The Project Gutenberg eBook of Als ich noch der Waldbauernbub war. Band 1 This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook. Title: Als ich noch der Waldbauernbub war. Band 1 Author: Peter Rosegger Author of introduction, etc.: William Lottig Release date: May 2, 2020 [eBook #61998] Language: German Credits: Produced by Peter Becker and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net *** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK ALS ICH NOCH DER WALDBAUERNBUB WAR. BAND 1 *** Produced by Peter Becker and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net Anmerkungen zur Transkription Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text ist _so ausgezeichnet_. Im Original fetter Text ist =so dargestellt=. Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des Buches. Als ich noch der Waldbauernbub war. Von =Peter Rosegger=. Für die Jugend ausgewählt aus den Schriften Roseggers vom Hamburger Jugendschriftenausschuß. Einundsechzigstes bis siebzigstes Tausend. [Illustration] Leipzig, Verlag von L. Staackmann. 1905. Außerdem erschien noch: Als ich noch der Waldbauernbub war II. Teil u. III. Teil. Von Peter Rosegger. Für die Jugend ausgewählt vom Hamburger Jugendschriftenausschuß. Elegant kartoniert 70 Pf. Elegant und dauerhaft gebunden 90 Pf. Inhalt des II. Teiles: In der Christnacht. -- Was bei den Sternen war. -- Auf der Wacht. -- Wie ich mit der Thresel ausging und mit dem Maischel heimkam. -- Als ich das Ofenhückerl war. -- Als ich um Hasenöl geschickt wurde. -- Als ich mir die Welt am Himmel baute. -- Von meiner Mutter. Inhalt des III. Teiles: Als ich Christtagsfreude holen ging. -- Das Schläfchen auf dem Semmering. -- Als ich nach Emaus zog. -- Am Tage, da die Ahne fort war. -- Der Fronleichnamsaltar. -- Weg nach Maria Zell. -- Als ich der Müller war. -- Als ich den Himmlischen Altäre gebaut. -- Als ich im Walde beim Käthele war. -- Als die hellen Nächte waren. -- Aus der Eisenhämmerzeit. -- Als ich zum Pfluge kam. _Alle Rechte vorbehalten._ Vorwort. Ihr lieben jungen Leser alle! Es ist für mich wie ein Fest, daß ich Euch, die Ihr sicher in recht stattlicher Zahl Euch um das Waldbauernbüblein scharen werdet, ein wenig auf diese Bekanntschaft vorbereiten darf. Verständige Knaben und sinnige Mädchen wie Ihr werden vor einem ernsthaften Wort gewiß nicht davonlaufen, nicht wahr?! Mein Erstes sei, Euch -- soweit Ihr's schon verstehen könnt -- auseinanderzusetzen, wie und in welcher Absicht dies Büchlein zustande gekommen ist; wollen Eure Eltern sich auch ein wenig heransetzen und mit zuhören, so ist mir's um so lieber. Seht! seit Jahren hält der Hamburger Jugendschriften-Ausschuß im Einverständnis mit den übrigen deutschen Prüfungsausschüssen und mit vielen andern Männern und Frauen, die es mit der deutschen Jugend gut meinen, Umschau unter den Schätzen, die unsre Dichter ihrem Volke geschenkt haben, ob nicht Kleinode darunter seien, deren Schönheit auch Eurem Auge schon offen liege. Wir haben gar kostbare Stücke der Art gefunden, ja, manch Eines sieht aus, als sei es eigens für Kindeshand und Kindesherz erschaffen. Da halten wir es nun nicht nur für eine unserer schönsten Aufgaben, Euch solche Werke möglichst bequem zugänglich zu machen, sondern wir sehen darin auch geradezu eine unabweisbare Pflicht! und ich will den Versuch wagen, Euch wenigstens ahnen zu lassen, um welch große Sache es sich dabei handelt. -- Ein Bild muß mir helfen: Siehst Du dort den kühnen Reiter?! -- -- Ob er seine edle Kunst wohl einst auf hölzernem Kinderpferdchen erlernt hat?! -- -- Du lachst mir hell ins Gesicht! -- Auf ein Roß von Fleisch und Bein hat ihn sein Vater gesetzt! nicht sogleich auf ein wildes, ungebärdiges! -- behüte! es that's doch sein Vater! -- Aber lebendig war's! und der Knirps hat gejauchzt in hellem Vergnügen! -- -- Aber schon der _Knabe_ merkte bald, daß das Reiten eine gar ernsthafte Lust sei, die mit ernster, fleißiger Übung erkauft sein wollte; dafür blitzte es aber auch heute dem _Manne_, der eben auf seinem mutigen Rappen an uns vorüberflog, mit so eigener Freude aus den Augen, daß wir selbst unser Herz höher schlagen fühlten. Was meinst Du? _der_ würde sich doch wohl um keinen Preis auf einen elenden Droschkengaul setzen?!! -- Nun gieb acht, mein lieber aufmerksamer Zuhörer, daß Du mich verstehst! -- Wohlerfahrene Männer führen Klage, daß große Kreise unseres Volkes die Lust an seinen Dichtern verlernt haben, daß unabsehbar Viele an elendem Zeug, das sie für schön halten, sich hoch ergötzen, und daß sie an dem wahrhaft Schönen achtlos vorüberstreichen, weil sie's nicht erkennen. Da möchten wir nun nach Kräften helfen, daß unsere Jugend, zu der auch Ihr gehört, die Ihr mich so helläugig anblickt, dereinst nicht solchem Irrtum verfalle. Wir meinen, daß auch die rechte Freude am Kunstwerk eine »ernsthafte Lust« sei, die erlernt sein will, und darum möchten wir es jenem Manne nachthun, der sein Söhnlein frühzeitig vom steifen Holzgaul auf's edle Roß hob: Wir wollen Euch dem Einfluß der für Euch zurecht gezimmerten Jugendschriften entrücken und Euch vor echte Kunstwerke stellen und Euch aufgeben: Genießet sie mit ernsthafter Freude! -- Wir wissen zuversichtlich, daß dann auch Euch einst das Auge leuchten wird, wie jenem Reiter! daß auch Ihr Euch vom Gemeinen abkehren werdet, weil Ihr gelernt habt das Schöne zu schätzen! -- Aus solcher Absicht ist Euch im vorigen Jahre Storm's »Pole Poppenspäler« neu geschenkt worden; aus solcher Absicht folgt als diesjährige Weihnachtsgabe das »Waldbauernbüblein«. Der Dichter und sein Verleger -- das ist jener Mann, der eines Schriftstellers Werk als Buch herrichten läßt und dieses in die Welt hinaus sendet -- sind in der Absicht, recht vielen Kindern Freude zu machen, auf unsere Bitte eingegangen; ja, sie haben uns in schönem Vertrauen die Auswahl freigestellt, und so haben wir denn ausgewählt nach unsrer und zu Eurer Herzenslust. Wir waren dabei keinen Augenblick im Zweifel, daß von den vielen Geschichten Roseggers, an denen Ihr rechtes Genießen erlernen könntet, in allererster Reihe solche vor Euer Ohr gehören, in denen der Dichter aus seiner eignen Kindheit, aus seiner geliebten Waldheimat erzählt. Nun wißt Ihr, wie und in welcher Absicht das Büchlein, das Ihr in der Hand haltet, zustande gekommen ist, und ich könnte nun von Euch Abschied nehmen, müßte ich nicht fürchten, daß Euch die Aufgabe, die ich Euch gestellt, in Verlegenheit setzt. Oder habt Ihr's etwa garnicht gemerkt! -- _Genieße diese kleinen Kunstwerke mit ernsthafter Freude!_ so heißt Deine Aufgabe. -- O, hab keine Angst: das Reiten zu erlernen ist viel, viel schwerer! -- Willst Du meinen Rat befolgen? Hier ist er: Lies die kleinen Geschichten nicht, wie Du sicherlich schon manches Indianerbuch durchgelesen hast: Du weißt wohl, in einer Angst und Hast hin zum Ende! und dann womöglich gleich noch ein zweites! und ein drittes! -- Nein, nur das nicht! Lies sie hübsch verständig und sinnig, als ob Du sie Dir selbst erzähltest. Bist Du noch im Zweifel, so bitte Deine Eltern oder Deinen Lehrer oder Dein Schulfräulein, daß Eins von ihnen Dir die eine oder andere vorlese; dann wirst Du merken, wie Du selbst Dir die übrigen vorlesen mußt. Vielleicht wird es Dir nun so ergehen, daß Du, wenn Du mit der letzten Geschichte zuende bist, wieder die erste aufschlägst und gewahr wirst, wie Dir jede nun noch viel besser gefällt. Wenn es so kommt, dann hat Dich Deine Aufgabe schon erfaßt. Halb unwillkürlich wirst Du Dich jetzt hinein sinnen in das Leben und in die Gedanken und in das Empfinden des Waldbauernbuben; ja, zuweilen wird Dir gar sein, als wärest Du selbst der kleine Peter Rosegger. _Das_, mein braver Junge! mein liebes Mädchen! das ist der rechte Augenblick! jetzt öffne Deine Augen! -- Wenn Du jetzt die Welt des Waldbauernbuben -- in diesem Augenblick _Deine_ Welt! -- immer klarer und greifbarer sich vor Dir ausbreiten siehst: das Haus, den Wald, die Berge, die Thalweide ...; wenn Du jetzt die Menschen in dieser Welt -- in diesem Augenblick _Deine_ Lieben, _Deine_ Bekannten! -- leibhaftig um Dich wandeln siehst: den Vater, die Mutter, die Geschwister, den Vetter Jok, den Meisensepp, die Drachenbinderin und ihren Knecht ...; wenn Dir jetzt _Dein_ Herz zuckt, als hörtest Du _Deinen_ Vater aufschluchzen um _Dich_, als lägest _Du selbst_ in bittrer Reue neben dem schlummernden Hiasel unter dem Kreuz, dann, mein lieber kleiner Leser! dann hat sich Deine Aufgabe erfüllt, und Du hast davon keine Mühe, sondern nur edle Freude gehabt! Dann wirst Du den _kleinen_ Peter ins Herz geschlossen haben, wie ich den _großen_, und ihm aus dankbarer Seele den Gruß senden, den ich jetzt Dir und ihm zurufe, den treuen Gruß, den er so gern hört: »Grüß Gott!« _Hamburg_, im Oktober 1899. Im Auftrage des Hamburger Prüfungsausschusses für Jugendschriften. =W. Lottig.= Inhalt. Seite 1. Vom Urgroßvater, der auf der Tanne saß 1 2. Ums Vaterwort 14 3. Allerlei Spielzeug 22 4. Wie der Meisensepp gestorben ist 32 5. Wie ich dem lieben Herrgott mein Sonntagsjöppl schenkte 43 6. Wie das Zicklein starb 50 7. Dreihundert vierundsechzig und eine Nacht 59 8. Als ich Bettelbub gewesen 66 9. Als ich zur Drachenbinderin ritt 76 10. Als dem kleinen Maxel das Haus niederbrannte 91 11. Als ich das erste Mal auf dem Dampfwagen saß 98 12. Als ich -- 107 Nr. 1. 4. 5. 8. 10. sind dem Buche »Waldferien« Nr. 2. 3. 6. 7. 9. 11. 12. sind dem »Deutschen Geschichtenbuche« entnommen. [Illustration] Vom Urgroßvater, der auf der Tanne saß. An die Felder meines Vaters grenzte der Ebenwald, der sich über Höhen weithin gegen Mitternacht erstreckte und dort mit den Hochwaldungen des Heugrabens und des Teufelssteins zusammenhing. Zu meiner Kindeszeit ragte über die Fichten- und Föhrenwipfel dieses Waldes das Gerippe einer Tanne empor, auf welcher der Sage nach vor mehreren hundert Jahren, als der Türke im Lande war, der Halbmond geprangt haben und unter welcher viel Christenblut geflossen sein soll. Mich überkam immer ein Schauern, wenn ich von den Feldern und Weiden aus dieses Tannengerippe sah; es ragte so hoch über den Wald und streckte seine langen, kahlen, wildverworrenen Äste so wüst gespensterhaft aus, daß es ein unheimlicher Anblick war. Nur an einem einzigen Aste wucherten noch einige dunkelgrüne Nadelballen, und über diese ragte ein scharfkantiger Strunk, auf dem einst der Wipfel gesessen. Den Wipfel mußte der Sturm oder ein Blitzstrahl geknickt haben -- die ältesten Leute der Gegend erinnerten sich nicht, ihn auf dem Baume gesehen zu haben. Von der Ferne, wenn ich auf dem Stoppelfelde die Rinder oder die Schafe weidete, sah ich die Tanne gern an; sie stand in der Sonne rötlich beleuchtet über dem frischgrünen Waldessaume und war so klar und rein in die Bläue des Himmels hineingezeichnet. Dagegen stand sie an bewölkten Tagen, oder wenn ein Gewitter heranzog, starr und dunkel da; und wenn im Walde weit und breit alle Äste fächelten und sich die Wipfel tief neigten im Sturme, so stand sie still, fast ohne alle Regung und Bewegung. Wenn sich aber ein Rind in den Wald verlief und ich, es zu suchen, an der Tanne vorüber mußte, so schlich ich gar angstvoll dahin und gedachte an den Halbmond, an das Christenblut und an andere entsetzliche Geschichten, die man von diesem Baume erzählte. Ich wunderte mich aber auch über die Riesigkeit des Stammes, der auf der einen Seite kahl und von vielen Spalten durchfurcht, auf der anderen aber mit rauhen, zersprungenen Rinden bedeckt war. Der unterste Teil des Stammes war so dick, daß ihn zwei Männer nicht hätten zu umspannen vermocht. Die ungeheuren Wurzeln, welche zum Teil kahl dalagen, waren ebenso ineinander verschlungen und verknöchert wie das Geäste oben. Man nannte den Baum die Türkentanne oder auch die graue Tanne. Von einem starrsinnigen oder übermütigen Menschen sagte man in der Gegend: »Der thut, wie wenn er die Türkentanne als Hutsträußl hätt'!« Und heute, da der Baum schon längst zusammengebrochen und vermodert ist, sagt man immer noch das Sprüchlein. In der Kornernte, wenn die Leute meines Vaters, und er voran, der Reihe nach am wogenden Getreide standen und die »Wellen« (Garben) herausschnitten, mußte ich auf bestimmte Plätze die Garben zusammentragen, wo sie dann zu je zehn in »Deckeln« zum Trocknen aufgeschöbert wurden. Mir war das nach dem steten Viehhüten ein angenehmes Geschäft, umsomehr, als mir der Altknecht oft zurief: »Trag' nur, Bub', und sei fleißig; die Garbentrager werden reich!« Ich war sehr behend und lief mit den Garben aus allen Kräften; aber da sagte wieder mein Vater: »Bub', Du laufst ja wie närrisch! Du trittst Halme in den Boden und Du beutelst die Körner aus. Laß Dir Zeit!« Als es aber gegen Abend und in die Dämmerung hineinging und als sich die Leute immer weiter und weiter in das Feld hineingeschnitten hatten, so daß ich mit meinen Garben weit zurückblieb, begann ich unruhig zu werden. Besonders kam es mir vor, als fingen sich die Äste der Türkentanne dort, die in unsicheren Umrissen in den Abendhimmel hineinstand, zu regen an. Ich redete mir zwar ein, es sei nicht so, und wollte nicht hinsehen -- konnte es aber doch nicht ganz lassen. Endlich, als die Finsternis für das Kornschneiden zu groß wurde, wischten die Leute mit taunassem Grase ihre Sicheln ab und kamen zu mir herüber und halfen mir unter lustigem Sang und Scherz die Garben zusammentragen. Als wir damit fertig waren, gingen die Knechte und Mägde davon, um in Haus und Hof noch die abendlichen Verrichtungen zu thun; ich und mein Vater aber blieben zurück auf dem Kornfelde. Wir schöberten die Garben auf, wobei der Vater diese halmaufwärts aneinanderlehnte und ich sie zusammenhalten mußte, bis er aus einer letzten Garbe den Deckel bog und ihn auf den Schober stülpte. Dieses Schöbern war mir in meiner Kindheit die liebste Arbeit; ich betrachtete dabei die »Romstraße« am Himmel, die hinschießenden Sternschnuppen und die Johanniswürmchen, die wie Funken um uns herumtanzten, daß ich meinte, die Garben müßten zu brennen anfangen. Dann horchte ich wieder auf das Zirpen der Grillen, und ich fühlte den milden Tau, der gleich nach Sonnenuntergang die Halme und Gräser und gar auch ein wenig mein Jöpplein befeuchtete. Ich sprach über all das mit meinem Vater, der mir in seiner ruhigen, gemütlichen Weise Auskunft gab und über alles seine Meinung sagte, wozu er jedoch oft bemerkte, daß ich mich darauf nicht verlassen solle, weil er es nicht gewiß wisse. So kurz und ernst mein Vater des Tages in der Arbeit gegen mich war, so heiter, liebevoll und gemütlich war er in solchen Abendstunden. Vor allem half er mir immer meine kleine Jacke anziehen und wand mir seine Schürze, die er in der Feldarbeit gern trug, um den Hals, daß mir nicht kalt werde. Wenn ich ihn mahnte, daß auch er sich den Rock zuknöpfen möge, sagte er stets: »Kind, mir ist warm genug«. Ich hatte es oft bemerkt, wie er nach dem langen, schwierigen Tagewerk erschöpft war, wie er sich dann für Augenblicke auf eine Garbe niederließ und die Stirne trocknete. Er war durch eine langwierige Krankheit ein arg mitgenommener Mann; er wollte aber nie etwas davon merken lassen. Er dachte nicht an sich, er dachte an unsere Mutter, an uns Kinder und an den durch mannigfaltige Unglücksfälle herabgekommenen Bauernhof, den er uns retten wollte. Wir sprachen beim Schöbern oft von unserem Hofe, wie er zu meines Großvaters Zeiten gar reich und angesehen gewesen, und wie er wieder reich und angesehen werden könne, wenn wir Kinder, einst erwachsen, eifrig und fleißig in der Arbeit sein würden, und wenn wir Glück hätten. In solchen Stunden beim Kornschöbern, das oft spät in die Nacht hinein währte, sprach mein Vater mit mir auch gern von dem lieben Gott. Er war vollständig ungeschult und kannte keine Buchstaben; so mußte denn ich ihm stets erzählen, was ich da und dort von dem lieben Gott schon gehört und gelesen hatte. Besonders wußte ich aus Predigten dem Vater manches zu erzählen von der Geburt des Herrn Jesus, wie er in der Krippe eines Stalles lag, wie ihn die Hirten besuchten und mit Lämmern, Böcken und anderen Dingen beschenkten, wie er dann groß wurde und Wunder wirkte und wie ihn endlich die Juden peinigten und ans Kreuz schlugen. Gern erzählte ich auch von der Schöpfung der Welt, von den Patriarchen und Propheten und von den Zeiten des Heidentums. Dann sprach ich auch aus, was ich vernommen von dem jüngsten Tage, von dem Weltgerichte und von den ewigen Freuden, die der liebe Gott für alle armen, kummervollen Menschen in seinem Himmel bereitet hat. Ich erzählte das alles in unserer Redeweise, daß es der Vater verstand, und er war dadurch oft sehr ergriffen. Ein anderesmal erzählte wieder mein Vater. Er wußte wunderbare Dinge aus den Zeiten der Ureltern, wie diese gelebt, was sie erfahren und was sich in diesen Gegenden einst für Sachen zugetragen, die sich in den heutigen Tagen nicht mehr ereignen. »Hast Du noch nie darüber nachgedacht,« sagte mein Vater einmal, »warum die Sterne am Himmel stehen?« »Ich habe noch gar nie darüber nachgedacht,« antwortete ich. »Wir denken nicht daran,« sprach mein Vater weiter, »weil wir das schon so gewöhnt sind.« »Es wird wohl endlich eine Zeit kommen, Vater,« sagte ich einmal, »in welcher kein Stern mehr am Himmel steht; in jeder Nacht fallen so viele herab.« »Die da herabfallen, mein Kind,« versetzte der Vater, »das sind keine rechten Sterne, wie sie unser Herrgott zum Leuchten erschaffen hat; -- das sind Menschensterne. Stirbt auf der Erde ein Mensch, so lischt am Himmel ein Stern aus. Wir nennen das Sternschnuppen; -- siehst Du, dort hinter der grauen Tanne ist just wieder eine niedergegangen.« Ich schwieg nach diesen Worten eine Weile, endlich aber fragte ich: »Warum heißen sie jenen wilden Baum dort die graue Tanne, Vater?« Mein Vater bog eben einen Deckel ab, und als er diesen aufgestülpt hatte, sagte er: »Du weißt, daß man ihn auch die Türkentanne nennt. Die graue Tanne heißen sie ihn, weil sein Geäste und sein Moos grau ist, und weil auf diesem Baume Dein Urgroßvater die ersten grauen Haare bekommen hat. -- Wir haben hier noch sechs Schöber aufzusetzen, und ich will Dir dieweilen eine Geschichte erzählen, die sehr merkwürdig ist.« »Es ist schon länger als achtzig Jahre,« begann mein Vater, »seitdem Dein Urgroßvater meine Großmutter geheiratet hat. Er war sehr reich und schön, und er hätte die Tochter des angesehensten Bauers zum Weib bekommen. Er nahm aber ein armes Mädchen aus der Waldhütten herab, das gar gut und sittsam gewesen ist. Von heute in zwei Tagen ist der Vorabend des Festes Mariä Himmelfahrt; das ist der Jahrestag, an welchem Dein Urgroßvater zur Werbung in die Waldhütten ging. Es mag wohl auch im Kornschneiden gewesen sein; er machte frühzeitig Feierabend, weil durch den Ebenwald hinein und bis zur Waldhütten hinauf ein weiter Weg ist. Er brachte viel Bewegung mit in die kleine Wohnung. Der alte Waldhütter, der für die Köhler und Holzleute die Schuhe flickte, ihnen zu Zeiten die Sägen und die Beile schärfte und nebenbei Fangschlingen für Raubtiere machte -- weil es zur selben Zeit in der Gegend noch viele Wölfe gab -- der Waldhütter nun ließ seine Arbeit aus der Hand fallen und sagte zu Deinem Urgroßvater: Aber Josef, das kann doch nicht Dein Ernst sein, daß Du mein Lenerl zum Weib haben willst, das wär' ja gar aus der Weis'! Dein Urgroßvater sagte: Ja deswegen bin ich heraufgegangen den weiten Weg, und wenn mich das Lenerl mag und es ist ihr und Euer redlicher Willen, daß wir zusammen in den heiligen Ehestand treten, so machen wir's heut' richtig, und wir gehen morgen zum Richter und zum Pfarrer, und ich laß dem Lenerl mein Haus und Hof verschreiben, wie's Recht und Brauch ist. -- Und das Mädchen hatte Deinen Urgroßvater lieb, und es sagte, es wolle seine Hausfrau werden. Dann verzehrten sie zusammen ein kleines Mahl, und endlich, als es schon zu dunkeln begann, brach der Bräutigam auf zum Heimweg. Er ging über die kleine Wiese, die vor der Waldhütten lag, auf der aber jetzt schon die großen Bäume stehen, und er ging über das Geschläge und abwärts durch den Wald, und er war gar freudigen Gemütes. Er achtete nicht darauf, daß es bereits finster geworden war, und er achtete nicht auf das Wetterleuchten, das zur Abendzeit nach einem schwülen Sommertag nichts Ungewöhnliches ist. Auf Eines aber wurde er aufmerksam, er hörte von den gegenüberliegenden Waldungen ein heulendes Gebelle. Er dachte an Wölfe, die nicht selten in größeren Rudeln die Wälder durchzogen; er faßte seinen Knotenstock fester und nahm einen schnelleren Schritt. Dann hörte er wieder nichts, als zeitweilig das Kreischen eines Nachtvogels, und sah nichts, als die dunklen Stämme, zwischen welche der Fußsteig führte und durch welche von Zeit zu Zeit das Leuchten kam. Plötzlich vernahm er wieder das Heulen, aber nun viel näher als das erste Mal. Er fing zu laufen an. Er lief was er konnte; er hörte keinen Vogel mehr, er hörte nur immer das entsetzliche Heulen, das ihm auf dem Fuße folgte. Als er sich hierauf einmal umsah, bemerkte er hinter sich durch das Geäst funkelnde Lichter. Schon hört er das Schnaufen und Lechzen der Raubtiere, die ihn verfolgen, schon denkt er bei sich: 's mag sein, daß morgen kein Versprechen ist beim Pfarrer! -- da kommt er heraus zur Türkentanne. Kein anderes Entkommen mehr möglich -- rasch faßt er den Gedanken und durch einen kühnen Sprung schwingt er sich auf den untersten Ast des Baumes. Die Bestien sind schon da; einen Augenblick stehen sie bewegungslos und lauern; sie gewahren ihn auf dem Baum, sie schnaufen, und mehrere setzen die Pfoten an die rauhe Rinde des Stammes. Dein Urgroßvater klettert weiter hinauf und setzt sich auf einen dicken Ast. Nun ist er wohl sicher. Unten heulen sie und scharren an der Rinde; -- es sind ihrer viele, ein ganzes Rudel. Zur Sommerszeit war es doch selten geschehen, daß Wölfe einen Menschen anfielen; sie mußten gereizt oder von irgend einer andern Beute verjagt worden sein. Dein Urgroßvater saß lange auf dem Ast; er hoffte, die Tiere würden davonziehen und sich zerstreuen. Aber sie umringten die Tanne und schnürfelten und heulten. Es war längst schon finstere Nacht; gegen Mittag und Morgen hin leuchteten alle Sterne, gegen Abend hin aber war es grau, und durch dieses Grau schossen dann und wann Blitzscheine. Sonst war es still, und es regte sich im Walde kein Ästchen. Dein Urgroßvater wußte nun wohl, daß er die ganze Nacht in dieser Lage würde zubringen müssen; er besann sich aber doch, ob er nicht Lärm machen und um Hilfe rufen sollte. Er that es, aber die Bestien ließen sich nicht verscheuchen; kein Mensch war in der Nähe, das Haus zu weit entfernt. Damals hatte die Türkentanne unter dem abgerissenen Wipfelstrunk, wo heute die wenigen Reiserbüschel wachsen, noch eine dichte, vollständige Krone aus grünenden Nadeln. Da denkt sich Dein Urgroßvater: Wenn ich denn schon einmal hier Nachtherberge nehmen soll, so klimme ich noch weiter hinauf unter die Krone. Und er that's und ließ sich oben in einer Zweigung nieder, da konnte er sich recht gut an die Äste lehnen. Unten ist's nach und nach ruhiger, aber das Wetterleuchten wird stärker, und an der Abendseite ist dann und wann ein fernes Donnern zu vernehmen. -- Wenn ich einen tüchtigen Ast bräche und hinabstiege und einen wilden Lärm machte und gewaltig um mich schlüge, man meint', ich müßt' den Rabenäsern entkommen! so denkt Dein Urgroßvater -- thut's aber nicht; er weiß zu viele Geschichten, wie Wölfe trotz alledem Menschen zerrissen haben. Das Donnern kommt näher, alle Sterne sind verloschen -- 's ist finster wie in einem Ofen: nur unten am Fuße des Baumes funkeln die Augensterne der Raubtiere. Wenn es blitzt, steht wieder der ganze Wald da. Nun beginnt es gar zu sieden und zu kochen im Gewölke wie in tausend brauenden Kesseln. Kommt ein fürchterliches Gewitter, denkt sich Dein Urgroßvater und verbirgt sich unter die Krone, so gut er kann. Der Hut ist ihm hinabgefallen, und er hört es, wie die Bestien den Filz zerfetzen. Jetzt zuckt ein Strahl über den Himmel, es ist einen Augenblick hell, wie zur Mittagsstunde -- dann bricht in den Wolken ein Schnalzen und Krachen und Knallen los, und weithin hallt es im Gewölke. Jetzt ist es still, still in den Wolken, still auf der Erde -- nur um einen gegenüberliegenden Wipfel flattert ein Nachtvogel. Aber bald erhebt sich der Sturm, es rauscht in den Bäumen, es tost durch die Äste, eiskalt ist der Wind. Dein Urgroßvater klammert sich fest an das Geäste. Jetzt flammt wieder ein Blitz, schwefelgrün erleuchtet ist der Wald; alle Wipfel neigen sich, biegen sich tief; die nächststehenden Bäume schlagen, es ist, als fielen sie heran. Aber die Tanne steht starr und ragt hoch über den ganzen Wald. Unten rennen die Raubtiere wild durcheinander und heulen. Plötzlich saust ein Körper durch die Äste wie ein Steinwurf. Da leuchtet es wieder -- ein schneeweißer Knollen hüpft auf dem Boden und kollert dahin. Dann finstere Nacht. Es braust, siedet, tost, krachend stürzen Wipfel. Ein Ungeheuer mit weitschlagenden Flügeln, im Augenblicke des Blitzes gespenstige Schatten werfend, naht in der Luft, stürzt der Tanne zu und birgt sich gerade über Deinem Urgroßvater in die Krone. Ein Habicht war's, Junge, ein Habicht, der auf der Tanne sein Nest gehabt.« Mein Vater hatte bei dieser Erzählung keine Garbe angerührt; ich hatte den ruhigen, schlichten Mann bisher auch nie mit solcher Lebhaftigkeit sprechen gehört. »Wie 's weiter gewesen?« fuhr er fort. »Ja, nun brach es erst los; das war Donnerschlag auf Donnerschlag, und beim Leuchten war zu sehen, wie weißen Wurfspießen gleich Eiskörner auf den Wald niedersausten, an die Stämme prallten, auf den Boden flogen und wieder hoch emporsprangen. So oft ein Hagelknollen an den Stamm der Tanne schlug, gab es im ganzen Baume einen hohlen Schall. Und über dem Heugraben gingen Blitze nieder, und auf den jenseitigen Wald gingen Blitze nieder; plötzlich war eine blendende Glut, ein heißer Luftdruck, ein Schmettern, und es loderte eine Fichte. Und die Türkentanne stand da, und Dein Urgroßvater saß unter der Krone im Geäste. Die brennende Fichte warf weithin ihren Schein, und nun war zu sehen, wie ein rötlicher Schleier lag über dem Walde, wie nach und nach das Gewebe der sich kreuzenden Eisstücke dünner und dünner wurde, wie viele Wipfel keine Äste, dafür aber weiße Streifen hatten, wie endlich der Sturm in einen mäßigen Wind überging und ein dichter Regen rieselte. Die Donner wurden seltener und dumpfer und zogen sich gegen Mittag und Morgen hin; aber die Blitze leuchteten noch ununterbrochen. Am Fuße des Baumes war kein Heulen und kein Augenfunkeln mehr. Die Raubtiere waren durch das wilde Wetter verscheucht worden. Stieg denn Dein Urgroßvater nieder von Ast zu Ast bis zum Boden. Und er ging heraus durch den Wald über die Felder gegen das Haus. Es war schon nach Mitternacht. Als der Bräutigam zum Hause kommt und kein Licht in der Stube sieht, wundert er sich, daß in einer solchen Nacht die Leute so ruhig schlafen können. Haben aber nicht geschlafen, waren zusammengewesen in der Stube um ein Kerzenlicht. Sie hatten nur die Fenster mit Brettern verlehnt, weil der Hagel alle Scheiben eingeschlagen hatte. Bist in der Waldhütten blieben, Sepp? sagte Deine Ururgroßmutter. Dein Urgroßvater aber antwortete: Nein, Mutter, in der Waldhütten nicht. Es war an dem darauffolgenden Morgen ein frischer Harzduft gewesen im Walde -- die Bäume haben geblutet aus unzähligen Wunden. Und es war ein beschwerliches Gehen gewesen über die Eiskörner, und es war eine sehr kalte Luft. Und als am Frauentag die Leute über die Verheerung und Zerstörung hin zur Kirche gingen, fanden sie im Walde unter dem herabgeschlagenen Reisig und Moos manchen toten Vogel und manch anderes Tier; unter einem geknickten Wipfel lag ein toter Wolf. Dein Urgroßvater ist bei diesem Gange sehr ernst gewesen; da sagt auf einmal das Lenerl von der Waldhütten zu ihm: O, Du himmlisch' Mirakel! Sepp, Dir wachst ja schon ein graues Haar! Später hat er alles erzählt, und nun nannten die Leute den Baum, auf dem er dieselbige Nacht hat zubringen müssen, die graue Tanne!« -- Das ist die Geschichte, wie sie mir mein Vater eines Abends beim Kornschöbern erzählt hat und wie ich sie später aus meiner Erinnerung niedergeschrieben. Als wir dann nach Hause gingen zur Abendsuppe und zur Nachtruhe, blickte ich noch mehreremale hin auf den Baum, der hoch über dem Wald in den dunklen Abendhimmel hineinstand. Von dieser Zeit ab fürchtete ich mich nicht mehr, wenn ich an der grauen Tanne vorüberging. Und sie stand noch jahrelang da, zur Winters- und Sommerszeit in gleicher Gestalt -- ein wild verworrenes Gerippe von Ästen, mit den wenigen dunkelgrünen Nadelballen auf der Krone und dem scharfkantigen Strunk über derselben. * * * * * Ich war schon erwachsen, da war es in einer Herbstnacht, daß mich mein Vater aufweckte und sagte: »Wenn Du die graue Tanne willst brennen sehen, so geh' vor das Haus!« Und als ich vor dem Hause stand, da sah ich über dem Walde eine hohe Flamme lodern, und aus derselben qualmte finsterer Rauch in den Sternenhimmel auf. Wir hörten das Dröhnen der Flammen, und wir sahen das Niederstürzen einzelner Äste; dann gingen wir wieder zu Bette. Am Morgen stand über dem Wald ein schwarzer Strunk mit nur wenigen Armen -- und hoch am Himmel kreiste ein Geier. Wir wußten nicht, wie sich in der stillen heiteren Nacht der Baum entzündete, und wir wissen es noch heute nicht. In der Gegend ist Vieles über dieses Ereignis gesprochen worden, und man hat demselben Wunderliches und Bedeutsames zu Grunde gelegt. Noch einige Jahre starrte der schwarze Strunk gegen den Himmel, dann brach er nach und nach zusammen, und nun stand nichts mehr empor über dem Wald. Auf dem Stocke und auf den letzten Resten des Baumes, die langsam in die Erde sinken und vermodern, wächst das Moos. [Illustration] [Illustration] Ums Vaterwort. Ich habe im Grunde keine schlechte Erziehung genossen, sondern vielmehr gar keine. War ich ein braves, frommes, folgsames, anstelliges Kind, so lobten mich meine Eltern; war ich das Gegenteil, so zankten sie mich derb aus. Das Lob that mir fast allezeit wohl, und ich hatte dabei das Gefühl, als ob ich in die Länge ginge, weil manche Kinder wie Pflanzen sind, die nur bei Sonnenschein schlank wachsen. Nun war mein Vater aber der Ansicht, daß ich nicht allein in die Länge, sondern auch in die Breite wachsen müsse, und dafür sei der Ernst und die Strenge gut. Meine Mutter hatte nichts als Liebe. Mein Vater mochte derselben Artung sein, allein er verstand es nicht, seiner Wärme und Liebe Ausdruck zu geben; bei all seiner Milde hatte der mit Arbeit und Sorgen beladene Mann ein stilles, ernstes Wesen; seinen reichen Humor ließ er vor mir erst später spielen, als er vermuten konnte, daß ich genug Mensch geworden sei, um denselben aufzunehmen. In den Jahren, da ich das erste Dutzend Hosen zerriß, gab er sich nicht just viel mit mir ab, außer wenn ich etwas Unbraves angestellt hatte; in diesem Falle ließ er seine Strenge walten. Seine Strenge und meine Strafe bestand gewöhnlich darin, daß er vor mich hintrat und mir mit schallenden, zornigen Worten meinen Fehler vorhielt und die Strafe andeutete, die ich verdient hätte. Ich hatte mich beim Ausbruche der Erregung allemal vor den Vater hingestellt, war mit niederhängenden Armen wie versteinert vor ihm stehen geblieben und hatte ihm während des heftigen Verweises unverwandt in sein zorniges Angesicht geschaut. Ich bereute in meinem Innern den Fehler stets, ich hatte das deutliche Gefühl der Schuld, aber ich erinnere mich auch an eine andere Empfindung, die mich bei solchen Strafpredigten überkam: es war ein eigenartiges Zittern in mir, ein Reiz- und Lustgefühl, wenn das Donnerwetter so recht auf mich niederging. Es kamen mir die Thränen in die Augen, sie rieselten mir über die Wangen, aber ich stand wie ein Bäumlein, schaute den Vater an und hatte ein unerklärliches Wohlgefühl, das in dem Maße wuchs, je länger und je ausdrucksvoller mein Vater vor mir wetterte. Wenn hierauf Wochen vorbeigingen, ohne daß ich etwas heraufbeschwor, und mein Vater immer gütig und still an mir vorüberschritt, begann in mir allmählich wieder der Drang zu erwachen und zu reifen, etwas anzustellen, was den Vater in Wut bringe. Das geschah nicht, um ihn zu ärgern, denn ich hatte ihn überaus lieb; es geschah gewiß nicht aus Bosheit, sondern aus einem anderen Grunde, dessen ich mir damals nicht bewußt war. Da war es einmal am heiligen Christabend. Der Vater hatte den Sommer zuvor in Mariazell ein schwarzes Kruzifixlein gekauft, an welchem ein aus Blei gegossener Christus und die aus demselben Material gebildeten Marterwerkzeuge hingen. Dieses Heiligtum war in Verwahrung geblieben bis auf den Christabend, an welchem es mein Vater aus seinem Gewandkasten hervornahm und auf das Hausaltärchen stellte. Ich nahm die Stunde wahr, da meine Eltern und die übrigen Leute noch draußen in den Wirtschaftsgebäuden und in der Küche zu schaffen hatten, um das hohe Fest vorzubereiten, ich nahm das Kruzifixlein mit Gefahr meiner geraden Glieder von der Wand, hockte mich damit in den Ofenwinkel und begann es zu zerlegen. Es war mir eine ganz seltsame Lust, als ich mit meinem Taschenfeitel zuerst die Leiter, dann die Zange und den Hammer, hernach den Hahn des Petrus und zuletzt den lieben Christus vom Kreuze löste. Die Teile kamen mir nun getrennt viel interessanter vor als früher im Ganzen; doch jetzt, da ich fertig war, die Dinge wieder zusammensetzen wollte, aber nicht konnte, fühlte ich in der Brust eine Hitze aufsteigen, auch meinte ich, es würde mir der Hals zugebunden. -- Wenn's nur beim Ausschelten bleibt diesmal ...? -- Zwar sagte ich mir: Das schwarze Kreuz ist jetzt schöner als früher; in der Hohenwanger Kapelle steht auch ein schwarzes Kreuz, wo nichts d'ran ist, und gehen doch die Leute hin, zu beten. Und wer braucht zu Weihnachten einen gekreuzigten Herrgott? Da muß er in der Krippe liegen, sagt der Pfarrer. Und das will ich machen. Ich bog dem bleiernen Christus die Beine krumm und die Arme über die Brust und legte ihn in das Nähkörbchen der Mutter und stellte so mein Kripplein auf den Hausaltar, während ich das Kreuz in dem Stroh des Elternbettes verbarg, nicht bedenkend, daß das Körbchen die Kreuzabnahme verraten müsse. Das Geschick erfüllte sich bald. Die Mutter bemerkte es zuerst, wie närrisch doch heute der Nähkorb zu den Heiligenbildern hinaufkäme? »Wem ist denn das Kruzifixlein da oben im Weg gewesen?« fragte gleichzeitig mein Vater. Ich stand etwas abseits, und mir war zu Mute wie einem Durstigen, der jetzt starken Myrrhenwein zu trinken kriegen sollte. Indeß mahnte mich eine absonderliche Beklemmung, jetzt womöglich noch weiter in den Hintergrund zu treten. Mein Vater ging auf mich zu und fragte fast bescheidentlich, ob ich nicht wisse, wo das Kreuz hingekommen sei? Da stellte ich mich schon kerzengerade vor ihn hin und schaute ihm ins Gesicht. Er wiederholte seine Frage, ich wies mit der Hand gegen das Bettstroh, es kamen die Thränen, aber ich glaube, daß ich keinen Mundwinkel verzogen habe. Der Vater suchte das Verborgene hervor und war nicht zornig, nur überrascht, als er die Mißhandlung des Heiligtums sah. Mein Verlangen nach dem Myrrhenwein steigerte sich. Der Vater stellte das kahle Kruzifixlein auf den Tisch. »Nun sehe ich wohl,« sagte er mit aller Gelassenheit und langte seinen Hut vom Nagel, »nun sehe ich wohl, er muß endlich rechtschaffen gestraft werden. Wenn einmal der Christi-Herrgott nicht sicher geht ...! Bleib' mir in der Stuben, Bub'!« fuhr er mich finster an und ging dann zur Thüre hinaus. »Spring' ihm nach und schau' zum Bitten!« rief mir die Mutter zu, »er geht Birkenruten abschneiden.« Ich war wie an den Boden geschmiedet. Gräßlich klar sah ich, was nun über mich kommen würde, aber ich war außer Stande, auch nur einen Schritt zur Abwehr zu machen. Die Mutter ging ihrer Arbeit nach, in der abendlich dunkelnden Stube stand ich allein und vor mir auf dem Tisch das verstümmelte Kruzifix. Heftig erschrak ich vor jedem Geräusch. Im alten Uhrkasten, der dort an der Wand bis zum Fußboden niederging, rasselte das Gewicht der Schwarzwälder-Uhr, welche die fünfte Stunde schlug. Endlich hörte ich draußen auch das Schnee-Abklopfen von den Schuhen, es waren des Vaters Tritte. Als er mit dem Birkenzweig in die Stube trat, war ich verschwunden. Er ging in die Küche und fragte mit wild herausgestoßener Stimme, wo der Bub sei? Es begann im Hause ein Suchen, in der Stube wurden das Bett und die Winkel und das Gesiedel durchstöbert, in der Nebenkammer, im Oberboden hörte ich sie herumgehen, ich hörte die Befehle, man möge in den Ställen die Futterkrippen und in den Scheunen Heu und Stroh durchforschen, man möge auch in den Schachen hinausgehen und den Buben nur stracks vor den Vater bringen -- diesen Christabend solle er sich für sein Lebtag merken! Aber sie kehrten unverrichteter Dinge zurück. Zwei Knechte wurden nun in die Nachbarschaft geschickt, aber meine Mutter rief, wenn ich etwa zu einem Nachbar über Feld und Wald gegangen sei, so müsse ich ja erfrieren, es seien mein Jöpplein und mein Hut in der Stube. Das sei doch ein rechtes Elend mit den Kindern! Sie gingen davon, das Haus wurde fast leer, und in der finstern Stube sah man nichts mehr als die grauen Vierecke der Fenster. Ich stak im Uhrkasten und konnte durch die Fugen desselben hervorgucken. Durch das Thürchen, welches für das Aufziehen des Uhrwerkes angebracht war, hatte ich mich hineingezwängt und innerhalb des Verschlages hinabgelassen, so daß ich nun im Uhrkasten ganz aufrecht stand. Was ich in diesem Verstecke für Angst ausgestanden habe! Daß es kein gutes Ende nehmen konnte, sah ich voraus, und daß die von Stunde zu Stunde wachsende Aufregung das Ende von Stunde zu Stunde gefährlicher machen mußte, war mir auch klar. Ich verwünschte den Nähkorb, der mich anfangs verraten hatte, ich verwünschte das Kruzifixlein -- meinen Leichtsinn zu verwünschen, darauf vergaß ich. Es gingen Stunden hin, ich blieb in meinem aufrechtstehenden Sarge, und schon saß mir der Eisenzapfen des Uhrgewichtes auf dem Scheitel, und ich mußte mich womöglich niederducken, sollte das Stehenbleiben der Uhr nicht Anlaß zum Aufziehen derselben und somit zu meiner Entdeckung geben. Denn endlich waren meine Eltern in die Stube gekommen, hatten Licht gemacht und meinetwegen einen Streit begonnen. »Ich weiß nirgends mehr zu suchen,« hatte mein Vater gesagt und war erschöpft auf einen Stuhl gesunken. »Wenn er sich im Walde vergangen hat oder unter dem Schnee liegt!« rief die Mutter und erhob ein lautes Weinen. »Sei still davon!« sagte der Vater, »ich mag's nicht hören.« »Du magst es nicht hören und hast ihn mit Deiner Herbheit selber vertrieben.« »Mit diesem Zweiglein hätte ich ihm kein Bein abgeschlagen,« versetzte er und ließ die Birkenrute auf den Tisch niederpfeifen. »Aber jetzt, wenn ich ihn erwisch', schlag ich einen Zaunstecken an ihm entzwei.« »Thue es, thue es -- 'leicht thut's ihm nicht mehr weh,« sagte die Mutter und setzte das Weinen fort. »Meinst, Du hättest Deine Kinder nur zum Zornauslassen? Da hat der lieb' Herrgott ganz recht, wenn er sie beizeiten wieder zu sich nimmt! Kinder muß man lieb haben, wenn etwas aus ihnen werden soll.« Hierauf er: »Wer sagt denn, daß ich den Buben nicht lieb hab'? Ins Herz hinein, Gott weiß es! Aber sagen mag ich ihm's nicht; ich mag's nicht, und ich kann's nicht. Ihm selber thut's nicht so weh als mir, wenn ich ihn strafen muß, das weiß ich!« »Ich geh' noch einmal suchen!« sagte die Mutter. »Ich will auch nicht dableiben!« sagte er. »Du mußt mir einen warmen Löffel Suppe essen! 's ist Nachtmahlszeit,« sagte sie. »Ich mag jetzt nichts essen! Ich weiß mir keinen andern Rat,« sagte der Vater, kniete zum Tisch hin und begann still zu beten. Die Mutter ging in die Küche, um zur neuen Suche meine warmen Kleider zusammenzutragen für den Fall, als man mich irgendwo halberfroren finde. In der Stube war es wieder still, und mir in meinem Uhrkasten war's, als müsse mir vor Leid und Pein das Herz brechen. Plötzlich begann mein Vater aus seinem Gebete krampfhaft aufzuschluchzen. Sein Haupt fiel nieder auf den Arm, und die ganze Gestalt bebte. Ich that einen lauten Schrei. Nach wenigen Sekunden war ich von Vater und Mutter aus dem Gehäuse befreit, lag zu Füßen des Vaters und umklammerte wimmernd seine Knie. »Mein Vater, mein Vater!« das waren die einzigen Worte, die ich stammeln konnte. Er langte mit seinen beiden Armen nieder und hob mich auf zu seiner Brust, und mein Haar ward feucht von seinen Zähren. Mir ist in jenem Augenblicke die Erkenntnis aufgegangen. Ich sah, wie abscheulich es sei, diesen Vater zu reizen und zu beleidigen. Aber ich fand nun auch, _warum_ ich es gethan hatte. Aus Sehnsucht, das Vaterantlitz vor mir zu sehen, ihm ins Auge schauen zu können und seine zu mir sprechende Stimme zu hören. Sollte er schon nicht mit mir heiter sein, so wie es andere Leute waren und wie er es damals, von Sorgen belastet, so selten gewesen, so wollte ich wenigstens sein zorniges Auge sehen, sein herbes Wort hören; es durchrieselte mich mit süßer Gewalt, es zog mich zu ihm hin. Es war das Vaterauge, das Vaterwort. Kein böser Ruf mehr ist in die heilige Christnacht geklungen, und von diesem Tage an ist vieles anders geworden. Mein Vater war seiner Liebe zu mir und meiner Anhänglichkeit an ihn inne geworden und hat mir in Spiel, Arbeit und Erholung wohl viele Stunden sein liebes Angesicht, sein treues Wort geschenkt, ohne daß ich noch einmal nötig gehabt hätte, es mit Bosheit erschleichen zu müssen. [Illustration] [Illustration] Allerlei Spielzeug. Ich habe als Kind mir meine Welt, die von Natur höllisch klein war, auseinandergedehnt, wie mein Vetter Simmerl den Katzenbalg, aus dem er sich einen Tabaksbeutel machen wollte. Und es ist, bigott! ein Sack draus worden, in welchem all' die unglaublichen Phantastereien einer ungezogenen Bauernbubenseele vollauf Platz gehabt haben. Wie ich mir später die Bücher, die ich nicht kaufen konnte, selber machte, so habe ich mir auch die größten Städte der Welt, die ich nicht sehen konnte, selber gebaut. Die jahrelange Kränklichkeit meines Vaters verschaffte mir das Baumaterial. Die Hustenpulver vom Doktor, der spanische Brustthee vom Kaufmann, die Medizinflaschen vom Bader waren stets in gutes, oft sogar schneeweißes Papier eingeschlagen; aus diesem Papier schnitzte ich mit der Nähschere meiner Mutter oder, wenn ich diese schon zerbrochen oder verloren hatte, mit jener der Magd, allerlei Häuser, Kirchen, Paläste, Türme, Brücken, bog sie geschickt zur passenden Form und stellte sie in Reihen und Gruppen auf den Tisch. Das gesuchteste Material hiefür waren wohl die alten Steuerbücheln mit ihren steifen Blättern; und kam es freilich vor, daß über der ganzen Hauptfronte eines Herrenpalastes das »Datum der Schuldigkeit« stand, oder ein Kirchturm anstatt Fenster und Uhren nichts als lauter Posten der »Abstattung« hatte. Als es aber ruchbar worden war, daß ich meine Prachtbauten mit den blutigen Steuersummen der Bauern aufführe, da gab's eine kleine Revolution, indem mein Vater einmal mit der flachen Hand mir einige öffentliche Gebäude unter den Tisch hinab wischte. Eines Tages ging ich einer Hirtenangelegenheit wegen ins Ebenholz hinaus. Ich hatte die Magd ersucht, ob sie mir nicht ihre heilige Monika mit in den Wald leihen möchte. »Du lieber Närrisch!« hatte die Magd geantwortet, »wenn sie nur ganz wär', aber es ist mir die Maus dazugekommen. Was übrig blieben ist, das magst haben.« So nahm ich das Büchlein von der heiligen Monika mit in das Ebenholz. Aber als ich in demselben zu lesen begonnen hatte, hub im Sacke die Nähschere meiner Mutter zu sticheln an: ob ich die Geschichte von dieser Heiligen denn nicht schon längst auswendig wisse? ob die Maus nicht etwa schon das Beste weggenagt hätte? ob ich mir für diese grauen und angefressenen Blätter eine bravere Verwendung denken könne, als daraus die schöne Weltstadt Paris zu bauen? -- Ich wollte der alten Nähschere meiner Mutter nicht widersprechen. Nun stand zur selben Zeit im Ebenholz noch die alte Schlagerhütte, die einst ein Bauernhäuschen gewesen und zwischen dem jungen Fichtenanwuchs verlassen und öde hocken geblieben war. Die Fensterchen waren ohne Gläser, die Thür war aus den Angeln gehoben, und auf der Schwelle wucherten Brennesseln. Die Luft in der Hütte roch ganz moderig, und jedes Geräusch wiederhallte grell an den Wänden, als wollte das alte Zimmerholz mit dem Eintretenden allsogleich ein Gespräch anheben. Mir war dieser Bau unheimlich gewesen bis zu jenem Tage, da mich und unseren Knecht Marcus im Walde ein scharfer Wetterregen überraschte und wir uns in die Hütte flüchteten. »Ja,« hatte damals der alte Marcus gesagt, als die Donner hallten und schallten, »ja, wir haben heuer halt ein Schalljahr.« So nennen sie bei mir daheim das Schaltjahr und meinen, der Name komme von dem Schallen des Donners. Als der Regen fortwährte, fragte mich der Marcus: »Kannst kartenspielen, Bub'?« »Zwicken und Bettlerrufen kann ich,« war meine Antwort, »aber wir sollen lieber den Wettersegen beten.« »Da ist mir das Bettlerrufen unterhaltlicher.« »Wenn's aber einschlagt!« gab ich zu bedenken. Der Knecht zog Spielkarten aus seinem Sack, wir setzten uns an den großen Tisch und kartelten, bis draußen die nassen Zweige funkelten und die helle Sonne zum Fenster hereinschien. Seither war mir die Hütte heimlich. Und nun ging ich ihr zu, setzte mich an den großen, wurmstichigen Tisch und schnitzte aus den Blättern der »heiligen Monika« die große Weltstadt Paris. Ich stellte die Häuser in langen Gassenreihen auf, und die Gassen und Plätze bevölkerte ich mit blauen Heidelbeeren und roten Preißelbeeren -- erstere waren die Männer, letztere die Frauen. Um das Königsschloß postierte ich Reihen von Stachelbeeren, das waren die Soldaten. Als der Tisch voll geworden war und ich trunkenen Blickes hinschaute auf die vieltürmige Stadt und ihre belebten Gassen, die ich gegründet und wie ein Schutzgeist beschirmte, dachte ich: Nun soll über diese Stadt aber auch einmal eine rechte Straf' Gottes kommen. Wie stehts mit einem Sturmwind? -- Ich blies drein -- hei, purzelten ganze Häuserfronten über und über. Sie wurden wieder erbaut. Da endlich aber der Abend kam und meines Bleibens in der Hütte nicht mehr länger sein konnte, sann ich nach, wie ich die Stadt Paris am großartigsten zu Grunde gehen lassen könnte. -- Eine Feuersbrunst? -- Neunjährige Bauernjungen tragen immer schon Streichhölzchen im Sack, weil sie sich doch allmählich mit dem Hauptberufe des Mannes, mit dem Tabakrauchen, bekannt zu machen trachten müssen. Das Feuer entstand mitten in der Stadt, und nach wenigen Sekunden standen ganze Viertel in Flammen. Die Bevölkerung war starr vor Schreck, das Feuer wogte hin, und die Mauern zitterten, und die kahlen Ruinen ringelten sich. Da der Königspalast verschont bleiben zu wollen schien, so blies ich die Flammen gegen denselben hin -- wehe, da flogen die brennenden Häuser über den Tisch und auf den Fußboden, wo in der Ecke noch ein Bund Bettstroh lag. Jetzt wurde der Spaß Ernst. Das Papier hatte so still gebrannt, das Stroh knisterte schon vernehmlicher, und ein greller Schein erhellte die Hütte. Ich wollte eben davonstürzen, als unser Knecht Marcus zur Thür hereinsprang und mit einem buschigen Baumwipfel das Feuer totschlug. Knecht Marcus war verschwiegen, war ein dunkler Ehrenmann, aber das sagte er mir, wenn ich mich mit Sengen und Brennen auf den Etzel hinausspielen wolle, so thäte er es dem Kaiser schreiben, daß er mich rechtzeitig köpfen lasse. Von diesem Tage an habe ich keine Stadt mehr gegründet und keine mehr zerstört. Ich ging von der Architektur zur Musik und Malerei über. Ich hatte bei herumziehenden Musikern, die vor unserer Hausthür uns das Leben schön machten, allerlei Saiteninstrumente kennen gelernt. Ich hatte einen alten Harfenisten nach Beendigung seines Ständchens sogar einmal angesprochen, ob er es für einen Sechser erlauben könne, daß ich mit ihm zum nächsten Nachbar gehe, um sein Spiel dort noch einmal zu hören; worauf der Künstler antwortete, für einen Sechser bleibe er an unserer Thür stehen und spiele, so lange ich wolle. Damals ist mir der ganze Wert unserer legierten Silbersechser zum Bewußtsein gekommen. Nun hatten wir aber an jenem Tage in unserer Stube einen alten, brummigen Schuster, und der hatte gerade seinen Kopfwehtag. Als ich denn vor dem spielenden Musiker, die Hände in den Hosentaschen, dastand, die Zehen in den Sand bohrte, gleichsam, als wollte ich mich einwurzeln, sprang plötzlich der Schuster mit grüngelbem Gesichte zur Thür heraus und ließ einen tollen Fluch fahren über das verteufelte Geklimper. Mitten in der Herrlichkeit brach der Harfner das Spiel ab. Für einen solchen Baß sei sein Instrument nicht berechnet, meinte er, rückte die Harfe auf den Buckel und ging davon. Seit jenem Tage datiert mein Haß gegen die Schuster, die ihren Kopfwehtag haben. Die Harfe ging mir nicht aus dem Kopfe. In unserem Rübenkeller stand ein altes, säuerlndes Fäßchen, das mein Vater beim Stockerwirt allemal für die drei Faschingstage mit Apfelmost füllen ließ. Nun war es längst leer, und diese Leere kam mir zu statten. Ich stülpte das Fäßchen auf, zog über den Boden Zwirnsfäden wie Saiten, so daß diese je nach ihrer Länge einen verschiedenen Ton gaben, wenn ich sie mit dem Finger berührte. Da hatte ich ein Saiteninstrument mit dem respektabelsten Resonanzboden. Doch erinnere ich mich nicht mehr, inwiefern ich damit meinen musikalischen Hang ausgebildet habe -- ich weiß nur, daß zum nächsten Fasching, als ich unseren tanzlustigen Mägden auf meiner Harfe was aufspielen wollte, wieder frischer Most in dem Fäßchen war. In denselben Jahren hatte ich mit einem jungen Studenten Bekanntschaft gemacht, mit dem Söhnlein eines Nachbars, welches in Graz auf Geistlich studierte, auf die Ferien stets nach Hause kam und Reichtümer mitbrachte. Ich erwarb mir seine Gunst, indem ich ihn öfters auf unsern Schwarzkirschbaum lud, wo es zu schnabulieren gab. Der Student riß zwar ein um das andere Ästlein ab, um zur süßen Frucht zu gelangen, aber mein Vater, der sonst solcherlei Verstümmelungen scharf ahndete, war der Meinung, einem angehenden Priester dürfe man nichts verwehren, er würde dereinst den Kirschbaum schon in sein Meßopfer einschließen, daß er gedeihe und immerwährend fruchtbar sei. Der Student war für solche Rücksichten erkenntlich und stellte mir all' seine Bücher, Landkarten, Schreib- und Zeichenrequisiten zur Verfügung. Den Schulfleiß des Studenten in Ehren! Dennoch aber glaube ich, daß seine »deutschen Lesebücher für die Gymnasialklassen«, seine »Welter's Weltgeschichte«, sein »Handbuch des katholischen Kultus«, sein »Leitfaden der Erdkunde« u. s. w. während der Vakanzen schier mehr strapaziert wurden, als während des Schuljahres. Als sich der angehende Theologe mit denselben auf sein Hirtenamt vorbereiten sollte, übte ich mit ihnen das meine bereits aus. Doch ließ ich meine Kühe und Ochsen Rinder sein, lag im grünen Grase und las. -- O ihr armen Bücherwürmer in den staubigen Bibliotheken, ihr habt gar keine Ahnung davon, was im Waldschatten ein Buch ist! -- _Viele_ Bücher würden leicht auch den im Walde Lagernden beunruhigen, verwirren und entmarken; aber _ein_ Buch, ein seelenvolles Buch genießt man dort ganz aus und gedeiht dabei. Ich denke hier an das Lesebuch für die Gymnasialklassen, reich an Gedichten und Aufsätzen von deutschen Klassikern. Ich konnte es nicht einmal ganz verstehen, aber es wirkte tiefer auf mich, als alle spätere Lektüre zusammen. Als die Kirschen alle waren und die Blätter des Baumes gelb wurden, packte der Student seine Bücher zusammen und ging wieder in die »Studie«. Einmal ließ er mir ein Kästchen mit Wasserfarben zurück. Jetzt schnitt ich mir ein Löckchen Haar vom Haupte, band es an ein Stäblein, und mit solchem Pinsel begann ich zu malen. Eine große Anzahl der Heiligenbildchen, die heute noch in verschiedenen Gebetbüchern der Gegend zu finden, ist mit meinem Haar gemalt worden. Die Leute haben sich hell verwundert, wenn sie mir zugeschaut und gesehen, wie man mir nichts dir nichts die Muttergottesen macht. Einmal kam der alte Schneider-Jackel, Küster von Krieglach, in unser Haus, um den Pfarrzehent abzuholen; der sah mich malen. »Na,« sagte er fortwährend, »aber _da_ gehört was dazu! Jetzt malt so ein kleiner Schlingel da himmlische Leut'! Und daß es eine Form hat! Ein hellrotes G'wandl, ein schön's! Ein Gesicht -- wie er aber das Gesichtel macht! Die ganze Fleischfarb' -- und 's Göscherl! Und die Augen, die blauen, wie sie auslugen! -- Spitzbub, Du! Freilich, den Heiligenglanz auch, na, der darf nicht fehlen. Wär' nit ganz, wenn der fehlen thät'! -- Schon eine Menge so Bildln hast da! -- Bist aber ein Kreuzköpfel -- Du mußt schon ein Maler werden! Alles von Dir selber hast' gelernt? Ist viel! Ist viel das! Schau, das thät's nit, die Bildln muß ich alle mitnehmen, 's thät's nit anders, die müssen ihre heilige Weih' kriegen. Dank Dir Gott, Schwarzkünstler, Du kleiner!« Vor meinen Augen that er die Bildchen -- es waren deren allerlei und eine große Anzahl -- zusammen, schob sie in seinen Sack und ging davon. Mir blieb der Verstand stehen. Aber mir schwoll der Kamm, als ich bald darauf hörte, der Küster hätte bei seiner Wallfahrt mit der Krieglacher Kreuzschar nach Mariazell meine Heiligenbilder am Gnadenaltare weihen lassen und sie hernach an die Wallfahrer verteilt. Unter Anderen ist später auch der alte Riegelberger in den Besitz eines solchen Heiligtums gekommen. Er soll es allemal, so oft er sein Gebetbuch aufschlug, brünstig geküßt haben; als er es aber erfuhr, von wem das Bildchen herrühre, ist er schnurgerade in unser Haus gegangen und hat mich zur Rede gestellt, warum ich mit heiligen Dingen Frevel treibe? Ob ich's vielleicht leugnen wolle? Geweihte Sachen hätte ich gemalt! »Ja,« sagte ich, »wenn Ihr das Kalb auf den Kopf stellt, wird es freilich den Schweif in die Höhe recken.« »Willst mich fean (höhnen), Bub?« »Die Bilder sind zuerst gemalt und _nachher_ geweiht worden.« Es hielt schwer, ihm die Sache begreiflich zu machen, und er rief immer wieder aus, zerfetzen möchte er das schlechte Zeug, wenn's ihm um die heilige Weih' nicht leid thäte. Ein andermal hatte ich mit demselben Manne eine viel gefährlichere Begegnung. Es waren zur selben Zeit noch die kleinen Papierzehner im Land. Ein solches Notlein habe ich wundershalber einmal nachgemacht. Dem Knecht Marcus kam es zu Augen, der schmunzelte das Streifchen an und ersuchte mich, daß ich es ihm ein wenig leihe. Einen Tag später begegnete ich auf dem Feldwege dem Riegelberger. Er grinste mich schon von weitem an und lächelte mir dann freundlich zu: »Büberl, Du wirst aufgehenkt.« »Ihr meint, weil ich so allerhand Bildeln gemalt hab'?« »Bildeln, so viel Du willst. Aber die falschen Banknoten! Ja, lieber Freund! Einen hab' ich von Dir in der Brieftasche und geh' gerade, mir jetzt dafür Tabak kaufen.« Ich denke, daß ich über diese Mitteilung sehr blaß geworden bin, denn der Riegelberger sagte nun: »Auf _ein_ Pfeiferl hab' ich noch in der Blader. Was giebst mir zu Lohn, wenn ich mir das Pfeiferl jetzt mit Deinem neuen Zehner anzünde?« In demselben Augenblick ist mir ein Gedanke durch den Kopf geflogen, den ich einfing, weil er mir nicht schlecht vorkam. »Ihr meint, Riegelberger, weil ich erschrocken bin?« sagte ich; »erschrocken bin ich nur, weil Ihr den schrecklichen Frevel begehen wollt.« »Möcht' wissen, wie so ich --?« »Das Papierzehnerl, das Ihr von mir in der Brieftasche gehabt, ist unter meine Heiligenbilder gekommen. Ist in Zell geweiht worden!« »Geh, geh, das Geld nimmt keine Weih' an,« versetzte der Riegelberger. »Das Geld freilich nicht, das weiß ich, aber mein Zehner ist keins, ist nur zum Fürwitz eins und will keins sein. Und Ihr wollt Euch für die geweihte Sach' Tabak kaufen? Ist schon recht, probiert es nur! werdet schon sehen, wie Euch ein solcher Tabak in die Nase beißen wird!« Jetzt wurde der Mann zornig. »Du Bub!« rief er, »wenn Du alleweil nur Leut' foppen willst!« Er zog die Brieftasche hervor, das Papierstreifchen heraus und zerriß es vor meinen Augen: »So, da hast Deine Fetzen! und jetzt geh und arbeit' was, bist schon groß genug dazu. Ich, wenn ich Dein Vater wär', wollt Dir Deine Fabeleien und Schmierereien schon vertreiben! Arbeiten, daß die Schwarten krachen, ist gescheiter!« S'ist doch der beste Rat gewesen, den er mir hätte geben können. Er ist auch gar bald befolgt worden. Aber in den Feierabendstunden habe ich meine kindischen Spiele und künstlerischen Beschäftigungen getrieben, weit über die Kindesjahre hinaus. Und wenn ich meine heutigen Thaten betrachte -- s'ist Alles nur Versuch und Spiel. Es war ein kleines Kind, es ist ein großes Kind -- ich bin damit zufrieden. [Illustration] [Illustration] Wie der Meisensepp gestorben ist. In meinem Vaterhause fand sich die »Lebensbeschreibung Jesu Christi, seiner Mutter Mariä und vieler Heiligen Gottes«. Ein geistlicher Schatz von Pater Cochem. Das war ein altes Buch; die Blätter waren grau, die Kapitelanfänge hatten wunderlich große Buchstaben in schwarzen und roten Farben. Der hölzerne Einbanddeckel war an manchen Stellen schon wurmstichig, und eine der ledernen Klappen hatte die Maus zernagt. Seit meines Großvaters Tode war im Hause Niemand gewesen, der darin hätte lesen können; was Wunder, wenn die Tierlein Besitz nahmen von Cochems »Leben Christi« und aus dem »geistlichen Schatz« ihre leibliche Nahrung zogen. Da kam ich, der kleine ABC-Schütz, verjagte die Würmer aus dem Buche und fraß mich dafür selber hinein. Täglich las ich unseren Hausleuten vor aus dem »Leben Christi«. Den jungen Knechten und Mägden gefiel der neue Brauch just nicht, denn sie durften dabei nicht scherzen und nicht jodeln; die älteren Hausgenossen aber, die schon etwas gottesfürchtiger waren, hörten mir mit Andacht zu; »und das ist,« sagten sie, »als wie wenn der Pfarrer predigen thät; so bedeut ausführen und so eine laute Stimm'!« Ich kam in den Ruf eines tüchtigen Vorlesers und wurde ein gesuchter Mann. Wenn irgendwo in der Nachbarschaft jemand krank lag oder zum Sterben oder wenn er gar schon gestorben war, so daß man an seiner Leiche zur Nacht die Totenwache hielt, so wurde ich von meinem Vater ausgebeten, daß ich hinginge und lese. Da nahm ich das gewichtige »Leben-Christi-Buch« unter den Arm und ging. Es war ein hartes Tragen, und ich war dazumal ein kleinwinziger Knirps. Einmal spät abends, als ich schon in meiner kühlen und frischduftenden Futterkammer schlief, in welcher ich zur Sommerszeit bisweilen das Nachtlager hatte, wurde ich durch ein Zupfen an der Decke von unserm Knecht geweckt. -- »Sollst fein geschwind aufstehen, Peter, sollst aufstehen. Der Meisen-Sepp hat seine Tochter geschickt, er läßt bitten, Du sollst zu ihm kommen und ihm was vorlesen; er wollt' sterben. Sollst aufstehen, Peter.« -- So stand ich auf und zog mich eilends an. Dann nahm ich das Buch und ging mit dem Mädchen von unserem Hause aufwärts über die Heide und durch die Waldungen. Das Häuschen des Meisen-Sepp stand gar einsam mitten im Wald. Der Meisen-Sepp war in seinen jüngeren Jahren Reuter und Waldhüter gewesen; in letzterer Zeit hatte er sich nur mehr mit Sägeschärfen für Holzhauerleute beschäftigt. Und da kam plötzlich die schwere Krankheit. Wie wir, ich und das Mädchen, in der stillen, sternhellen Nacht so durch die Ödnis schritten, sagten wir Keines ein Wort. Schweigend gingen wir neben einander hin. Nur einmal flüsterte das Mädchen: »Laß her, Peter, ich will Dir das Buch tragen.« »Das kannst nicht,« antwortete ich, »Du bist ja noch kleiner wie ich selber.« Nach einem zweistündigen Gang sagte das Mädchen: »Dort ist schon das Licht.« Wir sahen einen matten Schein, der aus dem Fenster des Meisenhauses kam. Als wir diesem schon sehr nahe waren, begegnete uns der Pfarrer, der dem Kranken die heiligen Sakramente gereicht hatte. »Der Vater -- wird er wieder gesund?« fragte das Mädchen kleinlaut. »Ist noch nicht so alt,« sagte der Priester; »wie Gott will, Kinder, wie Gott will.« Dann ging er davon. Wir traten in das Haus. Das war klein, und nach der Art der Waldhütten standen die Familienstube und Schlafkammer gleich in der Küche. Am Herd in einem Eisenhaken stak ein brennender Kienspan, von dem die Stubendecke in einen Rauchschleier gehüllt war. Neben dem Herde auf Stroh lagen zwei kleine Knaben und schlummerten. Sie waren mir bekannt vom Walde her, wo wir oft mitsammen Schwämme und Beeren suchten und dabei unsere Herden verloren; sie waren noch um etliche Jahre jünger als ich. An der Ofenmauer saß das Weib des Sepp, hatte ein Kind an der Brust und sah mit großen Augen in die flackernde Flamme des Kienspans hinein. Und hinter dem Ofen, in der einzigen Bettstatt, die im Hause war, lag der Kranke. Er schlief; sein Gesicht war recht eingefallen, das grauende Haar und der Bart um's Kinn waren kurz geschnitten, so daß mir der ganze Kopf kleiner vorkam, als sonst, da ich den Sepp auf dem Kirchweg gesehen hatte. Die Lippen waren halb offen und blaß, durch dieselben zog ein lebhaftes Atmen. Bei unserem Eintritt erhob sich das Weib leise, sagte eine Entschuldigung, daß sie mich aus dem Bette geplagt habe, und lud ein, daß ich mich an den Tisch setzen und die Eierspeise essen möge, die der Herr Pfarrer übrig gelassen hatte, und die noch auf dem Tische stand. Bald saß ich auf demselben Fleck, den der geistliche Herr noch hatte warm gemacht, und jetzt aß ich mit derselben Gabel, die er hatte in den Mund geführt! »Jetzt schläft er passabel,« flüsterte das Weib, nach dem Kranken deutend. »Vorhin hat er allweg Fäden aus der Decke gezupft.« Ich wußte, daß man es für ein übles Zeichen auslegt, wenn ein Schwerkranker an der Decke zupft und kratzt; »da kratzt er sich sein Grab«. Ich entgegnete daher: »Ja, das hat mein Vater auch gethan, als er im Nervenfieber ist gelegen. Ist doch wieder gesund worden.« »Das mein' ich wohl auch,« sagte sie, »und der Herr Pfarrer hat dasselbe gesagt. -- Bin doch froh, die Beicht hat der Seppel recht fleißig verrichten mögen, und ich hab' jetzt wieder rechtschaffen Trost, daß er mir noch einmal gesund wird. -- Nur,« setzte sie ganz leise bei, »das Spanlicht leckt alleweil so hin und her.« Wenn in einem Hause das Licht unruhig flackert, so deutet das der Glaube des Volkes: es werde in demselben Hause bald ein Lebenslicht auslöschen. Ich selbst glaubte an dieses Zeichen, doch um die Häuslerin zu beruhigen, sagte ich: »Es streicht die Luft alles zu viel durch die Fensterfugen; ich verspür's auch.« Sie legte das schlummernde Kind auf das Stroh; auch das Mädchen, welches mich geholt, war schon zur Ruh gegangen. Wir verstopften hierauf die Fensterfugen mit Werg. Dann sagte das Weib: »Gelt, Peter, Du bleibst mir da über die heutige Nacht; ich wüßt mir aus Zeitlang nicht zu helfen. Wenn er munter wird, so liest uns was vor. Gelt, Du bist so gut?« Ich schlug das Buch auf und suchte nach einem geeigneten Lesestück. Allein, Pater Cochem hat nicht viel geschrieben, was armen, duldenden Menschen zum Troste sein könnte. Pater Cochem meint, Gott wäre unendlich gerecht und die Leute wären unsäglich schlecht, und neun Zehntel der Menschen liefen schnurgerade der Hölle zu. Es mag ja wohl sein, dachte ich mir, daß es so ist; aber dann darf man's nicht sagen, die Leute thäten sich nur grämen, und des weiteren blieben sie leichtlich so schlecht wie früher. Wenn sie sich bessern hätten wollen, so hätten sie's längst schon gethan. Die schreckhaften Gedanken gingen wie eine zischelnde Natter durch das Cochem'sche Buch. Fürwitzigen Leuten gegenüber, die mich nur anhörten der »lauten Predigerstimm'« wegen, donnerte ich die Greuel und Menschenverdammung recht mit Vergnügen heraus; wenn ich aber an Krankenbetten aus dem Buche las, da mußte ich meine Erfindungsgabe oft sehr anstrengen, daß ich während des Lesens die harten Ausdrücke milderte, die schaudererregende Darstellung der vier letzten Dinge mäßigte und den grellen Gedanken des eifernden Paters eine freundlichere Färbung geben konnte. So plante ich auch heute, wie ich, scheinbar aus dem Buche lesend, dem Meisen-Sepp aus einem anderen Buche her Worte sagen wollte von der Armut, von der Geduld, von der Liebe zu den Menschen und wie darin die wahre Nachfolge Jesu bestehe, die uns -- wenn die Stunde schlüge -- durch ein sanftes Entschlummern hinüberführe in den Himmel. Endlich erwachte der Sepp. Er wendete den Kopf, sah sein Weib und seine ruhenden Kinder an; dann erblickte er mich und sagte mit lauter, ganz deutlicher Stimme: »Bist doch gekommen, Peter. So dank Dir Gott, aber zum Vorlesen werden wir heut' wohl keine Zeit haben. Anna, sei so gut und weck' die Kinder auf.« Das Weib zuckte zusammen, fuhr mit der Hand zu ihrem Herzen, sagte aber dann in ruhigem Tone: »Bist wieder schlechter, Seppel? Hast ja recht gut geschlafen.« Er merkte es gleich, daß ihre Ruhe nicht echt war. »Thu' Dich nicht gar so grämen, Weib,« sprach er, »auf der Welt ist's schon nicht anders. Weck' mir schön die Kinder auf, aber friedsam, daß sie nicht erschrecken.« Die Häuslerin ging zum Strohlager, rüttelte mit bebender Hand am Schaub, und die Kleinen fuhren halb bewußtlos empor. »Ich bitt' Dich gar schön, Anna, reiß mir die Kinder nicht so herum,« verwies der Kranke mit schwächerer Stimme, »und die kleine Martha laß schlafen, die versteht noch nichts.« Ich blieb abseits am Tische sitzen, und mir war heiß in der Brust. Die Angehörigen versammelten sich um den Kranken und schluchzten. »Seid Ihr nur ruhig,« sagte der Sepp zu seinen Kindern, »die Mutter wird Euch schon morgen länger schlafen lassen. Josefa, thu' Dir das Hemd über die Brust zusammen, sonst wird Dir kalt. Und jetzt -- seid allweg schön brav und folgt der Mutter, und wenn Ihr groß seid, so steht ihr bei und verlaßt sie nicht. -- Ich hab' gearbeitet meiner Tag mit Fleiß und Müh'; gleichwohl kann ich Euch weiter nichts hinterlassen, als dieses Haus und den kleinen Garten, und den Rainacker und den Schachen dazu. Wollt' Euch's teilen, so thut es brüderlich, aber besser ist's, Ihr haltet die Wirtschaft zusammen und thut hausen und thut bauen. Weiters mach' ich kein Testament, ich hab' Euch alle gleich lieb. Thut nicht ganz vergessen auf mich, und schickt mir dann und wann ein Vaterunser nach. -- Und Euch, die zwei Buben, bitt' ich von Herzen: Hebt mir mit dem Wildern nicht an; das nimmt kein gutes End'. Gebt mir die Hand darauf. So. -- Wenn halt Einer von Euch das Sägefeilen wollt' lernen; ich hab' mir damit viel Kreuzer dermacht (erworben); Werkzeug dazu ist da. Und sonst wißt Ihr schon, wenn Ihr am Rainacker die Erdäpfel anbaut, so setzt sie erst im Mai ein; 's ist wohl wahr, was mein Vater fort gesagt hat: Bei den Erdäpfeln heißt's: Baut mich an im April, komm' ich, wann ich will; baut mich an im Mai, komm' ich glei (gleich). -- Thut Euch so Sprüchlein nur merken. -- So, und jetzt geht wieder schlafen, Kinder, daß Euch doch nicht kalt wird, und gebt allzeit rechtschaffen Obacht auf Eure Gesundheit. Gesundheit ist das Beste. Geht nur schlafen, Kinder.« Der Kranke schwieg und zerrte an der Decke. »Frei zu viel reden thut er mir,« flüsterte das Weib gegen mich gewendet. Eine bei Schwerkranken plötzlich ausbrechende Redseligkeit ist eben auch kein gutes Zeichen. Nun lag er, wie zusammengebrochen, auf dem Bette. Das Weib zündete die Sterbekerze an. »Das nicht, Anna, das nicht,« murmelte er, »ein wenig später. Aber einen Schluck Wasser giebst mir, gelt?« Nach dem Trinken sagte er: »So, das frisch' Wasser ist halt doch wohl gut. Gebt mir recht auf den Brunnen Obacht. Ja, und daß ich nicht vergeß', die schwarzen Hosen und das blau' Jöppel weißt, und draußen hinter der Thür, wo die Sägen hängen, lehnt das Hobelbrett, das leg' über den Schleifstock und die Hanselbank; für drei Tag' wird's wohl halten. Morgen früh, wenn der Holzjosel kommt, der hilft mich schon hinauslegen. Schau aber fein gut, daß die Katz' nicht dazu kommt; die Katzen gehen los und schmecken's gleich, wenn wo eine Leich' ist. Was unten bei der Pfarrkirche mit mir geschehen soll, das weißt schon selber. Meinen braunen Lodenrock und den breiten Hut schenk' den Armen. Dem Peter magst auch was geben, daß er heraufgegangen ist. Vielleicht ist er so gut und liest morgen beim Leichwachen was vor. Es wird ein schöner Tag sein morgen, aber geh' nicht zu weit fort von heim, es möcht' ein Unglück geschehen, wenn draußen in der Lauben das Licht brennt. -- Nachher, Anna, such' da im Bettstroh nach; wirst einen alten Strumpf finden, sind etlich' Zwanziger drin.« »Seppel, streng' Dich nicht so an im Reden,« schluchzte das Weib. »Wohl, wohl, Anna -- aber aussagen muß ich's doch. Jetzt werden wir wohl nicht mehr lang' beisammen sein. Wir haben uns zwanzig Jahre gehabt, Anna. Du bist mein Alles gewesen; kein Mensch kann Dir's vergelten, was Du mir gewesen bist. Das vergeß' ich Dir nicht im Tod und nicht im Himmel. Mich gefreut's nur, daß ich in der letzten Stund' noch was mit Dir reden kann, und daß ich gleichwohl so viel bei Verstand bin.« »-- Stirb doch nicht gar hart, Seppel,« hauchte das Weib und beugte sich über sein Antlitz. »Nein,« antwortete er ruhig, »bei mir ist's so, wie bei meinem Vater: leicht gelebt und leicht gestorben. Sei nur auch Du so, und leg' Dir's nicht schwer. Wenn wir nun auch wieder jedes allein ankommen, zusammen gehören wir gleichwohl noch, und ich heb' Dir schon ein Platzel auf im Himmel, gleim (nahe) an meiner Seit', Anna, gleim an meiner Seit'. Nur das thu' um Gotteswillen, die Kinder zieh' gut auf.« Die Kinder ruhten. Es war still, und mir war, als hörte ich irgendwo in der Stube ein leises Schnurren und Spinnen. -- Plötzlich rief der Sepp: »Anna, jetzt zünd' geschwind die Kerzen an!« Das Weib rannte in der Stube herum und suchte nach Feuerzeug; und es brannte ja doch der Span. -- »Jetzt hebt er an zu sterben!« wimmerte sie. Als aber die rote Wachskerze brannte, als sie ihm dieselbe in die Hand gab, als er den Wachsstock gelassen mit beiden Händen umfaßte und als sie das Weihwassergefäß vom Gesimse nahm, da wurde sie scheinbar ganz ruhig und betete laut: »Jesus, Maria, steht ihm bei! Ihr Heiligen Gottes, steht ihm bei in der höchsten Not, laßt seine Seele nicht verloren sein! Jesus, ich bete zu Deinem allerheiligsten Leiden! Maria, ich rufe Deine heiligen sieben Schmerzen an! Du, sein heiliger Schutzengel, wenn seine Seel' vom Leib muß scheiden, führ' sie ein zu den himmlischen Freuden!« Und sie betete lange. Sie schluchzte und weinte nicht; nicht eine einzige Thräne stand in ihrem Auge, sie war ganz die ergebene Beterin, die Fürbitterin. Endlich schwieg sie, beugte sich über das Haupt des Gatten, beobachtete sein schwaches Atemholen und hauchte: »So behüt' Dich Gott, Seppel, thu' mir meine Eltern und unsere ganze Freundschaft (Verwandtschaft) grüßen in der Ewigkeit. Behüt' Dich Gott, mein lieber Mann! Die heiligen Engel geben Dir das Geleit', und der Herr Jesus mit seiner Gnad' wartet schon Deiner bei der himmlischen Thür.« Er hörte es vielleicht nicht mehr. Seine blassen, halboffenen Lippen gaben keine Antwort. Seine Augen sahen starr zur Stubendecke empor. Und aus den gefalteten Händen aufragend brannte die Wachskerze; sie flackerte nicht, still und geruhsam und hell, wie eine schneeweiße Blütenknospe stand die Flamme empor -- sein Atemzug bewegte sie nicht mehr. »-- Jetzt ist's gar, jetzt ist er mir gestorben!« rief das Weib aus, schrill und herzdurchdringend, dann sank sie nieder auf einen Schemel und begann bitterlich zu weinen. Die wieder erwachenden Kinder weinten auch; nur das Kleinste lächelte ... Die Stunde lag auf uns, wie ein schwerer Stein. Endlich richtete sich die Häuslerin -- die Witwe -- auf, trocknete ihre Thränen und legte zwei Finger auf die Augen des Toten. Die Wachskerze brannte, bis die Morgenröte aufging. Durch den Wald war ein Bote gegangen. Dann kam ein Holzarbeiter. Der besprengte den Toten mit Weihwasser und murmelte: »So rücken sie ein, einer nach dem andern.« Dann thaten sie dem Meisen-Sepp festtägige Kleider an, trugen ihn hinaus in die Vorlauben und legten ihn auf das Brett. -- Das Buch ließ ich liegen auf dem Tisch, für die Leichenwachen der nächsten Nächte, zu denen ich der Häuslerin das Lesen zugesagt hatte. Als ich fortgehen wollte, kam sie mit einem grünen Hut, auf welchem ein weit ausgeborsteter Gemsbart stak. »Willst den Hut mitnehmen für Deinen Vater?« fragte sie, »der Seppel hat Deinen Vater fortweg gern gehabt. Den Gamsbart magst zum Andenken selber behalten. Bet' einmal ein Vaterunser dafür.« Ich sagte meinen Dank, ich that noch einen unsteten Blick gegen die Bahre hin; der Sepp lag lang gestreckt und hielt seine Hände über der Brust gefaltet. -- Dann ging ich hinaus und abwärts durch den Wald. -- Wie war's licht und taufrisch voll Vogelgesang, voll Blütenduft -- voll Leben im Walde! Und in der Hütte, auf dem Bahrbett lag ein toter Mensch. Ich kann die Nacht und den Morgen -- das Sterben mitten in dem unendlichen Lebensquell des Waldes nimmermehr vergessen. Auch besitze ich heute noch den Gemsbart zum Andenken an den Meisen-Sepp. Wenn mich die Gier anpackt nach den Freuden der Welt, oder wenn mich die Zweifel überkommen an der Menschheit Gottesgnadentum, oder wenn mich gar die Angst will quälen vor meinem vielleicht noch fernen, vielleicht schon nahen Hingang -- so stecke ich den Gemsbart des Sepp auf den Hut. [Illustration] [Illustration] Wie ich dem lieben Herrgott mein Sonntagsjöppl schenkte. In der Kirche des Alpendorfes Ratten steht links am Hochaltare eine fast lebensgroße Reiterstatue. Der Reiter auf dem Pferde ist ein stolzer Kriegsmann mit Helm und Busch und einem kohlschwarzen Schnurrbärtchen. Er hat das breite funkelnde Schwert gezogen und schneidet mit demselben seinen Mantel entzwei. Zu Füßen des sich bäumenden Rosses kauert eine Bettlergestalt in Lumpen. Als ich noch so ein nichtiger Knirps war, wie er einem ordentlichen Menschen kaum zum Hosensack emporgeht, führte mich meine Mutter gern in diese Kirche. In der Nähe der Kirche steht eine Marienkapelle, die sehr gnadenvoll ist und in welcher meine Mutter gern betete. Als oft kein Mensch sonst mehr in der Kapelle war und vom Turme schon die Mittagsglocke in den heißen Sommersonntag hinausklang, kniete die Mutter immer noch in einem der Stühle und klagte Marien ihr Anliegen. Die »liebe Frauen« saß auf dem Altare, legte die Hand in den Schoß und bewegte weder den Kopf, noch die Augen, noch die Hände, und da konnte meine Mutter nachgerade sagen, was sie wollte. Ich hielt mich lieber in der großen Kirche auf und sah den schönen Reiter an. Und einmal, als wir auf dem Wege nach Hause waren und mich die Mutter an der Hand führte, und ich immer drei Schritte machen mußte, so oft sie einen that, warf ich meinen kleinen Kopf auf zu ihrem guten Angesichte und fragte: »Zuweg steht denn der Reiter allfort auf der Wand oben, und zuweg reitet er nicht zum Fenster hinaus auf die Gasse?« Da antwortete die Mutter: »Weil Du so kindische Fragen thust und weil es nur ein Bildnis ist, das Bildnis des heiligen Martin, der, ein Soldat, ein sehr gutthätiger frommer Mann gewesen und jetzt im Himmel ist.« »Und ist das Roß auch im Himmel?« fragte ich. »Sobald wir zu einem rechten Platz kommen, wo wir rasten können, so will ich Dir vom heiligen Martin was erzählen,« sagte die Mutter und leitete mich weiter, und ich hüpfte neben ihr her. Da wartete ich schon sehr schwer auf das Rasten, und in einemfort rief ich: »Mutter, da ist ein rechter Platz!« Erst als wir in den schattigen Wald hineinkamen, wo ein platter, moosiger Stein lag, fand sie's gut genug, da setzten wir uns nieder. Die Mutter band das Kopftuch fester und war still, als habe sie vergessen, was sie versprochen. Ich starrte ihr fort und fort auf den Mund, dann guckte ich wieder zwischen den Bäumen hin, und mir war ein paarmal, als hätte ich durch das Gehölz den schönen Reitersmann reiten gesehen. »Ja, 'leicht wohl, mein Bübel,« begann meine Mutter plötzlich, »allzeit soll man den Armen Hilfe reichen um Gotteswillen. Aber so, wie der Martin gewesen, traben heutzutag nicht viel Herrenleut' herum auf hohem Roß. -- Daß im Spätherbst der eiskalte Wind über unsere Schafheide streicht, das weißt wohl, hast Dir ja selber d'rauf im vorig' Jahr schier die Tatzelein erfroren. Siehst Du, völlig eine solche Heide ist's auch gewesen, über die der Reitersmann Martinus einmal geritten an einem späten Herbstabend. Steinhart ist der Boden gefroren, und das klingt ordentlich, so oft das Roß seinen Huf in die Erden setzt. Die Schneeflöcklein tänzeln umher, kein einziges vergeht. Schon will die Nacht anbrechen, und das Roß trabt über die Heide, und der Reitersmann zieht seinen weiten Mantel zusammen, so eng es halt hat gehen mögen. Bübel, und wie er so hinfährt, da sieht er auf einmal ein Bettelmännlein kauern an einem Stein; das hat nur ein zerrissenes Jöpplein an und zittert vor Kälte und hebt sein betrübtes Auge auf zum hohen Roß. Hu, und wie das der Reiter sieht, hält er an sein Tier und ruft zum Bettler nieder: Ja, Du lieber armer Mann, was soll ich Dir reichen? Gold und Silber hab' ich nicht, und mein Schwert kannst Du nimmer brauchen. Wie soll ich Dir helfen? -- Da senkt der Bettelmann sein weißes Haupt nieder gegen die halbentblößte Brust und thut einen Seufzer. Der Reiter aber zieht sein Schwert, zieht seinen Mantel von den Schultern und schneidet ihn mitten auseinander. Den einen Teil des Kleidungsstückes läßt er hinabfallen zu dem armen zitternden Greise: Hab' vorlieb damit, mein notleidender Bruder! -- Den andern Teil des Mantels schlingt er, so gut es geht, um seinen eigenen Leib und reitet davon.« So hatte meine Mutter erzählt und dabei mit ihrem eiskalten Herbstabende den schönen Hochsommertag so frostig gemacht, daß ich mich fast schauernd an ihr lindes Busentuch schmiegte. »'s ist aber noch nicht ganz aus, mein Kind,« fuhr die Mutter fort, »wenn Du es nun gleichwohl weißt, was der Reiter mit dem Bettler in der Kirche bedeutet, so weißt Du's noch nicht, was weiter geschehen ist. Wie der Reitersmann nachher in der Nacht daheim auf seinem harten Polster ruhsam schläft, kommt derselbige Bettler von der Heide zu seinem Bett, zeigt ihm lächelnd den Mantelteil, zeigt ihm die Nägelwunden an den Händen und zeigt ihm sein Angesicht, das nicht mehr alt und kummervoll ist, das strahlet wie die Sonnen. Derselbe Bettelmann auf der Heid' ist der lieb' Herrgott selber gewesen. -- So, Bübel, und jetzt werden wir wieder anrucken.« Da erhoben wir uns und stiegen den Bergwald hinan. Bis wir heim kamen, waren uns zwei Bettelleute begegnet; ich guckte jedem sehr genau in das Gesicht; ich hab' gemeint, es dürft' doch der liebe Herrgott dahinter stecken. Gegen Abend desselben Tages, als ich mein Sonntagskleidchen des sparsamen Vaters wegen schon hatte ablegen müssen und nun wieder in dem vielfarbigen Werktagshöslein herumlief und hüpfte und nur noch das völlig neue graue Jöppel trug, das ich nicht ablegen wollen und mir noch für den Tagesrest erbeten hatte, und als die Mutter auch schon lange wieder bei ihrer häuslichen Arbeit war, eilte ich gegen die Schafheide hinauf. Ich mußte die Schäflein, worunter auch ein weißes Lämmchen als mein Eigentum war, heim in den Stall führen. Wie ich aber so hinhüpfe und Steinchen schleudere und damit die goldenen Abendwolken treffen will, sehe ich plötzlich, daß dort am Fels ein alter weißköpfiger, sehr arm gekleideter Mann kauert. Da stehe ich erschrocken still, getraue mir keinen Schritt mehr zu thun und denke bei mir: Jetzt, das ist aber doch ganz gewiß der lieb' Herrgott. Ich habe gezittert vor Furcht und Freude, ich habe mir gar nicht zu helfen gewußt. Wenn es doch der lieb' Herrgott ist, ja, da muß eins ihm wohl was geben. Wenn ich jetzt heimlauf', daß die Mutter komme und gucke und mir sage, wie ich d'ran bin, so geht er mir zuletzt gar dieweilen davon, und es wär' doch eine Schand' und ein Spott. Ich denk', sein wird er's gewiß, just so hat derselb' ja auch ausgeschaut, den der Reitersmann gesehen. Ich schlich einige Schritte nach rückwärts und begann an meinem grauen Jöppel zu zerren. Es ging nicht leicht, es war so fest über dem grobleinenen Hemde oben, und ich wollte das Schnaufen verhalten, ich meinte, der Bettelmann sollte mich früher nicht bemerken. Einen gelbangestrichenen Taschenfeitel hatte ich, nagelneu und just scharf geschliffen. Diesen zog ich aus der Tasche, das Röcklein nahm ich unter's Knie und begann es nun mitten auseinander zu trennen. War bald fertig, schlich zum Bettelmann, der halb zu schlummern schien, und legte ihm seinen Teil von meinem Rock zu Häupten. -- Hab' vorlieb damit, mein notleidender Bruder! Das habe ich ihm still in Gedanken gesagt. Dann nahm ich meinen Teil vom Rocke unter den Arm, lugte noch eine Weile dem lieben Gott zu und jagte dann die Schäflein von der Heide. In der Nacht wird er wohl kommen, dachte ich, und da werden ihn Vater und Mutter sehen, und wir können ihm, wenn er bei uns bleiben will, gleich das hintere Stübel und das Hausaltarl herrichten. Ich lag im Schiebbettlein neben Vater und Mutter, und ich konnte nicht schlafen. Die Nacht verging, und der, den ich gemeint hatte, kam nicht. Am frühen Morgen aber, als der Haushahn die Knechte und Mägde aus ihren Nestern hervorgekräht hatte, und als draußen im Hofe schon der laute Werktag anhub, kam ein alter Mann (sie hießen ihn den Schwamm-Veitel) zu meinem Vater, brachte ihm den verschenkten Teil von meinem Rock und erzählte, ich hätte denselben abends zuvor in meinem Mutwillen zerschnitten und ihm das eine Stück an den Kopf geworfen, wie er so ein wenig vom Schwammsuchen ausgeruht habe auf der Schafheide. Darauf kam der Vater, eine Hand hinter dem Rücken, ganz leicht an mein Bett geschlichen: »Geh', thu' mir's sagen, Bub', wo hast denn Du Dein neues Sonntagsjöppel?« Das leise Schleichen mit der Hand hinter dem Rücken war mir sogleich verdächtig vorgekommen, und jetzt ging mir schon das Gesicht auseinander, und weinend rief ich: »Ja, Vater, ich hab' gemeint, dem lieben Herrgott hätt' ich es 'geben.« »Jesses, Bub', Du bist aber so ein Trottel, so ein Halbnarr!« schrie mein Vater, »für die Welt bist Du viel zu dalkert, zum Sterben bist Du gar zu dumm. Dir muß man mit einem rechten Besen die Seel' aus der Haut schlagen!« Wie nun die Hand mit der gewundenen Birkenrute zum Vorschein kam, erhob ich ein Zetergeschrei. Eilte sogleich die Mutter herbei. Sie that sonst selten Einsprache, wenn der Vater mit mir Gericht hielt, heute aber faßte sie ihm die Hand und sagte: »'s Röckel flick' ich 'leicht wieder zusammen, Alter. Geh' jetzt mit, ich muß Dir was sagen.« Sie gingen beide hinaus in die Küche; ich denke, dort haben sie über die Martinigeschichte gesprochen. Sie kamen nach einer Weile wieder in die Stube. Der Vater sagte mit fast dumpfer Stimme: »Sei nur still, es geschieht Dir nichts.« Und die Mutter flüsterte mir zu: »Ist schon recht, wenn Du das Röckl dem lieben Herrgott hast wollen geben, aber besser ist's noch, wir geben es dem armen Thalmichelbuben. In jedem Armen steckt der liebe Gott. Schau, der heilige Martinus hat's auch schon gewußt. So, und jetzt, mein Bübel, hupf' auf und schlüpf' ins Höslein; der Vater ist noch nicht allzuweit mit der birkenen Liesel.« [Illustration] [Illustration] Wie das Zicklein starb. Ein andermal drohte die birkene Liesel wieder. Mein Vater hatte ein schneeweißes Zicklein, mein Vetter Jok hatte einen schneeweißen Kopf. Das Zicklein kaute gern an Halmen oder Erlzweigen; mein Vetter gern an einem kurzen Pfeifchen. Das Zicklein hatten wir, ich und meine noch jüngeren Geschwister, unsäglich lieb; den Vetter Jok auch. So kamen wir auf den Gedanken: wir sollten das Zicklein und den Vetter zusammenthun. Da war's im Heumonat, daß ich eines sonnenfreudigen Tages all' meine Geschwister hinauslockte auf den Krautacker und daselbst die Frage an sie that: »Wer von Euch hat einen Hut, der kein Loch hat?« Sie untersuchten ihre Hüte und Hauben, aber durch alle schien die Sonne und machte im Schatten auf dem Erdboden einen oder ein paar lichte Punkte. Nur Jakoberle's Hut war ohne Arg; den nahm ich also in die Hand und sagte: »Der Vetter heißt Jok, und morgen ist der Jokopitag, und jetzt, was geben wir ihm zum Bindband (Angebinde)? Das weiße Zicklein.« »Das weiße Zicklein gehört dem Vater!« rief das kleine Schwesterchen Plonele, empört über ein so eigenmächtiges Vorhaben. »Desweg ist es ja, daß ich Euch den Hut hinhalte,« sagte ich. »Du, Jakoberle, hast gestern dem Knierutscher-Sepp Dein Kinigl (Kaninchen) verkauft; Du, Plonele, hast von deinem Göden drei Groschen zum Taufpfennig gekriegt; Dir, Mirzerle, hat vor zwei Tagen der Vater ein Haltergeld geschenkt. Schaut, ich leg' meine ersparten fünf Kreuzer hinein, und wir müssen zusammenthun, daß wir dem Vater das Zicklein abkaufen mögen; und das schenken wir morgen dem Vetter. Nu, jetzt halt' ich schon her!« Sie guckten eine Weile so drein, dann huben sie in ihren Taschen zu suchen an. Da sagte das Plonele: »Mein Geld hat die Mutter!« und das Mirzerle rief erschrocken: »Das meine weiß ich nicht!« und das Jakoberle starrte auf den Boden und murmelte: »Mein Sack hat ein Loch.« Auf diese Weise war mein Unternehmen gescheitert. Nichtsdestoweniger haben wir das schneeweiße Zicklein geherzt. Es stieg mit den Vorderfüßchen an unsere Knie empor und guckte uns mit seinen großen, völlig eckigen Augen schelmisch an, als wollte es uns recht spotten, daß wir allmitsammen nicht so viel an Vermögen hatten, um es kaufen zu können. Es kicherte und blökte uns ordentlich aus, und dabei sahen wir die schneeweißen Zähnchen. Es war kaum drei Monate alt und hatte schon einen Bart; und ich und das Jakoberle waren über sieben Jahre hinaus und mußten uns aus grauen Baumflechten einen Bart ankleben, wenn wir einen haben wollten. Und selbst den _fraß_ uns das Zicklein vom Gesichte herab. Trotzdem hatten wir jedes das Vierfüßchen viel lieber, als uns untereinander. Und ich sann auf weitere Mittel, mit dem Tiere den Vetter zu beglücken. Als aber mittags darauf der Vater vom Felde heimfuhr, umschwärmten wir ihn alle und zupften an seinen Kleidern. »Vater,« sagte ich, »ist es wahr, daß die Morgenstunde Gold im Munde hat?« Das war ja sein eigen Sprichwort, und so antwortete er rasch: »Freilich ist das wahr.« »Vater!« riefen wir nun alle vier zugleich, »wie früh müssen wir all' Tag aufstehen, daß Ihr uns das weiße Zicklein gebt?« Auf diese geschäftliche Wendung schien der Vater nicht gefaßt gewesen zu sein. Da er aber von unserem Vorhaben, dem Vetter Jok das Zicklein zuzueignen, hörte, da bedingte er ein halb Stündlein früher aufzustehen jeden Tag und trat uns das liebe Tierchen ab. Das Zicklein gehörte uns. Wir beschlossen einstimmig, schon am nächsten Morgen noch vor des Vetters Aufstehzeit -- und das war viel gesagt -- aus dem Neste zu kriechen, das Zicklein mit einem roten Halsband zu versehen und es an's Bett des alten Jok zu führen, ehe dieser noch seinen langen, grauen Pelz, den er Winter und Sommer trug, auf den Leib brachte. So unser heilig Vorhaben. Aber am anderen Tage, als uns die Mutter weckte und wir die Lider aufschlugen, schien uns die Sonne mit solcher Gewalt in die Augen, daß wir dieselben sogleich wieder schließen mußten, bis die Mutter mit ihrem Kopftuch das Fenster verhüllte. Nun gab es keine Ausflucht mehr. Aber der Vetter war längst schon davon mitsamt dem Pelz. Er hatte die Schafe und die Ziegen auf die Thalweide getrieben, wo er sie stets hütete und den ganzen Tag schmunzelnd an seinem Pfeifchen kaute. Und die Tierchen schnappten so emsig an den betauten Gräsern und Sträuchern, und hüpften und scherzten so lustig auf der sonnigen Weide. Es war auch das Zicklein dabei. Und hat's dem Jok denn niemand gesagt, daß heute sein Namenstag ist? -- Zu jener Zeit, von der ich rede, sind die feuerspeienden Streichhölzer noch nicht erfunden gewesen; dazumal war das liebe Feuer ein rares Ding. Man konnte es nicht so bequem mit im Sack tragen, wie heute, ohne sich das Beinkleid zu verbrennen. Es mußte mit harten Schlägen aus Steinen herausgetrieben werden; es mußte, kaum geboren, mit Zunder gefüttert werden und bedurfte langer Zeit, bis es sich in demselben so weit kräftigte, daß es ein gröberes Köder anbiß und flügge wurde. Das Feuer mußte zum Dienste des Menschen jedesmal förmlich erzogen werden. Es war ein mühsam und heikel Stück Arbeit; beim Feuermachen konnte meine sonst so milde Mutter unwirsch werden. Die Glut, des Abends noch so sorgsam in der Herdgrube verwahrt, war des Morgens zumeist erloschen. Was sich die Mutter auch mühte, den Funken in der Asche wieder anzublasen -- all vergebens, das Feuer war gestorben über Nacht. Nun ging die Schlägerei mit Stein und Stahl an; und wir Kinder waren oft schon recht hungrig, ehvor die Mutter das Feuer zuweg brachte, welches uns die Morgensuppe kochen sollte. So auch am Morgen von des Vetters Namenstag. Wir hatten draußen in der Küche wohl eine Weile das Pfauchen und Feuerschlagen gehört, dann aber rief die Mutter plötzlich aus: »'s ist gar umsonst! 's ist, wie wenn der bös' Feind in die Herdgruben hätt' gespuckt. Und der Stein hat keinen Funken Feuer mehr in sich, und der Schwamm ist feucht, und die Leut' warten auf die Suppen!« Dann kam sie in die Stube und sagte: »Geh, Peterle, ruck, und lauf geschwind zu der Knierutscherin hinüber: Ich thät sie gar schön von Herzen bitten, sie wollt' mir ein Haferl Glut schicken von ihrem Herd. Und trag' ihr dafür da den Brotlaib mit. Geh, Peterle, ruck, daß wir nachher eine Suppen kriegen!« Ich hatte mein weißes Linnenhöselein gleich an, und wie ich war -- barfuß, barhaupt, nahm ich den runden, recht gewichtigen Brotlaib unter den Arm und lief gegen das Knierutscherhaus. »Du Sonnenschein,« sagte ich unterwegs, »schäm' dich, du kannst nicht einmal ein Süpplein wärmen. Jetzt muß ich zu der Knierutscherin um Feuer gehen. Aber wart' nur, wird bald lustig sein auf unserem Herd; die Flammen werden aufhüpfen über das Holz, die Mauer wird rot leuchten, die Töpfe werden brodeln, der Rauch wird unter den Feuerhut hinaussprudeln und den Rauchfang hinauf und wird dich verdecken. Recht hat er, wenn er dich verdeckt, dann essen wir die Suppen und den Sterz im Schatten, und den Eierkuchen auch, der heut' für den Vetter Jok gebacken wird, und du sollst von allem nichts sehen.« Als ich nach solchem Gespräche mit der Sonne über die Lehne ging, da stach mich ein wenig der Vorwitz. Mein Brotlaib war so kugelrund und fest, als wäre er aus Lärchenholz gedrechselt worden. Man läßt bei mir daheim das Brot gern altgebacken werden, es langt auf diese Weise doppelt aus, gleichwohl es zur Essenszeit zuweilen mit Eisenschlegeln zertrümmert werden muß. Aber weil denn mein Laib gar so kugelrund war, wie nicht leicht etwas Runderes mehr zu finden ist, so ließ ich ihn los über die Lehne, lief ihm behende vor und fing ihn wieder auf. War ein herzlich lustiges Spiel das, und ich hätte mögen all' meine Geschwister herbeirufen, daß sie es sehen und mitmachen könnten. -- Wie ich nun aber so in meiner Freude die Lehne auf- und abhüpfe, spielt mir mein Brotlaib jählings den Streich und huscht mir wie der Wind zwischen den Beinen durch und davon. Er eilt und hüpft hinab, viel schneller wie ein Reh vor dem Jagdhunde -- er fährt über den Hang, setzt hoch über den Rain in die Thalweide hinab, wo er meinen Augen entschwindet. Bin dagestanden wie ein Klotz, und hab' gemeint, ich müßt umfallen vor Schreck und auch hinabkugeln gegen das Thal. Ich ging eine Weile hin und her, auf und ab, und da ich den Laib nirgends sah, schlich ich kopfhängerig davon und ins Haus der Knierutscherin. Da brannte freilich ein schönes großes Feuer auf dem Herde. »Was willst denn, Peterle?« fragte die Knierutscherin freundlich. »Bei uns,« stotterte ich, »ist das Feuer ausgangen, wir mögen uns nichts kochen, und so läßt meine Mutter schön bitten um ein Haferl Glut, und sie thät es schon fleißig wieder zurückstellen.« »Ihr Närrlein, Ihr, wer wird denn so ein paar Kohlen zurückstellen!« rief die Knierutscherin und schürte mit der Feuerzange Glut in einen alten Topf; »da seh', ich laß Deiner Mutter sagen, sie soll nur schön anheizen und Dir einen recht guten Sterz kochen. Aber schau, Peterle, daß Dir der Wind nicht hineinbläst, sonst trägt er die Funken auf das Dach hinauf. So, jetzt geh' nur in Gottesnamen!« So gütig war sie mit mir, und ich hatte ihr den Brotlaib verscherzt. Deß drückt mich das Gewissen heute noch hart. Als ich endlich mit dem Feuertopfe zurück gegen unser Haus kam, war ich höchlich überrascht, denn da sah ich aus dem Rauchfange bereits einen blauen Dunst hervorsteigen. »Dich soll man um den Tod schicken und nicht um Feuer!« rief die Mutter, als ich eintrat; dabei wirtete sie um das lustige Herdfeuer herum und sah mich gar nicht an. Meine kaum mehr knisternden Kohlen waren so armselig gegen dieses Feuer; ich stellte den Topf betrübt in einen Winkel des Herdes und schlich davon. Ich war viel zu lange ausgewesen; da war zum Glück der Vetter Jok von der Thalweide heimgekommen, und der hatte ein Brennglas, das er in der Sonne über einen Zunder hielt, bis derselbe glimmte. Und jetzt war mir die verlästerte Sonne doch noch zuvorgekommen mit dem Suppenfeuer. Ich war sehr beschämt und vermag es heute noch nicht, der Wohlthäterin offen in das Angesicht zu blicken. Ich schlich auf den Hausanger. Dort sah ich den Vetter kauern in seinem langen, grauen, rotverblümten Pelz und mit seinem weißen Haupt. Und als ich näher kam, da sah ich, warum er hier so kauerte. Das schneeweiße Zicklein lag vor ihm und streckte seinen Kopf und seine Füße von sich, und der Vetter Jok zog ihm die Haut ab. Sogleich hub ich laut zu weinen an. Der Vetter erhob sich, nahm mich bei der Hand und sagte: »Da liegt es und schaut Dich an!« Und das Zicklein starrte mir mit seinen verglasten Augen wirklich schnurgerade in das Gesicht. Und doch war es tot. »Peterle!« lispelte der Vetter ernsthaft, »die Mutter hat der Knierutscherin einen Brotlaib geschickt.« »Ja,« schluchzte ich, »und der ist mir davongegangen, hinab über die Lehnten.« »Weil Du's eingestehst, Bübel,« sagte der Vetter Jok, »so will ich die Sach' schon machen, daß Dir nichts geschieht. Ich hab' zu der Mutter gesagt, ein Stein oder so was wär' herabgefahren und hätt' das Zicklein erschlagen. Hab' mir's im Geheim gleich gedacht, das Peterle steckt dahinter. Dein Brotlaib ist schier in den Lüften dahergekommen nieder über den hohen Rain, an mir vorbei, dem Zicklein zu, hat es just am Kopf getroffen -- ist das Dingelchen hingetorkelt und gleich maustot gewesen. -- Aber -- fürcht' Dich nicht, es bleibt beim Stein. Mit der Knierutscherin werd' ich's auch abmachen, und jetzt sei still, Bübel, und zerr' mir das Gesicht nicht so garstig auseinander. Auf die Nacht essen wir das Tierlein, und die Mutter kocht uns eine Krennsuppe dazu.« -- So ist das Zicklein gestorben. Meine Geschwister erzählten mir, ein böser, böser Stein habe es erschlagen. Die Mutter hatte mir zu Liebe meine Kohlen zum Herdfeuer geschüttet, und bei diesem Feuer wurde das Zicklein gebraten. Dem Vetter Jok war es vermeint gewesen; nun sollte er davon den Braten haben. Aber er rief uns Alle zu Tisch und legte uns die besten Bissen vor. Mir hat der meine nicht gemundet. Am anderen Morgen bewaffnete sich das Jakoberle mit einem Knittel, ging damit dem Vetter nach auf die Thalweide und wollte den Stein sehen, der das Zicklein erschlug. »Kind,« sagte der Vetter Jok und kaute angelegentlich am Pfeifchen, »der ist weiter gekugelt, über den rinnt das Wasser, der liegt in der Schlucht.« Der gute, alte Mann! Mir auf dem Herzen lag der Stein, »der das Zicklein erschlagen«. -- [Illustration] [Illustration] Dreihundert vierundsechzig und eine Nacht. Das Zicklein war dahin. Aber mein Vater hatte noch vier große Ziegen im Stalle stehen, so wie er vier Kinder hatte, welche zu den ersteren stets in enger Beziehung standen. Jede der Ziegen hatte ihren kleinen Futterbarren, aus dem sie Heu oder Klee fraß, während wir sie molken. Keine einzige gab die Milch am leeren Barren. Die Ziegen hießen Zitzerl, Zutzerl, Zeitzerl und Heitzerl und waren, eben auch einer schönen Schenkung zu Folge, das Eigentum von uns Kindern. Das Zitzerl und das Zutzerl gehörten meinen zwei Schwesterchen; das Zeitzerl meinem achtjährigen Bruder Jakoberle, das Heitzerl war mein! Jedes von uns pflegte und hütete sein ihm zugeteiltes Gespons in Treue; die Milch aber thaten wir zusammen in einen Topf, die Mutter kochte sie, der Vater schenkte uns dazu die Brotschnitten -- und Gott der Herr hat uns den Löffel Suppe besegnet. Und wenn wir so mit den breiten Holzlöffeln, die unser Oheim geschnitzt hatte, und die ihrer Ausdehnung wegen für's Erste kaum in den Mund hinein, für's Zweite kaum aus demselben herauszubringen waren, unser Nachtmahl ausgeschaufelt hatten, so nahmen wir jedes unseren Roßhaarkotzen und legten uns, eins wie's andere, in den Futterbarren der Ziegen. Das waren eine Zeitlang unsere Betten, und die lieben Tiere befächelten uns mit ihren weichen Bärten die Wangen und beleckten uns die Näschen. Aber, wie wir Kindlein auch in der Krippe lagen, so kam das Einschlafen auch nicht just immer nach dem ersten Lecken. Ich hatte von unserer Ahne eine Menge wundersamer Geschichten und Märchen im Kopfe. Die erzählte ich nun in solchen Abendstunden, und meine Geschwister waren darüber glückselig, und die Ziegen hörten auch nicht ungern zu; nur daß diese dann und wann, wenn ihnen das Ding gar zu unglaublich vorkam, so ein wenig vor sich hinmeckerten oder mit den Hörnern ungeduldig an den Barren pufften. Einmal, als ich von der Habergais erzählte, die, wenn sie um Mitternacht auf dem Felde schreit, den Haber (Hafer) schwarz macht, und die nichts frißt als die grauen Bärte alter Kohlenbrenner, da begann mein Heitzerl dermaßen zu meckern, daß die anderen drei auch mit einstimmten, bis meine Geschwister schließlich in ein fürchterliches Gelächter ausbrachen und ich wie ein überwiesener Aufschneider erbärmlich schweigen mußte. Von derselben Zeit an erzählte ich meinen Schlafgenossen lange keine Geschichten, und ich nahm mir vor, mit dem Heitzerl mein Lebtag kein Wort mehr zu reden. Da kam der Sonnwendtag. An diesem Tage kochte uns die Mutter den üblichen Eierkuchen, mein liebstes Essen auf der Welt. In diesem Jahre aber hatte uns der Geier die beste Leghenne geholt, so wollte sich das Eierkörblein nicht mehr füllen, und als am Sonnwendtag der Kuchen kam, war er ein gar kleinwinzig Laibchen. Wehmütig lugte ich hin auf den Holzteller. Mein fünfjährig Schwesterchen guckte mich an, und wie wenn es meine Sehnsucht wahrgenommen hätte, rief es plötzlich: »Du, Peterl, Du! wenn Du uns ein ganzes Jahr in jeder Nacht eine Geschichte erzählen magst, so schenk' ich Dir meinen Teil von dem Kuchen!« Dieser hochherzigen Entäußerung der Kleinen stimmten seltsamerweise auch die anderen bei, und sie patschten in die Händchen, und -- ich ging die Bedingung ein. So stand ich denn plötzlich am Ziele meiner Wünsche. Ich nahm meinen Kuchen unter die Jacke hinein und ging damit in die Milchkammer, wo mich niemand sehen und stören konnte. Dort verriegelte ich die Thür, setzte mich auf einen umgestülpten Zuber und ließ meine zehn Finger und das wohlgeordnete Heer meiner Zähne über den armen Kuchen los. Aber nun kamen die Sorgen; daß meine Geschwister strenge auf ihrer Forderung bestehen würden, daran konnte kein Zweifel obwalten. Ich ging auf meinen Hirtenzügen jeden Pecher, Kohlenbrenner, Halter und jedes wohlerfahrne Weiblein, wie ich's im Wald und auf der Heide traf, um eine Geschichte an. Es waren ergiebige Quellen, und ich war jeden Abend in der Lage, meiner Schuldigkeit nachzukommen. Mitunter allerdings war's ein Elend, bis ich was Neues auftrieb, und nach einer Zeit geschah es nicht selten, daß das Schwesterlein mich unterbrechend von seinem Barren herüber rief: »Du! die wissen wir, die hast uns schon erzählt!« Ich sah wohl, daß ich auf neue Wege sinnen mußte, und war daher bemüht, das Lesen besser zu lernen, um aus manchen Geschichtenbüchern, wie sie in den Waldhütten nutzlos auf den rußigen Wandstellen herumlagen, Schätze zu ziehen. Nun hatte ich neue Quellen: die Geschichte von der Pfalzgräfin (das Jakoberle sagte immer Schmalzgräfin) Genovefa; die vier Heimonskinder; die schöne Melusina; Wendelin von Höllenstein -- ganz wunderbare Dinge zu Dutzenden. Da sagte mein Bruder wohl oft aus seiner Krippe heraus: »Mein Kuchen reut mich gar nicht! das ist wohl so viel unmöglich schön. Gelt, Zeitzerl?« Nun wurden die Abende zu kurz, und ich mußte eine solche Geschichte in Fortsetzungen geben, womit aber klein Schwesterchen schier nicht einverstanden sein wollte, denn es behauptete, in jeder Nacht eine _ganze_ Geschichte! so sei es ausgemacht. So verging das Jahr. Ich erwarb mir nach und nach eine gewisse Fertigkeit im Erzählen und that es sogar hochdeutsch, wie es in den Büchern stand! Oft geschah es auch, daß sich während des Erzählens meine Zuhörer tief in die Kotzen vergruben und vor Schauer über die Räuber- und Geistergeschichten zu stöhnen anhuben; aber aufhören durfte ich doch nicht. Es war schon wieder der Sonnwendtag nahe und mit ihm die Lösung meines Vertrages. Doch -- ein eigen Geschick! -- noch vor dem letzten Abend ging mir gänzlich der Faden aus. Alle meine Erinnerungen, alle Bücher, deren ich habhaft werden konnte, alle Männlein und Weiblein, denen ich begegnete, waren erschöpft -- Alles ausgepumpt -- Alles hoffnungslose Dürre. Bat ich meine Geschwister: »Morgen ist der letzte Abend -- schenkt ihn mir!« War ein Geschrei: »Nein, nein, nichts schenken! Du hast Deinen Sonnwendkuchen kriegt!« Gar die Ziegen meckerten mit. Am nächsten Tage ging ich herum, wie ein verlorenes Schaf. Da kam mir plötzlich der Gedanke: Betrüge sie! _dichte_ was zusammen! Aber allsogleich schrie das Gewissen drein: Was du erzählst, das muß wahrhaftig sein! du hast den Kuchen wahrhaftig bekommen! Doch geschah im Laufe dieses Tages ein Ereignis, von dem ich hoffte, daß es im Drange der Aufregung mich meiner Pflicht entbinden würde. Mein Bruder Jakoberle verlor sein Zeitzerl. Er ging in Kreuz und Krumm über die Heide, er ging in den Wald und suchte weinend und rufend die Ziege. Aber endlich spät am Abend brachte er sie heim. Ruhig aßen wir unsere Suppe, gingen in unsere Krippen, und von mir wurde die Geschichte verlangt. Es war still. Die Zuhörer harrten in Erwartung. Die Ziegen scharrten im Wiederkäuen mit den Zähnen. Nun denn, so sollen sie die Geschichte haben. Ich sann -- -- ich begann: »Es war einmal ein großer, großer Wald gewesen. Und in dem Wald war es allweg finster gewesen. Keine Vöglein haben gesungen: nur der Totenvogel hat geschrien. Wenn aber doch die andern Vögel auch gesungen, da haben auf den Bäumen alle Äste und alle Blätter vieltausend Thränen geweint. Mitten in diesem Wald ist eine Heide, wie der Totenacker so still, und wer über dieselbe hingeht und nicht umkehrt, der kommt nicht mehr zurück. Über diese Heide sind einmal zwei blutige Knie gegangen.« »Jesses Ma--!« rief mein älteres Schwesterlein aus, und alle Drei krochen unter die Kotzen. »Ja, zwei blutige Knie,« fuhr ich fort, »und die sind über die Heide dahin geschwebt gegen den finsteren Wald, wie eine verlorne Seele. Aber auf einmal sind die zwei blutigen Knie --« »Ich schenk' Dir mein blaues Hosenband, wenn Du still bist!« wimmerte mein Bruder angstvoll und verbarg sich noch tiefer in die Decke. »-- sind die zwei blutigen Knie stillgestanden,« fuhr ich fort, »und auf dem Boden ist ein Stein gelegen, so weiß, wie ein Leichentuch. Dann sind zwei funkelnde Lichtlein gewesen zwischen den Bäumen, und darauf sind vier andere blutige Knie dahergeschwebt.« -- »Mein neues Paar Schuh' schenk' ich Dir, wenn Du aufhörst!« hauchte das Jakoberle in seinem Trog und zog aus lauter Furcht das Zeitzerl am Barte zu sich. »Und so sind alle sechs zusammengegangen durch den finsteren Wald und heraus auf die Heide und über das Haferfeld herab zu unserem Hause -- und herein in den Stall --« Jetzt kreischten alle Drei auf, und sie wimmerten und wußten ihrer Angst kein Ende, und klein Schwesterlein versprach mir mit Zagen seinen Teil von dem auch heuer wieder zu erwartenden, morgigen Sonnwendkuchen, wenn ich aufhöre. Ich aber fuhr fort: »Jetzt -- na, jetzt hab' ich zum Anfang zu sagen vergessen, daß die zwei ersten blutigen Knie unserem Jakoberle und die vier letzteren seinem Zeitzerl gehört haben -- wie sie heut' im Wald herumgegangen sind.« Brach auf einmal das Gelächter los. »Jeder Mensch hat zwei blutige Knie!« rief Schwesterlein, und die Ziegen meckerten, daß es ein Jubel war. Ich hatte meine Rolle ausgespielt. Dreihundert vierundsechzig Nächte lang hatte ich geglänzt als weiser, wahrhaftiger Geschichtenmann; die dreihundert fünfundsechzigste hatte mich entlarvt als argen Schwätzer. Das Versprechen in betreff des zweiten Sonnwendkuchens wurde rückgängig gemacht; Schwesterlein erklärte, die Zusage sei nichts als Notwehr gewesen. Und die Gläubigkeit meines Publikums hatte ich mir verdorben ganz und gar, und wenn es in Zukunft an irgend einem Erzählten seinen Zweifel ausdrücken wollte, so rief es einstimmig: »Aha, das ist wieder ein blutiges Knie!« [Illustration] [Illustration] Als ich Bettelbub gewesen. Die schmale Straße, die durch den Wald ging, hatte weißen Sand und dunkles Moos, war zur sonnigen Zeit nicht staubig und in Regentagen nicht lehmig. Sie zog nicht in der Schlucht, sie zog auf der sanften Bergeshöhe hin, wo das kurze, grüne Heidekraut und in dünner Anzahl die alten, verknöcherten Fichtenbäumchen standen. Stellenweise ging der Weg über eitel grünen Rasen, und kein Wagengeleise war gedrückt; behendige Ameisenvölker trieben auf dieser Straße ihren Handel und Wandel. Und doch erstreckte sich der Weg aus Weitem her und war von Menschen getreten. Hie und da stand etwas wie ein Wegzeiger, eine hölzerne, wettergraue Hand wies geradeaus oder seitab und sagte nicht, wohin. An anderen Stellen wieder, wo ein alter, flechtenbewachsener Baumstamm hart am Wege ragte, prangte daran ein rotangestrichenes Holzkästchen mit einem Liebfrauenbildnis oder mit einem »Martertaferl,« erzählend von einem Unglücksfalle, der sich an der Stelle zugetragen, bittend um ein christlich Gebetlein. Oder es starrte aus dem Sand- und braunen Moosboden ein Kruzifix auf. Ich habe in der weiten Welt keinen Weg mehr gefunden, der mir so grauenhaft heilig erschienen wäre, als diese Straße, die durch unseren Wald strich und von der wir nicht wußten, woher sie kam und wohin sie ging. Denn doch! Erfahrene Leute sagten es ja, sie kam aus dem fernen Ungarlande und führte nach Mariazell. 's ist ein ewiges Wandern von Sonnenaufgang her. Auch die wilden Türken vor drei- oder mehr hundert Jahren sollen diesen stillen Weg herangewütet haben; auch kleine Zigeunerbanden trippelten zuweilen auf demselben daher, und dann einmal ein Handwerksbursche oder ein Bettelmann oder ein Schwärzer kam des Weges und verneigte sich vor den Bildnissen und küßte sich vom Kruzifix etliche hundert Tage Ablaß herab. Im Ganzen jedoch war der Weg unsagbar einsam, und die wenigen Häuser standen fernab im Thale oder auf entlegenen Hügeln. Doch war es alle Jahre einmal, zur Zeit der Bittage, in jener Maienwoche, in welcher unsere Religion das Fest der Himmelfahrt des Herrn feiert, daß auf diesem Waldwege eine förmliche Völkerwanderung ausbrach. Fremdartige Menschen in fremden Kleidern mit seltsamer Geberde und Sprache wallten scharenweise heran. Sie hatten braune Gesichter, knochige Glieder und struppige Haare. Sie hatten scharfe, glühende Augen, weiße Zähne, lange, tiefgebogene oder kühn aufgeworfene Nasen und fremdartige Züge um die Mundwinkel. Die Männer trugen weiße, flatternde, unten befranste Linnenhosen, die so weit waren, daß sie aussahen wie Kittel, und dunkelblaue Übermäntel mit breit zurückgeschlagenen Krägen und kleine Filzhütchen mit schmalen, aufgeringelten Krempen. Auch hatten sie blaue Westen an, besetzt mit einer Reihe von großen Silberknöpfen. Andere trugen wieder so enge weiße Beinkleider, als wären sie über und über an die Glieder gewachsen, und anstatt mit Stiefeln hatten sie die Waden und den Fuß in Kreuz und Krumm mit Binden umgeben. Auch hatten dieselben Männer schwere Übermäntel aus weißem Filze an ihren Achseln hängen, und diese Mäntel, sowie auch die Beinkleider waren ausgeziert mit roten oder blauen Rändern, und allerlei Geschnüre schnörkelte sich um die Wämmser. Die Weiber trugen blauschwarze oder weiße Kittelchen, die kaum ein bißchen über's Knie hinabgingen und bei jedem Schritt keck hin- und herschlugen. Bei anderen wieder waren die Kittel so eng und die schwarzen faltenlosen Schürzen so breit, daß bei jedem Schritte die Rundungen der Gestalt hervortraten. Ferner trugen sie hohe und schwere Stiefel, daß unter denselben der Sand knarrte, oder sie gingen gar barfuß und hatten Staubkrusten an den Zehen. Weiters staken die Weiber in kurzen schwarzen Spenserchen, oder sie hatten gar nur ein weites Hemd über Arm und Busen flattern. Die Köpfe hatten sie turbanartig mit einem Tuche umschlungen, unter dem die schwarzen Lockensträhne hervorquollen. So wogten sie lärmend und heulend heran, und jede Gestalt hatte ein weißes Bündel auf den Rücken gebunden und trug in der Hand einen weißen, glattgeschälten Stock. Diese Stöcke waren meist frisch in unseren Wäldern geschnitten, es waren Lärchenstäbe; auch an den Hüten trugen die Männer frischgeschnittene Lärchenzweige und Lärchenkränze; dieser herrliche Baum mit seinem weichen Genadel, wie er mit dem vielgestaltigen Hochrelief der Rinde seines Schaftes in der Form einer hellgrünen Pyramide unsere Alpenwälder schmückt, ist in jenen fernen, flachen Gegenden, aus denen die Scharen kamen, nimmer zu finden. Die fremden Gestalten, welche in kleineren Rotten und großen Haufen einen ganzen Nachmittag lang heranströmten, kamen aus dem Ungarlande und waren Magyaren und Slovaken. Es waren die Volksmassen, die alljährlich einmal aus ihren Heimatsgemeinden davonwandern, um den weiten Weg von sechs bis acht Tagen bis zu dem weltberühmten Wallfahrtsorte Mariazell zu wallen. Ungarische Herren und slavische Fürsten hatten einst viel zum Ruhme und zur Verherrlichung der Gnadenstätte zu Zell gethan, und so wogt heute noch der Strom jener Völker dem berufenen Alpenthale zu und macht einen Hauptteil der gesamten Wallfahrer aus, die alljährlich in Zell erscheinen. Es waren also fromme Wallfahrerscharen, die betend und singend unseren stillen Wald durchzogen. Jedes Häuflein trug eine lange rote Stange mit sich, auf welcher ein Kreuz mit bunten Bändern oder ein wallendes Fähnlein war. Vor jedem Kruzifix oder anderen Bildnissen, wie sie am Wege standen, verneigten sie tief diese Stange; und wenn sie zu jener Höhung herangestiegen waren, auf welcher dem Wanderer das erstemal die zackige Hochkette des Schwaben und der gewaltige Felskoloß der hohen Veitsch sichtbar wird, standen sie still und senkten dreimal fast bis zur Erde ihren Fahnenstab. Begrüßten die Menschen aus dem Flachland die wilderhabene Alpennatur? Nein. In der Felsenkrone jener hohen Berge lag ihr heiliges Ziel, und das begrüßten sie mit Herz und Geberden. An diesem Punkte waren sie nur noch eine Tagreise entfernt von Zell; manche empfanden in solchem Gedanken zum Wandern neue Kraft, anderen sank der Mut im Anblicke der blauenden Alpenwände, die zu übersteigen waren. Bisweilen schleppten die Fremdlinge einen Genossen mit sich, der unterwegs erkrankt war. Einmal trugen sie auf frischer Lärchbaumtrage die Leiche eines auf der Straße verstorbenen Wandergenossen, um sie im nächsten Friedhofe zu bestatten. So hallten am ersten Tage der Bittwoche die grellstimmigen Gebete der Ungarn und die melancholischen Lieder der Slaven durch unsere Gegend. Die Leute traten aus den Häusern und horchten den seltsamen Stimmen; wir Kinder aber pflegten eine andere Sitte. Wir zogen unsere zerfahrensten Kleidchen an, und mit fliegenden Lumpen hüpften wir der Straße zu. Dort knieten wir nieder auf den Sand, aber so, daß wir auf unsere eigenen Fersen zu hocken kamen, und wenn eine der Kreuzscharen nahte, so rissen wir die Hauben vom Kopf, stellten dieselben als Gefäß vor uns hin und schlugen zuerst mit zagender, bald mit kecker Stimme zahlreiche Vaterunser los. Die Früchte blieben nicht aus. Männer schossen Kreuzer in unsere Hauben, Weiber warfen uns Brot und Kuchen zu, welche, wie die Spuren ihrer Zähne daran bewiesen, sie ihrem eigenen Munde entzogen hatten. Andere hielten gar an und öffneten ihre Bündel und kramten drin herum und reichten uns Backwerk, und manch' alt' Mütterlein, das unsertweg auf ein paar Minuten zurückgeblieben war, konnte die Schar wohl oft stundenlang nicht mehr erreichen. Manchmal stellten die Fremden Worte an uns, die wir nur mit glotzenden Augen zu beantworten wußten. Je seltsamer ihr Wesen und ihre Sprache war, desto feiner und liebreicher zeigte sich die Gabe; vielleicht dachten die Geber an ihre Angehörigen in ferner Heimat, denen die Liebe galt, die uns fremden Kindern erwiesen wurde. Je brauner die Gesichter, desto weißer war das Brot -- wir hatten die Erfahrung bald gemacht. Bisweilen wurden wir auch in deutscher Sprache angeredet: wie wir hießen, wem wir zugehörten, wie viel unser Vater Ochsen hätte und ob wir auch Kornfelder besäßen. Des Grabenbergers Natzelein war unter uns, das gab stets die Antwort und log fürchterlich dabei: Wir gehörten armen Holzhauerleuten an, der Vater wäre vom Baum gefallen, und die Mutter läge krank schon seit Jahr und Tag; Ochsen hätten wir nicht, aber zwei Ziegen hätten wir gehabt, und die hätte der Wolf gefressen. Mit einem Kornacker wär's schon gar nichts, aber Pilze äßen wir, und die wären heuer noch nicht gewachsen. -- Ich bohrte vor heimlicher Wut über derlei unwahre Darstellungen die Zehen hinter mir in die Erde hinein. Ja, das Natzelein verfing sich derart in das Lügen, daß es schließlich selbst unsere ehrenhaften Taufnamen falsch angab. Die guten Ungarn schlugen hell die Hände zusammen über so arme Würmer, dann blickten sie in die Waldgegend hinaus und meinten, es wäre leicht zu glauben, es wäre eine elende Gegend; gar der Schnee lag noch hie und da in den Gruben, zu einer Zeit, da auf den weiten Ebenen draußen längst das Korn in Ähren stand. Sie griffen dann tief in den Sack. Das Natzelein war mir seiner Aufschneidereien wegen eigentlich recht verleidet, aber ich getraute mich vor den Fremden kein Wort zu sagen; und wenn sie mich zuweilen doch dahin brachten, daß ich den Mund aufmachte, so ward das Wort so ängstlich und leise herausgemurmelt, daß sie mich nicht verstanden. Die anderen, besonders das Natzelein, kriegten daher immer mehr in ihre Hauben als ich; nur dann und wann ein mildherziges Weiblein legte mir, dem »Hascherl«, was bei. Einmal -- ich und des Grabenbergers Natzelein waren allein -- gerade vor dem Herannahen einer größeren Schar, nahm ich eine Stellung ein, die vorteilhafter war, als der Platz, auf welchem das Natzelein hockte. Das Natzelein war darüber erbost, und als die Gaben wirklich in größerer Menge mir zuflogen, rief er aus: »Der da ist eh reich, sein Vater hat vier Ochsen und einen großen Grund! Vater unser, der Du bist, u. s. w.« Auf der Stelle wendete sich das Glück, und alles Brot und Geld wäre in den Hut des Natzelein geflogen, da erhob ein Mann, der mitten unter den Wallfahrern stand, das Wort: »Schaut einmal den neidischen Schlingel an! Ihr seid beide nicht so arm, als daß Ihr ohne unser Brot verhungern müßtet, und auch nicht so reich, als daß wir Euch die kleinen Gaben versagen wollten. Ihr seid Waldbauern-Kinder, aber ich gebe meinen Sechser diesmal dem da, dessen Vater vier Ochsen hat!« Mein Lebtag vergeß' ich's nimmer, wie jetzt die Batzen in mein Häublein klangen -- hell zu Dutzenden, und ich konnte nachgerade nicht schnell genug die »Vergeltsgott« sagen, daß auf jeden eins kam. Und da dieser wundersame Hagel, wie ich ihn noch nie gesehen hatte, gar nicht wollte aufhören, konnte ich die Lust in meinem Herzen nimmer verhalten, in ein helles Wiehern und Lachen brach ich aus; das Natzelein aber schleuderte seine fast leer gebliebene Haube mitten in die Straße und schoß wütend in den Wald hinein. Mit Gelächter zog die Kreuzschar ab. Und ich hub an, meine Schätze zu zählen; in der Kappe und um dieselbe, im Sand und auf dem Moos und im Heidekraut lagen die Kreuzer und Groschen und Sechser zerstreut. Und als ich sie alle versammelt hatte, wollte ich wohl verzichten auf alle weiteren Wallfahrertruppen, die heute noch kommen konnten, wollte schnurstracks heim zu meinen Eltern laufen, um ihnen das unermeßliche Glück zu verkünden. Da bin ich plötzlich angepackt von rückwärts, zu Boden geworfen, und auf meiner Brust reitet das Natzelein. Mit seinen strammen Händen preßt er meine Arme tief in das Heidekraut hinein, und so grinst er mir in's Gesicht. _Stärker_ bin ich nicht, wie er, dachte ich bei mir, wenn ich auch _gescheiter_ nicht bin, so ist's um mich gefehlt. »Du!« murmelte das Bürschlein zwischen den Zähnen hervor, »gieb mir die Hälfte vom Geld!« »Nein,« sage ich trocken. »So nehm' ich mir's selber.« »Dann spring' ich auf.« »Aber ich laß' Dich nicht los!« »Dann kannst Du das Geld nicht nehmen.« »Ich setz' Dir meine Knie auf die Gurgel!« »Ich laß' mich umbringen.« Zum Glück hallte jetzt der Gesang einer neuen Kreuzschar. Wir beide sprangen auf, stürzten zur Straße hin und lallten unser Gebet. Das von den vielen Abenteuern an der Straße nur als einzig Stücklein. Und wenn das Tagwerk vorbei, so versammelten wir Kinder uns auf der Au, wo die Schafe noch grasten, und tauschten unsere Gaben um, wie sie jedem eben entsprachen. Geld war stets der gesuchteste Artikel; nur die Kinder armer Kleinhäusler und Köhlersleute gaben feine Leckerbissen und Kreuzerchen für ein schwarzes Stück Brot, wenn es nur groß war. Am fünften Tage kehrten die Scharen stets auf demselben Wege wieder zurück. Und jeder von den Wallfahrern hatte an seiner Brust einen oder mehrere Rosenkränze hängen oder Amulette, Frauenbildchen und funkelnde Kreuzlein und Herzen. Die Mädchen trugen rote und grüne Krönlein von Wachs auf ihrem Haupte. Die Bündel auf den Rücken hatten sich sehr bedeutend verkleinert, und die Brote, die wir bekamen, waren hart, und Geldstücke sprangen spärlich hervor aus den Taschen. Doch lohnte es sich des Hockens immer noch, und die Erwartung der Gabe war mindestens so anziehend, als die Gabe selbst. Einmal, ich war schon an die zehn Jahre alt geworden, kniete ich ganz allein am Stamme eines Kruzifixes, und recht zungenfertig im Vaterunserhersagen, wie ich endlich geworden war, kehrte ich alle Vorteile des Absammlers heraus und hoffte reichlichen Gewinn. Da kam eine Kreuzschar; ein paar Brötchen wurden mir zugeworfen, und sie war vorüber. Nur ein schon betagter, gutmütig aussehender Mann war zurückgeblieben, schritt ganz nahe an mich heran, neigte ein wenig sein Haupt zu mir nieder und sagte: »Bettelbub'!« Dann ging er den anderen nach. Mir war das halbe Vaterunser im Mund stecken geblieben. Ich glotzte eine Weile um mich, dann stand ich langsam auf und schlich von dannen. Das war mein letztes Hocken gewesen an unserer Waldstraße. -- Bettelbub'! -- Das Wort hat mich aufgeweckt. Ein junger, gesunder Bursche, der stolz ist, daß sein Vater Haus und Hof besitzt, ein sonst gar etwas hoffärtiger Bursche, der mit seinem neuen grünen Hut Sonntags schon etlichemale gleich den Knechten in's Wirtshaus gegangen ist, der es demnächst mit dem Tabakrauchen probieren wird und der nicht allzuselten in's Fensterglas guckt, wie es mit dem Bart steht -- ein solcher Bursche betteln! Auch das Natzelein thut's nimmer. Das Natzelein ist ein reicher Bauer geworden, und er giebt, wenn man ihm glauben darf, jeden Tag erklecklich Almosen an wahrhaft dürftige Bettelleute. Und die Magyaren und die Slovaken kommen noch heute jenen einsamen Waldweg gezogen, immer an Kinder, die am Wege kauern, Gaben spendend, in ihrem Beten und Flehen _selbst_ Bettelleute vor der Gnadenmutter zu Zell. [Illustration] [Illustration] Als ich zur Drachenbinderin ritt. Wenn mein Vater am Sonnabend beim Rasieren saß, da mußte ich unter den Tisch kriechen, weil es über dem Tisch gefährlich war. Wenn mein Vater beim Rasieren saß, wenn er seine Backen und Lippen dick und schneeweiß eingeseift hatte, daß er aussah wie der Stallbub, welcher der Kuhmagd über den Milchrahm gekommen; wenn er dann das glasglänzende Messer schliff an seinem braunledernen Hosenträger und hierauf langsam damit gegen die Backen fuhr, da hub er an, den Mund und die Wangen und die Nase und das ganze Antlitz derart zu verzerren, daß seine lieben, guten Züge schier gar nicht mehr zu erkennen waren. Da zog er seine beiden Lippen tief in den Mund hinein, daß er aussah wie des Nachbars alter Veit, der keine Zähne mehr hatte; oder er dehnte den Mund nach links oder rechts in die Quere, wie die Köhler-Sani that, wenn sie mit den Hühnern keifte; oder er drückte ein Auge zu und blies eine Wange an, daß er war wie der Schneider Tinili, wenn ihn sein Weib gestreichelt hatte. Die spaßhaftesten Gesichter der ganzen Nachbarschaft fielen mir ein, wenn der Vater beim Rasieren saß. Und da kam mir das Lachen. Darauf hatte mein Vater stets liebevoll gesagt: »Gieb Ruh', Bübel.« Aber kaum die Worte gesprochen waren, wuchs wieder ein so wunderliches Gesicht, daß ich erst recht herausplatzte. Er guckte in den kleinen Spiegel, und schon meinte ich, sein schiefes Antlitz werde in ein Lächeln auseinanderfließen. Da rief er plötzlich: »Wenn Du keine Ruh' giebst, Bub, so hau' ich Dir den Seifenpinsel hinüber!« Kroch ich denn unter den Tisch, und das Kichern schüttelte mich, wie die Nässe den Pudel. Der Vater aber konnte sich ruhig rasieren und war nicht mehr in Gefahr, über seine und meine Grimassen selbst in ein unzeitiges Lachen auszubrechen. So auch war's einmal an einem Winterabend, daß der Vater beim Seifenschüsselchen saß und ich unter dem Tisch, als sich draußen in der Vorlauben jemand den Schnee von den Schuhen strampfte. Gleich darauf ging die Thür auf und ein großer Mann trat herein, dessen dichter roter Schnurrbart Eiszapfen trug, wie draußen unser Bretterdach. Er setzte sich gleich nieder auf eine Bank, zog eine bauchige Tabakspfeife aus dem Lodenmantel, faßte sie mit den Vorderzähnen, und während er Feuer schlug, sagte er: »Thust Dich balbieren, Waldbauer?« »Ja, ich thu' mich ein wenig balbieren,« antwortete mein Vater und kratzte mit dem Schermesser und schnitt ein wahrhaft gottverlassenes Gesicht. »Na, ist recht,« sagte der fremde Mann. Und später, als er schon von Wolken umhüllt war und die Eiszapfen bereits niedertröpfelten von seinem Barte, that er folgende Rede: »Ich weiß nicht, Waldbauer, wirst mich kennen oder nicht? Ich bin vor fünf Jahren einmal an Deinem Hause vorbeigegangen und hab' beim Brunnen einen Trunk Wasser genommen. Ich bin von der Stanz, bin der Drachenbinderin ihr Knecht. Ich bin da um Deinen größeren Buben.« Mir unter dem Tisch schoß es bei diesen Worten heiß bis in die Zehen hinaus. Mein Vater hatte nur einen einzigen größeren Buben, und der war ich. Ich duckte mich in den finstersten Winkel hinein. »Um meinen Buben bist da?« entgegnete mein Vater, »den magst wohl haben, den werden wir leicht entraten; halt ja, er ist gar so viel schlimm.« Bauersleute reden gern so herum, um ihre vorwitzigen Kinder zu necken und einzuschüchtern. Allein der Fremde sagte: »Nicht so, Bauer, gescheiter Weis'! Die Drachenbinderin will was aufschreiben lassen, ein Testament oder so was, und sie weiß weit und breit Keinen zu kriegen, der das Schreiben thät verstehen. Jetzt, da hat sie gehört, der Waldbauer im Vorderschlag hätt' so ein ausbündig Bübel, dem solch' Ding im kleinen Finger stecken thät; und so schickt sie mich her und läßt Dich bitten, Bauer, Du sollst die Freundschaft haben und ihr Deinen Buben auf einen Tag hinüberleihen; sie wollt' ihn schon wieder fleißig zurückschicken und ihm was geben zum Lohn.« Wie ich das gehört hatte, klopfte ich mit den Schuhspitzen schon ein wenig an den Tischschragen -- das thäte mir gleich nicht übel gefallen. »Geh,« sagte mein Vater, da er auf einem Backen bereits glatt gekratzt war, »wie könnt' denn mein kleiner Bub' jetzt im tiefen Winter in die Stanz gehen, ist ja völlig vier Stunden hinüber!« »Freilich wohl,« versetzte der große Mann, »deswegen bin ich da. Er steigt mir auf den Buckel hinauf, thut die Füß' auseinander, legt sie mir zu beiden Seiten an den Rippen nach vorn, wo ich sie anfaß', und mit den Händen halst er mich, wie eine Liebste, daß er nicht mag rückwärts hinabfallen.« »Versteh's schon,« drauf mein Vater, »ist nicht nötig, daß du mir das Buckelkraxentragen so auslegst.« »Nu, und nachher wird's wohl gehen, Waldbauer, und wenn der Sonntagabend kommt, trag' ich Dir ihn wieder in's Haus.« »Je nu, dasselb' weiß ich wohl, daß Du mir ihn wieder redlich zurückstellst,« sagte mein Vater, »und wenn die Drachenbinderin was will schreiben lassen, und wenn Du der Drachenbinderin ihr Knecht bist, und wenn mein Bübel mit Dir will -- meinetwegen hat's keinen Anstand.« Diese letzten Worte hatte er bereits mit glattem, verjüngtem Gesichte gesprochen. Eine kleine Weile nachher stak ich in meinem Sonntagsgewand; glückselig über die Bedeutung, die ich so plötzlich erlangt hatte, ging ich in der Stube auf und ab. »Du ewiger Jud', Du,« sagte mein Vater, »hast mehr kein Sitzfleisch?« Aber mir ließ es keine Ruhe mehr. Am liebsten hätte ich mich sogleich auf das breite Genick des großen Mannes niedergelassen und wäre davongeritten. Da kam erst die Mutter mit dem Sterz und sagte: »Esset ihn, ihr zwei, ehe Ihr fortgeht!« Umsonst hatte sie es nicht gesagt; ich habe unsern breitesten hölzernen Löffel nie noch so hochgeschichtet gesehen, als zur selbigen Stunde, da ihn der fremde große Mann von dem Sterztrog unter seinen Schnurrbart führte. Ich aber ging in der Stube auf und ab und dachte, wie ich nun der Drachenbinderin ihr Schreiber sein werde. Als hierauf die Sache insoweit geschlichtet war, daß die Mutter den Sterztrog über den Herd stülpen konnte, ohne daß auch nur ein Brosamchen herausfiel, da hüpfte ich auf das Genick des Mannes, hielt mich am Barte fest und ritt denn in Gottesnamen davon. Schon ging die Sonne unter; in den Thälern lagen bläuliche Schatten, die fernen Schneehöhen der Almen hatten einen mattroten Schein. Als mein Gaul über die kahlen Weiden aufwärts trabte, da trug ihn der Schnee, aber als er in die Gegend des jungen Lärchenwuchses und des Fichtenwaldes kam, da wurde die Bodenkruste trügerisch und brach ein. Jedoch darauf war er vorgesehen. Als wir zu einem alten, hohlen Lärchenbaum kamen, der sein wildes Geäste recht keck in die Luft hinaus reckte, hielt er an, langte mit der einen Hand in die schwarze Höhlung und zog ein paar aus Weiden geflochtene Fußscheiben hervor, die er an die Schuhsohlen band. Mit diesen breiten Sohlen begann er die Wanderung von neuem; es ging langsam, denn er mußte die Füße sehr weit auseinanderbiegen, daß er die Scheiben vermitteln konnte, aber mit solchen Entenfüßen brach er nicht mehr durch. Auf einmal, es war schon recht finster, und die Sterne leuchteten klar, hub mein Gaul an, mir die Schuhe loszulösen, zog sie zuletzt gar von den Füßen und that sie in seine aufgebundene Schürze. Dann sagte er: »Jetzt Bübel, steck' Deine Pfötelein da in meine Hosentaschen, daß die Zehen nicht herabfrieren.« Meine vorgereckten Hände nahm er in die seinen und hauchte sie mit dem warmen Atem an -- was anstatt der Handschuhe war. An meinen Wangen kratzte die Kälte, der Schnee winselte unter den Scheiben -- so ritt ich einsam fort durch den Wald und über die Höhen. Ich ritt über den ganzen langen Grat des Hochbürstling, wo ich nicht einmal zur Sommerszeit noch gewesen war! Ich preßte zuweilen, wenn es schon ganz langsam ging, meine Knie in die Weichen, und mein Gaul ertrug es willig und ging wie er konnte, und er wußte den Weg. Ich ritt an einem Pfahle vorbei, auf welchem Winter und Sommer der heilige Viehpatron Erhardi stand. Ich kannte den heiligen Erhardi von daheim; ich und er hatten zusammen die Aufsicht über meines Vaters Herden; er war immer viel angesehener als ich, ging ein Rind zu Grunde, so hatte ich, der Halterbub, die Schuld; gediehen die andern recht, so hatte er das Lob. -- Es that mir wohl, daß er sah, wie ich es zum Rittersmann gebracht, während er die ewige Weil wie angenagelt auf dem Pfahle stand. Endlich wendete sich der Lauf, ich ritt abwärts über Stock und Stein einem Lichtlein zu, das unten in der Schlucht flimmerte. Und als so alle Bäume und Gegenden an mir vorübergegangen waren und ich vor mir den dunkeln Klumpen mit der kleinen Tafel des Lichtscheines hatte, stand mein guter Christof still und sagte: »Du liebes Waldbauernbübel! Da Du mir fremdem Menschen so unbesonnen gefolgt bist -- wohl könnte es sein, daß ich schon jahrelang einen Groll hätt' gegen Deinen Vater, und daß ich Dich jetzt in eine Räuberhöhle führte.« Horchte ich einen Augenblick so hin. Weil er zu seinen Worten nichts mehr beisetzte, so sagte ich in demselben Tone: »Da mein Vater mich der Drachenbinderin ihrem Knechte so anvertraut hat, und da ich so unbesonnen gefolgt bin, so wird der Drachenbinderin ihr Knecht keinen Groll haben können und mich nicht in eine Räuberhöhle führen.« Der Mann hat nach diesen meinen Worten in seinen Bart gepustert. Bald darauf hub er mich auf einen Strunk und sagte: »Jetzt sind wir bei der Drachenbinderin ihrem Hause.« Er machte an dem dunkeln Klumpen eine Thür auf und ging hinein. In der kleinen Stube war ein Herd, auf dem ein Häufchen Glut lag, ein Kienspan, der brannte, und ein Strohlager, auf dem ein Kind schlief. Daneben stand ein Weib, das schon sehr alt und gebückt war und das im Gesicht schier so blaß und faltenreich aussah, wie das grobe Nachtkleid, in das es gehüllt stand. Dieses Weib stieß, als wir eintraten, einige jauchzende Töne aus, hub dann heftig zu lachen an und verbarg sich hinter dem Herde. »Das ist die Drachenbinderin,« sagte mein Begleiter, »sie wird gleich zu Dir reden, setze Dich dieweilen auf den Schemel da neben dem Bett' und thu' Deine Schuh' wieder an.« Ich that es, und er setzte sich daneben auf einen Holzblock. Als das Weib still geworden war, trippelte es am Herde herum, und bald brachte es uns in einer Thonschüssel eine graue dampfende Mehlsuppe und zwei beinerne Löffel dazu. Mein Mann aß würdevoll und beharrlich, mir wollte es nicht recht munden. Zuletzt stand der Knecht auf und sagte leise zu mir: »Schlaf' wohl, Du Waldbauernbub'!« und ging davon. Und als ich in der schwülen Stube allein war mit dem schlummernden Kinde und dem alten Weibe, da hub es mir schon an, recht unheimlich zu werden. Doch nun trat die Drachenbinderin heran, legte ihre leichte, hagere Hand an meine Wange und sagte: »Dank' Dir Gott, unser lieber Herr, daß Du zu mir gekommen bist! -- Es währet kein halbes Jährlein noch, seit mir meine Tochter ist gestorben. Das da« -- sie deutete auf das Kind -- »ist mein junger Zweig, ist ein gar lieber Wurm, wird mein Erbe sein. Und jetzt hör' ich schon wieder den Tod anklopfen an meiner Thür; ich bin alt schon an die achtzig Jahr'. Mein leblang hab' ich gespart -- mein Sargbett will ich mir wohl erbetteln von guter Leute Herzen. Mein Mann ist früh gestorben und hat mir das Drachenbinderhäusel, wie es genannt wird, zurückgelassen. Meine Krankheiten haben mir das Häusel wieder gekostet -- sind's aber nicht wert gewesen. Was ich hinterlaß', ist meinem Enkelkind zu eigen. In sein Herz geht's heut noch nicht hinein, und in die Hand geben kann ich's keinem Menschen. So will ich's schreiben lassen, daß es bewahrt ist. Durch den Schulmeister in der Stanz will ich's nicht thun, und der Doktor kann's ohne Stempelgeld nicht machen. So haben die Leut' vom Waldbauernbuben erzählt, der wär' so hoch gelehrt, daß er auch ohne Stempel einen letzten Willen wüßt' zu schreiben. Und so hab' ich Dich von weiten Wegen bringen lassen. Morgen thu' mir die Lieb, und heute geh' zur friedsamen Ruh'.« Sie geleitete mich mit dem brennenden Span in eine Nebenkammer; die war nur aus Brettern geschlagen. Ein Lager von Heu und eine Decke aus dem dicken Sonntagskleide des Weibes war da, und in einem Winkel stand ein kleiner brauner Kasten mit zwei Türmchen, in welchen Glöcklein schrillten, so oft wir auf den wankenden Fußboden traten. Die Drachenbinderin steckte den Span in ein Turmfenster, segnete mich mit einem Daumenkreuze und bald darauf war ich allein in der Kammer. Es war kalt, ich fröstelte vor dem Winter und vor dem Weibe, das meine Gastfrau war; aber noch ehe ich mich ins Nest verkroch, machte ich mit Neugierde die Thür des Kirchleins auf. Eine Maus huschte heraus, die hatte eben an dem goldpapierenen Altare und der pappenen Hand des heiligen Josef ihr Nachtmahl gehalten. Es waren Heilige und Englein da und bunte Fähnlein und Kränzlein -- ein lieblich Spiel. Ich meinte, das sei gewiß der alten Drachenbinderin ihre Pfarrkirche, weil das Weiblein doch schon viel zu mühselig, um nach Stanz zum Gottesdienst zu wandern. Ich betete vor dem Kirchlein mein Abendgebet, worin ich den lieben Herrgott bat, mich in dieser Nacht recht zu beschützen; dann löschte ich den Span aus, daß er nicht zu den Turmfenstern hineinbrennen konnte und legte mich hernach in des lieben Gottes Namen auf das Heu. -- Mir kam es vor, als wäre ich losgerissen von mir selber und ein gelehrter Schreiber in einem fernen kalten Hause, während der wahrhaftige Waldbauernbub gewiß daheim in dem warmen Nestlein schlummere. Als ich endlich im Einschlafen war, hörte ich drinnen in der Stube wieder das kurz ausgestoßene Jauchzen und bald darauf das heftige Lachen. Was ergötzt sie denn so sehr, und wen lacht sie aus? -- Ich fürchtete mich und sann auf Flucht. Ein Standbrett wäre doch leicht ausgehoben -- aber der Schnee! Erst gegen Morgen schlief ich ein und träumte und träumte von einer roten Maus, die allen Heiligen der Kirche die rechte Hand abgebissen habe. Und zum Turmfenster sah mein Vater mit den eingeseiften schiefen Backen heraus, und er hielt einen brennenden Span im Mund; ich schluchzte und kicherte zugleich und hatte heiße Angst. Als ich endlich erwachte, meinte ich, ich wäre in einem Käfig mit silbernen Spangen, so strahlte das weiße Tageslicht durch die aufrechten Bretterfugen. Und als ich hinausging vor die Thür des Hauses, da staunte ich, wie eng die Schlucht und wie fremd und hoch und winterlich die Berge waren. Im Hause schrie das Kind und jauchzte wieder die Drachenbinderin. Bei der Frühsuppe war auch mein Gaul wieder da; aber er sagte schier kein Wort, er sah nur auf sein Essen, und als dieses gar war, stand er auf, setzte seinen großmächtigen Hut auf und ging gegen Stanz hinaus zur Kirche. Als das Weib das Kind beruhigt, die Hühner gefüttert und andere Dinge des Hauses gethan hatte, schob es den Holzriegel vor die äußere Thür, ging in die Kammer und hub mit den kleinen Glocken des Kirchleins zu läuten an. Dann entzündete sie zwei Kerzen, die am Altare standen, und dann that sie ein Gebet, wie ich meiner Tage kein ergreifenderes gehört habe. Sie kniete vor dem Kirchlein, streckte die Hände aus und murmelte: »Von wegen der Marterwunden Deiner rechten Hand, Du kreuzsterbender Heiland, thu' meine verstorbenen Eltern erretten, wenn sie noch in der Pein sind. Schon der Jahre ein halbes Hundert sind sie in der Erden, und heut noch hör' ich meinen Vater rufen um Hilf' mitten in der Nacht. -- Von wegen der Marterwunden Deiner linken Hand laß' Dir empfohlen sein meiner Tochter Seel'. Sie hat kaum mögen die Welt anschauen, und wie sie dem lieben Gatten das Kindlein in die Hand will legen, da kommt der bittere Tod und thut sie uns begraben. -- Von wegen der Marterwunden Deines rechten Fußes will ich Dich bitten wohl im Herzen für meinen Mann und für meine Blutsfreund' und Gutthäter und daß Du den Waldbauernbuben nicht wolltest vergessen. -- Von wegen der Marterwunden Deines linken Fußes, Du kreuzsterbender Heiland, sei auch eingedenk in Lieb' und Gnaden all' meiner Feinde, die mich mit Händen haben geschlagen und mit Füßen haben getreten. Dich haben verblendete Menschen gekreuzigt bis zum Tode, und hast ihnen auch wohl vergeben. -- Von wegen der Marterwunden Deines heiligen Herzens sei zu tausend- und tausendmal angerufen: Du gekreuzigter Gott, schließe mein Enkelkind in Dein göttliches Herz. Sein Vater ist bei den Soldaten in weitem Feld, ich hab' 'leicht kein langes Verbleiben, Du mußt dem Kind ein Vormund sein, ich bitte Dich ...!« So hatte sie gebetet. Die roten Kerzen brannten so fromm. -- Ich hab' gemeint zur selben Stund': wenn ich der lieb' Herrgott wäre, ich stieg herab vom Himmel und thät das Kind nehmen in meine Händ' und thät sagen: Auf daß Du's siehst, Drachenbinderin, ich halt's an meinem Herzen warm und will sein Vormund sein! -- Ich wollt' ihm wachsen lassen weiße Flügel, daß es könnt' fliegen in das schönste Land. Aber ich bin der lieb' Herrgott nicht gewesen. Nach einer Weile sagte das Weib: »Jetzt heben wir zu schreiben an.« -- Aber wie wir wollten zu schreiben anheben, da war keine Tinte, keine Feder und kein Papier. Allmiteinander hatten wir darauf vergessen. Die Alte stützte ihren Kopf auf die flache Hand und murmelte: »Das ist schon ein Elend!« Ich hatte einmal das Geschichtchen gehört von jenem Doktor, der in Ermanglung der Dinge sein Rezept an die Stubenthür geschrieben. -- 's war hier der Nachahmung wert; fand sich aber keine Kreide im Haus. Ich wußte mir keinen Rat, und ich schämte mich unsagbar, daß ich ein Schreiber ohne Feder war. »Waldbauernbub,« sagte das Weib plötzlich, »'leicht hast Du's auch mit Kohlen gelernt?« Ja, ja, mit Kohlen, wie sie auf dem Herde lagen, das war ein Mittel. »Und das ist in Gottesnamen mein Papierblatt,« versetzte sie und hob die Decke eines alten Schrankes empor, der hinter dem Ofen stand. In dem Schranke waren Lodenschnitzel, ein Stück Linnen und ein rostiger Spaten. Als die Drachenbinderin bemerkte, daß ich auf den Spaten blickte, wurde sie völlig verlegen, deckte ihr altes Gesicht mit der braunen Schürze und murmelte: »'s ist doch eine Schande!« Mir fuhr's ins Herz; ich hielt das für einen Vorwurf, daß ich kein Schreibzeug bei mir habe. »Wirst mich rechtschaffen auslachen, Waldbauernbub!« lispelte die Alte, »aber thu' ja nichts Schlechtes von mir denken; ich kann halt nicht mehr, ich _kann_ nicht mehr, ich bin schon gar so viel ein mühseliger Mensch.« Jetzt verstand ich vielleicht: das arme Weib schämte sich, daß es den Spaten nicht mehr handhaben konnte und daß dieser also rostig geworden. Ich suchte mir am Herd ein mildes Stück Kohle -- die Kiefer ist so gut und leiht mir die Feder, daß ich das Testament, oder was es sein wird, der alten Drachenbinderin vermag aufzuschreiben. Als also der graufarbige Schrank offen stand und ich bereit war, auf die Worte des Weibes zu hören und sie zu verzeichnen, daß sie nach vielen Jahren dem Enkel eine Botschaft seien -- da that die Alte neben mir plötzlich ein helles Aufjauchzen. Eilig wendete sie sich seitab, jauchzte zwei- und dreimal und brach zuletzt in ein heiseres Lachen aus. Ich zerrieb in der Angst die Kohle zwischen meinen Fingern und schielte nach der Thür. Als das Weib eine Weile gelacht hatte, war es still, that einen tiefen Atemzug, trocknete sich den Schweiß, wendete sich zu mir und sagte: »So schreib. Hoch werden wir nicht zählen, fang' aber doch an in der oberen Eck'.« Ich legte die Hand auf die oberste Ecke des Deckbrettes. Hierauf sprach das Weib folgende Worte: »Eins und eins ist Gott allein. -- Das, Du Kind meines Kindes, ist Dein Eigen.« Ich schrieb die Worte auf das Holz. »Zwei und zwei,« fuhr sie fort, »zwei und zwei ist Mann und Weib. Drei und drei das Kind dabei. Vier und fünf bis acht und neun, weil die Sorgen zahllos sein. -- Bet', als wenn Du keine Hand; arbeit', als wenn Dir kein Gott bekannt. Trage Holz und denk' dabei: Kochen wird mir Gott den Brei.« -- -- Als ich diese Worte geschrieben hatte, senkte die Drachenbinderin den Deckel auf den Schrank, versperrte ihn sorgsam und sagte zu mir: »Jetzt hast Du mir eine große Gutthat erwiesen, jetzt ist mir ein schwermächtiger Stein vom Herzen. Diese Truhe da ist das Vermächtnis für mein Enkelkind. -- Und jetzt kannst Du sagen, was ich Dir geben soll für Deinen Dienst.« Ich schüttelte den Kopf, wollte nichts verlangen, gar nichts. »So gut schreiben lernen und so weit herreisen und eine ganze Nacht harte Kälte leiden und zuletzt nichts dafür nehmen wollen, das wär' sauber!« rief sie, »Waldbauernbub, das kunnt ich nicht angehen lassen.« Ich blinzelte durch die offene Thür ein wenig in die Kammer hinein, wo das Kirchlein stand. Das wäre eine prächtige Heiligkeit für mein Bettlein daheim. -- Da roch sie's gleich. »Mein Hausaltar liegt Dir im Sinn,« sagte sie, »Gotteswegen, so magst Du ihn haben. Man kann's nicht versperren wie die Truhe, das liebe Kirchel, und die Leut' thäten mir's doch nur verschleppen, wenn ich nicht mehr bin. Bei Dir ist's in Ehren, und Du denkst wohl an die alte Drachenbinderin zur heiligen Stund', wenn Du betest.« Das ganze Kirchlein hat sie mir geschenkt. Und das war jetzt die größte Seligkeit meiner ganzen Kindschaft. Gleich wollte ich es auf die Achsel nehmen und forttragen über die Alpe zu meinem Hause. Aber das Weib sagte: »Du lieber Närrisch, das kunnt wohl auf alle Mittel und Weis nicht sein. Kommt erst der Knecht heim, der wird einen Rat schon wissen.« Und als der Knecht heimgekommen war und mit uns das Mittagsbrot gegessen hatte, da wußte er einen Rat. Er band mir das Kirchlein mit einem Strick auf den Rücken, dann ließ er sich nieder vor dem Holzblock und sagte: »Jetzt, Bübel, reit' wieder auf!« Saß ich denn das zweitemal auf seinem Nacken, steckte die Füße in seine Hosentaschen und umschlang mit den Händen seinen Hals. Die Alte hielt mir das erwachende Kind noch vor, daß es mir das Händchen hinhalte, sagte noch Worte des Dankes, schoß hinter den Ofen und jauchzte. Ich aber ritt davon, und an meinem Rücken klöpfelten die Heiligen in der Kirche, und in den Türmen schrillten bei jeder Bewegung die Glöcklein. Als der Mann mit mir emporgestiegen war bis zu den Höhen des Bürstling und sich dort wieder die Schneescheiben festband, da fragte ich ihn, warum denn die Drachenbinderin allfort so jauchze und lache. »Das ist kein Jauchzen und Lachen, liebes Waldbauernbüblein,« antwortete mir der Mann, »die Drachenbinderin hat eine böse Krankheit zu tragen. Sie hat jahrelang so ein Schlucksen gehabt, wie eins es bei Verkühlungen oder sonst wie bekommen kann; sie hat nicht darauf geachtet, hat die Sach' übergehen lassen, und so ist nach und nach, wie der Bader sagt, das Krampfschreien und das Krampflachen daraus geworden. Jetzt ballt sich ihr Eingeweide zusammen, und wenn sie in der Erregung ist, so hat sie die starken Anfälle. Sie kann schier keine Speisen mehr vertragen und sieht den Tod vor Augen.« Ich entgegnete kein Wort, blickte auf die schneeweißen Höhen, auf den dämmerigen Wald und sah, wie wir an dem reinen Sonntagsnachmittag sachte abwärts stiegen gegen mein Heimatshaus. Ich dachte, wie ich die Kirche, die ich zum Vermächtnis bekommen, nun aufstellen wolle in der Stube und darin Gottesdienst halten, und daß jetzt Vater und Mutter den weiten Weg nach dem Pfarrdorfe nicht mehr zu machen brauchten. Mein guter Gaul schritt geduldig dahin, und allweg klingelten hinter mir die Metallglöckchen in den Türmen. -- Was läuten sie? ... Die alte Drachenbinderin ist gestorben. [Illustration] [Illustration] Als dem kleinen Maxel das Haus niederbrannte. Ich erinnere mich noch gar gut an jene Nacht. Ein dumpfer Knall, als wenn die Thür des Schüttbodens zugeworfen worden wäre, weckte mich auf. Und dann klopfte jemand am Fenster und rief in die Stube herein: wer des Klein-Maxel Haus brennen sehen wolle, der möge aufstehen und schauen gehen. Mein Vater sprang aus dem Bette, ich erhob ein Jammergeschrei und dachte für's Nächste daran, meine Kaninchen zu retten. Wenn bei besonderen Ereignissen wir anderen über und über aus Rand und Band gerieten, so war es allemal die blinde Jula, unsere alte Magd, die uns beruhigte. So sagte sie auch jetzt, daß ja nicht unser Haus im Feuer stehe, daß das Klein-Maxel-Haus eine halbe Stunde weit von uns weg wäre; daß es auch nicht sicher sei, ob das Klein-Maxel-Haus brenne, daß ein Spaßvogel vorbeigegangen sein könne, der uns die Lug zum Fenster hereingeworfen, und daß es möglich sei, daß gar niemand hereingeschrien hätte, sondern uns das nur so im Traume vorgekommen wäre. Dabei streifte sie mir das Höselein und die Schuhe an, und wir eilten vor das Haus, um zu sehen. »Auweh!« rief mein Vater, »'s ist schon Alles hin.« Über den Waldrücken herüber, der sich in einem weitgebogenen Sattel durch die Gegend legt und das Ober- und Unterland von einander scheidet, strebte still und hell die Flamme auf. Man hörte kein Knistern und Knattern, das schöne neue Haus, welches erst vor einigen Wochen fertig geworden war, brannte wie Öl. Die Luft war feucht, die Sterne des Himmels waren verdeckt; es murrte zuweilen ein Donner, aber das Gewitter zog sich sachte hinaus in die Gegenden von Birkfeld und Weitz. Ein Blitz -- so erzählte nun der Mann, der uns geweckt hatte, der Schaf-Gistel war's -- wäre etlichemal hin- und hergezuckt, hätte ein Trudenkreuz auf den Himmel geschrieben und wäre dann niederwärts gefahren. Er wäre aber nicht mehr ausgeloschen, der lichte Punkt an seinem untern Ende wäre geblieben und rasch gewachsen, und da hätte sich er, der Mann, gedacht: Schau Du, jetzt hat's den klein Maxel troffen. »Wir müssen doch schauen gehen, daß wir was helfen mögen,« sagte mein Vater. »Helfen willst da?« versetzte der Andere, »wo der Donnerkeil d'reinfahrt, da rühr' ich keine Hand mehr. Der Mensch soll unserm Herrgott nicht entgegenarbeiten, und wenn _der_ einmal einen Himmletzer (Blitz) auf's Haus wirft, so wird er auch wollen, daß es brennen soll. Hernachen mußt wissen, ist so ein Einschlagets auch gar nicht zu löschen.« »Deine Dummheit auch nicht,« rief mein Vater, und zornig, wie ich ihn noch selten gesehen hatte, schrie er dem Gistel in's Gesicht: »_Du bist blitzdumm!_« Ließ ihn stehen und führte mich an seiner Hand rasch davon. Wir stiegen in's Engthal hinab und gingen am Fresenbach entlang, wo wir das Feuer nicht mehr sehen konnten, sondern nur die Röte in den Wolken. Mein Vater trug einen Wasserzuber bei sich, und ich riet, daß er denselben gleich an der Fresen füllen solle. Mein Vater hörte gar nicht d'rauf, sondern sagte mehrmals vor sich hin: »Maxel, aber daß Dich jetzt so was treffen muß!« Ich kannte den kleinen Maxel recht gut. Es war ein behendiges, heiteres Männlein, etwa in den Vierzigern; sein Gesicht war voll Blatternarben, und seine Hände waren braun und rauh wie die Rinden der Waldbäume. Er war seit meinem Gedenken Holzhauer in Waldbach. »Wenn einem Andern das Haus niederbrennt,« sagte mein Vater, »na, so brennt ihm halt das Haus nieder.« »Ist's beim klein' Maxel nicht so?« fragte ich. »Dem brennt alles nieder. Alles, was er gestern gehabt hat und heut' hat und morgen hätt' haben können.« »So hat der Blitz den Maxel 'leicht selber erschlagen?« »Das wär' 's Best', Bub'. Ich vergunn' ihm das Leben, Gottseid', ich vergunn' ihm's -- aber, wenn er eh'vor hätt' beichten mögen und in keiner Todsünd' wär' gewesen, wollt' richtig gleich sagen, das Allerbest', wenn's ihn auch selber troffen hätt'.« »Da wär' er jetzt schon im Himmel oben,« sagte ich. »Watsch' nur nicht so in's nasse Gras hinein. Geh' gleim (nahe) hinter mir, und halt' Dich beim Jankerzipf an. Vom Maxel, von dem will ich Dir jetzt was sagen.« Der Weg ging sanft berganwärts. Mein Vater erzählte. »Jetzt kann's dreißig Jahr aus sein -- ist der Maxel in's Land kommen. Armer Leute Kind. Die erst' Zeit hat er bei den Bauern herum einen Halterbuben gemacht, nachher, wie er sich ausgewachsen hat, ist er in den Holzschlag 'gangen. Ein rechtschaffener Arbeiter und allerweil fleißig und sparsam. Wie er Vorarbeiter ist worden, hat er sich vom Waldherrn ausgebeten, daß er das Sauerwiesel auf der Gfarerhöh' ausreuten und für sein Lebtag behalten dürfe, weil er so viel gern eigen Grund und Boden hätte. Ist ihm gern zugesagt worden, und so ist der Maxel alle Tag, wenn sie im Holzschlag Feierabend gemacht haben, auf sein Sauerwiesel 'gangen, hat den Strupp weggeschlagen, hat Gräben gemacht, hat Steine ausgegraben, hat die Wurzeln des Unkrautes verbrannt -- und in zwei Jahren ist das ganze Sauergütel trocken gelegt, und es wachst gutes Gras d'rauf, und gar ein Fleckel Brandkorn hat er anbaut. Wie es so weit angeht, daß er's auch mit Kohlkraut hat probiert, und gesehen, wie gut es den Hasen schmeckt, ist er um Waldbäume einkommen. Die können sie ihm nicht schenken, wie das Sauerwiesel, die muß er abdienen. So hat er Arbeitslohn dafür eingelassen, und die Bäume hat er umgehauen und viereckig gehackt und abgeschnitten zu Zimmerholz -- alles in den Feierabenden, wenn die anderen Holzknechte lang' schon auf dem Bauch sind gelegen und ihre Pfeifen Tabak haben geraucht. Und nachher hat er angehebt, an solchen Feierabenden andere Holzhauer zu verzahlen, daß sie ihm bei Arbeiten helfen, die ein einziger Mensch nicht dermachen kann, und so hat er auf dem Sauerwiesel sein Haus gebaut. Fünf Jahr' lang hat er daran gearbeitet, aber nachher -- Du weißt ja selber, wie es dagestanden ist mit den goldroten Wänden, mit den hellen Fenstern und der Zierat auf dem Dach herum -- schier vornehm anzuschauen. Ein fein Gütel ist worden auf der Sauerwiese, und wie lang' wird's denn her sein, daß uns unser Pfarrer bei der Christenlehr' den klein' Maxel als ein Beispiel des Fleißes und der Arbeitsamkeit hat aufgestellt? Nächst Monat hat er heiraten wollen; und daß er heraufgestiegen ist vom Waiselbuben bis zum braven Hausbesitzer und Hausvater -- Bub', da ruck' Dein Hütel! -- Und jetzt ist auf einmal alles hin. Der ganze Fleiß und alle Arbeit die vielen Jahr' her ist umsonst. Der Maxel steht wieder auf demselben Fleck, wie voreh'.« Ich habe dazumal meine Frömmigkeit noch aus der Bibel bezogen, und so entgegnete ich auf des Vaters Erzählung: »Der Himmelvater hat den Maxel halt gestraft, daß er so auf's Zeitliche ist gegangen wie die Heiden, und der Maxel hat sich leicht um's Ewige zu wenig gesorgt. Sehet die Vöglein in den Lüften, sie säen nicht, sie ernten nicht --« »Sei still!« unterbrach mich der Vater unwirsch, »der das hat gesagt, ist der König Salomo gewest, der kann so was schon sagen. Unsereiner sollt's probieren! -- Ich kenn' mich nimmer aus, und das sag' ich, wenn's mir so geht, wie dem klein' Maxel, ich bin verzagt und heb an zu faullenzen. Wenn ein Mensch mit dem Zündholz in ein Strohdach fährt, so wird er in den Kotter gesteckt -- ist auch recht, gehört ihm nichts Anderes. Aber wenn einer vom Himmel herunter Feuer auf das nagelneue Haus wirft, das ein armer, braver Arbeitsmann gebaut --« Er unterbrach sich. Wir standen auf der Anhöhe, und vor uns loderte die Wirtschaft des Klein-Maxel, und das Haus brach eben in seinen Flammen zusammen. Mehrere Leute waren da mit Hacken und Wassereimern, aber es war nichts Anderes zu machen, als dazustehen und zuzuschauen, wie die letzten Kohlenbrände in sich einstürzten. Das Feuer war nicht wütend, es brüllte nicht, es krachte nicht, es fuhr nicht wild in der Luft herum; das ganze Haus war eine Flamme, und die qualmte heiß und weich zum Himmel auf, von wannen sie gekommen. Eine kleine Strecke vom Brande war der Steinhaufen, auf welchen der Maxel die Steine der Sauerwiese zusammengetragen hatte. An demselben saß er nun, der kleine, braune, blatternarbige Maxel, und sah auf die Glut hin, deren Hitze auf ihn herströmte. Er war halb angekleidet, hatte seinen schwarzen Sonntagsmantel, das einzige, was er gerettet, über sich gehüllt. Die Leute traten nicht zu ihm; mein Vater wollte ihm gern ein Wort der Teilnahme und des Trostes sagen, aber er getraute sich auch nicht zu ihm. Der Maxel lehnte so da, daß wir meinten, jetzt und jetzt müsse er aufspringen und einen schreckbaren Fluch zum Himmel stoßen und sich dann in die Flammen stürzen. Und endlich, als das Feuer nur mehr auf dem Erdengrund herum leckte und aus den Aschen die kahle Mauer des Herdes aufstarrte, erhob sich der Maxel. Er schritt zur Glut hin, hob eine Kohle auf und zündete sich die Pfeife an. Ich war damals doch noch klein und konnte nicht viel denken. Aber an das erinnere ich mich: Als ich in der Morgendämmerung den klein' Maxel vor seiner Brandstätte stehen sah, und wie er den blauen Rauch aus der Pfeife sog und von sich blies, da war mir in meiner Brust plötzlich heiß. Als ob ich es fühlte, wie mächtig der Mensch ist, um wie viel größer als sein Schicksal, und es für das Verhängnis keinen größeren Schimpf gäbe, als wenn man ihm in aller Seelenruhe Tabaksrauch in die Larve bläst. Und als die Pfeife brannte, setzte er sich wieder auf den Steinhaufen und blickte in die Gegend hinaus. Was er gedacht hat, das möchtet Ihr wissen? Ich auch. Später hat der klein' Maxel die Asche seines Hauses durchwühlt und aus derselben sein Schlagbeil hervorgezogen. Er schaftete einen neuen Stiel an, er machte es an einem Schleifsteine der Nachbarschaft wieder scharf -- und ging an die Arbeit. Seither sind viele Jahre vorbei: Um die Sauerwiese liegen heute schöne Felder, und auf der Brandstätte steht ein neugegründeter Hof. Junges Volk belebt ihn, und der Hausvater, der klein' Maxel, lehrt seine Söhne das Arbeiten, erlaubt ihnen aber auch das Tabakrauchen. Nicht gar zu viel -- aber ein Pfeiflein zu rechter Zeit. [Illustration] [Illustration] Als ich das erste Mal auf dem Dampfwagen saß. Noch viel seltsamer als diese Geschichten waren, ist jenes Erlebnis gewesen, das hier erzählt wird. Mein Pate, der Knierutscher Jochem -- er ruhe in Frieden! -- war ein Mann, der alles glaubte, nur nicht das Natürliche. Das Wenige von Menschenwerken, was er begreifen konnte, war ihm göttlichen Ursprungs; das Viele, was er nicht begreifen konnte, war ihm Hexerei und Teufelsspuk. -- Der Mensch, das bevorzugteste der Wesen, hat zum Beispiel die Fähigkeit, das Rindsleder zu gerben und sich Stiefel daraus zu verfertigen, damit ihn nicht an die Zehen friere; diese Gnade hat er von Gott. Wenn der Mensch aber hergeht und den Blitzableiter oder gar den Telegraphen erfindet, so ist das gar nichts anderes als eine Anfechtung des Teufels. -- So hielt der Jochem den lieben Gott für einen gutherzigen, einfältigen Alten (ganz wie er, der Jochem, selber war), den Teufel aber für ein listiges, abgefeimtes Kreuzköpfel, dem nicht beizukommen ist, und das die Menschen und auch den lieben Gott von hinten und vorn beschwindelt. Abgesehen von dieser hohen Meinung vom Lucifer, Beelzebub (was weiß ich, wie sie alle heißen), war mein Pate ein gescheiter Mann. Ich verdankte ihm manches neue Linnenhöslein und manchen verdorbenen Magen. Sein Trost gegen die Anfechtungen des bösen Feindes und sein Vertrauen war die Wallfahrtskirche Mariaschutz am Semmering. Es war eine Tagreise dahin, und der Jochem machte alljährlich einmal den Weg. Als ich schon hübsch zu Fuße war (ich und das Zicklein waren die einzigen Wesen, die mein Vater nicht einzuholen vermochte, wenn er uns mit der Peitsche nachlief), wollte der Pate Jochem auch mich einmal mitnehmen nach Mariaschutz. »Meinetweg',« sagte mein Vater, »da kann der Bub' gleich die neue Eisenbahn sehen, die sie über den Semmering jetzt gebaut haben. Das Loch durch den Berg soll schon fertig sein.« »Behüt' uns der Herr,« rief der Pate, »daß wir das Teufelszeug anschau'n! 's ist alles Blendwerk, 's ist alles nicht wahr.« »Kann auch sein,« sagte mein Vater und ging davon. Ich und der Pate machten uns auf den Weg; wir gingen über das Stuhleckgebirge, um ja dem Thale nicht in die Nähe zu kommen, in welchem nach der Leut' Reden der Teufelswagen auf und ab ging. Als wir aber auf dem hohen Berge standen und hinabschauten in den Spitalerboden, sahen wir einer scharfen Linie entlang einen braunen Wurm kriechen und darüber ein Rauchwölklein schweben. »Jessas Maron!« schrie mein Pate, »das ist schon so was! spring Bub'!« -- Und wir liefen die entgegengesetzte Seite des Berges hinunter. Gegen Abend kamen wir in die Niederung, doch -- entweder der Pate war hier nicht wegkundig, oder es hatte ihn die Neugierde, die ihm zuweilen arg zusetzte, überlistet, oder wir waren auf eine »Irrwurzen« gestiegen -- anstatt in Mariaschutz zu sein, standen wir vor einem ungeheuren Schutthaufen, und hinter demselben war ein kohlfinsteres Loch in den Berg hinein. Das Loch war schier so groß, daß darin ein Haus hätte stehen können, und gar mit Fleiß und Schick ausgemauert; und da ging eine Straße mit zwei eisernen Leisten daher und schnurgerade in den Berg hinein. Mein Pate stand lange schweigend da und schüttelte den Kopf; endlich murmelte er: »Jetzt stehen wir da. Das wird die neumodische Landstraßen sein. Aber derlogen ist's, daß sie da hineinfahren!« Kalt wie Grabesluft wehte es aus dem Loche. Weiter hin gegen Spital in der Abendsonne stand an der eisernen Straße ein gemauertes Häuschen; davor ragte eine hohe Stange, auf dieser baumelten zwei blutrote Kugeln. Plötzlich rauschte es an der Stange, und eine der Kugeln ging wie von Geisterhand gezogen in die Höhe. Wir erschraken baß. Daß es hier mit rechten Dingen nicht zuginge, war leicht zu merken. Doch standen wir wie festgewurzelt. »Pate Jochem,« sagte ich leise, »hört Ihr nicht so ein Brummen in der Erden?« »Ja freilich, Bub',« entgegnete er, »es donnert was! es ist ein Erdbidn« (Erdbeben). Da that er schon ein kläglich Stöhnen. Auf der eisernen Straße heran kam ein kohlschwarzes Wesen. Es schien anfangs stillzustehen, wurde aber immer größer und nahte mit mächtigem Schnauben und Pfustern und stieß aus dem Rachen gewaltigen Dampf aus. Und hintenher -- »Kreuz Gottes!« rief mein Pate, »da hängen ja ganze Häuser d'ran!« Und wahrhaftig, wenn wir sonst gedacht hatten, an das Lokomotiv wären ein paar Steirerwäglein gespannt, auf denen die Reisenden sitzen konnten, so sahen wir nun einen ganzen Marktflecken mit vielen Fenstern heranrollen, und zu den Fenstern schauten lebendige Menschenköpfe heraus, und schrecklich schnell ging's, und ein solches Brausen war, daß einem der Verstand still stand. Das bringt kein Herrgott mehr zum Stehen! fiel's mir noch ein. Da hub der Pate die beiden Hände empor und rief mit verzweifelter Stimme: »Jessas, Jessas, jetzt fahren sie richtig in's Loch!« Und schon war das Ungeheuer mit seinen hundert Rädern in der Tiefe; die Rückseite des letzten Wagens schrumpfte zusammen, nur ein Lichtlein davon sah man noch eine Weile, dann war alles verschwunden, blos der Boden dröhnte, und aus dem Loche stieg still und träge der Rauch. Mein Pate wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Angesicht und starrte in den Tunnel. Dann sah er mich an und fragte: »Hast Du's auch gesehen, Bub'?« »Ich hab's auch gesehen.« »Nachher kann's keine Blenderei gewesen sein,« murmelte der Jochem. Wir gingen auf der Fahrstraße den Berg hinan; wir sahen aus mehreren Schachten Rauch hervorsteigen. Tief unter unsern Füßen im Berge ging der Dampfwagen. »Die sind hin wie des Juden Seel'!« sagte mein Pate und meinte die Eisenbahn-Reisenden. »Die übermütigen Leut' sind selber in's Grab gesprungen!« Beim Gasthause auf dem Semmering war es völlig still; die großen Stallungen waren leer, die Tische in den Gastzimmern, die Pferdetröge an der Straße waren unbesetzt. Der Wirt, sonst der stolze Beherrscher dieser Straße, lud uns höflich zu einer Jause ein. »Mir ist aller Appetit vergangen,« antwortete mein Pate, »gescheite Leut' essen nicht viel, und ich bin heut' um ein Stückel gescheiter worden.« Bei dem Monumente Karl's VI. standen wir still und sahen in's Österreicherland hinaus, das mit seinen Felsen und Schluchten und seiner unabsehbaren Ebene vor uns ausgebreitet lag. Und als wir dann abwärts stiegen, da sahen wir drüben in den wilden Schroffwänden unsern Eisenbahnzug gehen -- klein wie eine Raupe -- und über hohe Brücken, fürchterliche Abgründe setzen, an schwindelnden Hängen gleiten, bei einem Loch hinein, beim andern heraus -- ganz verwunderlich. »'s ist auf der Welt ungleich, was heutzutag' die Leut' treiben,« murmelte mein Pate. »Sie thun mit der Weltkugel kegelscheiben!« sagte ein eben vorübergehender Handwerksbursche. Als wir nach Mariaschutz kamen, war es schon dunkel. Wir gingen in die Kirche, wo das rote Lämpchen brannte, und beteten. Dann genossen wir beim Wirt ein kleines Nachtmahl und gingen an den Kammern der Stallmägde vorüber auf den Heuboden, um zu schlafen. Wir lagen schon eine Weile. Ich konnte unter der Last der Eindrücke und unter der Stimmung des Fremdseins kein Auge schließen, vermutete jedoch, daß der Pate bereits süß schlummere; da that dieser plötzlich den Mund auf und sagte: »Schlafst schon, Bub'?« »Nein,« antwortete ich. »Du,« sagte er, »mich reitet der Teufel!« Ich erschrak. So was an einem Wallfahrtsort, das war unerhört. »Ich muß vor dem Schlafengehen keinen Weihbrunn' genommen haben,« flüsterte er, »'s giebt mir keine Ruh', 's ist arg, Bub'.« »Was denn, Pate?« fragte ich mit warmer Teilnahme. »Na, morgen, wenn ich kommuniziere, leicht wird's besser,« beruhigte er sich selbst. »Thut Euch was weh', Pate?« »'s ist eine Dummheit. Was meinst, Bübel, weil wir schon so nah' dabei sind, probieren wir's?« Da ich ihn nicht verstand, so gab ich keine Antwort. »Was kann uns geschehen?« fuhr der Pate fort, »wenn's die andern thun, warum nicht wir auch? Ich lass' mir's kosten.« Er schwätzt im Traum, dachte ich bei mir selber und horchte mit Fleiß. »Da werden sie einmal schauen,« fuhr er fort, »wenn wir heimkommen und sagen, daß wir auf dem Dampfwagen gefahren sind!« Ich war gleich dabei. »Aber eine Sündhaftigkeit ist's!« murmelte er, »na, leicht wird's morgen besser, und jetzt thun wir in Gottes Namen schlafen.« Am andern Tage gingen wir beichten und kommunizieren und rutschten auf den Knieen um den Altar herum. Aber als wir heimwärts lenkten, da meinte der Pate nur, er wolle sich dieweilen gar nichts vornehmen, er wolle nur den Semmering-Bahnhof sehen, und wir lenkten unsern Weg dahin. Beim Semmering-Bahnhof sahen wir das Loch auf der andern Seite. War auch kohlfinster. -- Ein Zug von Wien war angezeigt. Mein Pate unterhandelte mit dem Bahnbeamten, er wolle zwei Sechser geben, und gleich hinter dem Berg, wo das Loch aufhört, wollten wir wieder absteigen. »Gleich hinter dem Berg, wo das Loch aufhört, hält der Zug nicht,« sagte der Bahnbeamte lachend. »Aber wenn wir absteigen wollen!« meinte der Jochem. »Ihr müßt bis Spital fahren. Ist für zwei Personen zweiunddreißig Kreuzer Münz.« Mein Pate meinte, er lasse sich was kosten, aber so viel wie die hohen Herren könne er armer Schlucker nicht geben; zudem sei an uns beiden ja kein Gewicht da. -- Es half nichts; der Beamte ließ nicht handeln. Der Pate zahlte; ich mußte zwei »gute« Kreuzer beisteuern. Mittlerweile kroch aus dem nächsten, unteren Tunnel der Zug hervor, schnaufte heran, und ich glaubte schon, das gewaltige Ding wolle nicht anhalten. Es zischte und spie und ächzte -- da stand es still. Wie ein Huhn, dem man das Hirn aus dem Kopfe geschnitten, so stand der Pate da, und so stand ich da. Wir wären nicht zum Einsteigen gekommen; da schupfte der Schaffner den Paten in einen Waggon und mich nach. In demselben Augenblicke wurde der Zug abgeläutet, und ich hörte noch, wie der in's Coupé stolpernde Jochem murmelte: »Das ist meine Totenglocke.« Jetzt sahen wir's aber: im Waggon waren Bänke, schier wie in einer Kirche; und als wir zum Fenster hinausschauten -- »Jessas und Maron!« schrie mein Pate, »da draußen fliegt ja eine Mauer vorbei!« -- Jetzt wurde es finster, und wir sahen, daß an der Wand unseres knarrenden Stübchens eine Öllampe brannte. Draußen in der Nacht rauschte und toste es, als wären wir von gewaltigen Wasserfällen umgeben, und ein- um's anderemal hallten schauerliche Pfiffe. Wir reisten unter der Erde. Der Pate hielt die Hände auf dem Schoß gefaltet und hauchte: »In Gottes Namen. Jetzt geb' ich mich in alles drein. Warum bin ich der dreidoppelte Narr gewesen.« Zehn Vaterunser lang mochten wir so begraben gewesen sein, da lichtete es sich wieder, draußen flog die Mauer, flogen die Telegraphenstangen und die Bäume, und wir fuhren im grünen Thale. Mein Pate stieß mich an der Seite: »Du, Bub'! Das ist gar aus der Weis' gewesen, aber jetzt -- jetzt hebt's mir an zu gefallen. Richtig wahr, der Dampfwagen ist was Schönes! Jegerl und jerum, da ist ja schon das Spitalerdorf! Und wir sind erst eine Viertelstunde gefahren! Du, da haben wir unser Geld noch nicht abgesessen. Ich denk', Bub', wir bleiben noch sitzen.« Mir war's recht. Ich betrachtete das Zeug von innen, und ich blickte in die fliegende Gegend hinaus, konnte aber nicht klug werden. Und mein Pate rief: »Na, Bub', die Leut' sind gescheit! Und daheim werden sie Augen machen! Hätt' ich das Geld dazu, ich ließe mich, wie ich jetzt sitz', auf unsern Berg hinauffahren!« »Mürzzuschlag!« rief der Schaffner. Der Wagen stand; wir schwindelten zur Thür hinaus. Der Thürsteher nahm uns die Papierschnitzel ab, die wir beim Einsteigen bekommen hatten, und vertrat uns den Ausgang. »He, Vetter!« rief er, »diese Karten galten nur bis Spital. Da heißt's nachzahlen und zwar das Doppelte für zwei Personen; macht einen Gulden sechs Kreuzer!« Ich starrte meinen Paten an, mein Pate mich. »Bub',« sagte dieser endlich mit sehr umflorter Stimme, »hast Du ein Geld bei Dir?« »Ich hab' kein Geld bei mir,« schluchzte ich. »Ich hab' auch keins mehr,« murmelte der Jochem. Wir wurden in eine Kanzlei geschoben, dort mußten wir unsere Taschen umkehren. Ein blaues Sacktuch, das für uns Beide war und das die Herren nicht anrührten, ein hart Rindlein Brot, eine rußige Tabakspfeife, ein Taschenfeitel, etwas Schwamm und Feuerstein, der Beichtzettel von Mariaschutz und der lederne Geldbeutel endlich, in dem sich nichts befand als ein geweihtes Messing-Amuletchen, das der Pate stets mit sich trug im festen Glauben, daß sein Geld nicht ganz ausgehe, so lange er das geweihte Ding im Sacke habe. Es hatte sich auch bewährt bis auf diesen Tag -- und jetzt war's auf einmal aus mit seiner Kraft. -- Wir durften unsere Habseligkeiten zwar wieder einstecken, wurden aber stundenlang auf dem Bahnhofe zurückbehalten und mußten mehrere Verhöre bestehen. Endlich, als schon der Tag zur Neige ging, zur Zeit, da nach so rascher Fahrt wir leicht schon hätten zu Hause sein können, wurden wir entlassen, um nun den Weg über Berg und Thal in stockfinsterer Nacht zurückzulegen. Als wir durch den Ausgang des Bahnhofes schlichen, murmelte mein Pate: »Beim Dampfwagen da -- 's ist doch der Teufel dabei!« [Illustration] [Illustration] Als ich -- Einst war in unserem Waldhause ein alter Knecht, der einen gloriosen Spitznamen hatte -- er hieß der Thalerbüchsen-Toni. Er besaß nämlich -- ob als Erbschaft oder als Ersparnis, das ist nicht ergründet worden -- einen kleinen Schatz von alten Silbermünzen, teils mit Bildnissen Maria Theresia's, Friedrich's des Großen, teils mit dem Bilde der Mutter Gottes oder mit dem Zeichen von Krummstab und Schwert, von Adlern, Löwen, zweiköpfigen Tigern, von Kreuzen und Ringen, seltsamen Buchstaben oder anderen geheimnisvollen Markierungen. Etliche dieser Münzen, die wir, ohne Unterschied des Landes, der Prägung und der Größe, Thaler nannten, sollen sogar vom dreißigjährigen Kriege hergestammt haben. Den Schatz hielt Toni, der Knecht, eingeschachtelt in einer runden, blutrot angestrichenen Holzbüchse. Wenn nun der Feierabend kam oder eine stille Feiertagsstunde war, holte er aus seiner Kleidertruhe die Büchse hervor, aber nicht etwa, um nach alter Geizhalsart für sich allein darin zu wühlen und zu schwelgen, sondern um die Thalerfreude mit seinen Hausgenossen zu teilen, ihnen nach seiner Weise die Geldstücke zu erklären, sie dann auf dem Tische klingen zu lassen, um die Feinheit des Silbers zu bekunden, und sich an den gierigen Blicken zu weiden, die auf seine schönen Thaler niederstachen. Sobald jedoch die Leute merkten, es fiele bei dieser wiederholten Silberbeschau weiter nichts für sie aus, wurde ihnen die Sache langweilig, und sie sagten: »Geh, laß uns in Ruh', Toni, mit Deinen alten blinden Schimmeln, wenn Du keinen herschenkst, so wollen wir sie auch gar nicht sehen.« Derlei undankbare und lieblose Bemerkungen verdrossen den Knecht Toni allemal so tief, daß er in dem betreffenden Hause sofort den Dienst kündigte und in einen anderen Hof zog, wo man die Thalersammlung, die den Inhalt seines Knechtelebens ausmachte, wieder besser zu würdigen verstand. -- Aber die Bauersleute sind so viel hochsinnig, sie halten nichts auf's Geld, wenn sie es nicht kriegen. Und so kam es, daß der Toni gar häufig seinen Dienst wechselte, trotzdem er sonst ein stiller, zufriedener Mensch und kein schlechter Arbeiter war. Nun, so war der Thalerbüchsen-Toni auch in unser Waldhaus gekommen, und weil er an meinem Vater einen Mann fand, der die Geldstücke nicht nach deren Gewicht schätzte, sondern an den Bildnissen der Könige und Kaiser und besonders an der lieben Mutter Gottes seine Freude hatte, und weil er an uns Kindern -- ich war damals etwa acht Jahre alt -- eine jubelnde Schar von unersättlichen Bewunderern sah, so lebte er in unserem Hause neu auf. Und jeden Abend nach dem Vesperbrot kam er denn von seiner Gewandtruhe, die oben im Dachgelasse stand, zu uns in die Stube, geheimnisvoll die rote Büchse noch unter dem Rocke bergend, sie dann langsam hervorziehend, stets mit einer Miene, als ob es das allererstemal geschehe und er etwas unerhört Neues aufzuzeigen hätte. Und wenn er dann am sicheren Orte des großen Eichentisches saß und wir in einem festen Wall um ihn herum waren, schraubte er mit einer bedächtigen Fertigkeit die Büchse auf und faßte einen um den andern mit zwei Fingern an, wie der Priester die Hostie, und begann mit seinen Auslegungen. An jedem Stücke war eine besondere Merkwürdigkeit. Da war eine Maria Theresia, die scheinbar ihre Augen verdrehte, wenn man ihr die blinkende Münze Fritz des Großen gegenüberhielt. Ein anderer Thaler zeigte noch Rostflecken vom dreißigjährigen Kriege, von welchem der Knecht bemerkte, man müsse nicht glauben, daß dieser Krieg dreißig Jahre lang ohne alle Unterbrechung gedauert habe; in den meisten Nächten, besonders aber zu den hohen Festtagen, habe man die Schlacht unterbrochen und Freund und Feind in Gemeinschaft sein Gebet verrichtet. -- Auf einem andern Thaler war das wahrhaftige Bildnis unserer lieben Frau und ein Ablaß daran für den, der es küßte. Wir durften es auch küssen, alle der Reihe nach, auch die Dienstboten, die der Knecht gut leiden konnte; zu den andern sagte er, sie möchten sich ihren Ablaß nur anderswo holen, sie saugeten mit ihren ungewaschenen Mäulern leicht die ganze heilige Weihe aus dem Silber. Besonders ein halberwachsener Bursche, der Hiasel, war es, welcher durch manch lose Bemerkung über den Toni und seine Büchse des alten Knechtes Unwillen in so hohem Grade erweckt hatte, daß er nicht ein einzigmal zur Thalerschau, geschweige zum Kusse zugelassen wurde. Der Hiasel war kurze Zeit früher als unterstandsloser, etwas verkommener Junge des Weges gestrichen, und mein Vater hatte ihn aufgenommen, mit gutem Hanfzeuge bekleidet, auch ordentlich ausgefüttert, denn die ersten Wochen war der heimatlose Bursche gar nicht zu sättigen gewesen. Dafür griff der Hiasel nun auch die Arbeit flink an, war munter, und das regelmäßige Leben schien ihm gar nicht übel zu gefallen. Er sah jetzt recht gesund aus, war schlank gewachsen, und weil er auch die Haare kämmte, so wollte er schier ein hübsches Bürschlein werden. Ich, das muß ich wohl gestehen, hatte keine besondere Zuneigung zum Hiasel, nicht allein, weil er mir immer als Beispiel aufgestellt wurde, wenn ich mich nicht waschen und strählen lassen wollte, sondern und viel mehr noch, weil der Hiasel »Peitenstegga« anstatt Peitschenstecken sagte. Er war aus dem Niederösterreich herübergekommen, und mir war das »Fremdeln« in der Sprache unheimlich und dieses »Peitenstegga« geradezu eine Ungeheuerlichkeit. Der Bursche schnitt mir manchen Peitschenstecken und unterstützte mich bisweilen in meinen kindlichen Spielen; doch niemals vermochte ich für ihn Neigung zu fassen, da wandte ich mich zehnmal lieber dem alten Toni und seiner Thalerbüchse zu. Des Alten schmunzelndes, wichtigthuendes Gesicht anzuschauen, war für mich eine rechte Unterhaltung. Dieses platte, runzelige Gesicht mit den großen Wangenknochen, mit den völlig wasserfarbigen Äuglein, die fortwährend hinter den buschigen Brauen Versteckens spielten, wenn die Thaler aufmarschierten, dieses Gesicht war ein großer Spaß; und wie der Mann als Zeichen seiner höchsten Befriedigung die furchige Stirnhaut auf- und niederriß und selbst die Ohrläppchen bewegte wie ein Eselein -- das war doch gar zu possierlich. Und nun kam mir auf einmal der Gedanke: Wenn der Toni schon in seiner Lustigkeit ein so spaßiges Gesicht macht, wie erst, wenn er zornig und wild ist? -- Mit diesem Gedanken hebt die Geschichte an. Eines Tages, als die Leute auf dem Felde waren, stieg ich mit etwas schlotternden Beinlein die Stiege vom Dachgelaß herab und freute mich auf die Stunde, wenn der Toni wieder seine Thaler aufzeigen will und sie nicht findet. Das wird ein Gelächter geben! Aber ich lache still und sag' den Spaß erst am andern Tag. Es war die genötige Schnittzeit, da wird bis in die späten Abende hinein gearbeitet, da ist's nichts mit dem Thalergucken. Ich vergaß auch bald darauf, ich mußte Garben tragen und dem Vater die Kornschöberlein aufspreizen helfen. Auch waren die Kirschen reif, eine Zeit voll Sehnsucht für mich, denn ich wagte noch nicht den Stamm emporzuklettern, und das Niederziehen der Äste vermittelst Haken war scharf verboten; wenn ein Ast brach, da verstand mein Vater keinen Spaß. Das mutwillige Abreißen von Ästen nannte er: den Nachkommen Kirschen stehlen. Das war freilich ein garstiges Wort, und verzichtete ich schließlich doch lieber auf die so hellrot niederleuchtenden Kirschen bis zum Samstagfeierabend, wenn sie mir der Vater regelrecht herabholte oder es der Hiasel that, der ein arger Kletterer war. Damals erfuhr ich, was ein böses Wort vermag. Als der Hiasel hoch oben auf einem schaukelnden Aste saß und ihm bei jeder Schwenkung des Hauptes die frischen Kirschengabeln förmlich in den Mund hineinhingen, rief er zu mir nieder in's Gras, es wäre eine Schande, daß ich noch auf keinen Kirschbaum könne! und warf mir -- der ich die Haube nach Kirschen aufthat -- ein paar feuchte Kerne hinein. Ich sprang ergrimmt an den Baumstamm, und in wenigen Augenblicken war ich zu meiner eigenen Überraschung oben beim Hiasel. Ich wollte eben der Jubelstimmung über meine plötzlich eingetretene Mannhaftigkeit in einem hellen Juchschrei Luft machen, als neben im Hause auf einmal ein unheimlicher Lärm entstand. Der Toni sprang wie rasend zur Thür heraus, hielt mit beiden Händen seinen grauen Kopf und schrie: »Mein Geld ist weg! Mein Geld ist weg!« Ihm folgte mein Vater: der Toni solle sich doch nicht den Kopf wegreißen, das Geld würde sich ja finden, er ließe das ganze Haus untersuchen. Ein paar Dienstmägde zeterten: das wäre ihnen auch auf der Welt noch nicht passiert, daß sie sich aussuchen lassen müßten, wie Schelminnen, aber sie thäten es von selber, würfen dem Bauer all ihre Habseligkeiten vor die Füße, Stück für Stück, und solle er schauen, ob die dumme Thalerbüchse darunter sei. »Die dumme Thalerbüchse!« stöhnte der alte Knecht, »o Bauer! mein Bauer! Das Herz möchte mir zerspringen vor lauter Unglück!« und er hub an laut zu weinen und ging, immer noch den Kopf zwischen den Händen haltend, um's Haus herum, als müsse die Thalerbüchse irgendwo auf dem grünen Rasen liegen. Jetzt hörte ich auch die Stimme meiner Mutter, welche darüber schalt, daß die Leute an ihren Gewandtruhen die Schlüssel stecken ließen, daß sie damit leicht ein ganzes Haus in Unehr' bringen könnten; sie halte aber dafür, der Toni hätte in seiner verrückten Weise das Geld aufs Kornfeld mitgeschleppt und dort verstreut. Seit Wochen sei kein Bettler, kein Handwerksbursch' oder sonst ein Fremder in den Hof gekommen, und daß im Haus kein Dieb lebe, das wisse sie gewiß. Mir, der ich auf dem Kirschbaumast hockte, war wunderlich zu Mute. Wenn ich jetzt nur wieder unten wäre! das Ding geht höllisch schief. Im Hause wurde der Hiasel gerufen. »Wenn's eins im Haus gethan hat -- niemand anderer als der Hiasel!« Als der Junge dieses Wort gehört hatte, sprang er vom Baum mit einem kecken Schwunge über die Äste hinweg auf den Erdboden. Bald war er von den Leuten umringt. Der Toni hatte seine Fassungskraft wieder erlangt, er faßte daher den Hiasel am Arm und fragte, wo er das Geld habe! Der Bursche war im Gesicht röter als die reifste Kirsche und sagte, er wisse von keinem Gelde. Das Leugnen würde ihm nichts nutzen. Man wisse bestimmt, daß er die Thaler genommen habe! Auf eine solche Anschuldigung ist der Bursche -- überhaupt ungewandt im Reden, aber gewohnt, herrischen Aussprüchen sich zu fügen -- ganz stumm geworden. Er stand da wie ein Stück Holz und starrte den Ankläger schier seelenlos an. »Wenn Du's willig sagst, wo mein Geld ist,« sprach der Toni in milder, fast bittender Weise, »so geschieht Dir nichts; ich lege beim Waldbauer ein Gebitt ein, daß er Dich frei laufen laßt. Wenn Du aber leugnest, so schlage ich Dich tot!« Und ich? Als ich merkte, welch schreckbare Wendung mein »Spaß« zu nehmen begann, und daß die Sache jetzt gar nicht einmal wie ein Spaß aussah, und als ich eine Geisterstimme hörte: _das, was Du gethan, war Diebstahl!_ -- da war wohl mein erster Gedanke: Allsogleich sagen, Du hast das Geld hinter der Gewandtruhe unter den Holzsparren gesteckt. -- Aber sehr rasch rief eine andere Stimme: Das wäre zu gefährlich! Siehe, jetzt reißt er schon die Heckenrute ab, die kriegst Du, sobald Du das Wort sagst! Denn das Gesicht des alten Knechtes war ganz schreckbar anzusehen, die Wut, die Ratlosigkeit und den Jammer habe ich in meinem Leben nirgends so scharf ausgedrückt gefunden, als damals auf dem Angesichte des Toni. Da gab's nichts zu lachen! Wohl totenblaß mag ich gewesen sein, als ich mich hinter den Kirschbaumstamm schlich, dann plötzlich Kehrt machte, ins Haus eilte, ins Dachgelaß hinauf, die unselige Thalerbüchse aus ihrem Versteck holte und in die sperrangelweit offene Gewandtruhe des alten Knechtes warf. Als ich hernach wieder zum Kirschbaum zurückgekommen war, lagen von der Heckenrute nur mehr die weißen Splitter umher auf dem grünen Rasen; die Leute verzogen sich grollend und scheltend, und den Waldweg entlang wankte der Bursche mit zerrauftem Haar. Der Knecht wimmerte im Hause umher, der Vater trat zu mir und sagte, ich hätte nun gesehen, wohin Unehrlichkeit führe; den Hiasel habe er verjagt, und ich solle nun wieder auf den Kirschbaum steigen. Jetzt sag's! Jetzt sag's! rief es ungestüm in mir. Aber ich habe es nicht gesagt. Mir war, als _könnte_ ich es nicht mehr sagen, als sei schon zu viel geschehen. Ich war ja für's ganze Haus das fromme, gutmütige Büblein, das schier den ganzen Katechismus auswendig wußte und das heilige Evangelium lesen konnte so schön und kräftig, wie der Pfarrer auf dem Predigtstuhl, ich sollte nun als Dieb und Schuftlein dastehen! Hatte ich nicht die haarsträubende Entrüstung der Leute gesehen, die sich in allen Formen über den armen Hiasel entleert? Über mich mußte es noch ärger kommen, denn ich war ein doppelter Bösewicht. Für einen solchen ist es doppelt unklug, sich zu verraten -- und ich habe _nichts_ gesagt. Hingegen bin ich jetzt fortgegangen, den Waldweg entlang, um den Hiasel zu suchen. Ich bin, wie der Steig führt, in den Schmithofgraben hinabgegangen und jenseits wieder emporgestiegen zu den Hochwaldungen des Teufelssteingebirges. Und auf der Höhe, dort wo der weite grüne Anger liegt, mitten im Wald, und wo das hohe, rotangestrichene Christuskreuz steht, dort habe ich ihn gefunden. Er lag unter dem Kreuze und schlief, und auf seinem Antlitz lagen Spuren von Thränen. Über den schwarzen hohen Baumwipfeln lag die Abendröte, kein Lüftchen und kein Laut war auf dem dämmernden Anger -- ich saß neben dem schlafenden Burschen und weinte. -- Kinder weinen oft, aber es wird wohl selten sein, daß eins so bitter, bitterlich weint, als ich's damals gethan habe, da ich Wache hielt vor dem schlummernden Jungen, dem so grob Unrecht geschehen war. Wecken wollte ich ihn nicht. Er war ja so müde gehetzt. Daß er unschuldig ist, das weiß er, und wird ihm's sein lieber Schutzengel auch im Traum sagen. Er hat nicht Vater und Mutter, er hat nichts Gutes auf der Welt, und wenn ihm jetzt schon fremde Sünden zugeworfen werden, weil ihn kein Mensch in Schutz nimmt, wie erst, wenn er groß ist und es die schlechten Leute inne werden: das ist einer zum Tragen und Büßen ...! Er soll schlafen. Ähnliches mag ich gedacht oder gefühlt haben, und ein unendliches Mitleid kam über mich, eine Reue und eine Liebe, und ich wußte mir vor Weinen nicht zu helfen. Als er sich einmal ein klein wenig bewegte, da ging's mir heiß durchs Herz, und mir verging fast der Mut, es ihm zu sagen, daß ich das Schelmenstück gethan hätte, wofür er mißhandelt worden. Konnte ihn das nicht gegen mich empören, wütend machen? Konnte er mich nicht auf der Stelle totschlagen in diesem finsteren Wald und mir dabei zuschreien: die Strafe dafür hätte er schon im voraus empfangen? Aber -- und das allein ist's, was aus jenem bösen Tage heute noch milde auf mich herüberschaut -- ich blieb neben dem Schlummernden kauern und war entschlossen, nicht eher von ihm zu gehen, als bis ich ihm alles gestanden und abgebeten hätte. Dann wollte ich ihn mitnehmen hinein in mein Vaterhaus, daß er alles dort habe, was ich bisher gehabt, und das so lang, so lang, als die Heckenruten wachsen neben dem Kirschbaum. Bevor jedoch der Hiasel aus seiner schweren Betäubung erwachte, kam was anderes. Den Waldweg heran knarrte ein Leiterwagen, bespannt mit zwei Ochsen, die ein Mann leitete. Der Stegleitner von Fischbach war's, er fuhr von seinem Walde heim -- ich kannte ihn von einem Ochsentausche her, den er etliche Wochen früher mit meinem Vater unternommen. Trotz der tiefen Dämmerung erkannte ich auch die Ochsen als jene, welche er von uns fortgeführt hatte. Das heimelte mich an. Als der Stegleitner hier unter dem Kreuze einen schlafenden und einen schluchzenden Jungen fand, war er gar erschrocken und fragte, was das zu bedeuten habe. Und vor den Stegleitner bin ich hierauf hingekniet, als ob er der Bestohlene oder der Mißhandelte gewesen wäre, und habe ihm wohl mit gefalteten Händen alles erzählt. Der Stegleitner war ein ruhiger, ernster Mann; als ich fertig war, fragte er nur, ob ich fertig wäre, und da ich schwieg, hat er mir folgendes gesagt: »Mit dem Hiasel hast Du und hat Dein Vater nichts mehr zu schaffen, der gehört jetzt mein, ich nehme ihn mit mir. Abbitten wirst Du ihm's, wenn Du größer geworden bist, denn das -- mußt Du wissen -- verjährt nicht. Für jetzt werde ich ihm sagen, was zu sagen ist, daß sein Schutzengel seine Unschuld an's Licht getragen hat. Mehr braucht er nicht zu wissen. Und Du, Waldbauernbub, gehst jetzt heim, und was Du zu thun hast, das weißt Du.« »Das Geld ist schon zurückgegeben,« bemerkte ich gefaßter. »Das Geld ist Mist,« sagte der Stegleitner, »die Ehre giebst zurück. -- Mein Kind!« fuhr er fort und richtete mich mit seiner Hand auf, »schau, dort oben heben jetzt die Sternlein an zu leuchten. Sie schauen nieder auf Dich, wenn Du bei der Thür eintrittst in Dein Vaterhaus, sie sehen, was Du thun wirst und was lassen -- und sie brennen fort, bis zum jüngsten Gericht!« Die Worte waren ruhig, fast leise gesprochen, und doch war mir, als bebte vor ihnen der Erdboden unter meinen Füßen. Der Stegleitner blieb mit seinem Gefährte noch stehen bei dem roten Kreuz; ich that einen kurzen Blick auf den Schläfer, und war mir, als sähe ich das Bild eines Heiligen. Dann ging ich heimwärts; ging und lief und ahnte Gespenster, die mir folgten. Als ich gegen unser Haus kam, hörte ich schon von weitem die Stimme meiner Mutter, die meinen Namen rief. »Was das für ein Tag ist!« klagte sie, »Geld und Kinder werden gestohlen, da müssen doch rein Zigeuner im Land sein!« Aber Geld und Kind hatten sich nun glücklich wieder gefunden, und in der Stube kniete der Vater am großen Tische, knieten die anderen Leute an den Wandbänken herum, und sie beteten laut und gemeinstimmig den üblichen Samstagsrosenkranz. Mir war wohl und weh. Ich kniete zum alten Knecht Anton -- recht nahe an seine Seite hin -- und begann laut mitzubeten. Sie wiederholten immer wieder das Vaterunser und das Ave Maria, und ich stimmte in den surrenden Ton mit ein und sagte fortwährend: »Lieber Knecht, vergieb mir meine Schulden, ich habe Dir das Geld gestohlen! Lieber Knecht, vergieb mir meine Schulden, ich habe Dir das Geld gestohlen!« Weil der Toni entweder stark schläfrig war, oder weil er während des Rosenkranzes in Gedanken an die wiedergefundene Thalerbüchse schwelgte, so währte es ziemlich lang, bis ihm mein wunderlicher Text auffiel. Endlich huben sich seine Stirnhaut und sein Ohrläppchen an zu bewegen, er wendete sachte sein entsetztes Gesicht und schrie in die Stube hinein, man solle still sein und den kleinen Buben allein weiterbeten lassen. Und als von solcher Unterbrechung überrascht alles still war, duckte ich mich weinend in den Wandwinkel und wimmerte laut: »Ich habe das Geld genommen!« Der Rosenkranz war für heute aus. Die Begebenheiten spitzten sich nun rasch und scharf einem herben Ende zu, welches Ende jedoch durch den Umstand, daß der Hiasel geborgen und von seiner Ehrenrettung bereits durch den Stegleitner Kenntnis haben mußte, bedeutend gemildert worden ist. Von diesem verhängnisvollen Tage an ist der Thalerbüchsen-Toni nicht mehr lange bei uns geblieben. Aber zum Abschiede nahm er mich an seine Gewandtruhe. Dort öffnete er gravitätisch die Büchse und schenkte mir daraus ein funkelndes Thalerlein als -- Finderlohn. Nach Jahren, als der Toni mühselig und krank geworden war, wollte er mit seinem Silberschatze eine »wunderthätige Kapelle« stiften, was ihm aber der Pfarrer entschieden mißriet. Hingegen ward ihm nahe gelegt, ob er nicht einem braven Bauernburschen, dem dieser Silberlinge wegen einmal Unrecht geschehen, ein kleines Angedenken hinterlassen wolle? Aber der Hiasel war nicht im Lande. Er war lange im Stegleitnerhofe gewesen, und man hatte schon davon gemunkelt, daß er dort die hübsche Haustochter heiraten werde -- da wurde die Gegend plötzlich geräumt. Alle jungen, kräftigen Männer mußten fort. Es war die Zeit, in welcher nach dem Sprichwort die Weibsleute um jeden Stuhl rauften, auf dem einmal ein Mannsbild gesessen. -- Wie die Meereshochflut, die den Damm zerreißt, so brach der Feind ins Vaterland herein. O, laßt mich schweigen von den Ereignissen jener Tage, sie waren furchtbar groß. Der Sturm war bald vorüber; viele Männer kehrten heim, viele blieben auf ewig aus. Der Hiasel kam mit einem durchschossenen Fuß zurück. Bei Königgrätz war's gewesen. »Armer Bursch,« so begrüßte der alte Stegleitner den Heimkehrenden, »jetzt bist ein zweitesmal unschuldigerweis geschlagen worden.« »Ich trag's,« antwortete der Hiasel, »mir ist's nur _ihretwegen_ hart!« »Was ihretwegen!« sagte der Bauer, »ihre Ahndl, meine Mutter selig, hat auch einen hinkenden Mann gehabt. Dirndel, geh her! Schau, der Krumme kann Dir nicht so leicht davonlaufen. Der lieb' Herrgott geb' seinen Segen dazu!« Jetzt ist die Geschichte aus. Heute ist der Hiasel angesehener Stegleitner und sein Weib vergilt ihm -- so viel mir bekannt ist -- hundertfach manch erlittene Unbill. Der alte Thalerbüchsen-Toni ist erst vor wenigen Jahren gestorben. Der größte Teil seiner Münzen ging auf das Begräbnis, etliche Stücke nahm er mit in seinen Sarg, darunter das mit dem wahrhaftigen Bildnisse der Mutter Gottes. Da ist's wohl kein Wunder, daß der Alte im Tode ein so wohlgemutes, fast schmunzelndes Gesicht machte und im Grabe schmunzelnd zu Asche zerfallen wird -- bei den Thalern. [Illustration] Verlag von L. Staackmann in Leipzig. Jugendschriften von Peter Rosegger. =Aus dem Walde.= Ausgewählte Schriften für die reifere Jugend mit 36 Abbildungen in illustriertem Umschlag gebunden M. 4.--. =Ernst Und heiter= und so weiter. Für die reifere Jugend ausgewählt, in illustriertem Umschlag kartoniert M. 4.--. =Deutsches Geschichtenbuch.= Für die reifere Jugend ausgewählt mit 12 Vollbildern, in illustriertem Umschlag gebunden M. 4.--. =Waldferien.= Ländliche Geschichten für die Jugend ausgewählt. Mit 20 Abbildungen. In illustriertem Umschlag gebunden M. 4.--. =Waldjugend.= Geschichten für junge Leute von 15--70 Jahren. Mit zahlreichen Textillustrationen und 10 Vollbildern von Alfred Mailick. In Prachtband gebunden M. 6.--. Ausführliches Verzeichnis über Roseggers Schriften sowie ein neuer illustrierter Verlagskatalog steht jedem Interessenten auf Verlangen gratis und franko zur Verfügung. Druck von Grimme & Trömel in Leipzig. Weitere Anmerkungen zur Transkription Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht. Korrekturen: S. 8: hierauf → sich hierauf Als er {sich hierauf} einmal umsah S. 11: kreuzenden → sich kreuzenden das Gewebe der {sich kreuzenden} Eisstücke S. 76: kriegen → kriechen mußte ich unter den Tisch {kriechen} *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK ALS ICH NOCH DER WALDBAUERNBUB WAR. BAND 1 *** Updated editions will replace the previous one—the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg™ electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG™ concept and trademark. 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START: FULL LICENSE THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK To protect the Project Gutenberg™ mission of promoting the free distribution of electronic works, by using or distributing this work (or any other work associated in any way with the phrase “Project Gutenberg”), you agree to comply with all the terms of the Full Project Gutenberg™ License available with this file or online at www.gutenberg.org/license. Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg™ electronic works 1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg™ electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to and accept all the terms of this license and intellectual property (trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy all copies of Project Gutenberg™ electronic works in your possession. 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