meine Hand anhielt und, ihrem »Nein« zuvorkommend erklärte, wir seien einig.

»Mein Gott, wir können doch unser Adoptivkind nicht mit dem Sohn unseres Pächters verheirathen,« rief Mama, »was würde die Welt dazu sagen! Es würde heissen, wir hätten sie abgeschüttelt, weil wir nun eigene Kinder haben!« Und Papa hatte mit der schneidenden Ironie, mit der er mich so oft verwundet, eingeworfen:

»Lass' die Leute die Köpfe schütteln. Wir können ihnen antworten: Art lässt nicht von Art, und eine Ente wird durch das beste Beispiel, die sorgfältigste Erziehung nicht zum Schwan!«

Und so sitze ich im Tümpel. Im Ganzen ist mein Leben gar nicht übel, und ich tauschte nicht für die Welt den Schwanenteich zurück. Wenn ich jetzt zuweilen in den Spiegel blicke und mir ein frisches, gerundetes, glückliches Gesicht entgegengrüsst, dann möchte ich schier glauben, die Urkraft habe mich Anfangs doch zum Zierrath bestimmt und sei nur auf halbem Wege stehen geblieben. Aber Balthasar, der arme, verblendete Mann, hält mich thatsächlich für etwas ganz Kostbares und trägt mich auf starken, treuen Händen durch das Leben; und das ist eigentlich mehr, als solch' ein armselig graues Entlein beanspruchen darf.

EIN APRILSCHERZ.

Das Schelmen-Triumvirat nannte uns zur Zeit, als wir unsern wilden Hafer säeten, die Volksstimme in unsrer Künstlerstadt. Zweien von uns, dem Genremaler Karl Schönborn und meiner Wenigkeit, that sie damit entschieden zu viel Ehre an; wir waren keine ebenbürtigen Genossen, wir waren nur die Handlanger des dritten und spielten die Rolle Sancho Pansas, der ganz deutlich sieht wohin die Tollheit seines Meisters führt, und der ihm doch durch dick und dünn folgt. Ja, Ruppert Ahlfeld war unser Meister im Ersinnen toller Possen; wehe dem Menschenkind, das er sich zur Zielscheibe erkoren! Da war vor etlichen Jahren ein Jüngling von äusserst frommer Gemüthsart und tugendhaftem Wandel in unsern Bereiche aufgetaucht, den Blasengel hiessen wir ihn, wegen seines rundlichen, rosigen Gesichts und des goldblonden Gelocks, das ihm wie ein Glorienschein um den Kopf starrte; auf ihn stiess unser Anführer wie ein Fischadler auf einen fetten Karpfen nieder. Es hiess, Hugo Lichtner habe sich mit einem steinreichen Verwandten, der ihn zu seinem Erben machen wollte, entzweit, weil er um jeden Preis Stillleben malen musste. Ich bitte Sie – Stillleben! Wenn es Konradins Tod, oder Orest an der Leiche Klytemnestras, oder Judith und Holofernes gewesen wären, an welche Rupert in jugendlichem Grössenwahn beispiellos viel Farbe und Leinwand verschwendete, das hätte diesem Respeckt eingeflösst, aber sich enterben lassen, um grüne Gurken, einen Teller Trauben, ein Glas mit Goldfischen abzukonterfeien, das konnte er, der sich als Vertreter der grossen Kunst fühlte, dem armen Jungen nicht verzeihen. Für Lichtner hatte der erste April bald 365 Tage; kaum war er mit Mühe und Not einer Schlinge entronnen, dann stolperte er mit dem arglosesten, vertrauendsten Lächeln von der Welt in die zweite hinein.

»Kinder,« erklärte Rupert mit dem salbungsvollen Ton, den er zuweilen annahm, »wenn es uns gelingt, ihm die himmelblaue Binde über den Augen zu lockern, dann haben wir ein grosses Werk vollbracht und verdienen, dass auf unsern dereinstigen Grabsteinen die Worte »Wohlthäter der menschlichen Rasse« eingemeisselt werden.«

Aber unsre Bemühungen erschienen nicht von dem kleinsten Erfolg gekrönt, der Blasengel blieb leichtgläubig und arglos, als wäre er erst gestern aus den Wolken auf die sündige Erde niedergeflattert.

Einmal hatte er uns im Atelier aufgesucht, nachdem sich Professor P., unter dessen Anleitung unser Triumvirat damals arbeitete, in sein Allerheiligstes zurückgezogen. Da ging die Thür auf, und ein kleiner, abscheulicher Seidenpintsch sprang uns kläffend an die Beine. Jeder von uns wäre mit Vergnügen bereit gewesen dem Köter einen herzhaften Fusstritt zu versetzen, allein hinter ihm raschelte ein seidenes Frauenkleid, eine wunderhübsche, junge Dame mit blitzenden Zigeuneraugen, Wangen eines Pfirsichs und einem bezaubernden Stumpfnäschen kam in das Atelier, als hätte sie der Aprilwind hereingeweht, und statt des Fusstritts bückte sich jeder herab, um den Rücken des Scheusals zu tätscheln, das uns zum Dank dafür nach den Fingern schnappte.

»Ich wünsche, den Professor zu sprechen,« sagte das Fräulein mit einem Lächeln, das selbst einen Stein erwärmt hätte, »mein Name ist Ilona Balogh, Porträtmalerin aus Pest.«

Wir wussten schon von ihr. In den paar Tagen, die sie in unsrer Stadt verweilte, hatte sie der jüngeren Künstlerschaft (vielleicht auch der älteren, doch, davon schweigt des Sängers Höflichkeit) soweit sie in ihre Nähe gerathen, durch ihre Schönheit und ihre pikanten Einfälle die Köpfe verwirrt. – Dienstbeflissen stoben wir auseinander. Rupert schob ihr den pomphaftesten der Krönungssessel hin, ich breitete dem gräulichen Vierfüssler einen kostbaren, persischen Teppich unter, Karl Schönborn pochte an des Meisters Thür, – wie ich vermuthe nicht ohne Herzklopfen, da dieser, wenn er sich zurückgezogen, eine Störung nicht allzu freundlich willkommen hiess – nur Hugo Lichtner stand wie ein gemeisselter Engel da und starrte mit verzückten Augen auf die junge Dame.

Fräulein Ilona bemerkte es – sie hätte sonst auch stockblind sein müssen – und rückte ihren Stuhl, um sich dem Bereich seiner Blicke zu entziehen; doch auch jetzt mochte sie die hypnotisirten Augen auf sich gerichtet fühlen, denn sie schürzte die Lippen wie in gutmüthigem Spott.

Ich war wüthend. War dies unsre grüne Unschuld, unser keuscher Joseph, den wir trotz aller mephistophelischen Versuchung, und trotzdem die hübsche Nanni in unsrer Künstlerkneipe sich mehr als nöthig in der Nähe des seraphischen Blondkopfs zu schaffen machte, nie zu der geringsten Aufmerksamkeit gegen das schöne Geschlecht bewegen konnten? Fräulein Balogh musste annehmen, das die Czikos auf ihrer Pussta mehr Lebensart besassen, als ihre jungen Künstlerkollegen. Ein vergnügtes Grinsen, das sich über Ruperts Gesicht zog, dämpfte meinen Aerger. Was hatte er wohl wieder ausgeheckt, um Hugo das Leben zu verleiden? Soeben war der Professor in die Thür getreten und geleitete den gut empfohlenen Gast in sein Privatkabinett.

»Habt ihr bemerkt, wie sie den Posaunenengel angesehen hat, so – ergriffen, möchte ich es nennen?« fragte Rupert. Sein Augenblinzeln, dem bei mir, dem neben ihm Stehenden, ein leiser Stoss mit dem Fusse nachhalf, erleuchtete uns augenblicklich.

»Ja wohl, ja wohl, in ihren Augen lag so etwas wie eine widerstandslos schmelzende Lawine,« versetzte Schönborn, angelegentlich seinen Vollbart streichend.

»Als sie dem Professor folgte, hat sie noch einmal den Kopf sehnsüchtig nach Hugo zurückgewendet,« fügte er hinzu, um hinter meinen phantasiebegabten Genossen nicht ganz und gar zurückzubleiben.

»Glücklicher Mensch, er hat das schönste Mädchen der Stadt im Sturm erobert!« rief unser Führer.

»Nein; glaubt ihr wirklich, glaubt ihr, sie habe mich auch nur bemerkt?« fragte Hugo in naiver Freude, mit seinem erröthenden Gesicht noch mehr als sonst einem Blasengel ähnlich, der seine Posaune für einen Moment absetzt.

»Glauben?« versetzte Rupert entrüstet, »Mensch, man hat doch Augen im Kopfe! Wenn das nicht ein Fall von Liebe auf den ersten Blick ist, dann kannst du mich für blind wie Hiob erklären.«

»Aber wie kam sie nur dazu, gerade mir, dem Unbedeutensten von euch, Aufmerksamkeit zu schenken?«

Rupert zuckte die Achsel.

»In dem elementaren Zuge von einem Herzen zum andern liegt gewöhnlich etwas Unbegreifliches,« predigte er. In seinem Munde nahmen sich die Lehren überlegener Weisheit stets ausserordentlich wirkungsvoll aus. »Aber höre mein Sohn, bilde dir nicht ein, dass du die Hände in den Schooss legen und dich wie ein vom Dach fallender Sperling auf die göttliche Vorsehung verlassen kannst. Die drinnen ist nicht die hübsche Nanni.«

»Erlaube mir die Bemerkung, dass ich es sehr geschmacklos finde, beide in einem Atem zu nennen,« warf Hugo mit ungewohnter Hitze ein.

»Ilona Balogh ist die Tochter eines romantischen Volkes, sie erwartet gewiss ein ritterliches Werben, etwas mittelalterlich troubadourmässiges,« dozierte Ahlfeld. »Ulrich von Liechtenstein, natürlich etwas den veränderten Zeitläufen angepasst, ohne zerschnittene Lippe und Verkleidung als Frau Venus (letztere würde die prosaische Polizei von heute gar nicht erlauben), das dürfte das angemessene sein, du verstehst mich doch?«

Unser armer Blasengel gab sich alle Mühe, aber zuletzt schüttelte er den Kopf; er verstand ihn nicht.

»Du schickst ihr jeden Tag Blumen und Gedichte; wenn du die letzteren nicht zu stande bringst, helfen wir dir alle drei dabei; – auch giebt es immer bei den Antiquaren alte, vergessene Schmöker voll lyrischer Empfindungen, die man, ohne ertappt zu werden, abschreiben kann. – Zur Besorgung derselben an deine Dame kannst du den Sohn meiner Hauswirthin verwenden, den anstelligsten kleinen Taugenichts, der je Stiefel auf unserm Pflaster zerriss.«

Gegen den vorgeschlagenen Betrug verwahrte sich das arme Opfer unsrer Ruchlosigkeit, aber mit den übrigen Vorschriften erklärte er sich einverstanden; ja er dankte seinem Mentor noch, weil dieser seiner Unerfahrenheit in Liebessachen so brüderlich zu Hilfe kam.

»Du zeigst dich ihr so oft als möglich mit deinem verführerischen Seraphslächeln und dem fascinierenden Blick, der sie vorhin so widerstandslos gefangen nahm, aber, höre mein Sohn, hüte dich, ihr durch ein Wort deine Gefühle zu verraten, bevor sie dir selbst die Erlaubniss dazu giebt.«

Dies erschien zwar bei Hugos Schüchternheit ohnehin ziemlich selbstverständlich, aber unser Freund wünschte sicher zu gehen.

»Die Frauen dieser interessanten Nation muss man sehr vorsichtig behandeln,« fuhr er mit tiefsinnigem Kopfschütteln fort. »Ein wüthend Weib und eine Ungarin« nennt sie Grillparzer in einem Athem, und er als nächster Nachbar muss sie doch gekannt haben. Ein unüberlegt-vertrauliches Wort, und wenn sie in Liebe für dich verginge, so würde sie dir doch wie eine beleidigte Königin den Rücken wenden.«

Die Wiederholung unsrer angenehmen Erfahrungen mit dem Seidenpintsch, dem seine schöne Herrin auf dem Fusse folgte, unterbrach weitere Betrachtungen. Als sie sich mit leichtem Kopfnicken von uns verabschiedete, unterliess sie es nicht, dem Blondkopf einen schalkhaften Blick zuzuwerfen, der Hugo bis unter die Haarwurzeln erröthen machte.

Lächerlicher hat sich nie ein liebeskranker Minnesänger benommen, als unser Blasengel unter dem Einfluss seiner brüderlichen Rathgeber. Rupert hatte, den günstigen Zufall ausnützend, dass das Gärtchen seiner Hauswirthin an das zu Fräulein Baloghs Wohnung gehörige stiess, Zutritt bei ihr zu erlangen gewusst, obschon sie sonst nicht viel Verkehr mit dem jungen Künstlervolk pflog. Er that dies, wie er versicherte, nur um Hugos willen, damit er ihn auf das genaueste über ihre Liebhabereien und Antipathien zu unterrichten vermochte. Diese waren etwas veränderlich; das blonde Bärtchen, das unserm Opfer fast gleichzeitig mit seiner Liebe aufgesprosst war, musste sich die einschneidendsten Veränderungen gefallen lassen, denn einmal schwärmte Ilona für vollbärtige Germanenköpfe, das nächstemal stellte Heinrich der Vierte ihr Ideal von männlicher Schönheit vor; bald konnte nur ein Mann mit dem aufgewichsten Schnurrbart ihrer engeren Landsleute Gnade vor ihren Augen finden; dann wieder zwang Hugo eine ihrer bizarren Launen, sich mit ausrasiertem Schnurrbart und zwei fragwürdigen Kotelettes einem amerikanischen Geschäftsreisenden so ähnlich zu machen, als es einem Blasengel nur immer möglich ist. Die Kopfbedeckungen, Halsbinden und Sammtröcke, die er um jene Zeit trug, lockten zuweilen die Gassenbuben auf seine Fährte. Aber das alles waren verhältnissmässig leichte Opfer, die er seiner Herzensdame brachte; als aber das Sommerfest der Künstler herankam und sein Gesicht von süssen Wiedersehnshoffnungen zu leuchten begann, da zog ihn sein Peiniger bei Seite: »Fräulein Ilona wünscht nicht, das du mit ihr tanzest, die Leute könnten errathen, was es für ein Bewandniss mit ihrem Herzen habe.«

Und nun stand er die ganze Nacht wie ein Säulenheiliger in der Ecke und sah zu, wie sich die Geliebte mit jungen Männern – auch mit Rupert – im Tanze drehte. Allerdings blieb der Lohn für seine Enthaltsamkeit nicht aus. Eine dunkle Haarlocke, die, wenn nicht auf Ilonas, so doch auf einem andern Kopfe gewachsen, eine Schleife von der Farbe, wie sie das schöne Mädchen auf dem Feste getragen, etliche zwischen Fliesspapier gepresste Wiesenblümelein wurden von demselben zuverlässigen Liebesboten, der seine Bouquets abzuliefern hatte, in seine Hände gespielt. Dass wir drei die krampfhaftesten Zuckungen durchzumachen hatten, als wir ihn dann verklärt, als schwebe er auf Wolken, herumgehen sahen, kann uns wohl niemand verübeln. Uebrigens fühlten Karl und ich zuweilen leise Gewissensbisse. Ohne unser Schüren wäre Hugos Leidenschaft vielleicht aus Mangel an Nahrung zu einem unschädlichen Häuflein glimmender Kohlen zusammengefallen, während sie jetzt lichterloh aufbrannte. Aber unser Hauptmann mochte von einem dramatischen Abschluss mit Enthüllungen nichts hören. Er hatte selber zu tief in Ilonas schöne Augen geblickt, und nun bereitete es ihm ein boshaftes Vergnügen, die heilige Einfalt zu quälen, die sich vermass, ihre Wünsche auf denselben Gegenstand zu richten, wie Ahlfeld selber. Da verschwand unser Blasengel eines Tags spurlos aus unserm Kreise und aus der Stadt.

Wiewohl ich über die Gefühle von Strassenräubern nicht sonderlich genau unterrichtet bin, möchte ich behaupten, dass sie mit meinen und Schönborns viel Verwandtes hatten. Wir setzten voraus, Hugo habe erfahren, welche Narrenrolle wir ihn spielen liessen und sich, aus allen erträumten Himmeln gestürzt, ein Leids angethan. Selbst Rupert ging merkwürdig kleinlaut herum. Aber als nach vielen Wochen Hugo mit einem Trauerflor um den Hut wieder in der Glorie eines Vollbärtchens und mit schärfer und bestimmter umrissenen Zügen unter uns auftauchte, erwachte der alte Adam sogleich wieder in ihm, und er rief dem Eintretenden entgegen: »Landstreicher, wo hast du gesteckt? Ilona hat sich nicht wenig um dich geängstigt; kein Tag verging, an dem sie nicht wenigstens über den Gartenzaun hinüber nach dir fragte.«

»Ich wurde zu meinem todtkranken Onkel berufen und vermochte, wie ihr euch vorstellen könnt, an seinem Sterbebette nichts andres zu denken, als dass der alte Mann mir viel gutes erwies, und dass ich ihm zum Danke dafür die grösste Enttäuschung seines Lebens bereitet habe.«

»Hoffentlich wurde bei deinem Erscheinen das bewusste gemästete Kalb geschlachtet?« fragte Karl.

»Zu Festlichkeiten waren die Umstände nicht angethan; aber der verlorene Sohn wurde mit offenen Armen aufgenommen.«

»Trotz deiner Grünzeugbilder?« spottete Rupert. »Dein Onkel war viel zu nachsichtig; ich hätte es nicht über mich gebracht.«

»Die Grünzeugbilder (übrigens waren es diesmal zwei Fruchtstücke) bahnten die Aussöhnung an,« versetzte Hugo triumphierend, »sie wurden in meiner Heimath ausgestellt, und mein Onkel las im Lokalblättchen allerhand Erbauliches von einem »vielversprechenden Sohn der Vaterstadt, dem Neffen eines unsrer angesehensten Mitbürger.« Das Zureden alter Freunde that das übrige. Vor seinem Tode hat er mir sogar das Zugeständniss gemacht, dass nicht jeder von Mutter Natur so glücklich begabt sein könne, um eine Zündhölzchenfabrik mit Erfolg leiten zu können, und dass es auf dieser unvollkommenen Welt auch »Phantasten« (nämlich Maler, Musiker, Dichter u. s. f.) geben müsse.«

»Und so bist du vermuthlich ein herzloser Kapitalist geworden?« fragte Ahlfeld mit einem Stirnrunzeln; (er war keiner).

»Mein armer Onkel hat mich zum Erben eines sehr bedeutenden Vermögens eingesetzt,« war die Antwort.

»Was wird Fräulein Balogh dazu sagen?« warf Schönborn aus alter Gewohnheit, sie im Gespräch mit dem Blasengel unaufhörlich zu erwähnen, ein.

»Dies zu erfahren, ist, wie ich fürchte, heute schon zu spät. Ich werde morgen meinen Besuch bei ihr machen.«

Er zog seine Uhr heraus, und so mochten ihm die verblüfften Blicke entgehen, die unser in diesem Augenblick nicht gerade sehr siegreiches Triumvirat wechselte.

»Mensch, du gedenkst doch nicht selbst ihr Haus zu betreten?« stammelte Rupert, nach Atem schnappend, »willst du gegen ihr ausdrückliches Verbot handeln?«

Aber das war nicht mehr der alte Blasengel, der in unsern Händen biegsam wie weiches Wachs gewesen. Nicht, dass er uns misstraute; aber der ererbte Reichthum schien ihm eine bedeutende Sicherheit verliehen zu haben.

»Dieses Verbot kann nicht für immer Giltigkeit haben,« versetzte er, »ich muss endlich in meiner Herzenssache selber handeln; es geht nicht an, immer meine Freunde für mich eintreten zu lassen; denkt ihr nicht auch?«

Wir dachten im diesem Augenblick nichts anders, als dass eine Versenkung unter unsern Füssen eine angenehme Sache wäre.

»Es ist kein Geheimniss für euch, wie wir mit einander stehen,« sagte er roth werdend.

»Ja gewiss, aber überlege doch« –

»Ueberlegen?« er blickte Rupert befremdet an. »Solange ich ein armer Teufel war, hielt ich es, so schwer es mir auch wurde, für meine Pflicht, abseits zu stehen. Das ist nun anders geworden, ich vermag ihr ein gesichertes, behagliches Loos zu bieten, kann ihre Wünsche, soweit sie die Annehmlichkeiten des Lebens betreffen, erfüllen;« seine Augen blickten dabei glückselig ins weite, als sähe er seine Geliebte wie eine Rose ins weichste Moos gebettet. – »Da Ilona keine herzlose Kokette ist, hoffe ich, dass sie meine ehrliche Werbung annehmen wird, die sie nach allem nur erwarten muss.«

Schönborn und mir brach der Angstschweiss aus den Poren. Wir wechselten einen rathlosen Blick; sollten wir ihm sogleich das Spiel, das wir mit ihm getrieben, enthüllen? Aber Rupert kam uns zuvor.

»Das heisst männlich gesprochen,« rief er und schlug ihm auf die Schulter, »gehe zu ihr, wirb und lass dir von ihren Lippen dein Glück verkünden; wir enthalten uns von jetzt ab jeder Einmischung.«

»Das wird die würdige Krönung unsres Spasses sein,« sagte Rupert händereibend, als sich Lichtner bald darauf verabschiedet hatte, vermuthlich um von dem Glück zu träumen, das ihm ja so sicher war. »Aus ihrem eigenen Munde soll er hören, was für ein lächerlicher Narr er gewesen ist. Ich will sie sogleich einweihen.«

Er schien Ilonas ziemlich sicher zu sein, dennoch rief ich erschrocken: »Was fällt dir ein? Wie kannst du sie darüber aufklären, welche Rolle wir sie in der Komödie spielen liessen?«

»Sei ruhig; in der Beschränkung zeigt sich euch der Meister. Ihre heimliche tiefe Liebe werde ich mit einem mystischen Schleier zu verhüllen wissen, nur von ihm soll die Rede sein. Mir ist's als hörte ich sie jetzt schon bei dem Bericht helllaut auflachen.«

»Und du meinst, sie wird ihre Mitwirkung dazu leihen, den Blasengel aus allen seinen Himmeln zu reissen?«

»Wenn ich sie bitte, gewiss.« Damit war er schon zur Thür hinaus.

»Ehe denn der Hahn kräht, wird es einen Abtrünnigen in unserm Junggesellentrio geben,« sagte Schönborn, der sich mit Vorliebe auf Weissagungen verlegt, wiewohl er das merkwürdige Unglück hat, sie nie eintreffen zu sehen, »ich wette, der arme Hugo wird morgen von der Anzeige empfangen werden: Rupert Ahlfeld, Ilona Balogh empfehlen sich als Verlobte.«

»Ich wollte, wir hätten die Geschichte hinter uns,« murrte ich verdrossen, »eigentlich haben wir uns gegen Lichtner schmählich benommen. Ich lasse mich von Rupert zu keinem dummen Streich mehr verleiten.«

Ein weiser Entschluss, den ich sehr oft fasste, aber unter dem Einfluss unsres Führers stets wieder vergass.

Als Rupert zu uns zurückkehrte, sah er zu unsrer Verwunderung alles eher denn befriedigt aus. Er schleuderte seinen Hut in eine Ecke mit der Bewegung eines Menschen, der, soll er nicht ersticken, seinem Aerger an einem unschuldigen Gegenstande Luft machen muss, und warf sich mürrisch auf einen Stuhl.

»Die Weiber haben keinen Sinn für Humor,« brach er aus, »und Ilona ist in dieser Hinsicht von der Natur noch kärglicher bedacht worden, als ihre Schwestern. Glaubt ihr, sie habe die Lippen nur einmal zu einem Lächeln verzogen, als ich ihr die himmelschreienden Dummheiten ihres Troubadours schilderte?«

»Hast du ihr erzählt, dass er sich wochenlang mit Häring, Wurst und Kartoffeln vergnügt hat, damit die hübsche Nanni in unsrer Kneipe jeden Morgen die prachtvollsten, rothen Zentifolien auf ihre Kammer trage?« fragte Schönborn, der sich nicht vorstellen konnte, dass unser famoser Spass ungewürdigt blieb, und der es deshalb vorzog, das Darstellungstalent unsres Freundes anzuzweifeln.

»Du kannst dir denken, dass ich es mir nicht entgehen liess; und was für Farben ich auftrug! Stünden sie mir so für die Leinwand zu Gebote, dann würde ich Makarts Ruhm in einem halben Jahr verdunkeln. Lerne einer die Frauen aus! Statt den dummen Tropf auszulachen, schien sie Mitleid für ihn zu fühlen. Es machte mir den Eindruck, als wäre ihr seine stumme Huldigung nicht entgangen.«

»Dass wir darauf nicht verfielen!« sagte ich verblüfft, »die Stadt sprach davon, wie konnte ihr allein sein Minnedienst verborgen bleiben!«

»Und nun ärgerte es sie vermuthlich, dass die Toggenburgerei nicht so ganz spontan war. Sie gab mir ein Pröbchen ihres Pusztentemperaments, dass sich mir in der Erinnerung daran die Haare sträuben. Für solche elende Possen sei der Name eines schutzlosen Mädchens zu gut, rief sie, als sie hörte, ich habe ihn zu seinen Narrheiten mit der Vorspiegelung bestimmt, er entspreche durch dieselben ihren Wünschen. Mein Benehmen sei unritterlich, eines Gentleman unwürdig gewesen; was sie über euch, meine Gehilfen, gesagt, will ich lieber verschweigen.«

»Also will sie nichts von der Rolle wissen, die du ihr zugetheilt?« fragte ich, nicht sonderlich bekümmert; mir sagte die Pointe unsres Spasses nicht so zu, wie Rupert, der seit der Rückkehr unsers Blasengels eine seltsame Gereiztheit gegen ihn verrieth.

»Das hat sie mir zu meinem Erstaunen doch nicht abgeschlagen,« entgegnete er, »sie will ihn morgen Nachmittag empfangen und die nöthige Aufklärung geben; entweder fürchtet sie, dieselbe könne aus unsrem Munde nicht schonend genug ausfallen, oder die Freude am Komödiespielen ist, trotz allen Mitleids für ihren Getreuen denn doch in ihr erwacht.«

»Schade, dass wir der Entwicklung des Knotens nicht ungesehen beiwohnen können,« meinte Karl, »der Ring des Gyges wäre jetzt gar nicht übel.«

»Es ist noch die Frage, ob wir nicht ohne diesen zurecht kommen,« warf Rupert hin; doch selbst er wurde ein wenig verlegen. »Bei schönem Wetter hält sich Fräulein Balogh meist im Garten auf und empfängt auch dort ihre Gäste.«

»Und da belauerst du sie ohne Zweifel in euerem Gartenhause an der Mauer! Höre Ahlfeld, du bist ein noch grösserer Thunichtgut, als ich vermuthet,« rief Karl bewundernd.

Wie die drei Verschworenen aus einer Operette steckten wir am nächsten Nachmittage in dem windschiefen Gartenhäuschen, dessen Dielen zu unsrem Aerger bei jeder Bewegung verrätherisch knarrten. Wir konnten das Schlachtfeld genau übersehen. Kaum zehn Schritte von uns entfernt sass Fräulein Ilona mit einer Handarbeit unter einem Kastanienbaume; sie war um einen Schatten blässer als gewöhnlich und sah für einen Aprilspass ungemein ernsthaft aus. Ueber den Kiespfad kam der Blasengel mit einem Gesicht heran, das den lieben Herrgott zu fragen schien »was kostet deine Welt?« Das Fräulein hielt wie in grosser Befangenheit die Augen auf die Arbeit gesenkt, die Röthe, die auf ihrem Gesichte kam und ging, hätte jeden glauben machen können, ein wirklich verliebtes Mägdlein erblicke den Erkorenen ihres Herzens.

»An ihr ist eine grosse Schauspielerin verloren gegangen,« flüsterte Rupert entzückt.

»Sie spielt zu gut,« murrte ich, »sein Sturz aus der Höhe wird fürchterlich sein.«

Darüber entgingen uns die ersten Worte der Begrüssung. Das Pärlein sass nebeneinander auf einer Gartenbank. Die Sonne machte sich das Vergnügen, ihnen goldene Funken auf das Haar zu streuen, hie und da fiel tanzend ein Blatt vom Baume herab; das sah sehr hübsch und friedlich und für Maleraugen ganz anziehend aus, aber mir bereitete der Anblick keinen Genuss, denn ich – eine ins männliche übertragene Kassandra – sah das Unheil unter dem Kastanienbaum brauen.

»Ich bin glücklich, dass Sie mir diese Unterredung gewähren, Fräulein Ilona,« begann Hugo, bei weitem nicht so zaghaft, wie ich vorausgesetzt; (wir hatten es uns ja auch angelegen sein lassen, ihm durch die deutlichsten Beweise ihrer Neigung die Flügel zu steifen).

»Warum hätte ich Ihre Bitte abschlagen sollen?« erwiderte sie, »freue ich mich doch selber, Ihnen endlich meinen Dank für die schönen Blumen aussprechen zu können, mit welchen Sie mich jeden Morgen überraschten.«

Wir sahen einander starr an; – welche Idee, für Blumen zu danken, die sie nie bekommen!

»Wer hat es Ihnen verrathen, dass volle, rothe Rosen meine Lieblinge sind?«

»Ich dachte an Ihre Landsmännin, die heilige Elisabeth«, sagte er vergnügt.

»Und ich konnte zum Danke dafür, dass Sie der Fremden in Ihrer Stadt so viel anheimelnd Freundliches erwiesen, nichts für Sie thun.«

»Nichts?« fragte er vorwurfsvoll und fuhr unwillkürlich mit der Hand nach der Brusttasche, in welcher der gekaufte Haarsträhn samt Bändern und Blümelein ohne Zweifel wohlgeborgen ruhte. Mit Falkenaugen folgte sie seiner Bewegung.

»O, ich vergass; was war es nur? eine Haarlocke, eine Schleife und dergleichen, nicht wahr?«

Wir konnten von unsrem Versteck aus beobachten, wie sich dunkle Röthe über ihr Gesicht ergoss und sie die Hand in den Kleiderfalten zu einer Faust ballte. Das galt uns. Diesen Theil der Historie hatte Rupert nicht für gut befunden, ihr zu enthüllen.

»Ilona, wissen Sie, welche Deutung ich Ihren Andenken gab?«

»Ich weiss es; wenn ein Mädchen, ohne Einspruch zu erheben, sich die stumme und doch so beredte Huldigung eines Mannes gefallen lässt, wenn sie monatelang seine Blumen annimmt und ihn sogar durch kleine Liebespfänder aufmuntert, dann ist sie entweder eine Gefallsüchtige und nicht werth, dass ein Mann einen Gedanken an sie verschwende, oder –«

»Oder?« jubelte Hugo, »sprich es aus, Geliebte!«

»Oder sie erwidert seine Neigung.«

»Das geht zu weit«, murmelte Rupert zu meinem Erstaunen in lebhafter Unruhe, »es ist eine unnütze Grausamkeit, so auf seine Einbildung einzugehen.«

Hugo hatte sich der Hand Ilonas bemächtigt, doch sie entzog sie ihm. »Noch nicht«, sagte sie und richtete sich hoch auf.

Jetzt kam ohne Zweifel die Katastrophe heran. Ich bekenne, dass mir das Herz bänglich an die Rippen klopfte. Der arme Blasengel sah förmlich rührend in seinem Glück aus.

»Die Zeichen haben Sie betrogen, die Blumen wurden an eine falsche Adresse befördert, die Liebespfänder von schalen Possenreissern (unsre verdutzten Gesichter bei diesem Ehrentitel hätte ich selber malen mögen) in Ihre Hände gespielt; das Ganze war nur ein Aprilscherz.«

Wir durften beruhigt aufatmen, die auszeichnende Inschrift auf den Grabmonumenten war uns gewiss; das Gesicht des Blasengels erschien grau und hart wie ein Stein.

»Ein Aprilscherz? Und dazu gaben Sie sich her?« Geringschätzung und Empörung stritten in seinen Mienen.

Wir hörten deutlich, dass der leichte Ton, in dem sie antwortete, erzwungen war.

»Mein Gott, was soll ein armes Mädchen thun, wenn es zu seinem guten Recht kommen will? Sitte und Herkommen stellen sich in Wehr und Waffen gegen sie auf, sobald sie ein wenig ihre eigene Vorsehung spielen möchte; so muss sie es denn mit Freude begrüssen, wenn andre – und wären es auch nur läppische Clowns – es für sie thun. Blicken Sie mich nicht so strafend an, Herr Lichtner, ich habe Ihnen manches zu beichten, wozu ich eigentlich der Aufmunterung bedarf! – Auf Schritt und Tritt haben mich seit Monaten ein paar treue, blaue Augen verfolgt. Sie hefteten sich im Tanzsaal auf mich, während ich mich im Kreise drehte; sie begleiteten mich auf meinen Spaziergängen, ja selbst in den Bildergalerien sah ich sie unverwandt auf mich gerichtet und bald las ich in ihnen wie in einem an mich gerichteten Briefe. Der Inhalt war sehr hübsch, vielleicht ein wenig zu schwärmerisch für unsre kühle kluge Zeit, aber welches Mädchen liesse sich nicht mit Freuden wie eine Heilige aus dem Kalender, statt wie das gewöhnliche Menschenkind, das sie ist, bewundern! Aber wo blieb das lebendige Wort? »Warum kommt er nicht und spricht mich an?« fragte ich mich oft, »So viele gleichgiltige platte Gesellen drängen sich mir auf, weil ihnen meine Unterhaltung behagt, oder mein Gesicht gefällt, nur der einzige, der wirklich warm für mich empfindet, hält sich abseits.« Zuweilen grollte ich Ihnen, manchmal fasste ich tolle Pläne, die sich nie verwirklichen liessen, um Sie aus den Ecken hervorzulocken, in welche Sie sich wie eine Fledermaus verbargen. Bis mir endlich eine Rolle in der hässlichen Posse zugetheilt ward und mit ihr die Gewissheit, den stummen Mund einmal sprechen zu hören. Sind Sie mir noch böse, dass ich sie übernahm?«

»Ihnen Ilona? Nein, ich bin es nur mir selber. Was für ein alberner Narr bin ich gewesen! Wie müssen Sie über den veralteten Minnewerber gelacht haben!«

»Gelacht? nein; vielleicht im stillen gelächelt. Und auch das nur im Anfang. Später fühlte ich mich gerührt und beschämt. Wie Schuppen fiel es mir von den Augen, dass mir vor vielen Würdigeren ein grosses Glück zugefallen, dass für mich das schöne Wort Wahrheit und mir die Liebe, die das ihrige nicht fordert, zu Theil geworden.«

»Sie stellen mich zu hoch«, rief Lichtner, »denn ich kam, um zu fordern, um Sie zu fordern. Ich bin nicht so genügsam und selbstlos wie Sie denken, ich strecke meine Hand gierig nach dem höchsten Glück aus, das mir das Leben gewähren kann.«

»Und warum kamen Sie erst heute?« entgegnete sie mit einem Triumphlächeln. »Weil Sie nun das Weib Ihrer Liebe in Purpur und köstliches Linnen hüllen können, als wäre es die Königin von Saba. Dieselbe sorgende, opferwillige Liebe spricht heute aus Ihrem Kommen, wie ehemals aus Ihrem Fernbleiben. Sie wandelten diesmal auf einem Irrweg, denn ich gehöre nicht zu den Frauen, die sich an Wohlstand und Komfort verschenken; – wären Sie enterbt, ohne andre Aussichten, als Ihr Talent und Fleiss sie Ihnen eröffnen, zu mir gekommen, ich hätte Ihnen genau so wie heute zugerufen: Hugo, wenn Sie mich eitles, oberflächliches Geschöpf, das Ihre grosse, aufopfernde Liebe nicht verdient, an Ihr Herz nehmen wollen, so bin ich die Ihre!«

Stockend, im ganzen Gesicht erglühend, sprach sie die letzten Worte. Selbst einem in irdischen Dingen äusserst unbewanderten Blasengel musste dies als der geeignetste Zeitpunkt erscheinen, sie stürmisch in die Arme zu schliessen. Für uns hingegen erwies es sich als passend und angemessen, dem Tête-à-tête endlich die wünschenswerthe Einsamkeit zu verschaffen. Rupert lief wüthend wie ein angeschossener Eber davon (auf Monate hinaus allen Spässen so feind, wie der griesgrämigste Schulmeister). Wir zwei folgten ihm und trotz aller Freundschaft für ihn winkten wir einander behaglich zu. Es erweist sich stets als im hohen Grade befriedigend für die unbetheiligten Zuschauer (und als solche fühlten wir uns trotz unsrer schwächlichen Vorschubleistung der Posse), wenn die Tugend an der gutbesetzten Tafel Platz nimmt.

»Das war ein zweischneidiger Aprilscherz«, raunte ich Schönborn ins Ohr.

»O, ich habe von allem Anfang an vorausgesehen, dass es so kommen werde!«

Das einzigemal in seinem Leben hatte er eine Prophezeiung für sich behalten, und die ist in Erfüllung gegangen.

BEIM EHESTIFTEN.

Mütterlich hiess das Losungswort. Deshalb setzte sich Adele Mühlenbruch vor dem Spiegel ein schwarzes Wittwenhäubchen mit weisser Krause auf, Aber es sah auf dem blonden lockigen Scheitel, über dem jungen übermüthigen Gesicht so wenig passend aus, dass ihr Töchterchen von ihrem Platz im Erker, wo sie Blumen auf einen Porzellanteller malte, aufstand, wobei man entdecken konnte, dass sie um mehr als Kopfeslänge die Mama überragte, das Häubchen abnahm und es, ohne ein Wort zu verlieren, in die Schachtel zurückwarf.

»Gestatte mir die Bemerkung, dass du dir gegen deine Mutter zu viel herausnimmst,« sprach Adele, »hätte ich mir das erlaubt, dann wäre ich zu Heulen und Zähneklappern in einer finsteren Kammer verurtheilt worden, aber« – ein tiefer Seufzer aus beladener Brust – »die Kinder entarten mit jedem Jahre mehr.«

Sophie stellte sich vor sie hin und blickte, sie konnte nicht anders, auf sie hinunter.

»Willst du mir gefälligst sagen, weshalb du dich auf einmal so matronenhaft zustutzest? Die Trauerzeit ist längst um, welchen Zweck soll also der dunkle Kopfputz haben, der dir mindestens zehn Lebensjahre zulegt?«

Die ehrwürdige Mama wurde roth wie ein Schulmädchen, das sich beim Kirschenstehlen ertappen liess.

»Das ist mein Geheimniss,« sagte sie endlich mit einem kläglichen Versuch, ihre mütterliche Würde aufrecht zu erhalten.

»Es ist bei Weitem nicht so undurchdringlich, wie du dir einbildest.«

»Nun, so will ich dir es gerade heraussagen. Ich habe es satt, beständig Anspielungen über die Jugendlichheit meines Anzugs zu hören, während du herumgehst, als hättest du zwanzig Jahre im Kleiderschrank gehangen. Die Leute sprechen darüber mit gewohnter Nachsicht und Menschenliebe. Gestern liess mich erst die Tante des Runkelrübenbarons fast ohne jede Verbindung die zwei Bemerkungen hören: ›Wie schlicht und nonnenhaft Fräulein Sophie immer erscheint!‹ und ›Sie, gnädige Frau, wetteifern mit den Saligen Fräulein, die nie altern.‹ Ich will keine Stiefmutter aus dem Volksmärchen vorstellen!« Dabei setzte sie ihr niedliches Füsschen mit grosser Entschiedenheit auf den parquettirten Boden. »Wenn du nicht heute im hellen Kleid mit mindestens einem Dutzend himmelblauer oder rosenrother Schleifen bei Tische erscheinst, dann setze ich nicht nur den Greuel aus der Schachtel auf, ich hülle mich auch noch in irgend eine ganz unmögliche härene oder sackleinene Kutte.«

»Das wäre unverantwortlich gegen unseren Gast. Es würde ihn an die Antwerpener Kathedrale erinnern, die den Andächtigen gratis offen steht, nur bleibt das Schönste darin, Ruben's Kreuzabnahme, hinter grünen Vorhängen versteckt.« Dabei strich Sophie patronisirend über den lockigen Scheitel.

Mama verlor beinahe die Geduld, obschon sie Sophiens unkindliches Benehmen gewohnt sein sollte. Seit jeher wurde sie von dem sehr energischen Fräulein wie ein unflügges Nestkücken behandelt. Das rührte davon her, dass Adele sich im Pensionat unter die wissenschaftlichen Fittiche ihrer Busenfreundin zu flüchten pflegte, so oft ihr die höhere weibliche Bildung, Schliemann's Ausgrabungen, die Algebra, das Nibelungenlied Augenblicke des Strauchelns bereiteten.

Aber Alles zur rechten Zeit! Wenn man im Stillen den Plan ausgeheckt hat, seine Tochter zu verheirathen, dann kann man unmöglich Geschmack daran finden, sich von ihr beschützen und bevormunden zu lassen. Schmollend stellte sich die junge Wittwe an's Fenster. Sophie betrachtete sie eine Weile mit dem Wohlgefallen eines Künstlers an seinem gelungenen Werk.

»Kleine Mama, ich glaube, dass du noch hübscher geworden bist, seit du mich hierher begleitet und mein alter grämlicher Herr Papa (mit dem ich mir das Zusammenleben als eine Art von Pönitenz für die lustige Pensionszeit vorgestellt) so gescheidt war, sich auf den ersten Blick in dich zu verlieben.«

Frau Mühlenbruch bewahrte ihrem abgeschiedenen Gemahl, der die blutarme Offizierswaise vor der drohenden Stiftsdamenlaufbahn bewahrt, eine dankbare Erinnerung, aber die Wahrheit zu gestehen, auf den Tag, da die Posaune des jüngsten Gerichts die durch den Tod getrennten Ehepaare für ewige Zeiten zusammenfügen wird, freute sie sich nur mässig: Ein kleinlicherer Haustyrann als der verstorbene Commerzienrath hat wohl selten die Bühne des Lebens beschritten. So drückte sie denn bei dieser Mahnung an ihn das Taschentuch nicht gerührt an die Augen, sondern versetzte, vollständig mit ihrer Beschützerin ausgesöhnt:

»Damals hast du ohne eine Spur von Selbstsucht Kranz und Schleier in meinen Haaren befestigt; es ist nichts als billig –«. Dabei brach sie ab, biss sich auf die Lippen und wandte ihr purpurrothes Gesicht wieder der kahlen Lindenallee zu, die von dem Schlösschen zum Bahnhof führte.

Sophiens Gesicht überflog ein Lächeln.

»Zur Diplomatin bist du nicht geboren, liebes Kind,« murmelte sie unhörbar.

Woher Frau Adele eigentlich den Muth nahm, dem Himmel in's Handwerk zu pfuschen, ist schwer zu sagen. Der junge Mann, dessen künftige Glückseligkeit sie zu begründen dachte, hätte vermuthlich einen weiten Bogen um das Schlösschen gemacht, wenn er eine Ahnung von ihren Plänen gehabt, denn obschon kein Frauenhasser, hatte Robert v. Eichberg bisher nicht die leiseste Sehnsucht nach ehelichem Glück zur Schau getragen. Dem früheren flotten Reiteroffizier und jetzigen reichen Gutsherrn auf Eichberg wären sonst ohne Zweifel die Thüren, an die er gepocht hätte, bereitwillig aufgemacht worden. Er war ein entfernter Vetter von Adele, doch hatte sie ihn seit ihren Kinderjahren nicht gesehen. Damals ein tölpelhafter, derber Junge, der sich im Hause ihres Vaters auf den künftigen Feldmarschall vorbereitete, hatte er seine Mussestunden damit ausgefüllt, das kleine Mädchen zu hänseln und zu ärgern. Doch schien sie alle Frevelthaten gegen ihr Kätzchen und ihren Kanarienvogel grossmüthig vergeben und vergessen zu haben. Wäre er eine Patentmedicin gegen alle erdenklichen Uebel und sie die Erfinderin derselben gewesen, sie hätte ihn nicht begeisterter loben können. Er besass so viel Herzensgüte! Gleich nachdem er die Verwaltung von Eichberg angetreten, hatte er aus seinen Privatmitteln die Dorfschule umgebaut. Ihn zeichnete solch ein reger Familiensinn aus, was man auch schon daran zu erkennen vermochte, dass er, nachdem er sein Bäschen seit mehr als zwölf Jahren nicht gesehen, ihr urplötzlich seinen Besuch – von einer landwirthschaftlichen Ausstellung auf weitem Umweg heimfahrend – ankündigte; aber ausser diesem Beweis hatte er auch noch eine alte Tante, die in kümmerlichen Verhältnissen lebte, sorgenfrei gestellt, die Erziehung ihrer Söhne aus seiner Tasche bestritten; kurz, wenn man der eifrigen Sprecherin glauben wollte, dann wird das Jahrhundert zu Ende gehen, ohne einen zweiten Menschen, der ihm gleicht, hervorzubringen.

»Die von dir geschilderten Charakterzüge berechtigen allerdings zu den besten Hoffnungen,« versetzte Sophie mit undurchdringlichem Gesicht; nur um ihre Mundwinkel zuckte der Schalk. Die Mama fiel ihr ohne jeden sichtbaren Anlass um den Hals. Doch hätte sich ihre Befriedigung vermuthlich weniger stürmisch geäussert, wenn sie Sophiens Gedanken gelesen, denn diese sehr scharfblickende Dame hatte über den angekündigten Besuch ihre eigene, von der Mamas sehr abweichende Meinung.

»Papas Testament soll ihm nach dem vollen Wortlaut bei erster Gelegenheit als Erfrischung vorgesetzt werden,« sagte sie für sich, während ein nicht allzu freundschaftlicher Blick dem staubumwirbelten Wagen, der in diesem Moment die Lindenallee herauffuhr, entgegenflog.

Zweifle Einer an der Stimme des Blutes! Ohne sich zu besinnen, eilte der junge staatliche Mann auf Adele zu, wiewohl ihre kleine zierliche Gestalt von der imposanten Stieftochter förmlich beschattet wurde, und drückte und schüttelte ihr die Hände mit so ehrlicher Freude im Gesicht, dass selbst die eherne Sophie ein wenig zu schmelzen anfing. Herr Robert von Eichberg machte übrigens durch sein Auftreten einen Eindruck, als eigne er sich eher für die Rolle eines Naturburschen, als für die eines glatten Hofmannes. Dass sich noch eine zweite Dame im Zimmer befand, schien ihn gar nicht zu kümmern. Frau Adele, als stellvertretende Vorsehung, hätte gewünscht, dass er vor der majestätischen Erscheinung Sophiens geblendet stehen und seine unbedeutende Cousine im vierten oder fünften Glied vollständig übersehen solle. Statt dessen blickte er sie, die ehrwürdige Matrone, mit einem naiven Vergnügen an, etwa wie ein kleiner Junge den lichterbesteckten Christbaum. Aber sie wollte ihm die Augen öffnen!

»Robert,« sagte sie mit Nachdruck, »dies ist meine Tochter Sophie.« Da aber verfiel der Vetter in seine alte Kinderkrankheit. Er brach in ein schallendes Gelächter aus. Adele zog befremdet die Augenbrauen in die Höhe.

»Entschuldigen Sie meine unzeitige Heiterkeit,« sagte Robert und fing von Neuem zu lachen an, »aber der mütterliche Beschützerton, Cousinechen, klingt in Ihrem Munde zu komisch;« vertraulich wandte er sich an Sophie, »sie ist wohl sehr streng, die ehrwürdige Mama, und wenn Sie nicht auf den Wink gehorchen, setzt es Fasten und Hausarrest?«

Aber der freundschaftlichen Anrede antwortete kein Echo.

»Ich bin neugierig, wie oft du mich noch durch die Betonung deiner Autorität vor Fremden lächerlich machen wirst!« sagte das Fräulein in weinerlichem Ton zu Adele, »und du willst keine Stiefmutter aus dem Märchen vorstellen!«

Mama war verblüfft. Herr Robert aber bildete sich in tiefer Menschenkenntniss ein unfehlbares Urtheil über die junge Dame.

»Das ist eine unangenehme Person,« dachte er.

Man setzte sich, Fräulein Sophie in gemessener Entfernung von den Anderen, als gehöre sie nicht zu ihnen. Darüber hätte sich schier ein erleichtertes Aufathmen der Brust des jungen Mannes entrungen. Doch war sie leider nicht so vertieft in ihre Porzellanmalerei, um nicht von Zeit zu Zeit eine boshafte oder schulmeisternde Bemerkung in das Gespräch einzuwerfen. Als Adele wissen wollte, wie es bei der Ausstellung zugegangen, klang es ätzend vom Fenster herüber:

»Ohne Zweifel wie immer. Du hättest dir deine Frage füglich ersparen können. Ausstellungen sind nur dazu da, damit die Herren Landwirthe Madame Cliquot bereichern und den Klatsch der Gegend austauschen können.«

»Sie ist das reine unverfälschte Scheidewasser,« sagte Rudolf für sich und warf einen scheuen Blick in den Erker hinüber, »das Dasein, das meine arme kleine Cousine in Gesellschaft ihrer Stieftochter führt, muss Alles eher, denn erquicklich sein.«

Frau Adele seufzte. Was für Sorgen bereiten Einem doch die Kinder, besonders wenn sie erwachsen sind! Von Rechtswegen hätte sie sich es verschwören sollen, je wieder Pläne zum Heil der Undankbaren zu schmieden, denn ohne ein Wort der Entschuldigung entwich sie plötzlich aus dem Zimmer, als sich der Gast, freilich nicht allzu rücksichtsvoll, in Jugenderinnerungen vertiefte. Aber Frau Mühlenbruch befand sich auf der Höhe ihrer Aufgabe. Wie ein Cicerone von Uebung und Beruf wies sie dem Vetter alle Schätze ihres Hauses, Vasen und Decorationsteller, die Sophie bemalt, Kreidezeichnungen und Aquarellbilder, das Werk ihrer Künstlerhände, Makartbouquets, die nur sie so geschmackvoll zu ordnen verstand, Kissen, Decken und Stuhlbezüge, die sie gestickt.

»Da, Barbar, wirf dich vor solchen das Leben verschönernden Talenten bewundernd auf die Knie,« schien ihre Triumphmiene zu fordern. Aber Robert traf nicht einmal mit guten Vorsätzen Anstalten dazu. Ihm kam der Gedanke, um wie viel angenehmer die Wanderung durch Galerien und Raritätensammlungen wäre, wenn statt des näselnden Leiertons der Führer solch' eine wohlklingende, einschmeichelnde Stimme bei den Erklärungen erschallte. Und als sie verstummte, bemerkte er wie erwachend:

»Es muss Ihnen manche Annehmlichkeit bieten, dass eine so viel ältere Freundin Ihnen Gesellschaft leistet und das Haus ausschmückt.«

»Viel älter?« sie blickte ihn strafend an, »Sophie zählt kaum zwei Jahre mehr als ich.«

»O, ich behaupte nicht, dass sie alt aussehe; nur Sie, Cousinechen, sind ganz unbegreiflich jung geblieben.«

Sie war böse auf sich, aber sie musste lächeln. Vetter Robert hatte so eine ungeschminkte ehrliche Art, seine Bewunderung auszudrücken. Wenn es ihr gelänge, dieselbe an die richtige Adresse zu leiten, so könnte Sophie in allen Erdtheilen keinen liebenswürdigeren Gatten finden.

Getreu dem mütterlichen Gebot erschien Fräulein Mühlenbruch bei Tische wirklich mit einem wohlgezählten Dutzend himmelblauer Schleifen geschmückt. Aber die heimtückische junge Dame hatte sie in äusserst merkwürdiger Weise vertheilt. An beiden Schultern standen zwei himmelblaue Henkel in die Höhe, das nicht eben üppige braune Haar wurde von einem Bandknoten zusammengehalten, dessen Enden bei jeder Bewegung um den Kopf flatterten (»wie bei einer überlebensgross gerathenen Confirmandin,« dachte Mama entsetzt), kurz, wenn sie einige Jahre Studium darauf verwendet, eine Caricatur aus sich zu machen, so hätte es ihr nicht besser gelingen können. Doch sollte die Arglistige nicht straflos ausgehen. Als der Kaffee aufgetragen wurde, stiess sie plötzlich einen Schreckensruf aus und verschwand, wie von Furien gejagt, aus dem Zimmer.

Adele blickte erstaunt auf. Durch die hohen Glasfenster sah sie eine lange, magere Gestalt auf das Schloss zuschreiten. Sollte diese Sophie in die Flucht getrieben haben? Sonst hielt sie mit musterhafter Geduld dem Manne, ihrem Gutsnachbar, stille, selbst wenn er auf sein Steckenpferd, die Runkelrüben, kam; sie lauschte seinen Erklärungen über eine neue Dresch- oder Säemaschine mit der Miene einer begeisterten Adeptin, während Mama sich meist zurückzog, da sie in der Nähe des Barons Hellmer von Schlafsucht befallen wurde; warum entschlüpfte das unberechenbare Mädchen heute bei seinem Erscheinen? Aber zu weiterem Nachdenken war keine Zeit; der neue Gast trat ein. Er nahm die angebotene Tasse Kaffee an und blickte suchend umher.

»Ich hoffe, Fräulein Sophie befindet sich wohl?«

Frau Mühlenbruch war in Verlegenheit. Glücklicher Weise trat das unbotmässige Töchterchen bald wieder ein, wie gewöhnlich einfach und dunkel gekleidet, das Haar in einen Knoten aufgesteckt, die Verkörperung ruhiger Vernunft und kühler Klugheit. Da sie ihre ganze Aufmerksamkeit dem Runkelrübenbaron zuwendete, blieb der Mama nichts übrig, als sich Robert zu widmen. Vielleicht wäre es nicht unumgänglich nöthig gewesen, dabei so leuchtende Augen und geröthete Wangen zu bekommen, doch entschädigte sie Sophie gewissenhaft. Als diese mit Baron Hellmer durch den Park und über die nun kahlen Felder schritt, Verbesserungen in der Wirthschaft besprechend, folgte sie mit Eichberg und verbreitete sich wie vorhin über die künstlerischen, nun über die praktischen Vorzüge Sophiens. Um das lichte Bild im breitkrämpigen Hut und wasserdichten Stiefelchen mit seinem Hintergrund nahrhafter Thätigkeit besser hervortreten zu lassen, malte Adele sich selber mit Tusch. Im Schaukelstuhl, eine Novelle von Heyse in der Hand, verträume sie die Zeit, während Sophie in Regen und Sonnenbrand die Wirthschaft leite.

Es war ihr erster Versuch im Ehestiften, sonst hätte sie sich vielleicht gesagt, dass Robert, wenn er auch ein wenig verbauert sein mochte, sich doch lieber von zierlichen Goldkäferpantöffelchen, als von schweren Wasserstiefeln regieren lassen wollte und trotz seiner Ueberzeugung vom Nutzen des Düngers nicht wünschte, dass ihm dieser aus den Kleidern seiner schöneren Hälfte entgegenschlüge.

Immerhin bildete die gemeinsame Beschäftigung eine Brücke zwischen Sophie und dem jungen Mann. Ihre bewaffnete Neutralität wäre ohnehin nicht aufrecht zu erhalten gewesen, da Robert, ohne sich lange bitten zu lassen, seinen Besuch auf mehrere Tage ausdehnte. Fräulein Mühlenbruch liess sich herbei, mit ihrer gewohnten kühlen Ruhe zu antworten, wenn er sie anredete; sie mieden einander nicht mehr auffällig und pflogen zuweilen sogar längere Zwiegespräche. Frau Adele begann zu glauben, dass ihr geheimer Plan der Verwirklichung entgegenreife. Aber sie machte nun die Erfahrung, dass das erreichte Ziel bei Weitem nicht so verlockend ist, als man, es erstrebend, gedacht. Ihr Lachen bekam in den letzten Tagen einen etwas erzwungenen Klang, ihre Augen einen Ausdruck der Ermüdung, fast, als hätte sie Nachts wenig Schlaf gefunden. Und während Sophie heiterer und lebhafter wurde, je länger Robert auf dem Schlösschen verweilte, erschien die junge Frau stiller und gedrückter. Dennoch behielt sie vor den Zweien ziemlich tapfer die Maske der zufriedenen, in dem Glück der Kinder das ihre findenden Mama bei, aber als sie allein in ihrem Zimmer sass und den Vetter mit Sophie im eifrigen Gespräch über die Kieswege des Parkes wandern sah, hielt sie die Verstellung für überflüssig und liess die Betrübniss, die sie empfand, sich ganz deutlich auf ihrem Gesicht spiegeln. Denn unten verhandelte man Wichtiges, Entscheidendes. Robert legte seine Hand mehr als einmal betheuernd auf die Brust, und Sophie antwortete mit ihrem freundlichsten Lächeln. Frau Adele denkt im Stillen, die Beiden werden eine Ehe führen, um welche sie alle Engel im Himmel beneiden können. Das Glück, das sie gestiftet, verleitet sie zu Vergleichen; aber das Zusammenleben mit dem grämlichen Herrn Mühlenbruch erscheint dabei nicht in seiner günstigsten Beleuchtung.

Das Pärlein unten trennt sich mit einem Händedruck, dessen Wärme sie durch alle Mauern zu verspüren glaubt, Robert schreitet dem Schlösschen zu, seine Schritte nähern sich ihrer Thüre. Sie weiss, weshalb er kommt. Ihre Finger greifen nach der Wittwenhaube, aber was soll ihr in diesem ernsten Augenblick der Mummenschanz? Sie wird mit äusserlicher Fassung ihren mütterlichen Segen zu der Verbindung aussprechen, die sie herbeigeführt. Wie ihr dabei zu Muthe ist, das soll kein Lebender erfahren. Wäre es nur vorüber, hätten die zwei Glücklichen ihrem einsamen Wittwensitz bereits den Rücken gewendet!

Einige Minuten später tanzen alle Kunstwerke, die Sophiens Hände geschaffen, im Kreise um die junge Frau herum und nehmen Ständer und Tischchen mit. Als sie sich wieder auf ihre Plätze verfügten, befand sich Adele an Robert's Brust. Und nun erfuhr sie, dass er um ihretwillen die Fahrt in das Schlösschen angetreten, ein gelieferter Mann, noch bevor er kam. Vor etlichen Wochen hat er auf dem Bahnhof in Hannover (wo Adele, wie sie sich jetzt erinnert, eine Freundin besucht) ein Billet für eine fremde, rathlos im Gedränge stehende Dame gelöst. Sie hatte den hülfreichen Mann schleunigst vergessen – solche kleine Ritterdienste mochten ihr oft genug erwiesen worden sein. Ihm aber hatten es ihre übermüthigen braunen Augen angethan; er spürte ihr nach, erfuhr, dass es sein eigenes Bäschen sei, das ihn bezaubert, und so hatte er sich aufgemacht, sein Glück zu suchen.

Adele befreite sich plötzlich aus seinen Armen.

»Ich bin arm wie eine Kirchenmaus,« sagte sie stockend und wurde feuerroth, »wenn ich mich nochmals verheirathe, fällt das ganze Mühlenbruch'sche Vermögen an Sophie.«

Ein tiefer Athemzug hob seine breite ehrliche Brust.

»Ich weiss es« (Fräulein Sophie hatte ihn erst vor einer Viertelstunde mit dem Testament bekannt gemacht), »aber, Liebchen, eine kleine warme Kirchenmaus hat mir seit jeher mehr Sympathie eingeflösst, als ein kalter klebriger Goldfisch.«

Sophie kam herein und wünschte mit freudigem Gesicht den Verlobten Glück.

»Kleine Mama,« flüsterte sie lachend Adelen in's Ohr, »für einen ersten Versuch ist dir das Ehestiften nicht schlecht gelungen.«

Frau Mühlenbruch zeigte eine zerknirschte Miene. »Ich wollte meine mütterliche Pflicht gegen dich erfüllen,« sprach sie leise, dem Weinen nahe.

»Das war vollständig überflüssig; ich bin schon seit drei Wochen mit Helmer verlobt. Ich habe nur gewartet, bis ich dich versorgt und aufgehoben weiss, denn dich, unmündiges Kind, allein auf Juliusruhe zurück zu lassen, erschien mir als Grausamkeit.«

IM HERBST.

Durfte Leonhard Gruber wie andere Menschenkinder einen Frühling haben? Wenn man es recht bedenkt, nein, denn er gehörte zu der bevorzugten Klasse zweibeiniger Geschöpfe, für die der Winter die eigentliche Jahreszeit, die Zeit der Ernte, der Lenz ein trauriger Uebergang zum gefürchteten, ertragsarmen Sommer, der Herbst die sehnlichst herbeigewünschte Epoche ist, in welcher sich die Tretmühle wieder in Bewegung setzt. Und er wusste gut genug, dass all der beglückende Unsinn: Nachtigallenschlag, Rosenduft, eine kleine Hütte im Grünen, braune Augen und blonde Locken nichts für ihn seien. Bis zu seinem fünfundzwanzigsten Jahr hatte er die Hände davon gelassen, was insofern nicht schwer war, als er, vom frühen Morgen bis zum späten Abend rastlos umherlaufend, um unartige Bengel in die Mysterien der Dur- und Mollscalen einzuweihen, nicht mehr von der Versuchung, glücklich zu sein, empfand, als wenn er in der Wüste, von Kräutern, Wurzeln und Gebeten lebend, die Laufbahn eines Anachoreten eingeschlagen hätte. Aber da war das Schicksal boshaft genug, ihm den Frühling wie auf einem Präsentirbrett sozusagen unter die Nase zu rücken. Ohne die geringste Warnung war er da, nur durch eine dünne Wand von ihm getrennt, in welcher sich obendrein eine Thüre befand, die sehr mangelhaft von einer Seite durch ein Clavier, von der anderen durch einen mit allerhand dünnen Fähnchen behängten Kleiderschragen verbarricadirt war. Am Abend pflegte Herr Leonhard Gruber die sacht und fein zusammengefalteten Pläne von Künstlerschaft und Triumph für ein Stündchen oder zwei hervor zu holen, ohne praktischen Nutzen, da ihn Andere, die mehr Zeit zu waghalsigen Fingerübungen hatten, weit überflügelten. Als er nun einmal wieder ein paar Töne auf seinem abgespielten Instrument angeschlagen hatte, erhob sich nebenan, in dem seit etlichen Wochen leerstehenden Zimmer eine helle, frische Mädchenstimme und sang Sonaten und Etuden tapfer mit, die Läufe selbst ahmte sie mit einem lustigen dideldideldidel nach. Den armen Leonhard gemahnte sie an eine Spottdrossel, die er als Knabe daheim in den Murecker Wäldern gehört, nicht allzu oft, denn als man ihm noch die dicksten Notenbücher unterschieben musste, damit er mit den Händen die Claviatur erreiche, bannte ihn ein gewisses kantiges, kleines Lineal an den Klimperkasten fest.

Das Interesse an der Nachbarschaft hindert ihn nicht, fest zu schlafen, ja zu verschlafen, worüber sein erster Schüler, der wilde freche Junge vom »Selcher« (Metzger), den er an den Stuhl binden muss, um ihn eine Stunde lang festzuhalten, schwerlich betrübt sein wird. Als er erwachte, regten sich nebenan flinke, feste Schritte. Er fand Rhythmus in ihnen, und als sie die Treppe hinabgingen, stellte er sich an's Fenster, zum erstenmal im Leben ein weibliches Wesen belauernd. Hübsch? das ist kein Wort; hübsch ist am Ende Jede mit achtzehn Jahren, aber nicht Jede hat solch ein pikantes feines Köpfchen, das sich zierlich auf schlankem Halse wiegt, solche lustig in die Stirn fallende Locken, so ein rosiges Gesicht. Die Augen kann er nicht sehen, aber sicher blitzen sie in Uebermuth und Lebensfreude. Frau Lechleitner bringt ihm die obligate Cichorienbrühe herein, und er getraut sich, in unbefangener Weise die Worte hinzuwerfen: »Das Zimmer nebenan scheint ja wieder bewohnt zu sein.« Die Schleusse ist geöffnet. Frau Lechleitner würde kein alleinstehendes Mädchen in ihr Haus, diese Burg der Wohlanständigkeit, aufnehmen, man weiss ja, was dabei »herausschaut«. Aber die Franzi kennt sie schon von klein auf, hat ihr manchen Apfel zugesteckt, so lange sie noch keine Witwe mit dreizehn Gulden monatlicher Pension war, und die »Zimmerherrn« sind so unverlässlich, womit sie jedoch selbstverständlich Herrn Gruber nicht gemeint haben will, der pünktlich wie eine Uhr ist. Und was sie sagen wollte, Franzi's Mutter war ihre beste Freundin und ihren Vater hätte sie einmal heirathen sollen, und er war desperat, als sie mit Herrn Lechleitner Sonntag auf die Siebenbrunnerwiese spazieren ging.

»Das haben Sie mir schon erzählt!« ruft Leonhard verzweifelnd aus.

»Er hat dann meine Freundin genommen, und sie haben auch recht gut mit einander gelebt, sind aber beide vor zwei Jahren gestorben. Und die Franzi schlägt sich mit Kleidernähen durch und bleibt brav dabei.«

Frau Lechleitner wird nicht müde, die Tugenden ihres Schützlings zu rühmen. Vor ihm steigt dräuend das Bild einer mit tausend Spitzen und Stacheln gepanzerten Jungfrau auf, voll der herben Wehrhaftigkeit, dem pharisäischen Tugendstolze alleinstehender braver Mädchen. Und er weiss nicht, ob er sich über die Einladung zu Kaffee und »Gugelhupf« freuen soll, mit welcher ihn die Hauswirthin, die Anwesenheit der hübschen Nachbarin in Aussicht stellend, für den nächsten Sonntag überrascht.

Ziemlich trübselig erwartet er, in die Ecke des alten Sophas gedrückt, sein Schicksal. Die Thür geht auf, lachend und schwatzend und ein wenig verlegen kommt die sanglustige Nachbarin herein. Sie ist keine Jungfrau in Wehr und Waffen, sondern ein herziges kleines Ding voll drolliger Einfälle und – gerade nur zur Würze – etwas schnippisch. Nach den ersten paar Minuten erscheint ihm die versessene Sophaecke als das behaglichste Plätzchen der Welt. Als er die ungeheuere Tasse Kaffee, die ihm die Hausfrau reicht, über das Tischtuch und Franziskas neues Kleid ausschüttet, weiss sie das Unglück mikroskopisch klein zu machen; natürlich lassen sich die Flecken entfernen, wird das Kleid gewaschen wie neu aussehen! Wie sich ihm das schüchterne Herz in der Brust dehnt, wie seine blauen Augen, das einzige Anziehende in dem unjugendlichen Gesicht, zu leuchten anfangen! Heute scheint die Sonne ganz anders als sonst, Frühling, Frühling! zwitschern die Spatzen auf der Strasse. – In seiner Stube entlockt er dem Flügel stürmische, jauchzende Weisen, stürmisch und jauchzend singt die Spottdrossel nebenan, und Frühling, Frühling! klingt es aus den Tönen.

Durfte Leonhard Gruber einen Frühling haben? In den Händen hielt er einen Brief; mit leisem Bangen, wegen dessen er sich herzlos und unkindlich schalt, öffnete er ihn. Oft kamen Episteln von derselben Hand, sie sind mit Klagen über Einschränkungen erfüllt, wie Luise noch immer im alten Kleide gehe, Lina einen Mantel brauchte, wie trostlos das Geschick einer Witwe und armer Waisen sei, die ihres Ernährers beraubt worden. Drei Viertheile von Leonhard's Verdienst wandern nach Mureck, seit Jahren hat er keine Oper, kein gutes Concert besuchen können, im Winter trägt er dünne und im Sommer dicke Kleider, wie sich das bei armen Teufeln trifft, aber so oft er ein solches Schreiben liest, erscheint er sich wie ein schwarzer Missethäter.

Diesmal jedoch enthält es eine Freudenbotschaft. Das heisst, einem Anderen würde sie vielleicht nicht so sehr verheissungsvoll klingen, da sie ihm zunächst noch mehr Entbehrungen auferlegen wird. Aber mein Leonhard Gruber verspricht sich leicht einen schönen Tag, so oft ein winziges Stückchen blauen Himmels durch graue Wolken bricht: der zweite Sohn des alten Organisten wird, Dank dem adeligen Schlossherrn von Mureck, der Leonhard's musikalische Ausbildung ermöglichte, einen Stiftplatz am Wiener Conservatorium erhalten. Was dem älteren Bruder versagt geblieben, soll dem jüngeren zu Theil werden. Leonhard wird ihm jeden Stein aus dem Weg räumen, damit er sich ungehindert der anspruchsvollen Frau Musica widmen könne, aber wenn nun Karl ein berühmter Künstler geworden, dann kann er die Sorge für die Familie übernehmen.

Und dann verlobte sich Leonhard. Warten? Ob es Franzi recht ist! so hat sie es stets geträumt, wenn in ihrem Köpfchen der Gedanke an ein eigenes Haus aufgetaucht. Stück für Stück zum Bau des Nestes herbeitragen, bis es gezimmert und ausgepolstert ist, das muss ungleich hübscher sein, als in ein von Tischler und Tapezierer fertig gestelltes Heim einzuziehen.

Daheim waren sie Anfangs geneigt, es Leonhard sehr übel zu nehmen, dass er sich mit vermessenen Gedanken an einen eigenen Herd trug, aber da an die Ausführung nicht gegangen werden sollte, bevor Karl eine feste Stelle in der Welt errungen, gab die Mutter in Gnaden ihre Einwilligung.

Aber Karl schlug nicht gut aus. Seine Lehrer knüpften hohe Erwartungen an ihn, aber dem genialen Burschen gebrach es an einer Kleinigkeit, es war ihm nicht ernst mit seiner Kunst, seiner Laufbahn, dem Leben. Das Glück heftete sich Anfangs an seine Fersen. Er hatte kaum den Schulstaub abgeschüttelt, da lud ihn der Gönner, der ihm den Stiftsplatz verliehen, zu einer Abendgesellschaft ein. Sein Beispiel fand Nachahmer, der junge Künstler kam in Mode. Aber die Mutter wandte sich nicht an ihn um Hülfe in ihren endlosen Nöthen, denn uneröffnet lag ein ganzer Stoss von Familienbriefen auf seinem Clavier. Während der Schülertage hatte er Bett und Tisch des Bruders getheilt, aber die kleine, schlecht beheizbare Stube im entlegenen Vorstadthaus war kein passender Aufenthalt für einen gefeierten Virtuosen. Auch verdarb ihm das lästige Mitsingen im Nebenzimmer – ganz so frühlingsfrisch wie vor sechs Jahren klang es freilich nicht mehr – jede Inspiration, griff ihm die Nerven an, machte ihm das Leben zur Qual. Er miethete sich ein passendes Künstlerheim an der Ringstrasse. So kirchenstill es in den Augenblicken, da er mit der Muse Zwiesprache hielt, um ihn sein musste, so laut liebte er seine Gesellschaft in den vielen Erholungsstunden. Er besass eine Leidenschaft für alle schäumenden Getränke, und die Gasflammen einer Wirthsstube lockten ihn wie eine Motte an.

Trat Ebbe in seiner Tasche ein, dann liess er sich wie in seiner Schulzeit vom älteren Bruder erhalten. Doch durfte sich dieser beileibe keine Vorstellungen erlauben, sonst liess sich der Virtuose Monate lang nicht blicken. Und Leonhard, gutmüthig, schwach und unaufhörlich von der Furcht gequält, er erfülle schlecht das Versprechen, das er dem sterbenden Vater gegeben, suchte ihn dann wohl zuerst auf und gab gute Worte.

Franziska, der in letzter Zeit zuweilen der Gedanke gekommen, dass man auch Pflichten gegen sich selber habe, vernahm es denn auch ohne das leiseste Bedauern – wenn sie auch aus Rücksicht auf ihren Bräutigam ihren Gefühlen keinen beredten Ausdruck lieh –, dass Meister Karl, eine ansehnliche Schuldenlast im Rücken, vor Thau und Tage aus Wien entwischt war. Es geschah ihm dadurch kein Leid, im Gegentheil, jetzt erst befand er sich in seinem richtigen Fahrwasser. Er wurde einer der modernen Landstreicher, die herrlich und in Freuden, von Bierquelle zum Weinborn pilgernd, leben, wenn ihnen ein insipides Getränk, das Wasser, bis in den Mund reicht, unter Aufzählung ihrer Titel und Orden »ein einziges Concert auf der Durchreise« in Krähwinkel veranstalten und dem geschmeichelten Localpatriotismus so viel erpressen, um ihren Kahn eine Weile flott zu erhalten.

Monate lang ging Leonhard niedergedrückt, eine Beute heftiger Gewissensbisse umher. Es war sträflicher Leichtsinn gewesen, ein blühendes, junges Leben an das seine, das er Anderen verpfändet hat, zu knüpfen. Wie ein Kartenhaus, in das der Wind gefahren, lagen seine Hoffnungen auf dem Boden.

»Wir müssen eben warten,« tröstete ihn Franzi, aber es klang anders als vor Jahren, da sie im Warten die eigentliche Würze ihres Brautstandes gesehen. »Wie könnte mir einfallen, Dich von Deiner Pflicht abwendig zu machen!« Leonhard's Stube blieb nicht lange ihm allein überlassen; ein anderer Bruder theilte sie. Der besondere Liebling Seiner Hochwürden, des Herrn Pfarrers von Mureck, sollte er einige Jahre Theologie studiren, dann war ihm ein Pfarramt gewiss. Das Brautpaar baute förmlich verwegene Pläne auf dieses künftige Glück: Natürlich wird das Pfarrhaus im Grünen liegen, Weinlaub daran emporklettern, ein Garten voll Aepfel- und Birnbäumen es umschliessen – Franzi wässert schon jetzt der Mund nach den saftigen Früchten –, man kann nicht allein darin hausen, Mutter und Schwester werden zum Seelenhirten ziehen. Wenn Ignaz es erlaubt, warum sollte er nicht? sein ältester Bruder theilt ja auch jeden Bissen mit ihm, dann kommt Leonhard mit seiner kleinen Frau im Sommer, wenn seine Schüler auf das Land geflohen sind, zur Erholung zu ihm hinaus. O, es wird herrlich sein, frische, stählende Bergluft Wochen, Monate lang einzuathmen. Franziska ist nun 26 Jahre alt und sehr praktisch. Ihre Augen haben viel von ihrem fröhlichen Glanz verloren, und die Lippen, statt zu lachen, schliessen sich oft fest auf einander. Aber wenn sie in glücklichen Träumen schwelgt, dann zeigen sich die Grübchen in Wange und Kinn, und ein rosiger Hauch färbt ihr Gesicht.

»Niemand würde sie für älter als zwanzig halten,« meint bewundernd Leonhard. Dass sein Bruder nicht in sein Entzücken einstimmt, nimmt ihn nicht Wunder. Was kümmert sich so ein angehender geistlicher Herr um Frauenschönheit? Aber freilich, etwas zugänglicher für Freud' und Leid der Menschen um ihn dürfte er sein! Wird er doch einmal seiner Gemeinde in Freud' und Leid beizustehen haben. Aber er gehört zu der neuen Schule kirchlicher Streiter, ist hohlwangig und blass und hat ein düsteres Licht in seinen Augen. Wenn Leonhard und Franziska Lustschlösser aufthürmen, wirft er verächtliche Blicke auf die Kinder der Welt. Zuweilen versucht er es, sie auf das Reich Gottes hinzulenken; leider vergeblich. Franzi, wie die Meisten ihrer Landsmänninnen, hat nicht das geringste Talent zur Asketin, und wie Leonhard's Anlagen auch beschaffen sein mögen, an der Seite seiner Braut, die er nun bald heimzuführen hofft, denkt er nicht an Weltentsagung.

Er war Enttäuschungen so gewohnt, dass er nicht zusammenbrach, als sein Bruder, einem unwiderstehlichen Drange gehorchend, in einen Mönchsorden der strengsten Regel eintrat und schwere Klosterpforten zwischen sich und die Welt, die etwa Ansprüche an ihn stellen konnte, schob. In Mureck waren sie fromm genug, nicht darüber zu murren. Ihnen blieb ja noch immer der Aelteste; »einen gar braven Buben«, nennt ihn Frau Gruber, aber sie ist doch stolzer auf den geistlichen Sohn, der es zu hohen Würden bringen wird, da er alle hemmenden Familienfesseln abzustreifen wusste.

Franziska wurde todtenbleich, als dieser Blitz ihre Lustschlösser zertrümmerte.

»Wir werden nie einander angehören!« rief sie und brach in Thränen aus. Wenn er sie verlor, dann schwand jede Freude aus seinem armseligen Leben, er wurde ärmer als ein zerlumpter Bettler auf der Strasse. Aber konnte er ihr zumuthen, noch länger zu harren, ihre besten Jahre einer fast aussichtslosen Neigung zu opfern. Das erste Wort, mit dem er sie, Verzweiflung in der Stimme, frei gab, brachte sie zu sich.

»Mein Leonhard, wir warten geduldig auf einander, wie bisher«; aber es war nur ein Zerrbild der alten Schalkhaftigkeit, als sie hinzusetzte: »Es sei denn, Du möchtest mich nicht mehr.«

Er schloss sie aufjubelnd in die Arme. Wieder arbeiteten sie Jahre lang neben einander, ohne ihrem Ziel näher zu rücken. Franziska wusste, dass sie verblühte. Sie baute keine Zukunftspläne mehr und gab sich Mühe, so rührend genügsam wie ihr Bräutigam zu werden, dessen Gesicht sich verklärte, wenn er einen Sonntag Nachmittag mit ihr im Wienerwald verbringen durfte.

Da griff der Zufall plötzlich in ihr Leben umgestaltend ein. Leonhard ging mit elastischen Schritten umher und summte die Melodien, die, wenn günstigere Sterne über ihm gewaltet, vielleicht den Weg in die Welt gefunden hätten.

Der Virtuose war auf seinen Irrfahrten, wie ein Schiffbrüchiger auf fremdem, unwirthlichem Strand in Amerika gelandet. Ach, da war kein Wirth, der borgen wollte, kein Concertsaal, der sich öffnete, so lange ihm der Wind durch die Taschen pfiff. Um nicht zu verhungern, sah er sich nach Schülern um und da er in der That glänzend spielte, eine unverlegene Zunge besass und mit einem Hoftitel aus einem kunstsinnigen deutschen Herzogthum die Leute zu blenden vermochte, fehlt es ihm bald nicht an gut bezahlten Clavierstunden. Nach einigen Monaten trat er öffentlich auf und fand Beifall. Das Unterrichten erschien ihm nun wieder als eines so grossen Pianisten wenig würdig. Auch plante er eine Kunstreise nach dem Westen. Da kam ihm der erleuchtete Gedanke, Leonhard könnte seine Lectionen übernehmen. Das Reisegeld schickte er nicht, er hätte seines ältesten Bruders Zartgefühl verletzen können, freilich dauerte es nun einige Zeit, bis es zusammengespart war; zu lange für Karl's Ungeduld. Als Leonhard nach thränenreichem Abschied von den Seinen in New-York landete, da war der Virtuose bereits nach Californien abgereist, und seine Stunden gab ein Anderer. Und der Ankömmling, der nicht mehr in den Jahren war und vielleicht nie die nöthige rücksichtslose Energie besessen hatte, um sich in der Fremde einen Wirkungskreis zu schaffen, sah sich ohne Mittel, ohne Freunde, von der Heimkehr abgeschnitten in der ungeheueren Stadt, die Hunderte solcher ungeschickter armer Teufel verschlingt, ohne dass nur das Kräuseln der Oberfläche, wie ihn ein Stein auf dem Wasserspiegel hervorruft, die Stelle ihres Unterganges bezeichnen würde. Er besass nicht seines Bruders siegesgewisses Auftreten, konnte nicht wie dieser durch seinen Künstlerruhm verblüffen. Wenn er Beschäftigung suchte, kamen ihm Flinkere, Gewandtere zuvor. Er verzweifelte nicht um seinetwillen, denn er hatte die Kunst, sich halb satt zu essen, schon früher erlernt. Aber was sollte aus Mutter und Schwestern werden, welche er, im Vertrauen auf Karl's Versprechungen, den gewöhnlichen Monatsbeitrag zugesichert, was aus Joseph, dem jüngsten Bruder, der im Lehrerseminar ohne Zweifel sehnsüchtig auf eine Unterstützung wartete. Wenn er Franziska's gedachte, überwältigte ihn der Jammer völlig. Welch ein Lohn für ihr geduldiges Ausharren, ihre Aufopferung! Er sandte keine Nachricht von seiner Bedrängniss an die Angehörigen heim. Sie konnten ihm nicht helfen und hatten an der eigenen Last genug zu tragen.

Er vergass, dass es nichts Unersetzliches auf Erden gibt. Mutter und Geschwister staunten, dass der stets so zuverlässige Aelteste sie im Stiche liess. Aber von der Nothwendigkeit gedrängt, suchten sie bei ihren eigenen Hülfsquellen Zuflucht. Joseph gab Stunden, wie Leonhard es gethan und schickte kleine Beträge nach Hause, die Schwester verwerthete allerlei Kunstfertigkeit mit der Nadel, die Aelteste entschloss sich, dem greisen Pfarrer die Wirthschaft zu führen. Franziska allerdings litt; sie glaubte sich von ihm vergessen. Und Leonhard schwamm im Wirbel, umsonst versuchend, irgendwo festen Fuss zu fassen.

Die New-Yorker Zeitungen brachten eines Tages eine jener Notizen, die, kurz und dürr, dennoch mehr als bändelange Schilderungen irdischen Jammers geeignet sind, die Herzen zu erschüttern. Ein Polizist hatte einen bewusstlosen und wie er, Dank des häufigen Vorkommens solcher Zufälle, glaubte, betrunkenen Mann vom Strassenpflaster aufgelesen und über Nacht auf der Polizeistation mit dem verkommensten Gesindel zusammen eingesperrt. Vor dem Richter stellte sich heraus, der Fremde, ein Musiklehrer, der Bruder eines in New-York geschätzten Künstlers, hatte keinen Tropfen geistigen Getränkes zu sich genommen, sondern war zusammengebrochen, weil er seit mehreren Tagen nichts Nahrhaftes gegessen. Das Mitleid verschaffte Leonhard die ersten Stunden in New-York. Was man auch an den plötzlich reich gewordenen Amerikanern zu tadeln finden mag, die schlechte Eigenschaft der Emporkömmlinge, die Kargheit im Kleinen neben der prahlerischen Vergeudung im Grossen besitzen sie nur ausnahmsweise; sie lassen die Lehrer ihrer Kinder, die Angestellten in ihren Geschäften, die Dienstleute im Hause nicht darben. Leonhard sah sein Schifflein bald auf ruhiger Fluth dahingleiten.

Lachend und weinend zu gleicher Zeit hielt Franzi den Brief in der Hand, der ihr von der günstigen Wendung in seinem Geschick Kunde gab. Bald sollten sie einander angehören. Lärmten die Sperlinge nicht wie ehemals, sang und klang es nicht in ihr, um sie? Aber es dauert nur wenige Augenblicke. Ihre Seele hat die luftigen Schwingen eingebüsst, mit welchen sie sich einst in ein glückliches Traumland erheben konnte.

»Was wird wohl diesmal zwischen uns treten?« fragt sie sich bitter, der Glanz in den Augen erlischt, und sie zieht wieder die Nadel durch ihre Arbeit, die hoffnungs- und erfolglos ist, wie die der Danaïden.

Diesmal irrte sie. Joseph, der in seinem Charakter dem ältesten Bruder glich, war Schullehrer in Mureck geworden und wollte Leonhard's Stelle bei der Familie vertreten. Selbst die Mutter, welche die trübseligen Verhältnisse zu einem beständig heischenden und niemals befriedigten Wesen gemacht, schrieb, wenn auch ein Zuschuss stets willkommen sei, so möge ihr Aeltester nun auch einmal an sich denken.

Leonhard's Schüler schütteln verwundert die Köpfe. Hätte nicht jeder deutsche Professor das unveräusserliche Vorrecht, wunderlich zu sein, sie würden ihn für verrückt erklären. Er geht umher, als führten die Engel über seinem Haupte ein Conzert auf. Während die kleinen ungelenken Fingerchen neben ihm dem Piano gräuliche Misstöne entlocken, lächelt er stillselig vor sich hin, statt, wie recht und billig, wüthend zu werden. Er sieht beinahe gross aus, so dehnt und streckt sich sein kleines Persönchen vor innerem Wohlgefühl: Er rüstet das Nest für sein Weib, kein Tag vergeht, an dem er nicht mit einem Pack unter dem Arm die steile Holztreppe zur künftigen Residenz emporklimmen würde. Noch besteht der Brauch, wohl aus den Ansiedlertagen, da Einer auf den Beistand des Anderen angewiesen war, dass man Freunden das Haus einrichten hilft. Die Eltern seiner Schüler wissen, er erwarte die Braut aus Deutschland (unter welchem Namen ganz Europa, mit Ausnahme Grossbritanniens und Irrlands, begriffen wird), die Tischchen, Standuhren, Kamindraperien, gestickten Deckchen, Porzellanfiguren, Bilder – an welchen freilich der Rahmen das Hervorragendste ist –, die ihm in's Haus strömen, würden ein Museum füllen. Jedenfalls wird man in der neuen Wohnung äusserst massvoll im Gebrauch seiner Gliedmassen sein müssen, und Franzi wird als Herrin all der Schätze gerade keine Sinecure inne haben, wenn sie dieselben in halbwegs staubfreiem Zustand erhalten will. Stunden lang steht Leonhard, in Bewunderung versunken, vor den Herrlichkeiten. Aber ein Geräth vergass er, vergassen seine Freunde. Am Tage, bevor das Schiff mit seiner Braut, das glückhafte Schiff, im Hafen einläuft, kauft er den Pfeilerspiegel für die Vorderstube.

Vom Dock führt er sie zum Friedensrichter, der die beiden geduldigen und getreuen Menschen für das Leben zusammengiebt. Leonhard hat sein Nest in einer neugierigen, schwatzhaften Strasse gebaut; man braucht nicht viel Phantasie, um sich in eine Kleinstadt im deutschen Vaterland versetzt zu fühlen. Rechts und links drücken die Nachbarinnen die Gesichter an die Fenster, um das Paar vorüberschreiten zu sehen. Sie geben sich keine Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen. Die Monate langen Vorbereitungen, das verklärte Gesicht liessen sie einen anderen Siegespreis vermuthen.

»Die alte Jungfer hätte er nicht zu importiren gebraucht,« sagten sie, »so etwas findet sich auch noch unter dem Sternenbanner.«

Franzi hat es glücklicherweise nicht gehört, es hätte einen grauen Flor über ihre Seligkeit gebreitet. Ohnedies erscheint sie nicht so glücklich, wie man vermuthen sollte. Während Leonhard wie von Flügeln getragen einhergeht, schlägt sie die Augen zu Boden.

Es war ziemlich spät im Herbste. Leonhard hatte, weil die Blumen spärlich wurden, die zahlreichen Vasen mit prachtvollen farbigen Herbstblättern angefüllt, sie sahen wie leuchtend rothe, goldgelbe und broncefarbige Blüthen aus. Franzi konnte nicht umhin, einen Ausruf des Entzückens bei dem Anblick ihrer Wohnung auszustossen. Der Klang der Schelle hatte ihren Gatten von ihr fortgerufen. Sie war allein in ihrem Königreich. Zaghaft nahm sie ein Figürchen um das andere in die Hand, bewundernd beugte sie sich über die Stickereien, den Teppich, die Geräthe. Zuletzt trat sie vor den Spiegel. Und nun verwandelte sich der Ausdruck ihrer Züge, sie brach in Thränen aus.

Vielleicht hatte sie gehofft, inmitten der Wunderdinge die Franzi von ehemals mit rosigem Antlitz und Wangengrübchen, Goldglanz auf dem Haar und schalkhaftes Leuchten im Auge, zu erblicken. Aber aus dem Spiegel trat ihr ein Schatten ihres alten Selbst mit traurigen Augen und einem Gesicht entgegen, aus dem selbst diese Stunde des Glückes das Gepräge der Resignation, des unaufhörlichen Verzichtens nicht zu verwischen vermocht hatte. Geheimnissvoll vor sich hinlächelnd trat Leonhard wieder ein. Da er sie weinen sah, blieb er wie erstarrt stehen. Dann eilte er auf sie zu; wenn sie Heimweh fühlte, dann sollte sie es an seinem treuen Herzen überwinden. Aber sie machte sich heftig los.

»Müssen wir uns nicht schämen, uns wie andere neuvermählte Paare zu gehaben? Schnee liegt auf unserem Scheitel, Furchen ziehen sich durch unsere Züge.«

Er hatte es bisher nicht bemerkt, dass sie sich verändert. Für ihn war sie die Franzi geblieben, um die er in ihrem Lenz geworben. Und auch jetzt, nachdem sie ihm die Binde von den Augen gerissen, meinte er, es gäbe kein schöneres, kein anziehenderes Weib in der Welt. Er sah sie mit den Augen der Erinnerung.

»Können wir denn noch glücklich werden?« fragte sie, »vermagst Du mein verblühtes Gesicht noch zu lieben?«

Er eilte vor die Thür und trug mit Aufgebot aller Kraft einen Blumenkorb von ungeheurem Umfang, gefüllt mit herrlichen, frischen Blüthen, herein; eine Schülerin hatte ihn dem Ehepaar zum Einzug in das Haus gesendet.

Leonhard wies auf die prächtigen Rosen, auf Nelken und Heliotrop.

»Es ist Herbst,« sagte er, »die Luft ist rauh, und Nebel füllt die Strassen. Aber furchtlos strecken sie die feinen duftenden Köpfchen in die Luft hinaus und freuen sich der Stunden, in welchen die Sonne ihnen scheint.«

»Und wie lange dauert es,« warf sie herbe ein, »dann kommt der erste Frost und vergilbt ihre Blätter.«

»Lass ihn kommen, Kind, wir wollen doch sehen, ob wir ihn mit unseren warmen Herzen nicht überwinden. Wir wollen unseren Frühling dankbar feiern, obschon er uns spät im Jahre gekommen.«

Er schloss sie in seine Arme und küsste sie auf den Mund.

BRENNENDE LIEBE.

Vielleicht halten Sie mich für unbescheiden, aber wahrhaftig, ich half einem tiefgefühlten Bedürfniss ab, als ich geboren wurde, aufwuchs und zum Ruhm meiner Vaterstadt unter die Kannibalen ging. Natürlich nicht, um bei ihnen zu bleiben, sondern um mit 85 Kisten voll staubiger Merkwürdigkeiten, Schädeln, Amuletten, Pflanzenwurzeln, Pfeilen, Bogen, Lanzen und ferner mit einem Vorrathe an Notizen und Tagebüchern heimzukehren, der das Herz jedes Händlers in Makulatur mit den frohesten Erwartungen erfüllt hätte.

Meine Vaterstadt hatte sich schon seit längerer Zeit sehnsüchtig nach einem grossen Sohne umgethan, zu dessen Ehren man wieder einmal in dem altberühmten Rathskeller ein ansehnliches Festessen unter Pauken- und Drommetenschall abhalten konnte. Leider war in der ehemaligen Reichsunmittelbaren eine gewisse Dürre eingetreten, sie hatte alle ihre grossen Söhne unter prachtvollen Denkmälern begraben, und der Nachwuchs zeigte das richtige Militärmass nicht mehr. Da trat ich denn aufopfernd in die Bresche. Der Wahrheit die Ehre! Das Essen war unübertrefflich, und der Wein liess nichts zu wünschen übrig. Rechts und links schlugen mir »der opferwillige, selbstlose Diener der Wissenschaft«, »der erleuchtete Erforscher dunkler Erdtheile«, der »hervorragendste jetztlebende Sohn« und so weiter an die Ohren, und als sich nach leiser Zwiesprache mit mir der Oberbürgermeister erhob und den Anwesenden verkündete, ich hätte meine 85 Kisten der geliebten Vaterstadt zum Geschenk gemacht (selbstverständlich unter den bescheidenen Bedingungen, dass sie für ewige Zeiten ungetheilt blieben, in den hellsten Sälen des neuen Museums aufgestellt würden und als Karl-Wittmann-Stiftung auf die Nachwelt übergingen), da stieg die Begeisterung auf den Siedepunkt, und ich genoss fortan die süssen Früchte der Popularität, die darin bestehen, dass jener Theil der hoffnungsvollen Jugend, der den Gebrauch der Taschentücher standhaft verschmäht, auf der Strasse mit den Fingern auf mich deutete, und die jungen Damen der Stadt, sobald sie meiner ansichtig wurden, angelegentlich die Auslagen studirten, um, wenn ich vorübergegangen war, sich umzudrehen und mir nachzublicken. Aber die Götter sind neidisch. Sie vergassen nicht, einen Tropfen Gift in meinen Freudenbecher zu mischen. Und was für einen Tropfen! Er war ausgiebig genug, um ein ganzes Fass süssen Weines in eitel Wermuth und Galle zu verwandeln. Es lebte eine Person in der Stadt, die meine Verdienste um Mit- und Nachwelt gering schätzte, die meinen Ruhm nicht anerkannte und trotz meiner allgemeinen Beliebtheit kalt wie ein Eiszapfen blieb, und diese Person war meine Braut; denn ich habe eine Braut und zwar eine sogenannte Familienbraut.

Aus Spielgefährten und Jugendfreunden wurden wir, Dank unseren vortrefflichen Mamas, im Handumdrehen Braut und Bräutigam ohne die geringste Ungewissheit, den leisesten Zweifel, ohne irgend ein Hangen und Bangen in schwebender Pein. Meine junge Weisheit beschloss, die stehenden Gewässer unserer Neigung durch eine längere Entfernung aufzurühren, damit etwas von dem Idealzustande der Liebe, ein Bischen Sehnsucht und Leidenschaft auch auf unser Theil komme. Auch führte ich den auf mich entfallenden Part des Programms gewissenhaft durch. Einmal von Helene getrennt, zog ich jeden Augenblick ihre Photographie heraus und machte ihr die süssesten Augen, zweimal im Tage setzte ich mich hin, um gefühlvolle Episteln an sie zu richten (leider dürften sie dieselbe nicht erreicht haben, denn ich bin ein schlechter Briefschreiber, und aus den acht Seiten langen Liebesbotschaften wurden meist kleine Zettelchen, die ihr die erfreuliche Kunde meines Wohlbefindens zutrugen), und als den »bekannten Naturforscher« bei seinem Landen in Hamburg eine kleine Festlichkeit erwartete, riss er sich mitten in der Nacht und mit ziemlich schwerem Kopf aus dem Kreise seiner Verehrer los, um am nächsten Morgen in seiner Vaterstadt und bei Helene einzutreffen.

Ich hätte ruhig im Hotel schlafen können. Zur Begrüssung streckte mir meine Braut ein paar Fingerspitzen entgegen, als ich voll Wiedersehensfreude auf sie zueilte.

»Sehr erfreut, den Herrn Doctor bei uns zu sehen,« sagte sie und verbeugte sich tief und spöttisch. Wir waren allein, nichts hinderte uns, die lang aufgespeicherte Sehnsucht von Lippe zu Lippe ausströmen zu lassen. Und nun dieser Empfang! Die Arme sanken mir herab, mein Gesicht verlängerte sich.

»Das Willkommen für deinen Verlobten leidet jedenfalls nicht an Ueberschwänglichkeit,« sagte ich trocken, nachdem ich meine Enttäuschung, so gut es ging, niedergekämpft.

»Wer das nicht hoch genug zu schätzende Glück hat, einen so vernünftigen Bräutigam sein eigen zu nennen, darf sich nicht durch Sentimentalität lächerlich machen,« versetzte sie.

»Helene, ich bin durchaus nicht vernünftig,« betheuerte ich mit Ueberzeugung. »Ich glaube, seit den Tagen von Hero und Leander hat kein verliebter Narr so ungeduldig die salzige Fluth durchmessen und so erleichtert das Gestade berührt, wie ich.«

Eine Steinfigur wäre gerührt worden. Meine theuere Braut jedoch rief spöttisch an mir vorüber in die Luft hinaus:

»Der Unglückliche! Bittere Noth zwang ihn, seiner Heimath den Rücken zu kehren und das harte Brot – den Schiffszwieback – der Fremde zu essen.«

Wenn mich etwas aufregen kann, so ist es dieses Sprechen zu einem abwesenden Dritten. Ich würde es als einen Scheidungsgrund ansehen, sollte meine Frau ihre Gardinenpredigten in diesem Stile halten. Allein diesmal blieb ich gelassen, denn es galt mein Schifflein durch eine etwas gefährliche Stromschnelle hindurchzurudern.

»Bedenke, Kind, man hat doch auch Pflichten gegen das Allgemeine. Wenn ich meinen verehrten Mitbürgern keine Veranlassung zu einem Bankett gebe, dann erkranken sie möglicherweise am verhaltenen Jubelfieber, und meine Unterlassungssünde endet in einem Massenmorde.«

»Bilde dir nicht ein, sie haben auf dich gewartet,« entgegnete Helene; ihr Ton klang geringschätzig, aber sie wandte sich direct an mich, und das war ein Fortschritt. »Hätten dich die Wilden mit dem Holzbeile erschlagen, dann wäre vielleicht das Erlöschen der Pest vor 400 Jahren gefeiert worden, oder der Westfälische Friede, oder sonst eine erfreuliche, wenn auch schon etwas angejahrte Begebenheit. Ich kenne unsere würdigen Stadtpapas; wenn ein guter Jahrgang im Rathskeller lagert, dann begehen sie Jubiläen bei dem geringfügigsten Anlass.«

Und dieses Wesen, das meine Bedeutung für das Gemeinwohl also abzuschwächen, ja ganz zu vernichten suchte, sollte das Weib meines Busens werden! Ich hoffe, dass mir Jedermann die Berechtigung zugestehen wird, entrüstet zu sein.

»Helenchen, äussere deine Ketzerei nicht vor fremden Ohren. Männlein und Weiblein in unserer Stadt stimmen darin überein, dass meine Sammlungen ungeheuer werthvoll sind und meine Tagebücher der Wissenschaft ausserordentliche Dienste leisten werden. Man soll sein Urtheil freilich nicht nach dem der Menge bilden, aber es trüge dir doch einen etwas unerwünschten Ruf der Originalität ein, wenn du, meine Braut, die Einzige wärest, die meiner Forschungsreise nicht die geringste Wichtigkeit beimissest.«

Sie blickte anklagend zur Zimmerdecke empor.

»Ich messe ihr keine Wichtigkeit bei, ich, die ich ihr die trostlosesten, unerquicklichsten Jahre meines Lebens verdanke!«

Ich grollte Helenen nicht länger, ich fand sie bezaubernd und wollte auf sie zueilen, aber sie verschanzte sich hinter einem Stuhl, die Augen blitzend, die Lippen trotzig aufgeworfen, eine Walküre – freilich eine aus Meissener Porzellan.

»Du liessest dich von deiner Abenteuerlust in die Fremde locken, und ich bin hier geblieben, eine lächerliche Figur, über die alle Freundinnen spotten, eine Braut, deren Bräutigam die Flucht ergriffen!«

»Helene, welch' ein Gedanke!« rief ich schaudernd. »Glücklicherweise glaubst du selber nicht an ihn. Weisst du doch zu genau, dass ich schon als grüner Junge im Gymnasium in dir mein Ideal verehrte und dich mit sehr kunstreichen Strophen im altgriechischen Versmass ansang. Sie haben mich manchen Schweisstropfen gekostet, und du, Kobold, nahmst sie mit schnöder Gleichgültigkeit entgegen.«

»Du hast dich zu entschädigen gewusst: Ich musste geduldig zu Hause warten, bis es dem Herrn Naturforscher« (nicht möglich, den Hohn zu beschreiben, der diesen Titel begleitete) »gefiel, zurückzukehren, nachdem er in der Fremde hinlänglichen Zeitvertreib gefunden.«

»Wenn du wüsstest, wie viel Ungemach und Entbehrungen ich ertragen, welche Gefahren ich überstanden,« warf ich gefühlvoll ein, »du würdest nicht so sprechen.«

»Man sieht dir nichts davon an. Ich hatte im Stillen gehofft, du werdest abgebrannt und zur Mumie ausgetrocknet zurückkommen; leider bleiben die erfüllten Wünsche stets hinter unseren Erwartungen zurück.«

»Ich darf darüber nicht klagen; die meinen wurden weit übertroffen. Dass mich meine Braut, nachdem wir zwei Jahre von einander getrennt gewesen, mit der Klage empfangen werde, ich sähe nicht genug mumienhaft aus, übersteigt selbst meine unwahrscheinlichsten Träume.«

»In diesen zwei Jahren haben Julie Marschall und Karoline Holzwart zehn Bälle mitgemacht, einige Dutzend Cotillonbouquets nach Hause getragen und sich von einer Unzahl Lieutenants, der Assessoren und Referendare gar nicht zu erwähnen, den Hof machen lassen. Und ich habe zu Hause einen langen Aschermittwoch gehalten, denn meine unnatürliche Mutter erklärte, es passe sich nicht für eine Braut, deren Verlobter abwesend sei, Bälle zu besuchen; und meine künftige Schwiegermama rief vorwurfsvoll und mit Wassertropfen an den Wimpern: »Du willst tanzen, während Karl vielleicht in Todesgefahr schwebt!«

»Die beiden Frauen haben ein wenig Zärtlichkeit für mich, während du, kleine Selbstsüchtige, nur an dich und deine banalen Vergnügungen denkst.«

»Du hättest unter die Advokaten gehen sollen,« warf sie schneidend hin, »es ist ein alter Kniff dieser Herren, einer Anklage zuvorzukommen, indem sie dieselbe umkehren. Ich selbstsüchtig? ich habe einem jungen Mädchen nicht die paar Jahre ihres Frühlings vergällt, indem ich sie band und mir die Freiheit sicherte, ich nicht!«

»Helene, höre mich an!«

Aber sie liess sich nicht unterbrechen.

»Ist das Experiment nach Wunsch ausgefallen? Hat sich das kleine Mädchen nach dem gnädigen Herrn gesehnt und um seinetwillen abgehärmt?«

Ich stand diesem übernatürlichen Scharfsinn starr gegenüber. Plötzlich blendete mich ein grelles Licht.

»Helene, sei aufrichtig,« bat ich, »dein eisiger Empfang drängt mir die Frage auf: hat mich ein Anderer aus deiner Neigung verdrängt?«

Sie sah mich nicht an, sondern blickte angelegentlich zum Fenster hinaus, vielleicht dauerte sie meine verstörte Miene; endlich wandte sie mir ein purpurrothes Gesicht zu.

»Du hast es errathen,« sagte sie, »ich liebe einen Anderen!«

Leichten Tones fuhr sie fort: »Zwei Jahre sind ja eine Ewigkeit; auch hätten die Menschenfresser Geschmack an dir finden können.«

Dabei blitzten ihre spitzen, weissen Zähne, als könne sie sich nichts Willkommeneres denken. Die Naturgeschichte hat Recht, unter den Raubthieren ist das Weibchen der grausamere Theil. Mauna Loa war, gegen mich gehalten, zahm wie ein Ofenfeuer, aber ich brachte leidlich die Miene überlegener Ironie zu Stande.

»Der Name des Glücklichen ist wohl noch ein Geheimniss?«

»Er heisst, wie mein Ideal heissen muss, Edgar.«

»Edgar? sehr abgeschmackt, und die italienische Oper ist aus der Mode.«

Meine Worte ärgerten sie (und das war ja auch ihr Zweck; es wäre mir eine Wollust gewesen, sie zu peinigen, so wüthend und – das Wort muss heraus – unglücklich fühlte ich mich). Sie holte ein Notenheft, auf welchem ein Strauss knallrother Blumen prangte und hielt es mir triumphirend vor die Augen. »Brennende Liebe«, Walzer von Edgar Nothnagel, seiner Schülerin, Fräulein Helene Stubenkammer hochachtungsvoll zugeeignet.

»Damit kann ich freilich nicht wetteifern,« sagte ich bitter und griff nach meinem Hut.

Eine Gewohnheit aus früheren, schöneren Tagen hing meine treulose Braut noch immer an; wenn sie mich genug gequält zu haben glaubte, legte sie ein Pflästerchen auf meine Wunde.

»Willst du gehen, ohne Mama begrüsst zu haben?«

»Ich werde telegraphisch meine Ueberfahrt nach Afrika belegen, denn diesmal ist es mir wirklich ein Bedürfniss, die Flucht zu ergreifen.« Ich wollte meinen Verlobungsring abziehen, aber er sass zu fest, und so musste ich auf den effectvollen Abgang verzichten. Die Scharte einigermassen auszuwetzen murmelte ich gleichgültig: »O, ich vergass; – meine besten Glückwünsche, Fräulein Stubenkammer.«

»Ich weiss nicht, ob ich sie annehmen darf,« versetzte Helene in äusserster Betrübniss, »Mama wird von dem armen Künstler nichts wissen wollen.«

Ich bin kein Mann des Gefühls, das sich in Worten äussert. Aus Scham, die Welt errathen zu lassen, dass ich eigentlich eine gute Dosis Weichmüthigkeit in mir beherberge, hänge ich meinen Aeusserungen gewisse kleine Narrenschellen an, die ihren Zweck dann auch vortrefflich erreichen, zu vortrefflich, denn nicht nur die lieben gleichgültigen Nebenmenschen, auch meine Braut werden von der Ueberzeugung beherrscht, bei mir gehe keine Empfindung tief genug, um sich nicht mit einem Witzwort abschütteln zu lassen.

Sie hatte vermuthlich nicht die leiseste Ahnung, dass der Spötter, dem nichts heilig zu sein schien, der seine Gefühle durch das Scheidewasser der Ironie zu zersetzen pflegte, den Riss zwischen uns genau so schmerzlich – möglicher Weise noch schmerzlicher – empfand, als es der sentimentalste aller Edgars, der je in stillen Mitternächten den Mond angeseufzt, vermocht hätte. Oder wenn ihr mein Gesicht den Zustand meines Innern enthüllte, so schien es sie nicht sonderlich zu rühren – mit leisem Lächeln sah sie mich meinen Abschied nehmen.

Während ich bei hellklingenden Gläsern zum hervorragendsten jetztlebenden Sohn proclamirt wurde, focht ich einen schweren Kampf mit meinem Ich aus. Ich muss bekennen, dass ich dasselbe bisher gehätschelt und in jeder Weise bevorzugt hatte. Deshalb wehrte es sich nun auf das Heftigste gegen das erste Opfer, das von ihm gefordert wurde. Das Wesen zu verlieren, mit dem es sich in jeder Faser verwachsen glaubte, das es zum Mittelpunkt seiner Pläne und Luftschlösser gemacht, erschien ihm ganz einfach unmöglich. Zuletzt lag es jedoch besiegt auf der Erde.

Ich trat in das Stubenkammer'sche Wohnzimmer, ein spartanischer Held, der sich in unser Zeitalter hinübergerettet. Meine Mutter und die Hausfrau waren unzertrennliche Freundinnen; sie waren auch jetzt beisammen, wahrscheinlich beschäftigt, ein modernes Paradies aus decorirtem Tafelgeschirr, Silberbestecken, ungezählten Dutzenden von Bett- und Tischwäsche für ihre Sprösslinge aufzubauen. Helene sass am Fenster, ein wenig blässer als sonst, aber wunderhübsch wie immer. Sie warf mir einen prüfenden Blick zu, aber als sie meine entschlossene Miene sah, die etwas von dem Todesmuth der Legionen zeigte, wandte sie den Kopf ab.

Wie ein Sprenggeschoss fiel meine Mittheilung, dass ich in einer Woche eine lange, eine mehrjährige Reise, wie ich mit einem Blick auf Helene nachdrücklich hervorhob, antreten werde, in den friedlichen Familienkreis. Die beiden würdigen Damen starrten mich fassungslos an. Helene stand auf und näherte sich ihnen.

»Ihr seht, er will mich nicht,« sagte die kleine Teufelin lachend, »die Forschungsreise ist nur ein Vorwand.«

Mama, die es ist, und Mama, die es werden sollte, warfen mir wüthende Blicke zu; was mich betrifft, ich hätte nie gedacht, dass der kategorische Imperativ einen so wenig süssen Kern in sich birgt.

»Das ist nun mein Lohn dafür, dass ich 24 Monate und zwei Wochen lang wie eine Nonne gelebt,« fuhr Helene fort.

Ich bin nur ein Mensch und daher nicht ohne Galle: »Ein Nonnenleben, das durch Musik und süsse Musiker Abwechselung erhielt, muss nicht übermässig hart zu ertragen gewesen sein,« sagte ich boshaft.

Die beiden Mamas tauschten erschrockene Blicke, ich hörte die künftige etwas vom heissen Klima und dem Aequator murmeln.

Nachdem ich meinem Aerger Luft gemacht, schämte ich mich. In Edelmuth und Selbstlosigkeit hatte ich Helenen, die den Zorn ihrer Mutter zu fürchten schien, die Bahn ebnen gewollt, und nun liess ich mich so fortreissen. »Tante Stubenkammer,« sagte ich, »durch meine Entfernung soll ein etwas verwickelter Knoten gelöst werden. Helene liebt mich nicht; sie hat ihr Herz einem Anderen geschenkt. Dass ich tief unglücklich darüber bin und ein einsames trübseliges Leben vor mir sehe, kann ich nicht verhehlen. Aber die Rücksicht auf mich soll Helene nicht hindern, mit ihrem Edgar glücklich zu werden.«

Mama hatte längst ihr Taschentuch an die Augen gedrückt, aber Mama Stubenkammer war aus härterem Stoff gemacht.

»Helene, darf ich dich um eine Erklärung bitten!« sprach sie streng.

»Liebe Mama, für eine Frau von deinem feinen Verständniss bedarf es deren wohl kaum: Karl ist eifersüchtig und das – wie lächerlich! – auf meinen alten ehrlichen Klavierlehrer.«

Die Strenge der Mutter kehrte sich gegen mich.

»Karl, das ist beleidigend, der Mann hat Frau und Kind.«

»Und widmet meiner Braut seine ›Brennende Liebe‹.«

»Es sollte zuerst ein Marsch ›Vergissmeinnicht‹ sein, aber Karoline Holzwart capricirte sich auf ihn,« erläuterte meine Braut gleichmüthig, »und die Chrysanthemumpolka war mir zu fade. Herr Nothnagel arbeitet nämlich den Erfurter Blumenkatalog durch; die Titel für seine Kompositionen bereiteten ihm früher grosse Schwierigkeiten. Da verfiel ich auf diesen Ausweg, und zum Dank dafür widmete er mir eine schöne rothe Sorte Pelargonien; ich kann nichts dafür, dass die Gärtner sie ›Brennende Liebe‹ getauft haben.«

»Helene,« schrie ich und eilte glückselig auf meine Peinigerin zu. Ein Geräusch wie der Flügelschlag mächtiger Albatrosse machte uns stutzig. Aber es waren nur die Mamas, die – ihrer Meinung nach: geräuschlos – aus dem Zimmer huschten.

EIN UNGLÜCKSMENSCH.

Klaus Henning hatte die bestimmte Vorahnung, dass ein Unglück passiren würde; und er hatte sie nicht zum ersten Male. Er unterschied sich ausserdem von anderen, mit einer weissagenden Stimme in der Brust begnadeten Sterblichen dadurch, dass seine Ahnungen immer eintrafen. Das eine Mal, als er eine Prophetenstimme in seinem Inneren vernahm, ging er durch die Friedrichstrasse, stolperte gegen ein Schaufenster und musste, mit zerschnittenem Gesichte und verletzten Händen, Schadenersatz leisten. Das andere Mal wollte er mit einem allerliebsten Fräulein auf der Rousseauinsel Schlittschuh laufen und riss sie mit sich zu Boden. Bei dieser Gelegenheit fuhr ihm ein fremder Schlittschuh über die Finger, sie für mehrere Monate gebrauchsunfähig machend. Und da das neue Kleid seiner Dame etliche klaffende Risse bekam (was sie schwerer zu treffen schien, als seine Verwundung, die ihn anfänglich vier Finger zu kosten drohte), so wurde sie von diesem Zeitpunkte ab seine Todfeindin. Kurz, es war sehr leicht, seine abergläubische Angst zu verspotten, aber so oft sich das bewusste dunkle Gefühl in seinem Inneren regte (und das geschah fast jedesmal, bevor er sich unter die Menschen mischte), gab es Schaden für die Zeitgenossen und Spott für ihn.

Seine Hauswirthin sah ihn denn auch nur ungern den Reisekoffer packen.

»Wollen Sie wirklich fort, Herr Henning?« seufzte sie, »denken Sie an mich, Sie kommen nicht mit heiler Haut nach Hause.«

Er wusste, dass sie Recht habe, aber die Hitze war unerträglich, er schmachtete nach einem Wellenbade, und da ihm die Geschäftsstille Ferien vergönnte, wollte er einen kurzen Aufenthalt an der See nehmen. Jeder minder Erfahrene hätte sich eingebildet, die schwarzen Ahnungen seien erfüllt, als sein neuer Reiseanzug, gleich nachdem er das Haus verlassen, von oben bis unten mit Oelfarbe bespritzt wurde, die ein nachlässiger Anstreicher von seiner Leiter herabträufeln liess, oder als ihm der Eisenbahnzug davonfuhr und er nun mehrere Stunden zu warten hatte. Er aber kannte den Kobold besser, der sein Spiel mit ihm trieb, als dass er gehofft hätte, mit solchen Kleinigkeiten loszukommen. Auch als er unmittelbar nach der Abfahrt mächtige Rauchsäulen aus der Richtung, wo sein Farbenmagazin lag, aufsteigen sah, erfüllte ihn noch immer nicht die beruhigende Ueberzeugung, seinen Zoll entrichtet zu haben, denn bei näherer Ueberlegung erschien es ihm äusserst unwahrscheinlich, dass sein Geschäft abbrannte, während er nicht dabei war, um sich schwere Verletzungen zu holen. Aeusserst unwahrscheinlich, eigentlich nach seinen bisherigen Erfahrungen vollkommen undenkbar. Vom Augenblicke an, wo er die Thüre seines Waarenlagers hinter sich zuschloss, konnte die Versicherungsgesellschaft ruhig schlafen.

Er wollte sich in Sassnitz nicht unter die Badegäste mischen, konnte er doch sicher darauf rechnen, das erste Glas Rothwein, das er zum Munde zu führen gedachte, über das Kleid seiner Nachbarin, oder wenigstens über das Tischtuch auszugiessen, jeden Stuhl mit nervenerschütterndem Gepolter umzuwerfen, seinen Hut vor aller Augen in's Wasser fliegen zu sehen und was solcher kleiner Zwischenfälle mehr sind, die an und für sich sehr geringfügig erscheinen, ihn aber zum Gegenstande des allgemeinen Gelächters machen mussten.

Im vergangenen Spätherbste hatte er einige Tage in einem Gasthause ausserhalb des Curorts verlebt, dessen Wirthin im Sommer eine kleine Colonie von Städtern beherbergte. Damals waren die letzten Fremden, erschreckt durch ein paar rauhe stürmische Tage, geflohen, und so verknüpfte sich ihm mit dem Aufenthalte in dem bescheidenen Häuschen am Strande die Vorstellung von erquickender Ruhe und Geräuschlosigkeit. Auch schien der Kobold, der ihn verfolgte, an der Grenze von Fleming's Herrschaftsbezirk die Waffen zu strecken. Klaus ging mit den Haussöhnen fischen und brachte Beute heim, was ihm nie vorher widerfahren, er kreuzte in einer Nussschale von Segelboot die Küste entlang und sah es nicht einmal den Kiel nach oben wenden, er ruderte stundenlang in einem Nachen und brach kein Ruder. Nach diesem stillen Hafen der Glückseligkeit richtete er nun seine Schritte. Ach, das war nicht mehr das erträumte Paradies!

Auf dem Vorplatze, der, mit spärlichem Grün bedeckt, sich vor dem Hause hinzog, spielte eine Gesellschaft junger Leute Croquet, vom Wasser her erschallten laute Kinderstimmen, auf der Holzbank im Schatten des Hauses sassen behäbige Matronen. Henning hatte die Absicht, bei diesem Anblicke umzukehren und sich ungesehen davonzuschleichen, aber die Wirthin kam mit ausgestreckten Händen auf ihn zu und rief:

»Das Haus ist zwar gesteckt voll, aber für Sie schaffen wir doch noch Raum.«

Er wollte murmeln, dass er nur einen Tag bleiben und dann seinen Stab weiter zu setzen gedenke; da fiel sein Blick auf ein junges Mädchen, die soeben ihren Ball mit dem Hammer so unglücklich getroffen, dass er, statt durch den Draht, gegen seine Füsse fuhr. Purpurroth kam sie auf ihn zu und bat um Entschuldigung. Sie hatte ein Gesicht, wie es die Natur nur in besonders guter Laune zu bilden pflegt, die zartesten Farben, die treuherzigsten blauen Augen und das Haar, das sie, wohl nach einem Wellenbade, gelöst trug, von glänzendem Blond. Und dann behielt er seine Bemerkungen für sich, liess Frau Fleming für sein Obdach sorgen und schwang den Hammer, ohne zu besorgen, dass seine Bälle einem Mitmenschen das Lebenslicht ausblasen würden. Auch bei Tische vergass er alle seine Ahnungen, er zitterte nicht vor dem Bratensafte, er reichte Fräulein Mathilde eine Tasse Thee, ohne sie zu verbrühen, kurz, er benahm sich, als wäre er nie ein Unglücksmensch gewesen.

Freilich fing sein Elend noch am selben Abend wieder an. Die Hausfrau erzählte, um ihren Liebling vom vorigen Jahre her in das günstigste Licht zu setzen, dass er das Segelboot wie ein alter Matrose zu handhaben verstehe. Die Damen versicherten, nichts gewähre ihnen ein solches Vergnügen wie eine Bootfahrt, die Herren kündigten ihm ihre Begleitung für den nächsten Tag an, Mathilde, die ihn jeden Augenblick mehr entzückte, sagte nichts, aber sie richtete ihre schönen blauen Augen bittend auf ihn. Ihm brach der Angstschweiss aus allen Poren; war er ausersehen, der Mörder all' dieser braven Leute zu werden? Klaus war kein Salonmatrose, er hatte seine Knabenjahre in der Nähe von Bremerhaven verlebt und ein Boot zu regieren beinahe so früh wie das Abc erlernt. Auch ist das Segeln Alles eher denn eine Kunst – wenn das Fahrzeug etwas taugt, aber der Flemingsche Krondiamant besass etliche Flecken. Und was hilft alle Geschicklichkeit gegen die Tücke eines Koboldes! Der junge Mann ging nicht mit der Begeisterung, welche die Gesellschaft erwartet haben mochte, auf die vorgeschlagene Segelpartie ein. Vergeblich nannte man ihn von da an nicht anders als »Capitän«; er bestand darauf, dass, wer nicht schwimmen könne, auf dem Festlande bleiben müsse. Die Aengstlichen sahen hierin einen Beweis, dass er sich nicht sicher fühle und standen sogleich ab. Mathilde bekannte seufzend, sie könne seine Bedingung nicht erfüllen und müsse daher verzichten. Es wäre ihm das auserlesenste Vergnügen gewesen, sie über die Wellen zu fahren, aber er unterdrückte seinen Wunsch, indem er sich vorsagte, es sei gleichbedeutend mit kaltüberlegtem Morde, sie zu einer Wasserfahrt mit einem Unglücksmenschen zu bewegen.

Nur zwei Herren waren verwegen genug, sich seiner Führung anzuvertrauen. Es stellte ohne Zweifel eine Probefahrt vor. Klaus bestand sein Examen glänzend. Er fing zu hoffen an, der Tückebold habe auch diesmal vor Frau Fleming's Königreich Halt gemacht. Sein Selbstvertrauen wuchs; denn als man landete, waren seine zwei Prüfungscommissäre des Lobes voll für seine nautischen Künste. Da lud er Mathilde zu einer Segelfahrt für den nächsten Morgen ein. Ein ältlicher, gutmüthiger Herr, der erst vor einigen Stunden angekommen war, stand neben ihr; Mathilde machte ihn, ihren Papa, mit dem jungen Manne bekannt, und nun verlebte dieser mit den zwei liebenswürdigen Menschen einen Abend, der ihm unvergesslich bleiben wird. Am nächsten Tage vertrauten sich ausser Vater und Tochter noch einige der Sommergäste seiner Führung an. Auch diesmal verlief die Expedition prächtig. Auf dem Lande war es erstickend heiss gewesen, nun wehte es die Gesellschaft kühl und belebend an, und eine leichte Brise trug das Boot wie auf Schwingen über das Wasser. Alle versicherten, nie angenehmere Stunden verlebt zu haben, und, was ihm werthvoller erschien, Mathilde drückte ihm dankbar, mit vor Vergnügen leuchtenden Augen, die Hand. Da versuchte er die Götter und versprach ihr eine Wiederholung.

Es war ein glorreicher, glückverheissender Tag. Da man in Frau Fleming's Herrschergebiet eine einschnürende Etikette nicht kannte, ging das Pärlein allein an's Ufer. So gut wie Klaus es sich vorgestellt, sollte es ihm freilich nicht werden. Die Insassen des Hauses hielten zwar ihr Nachmittagsschläfchen, aber die liebenswürdigen Commissäre, die diesmal vermuthlich seine Geduld wie zuvor seine seemännischen Fähigkeiten prüfen wollten, kamen eilfertig herbei, um ihren Antheil am Vergnügen zu beanspruchen. Da sie ihn sozusagen entdeckt hatten, bewahrten sie ihm ein gewisses gönnerhaftes Wohlwollen, das er jedoch in jenem Augenblicke nicht voll zu schätzen verstand. Allein sie störten nicht, sie tauschten ihre Bemerkungen, machten sich beim Steuer unnütz oder starrten in's Wasser. Klaus konnte ungehindert mit seiner Herzensdame flüstern. Vielleicht hatte er sich zu tief in die blauen Augen versenkt, vielleicht hatten ihn die zwei Probefahrten übersicher gemacht, am wahrscheinlichsten jedoch ist, dass sein Kobold dessen überdrüssig war, unbeschäftigt im Winkel zu stehen, und dass er im Augenblicke, wo er den Unglücksmenschen am härtesten treffen konnte, hervorsprang.

Das Boot war nicht so leicht zu regieren, wie sonst, die Brise wehte scharf, mehr als einmal schlug das Wasser, Alle durchnässend, hinein. Und Klaus war zerstreut, er hatte Mathilde in ihren Gummimantel gewickelt, und als sie ihm zum Danke die Hand reichte, sie länger als vernünftig in der seinen behalten. Er hielt sie noch, als der Boden unter ihnen wich, die kalte, salzige Flut auf sie einströmte und das Bootkiel oben vor ihnen trieb. Ein plötzlicher Windstoss musste es getroffen und zum Kentern gebracht haben. Sie sanken, doch verliess den Unglücksmenschen die Besinnung nicht, er legte den linken Arm um Mathilde und brachte sie nach oben.

Sie war die Selbstbeherrschung in Person; sie klammerte sich nicht an ihn, seine Bewegungen hemmend, und so gelang es ihm nach einiger Anstrengung, den Kiel seines Bootes zu erreichen und einen Stützpunkt für sich und seinen schönen Schützling zu gewinnen. Die beiden Genossen sah er rüstig und unversehrt zur Küste schwimmen. Sie war nicht fern, aber bei der starken Strömung zum Meere wäre jeder Versuch, sie mit Mathilde im Arme zu erreichen, aussichtslos gewesen. Zahlreiche Boote kreuzten das Wasser, entweder nahm eines derselben sie auf, oder die beiden Geretteten lösten am Strande, der förmlich auf Rufweite vor ihnen lag, ein Ruderboot und kamen den Genossen zu Hilfe. Wenn Klaus nur bis dahin aushalten konnte, wenn nur sein Arm, der steif wie der eines Todten wurde, das junge Mädchen über dem Wasser erhielt! Blass und mit geschlossenen Augen lag sie an seiner Brust. Eine förmlich wahnsinnige Reue ergriff ihn. Wusste er nicht voraus, das Alles, was er anfasste, zu Schaden kam? Wie hatte er so verwegen, nein so verrucht sein können, dieses holde Geschöpf, das einzige Kind und das einzige Glück ihres Vaters mit sich in's Unglück zu reissen? Sein Selbstvorwurf machte sich in der wildesten Weise Luft.

So vergingen endlose Minuten. Das Boot trieb in's Meer hinaus, und in muthloser Verzweiflung gab Klaus seinen Schützling und sich verloren. Da hörte er lauten, ermunternden Zuruf, warme Hände streckten sich nach ihm und Mathilden aus, und im nächsten Augenblicke lagen die wasserdichten Planken einer Barke, die eine Gesellschaft Badegäste von der Stubbenkammer nach Sassnitz heimführte, zwischen ihnen und den heimtückischen Wellen. Das junge Mädchen war ohnmächtig geworden. Als sie, von den Damen, die im Boote waren, umringt, die Augen aufschlug, suchte sie ihren Begleiter mit den Augen; er las Zutrauen, ja Dankbarkeit – Dankbarkeit für ihn, der sie beinahe getödtet hätte! – in ihnen und konnte den Blick nicht ertragen.

Sie fanden Frau Fleming's Königreich in vollem Aufruhre. Die beiden Commissäre waren vor einer Weile angekommen, und wenn sie zu Mathildens Rettung keinen Finger gerührt, so zeigten sie sich jetzt dafür eifrig beflissen, ihren Vater in die peinigendste Unruhe zu stürzen. Als sie nun in Hüllen, die ihr die Damen in der Barke aufgedrängt hatten, den Strand betrat, richtete sich, wie begreiflich, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sie. Ihr Papa drückte sie stürmisch an sich, dann wollte jede der Hausgenossinnen sie mit einem Kusse begrüssen, zuletzt drängten sich händeschüttelnd die Herren heran, Niemand eifriger als die zwei Commissäre.

Klaus schlich sich unbeobachtet in sein Zimmer. Die Anderen hatten wohl geahnt, das er ein Unglücksmensch sei, denn sie hatten sich – so schien es ihm – ängstlich von ihm fern gehalten. Er wechselte seine nassen Kleider, packte das Köfferchen, und nachdem er die Adresse auf dasselbe befestigt und den Betrag, den er Frau Fleming schuldete, auf den Tisch gelegt, drückte er sich, sachte wie ein Spitzbube, aus dem Hause und fuhr in die Glühhitze zurück.

Seine Hauswirthin war sehr erstaunt, ihn ohne äussere Verletzung wiederzusehen. Wie tief es diesmal nach innen ging, ahnte sie nicht. Ein trübseliger Geselle ging er seinem Tagewerke nach, Abends sass er missmuthig unter den paar verstäubten, kläglichen Büschen des Hausgärtchens, ein Buch in der Hand, in dem er nicht las. Da schlug einmal ein Gruss an sein Ohr. Vor ihm stand ein ältlicher, behäbiger Herr mit gutmüthigem Gesicht. Klaus springt, wie von einer Feder emporgeschnellt, von der Bank auf, es war Mathildens Vater.

»Ausreisser!« ruft dieser ihm zu, »es soll Ihnen nicht gelingen, sich meinem Danke zu entziehen. Wenn Sie auch heimlich wie ein flüchtiges Reh entwischten, Ihr Reisekoffer verrieth mir, wo ich den Lebensretter meiner Tochter zu suchen habe.« Ihren Lebensretter! Dabei drückt er dem Sprachlosen die Hand, und seine ehrliche Stimme zittert in unterdrückter Bewegung. »Was wäre aus ihr, was wäre aus mir geworden, wenn Sie auch so selbstsüchtig wie die beiden Anderen, nur auf Rettung des eigenen Lebens bedacht, ans Land geschwommen wären? Ohne Sie wäre ich heute ein einsamer, gebrochener Mann! Es giebt noch Helden im bürgerlichen Leben!«

Klaus suchte abzuwehren. Er sprach von dem Unrecht, das er begangen, er, ein Unglücksmensch, als er Mathilden zur Segelfahrt einlud. Aber es kam nicht viel Zusammenhängendes über seine Lippen. Für etwas gepriesen zu werden, für das er den härtesten Tadel zu verdienen geglaubt, von Mathildens Vater in die Wolken emporgehoben, ein Held genannt zu werden, das betäubte ihn, als hätte er jungen Wein getrunken.

»Ich weiss, dass nur Ihr Zartgefühl Sie veranlasste, sich unserem Danke zu entziehen,« fuhr Herr Hilgendorf fort, »allein ganz recht war es nicht: Mathilde ist untröstlich, weil Sie verschwanden, ohne zu hören, wie tief sie sich Ihnen für Ihre Aufopferung verpflichtet fühlt. Und ich glaube beinahe, dass ich sie nicht eher zufrieden sehen werde, als bis ich ihren Lebensretter mit Güte oder Gewalt in mein Haus geführt, damit sie den versäumten Dank nachhole.« Aber es bedurfte keiner Gewalt. Klaus ging gutwillig mit Herrn Hilgendorf. Mathilde kam ihm mit strahlenden Augen entgegen. Es war spät Abend, als er, ein seliger Mensch, das gastliche Haus verliess, nicht ohne versprochen zu haben, bald, sehr bald, schon am nächsten Tage wiederzukommen. Und zuletzt glaubte er gar nicht mehr daran, dass er ein Unglücksmensch sei; nein, er hielt sich für ein richtiges Sonntagskind, denn in der Ecke hinter dem Flügel hat ihm Mathilde gestern auf seine Frage geantwortet, dass sie keinem Menschen auf der Welt so gut sei, wie ihm.

UNKRAUT AM WEGE.

Das Dorf lag in vollster Sonnengluth da. Bäume und Büsche am Wegrande liessen ihre welken, bestaubten Blätter hängen, die Hunde lagen vor den Häusern, die lechzenden Zungen hervorgestreckt, keuchend, aber zu träge, einen schattigen Winkel aufzusuchen; langsam, wie weltmüde Philosophen, zogen Enten und Gänse ihre Kreise auf dem grünlichen Tümpel. Sonst keine Spur von Leben auf der Dorfstrasse. Die Kinder schwitzten noch in der Schule, die Erwachsenen waren beim Heumachen. Nur ein halbwüchsiges Ding mit zerzausten Haaren, einem braungebrannten schmutzigen Gesicht, in welchem ein paar wilde schwarze Augen flackerten, einem Zigeunermädchen ähnlicher als dem Sprössling des ehrbaren Kreuzwirthes, schlich sich geräuschlos wie ein Marder rückwärts längs der Gärten hin, in welchen die Kirschbäume gerade voll saftiger Früchte standen. Manche waren so unvorsichtig, ihre Aeste über die Zäune oder sehr nahe an denselben hängen zu lassen. Auf die schwang sie sich mit der Flinkheit einer Katze und hielt ihren Schmaus, schonungslos ganze Zweige knickend, aus den schönsten Zwillingskirschen Ohrgehänge bildend, bis sie noch schönere erspähte und den bisherigen Schmuck in den Magen wandern liess. Sehr unparteiisch verfuhr sie bei ihren Beutezügen. Sie brandschatzte ebenso des Pfarrers Stolz, die seltenen spanischen Weichseln, wie des Schullehrers Amarellen, des Küsters schwarze und ihres Vaters, zum Verkaufe bestimmten, weissrothe Herzkirschen. Zuweilen schlug ein Hund an, dann machte sie sich schnell aus dem Staube, und da aus den alten Zäunen mancher Brettnagel hervorstand, wurden in ihren noch guten Rock zahlreiche Kreuz- und Querrisse gezogen. Dies verursachte ihr keinen Kummer. Die Stiefmutter daheim führte eine flinke rastlose Nadel, und nachdem Cenz etliche fruchtlose Rebellionsversuche der guten Frau niedergeschlagen, war es ihr vollständig gelungen, dieselbe nicht nur für die Gastwirthschaft, den Haushalt und ihre eigenen, noch sehr kleinen Kinder, sondern auch für die Drohne arbeiten zu lassen, die sie als etwas fragwürdiges Glücks- und Friedenspfand mit erheirathet hatte.

Im Hofe des Kreuzwirthshauses, unter einem schattigen Nussbaume, sass der Herr Pfarrer vor einem Krüglein Bier. Die rundliche, gutmüthig aussehende Wirthin stand neben ihm.

»Man hat halt sei' Kreuz mit denen Kindern«, beantwortete sie soeben eine Frage des alten Herrn, »besunders wann's net einmal die eig'nen san.«

»Die Crescenz hat doch sonst so gute Anlagen«, meinte kopfschüttelnd der Geistliche, »der Schullehrer war immer des Lobes voll über ihren Lerneifer; freilich sonst steckt sie voll Teufeleien, und jetzt verwildert sie mit jedem Tage mehr. Ich fürchte, Ihr werdet nicht viel Freude an ihr erleben.«

»Es is halt an recht's Unkräutl am Weg, Hochwürden«, seufzte die Wirthin, »nixnutz und schnappig (schnippisch); thun will's gar nix und is doch schon sei vierzehn Jahr alt. Auf d' Kleinen könnt's doch schon a bisl schauen, wenn i in der Kuchl z'schaffen hab. Aber na, alle Arbeit bleibt mir, und sie stravanzt den ganzen Tag im Dorf herum, zerrissen und schlampet, dass i mi schamen muss.«

»Ihr habt die Ruthe zu sehr gespart, gute Frau.«

Die Wirthin setzte sich ihm gegenüber auf die Bank.

»Wahr ist's, Hochwürden, aber mei Schuld ist's net. Damals wie mi' der Kreuzwirth in's Haus bracht hat als seine Zweite, da hab' i anfangen woll'n, s' Madel zu zieh'n, und da hat sie si gegen mi g'stellt wie a wilde Katz', hat gekratzt und gebissen, und i hab halt zugehauen, kommt mei Mann derzu, krebsroth in' Gesicht, »Du«, schreit er mi an, »Hand von der Butten, i will ka solche Stiefmutter- und Stiefkindg'schichten im Haus hab'n, du lasst's in Ruh, und sie lasst di in Ruh; und dass i kane Hetzerei hinüber und herüber hör'!« Na, und da hab' i's dann aufwachsen lassen, wie an Unkräutl', dass es an Fried'n im Haus gibt, und so ist's denn a an Unkräutl worden.«

Cenz war es mittlerweile müde geworden, die Bäume zu plündern und schlenderte längs des kleinen Baches unter den Weiden hin, für die Augen eines gewöhnlichen Menschenkindes keine sonderlich fesselnde Erscheinung. Aber Künstler besitzen zuweilen einen ganz absonderlichen Geschmack. Zwei Maleraugen verfolgten ihre flinken Bewegungen schon seit einer guten Weile, ohne dass sie den jungen Menschen mit dem breitkrämpigen Hute beachtet hätte, der im Schatten der Weiden vor seiner Staffelei sass und den wundervollen Ausblick auf den Schneeberg, der sich ihm von dem Plätzchen unter den Weiden bot, auf der Leinwand festzuhalten suchte. Maler waren keine seltenen Gäste im Dorfe, das sie als erste Haltestelle vor ihrem Aufstieg in's Gebirge zu benutzen pflegten, und dessen urwüchsige Bewohner manches Skizzenbüchlein füllten. Und so sah Cenz auch viel mehr geschmeichelt als befremdet darein, als der junge Künstler, der sich auf der Suche nach so ziemlich Allem, was dieser Titel rechtfertigt, nach Erfolg, einem Namen und einem passenden Vorwurf für sein erstes Ausstellungsbild befand, sie plötzlich anrief.

»Heh, kleiner Wildling, bleib' in derselben Stellung, in der du dich befindest, ich möchte dich in mein Buch hineinzeichnen.«

Sie wurde feuerroth und murmelte etwas von ihrem Sonntagsstaat, und dass sie in einer Viertelstunde zurück sein könne. Aber davon wollte er nichts wissen. Er fand ihren Schmutz und die Risse im Röckchen malerisch.

»Saubere Dirndln kann ich genug haben,« sagte er, »ich brauche gerade so eine Staubdistel, wie du bist. Was hast du denn vorhin angestellt? Steine nach Sperlingen geworfen; ich habe es wohl gesehen; das ist ein hübscher Zeitvertreib für ein Mädchen.«

Sie machte ihr trotzigstes Gesicht, und das wollte er haben; so passte es für die Skizze des jungen Wildlings.

»Die Spatzen fressen die Kirschen auf«, vertheidigte sie sich, ohne ihr Gewissen darüber zu beschweren, dass eine sehr grosse Schaar diebischer Vögel keinen solchen Ausfall in der Kirschenernte verursacht hätte, wie sie selber.

»Du hast Dich wohl um Deine schönen Ohrgehänge gefürchtet, wie? Behalte sie nur an, die kommen auch in mein Buch«, sprach Fritz Teubner, eifrig zeichnend.

In Crescenz hatte sich bisher sehr wenig Mädcheneitelkeit und Zierlichkeit geregt. Jetzt aber standen die Risse in dem Kleide, die beschmutzten, zerkratzten Hände, die blaugefärbten Lippen als wahre Schrecken vor ihr. In die grosse Stadt und auf die Leinwand kommt doch Edelfräulein und Bauernmädchen gern in vortheilhaftester Gestalt, und wie sah sie aus! Sie war mit ihrem Vater einmal in Wien und in der Kunstausstellung gewesen, sie hatte Bilder gesehen, auch Bauernbilder, aber wie schmuck und ordentlich erschienen die! Cenz schwur allerhand theuere Eide, dass kein Malerauge sie jemals wieder in solch' einem Aufzuge erblicken solle. Am wenigsten das des jungen Künstlers, das es ihr angethan hat. Er spricht mit ihr so lustig und so freundlich, als kenne er sie schon seit Jahren.

»Wie alt bist du eigentlich, Cenz?« fragte er, denn ihren Namen hat sie ihm schon gesagt.

»Vierzehn Jahre.«

Er macht grosse Augen; sie ist klein und schwächlich für ihr Alter. Aber was ihn befremdet, ist doch nur, dass bei der ihm wohlbekannten Ausnutzung der Menschenkraft beim Landvolk, dieses halbwüchsige Ding so ohne jede Beschäftigung herumstreift. Er hält sie für ein verwahrlostes Kind aus armseligem Hause, das merkt Crescenz wohl, denn sie ist nicht dumm. Als er nun auf seine Frage erfährt, dass sie das älteste Kind des reichen, ansehnlichen Kreuzwirths ist, schüttelt er den Kopf. Das Mädchen fügt wie beiläufig hinzu, dass sie eine Stiefmutter habe, und dies scheint ihm Alles zu erklären. In dem jungen Unkraut aber steigt siedendheisse Reue auf. Sie weiss, dass die arme brave Frau nicht aufhört, die Hände zu rühren, damit die Erscheinung ihrer Stieftochter ihr keine Schande mache. Auch sehen die jüngeren Geschwister meist schmuck genug aus, da, wenn Crescenz's Beispiel verführend auf sie wirkt, der Mutter Hand flink genug ist, sie auf den Pfad der Tugend zurückzuführen. Nur die Stieftochter, des Vaters Liebling, geht bei allen Missethaten straflos aus. Fritz ist fertig und lässt sie die Skizze sehen. Sie schreit auf. So also stellt sie sich den Mitlebenden – und auch dem jungen, hübschen Künstler – dar. Man könnte sie für eine Landstreicherin halten. Schier möchte sie weinen, aber sie schluckt die Thränen tapfer hinunter.

»Bleibst, bleiben S' noch länger im Dorf?«

Fritz schüttelt den Kopf.

»Morgen geht's weiter ins Steirische hinein; warum fragst du?«

Wieder kommt etwas Undeutliches von einem Sonntagsgewand über Cenz's Lippen.

Der Maler lacht:

»Kann sein, dass ich beim Abstieg noch einmal hier vorspreche, kann sein, erst auf's Jahr. Dann male ich dich in grossem Staat. Ich habe eine Ahnung, Cenz, dass du mir Glück bringen wirst.«

Er sah sich nicht getäuscht. »Unkraut am Wege,« das Bild der kleinen Landstreicherin, das er in Oel ausgeführt, wurde in die Ausstellung aufgenommen und trug ihm Lob, Geld und Aufträge ein. Cenz wartete derweil daheim, dass er wiederkommen und sein Versprechen erfüllen werde. Es war ihr eigentlich weniger um das Bild, als um eine Ehrenerklärung in seinen Augen zu thun. Da sie nicht wissen konnte, wann er sie überraschen werde, trug sie sich der Vorsicht halber so nett und sauber als möglich. Keine Streifzüge über Zäune nach verbotenem Obst, kein Herumklettern und Herumstreifen in der Sonnengluth mehr. Sie hatte ihm gesagt, dass sie dem Kreuzwirth gehöre, im Kreuzwirthshaus wird er sie suchen und finden. So hat es sich von selbst gemacht, dass sie sich mehr in der Nähe des Hauses hält und anfängt, ihrer Mutter in der Wirthschaft an die Hand zu gehen. Die schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als Cenz nach dem Abschied vom Maler heimkam, aber sie hat seitdem keine Veranlassung zu einer Wiederholung dieser Geberde des Entsetzens gefunden, es wäre denn, sie thäte es, um ihr Erstaunen über die Veränderung in dem Wesen ihres Stiefkinds auszudrücken. Der Sommer geht vorüber, aber Fritz Teubner nahm längst den Abstieg auf einer anderen Seite und sitzt in Wien eifrig über seinem Ausstellungsbild. Zuweilen erwachen in Cenz die Regungen der alten Ungeberdigkeit, aber nach etlichen leisen Ausbrüchen kämpft sie dieselben nieder. Der Winter ist lang und das Stillsitzen eine harte Aufgabe für Cenz, aber sie hilft der Mutter beim Nähen und Flicken, und Sonntags bedient sie flink die durstigen Bauern und die paar versprengten Städter, die selbst in Schnee und Frost der Leidenschaft, Berge zu besteigen, fröhnen. Endlich kommt der Sommer, und Cenz blickt voll Zuversicht vorwärts. Sie hat, wie manche lang im Wachsthum zurückgebliebene Pflanze, plötzlich in die Höhe zu schiessen angefangen, sie wird gross und hübsch, und alle die alten Kleider mit den unverwischbaren Spuren ihrer Kletterkünste müssen für die kleinen Schwestern übernäht werden. Sie selber geht in schmucken neuen Gewändern, und wäre nicht der eine und der andere der Gäste in der Ausstellung gewesen und hätte sie im goldenen Rahmen sammt der Aufschrift gesehen, ihr alter Spottnamen wäre ganz und gar in Vergessenheit gerathen. Aber wehe dem, der ihn in ihrer Hörweite brauchte, das Zünglein hatte keine Veränderung durchgemacht.

Auch dieser Sommer verging und noch ein Winter, ohne dass Fritz Teubner sein Wort wahr gemacht. Cenz war ein erwachsenes Mädchen geworden, und die jungen Burschen fingen an, sie mit sehr freundlichen Augen anzusehen. Ihr schnippisches Wesen und ihr hübsches Gesicht schien es besonders dem reichen Erben des Thalhofbauern angethan zu haben, er sass so oft und so lange als möglich im Kreuzwirthshaus, spielte mit Cenz' Vater Karten und machte sich der Wirthin angenehm; bei dem jungen Mädchen selbst machte er jedoch keine Fortschritte. Wieder waren die Kirschen reif geworden, und Cenz trug einen Korb voll aus dem Garten in's Haus, da sah sie unter dem Nussbaum einen jungen Menschen mit einem breitrandigen Hute sitzen und musste den Korb hinstellen, sonst wäre er ihren Händen entfallen.

»Grüss Gott, Herr Teubner,« sprach sie, jedoch mit ganz ruhiger Stimme. Er sah auf, zweifelnd, staunend, wie Einer, der seinen Augen misstraut.

»Ja, bist du das wirklich? Die kleine schwarze Cenz? Aber das ist unmöglich!«

»Ja, aus Kindern werden Leut',« lachte sie.

»Die Augen und die blitzenden Zähne sind es noch, aber sonst muss dich eine gute Fee umgetauscht haben.«

»War ich denn gar so an Schrecken?« fragte sie mit dörflicher Coquetterie.

»Für mich nicht, im Gegentheil, aber für die Sperlinge, die Obstbäume und für deine Mutter musst du so etwas gewesen sein. Für mich warst du alles Gute in Person; dass ich dir begegnet bin, muss ich ein wahres Glück nennen.«

Sie wurde hochroth. Zum Glück rief die Mutter aus dem Hause:

»Cenz, Cenz, wo steckt denn das Madel?«

Sie lief hinein. Im Verschlag neben der Mutter sass der Thalhofer Franz.

»Cenz, siehst du aber bildsauber aus,« sprach er.

»Das geht dich gar nix an«, sagte sie, füllte einen Krug mit Bier und eilte, ohne von ihrem Verehrer weiter Notiz zu nehmen, in den Hof hinaus.

»So; und wie ist's Ihnen denn alleweil ergangen, Herr Teubner?« fragte sie und setzte sich auf die Bank ihm gegenüber. Er konnte sich von seinem Erstaunen kaum erholen. So ruhig waren ihre Bewegungen geworden, so ohne jede bäurische Ungelenkigkeit, und doch wieder völlig des ehemaligen dreisten Wesens ermangelnd.

»Gut, sehr gut sogar«, sagte er, »ich erzählte dir schon, dass du mir Glück gebracht hast. Seit ich dein Bild gemalt, habe ich alle Hände voll zu thun gehabt.«

»Sie haben g'wiss viel schöne Damen g'malen?« fragte sie mit einer Regung der Eifersucht.

»Du meinst ja wohl Damen im Sonntagsputz?« versetzte er, sich der eiteln Regung der Kleinen erinnernd. »Da fällt mir ein, wann willst du mir denn in deinem besten Staat sitzen?«

»Auf der Stell', i kleid' mi nur um«, sprach sie und verschwand im Hause, klugerweise aber, ohne das Gastzimmer zu betreten; aus dem Flur führte die Treppe in ihr Zimmerchen. Die Fragen des Thalhofers wären unbequem gewesen. Nach einer Weile kam sie wieder, mit einer Näherei in der Hand.

»Blitz, siehst Du sauber aus!« rief Teubner, die Künstleraugen voll ehrlicher Bewunderung auf ihr verweilen lassend. »Ich bin sicher, die »Haiderose« wird ebenso viel Erfolg haben, wie – wie dein früheres Conterfei. Vielleicht verhilft sie mir zu all' den übrigen guten Dingen, die ich mir noch für's Leben wünsche. Dem »Unkraut am Wege« verdanke ich ein schönes Atelier, freundliche Kritiken und dass ich mit etlichen Münzen in der Tasche klimpern kann. Und wenn das Glück mir wohl will, dann«, er brach ab und blickte auf einen einfachen Ring an seinem Finger. »Was hast Du?« fragte er auf einmal aufsehend.

»I' hab mi g'stochen«, sagte sie mit völlig veränderter Stimme, die Nadel war ihr bei einer heftigen Bewegung in den Finger gefahren, ein Blutstropfen fiel herunter, sie seufzte tief auf. Fritz Teubner schüttelte den Kopf über das wehleidige Bauernmädchen, das ganz verstört über einen Nadelstich erschien. Da war die kleine zarte Nachbarin, deren Ring er am Finger trug, standhafter. Tagaus, tagein handhabt sie die Nadel bis zu einem gewissen glücklichen Tage, den Cenz's Bild näher rücken soll. Eifrig führt der Maler den Stift.

Der Thalhofer Franz tritt zu der Gruppe im Hofe.

»Madel, was hast?« fragt er erschrocken, »Du wirst doch net krank wer'n. Lass Dir rathen und geh in's Haus. Bei derer Hitz'n ist's net gut draussen sein.«

Merkwürdig wohl thut ihr seine Sorge, und dankbar sieht sie den ehrlichen hübschen Jungen an.

»Mir is nix«, sagte sie, »aber i denk', i lass, wenn's Ihnen recht is, das Sitzen auf ein ander Mal.« Fritz ist's zufrieden. Er hat denn auch im Lauf der Tage, während er im Dorfwirthshaus sein Quartier aufgeschlagen, das Bild vollendet. Mit Crescenz schloss er gute Freundschaft; sie hat die ganz ausführliche Geschichte von der kleinen hübschen Nachbarin, von dem Ring und wie und wann er ihn bekommen, aus seinem Munde gehört. Wie tief sie diese Geschichte ergriff, hat er nicht erfahren. Das Unkraut war übrigens ein tapferes Mädchen geworden und wusste seine aussichtslose und ein wenig lächerliche Neigung zu bekämpfen. Als ein Jahr nachher Fritz Teubner mit seiner jungen Frau in das Dorf zur Sommerfrische kam, ging es gerade hoch her im Kreuzwirthshaus. Das hübscheste Mädchen im Orte, Crescenz Hellgruber, feierte ihren Verspruch mit dem jungen Thalhofer. »Man soll si nix verreden«, sagte die Wirthin zum Pfarrer, »jetzt hab' i an dem Unkräutl doch mei Freud erlebt. So brav ist's worden, dass i mir wünsch, meine Madeln sollen ihr nachgerathen.«

HERBSTBLÄTTER.

Ich kann ihn nun selber tragen! bemühen Sie sich nicht weiter! Die alte Frau nahm dem Mädchen den kleinen, mit Koth und Blut beschmutzten Knaben ab und sich mit kurzem Kopfnicken, ja ohne ein Wort des Dankes verabschiedend, ging sie in ihr Haus hinein. Verblüfft blieb die Nachbarin, ein junges, nettgekleidetes Mädchen, mit einem zarten schüchternen Gesicht vor der Thüre stehen. Warum wurde sie so ohne alle Förmlichkeit entlassen? Das alte, zahnlose Mütterchen hatte es geduldet, dass sie ihr den schweren Jungen die ganze, ziemlich lange Strecke von der Pferdebahn bis zum Hause mehr trug als führte. Freilich hätte sie den Liebesdienst auch nicht abzulehnen vermocht, selbst wenn sie Lust dazu gehabt hätte. Der Schrecken war ihr in die alten Glieder gefahren, als das wilde Kerlchen, noch bevor sie das Zeichen zum Halten gegeben, vom Wagen sprang, hinfiel und sich das Gesicht aufschlug. Und als das junge Mädchen, das an derselben Strassenecke abstieg, den kleinen Unband, ohne ein Wort zu sprechen, auf den Arm nahm, war sie ihr wortlos gefolgt; aber die Blicke, die sie auf die junge Helferin heftete, zeugten von Allem eher als von Erkenntlichkeit und Wohlwollen, und der Abschied war entschieden unhöflich. Merkwürdigerweise hatte sich das Büblein ohne Widerrede von der Fremden tragen lassen, während es sich oft aus den Armen der alten Frau sträubend loswand, was das Mädchen vom Fenster aus beobachtet. So war es vermuthlich grossmütterliche Eifersucht, was die Greisin so ablehnend erscheinen liess. Eine andere Erklärung konnte Johanna Stirner dem sonderbaren Benehmen nicht geben.

Frau und Kind waren ihr nicht ganz fremd, obschon sie ihre Namen nicht wusste. Seit etwa vier Wochen hatte sie das einfenstrige Gassenzimmerchen dem Hause der Alten gegenüber gemiethet. Sie war eine Kleidermacherin, eine Waise, die sich seit dem Tode ihrer Eltern tapfer und ehrlich durch's Leben schlug. Erst hatte sie Stunden gegeben, aber das Schneidern wurde besser bezahlt. Ihre Arbeit ernährte sie und gestattete ihr den Genuss eines der feineren Vergnügen, an die sie in ihrem wohlhabenden Elternhaus gewöhnt gewesen, den Besuch eines Theaters oder Conzerts oder den eines befreundeten Hauses, das sich nicht von ihr zurückgezogen, als sie den Kampf um's Dasein selbständig aufnehmen musste. Ihre Beschäftigung zwang sie, nahe dem Fenster zu sitzen, und während die flinken Hände in das feine Zeug stachen, hatte ihr Geist Zeit zum Beobachten und Nachdenken.

Unwillkürlich formte sie sich die Lebensgeschichte zu den Gesichtern, die sie in den Fenstern oder auf der Strasse sah. Das alte Paar ihr gegenüber, das die wärmende Herbstsonne suchte und in ihrem Schein an je einem Fenster im ersten Stockwerk sass, musste schwere Verluste erlitten haben. Sicher war es das verbitternde Unglück, das ihnen die herben Linien in die Gesichter gezogen, wahrscheinlich der Verlust ihrer Lieben. Das junge Mädchen glaubte zuerst, sie ständen ganz allein, aber bald sah sie einen wilden kleinen Jungen, der nicht mehr als vier Jahre zählen mochte, in der Stube herumstürmen und das Oberste zu unterst kehren. Die Alten liessen ihm wohl zu viel eigenen Willen, denn es kam vor, dass sich der Wildfang auf das Fenstersims setzte und die kleinen Beinchen in die Strasse hinabbaumeln lies. Das sah lebensgefährlich aus, aber wenn es ihm die Grosseltern wehrten, so bemerkte man keine Wirkung davon. Sie sprachen auf ihn ein, und er blieb unbekümmert auf seiner Warte, bis ihm ein anderer Einfall durch das Gehirn schoss, er in die Stube zurückkletterte, um nach ein paar Minuten auf der Strasse unter den wilden, zerlumpten Rangen aufzutauchen. Sie waren älter als er, aber das hinderte ihn nicht, wie ein kleiner trotziger Kampfhahn auf sie einzudringen. Putzig genug sah er aus, wenn er mit seinen Fäusten auf die grossen Bengel loshämmerte, unbekümmert darum, wohin sie ihrerseits mit ihren Armen trafen. Wenn er hinab kam, war er sauber und trug gute Kleider, aber eine halbe Stunde unter seinen Widersachern sah ihn voll Staub und Schmutz und den Anzug in Fetzen.

Fräulein Johanna konnte sich nicht enthalten, dem prächtigen dunkeläugigen Burschen die zerzausten Locken zu streicheln, oder ihm einen Apfel, ein Stückchen Backwerk zuzustecken, wenn sie an ihm vorbeikam. Das arme Mädchen ahnte wenig, welchen Missdeutungen sie sich durch ihre harmlose Freundlichkeit aussetzte.

»Wieder Eine!« sagte die zahnlose Alte und winkte bedeutungsvoll zu ihrem würdigen Gemahl hinüber.

»Sie speculirt,« pflichtete er bei, »dem Kind schmeichelt sie und meint jemand Andern. Nun, wir sind auch noch da!«

Da Johanna Abends vom Fenster abrückte und zufällig die ersten Sonntage bei ihren Freundinnen eingeladen war, wusste sie gar nicht, dass die interessante Familie über der Strasse noch ein Mitglied zähle; um wie viel weniger konnte ihr einfallen, dass man ihr niedrige, eigennützige Pläne auf dasselbe beimesse. Sie wohnte schon eine geraume Zeit in ihrem Stübchen, bis sie einmal zufällig Abends an das Fenster trat und drüben einen noch jungen Mann mit einem sehr ernsthaften Gesicht bemerkte. Die leidenschaftliche Innigkeit, mit der er das Kind liebkoste, fiel ihr auf. Dann unterhielt sie der Kampf, der in der Regel mit aufgeweckten und nicht sonderlich lenksamen Kindern ausgefochten werden muss, der Kampf um das Zubettgehen. Das Kerlchen lief lachend und schreiend vor der Grossmutter davon, diese mochte bitten und drohen, das sah man an ihren Mienen, aber ohne einen Eindruck zu erzielen. Zuletzt machte der junge Mann der Komödie ein Ende, indem er das Kind in den Arm nahm und aus der Stube trug. Ohne sich zu sträuben, liess es der kleine Junge geschehen, ja er drückte vergnügt lachend sein Gesicht an das bärtige; – das war offenbar sein Papa, der Knabe nicht, wie sie vermuthet, doppelt verwaist. Dann hat sie auch den jungen Mann hie und da beobachtet; wenn er das Kind nicht bei sich hatte, wurde sein Gesicht trostlos, abgespannt, das eines Menschen, dem das Leben nicht leicht fällt. Dem war gewiss mit seiner Frau das beste Theil gestorben, und das Beisammensein mit den alten Leuten, die seine Eltern nicht sind, darauf möchte das Mädchen wetten, bietet ihm vermuthlich keinen vollwichtigen Ersatz für das, was er verloren. Allabendlich setzt er sich mit ihnen zum Kartenspiel nieder, aber aus der Entfernung kann sie sehen, dass diese Art Zeitvertreib von ihm als eine einmal übernommene und ohne Widerstand ausgeführte Pflicht statt als Vergnügen betrachtet wird. Bleierne Langweile, unzerstörbare Gleichgültigkeit haftet bei Gewinn wie Verlust in seinen Zügen, während es in den alten Gesichtern gierig oder enttäuscht aufzuckt und der volle Spieleifer aus ihren hastigen Bewegungen spricht. – Wenn sich das Paar endlich zu Ruhe begeben, dann wandert der Mann noch lange rastlos in dem Wohnzimmer herum; Johanna stellt sich vor, dass es einst das Glück seiner jungen Ehe umschlossen, und nun von all den Geistern todter Freuden für ihn bevölkert ist. Eine spuckhafte Gesellschaft! Kein Wunder, dass sich seine Stirn furcht und das Gesicht den Ausdruck müder Resignation trägt. Der Mann dauert sie; und sie weiss nicht einmal, wie sehr er zu bedauern ist.

Seit drei Jahren steht das alte Paar zwischen ihm und jeder erwachenden Regung von Lebenslust. Ihnen ist mit ihrem einzigen Kind Alles gestorben; sie könnten es nicht begreifen, wenn es bei dem jungen Mann anders wäre. Ein eifersüchtiger Liebhaber könnte nicht ängstlicher seine Herzensdame bewachen, als die beiden Greise ihren Schwiegersohn. Es ist eine böse Welt, voller Fallstricke. Ihr Alter und ihr Missgeschick hat sie argwöhnisch gemacht. Am Ende ist es doch nur Liebe, wenn auch eine verzerrte, missartete, die ihr sonst unverantwortliches Beginnen diktirt; sie können sich nicht darein finden, eine Andere die Stelle einnehmen zu sehen, die ihr einziges Kind ausgefüllt. Und sie zittern für Ivo, ihr Enkelkind, dem eine Fremde nicht die Zärtlichkeit entgegen trüge, die er bei ihnen findet. Wo könnte der kleine Schelm, der kaum ein Jahr zählte, als ihm die Mutter starb, besser aufgehoben sein, als bei den Grosseltern? Die alte Frau hat manche Nacht bei dem Kleinen durchwachen müssen, die Last und Plage, die solch ein junges Menschenkind verursacht, war für ihre Jahre nichts Geringes. Ivo's Vater wäre ein verhärteter Bösewicht, wenn er der grossen Opfer nicht dankbar gedächte und die kleinen Schrullen übersähe. Dass sie in jeder Frauengestalt, die in seinem Gesichtskreis auftauchte, eine gewissenlose Glücksjägerin witterten, dass sie und ihr Mann nicht müde werden konnten, ihn zu warnen und über die unlauteren Beweggründe für jedes freundliche Wort, an ihn gerichtet, für jede Liebkosung, die der schöne kleine Bursche empfing, aufzuklären, erschien ihm allerdings nicht gerade als ein Beweis von liebenswürdiger Gemüthsart, auch trug es nicht dazu bei, ihm das Zusammenleben mit ihnen besonders erfreulich zu gestalten. Aber um ihn handelte es sich nicht, ihn hielt sein Beruf den ganzen Tag vom Hause fern; wenn er sein Kind treu behütet wusste, so hatte er wohl alles erreicht, was ihm sein armes, verstörtes Leben noch zu bieten vermochte. Diese nimmermüde Sorgfalt, die keine andere Hand dem Knaben widmen würde, war ein Dogma. In der Obhut seiner Grosseltern konnte ihm nichts geschehen, es war unmöglich bei ihrer unausgesetzten Wachsamkeit! Und nun hatte sich der Junge blutig geschlagen, als er mit der Grossmama aus dem Park heimfuhr, und um ihr keinen Tropfen in diesem bittern Kelch zu ersparen, musste eine Fremde ihm zu Hilfe eilen, nein, keine Fremde, eine Harpye, die schon seit Wochen darauf lauerte, über den gedeckten Tisch herzufallen, die vermuthlich das einfenstrige Zimmer nur um ihrer versteckten Pläne willen gemiethet und mit geübter Hand Zug um Zug auf ihrem Schachbrett gethan. Schon sah die Alte ihren leichtgetäuschten Schwiegersohn in den Banden einer berechnenden Frau, Ivo bei Seite geschoben und rauh angefahren, da griff sie denn nach dem ersten Ausweg, der sich ihr offenbarte, sie hiess den Jungen über den Vorfall schweigen. Papa würde sehr böse werden, wenn er erführe, dass Ivo vom Wagen abgesprungen, bevor dieser hielt, schärfte sie ihm ein und blickte höhnisch zu der Nachbarin hinüber, die nun wieder emsig arbeitend beim Fenster sass, um sich durch ihren Fleiss »ein gutes Bild einzulegen.« Für diesmal war ihr das Spiel verdorben. Die Alte hätte kein schlechteres Mittel ergreifen können; und wäre nicht schon eine so lange Zeit verstrichen, seit sie ihr eigenes Kind erzog, sie wäre sicher nicht darauf verfallen. Ivo war, wie die meisten lebhaften, aufgeweckten Kinder kein Grübler; er hätte bis zum Abend den Hautriss sammt dem Pflaster darüber, das zarte Mädchengesicht, das sich über ihn gebeugt, das mitleidige »Hast Du Schmerzen, Du armer Schelm?« vollkommen vergessen, wenn das Verbot nicht gewesen wäre. Das erhielt den ganzen Vorfall frisch in seinem Gedächtniss, und verlieh ihm eine tiefe Bedeutung. Und als Papa am Abend gleich beim Kommen, das Pflaster auf der Stirn bemerkend, auf seine Frage von Grossmama die Antwort erhielt, Ivo habe sich an der Tischkante gestossen, wurden die Augen des Kindes sehr gross. Grossmama hatte gelogen, ein guter Theil ihrer Autorität war für immer dahin. Hartnäckiger als sonst wehrte sich der Kleine gegen sie, als sie ihn zu Bett bringen wollte. Aber hartnäckiger als sonst, bestand sie heute auf ihrem Willen; es war nicht rathsam, Vater und Kind an diesem Abend sich selber zu überlassen. Aber als sie Ivo trotz seines Sträubens ergriff, schrie er: »Lass mich, oder ich sage dem Papa, dass ich vom Wagen gefallen bin!«

Ihr fielen die Hände vor Schreck in den Schooss, und ohne Widerstand duldete sie es, dass der Teufelsjunge sich von Papa emporheben und aus dem Zimmer tragen liess. Erst nach einer Weile folgte sie ihnen, um ihrem Schwiegersohn beim Auskleiden des kleinen Prinzen zu helfen, aber der lag schon im Bett, mit beiden Händchen um den Hals des Vaters, der seinen Kopf auf das Kissen neben den des Kindes gelegt; es war wie gewöhnlich; kein Anzeichen, dass der Range geplaudert und alle Mühe umsonst gewesen. Beruhigt zog sie sich zurück. Sie ahnte nicht, was ihr der nächste Morgen bringen würde.

Es war ein Sonntag, ein schöner, milder Frühlingstag. Grossmama sah kein Arges darin, dass ihr Schwiegersohn bat, dem Kinde sein bestes Kleid anzulegen. Vermuthlich führte er ihn, wie er es fast jeden Sonntag that, in den Park spazieren. – Als der junge Mann und das Kind der Thüre zuschritten, wandte sich der Erstere nochmals um: »Ich hoffe, Grossmama, wir werden zur rechten Zeit zurück sein, doch sollten wir uns, wider Erwarten, verspäten, dann nehmt das Essen ohne uns ein. Ich beabsichtige, mit Ivo einen Besuch zu machen.«

Einen Besuch? Seit dem Tode, nein schon seit der Erkrankung seiner Frau hatte er nicht daran gedacht, ein fremdes Haus zu betreten, fing er auf einmal an, der Aussenwelt Interesse abzugewinnen? Der Alten erschien dies wie eine Beeinträchtigung ihrer todten Tochter.

»Wohin willst Du mit Ivo gehen?« fragte sie und wischte dem Kinde über das ohnehin blanke Gesichtchen; sie hatte kein Recht zu der Frage, aber ihre Wissbegier trug manchmal den Sieg über ihre Klugheit davon.

»Selbstverständlich zu dem jungen Mädchen, das meinem Kinde Beistand geleistet. Es war nicht recht, Grossmama, dass Du mir den Vorfall verheimlicht. Die junge Dame müsste uns für Leute ohne Lebensart und Erziehung halten, wenn wir ihr nicht einmal unseren Dank dafür aussprächen, dass sie den schweren Jungen bis zum Hause trug.«

Nun lag ihm schon an der Meinung einer wildfremden Näherin. Grossmama war wüthend.

»Ich hatte es vergessen,« sagte sie, mühselig eine gleichgültige Miene behauptend, »gedankt habe ich ihr für die kleine Mühe übrigens schon gestern. Sie wird wohl wissen, weshalb sie sich sie nahm. Wäre mein armes Kind noch am Leben, dann hätte die drüben gewiss keine Hand nach Ivo ausgestreckt.«

»Ja,« schnarrte Grosspapa von seinem Sitz am Fenster dazwischen, »sich selbst sein Brod verdienen, das ist ein unangenehmes Geschäft für eine junge Dame, viel besser, man setzt sich in ein wohleingerichtetes Haus hinein, selbst wenn man so ein lästiges Anhängsel,« er wies auf Ivo, »mit in Kauf nehmen muss.«

»Da stösst man dann in alle Ecken«, wehklagte seine Gemahlin, »ich habe es nicht einmal, nein Dutzendmal mit angesehen. Wenn ein Kind den Vater verliert, so ist es traurig, aber mit der Mutter büsst es alles, alles ein.« Beschwörend streckte sie die Hände nach ihrem wie auf Kohlen stehenden Schwiegersohn aus.

»Franz, wenn Du dem Knaben eine Stiefmutter giebst, sieh' nicht auf Jugend und Schönheit, sieh' nur, ob sie ein Herz zu dem Kind fassen kann!«

»Ich weiss nicht, was Dir einfällt, Grossmama,« sagte der junge Mann unwirsch, »ich denke nicht daran, mich wieder zu verheirathen. Mein Sohn ist bei Euch gut aufgehoben, und ich kann doch nie wieder so glücklich werden, wie ich es mit Marie gewesen.«

Das war eine Beruhigung für die Alten, aber Franz ging ärgerlich, aus seiner gewöhnlichen Gelassenheit aufgerüttelt, davon. Die Beschwörungen und Prophezeihungen wickelten ihn in einen grauen dicken Nebel ein, durch welchen er die Welt in ziemlich trübseligem Licht erblickte. Zuletzt that es ihm leid, dass er so bestimmt seine Absicht angekündigt, der Nachbarin in Person zu danken. Was sollte ihm der Verkehr mit einer Fremden? Er war durch sein Unglück an Einsamkeit gewöhnt, fühlte sich am wohlsten allein oder in der Gesellschaft seines Kindes. Die Alten hatten nicht Unrecht, er that am besten, wenn er sein leckes Lebensschifflein abseits von den anderen Seefahrern lenkte, die unter vollem Segel hinglitten und vom Leben noch Glück und erfüllte Verheissungen erwarteten. Vielleicht hatten sie auch recht mit ihren Warnungen; sie kennen die Nachbarin seit längerer Zeit, haben sie beobachtet, während er sie noch kaum bemerkte.

Ivo hat heute nicht viel Vergnügen von seinem vor sich hingrübelnden Papa. Aber er verlangt von dem traurigen Mann nicht, dass er sich so unausgesetzt mit ihm beschäftige, wie es die Grosseltern thun, die ihn mit ihren Lehren und ihrer Beaufsichtigung gar oft langweilen. Er ist schon zufrieden, wenn er mit seinem Papa sein, neben ihm hergehen kann, vergebens bemüht, seine Schritte den weitausgreifenden anzupassen. Im Park setzt sich Franz auf eine Bank, der Kleine befriedigt an seine Seite. Nach einer Weile wird er des Stillsitzens überdrüssig und beginnt, die schönen gelbfarbigen und purpurrothen Blätter aufzulesen, die der Herbst auf den Rasen verstreut. Ein ganz unterhaltendes Geschäft, und wenn man die minder schönen immer wieder gegen besser gefärbte vertauschte, mag es auch für eine geraume Zeit vorhalten.

Der Vater trifft Anstalten, sich von seinem Sitz zu erheben und blickt nach dem Knaben aus. Beide Hände voll mit seiner prächtigen Beute eilt er auf ihn zu. Franz ist soeben zu dem Entschluss gekommen, es sei am besten, nach Hause zu gehen und der Fremden einige Zeilen des Dankes zu schreiben, denn er ist des Verkehrs mit Frauen vollkommen entwöhnt, und die Worte der Alten haben, ohne dass er es sich gestehen mag, ihren Einfluss auf ihn nicht verfehlt. Da sagt Ivo:

»Die rothen und gelben Blumen bringe ich alle dem schönen, grossen Mädchen, das mich nach Hause getragen hat. Die wird sich freuen!«

Es war feuchtkalt in den Zimmern. Die Sonne schien plötzlich ihre ganze Macht eingebüsst zu haben. Grossmama sass, in einen dicken Shawl gewickelt, am Fenster und blickte ingrimmig zu der Nachbarin hinüber. Was sie sah, war aber auch wirklich geeignet, ihrem Verdacht Nahrung zu geben, und ihr am Nebenfenster gleich einer grossen grauen Spinne lauernder Gemahl, ein heimtückischer Greis, der sich freute, für seine geringe Meinung von der Menschheit im Allgemeinen an besondern Fällen eine Bekräftigung zu finden, verstand es trefflich, durch gelegentliche boshafte Bemerkungen, wie »wenn sie das Kind mit ihrer Zärtlichkeit nur nicht erdrückt!« oder »Franz scheint sich gar nicht von drüben trennen zu können,« das Feuer zu schüren. Franz war ein ungelenker, steifer Geselle, seit er sich in seinem Umgang auf die zwei alten Leute beschränkte. Er hatte sich auf den Sessel gesetzt, den ihm die Nachbarin angeboten, und nachdem er, unbeholfen genug, seinen Dank für die geleistete Hülfe ausgesprochen, versank er in ein bedrückendes Stillschweigen. Das junge Mädchen war zu schüchtern, um es zu unterbrechen. Im Hause ihrer Eltern, mit dem Rückhalt, den ihr deren gesicherte Lebensstellung gewährt, war sie heiter, lebhaft und gewandt gewesen; seit sie sich allein durch's Leben schlagen und und von hochmüthigen Kunden manche Demüthigung hinnehmen musste, war sie gedrückt, zurückhaltend, und nur wenn sie freundlichem Entgegenkommen begegnete, schaute sie auf, und ihre ehemalige liebenswürdige Gesprächigkeit trat zu Tage. Beide hatten im ersten Augenblick nicht den günstigsten Eindruck von einander empfangen; Johanna hielt ihren Gast für hochmüthig, – (das arme Kind war seit den trüben Erfahrungen, die sie gemacht, nur zu geneigt, diese Eigenschaft bei ihren lieben Nächsten vorauszusetzen) – er dachte, sie wäre eine hübsche geist- und leblose Kaminfigur und blickte sehnsüchtig nach der Thür, im Stillen die Augenblicke zählend, bis er sich ohne Verstoss gegen die Schicklichkeit wieder empfehlen konnte. Nur Ivo fühlte sich wie zu Hause. Ihn würde der Glanz und die Hoheit eines Königshofes vermuthlich auch nicht im Geringsten eingeschüchtert haben. Uebrigens kam er nicht mit leeren Händen, das musste ihm jedenfalls einen freundlichen Empfang sichern.

»Da«, sagte er mit grosser Wichtigkeit, die gelben und rothen Blätter, die er auf dem Wege durch krampfhaftes Festhalten um ihre natürliche Form gebracht, Johannaen darreichend, »das alles gehört Dir. Freust Du Dich?«

Es war wie eine Erlösung, die frische, helle, sorglose Kinderstimme in das drückende Schweigen hineinklingen zu hören. Kein Wunder, dass Johanna den kleinen Jungen umfasste, herzlich abküsste und auf den Schooss nahm. Weggewischt war alle Verlegenheit und Zurückhaltung, das junge bildschöne Kind, das sich so eng an sie schmiegte, dessen warmen Athem sie an ihrer Wange spürte, wusste nichts von Ueberhebung, wollte nicht verletzen. Mochte der steife Patron auf dem Sessel drüben mit sich zurechtkommen, wie er wollte, sie hatte ihren Zeitvertreib. Und nun kam sie ins Plaudern. Jedes Wort verrieth das Mädchen von Bildung und Verstand, das sich in gemüthvoller Herzlichkeit zu dem Fassungsvermögen des kleinen Burschen herablässt. Ihr silbernes Fingerhütchen, das sie selbst heute nicht abgelegt, da sie trotz des Sonntags ein Kleid anzufertigen hatte, wurde nun ein undurchdringlicher Panzer, die spitzen Nadeln, Lanzen und Spiesse, jeder Finger ein wackerer Ritter. Welch ein Turnier entwickelte sich zu Gunsten Ivo's, der vor Spannung und Entzücken den Athem anhielt. Mit grossen Augen sah Franz die Umwandlung, die mit dem Mädchen vorgegangen, seit sie das Kind auf dem Schooss hielt. Von dem kleinen Medium konnte er ja auch Nutzen ziehen. Und nun entwickelte sich das anmuthige Spiel, das die Grossmama und ihren würdigen Gemahl mit so berechtigtem Unmuth erfüllte. Sobald Ivo von Johanna's Schooss herabgeklettert und irgend eine fabelhafte Herrlichkeit auf dem Kamin des Parlors, der Johanna's Hauswirthen gehörte, zu bewundern, hielt sein Papa ihn an und begann ihm die Haare zurecht zu streichen, einmal in die Stirn und dann zur Abwechslung aus der Stirn. Dabei sprach er durch ihn zu der Nachbarin.

»Du darfst das Fräulein nicht so belästigen, Ivo.« Natürlich versicherte sie, er mache ihr keine Mühe. Dann erklärte ihm sein Papa auf das Nachdrücklichste, sie sei zu gütig gegen ihn, und er verdiene so viel Nachsicht und Freundlichkeit nicht. Darauf zog sie ihn wieder zu sich, um den eiteln kleinen Burschen, der vor Freude hochroth im Gesicht wurde, ein dunkelblaues Band, das ihr von der Näherei übrig geblieben, als Cravatte um den Hals zu knüpfen. Das erinnerte ihn an die Zeit, da Ivo's Mutter kein grösseres Vergnügen gekannt, als das winzige Kind mit Schleifen und Bändern herauszuputzen. Das eine seiner Händchen haltend, sprach er von jenen schönen Tagen, sie fasste das andere und war ganz Mitleid für das Kind. Ivo hielt prachtvoll still in seiner Blitzableiterrolle, die den Beiden über ihre Verlegenheit hinweghalf. Er liess sich von Johanna die Bilder in der »Gartenlaube« erklären und zeigte dann jedes dem Vater hinüber, eine sehr drollige Erläuterung in seiner Manier dazugebend. Und unvermerkt verstrich die Zeit. Hüben und drüben gab es mit jedem Viertelstündchen mürrischere Gesichter. Ivo's Grosseltern warteten, trotzdem ihre Essensstunde bereits vorüber war, mit der Sonntagstafel; dasselbe thaten Johanna's Hauswirthe. Aber beide erschöpften sich dabei nicht gerade in Segenswünschen für die Schuldtragenden.

Endlich als die Hausfrau ihr ältestes Töchterchen mit der Botschaft hereinschickte, die Familie könne nicht länger warten, erhob sich Franz, erstaunt und erschrocken über die ungebührliche Länge seines ersten Besuchs; aber das junge Mädchen war nun in die Freuden und Leiden seines Lebens eingeweiht, sie wusste von seinem kurzen Glück und der langen trostlosen Zeit, die demselben gefolgt. Auch sie hatte mit ihren Mittheilungen nicht gegeizt. Beiden war es ein seltener Genuss, einmal zu einem wirklich theilnehmenden Ohr von dem eigenen Schicksal zu sprechen, und er kannte nun ihr Elternhaus, ihre friedliche sorglose Kindheit und die harten Schläge, die sie betroffen, als wäre er ein alter Freund. Sprechen wir nicht von der Sonntagstafel. Hüben wie drüben hätte sie den Beiden eigentlich durch die missmuthigen Gesichter am Tisch vergällt werden müssen, aber sie bemerkten nichts davon. Beide waren in Gedanken noch immer bei dem angenehmen Stündchen, Beiden schien's, als sei ihnen etwas von ihrem alten Leben zurückgekehrt. Ivo vollends war unausstehlich. Wäre dies dem verwöhnten Enkelchen gegenüber nicht gar so unmöglich gewesen, die Grosseltern hätten ihm vermuthlich mehr als einmal barsch Schweigen geboten. Er wurde nicht müde, von der Tante zu sprechen; alles, was er drüben gesehen, war viel schöner als daheim, Grossmutter besass nur einen gewöhnlichen Fingerhut und nichts anderes, ihr Kuchen hielt keinen Vergleich mit dem aus, den ihm Johanna gegeben, und eine solche Cravatte wie die, welche sie ihm umgebunden, fand sich im ganzen Hause nicht vor.

Auch fiel seine Begeisterung nicht so schnell in todte Asche zusammen, wie es sonst bei Kindern der Fall ist. Sobald ihn die Grossmama des Morgens angekleidet, wand er sich geschmeidig wie ein Aal aus ihren Händen, polterte die Treppe hinab und winkte ihr nach einigen Augenblicken, ahnungslos über ihren Verdruss vom Fenster gegenüber lachend zu. Selbst die betrübende Thatsache, dass er bei der neuen Tante artiger sein musste, als daheim, dass die enge Stube mit dem angehäuften Nähgeräth seinem Umhertollen nur ein sehr begrenztes Gebiet gestattete, dass er die Nähereien nicht verwirren und mit der Scheere dem Aufputz und den Stoffen nicht nahe kommen durfte, wirkte nicht abkühlend auf seinen Enthusiasmus. Der rauhe Wind mochte ihm den Aufenthalt auf der Strasse verleiden, und ehe er sich bei den Grosseltern langweilte, die in der That in ihrer mürrischen Verbitterung nichts mit dem quecksilbernen Jungen anzufangen wussten, trug er, mit so viel Geduld, als er aufzutreiben vermochte, die ungewohnten Zügel. Es wurde ihm nicht allzu schwer gemacht. Während Johanna flink die Finger rührte, bevölkerte sie für ihn das enge Stübchen mit all den trauten Gestalten des deutschen Märchen- und Sagenschatzes; er lauschte ihr in athemloser Spannung und verfiel nur selten auf eine seiner kleinen Teufeleien. War es jedoch einmal der Fall und sprach ihm Johanna ernst und eindringlich in's Gewissen, dann senkte er bussfertig den Lockenkopf und versprach volle Besserung. Selbst daheim hätten die Grosseltern eine gewisse Milderung seiner wilden Sitten bemerken müssen, wenn sie dazu geneigt gewesen wären. Aber wenn Johanna sich mit dem Kinde Mühe nahm, so legte sie nur Fallstricke, um dessen verblendeten Vater zu fangen. Grossmama nahm sich kein Blättchen vor den Mund, sie hielt mit ihrer Meinung über die Sirene nicht zurück; freilich erzielte sie mit ihren Anklagen ein gar sonderbares Resultat. Immer häufiger richteten sich Franzens Blicke auf das Fenster gegenüber, immer heller wurde seine Miene, immer mehr verschwand der Trübsinn aus seinem Blick. Sonst hatte ihm nichts solchen Verdruss erregt, als wenn er Abends beim Nachhausekommen den Knaben nicht vorfand; jetzt schien es ihm ein besonderes Vergnügen zu machen, ihn von drüben abzuholen und dabei eine Viertelstunde mit der Nachbarin zu verplaudern. Grossmama ging den ganzen Tag wie ein drohendes Gewitter herum, und ihr Gemahl glich mehr als je einer grossen grauen Spinne, die auf eine unschuldige Fliege lauert. Zuletzt lief sie ihnen ahnungslos in's Garn. Ivo hatte sich erkältet und musste das Bett hüten. Mit der Hartnäckigkeit eines kranken Kindes verlangte er seine Tante Johanna. Grossmama schleppte ihm Spielzeug und Näschereien in's Bett, aber nichts vermochte seine Gedanken abzulenken. Papa war früher als sonst aus seinem Geschäft gekommen und hörte noch vor der Zimmerthür das Kind nach der Tante verlangen.

»Warum habt Ihr sie nicht gebeten, herüberzukommen?« fragte er arglos, »Fräulein Stirner ist die Gefälligkeit selbst und Ivo ihr besonderer Liebling. Sie wäre ohne Bedenken an sein Bettchen geeilt.«

»Das glaube ich,« versetzte Grosspapa, »an Bedenken scheint die junge Dame überhaupt nicht zu kränken.«

Und »Ivo ihr Liebling,« rief höhnisch seine bessere Hälfte, »solche berechnende Geschöpfe haben für Niemand eine Neigung als für sich selbst.«

Dem jungen Mann schwoll die Zornader auf der Stirn, aber er hielt an sich.

»Möchtet Ihr nicht, wenn schon nicht aus Rücksicht für mich, so doch Euer graues Haar bedenkend, etwas weniger gehässig von einem Wesen sprechen, das unserem Kinde bisher nichts als die selbstloseste Freundlichkeit erwiesen? Nein, spottet nicht,« – kam er, als sie sprechen wollten, ihnen zuvor, »Ihr werdet mich sonst dadurch zu einen Schritt veranlassen, vor dem Ihr mich bewahren wollt!«

So hatte er noch nie gesprochen. Wenn sie ihn auch verdächtigten, er habe ihre todte Marie bereits vergessen, so hatte er bisher doch jeden Gedanken, ihr eine Nachfolgerin zu geben, kurz von der Hand gewiesen, bestürzt zogen sich die Verschworenen in die Wohnstube zurück, den Vater bei dem Kinde lassend. Er hätte, wenn er horchen gewollt, sie murren und grollen und Pläne schmieden hören können, aber jedenfalls flösste ihm Ivo's Geplauder, in welchem das junge, blasse Mädchen von drüben beständig wiederkehrte, theils wegen des Gegenstandes, theils wegen des Sprechers mehr Interesse ein. Am nächsten Morgen hielt er das widerspenstige Kind durch das Versprechen, heute werde die Tante gewiss kommen und sich freuen, ihn so folgsam zu sehen, im Bettchen fest. Bevor er das Haus verliess, theilte er den Alten mit, er wolle die Nachbarin herüberbitten. »Ich brauche Euch wohl nicht zu erinnern, dass ich meines Sohnes beste Freundin in meinem Hause mit aller Rücksicht behandelt sehen will,« sagte er beim Abschied. Die Grossmama nickte mit dem Kopf, aber nicht wie zur Bestätigung seiner Rede, sondern zu einer, die sie sich selber hielt. In gemeinverständliches Deutsch übersetzt, mochte es bedeuten: »O warte nur, Du sollst sehen, wie ich mich vor Deinen lächerlichen Drohungen fürchte!« Und Grosspapa goss nach seiner lieblichen Gewohnheit Oel in's Feuer. »Geh doch in die Küche, Kuchen backen für den seltenen Gast! Und vergiss die guten Tassen nicht, die Marie zur Hochzeit bekam. Unsere glatten, weissen sind nicht vornehm genug für die Nähmamsell!«

Sie sahen noch, wie Franz über die Strasse ging, drüben die Klingel zog und in das Haus trat. Grossmama hatte Furcht, er werde das Geschäft versäumen, aber so verhängnissvoll war der Einfluss von »der drüben« doch noch nicht geworden; nach ein paar Minuten trat er wieder auf die Strasse hinaus, allerdings mehr aus dem Grunde, weil er das junge Mädchen vor ganzen Bergen von Arbeit überrascht, als weil ihn sein geschäftliches Gewissen aus ihrer Nähe vertrieben. Sie wollte die erste freie Minute benutzen, um nach dem kranken Ivo zu sehen. Sie hatte so besorgt nach ihm gefragt und wirklich erleichtert aufgeathmet, als sie erfuhr, seine Krankheit sei unbedenklich; ob wohl Grossmama auch darin Zeichen von Berechnung zu entdecken vermöchte, fragte sich der junge Mann lächelnd.

Mit einem Freudengeschrei, das ihm gleich darauf einen tüchtigen Hustenanfall zuzog, begrüsste der Knabe seinen Gast. Bei seinem Entzücken übersah sie zuerst den kühlen Empfang, den ihr die beiden Alten zukommen liessen. Auch als sie sich über das geringe Vergnügen, das ihr Kommen in ihnen erregte, nicht länger täuschen konnte, war sie billig genug, einzusehen, dass Ivo, der um ihretwillen die Grosseltern in der letzten Zeit ziemlich vernachlässigt, ein wenig Eifersucht begreiflich machte. Unbehaglich wurde ihr nur zu Muthe, als wirklich die bemalten Tassen zum Vorschein kamen und die beiden Alten sich mit säuerlichen Gesichtern zu dem an Ivo's Bett gerückten Tisch niedersetzten. O, es entstanden keine solchen Pausen, wie bei dem ersten Besuch, den Franz ihr gemacht! Grossmama sprach unaufhörlich auf den Gast ein, und wenn sie, um Athem zu schöpfen, innehielt, dann fiel der alte Mann mit seiner krächzenden Stimme ein und machte irgend eine Bemerkung, die sich wie mit Widerhaken in Johannas Seele verfing. Ein ausgezeichnetes, ein exemplarisches Paar! Wovon konnte sie die Fremde unterhalten, wenn nicht von ihrer todten Tochter, die solch ein Musterbild aller Tugenden gewesen: »ganz anders als die Mädchen, die man jetzt sieht, und die nur für den Putz und das Geldhinauswerfen geschaffen sind«, schnarrte der Alte mit einem Blick auf Johannas neumodischen, in Feierabendstunden mühselig zusammengeschneiderten Anzug dazwischen, dann wieder Grossmama: »Was war Marie für eine Hausfrau, wie behaglich, wie angenehm wusste sie es ihrem Manne zu machen, und wie hingen die Beiden auch aneinander!« So ging es in einem Zug fort. Die Geschichte von Franzens Glück, die sie einmal aus seinem Mund vernommen, musste sie nun noch einmal hören, aber von den Lippen der Alten klang sie schier wie ein Vorwurf gegen ihn. Wie durfte er sich unterfangen, noch einmal lachen und fröhlich sein zu wollen. Grossmama erliess ihr nichts; sie musste auch die ganze Krankheit und das Ende Maries mitmachen, Franzens Verzweiflung und das Versprechen, das er, wenn auch nicht gerade in Worten, geleistet, ihr nie eine Nachfolgerin zu geben. Warum erzählte sie ihr dies, warum warf der tückische Greis höhnisch darein: »Und an dieser Thatsache werden alle mannstollen Glücksjägerinnen nichts ändern!« Ihr zog sich das Herz zusammen. Ein ungeheures Mitleid mit Franz, dessen Hausgenossen, dessen einziger Verkehr mit der Welt sie waren, überkam sie. Die beiden Alten erinnerten sie, wenn sie sich so gegenübersassen mit den nickenden boshaften Köpfen, an zwei chinesische Götzen. Sie wäre um Ivo's Willen noch gern geblieben, aber das Pärchen ward ihr unheimlich, und sie erhob sich. Doch so leichten Kaufes liessen die Alten sie nicht los. Sie musste sich noch all die Opfer erzählen lassen, die sie für den Enkel gebracht, sie musste sich noch in kaum nichtzuverstehender Weise andeuten lassen, dass man die Motive ihrer Freundlichkeit gegen das Kind, und warum sie es den Grosseltern so häufig entziehe, ganz wohl verstehe. Kein Wort wurde gesagt, dass sie als offenkundige Beschuldigung oder Unhöflichkeit deuten konnte. Nun ja, solch ein Kind lernt bei jungen Leuten leicht die alten vergessen: oder mit der biedersten Miene von der Welt »der kleine Ivo muss es entgelten, dass sein Papa eine gute Partie ist, was schleppt er nicht an Bändern und Süssigkeiten in's Haus!«

Johanna hatte ihm wiederholt erlaubt, sich die glänzenden Flitter, die ihm gefielen und die keinen Werth mehr hatten, nach Hause zu nehmen, auch einen und den andern Leckerbissen liess sie dem kleinen Naschmäulchen zukommen. Kaum konnte sie ihre Thränen zurückhalten, aber als sie auf ihre Stube gelangte, weinte sie lange und schmerzlich. Die Alten hatten in einer Hinsicht Recht; Franz war ihr nicht gleichgültig geblieben; wie wäre dies auch möglich gewesen, da er der Erste war, der dem alleinstehenden, verlassenen Mädchen mit menschlichem Antheil entgegen gekommen! Auch das Kind hatte sich ihr in's Herz gestohlen. Kaum wusste sie, ob sie den Vater um des Kindes willen, oder das Kind wegen seines Vaters liebe. Aber eigennützige Berechnung, ja selbst der Gedanke, er könne sie einmal als seine Frau, als Mutter seines Kindes in das verwaiste Haus führen, waren ihr fremd geblieben. Was half ihr aber ihr reines Bewusstsein, wenn die bösen Alten, ja wenn vielleicht er selbst sie für eine selbstsüchtige Männerjägerin hielten. Sie hatte ihre Thränen kaum getrocknet, als ihre vierschrötige Hauswirthin an die Thüre klopfte, um sich über die Unordnung zu beklagen, welche die herumfliegenden Fädchen und Läppchen von Johannas Schneiderei im Hause verursachten. Sie kam ihr eben recht. Fort aus der Strasse, fort aus dem Hause, wo sie eine solche Verdächtigung, so bitteres Leid erfahren! Das war das Einzige, was ihr nach den Hornissenstichen des würdigen Paares übrig blieb. Sie kündigte.

Kaum hatte die Hauswirthin das Zimmer verlassen, fing sie ihre Sachen zu packen an. Mit höhnischem Winken und Deuten sahen sie die Alten drüben bei dem Geschäft; aber es wurde ihnen etwas weniger behaglich zu Muthe, als Franz, auch heute früher als gewöhnlich heimkehrend, gleichfalls den offenen Koffer und das geschäftig hin- und hereilende Mädchen sah. Ivo hatte sich beklagt, die Tante sei so schnell fortgegangen, er habe ihr nicht einmal einen Kuss geben können. Und Franz wusste, dass die Alten irgend eine Miene gegraben. Er nahm seinen Hut und eilte, ohne ein Wort zu sprechen, hinüber. Johanna hatte die Herbstblätter, die sie mit Wachs überzogen, und in eine Vase gestellt, von dem Kaminsims herabgenommen. Sie wollte sie wegwerfen; aber das Kind hatte ihr eine Freude machen wollen; es konnte nichts dafür, dass sie ihr vergiftet worden war. Sie wollte sie in den Koffer legen zum Andenken, dass sie glücklich gewesen und zwei Menschen von Herzen lieb gehabt. Da hörte sie Tritte auf der Treppe, die ihr das Blut in's Gesicht jagten, ein Pochen an der Thür, das ihr »Herein« zittern, kaum vernehmlich klingen liess. Franz trat ein. Mit einem Blick hatte er die Sachlage erfasst.

»Ich habe von drüben recht gesehen,« sagte er traurig, »Sie wollen uns entfliehen, meinem armen Knaben und mir?« – Sie wollte etwas antworten, aber da hatte er schon ihre Hand gefasst, und der wortkarge Mensch wurde förmlich beredsam:

»Gehen Sie nicht von uns, Johanna! Sie haben mich wieder das Leben schätzen, meinen Knaben die vorsorglich lenkende Mutterhand kennen gelehrt. Bleiben Sie bei uns!«

Sie stand fassungslos.

»Ivo's Grosseltern haben mir die Deutung gegeben, wie die Welt von meinem harmlosen Verkehr mit Ihnen und Ihrem Kinde denkt,« sagte sie bitter. Sie wies auf die zusammengerollten Blätter. »Sehen Sie, so ist mein Inneres. Vor einer Stunde war noch alles frisch und grün, aber nun hat die Welt einen Herbstschleier angelegt, und ich fürchte, ich könnte nicht mehr unbefangen mit Ihnen sprechen, es ist zu Vieles in mir welk und dürr geworden.«

»Vergessen Sie, dass die alten Leute Sie beleidigt; sie sind grämlich, durch den Tod ihres einzigen Kindes verbittert. Aber sie werden meiner Frau die Achtung nicht versagen, und mit der Zeit, Johanna, gewinnst Du auch ihre Zuneigung. Ich war nicht besser als sie, da ich Dich kennen lernte, und bin durch Dich verwandelt worden. So wird es, so muss es ihnen auch ergehen.« Er fasste ihre Hand mit den Herbstblättern, die raschelnd, dürr zu Boden fielen, sie selber sank, erglühend wie eine Mairose, an seine Brust.

SCHWIEGERMÜTTERCHEN.

Mama Hellmer hatte nur eine Sorge in ihrem sonst recht angenehmen und behaglichen Leben (freilich eine Sorge, so gewaltig und alles verschlingend wie der Leviathan); sie fürchtete, ihr grosser gutmüthiger Junge mit dem Pudelkopf, ihr grösster Stolz und ihre einzige Freude, werde sich die Finger oder auch die ganze Hand verbrennen, wenn er an's Freien ging.

Zu ihrer Entschuldigung sei hier bemerkt, dass sie sehr unglücklich verheirathet gewesen war, dass ihr Mann, ein ganz auserlesener Taugenichts, ihr alles erdenkliche Herzeleid zugefügt hatte.

Das lag nun weit hinter ihr; sie hatte manches Jahr vom frühen Morgen bis in die dunkle Nacht hinein unermüdlich gearbeitet, genäht, gestrickt, in allen erdenklichen Künsten und Wissenschaften unterrichtet und sich mit ihrem Jungen tapfer durch's Leben geschlagen. Ja, durch eine Kette unendlicher Opfer hatte sie es sogar vermocht, ihm eine Erziehung geben zu können, wie sie selbst manchem Sohn aus wohlhabendem Hause versagt blieb. Nun hatte er ihr schon seit manchem Jahr alle Mühe und Plage abgenommen und sie in eine behagliche, sauber und zierlich wie ein Puppenheim ausgestattete Wohnung hineingesetzt. Was er ihr verdankte, wusste er genau; er wusste, dass er ohne ihre Entschlossenheit und Aufopferung vermuthlich ein zerlumpter, schmutziger kleiner Vagabund, ein ungebildeter, vielleicht verkommener Bursche geworden wäre, und ein innigeres Verhältniss als zwischen diesem Sohn und dieser Mutter konnte man sich kaum vorstellen. Den weiblichen Nachbarn – besonders den verheiratheten – traten Thränen der Rührung in die Augen, wenn sie jeden Nachmittag bei hübschem Wetter Mama Hellmer am Arme ihres stattlichen Sohnes spazieren gehen sahen. Die Bank, in welcher Eduard Hellmer eine Vertrauensstellung einnahm, schloss frühzeitig, aber er hätte vielleicht eher seine vortheilhafte Stelle aufgegeben, als Mama die ihr vom Arzte verordnete Bewegung in der frischen Luft allein machen lassen. In Papierdüten trug er ihr Blumen und Obst nach Hause, als wäre sie, wie die unverheiratheten Nachbarinnen, den Mund ein wenig verziehend, bemerkten, eine junge Dame, der er sein Herz zu Füssen gelegt. – Und wie sorgsam er den Shawl um ihre Schultern legte, wenn ein rauhes Lüftchen sie anblies, wie beflissen er den Kopf zu ihrem Munde hinabneigte, damit ihm im Strassenlärm kein Wörtchen, das sie sprach, verloren ging. Ja, Frau Hellmer war eine beneidenswerthe glückliche Mutter, trotz der grossen Sorge, die der Sohn ihr, freilich ohne es zu wissen und zu wollen, verursachte. Eduard besass zu seinen übrigen Tugenden leider auch noch ein leichtempfängliches Herz. Es klopfte hie und da ganz vernehmlich für irgend ein anmuthiges Mädchenbild, das ihm in seinem Gesangsverein oder in Mama's Bekanntenkreise begegnete, und er wäre vermuthlich blindlings in das Unglück seines ganzen Lebens hineingerannt, wenn Mama nicht die bestconstruirte Dampffeuerspritze in den Schatten zu stellen und die aufflackernde Gluth durch einen mit voller Kraft geschleuderten kalten Wasserstrahl zu dämpfen gewusst hätte.

Edith Bogart? O gewiss, sie ist ein schönes Mädchen; Mama könnte sich nicht beifallen lassen, dies zu bestreiten; sie ist witzig, lebhaft, mit nicht gewöhnlichem Geist begabt; Frau Hellmer kann es beurtheilen, denn sie war ja einmal des Kindes Lehrerin gewesen. Himmel! welch' ein jähzorniges, heimtückisches Temperament die Kleine besass! Erinnerte sich Eduard nicht mehr, wie Mama einmal ihr bestes Kleid von einer Scheere kreuz und quer zerschnitten heimgebracht hatte? Es war Edith's boshafter Racheakt für eine ihr ertheilte Strafe. »Und Du weisst, Eduard, was die Anschaffung eines neuen Kleides damals für mich bedeutete,« setzte Frau Hellmer hinzu. Natürlich wusste er es und küsste ihr gerührt die Hand. Lili Felder? Das Bild eines deutschen Gretchens? Ja gewiss, aber nur die schwache Copie eines solchen. Mit dem Wesen des ächten Gretchen könnte man es nicht recht in Einklang bringen, dass sie die schwache, kränkliche Mutter sich mit dem Haushalt, den jüngeren Kindern und Fräulein Lili's weit über ihre Verhältnisse glänzenden Putz abquälen liess und mit einem neuen Roman den Tag verbrachte. Die unverheiratheten Nachbarinnen fingen an, die Thränen der Rührung dem Sohne allein zu widmen, der in unverminderter Ehrerbietung die alte Frau am Arme führte, wiewohl sie – das lag ja klar zu Tage – ihm das Glück seines Lebens zerstörte. Alle Welt fing an, der besorgten Mutter masslose Herrschsucht unterzuschieben; sie wolle die erste Stelle im Hause um keinen Preis einer Anderen abtreten, sie wolle unumschränkt im Herzen des Sohnes herrschen. Vielleicht lauerten, ihr unbewusst, derartige Motive in ihrer Seele, aber ihr Hauptgrund war doch nur die geradezu abergläubische Besorgniss, ihr Eduard werde, ebenso wie sie einst, unglücklich in der Ehe sein. Der Spruch vom Hammer und Amboss schien ihr, Dank ihren trüben Erfahrungen, auf verheirathete Menschenpaare besonders zu passen. Dass Eduard zum Hammer nicht die mindeste Anlage besass, stand fest, folglich hiess es durch Anwendung von sehr viel kaltem Wasser ihn vor dem Ambossschicksal so lange als möglich zu bewahren. Die Feuerspritze arbeitete mit vollem Erfolge, so lange es sich bei Eduard nur um leicht vergängliche Eindrücke handelte, aber als sein Stündlein wirklich schlug, da machte Mama betrübende Erfahrungen. Das Schlimmste war, dass sie sich selber nicht von aller Schuld freisprechen konnte, denn sie hatte die allerliebste kleine Zündbüchse in die Nähe der Pulverkammer getragen. Als Hannchen Stubenhofer, mit deren Mutter sie in einer Provinzstadt zur Schule gegangen, in die Residenz kam, ohne vorerst zu wissen, wohin sie den kleinen Kopf sammt der dazu gehörigen reichen blonden Zopfkrone legen solle, lud Frau Hellmer sie zu sich ins Haus; und als nach einigen Wochen das flinke geschickte Ding Arbeit gefunden und seine eigene Wohnung aufnahm (an der Thüre die verlockende Tafel »Erster Klasse Toiletten« tragend), da bestand die alte Dame darauf, dass sie die Sonntage vom Morgen bis zum Abend bei ihren Landsleuten, mit welchen sie auch noch eine entfernte Verwandtschaft verband, zubringe.

Das Hannchen war ein sehr merkwürdiges Stück Menschheit; es ging nie, sondern tanzte, sprach nie einen Satz, ohne ihn mit einem sehr angenehm klingenden Gelächter einzuleiten und abzuschliessen. Mama Hellmer musste mehr als einmal den Kopf dabei schütteln. Wenn man es recht bedachte, hatte Fräulein Hannchen nicht viel mehr Ursache lustig zu sein, als sie selber einst gehabt. Auch sie stand in jungen Jahren schutzlos und auf sich selbst angewiesen da, nachdem sie Kindheit und erste Jugend in behaglichen Verhältnissen verbracht. Hannchen war eine elternlose Waise, schon dieses hätte sie nach Frau Hellmer's Ansicht bestimmen müssen, in Sack und Asche einherzugehen, sie musste sich allein durch's Leben schlagen, was sie wie einen ganz hübschen Zeitvertreib zu betrachten schien. Allerdings glückte ihr Alles, sie hatte die Finger einer Fee. Wenn Frau Hellmer sie ernsthaft an die Thatsache erinnerte, dass sie arm sei, warf sie den blonden Kopf zurück, lachte und meinte: »Was thut das? ich werde mir heute oder morgen ein Vermögen erwerben.« – Und Mama, die es nicht verstand, wie man widrige Verhältnisse mit so vergnügtem, sorglosem Gesicht bekämpfen könne, hiess sie im Stillen leichtsinnig und begann, sich ernstlichen Besorgnissen um ihre Zukunft hinzugeben. Sie glaubte es der entfernten Basenschaft schuldig zu sein, wenn sie die Augen über Hannchen »offen hielt«, was sie um so leichter thun konnte, als diese gerade über der Strasse bei einem kinderlosen Ehepaar ein Zimmer gemiethet hatte. Frau Hellmer kannte jede Kundin, die drüben aus- und einging, sie führte Buch über die Besuche, die Hannchen in ihrer freien Zeit erhielt und wusste genau anzugeben, wann und mit wem sie das Haus verlassen hatte. Aber zur Erwerbung so nützlicher Kenntnisse braucht man Zeit, viel Zeit, und Mama war genöthigt, ihren Eduard und seine etwaigen Herzensverstrickungen ausser Acht zu lassen. Und als ihr endlich die Augen aufgingen, da war es beinahe zu spät. Er fing bereits an, nachzusinnen, ob das Puppenheim für eine junge Frau geräumig genug sei; sein Gesicht war in eitel Glückseligkeit getaucht, wenn der Sonntag kam und Hannchen die Base besuchte; er schritt hinter ihr her, wenn sie in ihrer lebhaften Weise durch die ganze Wohnung lief, – einen ziemlich lächerlichen Eindruck gewährend, da er ebenso verliebt wie unbeholfen erschien –; wenn sie sang, dann horchte er begeistert und applaudirte, als gälte es der Patti, und wenn sie etwas Lustiges sagte, lachte er, bis sein Gesicht bläulich wurde. Und was das Schlimmste war, er schien vollständig mit Taubheit geschlagen, als Mama wie absichtslos bemerkte, es sei zu arg, dass Hannchen statt für ihre alten Tage, für Krankheit oder andere Unglücksfälle zu sparen, was sie verdiente, auf sich hing. Er nahm seinen Hut und ging zu Hannchen hinüber, als diese durch die plötzliche Unfreundlichkeit ihrer sonst so gütigen Freundin abgeschreckt, am nächsten Sonntag zu Hause blieb. Und von ihrer Sternwarte aus konnte Mama beobachten, wie die zwei drüben in vergnügtester Stimmung nebeneinandersassen, Mama und die ganze übrige Welt auch nicht mit der Spur einer Erinnerung bedenkend. Da galt es, rasch und entschieden einzugreifen. Nie vorher war Frau Hellmer so überzeugt von der Heilsamkeit der Abschreckungstheorie gewesen, wie diesmal. War nicht auch bei ihrem verstorbenen Gatten der Hauptfehler, aus dem alle übrigen riesengross herauswuchsen, ein gedankenloser Leichtsinn, eine Vergnügungssucht, die nach den Mitteln der Befriedigung nicht fragte, gewesen? Sollte ihr trübseliges Loos sich an dem Sohne wiederholen? Nicht, solange sie es abzuwenden vermochte. Glücklicherweise gab ihr das unbesonnene Hannchen selber die Mittel zur Vernichtung in die Hand. Mama hatte, trotzdem die frühere wohlwollende Gesinnung gegen das Mädchen ziemlich feindseligen Gefühlen Platz gemacht, ihren Beobachtungsposten nicht verlassen; freilich war ein kleiner Unterschied gegen ehemals zu bemerken. Bisher hatte sie Hannchen überwacht, jetzt – so ungern wir das Wort gebrauchen, es muss heraus, – jetzt belauerte sie dieselbe. Natürlich Alles in der besten Absicht, wie sie sich wiederholt versicherte, aus einem Pflichtgefühl, das selbst der Mutter der Gracchen Achtung abgenöthigt hätte. Bald hatte sie genug erspäht.

»Wer war der junge Mensch, mit dem Du vorgestern Abend ausgingst, und in dessen Gesellschaft Du erst nach Mitternacht, lachend und schwatzend, dass die ganze Strasse aus dem Schlaf auffuhr, heimkamst?« fragte sie, als Hannchen mit einem Gesicht, dessen sich alle drei Höllenrichter zusammen nicht zu schämen gehabt hatten. Das Mädchen machte heute wieder seinen Sonntagsbesuch bei der ersten Freundin, die sie in der Fremde gefunden, vermuthlich durch Eduards Versicherungen überzeugt, dass der eisige Empfang auf irgend welchem häuslichen Aerger beruht und durchaus nichts mit ihr zu schaffen gehabt hatte. Mamas kühle Begrüssung in ihrer eigenen Wärme übersehend, hatte sie mit dem Haussohn sogleich ein lustiges Scharmützel angefangen. Wie eine Bombe rollte die Frage dazwischen, und vor Schrecken – Mama erklärte ihrem Sohne nachher aus Schuldbewusstsein – wurde sie roth und verlegen.

»Haben wir Dich aufgeweckt, Tante?« sagte sie bedauernd, nachdem sie sich gefasst. Frau Hellmer hatte zu erwähnen vergessen, dass sie gar nicht geschlafen, sondern beobachtend am Fenster die Zeit verbracht hatte; und so war es begreiflich, dass Hannchen versicherte: »es thut mir aufrichtig leid; aber Karl Sohmer ist solch ein drolliger Kauz, dass man lachen muss, sobald er zu sprechen anfängt, und wenn die Todesstrafe darauf stünde.«

»Karl Sohmer? ich habe diesen Namen nie gehört.«

»Ich auch nicht, bis vor, lass sehen, vor sechs Tagen. Letzten Dienstag kam er meinem Hauswirth, dessen Neffe er ist, wie vom Himmel herabgeweht in's Haus; er lebt in Texas und hält sich nur zu Besuch hier auf.«

»Erlaube mir!« rief Frau Hellmer mit um so ausgesprochenerem Entsetzen, als sie bemerkte, das Gesicht ihres Sohnes habe sich bedenklich in die Länge gezogen, »nach so kurzer Bekanntschaft gehst Du mit diesem Texaner aus! Ich verstehe die heutige Jugend nicht.«

»Er lud mich in die Oper ein, und ich konnte wohl nicht nein sagen, es hätte meine Hauswirthe verletzt,« erklärte Hannchen ziemlich gedrückt, aber während des Sprechens lachte sie wieder und rief eifrig, »ich bin auch übrigens froh, dass ich die Einladung annahm, denn ich habe mich köstlich unterhalten und zehre an der Erinnerung, während ich über meiner Arbeit gebückt sitze.«

»Du hörst es,« sagte Mama's Miene ihrem Abgott, der sehr blass und sehr ärgerlich dasass. Er war verliebt genug und seines Erfolges bei Hannchen nicht sicher genug, um gewaltig eifersüchtig zu sein. Uebrigens hatte Mama noch lange nicht ihr ganzes Pulver verschossen.

»Der junge Mann scheint aus Deiner liebenswürdigen Bereitwilligkeit die Ueberzeugung geschöpft zu haben, dass seine Gesellschaft Dir sehr angenehm ist, was mich auch gar nicht Wunder nimmt. – So oft ich an's Fenster trete und zu Dir hinüberblicke, was ich aus Antheil an Dir häufig thue, sehe ich ihn in Deinem Arbeitszimmer, schwatzend wie eine Elster.«

»Er ist solch ein drolliger Kauz!« meinte lachend und erröthend das Hannchen, »er möchte mir weismachen, dass gerade so ein wichtiges Persönchen, wie ich, dem Staate Texas zu seiner Vollkommenheit fehle.«

»Der junge Mann ist sehr dreist,« brauste Eduard auf.

»O, wer denkt daran, Karl Sohmer ernst zu nehmen!« versetzte sie, »er ist ein sehr unterhaltender Gesellschafter, und ich freue mich auf den Ball morgen Abend, zu dem er mich geladen. Ich gehe mit der Hauswirthin.«

Sie kam nicht weiter. Das war Wasser auf Mama Hellmers Mühle; und die würdige Dame übertraf sich selber. Die Posaune des jüngsten Gerichtes kann unmöglich strafender und drohender klingen, als ihre Stimme, während sie über gedankenlose Coquetterie und Vergnügungssucht loszog, die ganze Existenzen zerpflückt, Menschen für ihre Lebensdauer elend macht. Hannchen, die vor der alten würdigen Frau einen ungeheuren Respekt hatte, war Anfangs zerknirscht wie eine wirkliche Sünderin; sie warf Eduard einen hilfesuchenden Blick zu, aber er hatte eine Bemerkung Mamas, sie würde nie einwilligen, mit dem Leichtsinn unter einem Dach zu wohnen, dahin aufgefasst, dass sie ihn vor die Wahl zwischen sich und dass Mädchen stelle, und so blieb er stumm, die Stirn gerunzelt, seinen Bart kauend, sitzen, und vermied es, die Missethäterin anzusehen. Zuletzt erwachte auch in ihr der Trotz: Sie habe Niemandem Rechenschaft abzulegen; sie werde ihr junges Leben geniessen und den Ball morgen Abend erst recht besuchen, erklärte sie. Als man sich an diesem Tage trennte, sah Mama erhitzt, aber sehr befriedigt, ihr Sohn gleichfalls erhitzt, aber sehr niedergeschlagen aus; was Hannchen betrifft, so hatte sie verweinte Augen, aber einen sehr entschiedenen Zug im Gesichte, der auch aus ihrer Erklärung sprach, dass sie das Haus nie wieder betreten werde. Am nächsten Abend sahen Mutter und Sohn sie mit dem Fremden zu Balle gehen, und Mama beglückwünschte sich zu ihrer Entschiedenheit. Dann aber verliess sie das Haus nicht mehr; aber als der Monat zu Ende ging, verschwand sie ganz und gar aus der Strasse. Durch Bekannte, für welche sie arbeitete, erfuhr Frau Hellmer, dass der junge Texaner allein abgereist sei und Hannchen eine Wohnung in einer entfernten Strasse gemiethet hatte. Es war klar, sie wollte ihnen nicht mehr begegnen. Mama athmete auf, sie hatte ihren kostbaren Sohn wieder zum ausschliesslichen Besitz. Aber es war nicht mehr der alte, leichtvergnügte Sohn; ein wortkarger, stiller Mann, dessen Züge sich täglicher fester ausprägten; ein Mann, der ass und trank und schlief und seinen Geschäften nachging, ohne an etwas Vergnügen zu finden, ging er neben ihr her. Er sah aus, als wäre ihm der Schmelz von den Flügeln gewischt worden. Er wusste, dass Mama dem Mädchen bitter Unrecht gethan; er wusste, dass er ohne sie nicht glücklich werden konnte. Aber war es möglich, sich mit einer solchen Mutter wegen seines eigenen Glücks zu entzweien? Alle Opfer, die sie für ihn gebracht, standen deutlich vor seinem Geist; und so liess er, ohne einen Versuch zur Versöhnung zu machen, Hannchen aus seinem Gesichtskreis verschwinden.

Mama war Anfangs zornig darüber, dass er den Verlust so schwer empfand. Sie, die sonst eifersüchtig jede Annäherung zwischen ihm und den jungen Damen der Nachbarschaft vereitelt, lud selber nun oft Gesellschaft zu sich. Aber so oft Eduard es vermochte, entzog er sich dem Vergnügen durch die Flucht, und liess er sich einmal durch Ueberredung ins Besuchszimmer locken, dann sass er stumm und unbehaglich da und schien aufzuathmen, wenn die Gäste sich entfernten. Frau Hellmer war sehr stolz gewesen, dass sie ihn wieder einmal vor dem Elend seines Lebens bewahrt, aber nachgerade fing sie an der Weisheit und dem Erfolg ihrer That zu zweifeln an. Was half es, wenn sie für die Möglichkeit seines Unglücks, das eine leichtsinnige, vergnügungstolle Frau auf ihn herabbeschworen hätte, die Gewissheit desselben eintauschte. Er klagte nie und machte ihr keine Vorwürfe, aber dass er unglücklich war, konnte ihr jeder Blick und sein blasses, ernstes Gesicht sagen. Und da fasste sie nach langem hartem Kampf einen heldenmüthigen Entschluss. Der nächste Tag sah sie neben Hannchen Stubenhofer in deren Zimmer sitzen, (auch nicht mehr das Hannchen von ehemals, denn es fing keinen Satz mit Lachen mehr an und endete ihn auch nicht damit). Im Ganzen sah sie wie das richtige Gegenstück zu Herrn Eduard Hellmer aus. Da wurde es Mama viel leichter, zu sagen, weshalb sie gekommen. Aber Hannchen schüttelte den Kopf:

»Ich habe auch meinen Stolz, wenn ich auch nur ein armes Mädchen bin. Ich bin in Ihrem Hause beleidigt worden, nun setze ich keinen Fuss mehr hinein.«

Mama war enttäuscht; sie hatte sich es schön ausgemalt, wie sie ihrem Sohn mittheilen wolle, es sei ein seltener Gast da; wie sie sodann die Thüre des Besuchszimmers öffnen, ihn allein eintreten lassen und erst nach einer gut gemessenen Viertelstunde mit zum Segnen erhobenen Händen nachfolgen werde. Hannchens Eigensinn verdarb den feinen Plan.

Da steckte sich Mama denn hinter eine ältliche Landsmännin und Busenfreundin, in deren Hause das Mädchen in der nächsten Zeit beschäftigt war. Hannchen nahm, um alter Freundschaft willen, eine Ausnahmsstellung in dem Hause ein; nach der Arbeit verbrachte sie gewöhnlich den Abend als gleichberechtigtes Glied im Kreise der Familie. Allerdings fiel es ihr auf, dass man nach dem Abendessen sich in die Stube begab, von der sonst der Spruch galt: »Ziehe deine Schuhe ab, denn die Stelle ist heilig.« Doch hatte sie kaum Zeit gefunden, sich zu verwundern, da klingelte es, und herein rauschte Mama Hellmer, gefolgt von ihrem, durch die feinsten diplomatischen Künste zum Mitkommen veranlassten Sohn. Frau Hellmer, die sehr anregend sprechen konnte, wenn sie sich die Mühe dazu nahm, fesselte nicht nur die Freundin, sondern auch noch deren Töchter und den Hausherrn. Hannchen hörte nicht zu, und Eduard wusste vermuthlich von früher her, um was es sich handelte. Er stand ziemlich linkisch vor dem jungen Mädchen, das bei seinem Erscheinen Miene gemacht, zu entweichen; doch las sie in seinen Augen eine so herzliche Bitte und hörte aus seinem Munde so viele gute, versöhnende Worte, dass sie den Fluchtplan aufgab. Den ganzen Abend sah man die zwei sehr eifrige Gespräche führen, doch vernahm Niemand etwas davon, denn sie klangen sehr leise und schienen nur für das nachbarliche Ohr berechnet.

Mama Hellmer hat vor Kurzem die Schlüssel, das Abzeichen ihrer absoluten Herrschermacht, sowie die Oberhoheit über die sehr unbotmässige Vasallin, welche die Kochtöpfe zu überwachen und den Besen zu schwingen hat, der jungen Herrin des Hauses abgetreten. Wollte ich behaupten, dass die unerfahrene Frau Hellmer das Regiment zur vollen Zufriedenheit der alten, weisen, unfehlbaren Frau Hellmer führt, so würde man mich beschuldigen, dass ich die Grenzen poetischer Freiheit übersteige und Unwahrscheinliches berichte. Aber Hannchen hat solch einen eingewurzelten Respekt vor Mama, fragt sie so häufig um Rath und, was mehr ist, befolgt denselben auch, dass Schwiegermütterchen, von dem die ganze Nachbarschaft vermuthete, es werde aus langer Herrschergewohnheit den Frieden des jungen Haushalts gefährden, ein viel angenehmeres, zufriedeneres und leichter zu behandelndes Schwiegermütterchen geworden ist, als man es sonst von ihren Schwestern behauptet.

DAS PFLEGETÖCHTERCHEN.

Die Leute haben nie begreifen können, was mich zu dem Alten hinzog, nachdem sie ihn Alle als unverbesserlich aufgegeben. Sie meinten, ich hätte mich noch entschiedener, als die ganze Welt von ihm lossagen sollen, denn sein Einfluss hatte es verschuldet, dass ich in meinen Jünglingsjahren auf Abwege gerieth, das heisst den bequemen Drehstuhl in meines Vaters Comptoir aufgab und Farben zu verschmieren anfing. Als ich mit Conrad Stürmer bekannt wurde, hatte er längst aufgehört, seine Kunst, in der er einst Bedeutendes geleistet, auszuüben; er bildete Schüler heran, oder wie die nachsichtigen Mitmenschen behaupteten, er lockte thörichte Jungen aus ihrer gesicherten Lebensbahn, unter der Vorspiegelung, Talent in ihnen entdeckt zu haben, um sie auszubeuten. Ich wusste, dass man ihm mit diesem Verdacht Unrecht that; er war ein Enthusiast, ungemein leicht begeistert und in jedem Pfennig-Kerzlein einen künftigen leuchtenden Stern sehend. Allerdings hat er ziemlich viel Unglück angestiftet, aber böse Absicht lag ihm fern. Ich hatte ihn liebgewonnen, und blieb ihm anhänglich, auch nachdem ich erkannt, dass er sich und mich getäuscht, als er in meinen dilettantischen Versuchen den künftigen Meister sah. Mit dieser Erkenntniss war für mich, der von einer ganzen Ahnen-Reihe ehrsamer Kaufleute eine gewisse nüchterne Besonnenheit geerbt (vielleicht war es gerade diese, die Stürmers entzückte Prophezeiungen kläglich vereitelt), der Weg klar vorgezeichnet, den ich einzuschlagen hatte. Die Motte wartete nicht, bis sie vollständig verbrannte; mit nur leicht angesengten Flügeln kehrte sie reuig zurück. Aber daheim schlachtete man kein gemästetes Kalb für den verlorenen Sohn; mein Vater grollte, weil ich dem Paradies des Drehstuhls eigenmächtig den Rücken gekehrt, und nachdem ich dieses unsühnbare Verbrechen begangen, nicht als gefeierter Künstler heimgekommen war; mein jüngerer Bruder, der mittlerweile meine Stelle eingenommen, konnte nicht einsehn, warum er mir dieselbe nun wieder einräumen sollte, die ganze ungeheure Edlinger'sche Basen- und Vetterschaft sah mich mit mitleidiger Geringschätzung an, als sei ich vor der Zeit zur Ruine geworden, und – was mir zumeist an's Herz griff – meine gute Mutter, deren Liebling ich war, litt darunter, mich von der stolzen, für mich erträumten Höhe so kläglich herabgestürzt zu sehen. Da fasste ich denn eines Tages einen kühnen Entschluss und, die Brücken hinter mir verbrennend, wanderte ich aus, nun erst recht ein verlorener Sohn, der nur dann auf Vergebung und freundliche Aufnahme im Vaterhause rechnen konnte, wenn er, ein Mann des Erfolges, zurückkehrte.

Ich hatte ungewöhnliches Glück gehabt; schon nach zwei Jahren konnte ich nach Hause schreiben, dass ich mein sicheres Auskommen gefunden, nach vier Jahren, dass ich mich selbständig gemacht, und wieder nach einiger Zeit, dass das Haus Edlinger in der neuen Welt Aussicht habe, auf eine gleiche Stufe mit dem in der alten zu gelangen. So verstrichen zwölf Jahre in harter aber erfolgreicher Arbeit. Ich durfte mir einen Feiertag und die Genugthuung vergönnen, als Sieger auf dem Schauplatz meiner Niederlage einzuziehen. Ich packte meinen Koffer und fuhr zu Besuch in die alte Heimath.

Mein Empfang im Vaterhause liess nichts zu wünschen übrig. Mein Mütterchen erschien förmlich verjüngt in ihrer Wiedersehensfreude, Papa nahm mich mit offenen Armen auf, einen dicken Strich durch meine alten Sünden ziehend; ja ich glaubte, er rechnete mir sie nun als Verdienst an, denn sie verschafften ihm die Genugthuung, sagen zu können »ein Edlinger dringt durch, auch wenn er ohne Beschützer und Mittel seine Laufbahn beginnt.« Hans, mein Bruder, fühlte Respekt vor dem »selfmade man«, Vettern und Basen waren stolz auf die überseeische Rarität. Und in meiner Glorie durfte ich es mir erlauben, nach meinem alten Freunde auszuspähen, ohne dass mein Beginnen mehr als ein Kopfschütteln der Verwunderung erregt hätte.

Es war ein trauriges Wiedersehn. Der alte Mann mit dem Kinderherzen war furchtbar gealtert. Ich hatte ihn nie in behaglichen Verhältnissen gekannt, jetzt aber schien er bettelarm; denn selbst die letzte spärliche Quelle seines Einkommens, die ihm von seinen langhaarigen Jüngern geflossen, war versiegt; Konrad Stürmer war krank und gebrochen, er vermochte keinem noch so eiteln jungen Burschen mehr das Vertrauen einzuflössen, dass er ihn zu einem Lenbach oder Defregger machen werde. Für die kleinen Unterstützungen, die ich ihm von New York aus zuzuwenden vermochte, dankte er weinend. Ich erschrak; früher hatte er dergleichen als selbstverständlich angesehen, als einen Zoll, den der Jünger seinem Meister zu entrichten hat. Ich fasste ihn schärfer in's Auge, und entdeckte nun erst, dass er ein schwer kranker Mann sei, vielleicht nur noch Wochen zu leben habe. Hart und trocken drang der Husten aus seiner eingefallenen Brust, scharfumgrenzte rothe Flecken standen auf den hageren Wangen. Er ahnte nichts davon; er theilte mir, nachdem die mich so befremdenden Ausdrücke seiner Erkenntlichkeit verklungen waren, mit, dass er nicht lange mein Schuldner bleiben, sondern demnächst »die Oberösterreichische Kirchweih«, die ich vor mehr als zwölf Jahren angefangen, zwischen all den andern Entwürfen in seinem Atelier gesehen, vollenden, mich bezahlen und mit Pepi nach dem Süden ziehen werde. Ich stutzte. Trotzdem wir vor Jahren täglich mit einander umgegangen, war ich nie in seiner Wohnung gewesen. Das Atelier lag entfernt von derselben; die guten Nebenmenschen behaupteten, er besitze eine brave, hartarbeitende Frau, die das Haus erhalte, während er sich in der Kneipe herumtreibe. Ich bemerkte nun auch einen schwarzen Flor um seinen zerdrückten Hut und drückte ihm mein Beileid aus. Die Thränen strömten ihm aus den Augen; er rief: »sie war eine brave, eine edle Frau; sie hätte ein besseres Loos verdient. Ihr ganzes Unglück war, dass sie ihr Herz an einen Unwürdigen, einen Elenden, einen Schurken gehängt.« Vergeblich suchte ich ihn zu beschwichtigen, die Reue über sein verfehltes Leben, das Leid, das er auf seine Gefährtin herabbeschworen, brachen mit elementarer Gewalt aus ihm hervor; erst ein erstickender Hustenanfall liess ihn verstummen. Aber die alte Zuversicht kehrte nicht zurück; »wenn ich das Bild nicht vollende, was wird aus Pepi werden!« stöhnte er. Nichts leichter zu beantworten, als dies. Der Bursche konnte mein Schüler werden, wie ich der seines Papas gewesen, nur hoffte ich etwas mehr Erfolg mit ihm zu erzielen, als dieser mit mir. Ich wollte ihn mit mir nach Amerika nehmen und in mein Geschäft eintreten lassen. Von ihm allein sollte es abhängen, ob er es vorwärts brächte. Konrad Stürmer war zu erschöpft, als dass ich ihm sogleich meine ausführlichen Pläne für seinen Sprössling hätte darlegen können. Ich verschob dies für eine spätere günstigere Gelegenheit, und erklärte ihm nur, dass ich mich Pepis mit Rath und That annehmen werde.

Er dankte mir nicht mit Worten, aber mit einem Druck der Hand. Mir schien's, als sei ein schweres Gewicht von seiner Brust gefallen; er vermochte nun sogar ein Glas guten Rheinweins, ehemals seine grösste Liebhaberei, – das bisher unberührt vor ihm gestanden, zu leeren. Wir hatten uns in unserer ehemaligen Künstlerkneipe zusammengefunden. Als er sich zum Abschied erhob, übermannte ihn die Schwäche von Neuem. Ich rief einen Wagen herbei und begleitete ihn zu seinem Hause in einer abgelegenen, ärmlichen Strasse. Dann half ich ihm die vielen Treppen erklimmen, klingelte – und machte, als geöffnet wurde, das erstaunteste Gesicht meines Lebens. Vor mir stand ein kleines, blasses Mädchen in Trauerkleidern. Pepi Stürmer hatte nach süddeutschem Sprachgebrauch ebensogut Josef wie Josefine heissen können. Es war das Letztere, und mein Lehrling, Gehilfe und künftiger Partner versank, noch bevor er entstanden war.

Wenige Wochen später wurde Carl Stürmer begraben, und ich trat die Vormundschaft über seine Waise an. Es bedurfte der ganzen Autorität des amerikanischen Edlinger, um ihn bei diesem Anlass nicht wieder als sentimentalen Narren in Misscredit zu bringen. Aber ich setzte meinen Willen durch; eine arme Tante von mir nahm das Mädchen gegen Vergütung bei sich auf, und ich reiste, vollständig beruhigt über ihr Wohlergehen, ab. Ich dachte in den nächsten Jahren nicht allzu oft an sie, pünktlich beantwortete ich ihre Briefe, und als ich wieder zum Besuch in meine Heimath kam, war es nicht, weil mich ein besonderes Verlangen nach meinem Pflegetöchterchen erfasst, sondern weil ich einen sehnlichen Wunsch meiner Mutter erfüllen wollte.

»Paul,« sagte meine Tante und schüttelte dazu das ehrwürdige Haupt mit dem hochragenden Kopfputz, um dessentwillen ich sie in ruchlosen Flegeljahren »das Trauerpferd« getauft, »Du wirst nicht alles so finden, wie Du es erwartet,« mit Nachdruck, – »wie Du das Recht gehabt, zu erwarten.«

Die Wahrheit zu gestehen, blieb ich vollkommen ungerührt von diesen Kassandratönen. Die verehrte Dame liebte eine gewisse graue Beleuchtung aller täglichen Vorkommnisse und ich hatte eine Ahnung, dass die tragischen Andeutungen mich auf das Hinscheiden ihres asthmatischen Mopses vorbereiten sollten, dem ich schon längst ein friedliches Ende nicht blos vergönnt, sondern von ganzem Herzen gewünscht hatte. So liess ich sie denn seufzen und den Kopf schütteln und bemerkte: »Wo bleibt denn Josefine?«

Das Seufzen verstärkte sich zu einem Stöhnen. »Ich habe sie unter einem Vorwand entfernt, um Dich, Unglücklichen, vorzubereiten; denn eben bei Pepi wirst Du nicht alles so finden«, und so weiter, wie bekannt.

»Nun, Kinder sind dazu da, um ihren würdigen Papas Enttäuschungen zu bereiten. Pflegekinder werden vermuthlich keine Ausnahme machen,« versetzte ich noch immer gelassen, »ist die Kleine nicht so hübsch geworden, wie sie vor vier Jahren versprochen?«

»Hübsch?« rief die Tante, »sie ist aussergewöhnlich, sie ist unerlaubt schön«, damit schob sie mir eine grosse Photographie hin, »urtheile selbst.«

Ja, da war es freilich mit dem Urtheilen vorbei.

»Aber liebe Tante,« sagte ich und starrte unverwandt auf das Bild, um in dem wundervollen Gesicht nach den Zügen des mageren verweinten Backfischs zu spähen, den ich vor vier Jahren in seinem dürftigen Trauerkleidchen aus dem Hause meines ehemaligen Lehrers in das meiner Tante geführt, »darin kann ich nun kein so ungeheures Unglück sehen.«

»Dieser Meinung sind auch andere,« erwiderte das alte Fräulein spitz, »darunter Alle, die in dieser Stadt Schnurrbärte tragen.«

»Hm,« murmelte ich betroffen und legte die Photographie aus der Hand, nicht ohne noch einen langen Blick auf sie zu heften – das Hexlein hatte es mir angethan – »ich dachte, Du habest mit ihr sehr zurückgezogen gelebt.«

»Das habe ich auch, das Kind ist ausser in meine Kaffeekränzchen – an welchen es merkwürdigerweise nicht einmal Geschmack fand – (ich stattete ihr im Stillen meinen Glückwunsch darüber ab) nicht in Gesellschaft gekommen.«

»Nun also,« sagte ich erleichtert, »da werden wohl die Schnurrbärte in gebührender Entfernung geblieben sein.«

»Du bestimmtest ja, dass lauter Fachlehrer Pepi's Unterricht vollenden sollten, – Du hattest Dir ja alle Gouvernantenweisheit verbeten,« sagte die Tante, die in ihrer Jugend Erzieherin gewesen sein muss, erbost, »nun, die Folgen konnte jeder vernünftige Mensch voraussehen.« Ich dankte mit einer Verbeugung für das in ihrer Rede verhüllte Compliment.

»Das Kind hat ohnehin das Menschenmögliche geleistet. Dem Zeichenlehrer und dem deutschen Professor versicherte sie, ohne Einwilligung ihres Vormunds und Wohlthäters werde sie sich nie vermählen.«

»Sehr vernünftig«, warf ich ein; meine gute Laune begann zurückzukehren.

»Aber, mein lieber Neffe, man darf nicht Unmögliches fordern. Wenn der interessanteste, junge Musiker der Stadt, für den alle Mädchen schwärmen, mir seine Liebe gewidmet hätte, ich weiss nicht, ob ich kalt geblieben wäre.«

Ich konnte ein stilles Bedauern nicht unterdrücken, dass er nicht sie auf die Probe gestellt.

In diesem Augenblick öffnete Pepi die Thür und kam mit glückseligem Gesicht auf mich zu. Plötzlich blieb sie, erröthend, in höchster Verwirrung stehen. Der Kleinen hatte ich vermuthlich als gesetzter, ältlicher Herr vorgeschwebt, das erwachsene Fräulein aber sah, dass ich mit meinen 37 Jahren mir es noch entschieden verbitten durfte, mit Methusalem in einem Athem genannt zu werden, und statt mir in die Arme zu fliegen, wie sie ohne Zweifel beabsichtigt, reichte sie mir nur die Hand zum Willkommen. Aber sie fasste sich bald, setzte sich neben mich auf das Sofa und plauderte.

Wovon wir sprachen? ich könnte kein Wort davon wiederholen. Ich weiss nur, dass der Nachmittag, der Abend wie im Fluge verstrichen, und dass wir beide, als die altmodische Stutzuhr zehn schlug, ganz erschrocken auffuhren. Meine gute Mutter zeigte ein wenig Unzufriedenheit, weil ich sie vernachlässigte. Aber leider gab ich ihr fortan noch manchen Anlass zur Beschwerde, denn sobald ich vom Hause abkommen konnte, eilte ich zu Pepi. Vergebens hielt ich mir die Thorheit vor, mein Herz an ein Mädchen zu hängen, das einen Andern liebte, meine Leidenschaft wuchs mit jedem Tage. Noch hatte ich den interessanten Musiker nicht gesehen. Die Tante theilte mir mit, er sei auf einer Concertreise begriffen. Nach seiner Rückkehr sollte ohne Zweifel die Verlobung gefeiert und der Herr Vormund und Pflegevater zu dem schönen Fest gebührenderweise eingeladen werden. Pepi erwähnte seiner nie, wiewohl sie mir sonst mit kindlicher Offenheit über Alles, was ihr Leben betraf, Aufschluss gab. Wie wünschte ich von ganzem Herzen, der junge Mann möge mir dergestalt missfallen, dass ich als gewissenhafter Vormund mein Veto gegen ihre Verbindung mit ihm einlegen müsste. Aber nein, als er sich mir endlich vorstellte, fand ich nichts besonders Tadelnswerthes an ihm. Vielleicht war der hübsche Junge ein wenig eitel, aber das war dem »interessanten Musiker, für den alle Mädchen schwärmten«, nicht allzu schwer anzurechnen, vielleicht zeigte er hie und da eine leise Anlage, das Leben leicht zu nehmen, die seine Gattin mit einer Wiederholung des Looses bedrohen mochte, wie es ihrer Mutter zu Theil geworden; aber seinem Charakter wurde das beste Zeugniss ausgestellt; auf Ahnungen und Besorgnisse hin, die vielleicht nur meinen eigensüchtigen Wünschen ihr Entstehen verdankten, konnte ich ihn nicht abweisen.

Ich wollte mein Opfer nicht halb bringen. Mit einer Miene, die, wie ich hoffte, Josephinen nicht allzudeutlich verrieth, was es mich kostete, sagte ich ihr, dass Fritz Hillmann bei mir um sie geworben habe. Sie wurde blass. »Wenn Sie es wünschen, Vormund, wenn Sie es für gut halten,« stammelte sie. Da konnte ich mich nicht zurückhalten.

»Ich es wünschen, ich, dem der einzige Preis, den ich vom Leben ersehnte, entrissen wird! Nein, Pepi, wenn ich meine Einwilligung zu Deiner Verbindung mit einem Andern gebe, so geschieht es unter hoffnungslosen Schmerzen, in dem Bewusstsein, dass ich damit das Siegel auf ein einsames, unerquickliches Leben drücke. Es ist eigensüchtig, dass ich es Dir sage, ich weiss es, ich hätte mein Opfer schweigend bringen sollen; aber, Pepi, ich bin kein Held, der seine Wunden stumm verbirgt.«

Ihr wunderschönes Gesicht leuchtete von Glück. Sie trat auf mich zu und sprach:

»Ich hatte mich selbst nicht gekannt; erst seit Du kamst, weiss ich, dass ich nur einen Mann lieben kann, Dich, Paul.«

Ich zog nicht allein über das Meer.


Novellen.

Gesammelte Schriften von Heinr. Seidel.
à Band M. 3.–– brosch., M. 4.–– geb. mit Goldschn.
Bd. I. Leberecht Hühnchen, Jorinde und andere Geschichten. 6. Tausend.
Bd. II. Vorstadtgeschichten. 6. Tausend.
Bd. III. Neues von Leberecht Hühnchen und anderen Sonderlingen. 5. Taus.
Bd. IV. Geschichten und Skizzen aus der Heimat. Der II. Aufl. 3. Tausend.
Bd. V. Die goldene Zeit. 3. Tausend.
Bd. VI. Ein Skizzenbuch. 3. Tausend.
Bd. VIII. Leberecht Hühnchen als Grossvater. 3. Tausend.
Bd. XI. Sonderbare Geschichten.  
———
Maximilian Schmidt Gesammelte Werke.
11 Bde. à Band M. 3.–– brosch., M. 3.50 geb.
———
Am Küstensaum. Nov. v. Th. Justus. M. 5.––.
Aus vergangnen Tagen. Novellen von Th. Justus. M. 4.––.
Feldspath. Drei Erzählungen aus Hessen von E. Mentzel. M. 3.––.
Der heilige Amor. Nov. v. J. Proelss. M. 2.––.
Ut Sloss un Kathen. Erzähl. in niederd. Mundart von F. Stillfried. M. 3.––.
———
Von H. Grasberger.
Aus der ewigen Stadt. Röm. Nov. M. 6.––.
Allerlei Deutsames. Bilder u. Gesch. M. 4.––.
Auf heimatlichem Boden. Erzähl. M. 6.––.
———
Von R. Baumbach.
Es war einmal. 9. Tausend. M. 2.80.
Erzählungen u. Märchen. 8. Taus. M. 2.––.
Sommermärchen. 19. Tausend. M. 3.––.
———
Liebesmärchen von E. Ertl. M. 4.––.
 (mit 71 Photogravüren und 22 Heliotypien.)

Hinweise zur Transkription

Das Originalbuch ist in Antiqua gesetzt.

Darstellung abweichender Schriftarten: gesperrt, Kursiv, fett.

Im Originalbuch tragen die Kapitel und das Inhaltsverzeichnis jeweils zu Beginn und Ende einfachen floralen Schmuck, auf den in dieser Transkription verzichtet wurde.

Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, mit folgenden Ausnahmen,

Seite 18:
im Original "Stadt mit etlichen Einwohnern und einem Gymnasium."
geändert in "Stadt mit etlichen Einwohnern und einem Gymnasium.«"

Seite 55:
im Original "salbungsvollen Ton, den er zuweilen annahm"
geändert in "salbungsvollen Ton, den er zuweilen annahm,"

Seite 60:
im Original "dich wie ein ein vom Dach fallender Sperling"
geändert in "dich wie ein vom Dach fallender Sperling"

Seite 60:
im Original "etwas mittelalterlich troubadourmässiges« dozierte"
geändert in "etwas mittelalterlich troubadourmässiges,« dozierte"

Seite 63:
im Original "bis unter die Haarwurzeln eröthen machte"
geändert in "bis unter die Haarwurzeln erröthen machte"

Seite 68:
im Original "vielversprechenden Sohn der Vatertadt"
geändert in "vielversprechenden Sohn der Vaterstadt"

Seite 80:
im Original "sich dunkle Röte über ihr Gesicht ergoss"
geändert in "sich dunkle Röthe über ihr Gesicht ergoss"

Seite 186:
im Original "»Ausreisser«! ruft dieser ihm zu"
geändert in "»Ausreisser!« ruft dieser ihm zu"

Seite 205:
im Original "des ehemaligen dreisten Wesens ermangelnd"
geändert in "des ehemaligen dreisten Wesens ermangelnd."

Seite 235:
im Original "ein Turnier entwickelte sich zu Gunsten Ivos"
geändert in "ein Turnier entwickelte sich zu Gunsten Ivo's"

Seite 238:
im Original "Beiden schiens, als sei ihnen etwas"
geändert in "Beiden schien's, als sei ihnen etwas"

Seite 286:
im Original "Mein Mütterchen erchien förmlich verjüngt"
geändert in "Mein Mütterchen erschien förmlich verjüngt"

Seite 288:
im Original "Er ahnte nichst davon"
geändert in "Er ahnte nichts davon"