The Project Gutenberg eBook of Rosshalde

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Title: Rosshalde

Author: Hermann Hesse

Release date: February 5, 2021 [eBook #64466]

Language: German

Credits: Jens Sadowski. This file was produced from images generously made available by The Internet Archive

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK ROSSHALDE ***

Hermann Hesse

Roßhalde

S. Fischer / Verlag
BERLIN
1914

Erste bis zehnte Auflage.
Alle Rechte vorbehalten, besonders die der Übersetzung;
für Rußland auf Grund der deutsch-russischen Übereinkunft.
Copyright 1914 S. Fischer, Verlag, Berlin.

Roßhalde

Erstes Kapitel

Als vor zehn Jahren Johann Veraguth Roßhalde gekauft und bezogen hatte, war sie ein verwahrloster alter Herrensitz mit zugewachsenen Gartenwegen, vermoosten Bänken, brüchigen Treppenstufen und undurchdringlich verwildertem Park gewesen, und es standen damals auf dem wohl acht Morgen großen Grundstück keine anderen Gebäude als das schöne, etwas verkommene Herrenhaus mit dem Stall und ein kleines tempelartiges Lusthäuschen im Park, dessen Portal schief in verbogenen Angeln hing und an dessen einst mit blauer Seide tapezierten Wänden Moos und Schimmel wuchs.

Sofort nach dem Kauf des Gutes hatte der neue Besitzer das baufällige Tempelchen niedergerissen und nur die zehn alten Steinstufen stehen lassen, die von der Schwelle dieses Liebeswinkels an den Rand des Weihers hinabführten. An Stelle des Parkhäuschens wurde damals Veraguths Atelier erbaut, und sieben Jahre lang hatte er hier gemalt und den größeren Teil seiner Tage zugebracht, seine Wohnung aber drüben im Herrenhaus gehabt, bis die zunehmenden Zerwürfnisse in seiner Familie ihn dazu gebracht hatten, seinen älteren Sohn zu entfernen und auf auswärtige Schulen zu schicken, das Herrenhaus der Frau und Dienerschaft zu überlassen und für seinen eigenen Bedarf zwei Zimmer an das Atelier anzubauen, wo er nun seither wie ein Junggeselle wohnte. Es war schade um das schöne herrschaftliche Haus; Frau Veraguth brauchte mit dem siebenjährigen Pierre nur das obere Geschoß, sie empfing wohl Besuche und Gäste, aber niemals größere Gesellschaft, und so stand eine Reihe von Räumen jahraus jahrein leer.

Der kleine Pierre war nicht nur der Liebling beider Eltern und das einzige Band zwischen Vater und Mutter, das eine Art von Verkehr zwischen Herrenhaus und Atelierhaus aufrechterhielt; er war eigentlich auch der einzige Herr und Besitzer der Roßhalde. Herr Veraguth bewohnte ausschließlich sein Atelier und die Gegend um den Waldsee sowie den ehemaligen Wildpark, seine Frau herrschte drüben im Haus, ihr gehörte der Rasenplan, der Lindengarten und der Kastaniengarten, und jedes sprach im Gebiete des anderen nur selten und gastweise vor, von den Mahlzeiten abgesehen, die der Maler meistens im Herrenhause einnahm. Der kleine Pierre war der einzige, der diese Trennung des Lebens und Teilung der Gebiete nicht anerkannte und kaum von ihr wußte. Er lief im alten wie im neuen Hause gleich sorglos aus und ein, er war im Atelier und in des Vaters Bibliothek ebenso heimisch wie im Korridor und Bildersaal drüben oder in den Zimmern der Mutter, ihm gehörten die Erdbeeren im Kastaniengarten, die Blumen im Lindengarten, die Fische im Waldsee, die Badehütte, die Gondel. Er fühlte sich als Herr und als Schützling bei den Mädchen der Mutter wie bei Papas Diener Robert, er war der Sohn der Hausfrau für die Besuche und Gäste der Mutter, und war der Sohn des Malers für die Herren, die zuweilen in Papas Atelier kamen und französisch sprachen, und Bildnisse des Knaben, Gemälde und Photographien, hingen im Schlafzimmer des Vaters wie im alten Hause in den hellfarbig tapezierten Stuben der Mutter. Pierre hatte es sehr gut, es ging ihm sogar besser als solchen Kindern, deren Eltern in gutem Einvernehmen leben; es herrschte kein Programm über seine Erziehung, und wenn ihm je einmal auf mütterlichem Gebiete der Boden heiß wurde, so bot die Gegend um den Waldsee ihm eine sichere Zuflucht.

Er war längst zu Bette und seit elf Uhr war im Herrenhaus das letzte helle Fenster erloschen. Da kam, spät nach Mitternacht, Johann Veraguth allein zu Fuße aus der Stadt zurück, wo er mit Bekannten den Abend im Wirtshaus zugebracht hatte. Beim Gang durch die laue, wolkige Frühsommernacht war die Atmosphäre von Wein und Rauch, von erhitztem Gelächter und verwegenen Witzen von ihm abgefallen, er atmete bewußt die leicht gespannte, feuchtwarme Nachtluft und schritt aufmerksam auf der Straße zwischen schon hochstehenden, dunkeln Getreidefeldern der Roßhalde entgegen, deren hohe Wipfelmassen groß und still im bleichen nächtlichen Himmel standen.

Er ging am Eingang des Gutes vorbei, ohne einzutreten, sah einen Augenblick nach dem Herrenhaus hinüber, dessen lichte Fassade edel und lockend vor der schwarzen Baumfinsternis schimmerte, und betrachtete das schöne Bild minutenlang mit dem Genuß und mit der Fremdheit eines vorüberkommenden Wanderers; dann ging er noch ein paar hundert Schritte die hohe Hecke entlang bis zu der Stelle, wo er sich einen Durchschlupf und heimlichen Waldweg zum Atelier bereitet hatte. Mit wachen Sinnen schritt der kräftige, kleine Mann durch den finsteren, waldig verwilderten Park seiner Wohnstätte zu, die plötzlich vor ihm lag, da, wo die Wipfelfinsternis über dem See auseinandergezogen erschien und im weiten Rund der matte graue Himmel sichtbar wurde.

Der kleine See stand fast schwarz in vollkommener Stille, nur wie eine unendlich dünne Haut oder ein feiner Staub lag das schwache Licht über dem Wasser. Veraguth sah auf die Uhr, es war bald eins. Er schloß eine Seitentür des kleinen Gebäudes auf, die in seinen Wohnraum führte. Hier zündete er eine Kerze an und legte rasch die Kleider ab, trat nackt ins Freie hinaus und stieg langsam die breiten flachen Steinstufen hinab in das Wasser, das vor seinen Knien in kleinen, weichen Ringen flüchtig aufblinkte. Er tauchte unter, schwamm eine kleine Strecke weit in den See, fühlte plötzlich die Müdigkeit nach einem ungewohnt verbrachten Abend, kehrte um und trat triefend ins Haus. Er warf einen zottigen Bademantel um, strich das Wasser aus seinen kurz geschorenen Haaren und ging barfuß über einige Stufen zum Atelier hinauf, einem ungeheuren fast leeren Raum, wo er alsbald mit einigen ungeduldigen Bewegungen alle elektrischen Lichter andrehte.

Hastig lief er zu einer Staffelei, wo eine kleine Leinwand stand, seine Arbeit der letzten Tage. Mit auf die Knie gestützten Händen stellte er sich gebückt vor dem Bilde auf und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Fläche, deren frische Farben das grelle Licht spiegelten. So verharrte er zwei, drei Minuten, schweigend und starrend, daß die Arbeit bis zum letzten Pinselstrich ihm wieder lebendig in den Augen stand; es war seit Jahren seine Gewohnheit, vor Arbeitstagen keine andere Vorstellung mit ins Bett und in den Schlaf zu nehmen, als die des Bildes, an dem er malte. Er löschte die Lichter, griff nach der Kerze und ging zum Schlafzimmer, an dessen Türe eine kleine Schreibtafel und Kreide angehängt war. „Sieben Uhr wecken, Kaffee neun Uhr“ schrieb er mit starken römischen Buchstaben darauf; schloß die Türe hinter sich und legte sich ins Bett. Mit offenen Augen lag er noch eine kurze Weile bewegungslos und zwang mit Anstrengung das Bild seiner Arbeit vor seine Sinne. Damit gesättigt schloß er die klaren grauen Augen, seufzte leise auf und fiel rasch in den Schlaf.

Am Morgen weckte ihn Robert zur bestimmten Zeit, er erhob sich sofort, wusch sich in einem kleinen Nebenraum im fließenden kalten Wasser, schlüpfte in einen groben, stark verwaschenen Anzug von grauem Leinen und ging ins Atelier hinüber, dessen mächtige Rolladen der Diener schon aufgezogen hatte. Auf einem kleinen Tischchen stand ein Teller voll Obst, eine Wasserkaraffe und ein Stück Roggenbrot, das er nachdenklich in die Hand nahm und anbiß, während er sich vor die Staffelei stellte und sein Bild betrachtete. Er aß im Auf- und Abschreiten ein paar Bissen Brot, fischte ein paar Kirschen aus dem Glasteller, sah einige Briefe und Zeitungen daliegen, die er nicht beachtete, und saß gleich darauf gebannt im Feldstuhl vor der Arbeit.

Das kleine Bild in Breitformat stellte eine Morgenfrühe dar, wie sie der Maler vor einigen Wochen auf einer Reise gesehen und in mehreren Skizzen notiert hatte. Er war in einem kleinen Landwirtshause am Oberrhein abgestiegen, hatte den Kollegen, den er am Ort besuchen wollte, nicht angetroffen, einen unerfreulichen Regenabend in der qualmigen Wirtsstube und eine schlechte Nacht in einem kalkig-modrig riechenden feuchten Gastzimmerchen verbracht. Noch vor Sonnenaufgang aus seichtem Schlummer heiß und übellaunig erwacht, hatte er die Haustüre noch verschlossen gefunden, war durch ein Fenster der Wirtsstube ins Freie gestiegen, hatte nebenan am Rheinufer einen Kahn losgemacht und war in den schwach strömenden, noch dämmerigen Fluß hinausgerudert. Eben als er umkehren wollte, sah er vom jenseitigen Ufer her einen Ruderer sich entgegenkommen, das schwach zuckende kalte Licht des milchig regnerischen Tagesanbruchs umfloß den dunkeln Umriß und ließ das Fischerboot übermäßig groß erscheinen. Von dem Anblick und dem eigentümlichen Licht plötzlich getroffen und innerlichst gefesselt, hatte er halt gemacht und den Mann näherkommen lassen, der bei einem schwimmenden Netzzeichen anhielt und eine Reuse aus dem kühlen Wasser emporzog. Zwei breite mattsilbrige Fische kamen zum Vorschein, naßglänzend schimmerten sie einen Augenblick über dem grauen Strome und fielen mit einem schnalzenden Klang in des Fischers Boot. Veraguth hatte alsbald den Mann warten heißen, das notdürftigste Malzeug geholt und eine Skizze in Wasserfarben gemacht, war einen Tag am Ort geblieben, zeichnend und lesend, und hatte andern Tages in der Frühe nochmals draußen gemalt, war weiter gereist und hatte sich seither immer wieder in Gedanken von dem Bilde beschäftigt und gequält gesehen, bis es Form gewann, und nun saß er seit Tagen daran und war nahezu fertig geworden.

Ihm, der am liebsten bei voller Sonne oder auch im warmen, gebrochenen Wald- und Parklicht malte, hatte die flutende Silberkühle des Bildes viel zu schaffen gemacht, aber sie hatte ihm einen neuen Klang gegeben, gestern war die Lösung vollends geglückt und nun fühlte er, daß er vor einer guten, ungewöhnlichen Arbeit saß, bei der es nicht im Festhalten und löblichen Abschildern sein Bewenden hatte, sondern wo ein Augenblick aus dem gleichgültigen rätselhaften Sein und Geschehen der Natur die gläserne Oberfläche durchbrach und den wilden großen Atem der Wirklichkeit spüren ließ.

Mit aufmerksamen Augen hing der Maler an dem Bilde und wog die Töne auf der Palette, die seiner gewohnten kaum mehr glich und fast alle roten und gelben Farben verloren hatte. Das Wasser und die Luft war fertig, es rann ein fröstelnd kaltes, unwilliges Licht über die Fläche, schattenhaft schwammen Gebüsche und Pfähle des Ufers in der feuchten, fahlen Dämmerung, unwirklich und aufgelöst stand der grobe Kahn im Wasser, auch das Gesicht des Fischers war ohne Wesen und Sprache, nur seine ruhig nach den Fischen greifende Hand war voll unerbittlicher Wirklichkeit. Das eine von den Tieren sprang glitzernd über den Rand des Bootes, das andere lag flach und still, und sein geöffnetes rundes Maul und erschrocken starres Auge war voll vom Weh der Kreatur. Das Ganze war kalt und beinahe bis zur Grausamkeit traurig, aber still und unangreifbar und ohne eine andere Symbolik als jene einfache, ohne die kein Kunstwerk sein kann und die uns die bedrückende Unbegreiflichkeit der ganzen Natur nicht nur fühlen, sondern mit einem gewissen süßen Erstaunen lieben läßt.

Als der Maler wohl zwei Stunden an der Arbeit gesessen hatte, klopfte der Diener und trat auf den zerstreuten Anruf seines Herrn mit dem Frühstück herein. Er trug leise die Kannen, Tasse und Teller auf, rückte einen Stuhl zurecht, wartete eine Weile schweigend und mahnte dann vorsichtig: „Es ist eingeschenkt, Herr Veraguth.“

„Ich komme,“ rief der Maler und rieb einen Pinselstrich, den er soeben am Schwanz des springenden Fisches gemacht hatte, mit dem Daumen wieder weg. „Ist warmes Wasser da?“

Er wusch seine Hände und setzte sich zum Kaffee.

„Sie könnten mir eine Pfeife stopfen, Robert,“ sagte er munter. „Die kleine ohne Deckel, sie muß im Schlafzimmer liegen.“

Der Diener lief. Veraguth trank mit Inbrunst den starken Kaffee und fühlte die leise Ahnung von Schwindel und Zusammenbruch, die ihn neuerdings nach angestrengter Arbeit zuweilen anflog, zergehen wie Morgennebel.

Er nahm dem Diener die Pfeife ab, ließ sich Feuer geben und sog mit Gier den aromatischen Rauch ein, der die Wirkung des Kaffees verstärkte und verfeinerte. Er deutete auf sein Bild und sagte: „Sie haben als Junge geangelt, Robert, nicht wahr?“

„Wohl, Herr Veraguth.“

„Sehen Sie sich einmal den Fisch dort an, nicht den in der Luft, den andern unten mit dem offenen Maul. Ist das Maul richtig?“

„Es ist schon richtig,“ sagte Robert mißtrauisch. „Aber das wissen Sie besser als ich,“ fügte er mit einem Ton von Vorwurf hinzu, als fühle er einen Spott in der Frage.

„Nein, Verehrter, das stimmt nicht. Der Mensch erlebt das, was ihm zukommt, nur in der ersten Jugend in der ganzen Schärfe und Frische, so bis zum dreizehnten, vierzehnten Jahr, und von dem zehrt er sein Leben lang. Ich habe als Junge nie mit Fischen zu tun gehabt, darum frage ich. Also, ist die Schnauze recht so?“

„Sie ist gut, da fehlt nichts,“ urteilte Robert geschmeichelt.

Veraguth war schon wieder aufgestanden und prüfte seine Palette. Robert sah ihn an. Er kannte diese beginnende Konzentriertheit des Blickes, die ihn beinahe glasig erscheinen ließ, und wußte, daß jetzt er und der Kaffee, die kleine Unterhaltung von vorhin und alles das in dem Manne untersinke, und wenn er in einigen Minuten ihn anriefe, würde er wie aus einem tiefen Schlaf erwachen. Aber das war gefährlich. Robert räumte ab, da sah er die Post unberührt liegen.

„Herr Veraguth!“ rief er halblaut.

Der Maler war noch erreichbar. Feindselig fragend blickte er über die Schulter zurück, genau wie ein Ermüdeter, der dem Einschlummern nahe war und nochmals angerufen wird.

„Es sind Briefe da.“

Damit ging Robert hinaus. Veraguth drückte nervös ein Häufchen Kobaltblau auf die Palette, warf die Tube auf den kleinen blechbeschlagenen Maltisch, begann zu mischen, fühlte sich aber durch die Mahnung des Dieners gestört, so daß er ärgerlich die Palette weglegte und die Briefe an sich nahm.

Es waren die üblichen Geschäftssachen, die Aufforderung, sich an einer Ausstellung zu beteiligen, die Bitte einer Zeitungsredaktion um Mitteilung von Daten aus seinem Leben, eine Rechnung – aber da fuhr der Anblick einer wohlbekannten Handschrift ihm wie ein süßer Schauder in die Seele, er nahm den Brief an sich und las mit Genuß seinen eigenen Namen und jedes Wort der Adresse, wohlig in die Beobachtung der freien, eigenwillig charaktervollen Schriftzüge vertieft. Dann bemühte er sich, den Poststempel zu lesen. Die Briefmarke war italienisch, es konnte nur Neapel oder Genua sein, und dann war also der Freund schon in Europa, schon ganz nahe, und konnte in wenigen Tagen hier sein.

Mit Rührung öffnete er den Brief und sah mit Befriedigung die kleinen schnurgeraden Zeilen in ihrer strengen Ordnung stehen. Wenn er sich recht besann, so waren seit fünf, sechs Jahren diese seltenen Briefe des ausländischen Freundes die einzigen reinen Freuden gewesen, die er gehabt hatte, die einzigen außer der Arbeit und außer den Stunden des Umgangs mit dem kleinen Pierre. Und wie jedesmal, so befiel ihn auch jetzt mitten in der frohen Erwartung ein unklares, peinliches Gefühl von Beschämung, indem die Verarmung und Lieblosigkeit seines Lebens ihm ins Bewußtsein trat. Langsam las er:

Neapel, 2. Juni nachts.

Lieber Johann!

Wie gewöhnlich sind ein Mundvoll Chianti mit fetten Makkaroni und das Gebrüll einiger Hausierer vor der Schenke die ersten Zeichen der europäischen Kultur, der ich mich wieder nähere. Hier in Neapel ist seit fünf Jahren nichts verändert, weit weniger als in Singapore oder Schanghai, und ich nehme es als ein gutes Zeichen dafür, daß ich auch daheim alles in Ordnung finden soll. Übermorgen kommen wir nach Genua, da holt mein Neffe mich ab und ich fahre mit ihm zu den Verwandten, wo mich diesmal keine überwallenden Sympathien erwarten, denn ich habe in den letzten vier Jahren, ehrlich gerechnet, keine zehn Taler verdient. Ich rechne für die ersten Ansprüche der Familie vier, fünf Tage, dann Geschäftliches in Holland, sagen wir wieder fünf, sechs Tage, so daß ich etwa am 16. oder so zu Dir kommen könnte. Das wirst Du telegraphisch erfahren. Ich möchte mindestens zehn oder vierzehn Tage bei Dir bleiben, weißt Du, und Dich in der Arbeit stören. Du bist schauderhaft berühmt geworden und wenn das, was Du vor etwa zwanzig Jahren über Erfolg und Berühmtheiten zu sagen pflegtest, nur halbwegs richtig war, mußt Du inzwischen bedeutend verkalkt und vertrottelt sein. Ich will Dir auch Bilder abkaufen, und meine obige Klage über die schlechten Geschäfte ist ein Versuch, auf Deine Preise zu drücken.

Man wird älter, Johann. Es war meine zwölfte Fahrt durchs Rote Meer, und zum erstenmal habe ich unter der Hitze gelitten. Wir hatten 46 Grad.

Herrgott, Alter, noch vierzehn Tage! Es wird Dich einige Dutzend Flaschen Mosel kosten. Es sind mehr als vier Jahre seit dem letztenmal.

Brieflich bin ich zwischen dem 9. und 14. in Antwerpen, Hotel de l’Europe, zu erreichen. Falls Du irgendwo, wo ich durchreise, Bilder ausgestellt hast, laß mich’s wissen!

Dein Otto.

Vergnügt überlas er den kurzen Brief mit den gesunden, strammen Buchstaben und temperamentvollen Satzzeichen noch einmal, suchte aus der Lade des kleinen Schreibtisches in der Ecke einen Kalender heraus und nickte, darin lesend, mit Befriedigung vor sich hin. Es würden noch bis zur Mitte des Monats über zwanzig Bilder von ihm in Brüssel ausgestellt sein, das traf sich glücklich. So würde der Freund, dessen scharfen Blick er ein wenig fürchtete und dem die Zerrüttung seines Lebens in den letzten Jahren nicht verborgen bleiben konnte, wenigstens einen ersten Eindruck von ihm haben, auf den er stolz sein konnte. Das erleichterte alles. Er stellte sich Otto vor, wie er in seiner ein wenig massiven Überseeereleganz durch den Brüsseler Saal ging und seine Bilder betrachtete, seine besten Bilder, und für einen Augenblick freute er sich herzlich, daß er sie zu jener Ausstellung hergegeben hatte, obwohl nur wenige davon noch verkäuflich waren. Und er schrieb sofort ein Billett nach Antwerpen.

„Er weiß noch alles,“ dachte er dankbar, „es stimmt, wir haben das letztemal fast nur Mosel getrunken, und einen Abend haben wir sogar richtig gezecht.“

Er dachte nach und fand, es sei gewiß kein Moselwein mehr im Keller, den er selbst sehr selten besuchte, und er beschloß, noch heute eine Sendung zu bestellen.

Nun setzte er sich aufs neue vor die Arbeit, fand sich aber zerstreut und innerlich unruhig und kam nicht wieder zur reinen Konzentration, bei welcher die guten Einfälle ungerufen dastehen. So stellte er die Pinsel in einen Becher, steckte den Brief seines Freundes zu sich und schlenderte mit unentschlossenen Schritten ins Freie hinaus. Der See blitzte ihm mit heftiger Spiegelung entgegen, es war ein wolkenloser Sommertag aufgegangen und der durchsonnte Park hallte von vielen Vogelstimmen wider.

Er sah auf die Uhr. Pierres Morgenlektionen mußten vorüber sein. Und er strich ziellos durch den Park, blickte zerstreut die braunen, mit Sonnenflecken bedeckten Wege entlang, horchte nach dem Hause hinüber, ging an Pierres Spielplatz mit der Schaukel und dem Sandhaufen vorbei. Schließlich kam er in die Nähe des Küchengartens und schaute mit flüchtigem Interesse in die hohen Kronen der Roßkastanien hinauf, auf deren schattentiefen Blättermassen die letzten freudig hellen Blütenkerzen standen. Bienen schwärmten mit wellig leisem Geläute um die vielen halboffenen Rosenknospen der Gartenhecke, durch das dunkle Laub der Bäume her tat die frohe kleine Turmuhr des Herrschaftshauses ein paar Schläge. Sie schlug falsch, und Veraguth dachte wieder an Pierre, dessen höchster Wunsch und Ehrgeiz es war, später einmal, wenn er größer wäre, das alte Schlagwerk wieder in Ordnung zu bringen.

Da hörte er jenseits der Hecke Stimmen und Schritte, die in der sonnigen Gartenluft mit Bienensummen und Vogelrufen, mit dem träge hinziehenden Duft der Buschnelkenrabatte und der Bohnenblüten gedämpft und zart zusammenklangen. Es war seine Frau mit Pierre, und er blieb stehen und lauschte aufmerksam hinüber.

„Sie sind noch nicht reif, du mußt noch ein paar Tage warten,“ hörte er die Mutter sagen.

Ein lachendes Gezwitscher der Knabenstimme gab Antwort, und die friedevolle grüne Gartenwelt und das sanft tönende verwehte Kindergespräch in der erwartungsvollen Sommerstille klang dem Manne einen flüchtig zarten Augenblick lang wie aus dem fernen Garten der eigenen Kindheit herüber. Er trat an die Hecke und spähte zwischen den Ranken hindurch in den Garten, wo seine Frau im Morgenkleid auf dem sonnigen Wege stand, eine Blumenschere in der Hand und einen braunen leichten Korb am Arm. Sie war kaum zwanzig Schritte von der Hecke entfernt.

Der Maler betrachtete sie einen Augenblick. Die große Gestalt mit dem ernsthaften und enttäuschten Frauengesicht bückte sich über die Blumen, der große schlaffe Strohhut beschattete das ganze Gesicht.

„Wie heißen die Blumen da?“ fragte Pierre. In seinen braunen Haaren spielte das Licht, die nackten Beine standen mager und sonnenbraun in der Helle, und wenn er sich bückte, sah man im weiten Ausschnitt seiner Bluse unter dem braungebrannten Nacken die weiße Haut des Rückens hervorschimmern.

„Buschnelken,“ sagte die Mutter.

„Ja, das weiß ich,“ fuhr Pierre fort, „aber ich muß wissen, wie die Bienen zu ihnen sagen. In der Bienensprache müssen sie doch auch einen Namen haben.“

„Gewiß, aber den kann man nicht wissen, den wissen nur die Bienen selber. Vielleicht heißen sie sie Honigblumen.“

Pierre dachte nach.

„Das ist nichts,“ entschied er dann. „Im Klee finden sie gerade soviel Honig, und in den Kapuzinern auch, und sie können doch nicht für alle Blumen den gleichen Namen haben.“

Aufmerksam sah der Knabe einer Biene zu, die einen Nelkenkelch umflog, mit surrenden Flügeln davor in der Luft stillhielt und dann begierig in die rosige Höhlung eindrang.

„Honigblumen!“ dachte er geringschätzig und schwieg. Er hatte es längst erfahren, daß man gerade die hübschesten und interessantesten Dinge nicht wissen und erklären kann.

Veraguth stand hinter der Hecke und hörte zu, er betrachtete das ruhige, ernsthafte Gesicht seiner Frau und das schöne, frühreif zarte seines Lieblings, und sein Herz versteinerte sich bei dem Gedanken an die Sommer, in denen sein erster Sohn noch solch ein Kind gewesen war. Den hatte er verloren, und die Mutter auch. Aber diesen Kleinen wollte er nicht verlieren, ihn nicht. Er wollte ihn als Dieb hinterm Zaun belauschen, er wollte ihn locken und an sich ziehen, und wenn auch dieser Knabe sich von ihm abwenden würde, dann wollte er nicht mehr leben.

Leise zog er sich über den grasigen Weg zurück und ging unter den Bäumen davon.

„Das Bummeln ist nichts für mich,“ dachte er ärgerlich und machte sich hart. Er ging an seine Arbeit zurück und fand denn auch, die Unlust überwindend und einer jahrelang gepflegten Übung gehorchend, die gespannte Arbeitsstimmung wieder, die sich keine Nebenwege erlaubt und alle Kräfte nur auf das augenblicklich Gewollte richtet.

Er war drüben zu Tische erwartet und kleidete sich gegen Mittag sorgfältig um. Rasiert, gebürstet und im blauen Sommeranzug sah er zwar nicht jünger, doch frischer und elastischer aus als im verwahrlosten Atelierkleid. Er griff nach dem Strohhut und wollte eben die Türe öffnen, als sie ihm entgegen sich auftat und Pierre hereinkam.

Veraguth bückte sich zu dem Knabenkopf hinab und küßte ihn auf die Stirn.

„Wie geht’s, Pierre? War der Lehrer brav?“

„O ja, er ist nur so langweilig. Wenn er eine Geschichte erzählt, ist es gar nicht zum Lustigsein, sondern auch bloß eine Lektion, und am Schluß kommt immer, daß gute Kinder sich soundso benehmen müssen. – Hast du gemalt, Papa?“

„Ja, an den Fischen, weißt du. Das ist bald fertig, und morgen darfst du es sehen.“

Er nahm des Knaben Hand und ging mit ihm hinaus. Nichts in der Welt tat ihm so wohl und rührte alle versunkene Güte und hilflose Zartheit so in ihm auf wie das Gefühl, neben dem Jungen zu gehen, den Schritt seinen kleinen Schritten anzupassen und die leichte, zutrauliche Kinderhand in seiner zu fühlen.

Als sie den Park verließen und unter den dünnen Hängebirken hin über die Wiese gingen, blickte der Kleine sich um und fragte: „Papa, haben denn die Schmetterlinge vor dir Angst?“

„Warum? Ich glaube nicht. Neulich ist einer ganz lange auf meinem Finger gesessen.“

„Ja, aber jetzt sind keine da. Wenn ich manchmal ganz allein zu dir hinübergehe und ich komme dann hier vorbei, dann sind immer viele, viele Schmetterlinge auf dem Weg, und sie heißen Bläulinge, das weiß ich, und sie kennen mich und haben mich lieb, sie fliegen immer ganz nah um mich herum. Kann man denn Schmetterlinge nicht füttern?“

„Doch, das kann man, wir wollen es nächstens einmal versuchen. Man tut einen Tropfen Honig auf die Hand und streckt sie ganz ruhig aus, bis die Falter kommen und davon trinken.“

„Fein, Papa, das probieren wir. Nicht wahr, du sagst es der Mama, daß sie mir ein bißchen Honig geben muß? Dann weiß sie, daß ich ihn wirklich brauche und daß es keine Dummheit ist.“

Pierre lief voran durch das offene Haustor und den breiten Korridor, in dessen kühler Dämmerung der von draußen geblendete Vater noch den Hutständer suchte und nach der Speisezimmertüre tastete, als der Knabe längst drinnen war und die Mutter mit seinem Anliegen bestürmte.

Der Maler kam herein und gab seiner Frau die Hand. Sie war etwas größer als er, eine kräftige Gestalt, gesund, aber ohne Jugend, und sie hatte zwar aufgehört, ihren Mann zu lieben, sah aber noch heute den Verlust seiner Zärtlichkeit als ein traurig unbegreifliches, unverschuldetes Unglück an.

„Wir können gleich essen,“ sagte sie mit ihrer ruhigen Stimme, „Pierre, geh und wasch dir die Hände!“

„Hier ist eine Neuigkeit,“ fing der Maler an und gab ihr den Brief seines Freundes. „Otto kommt schon bald und ich hoffe, er bleibt eine gute Weile da. Es ist dir doch recht?“

„Herr Burkhardt kann die beiden Zimmer unten haben, da ist er ungestört und kann nach Belieben ein und aus gehen.“

„Ja, das ist gut.“

Zögernd sagte sie: „Ich hatte gedacht, er käme viel später.“

„Er ist früher gereist, auch ich wußte bis heute nichts davon. Na, desto besser.“

„Nun trifft er eben mit Albert zusammen.“

Veraguths Gesicht verlor den leisen Schimmer von Vergnügtheit und seine Stimme wurde kalt, als er den Namen seines Sohnes hörte.

„Was ist mit Albert?“ rief er nervös. „Er sollte doch mit seinem Freund ins Tirol gehen.“

„Ich wollte es dir nicht früher als nötig sagen. Der Freund ist von Verwandten eingeladen worden und hat auf die Fußreise verzichtet. Albert kommt mit Beginn seiner Ferien.“

„Und bleibt die ganze Zeit hier?“

„Ich denke, ja. Ich könnte auch ein paar Wochen mit ihm verreisen, aber das würde unbequem für dich werden.“

„Warum? Ich nähme Pierre zu mir herüber.“

Frau Veraguth zuckte die Achseln.

„Bitte, fange doch damit nicht wieder an! Du weißt, ich kann Pierre nicht allein hier lassen.“

Der Maler wurde zornig.

„Allein!“ rief er scharf. „Er ist nicht allein, wenn er bei mir ist.“

„Ich kann ihn nicht hier lassen, und ich will es nicht. Es ist unnütz, nochmals darüber zu streiten.“

„Natürlich, du willst nicht!“

Er schwieg, da Pierre zurückkam, und man ging zu Tische. Zwischen den beiden entfremdeten Menschen saß der Knabe und wurde von beiden bedient und unterhalten, wie er es gewohnt war, und sein Vater suchte die Mahlzeit recht lange hinzuhalten, denn nachher blieb der Kleine bei Mama und es war zweifelhaft, ob er heute nochmals ins Atelier kommen würde.

Zweites Kapitel

Robert war in dem kleinen Nebenraum beim Atelier damit beschäftigt, eine Palette und ein Bündel Pinsel auszuwaschen. Da erschien in der offenen Türe der kleine Pierre. Er blieb stehen und sah zu.

„Das ist eine dreckige Arbeit,“ urteilte er nach einer kleinen Weile. „Überhaupt, malen ist ja ganz schön, aber ich möchte doch nie ein Maler werden.“

„Na, überleg dir das noch einmal,“ meinte Robert. „Wo doch dein Vater so ein berühmter Maler ist.“

„Nein,“ entschied der Knabe, „es wäre nichts für mich. Man ist immerzu schmierig, und die Farben riechen auch so furchtbar stark. Ein bißchen davon rieche ich sehr gern, zum Beispiel an einem frischen Bild, wenn es in einem Zimmer hängt und nur so ganz fein nach Farbe riecht; aber im Atelier, das wäre mir zuviel, da bekäme ich Kopfweh.“

Der Diener sah ihn prüfend an. Eigentlich hätte er dem verwöhnten Kinde schon längst einmal seine Meinung sagen mögen, er hatte viel an ihm zu tadeln. Aber wenn Pierre da war und man ihm ins Gesicht sah, dann ging es doch nicht an. Der Kleine war so frisch und hübsch und ernsthaft, als wäre an ihm und in ihm absolut alles in Ordnung, und gerade der kleine Zug von herrischer Blasiertheit oder Altklugheit stand ihm merkwürdig gut an.

„Was möchtest du denn eigentlich werden, Junge?“ fragte Robert ein wenig streng.

Pierre blickte zu Boden und besann sich.

„Ach, ich möchte eigentlich gar nichts Besonderes werden, weißt du. Ich möchte nur, daß ich mit der Schule fertig wäre. Im Sommer möchte ich bloß ganz weiße Kleider tragen, auch weiße Schuhe, und es dürfte gar nie der kleinste Fleck daran sein.“

„So, so,“ tadelte Robert. „So sagst du jetzt. Aber neulich, als wir dich mit hatten, war auf einmal dein weißes Zeug voller Kirschenflecken und Grasflecken, und den Hut hattest du überhaupt verloren. Weißt du noch?“

Pierre wurde kühl. Er schloß die Augen bis auf einen kleinen Schlitz und starrte durch seine langhaarigen Wimpern.

„Für das hat mich meine Mama damals so gescholten,“ sagte er langsam, „und ich glaube nicht, daß sie dir Auftrag gegeben hat, es mir wieder vorzuhalten und mich damit zu quälen.“

Robert lenkte schon ein.

„Also du möchtest immer weiße Kleider anhaben und sie gar nie schmutzig machen?“

„Doch, manchmal schon. Du verstehst mich gar nicht! Natürlich möchte ich manchmal im Gras herumliegen, oder im Heu, oder über die Pfützen wegspringen oder auf einen Ast klettern. Das ist doch klar. Aber wenn ich einmal wild gewesen bin und ein bißchen getobt habe, dann möchte ich nicht gescholten werden. Ich möchte dann bloß ganz still in mein Zimmer gehen und reine, frische Kleider anlegen, und dann wäre es wieder gut. – Weißt du, Robert, ich glaube wirklich, das Schelten hat gar keinen Wert.“

„Das könnte dir passen, gelt? Warum denn?“

„Ja, sieh: wenn man etwas getan hat, was nicht recht ist, dann weiß man es gleich nachher doch selber und schämt sich. Wenn ich gescholten werde, schäme ich mich viel weniger. Und manchmal wird man doch auch gescholten, wenn man gar nichts Schlimmes getan hat, bloß weil man nicht gleich da war, wenn jemand rief, oder weil Mama gerade ärgerlich ist.“

„Du mußt es ineinander rechnen, mein Junge,“ lachte Robert, „dafür tust du gewiß nicht wenig Schlimmes, was niemand sieht und wofür niemand dich schilt.“

Pierre gab keine Antwort. Es war immer dasselbe. Wenn man sich einmal hinreißen ließ, mit einem Erwachsenen über etwas zu reden, was einem wirklich wichtig war, dann endete es immer mit einer Enttäuschung oder gar mit einer Demütigung.

„Ich möchte das Bild noch einmal sehen,“ sagte er in einem Ton, der ihn plötzlich von dem Diener weit entfernte und den Robert ebensowohl für herrisch wie für bittend halten konnte. „Gelt, laß mich noch einen Augenblick hinein.“

Robert gehorchte. Er schloß die Ateliertüre auf, ließ Pierre eintreten und kam selber mit, denn es war ihm streng verboten, irgend jemand allein hier drinnen zu lassen.

Auf der Staffelei in der Mitte des großen Raumes stand ins Licht gerückt und in einen provisorischen Goldrahmen gepaßt das neue Bild Veraguths. Pierre stellte sich davor auf. Robert blieb hinter ihm stehen.

„Gefällt es dir, Robert?“

„Natürlich gefällt’s mir. Da müßte ich ja ein Narr sein!“

Pierre blinzelte das Bild an.

„Ich glaube,“ sagte er nachdenklich, „man könnte mir viele Bilder zeigen und ich würde es gleich herauskennen, wenn eins vom Papa dabei wäre. Darum habe ich die Bilder gern, ich spüre, daß Papa sie gemacht hat. Aber eigentlich gefallen sie mir nur halb.“

„Red keine dummen Sachen!“ mahnte Robert ganz erschrocken und sah den Knaben vorwurfsvoll an, der jedoch unbewegt mit zwinkernden Augen vor dem Bilde stehen blieb.

„Schau,“ sagte er, „im Hause drüben sind ein paar alte Bilder, die gefallen mir viel besser. Solche Bilder will ich später einmal haben. Zum Beispiel Berge, wenn die Sonne untergeht, und alles ist ganz rot und goldig, und hübsche Kinder und Frauen und Blumen. Das ist doch eigentlich viel netter als so ein alter Fischer, der nicht einmal ein rechtes Gesicht hat, und so ein schwarzes, langweiliges Boot, nicht?“

Robert war in seinem Innern durchaus derselben Meinung und wunderte sich über den Freimut des Knaben, der ihn eigentlich freute. Er gab das aber nicht zu.

„Das verstehst du noch nicht recht,“ sagte er kurz. „Komm jetzt, ich muß wieder abschließen.“

In diesem Augenblick drang ein plötzliches pustendes und knirschendes Geräusch vom Hause herüber.

„O, ein Automobil!“ rief Pierre freudig und lief hinaus, unter den Kastanien durch in lauter verbotenen Abkürzungen quer über die Rasenplätze und mit Sprüngen über die Blumenrabatten hinweg. Atemlos kam er auf dem Kiesplatz vor dem Hause an und eben noch recht, um aus dem Wagen seinen Vater und einen fremden Herrn steigen zu sehen.

„Hallo, Pierre,“ rief Papa und fing ihn in den Armen auf. „Da ist ein Onkel angekommen, den du nimmer kennst. Gib ihm die Hand und frag ihn, wo er herkommt.“

Der Knabe faßte den Fremden fest ins Auge. Er gab dem Manne die Hand und sah in ein rotbraunes Gesicht und in helle, vergnügte, graue Augen.

„Wo kommst du her, Onkel?“ fragte er gehorsam.

Der Fremde nahm ihn auf die Arme.

„Junge, du bist mir zu schwer geworden,“ rief er munter seufzend und ließ ihn wieder los. „Wo ich herkomme? Von Genua, und vorher von Suez, und vorher von Aden, und vorher von – – –“

„O, von Indien, ich weiß, ich weiß! Und du bist der Onkel Otto Burkhardt. Hast du mir einen Tiger mitgebracht, oder Kokosnüsse?“

„Der Tiger ist mir wieder davongelaufen, aber Kokosnüsse kannst du haben, und auch Muscheln und chinesische Bilderbogen.“

Sie gingen durch die Haustüre und Veraguth führte seinen Freund die Treppe hinauf. Er legte ihm, der ein gutes Stück größer war als er, zärtlich eine Hand auf die Schulter. Oben im Korridor kam ihnen die Hausfrau entgegen. Auch sie begrüßte den Gast, dessen frohes, gesundes Gesicht sie an unwiederbringliche freudige Zeiten in vergangenen Jahren erinnerte, mit einer gemessenen, doch aufrichtigen Herzlichkeit. Er behielt ihre Hand einen Augenblick in der seinen und sah ihr ins Gesicht.

„Sie sind nicht älter geworden, Frau Veraguth,“ rief er lobend, „Sie haben sich besser gehalten als Johann.“

„Und Sie sind ganz unverändert,“ sagte sie freundlich.

Er lachte.

„O ja, die Fassade ist immer noch blühend, aber das Tanzen habe ich so allmählich doch aufgegeben. Es hat ohnehin zu nichts geführt, ich bin immer noch Junggeselle.“

„Ich hoffe, Sie sind diesmal zur Brautschau herübergekommen.“

„Nein, gnädige Frau, das ist nun einmal verpaßt. Ich mag mir das hübsche Europa auch nicht verderben. Sie wissen, ich habe Verwandte und entwickle mich allmählich zum Erbonkel. Mit einer Frau dürfte ich mich in der Heimat gar nimmer sehen lassen.“

In Frau Veraguths Zimmer war der Kaffee serviert. Man trank Kaffee und Likör und plauderte eine Stunde, von der Seereise, von Gummipflanzungen, über chinesisches Porzellan. Der Maler war anfangs still und etwas bedrückt, er hatte dies Zimmer seit Monaten nicht mehr betreten. Aber es ging alles gut und mit Ottos Gegenwart schien eine leichte, frohere, kindlichere Atmosphäre in das Haus gekommen zu sein.

„Ich glaube, jetzt möchte meine Frau gerne ein bißchen ruhen,“ sagte der Maler schließlich. „Ich will dir deine Zimmer zeigen, Otto.“

Sie verabschiedeten sich und gingen nach den Gastzimmern. Veraguth hatte zwei Stuben für seinen Freund hergerichtet und ihre ganze Einrichtung selber besorgt, die Möbel gestellt und an alles gedacht, von den Bildern an der Wand bis zur Auswahl der Bücher im Schaft. Überm Bett hing eine alte, bleichgewordene Photographie, ein drollig rührendes Institutsbild aus den siebziger Jahren. Das fiel dem Gast ins Auge und er trat näher, um es zu betrachten.

„Herrgott,“ rief er überrascht, „das sind ja wir, alle sechzehn von damals! Junge, du bist rührend. Ich habe das Ding seit zwanzig Jahren nimmer gesehen.“

Veraguth lächelte.

„Ja, ich dachte, es würde dir Spaß machen. Hoffentlich findest du alles, was du brauchst. Willst du gleich auspacken?“

Burkhardt setzte sich breit auf einen mächtigen, mit Kupferecken beschlagenen Schiffskoffer und blickte zufrieden um sich.

„Fein ist’s hier. Und wo bist du zu Haus? Nebenan? Oder oben?“

Der Maler spielte mit dem Griff einer Ledertasche.

„Nein,“ sagte er leichthin. „Ich wohne jetzt drüben, beim Atelier. Ich habe angebaut.“

„Das mußt du mir nachher zeigen. Aber – – schläfst du auch drüben?“

Veraguth ließ die Tasche stehen und drehte sich um.

„Ja, ich schlafe auch drüben.“

Sein Freund schwieg und besann sich. Dann griff er in die Tasche und zog einen dicken Schlüsselbund hervor, mit dem er zu rasseln anfing.

„Du, wir wollen mal ein bißchen auspacken, nicht? Du könntest gehen und den Jungen holen, es wird ihm Spaß machen.“

Veraguth lief alsbald hinaus und kam bald mit Pierre wieder.

„Du hast schöne Koffer, Onkel Otto, ich habe sie schon angesehen. Und soviel Zettel drauf. Ich habe ein paar davon gelesen. Auf einem steht Penang. Was heißt das: Penang?“

„Das ist eine Stadt in Hinterindien, wo ich manchmal hinkomme. Paß mal auf, jetzt darfst du hier aufmachen.“

Er gab dem Kinde einen flachen, vielzackigen Schlüssel und ließ ihn die Schlösser eines Koffers öffnen. Dann ward der Deckel aufgeklappt, und gleich das erste, was obenauf lag und in die Augen stach, war ein umgekehrter, flacher Korb von bunter, malaiischer Flechtarbeit, der wurde umgedreht und von Papieren befreit, und innen lagen zwischen Papieren und Lappen die schönsten phantastischen Muscheln, wie man sie in exotischen Hafenstädten zu kaufen bekommt.

Pierre bekam die Muscheln geschenkt und wurde ganz still vor Glück, und den Muscheln folgte ein großer ebenhölzerner Elefant und ein chinesisches Spielzeug mit beweglichen grotesken Holzfiguren, und schließlich eine Rolle greller, leuchtender chinesischer Bilderbogen, voll von Göttern, Teufeln, Königen, Kriegern und Drachen.

Während der Maler dem Knaben diese Dinge bestaunen half, packte Burkhardt die Ledertasche aus und verteilte Nachtschuhe, Wäsche, Bürsten und dergleichen Dinge im Schlafzimmer. Dann kehrte er zu den beiden zurück.

„So,“ sagte er ermunternd, „genug gearbeitet für heute. Nun das Vergnügen. Können wir jetzt einmal ins Atelier gehen?“

Pierre blickte empor und wieder, wie bei der Ankunft des Wagens, betrachtete er mit Verwunderung das bewegte und freudig verjüngte Gesicht seines Vaters.

„Du bist so lustig, Papa,“ sagte er anerkennend.

„Jawohl,“ nickte Veraguth.

Aber sein Freund fragte: „Ist er denn sonst nicht so lustig?“

Pierre blickte verlegen von einem zum anderen.

„Ich weiß nicht,“ meinte er zögernd. Dann aber lachte er wieder und sagte bestimmt: „Nein, so vergnügt bist du noch gar nie gewesen.“

Er lief mit dem Muschelkorb davon. Otto Burkhardt nahm seines Freundes Arm und ging mit ihm ins Freie. Er ließ sich durch den Park und schließlich zum Atelierhaus führen.

„Ja, da ist angebaut worden,“ stellte er alsbald fest, „sieht übrigens recht hübsch aus. Wann hast du das machen lassen?“

„Vor drei Jahren etwa, glaube ich. Das Atelier selbst ist auch größer geworden.“

Burkhardt sah sich um.

„Der See ist unbezahlbar! Da wollen wir am Abend ein wenig schwimmen. Du hast es schön hier, Johann. Aber jetzt muß ich das Atelier sehen. Hast du neue Bilder da?“

„Nicht viele. Aber eines, ich bin vorgestern erst damit fertig geworden, das mußt du ansehen. Ich glaube, das ist gut.“

Veraguth schloß die Türen auf. Der hohe Arbeitsraum war festlich sauber, der Boden frisch gescheuert und alles aufgeräumt. In der Mitte stand einsam das neue Bild. Sie blieben schweigend davor stehen. Die feuchtkalte, zähe Atmosphäre der trüben, regnerischen Morgenfrühe stand im Widerspruch mit dem klaren Licht und der heißen durchsonnten Luft, die durch die Türen hereinfloß.

Lange betrachteten sie das Werk.

„Das ist das letzte, was du gemacht hast?“

„Ja. Es muß ein anderer Rahmen darum, sonst ist nichts mehr dran zu tun. Gefällt es dir?“

Die Freunde sahen einander prüfend in die Augen. Der größere und stärkere Burkhardt mit dem gesunden Gesicht und den warmen, lebensfrohen Augen stand wie ein großes Kind vor dem Maler, dessen Blick und Gesicht scharf und streng aus den vorzeitig ergrauenden Haaren sah.

„Das ist vielleicht dein bestes Bild,“ sagte der Gast langsam. „Ich habe auch die in Brüssel gesehen und die zwei in Paris. Ich hätte es nicht gedacht, aber du bist in den paar Jahren noch vorwärts gekommen.“

„Das freut mich. Ich glaube es auch. Ich bin ziemlich fleißig gewesen, und manchmal meine ich, ich sei früher eigentlich nur ein Dilettant gewesen. Ich habe erst spät richtig arbeiten gelernt, aber jetzt bin ich drüber Herr geworden. Weiter geht es nun wohl auch nicht, Besseres als das hier kann ich nicht machen.“

„Ich verstehe. Na, du bist ja auch reichlich berühmt geworden, sogar auf unseren alten Ostasiendampfern habe ich gelegentlich von dir sprechen hören und bin ganz stolz geworden. Wie schmeckt es denn nun, das Berühmtsein? Freut es dich?“

„Freuen, das will ich nicht sagen. Ich finde es in Ordnung. Es leben zwei, drei, vier Maler, die vielleicht mehr sind und mehr geben können als ich. Zu den ganz Großen habe ich mich nie gerechnet, und was die Literaten darüber sagen, ist natürlich Blech. Ich kann verlangen, daß man mich ernst nimmt, und da man das tut, bin ich zufrieden. Alles andere ist Zeitungsruhm oder Geldfrage.“

„Na ja. Aber wie meinst du das mit den ganz Großen?“

„Ja, damit meine ich die Könige und Fürsten. Unsereiner bringt es zum General oder Minister, dann ist er an der Grenze. Siehst du, wir können nichts tun als fleißig sein und die Natur so ernst nehmen, als irgend möglich ist. Die Könige aber, die sind Brüder und Kameraden der Natur, sie spielen mit ihr und können selber erschaffen, wo wir nur nachbilden. Aber freilich, die Könige sind rar, es kommt nicht alle hundert Jahre einer.“

Sie gingen im Atelier auf und ab. Der Maler, nach den Worten suchend, blickte angestrengt zu Boden, der Freund ging nebenher und suchte in dem bräunlich mageren, starkknochigen Gesicht Johanns zu lesen.

Bei der Tür zum Nebenraum blieb Otto stehen.

„Mach doch hier einmal auf,“ bat er, „und laß mich die Zimmer sehen. Und gib mir eine Zigarre, gelt?“

Veraguth öffnete die Tür. Sie gingen durch das Zimmer und blickten in die Nebenräume. Burkhardt zündete sich eine Zigarre an. Er trat in das kleine Schlafzimmer des Freundes, er sah sein Bett und betrachtete aufmerksam die paar bescheidenen Räume, in welchen überall Malergeräte und Rauchzeug umherlag. Das Ganze war fast dürftig anzusehen und sprach von Arbeit und Askese wie etwa die kleine Wohnung eines armen, fleißigen Junggesellen.

„Also da hast du dich eingerichtet!“ sagte er trocken. Aber er sah und fühlte alles, was hier in Jahren vor sich gegangen war. Er bemerkte mit Genugtuung die Gegenstände, die auf Sport, Turnen, Reiten hinwiesen, und er vermißte bekümmert alle Zeichen von Behagen, kleinem Komfort und genießerischer Mußezeit.

Dann kehrten sie zu dem Bilde zurück. Also so entstanden diese Bilder, die überall an den Ehrenplätzen der Ausstellungen und Galerien hingen und die man mit schwerem Gold bezahlte; hier entstanden sie in Räumen, die nur Arbeit und Entsagung kannten, wo nichts Festliches, nichts Unnützes, kein lieber Tand und Kleinkram, kein Duft von Wein und Blumen, keine Erinnerung an Frauen zu finden war.

Über dem schmalen Bett hingen ungerahmt zwei Photographien angenagelt, ein Bild des kleinen Pierre und eines von Otto Burkhardt. Er hatte es wohl bemerkt, es war eine schlechte Liebhaberaufnahme, sie zeigte ihn im Tropenhelm mit der Veranda seines indischen Hauses hinter sich, und unterhalb der Brust floß das Bild ganz in mystische weiße Streifen auseinander, weil Licht auf die Platte gekommen war.

„Das Atelier ist schön geworden. Überhaupt, wie du fleißig geworden bist! Gib deine Hand her, Junge, es ist fein, dich wiederzusehen! Aber jetzt bin ich müd und verschwinde für eine Stunde. Willst du mich später abholen, zum Baden oder Spazierengehen? Gut, danke. Nein, ich brauche gar nichts, in einer Stunde bin ich wieder all right. Auf Wiedersehen!“

Er schlenderte bequem unter den Bäumen hinweg und Veraguth sah ihm nach, wie seine Gestalt und sein Gang und jede Falte seiner Kleidung Sicherheit und ruhige Lebensfreude verkündete.

Indessen ging Burkhardt zwar ins Haus hinüber, schritt aber an seinen Zimmern vorbei zur Treppe, stieg hinauf und klopfte bei Frau Veraguth an.

„Störe ich, oder darf ich ein bißchen Gesellschaft leisten?“

Sie ließ ihn ein und lächelte, und er fand das kurze, ungeübte Lächeln auf dem kräftigen, schweren Gesicht sonderbar hilflos.

„Es ist herrlich hier auf Roßhalde. Ich war schon im Park und am See drüben. Und wie Pierre gediehen ist! Der hübsche Kerl könnte mir beinah mein Junggesellentum verleiden.“

„Nicht wahr, er sieht gut aus? Finden Sie, er gleiche meinem Mann?“

„Ein wenig, ja. Oder eigentlich mehr als nur ein wenig. Ich habe Johann in diesem Alter noch nicht gekannt, aber ich weiß noch ziemlich gut, wie er mit elf, zwölf Jahren ausgesehen hat. – Er scheint übrigens ein wenig überanstrengt. Wie? Nein, ich spreche von Johann. Hat er in der letzten Zeit sehr viel gearbeitet?“

Frau Adele sah ihm ins Gesicht; sie fühlte, daß er sie ausforschen wolle.

„Ich glaube wohl,“ sagte sie ruhig. „Er spricht sehr selten von seiner Arbeit.“

„Was malt er denn jetzt? Landschaften?“

„Er arbeitet oft im Park, meistens mit Modellen. Haben Sie Bilder von ihm gesehen?“

„Ja, die in Brüssel.“

„Hat er in Brüssel ausgestellt?“

„Gewiß, eine ganze Menge Bilder. Ich habe den Katalog mitgebracht. Ich möchte nämlich eines davon kaufen und hätte gerne von Ihnen gehört, was Sie davon halten.“

Er bot ihr ein Heft hin und deutete auf die kleine Reproduktion eines Bildes. Sie betrachtete das Bildchen, blätterte in dem Büchlein und gab es ihm zurück.

„Sie müssen sich selber helfen, Herr Burkhardt, ich kenne das Bild nicht. Ich glaube, er hat es im vergangenen Herbst in den Pyrenäen gemalt und gar nie hier gehabt.“

Sie machte eine Pause und fuhr ablenkend fort: „Sie haben Pierre beschenkt, das war lieb. Ich danke Ihnen.“

„O, es sind Kleinigkeiten. Aber Sie müssen mir erlauben, auch Ihnen etwas Asiatisches als Andenken zu geben. Wollen Sie das? Ich habe ein paar Stoffe mitgebracht, die ich Ihnen zeigen möchte, und Sie müssen sich davon aussuchen, was Ihnen gefällt.“

Es gelang ihm, aus ihrem höflichen Sperren einen kleinen scherzhaft galanten Wortkrieg zu entfachen und die verschlossene Frau in gute Stimmung zu bringen. Er brachte einen Arm voll indischer Gewebe aus seiner Schatzkammer herauf, er breitete malaiische Battickstoffe und handgewobene Stücke aus, legte Spitzen und Seide über die Stuhllehnen, plauderte und erzählte, wo er dies und jenes gesehen und erfeilscht habe, fast für nichts, und entfaltete einen lustigen, bunten kleinen Basar. Er bat um ihr Urteil, hing ihr Spitzen über die Hände, erklärte ihre Machart und nötigte sie, die schönsten Stücke auszubreiten, zu betrachten, zu betasten, zu loben und schließlich zu behalten.

„Nein,“ rief sie am Ende lachend, „ich mache Sie ja zum Bettler. Das kann ich unmöglich alles behalten.“

„Keine Sorge,“ lachte er dagegen. „Ich habe vor kurzem wieder sechstausend Gummibäume gepflanzt und bin im Begriff, ein rechter Nabob zu werden.“

Als Veraguth ihn abzuholen kam, fand er beide plaudernd in voller Fröhlichkeit. Verwundert sah er, wie seine Frau gesprächig geworden war, suchte vergebens mit ins Geplauder zu kommen und ging etwas schwerfällig daran, nun auch die Geschenke zu bewundern.

„Laß nur, das sind Damensachen,“ rief der Freund ihm zu, „wir wollen jetzt baden gehen!“

Er zog ihn hinaus und ins Freie.

„Deine Frau ist wirklich kaum älter geworden, seit ich sie zum letztenmal sah,“ fing Otto unterwegs an. „Eben war sie mächtig vergnügt. Soweit ist ja also bei euch alles in Ordnung. Fehlt noch der große Sohn. Was macht denn der?“

Der Maler zuckte die Achseln und zog die Brauen zusammen.

„Du wirst ihn sehen, er kommt dieser Tage. Ich schrieb dir ja einmal darüber.“

Und plötzlich blieb er stehen, beugte sich gegen den Freund vor, sah ihm scharf in die Augen und sagte leise:

„Du wirst alles sehen, Otto. Ich habe nicht das Bedürfnis, darüber zu reden. Du wirst sehen. – Wir wollen vergnügt sein, solang du da bist, Alter! Und jetzt gehen wir an den Weiher; ich will wieder einmal mit dir wettschwimmen wie in der Knabenzeit.“

„Das wollen wir,“ nickte Burkhardt, der Johanns Nervosität nicht zu bemerken schien. „Und du wirst gewinnen, mein Lieber, was dir früher nicht immer gelang. Es ist ein Jammer, aber ich habe tatsächlich einen Bauch angesetzt.“

Es war Abend geworden. Der See lag ganz im Schatten, oben in den Baumkronen spielte ein schwacher Wind und über die schmale blaue Himmelsinsel, die der Park überm Wasser frei ließ, flogen leichte lilafarbene Wolken, alle von derselben Art und Form, in geschwisterlicher Reihe, dünn und langgestreckt wie Weidenblätter. Die beiden Männer standen vor der im Gebüsch verborgenen Badehütte, deren Schloß nicht aufgehen wollte.

„Lassen wir’s!“ rief Veraguth. „Das Zeug ist verrostet, wir brauchen die Hütte nie.“

Er begann sich zu entkleiden, Burkhardt folgte dem Beispiel. Als sie schwimmbereit am Ufer standen und die Zehen prüfend in das stille, schattige Wasser steckten, kam im selben Augenblick über beide Männer ein verwehter süßer Glückshauch aus den fernen Knabenzeiten her, sie blieben minutenlang im Vorgefühl des leichten, holden Badeschauders stehen und in ihren Seelen tat sich sachte das grüne helle Tal der Jugendsommerzeiten auf, daß sie schwiegen und, der sanften Regung ungewohnt, mit halber Verlegenheit die Füße ins Wasser tauchten und der rasch aufblinkenden Flucht von Halbkreisen auf dem braungrünen Spiegel zusahen.

Nun tat Burkhardt einen raschen Schritt ins Wasser.

„Ah, das ist gut,“ seufzte er wohlig auf. „Übrigens können wir beide uns immer noch sehen lassen, und wenn ich meinen Bauch abrechne, sind wir noch zwei recht stramme Bursche.“

Er ruderte mit flachen Händen, schüttelte sich und tauchte unter.

„Du weißt nicht, wie gut du es hast!“ rief er neidisch. „Durch meine Pflanzung draußen läuft der schönste Fluß, und streckst du das Bein hinein, so siehst du es nicht wieder. Er ist voll von den verfluchten Krokodilen. Vorwärts jetzt, um den großen Becher von Roßhalde! Wir schwimmen bis zur Treppe da unten und wieder zurück. Bist du soweit? Also: eins – zwei – drei!“

Rauschend stießen sie ab, beide mit lachenden Gesichtern und in mäßigem Tempo, aber der Hauch vom Jugendgarten war noch über ihnen, sie begannen alsbald ernstlich zu wetteifern, die Gesichter spannten sich, die Augen blitzten und die geschwungenen Arme glänzten mit weiten Wurfbewegungen aus dem Wasser. Sie waren gleichzeitig bei der Treppe, stießen gleichzeitig wieder ab und strebten denselben Weg zurück, und nun warf sich der Maler in heftigen Schwüngen vorwärts, gewann Vorsprung und war eine kleine Weile vor dem anderen am Ziel.

Stark atmend hielten sie stehend im Wasser, rieben sich die Augen aus und lachten einer den anderen in schweigendem Vergnügen an, und es schien beiden, erst jetzt seien sie wieder die alten Kameraden und erst jetzt beginne die kleine, fatale Kluft von Ungewohntheit und Fremdheit zwischen ihnen zu verschwinden.

Wieder angekleidet saßen sie mit frischen Gesichtern und erleichtertem Gefühl nebeneinander auf den flachen Steinstufen der Seetreppe. Sie blickten über den dunkeln Wasserspiegel, der sich jenseits in der buschüberhangenen ovalen Bucht schon in schwärzlich braune Dämmerung verlor, sie naschten feiste hellrote Kirschen, die sie dem Diener noch in der braunen Papierhülle abgenommen hatten, und sie sahen mit befreiten Herzen dem herankommenden Abend zu, bis die tiefstehende Sonne wagrecht zwischen den Stämmen hindurch hereinschien und auf den gläsernen Flügeln der Libellen goldene Feuer entzündete. Und sie plauderten ohne Pause und ohne Besinnen eine gute Stunde lang von der Institutszeit, von den Lehrern und den damaligen Mitschülern und was aus dem und jenem geworden sei.

„Mein Gott,“ sagte Otto Burkhardt mit seiner friedlich frischen Stimme, „es ist lange her. Weiß man denn nicht, was aus der Meta Heilemann geworden ist?“

„Ja, die Meta Heilemann!“ fiel Veraguth begierig ein. „Sie war wirklich ein schönes Mädel. Alle meine Schreibunterlagen waren voll von ihren Porträts, die ich während der Schulstunden heimlich auf die Fließblätter zeichnete. Das Haar ist mir nie recht geglückt. Weißt du noch, sie trug es in zwei dicken Schnecken über den Ohren.“

„Weißt du nichts von ihr?“

„Nichts. Als ich das erstemal von Paris zurückkam, war sie mit einem Rechtsanwalt verlobt. Ich traf sie mit ihrem Bruder auf der Straße, und ich weiß noch, wie ich über mich selber wütend war, weil ich sofort rot wurde und mir trotz dem Schnurrbart und der Pariser Abgebrühtheit wieder wie ein dummer kleiner Schulbub vorkam. – Nur daß sie Meta hieß! Ich konnte den Namen nicht ausstehen!“

Burkhardt wiegte träumerisch den runden Kopf.

„Du warst nicht verliebt genug, Johann. Für mich war Meta herrlich, meinetwegen hätte sie Eulalia heißen können, ich wäre doch für einen Blick von ihr durchs Feuer gegangen.“

„O, auch ich war verliebt genug. Einmal, als ich von unserem Fünfuhrausgang heimkam – ich hatte mich absichtlich verspätet, ich war allein und dachte an nichts in der Welt als an Meta, und es war mir vollkommen gleichgültig, daß ich beim Zurückkommen bestraft werden würde – da kam sie mir entgegen, dort bei der runden Mauer. Sie hatte eine Freundin am Arm, und da ich so plötzlich mir vorstellen mußte, wie es wäre, wenn statt dem blöden Ding ich ihren Arm in meinem und sie so nahe an mir hätte, da wurde ich so schwindlig und verwirrt, daß ich eine Weile stehen blieb und mich an die Mauer lehnte, und als ich schließlich heimkam, war richtig das Tor schon geschlossen, ich mußte läuten und bekam eine Stunde Arrest.“

Burkhardt lächelte und dachte daran, wie sie beide schon mehrmals bei ihren seltenen Zusammenkünften sich jener Meta erinnert hatten. Damals in der Jünglingszeit hatte einer dem andern seine Liebe mit List und Sorgfalt verschwiegen, und erst nach Jahren, als Männer, hatten sie gelegentlich den Schleier gelüftet und ihre kleinen Erlebnisse ausgetauscht. Und doch gab es heute noch in dieser Sache Geheimnisse. Otto Burkhardt mußte eben jetzt daran denken, daß er damals monatelang einen Handschuh von Meta besessen und verehrt, den er gefunden oder eigentlich gestohlen hatte und von dem sein Freund bis heute nichts wußte. Er überlegte, ob er nun auch diese Geschichte preisgeben solle, und schließlich lächelte er listig und schwieg und fand es hübsch, diese kleine letzte Erinnerung auch weiterhin in sich verschlossen zu halten.

Drittes Kapitel

Burkhardt saß in einem gelben Korbsessel bequem zurückgelehnt, den großen Panamahut auf dem Hinterkopf, eine Zeitschrift in den Händen, rauchend und lesend in der hell von der Sonne durchschienenen Laube an der Westseite des Atelierhauses, und nahe dabei hockte Veraguth auf einem niedrigen Klappstühlchen und hatte die Staffelei vor sich. Die Figur des Lesenden war aufgezeichnet, die großen Farbflecken standen fest, nun malte er am Gesicht und das ganze Bild frohlockte in hellen, leichten, durchsonnten, doch maßvollen Tönen. Es roch würzig nach Ölfarbe und Havannarauch, Vögel taten verborgen im Laub ihre dünnen, mittäglich gedämpften Schreie und sangen schläfrig-träumerische Plaudertöne. Am Boden kauerte Pierre mit einer großen Landkarte, auf der sein dünner Zeigefinger nachdenkliche Reisen betrieb.

„Nicht einschlafen!“ schrie der Maler mahnend.

Burkhardt blinzelte ihn lächelnd an und schüttelte den Kopf.

„Wo bist du jetzt, Pierre?“ fragte er den Knaben.

„Warte, ich muß erst lesen,“ gab Pierre eifrig Antwort, und buchstabierte auf seiner Karte einen Namen heraus. „In Lu – in Luz – Luz – in Luzern. Da ist ein See oder ein Meer. Ist der größer als unser See, Onkel?“

„Viel größer! zwanzigmal größer! Du mußt einmal hingehen.“

„O ja. Wenn ich ein Automobil habe, dann fahre ich nach Wien und nach Luzern und an die Nordsee und nach Indien, da wo dein Haus ist. Bist du dann auch zu Hause?“

„Gewiß, Pierre. Ich bin immer zu Hause, wenn Gäste zu mir kommen. Dann gehen wir zu meinem Affen, der heißt Pendek und hat keinen Schwanz, aber einen schneeweißen Backenbart, und dann nehmen wir Flinten und fahren im Boot auf dem Fluß und schießen ein Krokodil.“

Pierre wiegte voll Vergnügen seinen schlanken Oberkörper hin und her. Der Onkel aber erzählte weiter von seiner Rodung im malaiischen Urwald, und er sprach so hübsch und so lange, daß der Kleine schließlich müde wurde und nimmer folgen konnte. Er studierte zerstreut an seiner Karte weiter, sein Vater aber hörte desto aufmerksamer auf den eifrig plaudernden Freund, der in lässigem Behagen von Arbeit und Jagd, von Ausflügen auf Pferden und in Booten, von hübschen leichten Kulidörfern aus Bambusrohr und von Affen, Reihern, Adlern, Schmetterlingen berichtete und sein stilles, weltfremdes, tropisches Waldleben so verführerisch und heimlich auftat, daß es dem Maler schien, er sähe durch einen Spalt in ein reiches, farbenschönes, seliges Paradiesland hinein. Er hörte von stillen, großen Strömen im Urwald, von baumhohen Farnwildnissen und weiten wehenden Ebenen voll von mannshohem Lalanggras, er hörte von farbigen Abenden am Meeresufer, den Koralleninseln und blauen Vulkanen gegenüber, von wilden, rasenden Regenstürzen und flammenden Gewittern, von träumerisch beschaulichem Hindämmern heißer Tage auf den breiten, schattigen Veranden der weißen Pflanzerhäuser, vom Gewühl chinesischer Stadtstraßen und von abendlichen Ruhestunden der Malaien am flachen, steinernen Teich vor der Moschee.

Wieder, wie früher schon manchesmal, erging sich Veraguths Phantasie in der fernen Heimat seines Freundes, und er wußte nicht, wie sehr die Verlockung und stille Lüsternheit seiner Seele den verborgenen Absichten Burkhardts entgegenkam. Es war nicht allein der Schimmer tropischer Meere und Inselküsten, der Reichtum der Wälder und Ströme, die Farbigkeit halbnackter Naturvölker, die ihm Sehnsucht schuf und ihn mit Bildern berückte. Es war noch mehr die Ferne und Stille einer Welt, in der seine Leiden, Sorgen, Kämpfe und Entbehrungen fremd und fern und blaß werden mußten, wo hundert kleine tägliche Lasten von der Seele fallen und eine neue, noch reine, schuldlose, leidlose Atmosphäre ihn aufnehmen würde.

Der Nachmittag verging, die Schatten wanderten. Pierre war längst weggelaufen, Burkhardt allmählich still geworden und endlich eingenickt, das Bild aber war nahezu fertig und der Maler schloß eine Weile die ermüdeten Augen, ließ die Hände sinken und atmete minutenlang mit beinahe schmerzlicher Inbrunst die tiefe sonnige Stille der Stunde, die Nähe des Freundes, die beruhigte Ermüdung nach einer geglückten Arbeit und die Hingenommenheit der erschlafften Nerven. Das war, neben dem Rausch des Zugreifens und schonungslosen Arbeitens, seit langem wohl sein tiefster und tröstlichster Genuß, diese milden Augenblicke müder Entspannung, ähnlich den ruhevoll vegetativen Dämmerzuständen zwischen Schlaf und Erwachen.

Er stand leise auf, um Burkhardt nicht zu wecken, und trug die Leinwand vorsichtig in das Atelier. Dort legte er den leinenen Malrock ab, wusch die Hände und badete die leicht überanstrengten Augen in kaltem Wasser. Eine Viertelstunde später stand er wieder draußen, blickte dem schlummernden Gast einen Moment prüfend ins Gesicht und weckte ihn dann durch den alten Pfiff, den sie schon vor fünfundzwanzig Jahren untereinander als Geheimsignal und Erkennungszeichen eingeführt hatten.

„Falls du ausgeschlafen hast, Junge,“ bat er ermunternd, „könntest du mir jetzt noch ein bißchen von drüben erzählen, ich konnte während der Arbeit nur halb zuhören. Du sagtest auch etwas von Photographien; hast du die bei dir und können wir sie ansehen?“

„Gewiß können wir das, komm nur mit!“

Auf diese Stunde hatte Otto Burkhardt seit mehreren Tagen gewartet. Es war seit vielen Jahren sein Wunsch, Veraguth einmal mit sich nach Ostasien zu locken und ihn eine Weile drüben bei sich zu haben. Diesmal, da es ihm die letzte Gelegenheit zu sein schien, hatte er sich mit der durchdachtesten Planmäßigkeit darauf vorbereitet. Als die beiden Männer in Burkhardts Zimmer beisammen saßen und im abendlichen Licht über Indien plauderten, zog er immer neue Albume und Mappen mit Photographien aus seinem Koffer. Der Maler war über die Fülle entzückt und erstaunt, Burkhardt blieb ruhig und schien allen den Blättern keinen besonderen Wert beizulegen, und doch wartete er heimlich auf ihre Wirkung mit der heftigsten Spannung.

„Was für schöne Aufnahmen das sind!“ rief Veraguth in hellem Vergnügen. „Hast du die alle selber gemacht?“

„Zum Teil, ja,“ sagte Burkhardt trocken, „manche sind auch von meinen Bekannten draußen. Ich wollte dir nur einmal eine Ahnung davon geben, wie es bei uns etwa aussieht.“

Er sagte es obenhin und legte die Blätter gleichmütig zu Stößen, und Veraguth konnte nicht ahnen, wie sorglich und mühsam er diese Sammlung zustande gebracht hatte. Er hatte viele Wochen lang einen jungen englischen Photographen aus Singapore und später einen Japaner aus Bangkok bei sich gehabt, und sie hatten vom Meer bis in die tiefsten Wälder hinein auf vielen Ausflügen und kleinen Reisen alles aufgesucht und photographiert, was irgend schön und bemerkenswert schien, schließlich waren die Bilder mit der äußersten Sorgfalt entwickelt und kopiert worden. Sie waren Burkhardts Köder, und er sah mit tiefer Erregung zu, wie sein Freund anbiß und sich festsog. Er zeigte Bilder von Häusern, Straßen, Dörfern, Tempeln, Bilder von fabelhaften Batuhöhlen bei Kuala-Lumpur und der wildschönen, brüchigen Kalk- und Marmorberge in der Gegend von Ipoh, und als Veraguth zwischenein fragte, ob nicht auch Aufnahmen von Eingeborenen dabei seien, kramte er Bilder von Malaien, Chinesen, Tamilen, Arabern, Javanern hervor, nackte athletische Hafenkuli, dürre alte Fischer, Jäger, Bauern, Weber, Händler, schöne goldgeschmückte Weiber, dunkle nackte Kindergruppen, Fischer mit Netzen, Sakeys mit Ohrringen, welche die Nasenflöte spielten, und javanische Tänzerinnen in starrendem Silberschmuck. Er hatte Aufnahmen von allen Palmenarten, von großblättrigen saftigen Pisangbäumen, von Urwaldwinkeln mit tausendfältigem Schlinggewächse, von heiligen Tempelhainen und Schildkrötenteichen, von Wasserbüffeln in nassen Reisfeldern, von zahmen Elefanten bei der Arbeit und von wilden, die im Wasser spielten und trompetende Rüssel gen Himmel streckten.

Der Maler nahm Bild für Bild in die Hand. Viele schob er nach einem kurzen Blick beiseite, manche legte er vergleichend nebeneinander, einzelne Figuren und Köpfe betrachtete er scharf durch die hohle Hand. Er fragte bei vielen Aufnahmen, um welche Tageszeit sie gemacht seien, er maß Schatten aus und versank immer tiefer in ein grüblerisches Anschauen.

„Man könnte das alles malen,“ murmelte er einmal abwesend vor sich hin.

„Genug!“ rief er schließlich aufatmend. „Du mußt mir noch eine Menge erzählen. Es ist herrlich, dich hier zu haben! Ich sehe alles wieder ganz anders. Komm, wir gehen noch eine Stunde spazieren, ich will dir etwas Hübsches zeigen.“

Angeregt und von aller Müdigkeit befreit zog er Burkhardt mit sich und spazierte mit ihm eine Strecke auf der Landstraße feldeinwärts, heimkehrenden Heuwagen entgegen. Er atmete den warmen satten Heugeruch mit Wonne ein, dabei flog eine Erinnerung ihn an.

„Erinnerst du dich,“ fragte er lachend, „an den Sommer nach meinem ersten Akademiesemester, wie wir miteinander auf dem Lande waren? Da malte ich Heu, nichts als lauter Heu, weißt du noch? Ich hatte mich zwei Wochen lang abgemüht, ein paar Heuhaufen auf einer Bergwiese zu malen, und es ging und ging nicht, ich brachte die Farbe nicht heraus, das stumpfe matte Heugrau! Und als ich es schließlich doch hatte – es war noch nicht übermäßig delikat, aber ich wußte nun, daß es aus Rot und Grün gemischt sein mußte – da war ich so froh, daß ich nichts mehr sah als lauter Heu. Ach, das ist schön, so ein erstes Probieren und Suchen und Finden!“

„Ich denke, man lernt nie aus,“ meinte Otto.

„Natürlich nicht. Aber die Sachen, die mich jetzt plagen, die haben nichts mit der Technik zu tun. Weißt du, seit ein paar Jahren passiert es mir immer häufiger, daß ich bei irgendeinem Anblick plötzlich an meine Knabenzeit denken muß. Damals sah alles anders aus, und etwas davon möchte ich einmal malen können. Für ein paar Minuten habe ich es manchmal wiedergefunden, daß plötzlich alles den sonderbaren Schimmer wieder hat – aber das reicht noch nicht. Wir haben so viele gute Maler, feine, delikate Leute, die die Welt so malen, wie ein kluger, feiner, bescheidener alter Herr sie sieht. Aber wir haben keinen, der sie malt, wie ein frischer, herrschsüchtiger, rassiger Bub sie sieht, oder die, die es so versuchen, sind meistens schlechte Handwerker.“

Er riß in Gedanken verloren eine rötlich blaue Skabiose am Feldrande ab und starrte sie an.

„Langweilt es dich?“ fragte er plötzlich wie erwachend und blickte mißtrauisch herüber.

Otto lächelte ihm schweigend zu.

„Sieh,“ fuhr der Maler fort, „eins von den Bildern, die ich noch malen möchte, ist ein Strauß von Wiesenblumen. Du mußt wissen, meine Mutter konnte solche Sträuße machen, wie ich keine mehr sah, sie war ein Genie darin. Sie war wie ein Kind und sang fast immer, sie ging ganz leicht und hatte einen großen bräunlichen Strohhut auf, ich sehe sie im Traum nie anders als so. Einen solchen Feldblumenstrauß möchte ich einmal malen, wie sie sie gern hatte: Skabiosen und Schafgarbe und kleine rosa Winden, dazwischen ein paar feine Gräser und eine grüne Haferähre gesteckt. Ich habe hundert solche Sträuße heimgebracht, aber es ist noch nicht der rechte, es muß der ganze Duft drin sein und er muß sein, wie wenn sie ihn selber gemacht hätte. Die weißen Schafgarben gefielen ihr zum Beispiel nicht, sie nahm nur die feinen, seltenen, mit einem Anflug von lila, und sie wählte einen halben Nachmittag zwischen tausend Gräsern, ehe sie sich für eins entschied – – Ach, ich kann es nicht sagen, du verstehst das ja nicht.“

„Ich verstehe schon,“ nickte Burkhardt.

„Ja, an diesen Feldblumenstrauß denke ich manchmal halbe Tage lang. Ich weiß genau, wie das Bild werden müßte. Nicht dieses wohlbekannte Stückchen Natur, gesehen von einem guten Beobachter und vereinfacht von einem guten, schneidigen Maler, aber auch nicht sentimental und holdselig wie von einem sogenannten Heimatkünstler. Es muß ganz naiv sein, so wie begabte Kinder sehen, unstilisiert und voller Einfachheit. Das Nebelbild mit den Fischen, das im Atelier steht, ist gerade das Gegenteil davon – aber man muß beides können ... Ach, ich will noch viel malen, noch viel!“

Er bog in einen schmalen Wiesenweg ein, der leicht bergan auf einen runden, sanften Hügel führte.

„Jetzt paß auf!“ mahnte er eifrig und spähte wie ein Jäger vor sich in die Luft. „Sobald wir oben sind! Das werde ich in diesem Herbst malen.“

Sie erreichten die Anhöhe. Jenseits hielt ein laubiges Gehölz, abendlich schräg durchlichtet, den Blick auf, der, von der klaren Wiesenfreiheit verwöhnt, nur langsam sich durch die Bäume fand. Ein Weg mündete unter hohen Buchen, eine steinerne, bemooste Bank darunter, und dem Wege folgend, fand das Auge einen Durchblick offen, über die Bank hinweg durch eine dunkle Bahn von Baumkronen tat sich frisch und leuchtend eine tiefe Ferne auf, ein Tal voll von Gebüsch und Weidenwuchs, der gekrümmte Fluß blaugrün funkelnd, und ganz ferne verlorene Hügelzüge weit bis in die Unendlichkeit.

Veraguth deutete hinab.

„Das werde ich malen, sobald die Buchen anfangen farbig zu werden. Und auf die Bank setze ich Pierre in den Schatten, so daß man an seinem Kopf vorbei in das Tal dort hinunter sieht.“

Burkhardt schwieg und hörte seinem Freunde zu, im Herzen voll Mitleid. Wie er mich anlügen will! dachte er mit heimlichem Lächeln. Wie er von Plänen und Arbeiten spricht! Früher tat er das nie. Es sah aus, als wolle er sorgfältig alles herzählen, woran er etwa noch Freude hatte und was ihn noch mit dem Leben versöhnte. Der Freund kannte ihn und kam ihm nicht entgegen. Er wußte, es konnte nicht lange mehr dauern, bis Johann das in Jahren Gehäufte von sich werfen und sich von einem unerträglich gewordenen Schweigen erlösen würde. So ging er abwartend mit scheinbarer Gelassenheit nebenher, immerhin traurig verwundert, daß auch ein so überlegener Mensch im Unglück kindlich werde und mit verbundenen Augen und Händen durch die Dornen wandle.

Als sie nach Roßhalde zurückkamen und nach Pierre fragten, hörten sie, er sei mit Frau Veraguth nach der Stadt gefahren, um Herrn Albert abzuholen.

Viertes Kapitel

Albert Veraguth ging heftig im Klavierzimmer seiner Mutter auf und ab. Er schien auf den ersten Blick dem Vater ähnlich, weil er dessen Augen hatte, glich aber weit mehr der Mutter, die an den Flügel gelehnt stand und ihm mit zärtlich aufmerksamen Augen folgte. Als er wieder an ihr vorüberkam, hielt sie ihn an den Schultern fest und wandte sein Gesicht zu sich her. Über seine breite, bleiche Stirn hing ein Büschel blonden Haares herein, die Augen glühten in knabenhafter Erregung und der hübsche volle Mund war zornig verzogen.

„Nein, Mama,“ rief er heftig und machte sich aus ihren Händen los, „du weißt, ich kann nicht zu ihm hinüber gehen. Das wäre eine ganz sinnlose Komödie. Er weiß, daß ich ihn hasse, und er selber haßt mich auch, du magst sagen, was du willst.“

„Hassen!“ rief sie mit leiser Strenge. „Laß doch solche Worte, die alles verzerren! Er ist dein Vater, und es gab eine Zeit, wo er dich sehr lieb gehabt hat. Ich muß es dir verbieten, so zu reden.“

Albert blieb stehen und sah sie funkelnd an.

„Du kannst mir die Worte verbieten, gewiß, aber was wird dadurch anders? Soll ich ihm denn etwa dankbar sein? Er hat dir dein Leben verdorben und mir meine Heimat, er hat aus unserer schönen, frohen, prächtigen Roßhalde einen Ort voll Unbehagen und Widerwärtigkeit gemacht. Ich bin hier aufgewachsen, Mutter, und es gibt Zeiten, da träume ich jede Nacht von den alten Stuben und Gängen hier, vom Garten und Stall und Taubenschlag. Ich habe keine andere Heimat, die ich lieben und von der ich träumen und nach der ich Heimweh haben kann. Und nun muß ich an fremden Orten leben und kann nicht einmal in den Ferien einen Freund hierher mitbringen, damit er nicht sieht, was für ein Leben wir hier führen! Und jeder, der mich kennen lernt und meinen Namen hört, stimmt sogleich ein Loblied auf meinen berühmten Vater an. Ach Mutter, ich wollte wir hätten lieber gar keinen Vater, und keine Roßhalde, und wären arme Leute, und du müßtest nähen oder Stunden geben und ich dir Geld verdienen helfen.“

Die Mutter ging ihm nach und nötigte ihn in einen Sessel, setzte sich auf seine Knie und strich ihm die verschobenen Haare zurecht.

„So,“ sagte sie mit ihrer ruhigen tiefen Stimme, deren Ton ihm Heimat und Hort bedeutete, „so, nun hast du mir ja alles gesagt. Es ist manchmal ganz gut, sich auszusprechen. Man muß die Dinge kennen, die man zu ertragen hat. Aber man muß das, was weh tut, nicht aufwühlen, Kind. Du bist jetzt schon so groß wie ich und bist bald ein Mann, und darauf freue ich mich. Du bist mein Kind und sollst es bleiben, aber sieh, ich bin viel allein und habe allerlei Sorgen, da brauche ich auch einen richtigen, männlichen Freund, und der sollst du sein. Du sollst mit mir vierhändig spielen und mit mir im Garten gehen und nach Pierre sehen, wir wollen schöne Ferien miteinander haben. Aber du sollst nicht Lärm machen und es mir noch schwerer machen, sonst muß ich denken, du seiest eben doch noch ein halber Knabe und es werde noch lange dauern, bis ich endlich einen klugen Freund bekomme, den ich doch so gerne hätte.“

„Ja, Mutter, ja. Aber muß man denn immerzu über alles schweigen, was einen unglücklich macht?“

„Es ist das beste, Albert. Es ist nicht leicht, und von Kindern darf man es nicht verlangen. Aber es ist das beste. – Wollen wir jetzt etwas spielen?“

„Ja, gerne. Beethoven, die zweite Symphonie – magst du?“

Sie hatten kaum zu spielen begonnen, so ging sachte die Türe auf und Pierre glitt herein, setzte sich auf einen Schemel und hörte zu. Nachdenklich sah er dabei seinen Bruder an, seinen Nacken mit dem seidenen Sportskragen, seinen im Rhythmus der Musik bewegten Haarschopf und seine Hände. Jetzt, da er seine Augen nicht sah, fiel ihm Alberts große Ähnlichkeit mit der Mutter auf.

„Gefällt es dir?“ fragte Albert während einer Pause. Pierre nickte nur, ging aber gleich darauf wieder still aus dem Zimmer. In Alberts Frage hatte er etwas von dem Ton gespürt, in welchem nach seiner Erfahrung die meisten Erwachsenen zu Kindern redeten und dessen verlogene Freundlichkeit und unbeholfene Überheblichkeit er nicht leiden mochte. Der große Bruder war ihm willkommen, er hatte ihn sogar mit Spannung erwartet und ihn drunten am Bahnhof mit großer Freude begrüßt. Auf diesen Ton aber gedachte er nicht einzugehen.

Mittlerweile warteten Veraguth und Burkhardt im Atelier auf Albert, Burkhardt mit unverhehlter Neugierde, der Maler in nervöser Verlegenheit. Die flüchtige Fröhlichkeit und Plauderlust war plötzlich von ihm abgefallen, als er Alberts Ankunft erfuhr.

„Kommt er denn unerwartet?“ fragte Otto.

„Nein, ich glaube nicht. Ich wußte, daß er dieser Tage kommen sollte.“

Veraguth kramte aus einer Plunderschachtel ältere Photographien heraus. Er suchte ein Knabenbildnis hervor und hielt es vergleichend neben eine Photographie von Pierre.

„Das war Albert, genau im gleichen Alter wie jetzt der Kleine ist. Erinnerst du dich an ihn?“

„O, ganz gut. Das Bild ist sehr ähnlich. Er hat viel von deiner Frau.“

„Mehr als Pierre?“

„Ja, viel mehr. Pierre hat weder deinen Typ noch den seiner Mutter. Da kommt er übrigens. Oder sollte das Albert sein? Nein, unmöglich.“

Man hörte leichte kleine Tritte vor der Türe über die Fliesen und über das Scharreisen gehen, die Türklinke ward berührt und nach einem kleinen Zögern niedergedrückt, und Pierre trat herein, mit seinem fragend freundlichen Blick schnell spähend, ob er willkommen sei.

„Wo ist denn Albert?“ fragte der Vater.

„Bei der Mama. Sie spielen miteinander Klavier.“

„Ach so, er spielt Klavier.“

„Bist du ärgerlich, Papa?“

„Nein, Pierre, es ist hübsch, daß du gekommen bist. Erzähl’ uns etwas!“

Der Knabe sah die Photographien daliegen und griff danach.

„O, das bin ich! Und das da? Soll das Albert sein?“

„Ja, das ist Albert. So hat er ausgesehen, als er gerade so alt war wie du jetzt bist.“

„Da war ich noch nicht auf der Welt. Und jetzt ist er groß geworden und Robert sagt schon Herr Albert zu ihm.“

„Willst du auch einmal groß werden?“

„Ja, ich will schon. Wenn man groß ist, darf man Pferde haben und Reisen machen, das möchte ich auch. Und dann darf mich niemand mehr ‚kleiner Junge‘ heißen und in die Backen kneifen. Aber eigentlich will ich doch nicht groß werden. Die alten Leute sind oft so unangenehm. Albert ist auch schon ganz anders geworden. Und wenn die alten Leute immer älter werden, dann sterben sie zuletzt. Ich möchte lieber so bleiben wie ich bin, und manchmal möchte ich fliegen können und mit den Vögeln hoch droben um die Bäume herfliegen und zwischen die Wolken hinein. Da würde ich alle Leute auslachen.“

„Mich auch, Pierre?“

„Manchmal, Papa. Die alten Leute sind alle manchmal so komisch. Mama nicht so sehr. Mama liegt hier und da in einem langen Stuhl im Garten und tut gar nichts als in das Gras hineinsehen, und dann hängen ihre Hände herunter und sie ist ganz ruhig und ein wenig traurig. Es ist hübsch, wenn man nicht immerzu etwas tun muß.“

„Möchtest du denn gar nichts werden? Baumeister, oder Gärtner, oder vielleicht Maler?“

„Nein, ich mag nicht. Ein Gärtner ist schon da, und ein Haus habe ich ja auch schon. Ich möchte ganz andere Sachen tun können. Ich möchte das verstehen, was die Rotkehlchen zueinander sagen. Und ich möchte auch einmal sehen, wie es die Bäume machen, daß sie mit ihren Wurzeln Wasser trinken und so groß werden können. Ich glaube, das weiß gar niemand richtig. Der Lehrer weiß eine Menge, aber lauter langweilige Sachen.“

Er hatte sich auf Otto Burkhardts Knie gesetzt und spielte mit seiner Gürtelschnalle.

„Viele Dinge kann man nicht wissen,“ sagte Burkhardt freundlich. „Vieles kann man nur sehen und muß damit zufrieden sein, daß es so hübsch ist. Wenn du einmal zu mir nach Indien kommst, da fährst du viele Tage lang immer auf einem großen Schiff, und vor dem Schiffe her tauchen lauter kleine Fische auf, die haben kleine gläserne Flügel und können fliegen. Und manchmal kommen auch Vögel, die sind furchtbar weit von fremden Inseln hergeflogen und sind ganz müde und setzen sich auf das Schiff und sind verwundert, daß da so viele fremde Leute auf dem Meer herumfahren. Die möchten uns auch gerne verstehen und uns fragen, wo wir herkommen und wie wir heißen, aber es geht nicht, und da sieht man sich eben in die Augen und nickt mit dem Kopf, und wenn der Vogel ausgeruht hat, dann schüttelt er sich und fliegt wieder weg übers Meer.“

„Weiß man denn gar nicht, wie diese Vögel heißen?“

„O doch, das weiß man schon. Aber es sind Namen, die ihnen die Menschen gegeben haben, und wie sie selber zueinander sagen, das kann man nicht wissen.“

„Onkel Burkhardt kann fein erzählen, Papa. Ich möchte auch einen Freund haben. Albert ist schon zu groß. Die meisten Menschen verstehen ja gar nicht recht, was man sagt und will, aber Onkel Burkhardt versteht mich gleich.“

Ein Hausmädchen kam, den Kleinen abzuholen. Bald darauf war es Abendessenszeit und die Herren gingen ins Haus. Veraguth war schweigsam und verstimmt. Im Speisezimmer trat ihm sein Sohn entgegen und gab ihm die Hand.

„Guten Tag, Papa.“

„Guten Tag, Albert. Bist du gut gereist?“

„Danke, ja. Guten Abend, Herr Burkhardt.“

Der junge Mann war sehr kühl und korrekt. Er führte seine Mutter zu Tisch. Man aß, und das Gespräch ging fast nur zwischen Burkhardt und der Hausfrau. Es kam die Rede auf Musik.

„Darf ich fragen,“ wandte sich Burkhardt an Albert, „welche Art von Musik Sie besonders lieben? Allerdings bin ich da längst nicht mehr auf der Höhe und kenne die modernen Musiker wohl kaum dem Namen nach.“

Der Jüngling blickte höflich auf und gab Auskunft.

„Das Allermodernste kenne ich auch nur vom Hörensagen. Ich gehöre keiner Richtung an und liebe alle Musik, wenn sie gut ist. Am meisten Bach, Gluck und Beethoven.“

„O, die Klassiker. Von denen haben wir zu unserer Zeit eigentlich nur Beethoven näher gekannt. Von Gluck wußten wir überhaupt nichts. Wir hielten alle stramm zu Wagner, müssen Sie wissen. Weißt du noch, Johann, wie wir zum erstenmal den Tristan hörten? Das war ein Rausch!“

Veraguth lächelte unfroh.

„Alte Schule!“ rief er etwas hart. „Wagner ist abgetan. Oder nicht, Albert?“

„O, im Gegenteil, er wird ja auf allen Theatern gespielt. Aber ich habe darüber kein Urteil.“

„Mögen Sie Wagner nicht?“

„Ich kenne ihn zu wenig, Herr Burkhardt. Ich komme sehr selten ins Theater. Mich interessiert nur die reine Musik, nicht die Oper.“

„Na, aber das Meistersingervorspiel! Das kennen Sie gewiß. Taugt das auch nichts?“

Albert biß sich auf die Lippen und besann sich einen Augenblick, ehe er antwortete.

„Ich kann wirklich darüber nicht urteilen. Es ist – wie soll ich sagen? – romantische Musik, und für die fehlt es mir an Interesse.“

Veraguth schnitt eine Grimasse.

„Nimmst du Landwein?“ fragte er ablenkend.

„Danke, ja.“

„Und du, Albert? Ein Glas Roten?“

„Danke, Papa, lieber nicht.“

„Bist du Abstinent geworden?“

„Nein, durchaus nicht. Aber Wein bekommt mir nicht, ich möchte lieber darauf verzichten.“

„Na, gut. Aber wir wollen anstoßen, Otto, Prosit!“

Er trank das Glas mit einem raschen Schluck halb aus.

Albert spielte die Rolle des wohlerzogenen Jungen weiter, der zwar ganz bestimmte Ansichten hat, sie aber bescheiden für sich behält, und der älteren Leuten das Wort läßt, nicht um zu lernen, sondern um seine Ruhe zu haben. Die Rolle paßte schlecht zu ihm, so daß auch er sich bald äußerst unbehaglich fühlte. Er wollte seinem Vater, den er nach Möglichkeit zu ignorieren gewohnt war, durchaus keinen Anlaß zu Auseinandersetzungen geben.

Burkhardt schwieg beobachtend, und so war niemand übrig, der das frostig versiegte Tischgespräch mit gutem Willen wieder aufgenommen hätte. Man beeilte sich mit dem Essen, bediente einander mit höflicher Umständlichkeit, spielte befangen mit den Dessertlöffeln und wartete in kläglicher Nüchternheit auf den Augenblick des Aufstehens und Auseinandergehens. Erst in dieser Stunde fühlte Otto Burkhardt bis ins Innerste die Vereinsamung und hoffnungslose Kälte, in der seines Freundes Ehe und Leben erstarrt und verkümmert war. Er blickte flüchtig zu ihm hinüber, sah ihn verdrossen mit schlaffem Gesicht auf die kaum berührten Speisen starren und erkannte in seinem Blick, dem er eine Sekunde begegnete, eine flehende Scham über die Enthüllung seines Zustandes.

Es war ein betrübter Anblick, und plötzlich schien das lieblose Schweigen, die verlegene Kälte und humorlose Gezwungenheit dieser Tafelstunde laut Veraguths Schande zu verkündigen. In diesem Augenblick fühlte Otto, daß jeder weitere Tag seines Hierbleibens nur eine widerwärtige Verlängerung dieser beschämenden Zuschauerschaft und zur Qual für den Freund werden würde, der nur noch mit Ekel den Schein aufrechterhielt und nicht die Kraft und Laune mehr aufbrachte, sein Elend vor dem Zuschauer zu beschönigen. Hier galt es, ein Ende zu machen.

Kaum hatte sich Frau Veraguth erhoben, so schob ihr Mann seinen Sessel zurück.

„Ich bin so müde, daß ich mich zu entschuldigen bitte. Laßt euch nicht stören!“

Er ging hinaus und vergaß die Türe hinter sich zuzuziehen, und Otto hörte ihn langsam mit schweren Schritten durch den Gang und die knarrende Treppe hinab davongehen.

Burkhardt schloß die Tür und begleitete die Hausfrau in den Salon, wo der Flügel noch offen stand und der abendliche Wind in den aufgelegten Noten blätterte.

„Ich hatte Sie bitten wollen, etwas zu spielen,“ sagte er befangen. „Aber mir scheint, Ihr Mann ist nicht recht wohl, er hat den ganzen Mittag in der Sonne gearbeitet. Wenn Sie erlauben, leiste ich ihm noch ein Stündchen Gesellschaft.“

Frau Veraguth nickte ernsthaft und suchte ihn nicht zu halten. Er empfahl sich und ging, von Albert bis zur Treppe begleitet.

Fünftes Kapitel

Die Dämmerung hatte begonnen, als Otto Burkhardt aus dem schon vom großen Leuchter erhellten Hausflur trat und sich von Albert verabschiedete. Unter den Kastanien blieb er stehen, sog durstig die zart gekühlte, laubduftende Abendluft ein und wischte sich große Schweißtropfen von der Stirne. Wenn er seinem Freunde ein wenig helfen konnte, mußte es in dieser Stunde geschehen.

Im Atelierhaus war kein Licht und er fand den Maler weder in der Werkstatt noch in den Nebenräumen. Er öffnete die Türe gegen den Weiher und ging suchend mit leisen Schritten rund um das Haus. Da sah er ihn sitzen, in dem Rohrstuhl, in dem er ihn heute gemalt hatte, die Ellbogen aufgestützt und das Gesicht in den Händen, so ruhig, als schliefe er.

„Johann!“ rief er leise, trat zu ihm und legte ihm die Hand auf den gebeugten Kopf.

Es kam keine Antwort. Er blieb stehen, schwieg und wartete und streichelte dem in Müdigkeit und Leid Versunkenen das kurze grobe Haar. In den Bäumen ging der Wind, sonst war es still und abendfriedlich. Minuten vergingen. Da kam plötzlich vom Herrenhause her durch die Dämmerung eine breite Klangwoge geschwollen, ein voller lang ausgehaltener Akkord, und wieder einer. Es war der erste Takt einer Klaviersonate.

Da hob der Maler den Kopf, schüttelte die Hand seines Freundes sanft von sich und stand auf. Er sah Burkhardt still aus müden, trockenen Augen an, versuchte ein Lächeln aufzubringen und ließ davon wieder ab, indem seine starren Züge erschlafften.

„Wir wollen hineingehen,“ sagte er mit einer Gebärde, als suche er die von drüben heranflutende Musik von sich abzuwehren.

Er ging voran. Bei der Türe zum Atelier blieb er stehen.

„Ich denke, wir werden dich wohl nimmer lange hier haben?“

Wie er alles fühlt! dachte Burkhardt. Mit beherrschter Stimme sagte er: „Es kommt ja auf einen Tag nicht an. Ich denke, ich reise übermorgen.“

Veraguth tastete nach den Drückern. Mit einem feinen Metallton strahlten alle Lichter der Werkstatt blendend auf.

„Dann wollen wir noch eine schöne Flasche Wein miteinander trinken.“

Er schellte nach Robert und gab ihm Aufträge. Mitten im Atelier stand Burkhardts neues Porträt, nahezu fertig. Sie standen davor und sahen es an, während Robert Tisch und Stühle rückte, Wein und Eis herbeitrug, Zigarren und Aschenschalen aufsetzte.

„Es ist gut, Robert, Sie können ausgehen. Morgen nicht wecken! Lassen Sie uns jetzt allein!“

Sie setzten sich und stießen miteinander an. Unruhig rückte der Maler im Sessel, stand wieder auf und drehte die Hälfte der Lichter wieder aus. Dann ließ er sich schwer in den Stuhl fallen.

„Das Bild ist nicht ganz fertig geworden,“ fing er an. „Nimm dir eine Zigarre! Es wäre nicht schlecht geworden, aber schließlich liegt nicht soviel daran. Und man sieht sich ja wieder.“

Er suchte sich eine Zigarre aus, schnitt sie bedächtig an, drehte sie zwischen nervösen Fingern und legte sie wieder weg.

„Du hast es diesmal hier nicht gerade glänzend getroffen, Otto. Es tut mir leid.“

Seine Stimme brach plötzlich, er sank vornüber, griff nach Burkhardts Händen und nahm sie fest in seine.

„Du weißt ja jetzt alles,“ stöhnte er müde, und ein paar Tränen fielen auf Ottos Hand. Allein er wollte sich nicht gehen lassen. Er richtete sich wieder auf, zwang seine Stimme zur Ruhe und sagte verlegen: „Entschuldige! Wir wollen einen Schluck trinken! Rauchst du nicht?“

Burkhardt nahm eine Zigarre.

„Armer Kerl!“

Sie tranken und rauchten in friedlichem Schweigen, sie sahen das Licht in den geschliffenen Glaskelchen blitzen und in dem goldenen Weine wärmer leuchten, sahen den blauen Rauch unentschlossen durch den weiten Raum schwanken und sich in launische Fäden verschnörkeln, und sahen zuweilen einander an, mit gelösten offenen Blicken, die kaum der Sprache mehr bedurften. Es war, als sei schon alles gesagt.

Ein Nachtfalter strich surrend durch die Werkstatt und stieß drei-, viermal heftig mit einem dumpfen Schlag wider die Wände. Dann saß er still und betäubt, ein sammetgraues Dreieck, am Plafond.

„Kommst du im Herbst mit mir nach Indien?“ fragte Burkhardt endlich zögernd.

Wieder war es lange still. Der Schmetterling begann langsam zu wandern. Grau und klein kroch er vorwärts, als habe er das Fliegen vergessen.

„Vielleicht,“ sagte Veraguth. „Vielleicht. Wir müssen ja noch miteinander reden.“

„Ja, Johann. Ich will dich nicht quälen. Aber ein wenig mußt du mir noch erzählen. Ich hatte nie erwartet, daß es zwischen dir und deiner Frau wieder gut werden würde, aber –“

„Es war ja von Anfang an nicht gut!“

„Nein. Aber es hat mich doch erschreckt, daß es so weit gekommen ist. So kann es ja nicht bleiben. Du gehst zugrunde.“

Veraguth lachte rauh.

„Ich gehe nicht zugrunde, mein Junge. Im September stelle ich in Frankfurt etwa zwölf neue Bilder aus.“

„Das ist schon gut. Aber wie lang soll das so gehen? Es ist ja sinnlos ... Sag, Johann, warum hast du dich nicht von deiner Frau getrennt?“

„Das ist nicht so einfach ... Ich will dir erzählen. Es ist besser, wenn du das Ganze einmal in der rechten Ordnung erfährst.“

Er nahm einen Schluck Wein und blieb vorgebeugt im Stuhle sitzen, während Otto sich weiter vom Tische zurückzog.

„Daß ich mit meiner Frau von Anfang an Schwierigkeiten hatte, weißt du ja. Es ging ein paar Jahre lang, nicht gut und nicht schlecht, und vielleicht wäre damals noch allerlei zu retten gewesen. Aber ich konnte meine Enttäuschung zu wenig verbergen, und ich verlangte von Adele immer wieder gerade das, was sie nicht zu geben hatte. Schwung hat sie nie gehabt; sie war ernsthaft und schwerlebig, ich hätte das vorher wissen können. Sie konnte niemals fünf gerade sein lassen und sich mit Humor oder Leichtsinn über etwas Schweres weghelfen. Sie hatte meinen Ansprüchen und Launen, meiner ungestümen Sehnsucht und meiner schließlichen Enttäuschung nichts entgegenzusetzen als Schweigen und Geduld, eine rührende, stille, heldenhafte Geduld, die mich oft bewegte und mit der mir und ihr doch nicht geholfen war. War ich ärgerlich und unzufrieden, so schwieg sie und litt, und kam ich bald darauf mit dem Willen zu einem besseren Verständnis, bat ich sie um Verzeihung oder suchte ich sie in einer Stunde froher Laune mitzureißen, so ging es nicht, sie schwieg auch da und beharrte immer verschlossener in ihrem treuen, schwerfälligen Wesen. War ich bei ihr, so schwieg sie nachgiebig und ängstlich, sie nahm Zornausbrüche und lustige Stimmungen mit gleicher Gelassenheit hin, und war ich fort, so spielte sie für sich allein Klavier und dachte an ihre Mädchenzeit. So kam ich immer tiefer ins Unrecht und hatte schließlich eben auch nichts mehr zu geben und mitzuteilen. Ich fing an fleißig zu werden und habe so allmählich gelernt, mich in die Arbeit wie in eine Burg zu verschanzen.“

Offenbar gab er sich Mühe, ruhig zu bleiben. Er wollte erzählen, nicht anklagen, aber hinter den Worten stand fühlbar eben doch die Anklage, mindestens die Klage über die Zerstörung seines Lebens, über die Enttäuschung seiner Jugenderwartung und über die lebenslange Verurteilung zu einem halben, freudlosen, dem Innersten seiner Natur beständig widersprechenden Dasein.

„Schon damals dachte ich zuweilen daran, die Ehe wieder aufzulösen. Aber das war nicht so einfach. Ich war an Stillsitzen und Arbeit gewohnt und schreckte immer wieder vor dem Gedanken an Gerichte und Anwälte, vor dem Abreißen aller kleinen täglichen Lebensgewohnheiten zurück. Wenn mir damals eine neue Liebe in den Weg gekommen wäre, hätte ich den Entschluß leicht gefunden. Aber es zeigte sich, daß auch meine eigene Natur schwerfälliger war als ich dachte. Ich verliebte mich mit einem gewissen wehmütigen Neid in hübsche junge Mädchen, aber es ging nie tief genug und ich sah mehr und mehr, daß ich an keine Liebe mehr mich so weggeben könne, wie an meine Malerei. Alles Verlangen nach Austoben und Selbstvergessen, jeder Wunsch und jedes Bedürfnis richtete sich dahin, und wirklich habe ich in diesen vielen Jahren keinen einzigen neuen Menschen in mein Leben aufgenommen, keine Frau und keinen Freund. Du begreifst, ich hätte ja jede Freundschaft mit dem Bekenntnis meiner Schande beginnen müssen.“

„Schande?!“ sagte Burkhardt leise mit einem Ton des Tadels.

„Gewiß, Schande! So empfand ich es damals schon und das ist seither nicht anders geworden. Es ist eine Schande, unglücklich zu sein. Es ist eine Schande, sein Leben niemandem zeigen zu dürfen, etwas verbergen und bemänteln zu müssen. Genug davon! Ich will dir erzählen.“

Er starrte finster in sein Weinglas, warf die erloschene Zigarre weg und fuhr fort.

„Inzwischen war Albert ein paar Jahre alt geworden. Wir hatten ihn beide sehr lieb, die Gespräche über ihn und die Sorgen um ihn hielten uns beisammen. Erst als er sieben oder acht Jahre alt war, begann ich eifersüchtig zu werden und um ihn zu kämpfen – genau so, wie ich jetzt mit ihr um Pierre kämpfe! Ich sah plötzlich, daß der kleine Junge mir unentbehrlich lieb geworden war, und ich habe mehrere Jahre lang mit beständiger Angst zugesehen, wie er ganz langsam kühler gegen mich wurde und mehr und mehr zur Mutter hielt.

Da wurde er bedenklich krank, und in jener Zeit der Sorge um das Kind sank alles andere für eine Weile unter und wir lebten eine Zeitlang so einmütig wie nie zuvor. Aus dieser Zeit stammt Pierre.

Seit der kleine Pierre auf der Welt ist, hat er alles besessen, was ich an Liebe irgend geben konnte. Ich ließ mir Adele wieder entgleiten, ich ließ es geschehen, daß Albert nach seiner Genesung sich immer enger an meine Frau schloß, daß er ihr Vertrauter gegen mich und allmählich mein Feind wurde, bis ich ihn aus dem Hause entfernen mußte. Ich hatte auf alles verzichtet, ich war ganz arm und anspruchslos geworden, ich hatte mir auch das Schelten und Herrschen im Hause abgewöhnt und hatte nichts dagegen, im eigenen Haus nur ein geduldeter Gast zu sein. Ich wollte nichts für mich retten als meinen kleinen Pierre, und als das Zusammenleben mit Albert und der ganze Zustand im Hause unerträglich geworden war, da habe ich Adele die Scheidung angeboten.

Ich wollte Pierre bei mir behalten. Alles andere konnte sie haben: sie konnte mit Albert zusammen bleiben, sie konnte die Roßhalde behalten und die Hälfte von meinen Einnahmen, meinetwegen auch mehr. Aber sie wollte nicht. Sie wollte gerne in die Scheidung willigen und nur das Notwendigste von mir annehmen, sich aber nicht von Pierre trennen. Das war unser letzter Streit. Noch einmal versuchte ich alles, um mir meinen Rest von Glück zu retten; ich bat und versprach, ich habe mich gebückt und gedemütigt, ich habe gedroht und geweint und schließlich getobt, aber alles vergebens. Sie willigte sogar darein, daß Albert weggegeben werde. Es zeigte sich plötzlich, daß diese stille, geduldige Frau keinen Finger breit nachzugeben gesonnen war; sie fühlte ihre Macht sehr deutlich und war mir überlegen. Damals haßte ich sie geradezu, und etwas davon ist immer hängen geblieben.

Da ließ ich den Maurer kommen und habe mir die kleine Wohnung hier angebaut, und hier wohne ich seither und alles ist so, wie du es gesehen hast.“

Burkhardt hatte nachdenklich zugehört und ihn nie unterbrochen, auch nicht in Augenblicken, wo Veraguth es zu erwarten, ja zu wünschen schien.

„Ich freue mich,“ sagte er vorsichtig, „daß du selber alles so klar siehst. Es ist alles ungefähr so, wie ich mir’s gedacht hatte. Laß uns noch ein Wort darüber reden, es geht jetzt in einem hin! Seit ich hier bin, habe ich ja ebenso auf diese Stunde gewartet wie du. Nimm an, du hättest ein unangenehmes Geschwür, das dich quält und dessen du dich ein wenig schämst. Ich kenne es jetzt und dir ist schon wohler, daß du es nimmer zu verheimlichen brauchst. Aber wir müssen damit nicht zufrieden sein, wir müssen zusehen, ob wir das Ding nicht aufschneiden und heilen können.“

Der Maler sah ihn an, schüttelte schwerfällig den Kopf und lächelte: „Heilen? So etwas heilt nimmer. Aber schneide ruhig zu!“

Burkhardt nickte. Er wollte zuschneiden, gewiß, er wollte diese Stunde nicht leer vorüber lassen.

„In deiner Erzählung ist eines mir unklar geblieben,“ sagte er nachdenklich. „Du sagst, du habest dich Pierres wegen nicht von deiner Frau scheiden lassen. Es ist die Frage, ob du sie nicht dazu hättest zwingen können, dir Pierre zu lassen. Wärt ihr vom Gericht geschieden worden, so hätte man dir doch wohl eines der Kinder zusprechen müssen. Hast du denn daran nie gedacht?“

„Nein, Otto, daran habe ich nie gedacht. Ich habe nie daran gedacht, daß ein Richter mit seiner Weisheit das wieder gutmachen könne, was ich verfehlt und versäumt habe. Es ist mir damit nicht gedient. Da meine persönliche Macht nicht ausreichte, meine Frau zum Verzicht auf den Jungen zu bewegen, blieb mir nichts übrig als zu warten, für wen Pierre selbst sich später einmal entscheiden werde.“

„Es handelt sich ja einzig um Pierre. Wenn der nicht da wäre, wärest du ohne Zweifel längst von deiner Frau geschieden und hättest doch noch ein Glück in der Welt gefunden oder wenigstens ein klares, vernünftiges, freies Leben. Statt dessen bist du in einem Wirrwarr von Kompromissen, Opfern und kleinen Notbehelfen eingeklemmt, in denen ein Mensch wie du ersticken muß.“

Veraguth blickte unruhig und stürzte hastig ein Glas Wein hinunter.

„Du redest immer von Ersticken und Zugrundegehen! Du siehst doch, ich lebe und arbeite, und der Teufel soll mich holen, wenn ich mich unterkriegen lasse.“

Otto achtete nicht auf seine Gereiztheit. Mit leiser Eindringlichkeit fuhr er fort: „Verzeih, das stimmt nicht ganz. Du bist ein Mensch mit ungewöhnlichen Kräften, sonst hättest du diese Zustände überhaupt nicht solange ausgehalten. Wieviel sie dir geschadet und dich gealtert haben, spürst du selber, und es ist eine unnütze Eitelkeit, wenn du das vor mir nicht wahrhaben willst. Ich glaube meinen eigenen Augen mehr als dir, und ich sehe, daß es dir miserabel geht. Deine Arbeit hält dich aufrecht, aber sie ist dir mehr Betäubung als Freude. Die Hälfte von deiner schönen Kraft verbrauchst du in Entbehrung und in kleinen täglichen Widerständen. Was bestenfalls dabei herauskommt, ist nicht Glück, sondern höchstens Resignation. Und dazu, mein Junge, bist du mir zu gut.“

„Resignation? Das mag sein. Es geht auch andern so. Wer ist glücklich?“

„Glücklich ist, wer hofft!“ rief Burkhardt nachdrücklich. „Was hast du zu hoffen? Nicht einmal äußere Erfolge, Ehren und Geld; von dem allen hast du mehr als genug. Mensch, du weißt ja gar nimmer, was Leben und Freude ist! Du bist zufrieden, weil du nimmer hoffst! Ich begreife das, meinetwegen, aber es ist ein scheußlicher Zustand, Johann, es ist ein übles Geschwür, und wer so eines hat und es nicht aufschneiden mag, der ist ein Feigling.“

Er war warm geworden und ging in heftiger Bewegung auf und ab, und während er mit gespannten Kräften seinen Plan verfolgte, sah ihn aus der Tiefe der Erinnerung Veraguths Knabengesicht an und es schwebte ihm das Bild einer Szene vor, da er einst ähnlich wie heut mit ihm gestritten hatte. Aufblickend sah er des Freundes Gesicht, er saß zusammengesunken und blickte vor sich nieder. Nichts von den Zügen des Knabenkopfes war mehr vorhanden. Da saß er, den er mit Absicht einen Feigling geheißen, an dessen einst so peinliche Empfindlichkeit er gerührt hatte, und wehrte sich nicht.

Er rief nur in bitterer Schwäche: „Nur zu! Du brauchst mich nicht zu schonen. Du hast gesehen, in was für einem Käfig ich lebe, nun kannst du ja ohne Sorge mit dem Stock hereindeuten und mir meine Schande vorhalten. Bitte, fahr fort! Ich wehre mich nicht, ich werde nicht einmal böse.“

Otto blieb vor ihm stehen. Er tat ihm so leid, aber er bezwang sich und sagte scharf: „Du sollst aber böse werden! Du sollst mich hinauswerfen und mir die Freundschaft aufsagen, oder du sollst zugeben, daß ich recht habe.“

Auch der Maler stand nun auf, aber schlaff und ohne Frische.

„Also du hast recht, wenn dir daran liegt,“ sagte er müde. „Du hast mich überschätzt, ich bin nimmer so jung und nimmer so leicht zu beleidigen. Ich habe auch nicht so viel Freunde, daß ich damit Verschwendung treiben könnte. Ich habe nur dich. Setz dich her und trinke noch ein Glas Wein, er ist gut. Du kriegst in Indien keinen solchen, und vielleicht findest du dort auch nicht viele Freunde, die sich so viel Dickköpfigkeit von dir gefallen lassen.“

Burkhardt schlug ihm leicht auf die Schulter und sagte beinahe ärgerlich: „Junge, wir wollen doch jetzt nicht sentimental sein – gerade jetzt nicht! Sag mir, was du an mir zu tadeln hast, und dann wollen wir fortfahren.“

„O, ich habe nichts an dir zu tadeln! Du bist ein tadelloser Kerl, Otto, ohne Zweifel. Du siehst mir seit bald zwanzig Jahren zu, wie ich untersinke, du siehst mit Freundschaft und vielleicht mit Bedauern zu, wie ich allmählich im Sumpf verschwinde, und du hast nie etwas gesagt und mich nie dadurch gedemütigt, daß du mir etwa Hilfe anbotest. Du hast zugesehen, wie ich jahrelang jeden Tag Zyankali mit mir herumtrug, und du hast mit edler Befriedigung bemerkt, daß ich es nie geschluckt und es schließlich weggeworfen habe. Und jetzt, wo ich so tief im Dreck sitze, daß ich nimmer heraus kann, jetzt stehst du da und hast zu tadeln und zu mahnen ...“

Er starrte mit geröteten heißen Augen trostlos vor sich hin, und Otto, da er sich ein neues Glas Wein einschenken wollte und nichts mehr in der Flasche fand, bemerkte erst jetzt, daß Veraguth die Flasche in der kurzen Zeit allein geleert hatte.

Der Maler folgte seinem Blick und lachte grell.

„O entschuldige!“ rief er heftig. „Ja, ich bin ein wenig betrunken, du darfst nicht vergessen, mir auch das anzurechnen. Es passiert mir alle paar Monate einmal, daß ich aus Versehen einen kleinen Rausch trinke – – zur Anregung, weißt du ...“

Er legte dem Freunde beide Hände schwer auf die Schultern und sagte mit plötzlich erschlaffter, hoher Stimme klagend: „Sieh, mein Junge, das Zyankali und der Wein und das alles wäre entbehrlich gewesen, wenn jemand mir ein bißchen hätte helfen wollen! Du, warum hast du mich soweit kommen lassen, daß ich jetzt um ein bißchen Nachsicht und Liebe bitten muß wie ein Bettler? Adele hat mich nicht ertragen, Albert ist von mir abgefallen, Pierre wird mich auch einmal verlassen – und du bist daneben gestanden und hast zugesehen. Hast du denn nichts tun können? Hast du mir gar nicht helfen können?“

Des Malers Stimme brach und er sank in den Stuhl zurück. Burkhardt war todesblaß geworden. Es stand ja viel schlimmer, als er gedacht hatte! Daß dieser stolze, harte Mensch durch ein paar Gläser Wein zum wehrlosen Geständnis seines heimlichen Makels und Elends verführt werden konnte!

Er stand neben Veraguth und sprach ihm leise ins Ohr wie einem Kinde, das man trösten muß.

„Ich helfe dir, Johann, du kannst mir glauben, ich helfe dir. Ich war ja ein Esel, ich war ja so blind und dumm! Sieh, es wird noch alles gut, verlaß dich drauf!“

Er erinnerte sich seltener Anlässe aus der Jugendzeit, bei welchen sein Freund in Zuständen großer Nervosität die Herrschaft über sich verloren hatte. Mit wunderlicher Deutlichkeit stand ein solches Erlebnis, das tief in seinem Gedächtnis geschlummert hatte, jetzt wieder vor ihm auf. Johann verkehrte damals mit einer hübschen Malschülerin, Otto hatte sich wegwerfend über sie ausgesprochen, und Veraguth hatte ihm in der heftigsten Weise die Freundschaft aufgesagt. Auch damals hatte der Maler sich an einer geringen Menge Weines unverhältnismäßig erhitzt, auch damals hatte er die roten Augen bekommen und die Gewalt über seine Stimme verloren. Es ergriff den Freund sonderbar, vergessene Züge einer scheinbar wolkenlosen Vergangenheit so seltsam wiederkehren zu sehen, und wieder wie damals erschreckte ihn der plötzlich enthüllte Abgrund von innerer Vereinsamung und seelischer Selbstpeinigung in Veraguths Leben. Das war ohne Zweifel jenes Geheimnis, von dem Johann je und je in Andeutungen gesprochen und das er in jedes großen Künstlers Seele verborgen vermutet hatte. Daher also kam diesem Manne der unheimlich unersättliche Drang, zu schaffen und die Welt zu jeder Stunde neu mit seinen Sinnen zu erfassen und zu überwältigen. Daher kam schließlich auch die sonderbare Traurigkeit, mit welcher häufig große Kunstwerke den stillen Beschauer erfüllen konnten.

Es war, als habe Otto seinen Freund bis zur Stunde nie ganz verstanden. Nun sah er tief in den dunkeln Brunnen, aus dem Johanns Seele sich mit Kräften und mit Leiden sättigte. Und zugleich empfand er einen tiefen, freudigen Trost darüber, daß er es war, der alte Freund, dem sich der Leidende eröffnet, den er angeklagt, den er um Hilfe gebeten hatte.

Veraguth schien nicht mehr zu wissen, was er gesagt hatte. Er ruhte besänftigt wie ein Kind, das sich ausgetobt hat, und schließlich sagte er mit klarer Stimme: „Du hast diesmal kein Glück mit mir. Es kommt alles nur davon her, daß ich in der letzten Zeit nicht meine tägliche Arbeit gehabt habe. Es ist eine Nervenverstimmung. Ich vertrage die guten Tage nicht.“

Und als Burkhardt ihn daran hindern wollte, die zweite Flasche zu öffnen, meinte er: „Ich könnte jetzt doch nicht schlafen. Weiß Gott, woher ich so nervös bin! Na, laß uns noch ein bißchen zechen, du warst doch früher darin nicht so spröde. – Ah, du meinst, wegen meiner Nerven! Ich werde sie schon wieder in Ordnung bringen, darin habe ich Erfahrung. Ich werde in der nächsten Zeit jeden Morgen um sechs an die Arbeit gehen und jeden Abend eine Stunde reiten.“

So blieben die Freunde bis gegen Mitternacht beieinander. Johann wühlte plaudernd in Erinnerungen der alten Zeit, Otto hörte zu und sah mit beinahe widerwilligem Vergnügen eine blanke, fröhlich spiegelnde Oberfläche sich beruhigt schließen, wo er eben noch in aufgerissene dunkle Gründe geblickt hatte.

Sechstes Kapitel

Andern Tages begegnete Burkhardt dem Maler mit Befangenheit. Er war darauf gefaßt, den Freund verwandelt und statt der gestrigen Erregtheit spöttische Kühle und abwehrende Scham zu finden. Statt dessen kam ihm Johann mit stillem Ernst entgegen.

„Also morgen reisest du,“ sagte er freundlich. „Es ist gut, und ich danke dir für alles. Übrigens habe ich das von gestern Abend nicht vergessen; wir haben noch miteinander zu reden.“

Zweifelnd ging Otto darauf ein.

„Meinetwegen; aber ich will dich nicht wieder unnütz erregen. Wir haben vielleicht gestern allzu vieles umgerührt. Warum mußten wir auch bis zur letzten Stunde warten!“

Sie frühstückten im Atelier.

„Nein, es ist ganz gut so,“ sagte Johann bestimmt. „Es ist sehr gut so. Ich habe eine schlaflose Nacht gehabt und alles noch einmal wiedergekäut, mußt du wissen. Du hast vieles umgerührt, und beinah mehr als ich ertragen konnte. Du mußt bedenken, ich habe in Jahren niemand gehabt, mit dem ich reden konnte. Aber es soll jetzt aufgeräumt und ausgefressen werden, sonst bin ich wirklich der Feigling, den du mich gestern geheißen hast.“

„O, hat dir das wehgetan? Laß gut sein!“

„Nein, du hattest beinahe recht, glaube ich. Ich möchte heut noch einen schönen frohen Tag mit dir haben, wir fahren den Nachmittag zusammen aus und ich zeige dir ein schönes Stück Land. Aber vorher muß da noch ein wenig aufgeräumt werden. Gestern fiel das alles so plötzlich über mich her, daß ich die Besinnung verlor. Aber jetzt habe ich alles bedacht. Ich glaube, ich verstehe jetzt, was du mir gestern sagen wolltest.“

Er sprach so ruhig und freundlich, daß Burkhardt seine Bedenken fallen ließ.

„Wenn du mich verstanden hast, ist ja alles gut und wir brauchen nicht wieder von vorn anzufangen. Du hast mir erzählt, wie alles zustande kam und wie es jetzt steht. Du hältst also deine Ehe und deinen Haushalt und deinen ganzen bisherigen Zustand nur darum aufrecht, weil du dich nicht von Pierre trennen willst. So ist es doch?“

„Ja, genau so ist es.“

„Nun, und wie denkst du dir das weitere? Mir scheint, du habest gestern angedeutet, daß du mit der Zeit auch Pierre zu verlieren fürchtest. Oder nicht?“

Veraguth seufzte schmerzlich und legte die Stirn in die Hand; aber er fuhr im gleichen Tone fort:

„Vielleicht ist es so. Das ist der böse Punkt. Deine Meinung ist, ich solle auf den Knaben verzichten?“

„Ja, aber ja! Er kostet dich Jahre und Jahre des Kampfes mit deiner Frau, die ihn dir schwerlich lassen wird.“

„Das ist möglich. Aber sieh, Otto, er ist das letzte, was ich habe! Ich sitze zwischen lauter Trümmern, und wenn ich heute stürbe, so würden sich, außer dir, höchstens ein paar Zeitungsschreiber darüber aufregen. Ich bin ein armer Mann, aber ich habe dieses Kind, ich habe doch immer noch diesen kleinen lieben Kerl, für den ich leben und den ich liebhaben darf, für den ich leide und bei dem ich in guten Stunden mich vergesse. Du mußt dir das richtig vorstellen! Und das soll ich weggeben!“

„Es ist nicht leicht, Johann. Es ist eine verfluchte Sache! Aber ich weiß keinen anderen Weg. Schau, du weißt gar nicht mehr, wie es draußen in der Welt aussieht, du sitzest verbohrt und vergraben in deine Arbeit und in deine verunglückte Ehe. Tu den Schritt und wirf einmal alles weg, so wirst du plötzlich die Welt wieder mit hundert schönen Dingen auf dich warten sehen. Du hausest seit langem mit Toten zusammen und hast den Anschluß ans Leben verloren. Du hängst an Pierre, und er ist ja ein reizender Kerl, gewiß; aber das ist doch nicht entscheidend. Sei einmal ein wenig grausam und besinne dich, ob der Junge dich wirklich braucht!“

„Ob er mich braucht ...?“

„Ja. Was du ihm geben kannst, ist Liebe, Zärtlichkeit, Gefühl – das sind Dinge, von denen ein Kind meist weniger braucht, als wir Alten meinen. Und dafür wächst der Kleine in einem Hause auf, wo Vater und Mutter einander kaum mehr kennen, wo sie sogar seinetwegen eifersüchtig sind! Er wird nicht durch das gute Beispiel eines glücklichen, gesunden Hauses erzogen, er ist frühreif und wird ein Sonderling werden. – Und schließlich, verzeih, wird er eines Tages ja doch zwischen dir und der Mutter wählen müssen. Kannst du das nicht einsehen.“

„Vielleicht hast du recht. Du hast sogar bestimmt recht. Aber hier hört bei mir das Denken auf. Ich hänge an dem Kind und ich klammere mich an diese Liebe, weil ich seit langem keine andere Wärme und kein anderes Licht mehr kenne. Vielleicht wird er mich in ein paar Jahren im Stich lassen, vielleicht mich enttäuschen, vielleicht mich einmal hassen – wie Albert mich haßt, der als Vierzehnjähriger einmal mit einem Tischmesser nach mir geworfen hat. Aber es bleibt mir doch das, daß ich noch diese paar Jahre bei ihm sein und ihn lieben darf, daß ich seine kleinen Hände in meine nehmen und seine kleine helle Vogelstimme hören kann. Sage: muß ich das weggeben? Muß ich?“

Burkhardt zuckte schmerzlich die Achseln und runzelte die Stirn.

„Du mußt, Johann,“ sagte er dann sehr leise. „Ich glaube, du mußt. Es muß nicht heute sein, aber bald. Du mußt alles, was du hast, wegwerfen, und mußt dich von allem Vergangenen reinbaden, sonst wirst du nie mehr ganz hell und frei in die Welt blicken können. Tu, was du magst, und wenn du den Schritt nicht tun kannst, so bleib hier und lebe dies Leben weiter – ich gehöre zu dir, auch dann, und bin für dich da, das weißt du. Aber es täte mir leid.“

„Rate mir! Ich sehe lauter Dunkel vor mir.“

„Ich will dir raten. Es ist jetzt Juli; im Herbst fahre ich nach Indien zurück. Vorher komme ich noch einmal zu dir, und ich hoffe, du wirst dann schon die Koffer bereit haben und mit mir reisen. Hast du dann deinen Entschluß gefaßt und ja gesagt, dann desto besser! Findest du aber den Entschluß nicht, so komm für ein Jahr, oder meinetwegen für ein halbes Jahr, mit mir, aus dieser Luft heraus. Du kannst bei mir malen und reiten, du kannst auch Tiger schießen oder dich in Malaiinnen verlieben – es gibt hübsche – auf alle Fälle bist du eine Weile weit von hier weg und kannst versuchen, ob es sich nicht so besser leben läßt. Was meinst du?“

Mit geschlossenen Augen wiegte der Maler seinen großen, struppigen Kopf mit dem bleichen Gesicht und dem eingezogenen Munde hin und her.

„Danke!“ rief er halb lächelnd. „Danke, es ist lieb von dir. Im Herbst werde ich dir sagen, ob ich mitkomme. Bitte, laß mir die Photographien da.“

„Die kannst du haben ... Aber – – kannst du nicht heut oder morgen schon dich wegen der Reise entschließen? Es wäre besser für dich.“

Veraguth erhob sich und ging zur Türe.

„Nein, du, das kann ich nicht. Wer weiß, was inzwischen geschieht! Ich bin seit Jahren niemals länger als für drei, vier Wochen ohne Pierre gewesen. Ich glaube, ich werde mit dir reisen, aber ich will jetzt nichts sagen, was mich reuen könnte.“

„Nun, lassen wir es gut sein! Ich werde dir immer mitteilen, wo ich zu finden bin. Und wenn du eines Tages drei Worte telegraphierst, daß du mitkommst, so brauchst du der Reise wegen keinen Finger zu rühren. Das ist dann meine Sache. Von hier nimmst du nur Wäsche und Malzeug mit, aber reichlich, alles andere besorge ich nach Genua.“

Veraguth umarmte ihn schweigend.

„Du hast mir geholfen, Otto, ich vergesse das nimmer. – Jetzt lasse ich den Wagen kommen, wir werden heute zu den Mahlzeiten nicht drüben erwartet. Und nun wollen wir gar nichts mehr tun, als einen schönen Tag miteinander feiern, wie vor Zeiten in den Sommerferien! Wir werden über Land fahren, ein paar schöne Dörfer ansehen und im Wald liegen, wir werden Forellen essen und guten Landwein aus dicken Gläsern trinken. Was für ein Glanzwetter wir heut haben!“

„Es ist seit zehn Tagen nicht anders,“ lachte Burkhardt. Und auch Veraguth lachte.

„Ach, mir ist, die Sonne hätte schon lang nimmer so geschienen!“

Siebentes Kapitel

Nach Burkhardts Abreise überfiel den Maler ein wunderliches Gefühl des Alleinseins. Dieselbe Einsamkeit, in welcher er Jahre und Jahre gelebt und gegen die er sich in so langer Gewöhnung hart und beinahe unempfindlich gemacht hatte, überfiel ihn nun wie ein unbekannter, ganz neuer Feind und sank von allen Seiten erstickend über ihm zusammen. Zugleich fühlte er sich von seiner Familie, sogar von Pierre, mehr als jemals abgeschnitten. Er wußte es nicht, aber es kam davon her, daß er zum erstenmal über diese Verhältnisse sich ausgesprochen hatte.

In manchen Stunden lernte er sogar das unselige, demütigende Gefühl der Langeweile kennen. Bisher hatte Veraguth das unnatürliche, aber konsequente Leben eines freiwillig Eingemauerten geführt, den das Leben nicht mehr interessiert und dessen Dasein mehr ein Ertragen als ein Erleben war. Der Freundesbesuch hatte Löcher in diese Klause geschlagen, durch hundert Ritzen blitzte und klang, duftete und tastete das Leben zu dem Vereinsamten herein, ein alter Zauber war gebrochen und der Erwachende empfand jeden Ruf von draußen überstark mit halbem Schmerz.

Wütend stürzte er sich in die Arbeit, er fing fast gleichzeitig zwei große Kompositionen an, er begann den Tag früh bei Sonnenaufgang mit einem kalten Bade, arbeitete ohne Pause bis zum Mittag, hielt sich dann nach kurzer Rast mit Kaffee und Zigarre munter und erwachte zuweilen in der Nacht an Herzklopfen oder Kopfschmerz. Aber wie sehr er sich zwang und gewaltsam einspann, es blieb in seinem Bewußtsein unter dünnem Schleier immerzu die Kunde lebendig und gegenwärtig, daß eine Türe offen stehe und daß zu jeder Zeit ein rascher Schritt ihn in die Freiheit bringen könne.

Er dachte nicht darüber nach, er betäubte alle Gedanken in fortwährender Anstrengung. Das Gefühl, in dem er lebte, war das: Du kannst zu jeder Stunde gehen, die Tür steht offen, die Fesseln sind zu brechen – aber es kostet einen harten Entschluß und ein schweres, schweres Opfer – darum nicht daran denken, nur nicht daran denken! Jener Entschluß, den Burkhardt von ihm erwartete und zu dem vielleicht seine eigene Natur sich heimlich schon bekannt hatte, saß in seiner Seele wie die Kugel im Fleisch eines Verwundeten; es war nur die Frage, würde sie sich eiternd herausarbeiten oder würde sie eingekapselt drinnen festwachsen. Es schwärte und tat weh, aber noch nicht weh genug; noch war der Schmerz zu groß, den er von dem geforderten Opfer befürchtete. So tat er nichts, ließ die heimliche Wunde brennen und fühlte im stillen eine verzweifelte Neugierde, wie das alles ausgehen werde.

Mitten in dieser Bedrängnis malte er ein großes Figurenbild, mit dessen Plan er lang gegangen war und das ihn jetzt plötzlich heftig reizte. Der Gedanke dazu war manche Jahre alt, er hatte einst Freude an ihm gehabt, bis er ihm immer leerer und allegorischer erschienen und ganz zuwider geworden war. Nun aber war das Bild ihm ganz und gar sichtbar geworden und er begann die Arbeit rein aus der Frische der Vision, ohne die Allegorie mehr zu empfinden.

Es waren drei lebensgroße Figuren: ein Mann und ein Weib, jeder für sich versunken und dem andern fremd, und zwischen ihnen spielend ein Kind, stillfroh und ohne Ahnung der über ihm lastenden Wolke. Die persönliche Bedeutung war klar, doch glich weder die Männerfigur dem Maler, noch das Weib seiner Frau, nur das Kind war Pierre, doch um einige Jahre jünger dargestellt. Dieses Kind malte er mit allem Reiz und aller Noblesse seiner besten Bildnisse, die Figuren zu beiden Seiten saßen in starrer Symmetrie, strenge, leidvolle Bilder der Einsamkeit, der Mann mit in die Hand gestütztem Haupt einem schweren Grübeln hingegeben, die Frau in Leid und leere Dumpfheit verloren.

Der Diener Robert hatte keine angenehmen Tage. Herr Veraguth war sonderbar nervös geworden. Er konnte es nicht vertragen, daß im Nebenzimmer das kleinste Geräusch war, wenn er arbeitete.

Die heimliche Hoffnung, die seit Burkhardts Besuch in Veraguth lebendig geworden war, saß wie ein Feuer in seiner Brust, brannte aller Unterdrückung zum Trotz weiter und färbte nachts seine Träume mit lockendem und erregendem Licht. Er wollte nicht auf sie hören, er wollte nichts von ihr wissen, er wollte nichts als arbeiten und Ruhe im Herzen haben. Und er fand die Ruhe nicht, er fühlte das Eis seines freudlosen Daseins schmelzen und alle Grundfesten seiner Existenz ins Wanken geraten, er sah in Träumen sein Atelier verschlossen und ausgeräumt, er sah seine Frau von ihm fort reisen, aber sie hatte Pierre mit sich genommen und der Knabe streckte die dünnen Arme nach ihm aus. Am Abend saß er manchmal in seinem unbehaglichen Wohnzimmerchen Stunde um Stunde allein, in den Anblick der indischen Photographien vertieft, bis er sie von sich schob und die ermüdeten Augen schloß.

Zwei Mächte kämpften in ihm einen harten Kampf, aber die Hoffnung war stärker. Immer wieder mußte er sich seine Gespräche mit Otto wiederholen, immer wärmer stiegen alle unterdrückten Wünsche und Bedürfnisse seiner kräftigen Natur aus der Tiefe hervor, wo sie so lange gefangen und erfroren gelegen waren, und diesem Empordrängen und frühlinghaften Erwarmen hielt der alte Wahn nicht stand, der kranke Wahn, er sei ein alter Mann und habe nichts mehr zu tun als das Leben zu ertragen. Die tiefe, mächtige Hypnose der Resignation war unterbrochen worden, und durch die Lücke drangen die unbewußten triebhaften Kräfte eines lang gebändigten und betrogenen Lebens schwärmend ein.

Je klarer diese Stimmen erklangen, desto ängstlicher zuckte des Malers Bewußtsein in der schmerzlichen Furcht vor dem letzten Erwachen. Immer wieder tat er krampfhaft die geblendeten Augen zu und sträubte sich, in allen Fasern fiebernd, gegen das notwendige Opfer.

Johann Veraguth zeigte sich selten im Hause drüben, er ließ sich fast alle Mahlzeiten ins Atelier bringen und brachte die Abende häufig in der Stadt zu. Traf er aber mit seiner Frau oder mit Albert zusammen, so war er still und milde und schien alle Feindlichkeit vergessen zu haben.

Um Pierre schien er sich wenig zu kümmern. Sonst hatte er den Kleinen mindestens einmal am Tage zu sich gelockt und bei sich gehabt oder war mit ihm im Garten gewesen. Jetzt konnten Tage vergehen, ohne daß er das Kind sah oder nach ihm verlangte. Lief ihm der Knabe in den Weg, so küßte er ihn nachdenklich auf die Stirn, sah ihm mit trauriger Zerstreutheit in die Augen und ging seines Weges.

Einmal kam Veraguth am Nachmittag in den Kastaniengarten herüber, es war lau und windig und ein warmer Regen sprühte in winzigen Tropfen schräg herab. Vom Hause klang aus offenen Fenstern Musik. Der Maler blieb stehen und hörte zu. Er kannte das Stück nicht. Es klang rein und ernsthaft in einer sehr strengen, wohlgebauten und abgewogenen Schönheit, und Veraguth lauschte mit nachdenklicher Freude. Sonderbar, eigentlich war das eine Musik für alte Leute, sie klang so schonend und männlich und hatte so gar nichts von dem bacchischen Taumel jener Musik, die er selber einst in Jugendzeiten über alles geliebt hatte.

Still trat er ins Haus, stieg die Treppe empor und erschien ungemeldet lautlos im Musikzimmer, wo nur Frau Adele sein Kommen bemerkte. Albert spielte und seine Mutter stand zuhörend beim Flügel. Veraguth setzte sich auf den nächsten Sessel, senkte den Kopf und verharrte lauschend. Zwischenein blickte er auf und ließ den Blick auf seiner Frau ruhen. Sie war hier zu Hause, sie hatte in diesen Zimmern stille, enttäuschte Jahre gelebt wie er in der Werkstatt drüben am See, aber sie hatte Albert gehabt, sie war mit ihm gegangen und gewachsen, und nun war der Sohn ihr Gast und Freund und bei ihr zu Hause. Frau Adele war etwas gealtert, sie hatte gelernt still zu sein und sich zu begnügen, ihr Blick war fest und ihr Mund etwas trocken geworden; aber sie war nicht entwurzelt, sie stand sicher in ihrer eigenen Atmosphäre, und ihre Luft war es, in der die Söhne aufwuchsen. Sie hatte wenig Überschwang und nicht allzuviel impulsive Zärtlichkeit zu geben, es fehlte ihr fast alles, was ihr Mann einst an ihr gesucht und von ihr erhofft hatte, aber es war Heimat um sie her, es war Art und Charakter in ihrem Gesicht, in ihrem Wesen, in ihren Räumen, es war hier ein Boden, in welchem Kinder aufwachsen und dankbar gedeihen konnten.

Veraguth nickte wie befriedigt. Hier war niemand, der etwas verlieren konnte, wenn er für immer verschwand. Er war in diesem Hause entbehrlich. Er würde immer wieder und überall in der Welt ein Atelier bauen können und sich mit Tätigkeit und Arbeitsglut umgeben, nur würde es nie eine Heimat werden. Er hatte das eigentlich lange gewußt, und es war gut so.

Nun hörte Albert auf zu spielen. Er fühlte, oder er sah es am Blick der Mutter, daß jemand ins Zimmer gekommen sei. Er wandte sich um und sah den Vater erstaunt und mißtrauisch an.

„Guten Tag,“ sagte Veraguth.

„Guten Tag,“ antwortete der Sohn verlegen und begann sich am Notenschrank zu beschäftigen.

„Ihr habt musiziert?“ fragte der Vater freundlich.

Albert zuckte die Achseln, als wolle er fragen: „Hast du es denn nicht gehört?“ Er wurde rot im Gesicht und verbarg es in die tiefen Fächer des Schranks.

„Es war schön,“ fuhr der Vater fort, und lächelte. Er fühlte tief, wie sehr sein Besuch hier störe, und er sagte nicht ohne einen leisen Anklang von Schadenfreude: „Bitte, spiel noch etwas! Was du willst! Du hast gute Fortschritte gemacht.“

„Ach, ich mag nimmer,“ wehrte sich Albert ärgerlich.

„Es wird schon gehen. Ich bitte darum.“

Frau Veraguth sah ihren Mann prüfend an.

„Also, Albert, setz dich her!“ sagte sie, und legte ein Notenheft auf. Sie streifte dabei mit dem Ärmel einen kleinen silbernen Blumenkorb voll Rosen, der auf dem Flügel stand, und es fiel eine Reihe blasser Blütenblätter auf das spiegelnde schwarze Holz.

Der Jüngling setzte sich auf den Klavierstuhl und begann zu spielen. Er war verwirrt und voll Ärger und spielte die Musik herunter wie ein lästiges Pensum, rasch und lieblos. Der Vater hörte eine Weile aufmerksam zu, dann versank er in Nachsinnen, stand endlich plötzlich auf und ging geräuschlos aus dem Zimmer, noch ehe Albert fertig war. Im Weggehen hörte er den Jungen wütend auf die Tasten loshämmern und sein Spiel abbrechen.

„Ihnen wird nichts fehlen, wenn ich weg bin,“ dachte der Maler, indem er die Treppe hinabstieg. „Herrgott, wie weit sind wir auseinander, und sind doch einmal eine Art von Familie gewesen!“

Im Korridor lief ihm Pierre entgegen, strahlend und in großer Aufregung.

„O Papi,“ rief er atemlos, „gut, daß du da bist! Denk dir, ich habe eine Maus, eine kleine lebendige Maus! Schau, da in meiner Hand – siehst du die Augen? Die gelbe Katze hat sie gefangen, und sie hat mit ihr gespielt und hat sie so sehr gequält und sie immer wieder ein Stückchen laufen lassen und wieder gefangen. Da habe ich ganz, ganz schnell zugegriffen und habe ihr die Maus vor der Nase weggefangen! Was tun wir jetzt mit ihr?“

Er blickte heiß vor Freude empor, und schauderte doch, als die Maus in seiner kleinen, festgeschlossenen Hand wühlte und kurze bange Pfiffe ausstieß.

„Wir lassen sie im Garten draußen laufen,“ sagte der Vater, „komm mit!“

Er ließ sich einen Regenschirm geben und nahm den Knaben mit sich. Es tröpfelte schwach aus dem heller gewordenen Himmel, die nassen, glatten Stämme der Buchen glänzten schwarz wie Gußeisen.

Zwischen dem üppigen, zäh ineinander verknoteten Wurzelwerk einiger Bäume machten sie halt. Pierre kauerte hockend nieder und machte ganz langsam seine Hand auf. Sein Gesicht war gerötet und die hellen, grauen Augen strahlten vor heftiger Spannung. Und plötzlich, als werde die Erwartung ihm unerträglich, öffnete er das Händchen weit. Die Maus, ein winzig kleines, junges Tierchen, schoß blindlings aus der Haft hervor, hielt eine Elle weiter vor einem starken Wurzelstrange an und blieb still da sitzen. Man sah ihre Flanken von heftigen Atemzügen bewegt und ihre kleinen schwarzglänzenden Äuglein angstvoll umschauen.

Pierre jauchzte laut auf und klatschte in die Hände. Die Maus erschrak und verschwand wie verzaubert im Boden. Sachte strich der Vater dem Knaben das dichte Haar zurück.

„Kommst du mit mir, Pierre?“

Der Kleine legte seine rechte Hand in des Vaters Linke und ging mit ihm.

„Jetzt ist die kleine Maus schon daheim bei ihrer Mama und bei ihrem Papi, und erzählt ihnen alles.“

Er plauderte sprudelnd weiter, und der Maler umschloß seine kleine warme Hand mit festen Fingern, und mit jedem Wort und Jauchzen des Kindes zuckte sein Herz auf und sank in Abhängigkeit und schweren Liebesbann zurück.

Ach, nie mehr im Leben würde er eine solche Liebe fühlen können wie zu diesem Knaben. Nie mehr würde er Augenblicke so voll warmer, strahlender Zärtlichkeit, so voll spielenden Selbstvergessens, so voll starker, wehmütiger Süßigkeit erleben können wie mit Pierre, mit diesem letzten, schönen Bilde seiner eigenen Jugend. Seine Anmut, sein Lachen, die Frische seines kleinen, selbstbewußten Wesens waren der letzte frohe, reine Klang in Veraguths Leben, so schien es ihm; sie waren für ihn, was der letzte vollblühende Rosenbaum in einem spätherbstlichen Garten ist. An ihm hängt Wärme und Sonne, Sommer und Gartenfröhlichkeit, und wenn ihn der Sturm oder Reif entblättert, ist es mit allem Reiz und mit jeder Ahnung von Glanz und Freude vorüber.

„Warum magst du eigentlich den Albert nicht leiden?“ fragte Pierre plötzlich.

Veraguth drückte die Kinderhand fester.

„Ich mag ihn schon leiden. Er hat eben die Mutter lieber als mich. Dafür kann man nichts.“

„Ich glaube, er kann dich gar nicht leiden, Papa. Und weißt du, er hat auch mich nimmer so gern wie früher. Er spielt nur immerfort Klavier oder sitzt allein in seinem Zimmer. Am ersten Tag, als er kam, habe ich ihm von meinem eigenen Garten erzählt, den ich selber gepflanzt habe, und da hat er gleich so ein großartiges Gesicht gemacht, und dann sagte er: ‚Morgen wollen wir dann deinen Garten ansehen.‘ Aber nun hat er die ganze Zeit nicht mehr darnach gefragt. Er ist kein guter Kamerad, und er kriegt auch schon einen kleinen Schnurrbart. Und immer ist er bei der Mutter, ich kann sie fast nie allein haben.“

„Er ist auch nur für ein paar Wochen da, mein Junge, du mußt das nicht vergessen. Und wenn du die Mama nicht allein findest, kannst du ja immer zu mir kommen. Magst du nicht?“

„Das ist nicht das gleiche, Papi. Manchmal mag ich gern zu dir kommen, und manchmal lieber zur Mama. Und du mußt ja auch immer so furchtbar viel arbeiten.“

„Daran brauchst du dich gar nicht zu kehren, Pierre. Wenn du gern zu mir kommen magst, so darfst du immer kommen – hörst du, immer, auch wenn ich im Atelier bin und arbeite.“

Der Knabe gab keine Antwort. Er sah den Vater an, seufzte ein wenig und sah unbefriedigt aus.

„Ist dir das nicht recht?“ fragte Veraguth, beklommen vor dem Ausdruck in dem Kindergesicht, das vor Augenblicken noch von lärmender Knabenlust geleuchtet hatte und nun abgewandt und viel zu alt aussah.

Er wiederholte seine Frage.

„Sag mir’s nur, Pierre! Bist du nicht mit mir zufrieden?“

„Doch, Papa. Aber ich mag nicht so gern zu dir kommen, wenn du malst. Früher bin ich manchmal gekommen – – –“

„Nun, und was hat dir da nicht gefallen?“

„Weißt du, Papa, wenn ich dich im Atelier besuche, dann streichelst du mir immer übers Haar und sagst nichts und hast ganz andere Augen, und manchmal hast du böse Augen gemacht, ja. Und wenn man dir dann etwas sagt, dann sieht man an deinen Augen, daß du gar nicht zuhörst, du sagst nur Jaja und passest gar nicht auf. Und wenn ich zu dir komme und dir etwas sagen will, dann will ich doch, daß du zuhörst!“

„Du mußt trotzdem wieder kommen, Liebling. Denk einmal: wenn ich mit meinen Gedanken ganz, ganz fest bei dem bin, was ich gerade arbeite, und wenn ich recht stark nachdenken muß, wie ich es am besten machen kann, dann kann ich manchmal nicht gleich davon wegkommen und auf dich hören. Aber ich will es versuchen, wenn du wiederkommst.“

„Ja, ich verstehe schon. Ich muß auch oft an irgend etwas denken, und dann ruft mir jemand und ich soll ihm folgen – das ist widerwärtig. Manchmal mag ich den ganzen Tag still sein und nachdenken, und gerade dann soll ich immer spielen oder lernen oder irgend etwas tun, und dann werde ich ganz böse.“

Pierre blickte vor sich hin, angestrengt in dem Bemühen, das auszudrücken, was er meinte. Es war schwierig, und man wurde doch meistens nicht ganz verstanden.

Sie waren in Veraguths Wohnzimmer eingetreten. Er setzte sich und nahm den Kleinen zwischen seine Knie.

„Ich weiß, was du meinst, Pierre,“ sagte er begütigend. „Willst du jetzt Bilder ansehen, oder magst du zeichnen? Ich meine, du könntest vielleicht die Mausgeschichte zeichnen?“

„O ja, das will ich tun. Dazu muß ich aber ein schönes großes Papier haben.“

Aus einer Tischlade suchte der Vater ein Stück Zeichenpapier hervor, spitzte einen Bleistift und schob dem Knaben einen Stuhl heran. Pierre fing alsbald, auf dem Sessel kniend, die Maus und die Katze zu zeichnen an. Veraguth, um ihn nicht zu stören, setzte sich hinter ihn und betrachtete den dünnen gebräunten Hals, den geschmeidigen Rücken und den noblen, eigenwilligen Kopf des Kindes, das ganz in sein Tun versunken war und mit ungeduldigem Lippenspiel seiner Arbeit folgte. Jeder Strich, jeder kleine Fortschritt und jedes Mißglücken war in dem beweglichen Munde, in der Bewegung der Brauen und Stirnfalten deutlich gespiegelt.

„Ach, es ist nichts!“ rief Pierre nach einer Weile, richtete sich, auf die flachen Hände gestützt, empor und schaute seine Zeichnung kritisch mit eingekniffenen Augen an.

„Es wird nichts!“ klagte er zürnend. „Papa, wie macht man denn eine Katze? Meine sieht wie ein Hund aus.“

Der Vater nahm das Papier in die Hände und ging ernsthaft darauf ein.

„Wir müssen ein wenig radieren,“ sagte er gelassen. „Der Kopf ist zu groß und nicht rund genug, und die Beine sind zu lang. Warte nur, wir kriegen das schon heraus.“

Vorsichtig fuhr er mit dem Gummi über Pierres Blatt, holte ein neues Papier und zeichnete darauf eine Katze.

„Schau, so muß sie werden. Sieh dir’s ein wenig an und zeichne dann eine neue Katze.“

Allein Pierres Geduld war erschöpft, er gab den Bleistift zurück und nun mußte der Papa weiterzeichnen, zur Katze noch eine kleine junge Katze, und dann eine Maus, und dann wie Pierre kommt und sie befreit, und schließlich verlangte er noch einen Wagen mit Pferden und einem Kutscher darauf.

Und plötzlich war auch das langweilig. Singend lief der Knabe ein paarmal durch die Stube, schaute durchs Fenster, ob es noch regne, und tanzte zur Türe und hinaus. Unter den Fenstern hin klang sein feiner, hoher, kindlicher Gesang, dann ward es still und Veraguth saß allein, das Blatt mit den Katzen in der Hand.

Achtes Kapitel

Veraguth stand vor seinem großen Bilde mit den drei Figuren und malte am Gewand der Frau, einem dünnen, blaugrünen Kleide, an dessen Halsausschnitt ein kleiner Goldschmuck verloren und traurig glänzte und allein das liebe Licht auffing, das auf dem beschatteten Gesicht keine Stätte fand und an dem kühlen, blauen Gewande fremd und freudlos niederglitt ... dasselbe Licht, das nebenan im hellen, offenen Haar des schönen Kindes froh und innig spielte.

Es klopfte an der Türe und der Maler trat unwillig und gereizt zurück. Als es nach einer kleinen Wartezeit nochmals pochte, ging er mit heftigen Schritten zur Tür und öffnete einen schmalen Spalt.

Da stand Albert, der in der ganzen Ferienzeit das Atelierhaus nie betreten hatte. Er hielt den Strohhut in der Hand und blickte etwas unsicher in das nervöse Gesicht des Vaters.

Dieser ließ ihn eintreten.

„Guten Tag, Albert. Du kommst wohl, um dir meine Bilder anzusehen? Es ist wenig da.“

„O, ich will gar nicht stören. Ich wollte nur schnell fragen ...“

Aber Veraguth hatte die Türe geschlossen und war an der Staffelei vorüber zu einem graugestrichenen Lattengerüste gegangen, wo auf schmalen, mit Rollen versehenen Böden seine Bilder standen. Er zog das Bild mit den Fischen hervor.

Albert trat verlegen neben seinen Vater und beide blickten auf die silbrig schimmernde Leinwand.

„Machst du dir eigentlich etwas aus der Malerei?“ fragte Veraguth leichthin. „Oder freut dich nur die Musik?“

„O, ich habe Bilder sehr gern, und das hier ist wunderschön.“

„Gefällt es dir? Das freut mich. Ich lasse dir eine Photographie davon machen. Und wie fühlst du dich denn wieder auf Roßhalde?“

„Danke, Papa, sehr gut. Aber ich wollte dich wirklich nicht stören, ich kam nur wegen einer Kleinigkeit – –“

Der Maler hörte nicht. Er sah seinem Sohn zerstreut ins Gesicht, mit dem langsam zugreifenden, etwas überanstrengten Blick, den er stets bei der Arbeit hatte.

„Wie denkt ihr jungen Leute heutzutage eigentlich über die Kunst? Ich meine, gilt da Nietzsche, oder liest man noch Taine – er war gescheit aber langweilig, dieser Taine – oder habt ihr neue Ideen?“

„Taine kenne ich noch nicht. Über das hast du ja gewiß viel mehr nachgedacht als ich.“

„Früher, ja, da war die Kunst und die Kultur und das Apollinische und Dionysische und all das Zeug mir furchtbar wichtig. Aber heut bin ich froh, wenn ich ein gutes Bild zusammenbringe, es sind keine Probleme mehr dabei, jedenfalls keine philosophischen. Und wenn ich sagen müßte, warum ich eigentlich ein Künstler bin und alle die Leinwand vollmale, so würde ich sagen: ich male, weil ich keinen Schweif zum Wedeln habe.“

Erstaunt sah Albert seinen Vater an, der seit langem kein solches Gespräch mehr mit ihm geführt hatte.

„Keinen Schweif? Wie meinst du das?“

„Sehr einfach. Hunde und Katzen und andere begabte Tiere haben einen Schwanz, und nicht nur für das, was sie denken und fühlen und leiden, sondern für jede Laune und Schwingung ihres Wesens und für jede feine Wallung ihres Lebensgefühls hat ihr Schwanz mit tausend Schnörkeln eine wunderbar vollkommene Arabeskensprache. Die haben wir nicht, und da die Lebhafteren unter uns doch eben auch so etwas brauchen, so machen sie sich eben Pinsel und Klaviere und Geigen ...“

Er brach ab, als interessiere ihn die Unterhaltung plötzlich nimmer, oder als nehme er erst jetzt wahr, daß er allein rede und bei Albert kein rechtes Echo finde.

„Also ich danke für den Besuch,“ sagte er unvermittelt.

Er war wieder vor seine Arbeit getreten, hatte die Palette an sich genommen und starrte suchend auf den Fleck, wo der letzte Pinselstrich saß.

„Verzeih, Papa, ich möchte dich etwas fragen –“

Veraguth wandte sich um, mit schon entfremdeten Blicken und außer Zusammenhang mit den Dingen, die außerhalb seiner Arbeit lagen.

„Ja?“

„Ich möchte Pierre auf einen Ausflug im Wagen mitnehmen. Mama hat es erlaubt, aber sie sagte, ich solle auch bei dir noch fragen.“

„Wohin wollt ihr denn fahren?“

„Ein paar Stunden weit über Land, vielleicht nach Pegolzheim.“

„So ... Wer kutschiert denn?“

„Ich natürlich, Papa.“

„Meinetwegen, nimm Pierre mit! Aber im Einspänner, mit dem Braunen. Und daß er nicht zuviel Haber kriegt!“

„Ach, ich wäre viel lieber zweispännig gefahren!“

„Tut mir leid. Allein magst du fahren, wie du willst; aber wenn der Kleine dabei ist, nur mit dem Braunen.“

Etwas enttäuscht zog Albert sich zurück. Zu andern Zeiten hätte er getrotzt oder weiter gebeten, aber er sah, der Maler war schon wieder ganz bei seiner Arbeit, und hier im Atelier und in der Atmosphäre seiner Bilder imponierte ihm trotz aller inneren Gegenwehr der Vater doch jedesmal so sehr, daß er ihm gegenüber, dessen Autorität er sonst nicht anerkannte, sich erbärmlich knabenhaft und schwach fühlte.

Der Maler war alsbald wieder mitten in seiner Arbeit, die Unterbrechung war vergessen und die Außenwelt verweht. Mit streng konzentriertem Blick verglich er die Fläche der Leinwand mit dem lebendigen Bilde in seinem Innern. Er fühlte die Musik des Lichtes, wie sein tönender Strom sich verteilte und wiederfand, wie es an Widerständen ermüdete, wie es aufgetrunken ward und unbesiegbar auf jeder empfänglichen Fläche neu triumphierte, wie es in den Farben mit wählerischer, doch unfehlbarer Laune in peinlichster Empfindlichkeit spielte, in tausend Brechungen unzerstört und in tausend spielerischen Irrgängen untrüglich seinem eingeborenen Gesetze treu. Und er kostete in tiefen Zügen die herbe Luft der Kunst, die strenge Freude des Schöpfers, der sich selber bis zur Grenze der Vernichtung hergeben muß, der das heilige Glück der Freiheit nur im eisernen Bändigen jeder Willkür finden und die Augenblicke der Erfüllung nur im asketischen Gehorsam gegen das Wahrhaftigkeitsgefühl erleben kann.

Es war seltsam und betrübend, doch nicht seltsamer und trauriger als alles Menschengeschick: dieser beherrschte Künstler, dem nur aus tiefster Wahrhaftigkeit und aus unerbittlich klarer Konzentration zu arbeiten möglich schien, dieser selbe Mann, in dessen Werkstatt keine Laune und keine Unsicherheit Raum gewann, er war in seinem Leben ein Dilettant und gescheiterter Glücksucher gewesen, und er, der keine mißglückte Tafel oder Leinwand aus den Händen gab, litt tief unter der dunkeln Last ungezählter mißglückter Tage und Jahre, mißglückter Liebes- und Lebensversuche.

Ihm kam es nicht zum Bewußtsein. Er hatte seit langem das Bedürfnis verloren, sein Leben klar vor sich auszubreiten. Er hatte gelitten und sich gegen das Leid gewehrt, in Empörung und in Resignation, und er hatte damit geendet, die Dinge ihren Weg gehen zu lassen und sich nur seine Arbeit zu erhalten. Und es war seiner zähen Natur gelungen, seine Künstlerschaft beinahe um das reicher und tiefer und glühender zu machen, was sein Leben an Reichtum, Tiefe und Wärme verlor. Einsam und geharnischt saß er nun wie ein Verzauberter, eingesponnen in seinen Künstlerwillen und rücksichtslosen Fleiß, und sein Wesen war gesund und eigenwillig genug, die Armut dieses Daseins nicht zu sehen und nicht anerkennen zu wollen.

So war es bis vor kurzem gewesen, bis der Freundesbesuch ihn aufgerüttelt hatte. Seither umgab den Einsamen eine beängstigende Ahnung von Gefahr und Schicksalsnähe, er fühlte Kämpfe und Prüfungen auf sich warten, in denen nicht seine Kunst und nicht sein Fleiß ihn retten konnten. Sein beschädigtes Menschentum witterte Sturm und fand keine Wurzeln und Kräfte in sich, ihn auszuhalten. Und nur langsam wollte seine vereinsamte Seele sich an den Gedanken gewöhnen, es müsse nun nächstens der Kelch verschuldeten Leides bis zur Hefe ausgetrunken werden.

Im Kampf wider diese drohenden Ahnungen und in der Scheu vor klaren Gedanken oder gar Entschlüssen zog sich des Malers ganze Natur, als sei es vielleicht zum letzten Male, nochmals in einer ungeheuren Anstrengung zusammen wie ein verfolgtes Tier zum rettenden Sprunge, und so schuf Johann Veraguth in diesen Tagen der inneren Beängstigung mit einem verzweifelten Zusammenraffen eines seiner größten und schönsten Werke, das spielende Kind zwischen den gebeugten leidvollen Gestalten der Eltern. Vom selben Boden getragen, von derselben Luft umflossen und vom selben Licht beschienen hauchten die Figuren des Mannes und Weibes Tod und bitterste Kühle aus, indessen goldig und frohlockend in ihrer Mitte das Kind selig wie im eigenen Lichte leuchtete. Und wenn später, seinem eigenen bescheidenen Urteil entgegen, einige Bewunderer den Maler dennoch zu den wirklich Großen rechneten, so taten sie es vor allem dieses Bildes wegen, das so schmerzlich voll von Seele war, obwohl es nichts zu sein begehrte als ein vollkommenes Stück Handwerk.

In diesen Stunden wußte Veraguth nichts von Schwäche und Angst, nichts von Leid und Schuld und verfehltem Leben. Er war nicht froh noch traurig, von seinem Werk gebannt und aufgesogen atmete er die kalte Luft schöpferischer Einsamkeit und begehrte nichts von der Welt, die ihm versunken und vergessen war. Rasch und sicher, mit vor Anstrengung vorquellenden Augen, setzte er in kleinen, schneidigen Drückern die Farbe hin, trieb einen Schatten tiefer zurück, löste ein schwebendes Blatt, eine spielende Locke freier und weicher im Lichte auf. Dabei dachte er nicht im mindesten an das, was sein Bild ausdrückte. Das war erledigt, das war eine Idee, ein Einfall gewesen; jetzt ging es nicht um Bedeutungen, Gefühle und Gedanken, sondern um reine Wirklichkeit. Er hatte sogar den Ausdruck der Gesichter wieder abgeschwächt und nahezu ausgelöscht, es lag ihm nichts am Dichten und Erzählen, und die um ein Knie gebauschte Mantelfalte war ihm so wichtig und heilig wie die gesenkte Stirn und der geschlossene Mund. Auf dem Bilde sollte nichts zu sehen sein als drei Menschen in vollkommenster Gegenständlichkeit, jeder durch Raum und Luft den andern verbunden, jeder dennoch umflossen von der Einzigkeit, die jedes tiefgeschaute Gebilde aus der nebensächlichen Welt der Beziehungen losreißt und den Beschauer mit schauerndem Erstaunen über die schicksalhafte Notwendigkeit jeder Erscheinung erfüllt. So blicken uns aus Bildern toter Meister fremde Menschengestalten, deren Namen wir nicht wissen und nicht zu wissen begehren, überlebendig und rätselhaft wie Sinnbilder alles Seins entgegen.

Das Bild war weit gefördert und nahezu fertig. Das Vollenden der süßen Kindergestalt hatte er sich zum Schlusse aufbehalten, daran dachte er morgen oder übermorgen zu gehen.

Die Mittagszeit war überschritten, als der Maler Hunger verspürte und auf die Uhr sah. Er wusch sich eilig, kleidete sich um und ging ins Herrschaftshaus hinüber, wo er seine Frau ganz allein am Tische wartend fand.

„Wo sind die Buben?“ fragte er verwundert.

„Sie sind ausgefahren. War Albert denn nicht bei dir?“

Nun erst fiel ihm Alberts Besuch wieder ein. Zerstreut und etwas befangen begann er zu essen. Frau Adele beobachtete ihn, wie er unachtsam und müde die Speisen zerschnitt. Sie hatte ihn eigentlich nicht mehr zu Tische erwartet und es überraschte sie seinem überanstrengten Gesichte gegenüber eine Art von Mitleid. Sie schwieg und legte ihm vor, schenkte ihm Wein ins Glas, und er, eine unbestimmte Freundlichkeit erfühlend, nahm sich zusammen, ihr etwas Angenehmes zu sagen.

„Will Albert eigentlich Musiker werden?“ fragte er. „Ich glaube, er hat viel Talent.“

„Ja, er ist begabt. Aber ich weiß nicht, ob er zum Künstler passen würde. Zu wünschen scheint er es nicht. Er hat bis jetzt noch zu keinem Beruf besondere Lust und sein Ideal wäre eine Art von Gentleman, der gleichzeitig Sport und Studien, Geselligkeit und Kunst betriebe. Leben wird er davon schwerlich können, das werde ich ihm mit der Zeit klarmachen müssen. Einstweilen ist er ja fleißig und hat gute Manieren, da mag ich ihn nicht unnütz stören und unruhig machen. Wenn er seine Maturität gemacht hat, will er ohnehin zuerst Soldat werden. Später sieht man weiter.“

Der Maler schwieg. Er schälte eine Banane und roch befriedigt an der reifen, nahrhaft und mehlig duftenden Frucht.

„Wenn es dich nicht stört, möchte ich noch den Kaffee hier nehmen,“ sagte er schließlich.

Sein Ton war von schonender Freundlichkeit und etwas müde, als behage es ihm, hier auszuruhen und es ein wenig gut zu haben.

„Ich lasse ihn sofort bringen. – Du hast viel gearbeitet?“

Das war ihr entschlüpft, beinahe ohne daß sie es wußte. Sie wollte eigentlich nichts damit sagen; sie wollte nur, da es eben eine seltne gute Stunde war, ein wenig Aufmerksamkeit zeigen, und das fiel nicht leicht, da die Gewohnheit fehlte.

„Ja, ich habe ein paar Stunden gemalt,“ sagte ihr Mann trocken.

Es störte ihn, daß sie das fragte. Es war zwischen ihnen Sitte geworden, daß von seiner Arbeit nie geredet werde, und viele von seinen neueren Bildern hatte sie überhaupt nie gesehen.

Sie fühlte, daß der helle Augenblick verrinne, und sie tat nichts, ihn zu halten. Und er, der schon die Hand nach seinem Etui ausgestreckt hatte, um sich die Erlaubnis zu einer Zigarette zu erbitten, ließ die Hand wieder sinken und hatte die Lust dazu verloren.

Doch trank er ohne Eile seinen Kaffee, tat noch eine Frage nach Pierre, dankte mit Höflichkeit und blieb noch einige Minuten im Zimmer, ein kleines Bild betrachtend, das er seiner Frau vor manchen Jahren geschenkt hatte.

„Es hält sich gut,“ sagte er, halb zu sich selbst, „und sieht noch ganz hübsch aus. Nur die gelben Blumen sind eigentlich entbehrlich, sie ziehen zuviel Helligkeit da herüber.“

Frau Veraguth sagte nichts; es waren zufällig gerade die äußerst duftig und fein gemalten gelben Blumen, die sie an dem Bilde vor allem gern hatte.

Er wandte sich um und lächelte leicht.

„Auf Wiedersehen! Und langweile dich nicht zu sehr, bis die Jungen zurückkommen.“

Damit ging er hinaus und die Treppe hinab. Unten sprang der Hund an ihm in die Höhe. Er nahm seine Tatzen in die linke Hand zusammen, streichelte ihn mit der rechten und sah ihm in die eifrigen Augen. Dann rief er durchs Küchenfenster nach einem Stück Zucker, gab es dem Hunde, warf einen Blick auf den sonnigen Rasenplatz und ging langsam ins Atelier hinüber. Es war heute hübsch hier draußen, und eine herrliche Luft; aber er hatte keine Zeit, er mußte arbeiten.

Im stillen, aufgelösten Licht der hohen Werkstatt stand sein Bild. Auf einer grünen Fläche mit wenigen kleinen Wiesenblumen saßen die drei Figuren: der Mann gebückt und in ein hoffnungsloses Grübeln vergraben, die Frau ergeben wartend in enttäuschter Freudlosigkeit, das Kind hell und arglos in den Blumen spielend, und über ihnen allen ein intensives, wogendes Licht, das triumphierend im Raume flutete und in jedem Blumenkelch mit derselben unbekümmerten Innigkeit aufstrahlte wie im lichten Haar des Knaben und in dem kleinen Goldschmuck am Halse der betrübten Frau.

Neuntes Kapitel

Der Maler hatte bis gegen den Abend weitergearbeitet. Nun saß er, die Hände im Schoß und stumpf vor Ermüdung, eine Weile zusammengesunken im Armstuhl, vollkommen leer und ausgepreßt, mit erschlafften Wangen und etwas entzündeten Augenlidern, alt und fast leblos wie ein Bauer oder Holzhauer nach der schwersten körperlichen Arbeit.

Am liebsten wäre er so sitzengeblieben und hätte sich ganz der Müdigkeit und der Schlafsehnsucht überlassen. Seine herrische Zucht und Gewohnheit verlangte es aber anders, und er raffte sich nach einer Viertelstunde mit einem Ruck zusammen. Er stand auf, ohne mehr einen Blick nach dem großen Bilde hin zu tun, ging zur Badestelle am Weiher, zog sich aus und schwamm langsam um den See.

Es war ein milchig bleicher Abend, vom nächsten Feldwege her kam, durch den Park gedämpft, das Geräusch knarrender Heuwagen und das schwerfällige Rufen und Lachen müdgearbeiteter Knechte und Mägde herübergeklungen. Fröstelnd stieg Veraguth ans Land, rieb sich sorgfältig warm und trocken, ging in sein kleines Wohnzimmer und zündete eine Zigarre an.

Er hatte diesen Abend Briefe schreiben wollen, nun rückte er unschlüssig an der Tischlade, schob sie aber ärgerlich wieder zu und schellte nach Robert.

Der Diener kam gelaufen.

„Sagen Sie, wann sind die jungen Leute mit dem Wagen zurückgekommen?“

„Noch nicht, Herr Veraguth.“

„Was, sie sind noch gar nicht zurück?“

„Nein, Herr Veraguth. Wenn Herr Albert nur den Braunen nicht zu sehr strapaziert hat, er fährt gern ein wenig streng.“

Sein Herr gab keine Antwort. Er hatte sich gewünscht, noch ein halbes Stündlein Pierre bei sich zu haben, den er längst heimgekehrt glaubte. Nun war er über die Nachricht ärgerlich und etwas erschrocken.

Er lief ins Herrenhaus hinüber und klopfte am Zimmer seiner Frau. Sie begrüßte ihn erstaunt, es war seit langem nicht geschehen, daß er sie hier und um diese Zeit aufsuchte.

„Entschuldige,“ sagte er in unterdrückter Erregtheit, „aber wo ist Pierre?“

Frau Adele sah ihren Mann verwundert an.

„Die Jungen sind mit dem Wagen fort, du weißt ja.“

Da sie seine Gereiztheit fühlte, fügte sie bei: „Du wirst doch nicht ängstlich sein?“

Er zuckte ärgerlich die Achseln.

„Ach nein. Aber ich finde es rücksichtslos von Albert. Er sprach von ein paar Stunden. Wenigstens hätte er uns telephonieren können.“

„Es ist ja noch früh. Sie werden gewiß zum Abendessen da sein.“

„Immer ist der Kleine weg, wenn ich ihn einmal ein bißchen haben möchte!“

„Es hat keinen Sinn, daß du dich so ärgerst. Es ist doch der reine Zufall. Pierre ist oft genug bei dir drüben.“

Er biß sich auf die Lippen und ging schweigend hinaus. Sie hatte recht, es hatte keinen Sinn, sich aufzuregen, es hatte keinen Sinn, lebhaft zu sein und etwas vom Augenblick zu verlangen! Es war besser, in geduldiger Gelassenheit zu sitzen, wie sie es tat!

Zornig ging er zum Hof hinaus und auf die Landstraße. Nein, er wollte das nicht lernen, er wollte seine Freude und wollte seinen Zorn haben! Wie hatte diese Frau ihn schon gedämpft und still gemacht, wie war er schon beherrscht und alt geworden, er, der früher gewohnt gewesen war, frohe Tage lärmend in die tiefe Nacht hineinzuziehen und im Ärger die Stühle zu zerschmettern! Aller Groll und alle Bitterkeit kam wieder in ihm auf, und zugleich ein sehnliches Verlangen nach seinem Knaben, dessen Blick und Stimme allein ihn froh machen konnten.

Mit großen Schritten lief er auf der abendlichen Straße dahin. Wagenrollen wurde hörbar und er eilte gespannt entgegen. Es war nichts. Ein Bauerngaul mit einem Karren voll Gemüse. Veraguth rief ihn an.

„Haben Sie nicht einen Einspänner überholt, mit zwei jungen Leuten auf dem Bock?“

Der Bauer schüttelte den Kopf, ohne anzuhalten, und sein schweres Roß trabte gleichmütig weiter in den sanften Abend hinein.

Im Weitergehen fühlte der Maler seinen Zorn erkalten und hinschwinden. Seine Schritte wurden ruhiger, die Müdigkeit kam wohlig über ihn, und während er bequem ausschritt, ruhten seine Augen dankbar in der stillen, reichen Landschaft aus, die bleich und fein im dunstigen Spätlichte lag.

Er dachte kaum mehr an seine Söhne, als nach einer halben Stunde Gehens ihm ihr Wagen entgegenkam. Er achtete erst darauf, als er schon nahe war. Bei einem großen Birnbaum blieb Veraguth stehen, und als er Alberts Gesicht erkennen konnte, trat er noch mehr zurück, um nicht gesehen und abgerufen zu werden.

Albert war allein auf dem Bock. Pierre saß halb liegend in einer Wagenecke, hatte den unbedeckten Kopf gesenkt und schien eingeschlafen. Der Wagen rollte vorüber und der Maler sah ihm nach, er blieb am Rande der staubigen Straße stehen, solange der Wagen noch zu sehen war. Dann kehrte er um und ging den Weg zurück. Er hätte Pierre gerne noch gesehen, doch war es für den Knaben bald Schlafenszeit, auch hatte Veraguth keine Lust, sich heute nochmals bei seiner Frau zu zeigen.

So ging er am Park, am Hause und Hoftor vorbei und in die Stadt hinunter, wo er in einem volkstümlichen Weinkeller sein Abendessen nahm und in den Zeitungen blätterte.

Indessen waren seine Söhne längst zu Hause. Albert saß bei der Mutter und erzählte. Pierre war sehr müde gewesen, hatte gar nichts mehr essen mögen und lag nun schlafend in seinem hübschen kleinen Schlafzimmer. Und als der Vater in der Nacht zurückkam und am Hause vorüberging, war nirgends mehr ein Licht zu sehen. Die laue, sternlose Nacht umfing Park, Haus und See mit schwarzer Stille und aus der regungslosen Luft fielen feine, leise Regentropfen.

Veraguth machte in seiner Wohnstube Licht und setzte sich an den Schreibtisch. Sein Verlangen nach Schlaf hatte sich wieder ganz verloren. Er nahm ein Briefblatt und schrieb an Otto Burkhardt. Durch die offenen Fenster kamen kleine Nachtfalter und Motten geflogen. Er schrieb:

Mein Lieber!

Vermutlich erwartest Du jetzt gar keinen Brief von mir. Aber wenn ich schon schreibe, erwartest Du wieder mehr, als ich geben kann. Du erwartest, es sei jetzt Klarheit in mich gekommen und ich sähe die schadhafte Maschinerie meines Lebens so sauber im Querschnitt, wie Du sie zu sehen meinst. Damit ist es leider nichts. Ein Wetterleuchten ist ja wohl in mir aufgegangen, seit wir darüber gesprochen haben, und es starren mir in manchen Augenblicken recht peinliche Enthüllungen entgegen; aber Tag ist es doch noch nicht geworden.

Was ich also später tun oder lassen werde, kann ich nicht sagen. Aber wir reisen! Ich fahre mit Dir nach Indien, bitte, besorge mir einen Schiffsplatz, sobald Du den Termin weißt. Vor dem Ende des Sommers geht es nicht, aber im Herbst je eher je lieber.

Das Bild mit den Fischen, das Du hier sahest, möchte ich Dir schenken, aber es wäre mir lieb, wenn es in Europa bliebe. Wohin soll ich es schicken?

Hier ist alles wie immer. Albert spielt den Weltmann und wir behandeln einander mit ungeheurer Achtung wie zwei Gesandte feindlicher Mächte.

Ehe wir reisen, erwarte ich Dich noch einmal auf Roßhalde. Ich muß Dir ein Bild zeigen, das dieser Tage fertig wird. Das Ding ist gut und wäre ein hübscher Schlußpunkt, falls mich draußen Eure Krokodile fräßen, was mir übrigens unerwünscht wäre, trotz allem.

Ich muß zu Bett, obwohl ich keinen Schlaf habe. Ich war heute neun Stunden vor der Staffelei.

Dein Johann.

Der Brief wurde adressiert und in den Vorraum gelegt, damit ihn Robert morgens zur Post bringe.

Als der Maler vor dem Schlafengehen den Kopf aus dem Fenster steckte, nahm er erst das Rauschen des Regens wahr, auf das er am Schreibtisch nicht geachtet hatte. Es sank in weichen Strähnen aus der Finsternis herab und er hörte noch lang vom Bett aus zu, wie es fiel und strömte und von dem beschwerten Laub in kleinen klingenden Güssen zur dürstenden Erde lief.

Zehntes Kapitel

Pierre ist so langweilig,“ sagte Albert zu seiner Mutter, als sie miteinander in den vom Regen erfrischten Garten gingen, um Rosen zu schneiden. „Er hat sich ja die ganze Zeit nicht eben viel aus mir gemacht, aber gestern war rein gar nichts mit ihm anzufangen! Neulich, als ich davon sprach, wir wollten einmal eine Wagenfahrt zusammen machen, da war er ganz begeistert. Und gestern mochte er kaum mitgehen, ich mußte ihn fast darum bitten. Es war ja kein sehr großes Vergnügen für mich, da ich nicht beide Pferde nehmen durfte, ich ging eigentlich überhaupt nur seinetwegen.“

„War er denn unterwegs nicht artig?“ fragte Frau Veraguth.

„Ach, artig war er schon, nur so langweilig! Er hat manchmal direkt etwas Blasiertes, der Junge. Was ich auch vorschlug und was ich ihm zeigte oder anbot, war ihm kaum ein Jaja oder ein Lächeln wert, er wollte nicht auf dem Bock sitzen, er wollte nicht kutschieren lernen, nicht einmal Aprikosen essen wollte er. Richtig wie ein verwöhnter Prinz. Es war ärgerlich und ich sage es dir, weil ich ihn wirklich ein andermal nicht wieder mitnehmen möchte.“

Die Mutter blieb stehen und sah ihn prüfend an; sie mußte über seine Erregung lächeln und sah mit Befriedigung in seine funkelnden Augen.

„Großer Junge,“ sagte sie begütigend, „du mußt Geduld mit ihm haben. Vielleicht war er nicht ganz wohl, er hat auch heut früh fast nichts gegessen. Das kommt bei allen Kindern zuweilen vor, bei dir war’s auch einmal so. Ein bißchen Magenkatarrh oder eine Nacht mit schlechten Träumen ist meistens schuld daran, und Pierre ist freilich etwas zart und empfindlich. Und dann, versteh, ist er vielleicht auch ein wenig eifersüchtig. Du mußt bedenken, er hat mich sonst immer ganz für sich, und jetzt bist du da und er muß mit dir teilen.“

„Wenn ich doch Ferien habe! Das muß er doch wahrhaftig begreifen, er ist ja nicht dumm!“

„Er ist ein kleines Kind, Albert, und du mußt schon der Gescheitere sein.“

Es tropfte noch von den frisch metallen glitzernden Blättern. Sie gingen den gelben Rosen nach, die Albert besonders liebte. Er bog die Kronen der Bäumchen auseinander und die Mutter schnitt mit der Gartenschere die Blumen ab, die noch etwas nüchtern und verregnet herabhingen.

„War ich eigentlich Pierre ähnlich, als ich in seinem Alter war?“ fragte Albert nachdenklich.

Frau Adele besann sich. Sie ließ die Hand mit der Schere sinken, sah dem Sohn in die Augen und schloß dann die ihren, um sein Knabenbildnis in sich wachzurufen.

„Du warst ihm äußerlich ziemlich ähnlich, bis auf die Augen, und du warst weniger dünn und schlank, das Wachsen kam bei dir etwas später.“

„Und sonst? Ich meine innerlich?“

„Nun, Launen hast du auch gehabt, mein Junge. Aber ich glaube, du warst doch beständiger, du hast deine Spiele und Arbeiten nicht so rasch gewechselt wie Pierre. Er ist auch überschwenglicher, als du warst, er ist weniger im Gleichgewicht.“

Albert nahm der Mutter die Schere aus der Hand und beugte sich suchend über einen Rosenstrauch.

„Pierre hat mehr von Papa,“ sagte er leise. „Du, Mutter, das ist so merkwürdig, wie in den Kindern sich die Eigenschaften ihrer Eltern und Vorfahren wiederholen und vermischen! Meine Freunde sagen, jeder Mensch habe schon als kleines Kind alles in sich, was sein ganzes Leben bestimmt, und man könne gar nichts dagegen tun, einfach gar nichts. Wenn zum Beispiel einer die Anlage zum Dieb oder Mörder in sich hat, so hilft alles nichts, er muß und muß ein Verbrecher werden. Es ist eigentlich furchtbar. Du glaubst doch auch daran? Es ist vollkommen wissenschaftlich.“

„Das ist mir einerlei,“ lächelte Frau Adele. „Wenn jemand ein Verbrecher geworden ist und Menschen umgebracht hat, so kann die Wissenschaft vielleicht nachweisen, daß das schon immer in ihm gesteckt hat. Aber ich zweifle gar nicht daran, daß es sehr viele rechtschaffene Leute gibt, die von Eltern und Voreltern her Böses genug geerbt haben und doch gut bleiben, und das kann die Wissenschaft nicht gut untersuchen. Eine gute Erziehung und ein guter Wille ist mir sicherer als alle Vererbungen. Was recht und anständig ist, das wissen wir und können es lernen, und daran muß man sich halten. Was man aber etwa von vorväterlichen Geheimnissen in sich hat, das weiß niemand genau und es ist besser, damit nicht viel zu rechnen.“

Albert wußte, daß seine Mama sich auf dialektische Dispute niemals einlasse, und sein Wesen gab ihrer einfachen Denkart eigentlich instinktmäßig recht. Doch spürte er wohl, daß damit das gefährliche Thema keineswegs erledigt sei, und er hätte nun gerne etwas Gründliches über jene Lehre von der Kausalität gesagt, die ihm aus den Reden einiger Freunde immer so sehr eingeleuchtet hatte. Doch besann er sich vergebens auf feste, klare, stichhaltige Sätze, auch fühlte er – im Gegensatz zu jenen Freunden, die er doch bewunderte – sich eigentlich viel mehr für eine moralische oder auch ästhetische Betrachtung der Dinge begabt als für die wissenschaftlich vorurteilslose, zu der er sich unter seinen Studiengenossen bekannte. So ließ er denn diese Dinge auf sich beruhen und ging den Rosen nach.

Unterdessen war Pierre, der sich wirklich nicht wohl fühlte und am Morgen weit später als sonst und ohne Lebensfreude erwacht war, so lange im Kinderzimmer bei seinen Spielsachen geblieben, bis es ihm langweilig wurde. Es war ihm ziemlich elend zumute und ihm schien, es müsse heute schon etwas Besonderes geschehen und sich einfinden, damit dieser geschmacklose Tag erträglich und ein bißchen hübsch werde.

Unruhig zwischen Erwartung und Mißtrauen ging er aus dem Hause und in den Lindengarten, auf der Suche nach irgend etwas Neuem, nach irgendeinem Fund oder Abenteuer. Sein Magen war öde, das kannte er aus früheren Erfahrungen, und sein Kopf war müde und schwer, wie er ihn noch nie gefühlt hatte, und am liebsten hätte er sich an der Mutter Knie geflüchtet und geheult. Allein das ging nicht, solange der stolze, große Bruder da war, der ihn ohnehin immer fühlen ließ, daß er noch ein kleiner Bub sei.

Wenn es nur der Mutter eingefallen wäre, von sich aus etwas zu tun, ihm zu rufen und ihm ein Spiel vorzuschlagen und nett mit ihm zu sein. Aber die war jetzt natürlich wieder mit Albert gegangen. Pierre fühlte, es war heute ein Unglückstag und wenig zu hoffen.

Er schlenderte unentschlossen und mißmutig die Kieswege entlang, den welken Stiel einer Lindenblüte zwischen den Zähnen und die Hände in den Taschen. Es war frisch und feucht im morgendlichen Garten, und der Stiel schmeckte bitter. Er spie ihn aus und blieb verdrießlich stehen. Nichts wollte ihm einfallen, er mochte heute nicht Prinz noch Räuber, nicht Fuhrmann noch Baumeister sein.

Mit gerunzelter Stirne schaute er am Boden umher, stocherte mit den Schuhspitzen im Kies und schleuderte eine graue schleimige Wegschnecke mit dem Fuß weit fort ins nasse Gras. Es wollte nichts zu ihm sprechen, kein Vogel noch Schmetterling, nichts wollte ihn anlachen und ihn zur Fröhlichkeit verführen. Alles schwieg, alles sah alltäglich, hoffnungslos und schäbig aus. Er versuchte am nächsten Strauch eine kleine hellrote Johannisbeertraube; sie schmeckte kalt und sauer. Man sollte sich hinlegen und schlafen, dachte er, so lange schlafen, bis alles wieder neu und schön und lustig aussähe. Es hatte ja keinen Sinn, da herumzugehen und sich zu plagen und auf Dinge zu warten, die doch nicht kommen wollten. Wie schön könnte es sein, wenn zum Beispiel etwa ein Krieg ausgebrochen wäre und eine Menge Soldaten zu Pferde auf der Straße herankämen, oder wenn irgendwo ein Haus in Flammen stände oder eine große Überschwemmung wäre. Ach, diese Sachen standen alle nur in den Bilderbüchern, in Wirklichkeit bekam man sie nie vor Augen und vielleicht gab es sie gar nicht.

Seufzend schlenderte der Knabe weiter, das hübsche, zarte Gesicht erloschen und voll Kummer. Als er jenseits der hohen Spalierwand die Stimme Alberts und der Mutter hörte, überfiel ihn Eifersucht und Widerwillen so stark, daß er Tränen in die Augen bekam. Er kehrte um und ging ganz leise, um nicht gehört und angerufen zu werden. Er wollte jetzt niemand Rede stehen, er wollte von niemand zum Reden und Aufmerken und Artigsein genötigt werden. Es ging ihm schlecht, jämmerlich schlecht, und niemand kümmerte sich um ihn, so wollte er wenigstens die Vereinsamung und Trauer auskosten und sich richtig elend fühlen.

Er dachte auch an den lieben Gott, den er zu Zeiten sehr schätzte, und einen Augenblick brachte der Gedanke einen fernen Schimmer von Trost und Wärme, aber das sank schnell wieder unter. Wahrscheinlich war es mit dem lieben Gott auch nichts. Und doch hätte er gerade jetzt so sehr jemand gebraucht, auf den ein Verlaß war und von dem man sich etwas Hübsches und Tröstliches versprechen durfte.

Da fiel ihm der Vater ein. Es war ein ahnungsvolles Gefühl, daß der ihn vielleicht verstehen könnte, da er selber meistens still und gespannt und unfroh aussah. Der Vater stand ohne Zweifel, so wie immer, in seinem großen, stillen Atelier drüben und malte an seinen Bildern. Da war es eigentlich nicht gut, ihn zu stören. Aber er hatte ja erst ganz kürzlich gesagt, Pierre solle nur immer zu ihm kommen, wenn es ihn gelüste. Vielleicht hatte er es wieder vergessen, alle Erwachsenen vergaßen ja ihre Versprechungen immer so bald wieder. Aber versuchen konnte man es einmal. Lieber Gott, wenn man doch durchaus keinen anderen Trost wußte und es so nötig hatte!

Langsam erst, dann in aufglimmender Hoffnung rascher und straffer ging er den schattigen Weg zum Atelier. Da nahm er die Türklinke in die Hand und blieb stehen, um zu lauschen. Ja, der Papa war drinnen, er hörte ihn schnauben und räuspern, und er hörte das hölzerne Geräusch der fein klappernden Pinselstiele, die er in der Linken hielt.

Vorsichtig drückte er die Klinke herab, öffnete die Türe geräuschlos und steckte den Kopf hinein. Der heftige Geruch von Terpentin und Lack war ihm zuwider, aber des Vaters breite, starke Gestalt erweckte Hoffnung. Pierre trat ein und schloß die Türe hinter sich.

Beim Einschnappen der Klinke zuckte der Maler, von Pierre aufmerksam beobachtet, mit den breiten Schultern und wendete den Kopf zurück. Die scharfen Augen blickten beleidigt und fragend herüber und der Mund stand unangenehm offen.

Pierre rührte sich nicht. Er sah dem Vater in die Augen und wartete. Alsbald wurden dessen Augen freundlicher und sein böses Gesicht kam in Ordnung.

„Sieh da, Pierre! Wir haben uns einen ganzen Tag nicht gesehen. Hat Mama dich hergeschickt?“

Der Kleine schüttelte den Kopf und ließ sich küssen.

„Willst du ein wenig bei mir sein und zusehen?“ fragte der Vater freundlich. Zugleich wandte er sich wieder seinem Bilde zu und zielte scharf mit einem spitzen Pinselchen auf einen Fleck. Pierre sah zu. Er sah den Maler auf seine Leinwand blicken, sah seine Augen gespannt und wie zornig starren und seine starke, nervöse Hand mit dem dünnen Pinsel zielen, er sah ihn die Stirnfalten spannen und die Unterlippe mit den Zähnen fassen. Dazu roch er die scharfe Werkstattluft, die er nie gern gehabt hatte und die ihm heut besonders widerlich war.

Seine Augen erloschen und er blieb wie gelähmt bei der Türe stehen. Er kannte das alles, diesen Geruch und diese Augen und diese Grimassen der Aufmerksamkeit, und er wußte, es war töricht gewesen zu erwarten, daß es heute anders sei als immer. Der Vater arbeitete, er wühlte in seinen starkriechenden Farben und dachte an nichts in der Welt als an seine dummen Bilder. Es war töricht gewesen, hier hereinzukommen.

Die Enttäuschung ließ des Knaben Gesicht erschlaffen. Er hatte es ja gewußt! Es gab heute keine Zuflucht für ihn, bei der Mutter nicht und hier erst recht nicht.

Eine Minute lang stand er gedankenlos und traurig und blickte, ohne etwas zu sehen, auf das große Bild mit den spiegelnd nassen Farben. Dafür hatte Papa Zeit, für ihn nicht. Er nahm die Klinke wieder in die Hand und drückte sie nieder, um still davonzugehen.

Veraguth hörte aber das schüchterne Geräusch. Er blickte sich um, brummte und kam heran.

„Was ist, Pierrot? Nicht davonlaufen! Willst du nicht ein wenig beim Papa bleiben?“

Pierre zog seine Hand zurück und nickte schwach.

„Hast du mir etwas sagen wollen?“ fragte der Maler freundlich. „Komm, wir setzen uns zusammen, dann erzählst du mir. Wie war denn die Ausfahrt gestern?“

„O, es war nett,“ sagte der Kleine artig.

Veraguth fuhr ihm mit der Hand übers Haar.

„Hat es dir nicht gut getan? Du siehst ein bißchen verschlafen aus, mein Junge! Du hast doch nicht etwa Wein bekommen, gestern? Nein? Also, was tun wir jetzt? Wollen wir zeichnen?“

Pierre schüttelte den Kopf.

„Ich mag nicht, Papa. Es ist heut so langweilig.“

„So? Du hast gewiß schlecht geschlafen? Wollen wir ein wenig miteinander turnen?“

„Ich mag nicht. Ich mag nur gerne bei dir sein, weißt du. Aber es riecht hier so schlecht.“

Veraguth streichelte ihn und lachte.

„Ja, das ist ein Unglück, wenn du keine Farben riechen magst und ein Malerskind bist. Da wirst du wohl nie ein Maler werden?“

„Nein, ich will auch nicht.“

„Was willst du denn werden?“

„Gar nichts. Am liebsten wär’ ich ein Vogel oder so etwas.“

„Das wäre nicht schlecht. Aber sag mir jetzt, Schatzi, was du gern von mir haben möchtest. Schau, ich muß an dem großen Bild weiter arbeiten. Wenn du willst, kannst du dableiben und etwas spielen. Oder soll ich dir ein Bilderbuch zum Anschauen geben?“

Nein, das war nicht, was er wollte. Er sagte, nur um wieder loszukommen, er werde jetzt die Tauben füttern gehen, und er merkte genau, daß der Vater aufatmete und froh war, ihn gehen zu sehen. Er wurde mit einem Kuß entlassen und ging hinaus. Der Vater zog die Türe zu, und Pierre stand wieder allein, noch leerer als zuvor. Er irrte quer über den Rasen, wo er eigentlich nicht gehen sollte, er riß zerstreut und bekümmert ein paar Blumen ab und sah gleichgültig zu, wie seine hellen, gelben Schuhe im nassen Grase Flecken bekamen und dunkel wurden. Schließlich warf er sich, von Verzweiflung überwältigt, mitten in den Rasen, wühlte schluchzend den Kopf ins Gras und fühlte die Ärmel seiner hellblauen Bluse naß werden und an den Armen kleben.

Erst als er zu frieren begann, stand er ernüchtert wieder auf und schlich sich scheu ins Haus.

Bald würde man ihn rufen, und dann würde man sehen, daß er geweint hatte, und dann würde man die nasse, schmutzige Bluse und die feuchten Schuhe bemerken und ihn dafür schelten. Feindselig ging er an der Küchentüre vorüber, er mochte jetzt mit niemand zusammentreffen. Er wäre am liebsten irgendwo weit fortgewesen, wo gar niemand von ihm wußte und nach ihm fragte.

Da sah er an einem der selten bewohnten Gastzimmer den Schlüssel stecken. Er ging hinein, zog die Türe zu, schloß auch die offenstehenden Fenster und verkroch sich wild und müde und ohne die Schuhe auszuziehen auf ein großes unüberzogenes Bett. Da blieb er zwischen Weinen und Schlummern in seinem Jammer liegen. Und als er, nach einer langen Zeit, seine Mutter im Hof und auf der Treppe nach ihm rufen hörte, gab er keine Antwort und grub sich trotzig tiefer in die Decke. Die Stimme der Mutter kam und ging und verklang endlich, ohne daß er sich überwinden konnte, ihr zu folgen. Zuletzt schlief er mit nassen Wangen ein.

Mittags, als Veraguth zu Tische kam, fragte ihn seine Frau sogleich: „Hast du denn Pierre nicht mitgebracht?“

Ihr etwas erregter Ton fiel ihm auf.

„Pierre? Ich weiß nichts von ihm. War er denn nicht bei euch?“

Frau Adele erschrak und redete lauter.

„Nein, ich habe ihn seit dem Frühstück nimmer gesehen! Als ich ihn suchte, sagten mir die Mädchen, sie hätten ihn ins Atelier gehen sehen. War er denn nicht dort?“

„Ja, er war da, aber nur einen Augenblick, er lief gleich wieder weg.“

Und ärgerlich fügte er hinzu: „Sieht denn kein Mensch im Haus nach dem Jungen?“

„Wir glaubten, er sei bei dir,“ sagte Frau Adele kurz und gekränkt. „Ich gehe ihn suchen.“

„Schicke jemand nach ihm! Wir wollen nun doch essen.“

„Ihr könnt ja inzwischen beginnen. Ich gehe selbst suchen.“

Sie ging hastig aus dem Zimmer. Albert stand auf und wollte ihr folgen.

„Bleib hier, Albert,“ rief Veraguth. „Wir sind bei Tische!“

Der Jüngling sah ihn zornig an.

„Ich werde mit Mama essen,“ sagte er trotzig.

Ironisch lächelte ihm der Vater ins erregte Gesicht.

„Meinetwegen, du bist ja Herr im Hause, nicht wahr? Falls du übrigens Lust hast, wieder einmal mit Messern nach mir zu werfen, so laß dich bitte nicht durch irgendwelche Vorurteile davon abhalten!“

Der Sohn wurde bleich und stieß seinen Stuhl zurück. Es war das erstemal, daß der Vater ihn an jene zornige Tat seiner Knabenzeit erinnerte.

„So darfst du nicht mit mir reden!“ rief er ausbrechend. „Ich dulde es nicht!“

Veraguth nahm sich ein Stück Brot und aß einen Bissen davon, ohne zu antworten. Er schenkte sich Wasser ins Glas, trank es langsam aus und beschloß ruhig zu bleiben. Er tat, als sei er allein, und Albert trat unschlüssig gegen das Fenster.

„Ich dulde es nicht!“ rief er endlich nochmals, unfähig, seinen Zorn bei sich zu behalten.

Der Vater streute Salz auf sein Brot. Er sah sich in Gedanken ein Schiff besteigen und auf endlosen fremden Meeren fahren, weit weg von diesen unheilbaren Verwirrungen.

„Es ist gut,“ sagte er beinahe friedlich. „Ich sehe, daß es dir unsympathisch ist, wenn ich mit dir rede. Lassen wir’s doch!“

In diesem Augenblick hörte man draußen einen erstaunten Ausruf und eine Flut erregter Worte. Frau Adele hatte den Knaben in seinem Schlupfwinkel entdeckt. Der Maler horchte auf und ging rasch hinaus. Heute schien alles durcheinander zu gehen.

Er fand Pierre mit schmutzigen Stiefeln in dem zerwühlten Gastbett liegen, das Gesicht verschlafen und verweint, die Haare wirr, und davor seine Frau in hilflosem Erstaunen.

„Aber Kind,“ rief sie endlich zwischen Sorge und Ärger, „was machst du denn? Warum gibst du keine Antwort? Und warum liegst du hier?“

Veraguth richtete den Kleinen auf und sah ihm erschrocken in die ausdruckslosen Augen.

„Bist du krank, Pierre?“ fragte er zärtlich.

Der Knabe schüttelte verwirrt den Kopf.

„Hast du denn hier geschlafen? Bist du schon lange hier?“

Mit einer dünnen, mutlosen Stimme sagte Pierre: „Ich kann nichts dafür ... Ich habe nichts getan ... Ich habe nur Kopfweh gehabt.“

Veraguth trug ihn auf seinen Armen ins Speisezimmer hinüber.

„Gib ihm einen Teller Suppe,“ sagte er zu seiner Frau. „Du mußt ein wenig Warmes essen, Kind, das tut gut, du wirst sehen. Du bist gewiß krank, armer Kerl.“

Er setzte ihn in seinen Sessel, schob ihm ein Kissen in den Rücken und gab ihm selber mit dem Löffel seine Suppe ein.

Albert saß schweigend und verschlossen.

„Er scheint wirklich krank zu sein,“ sagte Frau Veraguth beinahe beruhigt, mit dem Gefühl der Mutter, die zu Hilfe und Pflege freudiger bereit ist als zur Untersuchung und Behandlung ungewöhnlicher Unarten.

„Wir bringen dich nachher zu Bett, iß jetzt nur, mein Herz,“ tröstete sie zutraulich.

Pierre saß, grau im Gesicht, mit halbwachen Augen und schluckte widerstandslos, was ihm eingelöffelt wurde. Während der Vater ihn mit Suppe fütterte, fühlte ihm die Mutter den Puls und war froh, kein Fieber zu finden.

„Soll ich den Doktor holen?“ fragte Albert, um doch auch etwas zu tun, mit unfester Stimme.

„Nein, laß nur,“ sagte die Mutter. „Pierre kommt ins Bett und wird fein warm gewickelt, dann schläft er tüchtig aus und wird morgen wieder gesund. Nicht wahr, Schatzi?“

Der Kleine hörte nicht zu, und er schüttelte abwehrend den Kopf, als ihm der Vater noch mehr zu essen geben wollte.

„Nein, zwingen soll er sich nicht dazu,“ sagte die Mutter. „Komm nur mit, Pierre, wir gehen zu Bett, da wird alles wieder gut.“

Sie nahm seine Hand und er stand schwerfällig auf. Schläfrig folgte er der Mutter, die ihn mit sich zog. Aber in der Türe blieb er stehen, verzog das Gesicht und krümmte sich zusammen, und in einem Anfall von Übelkeit gab er alles wieder von sich, was er eben gegessen hatte.

Veraguth trug ihn ins Schlafzimmer und überließ ihn der Mutter. Glockenzüge klangen und Dienstboten liefen treppauf und ab. Der Maler aß einige Bissen, zwischenein lief er zweimal wieder zu Pierre hinüber, der nun ausgekleidet und gewaschen in seiner messingenen Bettstatt lag. Dann kam Frau Adele zurück und berichtete, das Kind sei ruhig und ohne Schmerzen und scheine einschlafen zu wollen.

Der Vater wandte sich an Albert: „Was hat Pierre gestern zu essen bekommen?“

Albert besann sich, wandte aber seine Antwort an die Mutter.

„Es war nichts Besonderes. In Brückenschwand ließ ich Pierre Brot und Milch geben, und zum Mittagessen in Pegolzheim bekamen wir Makkaroni und Koteletten.“

Der Vater fragte inquisitorisch weiter: „Und später?“

„Er wollte nichts mehr nehmen. Am Nachmittag kaufte ich bei einem Gärtner Aprikosen. Von denen hat er nur eine oder zwei gegessen.“

„Waren sie reif?“

„Ja, natürlich. Du scheinst zu glauben, ich habe ihm absichtlich den Magen verdorben.“

Die Mutter bemerkte seine Gereiztheit und fragte: „Was habt ihr denn?“

„Nichts,“ sagte Albert.

Veraguth fuhr fort: „Ich glaube gar nichts, ich frage nur. Ist gestern gar nichts passiert? Hat er nie erbrochen? Oder ist er gefallen? Hat er nie über Schmerzen geklagt?“

Albert gab mit Ja und Nein knappe Auskunft und wünschte sehnlich, diese Mahlzeit möchte vorüber sein.

Als der Vater nochmals auf Zehenspitzen in Pierres Schlafzimmer ging, fand er ihn eingeschlafen. Das blasse Kindergesicht war voll von tiefer Ernsthaftigkeit und sehnlich inbrünstiger Hingabe an den tröstenden Schlaf.

Elftes Kapitel

An diesem unruhigen Tage malte Johann Veraguth sein großes Bild fertig. Erschreckt und im Herzen beunruhigt war er von dem kranken Pierre gekommen und es war ihm schwerer als je geworden, die in ihm arbeitenden Gedanken zu bändigen und jene vollkommene Ruhe zu finden, die das Geheimnis seiner Kraft war und die er so teuer bezahlen mußte. Aber sein Wille war stark, es gelang ihm, und das Bild bekam in den Stunden des Nachmittags, bei einem schönen, weichen Lichte, die letzten kleinen Korrekturen und Zusammenziehungen.

Als er die Palette weglegte und sich vor die Leinwand setzte, war ihm sonderbar öde zumut. Er wußte wohl, daß dies Bild etwas Besonderes sei und daß er damit viel gegeben habe. Sich selbst aber fühlte er leer und ausgebrannt. Und er hatte keinen Menschen, dem er sein Werk hätte zeigen können. Der Freund war weit weg, und Pierre war krank, und sonst hatte er niemanden. Wirkung und Widerhall seiner Arbeit würde er nur aus gleichgültiger Ferne zu spüren bekommen, aus Zeitungen und Briefen. Ach, das war nichts, das war weniger als nichts, der Blick eines Freundes oder der Kuß einer Geliebten hätte allein ihn jetzt freuen, belohnen und stärken können.

Eine Viertelstunde stand er still vor seinem Bilde, das die Kraft und die guten Stunden einiger Wochen in sich getrunken hatte und ihm leuchtend in die Augen sah, indessen er selbst erschöpft und fremd vor seinem Werke stand.

„Ach was, ich werde es verkaufen und meine indische Reise davon bezahlen,“ sagte er in wehrlosem Zynismus. Er schloß die Türen der Werkstatt zu und ging ins Haus, um nach Pierre zu sehen, den er schlafend fand. Der Knabe sah besser aus als am Mittag, der Schlaf hatte sein Gesicht gerötet, der Mund stand halb offen, der Ausdruck von Qual und Trostlosigkeit war verschwunden.

„Wie rasch das bei Kindern geht!“ sagte er in der Türe flüsternd zu seiner Frau. Sie lächelte schwach und er sah, daß auch sie aufatme und daß auch ihre Sorge größer gewesen sei, als sie gezeigt hatte.

Allein mit seiner Frau und Albert zu speisen, schien ihm nicht verlockend.

„Ich gehe zur Stadt,“ sagte er, „und bin den Abend nicht hier.“

Der kranke Pierre lag schlummernd in seinem Kinderbett, die Mutter verdunkelte das Zimmer und ließ ihn allein.

Ihm träumte, er gehe langsam durch den Blumengarten. Es war alles ein wenig verändert und viel größer und weiter als sonst, er ging und ging und kam an kein Ende. Die Beete waren schöner, als er sie je gesehen hatte, aber die Blumen sahen alle sonderbar gläsern, groß und fremdartig aus und das Ganze glänzte in einer traurig toten Schönheit.

Etwas beklommen umging er ein Rondell mit großblumigen Sträuchern, ein blauer Schmetterling hing ruhig saugend an einer weißen Blüte. Es war unnatürlich still, und auf den Wegen lag kein Kies, sondern etwas Weiches, worauf man wie auf Teppichen ging.

Jenseits kam ihm seine Mama entgegen. Aber sie sah ihn nicht und nickte ihm nicht zu, sie schaute streng und traurig in die Luft und ging lautlos vorüber wie ein Geist.

Und bald darauf, auf einem anderen Wege, sah er ebenso den Vater gehen, und später Albert, und jeder ging still und streng geradeaus und keiner wollte ihn sehen. Verzaubert liefen sie einsam und steif umher, und es schien, als müsse es allezeit so bleiben, als werde nie ein Blick in ihre starren Augen und nie ein Lachen in ihre Gesichter kommen, als werde niemals ein Ton in diese undurchdringliche Stille wehen und nie der leiseste Wind die regungslosen Zweige und Blätter rühren.

Das Schlimmste war, daß er selber nicht zu rufen vermochte. Er war durch nichts daran gehindert, es tat ihm nichts weh, aber er hatte keinen Mut und keinen rechten Willen dazu; er sah ein, daß alles so sein müsse und daß es nur noch schrecklicher würde, wenn man sich dagegen auflehnte.

Pierre spazierte langsam weiter durch die seelenlose Gartenpracht, glänzend standen tausend herrliche Blumen in der hellen, toten Luft, als wären sie nicht wirklich und lebendig, und von Zeit zu Zeit traf er Albert oder die Mutter oder den Vater wieder an und sie wandelten an ihm und aneinander stets in derselben starren Fremdheit vorüber.

Ihm schien, als sei es so schon lange Zeit, vielleicht Jahre, und jene anderen Zeiten, da die Welt und der Garten lebendig und die Menschen froh und gesprächig gewesen waren und er selber voll Lust und Wildheit, jene Zeiten lägen undenkbar weit in einer tiefen, blinden Vergangenheit. Vielleicht war es immer so gewesen wie jetzt, und das Frühere war nur ein hübscher, närrischer Traum.

Schließlich kam er an ein kleines steinernes Wasserbecken, wo der Gärtner früher die Gießkannen gefüllt und worin er selber einmal ein paar winzige Kaulquappen gehalten hatte. Das Wasser stand regungslos in grüner Helle, es spiegelte den Steinrand und die überhängenden Blätter einer Staude mit gelben Sternblumen und sah hübsch, verlassen und irgendwie unglücklich aus, wie alles andere.

„Wenn man da hineinfällt, dann ertrinkt man und ist tot,“ hatte der Gärtner früher einmal gesagt. Es war aber gar nicht tief.

Pierre trat an den Rand des ovalen Beckens und beugte sich vor.

Da sah er sein eigenes Gesicht im Wasser gespiegelt. Es sah aus wie die Gesichter der anderen: alt und bleich und tief in gleichgültiger Strenge erstarrt.

Er sah es erschreckt und verwundert, und plötzlich stieg die heimliche Furchtbarkeit und sinnlose Traurigkeit seines Zustandes übermächtig in ihm auf. Er versuchte zu schreien, aber es gab keinen Ton. Er wollte laut aufweinen, aber er konnte nur das Gesicht verziehen und hilflos grinsen.

Da kam sein Vater wieder gegangen, und Pierre wendete sich zu ihm in einer ungeheuren Anstrengung aller gebannten Seelenkräfte. Alle Todesangst und alles unerträgliche Leid seines verzweifelten Herzens flüchtete sich in stummem Schluchzen hilfebegehrend zum Vater, der in seiner gespenstischen Ruhe herankam und ihn wieder nicht zu sehen schien.

„Vater!“ wollte der Knabe rufen, und obwohl kein Ton zu hören war, drang doch die Gewalt seiner furchtbaren Not zu dem stillen Einsamen hinüber. Der Vater wendete das Gesicht und sah ihn an.

Er sah ihm aufmerksam mit seinem suchenden Malerblick in die flehenden Augen, er lächelte schwach und er nickte ihm leise zu, gütig und bedauernd, aber ohne Trost, als sei hier durchaus nicht zu helfen. Einen kleinen Augenblick lief ein Schatten von Liebe und von verwandtem Leid über sein strenges Gesicht, und in diesem kleinen Augenblick war er nicht der mächtige Vater mehr, sondern eher ein armer, hilfloser Bruder.

Dann richtete er den Blick wieder geradeaus und ging langsam in demselben gleichmäßigen Schritt davon, den er nicht unterbrochen hatte.

Pierre sah ihn gehen und verschwinden, der kleine Weiher und der Weg und der Blumengarten wurden dunkel vor seinen entsetzten Augen und sanken dahin wie Nebelgewölk. Er erwachte mit schmerzenden Schläfen und brennend trockener Kehle, sah sich allein im dämmerigen Stübchen zu Bette liegen, versuchte verwundert zurück zu denken, fand aber keine Erinnerungen und legte sich erschöpft und mutlos auf die andere Seite.

Nur langsam kam ihm das volle Bewußtsein wieder und ließ ihn aufatmen. Es war häßlich, krank zu sein und Kopfschmerzen zu haben, aber es war zu ertragen, und es war leicht und süß im Vergleich mit dem tödlichen Gefühl des Angsttraumes.

„Wozu soll all die Quälerei gut sein?“ dachte Pierre und kroch unter der Decke eng zusammen. Wozu wurde man krank? Wenn es eine Strafe war – für was sollte er denn gestraft werden? Er hatte nicht einmal etwas Verbotenes gegessen, wie früher einmal, wo er sich an halbreifen Pflaumen verdorben hatte. Die waren ihm verboten gewesen, und da er sie trotzdem gegessen hatte, geschah es ihm recht und er mußte die Folgen tragen. Das war klar. Aber jetzt? Warum lag er jetzt im Bett, warum hatte er erbrechen müssen und warum stach es so jammervoll in seinem Kopf?

Er war lange wach gelegen, als seine Mutter wieder ins Zimmer kam. Sie zog den Vorhang am Fenster zurück, weiches Abendlicht floß voll und mild herein.

„Wie geht’s, Liebling? Hast du schön geschlafen?“

Er gab keine Antwort. Auf der Seite liegend, wendete er die Augen empor und blickte sie an. Verwundert hielt sie dem Blick stand, er war merkwürdig prüfend und ernsthaft.

„Kein Fieber,“ dachte sie getröstet.

„Willst du jetzt etwas zu essen haben?“

Pierre schüttelte schwach den Kopf.

„Kann ich dir nichts bringen?“

„Wasser,“ sagte er leise.

Sie gab ihm zu trinken, doch nahm er nur einen Vogelschluck, dann schloß er die Augen wieder.

Plötzlich klang von Mutters Zimmer her rauschend das Klavier. In breiter Woge schwollen die Töne heran.

„Hörst du?“ fragte Frau Adele.

Pierre hatte die Augen weit geöffnet und sein Gesicht verzog sich wie in Qualen.

„Nicht!“ rief er, „nicht! Laßt mich doch!“

Und er hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu und wühlte den Kopf ins Kissen ein.

Seufzend ging Frau Veraguth hinüber und bat Albert, er möge nicht weiterspielen. Sie kam zurück und blieb an Pierres Bettchen sitzen, bis er wieder eingeschlummert war.

Diesen Abend war es ganz still im Hause. Veraguth war fort, Albert war verstimmt und litt darunter, daß er nicht Klavier spielen durfte. Man ging früh zu Bett und die Mutter ließ ihre Türe offen stehen, um Pierre zu hören, falls er in der Nacht etwas brauche.

Zwölftes Kapitel

Der Maler hatte am Abend bei seiner Rückkehr aus der Stadt sein Haus aufmerksam umschlichen und mit Sorge gespäht und gelauscht, ob nicht ein erleuchtetes Fenster, ein Türengehen, eine Stimme ihm verkünde, daß sein Liebling noch krank sei und leide. Als er alles still, beruhigt und schlafend fand, fiel die Angst von ihm ab wie ein schweres, nasses Kleid, und dankbar lag er noch lange wach. Und noch kurz vor dem späten Einschlummern mußte er lächeln und sich wundern, wie wenig dazu gehöre, um ein verzagtes Herz froh zu machen. Alles, was ihn plagte und beschwerte, die ganze dumpfe, trübe Last seines Lebens ward zu nichts, ward leicht und unbedeutend neben der Liebessorge um sein Kind, und kaum sah er diesen schlimmen Schatten weichen, da schien ihm alles heller und alles erträglich zu sein.

In guter Stimmung kam er am Morgen zu ungewohnt früher Stunde ins Haus, fand voll Dankbarkeit den Kleinen noch prächtig schlafend und nahm das Frühstück mit seiner Frau allein, denn auch Albert war noch nicht aufgestanden. Es war seit Jahren das erstemal, daß Veraguth zu dieser Stunde hier im Hause und an Frau Adeles Tische war, und sie beobachtete ihn mit fast mißtrauischem Erstaunen, wie er freundlich und wohlgelaunt, als sei es die alltäglichste Sache, um eine Tasse Kaffee bat und wie in alten Zeiten ihr Frühstück teilte.

Schließlich fiel ihm selber ihre abwartende Spannung und das Ungewohnte der Stunde auf.

„Ich bin so froh,“ sagte er mit einer Stimme, die seine Frau an schönere Jahre erinnerte. „Ich bin so froh, daß unser Kleiner wieder in Ordnung zu kommen scheint. Ich merke erst jetzt, daß ich ernstlich um ihn in Sorge war.“

„Ja, er gefiel mir gestern gar nicht,“ stimmte sie bei.

Er spielte mit dem silbernen Kaffeelöffel und sah ihr beinahe schelmisch in die Augen, mit einem schwachen Abglanz der plötzlich ausbrechenden und nie lange währenden, knabenhaften Heiterkeit, die sie ehemals an ihm besonders geliebt und deren zartes Strahlen nur Pierre von ihm geerbt hatte.

„Ja,“ begann er munter, „es ist wirklich ein Glück. Und jetzt komme ich auch endlich dazu, über meine neuesten Pläne mit dir zu sprechen. Ich meine, du solltest im Winter mit den beiden Jungen nach Sankt Moritz gehen und recht lange dort bleiben.“

Unsicher blickte sie nieder.

„Und du?“ fragte sie. „Willst du dort oben malen?“

„Nein, ich werde nicht mitkommen. Ich werde euch alle eine Weile euch selber überlassen und verreisen. Ich will im Herbst wegfahren und das Atelier abschließen. Robert bekommt Urlaub. Es steht dann ganz bei dir, ob du den Winter hier auf Roßhalde bleiben willst. Ich würde nicht dazu raten, geh lieber nach Genf oder Paris, und vergiß Sankt Moritz nicht, das wird Pierre gut tun!“

Ratlos schlug sie die Augen zu ihm auf.

„Du machst Spaß,“ sagte sie ungläubig.

„Ach nein,“ lächelte er halb wehmütig, „das habe ich ganz verlernt. Es ist mein Ernst und du mußt es schon glauben. Ich will eine Seereise machen und längere Zeit wegbleiben.“

„Eine Seereise?“

Sie besann sich mit Anstrengung. Seine Vorschläge, seine Andeutungen, sein fröhlicher Ton, alles war ihr ungewohnt und machte sie mißtrauisch. Aber plötzlich tat das Wort „Seereise“ eine Vorstellung in ihr auf: sie sah ihn ein Schiff besteigen, Träger mit Koffern hinterher, sie erinnerte sich an die Bilder auf Plakaten der Schiffsgesellschaften und an ihre eigenen Reisen im Mittelmeer, und in einem Augenblick ward ihr alles durchsichtig.

„Du gehst mit Burkhardt!“ rief sie lebhaft.

Er nickte. „Ja, ich reise mit Otto.“

Beide schwiegen eine Weile. Frau Adele war betroffen und fühlte ahnungsvoll die Bedeutung der Nachricht. Vielleicht wollte er sie verlassen und freigeben? Jedenfalls war es ein erster ernsthafter Versuch nach dieser Seite, und sie erschrak im Herzen darüber, wie wenig Aufruhr, Sorge und Hoffnung sie dabei empfinde, und wie gar keine Freude. Mochte für ihn noch ein neues Leben möglich sein, für sie war es nicht so. Sie würde es mit Albert leichter haben, und sie würde Pierre gewinnen, ja, aber sie würde eine verlassene Frau sein und bleiben. Hundertmal hatte sie sich das vorgestellt und es hatte wie Freiheit und Erlösung ausgesehen; und heute, da es schien, als könne Wirklichkeit daraus werden, war so viel Bangigkeit und Scham und Schuldgefühl dabei, daß sie verzagte und keines Wunsches mehr fähig war. Das hätte früher kommen müssen, fühlte sie, in den Zeiten der Nöte und Stürme, noch ehe sie Resignation gelernt hatte. Nun kam es zu spät und unnütz, nun war es nichts mehr als ein Strich unter erledigte Dinge, es war nur noch Abschluß und bittere Bestätigung alles Verborgenen, Halbeingestandenen, und es glommen keine Funken neuer Lebenslockung mehr darin.

Veraguth las aufmerksam im beherrschten Gesicht seiner Frau, und sie tat ihm leid.

„Es soll ein Versuch sein,“ sagte er schonend. „Ihr sollt einmal ungestört miteinander leben, du und Albert – und auch Pierre, sagen wir etwa für ein Jahr. Ich dachte mir, es würde dir bequem sein, und für die Kinder wäre es gewiß ganz gut. Sie leiden doch beide etwas darunter, daß – – daß wir nicht so recht mit dem Leben fertig geworden sind. Auch uns selber wird bei einer längeren Trennung alles klarer werden, meinst du nicht?“

„Es mag sein,“ sagte sie leise. „Dein Entschluß scheint ja festzustehen.“

„Ich habe Otto schon geschrieben. Es wird mir ja nicht leicht, von euch allen so lange fortzugehen.“

„Von Pierre, meinst du.“

„Besonders von Pierre, ja. Ich weiß, du wirst gut für ihn sorgen. Ich kann nicht erwarten, daß du ihm viel von mir sprechen wirst; aber laß es mit ihm nicht gehen wie mit Albert!“

Sie schüttelte abwehrend den Kopf.

„Das war nicht meine Schuld, du weißt es.“

Vorsichtig legte er ihr die Hand auf die Schulter, mit unbeholfener, lange nicht geübter Zartheit.

„Ach, Adele, laß uns nicht von Schuld reden. Es soll alle Schuld bei mir sein. Ich will ja gutzumachen versuchen, nichts anderes. Ich bitte nur, laß mich Pierre nicht verlieren, wenn es sein kann! Durch ihn sind wir noch verbunden. Sieh zu, daß seine Liebe zu mir ihm nicht schwer gemacht wird.“

Sie schloß die Augen, als wolle sie sich gegen eine Verführung schützen.

„Wenn du so lange fort bist – –“ sagte sie zögernd. „Er ist ein Kind –“

„Gewiß. Laß ihn ein Kind bleiben! Laß ihn mich vergessen, wenn es nicht anders geht! Aber denke, er ist ein Pfand, das ich dir lasse, und denke, ich muß viel Vertrauen haben, um es dir lassen zu können.“

„Ich höre Albert kommen,“ flüsterte sie rasch, „er wird gleich da sein. Wir reden noch darüber. Es ist nicht so einfach, wie du denkst. Du gibst mir Freiheit, mehr als ich je gehabt und je gewünscht, und du legst mir zugleich eine Verantwortung auf, die mir alle Unbefangenheit nimmt! Laß mich noch darüber denken. Auch du hast wohl deinen Entschluß nicht in einer Stunde gefaßt, so laß auch mich ein wenig Zeit haben.“

Man hörte Schritte vor der Türe und Albert kam herein.

Verwundert sah er den Vater dasitzen. Er grüßte unfrei, gab Frau Adele einen Kuß und setzte sich an den Frühstückstisch.

„Ich habe eine Überraschung für dich,“ fing Veraguth behaglich an. „Die Herbstferien kannst du mit Mama und Pierre verbringen, wo ihr wollt, und auch die Weihnachtszeit. Ich werde mehrere Monate auf Reisen sein.“

Der Jüngling konnte seine Freude nicht verbergen, doch gab er sich Mühe und sagte eifrig: „Wohin willst du denn reisen?“

„Ich weiß noch nicht genau. Zunächst fahre ich mit Burkhardt nach Indien.“

„O, so weit fort! Ein Schulfreund von mir ist dort geboren, ich glaube in Singapore. Da gibt es noch Tigerjagden.“

„Ich hoffe, ja. Wenn ich einen schieße, bringe ich das Fell natürlich mit. Aber hauptsächlich will ich dort malen.“

„Das kann ich mir denken. Ich las von einem französischen Maler, der irgendwo in den Tropen war, auf so einer Insel in der Südsee, glaube ich – es muß herrlich sein.“

„Nicht wahr? Und ihr werdet inzwischen vergnügt sein und viel musizieren und Ski laufen. Aber nun will ich sehen, was der Kleine macht. Laßt euch nicht stören!“

Er war hinaus, noch ehe jemand geantwortet hatte.

„Manchmal ist Papa doch großartig,“ sagte Albert in seiner Freude. „Diese Reise nach Indien, das gefällt mir, das hat Stil.“

Seine Mutter lächelte mühsam. Ihr Gleichgewicht war gestört und sie hatte das Gefühl, auf einem Ast zu sitzen, der eben angesägt wird. Aber sie schwieg und brachte eine freundliche Miene zusammen, darin hatte sie Übung.

Der Maler war bei Pierre eingetreten und hatte sich an sein Bett gesetzt. Leise holte er ein schmales Skizzenbuch hervor und begann den Kopf und Arm des kleinen Schläfers zu zeichnen. Er wollte, ohne Pierre mit Sitzungen zu quälen, ihn in dieser Zeit noch so oft und so gut als immer möglich festhalten und sich einprägen. Mit zärtlicher Aufmerksamkeit bemühte er sich um die lieben Formen, um den Fall und Strich des zarten Haares, um die hübschen, nervösen Nasenflügel, um die dünne, willenlos ruhende Hand und um die eigenwillig rassige Linie des festgeschlossenen Mundes.

Er sah den Knaben selten im Bett und es war das erstemal, daß er ihn nicht mit kindlich geöffneten Lippen schlafen sah, und indem er den frühreifen, ausdrucksvollen Mund beobachtete, fiel ihm die Ähnlichkeit mit dem Munde seines Vaters, Pierres Großvaters, auf, der ein kühner und phantasievoller, aber leidenschaftlich rastloser Mensch gewesen war, und während er schaute und arbeitete, beschäftigte ihn dies sinnvolle Spiel der Natur mit den Zügen und Schicksalen der Väter, Söhne und Enkel, und es streifte ihm, der kein Denker war, das sorgenvoll köstliche Rätsel der Folge und Notwendigkeit die Seele.

Und plötzlich schlug der Schlafende die Augen auf und blickte in die des Vaters, und wieder fiel es dem Vater auf, wie unkindlich ernsthaft dieser Blick und dies Erwachen sei. Er hatte den Bleistift sofort weggelegt und das Büchlein zugeklappt, nun beugte er sich über den Erwachten, küßte ihm die Stirn und sagte fröhlich: „Guten Morgen, Pierre. Geht es besser?“

Der Kleine lächelte beglückt und begann sich zu strecken. O ja, es ging besser, es ging viel besser. Er besann sich langsam. Ja, gestern war er krank gewesen, er fühlte noch den Schatten des häßlichen Tages herüberdrohen. Aber nun war es viel besser, er wollte nur noch ein klein wenig liegen bleiben und die Wärme und ruhige Dankbarkeit dieses Zustandes kosten, dann würde er aufstehen und frühstücken und mit Mama in den Garten gehen.

Der Vater ging, um Mama zu holen. Blinzelnd sah Pierre nach dem Fenster, wo der helle, frohe Tag durch die gelblichen Vorhänge schien. Das war nun ein Tag, der etwas versprach, der nach allen möglichen Freuden duftete. Wie war das gestern schal und kalt und dumpf gewesen! Er schloß die Augen, um das zu vergessen, und fühlte in den schlafträgen Gliedern das liebe Leben sich dehnen.

Und jetzt kam die Mutter, sie brachte ihm ein Ei und eine Tasse Milch ans Bett, und Papa versprach ihm neue Farbstifte, und alle waren lieb und zärtlich und hatten eine Freude daran, ihn wieder gesund zu sehen. Es war beinahe wie ein Geburtstag, und daß der Kuchen fehlte, schadete gar nichts, denn richtigen Hunger hatte er noch immer nicht.

Gleich nachdem er angekleidet war, in einen frischen, blauen Sommeranzug, ging er zu Papa in das Atelier. Er hatte den häßlichen Traum von gestern vergessen, aber in seinem Herzen zitterte noch ein Widerhall von Schrecken und Leid, und er mußte nun sehen und genießen, daß wirklich Sonne und Liebe um ihn war.

Der Vater maß den Rahmen für sein neues Bild aus und empfing ihn voller Freude. Pierre wollte jedoch nicht lange dableiben, er wollte nur Guten Tag sagen und sich ein wenig liebhaben lassen. Dann mußte er weiter, zum Hunde und zu den Tauben, zu Robert und in die Küche, und mußte alles wieder begrüßen und in Besitz nehmen. Darauf ging er mit Mama und Albert in den Garten, und es schien ihm ein Jahr vergangen, seit er hier im Gras gelegen und geweint hatte. Schaukeln mochte er nicht, aber er legte seine Hand auf das Schaukelbrett, er ging zu den Sträuchern und Blumenbeeten, und eine dunkle Erinnerung wie aus einem vorigen Leben wehte ihn an, als sei er einmal hier zwischen den Beeten allein, verlassen und trostlos irrgelaufen. Nun war alles wieder licht und lebendig, die Bienen sangen und die Luft war leicht und froh zu atmen.

Er durfte Mutters Blumenkorb tragen, sie taten Nelken und große Dahlienblumen hinein, daneben aber machte er noch einen besonderen Strauß, den wollte er später dem Vater bringen.

Als man ins Haus zurückkam, war er müde geworden. Albert erbot sich, mit ihm zu spielen, aber erst wollte Pierre ein wenig ausruhen. Er setzte sich tief in Mutters großen Korbstuhl auf der Veranda, den Strauß für Papa hatte er noch in der Hand.

Er fühlte sich angenehm ermattet, er schloß die Augen, wandte sich gegen die Sonne und freute sich, wie das Licht ihm rot und warm durch die Lider schien. Dann blickte er befriedigt an seinem hübschen, reinen Anzug hinab und streckte seine blanken gelben Schuhe ins Sonnenlicht, abwechselnd den rechten und den linken. Er fand es schön, so still und etwas matt in Behaglichkeit und Reinlichkeit zu sitzen, nur die Nelken dufteten allzu stark. Er legte sie weg und schob sie auf dem Tisch von sich fort, so weit sein Arm reichte. Er mußte sie bald ins Wasser tun, damit sie nicht welk würden, ehe der Vater sie sähe.

Mit ungewohnter Zärtlichkeit dachte er an ihn. Wie war das doch gestern gewesen? Er hatte ihn im Atelier aufgesucht, und Papa hatte gearbeitet und keine Zeit gehabt, und er war so allein und fleißig und etwas traurig vor seinem Bilde gestanden. Soweit erinnerte er sich genau an alles. Aber später? War ihm später nicht der Vater im Garten begegnet? Er versuchte mit Anstrengung sich zu erinnern. Ja, Vater war im Garten hin und her gegangen, allein und mit einem fremden, schmerzlichen Gesicht, und er hatte ihn rufen wollen ... Wie war das gewesen? Es war irgend etwas Schreckliches oder Grausiges, was gestern geschehen war oder wovon er gestern gehört hatte, und er konnte es nicht wiederfinden.

Im tiefen Sessel zurückgelehnt ging er seinen Gedanken nach. Die Sonne schien gelb und warm auf seine Knie, aber die Fröhlichkeit wich ganz allmählich von ihm. Er fühlte, daß seine Gedanken sich jenem Grausigen mehr und mehr näherten, und er fühlte: sobald er es gefunden habe, werde es wieder Macht über ihn haben; es stand hinter ihm und wartete. So oft seine Erinnerung nahe an jene Grenze kam, stieg ein beklemmendes Gefühl wie Übelkeit und Schwindel in ihm auf, und sein Kopf begann leise zu schmerzen.

Die Nelken störten ihn mit ihrem überstarken Geruch. Sie lagen auf dem sonnigen Korbtisch und wurden welk, und wenn er sie dem Vater noch geben wollte, so war es jetzt Zeit. Aber er mochte nicht mehr, vielmehr er mochte schon, aber er war so müde, und das Licht tat ihm in den Augen weh. Und vor allem mußte er nachdenken, was da gestern geschehen war. Er spürte, er sei ganz nahe daran und brauche nur mit den Gedanken danach zu greifen, aber immer schwand es wieder dahin und war weg.

Der Kopfschmerz nahm zu. Ach, warum mußte das sein? Er war doch heut so vergnügt gewesen!

Frau Adele rief vor der Türe seinen Namen und kam gleich darauf herein. Sie sah die Blumen an der Sonne liegen und wollte Pierre nach Wasser schicken, da sah sie ihn an und sah ihn schlaff und eingesunken im Sessel hängen, und große Tränen auf seinen Wangen.

„Pierre, Kind, was ist? Bist du nicht wohl?“

Er sah sie an, ohne sich zu bewegen, und schloß die Augen wieder.

„Rede doch, Herz, was fehlt dir? Willst du ins Bett? Wollen wir ein Spiel machen? Hast du Schmerzen?“

Er schüttelte den Kopf und machte ein abwehrendes Gesicht, als belästige sie ihn.

„Laß mich,“ sagte er flüsternd.

Und da sie ihn aufrichtete und an sich nahm, schrie er, einen Augenblick wie in Wut aufflackernd, mit entstellter hoher Stimme: „So laß mich doch!“

Gleich darauf ließ sein Sträuben nach, er sank in ihren Armen zusammen, und da sie ihn aufhob, stöhnte er schwach, senkte gequält das erbleichte Gesicht vornüber und schüttelte sich in einem Anfall von Erbrechen.

Dreizehntes Kapitel

Seit Veraguth allein in seinem kleinen Neubau wohnte, war seine Frau kaum jemals bei ihm drüben gewesen. Als sie nun, ohne anzuklopfen, schnell und erregt in seine Werkstatt trat, war er alsbald auf eine schlimme Nachricht gefaßt, und so sicher warnte ihn der Instinkt, daß er, noch ehe sie ein Wort hatte sagen können, herausfuhr: „Ist etwas mit Pierre?“

Sie nickte hastig.

„Er muß ernstlich krank sein. Er war vorher ganz sonderbar, und eben hat er wieder erbrochen. Du mußt den Doktor holen.“

Während sie sprach, flog ihr Blick durch den leeren, großen Raum und blieb an dem neuen Bilde hängen. Sie sah die Figuren nicht, sie erkannte nicht einmal die Gestalt des kleinen Pierre, sie starrte nur auf die Leinwand und atmete die Luft des Raumes, in dem ihr Mann seit Jahren lebte, und mit dumpfer Ahnung fühlte sie hier eine ähnliche Atmosphäre von Einsamkeit und trotzigem Selbstgenügen wie die, in welcher sie selber schon so lange lebte. Es war nur ein Augenblick, dann wandte sie den Blick von dem Bilde ab und suchte dem Maler Antwort zu geben, der heftig durcheinander fragte.

„Bitte telephoniere sofort nach einem Automobil,“ sagte er schließlich, „das geht rascher als mit dem Wagen. Ich fahre selber in die Stadt, ich muß mir nur eben die Hände waschen. Ich komme sofort hinüber. Du hast ihn doch zu Bett gebracht?“

Eine Viertelstunde später saß er im Automobil und suchte den einzigen Arzt, den er kannte und der früher manchmal ins Haus gekommen war. In der alten Wohnung fand er ihn nicht mehr, er war umgezogen. Auf der Suche nach der neuen Wohnung begegnete er seinem Wagen, der Sanitätsrat grüßte ihn, er dankte und war schon vorüber, als ihm klar wurde, daß er es sei, den er suche. Er kehrte um und fand den Arztwagen vor dem Hause eines Patienten halten, wo er eine peinliche Weile warten mußte. Dann fing er den Sanitätsrat in der Haustüre ab und nötigte ihn in sein Automobil. Der Arzt sträubte und wehrte sich, er mußte beinahe Gewalt brauchen, um ihn mitzubekommen.

Im Wagen, der sofort mit der größten Eile gegen Roßhalde hinausfuhr, legte der Arzt ihm die Hand aufs Knie und sagte: „Gut denn, ich bin Ihr Gefangener. Ich muß andere warten lassen, die mich brauchen, das wissen Sie. Also, wo fehlt es? Ist Ihre Frau krank? – Nicht? – Also der Kleine. Wie heißt er doch? Pierre, richtig. Ich habe ihn lang nimmer gesehen. Was ist es denn? Ist er verunglückt?“

„Er ist krank, seit gestern. Heut früh schien er wieder in Ordnung zu sein, er war auf und hat auch ein wenig gegessen. Jetzt erbricht er plötzlich wieder und scheint Schmerzen zu haben.“

Der Arzt fuhr sich mit der mageren Hand über das klughäßliche Gesicht.

„Also wohl der Magen. Wir werden ja sehen. Sonst ist alles wohl bei Ihnen? Letzten Winter habe ich Ihre Ausstellung in München gesehen. Wir sind stolz auf Sie, Verehrter.“

Er sah auf die Uhr. Sie schwiegen beide, als der Wagen die Übersetzung wechselte und mit lauterem Keuchen bergan fuhr. Bald waren sie draußen und mußten am Hoftor absteigen, das nicht geöffnet war.

„Warten Sie auf mich,“ rief der Sanitätsrat dem Chauffeur zu. Dann schritten sie rasch über den Hof und ins Haus. Die Mutter saß bei Pierres Bett.

Nun hatte der Arzt plötzlich Zeit. Ohne Eile ging er an die Untersuchung, versuchte den Knaben zum Plaudern zu bringen, hatte gütig beruhigende Worte für die Mutter und schuf in aller Gelassenheit eine Atmosphäre von Vertrauen und Sachlichkeit, die auch Veraguth wohltat.

Pierre zeigte kein Entgegenkommen, er verhielt sich still, unwillig und mißtrauisch. Als man ihm den Bauch abtastete und drückte, verzog er höhnisch den Mund, als finde er diese Bemühungen töricht und unnütz.

„Eine Vergiftung scheint ausgeschlossen,“ sagte der Sanitätsrat behutsam, „und am Blinddarm ist gar nichts zu finden. Es ist wohl einfach ein verdorbener Magen, und für den ist Abwarten und Fasten das beste. Geben Sie dem Jungen heute nichts als ein wenig schwarzen Tee, falls er Durst hat, abends kann er auch einen kleinen Schluck Bordeaux haben. Falls alles gut bleibt, bekommt er morgen zum Frühstück Tee und Zwieback. Sollte er Schmerzen bekommen, so können Sie mir ja telephonieren.“

Erst an der Türe draußen fing Frau Veraguth zu fragen an. Sie bekam aber keine weitere Auskunft.

„Der Magen scheint tüchtig verstimmt, und das Kind ist offenbar sensibel und nervös. Von Fieber keine Spur. Sie können ihn ja abends messen. Der Puls ist etwas matt. Sollte es nicht besser werden, so komme ich morgen wieder her. Mir scheint, es ist nichts Ernstliches.“

Er empfahl sich rasch und war nun wieder sehr eilig. Veraguth begleitete ihn bis zum Wagen.

„Kann das lange dauern?“ fragte er im letzten Augenblick.

Der Arzt lachte hart.

„Ich hätte Sie nicht für so ängstlich gehalten, Herr Professor. Der Junge ist etwas zart, und verdorbene Mägen haben wir als Kinder alle oft genug gehabt. Guten Morgen!“

Veraguth wußte sich im Hause entbehrlich und schlenderte nachdenklich feldeinwärts. Die knappe, straffe Art des Sanitätsrates hatte ihn beruhigt, und er wunderte sich jetzt selbst, daß er so erregt und überängstlich gewesen war.

Mit erleichtertem Gefühl schritt er aus und sog die heiße Luft des tiefblauen Spätvormittags ein. Ihm schien, er mache heute schon seinen Abschiedsgang durch diese Wiesen und Obstbaumreihen, und es war ihm leidlich wohl und frei zumute. Als er sich besann, woher dies neue Gefühl einer Entscheidung und Lösung ihm kommen möge, wurde ihm klar, daß das alles eine Folge des Morgengespräches mit Frau Adele sei. Daß er ihr seine Reisepläne mitgeteilt hatte, daß sie ihn zunächst so ruhig angehört und keine Versuche zu irgendeiner Gegenwehr gemacht hatte, daß zwischen seinem Entschluß und der Ausführung nun alle Seitenwege und Ausflüchte abgeschnitten waren und die nächste Zukunft so klar und eindeutig vor ihm lag, das tat ihm wohl, daher kam ihm Beruhigung und neues Selbstgefühl.

Ohne zu wissen, wo er gehe, hatte er jenen Weg eingeschlagen, den er vor einigen Wochen mit seinem Freunde Burkhardt gegangen war. Erst als der Feldweg zu steigen begann, sah er, wo er sei, und erinnerte sich jenes Spazierganges mit Otto. Das Wäldchen da oben, mit der Bank und mit dem geheimnisvoll helldunkeln Durchblick in die klare, bildhaft ferngerückte Landschaft des bläulichen Flußtales, hatte er im Herbst malen wollen, und es war seine Absicht gewesen, Pierre auf die Bank zu setzen und den hellen Knabenkopf weich in das braune, dunkle Waldlicht zu stellen.

Aufmerksam stieg er empor, die Hitze des nahenden Mittags nicht mehr fühlend, und während er spähend den Augenblick erwartete, wo ihm über den Hügelkamm der Waldrand entgegenträte, fiel jener Tag mit Burkhardt ihm wieder ein, er erinnerte sich an ihre Gespräche, ja an einzelne Worte und Fragen des Freundes, an den noch frühsommerlichen Ton der Landschaft, deren Grün seither längst viel tiefer und milder geworden war. Und dabei überraschte ihn ein Gefühl, das er seit langem nicht mehr kannte und dessen unerwartete Wiederkehr ihn heftig an die Jugendzeit erinnerte. Es schien ihm nämlich, seit jenem Waldgange mit Otto sei eine lange, lange Zeit vergangen, und er selbst sei seither gewachsen, anders geworden und vorwärts gekommen, so daß er auf sein damaliges Ich mit einem gewissen ironischen Mitleid zurückblickte.

Überrascht von dieser so ganz jugendlichen Empfindung, die ihm in der Zeit vor zwanzig Jahren alltäglich gewesen war und ihn jetzt wie ein seltener Zauber berührte, übersah er die kurze Zeit dieses Sommers und fand, was er soeben und gestern noch nicht gewußt hatte. Er fand sich, da er sich der Zeit vor zwei, drei Monaten erinnerte, verwandelt und weitergekommen, er fand heute Helligkeit und sichere Ahnung des Weges, wo noch vor kurzem nur Dunkelheit und ratlose Unsicherheit gewesen war. Es war, als sei sein Leben nun wieder ein klarer, entschieden nach der ihm bestimmten Richtung hindrängender Fluß oder Strom, während es vorher so lange Zeit in einem sumpfig stillen See gezögert und unschlüssig sich um sich selber gedreht hatte. Und es wurde ihm klar, daß seine Reise unmöglich hierher zurückführen könne, daß er hier nichts mehr zu tun habe als Abschied zu nehmen, einerlei, ob sein Herz dabei brenne und blute. Sein Leben war wieder in Fluß geraten, und sein Strom ging mit Entschiedenheit nach der Freiheit und Zukunft hin. Er hatte von der Stadt und Gegend, er hatte von Roßhalde und von seiner Frau, ohne darüber klar zu sein, im Innersten sich schon getrennt und losgesagt.

Er blieb tief aufatmend stehen, von der Woge hellsichtiger Ahnung gehoben und durchströmt. Er dachte an Pierre, und ein schneidend heller, wilder Schmerz ging feindlich durch sein ganzes Wesen, als ihm gewiß wurde, daß er diesen Weg zu Ende gehen und sich auch von Pierre trennen müsse.

So stand er lange mit zuckendem Gesicht, und wenn es glühender Schmerz war, was er in sich fühlte, so war es doch Leben und Licht, war es doch Klarheit und Zukunft. Das war es, was Otto Burkhardt von ihm gewollt hatte. Das war die Stunde, auf die der Freund gewartet hatte. Das war der Schnitt in alte, lang geschonte Geschwüre, von dem er gesprochen hatte. Der Schnitt tat weh, er tat bitter weh, aber mit den preisgegebenen Lieblingswünschen starb auch Unrast und Uneinigkeit, Zwiespalt und Lähmung der Seele dahin. Es war Tag um ihn geworden, grausam heller, schöner, lichter Tag.

Ergriffen tat er die letzten Schritte zur Hügelhöhe hinan und setzte sich auf die beschattete Steinbank. Ein tiefes Lebensgefühl durchquoll ihn wie Wiederkehr der Jugend, und in erlöster Dankbarkeit wandte er seine Gedanken zu dem fernen Freunde, ohne den er niemals diesen Weg gefunden hätte, ohne den er für immer in dumpfer kranker Gefangenschaft geblieben und verkommen wäre.

Indessen war es seiner Natur nicht gemäß, lange nachzudenken oder lange in extremen Stimmungen zu verharren. Zugleich mit dem Gefühl der Genesung und des wiedergewonnenen Willens rann ihm ein neues Bewußtsein tätiger Kraft und herrschsüchtiger persönlicher Macht durch alle Sinne.

Er erhob sich, schlug die Augen auf und griff mit belebten Blicken herrisch nach seinem neuen Bilde. Er schaute lang durch den Waldschatten in das ferne lichte Flußtal hinab. Dies wollte er malen, und er wollte nicht mehr den Herbst dazu abwarten. Es war eine heikle Aufgabe, es war eine kapitale Schwierigkeit, es war ein köstliches Rätsel hier zu lösen: dieser wundersame Durchblick mußte mit Liebe gemalt werden, er mußte mit so viel Liebe und Studium gemalt werden, wie ihn ein zarter alter Meister gemacht hätte, ein Altdorfer oder Dürer. Hier konnte die Beherrschung des Lichtes und dessen mystischer Rhythmus nicht das einzige sein, hier mußte jede kleinste Form ihr volles Recht bekommen und so fein überlegt und abgewogen werden wie die Gräser in jenen wunderbaren Feldsträußen seiner Mutter. Die kühlhelle Ferne des Tales mußte, durch die warme Lichtflut des Vorgrundes und den Waldschatten doppelt zurückgetrieben, wie ein Edelstein aus dem Grunde des Bildes hervorleuchten, so kühl wie süß, so fremd wie lockend.

Er sah auf die Uhr, es war Zeit, nach Hause zu gehen. Er wollte seine Frau heute nicht warten lassen. Aber vorher zog er doch noch das kleine Skizzenbuch hervor und notierte, in der Mittagssonne am Rand des Hügels stehend, mit kräftigen Strichen das Skelett seines Bildes: die Maße der Perspektive, den Ausschnitt des Ganzen und das vielversprechende Oval der kleinen köstlichen Fernsicht.

Darüber verspätete er sich nun doch ein wenig und lief, der Hitze nicht achtend, in Eile den steilen sonnigen Weg bergab zurück. Er überlegte, was er zum Malen brauchen werde, er beschloß, morgen sehr früh aufzustehen, um die Landschaft auch im ersten Morgenlichte zu sehen, und im Herzen wurde ihm wohl und heiter, da er wieder eine schöne, lockende Aufgabe auf sich warten wußte.

„Was macht Pierre?“ war seine erste Frage, als er eilig eintrat.

Der Kleine sei ruhig und müde, gab Frau Adele Bericht, er scheine keine Schmerzen zu haben und liege geduldig still. Es sei am besten, ihn nicht zu stören, er sei merkwürdig empfindlich und fahre auf, sobald die Türe gehe oder sonst ein plötzliches Geräusch zu hören sei.

„Nun ja,“ nickte er dankend, „ich werde ihn später besuchen, vielleicht gegen Abend. Entschuldige, daß ich etwas verspätet kam, ich war draußen und werde die nächsten Tage im Freien arbeiten.“

Man aß in Frieden und Stille, durch die herabgelassenen Jalousien floß ein grünes Licht durch das kühle Zimmer, die Fenster standen alle offen, und man hörte in der Mittagsstille vom Hofe her den kleinen Brunnen plätschern.

„Du wirst für Indien eine besondere Ausrüstung brauchen,“ fragte Albert, „nimmst du auch Jagdzeug mit?“

„Ich denke nicht, Burkhardt ist mit allem versehen. Er wird mir schon Rat geben. Ich glaube, man muß das Malzeug in verlöteten Blechkisten mitnehmen.“

„Wirst du auch einen Tropenhelm tragen?“

„Jedenfalls. Den kann man ja unterwegs kaufen.“

Als Albert nach Tische weggegangen war, bat Frau Veraguth ihren Mann noch zu bleiben. Sie setzte sich in ihren Korbstuhl am Fenster und er trug seinen Sessel zu ihr hinüber.

„Wann wirst du denn reisen?“ fragte sie einleitend.

„O, das kommt ganz auf Otto an, ich richte mich natürlich nach ihm. Ich denke, etwa Ende September.“

„So bald schon? Ich habe noch wenig darüber nachdenken können. Pierre nimmt mich jetzt eben in Anspruch. Aber ich glaube, du solltest seinetwegen nicht zuviel von mir verlangen.“

„Das will ich auch nicht, ich habe mir das heute nochmals überlegt. Du sollst in allem volle Freiheit haben. Ich sehe ein, es geht nicht an, daß ich in der Welt herumreise und dabei verlange, zugleich hier in deinen Angelegenheiten mitzusprechen. Du mußt in allem tun, was dir gut scheint. Du sollst nicht weniger Freiheit haben, als ich für mich beanspruche.“

„Aber was soll mit dem Hause hier geschehen? Allein hierbleiben möchte ich nicht, es ist zu abgelegen und zu weitläufig, und es sind hier auch zu viele Erinnerungen, die mich stören.“

„Ich sagte dir schon, ziehe wohin du willst. Roßhalde gehört dir, das weißt du, und ich werde das vor meiner Abreise noch sicherstellen, für alle Fälle.“

Frau Adele war blaß geworden. Sie beobachtete ihres Mannes Gesicht mit fast feindseliger Aufmerksamkeit.

„Du sprichst beinahe so,“ warf sie mit bedrängter Stimme hin, „als ob du nicht mehr zurückzukommen dächtest.“

Er blinzelte nachdenklich und sah zu Boden.

„Man kann nicht wissen. Ich habe noch keine Ahnung, wie lange ich wegbleiben werde, und daß Indien für Leute meines Alters sehr gesund ist, glaube ich kaum.“

Sie schüttelte streng den Kopf.

„Ich meine nicht das. Sterben können wir alle. Ich meine, ob du überhaupt die Absicht hast, wiederzukommen.“

Er schwieg und blinzelte, schließlich lächelte er schwach und erhob sich.

„Ich denke, darüber reden wir ein andermal. Es war unser letzter Streit, weißt du, als wir vor einigen Jahren diese Frage besprachen. Ich möchte nun hier auf Roßhalde keinen Streit mehr haben, mit dir am wenigsten. Ich nehme an, du denkst darüber noch gleich wie damals. Oder würdest du mir heute den Kleinen überlassen?“

Frau Veraguth schüttelte schweigend den Kopf.

„Ich dachte es mir,“ sagte ihr Mann mit Ruhe, „wir wollen diese Dinge nun ruhen lassen. Du kannst, wie gesagt, über das Haus verfügen. Es liegt mir nichts daran, Roßhalde zu behalten, und wenn du eine Gelegenheit findest, das Ganze gut zu verkaufen, so gib es weg!“

„Das ist nun das Ende von Roßhalde,“ sagte sie mit einem Ton tiefer Bitterkeit, und sie dachte dabei an die Zeit ihrer Anfänge, an Alberts Babyjahre, an alle ihre damaligen Hoffnungen und Erwartungen. Das war also das Ende davon.

Veraguth, der sich schon zur Türe gewandt hatte, kehrte noch einmal um und rief sanft: „Nimm es nicht so schwer, Kind! Wenn du magst, kannst du ja alles behalten.“

Er ging hinaus, nahm dem Hunde die Kette ab und schritt zum Atelierhaus, von dem jauchzenden Tier umbellt und umsprungen. Was lag ihm an Roßhalde! Das gehörte zu den Dingen, mit denen er nichts mehr zu tun hatte. Er fühlte sich jetzt zum erstenmal seiner Frau überlegen. Er hatte abgeschlossen. Er hatte im Herzen das Opfer gebracht, er hatte auf Pierre verzichtet. Seit sich das von ihm gelöst hatte, war sein ganzes Wesen nur noch nach vorwärts gerichtet. Für ihn war Roßhalde erledigt, erledigt wie die vielen anderen fehlgeschlagenen Hoffnungen von ehemals, erledigt wie die Jugendzeit. Unnütz darum zu klagen!

Er schellte und Robert kam gelaufen.

„Ich werde einige Tage im Freien malen. Sie müssen nach dem kleineren Malkasten sehen, auch nach dem Schirm, bis morgen muß alles in Ordnung sein. Um halb sechs Uhr wecken Sie mich.“

„Sehr wohl, Herr Veraguth.“

„Sonst nichts. Das Wetter wird doch halten? Was meinen Sie?“

„Ich glaube, es wird wohl halten ... Entschuldigen Sie aber, Herr Veraguth, ich möchte Sie noch etwas fragen.“

„Ja?“

„Ich bitte um Verzeihung, aber ich habe gehört, der Herr wollten nach Indien reisen.“

Veraguth lachte verwundert auf.

„Das ist verflucht rasch gegangen. Da hat also Albert geplaudert. Nun ja, ich werde nach Indien reisen, und da können Sie nicht gut mitkommen, Robert, es ist schade. Man hat da draußen keine europäischen Diener. Aber wenn Sie später wieder zu mir kommen mögen, so kommen Sie! Ich besorge Ihnen gerne inzwischen eine andre gute Anstellung, Ihren Lohn kriegen Sie ja ohnehin bis Neujahr bezahlt.“

„Danke, Herr Veraguth, danke vielmal. Vielleicht darf ich dann um Ihre Adresse bitten. Ich werde Ihnen einmal schreiben. Es ist nämlich – – es ist nicht so einfach – – ich habe nämlich eine Braut, Herr Veraguth.“

„So, Sie haben eine Braut?“

„Ja, Herr Veraguth, und wenn Sie mich entlassen, so muß geheiratet werden. Nämlich ich habe ihr versprochen, daß ich keinen neuen Dienst annehme, wenn ich einmal hier weggehen sollte.“

„Na, da werden Sie sich ja freuen, daß Sie jetzt loskommen. Es tut mir aber leid, Robert. Was wollen Sie denn anfangen, wenn Sie verheiratet sind?“

„Ja, sie will mit mir ein Zigarrengeschäft auftun.“

„Einen Zigarrenladen? Robert, das ist nichts für Sie.“

„Entschuldigen, Herr Veraguth, man muß es einmal probieren. Aber wenn Sie erlauben – – ginge es nicht am Ende, daß ich doch in Ihrem Dienst bliebe? Ich möchte höflichst anfragen, Herr Veraguth.“

Der Maler gab ihm einen Klaps auf die Schulter.

„Mensch, was soll das heißen? Sie wollen heiraten, Sie wollen so einen stumpfsinnigen Laden aufmachen, und Sie wollen aber auch bei mir bleiben? Mir scheint, da ist etwas nicht in Ordnung ... Es liegt Ihnen wohl nicht so sehr viel an dieser Heirat, Robert?“

„Mit Verlaub, Herr Veraguth, nein. Sie wäre schon tüchtig, meine Braut, da will ich nichts sagen. Aber ich würde schon lieber hierbleiben. Sie hat einen scharfen Charakter, und – –“

„Ja, Kerl, warum wollen Sie sie denn dann heiraten? Sie haben ja Angst vor ihr! Ihr habt doch kein Kind? Oder?“

„Nein, dieses nicht. Aber sie läßt mir keine Ruhe mehr ...“

„Dann schenken Sie ihr eine hübsche Brosche, Robert, ich gebe Ihnen einen Taler dafür. Die geben Sie Ihrer Braut und sagen ihr, sie möchte sich nun einen andern suchen für ihren Zigarrenladen. Sagen Sie ihr, ich hätte das gesagt. Und schämen Sie sich ein bißchen! Ich lasse Ihnen acht Tage Zeit. Dann möchte ich wissen, ob Sie ein Mann sind, der sich von einem Mädel Angst machen läßt, oder nicht.“

„Es ist gut, es ist gut. Ich werde ihr schon sagen ...“

Veraguth hörte auf zu lächeln. Er blitzte den Betroffenen aus zornigen Augen an und rief scharf: „Sie werden das Mädel fortschicken, Robert, sonst sind wir miteinander fertig. Pfui Teufel – sich heiraten lassen! Gehen Sie, und bringen Sie das bald in Ordnung!“

Er stopfte sich eine Pfeife, nahm ein größeres Skizzenbuch und eine Hülse voll Zeichenkohle an sich und ging nach dem Waldhügel hinaus.

Vierzehntes Kapitel

Das Fasten schien nicht viel zu helfen. Pierre Veraguth lag zusammengekrümmt in seinem Bette, die Teetasse stand unberührt daneben. Man ließ ihn möglichst in Ruhe, da er auf keine Anrede Antwort gab und jedesmal unwillig zusammenfuhr, wenn jemand in sein Zimmer trat. Die Mutter saß manche Stunde an seinem Bett, sie murmelte halbgesungene Zärtlichkeiten und Beruhigungsworte. Es war ihr sorgenvoll und unheimlich zumute; es schien, als sei der kleine Kranke hartnäckig in einen geheimen Schmerz verbohrt. Er gab auf keine Frage, auf keine Bitte, auf kein Anerbieten irgendeine Antwort, mit bösen Augen starrte er vor sich hin und wollte nicht schlafen, nicht spielen, nicht trinken, nicht vorgelesen haben. Der Arzt war zwei Tage nacheinander gekommen; er hatte wenig gesagt und laue Leibwickel befohlen. Pierre lag viel in einem leichten Halbschlummer, wie Fiebernde ihn haben, er murmelte dann unverständliche Worte und träumte halbbewußt in einem leisen dumpfen Delirium vor sich hin.

Veraguth war seit mehreren Tagen draußen am Malen. Als er mit der Dämmerung nach Hause kam, fragte er sogleich nach dem Knaben. Seine Frau bat ihn, nicht mehr ins Krankenzimmer zu gehen, da Pierre so sehr empfindlich gegen alle Störungen sei und jetzt eingeschlummert scheine. Da Frau Adele wenig Worte machte und seit dem neulichen Morgengespräch sich ihm gegenüber mißgestimmt und befangen fühlte, fragte er nicht weiter, sondern ging unbekümmert ins Bad und brachte den Abend in der angenehmen Unruhe und warmen Erregtheit hin, die er stets beim Vorbereiten einer neuen Arbeit empfand. Nun hatte er mehrere Studien draußen gemalt und wollte morgen das Bild selber in Angriff nehmen. Er wählte mit Befriedigung Kartons und Leinwände aus, flickte an locker gewordenen Keilrahmen herum, suchte Pinsel und Malzeug aller Art zusammen und rüstete sich wie für eine kleine Reise, er legte sogar den gefüllten Tabaksbeutel, Pfeife und Feuerzeug bereit wie ein Tourist, der in der Frühe zu einer Bergbesteigung aufbrechen will und sich für die erwartungsvollen Stunden vor dem Schlafengehen nichts Besseres weiß als liebevoll an morgen zu denken und jede Kleinigkeit dafür bereitzulegen.

Behaglich sah er dann bei einem Glase Wein die Abendpost an. Da war ein freudiger, liebevoller Brief von Burkhardt, und beigefügt war eine mit hausfraulicher Sorgsamkeit zusammengestellte Liste alles dessen, was Veraguth für die Reise mitzunehmen habe. Belustigt las dieser die ganze Liste durch, auf welcher weder wollene Leibbinden noch Strandschuhe, weder Nachtkleidung noch Gamaschen vergessen waren. Unten auf dem Zettel stand mit Bleistift geschrieben: „Alles andere besorge ich für uns beide, auch die Kabinen. Laß dir weder Chemikalien gegen Seekrankheit noch indische Reiseliteratur aufschwatzen, alles das ist meine Sache.“

Lächelnd wandte er sich einer großen Rolle zu, in der ihm ein junger Düsseldorfer Maler eine Anzahl Radierungen mit ehrfurchtsvoller Widmung übersandte. Auch dafür fand er heute Zeit und Laune, er sah die Blätter aufmerksam durch und wählte das beste davon für seine Mappen aus, die anderen mochte Albert haben. Dem Maler schrieb er ein freundliches Billett.

Zuletzt schlug er das Skizzenbuch auf und betrachtete lange die vielen Zeichnungen, die er draußen gemacht hatte. Sie befriedigten ihn alle nicht recht, er wollte es morgen mit einem anderen, weiteren Ausschnitt versuchen, und wenn das Bild auch dann noch nicht säße, wollte er eben solange Studien malen, bis er es heraus hätte. Auf alle Fälle würde er morgen tüchtig fleißig sein, das Weitere würde sich schon ergeben. Und diese Arbeit würde dann sein Abschied von Roßhalde sein; es war ohne Zweifel das eindringlichste und lockendste Stück Landschaft in der ganzen Gegend, und es sollte nicht vergebens gewesen sein, hoffte er, daß er sich das bis jetzt immer wieder aufgespart hatte. Das durfte nicht mit einer schneidigen Studie abgetan werden, es mußte ein gutes, delikates, abgewogenes Bild werden. Das rasche, kämpfende Malen in der Natur, mit Schwierigkeiten, Niederlagen und Siegen, das würde er dann draußen in den Tropen wieder auskosten können.

Er legte sich zeitig nieder und schlief vortrefflich, bis Robert ihn weckte. Da stand er, in der straffen Morgenkühle fröstelnd, in fröhlicher Eile auf, trank stehend eine Schale Kaffee und trieb den Diener an, der ihm Leinwand, Feldstuhl und Farbenkasten nachtragen sollte. Bald darauf verließ er das Haus und verschwand, Robert hinterdrein, in den noch morgenblassen Wiesen. Vorher hatte er noch in der Küche nachfragen wollen, ob Pierre eine ruhige Nacht gehabt habe. Aber er hatte das Haus noch verschlossen und niemand wach gefunden.

Frau Adele war bis in die Nacht bei dem Kleinen gesessen, da er ein wenig zu fiebern schien. Sie hatte seinem lallenden Gemurmel zugehört, seinen Puls gefühlt und sein Bett in Ordnung gebracht. Als sie ihm Gutenacht sagte und ihn küßte, schlug er die Augen auf und sah ihr ins Gesicht, ohne aber zu antworten. Die Nacht blieb ruhig.

Pierre war wach, als sie am Morgen zu ihm kam. Er wollte kein Frühstück haben, verlangte aber nach einem Bilderbuch. Die Mutter ging selbst, um eines zu holen. Sie stopfte ihm ein zweites Kissen unter den Kopf, zog den Fenstervorhang auseinander und gab Pierre das Buch in die Hände; es war ein Bild mit einer großen, strahlend goldgelben Frau Sonne aufgeschlagen, das er besonders gern hatte.

Er hob das Buch gegen sein Gesicht, das helle frohe Morgenlicht fiel auf das Blatt. Aber sogleich flog ein dunkler Schatten von Schmerz, Enttäuschung und Unbehagen über sein zartes Gesicht.

„Pfui, das tut ja weh!“ rief er gequält und ließ das Bilderbuch sinken.

Sie fing es auf und hielt es ihm nochmals vor die Augen.

„Es ist ja deine liebe Frau Sonne,“ sagte sie zuredend.

Er hielt sich die Hände vor die Augen.

„Nein, tu es weg. Das ist so scheußlich gelb!“

Seufzend nahm sie das Buch wieder an sich. Weiß Gott, was das mit dem Kinde war! Sie kannte mancherlei Empfindlichkeiten und Launen an ihm, aber so war er noch nie gewesen.

„Paß auf,“ sagte sie sanft beschwörend, „jetzt bring ich dir einen feinen, warmen Tee, und du darfst dir Zucker hineintun und ein schönes Zwieback dazu haben.“

„Ich will nicht!“

„Probier’s einmal! Es tut dir gut, du wirst sehen.“

Gepeinigt und wütend sah er sie an.

„Wenn ich aber nicht will!“

Sie ging hinaus und blieb eine lange Weile fort. Er blinzelte ins Licht, es schien ihm übermäßig grell und tat ihm weh. Er wandte sich ab. Gab es denn keinen Trost, kein bißchen Vergnügen, keine kleine Freude mehr für ihn? Trotzig und weinerlich drückte er das Gesicht ins Kissen und biß unwillig in das weiche, fad schmeckende Linnen. Das war ein auftauchender Widerschein aus seiner allerfrühesten Kindheit. Als ganz kleiner Junge hatte er, wenn er zu Bett gebracht war und nicht gleich einschlafen konnte, die Gewohnheit gehabt, in sein Kissen zu beißen und mit einer gewissen Taktmäßigkeit darauf zu kauen, bis er müde wurde und einschlief. Das tat er nun wieder und arbeitete sich langsam in eine stille Betäubung hinein, die ihm wohl tat und in welcher er ruhig liegen blieb.

Die Mutter kam nach einer Stunde wieder herein. Sie beugte sich über ihn und sagte: „So, will Pierre jetzt wieder artig sein? Du warst vorher sehr unartig, und Mama ist traurig gewesen.“

Das war zu anderen Zeiten ein starkes Mittel, dem er selten widerstand, und als sie nun die Worte sagte, war sie nicht ohne Besorgnis, er möchte es sich zu sehr zu Herzen nehmen und weinen. Er schien aber gar nicht auf ihre Worte zu achten, und als sie nun etwas strenge fragte: „Du weißt doch, daß du vorher ungezogen warst?“, verzog er den Mund beinahe spöttisch und blickte vollkommen gleichgültig.

Gleich darauf kam der Sanitätsrat.

„Hat er wieder erbrochen? Nicht? Schön. Und die Nacht war gut? Was hat er denn gefrühstückt?“

Als er den Knaben aufrichtete und sein Gesicht gegen das Fenster drehte, zuckte Pierre wieder wie in Schmerzen zusammen und drückte die Augen zu. Aufmerksam betrachtete der Arzt den seltsam starken Ausdruck von Abwehr und Pein in dem Kindergesicht.

„Ist er auch gegen Geräusche so empfindlich?“ fragte er Frau Adele flüsternd.

„Ja,“ sagte sie leise, „wir dürfen gar nimmer Klavier spielen, sonst tut er ganz verzweifelt.“

Der Sanitätsrat nickte und zog den Vorhang halb zu. Dann hob er den Kleinen aus dem Bett, horchte an seinem Herzen und schlug ihm mit einem kleinen Hämmerlein probierend auf die Sehnen unterhalb der Kniescheiben.

„Schon gut,“ sagte er freundlich, „nun lassen wir dich in Ruhe, mein Junge.“

Er legte ihn behutsam ins Bett zurück, nahm seine Hand und nickte ihm lächelnd zu.

„Darf ich noch einen Augenblick bei Ihnen eintreten?“ sagte er im Kavalierston zu Frau Veraguth und ließ sich in ihr Zimmer führen.

„Nun erzählen Sie mir noch mehr von Ihrem Kleinen,“ sagte er ermunternd. „Mir scheint, er ist doch sehr nervös und wir müssen ihn nun eine Weile gut pflegen, Sie und ich. Die Magengeschichte ist nicht der Rede wert. Er muß unbedingt wieder essen. Feine, stärkende Sachen: Eier, Bouillon, frische Sahne. Versuchen Sie es einmal mit Eigelb. Wenn er es lieber süß nimmt, schlagen Sie es mit Zucker in eine Tasse. Und nun, ist Ihnen sonst etwas an ihm aufgefallen?“

Besorgt und doch von seinem freundlich sicheren Ton beruhigt, fing sie zu berichten an. Am meisten habe sie Pierres Teilnahmlosigkeit erschreckt, es sei, als habe er sie gar nimmer lieb. Es sei ihm einerlei, ob man ihn bitte oder schelte, er sei gegen alles gleichgültig. Sie erzählte von dem Bilderbuch, und er nickte.

„Lassen Sie ihn gewähren!“ sagte er im Aufstehen. „Er ist krank und kann augenblicklich nichts für seine Unarten. Lassen Sie ihn möglichst in Ruhe! Wenn er Kopfschmerzen hat, kann er Eisumschläge bekommen. Und abends stecken Sie ihn möglichst lang in ein laues Bad, das macht Schlaf.“

Er verabschiedete sich und duldete nicht, daß sie ihn die Treppe hinab begleite.

„Sehen Sie zu, daß er heute etwas ißt!“ sagte er noch im Weggehen.

Unten trat er in die offenstehende Küchentür und fragte nach Veraguths Diener.

„Rufen Sie Robert her!“ befahl die Köchin der Magd. „Er muß im Atelier sein.“

„Es ist nicht nötig,“ rief der Sanitätsrat. „Ich gehe selber hinüber. Nein, lassen Sie nur, ich weiß den Weg.“

Er verließ die Küche mit einem Scherzwort und schritt, plötzlich voll Ernst und Nachdenklichkeit, langsam unter den Kastanien hinweg.

Frau Veraguth überdachte nochmals jedes Wort, das der Arzt gesagt hatte, und kam nicht ins reine damit. Offenbar nahm er Pierres Unwohlsein ernster als bisher, doch hatte er eigentlich nichts Schlimmes gesagt und war so sachlich und ruhig gewesen, daß doch wohl keine ernstliche Gefahr bestand. Es schien ein Zustand von Schwäche und Nervosität zu sein, den man mit Geduld und guter Pflege abwarten mußte.

Sie ging ins Musikzimmer und schloß den Flügel ab, damit Albert sich nicht doch etwa einmal vergesse und unvermutet zu spielen beginne. Und sie besann sich, in welchen Raum man etwa das Instrument schaffen lassen könne, falls das länger dauern sollte.

Hin und wieder ging sie, nach Pierre zu sehen, öffnete vorsichtig seine Türe und horchte, ob er schlafe oder stöhne. Er lag jedesmal wach und blickte apathisch geradeaus, und traurig ging sie wieder fort. Sie hätte ihn lieber in Gefahr und Schmerzen gepflegt, statt ihn so verschlossen, verdrossen und gleichgültig liegen zu sehen; es schien ihr, eine seltsame, traumhafte Kluft trenne ihn von ihr, ein widerwärtig zäher Bann, den ihre Liebe und Sorge nicht zu brechen vermöge. Es war da ein gemeiner, hassenswerter Feind im Hinterhalt, dessen Art und dessen böse Absichten man nicht kannte und gegen den man keine Waffen besaß. Vielleicht bereitete sich da irgendein Fieber, ein Scharlach oder sonst eine Kinderkrankheit vor.

Bekümmert rastete sie eine Weile in ihrem Zimmer. Ein Strauß Spiräen fiel ihr ins Auge, sie bog sich über den runden Mahagonitisch, dessen rotbraunes Holz unter der weißen durchbrochenen Decke tief und warm leuchtete, und senkte das Gesicht mit geschlossenen Augen in die vielästigen, weichen, sommerlichen Blüten, deren starksüßer Duft, wie sie ihn voll einsog, auf seinem Grunde geheimnisvoll bitter schmeckte.

Indem sie sich, leicht betäubt, wieder aufrichtete und mit unbeschäftigten Augen auf die Blumen, auf den Tisch und durch das Zimmer blickte, stieg eine Woge von bitterer Traurigkeit in ihr auf. Sie schaute in einer plötzlichen Wachheit der Seele durch den Raum und an den Wänden hin, sie sah Teppich und Blumentisch, Uhr und Bilder auf einmal fremd und ohne Beziehungen, sie sah den Teppich aufgerollt, die Bilder verpackt und alles auf einen Wagen geladen, welcher alle diese Dinge, die nun keine Heimat und keine Seele mehr hatten, fort an einen neuen, unbekannten, gleichgültigen Ort bringen sollte. Sie sah Roßhalde leer mit geschlossenen Türen und Fenstern stehen und fühlte Verlassenheit und Abschiedsweh aus allen Beeten des Gartens starren.

Es waren nur Augenblicke. Es kam und ging wie ein leiser, doch dringender Ruf aus dem Dunkeln, wie ein flüchtig hereinfallendes, fragmentarisches Spiegelbild aus der Zukunft. Und deutlich stieg es ihr aus dem blinden Leben der Gefühle ins Bewußtsein: sie würde bald mit ihrem Albert und dem kranken Pierre ohne Heimat sein, ihr Mann würde sie verlassen, und ihr bliebe für alle Zeit die verlorene Dumpfheit und Kälte so vieler liebloser Jahre in der Seele liegen. Sie würde für die Kinder leben, aber sie würde nie das eigene, schöne Leben mehr finden, das sie einst von Veraguth erhofft und auf das sie einen heimlichen Anspruch noch bis gestern und heute in sich bewahrt und gehegt hatte. Dazu war es zu spät. Und sie fror vor Erkenntnis und Nüchternheit.

Aber alsbald setzte ihr gesundes Wesen sich zur Wehr. Es stand ihr eine unruhige und ungewisse Zeit bevor, Pierre war krank, und Alberts Ferien waren bald zu Ende. Es ging nicht, es ging schlechterdings nicht an, daß jetzt auch sie schlaff wurde und unterirdischen Stimmen folgte. Erst mußte Pierre wieder gesund und Albert abgereist und Veraguth in Indien sein, dann würde man weiter sehen, dann war es immer noch Zeit, das Schicksal anzuklagen und sich die Augen auszuweinen. Jetzt hatte das keinen Sinn, sie durfte nicht, es kam gar nicht in Betracht.

Sie stellte die Vase mit den Spiräen vors Fenster hinaus. Sie ging in ihr Schlafzimmer, goß Kölnisches Wasser auf ihr Taschentuch und wusch sich die Stirne damit, prüfte im Spiegel ihre strenge, straffe Frisur und ging mit ruhigen Schritten nach der Küche, um selbst einen Imbiß für Pierre zu rüsten.

Damit erschien sie später an des Kleinen Bett, setzte ihn aufrecht, schenkte seinen abwehrenden Gebärden keine Beachtung und löffelte ihm streng und aufmerksam das Eigelb ein. Sie wischte ihm den Mund ab und küßte ihn auf die Stirn, schüttelte sein Bett zurecht und redete ihm zu, lieb zu sein und zu schlafen.

Als nun Albert von einem Spaziergange heimkam, zog sie ihn mit sich auf die Veranda, wo der leichte Sommerwind in den straff gespannten, braun und weiß gestreiften Markisen knatterte.

„Der Arzt ist wieder dagewesen,“ erzählte sie. „Pierre sei mit den Nerven nicht in Ordnung, und nun muß er möglichst Ruhe haben. Es tut mir leid für dich, aber es darf zunächst im Hause gar nimmer Klavier gespielt werden. Ich weiß, es ist ein Opfer für dich, mein Junge. Vielleicht wäre es ganz klug, wenn du bei dem schönen Wetter für ein paar Tage verreisen würdest, in die Berge oder nach München? Papa hätte gewiß nichts dagegen.“

„Danke, Mama, das ist lieb von dir. Ich gehe vielleicht einmal einen Tag weg, aber nicht länger. Sonst hast du ja gar niemand, der bei dir ist, solang Pierre liegen muß. Und dann sollte ich ja jetzt auch mit der Schularbeit beginnen, ich habe die ganze Zeit bis jetzt gebummelt. – Wenn nur Pierre bald gesund wird!“

„Gut, Albert, das ist brav. Es ist jetzt wirklich keine leichte Zeit für mich, ich bin froh, dich da zu haben. Mit Papa kommst du ja nun auch wieder besser aus, nicht?“

„Ach ja, seit er sich zu der Reise entschlossen hat. Übrigens sehe ich ihn so wenig, er malt den ganzen Tag. Weißt du, manchmal tut es mir leid, daß ich oft häßlich gegen ihn war – er hat mich ja auch gequält, aber er hat etwas, was mir doch allemal wieder imponiert. Er ist ja furchtbar einseitig, und von Musik versteht er nicht viel, aber er ist doch ein großer Künstler und hat eine Lebensaufgabe. Das ist es, was mir so imponiert. Er hat ja nichts von seiner Berühmtheit, und von seinem Geld eigentlich auch recht wenig; es ist nicht das, wofür er arbeitet.“

Er zog die Stirn in Falten, nach Worten suchend. Aber er konnte sich nicht so, wie er wollte, ausdrücken, obwohl es ein genau bestimmtes Gefühl war. Die Mutter lächelte und strich ihm das Haar zurück.

„Wollen wir abends wieder miteinander Französisch lesen?“ fragte sie schmeichelnd.

Er nickte und lächelte nun auch, und im Augenblick schien es ihr töricht und unbegreiflich, daß sie noch vor kurzem nach einem anderen Schicksal hatte verlangen können, als danach, für ihre Söhne zu leben.

Fünfzehntes Kapitel

Kurz vor Mittag erschien Robert draußen am Waldrande bei seinem Herrn, um ihm das Malzeug heimtragen zu helfen. Veraguth hatte eine neue Studie fertig, die er selbst tragen wollte. Er wußte jetzt genau, wie das Bild werden mußte, und dachte es nun in wenigen Tagen zu zwingen.

„Morgen früh ziehen wir wieder aus,“ rief er vergnügt und zwinkerte mit ermüdeten Augen in die blendende Mittagswelt.

Robert knöpfte umständlich seinen Rock auf und zog ein Papier aus der Brusttasche. Es war ein etwas zerknittertes Kuwert ohne Aufschrift.

„Das soll ich abgeben.“

„Von wem?“

„Vom Herrn Sanitätsrat. Er hat um zehn Uhr nach Ihnen gefragt; aber er sagte, ich dürfe Sie nicht von der Arbeit wegholen.“

„Es ist gut. Vorwärts!“

Der Diener lief mit Rucksack, Feldstuhl und Staffelei voraus, Veraguth blieb stehen und öffnete mit einer Ahnung unangenehmer Nachrichten das Briefchen. Es lag nur des Sanitätsrats Karte darin mit der flüchtig und undeutlich gekritzelten Bleistiftnotiz: „Bitte kommen Sie nachmittags zu mir, ich möchte wegen Pierre mit Ihnen sprechen. Sein Unwohlsein ist weniger unbedenklich, als ich Ihrer Frau sagen wollte. Schrecken Sie sie nicht mit unnützen Besorgnissen, ehe wir uns gesprochen haben.“

Er zwang gewaltsam den Schrecken nieder, der ihm den Atem nehmen wollte, er blieb in gezwungener Ruhe stehen und las den Zettel noch zweimal mit Aufmerksamkeit durch. „Weniger unbedenklich, als ich Ihrer Frau sagen wollte!“ Da saß der Feind. Seine Frau war keineswegs so gebrechlich oder so nervös, daß man einer Kleinigkeit wegen solche Rücksicht auf sie nehmen mußte. Es war also schlimm, es war gefährlich, Pierre konnte sterben! Aber da stand wieder „Unwohlsein“, das klang so harmlos. Und dann „unnütze Besorgnisse“! Nein, ganz schlimm war es jedenfalls nicht. Vielleicht etwas Ansteckendes, eine Kinderkrankheit. Vielleicht wünschte der Arzt, ihn zu isolieren, ihn in eine Klinik zu tun?

Er sann und wurde ruhiger. Langsam ging er den Hügel hinab und den heißen Feldweg heimwärts. Jedenfalls wollte er tun, was der Arzt verlangte, und seine Frau nichts merken lassen.

Zu Hause übernahm ihn dann doch die Ungeduld. Noch ehe er sein Bild verwahrt und sich gewaschen hatte, lief er ins Haus – das nasse Bild lehnte er im Treppenhaus an die Wand – und trat leise in Pierres Stübchen. Seine Frau war drinnen.

Er bückte sich zu dem Knaben hinab und küßte ihn aufs Haar.

„Guten Tag, Pierre. Wie geht’s?“

Pierre lächelte schwach. Gleich darauf begann er mit zitternden Nüstern zu schnüffeln und rief: „Nein, nein, geh weg! Du riechst so schlecht!“

Veraguth trat gehorsam beiseite.

„Es ist nur Terpentin, mein Junge. Papa hat sich noch gar nicht gewaschen, weil er gleich nach dir sehen wollte. Nun geh ich gleich und kleide mich um, dann komme ich wieder zu dir. Ist’s so recht?“

Er ging und nahm unterwegs das Bild mit sich, und die klagende Stimme des Kleinen klang in ihm nach.

Bei Tische ließ er sich berichten, was der Arzt gesagt habe, und hörte mit Freude, daß Pierre gegessen und nicht wieder erbrochen habe. Doch blieb er erregt und unsicher und quälte sich ab, um ein Gespräch mit Albert in Gang zu halten.

Danach saß er eine halbe Stunde an Pierres Bett, der ruhig lag und nur zuweilen wie in Schmerzen nach der Stirne griff. Er betrachtete mit angstvoller Liebe den schmalen Mund, der krank und schlaff aussah, und die hübsche helle Stirn, die jetzt zwischen den Augen eine kleine senkrechte Falte trug, eine krankhafte, aber kindlich weiche und bewegliche Falte, die wieder ganz verschwinden würde, wenn Pierre wieder gesund wäre. Und gesund sollte er wieder werden – auch wenn es dann doppelt weh tun würde, fortzugehen und ihn zu verlassen. Er sollte in seiner Feinheit und hellen Knabenschönheit weiter wachsen und wie eine Blume in der Sonne atmen, auch wenn er ihn nimmer sähe und ihm Lebewohl gesagt hätte. Er sollte gesund und ein schöner, sonniger Mensch werden, in dem von seines Vaters Wesen das Zarteste und Reinste weiterlebte.

Während er am Bett des Kindes saß, begann er zu ahnen, wieviel Bitteres ihm noch auszukosten bleibe, bis dies alles hinter ihm läge. Seine Lippen zuckten und sein Herz wehrte sich gegen den Stachel, aber er fühlte tief unter allem Leid und aller Furcht seinen Entschluß hart und unzerstörbar stehen. Das war in Ordnung, daran rührte kein Schmerz und keine Liebe mehr. Aber es lag ihm noch ob, diese letzte Zeit zu erleben und sich keinem Leide zu entziehen, und er war bereit, den Becher ganz auszutrinken, denn er fühlte seit diesen paar Tagen untrüglich, daß nur durch dieses dunkle Tor für ihn ein Weg zum Leben führte. Wenn er jetzt feig war, wenn er jetzt entfloh und sich Weh ersparte, so nahm er Schlamm und Gift mit sich hinüber und kam nie in die reine, heilige Freiheit, nach der ihn verlangte und für die er jede Qual zu leiden willig war.

Nun, vor allem mußte er mit dem Doktor reden. Er stand auf, nickte Pierre zärtlich zu und ging hinaus. Es kam ihm der Einfall, sich von Albert fahren zu lassen, und er suchte dessen Zimmer auf, zum erstenmal in diesem Sommer. Kräftig pochte er an die Türe.

„Herein!“

Albert saß lesend beim Fenster. Er stand eilig auf und kam dem Vater überrascht entgegen.

„Ich habe eine kleine Bitte an dich, Albert. Könntest du mich rasch mit dem Wagen in die Stadt bringen? – Ja? Das ist hübsch. Also sei so gut und hilf gleich einspannen, ich bin ein wenig eilig. Nimmst du eine Zigarette?“

„Ja, danke. Nun will ich gleich nach den Pferden sehen.“

Bald saßen sie im Wagen, Albert kutschierend auf dem Bock, und als Veraguth an einer Straßenecke in der Stadt ihn halten ließ und sich verabschiedete, sagte er noch ein anerkennendes Wort zu ihm.

„Danke schön. Du hast Fortschritte gemacht und hast die Gäule jetzt sehr gut in der Hand. Nun adieu, ich gehe später zu Fuß zurück.“

Er ging rasch auf der heißen Stadtstraße hinweg. Der Sanitätsrat wohnte in einer stillen, vornehmen Gegend, es war um diese Tageszeit kaum ein Mensch dort unterwegs. Ein Sprengwagen fuhr schläfrig dahin und zwei kleine Knaben liefen hinterher, hielten die Hände in den dünnen Tropfenregen und spritzten einander lachend in die erhitzten Gesichter. Aus einem offenen Parterrefenster klang das gelangweilte Klavierspiel eines übenden Schülers. Veraguth hatte stets eine tiefe Abneigung gegen unbelebte Stadtstraßen gehabt, zumal im Sommer, sie erinnerten ihn an junge Jahre, wo er in solchen Straßen in wohlfeilen langweiligen Zimmern gewohnt hatte, mit Kaffee- und Küchengeruch auf den Treppen und mit dem Blick auf Dachfenster, Teppichklopfständer und reizlose, lächerlich kleine Gärten.

Es empfing ihn im Korridor zwischen großen goldgerahmten Bildern und großen Teppichen ein diskreter Arztgeruch, und ein junges Mädchen in der langen schneeweißen Krankenpflegerinnenschürze nahm ihm seine Karte ab. Sie führte ihn erst ins Wartezimmer, wo mehrere Frauen und ein junger Mann still und gedrückt auf Plüschsesseln saßen und in Zeitschriften starrten, dann brachte sie ihn auf seine Bitte in einen anderen Raum, wo in großen verschnürten Bündeln viele Jahrgänge eines medizinischen Fachblattes gestapelt standen und wo er sich kaum ein wenig umgesehen hatte, als das Mädchen schon wieder eintrat und ihn zum Sanitätsrat führte.

Da saß er nun in einem großen Lederstuhl inmitten blitzender Sauberkeit und Zweckmäßigkeit, und gegenüber am Schreibtisch saß klein und stramm der Arzt; es war still in dem hohen Zimmer, nur eine kleine blanke Stehuhr aus Glas und Messing schritt hellklingend ihren taktfesten spitzen Gang.

„Ja, Ihr Junge gefällt mir nicht recht, lieber Meister. Haben Sie nicht schon längere Zeit Störungen an ihm bemerkt, ich meine zum Beispiel Kopfweh, Müdigkeit, Unlust zum Spielen und dergleichen? – Erst in der allerletzten Zeit? Und war er schon länger so empfindlich? Gegen Lärm und helles Licht? Gegen Gerüche? – So? Er mochte den Farbengeruch im Atelier nicht leiden! Ja, das stimmt zum andern.“

Er fragte viel, und Veraguth gab in einer leichten Betäubung Antwort, mit einem Gefühl ängstlicher Aufmerksamkeit und heimlicher Bewunderung für diese schonend höfliche, tadellos präzise Sprechweise.

Dann kamen die Fragen nur noch langsam und vereinzelt, und schließlich gab es eine lange Pause, die Stille hing wie eine Wolke im Zimmer, nur vom gellend spitzen Gang der kleinen koketten Uhr unterbrochen.

Veraguth wischte sich den Schweiß von der Stirne. Er fühlte, daß es nun Zeit war, die Wahrheit zu erfahren, und da der Arzt wie steinern dasaß und schwieg, überfiel ihn mit schmerzhafter Lähmung der Schrecken. Er rollte den Kopf, als ersticke er im Hemdkragen, und schließlich stieß er heraus: „Ist es denn so schlimm?“

Der Sanitätsrat blickte auf. Er sah aus dem gelben, verarbeiteten Gesicht mit einem bleichen Blick zu ihm herüber und nickte mit dem Kopf.

„Ja, leider. Es ist schlimm, Herr Veraguth.“

Er ließ den Blick nicht mehr von ihm. Wartend und aufmerksam sah er zu, wie der Maler erbleichte und die Hände sinken ließ. Er sah das feste, knochige Gesicht schwach und hilflos werden, sah den Mund seine scharfe Spannung verlieren und die Augen blicklos irren. Er sah den Mund sich krümmen und leise zittern, und sah die Lider über die Augen sinken wie bei einem Ohnmächtigen. Er beobachtete und wartete. Und dann sah er den Mund des Malers sich zusammenraffen, die Augen von neuem Willen belebt, nur die tiefe Blässe war geblieben. Er sah, der Maler war bereit, ihn zu hören.

„Was ist es, Doktor? Sie brauchen mich nicht zu schonen, reden Sie nur. – Sie glauben doch nicht, daß Pierre sterben muß?“

Nun rückte der Sanitätsrat mit seinem Stuhl etwas näher. Er sprach ganz leise, aber scharf und deutlich.

„Das kann niemand sagen. Aber wenn ich mich nicht ganz täusche, ist der Kleine sehr gefährlich krank.“

Veraguth sah ihm in die Augen.

„Muß er sterben? Ich möchte wissen, ob Sie glauben, daß er sterben muß. Verstehen Sie – ich möchte es wissen.“

Der Maler war, ohne es zu wissen, aufgestanden und wie drohend vorgetreten. Der Arzt legte ihm die Hand auf den Arm, er zuckte zusammen und sank alsbald wie beschämt wieder in den Sessel zurück.

„Es hat keinen Sinn, so zu reden,“ fing der Sanitätsrat wieder an. „Über Tod und Leben entscheiden wir nicht, da werden wir Ärzte selber täglich überrascht. Für uns muß jeder Kranke, solange er überhaupt noch atmet, eine Hoffnung sein, wissen Sie. Wo kämen wir sonst hin!“

Geduldig nickte Veraguth und fragte nur: „Also, was ist es?“

Der Arzt hustete kurz.

„Wenn ich mich nicht täusche, ist es Gehirnhautentzündung.“

Veraguth saß still und sprach das Wort leise nach. Dann erhob er sich und streckte dem Arzt die Hand hin.

„Also Gehirnhautentzündung,“ sagte er, und sprach ganz langsam und vorsichtig, weil ihm der Mund wie bei großer Kälte zitterte. „Ist das denn überhaupt heilbar?“

„Es ist alles heilbar, Herr Veraguth. Mancher legt sich mit Zahnschmerzen hin und ist nach ein paar Tagen tot, ein anderer hat alle Symptome der schwersten Krankheit und kommt davon.“

„Ja, ja. Und kommt davon! Ich will nun gehen, Herr Doktor. Sie haben sich viel Mühe mit mir gegeben. Aber Gehirnhautentzündung ist also nicht heilbar?“

„Lieber Herr ...“

„Verzeihen Sie. Sie haben vielleicht schon andere Kinder mit dieser Ge–– mit dieser Krankheit behandelt? Ja? Sehen Sie! – Leben diese Kinder noch?“

Der Sanitätsrat schwieg.

„Leben vielleicht zwei davon noch, oder eins?“

Es kam keine Antwort.

Der Arzt hatte sich, wie unwillig, zum Schreibtisch gewendet und ein Fach geöffnet.

„Werfen Sie die Flinte nicht so ins Korn!“ sagte er mit verändertem Ton. „Ob Ihr Kind davonkommt, wissen wir nicht. Es ist in Gefahr, und wir müssen ihm helfen, soviel wir können. Wir alle müssen ihm helfen, verstehen Sie, und Sie auch. Ich brauche Sie. – – Ich komme abends noch einmal hinaus. Für alle Fälle gebe ich Ihnen hier ein Schlafpulver mit, vielleicht können Sie selbst es brauchen. Und nun hören Sie: der Kleine muß volle Ruhe haben und soll möglichst kräftige Nahrung bekommen. Das ist die Hauptsache. Wollen Sie daran denken.“

„Gewiß. Ich werde nichts vergessen.“

„Wenn er Schmerzen hat oder sehr unruhig wird, helfen laue Bäder oder Wickel. Haben Sie einen Eisbeutel? Ich werde einen mitbringen. Sie haben doch Eis draußen? Also gut. – Wir wollen hoffen, Herr Veraguth! Es geht jetzt nicht an, daß einer von uns den Mut verliert, wir müssen alle auf dem Posten sein. Nicht wahr?“

Er schöpfte aus Veraguths Gebärde Vertrauen und begleitete ihn hinaus.

„Wollen Sie meinen Wagen haben? Ich brauche ihn erst um fünf Uhr wieder.“

„Danke, ich gehe zu Fuß.“

Er ging die Straße hinab, die leer war wie vorher. Aus jenem offenen Fenster klang immer noch die unfrohe Schülermusik. Er sah auf die Uhr, es war nur eine halbe Stunde vergangen. Langsam ging er weiter, Straße um Straße, rundum durch die halbe Stadt. Er scheute sich, sie zu verlassen. Hier drinnen, in diesem blöden armen Häuserhaufen, da war Medizingeruch und Krankheit, da war Not und Angst und Tod zu Hause, da trugen hundert freudelos schmachtende Gassen alles Schwere mit und man war nicht allein. Aber draußen, schien ihm, unter Bäumen und klarem Himmel, zwischen Sensengeläute und Grillenzirpen mußte der Gedanke an das alles viel schrecklicher, viel sinnloser, viel verzweifelter sein.

Es war Abend, als er staubig und todmüde nach Hause kam. Der Arzt war schon dagewesen, aber Frau Adele war ruhig und schien noch nichts zu wissen.

Während der Abendmahlzeit unterhielt sich Veraguth mit Albert über die Pferde. Er fand immer wieder etwas zu sagen, und Albert ging darauf ein. Sie sahen, daß Papa sehr müde sei, sonst nichts. Er aber dachte mit fast höhnischem Ingrimm immer wieder: „Ich könnte den Tod in den Augen haben und sie würden nichts merken! Das ist meine Frau, und das ist mein Sohn! Und Pierre stirbt!“ So dachte er in traurigem Kreislauf, während er mit hölzerner Zunge Worte formte, die niemanden interessierten. Und dann kam noch ein Gedanke dazu: „So ist es recht! So will ich allein mein Leid austrinken, bis der letzte bittere Tropfen erschöpft ist. So will ich sitzen und heucheln und meinen armen Kleinen sterben sehen. Und wenn ich dann noch lebe, dann ist nichts mehr, das mich bindet, und nichts, das mir weh tun kann, dann will ich gehen und will nie in meinem Leben mehr lügen, nie mehr einer Liebe glauben, nie mehr abwarten und feig sein ... Dann will ich nur noch Leben und Tat und Vorwärtsgehen kennen, keinen Frieden mehr, keine Trägheit mehr.“

In dunkler Wollust fühlte er das Weh in seinem Herzen brennen, wild und unerträglich, aber rein und groß, wie er noch nichts und noch nie gefühlt hatte, und vor der göttlichen Flamme sah er sein kleines, unfrohes, unaufrichtiges und mißgestaltetes Leben wertlos dahinsinken, keines Gedankens und nicht einmal eines Tadels mehr wert.

So saß er noch eine Abendstunde lang im halbdunkeln Krankenzimmer bei dem Knaben, und so lag er eine brennend schlaflose Nacht, mit Inbrunst seinem fressenden Leid hingegeben, nichts hoffend und nichts begehrend, als von diesem Feuer verzehrt und reingebrannt zu werden bis in die letzte zuckende Faser. Er verstand, daß es so sein müsse, daß er gerade das Liebste und Beste und Reinste, was er besessen, weggeben und sterben sehen müsse.

Sechzehntes Kapitel

Es ging Pierre schlecht, und sein Vater saß beinahe den ganzen Tag bei ihm. Der Knabe hatte immerzu Kopfschmerzen, er atmete rasch und jeder Atemzug war ein kleines, banges Stöhnen. Zuweilen wurde sein kleiner, magerer Körper von kurzen Zuckungen geschüttelt oder bäumte sich in steilem Bogen auf. Dann lag er wieder lange vollkommen regungslos, und schließlich überfiel ihn ein krampfhaftes Gähnen. Dann schlief er eine Stunde und begann nach dem Erwachen wieder dieses regelmäßige, klagende Seufzen, mit jedem Atemzug.

Er hörte nicht, was man zu ihm sagte, und wenn man ihn, fast mit Gewalt, emporrichtete und ihm zu essen eingab, nahm er es in mechanischer Gleichgültigkeit. Beim schwachen Licht, denn die Vorhänge waren dicht geschlossen, saß Veraguth lange Zeit mit tiefer Aufmerksamkeit über den kleinen Knaben gebückt und schaute mit frierendem Herzen zu, wie aus dem hübschen vertrauten Knabengesicht ein lieber zarter Zug um den andern abhanden kam und dahinschwand. Was übrigblieb, war ein bleiches frühaltes Gesicht, eine unheimliche Maske des Leidens, mit vereinfachten Zügen, in welchen nichts als Schmerz und Ekel und tiefes Grauen zu lesen war.

Zuweilen sah der Vater dieses entstellte Gesicht in Augenblicken des Schlummers weich werden und einen Schimmer vom verlorenen Liebreiz seiner gesunden Tage wiedergewinnen, dann schaute er unverwandt mit dürstender Liebesgier, sich die hinsterbende Lieblichkeit noch einmal und noch einmal einzuprägen. Dann schien ihm, in seinem ganzen Leben habe er nie gewußt, was Liebe sei, nie bis zu diesen Augenblicken des Wachens und Schauens.

Frau Adele war tagelang ahnungslos geblieben, erst allmählich hatte sie Veraguths gespanntes und sonderbar entrücktes Wesen bemerkt und schließlich beargwöhnt, und wieder erst nach Tagen begann sie den Zusammenhang zu ahnen. Da nahm sie ihn an einem Abend, als er Pierres Zimmer verließ, beiseite und sagte kurz mit einem Ton von Kränkung und Bitterkeit: „Was ist nun mit Pierre? Was ist es? Ich sehe, daß du etwas weißt.“

Er sah sie wie aus tiefer Zerstreutheit an und sagte mit trockenen Lippen: „Ich weiß nicht, Kind. Er ist sehr krank. Siehst du das nicht?“

„Ich sehe es. Ich will nun wissen, was es ist! Ihr behandelt ihn ja fast wie einen Todkranken, du und der Doktor. Was hat er dir gesagt?“

„Er hat mir gesagt, es stehe schlimm und wir müßten sehr für ihn Sorge tragen. Es ist eine Art Entzündung in seinem armen Kopf. Wir wollen morgen den Doktor bitten, daß er uns mehr sagt.“

Sie lehnte sich an einen Bücherschrank und griff mit der Hand über sich in die Falten des grünen Vorhanges. Da sie schwieg, blieb er geduldig stehen, sein Gesicht war grau und seine Augen sahen entzündet aus. Er zitterte schwach mit den Händen, doch stand er beherrscht und hatte eine Art von Lächeln, einen seltsamen Schimmer von Ergebung, Geduld und Höflichkeit im Gesicht.

Langsam kam sie zu ihm herüber. Sie legte ihm die Hand auf den Arm und schien in den Knien schwach zu werden. Ganz leise flüsterte sie: „Du glaubst, daß er sterben muß?“

Veraguth hatte noch immer das schwache, törichte Lächeln um den Mund, aber es liefen ihm kleine, hastige Tränen übers Gesicht. Er nickte nur schwach mit dem Kopf, und da sie an ihm niederglitt und den Halt verlor, hob er sie auf und half ihr auf einen Stuhl.

„Man kann es ja nicht sicher wissen,“ sagte er langsam und schwerfällig, als wiederhole er mit Ekel eine alte Lektion, die ihm längst überdrüssig geworden wäre. „Man darf den Mut nicht verlieren.“

„Man darf den Mut nicht verlieren,“ wiederholte er nach einer Weile mechanisch, da sie wieder Kraft gewann und sich aufrecht setzte.

„Ja,“ sagte sie, „ja, du hast recht.“ Und wieder nach einer Pause: „Es kann nicht sein. Es kann nicht sein.“

Und plötzlich stand sie wieder aufrecht, hatte Leben in den Augen und alle Züge voll Verständnis und Trauer.

„Nicht wahr,“ sagte sie laut, „du wirst nicht zurückkommen? Ich weiß es. Du willst uns verlassen?“

Er sah wohl, daß es ein Augenblick war, der keine Unaufrichtigkeit erlaube. Darum sagte er kurz und ohne Ton: Ja.

Sie wiegte den Kopf hin und her, als müsse sie stark nachsinnen und könne nicht damit fertig werden. Was sie aber nun sagte, kam aus keinem Nachdenken und Überlegen, sondern floß ganz unbewußt aus der trüben, trostlosen Bedrängtheit der Stunde, aus einer mutlosen Müdigkeit und vor allem aus einem dunkeln Bedürfnis, irgend etwas gutzumachen und irgend jemandem, der dafür noch erreichbar wäre, Gutes zu erweisen.

„Ja,“ sagte sie, „ich habe es mir so gedacht. Aber höre, Johann, Pierre darf nicht sterben! Es darf nicht alles und alles jetzt auf einmal zusammenbrechen! Und weißt du – ich möchte dir das noch sagen: Wenn er wieder gesund wird, sollst du ihn haben. Hörst du? Er soll bei dir bleiben.“

Veraguth verstand nicht sofort. Nur langsam wurde ihm klar, was sie gesagt habe, und daß nun das, worum er mit ihr gestritten und um dessentwillen er Jahre und Jahre gezögert und gelitten hatte – daß das ihm nun, wo es zu spät war, zugesprochen werde.

Es kam ihm unsäglich sinnlos vor, nicht nur daß er jetzt plötzlich haben sollte, was sie ihm so lange versagt hatte, sondern noch mehr, daß Pierre just in dem Augenblicke ihm gehören solle, wo er dem Tod verfallen war. Nun würde er ihm also doppelt sterben! Es war verrückt, es war um zu lachen! Es war so grotesk und widersinnig, daß er wirklich nahe daran war, in ein bitteres Gelächter auszubrechen.

Aber sie meinte es ohne Zweifel ernst. Sie glaubte offenbar noch nicht ganz daran, daß Pierre sterben müsse. Es war gütig, es war ein ungeheures Opfer von ihr, das sie in der schmerzvollen Verwirrung des Augenblicks aus irgendeiner dunkeln guten Regung bringen wollte. Er sah, wie sie litt, wie sie bleich war und sich mit Mühe aufrecht hielt. Er durfte nicht zeigen, daß er ihr Opfer, ihre seltsame verspätete Großmut wie eine tödliche Verhöhnung empfand.

Sie begann schon mit Befremdung auf ein Wort von ihm zu warten. Warum sagte er nichts? Glaubte er ihr nicht? Oder war er ihr so fremd geworden, daß er nichts von ihr annehmen wollte, auch nicht dieses größte Opfer, das sie ihm bringen konnte?

Schon begann ihr Gesicht vor Enttäuschung zu zucken, da fand er die Herrschaft über sich wieder. Er nahm ihre Hand, bückte sich und berührte sie leicht mit kühlen Lippen, und sagte: „Ich danke dir.“

Da kam ihm ein Gedanke, und mit wärmerem Ton fügte er hinzu: „Nun will ich aber auch für Pierre sorgen dürfen. Laß mich die Nacht bei ihm wachen!“

„Wir werden abwechseln,“ sagte sie mit Entschiedenheit.

Pierre war an diesem Abend sehr ruhig. Es brannte ein kleines Nachtlicht auf dem Tische, dessen schwacher Schein den kleinen Raum nicht füllte und sich gegen die Türe hin in braune Dämmerung verlor. Veraguth hörte noch lange dem Atmen des Knaben zu, dann legte er sich auf den schmalen Diwan, den er sich hatte hereinbringen lassen.

In der Nacht, gegen zwei Uhr, erwachte Frau Adele, machte Licht und stand auf. Die Kerze in der Hand, kam sie in einen Schlafrock gehüllt herüber. Sie fand alles still. Pierre zitterte leicht mit den Wimpern, als das Licht sein Gesicht berührte, wachte aber nicht auf. Und auf dem Diwan lag, in den Kleidern und leicht zusammengekrümmt, ihr Mann im Schlafe.

Sie leuchtete auch ihm ins Gesicht und blieb eine kleine Weile bei ihm stehen. Und sie sah sein Gesicht aufrichtig und unverstellt, mit allen Falten und ergrauten Haaren, die Wangen erschlafft und die Augen unterhöhlt.

„Auch er ist alt geworden,“ dachte sie mit einer Empfindung, die halb Mitleid und halb Genugtuung war, und fühlte sich versucht, ihm das struppige Haar zu streicheln. Doch tat sie es nicht. Sie ging unhörbar wieder hinaus, und als sie nach Stunden morgens wiederkam, saß er längst wach und aufmerksam an Pierres Bett und sein Mund und der Blick, mit dem er grüßte, war wieder straff von der geheimnisvollen Kraft und Entschlossenheit, in die er seit Tagen wie in einen Panzer gehüllt ging.

Für Pierre kam heute ein schlechter Tag. Er schlief lange und lag dann mit offenen Augen und erstarrtem Blick, bis eine neue Welle von Schmerzen ihn erweckte. Er warf sich tobend im Bett umher, ballte die kleinen Fäuste und drückte sie auf die Augen, sein Gesicht war bald totenhaft weiß, bald glühend rot. Und dann begann er zu schreien, in ohnmächtiger Empörung gegen unerträgliche Qualen, und schrie so lange und so jammervoll, daß sein Vater schließlich blaß und vernichtet hinweggehen mußte, weil er es nimmer mit anhören konnte.

Er ließ den Arzt kommen, der an diesem Tage noch zweimal wiederkehrte und am Abend eine Pflegerin mitbrachte. Gegen Abend verlor Pierre das Bewußtsein, man schickte die Pflegerin zu Bett und Vater und Mutter blieben die ganze Nacht wach im Gefühl, das Ende könne nimmer fern sein. Der Kleine rührte sich nicht und sein Atem ging unregelmäßig, aber kräftig.

Veraguth und seine Frau aber dachten beide an die Zeit, da Albert einst sehr krank gewesen war und sie ihn gemeinsam gepflegt hatten. Und sie empfanden beide, daß wichtige Erlebnisse sich nicht wiederholen können. Mild und etwas müde sprachen sie mit flüsternden Stimmen über das Krankenbett hinweg miteinander, aber kein Wort von der Vergangenheit, kein Wort von damals. Gespenstisch berührte sie die Ähnlichkeit der Situation und des Geschehens, sie selbst waren andere geworden, sie waren nicht mehr dieselben Menschen, die damals genau so wie jetzt über ein todkrankes Kind gebeugt miteinander gewacht und gelitten hatten.

Albert hatte indessen, von der stillen Unruhe und schleichenden Sorge im Hause bedrückt, nicht einschlafen können. Mitten in der Nacht erschien er auf Zehenspitzen halbangekleidet in der Türe, kam mit erregtem Flüstern herein und fragte, ob er nichts tun, nicht etwas helfen könne.

„Danke,“ sagte Veraguth, „aber es ist nichts zu tun. Geh du schlafen und bleibe gesund!“

Aber als jener gegangen war, bat er seine Frau: „Geh du ein wenig zu ihm hinüber und tröste ihn.“

Das tat sie gerne, und sie empfand es als eine Freundlichkeit von ihm, daß er daran gedacht hatte.

Erst gegen Morgen folgte sie dem Zureden ihres Mannes und ging zu Bett. Bei Tagesanbruch erschien die Pflegerin und löste ihn ab. Bei Pierre hatte sich nichts verändert.

Unschlüssig ging Veraguth durch den Park, er hatte keine Lust, noch zu schlafen. Doch mahnten ihn die brennenden Augen und ein ersticktes, schlaffes Gefühl der Haut. Er badete im See und hieß Robert Kaffee bringen. Dann betrachtete er im Atelier seine Waldstudie. Sie war frisch und flott gemalt, aber es war doch nicht eigentlich das, was er gesucht hatte, und nun war es mit dem geplanten Bilde und mit dem Malen auf Roßhalde vorbei.

Siebzehntes Kapitel

Seit einigen Tagen war es Pierre immer gleich gegangen. Ein- oder zweimal am Tage bekam er Krämpfe und Schmerzanfälle, sonst lag er mit dämmernden Sinnen halbschlummernd. Das warme Wetter hatte sich inzwischen in einer ganzen Reihe von Gewittern erschöpft, es war kühl geworden, und im schwach strömenden Regen verlor der Garten und die Welt den satten Sommerglanz.

Veraguth hatte die Nacht endlich einmal wieder im eigenen Bett zugebracht und viele Stunden tief geschlafen. Jetzt, da er sich bei offenen Fenstern entkleidete, nahm er erst die trübe Kühle wahr; in den letzten Tagen war er wie in Fiebermüdigkeit einhergegangen. Er beugte sich aus dem Fenster und atmete, vor Kühle leise schauernd, die Regenluft des lichtlosen Morgens ein. Es roch nach nasser Erde und nach Herbstnähe, und er, der die Merkmale der Jahreszeiten mit überfeinen Sinnen zu erfühlen gewohnt war, bemerkte mit Verwunderung, wie ihm dieser Sommer fast ohne Spur wie ungefühlt entschwunden war. Ihm schien es, als habe er in Pierres Krankenzimmer nicht Tage und Nächte, sondern Monate hingebracht.

Er warf den Gummimantel über und ging ins Haus. Er erfuhr, der Kleine sei früh erwacht, schlafe aber seit einer Stunde wieder, und so leistete er Albert beim Frühstück Gesellschaft. Der große Junge nahm sich Pierres Krankheit sehr zu Herzen und litt, ohne es merken lassen zu wollen, unter der gedämpften Krankenatmosphäre und sorgenschweren Bedrücktheit des Hauses.

Als Albert weggegangen war, um sich in seinem Zimmer an die Schularbeiten zu machen, ging Veraguth zu Pierre, der noch schlief, und nahm seinen Platz am Bette ein. Er hatte in diesen Tagen manchmal gewünscht, es möge doch lieber rasch zu Ende gehen, schon um des Kindes willen, das längst kein Wort mehr sprach und so erschöpft und gealtert aussah, als wisse es selber, daß ihm nicht mehr zu helfen sei. Dennoch wollte er keine Stunde versäumen und hielt seinen Posten am Krankenbett mit einer eifersüchtigen Leidenschaft inne. Ach, wie oft war der kleine Pierre einst zu ihm gekommen und hatte ihn müde oder gleichgültig gefunden, in die Arbeit vertieft oder an Sorgen verloren, wie oft hatte er zerstreut und ohne Teilnahme diese kleine magere Hand in der seinen gehalten und kaum auf die Worte des Kindes gehört, deren jedes nun eine unschätzbare Kostbarkeit geworden war! Davon war nichts gutzumachen. Aber jetzt, da der arme Kerl in Qualen lag und allein mit seinem unbewehrten, verwöhnten Kinderherzen dem Tod gegenüberstand, jetzt, da er in wenigen Tagen alle Lähmung, allen Schmerz und alle angstvolle Verzweiflung durchkosten mußte, mit denen Krankheit, Schwäche, Altern und Todesnähe ein Menschenherz schrecken und erdrücken, jetzt wollte er immer und immer bei ihm sein. Er wollte es, um sich selbst zu strafen und weh zu tun, und er wollte es, um ja nicht zu fehlen und vermißt zu werden, wenn je ein Augenblick käme, wo der Kleine nach ihm begehren würde und wo er ihm einen kleinen Dienst, ein wenig Liebe erweisen könnte.

Und siehe, an diesem Morgen wurde er belohnt. An diesem Morgen schlug Pierre die Augen auf, lächelte ihn an und sagte mit einer schwachen, zärtlichen Stimme: „Papa!“

Dem Maler schlug das Herz stürmisch, als er endlich die lang vermißte Stimme wieder hörte, die ihn rief und sich zu ihm bekannte und die so dünn und schwach geworden war. So lange hatte er diese Stimme nur noch stöhnen und in dumpfen Leiden elend lallen hören, daß er vor Freude tief erschrak.

„Pierre, mein Lieber!“

Er bückte sich zärtlich herab und küßte den lächelnden Mund. Pierre sah frischer und glücklicher aus, als er ihn je wieder zu sehen gehofft hatte, die Augen waren klar und bewußt, die tiefe Falte zwischen den Brauen war beinahe verschwunden.

„Mein Herz, geht dir’s besser?“

Der Knabe lächelte und sah ihn wie verwundert an. Der Vater bot ihm die Hand und er legte sein Händchen hinein, das niemals sehr stark gewesen und nun so klein und weiß und müde war.

„Nun sollst du gleich Frühstück bekommen, und nachher erzähle ich dir Geschichten.“

„O ja, vom Herrn Rittersporn und von den Sommervögeln,“ sagte Pierre, und wieder war es seinem Vater wie ein Wunder, daß er sprach und lächelte und wieder ihm gehörte.

Er brachte ihm sein Frühstück, Pierre aß willig und ließ sich noch zu einem zweiten Ei überreden. Dann verlangte er nach seinem Lieblingsbilderbuch. Der Vater schob vorsichtig einen der Vorhänge beiseite, das bleiche Licht des Regentages kam herein und Pierre versuchte aufzusitzen und Bilder anzusehen. Es schien ihm keine Schmerzen zu machen, aufmerksam betrachtete er mehrere Blätter und begrüßte die lieben Bilder mit kleinen Ausrufen der Freude. Dann ermüdete ihn das Sitzen und die Augen begannen wieder ein wenig zu schmerzen. Er ließ sich zurücklegen und bat den Papa, ihm ein paar von den Versen vorzulesen, vor allem von dem kriechenden Günsel, der zum Apotheker Gundermann kommt:

O Apotheker Gundermann,

O helft mir doch mit Salben!

Ihr seht, wie schlecht ich gehen kann,

Es reißt mich allenthalben!

Veraguth gab sich Mühe, er las so frisch und schelmisch, als er irgend konnte, und Pierre lächelte dankbar. Doch schienen die Verse nicht mehr ihre alte Kraft zu haben, als sei Pierre, seit er sie nimmer gehört, um Jahre älter geworden. Mit den Bildern und Versen kam wohl die Erinnerung an viele helle, lachend frohe Tage wieder, die alte Freude und übermütige Lust aber konnte nicht wiederkommen, und ohne es zu begreifen, blickte der Kleine in die eigene Kindheit, die vor Tagen, vor Wochen noch Wirklichkeit gewesen war, schon mit der Sehnsucht und Trauer eines Erwachsenen hinüber. Er war kein Kind mehr. Er war ein Kranker, dem die Welt der Wirklichkeit schon entglitten war und dessen hellsichtig gewordene Seele schon überall und ringsum mit ängstlicher Witterung den wartenden Tod erfühlte.

Dennoch war dieser Morgen voll Licht und Glück, nach all den furchtbaren Tagen. Pierre war still und dankbar und Veraguth fand sich wider seinen Willen immer wieder von ahnender Hoffnung berührt. Es war am Ende doch möglich, daß der Knabe ihm erhalten blieb! Und dann gehörte er ihm; ihm allein!

Der Sanitätsrat kam und blieb lange an Pierres Bett, ohne ihn mit Fragen und Untersuchungen zu quälen. Erst jetzt kam auch Frau Adele dazu, die sich mit der Pflegerin in die letzte Nachtwache geteilt hatte. Sie war von der merkwürdigen Besserung wie benommen, sie hielt Pierres Hände so fest, daß es ihm weh tat, und gab sich keine Mühe, die erlösenden Tränen zu verbergen, die ihr aus den Augen liefen. Auch Albert durfte eine kleine Weile hereinkommen.

„Es ist wie ein Wunder,“ sagte Veraguth zum Doktor. „Sind Sie nicht auch überrascht?“

Der Sanitätsrat nickte und lächelte freundlich. Er widersprach nicht, aber er zeigte offenbar keine übermäßige Freude. Sogleich wurde der Maler wieder von Mißtrauen überfallen. Er beobachtete jede Gebärde des Arztes und er sah in dessen Augen, während sein Gesicht lächelte, die kalte Aufmerksamkeit und beherrschte Sorge ungelöst. Nachher belauschte er lauernd durch den Türspalt das Gespräch des Doktors mit der Pflegerin, und obwohl er kaum ein Wort davon verstehen konnte, meinte er doch aus dem strengen, gemessen ernsten Flüsterton nichts als Gefahr herauszuhören.

Schließlich begleitete er ihn zum Wagen und fragte in der letzten Minute: „Sie halten nicht viel von dieser Besserung?“

Das häßliche, beherrschte Gesicht wandte sich zu ihm zurück. „Seien Sie froh, daß er ein paar gute Stunden hat, der arme Bursche! Wir wollen hoffen, daß es recht lange anhält.“

Es stand nichts von Hoffnung in seinen klugen Augen zu lesen.

Eilig, um keinen Augenblick zu verlieren, kehrte er ins Krankenzimmer zurück. Die Mutter erzählte gerade die Geschichte vom Dornröschen, er setzte sich daneben und sah zu, wie Pierres Züge dem Märchen folgten.

„Soll ich noch etwas erzählen?“ fragte Frau Adele.

Der Knabe blickte aus großen, ruhigen Augen auf.

„Nein,“ sagte er etwas müde. „Später.“

Sie ging, nach der Küche zu sehen, und der Vater nahm Pierres Hand. Sie schwiegen beide, aber von Zeit zu Zeit sah Pierre mit einem schwachen Lächeln auf, als freue er sich, daß Papa bei ihm sei.

„Nun geht es dir viel besser,“ sagte Veraguth schmeichelnd.

Pierre errötete leicht, seine Finger bewegten sich spielend in des Vaters Hand.

„Nicht wahr, du hast mich lieb, Papa?“

„Gewiß, Schatz. Du bist mein lieber Junge, und wenn du wieder gesund bist, wollen wir immer beieinander bleiben.“

„Ja, Papa ... Ich bin einmal im Garten gewesen, und da war ich ganz allein und ihr habt mich alle nimmer liebgehabt. Ihr müßt mich aber liebhaben, und ihr müßt mir helfen, wenn es wieder weh tut. O, es hat mir so weh getan!“

Er hatte die Augen halb geschlossen und sprach so leise, daß Veraguth sich dicht zu seinem Munde hinabbeugen mußte, um ihn zu verstehen.

„Ihr müßt mir helfen. Ich will artig sein, immer, ihr dürft mich nicht schelten! Nicht wahr, ihr scheltet mich nie? Du mußt es auch Albert sagen.“

Seine Lider zitterten und öffneten sich wieder, aber der Blick war dunkel und die Pupillen übergroß.

„Schlafe, Kind, schlaf nur! Du bist müde. Schlafe, schlafe, schlafe.“

Veraguth schloß ihm vorsichtig die Lider und summte ihn ein, wie er es früher in Pierres Babyzeiten manchmal getan hatte. Und der Kleine schien einzuschlafen.

Nach einer Stunde kam die Pflegerin, um Veraguth zu Tische zu bitten und inzwischen bei Pierre zu bleiben. Er ging ins Speisezimmer, nahm still und zerstreut einen Teller Suppe und hörte kaum, was neben ihm gesprochen wurde. Das angstvoll zärtliche Liebesgeflüster des Kindes klang süß und traurig in ihm fort. Ach wie viel hundertmal hätte er so mit Pierre reden und das naive Vertrauen seiner sorglosen Liebe spüren können, und hatte es nicht getan!

Mechanisch griff er nach der Flasche, um sich Wasser einzuschenken. Da klang von Pierres Zimmer schneidend ein lauter, gellender Schrei herüber, der riß Veraguths wehmütigen Traum mitten durch. Alle sprangen mit erbleichten Gesichtern empor, die Flasche fiel um, rollte über den Tisch und klirrte zu Boden.

Mit einem Sprung war Veraguth aus der Türe und drüben.

„Den Eisbeutel!“ rief die Pflegerin.

Er hörte nichts. Nichts als den furchtbaren, verzweifelnden Schrei, der ihm im Bewußtsein stak wie ein Messer in der Wunde. Er stürzte ans Bett.

Da lag Pierre schneeweiß mit gräßlich verzogenem Munde, seine abgemagerten Glieder krümmten sich in wütenden Krämpfen, die Augen stierten in vernunftlosem Entsetzen. Und plötzlich tat er nochmals einen Schrei, noch wilder und heulender, und bäumte sich hoch im Bogen auf, daß die Bettstatt zitterte, ließ sich fallen und bog sich wieder empor, vom Schmerz gespannt und zusammengebogen wie eine Gerte von zornigen Knabenhänden.

Alle standen entsetzt und hilflos, bis die Befehle der Pflegerin Ordnung schafften. Veraguth lag auf den Knien vor dem Bett und suchte zu verhindern, daß Pierre in seinen Zuckungen sich verletze. Trotzdem hieb sich der Kleine die rechte Hand an dem metallenen Bettrande blutig. Dann sank er zusammen, drehte sich um, daß er auf den Bauch zu liegen kam, verbiß sich schweigend ins Kissen und fing an, mit dem linken Bein taktmäßig auszuschlagen. Er hob das Bein, ließ es mit einer stampfenden Bewegung wieder fallen, ruhte einen Augenblick und begann dann dieselbe Bewegung von neuem, zehnmal, zwanzigmal, und immer weiter.

Die Frauen waren an der Arbeit, Umschläge vorzubereiten, Albert hatte man weggeschickt. Veraguth kniete noch immer und sah zu, wie mit unheimlicher Regelmäßigkeit unter der Decke das Bein sich hob, sich streckte und niederfiel. Da lag sein Kind, dessen Lächeln noch vor Stunden wie ein Sonnenschein gewesen war und dessen flehendes Liebesgestammel noch eben sein Herz bis in die letzte Tiefe gerührt und bezaubert hatte. Da lag es und war nichts als ein mechanisch zuckender Körper, ein armes hilfloses Bündel von Schmerz und Jammer.

„Wir sind bei dir,“ rief er verzweifelt. „Pierre, Kind, wir sind da und wollen dir helfen!“

Aber es gab keinen Weg mehr von seinen Lippen zur Seele des Knaben, und alles beschwörende Trösten und sinnlose Zärtlichkeitsgeflüster drang nicht mehr an die furchtbare Einsamkeit des Sterbenden. Der war weit weg in einer anderen Welt, er wanderte dürstend durch ein Höllental voll Pein und Todesnot, und vielleicht schrie er dort jetzt eben nach dem, der neben ihm auf seinen Knien lag und der gerne jede Qual gelitten hätte, um seinem Kinde zu helfen.

Jedermann wußte, daß dies das Ende war. Seit jenem ersten Schrei, der sie aufgeschreckt hatte und der so bitter voll von tiefem, tierischem Leid gewesen war, stand auf jeder Schwelle und in jedem Fenster des Hauses der Tod. Niemand sprach von ihm, aber alle hatten ihn erkannt, auch Albert und auch die Mägde unten, und selbst der Hund, der auf dem Kiesplatz unruhig im Regen hin und wider lief und zuweilen ängstlich winselte. Und ob man sich auch Mühe gab und Wasser kochte, Eis auflegte und emsig zu tun hatte, es war kein Kämpfen mehr, es war keine Hoffnung mehr dabei.

Pierre war nicht mehr bei Bewußtsein. Er zitterte am ganzen Leibe, als fröre er, zuweilen schrie er schwach und irr, und immer wieder, nach jeder erschöpften Pause, begann aufs neue das Bein zu schlagen und zu stampfen, taktmäßig wie von einem Uhrwerk getrieben.

So ging der Nachmittag hin, und der Abend, und schließlich die Nacht, und als in der ersten Frühe der kleine Kämpfer seine Kraft verbraucht hatte und sich dem Feind ergab, da blickten über sein Bett hinweg die Eltern sich aus übernächtigen Gesichtern wortlos an. Johann Veraguth legte seine Hand auf Pierres Herz und konnte keinen Schlag mehr fühlen, und er ließ die Hand auf der hageren Brust des Kindes liegen, bis sie kühl und bis sie kalt wurde.

Dann strich er sachte mit der Hand über Frau Adeles gefaltete Hände und sagte flüsternd: „Es ist zu Ende.“ Und während er seine Frau aus dem Zimmer führte und sie stützte und ihrem heiseren Schluchzen zuhörte, während er sie der Pflegerin überließ und an Alberts Tür horchte, ob er wach sei, während er zu Pierre zurückkehrte und den Toten besser bettete und zurechtlegte, fühlte er die Hälfte seines Lebens in sich abgestorben und zur Ruhe gekommen.

Gefaßt tat er das Notwendige, und schließlich überließ er den Toten der Pflegerin und legte sich zu einem kurzen, tiefen Schlafe nieder. Als das volle Tageslicht durch die Fenster seiner Kammer schien, wurde er wach, erhob sich sofort und ging an die letzte Arbeit, die er auf Roßhalde noch zu tun gesonnen war. Er ging in Pierres Schlafzimmer, zog alle Vorhänge weg und ließ den kühlen, herbstlichen Tag auf das kleine weiße Gesicht und die starren Händchen seines Lieblings scheinen. Dann setzte er sich zur Bettstatt, breitete einen Karton aus und zeichnete zum letztenmal die Züge, die er so oft studiert, die er seit ihrer zarten Werdezeit gekannt und geliebt hatte und die jetzt vom Tode gereift und vereinfacht, aber noch immer voll von unbegriffenem Leide waren.

Achtzehntes Kapitel

Die Sonne schien feurig durch die Ränder der schlaffen, müdgeregneten Wolken, als die kleine Familie von Pierres Begräbnis nach Hause fuhr. Frau Adele saß aufrecht im Wagen, ihr ausgeweintes Gesicht sah seltsam hell und starr aus dem schwarzen Hut und dem hochgeschlossenen schwarzen Trauerkleide. Albert hatte geschwollene Lidränder und hielt beständig seiner Mutter Hand in der seinen.

„Also ihr reiset beide morgen,“ sagte Veraguth ermunternd. „Macht euch keine Sorgen, ich werde alles tun, was hier noch notwendig ist. Mut, mein Junge, es kommen wieder bessere Zeiten!“

Sie stiegen vor Roßhalde aus. Die tropfenden Zweige der Kastanien funkelten brennend im Licht. Geblendet traten sie in das stille Haus, wo die Mädchen flüsternd in Trauerkleidern warteten. Pierres Zimmer hatte der Vater abgeschlossen.

Es war Kaffee bereit, und die drei setzten sich um den Tisch.

„Ich habe in Montreux Zimmer für euch bestellt,“ fing Veraguth wieder an. „Seht zu, daß ihr euch gut erholt! Auch ich will reisen, sobald ich hier fertig bin. Robert wird hierbleiben und das Haus in Ordnung halten. Er wird meine Adresse haben.“

Niemand hörte auf ihn, eine tiefe, beschämende Nüchternheit drückte wie ein Frost auf alle. Frau Adele sah starr vor sich nieder und las Brosamen vom Tischtuch. Sie schloß sich in ihre Trauer ein und wollte sich durch nichts daraus wecken lassen, und Albert ahmte ihr nach. Seit der kleine Pierre tot lag, war der Anschein von Zusammengehörigkeit in der Familie wieder dahingeschwunden, wie die Höflichkeit aus dem Gesicht eines mühsam Beherrschten, wenn ein gefürchteter mächtiger Gast wieder abgereist ist. Es war einzig Veraguth, der über alle Tatsachen hinweg bis zum letzten Augenblick seine Rolle weiterspielte und die Maske festhielt. Er fürchtete, irgendeine weibliche Szene möchte ihm den Abschied von Roßhalde noch verderben, und im Herzen wartete er sehnlichst auf die Stunde, wo die beiden abgereist sein würden.

So allein war er nie gewesen wie am Abend dieses Tages, als er in seinem Stübchen saß. Drüben packte seine Frau ihre Koffer. Er hatte Briefe geschrieben und Geschäfte besorgt, er hatte sich bei Burkhardt angemeldet, der noch nichts von Pierres Tod wußte, hatte dem Anwalt und der Bank die letzten Anweisungen und Vollmachten gegeben. Nun war der Schreibtisch abgeräumt und er hatte das Bild des toten Pierre vor sich aufgestellt. Der lag nun im Boden, und es war die Frage, ob Veraguth jemals wieder so sein Herz an einen Menschen weggeben, eines andern Leiden so würde mitleiden können. Er war jetzt allein.

Lange betrachtete er seine Zeichnung, die erschlafften Wangen, die über eingesunkenen Augen geschlossenen Lider, den schmalen gepreßten Mund, die grausam gemagerten Kinderhände. Dann verschloß er das Bild im Atelier, nahm den Mantel um und ging ins Freie. Der Park war schon nächtlich und alles still. Drüben im Hause leuchteten ein paar erhellte Fenster, die gingen ihn nichts an. Aber unter den schwarzen Kastanienbäumen, in der kleinen verregneten Laube, auf dem Kiesplatz und im Blumengarten wehte noch etwas wie Leben und Erinnerung. Hier hatte Pierre ihm einst – war es nicht Jahre her? – eine kleine gefangene Maus gezeigt, und dort beim Phlox hatte er mit den Schwärmen der blauen Falter gesprochen, und für die Blumen hatte er phantastisch-zärtliche Namen erfunden. Hier überall, im Hof beim Geflügel und Hundehaus, auf dem Rasenplatz und in der Lindenallee hatte er sein kleines Leben geführt, seine Spiele gespielt, hier war sein leichtes, freies Knabenlachen und der ganze Liebreiz seiner eigenwillig selbständigen Person heimisch gewesen. Hier hatte er hundertmal, von niemand beachtet, seine Kinderfreuden genossen und seine Märchen erlebt, hier hatte er vielleicht zuweilen gezürnt oder geweint, wenn er sich vernachlässigt oder unverstanden gefühlt hatte.

In der Dunkelheit irrte Veraguth umher und besuchte jeden Ort, der ihm eine Erinnerung an seinen Knaben bewahrte. Zuletzt kniete er bei Pierres Sandberg nieder und kühlte seine Hände im feuchten Sande, und als er dabei ein hölzernes Ding zu fassen bekam und aufhob und Pierres kleine Sandschaufel erkannte, sank er willenlos nieder und konnte endlich, zum erstenmal in diesen drei furchtbaren Tagen, frei und fessellos weinen.

Am Morgen hatte er noch eine Unterredung mit Frau Adele.

„Tröste dich,“ sagte er zu ihr, „und vergiß nicht, daß Pierre ja mir gehört hat. Du hattest ihn mir abgetreten – ich danke dir nochmals dafür. Ich wußte schon damals, daß er sterben müsse – aber es war lieb von dir. Und nun lebe ganz, wie es dir gefällt, und übereile nichts! Behalte Roßhalde einstweilen, es könnte dich reuen, wenn du es zu bald weggäbest. Darüber wird dich der Notar noch belehren, er meint, der Bodenwert müsse hier bald steigen. Viel Glück dazu! Mir gehört hier nichts mehr als die Sachen im Atelier, ich werde sie später abholen lassen.“

„Danke ... Und du? Du willst nie mehr hierher kommen?“

„Nie mehr. Es hätte keinen Zweck. Und ich wollte dir noch sagen: es ist bei mir gar keine Bitterkeit mehr vorhanden. Ich weiß, ich bin an allem selbst schuldig gewesen.“

„Sage das nicht! Du meinst es gut, aber es quält mich nur. Da bleibst du nun ganz allein zurück! Ja, wenn du Pierre hättest behalten können. Aber so – nein, so hätte es nicht kommen dürfen! Ich habe auch schuld gehabt, ich weiß ...“

„Das haben wir abgebüßt, Kind, in diesen Tagen. Du mußt ruhig sein, es ist alles gut, es ist wirklich nichts mehr zu klagen. Sieh, jetzt hast du Albert ganz für dich. Und ich, ich habe meine Arbeit. Damit läßt sich alles ertragen. Auch du wirst glücklicher sein, als du es seit Jahren warst.“

Er war so ruhig, daß auch sie sich überwand. Ach, es gab Vieles, unendlich Vieles, was sie noch gerne gesagt hätte, wofür sie ihm noch hätte danken, worum sie ihn hätte anklagen mögen. Aber sie sah, er hatte recht. Für ihn war dies alles offenbar schon wesenlose Vergangenheit geworden, was sie noch als Leben und bittere Gegenwart empfand. Es hieß nun stille sein und das Alte vergangen sein lassen. Und so hörte sie mit geduldiger Aufmerksamkeit an, was er anzuordnen hatte, und wunderte sich, wie wohl er alles überlegt und an alles gedacht hatte.

Über die Scheidung wurde kein Wort gesprochen. Das konnte irgendeinmal später geschehen, wenn er von Indien zurück war.

Nach Mittag fuhren sie zur Bahn. Da stand Robert mit den vielen Koffern, und im Lärm und Ruß der großen Glashalle brachte Veraguth die beiden in ihren Wagen, kaufte Zeitschriften für Albert und übergab ihm den Gepäckschein, wartete vor dem Fenster bis zur Abfahrt, zog grüßend den Hut und sah dem Zuge nach, bis Albert vom Fenster verschwand.

Auf dem Heimwege ließ er sich von Robert die Auflösung seines übereilten Verlöbnisses erzählen. Zu Hause fand er schon den Tischler warten, der die Kisten zu seinen letzten Bildern zimmern sollte. Wenn diese verpackt und weggeschickt waren, wollte auch er gehen. Ihn verlangte sehnlich nach der Abreise.

Und nun war auch der Tischler abgefertigt. Robert arbeitete im Herrschaftshause mit der einen Magd, die noch da war, sie deckten die Möbel zu und schlossen Fenster und Läden.

Veraguth ging mit langsamen Schritten durch seine Werkstatt, durch den Wohn- und Schlafraum, dann ins Freie, um den Weiher und durch den Park. So war er hundertmal hier umhergegangen, aber heute schien ihm alles, Haus und Garten, See und Park vor Einsamkeit widerzuhallen. Der Wind blies kalt im schon vergilbenden Laube und führte in niedrig hängenden Zügen neue wollige Regenwolken heran. Der Maler schauerte fröstelnd zusammen. Nun war niemand mehr da, für den er zu sorgen, auf den er Rücksicht zu nehmen, vor dem er Haltung zu bewahren hatte, und nun erst fühlte er in frierender Einsamkeit die Sorgen und Nachtwachen, das zitternde Fieber und die ganze zerrüttende Ermüdung dieser letzten Zeit. Er fühlte sie nicht nur in Kopf und Gliedern, er empfand sie noch tiefer im Gemüt. Da waren die letzten spielenden Lichter von Jugend und Erwartung ausgelöscht; aber er fühlte die kühle Isoliertheit und grausame Nüchternheit nicht wie ein Schrecknis.

Unbeirrt suchte er, durch die nassen Wege weiterschlendernd, die Fäden seines Lebens zurückzuverfolgen, deren einfaches Gewebe er nie so klar und befriedigt überschaut hatte. Und er stellte ohne Erbitterung fest, daß er alle diese Wege in Blindheit gegangen sei. Er war, das sah er genau, trotz allen Versuchen und trotz aller nie ganz erloschenen Sehnsucht am Garten des Lebens vorübergegangen. Er hatte niemals in seinem Leben eine Liebe bis zum letzten Grunde erlebt und gekostet, nie bis in diese letzten Tage. Da hatte er am Bett seines sterbenden Knaben, allzu spät, seine einzige wahre Liebe erlebt, da hatte er zum erstenmal sich selbst vergessen, sich selbst überwunden. Das würde nun für immer sein Erlebnis und sein armer kleiner Schatz bleiben.

Was ihm blieb, das war seine Kunst, der er sich nie so sicher gefühlt hatte wie eben jetzt. Ihm blieb der Trost der Draußenstehenden, denen es nicht gegeben ist, das Leben selber an sich zu reißen und auszutrinken; ihm blieb die seltsame, kühle, dennoch unbändige Leidenschaft des Sehens, des Beobachtens und heimlich-stolzen Mitschaffens. Das war der Rest und der Wert seines mißglückten Lebens, diese unbeirrbare Einsamkeit und kalte Lust des Darstellens, und diesem Stern ohne Abwege zu folgen, war nun sein Schicksal.

Er atmete tief die feuchte, bitter duftende Parkluft, und bei jedem Schritt meinte er die Vergangenheit von sich zu stoßen wie einen unnütz gewordenen Kahn vom erreichten Ufer. In seiner Prüfung und Erkenntnis war nichts von Resignation; voll Trotz und unternehmender Leidenschaft sah er dem neuen Leben entgegen, das kein Tasten und dämmerndes Irren mehr sein durfte, sondern ein steiler, kühner Weg bergan. Später und bitterer vielleicht, als Männer sonst es tun, hatte er von der süßen Dämmerung der Jugend Abschied genommen. Jetzt stand er arm und verspätet im hellen Tag, und von dem gedachte er keine köstliche Stunde mehr zu verlieren.

Ende

Werke
von
Hermann Hesse

Peter Camenzind

Roman. Fünfundsechzigste Auflage. Geheftet 3 Mark, in Leinen 4 Mark.

Unterm Rad

Roman. Neunzehnte Auflage. Geheftet 3.50 Mark, in Leinen 4.50 Mark.

Diesseits

Erzählungen. Achtzehnte Auflage. Geheftet 3.50 Mark, in Leinen 4.50 Mark.

Nachbarn

Erzählungen. Zwölfte Auflage. Geheftet 3.50 Mark, in Leinen 4.50 Mark.

Umwege

Erzählungen. Zehnte Auflage. Geheftet 3.50 Mark, in Leinen 4.50 Mark.

Aus Indien

Aufzeichnungen von einer indischen Reise. Sechste Auflage. Geheftet 3 Mark, in Leinen 4 Mark.

Peter Camenzind

Wenn du aber zu den Menschen gehörst, die weinen können, weil der Himmel kornblumenblau über einem goldenen Weizenfeld steht, wenn du einer von denen bist, die jauchzen können, wenn der Wind durch blühende Lindenbäume rauscht, dann schnür dein Bündel und pack die Geschichte des Peter Camenzind obenauf. Und dann wandre und wandre, bis du zu einem dunklen See kommst, der zu Füßen einiger hoher Bergschroffen liegt. Dort sitz nieder und lies, was dir Peter Camenzind von den Bergen und vom Walde, von den Strömen und von der Liebe zu erzählen hat. Und glaub mir: Du wirst größer, reiner, freier wieder heimkehren in die Stadtwirrnis.

(Die Woche)

Unterm Rad

Es ist die einfache Geschichte von einem Jungen, der stolz und mit der Anwartschaft auf Ruhm und Glück ins Leben eintritt und unters Rad kommt und überfahren wird; ein Buch voll Schwermut und heimlicher leiser Klage und ein Buch voll Anklage. Schwer und gewichtig in seiner Einfachheit, die um so tiefer wirkt, als sie das Resultat einer unnachahmlichen sprachlichen Meisterschaft und stilistischen Adels ist.

(Münchener Zeitung)

Diesseits

Wie man etwa Eduard Mörikes Gedichte lesen sollte, an einem stillen, schönen Sommertage im Grase liegend, der Zeit und jeder Alltäglichkeit weit entrückt, ruhevoll nur sich und dem Weben der leise schaffenden Natur lauschend, in solcher Sonntagsstimmung sollte man Hermann Hesses neuen Novellenband „Diesseits“ lesen. Denn duftig und zart wie Gedichte sind diese Erzählungen ... Diese Wechselwirkung zwischen dem psychischen Erlebnis und der von einem echten Poetenauge in einer erstaunlichen Fülle feiner Züge beobachteten Natur könnte kaum inniger und vollkommener sein.

(Neue Zürcher Zeitung)

Nachbarn

Es ist eigentlich eine einzige Geschichte, die wir da in den fünf Erzählungen des neuen Hessebandes erleben; so harmonisch zusammengeschweißt erscheinen sie ... Ruhig, über allen Dingen schwebend, ohne Leidenschaft und vollkommen abgeklärt werden uns diese Geschichten erzählt. Aber in einer Sprache, die ihresgleichen sucht, und die den Stolz in uns aufleben läßt: sehet, das ist Deutsch. Gott sei Dank, daß es eine deutsche Sprache gibt. Und Dichter, die sie adeln.

(Württembergische Zeitung, Stuttgart)

Umwege

Hermann Hesse bringt immer Freude, bringt immer Gewinn. Diese höchste Kunst in der stillsten Schlichtheit seines Wortgefüges, diese innig beteiligte Herzlichkeit seiner Menschenschilderung, diese ruhig abwartende Ironie der Darstellung menschlicher Schwächen und Schwänke sind unvergleichlich. Wie Gottfried Keller in seinen „Seldwylern“, so hat Hesse in seinen Gerbersauern seine sicherste Meisterschaft erreicht, seine ganz persönliche Domäne gefunden. Nur ungern verläßt man den Kreis derer, die sein Blick aus dem Alltage gehoben, gewählt hat zu Kunstwerklein, deren filigranfein gestichelte Prägung dem Kenner und beschaulichen Genießer nachhaltige Freuden gewährt.

(Berliner Tageblatt)

Aus Indien

Hesse hat Indien ganz auf seine Art erlebt, mit jener selben großen, verinnerlichten Gelassenheit, mit der er in seinen Romanen und Novellen Menschen und Landschaften seiner süddeutschen Heimat erlebt. Wohin er uns auch führt, es ist ein berückender Genuß, ihm zu folgen. Alles Fremde, Exotische führt den Dichter schließlich zu sich selbst zurück. So wirkt es denn ganz selbstverständlich, daß seine Aufzeichnungen sich in einer Reihe schön-schlichter Gedichte fortsetzen, in denen eine durch alle östlichen Wunder nicht gestillte Wandersehnsucht Ausdruck findet, und dann in einer Erzählung endigen, in der der Dichter die neu eroberte Umwelt als Hintergrund für ein mit Meisterschaft erzähltes Menschenschicksal benutzt. Damit pflückt er noch einmal eine nach Farbe und Duft exotische Blüte, und doch ist der Baum, an dem sie gewachsen, ein völlig heimischer; eine in die feinsten seelischen Gründe tauchende Erzählkunst, wie sie Hesse mit unsern besten deutschen Meistern verbindet.

(Königsberger Allgemeine Zeitung)

Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig

Anmerkungen zur Transkription

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