The Project Gutenberg eBook of Moderne Probleme

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Title: Moderne Probleme

Author: Eduard von Hartmann

Release date: June 30, 2017 [eBook #55014]

Language: German

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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK MODERNE PROBLEME ***

Anmerkungen zur Transkription

Der vorliegende Text wurde anhand der 1888 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Zeichensetzung und offensichtliche typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche, altertümliche, sowie inkonsistente Schreibweisen wurden dagegen beibehalten, insbesondere wenn diese in der damaligen Zeit üblich waren oder im Text mehrfach auftreten.

Das Inhaltsverzeichnis wurde nach Vorgabe des Textes folgendermaßen angepasst:

  1. ‚Das Philosophie-Studium auf den Universitäten‘ wurde korrigiert zu ‚Das Philosophie-Studium an den Universitäten‘.
  2. Die Seitenzahl für den Abschnitt ‚Die preussische Schulreform von 1882‘ wurde von 160 zu 169 geändert.

Umlaute in Großbuchstaben (Ä, Ö und Ü) sowie das ‚Esszett‘ (ß) werden im Text umschrieben (Ae, Oe, Ue, bzw. ss). Abhängig von der im jeweiligen Lesegerät installierten Schriftart können die im Original gesperrt gedruckten Passagen gesperrt, in serifenloser Schrift, oder aber sowohl serifenlos als auch gesperrt erscheinen.

Eduard von Hartmann.

Moderne Probleme.

Zweite vermehrte Auflage.

Verlagssignet

Leipzig

Verlag von Wilhelm Friedrich

K. R. Hofbuchhändler.

1888.

Alle Rechte vorbehalten.


[– III –]

Vorwort zur ersten Auflage.

Dass es mir bisher an Feinden gefehlt habe, wird niemand behaupten können. Die katholische Kirche hat mich in amtlichen Kundgebungen und in dicken Büchern als einen Erzketzer und Hauptführer der wider Gott anstürmenden Rotte gebrandmarkt, die evangelischen Orthodoxen haben sich auch in dieser Frage an ihre Rockschösse gehängt, und der liberale Protestantismus wird mir die an ihm geübte Kritik[1] niemals verzeihen. Die Konservativen verabscheuen mich als religiösen Revolutionär, die Liberalen als einen Gegner der parlamentarischen Regierungsform, als Militaristen, Monopolisten und Socialisten; die Socialdemokraten hassen in mir mit Recht den aristokratisch gesinnten Gegner alles demokratischen Nivellements, der speciell die socialdemokratischen Verirrungen so scharf mitgenommen hat.[2] Die mechanistisch und darwinistisch gesinnte Welt der Naturforscher hat sich[– IV –] von der zweiten Auflage meiner Schrift „Das Unbewusste vom Standpunkte der Physiologie und Descendenztheorie“ i. J. 1877 so schwer getroffen gefühlt, dass sie sich seitdem in grollendes Stillschweigen und Ignoriren gehüllt hat. Die Positivisten und Neukantianer, welche alle Metaphysik verwerfen und bekämpfen, sehen in dem Verfasser der Schrift über den „Neukantianismus u. s. w.“ einen der gefährlichsten Störer ihrer Cirkel; die vordarwinschen naturwissenschaftlichen Materialisten und die Nachfolger Feuerbachs hassen in mir, wie die Schriften von Stiebeling, J. C. Fischer, Carl Grün und die Wuthausbrüche Dührings beweisen, einen rückständigen Schwärmer und Obscuranten, und die Optimisten aus allen Lagern reichen sich die Hände, um meinen Pessimismus, den sie nicht verstehen, als Volksverderber und Jugendverführer zu verdammen. Die Hegelianer hatte ich schon durch meine erste Veröffentlichung „Ueber die dialektische Methode“ vor den Kopf gestossen, die Schopenhauerianer bereits durch die Kritik der Schopenhauerschen Moralprincipien (in der „Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins“) verletzt und durch den Aufsatz „Mein Verhältniss zu Schopenhauer“ (in den „Philosophischen Fragen der Gegenwart“ Nr. II) ganz in’s Lager meiner Gegner hinübergetrieben, und den Universitätsphilosophen gegenüber hatte ich meine ohnehin schon schwierige Stellung als unzünftiger Konkurrent noch durch verschiedene Aeusserungen über die Universitätsphilosophie[3] verschlimmert.

Unter diesen Umständen hätte ein ganz auf sich selbst angewiesener, auf keine Klique, kein literarisches Organ und kein Katheder gestützter Forscher leicht[– V –] Bedenken tragen können, die Zahl der ihn umgebenden Feinde zu vermehren und deren Feindseligkeit zu verschärfen. Wenn ich dies trotzdem in den letzten Jahren im weitesten Umfang gethan habe, so bitte ich darin keine übermüthige Laune oder muthwillige Händelsucht zu sehen; was mich dazu antrieb, gegen so mancherlei moderne Irrthümer das Wort zu ergreifen, war ein inneres Bedürfniss, die Stimme der besonnenen Kritik zur Geltung zu bringen, ein unerschütterliches Vertrauen in die siegreiche Kraft der schlichten ungeschminkten Wahrheit, und ein Gefühl der Verpflichtung, durch meine völlig unabhängige Stellung mehr als viele Andere zur Inangriffnahme so peinlicher und undankbarer Aufgaben berufen zu sein.

Durch meine Schrift „Das Judenthum in Gegenwart und Zukunft“ habe ich mir nämlich nicht nur bei den Vertretern des Judenthums selbst, sondern auch bei den christlichen Philosemiten und nicht minder bei den Antisemiten viele neue Gegner gemacht, ebenso durch meine Schrift über den Spiritismus sowohl die spiritistischen Kreise gegen mich aufgebracht, als auch dem Widerwillen der Aufklärungsrationalisten und Materialisten gegen mich neue Nahrung zugeführt. Der Aufsatz „Was sollen wir essen?“ hat bei den Vegetarianern eine förmliche Erbitterung gegen mich wachgerufen, welche sich bis zu der öffentlichen Drohung: „es mir nicht vergessen zu wollen“, verstiegen hat. „Unsre Stellung zu den Thieren“ hat eine ähnliche Wirkung auf die Antivivisektionisten und sentimentalen Thierschützler ausgeübt. „Die Gleichstellung der Geschlechter“ und „Die Lebensfrage der Familie“ hat diejenigen Mitglieder des schönen Geschlechts, welche für die Emancipation ihrer Schwestern und für eine ausserfamiliäre Berufsstellung derselben kämpfen gegen mich in Harnisch gebracht. „Der Rückgang[– VI –] des Deutschthums“ hat den bei der grossdeutschen Idee stehen gebliebenen Theil der deutschen Liberalen gegen mich aufgeregt, die preussischen Polen mir zu unversöhnlichen Feinden gemacht, die Erbitterung des Ultramontanismus neu geschürt und vor allem bei den Deutschösterreichern einen Sturm der Entrüstung entfesselt, der wohl nicht ganz ohne Einfluss auf das aktive Aufraffen derselben aus dem doktrinär-liberalen Schlummer geblieben ist und hoffentlich auch ferner noch erspriessliche Folgen zeitigen wird. Die Aufsätze „Zur Reform des Universitätsunterrichts“ und „Das Philosophie-Studium“ dürften die Antipathien der Philosophieprofessoren gegen mich, wenn das überhaupt möglich war, noch verschärft haben, und „Die Ueberbürdung der Schuljugend“ muss auch diejenigen Pädagogenkreise gegen mich verstimmen, welche nicht schon als Vertheidiger der Realschulen oder Realgymnasien durch meine frühere Schrift „Zur Reform des höheren Schulwesens“ gegen mich eingenommen waren.

Zum mindesten bürgt das durch zahllose Gegenartikel, Vorträge, Zuschriften u. s. w. bekundete Aufsehen, welches die Mehrzahl der nachstehenden Aufsätze schon bei ihrer vereinzelten Veröffentlichung in Zeitschriften gemacht hat, dafür, dass dieselben auch in ihrer nunmehrigen Zusammenstellung einige Beachtung verdienen dürften; denn erst in dieser ihrer Vereinigung lassen sie ihre innere Zusammengehörigkeit, sowohl unter einander, als auch mit den Schriften über das Judenthum und den Spiritismus erkennen. Die Abhandlung „Der Somnambulismus“ bildet eine unmittelbare Ergänzung zu der Schrift über den Spiritismus, indem beide sich gegenseitig erläuternde Arbeiten die sogenannte „Nachtseite der menschlichen Natur“ erörtern und entschieden gegen eine neuere, auf den Geheimbuddhismus gestützte mystische Richtung Front[– VII –] machen, welche dieses Gebiet eines krankhaften Nerven- und Seelenlebens zu einer dem normalen Zustand überlegenen höheren Stufe des Geisteslebens aufzubauschen versucht. Die Aufsätze gegen den Vegetarianismus, den Antivivisektionismus, die Frauenemancipation und die egoistisch überspannte Missachtung der Familienpflichten gehören ebenfalls in eine engere Gruppe zusammen, welche der Schrift über das Judenthum schon dadurch näher gerückt ist, dass in ihnen allen der abstrakte Idealismus und die falsche Sentimentalität bekämpft wird.

Bekanntlich hatte Richard Wagner in seinen letzten Lebensjahren neben andern Eigenthümlichkeiten auch diejenige, sich zum theoretischen Vertreter des Vegetarianismus, Antivivisektionismus und Antisemitismus aufzuwerfen, und unter demjenigen Theil seiner Jünger und Anhänger, welcher darauf schwört, dass in dem Evangelium des Meisters auch seine Art sich zu räuspern und zu spucken einen untrennbaren Bestandtheil bilde, spielen auch Vertreterinnen der Frauenemancipation eine bedeutende Rolle. Hier findet also gleichsam ein Zusammenfluss der verschiedenen Ströme des abstrakten Idealismus statt, welche ich in der vorliegenden Schrift bekämpfe, und es scheint deshalb unvermeidlich, dass dieselbe bei diesem Kreise noch grösseren Anstoss erweckt, als dies schon früher meine Nichtanerkennung der Schopenhauerschen Mitleidsmoral und Theorie der Musik und meine Kritik sowohl des Urbuddhismus (im „Religiösen Bewusstsein der Menschheit“ B. I, 2) als auch des Geheimbuddhismus (in den „Philosophischen Fragen der Gegenwart“ Nr. IX) gethan hat.

Mögen diese Blätter trotz aller weiteren Anfeindungen, die ihnen nicht erspart bleiben werden, einen Leserkreis finden, der geneigt ist, in dem wüsten Durcheinander fanatischer Parteistimmen auch der[– VIII –] Stimme der parteilosen nüchternen Besonnenheit sein Ohr zu leihen, und mögen diejenigen, welche meine Ansichten nur aus gegnerischen Entstellungen kennen, sich durch eignen Einblick überzeugen, dass sie nichts weiter enthalten, als was für jeden Unbefangenen selbstverständlich und kaum des Aussprechens bedürftig scheinen sollte. Wenn aber philosophische Kritiker sich daran stossen sollten, dass ich mir die Mühe gegeben habe, auch Selbstverständliches niederzuschreiben, so bitte ich sie zu erwägen, dass verkehrten Zeitströmungen gegenüber auch das Aussprechen des Selbstverständlichen sein Recht hat, und dass es des Philosophen nicht unwürdig ist, auch der populären Behandlung von Zeitfragen näher zu treten.

Berlin-Lichterfelde, im Herbst 1885.

Eduard von Hartmann.

[– IX –]

Vorwort zur zweiten Auflage.

Der baldige Absatz der ersten Auflage dieses Buches liefert die erfreuliche Bestätigung dafür, dass die am Schlusse ihres Vorworts ausgesprochene Hoffnung nicht zu Schanden geworden ist. Ich habe in der zweiten Auflage als Nr. V-VII drei Aufsätze über die heutige Geselligkeit, über die Wohnungsfrage und über moderne Unsitten eingeschaltet, welche sich ihrem Inhalt nach an die ersten vier Aufsätze auf das engste anschliessen und dem Buch noch mehr als bisher den Charakter eines Vorläufers zur Socialethik geben. Ebenso habe ich den beiden Aufsätzen über die Schulfrage einen dritten (Nr. XII) hinzugefügt, welcher eine Uebersicht über den gegenwärtigen Stand der ganzen Bewegung giebt und die zunächst erforderlichen Schritte präcisirt. Dagegen habe ich den Aufsatz über den Rückgang des Deutschthums fortgelassen, weil inzwischen mit dem Erlass und der fortschreitenden Ausführung der preussischen Polengesetze sein Zweck erfüllt und seine Aktualität erloschen ist. In einigen der anderen Aufsätze, besonders in Nr. XV, habe ich kleinere Zusätze beigefügt, welche durch die an die erste Auflage geknüpfte Kritik und Polemik veranlasst worden sind. Möge das Buch auch in seiner neuen Gestalt günstige Aufnahme finden.

Berlin-Lichterfelde, im März 1888.

Eduard von Hartmann.

[– X –]

Inhalt.

I. Was sollen wir essen?   1
II. Unsere Stellung zu den Thieren 21
III. Die Gleichstellung der Geschlechter 36
IV. Die Lebensfrage der Familie 50
V. Die heutige Geselligkeit 85
VI. Die Wohnungsfrage 96
VII. Moderne Unsitten 106
VIII. Zur Reform des Universitätsunterrichts 120
IX. Das Philosophie-Studium an den Universitäten 140
X. Die Ueberbürdung der Schuljugend 157
XI. Die preussische Schulreform von 1882 169
XII. Der Streit um die Organisation der höheren Schulen 177
XIII. Der Bücher Noth 193
XIV. Die epidemische Ruhmsucht unserer Zeit 200
XV. Der Somnambulismus 207

[– 1 –]

I.
Was sollen wir essen?

In ärztlichen Kreisen hat im letzten Menschenalter ein hauptsächlich von England ausgegangener Umschwung der Ansichten über die Diät stattgefunden, der die Fleischkost in weit höherem Masse bevorzugt, als es früher üblich war. Im Gegensatz hierzu erklären die vegetarianischen Bestrebungen die reine Pflanzenkost für die allein naturgemässe, rationelle und humane Ernährungsweise und machen mit der Kraft einer religiösen Ueberzeugung das künftige Heil der Menschheit von dem Verzicht auf alle Fleischkost abhängig. Die Frage scheint wichtig genug, um sie in reifliche Erwägung zu ziehen.

Das für ein organisches Wesen Naturgemässe ist an zwei Merkmalen zu erkennen: an der Einrichtung seiner Organisation und an seinen Instinkten. Beide weisen übereinstimmend dem Menschen seine Stellung unter den Omnivoren (Allesfressern) an, zu denen beispielsweise auch die Schweine, Bären und Affen gehören. Magen und Darm des Menschen sind nicht wie diejenigen der Wiederkäuer für das Verdauen von Gras und Blättern eingerichtet, aber der Darm hat doch eine bedeutend grössere relative Länge als bei den auf reine Fleischkost angewiesenen katzenartigen Raubthieren.[– 2 –] Das menschliche Gebiss ist wie dasjenige aller Omnivoren aus Schneidezähnen, Reisszähnen und Mahlzähnen zusammengesetzt; die reinen Fleischzähne machen nur den achten Theil des Gesammtbestandes aus, was allerdings auf ein Uebergewicht vegetabilischer Kost hindeutet. Die Instinkte des Menschen weisen ebenso wie die aller übrigen Omnivoren darauf hin, dass die Fleischnahrung in gewissem Sinne die werthvollere für seinen Organismus ist; bei offen stehender Auswahl stürzen sich alle Omnivoren zunächst mit Gier auf das Fleisch. Hieraus könnte man schliessen, dass die Schneide- und Mahlzähne den Omnivoren von der Natur nur deshalb verliehen seien, um für den Fall des zeitweiligen Mangels an den schwerer zu erlangenden animalischen Nahrungsmitteln doch keinen Hunger zu leiden, sondern auf vegetabilische Nahrungsmittel zurückgreifen zu können. Aber so einfach liegt die Sache doch nicht. Denn wo der Instinkt nicht schon durch dauernde Gewöhnung denaturirt ist, pflegt auf die erste Gier nach Fleisch bald eine Reaktion der Uebersättigung zu folgen, mit der ein um so stärkeres Verlangen zur Rückkehr nach pflanzlichen Nahrungsmitteln hervortritt.

Die Nahrungsinstinkte des Menschen zeigen ausserdem thatsächlich bedeutende Abweichungen nach Klima, Alter, Geschlecht, Arbeitsleistung und Individualität. In tropischen Ländern, wo nur ein geringer Wärmeverlust zu decken und intensive Arbeit kaum möglich ist, wo also der Körper ohnehin nur eine geringe Menge von täglicher Nahrung zu verdauen braucht, reicht seine Verdauungskraft auch bei vegetabilischer Ernährung mehr als aus, so dass Fleischkost selbst bei grösster quantitativer Mässigkeit leicht zur Uebernährung führt; in den Polargegenden dagegen ist ein so starker Ersatz durch Nahrung erforderlich, dass auch die beste Verdauung unfähig wäre, die nöthige Assimilation aus vegetabilischer[– 3 –] Kost zu vollziehen. Der äquatorialen Genügsamkeit entspricht demnach die instinktive Bevorzugung von Nahrungsmitteln mit geringstem Nährwerth (Obst, Reis etc.), der polaren Gefrässigkeit das instinktive Bedürfniss nach Nahrungsmitteln von höchstem Nährwerth bei leichtester Verdaulichkeit (Fleisch, Fett, Thran etc.). In den gemässigten Zonen wiederholen sich diese Gegensätze in gemässigter Form: während der faulenzende Süditaliener und Südspanier nichts begehrt als eine Hand voll Datteln und Feigen nebst einer Zwiebel oder allenfalls Maccaroni, kann der englische Arbeiter oder der norddeutsche Sackträger nicht Fleisch und Speck genug bekommen. Im Durchschnitt tritt im gemässigten Klima der omnivore Instinkt des Menschen in ungetrübter Reinheit ans Licht, während er durch excessive Hitze oder Kälte nach der Seite der Pflanzennahrung oder Fleischnahrung hin abgelenkt wird. Dies lässt darauf schliessen, dass der Mensch einem gemässigten Klima seinen Ursprung verdankt, weil nur in diesem sein Instinkt mit seiner Organisation im Einklang ist.

Wie die klimatischen Abweichungen vom normalen Instinkt als zweckmässige Anpassungen erscheinen, so auch die durch Alter, Geschlecht, Individualität und Arbeitsleistung bedingten Abweichungen. Die geschwächte Verdauungskraft des Alters verlangt nach einem stärkeren Grade von Fleischzusatz in der Nahrung, während der kindliche und jugendliche Appetit auf Obst und Gemüse im Alter mehr und mehr schwindet. Das männliche Geschlecht hat im Durchschnitt stärkeren „Fleischhunger“ als das weibliche, auch abgesehen davon, ob es durch ein grösseres Mass von Arbeit ein stärkeres Ersatzbedürfniss hat; es scheint vermittelst einseitiger Vererbung im männlichen Geschlecht die durch stärkere Arbeitsleistung geweckte Neigung zur Fleischkost sich[– 4 –] durch lange Generationen hindurch summirt und befestigt zu haben. Wer aus Ständen, Familien oder Gegenden gebürtig ist, in denen ein beträchtlicher Fleischzusatz zur Nahrung Generationen hindurch üblich war, wird sich immer nur im Kampfe mit seiner instinktiven Neigung auf reine Pflanzenkost zurückziehen; wer hingegen sowohl für seine Person als auch durch seine Vorfahren auf Pflanzenkost eingerichtet ist, wird doch in reiferem Alter eine allmählich zunehmende Verstärkung des Fleischzusatzes bis zu einer gewissen Grenze hin immer mit Behagen empfinden. Diese Grenze ist allerdings individuell verschieden je nach der Verdauungskraft und den qualitativen Bedürfnissen des Organismus, und es ist nicht zu bestreiten, dass es ganz ausnahmsweise auch in gemässigten Klimaten Individuen, besonders solche weiblichen Geschlechts gibt, die eine ausgesprochene Idiosynkrasie gegen Fleischnahrung haben. Solche individuellen Abweichungen des Nahrungsinstinkts können pathologisch, sie können aber auch physiologisch bedingt sein, und selbst auf pathologischer Grundlage können sie ebensowohl zweckmässige Heilinstinkte, wie krankhaft perverse Instinkte sein.

Nimmt man den Durchschnitt des menschlichen Nahrungsinstinktes in gemässigtem Klima zum Massstabe, so findet man ihn wesentlich mit der Organisation seines Gebisses übereinstimmend, d. h. so, dass der grössere Gewichtstheil der täglichen Nahrung vegetabilischen, der kleinere animalischen Ursprungs sein muss, um ihm zu genügen.

Ein Unterschied besteht allerdings zwischen beiden Massstäben, insofern der Instinkt mehr als den achten Theil Fleisch in der Kost verlangt, wie man es nach dem Gebiss erwarten sollte; diess dürfte sich daraus erklären, dass das Gebiss, welches der Mensch von den omnivoren Thieren überkam, auf den achten Theil rohen[– 5 –] Fleisches berechnet ist, der Mensch aber gebratenes und gekochtes Fleisch bequem auch mit den Mahlzähnen kauen kann. Dem Instinkt nach gemischter Nahrung entspricht der Instinkt nach Abwechselung zwischen Fleisch- und Pflanzenkost, wenn die wünschenswerthe Mischung beider nicht zu erlangen ist.

Die naturgemässe Kost des Menschen ist also weder die reine Fleisch-, noch die reine Pflanzenkost, sondern die gemischte oder in den Mahlzeiten zwischen beiden wechselnde, allerdings mit Uebergewicht der pflanzlichen Bestandtheile. Gegen diese Thatsache lehnt sich der Vegetarianismus vergebens auf, der ausserdem die berechtigte Verschiedenheit der Zusammensetzung je nach Klima, Alter und Geschlecht, Individualität und Arbeitsleistung völlig verkennt. Auf den Instinkt des Menschen ist er deshalb als auf einen „kannibalischen“, als auf ein ererbtes Ueberlebsel thierischer Roheit schlecht zu sprechen, und es ist der grösste Kummer der Vegetarianer, dass so wenige von denen, welche vegetarianischen Principien huldigen, im Stande sind, sich gegen die Rückfälligkeit in die vom Instinkt geforderte gemischte Kost zu wahren. Mag er darin vom humanen Standpunkt aus recht haben oder nicht, jedenfalls hat er das Recht damit verwirkt, sich für die „naturgemässe Lebensweise“ zu proklamiren. Will er doch diese Behauptung aufrecht erhalten, so muss er zu der Hilfshypothese greifen, dass der Instinkt des Menschen ein widernatürlicher, degenerirter sei. Aber wodurch soll er degenerirt sein? Und wie lässt sich diese Behauptung vereinigen mit der Thatsache, dass alle Thiere mit gemischtem Gebiss Omnivoren sind, und alle Omnivoren weit gieriger auf Fleischkost als auf Pflanzenkost sind? Man sehe nur, wie ein Affe in Leidenschaft geräth, wenn er eine Taube im Zimmer bemerkt, während er die gebotenen Früchte zwar mit Behagen,[– 6 –] aber ohne besondere Erregung hinnimmt. Wenn es Specien mit gemischtem Gebiss giebt, deren Nahrungsinstinkt die Pflanzenkost bevorzugt, so ist diess eine Discrepanz zwischen Organisation und Instinkt, welche nur auf einer nachträglichen Anpassung des animalen Typus an die Lebensverhältnisse entstanden sein kann. Diese Anpassung kann entweder auf einer Unzuträglichkeit des Klimas für Fleischkost, oder auf der Leichtigkeit der Versorgung mit nahrhaften und schmackhaften Früchten für Kletterthiere, oder auf der Schwerfälligkeit und Waffenlosigkeit des Arttypus, welche den Raub von Beutethieren erschwert, oder auf einer Verbindung dieser Umstände beruhen. Aber wenn auch die bis jetzt völlig unerwiesene Behauptung wahr wäre, dass gerade die menschenähnlichen Affen im Naturzustande eine Degeneration des Instinktes nach dieser Richtung hin zeigen, so ist daraus doch nicht zu schliessen, dass es für den Menschen naturgemäss sei, ebenfalls diesem degenerirten Affeninstinkt zu folgen, der thatsächlich nicht der seinige ist, und dessen Anpassungsmotive für ihn nicht mehr zutreffen. Denn der Mensch lebt zumeist in einem gemässigteren Klima, als die menschenähnlichen Affen, ist nicht so Kletterthier wie sie, schafft sich die ihm von der Natur versagten Waffen und macht das Fleisch durch Zubereitung leichter verdaulich. Da der Mensch nicht von den uns bekannten menschenähnlichen Affen abstammt, braucht er auch nicht erst deren degenerirten Nahrungsinstinkt zu restituiren, sondern nur den naturgemässen seiner thierischen Vorfahren zu konservieren.

Es entsteht die weitere Frage, ob die vegetabilische Ernährung rationeller sei, d. h. dem Menschen mehr Vortheile oder weniger Nachtheile biete als die animalische. Denn wenn es auch am nächsten liegt, die naturgemässe Lebensweise zugleich für die vernünftige[– 7 –] zu halten, so ist doch durch den Glauben an die Zweckmässigkeit der Natur im Allgemeinen die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass etwas für den Naturzustand Passendes im Kulturzustand einschneidender Abänderungen bedarf, um den höheren Zwecken des Kulturlebens zu genügen. Deshalb kann die Untersuchung, ob etwas naturgemäss sei oder nicht, niemals das letzte Wort haben; denn der aus der Natur hervorwachsende bewusste Geist ist zwar selbst noch einerseits etwas Natürliches, anderseits etwas über die Natur Erhabenes, also etwas Natürliches von höherer Ordnungsstufe, welches die Naturzweckmässigkeit fortsetzt und steigert, indem es das Naturgemässe niederer Ordnungsstufe nach seinen Bedürfnissen modelt.

Die Vegetarianer behaupten, dass die Pflanzenkost den Menschen im Durchschnitt gesunder und widerstandsfähiger gegen Krankheiten mache als gemischte Kost; die Mehrzahl der Aerzte behauptet dagegen, dass eine Vermehrung der Fleischbestandtheile in der gemischten Kost den Menschen im Durchschnitt gesunder und widerstandsfähiger gegen Krankheiten mache. Ich meine, dass die naturgemässe Kost unter normalen Verhältnissen dem Menschen auch am besten bekommt, dass für einen geschwächten oder in schlechtem Ernährungszustand befindlichen Organismus eine womöglich nur vorübergehende Verstärkung des Fleischzusatzes vortheilhaft ist, und dass es irrationell ist, sich in gesunden Tagen mit zu starkem Fleischzusatz zu verwöhnen, weil damit die Möglichkeit einer vortheilhaften Steigerung in Krankheitsfällen ausgeschlossen ist. Dabei ist zuzugeben, dass durch die ärztliche Bevorzugung der Fleischkost nicht selten die Grenze der vortheilhaften Mischung überschritten wird, die namentlich bei manchen jüngeren weiblichen Individuen ziemlich tief liegen kann, und dass in solchen Fällen die Betreffenden[– 8 –] den Uebergang zur reinen Pflanzenkost für zuträglicher verspüren können als die übertriebene Fleischdiät, weil erstere von ihrer natürlichen Mischungslinie weniger weit abliegen kann als letztere. Ferner ist zu berücksichtigen, dass in Folge der steigenden Wohlhabenheit der Kulturvölker in den letzten Menschenaltern in allen Gesellschaftsschichten die Nahrhaftigkeit der durchschnittlichen Verköstigung sehr gestiegen ist, so dass bei der Anpassung des ererbten Appetits an eine schlechtere Kost eine gewisse Ueberernährung gegenwärtig sehr verbreitet ist; will man solche Ueberernährung mit ihren gesundheitsschädlichen Folgen beseitigen, so ist das einfachste Mittel, bei den Mahlzeiten mässiger zu sein, das demnächst einfachste, zu einer minder nahrhaften Kost zurückzukehren, so dass die gesundheitsdienlichen Folgen der vegetarianischen Kost bei überernährten Vielessern leicht erklärlich sind. Ausserdem können die vielfach behaupteten Vortheile einer vegetarianischen Lebensweise in naturgemässen Lebensvorschriften (Leben in frischer Luft, Vermeidung von Spirituosen und Pflanzenalkaloiden u. s. w.) gesucht werden, welche mit einer naturgemässen gemischten Kost ebenso gut zu vereinigen sind, wie mit reiner Pflanzenkost; insofern der Uebergang zu beiden zugleich gemacht wird, wird häufig der letzteren Ursache eine Wirkung zugeschrieben, die nur von der ersteren abhängt. Wo hingegen unter völligem Gleichbleiben der sonstigen Lebensgewohnheiten nicht etwa eine übertriebene Fleischkost, sondern eine individuell naturgemässe, gemischte Kost mit reiner Pflanzenkost vertauscht wird, da wird der Regel nach eine Schwächung des Organismus durch Herabsetzung seines Ernährungszustandes die Folge sein, und nur ausnahmsweise wird dieses Ergebniss in unmerklich geringem Grade eintreten, sei es, dass der Betreffende eine hinreichend gute[– 9 –] Verdauung hat, um erheblich mehr essen und trinken zu können als bisher, sei es, dass die Linie der richtigen Mischung für ihn ohnehin schon sehr nahe an der reinen Pflanzenkost lag.

Da diese Behauptungen nicht streng zu erweisen sind, ebensowenig wie diejenigen der Vegetarianer und der Schwärmer für möglichst reine Fleischkost, zwischen denen sie in der Mitte liegen, so können wir über diesen Punkt hinweggehen; wir können es um so eher, als selbst die Vegetarianer sich meist damit begnügen, auf anderm Wege zu begründen, dass ihre Pflanzenkost die allein rationelle sei. Sie sagen nämlich, die Pflanzenkost ist im Stande, dieselbe chemische Zusammensetzung der Speisen zu liefern wie die Fleischkost, ist also nicht geringer an Nährwerth als diese; sie schützt aber vor den Gefahren, welche die Fleischkost mit sich führt, ist also in Summa besser als diese.

Nun ist es zwar richtig, dass Pflanzenkost dieselbe chemische Zusammensetzung der Speisen liefern kann wie Fleischkost, aber es ist unrichtig, den Nährwerth der Speisen bloss nach ihrer chemischen Zusammensetzung zu schätzen. Vielmehr ist derselbe ebensosehr durch den Verdaulichkeitsgrad der Speisen wie durch ihre chemische Zusammensetzung bedingt, und zwar nicht nur in dem Sinne, dass der Procentsatz der von den dargebotenen Nährstoffen assimilirten Nährstoffe entscheidet, sondern ausserdem noch mit Berücksichtigung der bei der Verdauung gleicher Procentsätze verbrauchten lebendigen Kraft. Der Vorzug der Fleischkost für den Organismus liegt darin, dass sie nicht nur einen grösseren Procentsatz der dargebotenen chemischen Stoffe assimiliren lässt, sondern auch dem Organismus bei der Assimilirung gleicher procentualischer Mengen eine geringere Arbeitsleistung zumuthet. Der Nährwerth eines Stoffes ist proportional der bei normaler[– 10 –] Verdauung assimilirbaren Quote desselben abzüglich desjenigen Theils derselben, welcher das Aequivalent der bei der Verdauung verbrauchten lebendigen Kraft darstellt, und vom Organismus vorweggenommen werden muss, um nur den status quo vor der Verdauung wieder herzustellen. Lässt man zwei Gruppen von Sperlingen gleiche Zeit hungern und bietet dann der einen Gruppe Körnerfutter, der anderen gehacktes rohes Fleisch, so erholt sich ein weit grösserer Procentsatz bei letzterer als bei ersterer Behandlung; d. h. die Leichtverdaulichkeit einer Speise fällt um so mehr ins Gewicht, je weniger lebendige Kraft ein Organismus für die Verdauungsarbeit noch übrig und verfügbar hat.

Nun haben alle einigermassen leichtverdaulichen pflanzlichen Nahrungsmittel einen im Vergleich zum Fleisch nur sehr geringen Nährwerth; dagegen gehören die einzigen Pflanzenstoffe, deren chemische Zusammensetzung mit derjenigen des Fleisches wetteifern kann, die Hülsenfrüchte und Pilze, zu den am allerschwersten verdaulichen Nahrungsmitteln. Deshalb fällt es auch den Vegetarianern gar nicht ein, ihre Mahlzeiten durch hinreichenden Zusatz von Hülsenfrüchten der chemischen Zusammensetzung einer Fleischmahlzeit anzunähern, weil schon der Instinkt sich gegen solche tägliche Belastung des Magens mit Hülsenfrüchten sträuben würde; vielmehr begnügen sie sich mit Mahlzeiten von viel geringerem theoretischem Nährwerth als Fleisch und benutzen das Vorhandensein der Hülsenfrüchte mehr nur als theoretisches Argument. Aber auch diejenigen Pflanzenstoffe, welche einen erheblich geringeren theoretischen Nährwerth haben als Fleisch, sind trotzdem für einen normalen menschlichen Organismus immer noch schwerer verdaulich als Fleisch. Hiernach ist jede auf die Dauer erträgliche Pflanzenkost sowohl um vieles ärmer an Nährstoffen als die Fleischkost, als auch schwerverdaulicher[– 11 –] als diese, so dass die vegetarianische Behauptung, dass beide im Nährwerth gleichstehen, den Thatsachen in jeder Hinsicht widerspricht.

Dass das Fleisch von kranken Thieren, besonders wenn es nicht gut gekocht oder gebraten ist, Krankheiten im Gefolge haben kann, ist ebensowenig zu bestreiten, wie dass man durch den Genuss von ungekochten Pflanzenstoffen (Salaten etc.) krank werden kann; den Finnen und Trichinen stehen die Eier des Hundebandwurms gegenüber, die im Menschen zum verderblichen Echinococcus auswachsen. Rohe Pflanzentheile und rohes Fleisch sind beide gefährlich, gekocht beide ungefährlich, besonders da wo gute Gesundheitspolizei gehandhabt und für den Verlust an erkranktem oder unbrauchbarem Schlachtvieh Entschädigung geleistet wird. Völlig haltlos ist die vegetarianische Behauptung, dass auch sogenanntes gesundes Fleisch, weil es sich beim Genuss in dem mit der Leichenstarre beginnenden Stadium der Fäulniss befinde, ein schädliches Reizmittel sei, welches besonders auf die Nerven und die Herzthätigkeit verderblich einwirke. Will man jede rückschreitende Metamorphose Fäulniss nennen, so ist auch die Verdauung ein Fäulnissprocess, und befinden sich dicke Milch, Butter, Käse, alle gegohrenen Getränke und alles Hefegebäck oder Honiggebäck ganz ebenso und in noch höherem Grade im Zustande der Fäulniss wie gesundes Fleisch, das bekanntlich einige Tage nach dem Schlachten viel gesünder und leichter verdaulich ist als unmittelbar nach demselben, und zwar deshalb, weil die rückschreitende Metamorphose vor dem Genuss dem Verdauungsprocess einen Theil seiner Arbeit erspart. Dass ein mässiger Genuss gesunden Fleisches für Nerven und Herzthätigkeit „verderblich“ sei, ist geradezu aberwitzig, und nicht minder grundlos ist die Behauptung, dass erst der Fleischgenuss zum Missbrauch[– 12 –] von Gewürzen und Spirituosen verleite; denn der Missbrauch von Gewürzen ist am grössten bei Gemüsen, Mehlspeisen und Gebäck, nicht bei reinen Fleischspeisen, den meisten Branntwein konsumiren die kartoffelessenden Irländer und die kohlessenden Polen und Russen, und die Naturvölker stürzen mit gleicher Gier auf das importirte Feuerwasser, mögen sie an Pflanzenkost oder gemischte Kost gewöhnt sein. Wenn die Vegetarianer sich darauf beschränken wollten, den Genuss rohen Fleisches als gesundheitsgefährlich zu bekämpfen und auf Verbesserung der das Schlachtvieh betreffenden Gesetze und Einrichtungen hinzuwirken, so wären sie ebenso sehr im Recht, wie sie jetzt über das Ziel hinausschiessen, wenn sie allen Fleischgenuss als gesundheitsgefährlich bekämpfen. Selbst bei dem früheren Fehlen aller Vorsichtsmassregeln war doch der Procentsatz der Geschädigten so unerheblich, dass er gar nicht in Betracht kommen konnte gegen den Nachtheil, welchen die gänzliche Enthaltung vom Fleischgenuss der Leistungsfähigkeit des Volkes zugefügt haben würde. Es muss demnach der Versuch des Beweises, dass die Pflanzenkost bei gleichem Nährwerth geringere Nachtheile als die Fleischkost im Gefolge habe und darum vorzuziehen sei, in beiden Theilen als missglückt gelten.

Aber wenn die Pflanzenkost nicht rationell heissen kann in Bezug auf den einzelnen, der sie geniesst, so könnte sie darum doch rationell sein in Bezug auf die Völker, welche sie annehmen, und dies in solchem Masse, dass selbst die Nachtheile, die sie für den einzelnen hat, dagegen zurücktreten müssen. In der That behaupten die Vegetarianer, dass allgemeiner Uebergang zur Pflanzenkost den Speiseluxus beseitigen und dadurch einen Hauptgrund zur neidischen Unzufriedenheit der ärmeren Klassen aus der Welt schaffen würde. Nun ist zuzugeben, dass nichts so sehr den Neid der[– 13 –] Armen erregt, als die Fleischtöpfe der Wohlhabenderen, die ihnen unerschwinglich sind, d. h. dass die sociale Frage noch weit mehr Fleischfrage als Brodfrage ist; allein dies spricht gerade gegen den Vegetarianismus, und beweist, dass derselbe die letzten Triebfedern des Völkerlebens verkennt. Die Sehnsucht nach den Fleischtöpfen wird in den Massen niemals erlöschen, auch wenn alle gebildeten Stände behufs Lösung der socialen Frage zu Vegetarianern würden, und eben darum ist die sociale Frage, insofern sie „Fleischfrage“ ist, auf diesem Wege nicht zu lösen. Anderseits würde schon heute jeder Deutsche täglich Fleisch essen können, also aus diesem Grunde die Reichen nicht mehr zu beneiden brauchen, wenn er es nicht vorzöge, das dazu für ihn und seine Familie mehr als ausreichende Geld für sich allein auf Schnaps, Bier und Cigarren zu verwenden. Wenn der Vegetarianismus seine Agitation gegen diese gesundheitsschädlichen und socialgefährlichen Genussmittel richten wollte, so wäre mit einem Erfolg auf diesem Felde die sociale Frage, soweit sie „Fleischfrage“ ist, von selbst mitgelöst. Uebrigens ist es ein Irrthum, dass der Speiseluxus bloss an Fleischspeisen gebunden ist; er kann sich in der vegetarianischen Küche ebensogut entfalten, und würde sich ohne Zweifel in derselben zu gleichen Uebertreibungen verirren, sobald es nur erst eine grössere Anzahl sehr reicher Vegetarianer gäbe.

Eine andere Frage ist die, wie sich die Ernährung der Menschheit in einer Zukunft gestalten wird, in welcher alle Erdtheile so dicht bevölkert sein werden wie jetzt Europa. Diese Fragen haben nicht wir zu lösen, die wir heute ebensowenig im Stande wären, ohne Getreideeinfuhr zu leben als ohne Vieheinfuhr. Sollte einmal alles Schlachtvieh von der Erde verschwinden und jede Wiese zum Acker werden, von[– 14 –] dessen Früchten sich die Menschen unmittelbar ernähren müssen, dann wird die Menschheit jener fernen Zukunft sicherlich einen Charakter energieloser Mittelmässigkeit zeigen, ebenso wie es heute die vorwiegend vegetarianischen Völker thun. Denn es scheint, dass die Pflanzenkost zahmer, sanfter, geduldiger, indolenter, unfähiger zu hervorragenden körperlichen und geistigen Leistungen, unfähiger zur Initiative, zu energischen Entschliessungen, kurz, passiver, willenloser, quietistischer und geistloser macht, und dass es nur die passiven Tugenden und das vegetative Traumleben (Somnambulismus u. dergl.) sind, welche durch dieselben begünstigt werden. Für die vegetativen und reproduktiven Aufgaben des Lebens, wie sie bei Landleuten und beim weiblichen Geschlecht überwiegen, mag Pflanzenkost ausreichen, nicht aber für die gesteigerten Anforderungen an gesteigerte Produktivität, wie das moderne Kulturleben der Städte, insbesondere der Grossstädte, sie an die arbeitenden Männer stellt. Mit dem Fleischgenuss seiner kulturtragenden Minderheit hört ein Volk auf, eine aktive Rolle in der Geschichte zu spielen und verzichtet auf die thätige Mitarbeit am Kulturprocess, welche einen durch blosse Pflanzenkost nicht zu erzielenden Ueberschuss an geistiger Energie über die Bedürfnisse des vegetativen Lebens hinaus erfordert. Nur solche religiöse und philosophische Weltanschauungen können ohne Widerspruch mit sich selbst den Vegetarianismus als wesentlichen Bestandtheil in sich aufnehmen, welche keine Entwickelung, keinen Fortschritt, keinen realen Weltprocess, kurz keine aktiven sittlichen Kulturaufgaben der Menschheit anerkennen, sondern in einem entwickelungslosen Traumidealismus und dem davon unabtrennbaren passiven Quietismus befangen sind.

Die reine Pflanzenkost ist nach alledem ebensowenig rationell wie naturgemäss; sie ist vielmehr eben[– 15 –]so kulturwidrig wie naturwidrig. Es bleibt nur noch die letzte Begründung des Vegetarianismus durch Humanitätsrücksichten zu erörtern. Nun kann es aber keine angebliche Humanitätsrücksicht geben, welche im Stande wäre, etwas zu rechtfertigen, das zugleich naturwidrig und kulturfeindlich ist; wäre wirklich jede Abweichung von reiner Pflanzenkost so inhuman, wie die Vegetarianer behaupten, so müsste man diese Inhumanität ruhig mit in den Kauf nehmen, um nicht gegen die sittliche Pflicht der Menschheit zur Erfüllung ihrer Kulturaufgabe zu verstossen, und könnte die Verantwortung für solche Inhumanität getrost der Vorsehung anheimgeben, welche unsere Natur so eingerichtet hätte, dass wir nur auf inhumanem Wege unsere Mission erfüllen könnten. In der That tritt aber bei dem Streit um die Humanität eine Verschiebung der Frage ein, welche von den Vegetarianern in der Regel geflissentlich verdunkelt wird. Die Behauptung, dass es inhuman sei, Milch, Butter, Käse und Eier zu geniessen, würde in den heutigen Ansichten unseres Volkes kein Verständniss finden; deshalb beschränken sich die Vegetarianer auf die Behauptung, dass das Tödten von Thieren zum Zweck des Fleischgenusses inhuman sei. Die Humanitätsrücksicht dient also nur zur Begründung jenes Vegetarianismus der laxeren Observanz, welcher nicht die Nahrungsmittel animalischer Herkunft, sondern nur den Fleischgenuss als solchen bekämpft.

Nun ist es zweifellos, dass man mit einer richtigen Mischung aus Pflanzenkost und Milch, Butter, Käse und Eiern vortrefflich bestehen und allen Anforderungen des Lebens genügen kann; eine solche Kost ist aber eben keine Pflanzenkost, sondern eine gemischte Kost, also eine zwar naturgemässe und rationelle, aber eben nicht vegetarianische Diät. Wäre die Behauptung der Vegetarianer, dass reine Pflanzenkost die allein naturgemässe[– 16 –] und rationelle Diät ist, richtig, so müsste die gemischte Kost, gleichviel ob ihre animalischen Bestandtheile von lebenden oder todten Thieren stammen, naturwidrig und irrationell sein; ist sie das aber nicht, so ist eben damit jene Behauptung des Vegetarianismus preisgegeben. Wenn die Fleischkost nun insoweit verwerflich ist, als sie das Tödten lebender Geschöpfe zum Verspeisen herbeiführt, nicht aber sofern die Produkte lebender Thiere umfasst, dann ist damit zugestanden, dass nicht die animalische oder vegetabilische Herkunft der Nahrungsmittel als solche, sondern die näheren Umstände ihrer Erlangung, nicht die Angemessenheit an unsere Organisation und Lebenszwecke, sondern Rücksichten, die auf einem ganz anderen Gebiet liegen, für die Entscheidung massgebend sind. Da die Bedenken gegen das Fleisch als gelegentlichen Krankheitsträger schon oben erledigt sind, so müssten diese Vegetarianer der laxeren Observanz zugeben, dass die Erweiterung ihrer Tafelgenüsse durch Braten und Fisch ihnen sehr erwünscht sein müsste, wenn nur ein Engel ihnen diese Speisen vom Himmel brächte mit der Versicherung, dass sie nicht von getödteten Thieren entnommen, sondern durch ein Wunder geschaffen seien. Dies ist also ein principiell anderer Standpunkt, und es ist inconsequent, beide miteinander verknüpfen zu wollen; die Vertreter dieses Standpunkts sollten ihn als Antikannibalismus streng vom Vegetarianismus unterscheiden.

Das Humanitätsargument stellt nämlich das Verzehren von getödteten Thieren dem Verzehren von getödteten Menschen, d. h. dem Kannibalismus, gleich, insofern auch die Thiere als unsere Brüder im Reiche des Lebens zu betrachten seien. Dieses Argument beweist schon darum nichts, weil es zu viel beweist. Es ist eine oberflächliche und unwissenschaftliche Volksmeinung,[– 17 –] dass ein Eidotter eine homogene Flüssigkeit und nicht ebensogut ein lebendes und empfindendes Individuum wie etwa ein Spanferkel sei; es ist ein Vorurtheil, dass nur die Thiere unsere Brüder im Reiche des Lebens und der Empfindung seien, die Pflanze aber nicht. Es ist reine Willkür, die Grenzlinie, jenseits deren wir das Lebendige zum Verzehren tödten dürfen, zwischen Thier und Pflanzenreich zu ziehen; ein anderer könnte mit gleichem Recht oder Unrecht diese Grenze zwischen Wirbelthieren und Wirbellosen, ein dritter zwischen Warmblütern und Kaltblütern, ein vierter zwischen den Affen und den übrigen Säugetieren, ein fünfter zwischen den anthropoiden und den übrigen Affen ziehen. Dies alles ist grundlose Willkür der subjektiven Meinung und aus wissenschaftlichem Gesichtspunkt gleich unhaltbar; aus letzterem giebt es nur zwei in sich consequente Standpunkte, zwischen denen man zu wählen hat.

Entweder nämlich muss man die Grenze zwischen der organischen und anorganischen, der lebendigen und leblosen Natur ziehen, oder aber zwischen der Species, zu welcher wir gehören, und allen übrigen Specien. Im ersteren Falle verzichtet man auf alle organisirten, d. h. lebendigen und lebensfähigen Nährstoffe (wozu alle Blätter, Keime und Samen gehören) und auf alle organischen Nährstoffe, die nur durch Tödtung von lebenden Pflanzen oder Pflanzentheilen zu erlangen sind, und beschränkt sich auf solche organische Nährstoffe, welche nicht mehr lebensfähige natürliche Sekrete von Pflanzen oder Reste von schon abgestorbenen Pflanzen sind, oder auf noch zu erfindende künstliche Nährstoffe, die von der synthetischen Chemie aus unorganischen Stoffen im Laboratorium zu bereiten sind. Im letzteren Falle dagegen beschränkt man den Kannibalismus, wie die Natur selbst es im ganzen Thierreich thut, auf die Individuen der eigenen Species; denn jedes Thier frisst[– 18 –] ungescheut Thiere anderer Art, scheut aber mit seltenen (teleologisch besonders zu begründenden) Ausnahmen vor dem Verzehren von seinesgleichen zurück. Im ersteren Falle verabscheut man das Verzehren von zerstückelten Leichen als Kannibalismus, gleichviel ob die getödteten Brüder aus dem Reiche des Lebens Thiere, Pilze oder Pflanzen sind, und respektirt die Heiligkeit und Unantastbarkeit des Lebens in jeder Gestalt; im letzteren Falle erkennt man die grossen Gradverschiedenheiten der Verwandtschaft mit anderen Lebewesen an und zieht die Grenze für den Kannibalismus da, wo die Natur sie uns durch den eigenen Instinkt und die Analogien des gesammten Thierreichs vorgezeichnet hat. Die Wahl in dieser Alternative scheint mir nicht schwer; will man seine Kost nicht auf vermodertes Laub und abgestorbene Pilze beschränken, so muss man sich nothgedrungen für die andere Seite der Alternative entscheiden, verliert dann aber auch das Recht, von der Inhumanität des Fleischgenusses zu reden.

Dass die Jagd ein inhumanes Handwerk ist, kann gar nicht bestritten werden; denn ihre Art, zu tödten, ist bei Treibjagden grausam, immer unsicher und oft qualvoll für verwundetes und entkommenes Wild. Die Jagd ist aber in den Kulturländern ohnehin auf den Aussterbeetat gesetzt, und auch bei uns, wo der Grundadel sie noch künstlich als Ueberbleibsel aus roheren Zeiten kultivirt, ist doch der Procentsatz des gejagten Wildes ein sehr kleiner unter allem getödteten Vieh. Dass auch das Schlächterhandwerk noch nicht auf der Höhe unserer heutigen Humanitätsanforderungen steht und in dieser Richtung verbesserungsbedürftig ist, kann man ebenso zugeben und nur wünschen, dass der Vegetarianismus an diesen beiden Punkten die berechtigten Thierschutzbestrebungen unterstütze. Der Einwurf, dass das Schlächterhandwerk verroht, fällt weg, wenn nur[– 19 –] noch mit zweckmässigen Schlachtmasken geschlachtet, und eventuell das Eintreiben des Stiftes von einer durch blossen Fingerdruck auszulösenden mechanischen Kraft bewirkt wird; zu entbehren ist jedes Schlächterhandwerk auch dann nicht, wenn man das Fleisch der getödteten Thiere wegwirft, so lange überhaupt noch Zuchtvieh gehalten wird. Wenn man nun annähme, dass nur Zuchtvieh zur Verzehrung gelangte, das auf rationelle Weise geschlachtet wäre, so könnte eine Inhumanität nicht mehr zugegeben werden. Sterben müsste ja jedes Schlachtthier doch einmal, und wenn der Mensch ihm einen Tod bereitet, der schneller und schmerzloser als der natürliche ist, so ist das eher eine positive Humanität zu nennen. Wenn alle Menschen auf Fleisch verzichteten und statt dessen Milch und deren Ableitungsprodukte genössen, so würde man mindestens ebensoviel Vieh wie jetzt züchten müssen, müsste aber, falls man das Schlachten für inhuman hielte, für die nicht mehr milchenden Kühe Alterversorgungsanstalten und für alle männlichen Kälber Asyle anlegen, in denen sie bis zu ihrem natürlichen Tode zwecklos verpflegt würden. Wenn dagegen alle Menschen zur reinen Pflanzenkost übergingen, so würde gar kein Vieh mehr gezüchtet werden; nach der üblichen optimistischen Auffassung muss es aber ein positiver Gewinn für die Lustbilance der Welt sein, dass der Mensch im allgemeinen Kampf ums Dasein Thieren das Leben gönnt, die sich bis zu ihrem schnellen schmerzlosen Tode des Lebens freuen können, und selbst vom pessimistischen Standpunkt aus würde man einen Menschheitsbeschluss, die Hausthierrassen gänzlich auszurotten, mindestens nicht seiner Humanität wegen rühmen können. Wenn man übrigens ohne Milchkühe nicht auskommt und vernünftigerweise die ausgedienten Milchkühe und die männlichen Kälber nicht zwecklos weiter füttern kann, sondern[– 20 –] schlechterdings tödten muss, so ist nicht abzusehen, warum man deren Fleisch fortwerfen soll, statt es zu verzehren. Solange man ferner noch Wollschafe hält, gilt das nämliche für den zu reichlichen Nachwuchs der Schafherden. Damit ist aber ein Zustand als human und vernünftig anerkannt, der ganz mit dem heute bestehenden zusammenfällt, und das Princip des Mitleids hat damit jedes auch nur scheinbare Recht zum Mitsprechen in der Ernährungsfrage eingebüsst.

Der Versuch, die Inhumanität des Fleischgenusses mit objektiven Gründen nachzuweisen, ist hiernach als gescheitert zu betrachten und es bleibt dem Vegetarianismus nur die letzte Zuflucht offen, sich auf das Gefühl zu berufen. Wenn jemand erklärt, es sei gegen sein Gefühl, das Fleisch von einem Thier zu essen, nicht nur von einem solchen, das er lebend geliebt oder doch lebend gekannt oder gar selbst getödtet hat, sondern auch von einem solchen, das er nicht gekannt hat und das von einem anderen getödtet ist, so ist darüber nicht zu streiten, und man kann jedem seine Gefühle und die Berücksichtigung derselben gönnen, so lange er dadurch anderen nicht unbequem, also namentlich gegen anders Fühlende nicht intolerant und agressiv wird. Niemand wird einem Tischnachbarn Braten aufdrängen, wenn derselbe erklärt, der Fleischgenuss widerstrebe seinem Gefühl; wenn mir aber mein vegetarianischer Nachbar vorwirft, mein Fleischessen sei inhumaner, barbarischer Kannibalismus, so weise ich ihn mit der Entgegnung zurück, sein vegetarianisches Gefühl sei eine verschrobene, zimperliche Sentimentalität ohne objektive Begründung.

[– 21 –]

II.
Unsere Stellung zu den Thieren.

Die Thiere sind mit uns gleichen Geschlechts, wenn auch nicht gleicher Art, unsere Vettern älterer Linie, gleichviel ob man in diesem Ausdruck nur ein Bild oder die treffende Bezeichnung einer wirklichen genealogischen Verwandtschaft sehen will. Sie sind nach gleichem Grundtypus gebaut, und ihr natürliches Leben verläuft in den gleichen natürlichen Verrichtungen wie das unsrige; aber auch ihr Seelenleben zeigt dieselben Grundfunktionen (Vorstellung und Wille nebst Gefühl), denselben Widerstreit zwischen Selbstsucht und socialen Instinkten, und dieselbe geistige Grundanlage für Geberden- und Wortsprache, wie die relative Verständnissfähigkeit aller höheren Thiere für die menschliche Wortsprache und die Fähigkeit einiger zur Nachahmung keineswegs unverstandener Worte beweist. Der Unterschied zwischen Thier und Mensch ist nur ein solcher des Grades; er wird nur dadurch scheinbar zu einem Unterschiede der Art, dass alle Säugethiere ausser dem Menschen stumm sind und darum in ihrem geistigen Leben auch nur mit stummen Menschen verglichen werden dürfen. Ein Stummer, der nicht künstlich und mühsam zum Verständniss und Gebrauch der Schriftsprache erzogen ist, findet sich ebenso wie das Thier auf unartikulirte Laute und Geberden beschränkt; sein Denken ist allemal anschaulicher als dasjenige Redender von sonst gleicher Bildungsstufe, aber es entbehrt doch nicht der Begriffe, wenn es sie auch nicht mit Worten bezeichnen kann, und vollzieht ebensogut eine logische Verknüpfung der (anschaulichen und begrifflichen) Vorstellungen wie dasjenige Redender. In demselben Sinne können wir auch dem anschaulichen Vorstellungsleben[– 22 –] der Thiere weder Begriffe noch logische Verknüpfung der Vorstellungen, d. h. eigentliches Denken, absprechen, so dass man hier vergeblich eine scharfe Grenzlinie zwischen Mensch und Thier sucht. Nur weil die Menschen allmählich eine Wortsprache ausgebildet und den so entwickelten Wortsprachsinn auf ihre Nachkommen vererbt haben, sind stumme Menschen soviel bildungsfähiger als Thiere, denen sie sonst auch der Art nach gleich stehen würden, wogegen der blödsinnige Mensch tief unter dem normalen Thiere steht.

Dass wir zu den Thieren in moralischen Beziehungen stehen, ist hiernach zweifellos; die sittliche Verpflichtung, Niemanden zu verletzen, vielmehr jedem nach Kräften zu helfen, bezieht sich auf alle empfindenden Lebewesen ohne Ausnahme, gleichviel ob man dieselben als Mitgeschöpfe desselben Herrgotts, als Kinder desselben Vaters im Himmel, als natürliche Vettern älterer Linie, oder als objektive Erscheinungen desselben Einen Weltwesens betrachtet. Die moralischen Beziehungen des Menschen zu den Thieren bestehen auch unabhängig davon, ob das einzelne Thier seinerseits zu einer mehr oder minder vollkommenen oder unvollkommenen Auffassung dieser Beziehungen im Stande ist, und ob es fähig und gewillt ist, die Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft des Menschen zu erwidern; das wäre eine traurige Sorte von Moralität, die von der Gegenseitigkeit der Leistungen abhängig gemacht würde, und nur da gäbe, wo sie auf Entgelt oder Lohn von der andern Seite hoffen dürfte. Damit ist aber nicht ausgeschlossen, dass die moralischen Beziehungen befestigt und mit reicherem Inhalt erfüllt werden, wo beide Theile zu einander in ein gemüthliches Verhältniss oder in ein stillschweigendes Vertragsverhältniss gegenseitiger Leistungen eintreten; denn in solchem Falle würde das einfache Unrecht einer Verletzung durch Verwickelung[– 23 –] mit Untreue, Undank, Unbilligkeit u. s. w. erschwert. Diese Erschwerung tritt auch dann ein, wenn die Thiere kein Bewusstsein davon haben, dass sie dem Menschen durch ihren erzwungenen Gehorsam Dienste leisten; es genügt, dass der Mensch die Dienste der Thiere annimmt, beziehungsweise erzwingt, um ihn zu den entsprechenden billigen Gegenleistungen moralisch zu verpflichten.

Das Thier ist somit moralisches Rechtssubjekt, d. h. das Subjekt derjenigen moralischen Forderungs-Rechte, welche den moralischen Pflichten des Menschen ihm gegenüber korrespondiren, und deren Verletzung für den Menschen ein moralisches Unrecht ist; dagegen kann der Mensch an das Thier keine höheren moralischen Ansprüche stellen, als insoweit dessen Fassungsvermögen ihm das Verständniss seiner moralischen Beziehungen zum Menschen gestattet, hat aber dafür das moralische Befugniss-Recht, das Thier zwangsweise zu den ihm dienlichen Leistungen zu verwenden.

Alle bisherigen Rechtssysteme lassen als juridische Rechtssubjekte nur menschliche Individuen oder statutenmässig festgestellte menschliche Zwecke (moralische Personen) zu. Es ist kein begrifflicher Grund abzusehen, warum ein Rechtssystem nicht auch Thiere als juridische Rechtssubjekte zulassen sollte, da doch blödsinnige Menschen als solche gelten. Es ist aber ein Missverständniss des Unterschiedes zwischen moralischen und juridischen Rechten und Pflichten, zu behaupten, dass von Rechtswegen (d. h. aus dem Gesichtspunkt eines eingebildeten und seinem eigenen Begriff widersprechenden Naturrechts oder Vernunftrechts) eigentlich die Thiere auch juridische Rechtssubjekte sein müssten. Das juridische Recht ist immer positiv, d. h. historisch, und kann seiner Natur nach immer nur einen Theil der Sphäre des moralischen Rechts umfassen; welche Theile[– 24 –] der Sphäre des moralischen Rechts in das juridische Rechtssystem, d. h. in die positive Rechtsordnung durch die Gesetzgebung aufzunehmen seien, kann niemals selbst wieder von juridischen Erwägungen abhängen, sondern nur durch Rücksichten der Zweckmässigkeit und Opportunität bedingt sein.

Dass aber ein dringendes Bedürfniss aus Zweckmässigkeitsgründen bestände, durch Gesetzgebung die juridische Rechtsfähigkeit der Thiere in unser Rechtssystem einzuführen, das ist entschieden zu bestreiten. Vor allem würde die Lage der Thiere durch eine solche Aenderung ihrer formalen Stellung zur Rechtsordnung inhaltlich gar nicht berührt werden, da ihre Rechte doch immer nur durch Vertretung von Menschen würden wahrgenommen werden können, wie sie es jetzt nöthigen Falls auch schon werden (wenn z. B. eine alte Dame eine Summe für die Pensionirung ihres Lieblingshundes ausgesetzt hat). Die einzige wünschenswerthe Aenderung der Gesetzgebung in Betreff der Thiere ist die, dass Rohheit oder Bosheit in deren Behandlung nicht bloss straffällig sein muss, wenn sie öffentliches Aergerniss giebt, sondern auch, wenn sie als eine insgeheim erfolgte, oder als eine vor zustimmenden Zuschauern stattgehabte nachgewiesen werden kann. Diese Abänderung hat aber mit der Erhebung der Thiere zu juridischen Rechtssubjekten gar nichts zu thun, denn die Gemeingefährlichkeit des in solcher Handlungsweise sich offenbarenden Charakters genügt für sich allein schon, um den Staat in diesem Falle ähnlich wie bei anderen Verbrechen, wo keinem Rechtssubjekt ein Unrecht geschieht, an seine Pflicht des Schutzes der Gesellschaft durch rechtzeitige Bekämpfung derartiger gemeingefährlicher Charaktereigenschaften zu erinnern.

Unser juridisches Verhältniss zu den Thieren ist somit nur indirekter Art; unser Rechtssystem zieht die[– 25 –] moralischen Beziehungen der Menschen zu den Thieren nur so weit in seine Sphäre, als die Interessen der menschlichen Gesellschaft durch dieselben berührt werden, zu deren Sicherstellung und Schutze die Rechtsordnung allein errichtet ist. Es ist also unrichtig, unser juridisches Verhältniss zu den Thieren darum als ein direktes aufzufassen, weil unser moralisches Verhältniss zu denselben ein solches ist; es ist aber auch ebenso unrichtig, die Unmittelbarkeit des letzteren darum zu bezweifeln oder zu bestreiten, weil das erstere ein bloss mittelbares ist. Wir haben nicht deshalb uns der Verletzung der Thiere zu enthalten, weil eine solche unsrer Menschenwürde nicht gemäss, oder unserem pflichtmässigen Streben nach Selbstvervollkommnung hinderlich, oder von anderweitigen ungünstigen Rückwirkungen auf den Handelnden und die menschliche Gesellschaft sein würde, sondern zuerst und vor allem deshalb, weil wir das moralische Recht jedes empfindenden Lebewesens ohne Ansehen von Stand oder Person, also auch ohne Ansehen von Rasse, Species und Genus zu respektiren haben. Diese Achtung vor allen lebendigen und fühlenden Mitgeschöpfen (mag man sie nun auf die Achtung vor dem Schöpferwillen oder auf die Wesenseinheit der verschiedenen Erscheinungsindividuen gründen) ist einfach eine Forderung der (moralischen) Gerechtigkeit; denn „Gerechtigkeit“ besagt in letzter Instanz nichts andres als die Anerkennung der „Gleichgültigkeit des empfindenden Subjekts“.[4]

Wie die moralischen Beziehungen unter Menschen, so müssen auch diejenigen zwischen Thier und Mensch vor allem auf dem unerschütterlichen Grunde der (moralischen) Gerechtigkeit ruhen; nur aus diesem rationalistischen[– 26 –] Moralprincip ist eine deutliche und scharf bestimmte Grenzlinie des Verhaltens abzuleiten, nicht aus den schwankenden Principien der Gefühlsmoral. Letztere sind unentbehrlich, theils um die Motivationskraft des gerechten Verhaltens zu verstärken, theils um innerhalb des von der Gerechtigkeit gelassenen Spielraums dem positiven Wohlwollen zur Geltung zu verhelfen; aber sich selbst überlassen sind sie gerade die stärksten Verführer zu ungerechtem und unbilligem Verhalten, und es ist ganz unmöglich, die Gerechtigkeit aus einem einzelnen Gefühlsmoralprincip (z. B. dem Mitleid) oder aus der Summe derselben abzuleiten. Wer sich in seinem Verhalten zu den Thieren von der Gerechtigkeit leiten lässt, der wird so wie so, ob er mitleidig ist oder nicht, dem Thiere nichts Unbilliges zumuthen oder zufügen, und das Mitleid käme bei ihm nutzlos hintennach gehinkt, wenn es mitsprechen wollte; wer aber sich von dem Mitleid, der Gutmüthigkeit und Weichherzigkeit bestimmen lässt, der wird in seinem Verhalten nur durch Zufall mit den Forderungen der Gerechtigkeit gelegentlich übereinstimmen, und oft genug dieselben verletzen. Wenn der weichherzige Thierfreund eine arme Familie keuchend einen schwer belasteten Handwagen ziehen und schieben sieht, so neigt er stets dazu, sich zum Anwalt des mitangespannten überbürdeten Hundes aufzuwerfen und zu Gunsten desselben die überbürdeten Menschen noch mehr zu überbürden; er vergisst dabei nur, dass der gut behandelte Familienhund es als sein Recht und seine Ehre betrachtet, sich mit seinen Herren mitzuplagen, und dass die Menschen bei ihrer scheinbar freiwilligen Quälerei oft weit mehr unter der Geissel eines zwingenden Schicksals stehen und weit schwerer unter diesem harten Zwange leiden, als das vom Menschen zur Arbeit gezwungene Thier. So lange die Menschen noch im Schweisse ihres Angesichts ihr Brod[– 27 –] verdienen und zeitweilig über ihre Kräfte sich anstrengen müssen, wird es eine Ungerechtigkeit bleiben, ihnen jede auch nur zeitweilige Ueberanstrengung der Arbeitsthiere zu verwehren. Eine Ueberanstrengung der Arbeitsthiere aus unzureichenden Gründen ist dagegen ebenso ungerecht wie unvernünftig und bedarf zu ihrer Verurtheilung nicht erst des Mitleids.

Das Mitleid ist bekanntlich ein zweischneidiges Schwert: insoweit es Unlust ist, drängt es ebensosehr dazu, den Anblick der Gelegenheiten seiner Entstehung durch Ausweichen zu meiden als diejenigen abzustellen, deren Anblick man auf keine Weise aus dem Wege gehen kann; soweit es aber ein Gefühl ist, das dazu anlockt, seine Anlässe aufzusuchen, ist es ein Lustgefühl und als solches verleitet es zugleich dazu, die zu bemitleidenden Leiden nicht nur nicht abzustellen, sondern geradezu erst recht herbeizuführen. Das Mitleid ist der Grausamkeitswollust eng verwandt, und es ist ganz irrthümlich zu glauben, dass Giftmischer oder Thierquäler aus Passion kein Mitleid mit ihren Opfern empfinden, da sie ohne eine starke Emotion des Mitgefühls gar keine so starke Lust aus dem fremden Leid schöpfen könnten. Deshalb geht man fehl, wenn man glaubt, den passionirten Thierquäler durch Erweckung seines Mitleids von seiner verworfenen Neigung abbringen zu können; erst wenn man ihn nöthigt, sich selbst als das von einem andern in gleicher Weise gequälte Wesen vorzustellen und durch diese Vorstellung sein Gerechtigkeitsgefühl zur Reaktion bringt, wird man hoffen dürfen, einen Erfolg zu erzielen. Denn selbst von einem andern gequält zu werden, empfindet jeder als ein angethanes Unrecht, so dass es nur der Abstraktion von der Individualität des Gequälten und des Quälers bedarf, um das Unrecht auch bei der Umkehrung einzusehen.

Auf der andern Seite schiesst das Mitleid mit den[– 28 –] Thieren über das Ziel hinweg, indem es keine Rücksicht darauf nimmt, ob wir uns mit denselben im Kriegs- oder Friedenszustande befinden. Nun befindet sich aber die Menschheit mit allen Thierarten im Kriegszustande, denen gegenüber sie sich im Kampfe ums Dasein zu behaupten hat, und nur mit denjenigen im Friedenszustande, welche im Kampf ums Dasein mit der übrigen Thierwelt entweder helfende Bundesgenossen oder doch wenigstens Neutrale sind. Die Religion des Mitleids, der Buddhismus, verlangt, dass man sich ruhig von Tigern fressen, von Giftschlangen und Scorpionen stechen, von Läusen peinigen lässt, wenn man kein Mittel besitzt, sich ihnen auf friedlichem Wege zu entziehen, stempelt aber die Tödtung eines dieser Thiere zu einem todeswürdigen Verbrechen, durch das man allen sonst etwa erworbenen Anspruch auf Heiligkeit wieder einbüsst. Die Absurdität dieser Folgerung zeigt die Unhaltbarkeit des Princips, von dem sie richtig abgeleitet ist.

Der Kampf ums Dasein ist nicht minder ein Krieg aufs Messer, wo er ein indirekter, d. h. Wettbewerb um die Mittel des Lebens ist; deshalb ist es ebensosehr eine Existenzfrage für die Menschheit, dass sie das Wild und die Schmarotzer des Feldes und Hauses (Mäuse, Ratten, Ameisen) bis zur Vernichtung bekämpft. Jedes Stück Nahrungsmittel, dessen sich ein Thier bemächtigt, obwohl es zur Ernährung eines Menschen hätte dienen können, verschlimmert die Situation der auf der Hungergrenze lebenden Glieder der Menschheit; jedes Mitleid auf diesem Gebiet opfert einen Menschen, um ein Thier zu retten, wenn sich auch der dabei geopferte Mensch nicht mit dem Finger zeigen lässt. Aus diesem Gesichtspunkt ist jeder Luxus in der Erhaltung überflüssiger Thiere mit Nahrungsmitteln, die für Menschen hätten dienen können, ein Unrecht an der Menschheit; dabei ist es gleichgültig, ob die betreffenden Nahrungsmittel[– 29 –] den Menschen direkt oder indirekt, d. h. durch Ernährung von nützlichen Thieren hätten dienen können. Nicht als unnütz dürfen solche Thiere gerechnet werden, welche der Belehrung (in zoologischen Gärten) oder der Befriedigung von Gemüthsbedürfnissen dienen (Stubenhunde, -Katzen, -Vögel etc.); noch weniger sind es die Thiere, welche dem Menschen bei der Jagd, beim Kampf gegen Schmarotzer, bei der Bewachung seines Eigenthums, bei seiner Ortsbewegung oder seinen sonstigen Arbeiten Beistand leisten, oder welche zur Produktion von Nahrungsmitteln und Bekleidungsstoffen gezüchtet werden. Aber auch solche Thierarten müssen in ihrer Vermehrung so weit beschränkt werden, dass ihre Zahl nicht über die zum Nutzen des Menschen erforderliche Grösse hinauswächst, weil der Ueberschuss zu den überflüssigen Verzehrern von Nahrungsmitteln gehören würde.

Der Kampf gegen die schädlichen und unnützen Thierarten so wie derjenige gegen eine schädliche Vermehrung der relativ nützlichen Thierarten ist eine Pflicht des Menschen gegen die Menschheit; da die Menschheit höhere sittliche und Kulturaufgaben zu lösen hat als das Thierreich, so steht auch die Pflicht gegen die Menschheit der Pflicht gegen die Thiere voran, und die mitleidige Gutmüthigkeit, welche sich im gegebenen Falle nicht zur Tödtung der Thiere entschliessen kann, ist ebenso unsittlich wie die Weichherzigkeit eines Familienvaters, der seinen Kindern das Brod wegnimmt, um es dem an seiner Thüre bettelnden arbeitsscheuen Landstreicher zu reichen, oder wie die Empfindsamkeit einer alten Jungfer, die ihren fetten Mops mit Braten und Zuckerbrod füttert, während ihre Dienstboten sich mit Kochfleisch und Schwarzbrod begnügen müssen.

Jede Gattung im Naturhaushalt braucht einen Regulator, der ihr Ueberwuchern verhindert; einer der[– 30 –] wichtigsten dieser Regulatoren ist der Mensch und seine bezüglichen Pflichten im Naturhaushalt sind um so ausgedehnter und dringlicher geworden, je mehr er die übrigen Regulatoren (die Raubthiere) von der Erde verdrängt hat. Wenn er jetzt, wo er in Kulturländern für die meisten Arten grösserer pflanzenfressender und allesfressender Thiere sich zum einzigen Regulator gemacht hat, sich durch mitleidige Regungen abhalten lässt, seines Amtes zu walten, so verletzt er nicht nur seine Pflichten gegen die Menschheit sondern auch seine Pflichten gegen die gesetzmässige Ordnung des irdischen Naturhaushaltes und die Erhaltung ihres Gleichgewichts. Ueberall wo es an regulirenden Raubthieren fehlt, führt solche Sentimentalität sich sehr bald praktisch ad absurdum, wie die Frösche der Abderiten beweisen, oder die 49 Katzen, welche der gemüthvolle junge Dichter ein Jahr nach seinem Verbot der Tödtung des ersten Wurfes besass. So gelangt die Sentimentalität gegen die Thiere gar leicht dazu, sich lächerlich zu machen, nämlich überall da, wo zwar ihre absurden Konsequenzen in die Anschauung fallen, wo aber nicht ihre indirekte Schädlichkeit und principielle Unsittlichkeit zum Bewusstsein kommt (deren Ernsthaftigkeit den komischen Eindruck der ersteren verhindern würde).

Die empfindsame Weichherzigkeit ist in sittlicher Hinsicht eine höchst bedenkliche Eigenschaft[5], und man darf sich darum auch nicht wundern, wenn man diesen ihren bedenklichen Charakter auch in ihrem Einfluss auf unsre Verhältnisse zu den Thieren bestätigt findet. Ueberall wo man einem Menschen begegnet, der sich durch übermässige Zärtlichkeit und ostentative Weichherzigkeit gegen Thiere auszeichnet, ist der Ver[– 31 –]dacht gerechtfertigt, dass man es mit einem Individuum zu thun habe, welches für seinen Mitmenschen nicht viel übrig hat und welches die aus seiner mangelhaften Pflichterfüllung gegen letztere auf seinen Charakter zu ziehenden Schlussfolgerungen durch ein Uebermaass von Rücksichtnahme und Wohlthätigkeit gegen die Thiere vor sich selbst, oder auch nur vor Andern, zu entkräften sucht. Oft ist es nur das instinktive Streben nach einer Herstellung des sittlichen Gleichgewichts, was die zu wenig Gerechtigkeit in sich fühlenden Menschen dahin drängt, ein übertriebenes Gewicht auf ihr „gutes Herz“ zu legen; oft ist es geradezu die Lieblosigkeit des angeborenen Charakters, welche zum Gegengewicht gegen den unklar gefühlten Mangel, zu einer gewaltsamen Pflege des Mitleids und der Barmherzigkeit führt; nicht selten aber ist es gradezu der Menschenhass und die Missachtung des eignen Geschlechts, welche gleichsam eine gewaltsame Zusammendrängung aller verfügbaren Gefühlswärme in das Verhältniss zu den Thieren zur Folge hat. Die versauerte alte Jungfer, der verbitterte Misanthrop, der Menschenverächter auf dem Throne, der kalt-grausame Ketzerrichter, der blutdürstige Revolutionsheld, das sind die Typen, bei denen die Ueberzärtlichkeit für die Thiere ihren Gipfel zu erreichen pflegt.

Wer sein Verhältniss zu den Thieren aus dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit regelt, der wird auch dann die Inferiorität des Thieres niemals vergessen, wenn er mit einem bestimmten thierischen Individuum in ein engeres Freundschaftsverhältniss tritt; nur ein solcher wird fähig sein, dem Thiere die grösste Wohlthat angedeihen zu lassen, welche der Mensch ihm erweisen kann: die Erziehung, während das gute Herz nur zu verziehen, d. h. zu verderben versteht. Wer sich zu den Thieren nicht hingezogen fühlt und sich damit be[– 32 –]gnügt, ihnen kein Unrecht zu thun, der kann darum doch das warmherzigste und wackerste Mitglied der menschlichen Gesellschaft sein; wer aber für die Thiere eine empfindsame Ueberzärtlichkeit entwickelt, dessen Charakter möge man nicht minder mit Misstrauen begegnen wie einem, der sie zu seinem Vergnügen martert. Freilich können auch traurige Erfahrungen und unverschuldetes Unglück den Menschen zur Vereinsamung geführt haben, und einem solchen wird man es gerne gönnen, wenn sein verödetes Herz die letzte Zuflucht zu der Thierwelt nimmt; aber in der Regel liegt der gemüthlichen Vereinsamung eine Schuld zu Grunde, eine Missachtung und Nichterfüllung der Ansprüche, welche die menschliche Gesellschaft an jedes ihrer Glieder zu stellen berechtigt ist.

Die vorstehenden Bemerkungen dürften genügen zum Erweise, dass das Mitleid kein brauchbares Princip zur Feststellung der ethischen Grenzlinie des Verhaltens gegen die Thiere ist, dass vielmehr diese Grenzlinie nur durch die Gerechtigkeit gezogen werden kann, welche dem Thiere giebt, was des Thieres ist, aber auch dem Menschen giebt, was des Menschen ist, und welche die Pflichten gegen die Menschheit und den Naturhaushalt der Erde als die höheren im Vergleich mit den Pflichten gegen die Thiere anerkennt. Wir alle ohne Ausnahme sind nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, den Kampf ums Dasein der Menschheit gegen die Thierwelt mitzukämpfen, also die schädlichen und unnützen Mitbewerber um die irdischen Bedingungen des Lebens zu tödten; wir sind aber ebenso verpflichtet, bei diesem Kampfe jede unnütze Härte und Grausamkeit zu vermeiden. Das nämliche gilt für unsre Benutzung der Thiere zur Förderung der menschlichen Kulturzwecke, sowohl was die Verwendung thierischer Arbeitskraft, also auch was die Förderung der Wissenschaft[– 33 –] und Heilkunst durch Anstellung von Experimenten anbetrifft.

Die moderne Naturwissenschaft hat ihren Rang als exakte Wissenschaft wesentlich durch die experimentelle Grundlage ihres induktiven Verfahrens gewonnen, und kann das Experiment nicht aufgeben, ohne vom Range einer exakten Wissenschaft wieder herunter zu steigen. Nun können Experimente über physiologische und pathologische Processe nur an lebenden Körpern gewonnen werden, und jeder Arzt muss fortwährend an seinen Patienten experimentiren. Jedes neue Heilmittel, jedes neue Gift, jeder neu entdeckte chemische Stoff muss auf seine physiologische Wirkung am lebenden Körper experimentell geprüft werden, jede neue kühne chirurgische Operation muss ein Mal zum ersten Mal an einem lebenden Organismus versucht werden. Die Erforschung der Krankheitsursachen, insbesondere der organischen Krankheitsträger kann nur durch ausgedehnte Impfversuche mit den Züchtigungsergebnissen der Reinkulturen fortschreiten; die Ergründung der Funktionen verschiedener Theile des centralen Nervensystems kann nur durch experimentelle Eingriffe in den normalen Lebensprocess gefördert werden. Oft genug schon hat die Begeisterung für den Fortschritt der Wissenschaft junge Aerzte dahin geführt, an sich selbst solche Versuche anzustellen, die manchmal mit dem Leben bezahlt wurden; den Steinschnitt verdanken wir einem französischen Arzte, der vom König die Erlaubniss erhielt, einen zum Tode verurtheilten, steinleidenden Verbrecher zum ersten Versuchsobjekt zu nehmen.

Solche physiologischen Versuche können für ihre Objekte mit gar keinen oder geringfügigen Unbequemlichkeiten verbunden sein (wie z. B. manche Fütterungsversuche); sie können äusserst lästig sein, ohne dass irgend ein Eingriff in den Organismus stattfindet (z. B.[– 34 –] die dauernde Einsperrung in eine enge Glasglocke zur Bestimmung der Ausathmungsgase); sie können endlich schweres Siechthum und mehr oder minder sichern Tod herbeiführen (wie z. B. die Impfungsversuche mit Krankheitsträgern, oder die quantitative Feststellung der Giftwirkungen). Wer irgend mit der modernen Physiologie, Pathologie und Medicin vertraut ist, der weiss, dass die Zukunft dieser Wissenschaften ganz und gar von einer rationellen Fortführung solcher Versuche, und zwar im ausgedehntesten Maassstabe abhängt; wer einer andern Ansicht huldigt, befindet sich im Widerspruch mit der erdrückenden Mehrheit der Vertreter jener Fächer. Selbst dann, wenn die entgegengesetzte Ansicht, dass alle Thierversuche überflüssig und nutzlos für die Wissenschaft seien, im Rechte wäre, und selbst dann, wenn es gelänge, die gesetzgeberischen Konsequenzen dieser Ansicht zu ziehen, d. h. alle Thierversuche zu verbieten, würde doch dieses Verbot wirkungslos sein; die Forscher, welche oft genug muthig genug sind, an sich selbst gewagte Versuche anzustellen, würden heimlich die Thierversuche um so eifriger fortsetzen, als ihnen eventuell von Seiten einer nach ihrer Meinung unvernünftigen Gesetzgebung das Martyrium zu Ehren der Wissenschaft in Aussicht stände.

Anstatt den alten Grundsatz „fiat experimentum in corpore vili“ der Thierwelt gegenüber ausser Kraft setzen zu wollen, sollte man vielmehr ernstlich in Erwägung ziehen, ob es nicht rathsam und geboten sei, Verbrecher als corpora vilia zu benutzen; d. h. den zur Todesstrafe Verurtheilten freizustellen, ob sie statt der Hinrichtung ein lebensgefährliches Experiment an sich vornehmen lassen wollen, und den zu geringeren Strafen Verurtheilten anheimzugeben, ob sie ihre Strafe durch Preisgebung zu mehr oder weniger schmerzhaften und quälenden Versuchen abbüssen wollen. Die Wissenschaft[– 35 –] und die Gefängnissverwaltungen würden davon gleichmässig Vortheil, das Recht und das Publikum keinen Nachtheil haben, und den Verbrechern würde nichts geschehen, wozu sie nicht eingewilligt haben. Ein solches Gesetz würde mit einem Schlage alle sentimentalen Klagen über ungerechte Behandlung der Thiere durch die Naturforscher gegenstandlos machen, indem sie dem Thierversuch den Menschenversuch anreihte; denn wenn man den Thieren nichts anthun dürfte, wozu man nicht ihre Zustimmung vorher eingeholt hätte, so dürfte man sie auch nicht gegen ihren Willen tödten oder zu Arbeiten anhalten.

Dass keine Gesetzgebung im Stande ist, Missbräuche zu verhüten, liegt ebenso auf der Hand, wie dass eine Sache um so mehr dem Missbrauch ausgesetzt ist, je edler und je wichtiger sie ist. Die beste und wirksamste Vorkehrung gegen missbräuchliche Behandlung der Thierversuche liegt in einer sorgfältigen Unterweisung der Studierenden über die zweckmässige technische Anstellung derselben, über ihre Leistungsfähigkeit und Tragweite; das gesetzliche Verbot, die Thierversuche in die Lehrvorträge aufzunehmen, würde nur die entgegengesetzte Wirkung haben, d. h. der unverständigen und ungeschickten Pfuscherei auf diesem Gebiete Vorschub leisten. Die inhaltliche Erwägung, ob der eventuelle Nutzen bestimmter Versuche wichtig genug ist, um die den Versuchsthieren zugefügten Leiden zu rechtfertigen, liegt selbstverständlich ganz ausserhalb der gesetzgeberischen und richterlichen Zuständigkeit und kann nur durch Sachverständige festgestellt werden, d. h. sie muss letzten Endes doch dem Takt und Gewissen der in ihren Fachkreisen tonangebenden Forscher anheimgestellt bleiben. Die öffentliche Meinung hat die Aufgabe, durch ihre Stimme das Gewissen der Forscher in dieser Richtung zu schärfen und ihren Takt[– 36 –] zu verfeinern; sie kann aber diese Aufgabe nicht schlechter erfüllen, als wenn sie das Kind mit dem Bade ausschüttet und durch ihren Unverstand die Forscher an den Gedanken gewöhnt, dass sie sich um die jedenfalls unmögliche Zufriedenstellung einer irregeleiteten öffentlichen Meinung überhaupt nicht mehr zu bekümmern brauchen. Das jetzt so beliebte Schlagwort „Vivisektion“ benutzt das Grauen der meisten Laien vor dem chirurgischen Messer und dem fliessenden Blut als Schreckgespenst zur Verwirrung der Urtheilsfähigkeit; nur der kleinste Theil der Thierversuche bedient sich chirurgischer Eingriffe, und diese brauchen gar nicht besonders schmerzhaft zu sein und sind mindestens durchschnittlich nicht diejenigen unter den Thierversuchen, welche mit den schwersten Leiden für die Objekte verknüpft sind.

III.
Die Gleichstellung der Geschlechter.

Niemand wird der excentrischen Ansicht einiger Physiologen beistimmen, dass der männliche wie der weibliche Organismus nur ein Appendix der bezüglichen Fortpflanzungswerkzeuge, ein zur Sicherstellung ihrer Funktionen unentbehrlicher Hülfsapparat sei; aber dennoch liegt in dieser Uebertreibung eine Wahrheit, die von allen Denjenigen übersehen wird, welche für Gleichheit der Geschlechter schwärmen. In dem physiologischen Geschlechtscharakter des Mannes und Weibes ist nicht nur ein Unterschied, sondern geradezu ein Gegensatz[– 37 –] anzuerkennen, und dieser auf keine Weise aus der Welt zu schaffende Gegensatz ist bestimmend für das gesammte natürliche und geistige Leben der Menschen. Dieser Gegensatz ist derjenige von Aktivität und Passivität, von Begehren und Gewähren, Werben und Umworbensein; er besteht nicht nur in der Gesellschaft der Unverheiratheten, sondern setzt sich auch im ehelichen Leben fort. Ein Mann von geschlechtlicher Passivität erscheint als ein hinter seiner natürlichen Aufgabe zurückbleibender, unmännlicher Mann; ein Weib von geschlechtlicher Aktivität erscheint als ein ihre Sphäre überschreitendes, unweibliches Weib. Wären beide aktiv, so würde das Geschlechtsleben alle übrigen Seiten des Lebens überwuchern; wären beide passiv, so würde der Naturzweck nicht mehr hinlänglich gesichert sein. Darum erscheint es als eine teleologische Einrichtung der Natur, dass das eine Geschlecht seinem normalen Instinkte nach aktiv, das andere passiv ist, und es heisst die Zweckmässigkeit dieser Natureinrichtung verkennen, wenn man dem einen oder dem andern Geschlechte aus seiner Naturanlage einen Vorwurf macht, oder wenn man dahin strebt, die socialen Folgen und Erscheinungsformen dieses Gegensatzes künstlich abzustumpfen und auszugleichen. Wenn dieses Bestreben in weiterem Umfange von Erfolg gekrönt wäre, so müsste es das männliche Geschlecht unmännlich, oder das weibliche unweiblich machen, oder beides zugleich in gewissem Grade, und die üblen Folgen für die Erhaltung der Bevölkerung könnten nicht lange ausbleiben.

Wäre der Mann nicht begehrend, so hätte das Weib nichts zu gewähren, was dem Manne werthvoll schiene, so hörte damit auch die Macht des weiblichen Geschlechts über das männliche auf. Denn diese Macht beruht lediglich darauf, dass das Weib etwas zu gewähren[– 38 –] hat, was der Mann begehrt, und dass die geschlechtliche Passivität dem Weibe das Versagen leichter macht, als dem Manne das Entsagen. Diese Macht ist aber auch so gross, dass überall und in allen Völkern die thatsächliche Beherrschung des männlichen Geschlechts durch das weibliche trotz des äusseren Scheines vom Gegentheil die Regel bildet; das durch sie hergestellte Verhältniss überdauert gewohnheitsmässig die Periode der geschlechtlichen Bethätigung und drückt dem ganzen socialen Leben sein Siegel auf. So lange man diese auf dem Geschlechtsgegensatz beruhende geheime Uebermacht des weiblichen Geschlechts nicht brechen kann, muss als nothwendiges Gegengewicht gegen dieselbe eine rechtliche Vorherrschaft des männlichen Geschlechts aufrecht erhalten werden, um das Gleichgewicht nur einigermassen wieder herzustellen. Gelänge es dagegen den Vorkämpfern für Geschlechtergleichstellung, alle Vorrechte der Männer in Staat und Gesellschaft, in Recht und Sitte zu beseitigen, so würde damit eine Periode der reinen Weiberherrschaft inaugurirt werden, wie nicht die Geschichte, nur die Sage sie bisher kennt. Die Schwärmerei für abstrakte Gleichstellung schlägt also praktisch mit Nothwendigkeit in ihr Gegentheil um, weil sie die wirksamsten Thatsachen ignorirt, sofern dieselben sich der Regelung durch gesetzliche Schablonen entziehen.

Erst in zweiter Reihe kommt die Erwägung in Betracht, dass die Gefühlsmässigkeit des weiblichen Handelns, welche in der Familie und der Geselligkeit so wohl am Platze ist, schlechterdings ungeeignet ist zur Ordnung der öffentlichen Angelegenheiten, in denen es auf Alleinherrschaft der Vernunft ankommt. Gerechtigkeit und Billigkeit würde nach dem Eintritt der Frauen ins öffentliche Leben noch weit weniger anzutreffen sein, als jetzt, dagegen würde der Nepotismus und[– 39 –] die Intriguenwirthschaft noch mehr Boden gewinnen, und das ganze öffentliche Leben würde sich immer mehr zu dem vermittelungslosen Gegensatz zwischen einem pfäffisch gegängelten Gefühlskonservatismus und einem demagogisch verhetzten, fanatischen Radikalismus zuspitzen. Statt einer Stimme würde jede Frau über zwei verfügen, es sei denn, dass ihr Mann bereit wäre, den häuslichen Frieden und das Familienglück seiner politischen Ueberzeugung zum Opfer zu bringen. In allen katholischen Ländern wäre der Sieg der klerikalen Partei besiegelt und für die Dauer gesichert, und die Gesammtheit der unter ultramontanen Ministerien stehenden, d. h. von Rom aus geleiteten Staaten würden eine Macht darstellen, die ausreichte, den allmählichen Triumph des jesuitischen Papstthums auf der ganzen Erde zu verbürgen; Niemand hätte also mehr Anlass auf politische Gleichstellung der Frauen hinzuwirken, als die Ultramontanen, und für Niemand arbeiten die Vorkämpfer der Frauen-Emancipation in höherem Maasse als für die katholische Kirche.

Weil die Fortpflanzungsfunktion, die vom Manne nur gelegentlich und nebenbei ausgeübt wird, ohne ihn in seinem sonstigen Berufe zu hindern, dem Weibe die schwersten Lasten auferlegt und als der Höhepunkt und Angelpunkt des weiblichen Lebens erscheint, darum ist auch der weibliche Organismus in weit höherem Grade als der männliche auf diese Funktion hin veranlagt und durchgebildet, und findet in ihr seinen Schwerpunkt, wie der männliche in den Funktionen des Gehirns und der willkürlichen Muskeln. Ein Maass an körperlicher oder geistiger Arbeit, das der männliche Organismus ganz wohl ohne Nachtheil verträgt, richtet den weiblichen Organismus bald zu Grunde, oder nutzt ihn wenigstens in viel kürzerer Zeit ab. Schwere körperliche Arbeit konsumirt die weibliche Leistungskraft viel[– 40 –] rascher, als die männliche, führt zu vorzeitigem Alter und Erschöpfung, setzt die Widerstandsfähigkeit gegen Krankheitseinflüsse herab und kürzt durch alles dies die Lebensdauer ab. Noch weit schädlicher wirkt angestrengte geistige Arbeit auf den weiblichen Organismus, denn das weibliche Gehirn und Nervensystem verträgt lange nicht soviel, wie das männliche, weshalb schon die Erziehung und geistige Ausbildung beider Geschlechter stets eine verschiedene bleiben muss. Am ehesten verträgt der weibliche Körper eine Berufsthätigkeit, in welcher leichte körperliche und leichte geistige Arbeit gemischt ist, und dem Körper nur mässige Bewegung zugemuthet wird. Diese Berufsarten (Schneiderei, Gärtnerei, Kleinhandel, Küche und Hauswirthschaft, Kinder- und Krankenpflege) sind aber doch zu beschränkt, um jemals eine Gleichstellung des Lohnes der weiblichen Arbeit mit der männlichen zu ermöglichen. Selbst bei dem Klassenunterricht kleinerer Kinder nutzt die weibliche Lehrkraft sich soviel schneller ab, dass die Ersparnisse am Lehrergehalt durch Mehrbelastung des Pensionsfonds in Folge früherer Pensionirung aufgewogen werden. Das weibliche Geschlecht bleibt darum in der Hauptsache — und ganz besonders in den die Kultur tragenden und fördernden Gesellschaftsschichten — doch immer auf die Ernährung durch die Arbeit des männlichen angewiesen, wofür seine sociale Gegenleistung in der Hauswirthschaft, Fortpflanzung und Kinderpflege besteht.

Auf dem Gebiete der gesellschaftlichen Sitte ist die Schwärmerei für Gleichstellung und gleiche Beurtheilung der Geschlechter nicht minder verkehrt, wie auf demjenigen der Politik und der Berufsarbeit. Entweder gehen die Emancipationsbestrebungen dahin, dass auch dem Weibe alles erlaubt sein müsse, was dem Manne von der Sitte gestattet ist — dann führen sie zu einer[– 41 –] alles Familienleben zerrüttenden und das Volkswohl untergrabenden Libertinage; oder der Gleichheitsformalismus tritt moralisirend auf und verbietet dem Manne jede Freiheit, die dem Weibe durch die Sitte versagt ist, dann führt er zu einem lächerlichen Rigorismus, welcher der Natur Unmögliches zumuthet und den Rückschlag in sein Gegentheil oder in heuchlerischen Pharisäismus unvermeidlich macht.

Nur in einem Punkte ist die Forderung, dass der Mann ebensowenig Freiheit haben dürfe, wie die Frau unbedingt zuzugeben, nämlich in der monogamischen Ehe, deren Wesen gleiche Treue von beiden Seiten und gleiche sittliche Beherrschung etwaiger instinktiver Velleitäten zur Untreue erheischt. Aber selbst hier bleibt die Wahrheit bestehen, dass die Verletzung der Treue von Seiten des Mannes und von Seiten der Frau einen ganz verschiedenen Grad der Missbilligung hervorruft, weil sie ganz verschiedene sociale Folgen nach sich zieht, weil die eine sich ausserhalb, die andere innerhalb der Familie vollzieht, weil die eine das Verhältniss der Kinder zu den Eltern und Geschwistern unberührt lässt, die andere es völlig zerstört oder doch durch Zweifel untergräbt. Der Mann einer notorisch untreuen Frau hat nur die Wahl, entweder Vaterpflichten gegen untergeschobene Bastarde zu üben, oder seine eigenen Kinder durch Scheidung mutterlos zu machen; kann er die Untreue nicht juridisch beweisen, so bleibt ihm nicht einmal diese Wahl, sondern er muss sich der empörenden Nothwendigkeit fügen, Kindern, die er nicht für die seinigen halten kann, Kindesrechte gegen sich einzuräumen. Schon der blosse Verdacht vergiftet das Familienleben, weil es immer das eigene Nest ist, das die etwaige Untreue der Frau beschmutzt. Dagegen lässt die Untreue des Mannes, weil sie ausserhalb des Kreises der Familie fällt, den Familienstand und die[– 42 –] Stellung der Frau als Mutter und Hausherrin intakt, wenn sie auch den Rechten und Gefühlen der letzteren eine moralische, und möglicher Weise auch dem Familienwohlstand eine materielle Schädigung zufügt. Darum hat die gekränkte Frau freie Wahl, ob sie unversöhnlich auf ihrem formellen Recht der Scheidung bestehen, oder ob sie vergeben und ihren Kindern das gemeinsame Familienleben erhalten will; das Vergeben ist ohne Beeinträchtigung ihrer Würde möglich, was bei dem gekränkten Manne nicht der Fall ist, und darum hat allein die Frau das Vorrecht, sich mit der göttlichen Milde des Verzeihens zu schmücken, welche den Mann in gleicher Lage verächtlich macht.

Viel durchgreifender, als in der ehelichen Treue sind die aus dem Geschlechtsgegensatz abfliessenden Unterschiede in Bezug auf das Leben vor der Ehe. Ein Mann, welcher gegen das geschlechtliche Vorleben des zu wählenden Weibes gleichgültig ist (wie gewisse spekulative Heirathsannoncen es verkünden) macht sich verächtlich; ein Weib dagegen, welches ohne Zweifel an der Ehrenhaftigkeit eines Bewerbers daran Anstoss nimmt, dass er schon vor der Bewerbung um sie geschlechtlich aktiv war, macht sich lächerlich (so z. B. die Heldin in Björnson’s Schauspiel: „Der Handschuh“). Wäre der Mann nicht geschlechtlich aktiv, so würde er sich an der Freundschaft mit Frauen genügen lassen, und höchstens noch aus äusserlichen, nicht zur Sache selbst gehörigen Motiven zur Ehe sich entschliessen; jedes feinfühlige Weib sträubt sich aber mit Recht dagegen, bloss aus solchen äusseren Motiven zur Ehe begehrt zu werden. Kann also das Weib nur bei einem seiner Natur nach geschlechtlich aktiven Mann erwarten, um ihrer selbst willen geheirathet zu werden, so ist es eine naturwidrige und unverständige Forderung, dass diese Aktivität bis zur Bekanntschaft mit ihr habe latent[– 43 –] bleiben und erst bei ihrem Anblick erwachen sollen. Umgekehrt dagegen hat der Mann das Recht, ein weibliches, das heisst geschlechtlich passives Weib in seiner Erkorenen vorauszusetzen, mit anderen Worten eine Jungfrau, die auf den Mann ihrer Wahl gewartet hat, um sich von ihm aus dem träumenden Schlummer zum wachen Liebesleben wecken zu lassen. Es liegt der höchste Reiz für das männliche Liebeswerben darin, ein noch unbeschriebenes Blatt vorzufinden, in das er seine Schriftzüge eingraben kann, eine noch reine Passivität, d. h. eine noch potentielle Gegenliebe, die er erst durch seine Aktivität zur Aktualität erhebt. Darum gilt die Jungfräulichkeit der Braut als selbstverständliche, stillschweigende Voraussetzung der Eheschliessung, und jede Täuschung über dieselbe als gesetzlicher Ehescheidungsgrund, ebensogut wie Ehebruch. Wollte man aber dem entsprechend auch die Jungfräulichkeit der Bewerber zur Bedingung gültiger Ehen machen, so würden in der Hauptsache nur noch solche Männer legitime Familien gründen, deren physiologischer Defekt die Fortpflanzung ihrer Naturanlage nicht wünschenswerth macht, und es würde durch die Zuchtwahl mehrerer Generationen bei schnell abnehmender Bevölkerung eine Sorte von Männern producirt werden, die gar nicht mehr an Verheirathung denkt.

Ein Mädchen, das sein Lebensglück ihrem Bewerber anzuvertrauen im Begriff steht, thut freilich wohl, alle thatsächlichen Anhaltspunkte in Betracht zu ziehen, welche zur Erschliessung seines Charakters beitragen können, und zu solchen gehört zweifellos in erster Reihe die Art seines Verhaltens gegen andere Frauen, zu denen er bereits in Beziehung gestanden hat; aber es kommt dabei nicht sowohl auf die Thatsache an, dass er schon vorher andere Verhältnisse angeknüpft hatte, als vielmehr darauf, wie er sich in denselben benommen[– 44 –] hat, und vor allen Dingen, wodurch dieselben gelöst worden sind. Einen als schuldigen Theil geschiedenen Ehemann zu heirathen, ist mindestens ein Wagniss, über dessen üblen Ausfall sich kein Weib nachher beklagen kann. Auch bei Vermeidung jeder Unehrenhaftigkeit treten oft genug die bedenklichsten Charakterzüge, wie Leichtsinn, Selbstsucht, Genusssucht, Rücksichtslosigkeit, Unverträglichkeit, Hartherzigkeit, Undankbarkeit, Frivolität u. s. w. zu Tage, welche jedes besonnene Mädchen davon abschrecken müssen, sich einem solchen Charakter anzuvertrauen. Aber es ist dies offenbar etwas ganz anderes, als die Forderung, dass der Mann keine andern Verhältnisse angeknüpft haben solle, und darf mit ihr nicht verwechselt werden. War das Verhalten desselben vorwurfsfrei, so bietet vielmehr ein so in den Prüfungen des Lebens bewährter Bewerber eine ungleich grössere Bürgschaft als ein gleichaltriger Unerprobter. Wenn es auch zweifelhaft sein mag, ob der Mann zwei Frauen zugleich wahrhaft lieben könne, so ist es doch unzweifelhaft, dass er mehrere nach einander mit ganzem und vollem Herzen lieben könne, und die Behauptung, dass nur Eine Liebe die wahre sei, ist eine unstatthafte Verallgemeinerung eines für die weibliche Empfindungsweise wahren Satzes auf den Menschen als solchen.

Der Organismus des Mannes bleibt davon völlig unberührt, wenn derselbe aus einem Junggesellen zum Gatten und Vater wird; er empfängt nichts zu dem Seinigen hinzu und wird durch das, was er giebt, nicht ärmer. Das Weib hingegen verhält sich nicht gebend, sondern empfangend und tritt dadurch in ein ganz neues physiologisches Lebensstadium, das ihren Organismus bis in seine kleinsten Theile alterirt. Eine Mutter hat überdiess Monate lange mit einem zweiten Organismus in Blutaustausch gelebt, dessen Blutbereitung nur zur[– 45 –] Hälfte durch die ererbten mütterlichen, zur andern Hälfte durch die ererbten väterlichen Eigenschaften bestimmt war, sie hat also ihre Gewebe theilweise mit einem Blute ernährt, das zur Hälfte durch ihren Gatten bestimmt war, und hat dadurch Eigenschaften des letzteren in gewissem Grade in sich aufgenommen, welche zwar in ihr latent bleiben, desto mehr aber in Kindern einer späteren Ehe wieder zu Tage treten können (was man ungenau so ausdrückt, dass diese Einflüsse in ganz besonderem Maasse auf die Fortpflanzungssphäre wirken). Der Gatte einer Wittwe findet also kein unbeschriebenes Blatt mehr vor, sondern einen in gewissem Grade durch seinen Vorgänger mitbestimmten Organismus, mit dessen Vererbungstendenzen die seinigen erst den Kampf aufzunehmen haben. Ein Weib giebt sich demnach in der That ihrem Gatten mit Seele und Leib hin, ein Mann seiner Gattin bloss mit der Seele, und mit dem Leibe nur insofern, als er die Verpflichtung übernimmt, für sie mit zu arbeiten. Mit diesem physiologischen Unterschiede der Rückwirkung der Ehe auf beide Geschlechter hängt der Gegensatz im Instinkt beider Geschlechter auf das engste zusammen. So lange die Schwärmer für Gleichstellung der Geschlechter jenen physiologischen Unterschied nicht wegdekretiren können, werden sie vergeblich an dem Gegensatz der Instinkte rütteln und werden mit einer beide Unterschiede ignorirenden socialen Gleichmacherei nur widernatürliche Zerrbilder liefern, die an ihrer inneren Absurdität scheitern.

Hiermit soll keineswegs auf die Wiederverheirathung der Wittwen ein Stein geworfen werden, obwohl die Frivolität, mit welcher dieser Gegenstand nur zu häufig in Lustspielen und Romanen behandelt wird, des deutschen Volkes nicht würdig ist. Eine kinderlose Wittwe oder geschiedene Frau, oder eine solche, die[– 46 –] nicht selbst in der Erziehung ihrer Kinder ihre Lebensaufgabe suchen und finden kann, oder die allein dieser Aufgabe sich nicht gewachsen fühlt, soll auf keine Weise gehindert werden, ihren Lebensberuf in einer zweiten Ehe zu suchen, insbesondere, wenn sie in ihrer ersten Ehe die wahre Liebe noch nicht durchlebt hat; aber eine Mutter wird immer wohl thun, zunächst in der Erziehung ihrer Kinder ihre dringendste Lebensaufgabe zu sehen, und wird, wenn sie diese ernst und pflichttreu erfasst, selten Grund haben, nach einem weiteren Feld für die Bethätigung ihrer Kräfte auszuspähen. Ein Mann braucht sich durch die Wittwenschaft seiner Geliebten nicht von der Verbindung mit derselben abhalten zu lassen, aber er soll sich darüber klar sein, dass diese Wittwenschaft ein Punkt ist, über den er sich hinwegsetzen muss, und dass die Frau es durch ungewöhnliche persönliche Vorzüge verdienen muss, dass er sich über diesen Punkt hinwegsetzt. Ein Mädchen dagegen, das einen Wittwer heirathet, hat sich, was seine Person anbetrifft, über gar nichts hinwegzusetzen, kann sich vielmehr freuen, dass es einen schon von ihrer Vorgängerin erzogenen und gezähmten Mann bekommt.

Aehnlich ist der Unterschied zwischen einem Manne, der schon einmal Bräutigam war, und einem Mädchen, das schon einmal Braut war. Der erstere bleibt davon in seinem Werthe unberührt, sofern nur die Lösung der Verlobung ohne seine Schuld erfolgt ist; die letztere, auch wenn sie ganz schuldlos an dem Auseinandergehen ist, gleicht einer Waare, die Havarie erlitten hat, und deren Werth dadurch im Preise gesunken ist. Mag sie die weibliche Passivität in ihrem Brautstand noch so wohl bewahrt haben, so ist doch die latente Pontentialität ihrer Passivität aufgehoben, die Jungfräulichkeit ihres Herzens nicht mehr intakt, der Duft von den[– 47 –] Schmetterlingsflügeln abgestreift. Nur einmal kann das Weib praktisch lernen, was Liebe ist, und es ist schmerzlich für den Liebenden, nicht derjenige sein zu können, der es sie lehrt. Wohl treibt ein vom Frühlingsfrost verletzter Baum eine zweite Laubkrone empor, aber so reich und üppig, wie die erste, wird sie nicht; so entfaltet auch das Mädchenherz eine zweite Blüthe, wenn die erste vor der Reife verwelken musste, aber seine volle und ganze Blüthenpracht breitet es doch nur da aus, wo die zum ersten Mal erwachende Liebe ungestört mit ganzer Kraft alle Phasen durchläuft.

Nun ist dies freilich nicht so zu nehmen, als sollten der noch schlummernden Jungfräulichkeit die Träume verwehrt sein, welche das künftige Liebesleben ideal anticipiren; denn diese Träume greifen in ihrer Gegenstandslosigkeit keinem Rechte eines künftigen Bewerbers vor. Ebenso wenig kann man der Jungfrau die unwillkürlichen tastenden Versuche verargen, mit denen sie das Ideal ihrer Träume den ihr begegnenden wirklichen Männern anzupassen unternimmt, und noch untriftiger wäre die Zumuthung, dass die Jungfrau gegen alle Bewerber schlechthin spröde sein solle, bis der eine Auserwählte kommt, weil der Auserwählte niemals kommen würde, wenn es jedem ersten Annäherungsversuche schlechterdings an jedem Entgegenkommen fehlte. Nur wenn zufällig die Versuche, das Ideal an die begegnenden Männer anzupassen, mit den Bewerbungen eines bestimmten Mannes und einem gewissen Entgegenkommen gegen dieselben zusammen treffen, nur dann tritt der Punkt ein, wo die Träume der Phantasie im Begriffe stehen, in reales Liebesleben umzuschlagen; aber dieses Wünschen und Sehnen, Hoffen und Fürchten ist doch erst die Vorhalle zum realen Liebesleben und dieses selbst beginnt erst mit dem ausdrücklichen oder stillschweigenden Einverständniss beider Theile, d. h. mit[– 48 –] dem Eintritte in ein bräutliches Verhältniss, gleichviel ob dasselbe Geheimniss der Liebenden bleibt, oder der Familie mitgetheilt, oder vor der Gesellschaft erklärt wird. Der Grad der Stärke und Vollständigkeit, in welchem die Gefühle in solchem Verhältnisse geweckt und erschlossen werden, ist nicht abhängig von seiner längeren Dauer, wenn auch eine gewisse Dauer die Vollständigkeit der Aufschliessung begünstigt; sie ist ferner unabhängig davon, ob das dem Wunsche vorschwebende Ziel der Vereinigung als erreichbar oder unerreichbar gedacht oder in welcher Form es vorgestellt wird. Nimmt man den Begriff des bräutlichen Verhältnisses in diesem weiteren Sinne, so deckt er sich genau mit dem Begriffe des realen Liebeslebens, und so kann dessen Grenze von vorbereitenden Anknüpfungsversuchen und von Phantasieträumen mit ästhetischen Schein-Empfindungen nicht zweifelhaft sein.

Praktisch freilich ist die Grenze zwischen Anknüpfsversuchen und bräutlichem Verhältniss durch die Sitten verschieden gezogen, und liegt die Gefahr nahe, bei lebhafter Phantasie ideale ästhetische Scheingefühle mit realen zu verwechseln, also blosse Phantasiespiele für wirkliches Liebesleben zu halten; indessen belehrt das weit schnellere Ausklingen, Verblassen und spurlose Verschwinden der Phantasiegefühle nachträglich ziemlich leicht und sicher über deren Unterschied von realen Gefühlen und über die etwa stattgehabte Verwechselung der ersteren mit den letzteren. Alle Behauptungen von Frauen, dass sie öfter als einmal wahrhaft geliebt haben, dürften sich darauf zurückführen lassen, dass der Unterschied zwischen den Scheingefühlen einer lebhaften Phatasiethätigkeit und dem realen Gefühlsleben des Herzens nicht beachtet worden ist; die phantasiemässige Anticipation des realen Liebeslebens kann aber bis zu einem gewissen Grade der Lebhaftigkeit, Fülle und Feinheit[– 49 –] der letzteren förderlich sein. So kann eine schuldlos entlobte Braut, die zwar phantasiemässig zu lieben versucht, aber es nicht bis zu wirklicher Liebe für ihren Bräutigam gebracht hat, unter Umständen ein dankbarerer Gegenstand der Liebe sein, als ein phantasieloses Mädchen, das allzu plump und schwerfällig auf die entgegengebrachte Liebe reagirt. Aber sowie man es versucht, diesen Satz auszudehnen auf Frauen, welche in der Liebe praktisch schon viel durchgemacht haben, so tritt der Unterschied zwischen Phantasiespiel und Wirklichkeit hervor: der ernste Mann, der dem Weibe seiner Wahl wirklich seine Seele hinzugeben verlangt, erwartet auch als Gegengabe ein reines und womöglich jungfräuliches Herz, wogegen der Lüstling, der nichts geben, sondern nur seine Sinnlichkeit gereizt sehen will, solchen „erfahrenen“ Frauen eine Zeit lang den Vorzug giebt, bis endlich auch er, der stärksten Reize bedürftig geworden, doch wieder zur unentweihten Jungfräulichkeit, als dem letzten und höchsten Stimulans, zurückgreift. Umgekehrt ist der erfahrene und im Leben geprüfte Mann für ein reines Frauengemüth unendlich viel anziehender, als ein Neuling auf dem Felde der Liebe, und es sind nur die alternden Frauen, welche dazu gelangen, die Unschuld, die ihnen selber längst abhanden gekommen ist, an jungen Männern reizend zu finden.

Es bedarf wohl kaum des Hinweises darauf, dass alle diese Unterschiede des Verhaltens, in denen der Gegensatz der Geschlechter sich ausdrückt, niemals aus eudämonologischen Motiven konservirt zu werden beanspruchen können, sondern nur deshalb, weil mit ihrer Missachtung und allmählichen Unterdrückung die von der Naturteleologie gesetzten Reize zur Verehelichung, d. h. zur Ueberwindung des Egoismus zu Gunsten der nächsten Generation, aufhören würden, und damit[– 50 –] der Kulturprocess den schwersten Schaden leiden würde.[6]

IV.
Die Lebensfrage der Familie.

Unter aller Verhältnissen ist die Lebensdauer der Familien oder Geschlechter in den höheren Ständen durchschnittlich kürzer als in den mittleren und niederen; aber wohl selten hat es eine Zeit gegeben, in welcher das Missverhältniss einen solchen Grad erreicht hat, wie gegenwärtig. Es dürfte schwer sein, für diese Behauptung den exakten Beweis zu erbringen, da die mittlere Lebensdauer der Familien oder Geschlechter in einem Stande nicht unmittelbar abhängig ist von der mittleren Lebensdauer der Individuen, welche sie zusammensetzen, und von den Lebensläufen der Familien oder Geschlechter in den mittleren oder niederen Ständen meist nur kurze Bruchstücke zu verfolgen sind. Trotzdem wird man dieser Behauptung beistimmen dürfen, wenn man erwägt, dass die drei hauptsächlichen Ursachen, von welchen der Unterschied der mittleren Lebensdauer eines Geschlechts in höheren und niederen Ständen abhängt, in der letzten Zeit sehr zugenommen haben, nämlich der grössere Procentsatz an Unverehelichten, das spätere mittlere Heirathsalter und die kleinere durchschnittliche Kinderzahl, die auf eine Ehe kommt.

[– 51 –]

Neben diesen drei Ursachen spielt noch eine vierte mit, welche in ihren Wirkungen noch weit schwerer abzuschätzen und der statistischen Aufnahme bis jetzt entzogen ist, welche aber darum nicht weniger einschneidend wirkt: es ist diess der Umstand, dass gegenüber der stärkeren Inanspruchnahme von Muskelkraft und individueller Lebenskraft in den Berufsarten der niederen Stände die intensivere Geistesarbeit und das intensivere Genussleben der höheren Stände mehr Nervenkraft konsumirt und dadurch die Lebenskraft des Geschlechts rascher verzehrt. Durch Verbrauch von Nervenkraft wird nämlich mehr als durch irgend etwas anderes das Fortpflanzungsvermögen alterirt und zwar in doppeltem Sinne, erstens in Bezug auf die Zahl und Tüchtigkeit der unmittelbaren Nachkommenschaft, zweitens aber auch noch ganz besonders in Bezug auf die Nervenkraft und Fortpflanzungsfähigkeit der nächsten Generation, von welcher die Zahl und Tüchtigkeit der Nachkommenschaft in späteren Generationen mehr als von irgend einem anderen Umstande abhängt. Insoweit sich die fragliche Wirkung in der Durchschnittszahl der auf eine Ehe entfallenden Kinder ausspricht, ist sie bereits in der dritten der vorangestellten Ursachen in Rechnung gestellt; insoweit sie aber die Tüchtigkeit, Fortpflanzungsfähigkeit und durchschnittliche Kinderzahl der unmittelbaren Nachkommen betrifft, muss sie als ein vierter Factor in Ansatz gebracht werden, was freilich erst dann ziffermässig möglich wäre, wenn wir eine vergleichende Familienstatistik der verschiedenen Stände und Berufsarten besässen.

Man könnte nun meinen, dass in der kürzeren durchschnittlichen Lebensdauer der Familien und Geschlechter in den höheren Ständen ein billiger Ausgleich liege für die längere Durchschnittsdauer des Individuallebens, und dass es vom Standpunkt des Ganzen be[– 52 –]trachtet gerade ein tröstlicher Gedanke sei, dass die Familien der höheren Stände, auch wenn sie sich in ihrem Stande behaupten, doch allmählich durch Aussterben für ein Nachrücken der niederen Stände Raum machen. Indessen die Genugthuung über diesen Ausgleich wäre doch nur eine kurzsichtige im Interesse des Ganzen. Denn es würde dabei übersehen, dass es vor allem im Interesse des Ganzen liegt, die ererbten und generationsweise gesteigerten Anpassungen an höhere sociale und kulturelle Aufgaben, durch welche die Mitglieder der höheren Stände denen der niederen durchschnittlich überlegen sind, möglichst voll auszubeuten und auch für die Zukunft des Processes nach Möglichkeit durch Weitervererbung zu verwerthen. So wünschenswerth es ist, dass strebsamen und ausnahmsweise günstig veranlagten Individuen und Familien das Aufrücken in die höheren Stände offen stehe, um diesen immer frisches Blut zuzuführen und sie zur Selbstbehauptung durch überlegene Leistungen zu zwingen, so zweckmässig es ferner ist, die untüchtigen, arbeitsscheuen und ungünstig veranlagten Individuen der höheren Stände durch keine socialen Einrichtungen vor dem Wiederhinabsinken in die niederen Stände zu bewahren, ebenso unzweckmässig wäre es, den kapitalisirten Gewinn der Arbeit vergangener Generationen, wie er in den ererbten Vorzügen der höheren Stände vorliegt, leichtsinnig vergeuden zu lassen, wenn man etwas zu seiner Erhaltung für künftige Generationen thun kann. Aus diesem Grunde lohnt es sich wohl, der Erwägung der Ursachen näher zu treten, durch welche die zunehmende Verkürzung der durchschnittlichen Lebensdauer der Familien höherer Stände bedingt ist, und sich umzusehen, welche Mittel der Abhülfe für diese wachsende Kalamität unseres socialpolitischen Lebens zur Verfügung stehen.

[– 53 –]

Es kommt noch eine zweite Folge der Ehelosigkeit und Heirathsverspätung hinzu, welche als ein socialer Uebelstand von der grössten Tragweite allgemein anerkannt ist, dessen symptomatische Behandlung aber bis jetzt nur das Uebel verschlimmert hat, und der so lange fortdauern wird, bis er durch Abstellung seiner Ursachen an der Wurzel erfasst wird. Es ist dies die sogenannte Frauenfrage, richtiger Jungfernfrage, d. h. die Frage, welchen Beruf man den Weibern anweisen soll, die ihren natürlichen Beruf als Frau verfehlt haben. Bekanntlich ist die Personenzahl beider Geschlechter in der Jugendblüthe gleich, während im Kindesalter das männliche Geschlecht ein wenig, im reiferen Alter das weibliche beträchtlich und in wachsendem Maasse überwiegt. Hieraus folgt, dass keine Jungfern übrig bleiben würden, wenn Jedermann in seiner Jugendblüthe eine Lebensgefährtin wählte. Eine Jungfernfrage entspringt erst daraus, dass die Zahl der Mädchen in der Jugendblüthe grösser ist als die Zahl der Männer in demjenigen reiferen Lebensalter, in welchem sie in den höheren Ständen zur Ehe zu schreiten pflegen, und dass ein Theil dieser Männer es vorzieht, unverheirathet zu bleiben. Die Ausbildung der Mädchen für selbstständige Berufsarten, welche zur symptomatischen Lösung der Jungfernfrage vorgeschlagen ist und vielfach angestrebt wird, macht das Uebel nur ärger, weil sie die Mädchen weniger anziehend für die Männer macht und dadurch die Zahl der unverheirathet bleibenden Männer, also auch die Zahl der sitzenbleibenden Mädchen vermehrt, was wiederum eine Verschärfung der Dringlichkeit der Jungfernfrage und vergrösserte Anstrengungen zur selbstständigen Erwerbsthätigkeit zur Folge hat. Aus diesem fehlerhaften Kreislauf, der sich in sich selbst steigert, ist nur herauszukommen, wenn man die alleinige Ursache der Jungfernfrage in der zunehmenden Ehelosigkeit und Heirathsverspätung[– 54 –] der Männer erkennt, und die Bemühungen zur Abhülfe an diesem Punkte einsetzt.

Was zunächst die vierte Ursache der Verringerung der mittleren Lebensdauer der Familien, die stärkere Abnutzung der Nervenkraft durch intensivere geistige Arbeit und geistigen Genuss, betrifft, so ist sie in der Hauptsache nicht zu beseitigen. Die höheren Berufsarten haben eben ihr Wesen darin, eine höhere und angespanntere geistige Arbeit zu verlangen, und selbst dann, wenn man bestreiten wollte, dass die intensivere Arbeit auch intensiveren Genuss als Gegengewicht fordert, würde man doch nicht leugnen können, dass die Genüsse und Erholungen der gebildeten Stände selbst vergeistigter Art sind und darum auch wieder eine geistige Anspannung, wenn auch in anderer Art als die Arbeit, nöthig machen. Da alle höhere Geisteskultur der Menschheit in dieser Steigerung der geistigen Arbeit und des geistigen Genusses liegt, so wird keine menschliche Schlauheit jemals ein Mittel ersinnen, um die kulturtragenden Minderheiten der Völker vor einer rascheren Abnutzung zu bewahren, und es bleibt in dieser Hinsicht nichts übrig, als sich mit der Mauserung der Aristokratie durch allmählichen Nachwuchs von unten zu trösten. Um so dringender aber muss den höhern Ständen ans Herz gelegt werden, dass sie sich vor jeder Uebertreibung in Arbeit und Genuss hüten und die unvermeidlichen gesundheitlichen Nachtheile ihrer socialen Stellung nach Möglichkeit dadurch auszugleichen suchen, dass sie im Uebrigen ein gesundheitsgemässeres Leben führen, als es den niederen Ständen durch ihre pekuniäre Lage gestattet ist.

Vor allem gilt es, den die Nervenkraft ersetzenden Schlaf der Nacht heilig zu halten, demnächst nicht nur auf nahrhafte, sondern auch auf reizlose Kost zu achten, so viel als möglich sich Bewegung zu machen und[– 55 –] frische Luft zu athmen, den ersten Theil des Tages der Arbeit, den zweiten der Erholung zu widmen, regelmässig zu leben und in allen Dingen Maass zu halten. Eine grosse Gefahr liegt darin, dass die nervenerregende Wirkung der Gehirnarbeit irritirend auf die Genitalsphäre wirkt und leicht zu einer vorzeitigen Vergeudung des Fortpflanzungsvermögens verleitet; diese Gefahr wird um so grösser, je länger sie Zeit hat zu wirken, d. h. je später das durchschnittliche Verheirathungsalter der Männer in den höheren Ständen fällt. Hier müssen alle hygienischen, ästhetischen und moralischen Hebel angesetzt werden, um den socialen Schäden vorzubeugen, die aus der Verbindung der verstärkten Irritation mit der verlängerten Entbehrung erwachsen können; am wirksamsten im Grossen und Ganzen wird sich auch hier die Abschwächung der nervösen Irritation durch gesundheitsgemässe Lebensweise und Vermeidung diätetischer Reizmittel erweisen.

Es ist nicht schwer zu sehen, dass diese Ursache in Wechselwirkung steht mit den drei andern. Es ist für einen jungen Mann um so leichter, zeitweilige Selbstbeherrschung zu üben, je näher und gewisser ihm das Ziel der Ehe vorschwebt, um so schwerer, je ferner und aussichtloser dasselbe nach Lage der socialen Verhältnisse für ihn ist; umgekehrt rückt nichts die Neigung zur Verheirathung so sehr in den Hintergrund, als die Gewöhnung an ein zügelloses Junggesellenleben, und es müssen dann meist schon nebensächliche Motive sein, welche den Entschluss zur Verheirathung doch noch reifen lassen. Ebenso stehen die drei andern Gründe untereinander in Wechselwirkung. Wer wenig Aussicht hat, zur Verheirathung zu gelangen, macht sich von vornherein mit dem Junggesellenleben vertraut und entzieht sich der Gelegenheit zur Anknüpfung bräutlicher Verhältnisse, so dass schon der Zufall sein Spiel treiben[– 56 –] muss, wenn er ihn doch noch in Hymens Fesseln schlagen soll. Wer erst in reiferen Jahren ans Heirathen denken kann, der verpasst die Zeit der jugendlichen Eindrucksfähigkeit, innerhalb deren so manches weibliche Wesen sein Herz hätte gewinnen können, und wenn er endlich soviel vor sich gebracht hat, dass er eine Familie zu gründen wünscht, so sieht er sich vergebens nach einem Mädchen um, in das er sich verlieben könnte, und wartet entweder, bis es ganz und gar zu spät ist, oder er schliesst aus äusserlichen Gründen eine Ehe ohne Liebe.

Heirathet ein Mann erst in reiferen Jahren, so wird er durchschnittlich ein älteres Mädchen zur Frau wählen, als wenn er jünger geheirathet hätte: es wird demnach die Zahl der Kinder in seiner Ehe schon um des Alters der Frau willen geringer sein; ausserdem aber tritt er nach kürzerer Ehedauer in ein Lebensalter ein, in welchem die Ehe ihre natürliche Bedeutung zu verlieren pflegt, auch wenn die Frau noch nicht aufgehört hat, fortpflanzungsfähig zu sein, so dass hier ein zweiter Grund für Verkürzung der natürlichen Kinderzahl zu Tage tritt. Da es nicht bloss auf die Zahl, sondern auch auf die Beschaffenheit der Kinder, auf die Schonung der Mutter für ihren weiteren Beruf, und auf die genügende Ausbildung derselben für die Erziehung der Kinder ankommt, so würde ich es keineswegs für einen idealen Zustand halten, wenn die Töchter der höheren Stände unmittelbar nach erreichter Pubertät in die Ehe träten; aber auch die Hinausschiebung des durchschnittlichen Heirathsalters der Mädchen auf das 26. bis 28. Lebensjahr ist unnatürlich, weil es ohne weitere Förderung ihrer Ausbildung ihre jugendliche Anpassungsfähigkeit verringert und mehrere Kinder, welche vom 21. bis zum 26. Jahr der Mutter hätten das Licht der Welt erblicken können, für immer ungeboren lässt.

[– 57 –]

Dieselben Motive, welche die Männer gar nicht oder erst in reiferen Jahren zum Entschluss der Verheirathung gelangen lassen, bewirken auch eine Scheu vor reichem Kindersegen. Wir sind bereits zu einem solchen Grade der Verwirrung und Verkehrung der Begriffe gelangt, dass unsern höheren Ständen die naturgemässe Kinderzahl einer normalen Ehe von jugendlich verbundenen gesunden und kräftigen Gatten als eine „kaninchenartige Fruchtbarkeit“ anstössig erscheint.[7] Wo solche Ansichten Platz gegriffen haben, müssen sie selbstverständlich eine Rückwirkung auf das mittlere Heirathsalter üben, insbesondere auf dasjenige der Frau; denn je länger ein Mädchen mit der Verheirathung wartet, oder ein je älteres Mädchen ein Mann zur Frau wählt, desto weniger Sorge vor allzu reichem Kindersegen brauchen sie zu hegen. Für den Mann ist die grössere oder geringere Kinderzahl wesentlich nur eine pekuniäre Frage, da die Frau doch allein die Lasten derselben zu tragen hat; für die Frau aber ist es eine Kardinalfrage des Leibes und der Seele.

Wo nun durch einen widernatürlichen Spiritualismus und abstrakten Idealismus verschrobene Ansichten in der Frauenwelt gewisser Stände grossgezogen werden, welche trefflich als Deckmantel der egoistischen Bequemlichkeit, Leistungsscheu und Genusssucht verwendbar sind, da bildet sich ein Geschlecht pretiöser und überspannter Egoistinnen, welche allenfalls wohl noch ein oder zwei Mal die Lasten der Mutterschaft auf sich nehmen wollen, weil sie anders auch der Freuden derselben nicht theilhaft werden können, welche dann aber auch nicht weiter von den Naturpflichten des Frauenberufs[– 58 –] belästigt sein, sondern ungestört ihrer Behaglichkeit und ihren Amüsements leben wollen.

Nichts kann geeigneter sein, die Männer energisch von der Ehe abzuschrecken, als die Verbreitung solcher ebenso unsittlichen wie unnatürlichen Ansichten; denn wenn sie doch nur für wenige Jahre die Aussicht haben sollen, in einer naturgemässen Ehe zu leben, so ist dieser Preis wahrlich das Opfer ihrer Freiheit nicht werth, und wenn sie nachher doch nur ein naturwidriges Verhältniss mit einem aus Egoismus unsittlichen Weibe fortsetzen sollen, so können sie sich auch gleich mit unsittlichen Verhältnissen zu egoistischen Weibern begnügen, die wenigstens nicht mit pretiöser Ehrbarkeit und tugendhafter Ueberspanntheit prunken. Mädchen, welche zwar alle Vortheile der Frauenstellung durch die Ehe zu erlangen wünschen, aber nicht mehr die ehrliche und rückhaltslose Opferwilligkeit für alle ihnen von der Natur und dem socialen Gesammtinteresse auferlegten Pflichten besitzen, wollen den Mann, der sie heirathet, einfach im Handel betrügen, und es geschieht ihnen persönlich nur ihr Recht, wenn sie dabei die Betrogenen sind, d. h. sitzen bleiben.

Leider geschieht nur mit dieser nächstliegenden Lösung dem socialen Ganzen nicht sein Recht, und deshalb können solche überspannte egoistische Ansichten nicht entschieden genug zur rechten Zeit bekämpft werden. Die Mädchen können nicht früh genug lernen, dass sie ebensowenig wie die Männer geboren sind, um zu geniessen, sondern um zu dienen, nicht den Männern, sondern gleich diesen ihrem Beruf, und dass ihr einziger unmittelbarer Beruf darin liegt, dem Vaterlande möglichst viel möglichst tüchtige und wohlerzogene neue Bürger zuzuführen, um es im Kampf ums Dasein der Nationen konkurrenzfähig und siegreich zu erhalten.

Ist es denn nicht ein tief beschämender Gedanke,[– 59 –] dass in allen modernen Kulturvölkern die bisherige Durchschnittszahl der ehelichen Geburten nicht ausreichen würde, um dieselben vor Rückgang und allmählichem Aussterben zu bewahren, dass z. B. das deutsche Volk seine Vermehrung seit dem Jahre 1815, durch welche allein es in den Stand gesetzt wurde, seine Existenz gegen Frankreich siegreich zu behaupten, lediglich den Opfern verdankt, welche die Mütter der unehelichen Kinder auf dem Altar des Vaterlandes niedergelegt haben? Ist es denn nicht ebenso beschämend für die höheren Stände, dass sie, die am ehesten in der Lage wären, für die Volksvermehrung ein Uebriges zu thun, in der Erfüllung dieser staatsbürgerlichen Pflicht hinter dem Durchschnitt weit zurückbleiben, dem Proletariat zu andern Lasten auch noch die Last aufbürden, den Ausfall ihrer Leistungen zu decken und dadurch eine umgekehrte natürliche Zuchtwahl, eine Erhaltung des mindest Entwickelten, inauguriren?

In dem unnatürlichen egoistischen Widerwillen vieler Mädchen der höheren Stände gegen eine opferbereite Erfüllung des Frauenberufs ist ein zwar verborgenes und sorgsam verhülltes aber doch hinreichend durchscheinendes Motiv aufgedeckt, welches die Männer von der Ehe mit Standesgenossinnen abschreckt, sobald sie klar genug blicken, um zu merken, dass es darauf abgesehen ist, sie im Handel zu betrügen, und dass sie in einer solchen Ehe vor die Wahl gestellt sind, entweder unter dem Druck pekuniärer Motive sich mit guter Miene in die Lage des Betrogenen zu finden, oder die Frau zur Erfüllung ihrer Pflichten zu zwingen auf Kosten des ehelichen Friedens und häuslichen Behagens. Es giebt aber auch offener zu Tage liegende Gründe, welche die Zunahme der Ehelosigkeit und Heirathsverspätung erklären, nämlich der immer allgemeiner werdende Hang, über seinen Stand hinaus zu leben.

[– 60 –]

Es ist unbestreitbare Thatsache, dass trotz einer rascheren Vermehrung der Bevölkerung die Lebenshaltung aller Stände in den letzten 150 Jahren ausserordentlich gestiegen ist. Unsere heutigen Arbeiter, welche über Unzulänglichkeit der Löhne klagen, können sich kaum einen Begriff davon machen, in welchem Elend ihre Urgrosseltern lebten; aber unser Mittelstand bis in die höchsten Berufsarten hinauf kann sich in seinen älteren Gliedern noch sehr wohl entsinnen, welche puritanische Einfachheit in den Häusern seiner Grosseltern nach den Mittheilungen der Eltern in deren Jugend geherrscht hat. Die Möglichkeit einer besseren Lebenshaltung aller Stände trotz schneller Volksvermehrung liegt ausschliesslich darin, dass jetzt die aufgespeicherte Sonnenkraft vergangener Jahrtausende, die wir mit den Steinkohlen aus der Erde graben, vermittelst unsrer Maschinen unverhältnissmässig viel mehr Gebrauchswerthe producirt, als dieselbe Volkszahl durch eigne Kraft und Handarbeit liefern könnte, und dass wir gegen einen überschüssigen Theil dieser Fabrikate die Bodenprodukte andrer Länder und Welttheile eintauschen können. Der Grund dafür, dass der Drang nach Steigerung des Wohllebens gegenwärtig so viel intensiver geworden und theilweise in eine krankhafte Genusssucht ausgeartet ist, liegt einerseits darin, dass die bedeutend vermehrte Klasse der sehr Reichen in dem produktiven Raffinement unsrer Zeit die Mittel zu einem höchst verfeinerten Wohlleben vorfindet und durch ihr Beispiel die andern Stände zur Nacheiferung anreizt, andrerseits darin, dass der demokratische nivellirende Zug unsres Zeitalters sich mehr als je gegen die Unterschiede des Komforts verschiedener Stände als gegen eine sociale Ungerechtigkeit auflehnt, und die Genüsse der Bevorzugten als das gleiche Recht für Alle fordert.

[– 61 –]

Wie überall sind auch hier Vortheile und Nachtheile verbunden. Die Intensität des Emporstrebens in eine günstigere Lebenslage, welche der Haupthebel des Kulturfortschritts durch Steigerung des Wettbewerbs und des Arbeitseifers ist, hängt selbst wieder wesentlich von der Intensität ab, mit welcher von jedem Stande die Theilnahme an den Genüssen und Vorzügen der über ihm stehenden Stände ersehnt wird und insofern ist diese Intensität ein Vorzug unsrer Zeit. Andrerseits liegt in ihr eine Steigerung der Gefahr, dass man die Zukunft, d. h. die reellen Chancen des socialen Emporsteigens der Familie, um der Gegenwart willen, d. h. um des vermehrten augenblicklichen Behagens willen preisgiebt, dass man die erstrebte Sache, d. h. die Gewinnung einer behaglicheren Lebenslage, dem blossen Schein ihres Besitzes opfert. In diesem Sinne wird dasjenige, was Hebel eines beschleunigten Kulturfortschritts sein sollte, zum Hinderniss des Fortschreitens der Familie, nämlich wenn der Leichtsinn, welcher die Mittel des Emporklimmens in momentaner Genusssucht verzehrt, und die Eitelkeit, welche den gleissenden Prunk und die hohle Prahlerei an die Stelle des wirklichen Besitzes einer günstigeren Lage setzen, sich hinzugesellen. Darum ist der Drang nach Emporsteigen nur insoweit wirthschaftlich gesund und social berechtigt und zweckmässig, als er die Kräfte zum Erwerb grösserer Mittel anspornt, aber verderblich, wo er mit den vorläufig zur Verfügung stehenden Mitteln das Ziel des Wunsches vorwegnimmt, d. h. zu unverhältnissmässigen Luxus führt. Wie ein unverhältnissmässig geringes Luxusbedürfniss zum Hemmniss des Kulturfortschritts wird und ein Volk zum Stillstand verurtheilt, so muss ein übermässiges, d. h. über die verfügbaren Mittel hinausgehendes Luxusbedürfniss zum kulturgeschichtlichen Rückschritt und endlich zum Ruin führen.

[– 62 –]

Was für ganze Völker gilt, das gilt nicht minder für einzelne Stände und Familien. Nichts muss so unfehlbar den Ruin des Grundadels beschleunigen, als dessen krankhafte Sucht, sich an Luxus nicht von dem Geldadel überflügeln zu lassen, und ein grosser Theil der Klagen über die zunehmende Verschuldung des Grossgrundbesitzes ist allein darauf zurückzuführen, dass die rasche Steigerung der Gütererträge doch noch weit überholt ist durch die Steigerung der Lebensgewohnheiten der unmittelbar und mittelbar von ihnen lebenden Familien. Der Dienstadel oder Beamtenstand klagt in den meisten Beamtenkategorien mit Unrecht darüber, dass die Steigerung der Gehälter mit der Entwerthung des Geldes nicht gleichen Schritt gehalten habe; seine sociale Stellung ist nur dadurch relativ ungünstiger geworden, weil die Lebensgewohnheiten des Geldadels und des mit ihm wetteifernden Grundadels seit einigen Menschenaltern sich ausserordentlich gesteigert haben, so dass er im Vergleich zu diesen ihm verwandten Ständen sich in derselben Lage höchst unzufrieden fühlt, mit welcher er früher sehr zufrieden war. Sogar der Officierstand, der am meisten Anlass hätte, jede Verweichlichung zu scheuen und in spartanischer Bedürfnisslosigkeit seine Ehre zu suchen, ist mehr und mehr in einen thörichten Wettstreit mit dem Geldadel gerathen, und hier wirkt jede Verirrung des Standesgeistes um so schlimmer, als der Einzelne weit weniger die Möglichkeit hat, sich gegen erkannte Unsitten aufzulehnen. Weil in allen Ständen mit Ausnahme des Geldadels die Ansprüche an das Leben schneller gewachsen sind als die Mittel ihrer Befriedigung, nur darum ist die Unzufriedenheit und die Klage über unauskömmliche Mittel jetzt so weit verbreitet.

Dieselben Stände, welche früher bei bescheidener Lebensweise Mittel genug übrig hatten, um eine reichliche Kinderzahl anspruchslos aber gut zu erziehen und[– 63 –] noch einen Nothgroschen für die Familie zurückzulegen, verbrauchen jetzt bei gestiegenen Lebensansprüchen ein Einkommen von mindestens gleicher Kaufkraft entweder für sich allein oder für eine viel kleinere Familie, erziehen wenige, aber anspruchsvolle und verwöhnte Kinder und lassen ihre Hinterbliebenen in einer hilflosen, mit ihrer Verwöhnung um so bitterer kontrastirenden Lage zurück, weil die luxuriösere Lebenshaltung für Sparrücklagen zur Selbstversicherung nichts übrig lässt. Die so über ihren Stand hinaus gewöhnten Kinder sind dann die Heirathskandidaten der nächsten Generation. Ist es da ein Wunder, wenn die Söhne Bedenken tragen, sich zu verheirathen und ihren Arbeitsertrag für sich allein verbrauchen, und wenn die mittellosen Töchter dem Loose einer traurigen Jungfernschaft und oft genug dem Kreise der verschämten Armuth verfallen?

Auch in der Familie, ebenso wie im Stande und im Volke, ist der Tod, d. h. das Aussterben, der Sold der wirthschaftlichen Sünde. Wo noch ein natürliches sociales Solidaritätsbewusstsein herrscht, wirkt diese Erkenntniss als ein Gegenmotiv gegen die wirthschaftliche Verirrung; aber das ist gerade das Gefährlichste an der individualistischen Atomisirung und dem abstrakt-idealistischen Nivellement unserer Zeit, dass jedes Individuum nur an sich und seine Rechte auf das Leben, aber nicht an seine Gliedschaft in socialen Individuen höherer Ordnung und an seine Pflichten gegen diese denkt. Après nous le déluge! ist der Wahlspruch der selbstsüchtigen Genusssucht; mag die Welt hernach ohne mich weiter gehen, wie sie kann und will, wenn ich nur mein Leben genossen habe, so gut ich konnte! Hier enthüllt sich die sittliche Verirrung und Verkehrtheit als Wurzel der wirthschaftlichen. Familien, die ihre Mitglieder in diesem unsittlichen Egoismus sich verhärten lassen, verdienen[– 64 –] auch aus sittlichem Gesichtspunkt, unterzugehen und durch neuaufstrebende Elemente ersetzt zu werden.

Glücklicher Weise sind solche extreme Erscheinungen noch keineswegs allgemein verbreitet, wenn auch in geringerem Maasse die Tendenz zu luxuriöseren Lebensgewohnheiten schon den ganzen socialen Körper inficirt hat. Es steckt auch in unsern höheren Ständen noch ein überwiegend gesunder Kern, und an ihn wende ich mich, um ihn durch die Erkenntniss, wohin die Verirrung der Zeit führen muss, zum Widerstande gegen einen bethörten Zeitgeist und Standesgeist zu ermuthigen und diesen Geist durch eine energische Reaktion in gesundere Bahnen zurückführen zu helfen.

Wenn ich vorher darauf hingewiesen habe, dass es vorzugsweise das weibliche Geschlecht ist, dessen Egoismus sich gegen die vorbehaltlose und opferwillige Erfüllung der ihm auferlegten Berufslasten zu sträuben in Gefahr ist, so erfordert die Gerechtigkeit die Anerkennung, dass es vorzugsweise das männliche Geschlecht ist, welches aus finanziellen Bedenken vor der Ehe zurückscheut. Denn wie das Weib den schwereren Theil der natürlichen Lasten zu tragen hat, so der Mann den schwereren Theil der socialen Lasten, d. h. die Beschaffung des Unterhalts für die ganze Familie. Das Mädchen, das sich verheirathet, muss dem Manne soweit vertrauen, dass er für den Unterhalt der Familie sorgen wird; sie hat mit darunter zu leiden, wenn sie sich geirrt hat, aber sie trägt keine Verantwortung dafür. Der Mann dagegen, der sich zur Ehe entschliesst, übernimmt die ganze Verantwortung für die Erhaltung der Familie und scheut vor dem Gedanken zurück, dieser Verantwortung nicht gewachsen zu sein. In finanzieller Hinsicht schreiten deshalb die meisten Mädchen geradezu leichtsinnig zur Ehe, auch wenn sie in andrer Hinsicht gar nicht leichtsinnigen Temperaments sind;[– 65 –] sie werden dabei von einem gewissen Fatalismus der Pflichterfüllung getragen und von der beruhigenden Gewissheit, alle Verantwortlichkeit in dieser Hinsicht auf den Mann abwälzen zu können. Es liegt ihnen so viel daran, zur Erfüllung ihres natürlichen Berufs und zu den socialen Vortheilen der Frauenstellung zu gelangen, dass sie ihre kritische Besonnenheit bereitwillig zurückdrängen und sich gern einer Täuschung über die Zukunft hingeben, die sie bei jeder ihrer Freundinnen ohne Zweifel durchschauen würden. Sie sind demgemäss stets bereit, die Sorgen und Bedenken eines sonst willkommenen Bewerbers zu beschwichtigen und denselben ihrer Anspruchslosigkeit, Genügsamkeit, Arbeitslust und Opferwilligkeit zu versichern, um ihm den Entschluss zu erleichtern. Diese Versicherungen sind auch keineswegs Lügen, sondern gute Vorsätze, deren Erfüllung sie sich wirklich zutrauen; zumal wenn ein Mädchen liebt, so hält sie keine Beschränkung für zu gross, um als Hinderniss der Vereinigung mit dem Geliebten gelten zu dürfen.

Leider pflegt die gehobene Stimmung der Braut nicht für die Dauer vorzuhalten und oft sind alle die guten Vorsätze bloss Pflastersteine auf dem Wege zu einer ehelichen Hölle. Die alten Gewohnheiten behaupten ihr Recht, und wenn auch die Vernunft so weit die Oberhand behält, um die unvermeidlichen Entbehrungen zu ertragen, so fehlt dabei doch nicht bloss die Freudigkeit, sondern oft genug auch die blosse Geduld, und die mangelnde Zufriedenheit der Frau lässt auch die häusliche Behaglichkeit des Mannes nicht aufkommen. Bald ist es die Kleidung und der Putz oder Schmuck, bald der Charakter des Wohnorts, bald die Grösse der Wohnung, bald die Bedienung, bald die Kost, bald die Beschaffenheit des Umgangskreises, bald die Zerstreuungen und Vergnügungen, welche bei der neuen Lebensweise[– 66 –] mit den früheren Gewohnheiten der Frau im Widerspruch stehen und durch welche ihre Unzufriedenheit erregt wird. Manchmal werden die alten Gewohnheiten durch neue verdrängt, aber meist behauptet die Erinnerung an die früher besessenen Annehmlichkeiten ihr Recht und verhärtet und verbittert sich in Bezug auf den einen oder den andern Punkt je länger je mehr. Schlimmer noch als offne Klagen und Vorwürfe wirkt auf den Gemüthsfrieden des Mannes die unausgesprochene ständige Unzufriedenheit der Frau, sowohl der mürrischen wie der sanft duldenden, und am schlimmsten ist die hysterisch angehauchte Bedrücktheit und Melancholie, welche stets mit dem Uebergange in wirkliches Gemüthsleiden droht, wenn ihr nicht der Wille geschieht und sie durch Zerstreuungen abgelenkt wird. Ist dem unbefriedigten Anspruch durch Geld abzuhelfen, so soll der Mann wo möglich seine schon voll angespannte Arbeitskraft überspannen, um demselben genug zu thun; will er aber gar das Geld, welches zu diesem Zwecke ausreichen würde, zur Selbstversicherung der Familie zurücklegen, so betrachtet die Frau das einfach als einen Raub an dem ihr Gebührenden. Reichen die Mittel ohnehin schon nicht aus, um irgendwelche Ansprüche der Frau zu befriedigen, so muss natürlich einer solchen Frau jeder Gedanke an weitere Vergrösserung der Familie als ein von dem rücksichtslosen Manne gegen sie geplantes Verbrechen erscheinen; denn nun verbinden sich in ihr der Egoismus in natürlicher und in wirthschaftlicher Hinsicht, um den Zweck der Ehe zu vereiteln. Ebenso staunenswürdig wie die Opferwilligkeit, die Energie und die Ausdauer der Leistungen sind, zu denen das Weib als uneheliche Mutter oder als Wittwe unter dem eisernen Zwang der Nothwendigkeit, für ihre Kinder zu sorgen, sich aufschwingen kann, ebenso grausam und unbarmherzig kann[– 67 –] die egoistische Rücksichtslosigkeit sein, mit welcher dasselbe Weib alle Lasten dem Manne aufbürdet, so lange sie noch einen hat.

Das hier gezeichnete Bild ist glücklicher Weise nicht die Regel, sondern nur die Ausnahme, wenn auch keine ganz seltene; aber irgend etwas von den hier zusammengestellten Zügen wird man bei einiger Aufmerksamkeit häufiger entdecken als man denkt. Jeder Mann, der mit Heirathsgedanken umgeht, muss daran denken, dass eine solche Zukunft auch ihm blühen kann, und dass wenigstens die guten Vorsätze und Versicherungen seiner Erkorenen ihm ganz und gar keine Bürgschaft dagegen gewähren.

Bewunderungswürdig erscheint mir stets das Durchschnittsweib aus dem Volke, das ohne Dienstboten ihr ganzes Hauswesen allein besorgen, ihre Wochenbetten unter dem Beistand gefälliger Nachbarinnen erledigen, ihre Kinder selbst warten und pflegen, dabei noch oft die Rohheiten eines rücksichtslosen und zeitweise betrunknen Mannes ertragen und durch eignen Arbeitsverdienst zur Einnahme der Familie beisteuern muss, und das alles mit der Aussicht, im Falle der Wittwenschaft für ihre Erhaltung und für die Erziehung der Kinder mit ihren zwei Händen aufkommen zu müssen. Dieses Weib aus dem Volke trägt entschieden den schwereren Antheil an der Last des Lebens, und die Art, wie sie ihn meistens trägt, nöthigt uns volle Hochachtung vor ihrem sittlichen Werthe ab, welcher dem des Mannes meist ebenso überlegen ist, wie er in den höheren Ständen hinter diesem zurücksteht. An den unglücklichen Ehen und Scheidungen in den niederen Ständen trägt meist der Mann, an denjenigen in den höheren Ständen überwiegend die Frau die Schuld; in den ersteren ist entschieden die Frau, in den letzteren[– 68 –] gewöhnlich der Mann der liebenswürdigere und innerlich gebildetere Theil.

Den Grund davon sehe ich wesentlich darin, dass die Mädchen und Frauen der höheren Stände durch geschäftigen Müssiggang systematisch verdorben, von dem Gedanken, dass Arbeiten und Dulden der natürliche Zustand des Menschen sei, entwöhnt und darauf hingedrängt werden, in der Bequemlichkeit und Vergnüglichkeit den Zweck ihres Daseins zu suchen. Ein fünfstündiger Mädchenschulunterricht mit zwei- bis dreistündiger häuslicher Arbeitszeit, einhalb- bis einstündigem Schulwege und nebenherlaufenden Privatstunden verbietet es, die Mädchen während der Schulzeit zu häuslichen Arbeiten heranzuziehen; wenn sie dann mit 15 bis 17 Jahren die Schule verlassen, so haben sie bereits gelernt, sich als Damen zu fühlen, welche für häusliche Arbeiten zu vornehm und zu gebildet sind, und wenn sie auch wirklich anders dächten, so sind in einem Hauswesen mit der entsprechenden Zahl von Dienstboten keine nennenswerthen Arbeiten da, welche die Hausfrau ihnen anweisen könnte. Vom 16. Jahre bis zur Verheirathung in den 20er Jahren sind sie somit zum Müssiggang förmlich gezwungen, wenn sie sich nicht zu einem wissenschaftlichen oder künstlerischen Studium entschliessen, durch welches sie dem Beruf als künftige Hausfrauen immer mehr entfremdet werden. Das einzige, was sie im Durchschnitt lernen, das ist, ihre nutzlose Zeitvergeudung mit mehr oder minder Grazie zu verschleiern, sei es durch das Lesen der allerneuesten englischen und französischen Schundromane (der einzigen Frucht ihrer Sprachstudien), sei es durch Klavierklimpern, sei es durch zwecklose augenverderbende Handarbeiten.

Jeder Arbeitseifer, jedes Gefühl des Verpflichtetseins zu volkswirthschaftlichen Leistungen, jede Scham[– 69 –] vor einer blossen Schmarotzerexistenz und unverdientem Wohlleben wird dabei systematisch ertödtet, und man kann sich nicht wundern, wenn die so erzogenen Mädchen vor dem Gedanken zurückschaudern, als Frau in ein Hauswesen eintreten zu sollen, wo ihnen zwar die grobe Arbeit durch eine Magd abgenommen wird, aber das eigentliche Kochen, das Schneidern ihrer eigenen Kleidung und derjenigen für die Kinder, und, was am schwersten wiegt, die tägliche und nächtliche Kinderpflege auf ihre eignen Schultern fallen würde. Das Höchste, wozu sie sich aufschwingen wollen, ist die Last der Leitung eines Hauswesens mit mehreren Dienstboten, deren Ansprüche an Gedankensammlung und wohlüberlegte Anordnung schon grell genug von der in der Mädchenzeit gewohnten passiven Bummelei abstechen; aber einen Mann zu nehmen, der nicht im Stande ist, ihnen Köchin und Kindermädchen zu halten, und alle Familiengarderobe durch fremde Hände anfertigen zu lassen, darin sehen sie mindestens ein so grosses Opfer, dass es durch ein lebenslängliches Aufhändengetragenwerden vom Manne nicht aufgewogen werden kann.

In der Regel denkt ein Mädchen beim Heirathen nur an den Brautstand, die Hochzeitkleider und die Honigmonde, und alle damit gegebenen Lasten ist sie willig, auf sich zu nehmen. Kommen nachher die Kinder hinzu, welche eine Kinderwärterin, Kinderkleider, vergrösserte Wohnung und Tafel verlangen, nun so ist das eben bloss Schuld des Mannes, für die er aufzukommen hat. Kann er das nicht in dem Maasse, wie das Behagen und die Bequemlichkeit der Frau es verlangen, so macht er dadurch diese zur Märtyrerin, oder er vergrössert vielmehr nur das Martyrium, welches die Frau durch die wiederholten Schwangerschaften, Entbindungen und Wochenbetten „um seinetwillen“ tragen[– 70 –] muss. Dass in den höheren Ständen der Beruf des Mannes, durch welchen er die Mittel für die Erhaltung der Familie beschafft, ein viel grösseres Martyrium ist als derjenige einer alle ihre Pflichten erfüllenden Frau, dass er namentlich die Lebensdauer in viel höherem Grade abkürzt, das kommt dabei natürlich nicht in Betracht. Wie der Beruf den Mann allmählich aufreibt und seine Gesundheit untergräbt, entzieht sich in den früheren Stadien meistens der Beobachtung, wird auch wohl vom Manne geflissentlich ignorirt; wie dagegen der Beruf der Frau vorübergehende und später sich meist völlig wieder ausgleichende Störungen des Wohlbefindens hervorruft, das liegt auf der Hand, und die Frauen ermangeln selten, es in das rechte Licht zu stellen, wie „leidend“ sie durch Erfüllung ihres Berufs geworden sind, zumal wenn sie dabei „nervös“ oder gar „hysterisch“ sind.

Und wie viele Frauen der höheren Stände giebt es, die nicht nervös sind? Wie viele, welche körperlich der Erfüllung ihres Berufes noch vollauf gewachsen und im Stande sind, die Vereinigung von Arbeit und Kinderwartung am Tage mit jahrelanger nächtlicher Ruhestörung ohne unerträgliche Steigerung ihrer Nervosität zu ertragen? Durch das sinnlose Aderlassen der vorhergehenden Jahrhunderte sind wir zu einem blutarmen, bleichsüchtigen Geschlechte, durch das städtische Leben mit seinen künstlichen Erregungen und seinem Mangel an frischer Luft und Bewegung im Freien zu einem nervösen Geschlecht geworden, und in Folge der unvernünftigen Ueberanstrengung des zarter gebauten weiblichen Gehirns vom 6. bis zum 16. Jahr durch unsre höheren Töchterschulen und weiterhin durch die weiblichen Berufsstudien haben wir den durch das gesundheitswidrige Schnüren der letzten Generationen schon aus dem Gleichgewicht gerückten weiblichen Organismus[– 71 –] der höheren Stände dahin gebracht, dass er zu seinen natürlichen Zwecken immer untauglicher geworden ist. Kein Wunder, wenn da der Geist anfängt, sich gegen die Erfüllung der Naturzwecke aufzulehnen, zu denen er den Körper unbrauchbar fühlt. Das nach Glück und Liebe sich sehnende Herz des Mädchens geräth in Widerspruch mit der Natur und wird fast unwillkürlich zu einem platonischen abstrakten Idealismus hingedrängt, in welchem es wähnt, ein Männerherz ohne die Naturbasis der Liebe sich dauernd zu eigen machen zu können; unsre ganze Mädchenerziehung, welche auf ängstliche gewaltsame Verschleierung und Ignorirung dieser Naturgrundlage und ihrer Weisheit und Würde ausgeht, unterstützt diese ihrem Egoismus so angenehme Verirrung und der Mann hat nachher die Kosten dieser künstlichen Selbsttäuschung zu tragen, indem sein naturgemässes Verhalten ihm als sinnliche Rohheit und rücksichtslose Barbarei in Rechnung gestellt wird. Wenn es so der Frau auch nicht gelingt, den Mann von seinem Unrecht gegen sie zu überzeugen, so überzeugt sie ihn doch hinlänglich von ihrer Naturentfremdung, Untüchtigkeit und Selbstsucht, stumpft hierdurch wie durch die quälende Unzufriedenheit mit ihrer Lage die anfängliche Liebe des Mannes für sie mehr und mehr ab, und gelangt so an einen Punkt, wo der erkaltete und ermüdete Mann dem Appell an seinen wirtschaftlichen Egoismus zugänglich wird. Die Folge ist dann die geringere Kinderzahl der Ehen der höheren Stände im Vergleich mit denen der niederen.

Die jungen Männer reflektiren wohl selten auf alle hier aufgeführten Umstände, aber sie haben doch eine mehr oder minder deutliche Kenntniss von der Naturentfremdung, körperlichen und geistigen Berufsuntüchtigkeit, Arbeitsscheu, Verwöhnung und Selbstsucht der Mädchen höherer Stände, denn sie kennen ja ihre[– 72 –] Schwestern. Sie haben deshalb eine instinktive Furcht vor der Ehe, und ziehen es vor, mit Mädchenherzen vor der Ehe zu spielen, anstatt mit ihrem Herzen nach der Hochzeit spielen zu lassen. Sie fürchten mehr als in irgend einer früheren Kulturperiode die Liebe, welche sie verblenden könnte gegen das, was sie zu erwarten haben, schätzen ihre Junggesellenfreiheit um so höher, und hoffen, dass ihnen der „Reinfall“ auf ein vermögensloses Mädchen erspart bleiben wird. Wenn sich nun in dieser Hoffnung auch ein grosser Procentsatz täuscht, so ist doch solche generelle Abneigung der gebildeten Jugend gegen die Ehe mit einem vermögenslosen Mädchen ein höchst bedenkliches Zeichen der Zeit, ein Symptom von einem auch in der Männerwelt überwuchernden Egoismus, von Mangel an Familiensinn und socialem Pflichtgefühl. Kein Mann kann bezweifeln, dass es auch unter den vermögenslosen Mädchen seines Standes Ausnahmen genug giebt, dass er, wenn er durchaus in seinem Stande heirathen will, den Muth haben muss, nach diesen Ausnahmen zu suchen, dass es mit zu seiner Pflicht gehört, im Falle der Enttäuschung in der Ehe den Kampf mit der Selbstsucht der Frau aufzunehmen und die versäumte Erziehung derselben nachzuholen, dass er endlich selbst bei Erfolglosigkeit dieses Strebens seine Töchter anders erziehen und eine bessere sociale Zukunft heraufführen helfen soll.

Das Verschanzen hinter die weiblichen Fehler ist leider nur zu oft ein blosser Vorwand der männlichen Jugend, um ihrer Selbstsucht, d. h. dem Verbrauch ihres gesammten Einkommens für ihre Person, ungestört weiter fröhnen zu können. Wer seine ganze Einnahme für sich allein verbraucht, der schreckt natürlich davor zurück, plötzlich den Haupttheil derselben für eine Familie abgeben zu sollen; er verschiebt das Heirathen auf eine Gehaltserhöhung, hat aber, wenn diese kommt,[– 73 –] nicht gerade eine bestimmte Frau in Aussicht und gewöhnt sich dann daran, auch das höhere Einkommen ganz für seine persönlichen Bedürfnisse zu verbrauchen. Uebermannt ihn eine wirkliche Liebe, so entschliesst er sich freilich zu Opfern und Einschränkungen und findet nachher meistens, dass ihm die Entbehrungen viel leichter geworden sind, als er sich vorher gedacht hat, gerade umgekehrt wie bei der Frau. Fehlt es aber zu der Zeit, wo sein Einkommen für eine Familie ausreicht, an einer rechten Liebe in seinem Herzen, die ihn über die kleinliche Selbstsucht hinweghebt — und diess ist nur zu oft der Fall — so wird die letztere bei vielen stark genug sein, sie von der Erfüllung ihrer socialen Bürgerpflicht durch Eheschliessung abzuhalten. Freilich giebt es noch junge Männer genug, die auch ohne eigentliche Liebesleidenschaft ganz gern bereit wären, sich erhebliche persönliche Einschränkungen aufzulegen, um des Familienglücks und des häuslichen Behagens theilhaftig zu werden, wenn sie nur noch den Glauben fassen könnten, dass dieses Glück ihnen mit den verwöhnten und anspruchsvollen Mädchen ihres Standes wirklich noch blühen könne, wenn sie nicht fürchten müssten, alle Opfer umsonst zu bringen und sich durch Fesselung an eine unzufriedene und missvergnügte Frau das Leben zu verbittern.

Die schonungslose Aufdeckung der Gründe, aus denen die vermehrte Ehelosigkeit und Heirathsverspätung und die verminderte Kinderzahl unserer höheren Stände entspringt, mag manchem Leser peinlich gewesen sein, aber sie hat wenigstens den Vortheil, die Punkte erkennbar zu machen, an welchen die Hebel zur Wiederherstellung gesunderer socialer Zustände angesetzt werden müssen.

Zunächst kann die Gesetzgebung etwas thun, nämlich die Prämie aufheben, welche auf der Ehelosigkeit[– 74 –] steht in Folge des Umstandes, dass der Familienvater von seinem Einkommen trotz der erhöhten Leistungen für den Staat durch die Kindererziehung und trotz des höheren Beitrags zu den indirekten Steuern und Zöllen doch noch dieselben direkten Steuern zahlen muss, wie der Junggesell, und dass nach Intestaterbrecht ledige und verheirathete Erben gleichen Erbanspruch haben. Wir betrachten zunächst den ersten Punkt.

Ob ein Einkommen eine oder fünf Personen ernährt, müsste sich doch in der Steuerquote ausdrücken, d. h. der unverheirathete Steuerzahler müsste von dem gleichen Einkommen das Fünffache an direkter Steuer entrichten, wie der Familienvater, um einen billigen Ausgleich herzustellen. Wir können nicht zu dem Athenischen Gesetze zurückkehren, nach welchem der gesunde Bürger mit zurückgelegtem vierzigsten Lebensjahr zur „Zwangstrauung“ geführt wurde (wie bis vor Kurzem bei uns die Kinder zur Zwangstaufe), aber wir können unsern Bürgern die Eheschliessung dadurch als eine staatsbürgerliche Ehrenpflicht einschärfen, dass wir die Entziehung von derselben ähnlich wie diejenige von gewissen Ehrenämtern der Selbstverwaltung durch Vervielfachung der direkten Steuern ahnden. Das Geschlecht kann hierbei keinen Unterschied begründen; denn in den steuerpflichtigen Jungfern, mögen sie im Einzelnen noch so unschuldig an ihrem Sitzenbleiben sein, muss die Entartung ihres Geschlechts im Ganzen gestraft werden, da die Gesetzgebung nicht individualisiren kann. Da die unteren Stufen der Klassensteuer ohnehin schon bei uns aufgehoben sind, und weitere Stufen der Aufhebung entgegen sehen, so würden die von ihrem Arbeitsertrag lebenden Jungfern von einer solchen Massregel ebensowenig betroffen werden, wie die niederen Stände überhaupt, und auf weiblicher Seite nur die besser situirten Rentnerinnen darunter zu leiden[– 75 –] haben, die es vertragen können.[8] Da die Entziehung von der socialen Pflicht der Familiengründung um so gemeinschädlicher und strafbarer ist, je wohlhabender die ledigen Individuen sind, so wäre es sogar nicht mehr als billig, den Coefficienten für die Vervielfachung der Steuer progressiv zu machen; denn je grösser die Wohlhabenheit, desto strafbarer ist die Entziehung von der Pflicht der Familiengründung und desto nachtheiliger wirkt die durch sparsame Proliferation verursachte Vermögensanhäufung. In den niederen Ständen, wo die Vermehrung schon eher zu schnell als zu langsam ist, hat man durch Aufhebung aller Erschwerungen und Unkosten der Eheschliessung und durch die theils schon durchgeführte, theils in Aussicht stehende Aufhebung des Schulgeldes alles gethan, um die Vermehrung noch zu befördern; in den höheren Ständen, wo die Vermehrung erschreckend hinter dem Nothwendigen zurückbleibt, scheut man bis jetzt vor der natürlichsten Forderung der ausgleichenden Gerechtigkeit durch die Vervielfachung der direkten Steuern der Ledigen zurück.

Wir kommen nun zu dem zweiten Punkt, nämlich zu der Unbilligkeit, welche darin liegt, dass ledige und verheirathete Kinder gleichviel erben. Die alten Jungfern, welche eine zwecklose Drohnenexistenz im Staate führen, und die Junggesellen, welche ausser ihrer direkten Berufsarbeit keine socialen Leistungen für den Staat aufzuweisen haben, verdienen nicht, von der Rente des gemeinsamen Familienvermögens den nämlichen Antheil[– 76 –] zu verbrauchen, wie ihre verheiratheten Geschwister, welche durch ihre Kinder gezwungen sind, für ihre Person bei gleicher Einnahme viel beschränkter zu leben. Wenn auch die Vermögens-Antheile der Ledigen später auf ihre Neffen und Nichten mitübergehen, so gelangen sie doch meistens zu spät in deren Hände, um denselben noch mit ihrem vollen volkswirthschaftlichen Nutzen zu gut zu kommen, und was weit schlimmer ist, die Rente derselben ist für die Lebensdauer der Erbonkel und Erbtanten dem social activen Theil des lebenden Geschlechtes verloren gegangen und hat durch die unverhältnissmässige Erhöhung des Wohllebens, des Komforts und des Luxus der Niessnutzer als augenscheinliche Prämie ihrer Ehelosigkeit gewirkt. Umgekehrt würde mancher egoistische Junggeselle sich eher zur Verheirathung entschliessen und manches wohlhabende wählerische Mädchen vorsichtiger in der Austheilung ihrer Körbe und maassvoller in ihren Ansprüchen werden, wenn sie wüssten, dass die Hälfte der noch zu erwartenden Erbschaften ihnen verloren geht, falls sie ledig bleiben. Um diess zu erreichen, müsste das Intestaterbrecht dahin abgeändert werden, dass unter verwandtschaftlich gleich nahe stehenden Erbberechtigten die Ledigen nur den halben Erbanspruch von demjenigen der Verheiratheten haben sollen. Diejenigen Ledigen, welche beim Erbfall noch nicht das 35. Lebensjahr zurückgelegt haben, müssten beanspruchen können, dass ihnen die andere Hälfte ihres Erbtheils sichergestellt werde für den Fall, dass sie sich bis zu dem genannten Alter verheirathen, wogegen nach Ueberschreitung dieser Altersgrenze der sichergestellte Theil unter die verheiratheten Miterben zur Vertheilung gelangen würde. Wem diese Bestimmung missfiele, dem bliebe es unbenommen, testamentarisch anders zu verfügen; da aber der Erbgang thatsächlich zum grossen Theil nach Intestaterbrecht[– 77 –] erfolgt, so würde eine Aenderung in diesem immerhin einen beträchtlichen realen Einfluss haben.

Für wichtiger als den realen Einfluss würde ich übrigens die moralische Wirkung solcher gesetzlicher Bestimmungen halten, insofern sie im Volke das Bewusstsein wecken und stärken würden, dass die social passiven und social aktiven Theile der Gesellschaft einen so verschiedenen socialen Werth für die Gesammtheit haben, dass sie nicht mit gleichem Maasse gemessen werden dürfen. Der Satz: „wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ muss wenigstens insoweit wieder zu Ehren kommen, dass die sociale Berufslosigkeit der Missachtung preisgegeben wird, wo sie verschuldet ist, dass kouponschneidende Müssiggänger und Müssiggängerinnen nicht mehr der ehrlichen Arbeit zum Hohn ein luxuriöses Wohlleben führen, sondern auf ein bescheidenes Auskommen beschränkt werden, und dass diejenigen, welche die staatsbürgerliche Ehrenpflicht der Familiengründung nicht erfüllt haben, auch nicht gleiche Rechte wie ihre leistungsfähigeren und leistungswilligeren Mitbürger zu besitzen verdienen. Der behaglich lebende Junggeselle muss aufhören, sich vergnügt in die Hände zu reiben, sich seiner Pfiffigkeit zu rühmen, und hohnlachend auf den dummen Tropf herabzusehen, der sich im Schweisse seines Angesichts für seine zahlreiche Familie plagt. Die spöttische Geringschätzung, welche schon jetzt wegen ihrer Berufslosigkeit oft unverdient genug auf der alten Jungfer lastet, muss auch auf den körperlich heiratsfähigen alten Junggesellen übertragen werden, mit doppelter Wucht, weil er nicht auf das Gewähltwerden zu warten braucht, sondern selber die Wahl frei hat; sie muss sich zum sittlichen Unwillen steigern, wenn die Entziehung von der socialen Ehrenpflicht der Familiengründung sich beim Junggesellen mit berufsloser Unthätigkeit paart, aus welcher[– 78 –] man der alten Jungfer unter den heutigen Verhältnissen kaum einen Vorwurf machen kann.

Wenn auf diese Weise das Gefühl der Verpflichtung zur Familiengründung in der männlichen Jugend wieder geweckt und die Entziehung von dieser Ehrenpflicht wieder zu einem Gegenstande der Scham gemacht worden ist, dann werden auch die jungen Männer mit ganz anderen Augen auf ihre Zukunft blicken lernen und ihre Gegenwart mit Rücksicht auf diese Zukunft zu gestalten suchen. Jetzt, wo sie für sich leben, halten sie es so sehr für das Normale, ihre ganze Einnahme zu verbrauchen, dass ihnen das Gegentheil gar nicht in den Sinn kommt; dann, wenn sie ihre Junggesellenzeit nur als Vorstufe zu derjenigen des Familienvaters ins Auge fassen, werden sie von vornherein ihre Gewohnheiten nach Maassgabe der letzteren einzurichten haben. Von seelenmörderischen Lastern, wie dem Spiel, werden sie sich viel leichter frei halten, wenn ihnen die Perspektive des Familienlebens als Ziel vorschwebt; die Kosten für Verhältnisse zweifelhaften Charakters werden sie sich ebenfalls auf Grund des näher gerückten ehelichen Lebens lieber ersparen, womit dann wiederum der Hauptantrieb zu kostspieligem Kleiderluxus in Wegfall kommt. Je mehr sie das Bewusstsein haben, sich für künftiges Familienleben vorzubereiten, desto mehr werden sie den Familienverkehr der Kneipe vorziehen, desto mehr wird die Verführung der Kneipe zur Gewöhnung an übermässige Fleischnahrung, Trinken und Rauchen zurücktreten, desto weniger werden sie von ihrer Nachtruhe der Erholung opfern und desto besser werden sie für ihre Gesundheit und die Erhaltung ihrer Nervenkraft sorgen. Glücklicherweise beginnt das Rauchen in der gebildeten Jugend jetzt ebenso aus der Mode zu kommen, wie das Tabakkauen und Schnupfen es schon lange ist, und gegen das sinnlose[– 79 –] Trinken erhebt sich aus studentischen Kreisen selbst ebenso eine Reaktion wie aus medicinischen Kreisen gegen den eine Zeitlang begünstigten übermässigen Fleischgenuss. Wer aber an gesundheitsgemässe gemischte Kost gewöhnt ist und weder raucht, noch trinkt, noch spielt, der hat für seine Person kaum noch ein Opfer zu bringen nöthig, wenn er zur Ehe schreitet, der wird auch vor der Ehe nicht in Versuchung gewesen sein, sein ganzes Berufseinkommen für sich zu verbrauchen, sondern wird zeitig angefangen haben zurückzulegen, sei es in Form von Ersparnissen oder von Alters- und Lebensversicherung oder sonst wie. Ein solcher Mann wird beim Uebergang zum Familienleben nur gewinnen, vorausgesetzt, dass er ein gesundes, arbeitsfähiges, arbeitswilliges und anspruchsloses Mädchen wählt.

Wenn es bei einem gesunden Zeitgeist und Standesgeist das Natürlichste ist, ein solches Mädchen in seinem Stande zu suchen, so muss dies bei einem korrumpirten Standesgeist, bei einem zur Unsitte gewordenen Leben über den Stand hinaus, ebenso bedenklich erscheinen wie unter normalen Verhältnissen das Heirathen über seinem Stande. Niemand darf sich für einen Herzenskündiger halten, am wenigsten, wenn Amor ihm die Binde um die Augen gelegt hat; deshalb wird Niemand sich zutrauen dürfen, den Charakter seiner Erkorenen so zu durchschauen, dass er sich auf Grund ihrer guten Vorsätze gegen jeden Rückfall in luxuriösere Gewohnheiten, als sie bei ihm fortsetzen kann, gesichert halten dürfte. Es bleibt also bei der Trüglichkeit der subjektiven Diagnose dem Heirathskandidaten nur das objektive Merkmal übrig, ob die bisherigen Gewohnheiten, welche seine Erwählte in der Lebenshaltung ihres Elternhauses sich angeeignet hat, nicht über das Maass von Komfort hinausgehen, welches[– 80 –] er ihr gewähren kann. Ist dies der Fall, so muss er sich darüber klar sein, dass auch die beste und bescheidenste Frau, die sich willig in die ihr neuen, einfacheren Verhältnisse findet, doch nie aufhören wird, ihr Herabsteigen als ein ihm dargebrachtes Opfer zu empfinden, welches vorweg durch einen Ueberschuss an Liebe über die sonst zu verlangende hinaus ausgeglichen werden muss. Für den Mann ist es ein Leichtes, das Weib seiner Wahl zu sich emporzuheben, da die meisten Frauen sich mit wunderbarem Geschick höheren Ansprüchen anzupassen und in einem höheren Kreise heimisch zu machen verstehen; dagegen fällt es dem Weibe unendlich schwer, sich zu dem Manne ihrer Wahl so herabzulassen, dass er es nicht mehr als Herablassung fühlt. Die Frau vergleicht niemals die Lage, in welche sie ohne die geschlossene Ehe nach dem Tode ihrer Eltern gekommen sein würde, mit der in der Ehe ihr zu Theil gewordenen, sondern immer nur diejenige, welche sie als Mädchen thatsächlich im Elternhause durchlebt hat; denn die Frau kümmert sich nicht um abstrakte Möglichkeiten der blossen Vorstellung, sondern hält sich an die ihrem Gedächtniss anschaulich eingeprägte Erfahrung als allein reell in Betracht kommendes Vergleichsobjekt. Fällt dieser Vergleich für die Gegenwart ungünstig aus, so hilft kein Hinweis auf das, was inzwischen vermuthlich an deren Stelle getreten sein würde, denn die Möglichkeit bleibt ja unbestreitbar, dass sie vielleicht auch noch eine bessere Partie hätte machen können.

Will also der Mann sicher gehen, so muss er seine Wahl auf solche Familien seines Standes beschränken, welche der Verirrung des Zeitgeistes erfolgreich Widerstand geleistet und ihre Töchter so einfach gehalten, so anspruchslos erzogen und so zur Arbeitsamkeit gewöhnt haben, dass sie das ihnen dargebotene Loos an[– 81 –] seiner Seite ohne Herablassung und ohne Umlernen in ihren Gewohnheiten annehmen könne. Ein Mann, dessen voraussichtliche Einnahme mit 30, 40, 50 und 60 Jahren die Höhe von 30, 40, 50 und 60 hundert Mark nicht übersteigt (wie dies durchschnittlich bei unsern meisten höheren Berufsarten thatsächlich nicht der Fall ist), kann schlechterdings nur mit einer Frau zufrieden und behaglich leben, welche fähig und willens ist, ihre eigene Köchin, Kinderwärterin und Schneiderin zu sein und sich nur für die grobe Hausarbeit eine Hülfe zu halten. Eine solche wird er aber nur in einem Hause suchen dürfen, das selber mit höchstens einem Dienstboten oder womöglich ohne solchen mit einer blossen Aufwärterin auskommt, und auch sonst in Kost, Kleidung, Wohnung, Reisen u. s. w. sich der grössten Bescheidenheit befleissigt, keinesfalls aber in einem solchen, wo die erwachsenen Töchter gewohnt sind, sich bedienen zu lassen, statt selbst den Eltern und dem Ganzen der Familie zu dienen. Findet er aber keine solche Familie in seinem Stande, oder doch keine, deren Töchter sein Herz zu gewinnen vermögen, so soll er darum sich nicht von seiner Pflicht entbunden erachten, sondern den einfachen Ausweg einschlagen, so weit von seinem Stande herabzusteigen, als die Gemüthserziehung und Charakterbildung der Töchter noch ausreichend scheint, um seinen Kindern die nothwendige mütterliche Erziehung zu sichern.

Würde das erstere allgemein unter der männlichen Jugend, so würden alle über ihren Stand hinaus lebenden Familien damit bestraft, dass ihre Töchter sitzen blieben, und nur die vernünftigen erhielten in der ausnahmsweisen Verheirathung ihrer Töchter die Prämie für den Muth und die Ausdauer ihres Schwimmens gegen den Strom. Würden an Stelle aller Töchter der über ihren Stand hinaus lebenden Familien von den[– 82 –] jungen Männern Töchter aus geringerem Stande gewählt, so würde der korrumpirte weibliche Theil der höheren Stände von der Fortpflanzung ausgeschlossen, ohne dass darum die in dem männlichen Theil derselben Stände niedergelegten erblichen Eigenschaften dem Kulturprocess mit verloren gingen; an Stelle der Blutserneuerung des Standes durch Einrücken von ganz neuen Elementen aus den niederen Ständen träte dann eine halbseitige Blutsauffrischung durch Konnubium mit den minder entarteten Töchtern der nächstniederen Stände. Diese halbseitige Blutsauffrischung hat jedenfalls vor der gänzlichen Blutserneuerung des Standes den Vortheil, dass die durch Vererbung angehäuften Eigenschaften wenigstens des männlichen Theils für die weitere Betheiligung des Standes an der Kulturarbeit konservirt werden; aber sie macht die Forderung nicht überflüssig, dass man Mittel und Wege aufsuchen müsse, um wo möglich auch die weibliche Hälfte der höheren Stände vor einer solchen Ausschaltung zu bewahren.

Das bei weitem wirksamste Mittel würde jedenfalls das Bewusstsein von der drohenden Ausschaltung durch Verheirathung aller Männer mit Mädchen geringeren Standes sein; denn der letzte Grund für das Drängen gerade des weiblichen Geschlechts nach Luxus ist doch schliesslich nur die Hoffnung, durch solchen Schein einer Erhabenheit über das Durchschnittsniveau ihres Standes die Männer zu blenden und für sie anziehender und begehrenswerther zu werden. Sobald die Ueberzeugung im weiblichen Geschlecht allgemein würde, dass dieses Streben den umgekehrten Erfolg hat, würde dessen Nerv gelähmt sein. Der Irrthum aber, durch welchen die Mädchen bisher zu diesem verkehrten Verfahren sich haben verleiten lassen, entspringt aus der Verwechselung zwischen der Anziehungskraft, die ein Mädchen auf einen Mann zur vorübergehenden Unterhaltung ausübt, und[– 83 –] derjenigen, welche sie auf einen solchen als Heirathskandidaten ausübt. Nur die erstere macht sich den Mädchen in jeder Gesellschaft und auf jedem Balle sinnlich wahrnehmbar, während die letztere sich in ihren Ursachen dem Verständniss der Mädchen zu sehr entzieht. Aber ein wenig Nachdenken könnte sie doch lehren, dass die am meisten umschwärmten Löwinnen der Bälle und Landpartien ebenso oft und noch öfter sitzen bleiben als die unbeachteten und unscheinbaren Wegeblümchen. Eine grosse Schuld der Bestärkung in diesem Irrthum tragen leider die Mütter, indem sie nach dem Eintritt in die Ehe nicht aufhören wollen, auf die zum Theil dem Luxus der Erscheinung zugeschriebenen gesellschaftlichen Erfolge zu verzichten, vielmehr den Verlust der jugendlichen Reize durch Steigerung der Toilette zu ersetzen suchen. Solchen Müttern geschieht dann ganz Recht, wenn sie das ihren Töchtern gegebene Beispiel mit deren Sitzenbleiben büssen müssen.

Man kann sagen, dass der letzte handgreifliche Grund unserer verschrobenen Weiber in dem höheren Töchterschulwesen liegt, das sich erst in dem letzten halben Jahrhundert entwickelt hat. Könnten wir diese Entwickelung mit einem Streich rückgängig machen, und unsere Töchter auf das Niveau der Volksschulbildung, mit dem unsere Grossmütter sich begnügen mussten, zurückschrauben, so würden sie ebensowenig, wie diese es thaten, sich für zu vornehm und zu gebildet zur Erfüllung ihrer natürlichen und socialen Pflichten, zur Kinderpflege und Hausarbeit halten. Hat doch selbst die Jungfernfrage nur dadurch ihre Schärfe bekommen, dass die Jungfern der höheren Stande nicht mehr wie früher in den Hauswesen ihrer Verwandten arbeiten und dienen wollen. Alle Halbbildung ist ein Fluch und nicht ein Segen; unsere höhere Töchterschulbildung[– 84 –] aber ist Halbbildung der schlimmsten Art und erzeugt naturgemäss auch die Folgen einer solchen.

Nun lässt sich aber eine fünfzigjährige geschichtliche Entwickelung nicht so ohne Weiteres annulliren, und es sind ja auch in der Töchterschule berechtigte und der Pflege werthe Elemente vorhanden, welche man nicht mit der Wurzel ausreissen sollte, selbst wenn man es könnte. Ich begnüge mich hier mit Aufstellung der Forderung, dass der Unterricht bis zum 14. Jahre nur 4 Stunden täglich, nachher nur 3 Stunden (mit Ausschluss von Rechnen und Gesang) umfassen darf, dass nur eine fremde Sprache (die französische) getrieben werden und dass für die häuslichen Arbeiten nicht mehr als eine Stunde in Anspruch genommen werden darf. Hierdurch würde die gesundheitsschädliche Ueberanspannung der Mädchengehirne beseitigt und die Möglichkeit einer zunehmenden häuslichen Nebenbeschäftigung der Schulmädchen eröffnet. Eine fakultative Ausdehnung der Schulzeit auf 11–12 Jahre mit nur 2 täglichen Unterrichtsstunden in den beiden letzten Jahren würde den jetzt so schroffen Uebergang von der Schule zur häuslichen Selbstthätigkeit allmählicher machen und der Schule erst Gelegenheit geben, Disciplinen wie Kunstgeschichte mit wirklichem Nutzen zu pflegen, die jetzt nur mehr als schöne Aushängeschilder in den Schulprogrammen prangen und bloss den Mädchen mit dem Glauben an die erlangte Bildung den Kopf verdrehen.

Sache der Mütter ist es, die Töchter sowohl in den Schuljahren mit abnehmender Schulzeit wie nach beendigter Schulzeit mit Ernst und Strenge zu geordneter und nützlicher häuslicher Thätigkeit anzuhalten, Sache der Väter, ebensowohl den heranwachsenden Töchtern wie den heranwachsenden Söhnen gegenüber die Hand auf den Beutel zu halten, damit sich beide[– 85 –] nicht frühzeitig an ein Maass von Ausgaben gewöhnen, von dem nach der Verheirathung oder nach des Vaters Tode zurückstehen zu müssen sie später als schmerzliche Entbehrung empfinden würden. Wenn jeder Familienvater seiner Pflicht eingedenk bleibt, den Etat des Hauswesens niemals blos nach den augenblicklich verfügbaren Mitteln einzurichten, sondern immer zugleich die Zukunft der Familie im Auge zu behalten, dann wird sich ganz von selbst eine Einrichtung des Hauswesens ergeben, welche sowohl die Söhne wie die Töchter für ihre künftige Aufgabe eigener Familiengründung vorbereitet.

V.
Die heutige Geselligkeit.

1. Die Geselligkeit im Hause.

Das grossstädtische Leben hat die Tendenz, seine Uhr zurückzustellen, d. h. den Morgen zu verkürzen, die Mittagszeit zu verspäten und den Abend zu verlängern. Als ich kleines Kind war, speisten noch die meisten Leute mit ihren Kindern in der mittäglichen Schulpause, also gegen 1 Uhr, während die jetzige Essenszeit zwischen 2 und 6 diejenigen Kinder, deren Schulen noch Nachmittagsunterricht haben, von der Familientafel ausschliesst. In meines Vaters Jugend begannen die Berliner Theater-Vorstellungen um 6, in meiner Jugend um 6½, jetzt um 7, einzelne erst um 7½ Uhr. Die nächtlichen Sitzungen des englischen Parlaments zeigen, bis zu welchem Punkte die naturwidrige Verkehrung der Tageszeiten fortschreiten kann.[– 86 –] Schon bei uns machen sich die unbequemen Folgen der Verspätung des Lebens sehr fühlbar in der Geselligkeit.

Naturgemäss liegt die Zeit für geselliges Zusammenkommen in den Abendstunden, welche die Erholung nach der Arbeit des Tages bilden sollen, und nur besondere Feste dürfen das Recht der Arbeit auf die Wochentage verkürzen. Die zu den Lebensgewohnheiten am besten passende abendliche Erholungszeit ist zu erkennen aus den Stunden, wo der Theaterbesuch stattfindet, daher ist es naturgemäss, dass die Geselligkeitszeit mit der Theaterzeit zusammentrifft. Letztere fällt bei uns jetzt in die Stunden von 7 bis 10; die abendliche Geselligkeit wird etwa eine Stunde mehr beanspruchen, da sie im Unterschied von der Theaterzeit die Zeit zum Abendessen in sich schliesst. Eine Zusammenkunft, die weniger als 3 Stunden dauert, füllt den Abend nicht aus; solche, die mehr als 4 in Anspruch nimmt, wirkt ermüdend und wird zur Anstrengung, anstatt Erholung zu sein. Nun war es früher angänglich, dass die Gesellschaftszeit eine Stunde später lag als die Theaterzeit, jetzt aber, wo die zum Heimweg erforderliche Durchschnittszeit mit der Grösse der Stadt wächst, würde schon ein Beginn 3½- bis 4-stündiger Gesellschaften um 8 die Nachtruhe derer empfindlich stören, welche am anderen Morgen um 8 wieder in ihrem Berufe thätig sein müssen. Da aber durch die Eitelkeit, nicht zuerst kommen zu wollen, der Anfang der Gesellschaften sich von 8 bis 9 verschoben hat, und viele erst aus dem Theater in Gesellschaft gehen, so wird sogar die Nachtruhe derer geschädigt, welche erst um 9 Uhr Morgens nöthig haben, in ihren Bureaus oder Komptoren zu erscheinen. Die Folge dieser Zustände ist, dass die heutige Gesellschaft immer allgemeiner als eine drückende Last empfunden wird, die[– 87 –] man nur trägt, weil man sich nicht ganz den geselligen Verpflichtungen entziehen kann.

In solchen Kreisen, denen es auf eine Vertheuerung der Geselligkeit nicht ankommt, hat man den Ausweg gefunden, zu der früheren Zeit der Abendgeselligkeit unserer Grosseltern (6 bis 10) zurückzukehren, indem man die Hauptmahlzeit wie die Alten auf den Abend verlegt, d. h. sich zum Mittagessen um 6 Uhr Abends einladet. Dadurch wird zunächst der Vortheil erreicht, dass die Gäste, wie sie es immer sollten, es für unhöflich halten, in der Verspätung das akademische Viertel zu überschreiten und dass die unbehagliche Unruhe des Kommens abgekürzt wird; was aber wichtiger ist, man kommt zu rechter Zeit nach Haus und ist am anderen Tage wieder frisch für die Arbeit. Aber die Nachtheile dieses Auswegs liegen auf der Hand. Entweder wird das Essen und Trinken bei stundenlanger Ausdehnung zur Hauptsache der Zusammenkunft, oder wenn, wie es neuerdings glücklicherweise Sitte geworden ist, auch das reichste Mahl schnell hintereinander aufgetragen und in einer Stunde erledigt wird, so ist man noch mehrere Stunden mit vollem Magen und eingenommenem Kopfe beisammen und geht auseinander, wenn das Stadium der ersten Verdauungsträgheit glücklich überwunden ist. Aber es ist immer eine falsche Geselligkeit, in der man sich vereinigt, um den Tafelfreuden zu huldigen, anstatt sich zu Tische zu setzen, weil bei dem Zusammensein gerade die Essenszeit herangerückt ist. Wo der Gaumen in erster Reihe berücksichtigt wird, ist es kein Wunder, wenn Geist und Gemüth in den Hintergrund treten müssen. Die hauptsächliche Zeit für gesellige Unterhaltung muss vor dem Essen liegen, nicht hinter demselben, deshalb muss die Gesellschaft nicht mit der Hauptmahlzeit des Tages beginnen, sondern mit einer leichten Nebenmahlzeit[– 88 –] schliessen. Die Hineinziehung der Hauptmahlzeit in die Gesellschaftszeit verführt allzuleicht zur Entfaltung eines überflüssigen und unerfreulichen Luxus, vor welchem die abendliche Nebenmahlzeit leichter geschützt ist, weil hier der gesunde Instinkt vor Ueberfüllung des Magens beim Beginn der Nacht warnt.

Thatsächlich hat seit der Gründerzeit der Luxus in den „Diners“ bei uns eine Ausdehnung gewonnen, welche vom kulturgeschichtlichen und socialethischen Gesichtspunkt aus nur zu bedauern ist. Die Verallgemeinerung der „Diners“ kann nur dazu führen, das gesellige Leben noch mehr, als es schon jetzt in vielen Kreisen der Fall ist, auf einzelne unvermeidliche „Abfütterungen“ zu beschränken.

Das Heilmittel gegen diesen Schaden und die aus ihm weiter zu fürchtenden Gefahren ist leicht zu sehen: man braucht nur wieder den Muth zu haben, sich zu kurzen und frühen Abendgesellschaften einzuladen und sich über Innehaltung des akademischen Viertels derart zu verständigen, dass dessen Ueberschreitung allgemein wieder als unhöflich gilt. Bringen diejenigen Gäste, welche vom späten häuslichen Mittagessen kommen, wenig Appetit mit, so ist das um so besser; denn es muss die Rückkehr vom übertriebenen Speiseluxus zu vernünftiger Frugalität erleichtern. Es ist ja ursprünglich schön empfunden, dass man, um den Gast zu ehren, der gewöhnlichen Familienmahlzeit ein übriges hinzufügt; wo aber der eingerissene Missbrauch die Geselligkeit des Mittelstandes zu zerstören droht, da ist als Reaktion gegen solche Ausschreitung der muthige Entschluss am Platz, dass man auf jede, auch auf die kleinste Zuthat verzichtet und die Gäste verschmäht, welche nicht mit der gewöhnlichen Familienmahlzeit vorlieb nehmen wollen.

[– 89 –]

2. Die Geselligkeit ausser dem Hause.

In keinem Punkte hat wohl das Leben der norddeutschen grösseren Städte in den letzten vierzig Jahren so auffallend seine Physiognomie verändert, als in der Verlegung eines grossen Theils der Geselligkeit an öffentliche Orte. In den vierziger Jahren bot zum Beispiel Berlin dem Erholung suchenden Publikum zwar im Sommer eine Anzahl primitiv eingerichteter öffentlicher Gärten, im Winter aber fast nur eigentliche Speisehäuser, Weinstuben, Conditoreien und Weissbierlokale, und für die niederen Stände „Tabagien“ und „Tanzböden.“ In den Speisehäusern entwickelte sich eine Geselligkeit fast nur gelegentlich durch eine Tischgemeinschaft, die sich ihrer Natur nach auf Junggesellen beschränkte; die Conditoreien, die als Kaffeehäuser benutzt wurden, dienten dabei zugleich als Lesekabinets und liessen deshalb geselligen Verkehr unter den Gästen nicht aufkommen; so blieben für die besseren Stände fast nur die Weinstuben und die wenigen anständigen Weissbierlokale übrig, welche von Frauen noch durchaus gemieden wurden. Der erste Umschwung in diesen Zuständen erfolgte durch die Einführung der bayerischen Bierlokale und Biergärten, der zweite durch diejenige der Wiener Kaffeehäuser; beide fanden den Boden dadurch vorbereitet, dass durch die Verdoppelung und Verdreifachung der städtischen Miethspreise die Menschen genöthigt worden waren, enger zusammengedrängt zu wohnen, also weniger Raum in der eigenen Häuslichkeit für gesellige Zwecke frei hatten und dafür Ersatz ausser dem Hause suchten. Als zweiter begünstigender Umstand aber kam hinzu, dass der Luxus in der Bewirtung von Gästen in diesem Zeitraum in einer Weise gestiegen war, welche es dem[– 90 –] Mittelstand fast unmöglich machte, häufiger Gäste bei sich zu sehen; infolge dessen beschränkte man die häusliche Geselligkeit in diesen Kreisen, wenn man nicht gleich ganz auf dieselbe verzichtete, mehr und mehr auf wenige repräsentative „Abfütterungen“ und verlegte die eigentliche, der Erholung dienende Geselligkeit an öffentliche Orte, wo jeder für sich selbst zu bezahlen hat.

So erklärlich diese Umwandlung ist, und so sehr sie mit dem demokratisch nivellierenden und durcheinander schüttelnden Zuge unsrer Zeit harmonirt, so fragt sich doch, ob sie uns dem Ideal der Geselligkeit näher geführt oder ferner gerückt hat, und ob sie den angestrebten Zweck „Gewinnung eines möglichst grossen geselligen Behagens bei möglichst geringem Kostenaufwand“ auch wirklich erreicht hat. Beides muss leider verneint werden.

Zunächst liegt die Gefahr in der öffentlichen Geselligkeit, dass sie die Geschlechter voneinander sondert und die Stellung der Frauen noch ungünstiger macht, als sie ohnehin schon ist. Der Mann hat eine scharf gegeneinander abgegrenzte Arbeitszeit und Mussezeit; die Frau, welche dem Hauswesen vorsteht und die Kinder beaufsichtigt, nicht, wenigstens ist ihre ganz freie Mussezeit sehr viel knapper bemessen. Der Mann kann täglich die Abendstunden nach vollbrachter Tagesarbeit der geselligen Erholung widmen, gleichviel wo, die Frau nur, wenn sie im Hause ab- und zugehen und nach dem Rechten sehen kann. Der Mann hat nur die Wahl, entweder seine Erholung an öffentlichen Orten allein zu suchen und die Frau zu Hause zu lassen, oder ausser der Frau noch die Kinder mitzunehmen, oder den Ausgang auf eine viel knapper bemessene Zeit zu beschränken, als ihm seine Musse gestattet. Geht er allein, so versimpelt die Frau in der Vereinsamung des[– 91 –] Hauses und in der täglichen Arbeits-Tretmühle der Wirthschaft, die Kinder lernen den Vater als nicht zur Familie gehörig betrachten, und dieser selbst entfremdet sich der Familie und dem Geschmack an den Familienfreuden. Geht er mit der Frau ohne die Kinder, so leiden diese darunter doppelt und zugleich leidet das Hauswesen dabei; geht er mit Frau und Kindern, so leidet das Hauswesen nicht weniger, so wird die ganze Familie dem Hause entrückt und entfremdet, und werden die Kinder durch die frühzeitige Einführung in die zerstreuende Unruhe des öffentlichen Lebens sittlich geschädigt.

Bei der Beschränkung der öffentlichen Geselligkeit auf die Männer pflegen die Frauen sich in einem ausschliesslich weiblichen Verkehr in Kaffeekränzchen u. s. w. eine gewisse Schadloshaltung zu suchen; aber die Männer leiden selbst auf die Dauer am meisten unter dieser Isolirung der Geschlechter, weil die Frauen, die vom geistigen Verkehr mit Männern wie im Orient und im Alterthum ausgeschlossen sind, auch unfähig werden müssen, dem Mann im Hause geistige Anregung und entgegenkommendes Verständniss zu bieten. Das andere Extrem, die Herabwürdigung des Hauses zur blossen Schlafstelle und das Herumtreiben in den Bierlokalen mit Kind und Kegel, ist freilich noch schlimmer, und die scheinbare Mittelstrasse ist thatsächlich nur der Uebergang von einem Extrem zum andern. Wie hauptsächlich in dem gegenseitigen Verkehr der Geschlechter die bildende, sittigende und veredelnde Macht der Geselligkeit liegt, so steckt in dem eigenen Heim, in dem sich Heimischfühlen im eignen Hause, die Wurzel alles Heimathgefühls und Familiensinns. Es mag bequemer sein, sich in der ausschliesslichen Geselligkeit mit dem eignen Geschlecht ungenirt gehen zu lassen, aber das intimere Behagen und die feinere Be[– 92 –]friedigung des Geselligkeitsbedürfnisses ist doch erst da zu finden, wo mit Ueberwindung dieses Trägheitsmoments die geschlechtliche Polarität der geistigen und gemütlichen Eigenschaften zur Spannung und Entladung gelangt. Erst diese Form der Geselligkeit fördert den ganzen Menschen und entfaltet alle in ihm schlummernden geselligen Anlagen zur höchsten und verfeinertsten Genussfähigkeit.

Wie steht es nun mit dem Behagen an einem öffentlichen Ort im Vergleich zu demjenigen in einem Privatraum, wenn wir gleiche Zusammensetzung der Gesellschaft annehmen? Welche Anstrengung kostet es einem zarter besaiteten Sinn, bei dem Gemisch von Speiseduft, Bierneigengeruch, Tabaksqualm und Stickluft, wie es in den meisten Lokalen herrscht, ein Behagen an der augenblicklichen Lage auch nur aufkommen zu lassen! Und noch mehr als die Nase und die Athmungsorgane ist in der Regel das Ohr beleidigt, welches die Unterhaltung der Tischgenossen trotz allen Summens vom Gespräch der Nachbartische, trotz Kellnergetrappel und Tellergeklapper auffangen soll. Welche Luft herrscht in den unterirdischen Lokalen einer Grossstadt, welcher Lärm in den modernen Prachtsälen für zahllose Gäste! Sondert man sich mit seinen Freunden in ein eigenes Zimmer ab, so sitzt man in der Regel noch enger eingepfercht, als in der eignen Wohnung und dabei doch auch ungemüthlicher; benutzt man dagegen mit vielen andern Gesellschaften einen gemeinsamen Raum, so zerstört das ohrenbeleidigende Geräusch jede mögliche Illusion traulicher Abgegrenztheit und Geschlossenheit der eignen Gruppe.

Aber auch die Verbilligung der Geselligkeit durch Verlegung derselben an öffentliche Orte ist eine Täuschung. Wenn der Mann allein ausgeht und die Frau jede Geselligkeit entbehren lässt, so mag er allenfalls[– 93 –] etwas billiger fortkommen, als wenn er mit der Frau gemeinsam häusliche Geselligkeit pflegte, obwohl auch das noch zweifelhaft ist; die etwaige Ersparniss ist dann aber ganz allein durch die Entbehrungen der Frau erzielt. Wo Mann und Frau zusammen ausgehen, werden sie allemal bei der Jahresabrechnung herausfinden, dass sie erheblich mehr bezahlt haben, als wenn sie dieselben Speisen und Getränke zu Hause verzehrt oder mit andern Familien ausgetauscht hätten, und dass sie für die gehabte Mehrausgabe sich zu Hause eine erhöhte Ausgabe für Wohnungsmiethe und Bedienung hätten gestatten können.

Da man im Durchschnitt nicht annehmen kann, dass diese Thatsache sich der Kenntniss der Menschen entzieht, so wäre es räthselhaft, dass sie trotzdem aus dem Behagen des eignen Hauses in frostige Prachträume oder kahle Spelunken flüchten, wenn nicht die eigentliche Lösung des Rätsels in dem Umstand zu suchen wäre, dass ihre Eitelkeit sie hindert, ihren Gästen dasselbe vorzusetzen, womit jeder am öffentlichen Orte vorlieb nimmt. Wo jeder Gast für sich selbst Speisen und Getränke auswählt und bestellt, übernimmt er auch die Verantwortung dafür, sich mit der vorgefundenen Beschaffenheit und Güte derselben begnügen zu wollen; wo der Wirth den Gästen die Speisen auftischt, trägt er die Verantwortung, dass sie allen genügen werden. Die eitle Prahlerei, sich gegenseitig überbieten zu wollen, die Narrheit des Speiseluxus ist es also in letzter Instanz, was die häusliche Geselligkeit des Mittelstandes zu Gunsten einer öffentlichen aufopfert, und die Feigheit jedes einzelnen zur Umkehr, die mutlose Scheu, als erster auf den Weg der Vernunft zurückzukehren, sie sind es, welche diese unbehaglichen und bedenklichen Missstände aufrecht erhalten und immer wieder befestigen und steigern. Man wage doch nur, seinen[– 94 –] Gästen dasselbe zu bieten, was sie am öffentlichen Ort vom Kellner fordern, und alle Gefahren der ungesunden öffentlichen Geselligkeit sind mit einem Schlage beseitigt. Es brauchen sich zur Anbahnung der Umkehr nur ein paar befreundete Familien über diesen Grundsatz zu einigen, und der Anfang ist gemacht; sie mögen aber auch ja nicht vergessen, namhafte Konventionalstrafen zu vereinbaren für jede Hausfrau, welche dem Kitzel des Ueberbietens in der Bewirthung nicht sollte widerstehen können, denn sonst ist mit Sicherheit darauf zu rechnen, dass binnen Jahr und Tag jede solche Vereinigung sich auflöst und ihre Mitglieder reuig in die verlassene Kneipe zurückkehren.

Die öffentliche Geselligkeit ist um so behaglicher, je geschlossener sie ist und je mehr sie sich der familiären Geselligkeit im eigenen Hause annähert. Am meisten ist dies im Club der Fall, der dem Junggesellen, wenigstens so lange er gesund und rüstig ist, in hohem Maasse Ersatz für die mangelnde Häuslichkeit und Familiengeselligkeit gewähren kann. Aber auch dem Club haftet doch trotz allem Comfort der sociale Nachtheil der Geschlechtertrennung an, und desshalb kann die Clubgeselligkeit, wenn sie sich in die Zeit der Verheirathung der Männer überträgt, oder wenn sie gar dieselben von der Verheirathung abhält, durchaus nicht als ein geselliges Ideal betrachtet werden. Für verheirathete Männer konnten die Clubs nur in einem Lande und unter einem Volksstamm zu höherer Blüthe gelangen, in welchem die Familien als solche, und namentlich deren weibliche Mitglieder, keinen rechten Sinn und kein ausgesprochenes Talent für unbefangene heitere Geselligkeit haben, und desshalb ganz zufrieden damit sind, sich in den Burgfrieden des behaglich eingerichteten eigenen Hauses zurückziehen zu dürfen.

[– 95 –]

Insoweit die Zunahme der öffentlichen Geselligkeit aus der wachsenden Wohnungsnoth der Städte entspringt, ist sie natürlich nur in dem Maasse rückgängig zu machen, als die Wohnungsfrage gelöst oder doch in normalere Bahnen zurückgelenkt wird. Dies gilt namentlich für die niederen Stände, denen man unmöglich zumuthen kann, in ihrer Wohnung ihre gesellige Erholung zu suchen, so lange dieselbe nur aus Schlafstuben und Küche besteht; es gilt aber auch für alle Stände im Sommer, so lange die Stadtwohnungen keinen Garten haben, in welchem sich die Familie mit ihren Abend-Gästen behaglich der frischen Luft erfreuen kann. Sobald die Arbeiter-Wohnungsfrage in dem Sinne gelöst sein wird, dass der Arbeiterfamilie wieder eine Wohnstube zur Verfügung steht, wird auch die Aushäusigkeit in Arbeiterkreisen wieder abnehmen, und diese Lösung zu finden ist ein Haupterforderniss für unsere Zeit. Sobald die gartenlosen Stadtviertel nur dem geschäftlichen Treiben des Tages dienen, und jede Familie sich wieder der Gartenbenutzung als Zubehör ihrer Wohnung erfreut, wird auch das Bedürfniss der Geselligkeit in öffentlichen Biergärten wieder in Wegfall kommen. Für den Stand der Junggesellen werden natürlich immer öffentliche Lokale für abendliche Geselligkeit ein gewisses Bedürfniss bleiben, ebenso gut wie Speisehäuser für den Mittagstisch; aber auch dieses Bedürfniss wird sich verringern, je mehr die Junggesellen wieder zu einer naturgemässen früheren Verheirathung schreiten, und je mehr die jüngeren unter ihnen wieder Anschluss an die ihnen jetzt fast verloren gegangene Familiengeselligkeit suchen.

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VI.
Die Wohnungsfrage.

Die alte Regel des Lord Chesterfield: „Kleide dich nach deinem Stande, speise unter deinem Stande, wohne über deinem Stande!“ hat auch heut noch ihren guten Sinn. Die Einfachheit und Bedürfnisslosigkeit wird in der Ernährung zu einem hygieinischen und volkswirthschaftlichen Gewinn, in der Wohnungsweise zu einer hygieinischen und socialethischen Gefahr. Kaum etwas andres unter den Aeusserlichkeiten der Lebensgewohnheiten eines Volkes oder Standes ist von so tiefgreifender Rückwirkung auf seine sittlichen Anschauungen und Gewöhnungen wie die Art seines Wohnens, die Dichtigkeit der Zusammendrängung, die Vertheilung der Wohn-, Schlaf- und Kochräume. Ein grosser Theil der Kulturgeschichte der Menschheit liesse sich am Leitfaden der Wohnungsweise und ihrer Veränderungen entwickeln. Der Einfluss der Wohnung wird um so wichtiger, je mehr die Menschen durch Klima, Verhältnisse und sonstige Lebensgewohnheiten auf das Innere der Wohnungen angewiesen sind; er ist also z. B. um so grösser, je weniger das Klima ein Leben im Freien gestattet und je weniger die Berufsarbeit im Freien auszuführen ist. Die Alten konnten in fensterlosen Alkoven schlafen, weil sie am Tage meist auf dem Hofe oder auf dem Markte lebten; der Landmann kann sich ohne Schaden für seine Gesundheit den Sonntagnachmittag in ein ewig ungelüftetes Zimmer setzen, weil er die ganze Woche ohnehin im Freien zu arbeiten hat.

Das ganze Gewicht der Wohnungsfrage tritt erst bei dem Städter des nördlichen Europas hervor, der[– 97 –] durch seine Berufsarbeit, wenn nicht an die Wohnräume selbst, so doch an ihnen ähnliche Büreaus, Gerichtsstuben, Klassenzimmer, Komptore, Werkstätten oder Fabrikräume gefesselt ist, und der selbst seine politische Thätigkeit in verräucherten Bierlokalen ausübt. Hier hängt die Erhaltung der Gesundheit und körperlichen Tüchtigkeit wesentlich von der Gesundheitsgemässheit der Wohnung ab. Am wichtigsten sind die Schlafräume, weil man in ihnen die längste Zeit hintereinander verweilt; in zweiter Reihe kommen die Wohn- oder Wirthschaftsräume, erstere besonders für den Mann, letztere vornehmlich für die Frau, beide für die Kinder. Schon viel unwichtiger ist das Speisezimmer der Familie, falls ein besondrer Raum für diesen Zweck vorbehalten ist, weil man in ihm doch nur verhältnissmässig kurze Zeit verweilt; am gleichgültigsten sind die etwaigen Gesellschaftszimmer, Repräsentationsräume und Prunkgemächer, weil sie nur ausnahmsweise benutzt werden.

Der Grundsatz, dass man die besten, gesündesten und luftigsten Zimmer zu Schlafstuben wählen müsse, wird immerfort gepredigt, aber es wird immerfort dagegen verstossen, und die moderne städtische Bauart, welche ansehnliche Wohnräume an die Strasse, aber vogelbauerartige Schlafstuben an die schornsteinengen Höfe verlegt, ist ebenso sehr ein Hohn auf diesen Grundsatz, wie die jetzige Mode, alle Gebrauchsmöbel in die ohnehin schon zu engen Schlafzimmer hineinzustopfen und die Wohnzimmer bloss mit Prunkmöbeln, Kunstwerken und kunstgewerblichen Schaustücken auszustatten. Man hat lange genug über die „gute Stube“ der früheren Generationen gespottet, und scheint darüber gar nicht bemerkt zu haben, dass die neueste Modenarrheit „stilvoller“ Einrichtungen uns dahin gebracht hat, statt einer „guten Stube“ lauter „gute[– 98 –] Stuben“ ausser dem Schlafzimmer zu haben. Man vergisst dabei, dass das rechte Grundgesetz aller Schönheit die sinnlich einleuchtende Angemessenheit an den praktischen Gebrauchszweck ist, und dass keine ornamentale Zuthat einen Verstoss gegen dieses architektonische Grundgesetz des Kunstgewerbes wieder gut zu machen vermag.

Was wir jetzt „Stil“ in unsrer Wohnungsausstattung nennen, ist nur die künstlerische Verschrobenheit und Eitelkeits-Narrheit unsrer Sitten, der stilisirte Widerspruch zwischen dem, was wir vorstellen wollen, und dem, was wir sind. Ein wirklicher Stil kann sich erst dann entwickeln, wenn wir Hoffarth und Lüge aus unsrer Repräsentation verbannen und die Vernunft der Sache selbst zu Worte kommen lassen. Nur auf dem Grunde der Wahrheit und Zweckmässigkeit des Wesens kann die Schönheit der Erscheinung erblühen, andernfalls bleibt sie eine aufgetragene Schminke, welche für jedes feinere ästhetische Gefühl das übertünchte Unwesen nur um so widerlicher macht. So gewiss einem Gast die fünf Gänge eines Soupers im Halse stecken bleiben müssen, wenn er daran denkt, dass die Familie sich durch viele fleischlose Kartoffelmahlzeiten die Mittel zu dieser Gasterei abdarben muss, so gewiss müssen ihn die „stilvollen“ zwei oder drei Vorderstuben anekeln, wenn er daran denkt, dass alle wirklichen Gebrauchsmöbel in der Familie mit den unglücklichen Kindern in zwei oder drei Löcher von luft- und lichtlosen Schlafkammern zusammengepfercht sind, in denen nach Verabschiedung der Gäste auch die Eltern noch Unterschlupf suchen, während die Dienstboten in mehr oder minder unmöglichen Schlafgelegenheiten sich zur Arbeit des folgenden Tages stärken.

So lange die Fensteröffnungen der Wohn- und Schlafräume durch keine Glasscheiben verschlossen[– 99 –] waren, oder so lange der einfache Glasfensterverschluss undicht genug war, um eine ausreichende unbeabsichtigte Ventilation zu gestatten, konnten auch enge und mehrfach besetzte Schlafzimmer den hygienischen Ansprüchen genügen. Gegenwärtig, wo auch die Schlafzimmer meistens mit gutschliessenden Doppelfenstern versehen werden, sollte durch baupolizeiliche Vorschrift dafür Sorge getragen werden, dass überall hohe Ventilationsspalten neben den Fenstern angebracht werden, welche mit Watte verstopft werden, um das Eindringen schädlicher Keime abzuhalten. Eine solche Vorkehrung scheint mir vor dem Schlafen bei offnen Fenstern den Vorzug zu verdienen, insbesondere in Malariagegenden und für Personen mit rheumatischen und katarrhalischen Dispositionen, ganz abgesehen davon, dass in Parterrewohnungen das Schlafen bei offnen Fenstern aus Sicherheitsgründen unthunlich und selbst eine Treppe hoch nicht unbedenklich ist. Die von ärztlicher Seite mehr und mehr empfohlene und im Publikum mehr und mehr in Aufnahme kommende Sitte des Schlafens bei offenem Fenster weist deutlich genug auf die Richtung hin, in welcher eine Abhilfe zu suchen ist; der Ventilationsspalt mit Watteverschluss leistet indessen dasselbe ohne die mit dem ersteren verbundenen Gefahren.

Sehr wünschenswerth und heilsam wäre es, wenn jede Wohnung Gelegenheit böte, bei jedem Wetter ohne Erkältungsgefahr täglich mehrere Stunden frische Luft geniessen zu können, auch ohne die Wohnung verlassen zu müssen. Dies ist erreichbar, wenn zu jeder Wohnung ein Ostbalkon und ein Westbalkon gehört, welche ringsherum geschlossene Brüstung, hölzernen Fussboden, gläserne Seitenwände und ein leinenes Zeltdach über sich tragen. Auch der für Erkältungen empfindlichste Mensch kann bei jeder Witterung auf dem jeweilig windgeschützten dieser Balkone[– 100 –] mehrere Stunden hintereinander verweilen und seine gewohnten Beschäftigungen treiben, wofern er sich nur so kleidet, wie wenn die Lufttemperatur um 10 Grad niedriger wäre als sie ist, die Beine fest in Decken einwickelt und die Hände durch waschlederne Handschuhe schützt. Ein solcher Aufenthalt im Freien kann natürlich die Spaziergänge in frischer Luft nicht überflüssig machen, wohl aber mit denselben zusammen die Luftkurorte und Winterkurorte ersetzen, ohne dass er die Menschen aus ihrem gewohnten Kreise und ihrer Beschäftigung herausreisst.

Den prophylaktischen Werth einer theilweisen Verlegung unseres stubenhockerischen Lebens auf die Balkone halte ich für unberechenbar und glaube sicher, dass das nächste Jahrhundert in dieser Hinsicht einen grossen Umschwung in unsren Lebensgewohnheiten herbeiführen wird, welcher uns dem erfrischenden Leben im Freien, wie die Alten es führten, wieder um so viel näher bringen wird, wie unsre klimatischen Verhältnisse es gestatten.

Gegenwärtig sind wir noch auf dem Punkte, dass die Menschen sich bequemen, alles zu thun, um ihre zerstörte Gesundheit wieder herzustellen, aber gar nichts, um die bedrohte sich zu erhalten. In den Heilanstalten und Kurorten machen sie eine Art von Sport daraus, die journée médicale, d. h. die tägliche Aufenthaltsdauer in frischer Luft auf 9 bis 11 Stunden auszudehnen, aber zu Hause denken sie mit einem täglichen, einstündigen Spaziergange Wunder wieviel für ihre Gesundheit gethan zu haben.

Durch die Balkone wird der Garten als Zubehör der Wohnung keineswegs überflüssig; während der Werth der Balkone besonders im Winter und bei ungünstiger Witterung hervortritt, wird der Garten im Sommer und bei schönem Wetter zur doppelten Wohlthat. Der Balkon bietet frische Luft, aber der Garten soll ausserdem[– 101 –] freie Natur bieten, oder wenigstens einen Ersatz für dieselbe, wie blauer Himmel, grüner Rasen mit blühenden Blumen und schattige Bäume ihn zu gewähren im Stande sind. Der Balkon ist wesentlich nur für Erwachsene geeignet, der Garten ist der Tummelplatz der Kinder und als solcher die nothwendige scenische Vervollständigung zum Kindheitsparadies. Erst der Besitz des Gartens macht die Familiengeselligkeit im eigenen Hause auch im heissen Sommer möglich, wenn die Gäste nach der Hitze und dem Staub des Tages Erquickung in der Abend- und Nachtluft suchen. Dazu gehört nun freilich, dass der Garten auch wirklich ein Garten ist, nicht ein stubengrosser Fleck mit verkümmerten Gewächsen, auf den niemals die Sonne scheint, und von dem aus man erst bei starkem Hintenüberlegen des Kopfes eines Stückchens Himmel ansichtig wird. Wie unglaublich die Genügsamkeit der Grossstädter in dieser Hinsicht ist, sieht man am besten, wenn man an einem heissen Sommerabend die Biergärten der inneren Stadttheile durchwandert; von frischer Luft kann in der Mehrzahl dieser zwischen Häuserkolossen schachtartig eingezwängten „Gärten“ keine Rede mehr sein, und es ist nur die Auffrischung der Abendtemperatur, der Kontrast mit der noch schlimmeren Luft der Wohn- und Arbeitsräume und die nächtliche Verschleierung der Umgebung, was diese „Erholungsorte“ erträglich erscheinen lässt. Da nun thatsächlich in allen grösseren Städten die Gärten mehr und mehr verschwinden oder bis zur Selbstironisirung einschrumpfen, so scheint es nicht leicht, die gestellte Forderung zu verwirklichen.

Von besonderer socialethischer und hygieinischer Wichtigkeit ist ferner der Unterschied, ob jede Familie ihr eignes Haus bewohnt, oder ob sie mit vielen anderen Familien das Haus theilt. Nur das eigne Haus[– 102 –] lässt ein wahres und volles Heimathsgefühl, die echte Poesie des „Vaterhauses“ in dem aufwachsenden, jungen Geschlecht entstehen; die Miethwohnung mag vom Nützlichkeitsstandpunkte aus betrachtet praktischer sein, insofern ihr Wechsel sich den zu- und abnehmenden Bedürfnissen der Familie leichter anpasst, aber der sittigende und festigende Einfluss auf Gemüth und Charakter, den der eigne Besitz gewährt, fehlt ihr. Dies gilt schon dann, wenn die Miethwohnung selbst ein ganzes Haus umfasst; noch andere Schädlichkeiten treten hinzu, wenn sie nur eine unter den vielen Wohnungen einer Miethskaserne oder eines Miethspalastes ist. Ausser den Differenzen zwischen Miethern und Wirth entwickeln sich dann eine Menge Streitereien zwischen den verschiedenen Miethern theils infolge der Nöthigung, sich um die gemeinsame Benutzung der gemeinsamen Hauseinrichtungen zu vertragen, theils durch den Klatsch der Dienstboten; beide verderben den Charakter durch Gewöhnung an Streitsucht und Kleinlichkeit und vergiften das nachbarliche Verhältniss.

Man begreift, warum man im alten Tyrus neun- bis zehnstöckige Häuser baute; die enge Insel liess ein andres Wachsthum der Stadt, als in die Höhe eben nicht zu, und ähnliche Verhältnisse kehren in neuerer Zeit in Festungen wieder. Man begreift auch wohl, dass vor Entwickelung der Pferdebahnen und Hochbahnen grosse Städte die Neigung haben mussten, in die Höhe zu wachsen und das Hinterland der Strassenhäuser baulich auszunutzen, weil eben die Verkehrsmittel zur Ueberwindung grösserer Strecken fehlten. Aber gegenwärtig, wo diese Verkehrsmittel theils schon vorhanden sind, theils ihre Brauchbarkeit zur Genüge erprobt haben und der weiteren Verwirklichung entgegensehen, ist es unbegreiflich, dass die Städte nicht ausschliesslich in die Breite wachsen. Statistisch ist es[– 103 –] erwiesen, dass nicht die Kellerwohnungen am ungesundesten sind, sondern die im vierten Stock gelegenen, trotzdem dass Licht und Luft zu ihnen besseren Zutritt hat; der Grund liegt theils in der Schädlichkeit des Treppensteigens für vielerlei Konstitutionen und Zustände, theils in der Lufterneuerung der Wohnräume von unten her, welche reichlich ein Drittel der Gesammtventilation beträgt und den Bewohnern der obersten Stockwerke gleichsam Stichproben von sämmtlichen Miasmen der vier bis fünf unter ihnen wohnenden Familien zuführt. Jede Erhöhung um ein neues Stockwerk macht eben auch rückwärts alle unteren Stockwerke ungesunder, indem sie eben so gut wie ein Verbauen der Höfe den Luft- und Lichtzutritt zu den Fenstern derselben beschränkt. Das Verbauen der Höfe in Verbindung mit der Engigkeit der Strassen macht es schon jetzt in den meisten Stadttheilen unmöglich, an jeder Wohnung einen, geschweige denn zwei Balkone anzubringen, und ebenso ist es der Grund für das Einschrumpfen und Aussterben der Gärten.

Die ärgsten Sünden in dieser Hinsicht sind in Berlin erst in den letzten beiden Jahrzehnten begangen worden, und zwar lediglich desshalb, weil die massgebenden Behörden nicht mit einer zweckmässigen und doch nicht unbilligen Bauordnung zu Stande kommen konnten; sie konnten aber bloss darum nicht mit ihr zu Stande kommen, weil sie sich nicht entschliessen konnten, die Einförmigkeit der Vorschriften aufzugeben und der völligen Verschiedenheit der Situation bei Umbauten in der Innenstadt, bei Neubauten an der Peripherie und bei Neubauten in der weiteren Umgebung Rechnung zu tragen. Auch die neue Berliner Bauordnung von 1887 trägt der Verschiedenheit der inneren und äusseren, der fertigen und der erst anzulegenden Stadttheile in ganz unzulänglicher Weise Rechnung,[– 104 –] und fordert auf der einen Seite zu viel, auf der anderen zu wenig. Was bis jetzt gebaut ist, das ist nun einmal verpfuscht; man kann es durch Zwangsverfügungen nicht ungeschehen machen, ohne schreiende Unbilligkeit gegen die Besitzer auch nicht im Falle von Umbauten; aber man kann die Zukunft davor retten, in den jetzt noch unbebauten Stadttheilen in denselben Fehler zu verfallen. Man braucht nur auf dem Bebauungsplan eine Eintheilung in verschiedene Zonen vorzunehmen, in deren ersten höchstens dreistöckig, in deren zweiten höchstens zweistöckig, und in deren dritten nur im Villenstil gebaut werden darf. Um dies einheitlich durchzuführen, dazu wäre allerdings die Zusammenlegung Berlins mit seinen Vororten zu einer „Provinz Berlin“ unter einheitlicher Baupolizei-Verwaltung erforderlich, von der schon wiederholentlich die Rede gewesen ist, und welche sich auf die Dauer doch als eine unausweichliche Nothwendigkeit aufdrängen wird.

Sobald eine solche Abänderung der bestehenden Bauordnung erlassen wäre, würde das Publikum mehr als jetzt das Wohnen in entfernteren Villenkolonien bevorzugen, welche allein die Verwirklichung aller oben gestellten Forderungen zu bieten im Stande sind.

Nur in den Vororten hat der Boden noch einen so mässigen Preis, dass Häuser für eine Familie mit Balkonen und Gärten und mit einer ausreichenden Zahl durchweg luftiger und heller Zimmer möglich sind. Man kann ohne Furcht vor Uebertreibung sagen, dass in den Zimmern eines Vororts gesündere Luft geatmet wird, als auf den meisten Höfen einer Grossstadt, über welcher stets, auch bei ganz klarem Himmel, eine von weither sichtbar schwere Dunst- und Rauchmasse lagert. Am auffallendsten ist der Unterschied der Luft im Hochsommer, wo jeder, der es kann, die Grossstadt verlässt, während der Vorortbewohner diese Reisekosten spart.

[– 105 –]

Die jetzige Kasernenstadt würde dann mehr und mehr zur blossen Geschäftsstadt, in welcher die Berufsarbeiten des Tages sich vollziehen, während man Nachmittags oder Abends in die gesunde Aussenwohnung zurückkehrt. Allerdings gehört, um dem Publikum das Draussenwohnen mundrecht zu machen, auch das noch dazu, dass das Pferdebahnen-, Hochbahnen-, und Aussenbahnen-Netz bedeutend vergrössert und vervollständigt wird, dass die Abonnementspreise noch viel billiger werden, und dass nicht, wie jetzt, seltene grössere Züge, sondern fortwährend kleine abgelassen werden.

Dann aber ist allerdings zu hoffen, dass sich im Verlaufe einer Generation alle Grossstädter an das Draussenwohnen und seine Vorteile für Leib und Seele der Familien so sehr gewöhnen werden, dass die Nachfrage nach eigentlichen Wohnungen in der Stadt und mit ihr der unnatürlich in die Höhe geschraubte Bodenwerth beträchtlich sinkt, so dass es bei den Umbauten der Zukunft wieder ganz von selbst praktischer werden dürfte, den Raum weniger sparsam auszunutzen.

Sollten indess diese Massregeln sich als nicht ausreichend erweisen, dann, aber auch dann erst dürfte und müsste man dem Gedanken einer Expropriation des ganzen städtischen Grundbesitzes durch die Kommune näher treten, um das Grundübel der Wohnungsfrage, die stetige Steigerung des freihändig verkauften Bodenwerths, an der Wurzel zu fassen und wenigstens für spätere Generationen nach erfolgter Amortisation der Kaufsummen erträglichere Verhältnisse anzubahnen.

[– 106 –]

VII.
Moderne Unsitten.

1. Der Blumenluxus.

Der Strauss, den ich gepflücket,
Grüsse Dich viel tausend Mal!
Ich habe mich oft gebücket
Ach, wohl ein tausend Mal,
Und ihn an’s Herz gedrücket
Viel hundert tausend Mal.
Goethe.

Das Ausschmücken einer Person mit Blumen und das Schenken von Blumen, sei es zum Schmuck der Person oder ihrer Umgebung, ist wesentlich eine symbolische Handlung. Wer sich selbst mit Blumen schmückt, bekundet damit seine gehobene, festliche, lebensfrohe Stimmung, seinen Wunsch, sich im vortheilhaftesten Lichte zu zeigen und anderen zu gefallen; wer einem andern Blumen schenkt, drückt damit symbolisch den Wunsch aus, selber so der beschenkten Person zu huldigen und zur Verschönerung ihres Lebensweges dienen zu wollen, wie die ihr zugeeigneten Kinder der Flur es thun. Am deutlichsten ist diese Symbolik in dem „Blumen auf den Weg streuen“, wo sie besagt, dass, soviel an dem Geber liegt, die beschenkte Person einen Blumenpfad wandeln und mit ihren Füssen nur auf Blumen (nicht auf Dornen, Staub und Steine) treten solle; aber auch das Verzieren der Pforten der Stadt oder des Hauses, oder das Ausschmücken der Wohnräume mit Blumen hat wesentlich denselben Sinn. Schmückt man eine theure Person mit Blumen, so bezeugt man damit zugleich, dass man dieselbe im besten Lichte und in gefälligster Darstellung zu sehen wünscht; hat man die Blumen selbst in Wald und Feld gesucht und gepflückt, so zeigt dies zugleich, dass man keine Mühe scheut, die Theure zu zieren.

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Im Ganzen ist jede Symbolik um so ausdrucksvoller, je einfacher sie ist; die Vervielfachung des Symbols rückt den Eindruck seiner realen Beschaffenheit in den Vordergrund und drängt damit eben so sehr seinen tieferen Sinn zurück. Deshalb sagt gewöhnlich eine Blume mehr als ein ganzer Strauss, ein kleiner Strauss mehr als ein grosser, ein einzelner Strauss mehr als ein Dutzend oder ein ganzer Wagen voll Blumen. Nur wo die Mühe des Suchens und Pflückens und der etwa in die Zusammenstellung hineingelegte geheime Sinn als Huldigung in den Vordergrund tritt, nur da kann ein Strauss mehr gelten als eine Blume, aber selbst in diesem Falle hat die Wirksamkeit der Multiplikation ihre engen Grenzen. Jede kunstmässige Behandlung des Arrangements lenkt die Aufmerksamkeit von der Symbolik der Gabe auf ihren ästhetischen Werth ab und verringert damit deren innere Bedeutung; schon die im Garten gezogenen Blumen, mit Ausnahme einiger Arten, bei denen man die Entstehung durch künstliche Zuchtwahl fast schon vergessen hat, sprechen weniger zum Herzen als die ursprünglichen Kinder der Natur, welche gleichsam die spontane Huldigung von Hain und Flur darstellen. Sie sind schon darum einzig in ihrer Art, weil sie ein Geschenk ohne jeden Geldwerth darstellen, was man an den Blumen des Gartens, gleichviel ob sie aus dem eigenen Garten gepflückt oder dem eines Kunstgärtners entnommen sind, schon nicht mehr sagen kann. Eine Huldigung ist aber um so zarter, der symbolische Werth des Geschenks um so reiner, je weniger demselben irgend ein in Geld ausdrückbarer materieller Werth zukommt. Es ist nicht bloss die Sitte, welche die Annahme von materiell werthvollen Geschenken verbietet, sondern auch das Zartgefühl, weil jede Leistung eine entsprechende Gegenleistung bedingt. In der materiell werthlosen Blumengabe[– 108 –] ist der Begriff des Geschenkes vollkommen vergeistigt und bloss das pretium affectionis übrig geblieben, welches der Stärke des Huldigungswunsches und der aufgewandten Mühe proportional ist.

Wenn man in einer Stadt lebt, wo es unmöglich ist, Blumen anders als im Wege des Kaufs zu erlangen, so ist der poetische Duft des Blumenschenkens und der auf dem Selberpflücken und der materiellen Werthlosigkeit beruhende Affektionswerth unwiederbringlich verloren. Aber es wäre Pedanterie, darum das Schenken gekaufter Blumen ganz verbieten zu wollen, da die Symbolik der Huldigung noch bestehen bleibt. Immerhin muss man dessen eingedenk bleiben, dass gekaufte Blumen doch nur ein klägliches Surrogat selbstgepflückter sind, und dass man mit dem Schenken gekaufter Blumen weit vorsichtiger und sparsamer sein muss als mit demjenigen selbstgepflückter. Auch hier nimmt der symbolische Werth der Gabe in dem Maasse ab, als der selbstständige materielle oder der ästhetische Werth derselben zunimmt; auch hier ist die Gabe um so ausdrucksvoller, je anspruchsloser, kunstloser, natürlicher und schlichter sie erscheint, je mehr sie dem selbstgepflückten Strausse wilder Blumen ähnelt. Die Multiplikation verringert hier den Werth nicht nur an sich, sondern auch durch Steigerung des Geldwerthes, während die Entschuldigung der vermehrten Mühe fehlt. Das gekaufte Blumengeschenk erfüllt nur dann seinen Zweck, wenn der dafür gezahlte Preis so gering ist, dass er für die Verhältnisse sowohl des Gebers als auch des Beschenkten gar nicht in Betracht kommt, also füglich der materiellen Werthlosigkeit der selbstgepflückten Blumen gleichgeachtet werden kann. Ein selbstständiger, ästhetischer, kunstgewerblicher Werth eines Blumenarrangements zerstört den symbolischen Werth nicht nur durch Steigerung des materiellen Wer[– 109 –]thes, sondern auch abgesehen von dieser schon dadurch, dass er das Geschenk aus der Sphäre der Natur in diejenige der Kunst entrückt, also mit Kunstwerken und Kunstindustriewerken auf eine Stufe stellt. So wenig man gegen das Beschenken mit Vasen, Nippsachen u. dgl. etwas einwenden kann, wenn die Personen in einem Verhältniss zu einander stehen, in welchem die Sitte das Schenken gestattet, ebensowenig gegen das Beschenken mit kunstvoll arrangierten Blumenkörben, Füllhörnern u. s. w.; aber es müssen dann eben auch Personen sein, die sich ebensogut Vasen u. dgl. schenken dürften, und die Immunität des relativ werthlosen Blumenschenkens muss für solche Objekte auch dann ausgeschlossen bleiben, wenn der Geldwerth für den Reichthum der Geber und der Beschenkten nicht in’s Gewicht fällt.

Diese Grenze ist leider in neuerer Zeit nicht mehr inne gehalten; man hat die Freiheit des Blumenschenkens gemissbraucht, um sie auf Geschenke von selbstständigem kunstindustriellen Werthe auszudehnen, und das von den wohlhabendsten Gesellschaftsschichten gegebene üble Beispiel hat auch die mittleren Kreise zu einem Blumenluxus verführt, der ausser aller Proportion zu ihren Verhältnissen steht. Wenn ein Fürst oder die Herrin eines gastfreien Hauses zu ihrem Geburtstage mehrere Zimmer mit kostbaren Blumengeschenken gefüllt bekommt, wenn eine Primadonna einen Möbelwagen braucht, um die mit Blumen überschüttete Bühne abzuräumen, oder wenn die Saisonlöwin in einem Modebade bei der Abreise mit ihren Kindern im ersten Wagen fährt und die erhaltenen Blumen von ihrem Dienstpersonal in den nachfolgenden Wagen transportiren lässt, so sind das Ausschreitungen des Blumenluxus, die sich selber richten. Es kommt aber darauf an, sich darüber klar zu werden, dass die Sitten, aus[– 110 –] denen diese Ausschreitungen hervorgehen, selbst schon im Princip Unsitten sind, an welche es nachgerade Zeit wird, die bessernde Hand anzulegen.

Niemand soll einem andern in einem Augenblicke Blumen schenken, wo er sicher ist, denselben mit dem Geschenke zu belästigen, und ihn vor die Wahl stellt, entweder sich des Geschenks baldmöglichst zu entledigen, oder mit dessen Bewahrung zu plagen. Wer seinen Badebekannten Blumen schenken will, mag es während ihres Aufenthaltes thun, aber nicht bei der Abreise; wer einer Primadonna seine Huldigung erweisen will, mag ihr Blumen in’s Haus senden, aber nicht vor die Füsse oder gar in’s Gesicht schleudern. Wer ein Gefühl für die Werthsverringerung durch Multiplikation hat, wird sich instinktiv scheuen, seine Gabe zu einem Zeitpunkt darzubringen, wo sie durch das Zusammentreffen mit vielen anderen jeden Werth verliert, und einen passenderen Zeitpunkt wählen. Wer aber keine Wahl im Zeitpunkte frei hat, wird dann seinen Takt wenigstens dadurch beweisen, dass er sich auf eine einzelne oder ganz wenige Blumen beschränkt, da die Multiplikation ohnehin schon durch die Vielheit der Geber entsteht. Vor allen Dingen aber ist dem Grundsatz wieder Geltung zu verschaffen, dass werthvolle oder gar kostbare Blumengeschenke unstatthaft sind unter Personen, denen die Sitte die Annahme anderer Geschenke von einander verbietet. Die Poesie der Blumengabe wird durch nichts mehr entwürdigt, als wenn das gegenseitige Ueberbieten der Geber in der Kostbarkeit der Geschenke zum Tummelplatz für Motive der Eitelkeit und der spekulativen Gewinnsucht gemacht wird.

So lange der selbstgepflückte Strauss von Feldblumen nur Ausdrucksmittel ist für die beredte Sprache des Herzens, müssen jene feineren Bedenken schweigen,[– 111 –] welche sofort in ihr Recht treten, wo die Kunstindustrie sich der Blumengaben bemächtigt. Nichts predigt so laut die Vergänglichkeit des Schönen als die von ihrem Stamm und ihrer Wurzel getrennte Blume. Sie ist ein zum Tode verwundeter Organismus, dessen Farben nur noch nicht beschädigt sind, — ein noch lebendes und lächelndes Haupt, das von seinem Rumpfe getrennt ist. Der heute so prächtig prangende Strauss ist morgen ein verwelkter, verwesender Leichenhaufen, und unter dem Schein des Lebens, an dem das Auge sich freuen soll, fühlt das Herz den Todeskampf der Zellen und Organe hindurch. Wenn ich am Morgen die über Nacht erblühte Rose am Stock im Garten betrachte, und mir sagen muss, dass vielleicht schon am selben Abend ihr Blumenleben seinen Gipfel überschritten hat und seinem Verfall zuneigt, dann ist es ein natürlicher Process des Werdens und Vergehens, der in diesem Einzelfall mir anschaulich vor die Seele tritt; wenn ich aber die Rose im Wasserglas oder auf den Draht eines „Bouquets“ geflochten sehe, so kann ich mich des widerwärtigen Gedankens nicht erwehren, dass der Mensch ein Blumenleben gemordet hat, damit es im Sterben ein Auge erfreue, das herzlos genug ist, den unnatürlichen Tod unter dem Scheine des Lebens nicht herauszufühlen. Dass es nicht der Tod an sich ist, dessen Anblick uns stört, beweisen die getrockneten Blumen, die ebensowenig missfallen wie ausgestopfte Thiere oder aufgespannte Schmetterlinge. Es ist vielmehr das den Tod im Herzen tragende Leben, der zur Ergötzung hervorgerufene und vor Augen gestellte Todeskampf der widerstandslos duldenden Blumenseele, was das Herz verletzt.

Für ein feineres Empfinden gehört die Blume so wenig in das Bouquet wie der Vogel in das Bauer, sondern die Blume in den Garten, in Wiese, Feld und[– 112 –] Wald, wie der Vogel auf den Baum. Wer keinen Garten hat, oder nicht im Stande ist, denselben zu betreten, der mag zum Ersatz sich Blumen in sein Zimmer oder vor sein Bett bringen lassen. Wer aber im Stande ist, die Naturschönheit da zu geniessen, wo sie am schönsten ist, d. h. in ihrer naturgemässen Umgebung und unter ihren naturgemässen Lebensbedingungen, der wird selbst die Topfblumen im Zimmer gern missen, und viel lieber das Freie aufsuchen, um sie zu bewundern. Sehe ich aber gar ein Meisterwerk der Blumengärtnerei, einen grossen Korb mit einer Masse der kostbarsten auf Draht gezogenen Blüthen, so ist mir zu Muth, als würde mir ein Ragout aus Tausenden von Nachtigallzungen vorgesetzt, oder als sollte ich einen Damenkopfputz aus lauter aufgespiessten, auf’s Rad geflochtenen, noch zappelnden Schmetterlingen und Käfern bewundern. Ich bin überzeugt, dass eine spätere Zeit die heutigen Moden im Blumenluxus noch härter verurtheilen wird, als wir die in Figuren geschnittenen Bäume des vorigen Jahrhunderts, und dass die Kunstgärtnerei bei einer Reinigung und Verfeinerung des Geschmacks ihre Triumphe wieder ausschliesslich da feiern wird, wo sie berechtigt sind: im Sommer- und Wintergarten.

2. Das Rauchen.

Die meisten jungen Leute kommen durch die Macht des Beispiels zum Rauchen: sie scheuen sich, als Nichtraucher unter einer Mehrheit von rauchenden Genossen unmännlich zu erscheinen, oder als absonderliche Ausnahme dazustehen. Gegen einen solchen sklavischen Nachahmungstrieb darf man bei den selbstständigeren Naturen an das eigene Urtheil und den Stolz der Selbstbestimmung appelliren; die unselbstständigeren Jünglinge[– 113 –] wird man am besten dadurch vor den Folgen solcher Nachahmungssucht bewahren, wenn man sie darauf aufmerksam macht, dass im letzten Menschenalter das Rauchen in den besten gesellschaftlichen Kreisen mehr und mehr aus der Mode gekommen sei, dass der Procentsatz der Nichtraucher in denselben beständig im Steigen sei, und dass es schon jetzt für distinguirter gelten könne, nicht zu rauchen als zu rauchen.

Der Mensch ist ohnehin so sehr der Sklave seiner angeborenen und anerzogenen Bedürfnisse, dass er wahrlich nicht nöthig hat, diese Gebundenheit noch durch ein weiteres angewöhntes Bedürfniss zu vermehren; wenn man sieht, wie schmerzlich der Gewohnheitsraucher unter einer, wenn auch nur zeitweiligen Entbehrung (sei es aus gesellschaftlichen oder gesundheitlichen oder ökonomischen Rücksichten, sei es unter dem Zwange von Ausnahmeverhältnissen, wie im Kriege) leidet, so sollte sich der Freiheitsstolz jedes Jünglings dagegen aufbäumen, freiwillig ein solches Joch auf sich zu nehmen. Ein eingewurzeltes Laster aufzugeben, kostet eine fast übermenschliche Ueberwindung; aber sich gegen die zwecklose Angewöhnung zu sträuben, kostet weiter gar keine Ueberwindung, als die eines unmännlichen Nachahmungstriebes.

Jeder Jüngling, der den höheren Ständen angehören will, sollte über ein solches Mass von Selbstbeherrschung verfügen, und der socialen Ehrenpflicht seines Standes eingedenk bleiben, den niederen Ständen mit gutem Beispiel voranzugehen und die allmähliche Entwöhnung der Nation von diesem Laster anzubahnen. Denn ein Laster muss diese Angewohnheit in der That genannt werden, durch welche jährlich Milliarden buchstäblich in die Luft geblasen werden, die andernfalls ausreichen würden, die brennendsten socialen Fragen (Alters-, Wittwen- und Waisenversorgung) zu lösen, unter deren Last unsere Zeit seufzt.

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Völker ohne sonstige Pflanzenalkaloïde mögen in dem Nikotin ein werthvolles Reizmittel der Nervennährung schätzen; Völker mit Thee, Kaffee, Cacao u. s. w. besitzen in diesen Reizmittel genug, als dass nicht das Nikotin zu viel des Reizes hinzubringen sollte. Die Einwirkung des Tabakrauches bei Affektionen der Augen, der Athmungswege, des Magens und Darmkanals und der Galle ist entschieden nachtheilig; meistens aber entschliessen die erkrankten Raucher sich viel zu spät, ihre Gewohnheit auszusetzen.

Wie jedes Reizmittel, so stumpft auch dieses sich durch Gewohnheit ab und verlangt verstärkte Zufuhr, birgt also die Gefahr einer Uebertreibung in sich, welche zur chronischen Nikotinvergiftung führen kann, besonders bei der Verbindung mit reichlichem Alkoholgenuss; die complicirten Erscheinungen der chronischen Nikotinvergiftung (Spinalirritation, Amblyopie u. s. w.) sind aber zum Theil noch so wenig ergründet und bekannt, dass sie vorkommenden Falles häufig genug von den Patienten und Aerzten nicht erkannt oder falsch gedeutet werden.

Hoffentlich bleibt die burschikose Sitte des Rauchens im weiblichen Geschlecht für immer auf Studentinnen und dergleichen Emancipirte beschränkt; so lange dies aber geschieht, haben die Raucher nur die Wahl, sich von dem anderen Geschlecht abzusondern oder gegen dasselbe (natürlich unter scheinbarer Beobachtung der feinsten Höflichkeitsformen) rücksichtslos zu sein. Gerade in den niederen Volksschichten, wo das Weib ohnehin der geplagtere und schlechter gestellte Theil ist, geht ein unverhältnissmässig grosser Theil des Gesammthaushaltes für das Rauchbedürfniss des Mannes darauf.

Ist der sociale Schaden des Rauchens nicht mit dem des Branntweintrinkens zu vergleichen, so auch[– 115 –] nicht der physiologische Nutzen desselben, da der Branntwein doch wenigstens eine Ersparniss an anderen Nahrungsstoffen im Gefolge hat, der Tabak nicht.

Die nationalökonomischen Vortheile der Beseitigung des Tabakrauchens wären ungeheuer. Nicht nur könnte der Arbeiter dadurch eine Lebensversicherung erwerben, welche ausreichte, um sein Alter, seine Wittwe und Waisen gegen die dringendste Noth zu schützen, sondern zugleich würde auch die nationale Handelsbilanz verbessert, wenn einerseits die Einfuhr ausländischen Tabaks und andererseits die Einfuhr derjenigen ausländischen Bodenprodukte wegfiele, welche auf dem jetzt mit Tabak bepflanzten einheimischen Boden erzeugt werden könnten.

Die jetzt mit dem Bau und der Verarbeitung des einheimischen Tabaks beschäftigten Personen würden alsdann mit dem Bau und der Verbreitung der an seine Stelle tretenden Bodenprodukte beschäftigt sein und die jetzt für ausländischen Tabak bezahlten Summen würden, in Gestalt von Wittwen- und Waisen-Pensionen in den Verkehr zurückgeströmt, dazu dienen, das Haushaltsniveau der Arbeiterbevölkerung zu erhöhen, also ihre Kaufkraft für anderweitige Genussmittel zu steigern. Dadurch würde die nationale Produktion weit mehr gewinnen, als sie durch das Aufhören des Tabaksexports und der Verarbeitung des ausländischen Tabaks verlöre.

Da eine solche Umwandlung aber von innen heraus keinesfalls allzuschnell erfolgen dürfte, so ist es Aufgabe des Staates, dieselbe durch eine möglichst hohe Steigerung der Tabakssteuer zu unterstützen, denn auf nichts ist eine hohe Steuer so wohl angebracht als auf dies Laster. Wäre nicht die bei weitem grösste Zahl der Abgeordneten und Wähler rauchende Männer, wäre statt dessen eine Volksabstimmung nach Köpfen möglich, so würde nächst der Branntweinsteuer keine[– 116 –] Steuer bereitwilliger erhöht werden, als die auf den Tabak.

Eine wesentliche Verminderung des Rauchens liesse sich freilich auch von der stärksten Erhöhung der Tabakssteuer nicht augenblicklich erwarten, da die gewohnheitsmässigen Raucher doch weiter rauchen würden, nur etwas geringere Sorten; aber in der nächstfolgenden Generation würde der Einfluss doch sehr bedeutend werden, da die erhöhte Kostspieligkeit des Rauchens ein verstärktes Gegenmotiv gegen die Angewöhnung desselben liefern und für viele Jünglinge entscheidend werden könnte.

Die Einführung des Monopols würde die nicht zu unterschätzende Gefahr in sich schliessen, dass der Staat das Rauchen auf alle Weise, insbesondere bei den höheren Gesellschaftsklassen begünstigte, um erhöhte Einnahmen zu erzielen, und dadurch dem aus der Mode-Kommen desselben entgegenwirkte. Dieses nationalökonomische Bedenken trifft das Tabaksmonopol jedenfalls in höherem Grade als das Branntweinmonopol, weil jede anständige Regierung sich schämen würde, ihre Unterthanen zum Trinken zu verleiten, nicht aber zum Rauchen.

3. Die Politik und die Jugend.

Ein Hauptunglück der Zeit nach d. J. 48 in Deutschland ist das Zusammentreffen gesteigerter Berufsansprüche mit dem Ueberwuchern politischer Interessen über die künstlerischen, wissenschaftlichen, gemüthlich-geselligen und religiös-sittlichen. Die in jeder Berufstätigkeit gegen früher erheblich gesteigerten Ansprüche an den Träger verringern nicht nur die Musse, sondern lassen auch den einzelnen nach gethaner Tagesarbeit[– 117 –] erschöpfter und erholungsbedürftiger in die Mussezeit eintreten, so dass er nicht nur weniger Zeit, sondern auch weniger Lust und Kraft verfügbar behält, um sich Interessen, die seinem Berufe fern liegen, mit Ernst und Sammlung zuzuwenden. Was aber noch übrig bleibt, davon nimmt die Politik den Löwenanteil für sich in Anspruch, welche sowohl als politische Tagespresse, wie als politisches Vereinswesen an die Sammlungsfähigkeit des Aufnehmenden nicht allzu hohe Ansprüche stellt. Die Interessen an socialethischen und religiösen Fragen gelangen fast nur noch insoweit zu ihrem Recht, als sie sich mit der Politik berühren, in den Streit der politischen Parteien Eingang gefunden haben und durch die Brille des Politikers angesehen werden können. Das politische Parteitreiben aber macht das Gros der Menschen roh und gewöhnt sie an das Austheilen und Ertragen von Beleidigungen und Beschimpfungen ähnlich wie in der Reformationszeit der konfessionelle Hader.

Wie sollen diese Zustände sich bessern? Die gesteigerten Berufsansprüche entsprechen der Forderung gesteigerter Arbeitsteilung und intensiverer Arbeitsleistung. Die modernen Staatsverfassungen erheischen die Betheiligung aller Männer bei den politischen Wahlen, und ein gleichgültiges Fernbleiben der geistigen Elite des Volks würde das ohnehin schon bestehende Uebergewicht der demagogischen Schreier und Hetzer zu einem geradezu unbestrittenen machen.

Die reifen Männer können und dürfen sich nur ausnahmsweise ihren politischen Pflichten entziehen, aber diese Pflicht sollte doch nur für die reifen Männer gelten. Handarbeiter mögen für relativ reif gelten, wenn sie in das Alter der Wahlberechtigung eingetreten sind (21 bis 24 Jahr); denn geistig reifer als sie dann sind, werden sie doch nur in Ausnahmefällen noch werden. Die gebildeten Stände dagegen brauchen gerade[– 118 –] die Zeit vom Abgang aus der Schule bis zur Verheirathung (also etwa vom 18. bis zum 30. Jahre), um sich geistig zu entwickeln und ihre Mannesreife zu gewinnen; wenn sie diese Zeit, wo der Geist bereits das volle Verständniss besitzt, ohne doch schon in festen Ansichten verknöchert zu sein, für ihre humanistische Ausbildung ungenutzt verstreichen lassen und statt dessen sich auf Politik werfen, so versäumen sie meist etwas Unwiederbringliches. Soll die Physiognomie unsrer höheren Gesellschaft vor einer vorzeitigen facies hippocratica bewahrt bleiben, so müssen Studenten und angehende Praktiker die Politik wie die Pest scheuen und die Erfüllung ihrer politischen Staatsbürgerpflichten auf ein Alter verschieben, wo sie durch vielseitige humanistische Bildung in ihrem Geiste einen Grund gelegt haben, auf dem eine selbstständige, von Parteischlagworten unabhängige politische Urtheilsbildung erst möglich wird.

4. Puder und Schminke.

Das grösste koloristische Meisterwerk der Natur ist die Haut der nordischen weissen Menschenrasse; es übertrifft an Feinheit und Komplicirtheit der Farbentöne, an Leuchtkraft und Sättigung alle sonstigen Farbenwunder der Natur. Wer seinen Teint durch Puder und Schminke zu verbessern glaubt, gleicht einem Bilderrestaurateur, der ein Tiziansches Inkarnat durch weisse oder rothe Retouchen zu heben unternimmt. Auch die gelben und grünen Tinten des sogenannten schlechten Teints sind unendlich viel schöner als Mehl und Zinnober. Der Puder macht die Glanzlichter der Haut stumpf und matt, die Schatten kraft- und wirkungslos, die Mitteltöne fade und mehlsuppig; alle Farben in Licht, Schatten und Mitteltönen entfärbt er zum ein[– 119 –]tönigen Grau des Gypses. Auf der Bühne sind Puder und Schminke ein Mittel zur Herstellung der zur Rolle gehörigen mimischen Maske; wer diesen Bestandtheil des scenischen Scheins ins wirkliche Leben überträgt, gleicht einem Menschen, der seinen Garten mit gemalten Bäumen und Sträuchen zu verschönern versucht, und zeigt zugleich, dass er nicht sein eignes Selbst darstellen, sondern eine Komödiantenrolle im Leben spielen will.

Nichts ist komischer als die sittliche Entrüstung, mit welcher die „bloss Gepuderte“ auf die Gepuderte und Geschminkte herabsieht, denn an Geschmacklosigkeit steht sie ihr kaum nach, wohl aber an Muth und Klugheit: an Muth in der zaghafteren Schaustellung ihres naturwidrigen Geschmacks und an Klugheit in dem Wahne, den weissen Puderteint eher als den farbigen Schminkteint für Natur ausgeben zu können.

Wenn in den tonangebenden Schichten der Gesellschaft das Pudern der Haut zur herrschenden Unsitte wird, so ist das ein Zeichen, dass in ihnen Unbildung, Verbildung und Unnatur, Geschmacksrohheit und Sinnesverkehrtheit sich die Hand reichen, und dass ein Ungewitter des Völkerschicksals zur Reinigung der ungesunden socialen Atmosphäre noth thut. Eine Kultur, die sich äusserlich durch den Puder kund giebt, ist eine miasmatische Afterkultur, die keine echte Kraft mehr zu ihrer Vertheidigung begeistern vermag, und deshalb über kurz oder lang dem Ansturme der kulturfeindlichen Mächte ohnmächtig erliegt; wie es im vorigen Jahrhundert dem ancien régime erging, so würde es in diesem der modernen Bourgeoisie ergehen, wenn eine allgemeinere Verbreitung von Puder und Schminke die symptomatische Rechtfertigung für die socialdemokratische Behauptung von der innern Fäulniss ihrer Kultur liefern sollte.

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VIII.
Zur Reform des Universitätsunterrichts.

Unsere Universitäten haben im geistigen Leben der Nation nicht mehr die Bedeutung wie früher, theils weil der Einfluss der Literatur den ihrigen überholt hat, theils weil sie ihren Einfluss mit zahlreichen neben ihnen aufgeblühten Hochschulen technischen, militärischen und sonstigen Charakters theilen müssen. Aber noch immer ist ihre Bedeutung so gross, dass es unrecht wäre, dieselbe zu unterschätzen, und darum ist auch die Frage nach den Mängeln unserer Universitäten und nach ihrer Abhülfe eine Frage von allgemeinem Interesse für jeden, dem dies Gedeihen und der Fortschritt der deutschen Geisteskultur am Herzen liegt.

Die Mängel unsres Universitätswesens liegen sowohl auf Seite der Studentenschaft wie auf Seiten der Lehrkörper ziemlich offen zu Tage. Viele Studenten studiren in den ersten Semestern zu wenig oder gar nicht, weil falsche Ehrbegriffe und zeittödtende Genusssucht ihre Kräfte vollauf in Anspruch nehmen; wenn sie aber anfangen zu studiren, so haben sie alle Hände voll zu thun, um den gesteigerten Prüfungsansprüchen an ihre Berufswissenschaft Genüge zu leisten, so dass ihnen während der ganzen Studienzeit kein Augenblick für allgemeinere Geistesbildung, für das Studium der humaniora übrig bleibt. Für solche Studenten passt unsre deutsche Einrichtung der Universitäten nicht; wäre es sicher, dass diese Art von Studententhum das Feld der Zukunft behaupten würde, so müsste unser Universitätswesen aus Zweckmässigkeitsgründen seine akademische Freiheit aufgeben und gegen den französischen und englischen Zuschnitt der obligatorischen Einpaukerei vertauschen. Glücklicher Weise besitzen[– 121 –] wir noch studentische Elemente genug, welche von der akademischen Freiheit wirklichen Nutzen ziehen, und wenn man den Zeichen der Zeit trauen darf, so darf man vorläufig die Hoffnung nicht fahren lassen, dass aus den Kreisen des Studententhums heraus ein Umschwung zum Bessern erfolgen wird durch eine mächtige Auflehnung gegen die bisherige sinnlose Kraft- und Zeitvergeudung.

Einem solchen Umschwung müssen aber einschneidende Reformen von Seiten des Lehrkörpers entgegenkommen, wenn die Besserung gründlich und dauernd werden soll. Der tiefliegendste und allereigentlichste Krebsschaden unsres Universitätsunterrichts liegt meiner Meinung nach darin, dass der Regel nach die Erfindung der Buchdruckerkunst mit Hartnäckigkeit ignorirt, und heute noch wie im Mittelalter der Unterricht allein auf mündlichen Vortrag gegründet wird. Man verkennt die physiologische Thatsache, dass eine Stunde Vortrag-Hören die Nerven und das Gehirn weit mehr anstrengt als eine Stunde Lesen. Dieser Satz erleidet nur da eine Ausnahme, wo das Lesen eine noch ungewohnte Thätigkeit ist, welche eine besondere Anspannung der Aufmerksamkeit erfordert; ein Jüngling aber, der noch auf diesem kindlichen Standpunkt steht, ist eben noch nicht reif für den Besuch der Universität, und deshalb ist bei den Universitätseinrichtungen auf solche unreife Individuen keine Rücksicht zu nehmen.

Es sind verhältnissmässig wenige Fächer des Universitätsunterrichts, bei denen die Demonstration den Stamm bildet, um welche der Vortrag sich bloss erläuternd herumrankt; bei den meisten ist das mündliche Wort des Lehrers auf sich allein angewiesen. Was der Lehrer vorträgt, ist der Inhalt eines ungedruckten Lehrbuchs; was der Schüler nachschreibt, ist der Inhalt eines ungedruckten Leitfadens. Kein Student würde es sich[– 122 –] einfallen lassen, nachzuschreiben, wenn er bei Belegung des Kollegs den gedruckten Leitfaden des Docenten eingehändigt erhielte, und ausserdem jederzeit in einem gedruckten Lehrbuch des Docenten das Gehörte nachlesen könnte. Der ganze Unfug des Nachschreibens würde mit einem Schlage beseitigt, wenn die Universitätsordnung es verböte, dass irgend ein Professor oder Docent ein Kolleg ankündigte, zu dem er nicht vorher der Universitätsbehörde den gedruckten Leitfaden eingereicht, oder einen der bereits bekannten Leitfaden eines Dritten zu Grunde legen zu wollen erklärt hat. Jedem Draussenstehenden müsste es zunächst unbegreiflich scheinen, warum dies nicht auch ohne solche Zwangsbestimmung freiwillig von allen Lehrern geschieht, da die Sache doch gar so einfach und selbstverständlich scheint, und jeder Meinungsänderung des Lehrers theils durch neue Auflagen des Leitfadens, theils durch die Ausführungen des mündlichen Vortrags Rechnung getragen werden kann. Der Grund, warum es bisher so selten geschieht, und statt dessen abgeschriebene Diktathefte umlaufen, ist wohl in der Furcht der Professoren zu suchen, einerseits durch selbst herausgegebene Leitfaden sich allzusehr der Kontrole und Kritik ihrer Konkurrenten bloss zu stellen,[9] andrerseits durch solche Darbietung des zusammengedrängten Lernstoffes für die Prüfungen den Studenten das Besuchen ihrer sonst reizlosen Vorträge überflüssig zu machen.

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In der That trägt der „Leitfaden“ die Gefahr in sich, dass er dem faulen Studenten die Beruhigung gewährt, auch ohne Besuch der Vorträge durch Auswendiglernen seines Inhalts das Examen in dem Gegenstande bestehen zu können. Diese Gefahr liegt aber wesentlich nur dann vor, wenn der Lehrer sich nicht auf einen wirklichen Leitfaden, d. h. ein gedrucktes Diktatheft, zu beschränken gewusst hat, und statt dessen ein Mittelding von Leitfaden und Lehrbuch, oder gar ein kurzgefasstes Lehrbuch unter dem Titel „Leitfaden“ veröffentlicht hat. Je knapper der Leitfaden ist, desto sicherer wird der Examinator das verständnisslose Memoiren desselben von dem rationellen Durchdringen seines Inhalts unterscheiden können und im Stande sein, das erstere als ungenügend zu verwerfen. Legt der Docent Werth darauf, seinen Zuhörern den Leitfaden nicht auf einmal, sondern nur nach jeder Stunde das Diktat des gehaltenen Vortrags in die Hand zu geben, so hindert ihn nichts daran, seinen Leitfaden in losen Blättern drucken zu lassen, und wenn seine Zuhörerschaft zu klein ist, um den Druck zu lohnen, so stehen ihm andere billige Vervielfältigungsarten zur Auswahl (Lithographie, Hektographie u. s. w.), welche alle den gemeinsamen Vortheil haben, die Zeit für das Diktat zu ersparen.

Man rühmt dem mündlichen Vortrag mit Recht nach, dass er bei gleichem sachlichen Inhalt doch anregender sei als die Lektüre, weil er mit Hülfe der Deklamation und Mimik von Person zu Person elektrische Fäden des Verständnisses spinnt. Dieser Vorzug kommt aber nur dem freien Vortrag und keineswegs der Vorlesung zu; im Gegentheil wirkt das Ablesen eines Manuscriptes meistens ungünstiger auf den Hörer als die Lektüre der gedruckten Vorlesung auf den Leser, weil derselbe sich bei letzterer von vornherein[– 124 –] auf sich allein angewiesen weiss, bei ersterer aber in seiner berechtigten Erwartung auf die belebende und zündende Geisteswirkung von Person zu Person getäuscht wird. Würde man nun aber statistisch feststellen, welcher Procentsatz der Universitätslehrer seine eigentlichen Lehrvorträge (abgesehen von den Demonstrationen und Seminarien) frei hält und nicht abliest, so möchte die Ziffer sehr gering ausfallen.

Nimmt man noch hinzu, dass nur ein kleiner Theil unter den Vorlesenden gut zu lesen versteht, einige sogar geradezu schwer zu verstehen sind, so begreift man, dass das Hören der Vorlesungen bei den Studenten in eben dem Maasse aus der Mode gekommen ist, als geeignete Lehrbücher der verschiedenen Fächer sich dem Selbststudium durch Lektüre dargeboten haben. Der fleissige Student arbeitet lieber zu Hause ein gangbares Lehrbuch durch, das in der Regel besser ist als die Vorlesungen seines Professors, und erspart sich damit den Besuch der Kollegia. Er verbessert also auf eigne Hand den Fehler, den die Universität mit dem Ignoriren der Buchdruckerkunst begangen hat; aber er vollzieht diese Verbesserung nur dadurch, dass er das Universitätsstudium zum leeren Schein verflüchtigt und das Privatstudium an dessen Stelle setzt. Er muss nach wie vor die Kollegia, die er nicht hört, bezahlen und der Professor muss, um nicht seine Einnahmen zu gefährden, den Besuch der Wahrheit zuwider bezeugen. Der Student ist ferner genöthigt, sich die Diktathefte des nicht gehörten Professors zu verschaffen, und sie durchzuarbeiten, um im Examen bei ihm bestehen zu können, weil der Examinator ja nicht merken darf, dass der Examinand sein Wissen aus dem Lehrbuch eines Konkurrenten geschöpft hat.

So führt der Fehler im Universitätsunterricht und dessen eigenmächtige Verbesserung von Seiten der[– 125 –] Studenten zur Unwahrheit auf beiden Seiten, zu einem in sich unsittlichen Zustand, der den Misskredit der Vorlesungen zu einer wirklichen Missachtung steigern muss. Dieser Zustand erfordert dringend Abhülfe und diese ist auf keinem anderen Wege möglich, als dadurch, dass der Universitätsunterricht seinen Grundfehler: das Ignoriren der Buchdruckerkunst, ablegt. Entweder ist das Heft, welches ein Professor vorliest, werth gedruckt zu werden, dann soll es auch als gedrucktes Lehrbuch den Studenten zugänglich sein; oder es ist nicht werth, gedruckt zu werden, dann ist es auch erst recht nicht werth, vorgelesen zu werden, und die Studenten haben dann ganz Recht, wenn sie sich gegen den Besuch solcher Vorlesungen sträuben und den direkten oder indirekten Zwang dazu als ein ihnen angethanes Unrecht empfinden. Ein direkter Zwang zu einem Kolleg besteht aber da, wo der Besuch eines Kollegs über den Gegenstand obligatorisch ist und nur ein Lehrer über den Gegenstand liest; ein indirekter Zwang besteht überall, wo ein Examinator das Kolleg über einen Prüfungsgegenstand liest. Daraus folgt, dass kein Professor ständiger Examinator in einem Fache werden darf, über das er nicht entweder ein Lehrbuch herausgegeben hat, oder das er nicht nach dem Lehrbuche eines Dritten behandelt und prüft.

Hiergegen wird man nun einwenden, dass eine solche Bestimmung erst recht dazu führen würde, die Hörsäle zu veröden, und dass mit ihr der Universitätsunterricht in der Hauptsache seine Abdankung legalisiren würde, wofern er nur zu der Konsequenz fortginge, anstatt der unwahren Atteste über den Besuch der Zwangskollegien wahrhafte Quittungen über den Ankauf der betreffenden Lehrbücher zu fordern. Insoweit als dieser Einwand richtig ist, kann man nur darauf antworten, dass insoweit allerdings der mündliche[– 126 –] Universitätsunterricht das Recht zu existiren verloren hat, und dass es nicht gerechtfertigt werden kann, einen innerlich unhaltbar gewordenen Zustand durch ein künstliches System konventioneller Unwahrheiten als hohles Scheinbild konserviren zu wollen. Insoweit muss also jede Maassregel willkommen geheissen werden, welche den äusseren Zusammenbruch eines innerlich hohlen und unwahren Zustandes beschleunigt. Aber es ist nicht richtig, dass mit der vorgeschlagenen Maassregel der mündliche Universitätsunterricht noch weiter herunterkommen würde; im Gegentheil würde dieselbe geeignet sein, ihm einen neuen Aufschwung zu verschaffen, wofern derselbe nur die durch die veränderten Umstände gebotene Umwandlung mit sich vornimmt.

Allerdings kann der Lehrer nicht erwarten, dass man seine Vorlesungen mit anhöre, wenn er doch nur sein Lehrbuch vorliest, das man zu Hause bequemer und schneller lesen kann. Der Hauptvortheil der mündlichen Belehrung, die Möglichkeit von Frage und Antwort, bleibt ja ohnehin bei solchem rein einseitigen Vortrag unbenutzt, und doch wird erst in der lebendigen Wechselrede der Lehrer gezwungen, frei zu produciren und dadurch die eigentlichen Vorzüge des mündlichen Vortrages über die Lektüre zu entfalten. Andrerseits hat der Lehrer nicht mehr nöthig, seinen Schülern dasjenige mündlich zu sagen, was sie in dem betreffenden Abschnitt seines Lehrbuchs schon zu Hause hatten lesen können, sondern er hat nun den Vortheil, diesen Abschnitt auf Grund der vorausgesetzten Lektüre frei mit ihnen durchsprechen zu können, ähnlich wie es schon jetzt in den Privatissimis und Seminarien mit philologischen oder philosophischen Klassikern geschieht. Die Studenten könnten ihren Zweifel und ihre Unklarheit über bestimmte Punkte fragend zur Sprache bringen, und dadurch ihr Studium unendlich viel fruchtbarer[– 127 –] machen, als es durch einsame Lektüre oder durch Besprechung unter lauter Lernenden werden kann. Die Kollegien würden sich gegen jetzt merklich füllen, weil viel mehr aus denselben zu holen wäre, und die Repetition von gedruckten Leitfaden würde wirklich zur Wiederholung eines rationell verarbeiteten Gedankenmaterials werden. Die Arbeit der Lehrer würde sich dabei verringern, da die Hälfte derjenigen Stundenzahl, welche jetzt der Vortrag erheischt, zur Besprechung ausreichen würde; die Arbeit der Studenten aber würde sich trotz des viel grösseren Gewinns nicht wesentlich vergrössern, da man in zwei ganzen Stunden zu Hause bequem so viel lesen kann, wie man in vier mal dreiviertel Stunden im Colleg hört.

Wenn die Examinatoren gezwungen würden, diese veränderte Unterrichtsart anzunehmen, so würden dadurch indirekt alle nicht examinirenden Lehrer mit gezwungen werden, dasselbe Verfahren zu beobachten, soweit dieselben die gleichen Gegenstände lehren. Denn grade der persönliche Verkehr mit den Examinatoren, welcher durch die Besprechung der Lehrbücher eröffnet ist, würde den schon jetzt bestehenden Vorsprung der Examinatoren gegen die nicht examinirenden Konkurrenten so sehr vergrössern, dass die Konkurrenz der letzteren völlig aussichtslos werden müsste, wenn sie im alten Schlendrian der „Vorlesungen“ verharren wollten. Schon jetzt ist der Vortheil der Examinatoren so gross, dass gegen diesen Vorsprung der Stellung keine Ueberlegenheit in den Leistungen aufkommen kann; wenn dieser Vorsprung durch die veränderte Unterrichtsart noch vergrössert wird, so ist das ein schwerwiegender Uebelstand, der leider mit in den Kauf genommen werden muss. Der einzig mögliche, aber auch von der Gerechtigkeit geforderte und darum unerlässliche Ausgleich ist darin zu suchen, dass die Examinatoren[– 128 –] aufhören, für den durch ihre Stellung und nicht durch ihre Tüchtigkeit bedingten stärkeren Zuspruch zu ihren Kollegien diejenige Prämie zu erhalten, welche nur als Prämie überlegener Tüchtigkeit einen Sinn hat, nämlich die Kollegiengelder ihrer Zuhörer.

Es giebt eine Anzahl Kollegien, deren Gegenstand von hohem wissenschaftlichen Werth, aber nicht gerade Gegenstand einer Berufsprüfung ist. Solche Kollegien haben naturgemäss auch bei der grössten Tüchtigkeit des Lehrers nur wenige Zuhörer, während andre von unentbehrlichem Nutzen oder allgemeinerem Interesse auch bei geringerer Tüchtigkeit des Lehrers auf stärkeren Zuspruch rechnen dürfen. Hieraus erhellt wiederum, wie wenig die Zuhörerzahl geeignet ist, als Maassstab für die Tüchtigkeit des Lehrers oder gar für eine demselben zu gewährende Extravergütigung zu dienen. Wenn es doch einzelnen Professoren von anerkannt hervorragender Bedeutung in einem Fache von geringer praktischer Verwendbarkeit und specialisirtem Interesse gelingt, eine grössere Zahl von Hörern um sich zu versammeln, so erzielen sie die ihnen dadurch zufliessenden höheren Einnahmen wiederum nur dadurch, dass sie die Erfindung der Buchdruckerkunst ignoriren und somit jeden, der ihre Arbeiten kennen lernen will, zwingen, zu ihnen zu kommen und ihre Vorlesungen zu hören. Man wird zugeben, dass eine solche Monopolisirung der Wissenschaft ein in der Gegenwart nicht mehr zu duldender Rest mittelalterlicher Zunft- und Bann-Rechte ist, und dass die Honorarverhältnisse, welche einen Gelehrten zu solcher Zurückhaltung treiben, selbst ein unwürdiges Ueberlebsel überwundener Zeiten sind. Sobald der Bezug von Kollegiengeldern ein Ende hat, hört auch das Interesse an der Nichtveröffentlichung der Forschungsergebnisse auf, da das blosse Eitelkeitsinteresse an der Zahl der Zuhörer denn doch wohl zu[– 129 –] tief steht, um den Fortschritt der Wissenschaft in seiner stets wachsenden Beschleunigung zu hemmen.

Für Forscher solcher Art ist überhaupt das Lehren gar keine Bedingung ihrer Wirksamkeit, sollte für sie vielmehr nur Mittel der eigenen Anregung und Erfrischung sein. Ihr Platz ist nicht sowohl im Lehrkörper einer Universität als in einer Akademie mit der Berechtigung, aber ohne die Verpflichtung zum Abhalten von Vorträgen an den Staatsuniversitäten. Man kann ein vorzüglicher Lehrer und ein sehr untergeordneter Forscher sein; man kann aber auch ein hervorragender Forscher und dabei sehr schlechter Lehrer sein. Der Staat hat ein ebenso grosses Interesse, sich Forscher, als sich Lehrer zu sichern; aber er fasst die Sache am unrechten Ende an, wenn er beides vermengt, also von jedem Lehrer als unentbehrliche Zuthat seiner Stellung den Nimbus eines bedeutenden Forschers und Förderers der Wissenschaft verlangt, und jedem Forscher eine Lehrthätigkeit als Bedingung für die Gewährung eines Staatsgehaltes zumuthet. Die Bedeutung der Akademien für die Gegenwart ruht ausschliesslich darin, dass sie den Forschern eine sorgenfreie Existenz zur Fortsetzung ihrer Forschungen mit ungetheilten Kräften gewähren; dieses Ziel haben ursprünglich die meisten Akademien sich vorgezeichnet, und es ist nicht der Fehler ihrer Gründer, wenn die mit der Mitgliedschaft verknüpften Gehälter in Folge veränderten Geldwerthes ihrem Zwecke nicht mehr genügen. Wenn die Regierungen sich entschliessen könnten, die Mitgliedschaften der Akademien durch zeitgemässe Erhöhung der Gehälter zu Forscher-Sinekuren zu erheben, so würden sie damit den höchsten Spitzen des Kulturfortschritts einen ebenso grossen Dienst erweisen als den Universitäten, welche dadurch von Lehrern entlastet würden, die nur aus Noth lehren, um nebenbei als[– 130 –] Forscher leben zu können. Das Gehalt eines Mitglieds der Akademie müsste eben höher sein als das höchste Professorengehalt, womit aber selbstverständlich auch eine Kumulation beider Gehälter ausgeschlossen wäre.

Es ist bekannt, dass es gegenwärtig zum grossen Theil andre Kollegien sind, welche der Student besucht, als die, welche er bezahlt; er bezahlt diejenigen, welche er direkt oder indirekt gezwungen ist, zu belegen, und hat in der Regel wenig Neigung, nebenbei auch diejenigen noch zu bezahlen, welche er bloss aus Interesse an der Sache besucht. Die Folge davon ist, dass er auch die sein Interesse erweckenden Collegien nur unvollständig, weil mit bösem Gewissen, hört, ohne dass er im Stande ist, die Lücken durch Lektüre des Lehrbuchs zu ergänzen. Den nicht examinirenden Lehrern raubt dieser Missbrauch des Hospitirens noch einen grossen Theil derjenigen Kollegiengelder, welche ihnen durch den Vorsprung ihrer examinirenden Kollegen allenfalls noch hätten übrig bleiben können. Wollte man unter den Verhältnissen, wie sie sich entwickelt haben, auf strenge Ordnung halten, und jeden Studenten, der nicht belegt hat, hinausweisen, so würde die Wirkung davon in der Hauptsache nur die sein, dass die Hörsäle noch mehr veröden und die Studenten noch mehr sich dem Privatstudium durch Lektüre zuwenden.

Wenn eine statistische Erhebung darüber vorgenommen werden könnte, wie viel wirklich besuchte Vorlesungsstunden auf den Kopf der deutschen Studentenschaft in einem Semester kommen, so würde man darüber staunen, wie wenig der Nutzen der Vorlesungen in ihrer jetzigen Art im Ganzen von den Studenten anerkannt wird, und wie sehr das studentische Leben (mit Ausnahme der medicinischen Fakultät) zwischen[– 131 –] Nichtsthun und Privatstudium schwankt. In der That konnte aber auch ein fleissiger Besuch der Collegien bei dem System der Kollegiengelder nur so lange möglich bleiben, als die Gelegenheit zum Erwerb der dort zu erlangenden Kenntnisse auf privatem Wege fehlte. Gegenwärtig ist die Forderung der Universitäten, dass der Student jedes einzelne Kolleg bezahle, nichts weiter als eine Prämie auf die Faulheit und das Privatstudium und eine gewaltsame Zurückscheuchung der Studenten von allen nicht obligatorischen Kollegien. Der Besuch der Vorlesungen würde sich sofort verdoppeln und verdreifachen, wenn von jedem Studenten ein Fixum pro Semester erhoben würde, durch dessen Bezahlung er das Recht erwirbt, jedes Kolleg zu belegen, dessen Plätze nicht schon sämmtlich an früher angemeldete Reflektanten vergeben sind. Der Andrang zu den interessanteren Vorträgen würde dadurch so wachsen, dass es nöthig werden könnte, diejenigen nummerirten Plätze, welche von ihren ursprünglichen Inhabern ohne ausreichende Entschuldigung durch drei Stunden unbenutzt gelassen werden, an nachbemerkte Bewerber weiter zu begeben.

Die Kollegiengelder bilden nach Ablösung der Stolgebühren den letzten Rest des mittelalterlichen Sportel- und Gebühren-Wesens, und es ist endlich Zeit, mit dieser Ruine aufzuräumen, welche ein Haupthinderniss für einen neuen Aufschwung des Universitäts-Unterrichts bildet. Den ursprünglichen Sinn einer Prämie für anziehende Vorträge hat die Ueberweisung der Kollegiengelder an die Professoren längst eingebüsst, und gegenwärtig ist sie lediglich eine unverdiente Gehaltszulage für die ohnehin schon begünstigten Examinatoren. Werden die Einzelhonorare für jedes Kolleg in ein festes Studienhonorar für das ganze Semester umgewandelt, so fällt jede Versuchung fort, diese Honorare dem[– 132 –] Lehrerkollegium zu überweisen, anstatt derjenigen Behörde, welche die Universität erhält und die Gehälter der Professoren zahlt. Diese Aufhebung der Gebühren müsste natürlich mit einer Ordnung der Professorengehälter Hand in Hand gehen, welche ohnehin dringendes Bedürfniss ist; auch müssten Uebergangszustände zugelassen werden, deren Erörterung hier zu weit führen würde.

Worüber am meisten öffentlich geklagt wird, ist die Aussichtslosigkeit der akademischen Laufbahn und die Uebelstände, welche bei der Berufung von Professoren hervortreten. Abgesehen von den Uebertreibungen und ungerechtfertigten Verallgemeinerungen, die bei solchen Klagen fast unvermeidlich mit unterlaufen, begehen die Warnungsstimmen dieser Art meistens den Fehler, dass sie allgemein menschliche Uebelstände, wie Cliquenwesen, Weiberregiment, Nepotismus und dergleichen für funkelnagelneue Erscheinungen speciell unsres Universitätslebens halten, während diess doch nur die überall und zu allen Zeiten gangbaren Abweichungen von vorurtheilsloser Sachlichkeit sind. Man mag solche Dinge zur Sprache bringen, um den betreffenden Kreisen das Gewissen zu schärfen und sie an den Ernst ihrer Berufspflicht und die Forderungen der guten Sitte zu erinnern; aber man wird nicht hoffen dürfen, dadurch mehr Wirkung auszuüben als mit Moralpredigten irgend welcher andren Art. Alle Kooptation führt zur Inzucht, alle Stellenbesetzung durch die Regierung zur Begünstigung politischer Streber; Intrigue und persönliche Begünstigung spielt hier wie dort ihre Rolle, wenn auch in verschiedener Weise. Beide Quellen unsachlicher Entscheidung müssen einander beschränken, und jeder Versuch, der einen auf Kosten der andren das Uebergewicht zu verschaffen, ist nach der einen wie nach der andern Seite gleich[– 133 –] fehlerhaft. Deshalb liegt kein Anlass vor, an den bestehenden Zuständen wesentliche Aenderungen in dieser Hinsicht zu verlangen.

Das Widerwärtige an den akademischen Zuständen liegt vor allem darin, dass die Erlangung einer ausserordentlichen Professur noch keinerlei Einkommen gewährt, und dass selbst der Eintritt in eine ordentliche Professur nicht dem Ehrgeiz und der Gewinnsucht das Thor verschliesst. Der Grund dafür ist aber ausschliesslich in den ungeordneten Gehaltsverhältnissen zu suchen, welche die einer Berufung voraufgehenden Verhandlungen nicht selten zu einem Markten und Feilschen herabwürdigen wie bei dem Engagement eines Schauspielers, und das Spiel der Intriguen zur Erlangung von wirklichen oder Scheinberufungen nicht enden lassen. Der Professorenstand wird nicht eher sein moralisches und sociales Gleichgewicht und die ihm gebührende wissenschaftliche Würde gewinnen, als bis er durch eine feste Gehaltsskala mit Altersascension und örtlich verschiedenen Wohnungsgeldern und durch gesicherte Pensionsverhältnisse den andern Staatsdienern an Solidität und Stabilität der pekuniären Lebens-Grundlagen gleichgestellt wird. Wer von einer kleinen Universität an eine grosse berufen wird, der soll nicht um materieller Vortheile willen dort hin gehen, sondern im freudigen Stolz auf den erweiterten Wirkungskreis; zieht er aber das Verbleiben im gewohnten und lieb gewordenen Kreise vor, so mögen die grossen Universitäten aus dem eignen Nachwuchs ihre Vakanzen besetzen. Es ist unwürdig, dass müde Greise bis an ihr Ende weiter lehren müssen, weil sie durch ein ganzes Leben voll Arbeit keinen Pensionsanspruch erworben haben, und ebenso unwürdig, dass sie sich im Falle vollständiger Unfähigkeit ihr Gehalt für die schuldig gebliebenen Leistungen müssen schenken lassen. Es[– 134 –] ist unwürdig, dass die längste Dienstzeit keinen Anspruch auf Gehaltssteigerung verschafft, und dass letztere erst auf dem Umwege künstlich inscenirter Scheinberufungen erpresst werden muss. Es ist ungehörig, dass viel umworbenen Berühmtheiten Einnahmen von der Höhe einer Primadonnengage und luxuriöse Dienstwohnungen bewilligt werden, und ebenso ungehörig, dass die Berufung an grosse Universitäten zur Nationalbelohnung für abgediente Invaliden des Katheders herabgesetzt wird. Mit der Gleichstellung aller Professorengehälter in demselben Staat, oder wo möglich im ganzen Reich würden alle solche Ungehörigkeiten ganz von selbst wegfallen.

Der Unterschied zwischen ordentlichen und ausserordentlichen Professoren kann bestehen bleiben; denn wer einmal zum ordentlichen Professor ernannt ist, der rückt damit auch von selbst in alle höheren Gehaltsstufen nach seinem Dienstalter auf, während der ausserordentliche Professor bei dem höchsten Gehalt für ausserordentliche Professoren stehen bleibt, wenn ihm die Beförderung zum Ordinarius versagt bleibt. Nur das scheint mir unbillig, dass man Docenten zu ausserordentlichen Professoren ernennt, sie dadurch mit der trügerischen Hoffnung, in der akademischen Laufbahn ihr Fortkommen zu finden, ködert, und dann ohne Gehalt bis an ihr Ende sitzen lässt. Die Gehaltlosigkeit der Extraordinarien wird so nicht ohne Grund zu einer Hauptquelle der Bitterkeit für alle, welche nicht zu einer ordentlichen Professur gelangen können, und nun ihr Leben für ein verfehltes, ihre akademische Laufbahn für eine gescheiterte, und ihre Lebensarbeit für eine völlig unentlohnte ansehen müssen. Das Gehalt der Extraordinarien müsste wenigstens für einen Junggesellen auskömmlich und zugleich pensionsberechtigt sein; die zeitweilige gnadenweise Gewährung von Unterstützungen[– 135 –] kann niemals als Ersatz für ein pensionsfähiges, wenn auch noch so bescheidenes Gehalt gelten. Selbstverständlich würde die Behörde für das von ihr gewährte Gehalt auch ein Minimum von wöchentlichen Lehrstunden von jedem Angestellten verlangen müssen, das beim Extraordinarius geringer bemessen sein müsste als beim Ordinarius. Andrerseits haben auch die Extraordinarien, sobald sie ein festes Gehalt beziehen, keinen Grund mehr, den Wegfall der Collegiengelder zu bedauern.

Die Stellung als Privatdocent ist eine Vorbereitungsstufe und Probezeit für den akademischen Beruf. Es ist wünschenswerth, dass dieselbe möglichst zahlreichen Bewerbern möglichst leicht zugänglich sei, damit die Behörden ein reichliches Material zur Ernennung von ausserordentlichen Professoren zur Auswahl haben; aber es ist nicht wünschenswerth, das längere Verbleiben in dieser Stellung für solche Aspiranten angenehm und behaglich zu machen, welche nach mehrjähriger Probezeit nicht zur ausserordentlichen Professur geeignet befunden worden sind. Man muss den Privatdocenten den Austritt aus der akademischen Carriere ebenso leicht machen wie den Eintritt, und muss eine Frist setzen, etwa von zehn Jahren, nach deren Ablauf ein nicht beförderter Privatdocent eo ipso die venia docendi verliert. Nur auf diesem Wege ist die Existenz eines Kreises von verbitterten lebenslänglichen Privatdocenten zu vermeiden, oder dem noch schlimmeren Fehler vorzubeugen, dass man alte Privatdozenten endlich einmal zu Professoren ernennt, blos weil man das unverdiente Scheitern in ihrem Lebenslauf als gar zu grausames Schicksal mitempfindet.

Damit den Docenten, welche trotz mehrjähriger Probezeit nicht zur ausserordentlichen Professur gelangt sind, das Verbleiben in ihrer Stellung erschwert wird,[– 136 –] ist es nothwendig, dass denselben keinerlei Remuneration oder Honorar zufällt. Die Zulassung zum Dociren an einer Hochschule ist an und für sich ehrenvoll genug, um auch einige Jahre als blosse Ehrensache geübt werden zu können, zumal kein Docent nöthig hat, mehr als einige Stunden wöchentlich dieser freiwilligen akademischen Lehrthätigkeit zu widmen. Nur solche Docenten, welche zur Beförderung für einen späteren Termin in sichere Aussicht genommen sind, dürfen durch Remunerationen aus Dispositionsfonds an die akademische Laufbahn gefesselt werden; bei jedem andern müsste eine solche Gewährung als eine grausame Erweckung unbegründeter Hoffnungen verurtheilt werden. Die gehaltlose Zeit eines jungen Mannes, welcher sich der akademischen Laufbahn widmet, wird danach im Durchschnitt nicht wesentlich länger zu rechnen sein als beispielsweise in der juristischen Carriere. Der Unterschied bleibt freilich bestehn, dass der Jurist nach Ablauf dieser Frist, innerhalb deren er aus seinen eigenen Mitteln oder aus denen seiner Familie sich erhalten muss, ziemlich sicher auf Anstellung rechnen darf, der Docent aber nicht, und es wird nicht zum Ausgleich genügen, dass die juristische Laufbahn in erster Reihe dem Broterwerb, die akademische Laufbahn dagegen in erster Linie der Befriedigung theoretischer Neigungen und idealer Bedürfnisse dient. Dieser Ausgleich ist deshalb ungenügend, weil die Furcht, spätestens zehn Jahre nach der Habilitation vor dem niederdrückenden Misserfolg einer völlig gescheiterten Carriere zu stehen, die Zahl der Reflektanten auf das Docententhum bei gleichzeitigem Wegfall der Kollegiengelder unter das erforderliche oder doch wünschenswerthe Maass herabdrücken könnte, trotzdem dass die Hoffnung auf frühere Beförderung zum besoldeten Extraordinarius einen gegen die heutigen Verhältnisse verstärkten Anreiz zur Habilitation gewähren würde.

[– 137 –]

Die akademische Laufbahn ist nur dann im Stande, viele Probekandidaten anzulocken, ohne durch Wiederausscheidung der Mehrzahl der Bewerber eine tiefe Verbitterung zu säen, wenn von vornherein darauf gesehen wird, dass die Docenten zugleich auf irgend einen andern, als den akademischen Ruf vorbereitet sind, und diesen wo möglich gleichzeitig verfolgen, jedenfalls aber nach dem Scheitern ihrer akademischen Laufbahn den Rücktritt in denselben sich offen halten. Mit andern Worten: die Universitätsbehörden sollten mit Ausnahme von Persönlichkeiten, die sich bereits durch hervorragende schriftstellerische Leistungen als ausnahmsweise befähigt erwiesen haben, den höchsten Werth darauf legen, nur solche Kandidaten zur Habilitation zuzulassen, welche sich durch die erforderlichen Staatsprüfungen den Eintritt in eine anderweitige Laufbahn bereits gesichert haben; die Staatsbehörden aber sollten in Anbetracht der hohen Wichtigkeit des Universitätsunterrichts für die nationale Geisteskultur den Staatsdienern aller Berufsarten, welche Neigung spüren, sich eine Zeitlang als akademische Docenten zu versuchen, die Erfüllung dieses Wunsches durch das bereitwilligste Entgegenkommen erleichtern, anstatt denselben im Interesse des Specialdienstes Schwierigkeiten oder unüberwindliche Hindernisse zu bereiten.

In der Hauptsache besteht der von mir verlangte Zustand schon heute in der medicinischen und theologischen Fakultät; jeder medicinische Docent ist nebenbei praktischer Arzt, und jeder theologische Docent ist nebenbei wenigstens Licentiat und kann, wenn er von der Universität zurücktritt, eine Predigerstelle annehmen. Immerhin wäre es wünschenswerth, dass mehr angestellte jüngere Geistliche, als bisher nebenbei den Beruf als Docenten ausübten, wenn sie in einer Universitätsstadt oder deren unmittelbarer Nähe leben: dagegen[– 138 –] scheint mir eine dauernde Verknüpfung von Seelsorge und akademischem Lehramt, wie sie jetzt ausnahmsweise vorkommt, nicht empfehlenswerth, vielmehr nach ausreichender Probezeit die Entscheidung für die eine oder die andere Berufsart geboten. In der juristischen Fakultät wäre es nicht mehr als billig, dass man von einem Docenten die vorherige Erlangung der Richterqualität forderte; dagegen müssten auch Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte, Gerichts- und Regierungs-Assessoren und -Räthe, die an Universitätsplätzen leben, in liberalster Weise zur Habilitation zugelassen werden, und ihre vorgesetzten Gerichts- und Verwaltungsbehörden von den Ministerien darauf hingewiesen werden, dass diese Zulassung im dringenden Interesse des Staates liege, und dass solche Neigungen und Bestrebungen für die wissenschaftlichen Interessen der Bewerber ein ehrenvolles Zeugniss ablegen.

Dasselbe gilt für die Schulbehörden in Bezug auf die Lehrer an staatlichen und städtischen Schulen; hier ist sogar der innere Zusammenhang des höheren und Hochschulwesens ein so enger, dass es durchaus gerechtfertigt erscheint, die Zahl der wöchentlichen Kollegstunden (wenigstens bis zur Höhe von fünf) auf die Zahl der gesammten Wochenstunden, zu deren Ertheilung der Lehrer verpflichtet ist, in Anrechnung zu bringen, also einem Lehrer, der zugleich Universitätsdocent ist, statt 24 nur 19 Schulstunden wöchentlich zu übertragen. Die Universitätsbehörden aber sollten bei Habilitationen in der philosophischen Fakultät die Bewerber, welche die facultas docendi für die höheren Gymnasialklassen erworben haben, entschieden bevorzugen, damit den Docenten, welche zur Beförderung in eine ausserordentliche Professur nicht in Aussicht genommen sind, seinerzeit der Rath ertheilt werden könne, ins Schulamt überzutreten. Gegenwärtig gilt[– 139 –] der Eintritt ins Schulfach als fast gleichbedeutend mit dem Verzicht auf die akademische Laufbahn, und darum bemühen sich die Aspiranten auf letztere, die Annahme einer Lehrersstellung, selbst in einer Universitätsstadt, wenn irgend möglich zu vermeiden, und sei es auch unter den grössten Anstrengungen und Entbehrungen. Diess würde aufhören.

Wer nicht hinreichend mit Gütern gesegnet ist, um nach absolvirtem Staatsexamen sich ganz dem theoretischen Studium zu widmen, der würde zunächst eine Lehrersstellung an einer Schule in einer Universitätsstadt zu erlangen suchen und die 120 Sonntage, Feiertage und Ferientage im Jahre der Vorbereitung für ein Kolleg widmen; wer aber einige Zubusse hätte, der würde am liebsten eine halbe Lehrersstellung mit halbem Gehalt annehmen, um noch mehr freie Zeit zu gewinnen. Die Schulbehörden würden nur dem Interesse des nationalen Unterrichts im Ganzen dienen, wenn sie die Habilitationsreflektanten bei der Anstellung in Universitätsorten bevorzugten und wie in der Schweiz die Verleihung halber Lehrersstellen (wenigstens für die ersten zehn Dienstjahre) genehmigten. Die Versuchung, zu viel Kollegien neben einander zu lesen, fällt für die Privatdocenten mit dem Aufhören der Kollegiengelder ohnehin fort, so dass die Behörden keine erhebliche Störung der dienstlichen Interessen von einer solchen Nebenbeschäftigung zu befürchten haben. Es ist nun einmal unerlässlich, die Docententhätigkeit auch in der philosophischen Fakultät mit irgend einem anderweitigen Broterwerb zu verknüpfen, wenn nicht die akademische Laufbahn immer mehr ein Vorrecht der Wohlhabenden werden soll; es liegt aber im dringenden Interesse des Ganzen, dass die Verknüpfung der Docenten-Thätigkeit mit dem journalistischen Broterwerb verhütet werde, und schon darum ist es nöthig, dass der Verbindung[– 140 –] des Lehramtes an einer höheren Schule mit demjenigen an einer Hochschule die Wege gebahnt werden. Selbstverständlich muss diese Verkoppelung von Aemtern mit der Ernennung zum besoldeten ausserordentlichen Professor ein Ende finden.

Ich bilde mir nicht ein, dass mit den vorgeschlagenen Aenderungen in der Einrichtung der Vorlesungen, in den Gehaltsverhältnissen der Professoren und in der Stellung der Docenten alle Klagen über unser Universitätswesen verstummen würden; aber ich glaube, dass damit eine gründliche Abhilfe für die offensten Schäden und dringendsten Uebelstände geschaffen werden würde, denen auf anderem Wege schwer oder gar nicht beizukommen ist, und dass das Ansehen und die Zufriedenheit der Professoren, die Würde ihres Berufs und der Nutzen der Universitäten in unserem öffentlichen Leben sehr gewinnen würden, ohne dass dabei wesentlich höhere Aufwendungen als jetzt erforderlich wären.

IX.
Das Philosophie-Studium an den Universitäten.

Unsere moderne Wissenschaft läuft Gefahr, am empirischen Material zu ersticken und im Specialismus zu verknöchern. Die Versenkung in die Erfahrung und die Arbeitstheilung sind die beiden Principien, durch welche sowohl die Naturwissenschaften wie die Gesellschaftswissenschaften und geschichtlichen Disciplinen einen so grossen und raschen Aufschwung genommen haben. Aber die moderne Wissenschaft steht bereits wie der Zauberlehrling rathlos da, und fühlt sich unfähig, die heraufbeschworenen Geister zu bannen. Die[– 141 –] Erkenntniss verliert sich mehr und mehr im Einzelnen, anstatt Honig aus demselben heimzubringen für den gemeinsamen Stock der systematischen Wissenschaft, von der alle Specialforschung ausgegangen ist, und zu der sie alle zurückkehren muss, wenn sie für die Menschheit Werth behalten soll. Wie Bergleute, die in verschiedenen Schachten und Stollen arbeiten, ohne gemeinsamen Plan des Abbaus sich immer weiter von einander entfernen müssen, bis schliesslich keiner mehr das Klopfen der anderen hört, so geht es mit der immer weiter fortschreitenden Specialisirung der Specialfächer und -Gebiete. Schon innerhalb des engeren Faches, z. B. der Mathematik, hört die Möglichkeit der Verständigung der Specialisten unter einander und ihrer gegenseitigen Kontrole mehr und mehr auf; selbst die praktische Heilkunst droht sich in lauter Specialheilkünste aufzulösen und die Naturwissenschaften arten immer mehr zu einem zusammenhanglosen Sammelsurium kleinkrämerischer Detailnotizen aus.

Dabei schwillt die Literatur zu immer ungeheuerlicherer Ausdehnung an. Rund fünfzehntausend neue Werke jährlich in deutscher Sprache und etwa ebensoviel in französischer und englischer Sprache zusammengenommen, das macht allein schon in einem Menschenalter von einem drittel Jahrhundert eine Million Bücher, welche durch die in demselben Zeitraum erschienenen periodischen Druckschriften an Masse noch weit übertroffen werden. Wie die Thatsachenforscher in der Empirie, so gehen die historischen Forscher in der Literatur unter; jede zu behandelnde Detailfrage erfordert, um gründlich zu sein, schon jetzt das Studium eines so kolossalen literarischen Materials, dass die Frage in ganz enger Begrenzung gestellt werden muss, wenn die Bearbeitung nicht gleich ins Ungemessene anschwellen soll. Wenn dieser in den beiden[– 142 –] letzten Menschenaltern in Fluss gekommene Process noch ein Jahrhundert so fortgeht, so muss die europäische Geistesbildung in einem Grade erstarren, welcher alle Verknöcherung des chinesischen Mandarinenthums, Talmudismus oder Islamismus um ebenso viel hinter sich zurücklassen wird, wie die Bibliotheken unserer Urenkel den Bücherschatz der Chinesen, Juden und Muhamedaner.

Will die moderne Wissenschaft nicht sich selber zum Spott werden und die Welt zu dem Gefühl bringen, dass die Vernichtung einer solchen sich greisenhaft überlebenden Civilisation durch den Vandalismus der Socialdemokratie eine wenn auch nur negative kulturgeschichtliche Wohlthat sein würde, so muss sie in sich gehen und bedenken, dass Arbeitstheilung und Empirie in der Wissenschaft niemals Selbstzweck, sondern nur dienende Mittel zu einem höheren Zweck, an sich aber bloss nothwendige Uebel sind. Diese Uebel sind nur dann unschädlich zu machen, wenn ein jeder ihrer Gefahren und ihrer unmittelbaren Werthlosigkeit eingedenk bleibt, und nie die Verpflichtung aus den Augen verliert, den Zusammenhang seiner Detailforschungen mit dem grösseren Ganzen, dem sie dienen, und den Zusammenhang des letzteren mit der einheitlichen Totalität der Wissenschaft festzuhalten. Nur weil das Gefühl dieser Verpflichtung entschwunden ist, konnte das Uebel die schon jetzt erreichte Ausdehnung gewinnen; das Gefühl der Verpflichtung ist aber darum den Forschern abhanden gekommen, weil ihnen das Verständniss für die einheitliche Totalität des menschlichen Erkenntnisssystems vor lauter Ueberschätzung der partikulären und singulären Erfahrung verloren gegangen ist.

Anstatt einzusehen, dass die Empirie für alle Wissenschaften nur in demselben Sinne Mittel zum Zweck sein kann, wie die Technik für alle Künste, hat die[– 143 –] Wissenschaft sich auf die „Suche“ gelegt, wie die Kunst auf die „Mache“; es ist die höchste Zeit, von dieser verhängnissvollen Verwechselung zwischen Mittel und Zweck zurückzukommen und zu begreifen, dass alle zusammengeschleppten Materialien aus Natur und Geschichte noch ebensowenig wissenschaftliche Erkenntniss ausmachen, wie die Routine der künstlerischen Technik ein Kunstwerk, sondern dass die Wissenschaft und Kunst erst da beginnen, wo die erweiterte Erfahrung oder gesteigerte Fertigkeit zu einem Unterbau von höherem Niveau werden, auf dem sich Werke des Geistes erheben.

Die einheitliche Totalität des Erkenntnisssystems hat man von jeher Philosophie genannt; die Ueberschätzung der Empirie hatte zur Kehrseite eine Unterschätzung der Philosophie, insbesondere ihres einheitlichen Centrums: der spekulativen Metaphysik, ohne welchen die Philosophie in haltlose Trümmer auseinanderfällt. Die Missachtung der Philosophie führt nothwendig zur Unterschätzung des selbstständigen Werthes der Einzelwissenschaften; sind aber erst einmal die Einzelwissenschaften aus ihrem Dienstbarkeitsverhältniss zur Philosophie herausgenommen, so geräth das ganze System in Auflösung, indem innerhalb jeder Einzelwissenschaft sich derselbe Vorgang wiederholt, d. h. jede Specialrichtung sich für berechtigt hält, ihren selbstständigen Werth gegen die Wissenschaft zu behaupten, deren Theil sie ist. So gelangt schliesslich jeder Dreck und Quark dazu, den gleichen Werth wie die höchsten Blüthen des Geisteslebens vor dem Forum der Wissenschaft zu beanspruchen, weil er ebensogut Gegenstand der Erfahrung wie diese ist. Soll diesem Unfug unsrer Zeit gesteuert werden, so müssen, damit die Specialforschungen wieder als dienstbare Glieder und Werkzeuge der Einzelwissenschaften begriffen wer[– 144 –]den, vor allen Dingen erst wieder alle Einzelwissenschaften als dienstbare Glieder und Werkzeuge der Philosophie begriffen werden, so muss der Philosophie im Bewusstsein der Vertreter der modernen Wissenschaft wieder die Stelle als Königin der Wissenschaften, oder als Wissenschaft der Wissenschaften, nämlich als einheitliche Totalität und inneres Band des menschlichen Erkenntnisssystems eingeräumt werden.

So lange man dagegen wähnt, die Philosophie sei ein überwundener Standpunkt, und die einheitliche Totalität der Wissenschaften müsse mit der Zeit von unten herauf sich ganz von selbst erbauen, wenn nur jeder Arbeiter an seinem Stein rüstig weiter klopft, so lange wird die Zersplitterung, Entgeistigung und Versumpfung der Wissenschaften in atomistischer Spezialisirung progressiv zunehmen. Die Empirie als solche bringt immer nur Divergenz ins Unendliche mit sich; die Konvergenz der Ergebnisse muss immer erst der die Erfahrung bearbeitende Geist hineinbringen; um diess aber zu können, muss er ein Centrum als Zielpunkt der Konvergenz im Sinn haben. Die Empirie wird ewig unfertig bleiben, weil sie ihrer Natur nach endlos ist; wollte der Geist auf die Beendigung der Empirie warten, bevor er die Ergebnisse im Sinne einer systematischen Einheit zieht, so würde er niemals anfangen dürfen. Die Philosophie wird jederzeit unvollkommen sein müssen, weil jederzeit die Empirie unvollendet sein wird; aber auch die unvollkommenste Philosophie ist besser als gar keine und ist im Stande, die konvergirende Bearbeitung der Erfahrung zu ermöglichen und das einheitliche System der Erkenntniss zu fördern.

Der Einfluss der Philosophie auf die Einzelwissenschaften und auf die allgemeine Bildung einer Zeit kann unter sonst gleichen Umständen um so grösser sein, je vollkommener sie ist, und sie kann um so vollkommener[– 145 –] sein, auf eine je vollständigere Empirie sie sich stützt. Da nun gegenwärtig eine vollständigere Empirie zur Verfügung steht als je zuvor, müsste auch eine vollkommenere Philosophie möglich sein, mithin auch deren Einfluss grösser sein können als je zuvor. Allerdings ist es gegenwärtig durch den Umfang und die unverarbeitete Zersplitterung der Empirie dem Einzelnen fast unmöglich gemacht, dieselbe in dem Sinne zu umspannen und zu beherrschen, wie es einem Aristoteles, Leibniz, oder auf viel niedrigerer Stufe selbst noch einem Alexander von Humboldt möglich war. Auch unter den Philosophen wäre jetzt eine Arbeitstheilung zum Zwecke einträchtigen Zusammenarbeitens nöthiger als je, damit die nächsten Ergebnisse der Materialien zuvörderst so gesichtet und geordnet würden, dass ein genialer Kopf sie endlich zusammenfassen könnte.

Davon ist aber keine Rede; die offiziellen Vertreter der Philosophie in Deutschland sind vielmehr in denselben Fehler der divergenten Arbeitstheilung ohne philosophische Rücksichtnahme auf den Einheitspunkt des Erkenntnisssystems gerathen wie die Vertreter der Einzelwissenschaften, und dieser Fehler, der bei ihnen doppelt tadelnswerth, hat natürlich dazu beigetragen, das Ansehn der Philosophie noch tiefer herunterzudrücken. Wenn die Mehrzahl der Universitätsphilosophen, die sonst über gar nichts einverstanden ist, doch darin einig ist, dass die spekulative Methaphysik veraltete phantastische Mythologie ohne irgend welchen wissenschaftlichen Werth ist, und dass es die Hauptaufgabe der Universitätsphilosophie ist, die Methaphysik mit Fanatismus bis zur endlichen Vernichtung zu bekämpfen, so darf man sich nicht wundern, dass auch die Universitätsprofessoren der übrigen Wissenschaften schon aus Höflichkeit gegen ihre Kollegen nicht widersprechen, und dass die Philosophie den letzten Rest[– 146 –] von Ansehen, den sie vor einigen Jahrzehnten noch genoss, bei dem gegenwärtigen Geschlecht eingebüsst hat.

Die heutigen Kathederphilosophen sind im Durchschnitt unfähig nicht nur zu eigenen philosophischen Leistungen, denn zu solchen sind sie gar nicht verpflichtet, sondern auch zur geschichtlichen Uebermittelung unsrer nationalen geistigen Errungenschaften, weil sie in diesen, ohne sie zu studiren, bloss die spekulative Metaphysik hassen und verachten. Ihre Arbeiten bewegen sich meist auf dem Gebiete einer unfruchtbaren Aristotelischen oder Kantischen Philologie, falls sie sich nicht gar mit dem Nachkäuen der englisch-französischen Sensualisten und Positivisten begnügen; d. h. sie plagen sich ausschliesslich mit den veralteten und geschichtlich längst überwundenen Systemen vergangener Zeiten, welche für uns nothwendig schon darum zu unvollkommen sein müssen, um brauchbar zu sein, weil sie sich auf einen Standpunkt der Empirie stützen, gegen welchen der heutige sehr weit vorgeschritten ist. Günstigsten Falles bestehen die Leistungen unserer Universitätsphilosophen darin, dass sie, anstatt zu philosophiren, ebenfalls empirisches Material zusammenschleppen, indem sie den Physiologen auf dem Felde der Sinneswahrnehmung mit mühsamem geduldigem Experimentiren in’s Handwerk pfuschen. Die Ausnahmen unter ihnen, welche die Geschichte der deutschen Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts verstanden haben und anregend wiederzugeben wissen, sind mit der Laterne zu suchen; aber diese pflegen sich dann auch wieder zu keinem energischen Protest gegen das Treiben ihrer Kollegen aufraffen zu können, und wagen sich nicht einmal mehr an den Versuch heran, die philosophischen Systeme, welche vor zwei oder drei Menschenaltern bewunderungswürdig waren,[– 147 –] in einer dem heutigen Standpunkt der Empirie entsprechenden Weise umzubilden.

Wie ist es nun möglich, dass die Philosophie trotz der Bestrebungen der Akademiker, sie zu Grunde zu richten, zu neuem Ansehn komme, und dadurch die moderne Wissenschaft überhaupt vor völliger Verknöcherung und Versumpfung rette? Das radikalste Heilmittel wäre vielleicht das, sämmtliche Universitätsphilosophen zu pensioniren und die Philosophie als Gegenstand der Vorlesungen aus der philosophischen Fakultät zu streichen. Aber das wäre eine unnöthige Verletzung der Lehrfreiheit unsrer Universitäten. Ich glaube, dass man die heutigen Professoren und Docenten der Philosophie ruhig weiter dociren lassen kann, wenn man nur aufhört, ihre Vorlesungen direkt oder indirekt zu Zwangskollegien zu stempeln. Wahrscheinlich würden in kurzer Zeit die meisten ihre Vorlesungen aus Mangel an Zuhörern einstellen müssen. Es ist entschieden der Philosophie unwürdig, sie zu einem Zwangsstudium herabzusetzen, und der Erfolg davon muss grade der umgekehrte von demjenigen sein, der damit beabsichtigt ist. Die erste Stufe der Entwürdigung hat die Philosophie damit überwunden, dass sie aufgehört hat, obligatorischer Unterrichtsgegenstand der Knaben in den Gymnasien zu sein; die zweite wird sie erst dann überwinden, wenn sie aufhört, obligatorischer Unterrichtsgegenstand für Jünglinge zu sein, die gar kein philosophisches Bedürfniss haben, sondern bloss Geistliche oder Lehrer oder Aerzte zu werden wünschen.

Es ist ja ein sehr schöner Gedanke, dass Philosophie das eigentliche und einzige Studium sei, durch welches man eine höhere allgemeine Bildung im akademischen Sinne des Wortes erlangen könne, und es sieht verlockend aus, allen akademisch Gebildeten dieses Studium, sei es als Grundlage, sei es als Abschluss ihres[– 148 –] Bildungsganges aufzuerlegen. Aber wie gestaltet sich dieser Gedanke in der nüchternen Wirklichkeit? Bei den Juristen hat man es längst aufgegeben, das Hören eines rechtsphilosophischen Kollegs zu fordern; denn in der That ist Rechtsphilosophie für sich allein und ausser allem Zusammenhang mit dem Ganzen der Philosophie betrieben nichts weniger als philosophisch zu nennen, und das Gemenge von unverdauten juristischen Brocken mit principiell verkehrten Naturrechts- oder Vernunftrechts-Theorien, das man meist unter dem Namen Rechtsphilosophie zu hören bekommt, kann nur dazu beitragen, den Misskredit der Philosophie bei den angehenden Praktikern zu steigern. In dem Studiengang der Mediciner hatte sich das Studium der Philosophie schon vor längerer Zeit auf ein psychologisches Kolleg reducirt, in welchem sie sich in der Regel schon um des Zeitmangels willen mit den dürrsten und dürftigsten Eintheilungen, Definitionen und Notizen begnügen mussten, ohne auch nur einen Hauch philosophischen Geistes durch ihre Seele wehen zu spüren. Glücklicher weise ist es immer mehr ausser Gebrauch gekommen, dieses Kolleg zu hören, selbst dann, wenn es ausnahmsweise noch beigelegt wird, und nur die Zöglinge des Friedrichs-Wilhelms-Instituts zu Berlin seufzen noch unter dem Zwange, den Besuch eines bestimmten psychologischen Kollegs dienstlich kontrolirt zu sehen. In der Staatsprüfung der Theologen ist man so verständig gewesen, mit dem „Kulturexamen“ auch die Prüfung in der Philosophie wieder zu beseitigen; der etwa 40 Seiten lange Auszug aus dem ohnehin schon allzuknappen Schweglerschen „Grundriss der Geschichte der Philosophie“, welcher zum Zweck dieser Prüfung mit Vorliebe gepaukt wurde, war geradezu ein Hohn auf die Sache. Es ist deshalb als ein grosser Fortschritt anzusehen, dass die Prüfung in der Philosophie durch[– 149 –] den Zwang zum Belegen eines philosophischen Kollegs ersetzt ist, und es bleibt nur der weitere Schritt zu vollziehen, dass das Honorar dieses Zwangscollegs als das anerkannt und ausgesprochen wird, was es thatsächlich ausschliesslich ist, als eine Erhöhung der Prüfungsgebühren, so dass den Professoren die Unwahrheit des Besuchsattestes erspart wird.

Die Kandidaten der Lehrerstaatsprüfung haben heute allein noch das wenig beneidenswerthe Vorrecht, in Philosophie wirklich geprüft zu werden. Was in aller Welt haben aber diese Philologen, Linguisten, Historiker, Literarhistoriker, Mathematiker und Naturforscher von Berufs wegen mit Philosophie zu schaffen, seitdem der Unfug der philosophischen Propädeutik auf den Gymnasien in Wegfall gekommen ist? Wenn man aber wirklich darauf sich stützen will, dass die Philosophie zur höheren allgemeinen Bildung des Studirten gehört, warum misst man dann die Juristen, Mediciner und Theologen mit anderm Maasse als die Lehrer, warum stellt man dann nicht entweder die Prüfung in der Philosophie für alle Fakultäten wieder her, oder wandelt nicht auch bei den Lehrern die Prüfung in diesem Gegenstande in die blosse Verpflichtung um, Testate über gehörte Kollegien beizubringen? Das Studium des Juristen und Theologen ist wahrlich nicht ausgedehnter und zeitraubender als dasjenige des Philologen, Linguisten, oder Mathematikers, so dass entweder keinem von ihnen oder allen die Zeit bleibt, ihre allgemeine Bildung durch Philosophie zu vervollständigen. Wenn wirklich erst die Ablegung einer Staatsprüfung in der Philosophie den Aichstempel der höheren akademischen Bildung gewährt, so hätten ja die Lehrer gegenwärtig die Ehre, die einzigen wahrhaft gebildeten unter allen Akademikern zu sein!

Nun wird man mir aber schwerlich widersprechen,[– 150 –] wenn ich behaupte, dass jemand darum, weil er die Staatsprüfung in Philosophie bestanden hat, ebensowenig eine Ahnung von Philosophie zu haben braucht, wie jemand, der sie nicht gemacht hat, und dass auch der grösste Philosoph, wenn er sich nicht speciell auf diese Prüfung vorbereitet hätte, ganz ebenso wie jeder Dummkopf in derselben durchfallen würde. Ein Kandidat mit ernsten philosophischen Interessen, der beispielsweise die Werke der drei grössten Philosophen unsers Jahrhunderts, Schellings, Schopenhauers und Hegels mit Fleiss und Verständniss ganz durchstudirt hätte, würde ganz wenige Examinatoren finden, bei denen ihm dieses Studium etwas nützte, aber sehr viele, bei denen es ihn zu Falle bringen würde, wenn er seine „bornirte Liebhaberei für derartige metaphysische Mythologien“ auch nur ganz leise durchschimmern liesse. Die wenigen Examinatoren in Deutschland, welche überhaupt fähig wären, ihn über Schelling und Hegel zu examiniren (denn Schopenhauer kommt ja nur als Gegenstand der verächtlichen Widerlegung in Betracht), kann er sich nicht aussuchen, sondern er muss darauf gefasst sein, von demjenigen geprüft zu werden, der grade an der Reihe ist. Im günstigsten Falle ist dies ein Professor, der nichts fragt, als was aus den Diktatheften seiner Vorlesungen zu lernen ist; der Kandidat hat dann gewöhnlich noch Zeit, diese Diktathefte sich zu verschaffen und einzupauken, nachdem er den Namen des Examinators erfahren hat. Im ungünstigen Falle bleibt er auf Paukbücher wie Schwegler’s Grundriss angewiesen, und hat dann alle Mühe darauf zu verwenden, unter der Hand die Richtung und die Liebhabereien des Examinators auszukundschaften, damit er sich ja hütet, eine demselben missfällige Aeusserung zu thun, was ihm bei den meisten mehr schaden würde als kundgegebene Wissenslücken. Da die Mehrzahl der heutigen[– 151 –] Universitätsprofessoren in dem Hass und der Verachtung gegen die Metaphysik einig ist, so hat er sich vor allen Dingen davor zu hüten, irgend ein positives philosophisches Interesse zu zeigen oder gar eine metaphysische Ansicht zu äussern, da dies die Verkehrtheit und Unfähigkeit seines philosophischen Urtheils schon zur Genüge beweisen würde. Weiss er dagegen ein kräftig Wörtlein gegen die Metaphysik an geeigneter Stelle bescheidentlich einfliessen zu lassen, so hat er damit schon einen guten Stein im Brett. Fragt man ihn, mit welchem Philosophen er sich genauer befasst habe, so nenne er ja keinen Metaphysiker, sondern womöglich einen der Engländer, welche gegen die Metaphysik und für den gesunden Menschenverstand geschrieben haben; diess ist schon deshalb empfehlenswerth, weil deren Gedankenkreis so arm ist, dass er leicht zu bewältigen ist. Will er aber einen Deutschen nennen, so gehe er ja nicht über Kant hinaus, und studire von dessen Werken nur die kritischen und negativ-dogmatischen, nicht etwa die positiven und mehr spekulativen Partien.

Diese Regeln sind nicht von mir aufgestellt, sondern sie sind unter der studirenden Jugend ziemlich allgemein bekannt, und werden von den Klügeren, welche im Leben ihr Fortkommen zu finden wissen, sorgsam beobachtet. Was hiernach der Prüfungszwang einzig und allein bewirken kann und bewirken muss, ist eine Steigerung des ohnehin schon in der Zeitströmung liegenden Misskredits der Philosophie, insofern die Studirenden genöthigt werden, solche Kollegien zu hören und solche Philosophen zu lesen, welche gegen die Möglichkeit und den Werth der eigentlichen Philosophie vom empiristischen oder skeptischen Standpunkt aus ankämpfen. Ausserdem aber werden die Studirenden, sei es direkt durch das unfehlbare Absprechen[– 152 –] und die zur Schau getragene Verachtung von Seiten der gehörten Docenten, sei es indirekt durch das private Nachsprechen solcher Urtheile von Seiten der Hörer, ausdrücklich davon abgehalten, sich eine philosophische Bildung da anzueignen, wo sie allein zu gewinnen ist, nämlich bei wirklichen Philosophen. Entweder haben die jungen Leute, wie es bei 90–95% der Fall ist, kein philosophisches Bedürfniss, dann wird ihnen durch den Zwang, sich mit einer Vorbereitung für die philosophische Prüfung herumzuplagen, die Philosophie, die ihnen blos gleichgültig war, erst recht verekelt; oder aber sie haben ein philosophisches Bedürfniss, dann würden sie ohne die Nöthigung, sich zur philosophischen Prüfung vorzubereiten, vielleicht, ja sogar wahrscheinlich, auf irgend eine Weise der wirklichen Philosophie näher getreten sein, während ihnen jetzt die Beschäftigung mit derselben noch vor der Bekanntschaft verleidet und ihrem philosophischen Bedürfniss statt des Brotes ein Stein geboten wird. Dadurch lassen sich dann die meisten noch rechtzeitig überzeugen, dass die Philosophie, die sie kennen zu lernen künstlich verhindert worden sind, denn doch nicht werth sei, studirt zu werden, und sie können nun aus philosophischer Einsicht den Chor der unphilosophischen Kameraden stärken und führen, der in allen Tonarten die Philosophie verspottet und verhöhnt. Wenn doch noch ein Einzelner durch alle diese kunstvollen Vorkehrungen und Einrichtungen zur Verekelung der Philosophie sich hindurcharbeitet, so hat er es wahrlich einem guten Stern zu danken.

Wenn man auch von der durchschnittlichen Beschaffenheit der heutigen Universitätsphilosophen ganz absehen wollte, so bliebe der Zwang zum Hören vereinzelter philosophischer Kollegien doch immerhin widersinnig. Entweder muss man mindestens vier Semester[– 153 –] hindurch ein Kolleg mit mindestens vier Wochenstunden über Geschichte der Philosophie (wie z. B. Kuno Fischer es hält) obligatorisch machen, oder man soll die Philosophie vollständig der akademischen Freiheit überlassen, welche sie grade mehr als irgend ein anderer Gegenstand durch ihr innerstes Wesen verlangt. Ein Semester von drei bis vier Monaten ist viel zu kurz, um in einem Kolleg von nicht mehr als vier Wochenstunden einem Anfänger irgend etwas Philosophisches von nachhaltiger Wirkung bieten zu können; entweder beschränkt man sich auf gemeinverständliche Trivialitäten, oder man giebt etwas Positives und schreckt dann durch die an die Aufmerksamkeit und das Verständniss gestellten Anforderungen schon wieder die meisten ab. Am gründlichsten ist diese Abschreckung, wenn mit dem Kollegium logicum begonnen wird, dieser traurigen Ruine aristotelisch-mittelalterlicher Scholastik; dagegen pflegt sich die Trivialität am behaglichsten in der „Psychologie“ zu ergehen.

Wären nur erst die Staatsprüfungen in der Philosophie abgeschafft, so würden sich auch die Promotionen in diesem Fache sehr vermindern, für deren Vorbereitung ähnliche Rücksichten zu beobachten sind, wie die oben angeführten. Soweit die Promotionen zwecklose Geldausgaben aus blosser Titelsucht sind, kann es nur im allgemeinen Interesse (wenn auch nicht in demjenigen der Fakultäten) liegen, wenn dieselben ausser Uebung kommen und der Lehrer sich künftig ebenso mit dem Titel „Oberlehrer“ wie der Mediciner mit dem Titel „Arzt“ begnügt. Soweit aber die Promotionen eine Vorbereitungsstufe zur akademischen Docentenlaufbahn bilden, werden sie in der Philosophie um so seltener werden müssen, je geringer der Bedarf an philosophischen Docenten wird, und da der jetzige Bedarf wesentlich nur durch die philosophischen Staatsprüfungen[– 154 –] der Lehrer bedingt ist, so würde mit dem Wegfall dieser letzteren auch die Zahl der Universitätsphilosophen allmählich sehr zusammenschmelzen. In demselben Maasse würde das Ansehn der Philosophie in der studirenden Jugend und beim gebildeten Publikum allmählich wieder steigen.

Sieht man von solchen Philosophen ab, welche erst in Folge hervorragender philosophischer Leistungen eine Universitätsprofessur erhielten (wie Hegel, F. A. Lange), oder welche zwar Universitätsprofessoren aber nicht eigentlich Philosophieprofessoren waren (wie Kant), oder welche erst nachträglich während ihrer akademischen Laufbahn von der Naturwissenschaft oder Medicin zur Philosophie übergingen (wie Lotze, Wundt), so kann man die Förderung der Philosophie durch Philosophieprofessoren (wie Fichte und Schelling) als eine seltene Ausnahme betrachten. Zu allen Zeiten (vielleicht mit alleiniger Ausnahme der Wende des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts) waren die Gesammtleistungen der unzünftigen philosophischen Literatur einer Generation denen der zünftigen bedeutend überlegen, ungefähr in demselben Maasse wie es bei der Poesie der Fall sein würde, wenn wir bei jeder Universität 2–6 officielle „akademische Dichter“ hätten. Indem aber zu jeder Zeit die Universitätsphilosophie sich als die officielle und eigentliche Vertreterin der Philosophie ihrer Zeit gerirt und die Bedeutung der zeitgenössischen unzünftigen Philosophie zu ignoriren oder doch zu verkleinern gesucht hat, hat sie zu jeder Zeit dem Ansehn der gesammten Philosophie mehr geschadet als genützt. Diess war schon damals der Fall, als sie noch wirkliche Philosophie zum Inhalt hatte; um wie viel mehr muss es heute der Fall sein, wo sie es zum grösseren Theile nicht mehr ist, sondern mehr und mehr zur principiellen „Antiphilosophie“ heruntergekommen[– 155 –] ist. Auch die sorgfältigste Auswahl unter den Docenten wäre ausser Stande, alle gegenwärtigen deutschen Lehrstühle der Philosophie mit geeigneten Persönlichkeiten zu besetzen; deshalb ist aus der Besetzung der Mehrzahl derselben mit ungeeigneten nicht einmal jemanden ein besonderer Vorwurf zu machen.

Kein Fach bedarf aber auch weniger als die Philosophie des mündlichen Unterrichts, weil keines weniger dazu da ist, von unreifen Jünglingen ohne inneres Bedürfniss getrieben zu werden, und es in keinem Fache leichter und zugleich unentbehrlicher ist, unmittelbar aus den Quellen (d. h. aus dem überreichen Schatz der philosophischen Klassiker) zu schöpfen. Kein Feld bedarf weniger als die Philosophie der staatlichen Pflege und des behördlichen Schutzes, aber keines bedarf auch dringender der vollen ungestörten Freiheit der Entwickelung, zu welcher eben auf den Universitäten so lange die Bedingungen fehlen, als kollegialische und politische Rücksichten auf die zu einem Körper verkoppelte theologische Fakultät unumgänglich sind. Wenn die Philosophie in dem „Volke der Denker“ so lange trotz aller Verkümmerung durch eine unfreie Universitätsphilosophie und philosophische Staatsprüfungen und Zwangskollegien gediehen ist, so wäre es ein völlig unbegründeter Kleinmuth, zu fürchten, dass sie nicht mehr gedeihen könnte, wenn der Alp dieser Verkümmerung von ihr genommen und sie der vollen Freiheit zurückgegeben wird. Je weniger deutschen Jünglingen durch zwangsweise Quälerei mit einer unfreien und mehr oder minder unphilosophischen Philosophie der Geschmack an der Philosophie verdorben wird, desto mehr werden die abfälligen Urtheile gegen die Philosophie, welche jetzt unter den Gebildeten der Nation das Gewöhnliche sind, schwinden, und desto mehr Jünglinge werden dazu gelangen, ihren philosophischen[– 156 –] Wahrheitstrieb da zu befriedigen, wo er allein die ihm angemessene und zugleich nahrhafte Kost findet, bei den grössten unter den deutschen Philosophen.

Ich zweifle keinen Augenblick daran, dass auch aus der Lehrerprüfung über kurz oder lang die Philosophie als Unterrichtsgegenstand ausscheiden wird, und dass einmal aller staatliche Zwang zum Hören (oder Belegen) philosophischer Vorlesungen aufhören wird; ob aber dieser Zopf noch früh genug abgeschnitten werden wird, und ob namentlich die Nachwirkungen dieses Fortschritts früh genug eintreten werden, um das bereits angerichtete Unheil vor dem Eintritt einer völligen Verknöcherung unsrer Specialwissenschaften wieder gut zu machen, das scheint mir höchst fraglich. Deshalb wende ich mich an die studirende Jugend und fordre sie auf, bis zum Eintritt dieser Reform getrennte Buchführung zu halten, d. h. die Befriedigung ihrer philosophischen Bedürfnisse niemals und auf keine Weise mit der Vorbereitung zu den philosophischen Staatsprüfungen zu vermengen, vielmehr die letzteren als die leeren Formalitäten zu erledigen, zu denen sie längst herabgesunken sind, daneben aber mit ausdauerndem Eifer und stiller Andacht heimlich vor den Examinatoren dem Studium der edelsten Geistesblüthen der neueren philosophischen Literatur obzuliegen und sich an ihnen mit echt philosophischem, echt modernem und echt deutschem Geiste zu erfüllen.

[– 157 –]

X.
Die Ueberbürdung der Schuljugend.

Es darf als unbestreitbar gelten, dass heute von den Schülern mehr häusliche Arbeiten verlangt werden als vor einem Menschenalter, und dass trotzdem von dem Durchschnitt der Schüler weniger geleistet wird, so dass die Procentzahl der Nichtversetzten in jeder Klasse beträchtlich gegen früher gewachsen ist. Die statistische Ermittelung, ob die Jugend jetzt in durchschnittlich schlechterem Gesundheitszustand als vor einem Menschenalter die Schule verlässt, ist unausführbar; aber auch wenn dieses Resultat festzustellen wäre, könnte man doch einwenden, dass es durch andre Ursachen als die gestiegene Arbeitslast bedingt oder doch mitbedingt sei. Wichtiger scheint mir die wachsende Abneigung der Jugend gegen die Schule als Zeugniss dafür, dass letztere mehr und mehr zu einer krafterschöpfenden Drillanstalt geworden und mehr und mehr ihren Beruf, zur geistigen Freudigkeit und Frische anzuregen, verfehlt. Nur der Begabte, der zugleich sich kein Gewissen daraus macht, sich durchzuschwindeln, kommt ohne leiblichen Schaden davon, nimmt aber dafür die Gewöhnung an Umgehung der obliegenden Pflichten als bedauerliche Mitgift in’s Leben mit. Die Verfügung des preussischen Unterrichtsministeriums vom März 1882 drängt zwar auf Beschränkung der Unterrichtsziele und namentlich des Memorirstoffs, aber bis jetzt, wie es scheint, in der Hauptsache vergeblich. Es dürfte deshalb nicht überflüssig sein, wenn Laien ihre Stimmen erheben, um nicht blos über die Thatsache zu klagen, sondern auch auf die Ursachen und die Wege zur Abhülfe hinzuweisen.

[– 158 –]

Die genannte Centralverfügung weist auf die gegenwärtig in Aufnahme gekommene fachmässige Vorbildung der Lehrer als auf eine Hauptquelle der gesteigerten Ansprüche hin; aber es ist psychologisch unmöglich, durch einfache Verfügungen Abhülfe zu schaffen, so lange die Schulbehörden erklären, sich nicht auf den Standpunkt stellen zu können, dass nur auf wenige Unterrichtsgegenstände Werth gelegt wird, wie es der Geh. Oberregierungsrath Bonitz bei der Debatte über den Cultusetat im preussischen Abgeordnetenhause gethan hat. Ich behaupte, dass nur Lateinisch und Griechisch Hauptgegenstände in dem Sinne sind, dass eine entschiedene Unreife in einem derselben ein Hinderniss der Versetzung sein darf und muss. Dagegen ist es ganz gleichgültig, ob ein Schüler der Quarta sicher im elementaren Rechnen ist, oder ob ein Schüler der Tertia Genügendes in der Geometrie leistet; wenn er mathematische Anlage hat, so holt er das in den oberen Klassen mit spielender Leichtigkeit ganz unvermerkt durch den mathematischen Unterricht nach, und wenn er solche nicht hat, wie thatsächlich etwa zwei Drittel der Menschen sie nicht haben, so ist es eine unbillige Härte, ihm wegen solchen Mangels seine Carriere zu verderben und seinen Eltern schwere Opfer aufzuerlegen. Was der mathematische Unterricht in den letzten drei Jahren bei Unbefähigten überhaupt leisten kann, den Hinweis auf die Strenge der mathematischen Beweisführung, das leistet er auch dann, wenn das Auswendiglernen dieser Beweise und die Fertigkeit im Aufgabenlösen unbefriedigend erscheint.

Ebenso verkehrt ist es, die deutsche Grammatik in den unteren oder den deutschen Aufsatz in den oberen Klassen zu einem für die Versetzung massgebenden Hauptgegenstand aufzubauschen, während letzterer bei der Abgangsprüfung allerdings als solcher[– 159 –] gelten muss. Der Mangel an deutscher Grammatik wird später durch den Ueberfluss an lateinischer und griechischer ausreichend ersetzt; die Entwickelung des Stils aber tritt meist plötzlich und stossweise bei Erlangung einer gewissen Geistesreife ein, und die Unzulänglichkeit des Stils in Sekunda ist kein Hinderniss dafür, dass der Betreffende in Prima den besten Aufsatz der Klasse liefert. Das Französische kann auf dem Gymnasium niemals eine besondere Wichtigkeit beanspruchen, theils deshalb nicht, weil die ihm zugetheilte Stundenzahl thatsächlich zu gering ist, um etwas Ordentliches darin verlangen zu können, theils deshalb nicht, weil es in keinem Gegenstande leichter und gebotener ist, sich durch Lektüre, Conversationsstunden u. s. w. nach Abgang von der Schule fortzubilden, als in diesem, also grade hier die Mängel der Schulbildung am ehesten nachgeholt und ausgeglichen werden können, wozu nach der Schulzeit weit eher Musse zu finden ist als während derselben. Die Fächer, welche hauptsächlich das Gedächtniss in Anspruch nehmen (Geschichte, Geographie, Naturkunde) verlangen am allerwenigsten den Fortbau auf einem in den vorhergehenden Klassen gelegten Grunde; man kann bei ihnen anfangen, wo man will, und hat bis zur Abgangsprüfung doch alles in den unteren und mittleren Klassen Gelernte wieder spurlos vergessen. Der Physikunterricht der obersten Klassen endlich besitzt seinen Werth lediglich in dem Hinweis auf den strengen Kausalzusammenhang der Naturprocesse und auf das Wesen der experimentellen Induction; dieser Zweck muss durch die Theilnahme am Unterricht selbst erreicht werden, und es kommt gar nicht darauf an, wie viel von dem mitgetheilten Wissensstoff im Gedächtniss behalten wird. Die Entlastung von Memorirstoff sollte vor allen Dingen beim Religionsunterricht beginnen, insbesondere bei demjenigen der bereits Confirmirten;[– 160 –] nichts wird von den christlichen Abiturienten als eine drückendere Härte empfunden, als dass sie zu allen sonstigen Wiederholungen hinzu sich noch mit dem Auswendiglernen von Katechismus und Kirchenliedern plagen müssen, von dem ihre jüdischen Mitschüler befreit sind.

Man kann nicht von jedem Schüler verlangen, dass er sich für alle Unterrichtsgegenstände gleichmässig interessiren soll; jeder aber wird durch Anlage und Neigung auf gewisse Nebenfächer hingewiesen sein, in denen er schon durch die blosse Theilnahme am Unterricht gut beschlagen ist. Das gerade verleidet unserer Jugend die Schule, dass ein gleiches Interesse für Alles von ihr verlangt wird, wobei aber für das Meiste ein bloss erzwungenes Interesse herauskommt. Wer in Latein und Griechisch Befriedigendes leistet, der sollte unbedenklich versetzt werden, wofern nur die Leistungen in allen Nebenfächern sich zu einem befriedigenden Gesammtergebniss kompensiren, also ein Minus der einen durch ein Plus der andern gedeckt wird; wer aber in Latein, Griechisch, deutschem Aufsatz und Mathematik genügt, der müsste versetzt werden, auch wenn er in allen anderen Fächern nicht genügt, und das Urtheil über die Fertigkeiten dürfte auch nicht den allergeringsten Einfluss auf die Versetzung haben.

Nach ähnlichen Grundsätzen wurde in meiner Jugend in den mir bekannten Schulen thatsächlich verfahren, und die Endresultate waren bessere als heute, wo trotz aller Erschwerung des Schulgangs und trotz der vermehrten häuslichen Aufgaben die Leistungen in den beiden Hauptgegenständen des Gymnasiums im Sinken sind. Früher, wo der häusliche Fleiss sich in der Hauptsache auf Latein und Griechisch beschränkte, und Jeder die seiner Neigung nicht entsprechenden Unterrichtsstunden ungestraft zur Abspannung seiner Auf[– 161 –]merksamkeit, d. h. zur Erholung und Kräftigung derselben für die nächsten Stunden benutzen konnte, da wurde weit mehr gelernt, als jetzt, wo die multa das multum unmöglich machen, und die gesteigerte Intensität des Unterrichts in allen Stunden ohne Ausnahme (theilweise in Verbindung mit dem Wegfall des Nachmittagsunterrichts) die durchschnittliche Aufnahmefähigkeit der Schüler für den gesammten Unterricht herabsetzt.

Dass es wirklich die Steigerung der Ansprüche in den Nebenfächern ist, welche die Leistungsfähigkeit der Schüler herabsetzt und sowohl direkt wie indirekt zu einer das Uebel nur noch verschlimmernden Vermehrung der häuslichen Arbeiten zwingt, das sieht man am besten an einem Vergleich zwischen Gymnasium und Realschule; die letztere hat mehr Schulstunden und mehr häusliche Arbeiten als das erstere, und trotzdem leistet sie noch weniger als dieses, weil ihr in noch weit höherem Grade die Koncentration auf wenige Hauptfächer fehlt. Fragt man aber, wodurch die Schulbehörden zu einer Steigerung ihrer Ansprüche in den Nebenfächern der Gymnasien gegen früher gedrängt worden sind, und wodurch sie in dieser falschen Stellung festgehalten werden, so ist es offenbar der Zug der Zeit nach Verstärkung der Bildung in den Realwissenschaften, d. h. eine falsche Anticipation der realistischen Fachbildung durch die Schule als allgemeine Bildungsanstalt, oder mit anderen Worten eine fehlerhafte Koncurrenz der Gymnasien mit dem Lehrziel der Oberrealschulen und Realgymnasien, welche eben als verschiedene Grade der Verquickung von allgemeinen Bildungsschulen mit Fachschulen zu charakterisiren sind. Die Schulbehörden haben nur den Fehler begangen, dem Andrängen nach vermehrter Berücksichtigung der Realwissenschaften auf den Gymnasien zu sehr nach[– 162 –]zugeben, und zwar nicht sowohl in Vermehrung der Stundenzahl, als vielmehr in Steigerung der Anforderungen an die Schüler. Die sich jetzt am lautesten über die Ueberbürdung beklagen, sind gerade diejenigen, welche die Regierung in die falsche Position gedrängt haben und auf diesem Wege immer weiter drängen möchten; gelänge es dieser Richtung, die alten Sprachen im Gymnasium zu Gunsten der Realwissenschaften noch erheblich zu beschränken, d. h. das Gymnasium der Realschule ähnlicher zu machen, so würde damit die Ueberbürdung der Gymnasialjugend noch über die der jetzigen Realjugend hinauswachsen, weil die alten Sprachen doch immer Hauptgegenstände würden bleiben müssen, während sie schon auf dem jetzigen Realgymnasium in den oberen Klassen nur noch ein Nebenfach darstellen.

So lange die öffentliche Meinung diesen letzten Grund der Ueberbürdung nicht erkennt und ihren Einfluss auf die Schulbehörden nicht in umgekehrter Richtung wie bisher geltend macht, so lange werden alle Palliativmittel sich als wirkungslos erweisen; erst wenn die Schulbehörden ihr Aufsichtspersonal dahin instruiren, bei den Versetzungs- und Abgangsprüfungen nur den Hauptgegenständen Wichtigkeit beizumessen, bei den Nebenfächern aber der Individualität der Schüler volle Rechnung zu tragen, erst dann werden die Lehrer der Nebenfächer aufhören können, sich der Versetzung eines in ihrem Fache nicht genügenden Schülers zu widersetzen. Dann wird wieder mehr Freiheit für Lehrer und Schüler und mit ihr mehr Freudigkeit und Liebe zur Arbeit in die Schule ihren Einzug halten, die jetzt durch den Anspruch, das Klassenziel von allen zu versetzenden Schülern erreicht zu sehen, mehr und mehr einer mechanischen Drillthätigkeit gewichen ist. Es wird sehr wohl möglich sein, die Klassenziele in den[– 163 –] Nebenfächern sogar auf der Höhe zu erhalten, auf welche sie durch die fachmässig gebildeten Lehrer hinaufgeschraubt sind, sobald man nur darauf verzichtet, alle Schüler dieses Ziel erreichen zu sehen. Dann werden die Schüler allerdings nicht mehr mit so einförmig gleichmässiger Bildung wie jetzt die Schule verlassen, sondern der eine mehr in diesen, der andere mehr in jenen Fächern gebildet, alle aber mit einem gegen jetzt erhöhten geistigen Niveau und mit unzerstörter Geistesfrische und Lernfreudigkeit. —

Unter solchen Voraussetzungen allein wird es auch möglich sein, die häuslichen Arbeiten auf das zu beschränken, worüber sie aus idealem Gesichtspunkt nicht hinausgreifen sollten: auf Vorbereitung und Wiederholung. Man hat sich zwar gegenwärtig allgemein daran gewöhnt, die häuslichen Arbeiten als eine unentbehrliche Ergänzung des Schulunterrichts anzusehen, aber ich halte diesen Gesichtspunkt für entschieden falsch, und meine, dass dessen Falschheit Jedem ohne Weiteres einleuchten müsste, wenn nicht die Gewöhnung an das Gegentheil als an den normalen Zustand die Unbefangenheit des Urtheils aufhöbe. Die Schule ist dazu da, um der Jugend die nöthige allgemeine Bildung einzupflanzen, und wenn sie sich dazu unfähig erklärt ohne Zuhülfenahme des Hauses, so beweist sie damit nur, dass entweder in ihrer Organisation ein Fehler steckt, oder dass die Lehrer die ihnen obliegende Aufgabe theilweise auf das Haus abzuwälzen bequemer finden.

Zehn Stunden Handarbeit findet man heute bereits zuviel und steuert auf den achtstündigen Normalarbeitstag für alle Arbeiter hin; sollte da nicht achtstündige Arbeitszeit für die Kopfarbeit Erwachsener erst recht als unüberschreitbares Maximum gelten, und sollten nicht drei Viertel dieses Quantums die allerhöchste,[– 164 –] aus hygienischen Rücksichten an jugendliche, unreife Gehirne zu stellende Zumuthung sein? Dieses Maximum wird aber mit 34–38 Wochenstunden (in Gymnasien und Realgymnasien) thatsächlich erreicht und die hinzutretende Inanspruchnahme für häusliche Arbeiten ist eine auf keine Weise zu rechtfertigende Ueberanspannung. Es hat weit schädlichere Folgen, wenn man bei geistiger, als wenn man bei körperlicher Arbeit die gesundheitlich zulässige Grenze überschreitet; während aber der Staat den jugendlichen Fabrikarbeitern durch gesetzliche Beschränkungen der Arbeitszeit ohne Rücksicht auf die dadurch herbeigeführte Verringerung des Familieneinkommens seine Fürsorge widmet, stützt er sich darauf, dass Schulmännerkonferenzen eine 3–3½-stündige häusliche Arbeitszeit neben 36 wöchentlichen Schulstunden für keine Ueberbürdung der reiferen Jugend erklären, anstatt darin den Wahrspruch einer bei der Angelegenheit dringlichst interessirten Partei zu erblicken. Die Schulmänner haben ohne Zweifel das Interesse, die Arbeitsleistung der Schule, d. h. ihre eigene Arbeitsleistung durch Mitanspannung des Hauses zu erleichtern; das Haus aber hat um so mehr Grund, diesem Uebergriff zu wehren, als derselbe eben so unpädagogisch wie gesundheitswidrig ist, und wenn die fehlerhafte Organisation der Schule, die Unfähigkeit zur selbstständigen Erfüllung ihrer Aufgabe, bis zu einem gewissen Grade als Entschuldigungsgrund für diesen Uebergriff gelten kann, so liegt darin eine um so stärkere Aufforderung, an diese fehlerhafte Organisation die bessernde Hand zu legen.

Die häuslichen Arbeiten sind unpädagogisch. Mit diesem Satz bin ich sicher, den allgemeinen Widerspruch hervorzurufen, weil die Schulmänner das Publikum seit Generationen an die entgegengesetzte Ansicht zu gewöhnen gewusst haben. Als Grund wird angeführt,[– 165 –] dass durch die häuslichen Arbeiten die Jugend zu selbstständigem Arbeiten angeleitet werde. Unter „selbstständigem Arbeiten“ kann man zweierlei verstehen: erstens das Studium selbstgewählter Wissenszweige und die Bearbeitung selbstgewählter Aufgaben, und zweitens die zwangsweise Lösung gestellter Aufgaben ohne Gedankentausch und erleichternden Verkehr mit dritten Personen. Der erste Zweck stellt eine Ausnahme dar, denn er passt bekanntlich nicht für die Schule im Ganzen, sondern nur für die reifste Stufe der Schuljugend, und für diese halte auch ich die Privatlektüre und die freiwilligen Arbeiten für höchst wünschenswerth. Aber bei der jetzigen Erschöpfung der Schüler hören die sogenannten freiwilligen Arbeiten ganz auf, oder sie werden selbst wieder zu unfreiwilligen häuslichen Arbeiten mit einem gewissen Spielraum in der Wahl der Gegenstände; in beiden Fällen geht ihr pädagogischer Werth als Gewöhnungsmittel an Spontaneität der Arbeit verloren. Nur besonders begabte und zugleich intensiv strebsame Köpfe können trotz der Ueberbürdung die Kraft und Frische behalten, mit Privatstudien ihren persönlichen Neigungen zu folgen; bei der Mehrzahl aller Schüler bewirkt das heutige System der häuslichen Arbeit erfahrungsmässig nicht die Lust zu selbstständigen Arbeiten, sondern bloss den Ekel vor aller Geistesarbeit, einen so gründlichen und dauerhaften Ekel, dass er nach der Erholung der ersten Studiensemester beim Biere nur noch durch den Zwang des Brotstudiums überwunden zu werden pflegt. Der Erfolg spricht also entschieden gegen die pädagogisch richtige Wahl des Mittels zum Zweck; die Unzweckmässigkeit desselben ist aber auch deductiv zu erweisen.

Der eigentliche, regelmässige und allgemeine Zweck der häuslichen Arbeiten im gewöhnlichen Sinne des[– 166 –] Worts kann nur der zweitgenannte sein: die zwangsweise Lösung gestellter Aufgaben ohne Gedankentausch und erleichternden Verkehr mit dritten Personen. Dass dieser Zweck durch Klausurarbeiten in der Schule wirklich erreicht werden kann und thatsächlich erreicht wird, ist zweifellos; dass er nur durch häusliche Arbeiten erreicht werden könne, ist also völlig unhaltbar, vielmehr sind solche für diesen Zweck ganz überflüssig, wofern nur die Schule einen genügenden Theil ihrer Zeit auf Klausurarbeiten verwendet. Dass aber dieser Zweck überhaupt durch häusliche Arbeiten erreicht werden könne, ist von zwei Voraussetzungen, die beide bei der Mehrzahl der Schüler offenbare Fictionen sind, abhängig: erstens dass die Arbeiten wirklich zu Hause gefertigt, und zweitens, dass sie ohne Hülfe dritter Personen und ohne unerlaubte Hülfsmittel gefertigt werden.

Bekanntlich wird ein Theil der weniger kontrolirten Arbeiten gar nicht, ein anderer Theil in der Schule (theils in Zwischenstunden, theils in weniger scharf kontrolirten Schulstunden), ein dritter Theil mit fremder Hülfe, ein vierter vermittelst unerlaubter Hülfsmittel (älteren Klassenheften, gedruckten Uebersetzungen u. s. w.) gemacht; in allen diesen Fällen wird der Zweck der häuslichen Arbeiten, und zwar nicht nur der pädagogische, sondern auch der Lehrzweck verfehlt, und an seine Stelle tritt die unpädagogische Gewöhnung der Schüler an Unredlichkeit, Täuschung, Schwindeleien und Umgehung der obliegenden Pflichten. Je mehr der Unterricht den Charakter schablonenhafter Dressur annimmt, desto leichter sind die älteren Klassenhefte zu missbrauchen; je besser und billiger die sogenannten Eselsbrücken werden, desto nutzloser werden die Präparationen, da die allein werthvolle Uebung im selbstständigen Konstruiren der Sätze dabei wegfällt.[– 167 –] Je höher die Anforderungen der Schule an die häuslichen Arbeitsleistungen in allen Fächern gespannt werden, desto stärker wird der Anreiz, aus naturgemässem Selbsterhaltungstriebe oder aus berechtigter Nothwehr gegen die Ueberbürdung solche sich darbietende Erleichterungsmittel zu brauchen, desto mehr wirkt die Schule als direkte Verführerin auch der gewissenhafteren Schüler zum Betrug, desto tiefer sinken naturgemäss die durchschnittlichen Klassenleistungen, weil das Unterrichtssystem auf Voraussetzungen fusst, die nicht erfüllt werden. Was aber die persönliche Selbstständigkeit der Schüler bei der Anfertigung häuslicher Arbeiten betrifft, so ist dieselbe schon da aufgehoben, wo mehrere Schüler sich zu gemeinsamer Arbeit vereinigen; sie wird in ihr striktes Gegentheil verwandelt, wo die Schule, wie es oft genug vorkommt, bei Schülern von nicht besonderer Fassungskraft geradezu auf die unterstützende Mitwirkung des Hauses rechnet. Am widersinnigsten sind die häuslichen Arbeiten in der Mathematik, da sie erfahrungsmässig doch nur von ganz Wenigen selbstständig gelöst, von den Uebrigen aber bloss abgeschrieben oder mit fremder Hülfe gefertigt werden.

Der begabte Schüler, der in den Schulstunden allein genug lernt zur Erreichung des Klassenziels, ist sachlich im Rechte, wenn er die für ihn überflüssige Plage der häuslichen Arbeiten geschickt umgeht; der unbegabte gewissenhafte wird unter ihrer Last erdrückt und verfehlt entweder das Ziel der Schule oder kommt gebrochen an Geist und Körper aus ihr hervor; der unbegabte gewissenlose wird zum Schwindel verleitet und verfehlt das Ziel, weil es von seinesgleichen ohne gewissenhafte Erfüllung aller Anforderungen nicht zu erreichen ist; die mittleren Köpfe schlagen sich zur Noth durch, verlassen aber endlich mit gerechtem Groll,[– 168 –] mit Ueberdruss und Bitterkeit die Schule. Die Lehrer werden durch die Kontrole der Unredlichkeit in einen beständigen Krieg mit den Schülern hineingedrängt, an dessen Stelle bei dem Mangel häuslicher Arbeit sofort die wohlthuendste Eintracht träte; auch werden sie durch Beurtheilung der Schüler nach dem häuslichen Fleiss in eine falsche Richtung hin, und von der allein massgebenden Beurtheilung nach den Leistungen abgelenkt.

Angenommen, es wäre von den jetzigen Schulstunden keine einzige disponibel zu machen, um die Anfertigung der deutschen und fremdsprachlichen Aufsätze und mathematischen Arbeiten aus dem Hause in die Schule zu verlegen, so wäre es immer noch besser, einen Nachmittag in jeder Woche mit zwei Stunden zur Anfertigung dieser Arbeiten unter Klausur anzusetzen, als den jetzigen unpädagogischen Standpunkt zu belassen; ebenso müsste ein grösserer Theil der Lektürestunden zu kursorischer Lektüre ohne Präparation verwandt werden, um den Schaden der jetzt allgemein üblichen Präparation mit Uebersetzung einigermassen wieder gut zu machen. Erst mit der Verlegung der Aufsätze und mathematischen Aufgaben unter Schulaufsicht würde die Beurtheilung derselben zu dem, was sie doch sein soll, zu einem Massstabe für die Leistungen des Schülers, und erst mit ihr würde der bei der häuslichen Anfertigung verfehlte pädagogische Zweck der Gewöhnung an selbstständiges Arbeiten wirklich erreicht werden.

Jedenfalls darf der jetzige Zustand nicht länger fortbestehn: entweder muss die Zahl der Schulstunden beträchtlich verringert werden, oder die Schule muss in der Hauptsache ohne Zuhülfenahme der häuslichen Arbeiten ihre Aufgabe erfüllen, und es ist nicht schwer zu sehen, welches dieser beiden Ziele mehr Aussichten[– 169 –] für praktische Verwirklichung bietet. Aber die durchaus gebotene Entlastung der Schüler, mag man sie nun anstreben auf welchem der beiden Wege man wolle, setzt immer als Bedingung ihrer Möglichkeit voraus, dass die Nebenfächer wieder wie früher wirklich als Nebenfächer behandelt werden und aufhören, für die Versetzungs- oder Abgangs-Reife einen mitbestimmenden Einfluss zu besitzen.

XI.
Die preussische Schulreform von 1882.

Durch die Circularverfügung des preussischen Unterrichtsministeriums vom 31. März 1882 (Berlin bei W. Hertz), welche das Ergebniss langjähriger behördlicher Erwägungen und Konferenzen darstellt, dürfte für längere Zeit in unserem höheren Schulwesen ein stabiler Zustand geschaffen sein, der erst nach Einsammlung langjähriger weiterer Erfahrungen die Hoffnung auf weitergehende Reformen offen lässt. Es liegt mir deshalb nahe, das bisher Erreichte mit den Forderungen zu vergleichen, welche ich im Jahre 1875 in meiner Schrift: „Zur Reform des höheren Schulwesens“ aufgestellt und begründet hatte.

Ich hatte dort eine mässige Aenderung des Gymnasiallehrplans zu Gunsten der Realwissenschaften und des Französischen verlangt, ferner eine officielle Anerkennung des Werthes der lateinlosen Realschulen mit neunjährigem Kursus, die ich nicht als höhere allgemeine Bildungsanstalten sondern als Mittelschulen (höhere Bürgerschulen) mit angehängter Fachschule von[– 170 –] dreijähriger Lehrdauer betrachte, und hatte endlich gewünscht, dass die vorhandenen Realschulen mit Latein entweder in reorganisirte Gymnasien oder in lateinlose Realschulen umgewandelt würden. Diese Wünsche sind durch die fragliche Ministerialverfügung, wo nicht erfüllt, doch ihrer Erfüllung näher gerückt. Wie die Unterrichtsordnung von 1859 zum ersten Male die Realschulen mit Latein officiell recipirte und einen Normallehrplan für dieselben aufstellte, so sind jetzt die lateinlosen Realschulen mit neunjähriger Lehrdauer officiell recipirt und mit einem Normallehrplan ausgestattet worden; im Gymnasiallehrplan ist eine ausreichende Verstärkung der Realwissenschaften und eine allerdings nicht ausreichende des Französischen auf Kosten des Lateinischen angeordnet, und in dem bisherigen Realschullehrplan ist durch Verstärkung des Lateinischen auf Kosten der Naturwissenschaften wenigstens eine Annäherung an das Gymnasium erzielt worden. Die Verfügung unterscheidet nunmehr folgende Arten von Schulen: Gymnasien, Realgymnasien, (früher Realschulen erster Ordnung), Oberrealschulen (früher neunklassige Gewerbe- und Handelsschulen), Progymnasien, Realprogymnasien, Realschulen (eigentlich Oberprorealschulen), alle drei mit siebenjähriger Lehrdauer, und endlich höhere Bürgerschulen, d. h. sechsklassige Schulen ohne Latein mit Französisch und Englisch, deren Lehrplan sich von demjenigen der „Realschulen“ fast nur durch das Fehlen der obersten Klasse unterscheidet, die aber eine in sich abgeschlossene Bildung geben sollen. Betrachtet man die „Oberrealschulen“ als mittlere Schulen mit aufgesetzter dreiklassiger Fachschule, so fällt der innere Unterschied zwischen Oberrealschulen, Realschulen und höheren Bürgerschulen fort und es bleibt nur die äussere Differenz in der Lehrdauer bestehen.

[– 171 –]

Wenn schon in Bezug auf die Recipirung der „Oberrealschule“ und in Bezug auf die gegenseitige Annäherung des Gymnasiums und „Realgymnasiums“ die neueste Verfügung als ein wichtiger Fortschritt in der Entwickelung unseres Unterrichtswesens angesehen werden darf, so kann man auch den Geist, in welchem die beigegebenen Erläuterungen abgefasst sind, nur mit Freuden begrüssen. Ueberall wird auf Beschränkung im Lehrstoff, namentlich im Memorirstoff, gedrungen, und vor mechanischer Beurtheilung der Schüler nach dem Ausfall der schriftlichen Klassenarbeiten gewarnt; die übermässige Anspannung der Schüler, besonders durch häusliche Arbeiten, wird nicht mit Unrecht grossentheils auf eine Ueberspannung der Lehrziele der Schule zurückgeführt, die zumeist aus der specialistischen Vorbildung der Lehrer entspringt.

Was nun zunächst die Veränderungen im Gymnasiallehrplan betrifft, so hat den äusseren Anstoss zu denselben der Wunsch gegeben, die Entschliessung der Eltern über die Laufbahn ihrer Söhne um ein Jahr hinauszuschieben; d. h. das Gymnasium und die bisherige Realschule erster Ordnung haben durch Verlegung des Beginns des griechischen Unterrichts nach Tertia eine nahezu übereinstimmende Quarta erhalten, so dass die Wahl zwischen beiden Schulen erst mit dem Eintritt in die Tertia erforderlich wird. Das Griechische würde dabei nichts verlieren, wenn in allen mittleren und oberen Klassen sieben Wochenstunden statt der bisherigen sechs für dasselbe angesetzt wären; es würde dann vielmehr durch Koncentration des Unterrichts und Vermehrung der Lektürestunden in Obersekunda und Prima geradezu gewinnen. Leider ist aber die Zahl von sieben Stunden nur für Tertia und Secunda angesetzt, während man es in Prima bei sechs Stunden belassen hat, von denen eine nach wie vor[– 172 –] (trotz des Wegfalls des griechischen Examenscriptums) den Extemporalien und der grammatischen Repetition gewidmet bleiben soll. In diesem Punkte ist die Veränderung unbedingt eine Verschlechterung, ebenso wie in der Vermehrung des geographischen und geschichtlichen Unterrichts in den drei untersten Klassen um je eine Stunde.

Ueber Unzulänglichkeit der geographischen und geschichtlichen Bildung ist noch wenig Klage geführt, und wo eine solche bestände, würde eine Vermehrung des Memorirstoffes in den untersten Klassen sich doch als erfolglos erweisen, um auf sechs bis neun Jahr später das Wissen des Abiturienten zu erhöhen. Dagegen kann die formale Bildung des Geistes durch grammatische Schulung in den Unterklassen nicht gründlich genug genommen werden, und so lange die lateinische Sprache diejenige ist, an deren Grammatik diese Schulung vollzogen wird, kann dem lateinischen Unterricht in den Unterklassen kaum eine zu hohe Stundenzahl überwiesen werden. Es wäre deshalb wünschenswerth, diese Aenderung rückgängig zu machen, d. h. dem Lateinischen die zu Gunsten der Geographie und Biographien abgenommene Wochenstunde zurückzugeben. Geschähe dies, so würde auch das Lateinische gegen solchen Zuwachs von drei Jahres-Wochenstunden in den Unterklassen ohne Nachtheil einen Verlust von zwei Jahres-Wochenstunden in Prima ertragen können, mit denen das Griechische auf seinen bisherigen Stand zu ergänzen wäre.

Für den französischen Unterricht hatte ich von Quarta bis Prima die Erhöhung der Wochenstunden von zwei auf drei verlangt; statt dessen ist nur in Quarta die Erhöhung von zwei auf fünf erfolgt. Nimmt man an, dass letztere einer Vermehrung in Quarta und Tertia von zwei auf drei gleichkommt, so bliebe noch[– 173 –] solche in Secunda und Prima zu wünschen übrig, und zwar zu Gunsten einer Ersetzung des lateinischen Aufsatzes durch den französischen. Die „Circularverfügung“ gibt zu, dass es gegenwärtig ein unerreichbares Ziel wäre, den lateinischen Aufsatz zum Ausdruck für die Gedanken der Schüler machen zu wollen, und beschränkt denselben auf den durch die Lektüre zugeführten Gedankenkreis und Wortschatz (S. 20). Aber auch innerhalb dieser Beschränkung wird die auf den lateinischen Aufsatz verwendete Zeit und Mühe nur noch bei einer mehr als mittleren Lehrkraft fruchtbar zu machen sein, während die gleiche Zeit und Mühe, auf den französischen Aufsatz verwendet, viel reichere Früchte tragen muss. Das Mindeste, was als Postulat festgehalten werden muss, ist das, dass den Gymnasien je nach den ihnen zur Verfügung stehenden Lehrkräften freigestellt wird, entweder den lateinischen, oder den französischen Aufsatz zu pflegen, und im letzteren Falle in Secunda und Prima eine lateinische Wochenstunde an das Französische abzugeben.

Die Verstärkung des mathematischen Unterrichts ist in genügender Weise erfolgt. In Secunda und Prima sind ihm vier Stunden wöchentlich gesichert, und wenn die Stundenzahl in Tertia bei drei belassen ist, so ist zum Ersatz dafür in Quinta und Quarta je eine Wochenstunde mehr angesetzt. Da nunmehr der geometrische Unterricht schon in Quarta beginnt, und in Quinta durch geometrisches Zeichnen vorbereitet wird, so kann derselbe in Tertia und Untersecunda entsprechend beschränkt, und dadurch die nöthige Zeit für gründlichere Durcharbeitung der arithmetischen und algebraischen Klassenpensa gewonnen werden (S. 24–25). Dass die Stunde für geometrisches Zeichnen in Quinta durch Verminderung der Religionsstunden von drei auf zwei gewonnen worden ist, kann nur gebilligt werden,[– 174 –] da zwei wöchentliche Religionsstunden in allen Klassen der höheren Schulen ausreichend genannt werden müssen.

Der naturwissenschaftliche Unterricht litt bisher darunter, dass ihm in Sekunda nur eine Stunde zugewiesen war, und es war deshalb gerechtfertigt, ihm die zweite Stunde auf Kosten des Lateinischen zuzutheilen. Die Naturkunde, deren Unterricht bisher in Quarta eine Unterbrechung erlitt, in dieser Klasse ebenfalls mit zwei Stunden auszustatten, dazu lag eigentlich kein Bedürfniss vor; man hat indessen einer starken Zeitströmung Rechnung getragen, indem man von den sechs durch Wegfall des Griechischen verfügbar werdenden Stunden zwei der Naturkunde zuwies (wie drei dem Französischen und eine der Geometrie).

Im Grossen und Ganzen verfolgt die neueste Reform des Gymnasiallehrplanes den rechten Weg, wenngleich die Beeinträchtigung des Griechischen — mag sie an sich unerheblich scheinen — sehr zu bedauern bleibt und früher oder später wieder gut gemacht werden muss. Das wichtigste Merkmal der Reform ist, dass das Gymnasium wieder um einen Schritt weiter geführt ist in der Abstreifung des Charakters als „lateinische Schule“; die Einbusse von neun Jahres-Wochenstunden wird die Leistungen im Lateinisch-Schreiben nothwendig immer mehr herabsetzen, so dass in etwa einem Jahrzehnt nach der Verfügung die Unhaltbarkeit des lateinischen Aufsatzes immer einleuchtender werden muss. Dann wird auch die Zeit gekommen sein, denselben durch den französischen Aufsatz zu ersetzen, und das Griechische wieder in seine ungeschmälerten Rechte einzusetzen.

Gehen wir nun zu dem Lehrplan des „Realgymnasiums“ über, so fällt zunächst in die Augen, dass in demselben das Lateinische zehn Jahres-Wochenstunden gewonnen hat, wie es im Gymnasiallehrplan deren neun verloren hat. Die Differenz der lateinischen Jahres-[– 175 –]Wochenstunden zwischen Gymnasium und „Realgymnasium“, welche bisher 42 betrug, und gegenwärtig auf 23 verringert ist, würde auf 18 sinken, wenn für die drei untersten Klassen völlige Uebereinstimmung durch Uebertragung des Gymnasiallehrplans auf die „Realgymnasien“ hergestellt würde; warum diese Konformität nicht schon hergestellt ist, obwohl die Versetzung der Schüler aus der einen Art von Anstalt in die gleichen Klassen der anderen stattfinden soll, ist mir unerfindlich. Ebenso wunderlich erscheint die Differenz im Geschichtsunterricht, wonach das Gymnasium von den vier obersten Jahreskursen zwei, das Realgymnasium deren nur einen der alten Geschichte widmet; das sieht so aus, als sollte die Geschichte des Alterthums nicht zu den „Realwissenschaften“ gerechnet werden. Die gegenwärtige Zahl lateinischer Stunden, nämlich sechs in Tertia und fünf in Sekunda und Prima, dürfte in der That ausreichen, um auf Grund hinlänglicher grammatischer Schulung eine fruchtbare Lektüre lateinischer Klassiker zu ermöglichen; da aber die einseitige lateinische Lektüre ohne Ergänzung durch die griechische nicht ausreicht, dem Geiste eine klassisch humanistische Bildung zu gewähren (wie die griechische Lektüre allein es allerdings vermöchte), so kann auch der revidirte Lehrplan der Realschule erster Ordnung die Verleihung des Namens „Realgymnasium“ keineswegs rechtfertigen. Jedenfalls ist anzuerkennen, dass auch diese Reform mit ihrer Verstärkung des altsprachlichen Unterrichts bei gleichzeitiger Ausscheidung der organischen Chemie und Beschränkung der Mineralogie und der Mathematik (in Quarta und Tertia) sich auf dem rechten Wege befindet und als vorläufige Abschlagszahlung, als Verwirklichung des augenblicklich Erreichbaren mit Dank hinzunehmen ist. Zu bedauern bleibt neben der Ungleichmässigkeit des Lehrplans[– 176 –] in den drei untersten Klassen der Uebelstand, dass die „Realgymnasiasten“ noch immer mit zwei Wochenstunden mehr belastet sind, als die Gymnasiasten, was jedenfalls einer späteren Abstellung bedarf, da die Gesammtleistungen der Realgymnasien keinesfalls eine stärkere Inanspruchnahme des Schülers rechtfertigen.

So lange zwischen reformirtem Gymnasium und Oberrealschule noch als dritte Gattung das „Realgymnasium“ besteht, so lange wird auch das Streben der Realgymnasien dauern, die an ihre Abgangsprüfung geknüpften Berechtigungen zu erweitern. Ohne das Gewicht der einer solchen Erweiterung entgegenstehenden Bedenken zu unterschätzen, wird man doch auch die Naturgemässheit eines solchen Strebens anerkennen, und wird unter Beibehalt der bisherigen Bestimmungen den Realabiturienten wenigstens für den nachträglichen Erwerb der an die Gymnasialabgangsprüfung geknüpften Berechtigungen die möglichsten Erleichterungen gönnen. Bis jetzt muss in solchem Falle eine Nachprüfung im Lateinischen, Griechischen und in der alten Geschichte abgelegt werden; es wäre nicht mehr als billig, die gegenwärtig sehr verringerten Mehrleistungen des Gymnasiums im Lateinischen durch die des Realgymnasiums im Französischen und Englischen als kompensirt anzusehen, ebenso die Nachprüfung in der alten Geschichte fallen zu lassen und ausschliesslich diejenige im Griechischen aufrecht zu erhalten.

[– 177 –]

XII.
Der Streit um die Organisation der höheren Schulen.

Wohl noch zu keiner Zeit war das Bewusstsein einer Reformbedürftigkeit unseres höheren Schulwesens so allgemein verbreitet wie jetzt, und das Gefühl, dass die preussische Reform vom 31. März 1882 nur eine unzulängliche Abschlagszahlung gewesen ist, verschärft sich zusehends. Leider besteht nur noch immer kein Einverständniss über das, was geschehen soll, um die Einrichtungen unserer höheren Schulen den Ansprüchen der modernen Bildung anzupassen. Die Regierungen haben deshalb einen schweren Stand, weil sie beim besten Willen zur Abhülfe nicht wissen, auf wen sie hören sollen.

Ohne Zweifel gibt es eine Anzahl denkender Männer, besonders in Schulkreisen, welche den gegenwärtigen Zustand für einen allen Bedürfnissen entsprechenden und durchaus keiner Aenderung bedürftigen halten; aber solche bilden doch wohl eine sehr kleine Minderheit, während die Mehrzahl Aenderungen bald in diesem, bald in jenem Sinne für wünschenswerth oder gar nothwendig erachtet. Insbesondere richten sich die Bedenken gegen die Verschiedenartigkeit unserer höheren Schulen, und selbst diejenigen, welche nicht eine vollständige Einheitsschule als Ziel hinstellen, geben doch zu, dass es sich empfehle, womöglich eine Einheit in dem unteren Theil der Klassen herzustellen. Für Gymnasien und Realgymnasien hat die preussische Reform diesem Wunsche insoweit Rechnung getragen, dass der Beginn des Griechischen von Quarta nach Tertia verlegt ist und die früheren Unterschiede im[– 178 –] Lehrplan der unteren Klassen wenigstens annähernd ausgeglichen sind. Es ist in der That nicht abzusehen, warum diese Verähnlichung nicht zu einer vollständigen Gleichheit von Sexta bis Quarta werden sollte, damit der Uebergang von der Quarta eines Realgymnasiums zur Tertia eines Gymnasiums sich fortan ebenso leicht bewerkstelligen lasse, wie jetzt der umgekehrte; dann erst würden wir eine wirkliche Bifurcation oder Gabelung für die letzten sechs Schuljahre haben.

Ein Theil der Anhänger der Gabelung geht aber weiter und fordert, dass auch die zweijährige Tertia noch einheitlichen Lehrplan erhalte und das Griechische erst in Sekunda beginne. Eine solche Beschränkung der Gabelung auf die letzten vier Schuljahre würde allerdings eine beträchtliche Beschränkung des Griechischen in der Gymnasialabtheilung einschliessen. Diese Beschränkung des Griechischen wird von den Einen als bedauerliche Folge mit in den Kauf genommen, während diese Aussicht den Anderen so erwünscht scheint, dass sie geradezu als Motiv zur Aufstellung der Forderung wirkt. Noch Andere wollen sogar das Griechische ganz auf die Prima beschränken, also die Gabelung erst dort beginnen lassen, doch sind dies bis jetzt vereinzelte Stimmen. Wer soweit zu gehen bereit ist, der geht gewöhnlich auch gleich noch weiter und weist das Griechische ganz aus der Schule hinaus auf die Universität, sei es, dass er das Realgymnasium mit verstärktem lateinischen Unterricht als Einheitsschule proklamirt, sei es, dass er für Abschluss der höheren Schule mit der Obersekunda und Verlängerung des Universitätsstudiums um zwei Jahre plaidirt.

Alle diese Bestrebungen haben noch das Gemeinsame, dass sie an der lateinischen Sprache als einem Hauptunterrichtsgegenstand des Einheitslehrplanes, wie weit der letztere nun auch hinaufreichen möge, fest[– 179 –]halten, also die lateinlose Oberrealschule entweder als höhere Schule aufgehoben wissen wollen, oder aber als eine zweite Art von höherer Schule neben dem gegabelten Realgymnasium bestehen lassen. Dieser Gruppe stehen aber andere Tendenzen gegenüber, welche die Oberrealschule mit in den Einheitslehrplan hineinziehen wollen. Wenn doch das Griechische erst in Sekunda oder Prima beginnt, so scheint es nicht unthunlich, das Lateinische erst zwei Jahre früher, also in Tertia, beziehungsweise Sekunda beginnen zu lassen und den Lehrplan der Unterklassen auf die Muttersprache und neuere Fremdsprachen zu stützen. Ein solcher Lehrplan gestattet dann eine Trifurcation, indem sich von Tertia (bezw. Sekunda) an die realistische und die humanistische Richtung scheidet, von Sekunda (bezw. Prima) an aber die letztere sich noch einmal in den Lehrplan mit und ohne Griechisch spaltet. Auf der andern Seite kann der realistische Lehrplan sich in den letzten Jahren noch einmal in eine neusprachliche und eine mathematisch-naturwissenschaftliche Abtheilung sondern, so dass wir eine Quadrifurcation erhielten, falls nicht das Griechische ganz von der Schule ausgeschlossen wird.

Die Vertreter der Ansicht, dass der altsprachliche Unterricht erst in mittleren Klassen beginnen sollte, berufen sich dabei auf das Vorbild des schwedischen Schulwesens, in welchem die deutsche Sprache aus praktischen Gründen zum Hauptgegenstand der Unterklassen erhoben ist.[10] Sie stützen sich aber ausserdem noch auf politische und sociale Erwägungen, insofern ein solcher Lehrplan es sehr erleichtert, alle Schüler[– 180 –] zuerst durch die Volksschule als Unterstufe, dann durch eine Bürgerschule als Mittelstufe und endlich durch die höhere Schule gehen zu lassen. Die sozialdemokratische Forderung der allgemeinen Aufhebung des Schulgeldes und der Versetzung aller Kinder bloss nach den Leistungen hat eine derartige Organisation des Schulwesens zur logischen Voraussetzung. Dass eine solche Stufenfolge nicht undurchführbar ist, zeigt ihre annähernde Verwirklichung im schweizerischen Schulwesen. Alle politisch radikalen und social nivellirungssüchtigen Elemente werden früher oder später diese Forderung in ihr Programm aufnehmen, und es wäre nicht unmöglich, dass die Schulreformfrage letzten Endes nicht nach pädagogischen Rücksichten und kulturellen Masstäben, sondern im Gegensatz zu diesen durch die politische und sociale Demokratisirungstendenz unserer Zeit entschieden würde.

Es ist nämlich klar, dass die Masse bei einer solchen Schulorganisation ebensoviel gewinnen würde, als die gebildeteren Stände Einbusse erleiden müssten, und da die Masse an Zahl weit voransteht, so muss der Verlust, den die geistige Aristokratie erleidet, aus socialen dämonistischen Gesichtspunkt nothwendig gegen den Gewinn der breiteren Volksschichten zurückstehen. Ob das geistige Kulturniveau des Volkes als Ganzes bei einer solchen Schädigung des Bildungsgrades seiner Aristokratie zurückgeht, das kümmert ja die Demokratie nicht, bereitet ihr eher Schadenfreude. Die Interessenpolitik der kapitalistischen Bourgeoisie oder der Liberalismus fürchtet die Verwirklichung des demokratischen Programms in diesem Punkte nicht, weil die Wohlhabenden überzeugt sind, dass sie in solchem Falle hinreichende Mittel haben würden, um ihre Kinder durch Unterricht in theuren Privatschulen besser, leichter und schneller als in der öffentlichen Volks- und Mittelschule[– 181 –] für die höhere Schule vorbereiten zu lassen. Diese Unbequemlichkeit auf sich zu nehmen wäre die liberale Geldaristokratie und der utilitarisch denkende Gewerbestand gern bereit, wenn dadurch nur das für ihre Zwecke Nützliche, d. h. der neusprachliche und mathematisch naturwissenschaftliche Lehrplan, in die Höhe kommt und die vom Nützlichkeitsstandpunkt zwecklose Quälerei ihrer Kinder mit alten Sprachen aufhört. Deshalb erhält die demokratische Nivellirungstendenz aus dem Lager des Liberalismus mächtigen Vorschub, wobei selbstverständlich alle Gabelung des Lehrplanes nur als vorläufiges Zugeständniss gilt, in der Hoffnung und mit der Absicht, dass es gelingen werde, den Beginn der Gabelung allmählich immer weiter hinauszuschieben, bis endlich als allgemeine Einheitschule die Oberrealschule oder eine ähnlich organisirte Anstalt ohne alte Sprachen übrig bleibt. Das Ideal einer solchen Schule wird schon jetzt von verschiedenen radikalen Schulreformern als Ziel hingestellt, als der vollständige Bruch mit der Reaktion und den Schatten des Mittelalters gepriesen und auf die geschichtlich naturwissenschaftliche Bildung unserer Zeit gestützt.

Fragen wir uns nun, woher es kommt, dass das Gefühl der Reformbedürftigkeit unseres Schulwesens gerade in dem letzten Menschenalter so intensiv geworden ist, so ist die Antwort: weil alle Eltern fühlen, dass ihre Kinder mit Lernstoff überbürdet werden und in Folge dessen die wirklich durch die Schule erzielte Bildungsstufe der Zöglinge zurückgeht. Blickt man auf die Geschichte des höheren Schulwesens zurück, so sieht man, wie an die ursprüngliche Lateinschule ein Unterrichtsgegenstand nach dem anderen angehängt wird, deren jeder mit gutem Rechte einen Theil der nothwendigen allgemeinen Bildung auszumachen bean[– 182 –]sprucht. Sollen unsere Kinder sich nicht vollends dumm lernen, so ist eine Verminderung der vom Lehrplan an dieselben gestellten Ansprüche unbedingt erforderlich. Jede intensivere Gestaltung des Unterrichts hat die entgegengesetzte Wirkung, ist also nur statthaft, wenn die Unterrichtszeit entsprechend verringert wird, steigert aber bloss die vorhandenen Uebelstände, wenn sie dazu benutzt wird, um entgegengesetzte Ansprüche vereint zu befriedigen. Sobald die obligatorische Einfügung des griechischen Unterrichts in den Gymnasiallehrplan in Preussen durchgeführt war, begann auch das Gefühl sich geltend zu machen, dass dem altsprachlichen Unterricht ein zu grosser Antheil der verfügbaren Zeit eingeräumt sei, und dieses Gefühl fand theils in der Entstehung der Realgymnasien und Oberrealschulen, theils in kleinen Korrekturen des Gymnasiallehrplans seinen Ausdruck. Aber die Unbefriedigung blieb bestehen.

Das Bewusstsein ist allgemeiner geworden, dass die Oberrealschule keine den Konkurrenzanstalten ebenbürtige höhere allgemeine Bildung zu bieten habe; nach der neuesten Einschränkung ihrer Berechtigungen scheint es fast unvermeidlich, dass dieselbe sich wieder in die Bestandtheile auflöst, welche in ihr verquickt sind und in dieser Vereinigung den falschen Schein einer höheren Schule sich angemasst haben, nämlich in die höhere Bürgerschule einerseits und in die mittlere Fachschule andererseits. Dass das Gymnasium mit dem Lehrplan von 1882 im Grossen und Ganzen eine höhere allgemeine Bildung vermittelt, wird nicht bestritten, doch werden immer noch in einzelnen Punkten Lücken in derselben gefunden und wird vor Allem beklagt, dass diese noch lückenhafte Bildung nur auf Kosten einer wirklichen Ueberbürdung der Jugend erlangt werde. Das Realgymnasium endlich ist ein unglückliches Zwitterding zwischen der alten Lateinschule[– 183 –] und der modernen Oberrealschule; ohne Latein würde es kein Gymnasium sein, aber was sie an Latein gibt, daran hat doch wieder kein Schüler rechte Freude und es ist zu wenig, um eine humanistische Bildung zu vermitteln. Das Schlimmste aber ist die durch die Entwickelung der Realschulen neben den Gymnasien entstandene Spaltung unseres Schulwesens, welche die einheitliche Bildung der Nation zerreisst und auf dem Widerspruch beruht, als ob es zwei beste Methoden zur Gewinnung einer zeitgemässen allgemeinen höheren Bildung geben könnte. Dieser Widerspruch kann auch durch keine Gabelung gehoben werden, sondern nur durch die volle Einheitsschule. Alle gefühlsmässige Antipathie gegen den altsprachlichen Unterricht als gegen einen unzeitgemässen Rest des Mittelalters hat eine historische Grundlage nur gegen das Lateinische als Unterrichtsgegenstand der alten Lateinschule, schliesst aber nur aus Unkenntniss das Griechische mit ein, welches im Mittelalter gar keine Rolle spielte. Man sieht sich in dem Widerspruch befangen, dass man gern los möchte von dem unzeitgemäss gewordenen Lateinischen und doch fühlt, aus der des altsprachlichen Unterrichts beraubten Schule keine rechte höhere Bildung schöpfen zu können.

Der entscheidende Punkt liegt im Griechischen, und hierauf spitzt sich neuerdings in der Diskussion der Fachkreise die Schulreformfrage mehr und mehr zu. War es ein Fehler, die Lateinschule, welche sich ohnehin den Realdisciplinen öffnen musste, auch noch mit dem Griechischen zu belasten? Müssen wir diesen falschen Schritt zurückthun, d. h. zur Lateinschule zurückkehren und deren Lehrplan bloss um die Realdisciplinen erweitern? Müssen wir den verminderten Bildungswerth der lateinischen Literatur für die heutige Zeit geduldig in den Kauf nehmen, und immerhin noch[– 184 –] das Beste daraus machen, was daraus zu machen ist, um nur nicht ganz der humanistischen Bildung verlustig zu gehen? In der That, wir müssten uns dabei bescheiden, wenn es keinen anderen Ausweg gäbe. Wir müssten dann die Einheitsschule dadurch herstellen, dass wir auf dem Realgymnasium das Lateinische auf Kosten der Realdisciplinen bedeutend verstärken, und auf dem Gymnasium die Zahl der griechischen Stunden an das Lateinische und die Realdisciplinen vertheilten. Das Beste, was unser heutiges Gymnasium an humanistischer Bildung bietet, würde einer so gewonnenen Einheitsschule freilich fehlen, die Kenntniss der griechischen Dichter, Geschichtsschreiber und Redner, und die Unzulänglichkeit der durch die lateinischen Schriftsteller vermittelten Weltanschauung würde mit jedem Menschenalter schärfer zum Bewusstsein gelangen, bis endlich das Missverhältniss zwischen Ertrag und aufgewendeter Arbeit einem künftigen Geschlecht allzu schreiend däuchte, um es noch länger zu ertragen. Die Antipathie gegen das Lateinische und die schon jetzt unsere reifere Schuljugend durchziehende spöttische Missachtung gegen dessen Literatur würde mit jedem Jahrzehnt wachsen, bis über kurz oder lang das nackte Realprincip, unterstützt durch die oben angeführten politischen und socialen Interessen über den fadenscheinig gewordenen Humanismus den Sieg davon trüge.

Die Frage ist nur, ob wirklich die Wiederausscheidung des Griechischen das einzige Mittel zur Vereinfachung des gymnasialen Lehrstoffes ist, ob nicht die Männer, welche das Griechische als obligatorischen Unterrichtsgegenstand in das deutsche Gymnasium einführten, doch auf dem rechten Wege waren, und ob nicht die dadurch entstandene Ueberbürdung mit zwei alten Sprachen bloss eine Uebergangskrisis ist, wie sie bei jedem Umschwung tiefgreifender Organisationen[– 185 –] fast unvermeidlich ist. Das Lateinische hat der abendländischen Kultur über die Nacht des Mittelalters hinweggeholfen und ist die Brücke geworden, auf welcher sie in der Zeit der Renaissance und Reformation zu den echten Quellen ursprünglicher Klassicität, zu den Griechen, zurückzusteigen begann. Sollte dieser geschichtliche Process nicht auch in der Schule sein entsprechendes Nachspiel finden? Sollte nicht auch hier die Latinität wesentlich der Erzieher zum Hellenismus sein, und abgedankt werden können, wenn er als solcher seine Schuldigkeit gethan und ausgedient hat?

Die Völker romanischer Rasse sind leider nicht in der glücklichen Lage wie die Germanen und Slaven, das Lateinische ohne Weiteres abschütteln zu können, weil sie durch ihre eigene Vergangenheit und Sprachentwickelung zu eng mit demselben verknüpft sind. Ausserhalb Deutschlands ist entweder (wie z. B. bei den slavischen Völkern) der Sinn für die bildende Kraft der Klassicität überhaupt noch nicht genügend in’s Volksbewusstsein eingedrungen, oder man klebt noch, wie die Engländer, an der Bewunderung der lateinischen Afterklassicität fest. Gerade in Deutschland aber bemühen sich seit hundert Jahren die Besten der Nation, derselben klar zu machen, dass Hellenismus und Latinität sich verhalten wie Sonne und Mond, und das Verständniss dieser Wahrheit ist tief in die öffentliche Meinung eingedrungen. Sollte es nicht endlich an der Zeit sein, die Konsequenzen daraus für unsere Schule zu ziehen? Erscheint es nicht wie eine Verhöhnung dieser Wahrheit, dass man die Realgymnasiasten mit dem Lateinischen quält, anstatt die gleiche Unterrichtszeit auf Griechisch zu verwenden und dadurch mit einem Schlage das Realgymnasium zu einem wahrhaft humanistischen zu erheben? Wäre es nicht rationeller, in dem Gymnasium, wo eine gewisse Pflege des Lateinischen[– 186 –] aus praktischen Gründen vorläufig unentbehrlich scheint, doch den Löwenantheil des altsprachlichen Unterrichts dem Griechischen zuzuwenden, d. h. einen Rollentausch zwischen beiden alten Sprachen vorzunehmen und in Sexta gleich mit dem Griechischen zu beginnen, während der Anfang des Lateinischen auf Tertia verschoben wird? Das Griechische ist auch in rein sprachlicher Hinsicht eine viel vollkommenere und schönere Sprache, und muthet uns dabei viel verwandter und heimischer an, als das artikellose Latein mit seinem ablativus absolutus, seinem accusativus cum infinitivio und seiner verzwickten Wortstellung im Satze. Die lateinische Literatur aber hat gerade nur insoweit einen Werth, als sie griechische Muster durchschimmern lässt, und die eklektische Aufklärungsphilosophie eines Cicero, die im Aufklärungszeitalter des vorigen Jahrhunderts gerade noch als Bildungsmittel der Jugend genügen konnte, kann es heute schlechterdings nicht mehr, weder aus dem Gesichtspunkt philosophischer Spekulation, noch aus demjenigen eines philosophieverachtenden Positivismus.

Zwei Grundsätze, mögen sie nun als solche hingestellt werden, oder mögen sie als unbestimmt gefühlte den Reformtendenzen zu Grunde liegen, sind gegenwärtig kaum noch zu bestreiten: 1. zwei alte Sprachen sind des Guten zu viel, und man muss eine opfern, um die andere zu retten, und 2. das Lateinische ist als Bildungsmittel veraltet und nicht mehr die darauf verwendete Zeit und Mühe werth. Eine wahrhaft humanistische Bildung im Sinne der Einführung in die ideale Klassicität kann nach dem Massstab der heutigen Ansprüche nicht mehr das Lateinische, sondern nur noch das Griechische gewähren. Wer auf eine solche humanistische Bildung keinen Werth legt, wird die alten Sprachen überhaupt verwerfen müssen; wer sie der[– 187 –] höheren Schule gegen die anstürmende Amerikanisirung aller Werthmassstäbe zu erhalten sucht, der kämpft auf einem verlorenen Posten, wenn er seine Kräfte für die Erhaltung des Lateinischen in seinem heutigen Besitzstande einsetzt. Wollen die Vertreter des humanistischen Princips nicht durch Uneinigkeit ihre Sache zu Grunde richten, so müssen sie sich alle ohne Ausnahme um die Fahne des Griechischen schaaren und an Stelle der Lateinschule der Vergangenheit die griechische Schule als Zukunfts-Ziel in’s Auge fassen.

Die nähere Ausführung und Begründung dieser Ansichten würde hier zu weit führen, und muss ich in dieser Hinsicht auf meine Schrift: „Zur Reform des höheren Schulwesens“ verweisen. Uebrigens ist der von mir daselbst als zweite Stufe der Reform befürwortete Beginn des altsprachlichen Unterrichts mit dem Griechischen kein neuer Gedanke, z. B. von Vittorino da Feltre (1378–1447), Heinrich Stephanus, Tiberius Hemsterhuis, David Ruhnken, Franz Passow, Fichte, Herbart, Gervinus, Thaulow u. A. m. vertreten worden. Neuerdings hat mein Standpunkt warme Vertheidiger gefunden in Hans Müller („Griechische Reisen und Studien“, Leipzig bei W. Friedrich, 1887) und Johannes Flach („Der Hellenismus der Zukunft“, ebenda 1888), zwei Schriften, die trotz mancher über das Ziel hinausschiessenden Uebertreibungen bestens zu empfehlen sind und hoffentlich dazu beitragen werden, der Schulreformfrage neue Impulse zu geben und manchen zwischen Latinität und Hellenismus noch Schwankenden auf die Seite des letzteren hinüberzuziehen. Ebenfalls bekennt sich zu meinen Zukunftszielen F. Hornemann, der Schriftführer und geistige Mittelpunkt des „Deutschen Einheitsschulvereins“, allerdings nur in demselben Sinne wie ich selbst, als zu Zukunftszielen, denen man sich nur schrittweise durch eine[– 188 –] vorsichtige geschichtliche Entwickelung nähern kann[11], während Flach meine drei Stufen der Reform konfundirt und nicht beachtet, dass ich selbst in der dritten und letzten dem Lateinischen noch zwei Stunden in den letzten sechs Schuljahren bewillige.

Wenn es dem Philosophen freistehen muss, seinen Blick auch in eine spätere Zukunft zu richten, um nach fernen Idealen die gegenwärtig wünschenswerthen Schritte zu bestimmen, so haben doch alle unmittelbar zur Ausführung bestimmten Reformvorschläge sich möglichst eng an die gegebenen Zustände anzuschliessen, damit die ruhige Stetigkeit der Entwickelung gewahrt bleibt. In diesem Sinne habe ich selbst meine erste Stufe der Reform gestaltet, und in dieser Auffassung wurzeln auch die Bestrebungen des deutschen Einheitsschulvereins und seiner bisherigen Veröffentlichungen (3 Hefte), welche zu den besonnensten und durchdachtesten Erzeugnissen der neueren Schulreformliteratur gehören. „Der Zweck des Vereins ist, für die innere Berechtigung einer Gymnasium und Realgymnasium verschmelzenden höheren Einheitsschule mit Beibehaltung des Griechischen für alle Schüler einzutreten und auf die Herbeiführung einer solchen hinzuwirken.“ Der Verein als solcher hat sich noch nicht über einen Lehrplan geeinigt, wohl aber hat F. Hornemann einen solchen aufgestellt (a. a. O. S. 108), der sich ziemlich eng an den preussischen Gymnasiallehrplan von 1882 anschliesst und dem badischen von 1869 am nächsten steht.

Nicht billigen kann ich in demselben die Verminderung der griechischen Stunden in Tertia und Sekunda von sieben auf sechs, weil dieselbe dem idealen Ziel der ganzen Reform, der Stärkung des[– 189 –] Griechischen, schnurstracks zuwiderläuft und statt dessen die vom preussischen Ministerium im Jahre 1882 begonnene Zurücksetzung des Griechischen fortführt und verschlimmert. Ebensowenig kann ich es billigen, dass die Zahl der obligatorischen Wochenstunden in Prima um zwei erhöht ist, um das Englische unterzubringen; eine solche Erweiterung des Lehrplanes ohne Verminderung anderen Unterrichtsstoffes darf höchstens fakultativen Charakter haben. Soll das Englische obligatorisch werden, so muss es auf Kosten des Lateinischen geschehen. Ich sehe aber keinen Grund, warum man die hässlichste und formell armseligste aller europäischen Sprachen allen Gymnasiasten aufzwingen soll, bloss weil sie die kaufmännische Geschäftssprache von fünf Erdtheilen, die geschichtlich gewordene Volapük oder Weltsprache ist. Ein solcher Schritt wäre höchstens dann zu rechtfertigen, wenn er der Kaufpreis wäre, um den die Verschiedenheit von Realgymnasium und Gymnasium wirklich endgültig beseitigt würde; so lange aber beide Schulen mit und ohne Griechisch doch noch nebeneinander fortbestehen, hat das Gymnasium auch gar keinen Grund, sich mit solchem gegen sein Princip verstossenden Ballast zu belasten, und die fehlerhafte Zweiheit der alten Sprachen durch eine ebenso fehlerhafte Zweiheit neuerer Fremdsprachen zu verschlimmern. Die Hornemann’sche Erhöhung der französischen Unterrichtsstunden auf vier in Tertia verliert ihre Bedeutung, wenn der Beginn des Französischen in Quinta nach dem preussischen Lehrplan beibehalten wird. Um der vierten französischen Stunde willen in Tertia braucht das Griechische daselbst ebensowenig beraubt zu werden, als um des Englischen willen in Sekunda. Im Uebrigen trifft die Erhöhung der französischen Stunden in den oberen Klassen von zwei auf drei, und die entsprechende Ver[– 190 –]minderung der lateinischen Stunden mit meinen Vorschlägen zusammen, während die Vermehrung der Mathematikstunden in Tertia von 2 auf 3 durch den Beginn des geometrischen Unterrichts in Quarta entbehrlich geworden ist.

Als die Hauptfrage für den nächsten praktischen Reformschritt darf die Berechtigung oder Nichtberechtigung des lateinischen Aufsatzes gelten. In ihr können die Gegner aller alten Sprache mit den Vorkämpfern des Hellenismus Hand in Hand gehen. Die Frage ist so zu stellen: lohnt heute noch unter Voraussetzung einer mittleren Lehrkraft bei durchschnittlichem Schülermaterial die auf den lateinischen Aufsatz verwendete Zeit und Mühe in ausreichendem Masse oder nicht? Die Antwort kann nur verneinend lauten. Der lateinische Aufsatz liegt seit zwei Menschenaltern im Sterben; es handelt sich nur darum, seine Euthanasie zu beschleunigen, d. h. ihm durch Ministerialverfügung den letzten Todesstoss zu geben. Die Zahl der in einem Jahre geschriebenen lateinischen Aufsätze ist bereits auf ein Drittel, der durchschnittliche Umfang jedes einzelnen auf ein Viertel des früher üblichen heruntergegangen; dem Rest wird Niemand eine Thräne nachweinen. Einen vor hundert Jahren erschienenen beliebigen Zeitungsartikel in’s Lateinische zu übersetzen ist im Durchschnitt noch sehr viel leichter, als einen heute erschienenen; so sehr hat sich unser Begriffsschatz und unsere Denkweise im Laufe des letzten Jahrhunderts von denen des Lateinischen entfernt. Aufsätze kann man nur in lebenden Sprachen schreiben; die lateinische Sprache ist aber bereits zweimal gestorben, einmal als römische Volks- und Staatssprache, das zweite Mal als internationale Gelehrtensprache; sie lebt nur noch als römische Kirchensprache fort und fristet selbst da bloss noch ein kümmerliches Dasein.[– 191 –] Die hohe bildende Kraft des Aufsatzschreibens in einer lebenden Fremdsprache lässt sich das Gymnasium bis jetzt gänzlich entgehen. Deshalb ist die Einführung des französischen Aufsatzes ebenso wünschenswerth wie die Beseitigung des lateinischen.

Fassen wir alles zusammen, was für den nächsten Schritt einer preussischen Schulreform wünschenswerth und anzustreben ist, so sind es folgende Punkte:

1. Die drei Unterklassen des Gymnasiums und Realgymnasiums müssen identischen Lehrplan, und zwar den des Gymnasiums, erhalten, damit wenigstens in ihnen die Einheitsschule zur vollen Wahrheit wird.

2. Der Geschichtsunterricht im Realgymnasium hat die alte Geschichte in mindestens demselben Umfange zu berücksichtigen, wie derjenige des Gymnasiums, wobei für eine stärkere Berücksichtigung der neueren Geschichte in dem Ueberschuss der Geschichtsstunden genügende Zeit verfügbar bleibt.

3. Die Nachprüfung der Realgymnasialabiturienten, welche die Berechtigung eines Gymnasialabiturienten zu erlangen wünschen, ist ausschliesslich auf das Griechische zu beschränken, indem die Minderleistungen im Lateinischen als durch Mehrleistungen in den neueren Sprachen aufgewogen zu erachten sind.

4. Die französischen Unterichtsstunden in Sekunda und Prima werden im Gymnasium von zwei auf drei erhöht, die lateinischen entsprechend vermindert; der lateinische Aufsatz wird durch den französischen ersetzt.

5. Es sind Erwägungen darüber anzustellen, ob nach Verlegung des griechischen Scriptums vom Abiturientenexamen in die Versetzungsprüfung zur Prima die Pflege des griechischen Extemporales in Prima noch erforderlich ist oder nicht; nach dem Ausfall dieser Erwägung ist entweder das griechische Extemporale in Prima streng zu verbieten oder dem[– 192 –] Griechischen die siebente Stunde auf Kosten des Lateinischen zurückzugeben, um welche es bei der Verlegung des Unterichtsbeginns von Quarta nach Tertia gegen früher verkürzt worden ist.

6. Die Prüfung in der Religion ist aus dem Abiturientenexamen auszuscheiden.

7. Bei allen Versetzungs- und Abgangsprüfungen sind nur die Hauptgegenstände als entscheidend zu behandeln, den Nebenfächern aber kein besonderes Gewicht beizumessen.

8. Die häuslichen Arbeiten sind theils durch kursorische Lektüre, theils durch Anfertigung von Aufsätzen u. s. w. in der Klasse erheblich einzuschränken. Ausarbeitungen des Lehrvortrages sind entschieden zu verbieten und durch gedruckte Leitfäden zu ersetzen.

9. Der philologische Grundzug unseres altsprachlichen Unterrichtes ist durch eine mehr literarische Behandlung der Klassiker zu ersetzen. Zu dem Zweck ist mit der Reform der philosophischen Kollegien auf den Universitäten zu beginnen, da man den jungen Lehrern nicht zumuthen kann, aus eigner Kraft in ihren Unterrichtsstunden die literarische Behandlung des Inhalts der Klassiker voranzustellen, welche sie auf der Universität als unwissenschaftlich und dilettantisch verachten gelernt haben.

Diese vorläufigen Wünsche für den nächsten Reformschritt sind gewiss massvoll, und ich glaube, dass sich alle Reformfreunde, mit Ausnahme der Latinitätsverehrer, auf dieselben hin einigen könnten, wenn sie auch verschiedene Ideale als fernere Zukunftsziele dabei im Sinne haben. Eine solche Einigung thut aber dringend Noth, wenn überhaupt demnächst etwas zu Stande kommen soll. Die thatsächliche Verwirklichung der vollen Einheitsschule wird auf der nächsten Stufe der Reform überhaupt noch nicht in’s Auge gefasst[– 193 –] werden können, sondern erst für eine spätere Stufe, wenn im Gymnasium der Rollentausch des Griechischen und Lateinischen vollzogen sein wird und die Stundenzahl des Lateinischen allmählich auf ein Minimum herabsinkt. Das Ziel einer Beibehaltung des Griechischen für alle Schüler scheint mir nur dann erreichbar, wenn das Griechische in der Hauptsache zu der einzigen in der Schule getriebenen alten Sprache wird.

XIII.
Der Bücher Noth.

Der wichtigste Faktor für die Steigerung der wissenschaftlichen Bildung ist die wissenschaftliche Literatur, wie der wichtigste Faktor für ihre Erhaltung der wissenschaftliche Unterricht (auf höheren und Hochschulen) ist. Seine hervorragende Stellung im wissenschaftlichen Wettkampf der Völker verdankt Deutschland neben der Tüchtigkeit seiner Schulen und Hochschulen wesentlich dem Umfang und der Bedeutung seiner wissenschaftlichen Literatur. Weil die jährliche Bücherproduction Deutschlands grösser ist als diejenige von Frankreich und England zusammengenommen, darum kann auch jährlich eine grössere Zahl hervorragender Erscheinungen auf dem deutschen Büchermarkt gefunden werden als auf dem französischen oder englischen, während die übrigen Nationen als Konkurrenten auf dem Gebiete der Wissenschaft noch wenig in Betracht kommen.

In neuerer Zeit treten Erscheinungen hervor, welche die gedeihliche Fortentwickelung der wissenschaftlichen Literatur in Deutschland in Frage stellen; und diese Gefahr ist wichtig genug, um ihren Ursachen und ihrer Bekämpfung einige Aufmerksamkeit zu widmen. Der Absatz auch der wirklich werthvollen wissenschaftlichen[– 194 –] Bücher, die nicht gerade Unterrichtsbücher oder billige Popularisirungen sind, wird immer geringer, so dass er oft kaum ein Drittel der Kosten deckt, und in Folge dessen wird für die Autoren die Schwierigkeit, einen Verleger zu finden, immer grösser. In England und Frankreich ist das Publikum mit literarischen Interessen durchschnittlich auch wohlhabend genug, dieselben durch Bücherkauf zu befriedigen; in Deutschland welches überhaupt an Wohlhabenheit sehr zurücksteht, sind Wohlhabenheit und wissenschaftliche literarische Interessen an ganz verschiedene Stände vertheilt. Aber dieser Unterschied der nationalen Kaufkraft und der Kaufkraft der wissenschaftlich interessirten Stände zwischen Deutschland und andren Ländern hat immer bestanden und doch früher nicht eine gewisse Blüthe der wissenschaftlichen Literatur verhindert, während jetzt bei steigender Wohlhabenheit des Volkes die Neigung zum Ankauf wissenschaftlicher Werke und belletristischer Novitäten im Publikum immer mehr zurückgeht. Die Verleger können nicht anders, als diesen Verhältnissen bei ihren Unternehmungen Rechnung tragen, und die Schriftsteller haben durchaus Unrecht, wenn sie über die Verleger klagen, die doch eben nur Geschäftsleute sind.

Ich sehe die Gründe für die Abnahme des Ankaufs wissenschaftlicher und schöner Literatur in Folgendem:

1. Die Abnahme der Mussezeit der Gebildeten und ihrer Fähigkeit, dieselbe mit Ernst und Sammlung zu benutzen, begünstigt eine Literatur, welche der Erholung und Zerstreuung dient, und benachtheiligt solche, die zur Lektüre eine gewisse Stetigkeit und Concentration verlangt.

2. Das Ueberwuchern der politischen Interessen drängt diejenigen an Wissenschaft, Kunst u. s. w. in den Hintergrund und die zerstreuende und aufreibende[– 195 –] Unruhe des modernen grossstädtischen Lebens (in Berufsarbeit und Geselligkeit) macht die Sammlung immer schwerer.

3. Die Vertheuerung der städtischen Miethswohnungen und die zunehmende Häufigkeit der Umzüge machen einen grösseren Bücherbesitz zu einer immer wachsenden Last, vor deren Aufbürdung der Deutsche sich scheut, während erst das eigene Haus (wie in England) ein Behagen an eignen Büchern aufkommen lässt.

4. Die aus der Steigerung der Setzerlöhne folgende Vertheuerung der Bücherpreise ist dem Sinken des Geldwerths beträchtlich vorausgeeilt und trägt dazu bei, vom Ankauf neuer Werke abzuschrecken; die Verleger erhalten einen zu geringen Theil des vom Publikum gezahlten Preises, weil der Zwischenhandel zu hohe Provisionen verschluckt.

5. Das Anstandsbedürfniss an Bücherbesitz wird durch billige Klassiker-Ausgaben, Sammel- und Nachschlagewerke, populärwissenschaftliche Mark-Bibliotheken, Moderomane, gelegentliche Geschenkliteratur und unentbehrliche Hülfsmittel des Berufs befriedigt; meist wird auch der in der Wohnung verfügbare Raum durch dieselben erschöpft.

6. Die für Lektüre verfügbare Zeit wird durch das Bestreben, in der eigenen Berufswissenschaft nothdürftig auf dem Laufenden zu bleiben, durch eine Zeitung, einen Journalcirkel und die neuesten Moderomane, meist vollständig ausgefüllt, ohne dass Lust und Zeit zur Lektüre wissenschaftlicher Originalwerke übrig bleibt.

7. Die Gewöhnung an Journal- und Zeitungslektüre verdirbt den Geschmack und die Fähigkeit zum Lesen zusammenhängender Werke, und schon rückt auch uns Deutschen die Zeit näher, wo der „Leitartikel“ bereits als eine zu grosse Zumuthung an das Koncentrationsvermögen[– 196 –] gilt und in ein Mosaik von „Entrefilets“ aufgedröselt wird.

Gegen die Verringerung der Mussezeit durch Steigerung der Berufsansprüche giebt es ebenso wie gegen das Hinzutreten der politischen Pflichten kein Auskunftsmittel, als dass die Jugend ihre Zeit bis zur vollen Inanspruchnahme ihrer Kräfte durch den Beruf fleissig zu ihrer allgemeinwissenschaftlichen Geistesbildung benutzt und ihre Betheiligung an politischen Angelegenheiten bis zu erlangter Bildungsreife (also etwa in die dreissiger Lebensjahre) vertagt. Bis der städtischen Wohnungsmisère durch gesetzliche Verhinderung der Baustellenspekulation abgeholfen wird, wird noch viel Wasser in’s Meer laufen; bis dahin muss eine reichliche Dotation der vorhandenen staatlichen und städtischen Bibliotheken sowohl dem Publikum wie dem Verlagsbuchhandel zu Hülfe kommen und an den betheiligten Stellen das Bewusstsein geweckt werden, wie richtig eine derartige Dotation für die Erhaltung und Förderung der wissenschaftlichen Nationalliteratur ist. Wie der Romanverlag grösstentheils nur von den Leihbibliotheken lebt, so könnte der wissenschaftliche Verlag in der Hauptsache von den wissenschaftlichen Bibliotheken leben, wenn diesen nur die Mittel zur Verfügung gestellt würden, um ihre Kulturaufgabe für die Nation in doppelter Hinsicht (kaufend und ausleihend) zu erfüllen. Die Verleger müssten an alle öffentlichen Bibliotheken direct zum Buchhändlernettopreis liefern, da der Gewinn des Zwischenhändlers hier gar keinen Sinn hat und blos kulturschädlich wirkt; dagegen müsste der unbillige Zwang zur Lieferung von Pflichtexemplaren den Verlegern abgenommen werden.

Auch dem Publikum müsste die Möglichkeit eröffnet werden, direkt mit den Verlegern in Verbindung zu treten und die Distributionsspesen zu ersparen, wenn[– 197 –] es keine Bemühungen des Distributeurs (Sortimentsbuchhändlers) in Anspruch nimmt. Dies ist ausführbar durch Bildung eines Literaturbezugsvereins, der als Sortimentsbuchhandlung in’s Handelsregister eingetragen wird und den Mitgliedern nur die wirklichen Auslagen als Aufschlagsprovision berechnet. Gründlicher freilich wäre die Abhilfe, wenn die Post ebenso die Bücherspedition wie die Zeitungsspedition übernähme, neben dem periodischen Postzeitungskatalog einen periodischen Postbücherkatalog zu billigem Abonnement herausgäbe und ein Centralbücheramt zur Beantwortung von Anfragen und zur Ergänzung ungenauer Bestellungen einrichtete. Bücherbezug zur Ansicht auf bestimmte Frist würde auch beim Postbuchhandel unter Hinterlegung des Preises als Pfand ganz wohl möglich sein, und nur die unverlangten Büchersendungen zur Ansicht würden in Wegfall kommen, welche ich wegen ihres zerstreuenden Einflusses für überwiegend schädlich halte; der grösste Gewinn des Buchhandels aber würde meines Erachtens bei der Vermittelung durch die Post in der Beseitigung des verderblichen Kreditwesens liegen. So wenig die Kreis- und Gemeinde-Sparkassen durch Postsparkassen vernichtet werden können, ebenso wenig der Sortimentsbuchhandel durch den Postbuchhandel; aber eine Einschränkung der Zahl der Sortimentsbuchhandlungen, die seit der Gewerbefreiheit das vorhandene Bedürfniss weit überschritten hat, könnte dem Buchhandel nur von Nutzen sein. Schon das Antiquariat würde den Fortbestand selbstständiger Buchläden sichern, noch weit mehr aber das Bedürfniss vieler Käufer nach persönlicher Rücksprache und mündlicher Auskunft, so wie der Wunsch, die Auswahl der Ansichtsendungen von einem Dritten getroffen zu sehen; solche Käufer werden auch ferner bereit sein, dem Sortimenter für seine Mühwaltung die bisherige höhere Provision zu[– 198 –] zahlen. Soll der Postbuchhandel durch seine Vorzüge die relative Benachtheiligung des bestehenden Sortimentsbuchhandels wett machen, so müssen seine Vortheile lediglich dem Publikum, nicht der Post zu Gute kommen, d. h. die Post darf von Kunden nur den Buchhändlernettopreis für Baarbezug ohne jeden Gewinnaufschlag erheben und muss sich ihrerseits mit dem Porto für den Bestellzettel (3 Pfennig), dem Streifband- oder Paket-Porto für die gelieferten Bücher und einer eventuellen Gebühr für Auskunftsertheilung (etwa 5–10 Pfennig) begnügen. Ein solcher Postbuchhandel würde auch den bemittelteren Schriftstellern den lohnenden Selbstverlag ihrer Werke ermöglichen, während jetzt etwa die Hälfte der vom Publikum für seine Werke wirklich gezahlten Summen in den Händen der Sortimentsbuchhändler und des Kommissionsverlegers hängen bleibt. Für unbemittelte Autoren müsste dann noch ein Verein hinzutreten, welcher die eingesandten Manuscripte gegen beizufügende Prüfungshonorare beurtheilen lässt und die werthvoll befundenen auf eigene Kosten veröffentlicht; die Deckung der Kosten würde theils aus den Beiträgen der Mitglieder erfolgen, welche die Publikationen des Vereins dafür erhalten, theils aus dem Absatz an Bibliotheken und an das Privatpublikum vermittelst des Postbuchhandels. Sehr wünschenswerth wäre allerdings die Lösung der technischen Aufgabe, für Herstellung kleiner Auflagen (von 100 bis 500 Exemplaren) ein Verfahren zu finden, das erheblich billiger als der Letternsatz wäre und doch dem Auge die gewohnte Form der grossen und kleinen Druckbuchstaben darböte.

Die Gefahr, welche in dem erdrückenden Einfluss der Zeitungen und Journale liegt, muss auf doppeltem Wege bekämpft werden. Die Jugend muss begreifen, dass sie mit der Hingabe an den flüchtigen Reiz dieser[– 199 –] Lektüre ihre Seele verkauft, d. h. auf die gründliche und allseitige Ausbildung ihres Geistes verzichtet; die Aelteren aber müssen selbst aufhören, der periodischen Literatur aus Bequemlichkeit einen Werth beizulegen, den sie nicht verdient, müssen sie als ein nothwendiges Uebel betrachten und namentlich die Tagespresse mit der gebührenden Missachtung behandeln, damit die Jugend nicht durch den Nachahmungstrieb verführt werde, mit derselben ihre kostbare Mussezeit zu verderben. Die gebildete Jugend bis zu 30 Jahren soll ebensowenig Zeitung lesen, wie Politik treiben, sondern alle ihre zur Lektüre verfügbare Zeit auf Bücher verwenden; der Schnee vom vergangenen Jahr ist nicht wesenloser als der Inhalt der Zeitung von gestern. Die Jugend soll aber auch keine Journale lesen, weil solche nur die Aufgabe haben, den auf ein gewisses fertiges Bildungsniveau Gelangten auf dem Laufenden zu erhalten, aber nicht geeignet sind, eine noch fehlende Bildung zu vermitteln. Sie sind um so weniger schädlich, je zusammenhängendere und umfangreichere Abhandlungen sie darbieten, je ähnlicher sie also dem Buche werden, und um so schädlicher, je mehr sie sich dem Charakter der Zeitung annähern. Die reifen Männer sollen zu der Einsicht gelangen, dass man die „grossen“ Tageszeitungen bekämpfen und die „kleinen“ kurzen Blätter begünstigen muss, und zwar um so mehr, je weniger sie einer bestimmten Partei dienen und je mehr sie sich bemühen, die wichtigeren Thatsachen der Tagesgeschichte und die wichtigeren Urtheile über dieselben in unparteiischer Kürze zu registriren. Von Journalen aber sollen sie nur soviel in ihr Haus kommen lassen, als nothdürftig ausreicht, sie auf dem Laufenden zu erhalten und namentlich sie auf wichtige Erscheinungen der Literatur hinzuweisen. Dann aber soll auch der beschäftigste und angespannteste Mann nicht unter[– 200 –]lassen, an freien Sonntagen oder in Ferienzeiten persönlich zu den Quellen hinabzusteigen, aus denen der Geist der nationalen Kultur sich verjüngt, d. h. zu den Originalwerken der Forscher, Denker und Dichter.

XIV.
Die epidemische Ruhmsucht unserer Zeit.

Die That ist alles, nichts der Ruhm.
Goethe.

Lieber Leser! Hoffentlich bist Du nicht berühmt; aber vielleicht wünschest Du es zu werden, und wenn Du zu alt bist, um es für Dich selbst zu wünschen, so erhoffst Du es vielleicht für Deine Söhne, Schwiegersöhne oder Enkel. Lieber Leser, lass dich warnen, ehe es zu spät ist. Es gibt ja so Manches auf der Welt, wonach die Menschen sich sehnen, und dessen Schattenseiten sie erst kennen lernen, wenn sie es erreicht haben; aber der Ruhm ist unter allen diesen Prellereien die schlimmste, weil seine Schattenseiten am wenigsten bekannt und beachtet sind. Darum gestatte mir, Dir eine kleine Auswahl derselben vorzuführen, und wenn Du diese Zeilen gelesen hast, so wird Deine Zufriedenheit nicht ohne Zuwachs geblieben sein, wenn Du aus ihnen gelernt hast, Gott zu danken, dass Du nicht berühmt bist.

Die wenigsten Köpfe vertragen den Weihrauchduft des Ruhmes, ohne davon umnebelt zu werden und das Gleichgewicht vernünftiger Selbstbeurtheilung zu verlieren. Die liebenswürdige Bescheidenheit schwindet und macht einer dünkelvollen Eitelkeit Platz; wo aber vorher schon Eitelkeit bestand, liegt die Gefahr des Ueberschnappens nahe. Der Mensch wird empfindlich, wo ihm die Anerkennung vorenthalten bleibt, auf welche er[– 201 –] durch seinen Ruhm ein Recht erworben zu haben wähnt; er wird anspruchsvoll und pocht auf den schuldigen Tribut von Huldigungen. Seiner gewöhnlichen Umgebung von Familie und Freunden glaubt er sich nun enthoben und entrückt in eine höhere Sphäre des Daseins; indem er sich ihnen gegenüber ein höheres und besseres Menschenwesen dünkt, wird der vorher Fügsame besserwisserisch und herrschsüchtig und dadurch unliebenswürdig. So werden nicht nur Sitten und Manieren, sondern selbst Gemüth und Charakter verdorben und die intimsten Beziehungen vergiftet. Die näher Stehenden sehen mit Bedauern diese Veränderung, die Nächsten leiden darunter; die alten Freunde ziehen sich halbwegs zurück, auch wenn sie den Erfolg gönnen, oder fallen ganz ab, wenn sie ihn missgönnen und beneiden.

Nur seltenen Ausnahmenaturen, die schon vorher ein klares und sicheres Urtheil über sich selbst, ihr Vermögen und den Werth ihrer Leistungen besassen und gewohnt waren, das Urtheil der Menge ihrem eigenen gegenüber stolz zu missachten, nur solche werden ungeschädigt an ihrem Innersten die Probe des Berühmtwerdens bestehen. Aber wie können sie erwarten, dass die Welt an eine solche ausnahmsweise Veranlagung glauben soll? Mögen die nächsten Freunde und Angehörigen diesen Glauben besitzen und durch die tägliche Erfahrung bestätigt sehen, so werden doch die neidischen Freunde ein solches menschliches Verdienst zu dem missgönnten Ruhm hinzu einzuräumen wenig geneigt sein, und ferner Stehende oder neue Bekanntschaften werden stets mit dem Vorurtheil behaftet sein und bleiben müssen, dass die gewöhnlichen und so schwer vermeidlichen Fehler der Berühmtheit auch in diesem Falle vorliegen und vielleicht nur aus Klugheit etwas geschickter als gewöhnlich verhüllt werden. So[– 202 –] legt der Ruhm auf alle rein menschlichen Beziehungen seinen erkältenden Reiffrost, bei Allen, die es verdienen und die es nicht verdienen.

Von den bescheidenen, zurückhaltenden, feinfühligen, harmlosen, in sich befriedigten Naturen wird der Berühmte gescheut und gemieden, von den unbescheidenen, zudringlichen, eitlen Menschen, die gern mit berühmten Bekanntschaften prahlen, wird er aufgesucht. Wenn ohnehin schon ein „Mensch“ mit der Laterne gesucht werden muss, so muss der Berühmte sich zehnfache Mühe geben, einen zu finden; noch mehr Noth hat er aber, sich derer zu erwehren, an denen ihm nichts gelegen sein kann. Die Menschen können sich so schwer denken, dass ein Mann, der seinen Ruhm verdient, doch zunächst auch ein Mensch sein muss und in höherem Grade als andre ein solcher, dem nichts Menschliches fremd ist, bei dem also auch alle menschlichen Interessen sicher sind, einen Widerhall zu wecken. Statt dessen sind die Bescheidenen und Feinfühligeren, wenn der Zufall sie mit einem Berühmten zusammenführt, meist doppelt zurückhaltend und still aus Furcht, nicht geistreich und bedeutend genug, oder auf dem Specialgebiet des Betreffenden nicht bewandert genug zu erscheinen; die Andern aber plagen ihn mit verständnisslosen Fragen und Bemerkungen, durch welche sie ihr ungewöhnliches Interesse und Verständniss für die fragliche Specialität zu bekunden glauben. In Gesellschaft wie in der Sommerfrische wird der Berühmte, wenn er nicht selbst ein Eitelkeitsnarr ist, bald nur noch den einen Wunsch haben, sich vor dem erkältenden und isolirenden Nimbus des Ruhmes durch Incognito zu retten; aber dieses Mittel ist selten anwendbar und jedenfalls hilft es nicht gegen die Belästigungen zu Hause.

Da kommen die Besucher aus Neugier, die befriedigt wieder abgehen, wenn sie konstatirt haben, dass[– 203 –] der Herr X. seinem Porträt ähnlich sieht; aber diejenigen Personen, deren Bekanntschaft aus sachlichen Interessen gerade am erwünschtesten und für beide Theile am erspriesslichsten wäre, wagen leider aus Bescheidenheit oft nicht, die Schwelle der Berühmten zu überschreiten. Dass er von wirklichen oder angeblichen Fachgenossen aufgesucht wird, um Almosen und Unterstützung, Rath und Hülfe zu finden, mag noch hingehen, da es neben der meist zwecklosen Belästigung doch auch in Ausnahmefällen Gelegenheit gibt, sich nützlich zu machen; die allerunsinnigste Belästigung aber ist die durch Autographensammler, welche sich nicht mit den in Autographenalbums facsimilirten Schriftzügen begnügen wollen, sondern die Eitelkeit haben, möglichst viel Originalhandschriften zu sammeln. Wer aus Furcht, sich unbeliebt zu machen, einige Mal auf solche Zumuthungen eingegangen ist, der wird überhäuft mit brieflichen Aufforderungen; wer alle Gesuche um Autographen (mit Ausnahme der für wohlthätige Zwecke bestimmten), wie es das einzig Richtige ist, in den Papierkorb wirft, der wird durch allerlei Finten überlistet, z. B. durch fingirte Unterstützungsgesuche, oder die noch beliebtere Methode der Bitte um Rath kurz vor dem angeblich beabsichtigten Selbstmord. Der Autographensammler scheut sich niemals, sich für einen glühenden Verehrer des Angebettelten auszugeben, auch wenn er dessen Leistungen nicht anders als von Hörensagen kennt; ebenso findet man auch unter denjenigen, welche sich nach der persönlichen Bekanntschaft drängen, selten einen, der es der Mühe werth gefunden hätte, zunächst die so viel leichter zu erlangende genauere Bekanntschaft mit dem Besten, was die Person zu geben hat, mit der Reihe ihrer Thaten oder Werke zu machen.

Die Störung der Unbefangenheit im persönlichen Verkehr erstreckt sich noch über den mündlichen hinaus[– 204 –] auf den brieflichen. Der widerwärtige Personenkultus dieses Jahrhunderts, welcher allemal im umgekehrt proportionalen Verhältniss zu dem Ernst und der Tiefe des sachlichen Interesses steht, hat es fertig gebracht, dass keine private Mittheilung eines berühmten Mannes vor der Veröffentlichung nach dem Tode, ja wohl gar bei Lebzeiten, mehr sicher ist. Der Eitle mag daraus den Antrieb entnehmen, auch seine Privatbriefe so abzufassen, wie er sie für ein künftiges Publikum wünscht; wem aber solche Exposition in Schlafrock und Nachtmütze zum Ekel ist, der wird seine Korrespondenz auf die nothdürftigsten trocknen Thatsachen beschränken, und die Verkümmerung eines berechtigten Gebietes des gemüthlichen Privatlebens bitter empfinden.

Sofern die Thaten und Werke des Menschen bestimmte Tendenzen verfolgen (was eigentlich nur bei Künstlern nicht der Fall — sein sollte) werden diese Absichten und Ziele stets der Verkennung und der Missdeutung von ihren Gegnern wie vom blossen Missverstand ausgesetzt sein; es bilden sich bald zu Anfang falsche Meinungen und Stichworte (wie z. B. Grillparzer während eines ganzen langen Lebens ein „Schicksalstragödiendichter“ hiess), welche durch keine Bemühungen von Seiten des Verkannten auszurotten sind. Wenn seine Werke nicht zugleich der vergnüglichen Unterhaltung dienen, so verleiht der Ruhm nicht einmal, wie er doch billiger Weise sollte, den Rechtsanspruch, die späteren Leistungen, welche erst das Gesammtbild vervollständigen und den ersten Eindruck berichtigen können, auch nur beachtet zu sehen. Das Publikum ist nur zu geneigt zu glauben, dass ein erstes, Ruhm begründendes Fahnenwerk auch die Leistungsfähigkeit seines Urhebers in der Hauptsache erschöpfe und dass es nicht der Mühe werth sei, darauf hinzuhören, was ein solcher Autor sonst noch zu sagen haben könne (man denke z. B. an[– 205 –] Strauss). Den einzigen reellen Vortheil, den der Ruhm seinem Besitzer gewähren könnte und sollte, enthält er ihm somit auch noch vor, wenigstens in Deutschland, da das Ausland in dieser Hinsicht der Ehrenpflichten gegen seine hervorragenden Männer besser eingedenk ist. Dagegen muss der Kelch des Verdrusses über unbelehrbare Vorurtheile und ohrenverschliessenden Missverstand bis zur Hefe geleert werden. Dass die Ungerechtigkeit des Urtheils bei sachlicher Verkennung selten stehen bleibt und nur zu häufig auch die Person und deren Privatleben in den Kreis ihrer Angriffe mit hineinzieht, ist ebenso bekannt, wie dass es nur wenigen öffentlichen Persönlichkeiten erspart bleibt, Gegner und Feinde zu haben, welche die gutgläubige Verurtheilung durch eingemischte Einflüsterungen des Neides und Uebelwollens trüben und verbittern. Der Empfindliche wird an alledem eine nie versiegende Quelle der Kränkung und des Aergers haben, aber auch der Unempfindliche, der sich von dem Urtheil Anderer in ruhigem Stolze unabhängig weiss, wird doch Schmerz und Betrübniss über das mächtige Beharrungsvermögen des Vorurtheils und der Gleichgültigkeit und über die unausrottbare Existenz der Gesinnungsgemeinheit in der Welt fühlen.

Ist der Berühmte ein ausübender Künstler, dessen Leistungen zugleich dem Zeitvertreib und dem Vergnügen dienen, so bemühen sich seine Bekannten, zu seinem Benefiz (mit 50% Antheil am Reinertrag) recht viel Billets unterzubringen und versäumen nicht, selbst hinzugehen und kräftigst zu applaudiren. Ist er dagegen ein Schriftsteller, gleichviel ob seine Schriften der Unterhaltung dienen oder nicht, so kaufen sie dieselben nur in dem besonderen Ausnahmefall, dass es gerade zeitweilig Mode ist, dieselben zu kaufen und zu verschenken; andernfalls muss der Autor riskiren, dass[– 206 –] sie ihm übel nehmen, die Werke nicht von ihm geschenkt erhalten zu haben, unbekümmert darum, ob deren Verkauf nicht auch sein Benefiz (mit 50% Antheil am Reinertrag) darstellt. Dass man bei dem grössten Ruhm verhungern kann, wenn man nicht sonst eine reelle Einnahmequelle besitzt, und zwar um so leichter, je echter der Ruhm ist, das ist weltbekannt, ebenso dass der wahre und echte Ruhm meist langsam gewonnen und nur von denen erlebt wird, welche ein hohes Alter erreichen. Was aber hat der Mensch von einem Ruhm nach seinem Tode? Ist es da nicht ganz gleichgültig, ob der Nachruhm sich an den Namen heftet, den er im Leben trug, oder an einen falschen (z. B. Homer), oder ob er, wie z. B. bei dem Nibelungenliede, namenlos an den Werken haftet? Ist es nicht die Eitelkeit der Eitelkeiten, für seinen Namen nach Nachruhm zu streben, von dem man selber gar nichts hat? Und selbst wenn der Berühmte steinalt wird und alle Jubiläen rite absolvirt, so muss er doch noch seinen echten Ruhm mit ebenso strahlendem falschen Ruhm unwürdiger Mitbewerber theilen, also des Ruhmes heilige Kränze als auf gemeinen Stirnen entweihte in Empfang nehmen. Manchmal verbindet sich aber auch falscher und echter Ruhm, so dass eine Person eine Zeit lang wegen gewisser den Zeitströmungen entgegenkommenden Nebeneigenschaften seiner Leistungen falschen Ruhm geniesst, welcher allmählich erblasst und das Aufkommen des wahren Ruhmes, den seine Leistungen nach ihrem tieferen Kerngehalt verdienten, mehr behindert als befördert; der Verdacht auf eine solche Verwickelung des Sachverhalts ist überall da begründet, wo ein Künstler oder Schriftsteller, dem man Anspruch auf wahren Ruhm nicht aberkennen möchte, schon in jüngeren oder mittleren Jahren berühmt war (man denke an Goethes Werther,[– 207 –] Schillers Räuber, Schellings Naturphilosophie und ähnliche Beispiele).

Wenn Du also, lieber Leser, Dich nicht abschrecken lassen willst, für Dich oder die Deinigen nach Ruhm zu streben, so nimm wenigstens den guten Rath an, nicht nach echtem, sondern nach falschem Ruhm zu streben, da nur der letztere Dir einige Aussicht gewährt, dass Du seine Vortheile an Ehre und materiellem Gewinn noch geniessen kannst. Willst Du aber den falschen Ruhm trotz seiner ideellen und materiellen Vorzüge verschmähen, bloss weil er auf unwahrem Grunde ruht, dann höre überhaupt auf, nach Ruhm zu trachten, und trachte statt dessen nach werthvollen Leistungen, ganz unbekümmert darum, ob und wann denselben die Anerkennung des Ruhmes zu Theil werden möge.

XV.
Der Somnambulismus.

Die Erscheinungen des Somnambulismus sind von altersher bekannt, nicht nur diejenigen eines in Nervenkrankheiten spontan eintretenden, sondern auch diejenigen eines durch verschiedene Mittel z. B. betäubende Dämpfe, Schwindeldrehungen, Fasten, Fixiren eines nahen Blick-Punktes u. s. w. hervorgerufenen Somnambulismus. Die Seltenheit des spontanen Somnambulismus, die schädlichen Folgen des künstlich hervorgerufenen für den Organismus, die Verquickung des Somnambulismus mit allerlei Aberglauben und Mysticismus und die Schwierigkeiten einer Erklärung der Erscheinungen auf Grund der herrschenden materialistischen Naturanschauung haben jedoch bis vor ganz kurzer Zeit davon abgeschreckt, dieses Erscheinungs-Gebiet auf exakte Weise zu studiren. Die von der Pariser Akademie von[– 208 –] 1825–1831 niedergesetzte Kommission gelangte nicht über die Konstatirung der Thatsachen hinaus, und selbst diese gerieth bald wieder in Vergessenheit oder wurde gar (durch Verwechselung mit dem Kommissionsbericht von 1784) in ihr Gegentheil entstellt. Erst das Aufsehen, welches die öffentlichen Schaustellungen des Magnetiseurs Hansen erregten, veranlassten einige deutsche Physiologen (insbesondere Heidenhayn), der Sache näher zu treten, und wenigstens die körperlichen Phänomene des Hypnotismus ausser Zweifel zu stellen. Bald darauf wurden von Preyer die Braid’schen Versuche und Schriften neu an’s Licht gezogen, welche einen durch Fixiren heller Punkte und ähnliche Mittel (also nicht durch einen Magnetiseur) hervorgerufenen Hypnotismus behandeln.

Während die deutschen Gelehrten in den letzten Jahren sich kaum noch mit dem Gegenstande zu beschäftigen scheinen, hat er neuerdings in Frankreich zu sehr eingehenden und interessanten Untersuchungen geführt. So war z. B. Charcot der erste, welcher eine scharfe Unterscheidung zwischen den drei Hauptstufen des Hypnotismus oder Somnambulismus (der lethargischen, kataleptischen und im engeren Sinne somnambulen) einführte und die Symptomenkomplexe dieser drei Stufen genau definirte.[12] Diese Unterscheidung dürfte auch dann ihren Werth behalten, wenn man anerkennt, dass die Grenzen zwischen den drei Stufen keineswegs feste sind und öfters ein Ineinanderschieben und Durcheinanderfliessen der Symptome stattfinde. Zugleich veröffentlichte der Pariser Neurologe Richet seine langjährigen Erfahrungen, nach welchen die deutschen Physiologen im Unrecht sind, wenn sie die Action[– 209 –] eines Magnetiseurs in allen Fällen für illusorisch erklären, weil sie für Erzeugung von Hypnotismus bei vielen Personen entbehrlich ist. Richet behauptet, dass seine magnetisirende Thätigkeit auf jeden Organismus, auch den stärksten, eine Einwirkung hinterlasse, die sich mindestens in einer Steigerung der Empfänglichkeit für künftige Versuche kundgibt, und dass er sich getraue, in einer aufeinanderfolgenden Reihe von Sitzungen schliesslich jedes Individuum ohne Ausnahme in einen somnambulen Zustand zu versetzen; er behauptet ferner, dass der durch magnetische Striche hervorgerufene Somnambulismus sich von dem durch Fixiren naher Punkte hervorgerufenen dadurch unterscheide, dass im ersteren die psychischen Erscheinungen, in letzterem die körperlichen (Lethargie, Katalepsie u. s. w.) vorwiegen. Ausserdem sind von Bernheim, Binet und Féré Liébault, Beaunis u. a. m. ausgedehnte Versuchsreihen mit Somnambulen vorgenommen worden, welche zu manchen neuen Aufschlüssen geführt haben, insbesondere in Bezug auf die Uebertragung der Aktivität aus einer Hirnhälfte in die andere und in Bezug auf die Umkehr der Zustände in ihre polaren Gegensätze, z. B. Aktivität in Lähmung, und Lähmung in Aktivität und die Erscheinungen des ausschliesslichen Rapports einer Somnambulen zu einem bestimmten Experimentator[13]. Die deutschen Physiologen haben sich bisher weit mehr auf das Studium der in den niederen Graden des Hypnotismus vorwiegenden körperlichen Erscheinungen beschränkt, während die Franzosen bereits dem psychischen Phänomen des eigentlichen Somnambulismus näher getreten sind, ohne jedoch das Gebiet des Wunderbaren mehr als zu streifen. Die interessantesten[– 210 –] Probleme harren deshalb bis jetzt ihrer wissenschaftlichen Behandlung, und sind nur erörtert von Mystikern und Popularphilosophen, welche kein Bedenken getragen haben, die phantastischen Personifikationen somnambuler Traumbilder als Realitäten aus einer anderen Welt gelten zu lassen.

Carl du Prel hat sich der dankenswerthen Aufgabe unterzogen, die psychischen Probleme des Somnambulismus im Zusammenhang zu bearbeiten, wobei er sich von allem spiritistischen Aberglauben als von unlogischen Hypothesen vollständig freihält (S. 210, 434, vgl. 115, 186, 300), und sogar das Gebiet des eigentlichen Hellsehens vorläufig bei Seite lässt, um es einem besonderen Werk vorzubehalten. Durch den Titel[14] braucht sich also Niemand abschrecken zu lassen, denn der Verfasser erklärt ausdrücklich, dass es mystische Erscheinungen im eigentlichen Sinne gar nicht gibt, und Manches uns nur heute noch mystisch vorkommt (S. 386, 204). Gleichwohl kann ich den Titel nicht zweckmässig finden, weil ich nicht wie du Prel im Somnambulismus die „Grundform aller Mystik“ (399, 497) und in der Mystik nicht „das magische Verhalten des Menschen zu sich selbst“ (444) erkennen kann; ich verstehe vielmehr unter Mystik das gefühlsmässige Sicheinswissen des Menschen mit dem Absoluten, und sehe in der praktischen Pflege des Somnambulismus durch einen grossen Theil der religiösen Mystiker nur eine Verirrung, die auf einem Verkennen der eigentlichen Natur und Bedeutung des Somnambulismus beruht. Ich meine deshalb, der richtigere Titel des du Prel’schen Buches hätte lauten müssen: „Der Somnambulismus in seiner Bedeutung für Psychologie und Metaphysik.[– 211 –]“ In der That wäre dieser Titel erschöpfend, denn was aus den Erscheinungsgebieten des gewöhnlichen Traumes und des wachen Gedächtnisses herangezogen ist, dient doch nur zum Vergleich und zur Erläuterung der somnambulen Erlebnisse.

Auch du Prel nimmt als erwiesen an, dass Hypnotismus und Mesmerismus (oder thierischer Magnetismus) keineswegs sich deckende Begriffe von gleichem Umfang sind (155), und dass es irrthümlich ist, den hypnotischen oder somnambulen Zustand lediglich auf Vorgänge im Wahrnehmungs- oder Vorstellungsprocess des Versuchsobjekts zurückführen zu wollen. Zum Beweise führt er an, dass auch Schlafende, welche von den mit ihnen vorgenommenen Manipulationen nichts wissen, in Somnambulismus versetzt werden können und dass sogar der Schlaf die magnetische Einwirkung erleichtert (39–40); ferner, dass auch die Mimosa pudica ebenso durch Mesmerisiren wie durch Chloroformiren unempfindlich gemacht werden kann (156). Ich möchte hinzufügen, dass wir die dynamische Aktivität der Magnetiseure auch aus anderen Wirkungen kennen, z. B. aus den lokalen Einwirkungen auf menschliche Körpertheile, welche für die Hautempfindungen denjenigen einer schwachen Elektrisirmaschine gleichen, ferner auf das Elektroskop und die Magnetnadel, und dass in einem sensitiven Nervensystem schon Electricitäten von minimaler Spannung starke Abänderungen in der Vertheilung der Innervationsintensität hervorrufen, wie die Versuche an Hysterischen mit halbseitiger Anästhesie des Körpers beweisen.[15] Dass auch der Stahlmagnet gewaltige Einwirkungen auf die Vertheilung der Innervationsenergie in den Centralorganen ausübt, ist durch die oben angeführten Versuche von Binet[– 212 –] und Féré erwiesen, veränderte Anwendungsarten werden ohne Zweifel noch andre Verschiebungen der Innervationsenergie kennen lehren und damit dem Verständniss der Art und Weise, wie der Einfluss des Magnetiseurs die gleiche Wirkung hervorbringt, näher führen. Es ist anzunehmen, dass jeder Mensch in irgend welchem Grade die Fähigkeit, andere zu magnetisiren, besitzt, dass aber die Herrschaft über dieselbe nur durch Uebung zu gewinnen ist, weil diese Fähigkeit nicht in dem Organ der bewussten Willkür ihren Sitz hat, sondern nur indirekt durch Impulse des bewussten Willens in anderen niederen Centralorganen aufgelöst wird. Damit stimmt überein, dass Somnambule, deren Willkürorgan ausser Funktion gesetzt ist, eine besonders starke Fähigkeit zum Magnetisiren Dritter, ja sogar ihres Magnetiseurs gewinnen, auch wenn sie dieselben im wachen Zustand nicht besitzen oder beherrschen (274). Es ist ferner zu beachten, dass fortdauernde Bethätigung der magnetischen Kraft den Menschen angreift und entkräftet (250), woraus folgt, dass der Magnetiseur wirklich organische Kraft bei seiner Thätigkeit konsumirt. Es ist endlich zu berücksichtigen, dass die elektrischen Apparate der Zitter-Rochen und -Aale nur Gruppen von Ganglienzellen sind, und dass jede Ganglienzelle in irgend welchem Maasse die Eigenschaft besitzen muss, welche hier durch Differenzirung ausgebildet ist.

Ob das im thierischen Magnetismus wirksame dynamische Agens mit einer der uns bekannten Naturkräfte identisch ist, oder ob es eine noch unerforschte neue Proteus-Gestalt der einheitlichen Naturkraft ist, welche bloss elektrische, magnetische, thermische und nervenphysiologische Begleiterscheinungen hervorruft, das dürfte vorläufig schwer zu entscheiden sein, doch neige ich der letzteren Auffassung zu, so dass der Bezeichnung[– 213 –] „thierischer Magnetismus“ oder „organische Electricität“ nur ein uneigentlicher Sinn beiwohnt. Ebenso vorsichtig wie in der Gleichsetzung der mesmerischen Funktion mit physikalischen Kräften muss man aber auch sein, sie mit besser bekannten organischen psychischen oder gar metaphysischen Potenzen zu identificiren, wie wenn z. B. du Prel sie mit der Naturheilkraft gleichsetzt (239), wozu die etwaigen heilsamen Nebenwirkungen der durch sie hervorgerufenen somnambulen Zustände noch lange keine Berechtigung geben.

Du Prel hat sich in diesem Punkte, wie leider in manchen andern, durch Schopenhauers Ansichten bestimmen lassen, von welchem Denker seine gesammte Weltanschauung mehr als von irgend einem andern abhängig ist. Schopenhauer nimmt an[16], dass der Somnambulismus nur ein tiefer und vollkommener Schlaf sei, dass er deshalb heilsamer als der gewöhnliche Schlaf sei und von der Naturheilkraft absichtlich herbeigeführt werde. Er glaubt ferner, dass Wahrträume auch im gewöhnlichen tiefen Schlafe häufig sind, und der Somnambulismus nur diese Wahrträume offenbare. Alle scheinbaren Sinneswahrnehmungen der Somnambulen hält er für Wahrträume, welche die Vermittelung der Sinneswerkzeuge nur vorspiegeln. In Bezug auf die physiologische Erklärung des somnambulen Zustandes verwirft er mit triftigen Gründen die Annahme, dass das Gangliensystem an Stelle des Gehirns funktionire, und hält an der Unentbehrlichkeit der Gehirnfunktion fest, worin ihm du Prel leider nicht gefolgt ist; seine Theorie einer Umkehrung der Richtung der Gehirnfunktion durch Rollentausch der grauen und weissen Substanz ist dagegen physiologisch ganz unhaltbar[– 214 –] und ist auch von keiner Seite vertheidigt worden.

So wenig der Somnambulismus mit dem gewöhnlichen Schlaf zu verwechseln ist, ebenso wenig ist er, wie du Prel meint (173), ein tieferer Schlaf als der gewöhnliche, d. h. bloss graduell von demselben verschieden. Obschon Uebergangsformen zwischen beiden stattfinden und einige Merkmale ihnen gemeinsam sind, sind sie doch specifisch verschieden; in manchen Beziehungen erscheint der Schlaf als Zwischenzustand zwischen Somnambulismus und Wachen, in andern erscheint der Somnambulismus als Mittelzustand zwischen Schlaf und Wachen. Du Prel, welcher nur die erstere, und Wirth (40), welcher nur die letztere Ansicht gelten lässt, haben daher Beide Recht und Unrecht. Der somnambule Traum erscheint in der That gegenüber dem gewöhnlichen als ein gesteigerter Traum, aber der somnambule Schlaf gleicht mehr dem Verhalten im wachen Zustande als im gewöhnlichen Schlaf.

Das gewöhnliche Traumbewusstsein ist durch eine bessere Erinnerungsbrücke mit dem wachen Bewusstsein verbunden als das somnambule und kann zwischen diesen beiden als verknüpfendes Mitglied eintreten. Je näher das somnambule Traumbewusstsein dem gewöhnlichen Traume steht, desto leichter reichen Erinnerungen aus demselben in’s wache Bewusstsein hinüber; je mehr es sich in sich vertieft, desto schwerer wird die Erinnerung an seinen Inhalt, am schwersten beim „Hochschlaf“, der nur durch das verknüpfende Mittelglied des gewöhnlichen Somnambulismus mit dem wachen Bewusstsein verbunden werden kann. Je mehr sich der Somnambulismus steigert, desto mehr steigern sich die Eigenthümlichkeiten, welche das Traumbewusstsein von dem wachen Bewusstsein unterscheiden: die Passivität des Willens, die Sinnlichkeit und Bildlichkeit der[– 215 –] Vorstellungen, die Stärke der unwillkürlichen Phantasiethätigkeit, die Neigung zu dramatischer Spaltung des Ich, der Mangel an Besonnenheit und zielbewusster Stetigkeit, die Hyperästhesie des Gedächtnisses, die damit zusammenhängende Geschwindigkeit des Vorstellungswechsels, und endlich die Sensitivität des Gefühlslebens für natürliche Vorgänge innerhalb und ausserhalb des eigenen Organismus.

Andererseits aber steigern sich auch einige solche Merkmale, durch welche das wache Leben sich vom Schlaf unterscheidet, erstens die Fähigkeit, vermittelst der Sinneswerkzeuge von der Aussenwelt Eindrücke zu empfangen und auf diese Eindrücke mit Reden und Handlungen sinngemäss zu reagiren, zweitens die Eigenthümlichkeit, dass die Erlebnisse der Zeitabschnitte des somnambulen Lebens wie diejenigen des wachen Lebens durch ihren Erinnerungszusammenhang ein geschlossenes Ganzes bilden, während die Träume der verschiedenen Nächte der Regel nach zusammenhangslose Bruchstücke bleiben und nur ausnahmsweise mit vereinzelten Erinnerungen ineinander übergreifen, und drittens der Umstand, dass die das somnambule Bewusstsein vermittelnden Theile des Centralnervensystems ebenso wie die das wache Bewusstsein vermittelnden der zeitweiligen Ruhe durch Schlaf bedürfen, wie der Wechsel von Schlaf und Wachen bei einem Wochen und Monate lang anhaltenden Somnambulismus beweist (332).

Wenn eine Somnambule ihren häuslichen Verrichtungen obliegt, oder gar eine Rolle auf der Bühne tadellos durchführt, so wird Niemand bezweifeln, dass ihr Zustand dem Wachen ähnlicher ist, als dem Schlaf, trotzdem sich bei genauerer Untersuchung herausstellt, dass der Zustand ihres Bewusstseins in vielen Punkten als ein gesteigerter oder vertiefter Traumzustand zu betrachten ist. Beim Somnambulismus wird die Aehnlichkeit[– 216 –] mit dem Wachen, beim Schlaf die Unähnlichkeit mit dem Wachen um so grösser, je tiefer er wird; je weniger tief Somnambulismus und Schlaf sind, desto ähnlicher sehen sie sich beide; je tiefer sie werden, d. h. je mehr sie ihre eigenartige specifische Natur hervorkehren, desto verschiedener und entgegengesetzter erscheinen sie. Der niedrigste Grad des Hypnotismus zeigt vollkommene Lethargie, also gar keinen Verkehr mit der Aussenwelt wie der Schlaf; erst im zweiten Grade, im kataleptischen Stadium öffnet sich das Ohr und die niedern Sinne, und erst im dritten Stadium, dem im engeren Sinne somnambulen, öffnen sich auch die Augen und beginnt jener vollständige Verkehr mit der Aussenwelt, der auf den ersten Anblick vom Verhalten einer wachen Person nicht zu unterscheiden ist.

Der Schlaf hingegen wird dem Somnambulismus nur dann ähnlicher, wenn er im Begriff ist, in denselben überzugehen, z. B. in dem Sprechen und Handeln der Schlafenden; aber der sich selbst treu bleibende ruhige und tiefe Schlaf kennt solche Extravaganzen nicht, die schon einem gestörten Gleichgewicht des Nervensystems entspringen, wie der Somnambulismus auch. Es ist gleichgiltig ob, wie du Prel meint, der tiefe, oder, wie ich meine, der leichte Schlaf mehr dazu neigt, unruhig zu werden, d. h. in Uebergangsformen zum Somnambulismus hineinzugerathen, da man in beiden Fällen es schon mit zusammengesetzten Erscheinungen aus verschiedenen Gebieten zu thun hat; und ebenso gleichgiltig ist es für die hier behandelte Frage, ob der tiefe ruhige Schlaf traumlos ist oder nicht, ob mit anderen Worten nicht bloss das wache und das somnambule Bewusstsein im Schlafe Ruhe und Erholung geniesst, sondern die Bewusstseinsfunktion schlechthin. Letzteres kann wegen der beim Erwachen abreissenden Erinnerung niemals direkt konstatirt werden (43); du Prel’s indirekter[– 217 –] Beweis für die Behauptung beruht aber auf einem Cirkelschluss, insofern er aus der vorausgesetzten Richtigkeit des Satzes folgert, dass auch der Somnambulismus im Wesentlichen nur ein vertiefter Schlaf sei, und hieraus dann wieder nach Analogie zurückschliesst, dass auch im natürlichen Schlaf ebenso wie im Somnambulismus das Erwachen des Traumbewusstseins proportional der Tiefe des Schlafes sein müsse (427, 32, 37). Nach meiner Ansicht hingegen wird schon durch das Ruhebedürfniss des somnambulen Bewusstseins und dessen Befriedigung im Schlafe zur Genüge erwiesen, dass auch die das somnambule Bewusstsein vermittelnden Theile des Centralnervensystems im tiefen Schlafe ruhen, so dass die dessen etwaige Träume vermittelnden Partien jedenfalls noch unterhalb der ersteren gesucht werden müssten.

Worauf es hier ankommt, ist nur, zu konstatiren, dass der natürliche Schlaf ein gesunder normaler, für Wache und Somnambule gleich unentbehrlicher Erholungszustand, der Somnambulismus aber ein abnormer, pathologischer, schlechthin entbehrlicher Zustand ist, dass ferner der reine Schlaf mit wachsender Vertiefung den Schläfer immer mehr von der Aussenwelt abschliesst, der Somnambulismus dagegen mit wachsender Vertiefung den Somnambulen in eine dem wachen Zustand immer ähnlicher werdende sinnlich vermittelte Wechselbeziehung zur Aussenwelt setzt. Dies genügt, um einen specifischen Unterschied beider Zustände festzustellen, und den Streit über die Stellung zwischen Wachen, Schlaf und Somnambulismus zu einem nebensächlichen zu machen.

Ausser der Verwandtschaft des Somnambulismus mit dem wachen Zustand und dem gewöhnlichen Traum ist noch diejenige mit der Narkose und mit Nerven- und Geisteskrankheiten zu beachten. Die Narkotisirung durch Chloroform und Aether stimmt darin mit dem Somnambulismus[– 218 –] überein, dass eine von der Peripherie nach dem Centrum fortschreitende Analgesie (Unempfindlichkeit für Schmerz) und scheinbar auch Anästhesie eintritt, dass das wache Bewusstsein schwindet und unwillkürliche Träume sich entfalten; ein ähnlicher Zustand der Analgesie trat auch bei den höchsten Graden der Folter manchmal ein, der dann der Hülfe des Teufels zugeschrieben wurde. Bei der Morphium- und Haschisch-Narkose ist die Analgesie weniger ausgesprochen, dafür aber das Traumleben gesteigert; insbesondere das Haschisch erzeugt eine Hyperästhesie des Gedächtnisses und eine Beschleunigung des Vorstellungsablaufes, welche mit den gleichen Erscheinungen des somnambulen Traumlebens viel Aehnlichkeit hat. Alle Narkosen unterscheiden sich aber dadurch vom Somnambulismus, dass in ihnen für gewöhnlich und unter Ausschluss eines gleichzeitig eintretenden Somnambulismus der Verkehr mit der Aussenwelt abgeschnitten ist; nur eine unvollständige Narkose, welche noch einen Rest des wachen Bewusstseins übrig lässt, macht solchen Verkehr möglich. Auf der Verwandtschaft dieser narkotischen Zustände mit dem Somnambulismus beruht es, dass in nervösen Organisationen, die zum Somnambulismus neigen, derselbe durch narkotische Mittel hervorgerufen werden kann (Pythia, Hexenfahrten u. s. w.). Die Menge von Chloroform, die Jemand zur Narkose braucht, ist zugleich ein Gradmesser seiner Empfänglichkeit für magnetische Hypnotisirung, und die Blutbeschaffenheit eines hungernden Organismus erleichtert in gleichem Masse die Narkose wie das Magnetisiren und den spontanen Eintritt von Uebergangsformen zwischen Traum und Somnambulismus.

Von den pathologischen Zuständen des Nervensystems bietet sich zunächst die konstitutionelle Sensitivität zum Vergleich dar. Während „Sensibilität“ die[– 219 –] Reizempfänglichkeit der Empfindungsnerven bezeichnet, insoweit sie auf einem feinen Bau der Endorgane (Sinneswerkzeuge) beruht, bedeutet das Wort „Sensitivität“ eine abnorme Reizempfänglichkeit, welche nicht auf der Verfeinerung der Sinneswerkzeuge, sondern auf der Hyperästhesie der Empfindungsnerven und der ihre Eindrücke verarbeitenden Centralorgane beruht. Es giebt abnorme Naturen, welche bei vollem Tagesbewusstsein die unglaublichsten Dinge wahrnehmen, sowohl Vorgänge in ihrem eigenen Organismus, als dynamische Einflüsse der Umgebung, z. B. das Vorhandensein einer Katze im Zimmer, oder gewisse Krankheiten anwesender Personen, oder die relativen elektrochemischen Werthe einer Reihe von eingewickelten Stoffen. Es mag sein, dass eine gewisse Beschaffenheit des Nervensystems für alle Arten von Empfindungen die Reizempfänglichkeit erhöht; aber es ist doch durchaus nicht nöthig, dass die Sensitivität für Gefühls-, Geruchs-, Gehörs- und Gesichtsempfindungen immer Hand in Hand gehen, oder gar den gleichen Grad von Steigerung aufweisen muss. Die Thatsache, dass Sensitivität auch in dem gewöhnlichen wachen Bewusstseinszustand vorkommt, lässt erkennen, dass, wenn auch die abnormen Bewusstseinszustände (wie Traum, Somnambulismus, Irrsinn etc.) häufig mit Schwellenverschiebung verbunden auftreten, doch dieses Symptom weder ausreichend zu ihrer Charakterisirung heissen, noch als ausreichende Ursache ihres Eintritts angesehen werden kann.

Der Somnambulismus zeigt eine Sensitivität insbesondere für Empfindungen des Gemeingefühls (122, 141), zum Theil auch für solche des Geruchs und Geschmacks (246, 389), wogegen das Gehör unverändert zu bleiben scheint und die Reizempfänglichkeit für Gesichtswahrnehmungen noch im zweiten, kataleptischen[– 220 –] Stadium ganz aufgehoben ist und erst im dritten, somnambulen Stadium zugleich mit der nun auffällig erhöhten Hautempfindlichkeit wieder erwacht. Es ist also im Somnambulismus die Empfindungsschwelle der niedern Sinne emporgeschraubt, die der höheren theils unverändert, theils heruntergerückt, theils gesteigert, und es ist demnach ebenso ungenau von einer Herabsetzung der Empfindungsschwelle im Allgemeinen, wie von einem Geschlossensein der äusseren Sinne oder einem vom Sinnesapparat unabhängigen Bewusstsein in diesem Zustand zu reden (146, 441). Eine Verschiebung der Empfindungsschwelle findet zwar statt, aber für verschiedene Sinneswahrnehmungen in ungleichem Maasse und zum Theil sogar in entgegengesetztem Sinne, und keine Art von Sinneswahrnehmungen fehlt im eigentlich somnambulen Stadium des Hypnotismus ganz, weder die Tastempfindungen, welche zur Wahrung des Gleichgewichtes unentbehrlich sind, noch die Gesichtseindrücke, ohne welche ein Somnambuler sich in einer ihm unbekannten Umgebung unmöglich mit Sicherheit bewegen könnte. Eine Somnambule mit geöffneten Augen liest auf Befehl ein ihr vorgehaltenes Buch fliessend vor, während sie bei geschlossenen Augen auf den gleichen Befehl nur unverständliche Worte murmelt. Die Behauptung, dass sie nicht mit den geöffneten Augen, sondern etwa mit dem Sonnengeflecht läse, stünde logisch auf gleicher Stufe mit der, dass sie die Worte nicht mit dem Kehlkopf und der Zunge bilde, sondern mit dem Magen. Manche Somnambulen sind im Stande, mikroskopische Photographien mit blossem Auge zu erkennen, oder ein ihnen abgekehrtes Buch aus der Spiegelung im Auge des Magnetiseurs zu lesen; dies alles setzt eine hochgradige Steigerung der Gesichtsschärfe voraus. Auf den Einfall, dass eine Somnambule mit fest zugedrückten Ohren nicht[– 221 –] mehr mit dem Gehörorgan die Worte des vor ihr stehenden Magnetiseurs vernehme, konnte Schopenhauer nur darum kommen,[17] weil er nicht daran dachte, sich durch den Versuch zu überzeugen, dass man mit fest zugedrückten und verstopften Ohren noch ziemlich ebenso gut hört, wie mit offenen; für die leisesten Worte des, wenn auch entfernt stehenden Magnetiseurs kann ausserdem in dem Gehör der Somnambulen eine hochgradig verschärfte Wahrnehmungsfähigkeit vorhanden sein, während gleichzeitig für laute Gespräche der nicht mit ihr in Rapport stehenden Anwesenden Taubheit zu bestehen scheint. Das Vorkommen des Hellsehens wird selbst bei hoch gesteigertem Somnambulismus immer nur als sporadischer Ausnahmefall anzusehen sein, aber nicht als ein fortdauernder Zustand, aus dem alle anscheinenden Sinneswahrnehmungen zu erklären wären.

Der psychologische Unterschied zwischen Sensitivität und Somnambulismus ist nicht in der Ungleichmässigkeit der Schwellenverschiebung für verschiedene Sinne, sondern darin zu sehen, dass die gewöhnliche Sensitivität auf ein waches, die somnambule auf ein träumendes Bewusstsein trifft, und dass in Folge dessen der Sensitive seine Sinneseindrücke von Phantasiebildern unterscheiden kann, der Somnambule nicht. Daher kommt es, dass der Somnambule Phantasiebilder von Sinneseindrücken, welche durch Ideenassociation aus Empfindungen ganz anderer Sinnesgebiete entstanden sind, für reale Sinneswahrnehmungen hält (z. B. das Phantasiegebild eines Wohlgeschmacks oder einer Amputation, die der Magnetiseur ihm bloss einredet, oder die Bilder von Gestalten und Stimmen, die nur Personifikationen oder Symbolisirungen organischer Gefühlsreize[– 222 –] sind), während energische Sinneseindrücke, die zu dem momentanen Inhalt seines Traumbewusstseins keine Beziehung haben, von diesem gar nicht appercipirt werden (z. B. eine wirklich stattfindende Operation, oder ein intensiv schmeckender Stoff auf der Zunge, oder die den geöffneten Augen sich darbietende Umgebung). Die Verwandtschaft des Somnambulismus mit der Sensitivität macht es erklärlich, dass wiederholter Somnambulismus das Nervensystem sensitiv macht, d. h. einen geringeren Grad der somnambulen Sensitivität als dauernden Zustand zurücklässt. Die Sensitivität ist aber ein pathologischer, bei Unwohlsein sich steigernder (223) Zustand, der für unser praktisches Leben mit den grössten Unannehmlichkeiten verknüpft ist (197), und häufig mit einer Schwächung des Gedächtnisses Hand in Hand geht (310), also ein Zustand dessen Herbeiführung und Steigerung sorgfältig zu vermeiden ist.

Die Verwandtschaft des Somnambulismus mit Hysterie, Epilepsie, Katalepsie, Ohnmacht, Starrsucht, Scheintod, Todeskampf, Fieberdelirien, Veitstanz und den verschiedenen Arten des Irrsinns zeigt eine Anzahl sich kreuzender Symptome; alle schwereren Erkrankungen des Nervensystems disponiren zum spontanen Eintritt und zur Empfänglichkeit für die künstliche Erzeugung des Somnambulismus, wie umgekehrt ein häufiges Hervorrufen des somnambulen Zustandes künstliche Hysterie erzeugt (nach Richet), den Geist und Körper zerrüttet und zu allen Arten von Nervenleiden prädisponirt.

So lange ein Nervenleiden besteht, gelingt es dem Magnetiseur mit Leichtigkeit, den Somnambulismus hervorzurufen; schreitet aber die Genesung fort, so wird das Magnetisiren des Rekonvalescenten immer schwieriger (239), bleibt aber in Folge der Gewöhnung des[– 223 –] Organismus immer noch leichter, als es vor Eintritt der Krankheit war. Das weibliche Geschlecht, das bei seinem geringeren Uebergewicht des Grosshirns über das sonstige Centralnervensystem leichter zu decentralisirender Desorganisation des letzteren, d. h. zu Nervenleiden, hinneigt, ist auch mehr prädisponirt für das Auftreten von natürlichem und die Herbeiführung von künstlichem Somnambulismus, insbesondere der höheren Grade derselben.

Die Gleichheit der körperlichen Symptome bei Katalepsie und Somnambulismus ist in die Augen springend; der Tonus der Muskeln genügt, um jede einem Gliede gegebene Stellung zu behaupten, ohne dass Krampfzustände vorhanden sind (Wachstarre). Aber der Unterschied zwischen Katalepsie, Starrsucht, Scheintod einerseits und Somnambulismus andererseits ist ebenso in die Augen fallend: die Bewegungslosigkeit dort und die automatenartige Beweglichkeit nach Anleitung des unwillkürlichen Inhalts des Traumbewusstseins hier. Die automatische, traumgeleitete Beweglichkeit ist dagegen im Veitstanz vorhanden, sobald die gewöhnlichen Krämpfe sich zu ekstatischen Konvulsionen ausbilden, und die Geschichte der religiösen Verirrungen zeigt in allen Ländern und Glaubenskreisen ähnliche Bilder solcher ansteckenden Zustände, wie sie auch in Fällen des spontanen Somnambulismus häufig beobachtet werden. Manche Theoretiker des Somnambulismus sind soweit gegangen, eine Menge Formen der schweren Nerven- und Geisteskrankheiten für regellose Formen des Somnambulismus zu erklären (243, 266, 366); wenn dies richtig wäre, so würde der pathologische Charakter des Somnambulismus in ein noch helleres Licht dadurch gestellt, als wenn, wie ich annehme, in vielen Fällen bloss eine Verquickung somnambuler Zustände mit anderen verwandten[– 224 –] Störungen des nervösen Gleichgewichts stattfindet.

Gehen wir zu den psychischen Symptomen über, so zeigt sich die Hyperästhesie der Erinnerung nicht nur im Somnambulismus und dem gewöhnlichen Traum, sondern auch in Fieberdelirien, in manchen Fällen der Hysterie, des Irrsinns, der Incubationsperiode mancher Gehirnkrankheiten und im Todeskampf. Wenn eine Somnambule die Aufschriften der Strassenschilder aus dem Heimatsort ihrer Jugend angeben kann, wenn sie einmal Gelesenes wörtlich hersagt, wenn sie die lateinischen oder griechischen Recitationen oder die Violinübungen früherer Stubennachbarn nachahmend wiederholt, so finden diese Leistungen eines hyperästhetischen Gedächtnisses ihre Analogien in den gleichen Erscheinungen bei Fiebernden oder Irrsinnigen, und hier wie dort stellt sich leicht die Täuschung ein, dass Reproduktionen aus dem Gedächtniss, die man nicht als solche erkennt, unmittelbare Neuproductionen seien, so dass dann leicht die Reproductionen vergangener Ereignisse, an welche die Erinnerung (d. h. Wiedererkennung) fehlt, als Weissagungen auf die Zukunft gedeutet werden können.

Hand in Hand mit der Hyperästhesie der Erinnerung geht nicht selten eine Beschleunigung des Vorstellungsablaufs; wahrscheinlich sind beide, die Erleichterung und die Beschleunigung des Vorstellungswechsels durch Ideenassociation, koordinirte Wirkungen derselben Ursache, einer Hyperästhesie des funktionirenden Organs (Gehirntheils). Wie die Zeit des Gehirnreflexes zwischen Empfindung und motorischer Reaktion, so ist auch die durchschnittliche Zeit, die vom Auftauchen einer Vorstellung bis zum Hervorrufen der folgenden durch Ideenassociation verstreicht, bei jedem Individuum eine andere, und bei demselben Individuum je nach seinem Befinden und seiner Stimmung (Frische[– 225 –] oder Ermüdung, Sättigung oder Nüchternheit, intellektuelle Freiheit oder Gemüthsbeklommenheit) erheblichen Schwankungen (etwa von 2 bis 112 Sekunde) schon im wachen normalen Bewusstseinszustand unterworfen. Die Schwankungen bewegen sich in noch weiteren Grenzen im Schlaf und den abnormen Zuständen des Nervensystems. In Fieberdelirien, in maniakalischen Delirien, im Haschischrausch und im Todeskampf (insbesondere der Ertrinkenden) erreicht die Hyperästhesie des Gedächtnisses und der Phantasie einen Grad, der mit Ideenflucht bezeichnet wird, den man aber bei der sinnlich-anschaulichen Beschaffenheit solcher unwillkürlich vorüberziehenden Vorstellungsgebilde vielmehr „Bilderflucht“ nennen sollte. Indessen sind die Berichte über das Vorüberziehen des gesammten Lebens von dem Bewusstsein Ertrinkender denn doch nur auf typische Hauptmomente des Lebens zu beziehen, und deren können in 60 bis 180 Sekunden allerdings eine beträchtliche Zahl (720 bis 2160) auf einander folgen, ohne die Maximalgeschwindigkeit des wachen Vorstellungsablaufs auch nur zu überschreiten.[18]

Ein weiteres psychisches Symptom, welches dem Somnambulismus (und dem Traum) mit Fieberdelirien, Haschischträumen und Geistesstörungen gemeinsam ist, ist die dramatische Spaltung. Wenn eine Gedächtnissvorstellung zwar reproducirt wird, aber ohne Wiedererkennung, d. h. ohne Erinnerung, so nimmt das wache,[– 226 –] besonnene Bewusstsein dieselbe hin als eine aus dem Unbewussten auftauchende, deren Herkunft zunächst problematisch bleibt, vermuthet aber von vornherein, dass sie aus dem Gedächtniss stammen werde; oft hat man auch das Gefühl, sie schon gehabt zu haben, also das Bewusstsein, dass sie Gedächtnissvorstellung ist, ohne ihr doch in der Vergangenheit durch Verknüpfung mit Ort, Zeit und näheren Umständen ihres früheren Auftretens einen bestimmten Platz anweisen zu können (284). Das träumende Bewusstsein, das dieser Besonnenheit ermangelt und statt dessen allen Gedankengehalt in sinnlich-anschauliche Formen giesst (33), verbildlicht (50), symbolisirt (70) und personificirt (99), projicirt eine Gedächtnissreproduktion, die es nicht als solche zu rekognosciren vermag, gern nach aussen, und legt sie Traumgestalten in den Mund; das irre Bewusstsein verfährt bei höheren Graden der Phantasieerregung ebenso, bei geringeren Graden, die zur Gestaltenprojektion (Gesichtshallucination) nicht ausreichen, verlegt es wenigstens den Gedankengehalt in von aussen kommende Stimmen (Gehörshallucination).

Die Bruchfläche dieser dramatischen Spaltung ist also die Scheidelinie zwischen Gedächtnissreproduktion und Erinnerung (291); was das Traumbewusstsein als sein Eigenthum rekognoscirt, nimmt es auch als solches, als geistigen Besitz und Zubehör seines Ich für sich in Anspruch, was es nicht zu rekognosciren vermag, aber trotzdem als seinen Bewusstseinsinhalt vorfindet, lässt es auch nicht als das Seinige gelten und projicirt es auf andre Traumgestalten. Aus dem Unbewussten stammt also gleichmässig aller Inhalt des Traumbewusstseins, sowohl der dem Ich als der dem Nichtich zugetheilte, und Alles gehört gleichmässig dem Inhalt des Traumbewusstseins an; auch das Ich des Träumers umfasst nur einen kleinen Theil des Gesammtinhalts des[– 227 –] Traumbewusstseins, und auch dieser dem Ich zugewiesene Theil ist ein ebenso unwillkürlicher Ausfluss aus dem Quell des Unbewussten, wie der in’s Nichtich (Aussenwelt und Traumgestalten) hinausprojicirte Theil. Deshalb ist es unzulässig, wenn du Prel die Bruchfläche der dramatischen Spaltung für zusammenfallend erklärt mit der psychophysischen Schwelle zwischen Bewusstem und Unbewusstem (96, 101), oder wenn er behauptet, dass alle Verstandesprocesse, die den Charakter eines Einfalls haben, im Traume zur dramatischen Spaltung führen (106). Gerade die produktiven Einfälle vertheilen sich auf das Ich des Träumers und die bereits gegebenen Traumgestalten, je nachdem die Situation des Traumes es verlangt, d. h. je nachdem sie einem Vorstellungskomplex associativ zugehören, welcher dem Traum-Ich oder anderen Traumfiguren bereits zugetheilt ist. Aber wohl niemals werden solche produktive Einfälle zur Abspaltung neuer Traumfiguren veranlassen; denn bei ihnen fehlt ja eben die Scheidelinie zwischen Reproduktion und Erinnerung, welche allein massgebend als Bruchfläche der Spaltung ist, und welche etwas ganz Anderes ist als die „psychophysische Schwelle zwischen Bewusstem und Unbewusstem“ im Allgemeinen.

Es ist die niedrigste Form der dramatischen Spaltung, wenn ein reproducirter Gedächtnissvorrath, der nicht als solcher wiedererkannt ist, in fremde Traumgestalten hinausprojicirt wird; man sollte in diesem Falle, streng genommen, noch nicht von dramatischer Spaltung, sondern von dramatischer Vertheilung des Bewusstseinsinhalts auf das Ich und das Nichtich des Traumbewusstseins sprechen. Dies Verhältniss bleibt auch dann noch dasselbe, wenn die einer Traumfigur in den Mund gelegte Gedächtnissvorstellung nach der Aeusserung derselben dann als eigenes, nur zeitweilig vergessenes Wissen in’s Ich zurückgenommen wird. Interessanter[– 228 –] sind jene Spaltungen, bei welchen nicht mehr das reproducirte Vorstellungsmaterial, sondern die eigene Traumfigur, das Traum-Ich gespalten und in mehrere Ichs zertheilt wird, etwa als Acteur auf der Bühne und als Zuschauer im Parterre; derartige Verdoppelungen kommen auch bei Todtkranken und bei Irrsinnigen vor, welche letztere manchmal lange Disputationen mit ihrem visionär vor ihnen stehenden Doppelgänger halten. Aber nicht immer weiss man sich im Traum identisch mit seinem zweiten Ich, und das Selbstbewusstsein kann zwischen beiden schwanken, wobei dann immer das jeweilige eigentliche Ich das zweite Ich als sein „anderes“ Ich oder als „den Andern“ betrachtet; beide Ich können auch wieder in eins zusammenfliessen, wie wenn das Zuschauer-Ich auf die Bühne springt, um nun selbst weiter zu agiren. Dem analog ist es eine gewöhnliche Erscheinung, dass das somnambule Bewusstsein sich als das eigentliche Ich des somnambulen Zustandes von dem „anderen“ Ich des wachen Zustandes, dessen Bewusstseinsphäre es doch umspannt, wie von einer fremden Person unterscheidet, und diese Neigung, die eigene Persönlichkeit des wachen Lebens als eine andere, fremde, obwohl doch mit dem Ich wie ein Doppelgänger zusammengekoppelte anzusehen, wächst mit der Tiefe des Somnambulismus.

Die Scheidelinie zwischen Reproduktion und Erinnerung reicht zwar aus zur Feststellung der Bruchfläche für die einfache dramatische Spaltung zwischen Ich und Nichtich, aber nicht für die Feststellung der Bruchfläche für die Spaltung des Ich in ein doppeltes Ich, das „eigentliche“ Ich und „das andere“; die psychophysische Schwelle zwischen Bewusstem und Unbewusstem, die schon für den ersteren Fall nur irrthümlicher Weise mit der Bruchfläche der Spaltung verwechselt werden konnte, passt auf den letzteren Fall[– 229 –] noch viel weniger, da der Bewusstseinsinhalt des „anderen“ (normalen) Ich für das Bewusstsein des „eigentlichen“ (somnambulen) Ich nichts weniger als unbewusst, sondern völlig bewusst, ja sogar in seiner Einordnung in die Erlebnisse der Vergangenheit klar durchschaut und doch nicht als eigener Besitz, als Zubehör des „eigentlichen“ Ich anerkannt wird. Man könnte sich denken, dass das einer fremden Traumfigur geliehene Gedächtnissmaterial in dem Falle, wenn es eine grössere zusammenhängende Gruppe von Vorstellungen ausmacht, dahin neigt, das Traumbewusstsein zu der Ahnung zu führen, dass das scheinbar Fremde doch nur sein verliehenes Eigenthum, somit die fremde Traumfigur nur ein Spaltungsprodukt des eigenen Geisteslebens sei, was sich dann bildlich in dem widerspruchsvollen Gleichsetzen und Ungleichsetzen der anderen Figur mit dem Traum-Ich ausdrückt; aber dabei bleibt doch die Hauptbedingung unerwähnt, dass die abgetrennte Vorstellungsmasse ausreichend und geeignet sein muss, einem Ich als Unterlage zu dienen, was psychologisch nicht zu erklären ist.

Begrifflich streng zu sondern von dem subjektiven Phänomen der dramatischen Spaltung des Ich ist das objektive Phänomen des alternirenden Bewusstseins. Ein solches kommt dann zu Stande, wenn verschiedene Bewusstseinszustände, welche die Eigenthümlichkeit haben, nach stattgehabter Unterbrechung die Kontinuität des Bewusstseins aufrecht zu erhalten und ein in sich geschlossenes bewusstes Lebensganze zu bilden, mit einander abwechseln. Ein solcher Zustand ist das normale wache Bewusstsein, ein zweiter das somnambule Bewusstsein, ein dritter der Hochschlaf des somnambulen Bewusstseins, ein vierter und fünfter kann endlich in verschiedenen Formen periodischer Geistesstörung auftreten, in welchen die Erinnerung an das[– 230 –] bisherige wache Leben erlischt und ein von demselben völlig abgetrenntes neues Leben begonnen und fortgeführt wird. Auch die Reiche der natürlichen Träume würde ein alternirendes Bewusstsein konstituiren, wenn sie sich ebenso wie die Abschnitte des wachen Lebens, oder wie die Reihe der somnambulen Krisen oder die Reihe der bezüglichen Irrsinnsanfälle zu einem stetig zusammenhängenden Erinnerungsganzen konsolidirten. Die periodische Geistesstörung producirt für sich allein manchmal mehr als ein abgetrenntes Bewusstseinsleben, das mit dem wachen alternirt; wechseln zwei getrennte Bewusstseinszustände des Irrsinns mit dem normalen wachen Bewusstsein ab und tritt zu diesen dreien noch der somnambule Zustand, so haben wir es mit einem vierfachen alternirenden Bewusstsein, d. h. mit einem vierfachen Geistesleben desselben Individuums zu thun (337–343).

Streng genommen kann von einem alternirenden Bewusstsein nur da gesprochen werden, wo weder der Zustand a vom Zustand b, noch der Zustand b vom Zustand a etwas weiss; diese Bedingung ist aber im Somnambulismus nur einseitig erfüllt, da das somnambule Bewusstsein den Gedächtnissinhalt des wachen nicht nur umspannt, sondern sogar in erleichterter Weise reproducirt (308, 312). Im Traum findet dieses Umspannen des wachen Bewusstseinsinhalts durch das Traumbewusstsein der Regel nach ohne Spaltung des Ichs statt, und die Verdoppelung des Ich im Traume gehört zu den seltensten Ausnahmen, bei denen vielleicht schon eine Uebergangsform zwischen Traum und Somnambulismus oder Traum und Wahnsinn[19][– 231 –] anzunehmen ist. Im alternirenden Bewusstsein des Irrsinns fehlt in der Regel jede Umspannung der Vorstellungen des einen Zustandes durch das Bewusstsein des anderen und jeder der beiden Bewusstseinszustände weigert sich, die ihm von aussen dargebotenen Vorstellungen, sofern sie dem anderen angehören, als die seinigen anzuerkennen, oder überhaupt kennen zu wollen. Nur wenn der Irrsinn dem Traum sich annähert, d. h. Hallucinationen erzeugt, kommt es vor, dass das wahnsinnige Bewusstsein als ein anderes Ich aus der Person des Kranken (meist mit veränderter Stimme) redet und sich von dieser unterscheidet, womit dann die Illusion der Besessenheit gesetzt ist. Im Somnambulismus weigert sich nur das wache Bewusstsein, die Vorstellungen des somnambulen kennen zu wollen; das letztere aber kennt die Vorstellungen des ersteren wohl, erkennt sie aber nicht als die seines „eigentlichen“ Ichs, sondern als die des „anderen“ an. So nimmt ersichtlich der Somnambulismus in dieser Hinsicht eine Mittelstellung zwischen Traum und Irrsinn ein, halb dem einen, halb dem andern gleichend, und bemüht, die Unterschiede beider durch die dramatische Spaltung des Ich zu vermitteln, insofern durch dieselbe das alternirende Bewusstsein des Irrsinns in fingirter Weise trotz der Umspannung des alternirenden Bewusstseinszustandes aufrecht erhalten wird.

Es wird die Vermuthung nahe liegen, dass nicht nur hier, sondern überall, wo wir der dramatischen Spaltung und Verdoppelung des Ich begegnen, dieser phantastische optische Dualismus eine symbolische Personifikation der physiologischen Thatsache ist, dass die physiologischen Hauptbedingungen zu einem alternirenden Bewusstsein vorhanden sind, wenn auch dasselbe wegen des Fehlens gewisser Nebenbedingungen meistens im latenten oder potentiellen Zustande verharrt. Andrerseits[– 232 –] werden wir annehmen dürfen, dass überall, wo ein alternirendes Bewusstsein besteht, auch die physiologischen Bedingungen für die dramatische Spaltung und Verdoppelung des Ich gegeben sind, und nur das umspannende Uebergreifen des einen Bewusstseins über das andere hinzuzutreten braucht, um die Verdoppelung des Ich wirklich herbeizuführen; die Richtigkeit dieses Satzes wird bestätigt in denjenigen Fällen des alternirenden Bewusstseins bei Geisteskranken, in denen die beiden Zustände nicht plötzlich wechseln oder durch trennende Bewusstlosigkeit geschieden sind, sondern allmählich in einander übergehen, wo sich dann stets im Uebergangsstadium das Gefühl der doppelten Persönlichkeit einstellt. —

Nach allem vorher Angeführten sollte man es für unzweifelhaft halten, dass man es beim Somnambulismus mit einem nicht bloss abnormen, sondern schlechthin krankhaften Zustand des Organismus zu thun hat, mit einem Zustand, der nicht nur seiner Entstehungsursache nach, sondern an und für sich pathologisch ist und deshalb auch nur pathologisch modificirte Funktionen ermöglicht. Der psychische Symptomenkomplex des Somnambulismus lässt sich zusammenfassen als eine Auslöschung oder Suspension der psychischen Funktionen im Allgemeinen und als koncentrirte Steigerung derselben in derjenigen beschränkten Richtung, auf welche das Interesse und die Aufmerksamkeit durch den Magnetiseur oder Experimentator hingelenkt ist. Es besteht allgemeine Fühllosigkeit, Seelenblindheit, Seelentaubheit, Geruch- und Geschmacklosigkeit (Analgesie und Anästhesie), Gedächtnisslosigkeit (Amnesie), Willenlosigkeit (Abulie), und völlige Stockung des spontanen Vorstellungsverlaufes, alles dies aber gleichzeitig mit hochgradiger Sensitivität und Hyperästhesie, Verschärfung der sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit, Gedächtnisssteigerung[– 233 –] (Hypermnesie), erhöhter Willensenergie (Hyperbulie) und vermehrter Intensität und Geschwindigkeit des Vorstellungsablaufes, freilich nur in den ganz eng begrenzten Richtungen, auf welche durch Suggestion des Magnetiseurs oder auch durch Autosuggestion das Interesse und die unwillkürliche, reflektorische Aufmerksamkeit koncentrirt ist. Es ist als ob alle psychischen Funktionen durch künstliche Verengerung des Bettes, in dem sie sich bewegen, krankhaft gesteigert wären, ähnlich wie die Muskelkräfte des Maniakus. Dabei ist freilich nicht ausgeschlossen, dass die Ergebnisse der psychischen Funktionen dieses Zustandes logisch wahr oder moralisch untadelig seien; z. B. wenn die pathologische Verfeinerung der Wahrnehmung das Material zu Erkenntnissen und unbewussten Schlussfolgerungen liefert, welche dem wachen Bewusstsein verschlossen bleiben, oder wenn das moralische Gefühl des Menschen durch die physische und psychische Analgesie des somnambulen Zustandes von pathologischen Störungen befreit wird, welche es im wachen Zustande entstellen. Aber dieser relative Werth der Ergebnisse jener psychischen Funktionen beweist doch nichts dagegen, dass dieselben an und für sich pathologischer Natur sind, wie du Prel meint (131, 137, 278). Der Beweis dafür ist damit gegeben, dass auch andere pathologische Zustände, Sensitivität, Irrsinn u. s. w. gelegentlich richtige und ungewöhnliche Ergebnisse durch ihre pathologischen psychischen Functionen zu Tage fördern. Anderseits würde die pathologische Natur des somnambulen Zustandes nicht hindern können, dass die Natur ihn unter Umständen als das kleinere von zwei Uebeln wählt, und dass die menschliche Absicht dieses Beispiel der Natur nachahmt, falls das Uebergewicht des zu beseitigenden[– 234 –] Uebels und seine Beseitigung durch das gewählte Mittel zweifellos sind.

Du Prel geht es wie so vielen Autoren, die sich anhaltend mit einem Gegenstande beschäftigt haben, er überschätzt dessen Bedeutung in jeder Hinsicht. So wenig es rathsam ist, nach der Weise der Alten die Träume auf ihren prophetischen Werth hin zu kultiviren, ebensowenig kann man es empfehlen, den Somnambulismus in ausgedehnterem Maasse zu psychologischen Experimenten oder gar zu Heilzwecken zu benutzen. Wenn es wahrsagende Träume giebt, so müssen dieselben nach du Prel in tiefem Schlaf (36) stattfinden, von welchem wir gar keine oder nur eine durch den Halbschlaf vermittelte Erinnerung besitzen (49); der Halbschlaf aber, der nur werthlose Phantasiebilder liefert (36, 51), droht die ohnehin schon symbolisirten Ahnungen des tiefen Schlafs noch zu verunstalten, wenn er sie einmal ausnahmsweise der wachen Erinnerung überliefert. Die Jagd nach prophetischen Träumen würde deshalb sicherlich in der grössern Mehrzahl der Fälle, wo man einen solchen vermuthet und nach einer solchen Vermuthung handelt, den Menschen zum Narren haben; gesetzt aber auch, man lernte einmal aus der Symbolik des Traums, dass man sich im Inkubationsstadium einer noch nicht ausgebrochenen Krankheit befände, so würde dadurch die glückliche Unwissenheit des Kranken nur um so viel früher zerstört ohne die Therapie zu erleichtern, welche doch meist erst in den späteren Stadien einer Erkrankung eingreifen kann.

Zur Erweiterung unserer psychologischen Kenntnisse über abnorme psychische Zustände wird man wohl thun, sich auf genaue Beobachtung des spontanen Somnambulismus zu beschränken; ich würde es eher für zulässig halten, an Menschen mit ihrer Zustimmung Vivisectionsexperimente zu machen, welche doch nur[– 235 –] ihren Körper vorübergehend schädigen, als künstliche Geistesstörungen in ihnen zu erzeugen, welche erst bei öfterer Wiederholung interessantere Ergebnisse liefern, dann aber auch Körper und Geist dauernd zerrütten.[20] Da der durch künstlichen Somnambulismus dem Nervensystem zugefügte Schaden eine zweifellose Thatsache, der durch ihn zu erzielende medicinische Gewinn aber theils illusorisch, theils zweifelhaft und unsicher ist, so wird jeder besonnene Arzt vor der Anwendung des Somnambulismus zu Heilzwecken zurückschrecken, ganz unabhängig davon, ob er sich denselben erklären kann oder nicht (237); denn die vorläufige Unerklärlichkeit der Wirkungsweise der meisten Heilmittel hat noch keinen Arzt von deren Anwendung abgehalten. Ausserdem sind es noch Nebengründe, welche die medicinische Verwendbarkeit des Somnambulismus, selbst wenn man sie im Princip zuliesse, doch praktisch (ebenso wie die örtliche Anwendung des Heilmagnetismus ohne Hypnotisirung) auf Ausnahmefälle beschränken würden, nämlich die relative Unempfänglichkeit vieler Patienten für magnetische Einflüsse, die relative Seltenheit ausreichender magnetischer Kraft bei Aerzten und die rasche Krafterschöpfung der Magnetiseure bei erwerbsmässiger Thätigkeit. Wollte man aber nach den Vorschlägen Fahnestock’s[21] alle Menschen darauf einüben, sich selbst willkürlich durch psychische Einflüsse in Somnambulismus versenken zu können, so wäre der dadurch im Nervensystem der Menschheit angerichtete[– 236 –] Schaden unermesslich, der Gewinn aber höchst zweifelhaft; denn ob bei schweren Verwundungen, Brandwunden, Schlangenbissen, Neuralgien u. s. w. der auf Selbstsomnambulisirung Eingeübte im Stande bliebe, seinen psychischen Vorstellungsablauf so zu beherrschen, dass der Somnambulismus auch wirklich einträte, darüber hat Fahnestock, wie es scheint, noch keine Versuche angestellt.

Den Nutzen, den der Somnambulismus bringen kann, schlägt du Prel viel zu hoch an. Dass dauernde vollständige Schlafentziehung ebenso wie Nahrungsentziehung den Menschen tödtet, ist zweifellos; aber es ist falsch, aus der Unentbehrlichkeit des Schlafs und der Nahrung zu schliessen, dass der Mensch sich desto besser befinden müsse, je mehr Schlaf und Nahrung man ihm zuführt (212). Dass Schlafsucht, die zu wochenlangem oder monatelangem Schlaf führt, nicht nur nicht heilsam ist, sondern meist mit Blödsinn oder Tod endet, ist bekannt. Aber gesetzt auch, der Schlaf wäre um so heilsamer, je tiefer er ist, so wäre doch die daraus gezogene Schlussfolgerung du Prel’s falsch, dass der somnambule Schlaf als der tiefere und intensivere auch heilsamer sein müsse als der natürliche (41). Denn erstens beruht dieser Schluss auf der falschen Voraussetzung, dass der Somnambulismus eine Vertiefung des normalen Schlafes sei, und zweitens lässt sie ausser Acht, dass selbst, wenn er dies wäre, er doch nur eine krankhafte Vertiefung desselben wäre, die sich niemals an Heilsamkeit mit dem gesunden Schlaf, selbst solchem von geringerer Tiefe, messen kann. So ist z. B. der durch Chloral, Morphium u. s. w. erzeugte Schlaf tiefer als der gewöhnliche, und doch sind fünf Stunden natürlichen Schlafes erquickender als sieben Stunden eines solchen künstlich erzeugten; wer aber keinen natürlichen Schlaf finden kann, greift schliesslich[– 237 –] doch zu solchen Mitteln und darf dann wohl von ihnen rühmen, dass sie nach langer Schlaflosigkeit ihn wahrhaft erquickt haben. So mögen auch Somnambulen, die an Schlaflosigkeit leiden, das Erquickende des somnambulen Schlafes rühmen, der ihnen einen gewissen Ersatz gewährt; ja sogar sie können, wenn sie an schmerzhaften oder quälenden Zuständen und Verstimmungen des Nervensystems leiden, mit Recht dem Hypnotismus wegen seiner Analgesie in ihrem subjektiven Empfinden einen Vorzug vor dem natürlichen Schlaf einräumen, ebenso wie sie ihm oft den Vorzug vor dem ihnen unbehaglichen wachen Zustande geben (493). Aus dieser subjektiven Bevorzugung des somnambulen Zustandes durch die Somnambulen auf seine objektive Heilsamkeit zu schliessen, wäre ebenso voreilig, als wenn man aus dem Verlangen eines Morphiumsüchtigen nach neuer Narkose auf die Heilsamkeit der Morphiumnarkose schliessen wollte. Dass der somnambule Zustand nicht erquickender sein kann, als der gewöhnliche Schlaf, wird dadurch objektiv erwiesen, dass er den letzteren nicht überflüssig macht, vielmehr bei andauerndem Somnambulismus das Bedürfniss nach natürlichem Schlaf ganz ebenso eintritt, wie im wachen Zustande (332).

Uebrigens stehen den Aeusserungen der Somnambulen über die Erquicklichkeit des somnambulen Zustandes ebensoviel Aeusserungen gegenüber, dass derselbe nicht gut für sie sei, und dass Alles vermieden werden solle, was ihren Rückfall in diesen Zustand herbeiführen oder begünstigen könnte (369); nur die Aeusserungen der letzteren Art sind unverdächtige Kundgebungen des Heilinstinkts, während bei denen der ersteren Art der Verdacht nahe liegt, dass der Heilinstinkt durch den Drang nach relativer Behaglichkeit des subjektiven Befindens verdunkelt werde. Letzteres[– 238 –] wird dadurch erhärtet, dass die Somnambulen mit dem Schwinden ihrer subjektiven Beschwerden auch aufhören, nach dem somnambulen Zustand Verlangen zu tragen; wenn er aber erquicklich und unschädlich zugleich wäre, so müssten Alle, die ihn kennen gelernt haben, nach seiner Wiederholung Verlangen tragen, gleichviel ob sie gesund oder krank wären. Wenn der Somnambulismus darum heilsamer wäre, als der Schlaf, weil er tiefer, intensiver als dieser ist, so müsste er um so heilsamer sein, je tiefer er ist, am heilsamsten also als Hochschlaf; das Gegentheil davon ist wahr: der somnambule Zustand ist um so schädlicher in seinen Nachwirkungen auf den Organismus, je tiefer er ist, und der geradezu lebensgefährliche Hochschlaf wird von den Somnambulen selbst gefürchtet (365). Gegen die prahlerischen Berichte der Magnetiseure über wunderbare Heilungen und Regenerationen in anhaltendem Somnambulismus ist mehr kritische Vorsicht nöthig, als du Prel anwendet (212, 254), und das Gleiche gilt für die wunderbaren Wirkungen der von den Somnambulen für sich oder Andere verwendeten Heilmittel.

Da der Somnambulismus ein krankhafter, von dem gesunden Schlaf specifisch verschiedener Zustand ist, der den letzteren keineswegs entbehrlich macht, wohl aber um so schädlichere Nachwirkungen hinterlässt, je tiefer er war und je öfter er sich wiederholte, so ist gegen jede Behauptung heilsamer Wirkungen dieses Zustandes die äusserste Vorsicht geboten. Der spontane Somnambulismus ist zunächst ebenso zweifellos ein Symptom einer Erkrankung des Nervensystems wie Epilepsie, Veitstanz oder Irrsinn; nur die unkritische vorgefasste Meinung von der Heilsamkeit des Somnambulismus kann zu dem Irrthum verleiten, in jedem Fall von spontanem Somnambulismus eine Aeus[– 239 –]serung der Naturheilkraft zu sehen. Dabei bleibt natürlich die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass in einzelnen besonderen Fällen der spontane Eintritt des Somnambulismus in der That als eine Selbsthülfe der Natur aufzufassen ist, z. B. um durch Analgesie dem Organismus eine Erholungspause von unerträglichen Schmerzen zu gönnen, oder um einen Anfall von nervöser Gleichgewichtsstörung in milderer Form verlaufen zu lassen (larvirte Epilepsie, larvirter maniakalischer Anfall). Ebenso ist es nicht unmöglich, dass die im Somnambulismus stattfindende Funktionsausschaltung gewisser Theile des Organismus und die Veränderung in den Bahnen des Blutstroms Gelegenheit geben zur Förderung regenerativer Vorgänge. Im ersteren Sinne könnte dem Somnambulismus ein symptomatischer Werth (zur Vorbeugung oder Unterdrückung bedrohlicher nervöser Anfälle), im letzteren Sinne ein Werth für die Linderung der Krankheitsursachen zugesprochen werden.

Aber was so für den spontanen Somnambulismus gelten könnte, ist darum noch nicht ohne Weiteres auf den künstlichen Somnambulismus zu übertragen, wie du Prel annimmt (140); denn wer steht dafür, dass der künstliche Somnambulismus genau derselbe Zustand ist, wie der natürliche, dass er der Natur, die es unterlassen hat, ihn spontan herbeizuführen, überhaupt willkommen ist, und dass er genau im rechten Grade und genau zur rechten Zeit angewendet wird? Insbesondere der mehr am Tage liegende prophylaktische Werth als symptomatisches Palliativmittel hängt ganz davon ab, dass der Kranke den Magnetiseur in jedem Augenblick bei sich hat, was doch viel schwerer ist, als ein Chloral- oder Morphiumpulver immer bei sich zu tragen. Zwar kann der Arzt dem Patienten in der Hypnose suggeriren, dass der somnambule Schlaf jedesmal wiederkehren[– 240 –] soll, sobald er eines von einer Anzahl wirkungsloser Pülverchen zu sich nimmt, oder auch sobald er einen bestimmten Spruch hersagt; aber solche posthypnotische Suggestionen werden nur bei Personen von hochgradiger Nervosität längere Zeit ihre Wirkung behalten, und grade bei solchen ist die Herbeiführung des Somnambulismus ohne sachkundige Beaufsichtigung am wenigsten zulässig. Selbst wenn die körperlichen Nachtheile der narkotischen Mittel ebenso gross wären wie die des Somnambulismus (was entschieden zu bestreiten ist), würden sie doch, da sie für die Gesundheit dasselbe mit grösserer Sicherheit leisten, den Vorzug verdienen, weil die Gefahren für Geist und Charakter bei ihnen ungleich geringer sind. Auch der Heilwerth der posthypnotischen Suggestionen bei hysterischen Störungen ohne anatomische Grundlage (hysterischen Lähmungen, Krämpfen u. s. w.) darf nicht überschätzt werden; denn wenn es gelingt, der Krankheit die eine Pforte zum Hervortreten auf diese Weise zu verschliessen, so wird sie nie in Verlegenheit sein, sich dafür eine andere zu öffnen, so dass nicht eine Beseitigung, sondern nur eine fortwährende Aenderung der Symptome auf diesem Wege erzielt wird. Immerhin kann die Aufhebung besonders lästiger oder schädlicher Symptome durch posthypnotische Suggestion unter Umständen ein grosser Gewinn für die ärztliche Behandlung sein, und dürfte hierin noch am ehesten die mesmerische Praxis eine Zukunft haben.

Nicht minder als den Heilwerth des Hypnotismus überschätzt du Prel den Werth der somnambulen Sensitivität und der durch sie vermittelten Diagnose eigener und fremder Körperzustände. Die Art, wie die Somnambule ihre Körpertheile fühlt, ist unmittelbar nicht in Worten auszudrücken, ja nicht einmal unmittelbar vom Bewusstsein zu vergegenständlichen; erst der in[– 241 –] Anschauungsbilder umgewandelte, d. h. in Gesichtseindrücke übertragene Gefühlseindruck ist in Worten wiederzugeben. Gesetzt den Fall, der Gefühlseindruck von der relativen Lage und dem Zustand der eigenen Körpertheile wäre genau und bestimmt, so würde er doch bei der unwillkürlichen Uebertragung in ein Anschauungsbild zum ersten Mal, und bei der Uebersetzung des letzteren in Worte zum zweiten Mal entstellt. Entweder fehlt es der Somnambule an Worten und technischen Ausdrücken zur Beschreibung ihres Bildes, so dass der Deutlichkeitsgrad ihrer Anschauung gar nicht zu kontroliren ist; oder sie beherrscht solche Ausdrücke, dann besitzt sie sicherlich auch einige unvollkommene Kenntnisse, welche ihrer vermeintlichen Selbstschau Grundlage und Richtung geben und deren Ergebnisse entweder verfälschen oder ergänzen. Aber schon der Gefühlseindruck selbst ist dunkel und unsicher, und es bedarf schon einer Uebung durch häufige Wiederholung oder eines ausnahmsweisen hohen Grades von Somnambulismus oder einer örtlichen Steigerung der Hyperästhesie durch örtliche Magnetisirung (179)[22], um die totale, beziehungsweise lokale Selbstschau zu einer einigermassen bestimmten zu machen.

Abgesehen von der natürlichen Unbestimmtheit der Diagnose (198) und von ihrer Gefährdung durch Einmischung von abstrakten Gedächtniss-Vorstellungen (178) und Phantasiespielen (172) wird deren Werth noch durch weitere Fehlerquellen verringert. Einerseits kann nämlich der Magnetiseur durch vorzeitiges, oder zudringliches oder ungeschicktes Fragen die Somnambule zwingen, seinen Ansprüchen durch erquälte Antworten zu genügen, die sie theils nach ihrem eigenen anatomischen[– 242 –] Kenntnissstand, theils nach dem Wortlaut der Fragen eingerichtet (178), und andererseits können, wenn die Annahme der Gedankenübertragung vom Magnetiseur auf die Somnambule richtig ist, sowohl die bewussten Gedanken des Magnetiseurs über die von ihm erwarteten Antworten als auch die unbewussten Vorstellungen oder dunklen Ahnungen desselben über den Zustand der Kranken in diese durch den magnetischen Rapport übergehen und ihm aus demselben zurücktönen, wie ein Echo, das er nicht als Echo erkennt (267). Hält der Magnetiseur vorsichtshalber seine Fragen zurück, bis die Somnambule spontane Aeusserungen über den Gesundheitszustand vorbringt (178), so wird er nur selten eine Diagnose zu hören bekommen, und dann noch eine sehr unvollständige und unbestimmte; geht er dann mit Fragen vor, so weiss er doch nicht, was aus dem gesteigerten Körpergefühl der Somnambule und was aus anderen Quellen stammt. Somnambule zur Diagnose fremder Personen zu benutzen, bleibt, ob für Geld oder umsonst geübt, immer ein Missbrauch ihrer Person, der sie schwächt und angreift und gegen den sie sich mit Recht sträuben (204–205). Wäre die Ausnutzung der somnambulen Sensitivität für Diagnosen etwas Unschädliches und wirklich Werthvolles, so wäre nicht abzusehen, warum ein Magnetiseur, der seine Somnambule (als Frau, Tochter, Pflegling u. s. w.) unterhält, nicht ebenso gut wie ein konsultirender Arzt für die gelieferten Diagnosen Honorar annehmen sollte, zumal sie ja von dem Inhalt der Sitzungen und ihrer Entlohnung nichts zu erfahren brauchte (370).

Die Behauptung du Prels, dass die somnambule Selbstschau viel werthvollere Aufschlüsse über die Anatomie des Menschen als der Leichenbefund und allein werthvolle Aufschlüsse über die physiologische[– 243 –] und pathologische Oekonomie des Menschen zu geben im Stande sei, weshalb in der Vivisektion nichts als nutzlose Grausamkeit zu sehen sei (193), resumirt seine Ueberschätzung der somnambulen Selbstschau in drastischer Form und verkennt die Nothwendigkeit, sich der schwer zu erreichenden Wahrheit von möglichst vielen Seiten her zugleich anzunähern. Nach meiner Ansicht ist der Missbrauch von Somnambulen zu Diagnosen und Heilverordnungen für dritte Personen ebenso unbedingt auszuschliessen, wie öffentliche Vorstellungen; auf dem Gebiet der Selbstdiagnose aber wird nur ganz ausnahmsweise einmal eine in den selteneren Graden des Somnambulismus spontan eintretende Aeusserung einen diagnostischen Werth für den Arzt haben können. Eine Erweiterung unserer anatomischen, physiologischen und pathologischen Kenntnisse im Allgemeinen von den Aussprüchen der Somnambulen zu erhoffen, erscheint mir phantastisch und mit den bisherigen Erfahrungen im Widerspruch. Dagegen erkenne ich bereitwillig den Nutzen an, den das objektive Studium dieser pathologischen Zustände der Physiologie des Nervensystems bringen kann und zum Theil schon gebracht hat. Derselbe würde noch ungleich grösser sein, wenn die Vivisektion sich mit dem Somnambulismus redebegabter Individuen verbinden liesse, was leider nach den bisherigen Ansichten über die Zulässigkeit der Vivisektion bei Menschen nicht angeht.

Aber selbst zugegeben, dass gelegentlich die somnambule Selbstschau der ärztlichen Diagnose eine werthvolle Ergänzung oder Berichtigung zuführt, so ist damit doch sehr wenig gewonnen; wäre jeder gute Diagnostiker darum auch schon ein guter Arzt (176), so würde es uns nicht an guten Aerzten fehlen, da in der Diagnose unsere heutige Medicin ebenso weit vorgeschritten[– 244 –] ist, als sie in der Heilung innerer Krankheiten ohnmächtig geblieben, ja sogar zur Kenntniss ihrer Ohnmacht gelangt ist. Steht schon den akuten constitutionellen Erkrankungen der Arzt machtlos gegenüber, so noch weit mehr den chronischen; allgemeine Kräftigung durch Diät und Hautpflege ist neben vorübergehender Linderung einzelner lästiger Symptome das einzige, was ihm der heutige Stand unserer Kenntniss zu leisten gestattet, insbesondere bei den chronischen Krankheiten des Nervensystems. Wie wenig nützt ihm da die Genauigkeit seiner eigenen Diagnose, und wie viel weniger die gelegentliche Unterstützung durch die Somnambule! —

Nun darf freilich der Heilinstinkt der Somnambulen nicht ausser Acht gelassen werden; aber dieser wird sich meist unabhängig von somnambuler Selbstdiagnose und nur ausnahmsweise im Zusammentreffen mit derselben äusseren, besonders, wenn man spontane Aeusserungen abwarten will, denen allein einiger Werth zugeschrieben werden kann (255). Abgefragte Heilverordnungen spiegeln fast immer nur die medicinischen Ansichten des Arztes wieder (267), welche mit denjenigen seiner Zeit theils übereinstimmen (257), theils mehr oder weniger von ihnen abweichen, und zwar nicht bloss seine bewussten Gedanken und Entschliessungen, sondern auch das von ihm Geahnte und noch nicht Erfasste, oder das von ihm Gewünschte aber noch nicht Gewagte (231, 270). Aber auch die spontanen Selbstverordnungen der Somnambulen sind mit so viel Fehlerquellen behaftet, dass man niemals wissen kann, ob und wie viel der Heilinstinkt dabei mitspricht.

Erstens haben die meisten Laien mehr Kenntniss von Heilmitteln als von Anatomie, insbesondere Nervenleidende, an denen schon viel herum kurirt worden ist, und die oft eine Masse unverdauter medicinischer Kenntnisse[– 245 –] aufgelesen haben (309); es ist daher kein Wunder, dass auch die Somnambulen die therapeutischen Systeme ihrer Zeit wenigstens den Grundzügen nach widerspiegeln (264), wenn ihre Aeusserungen auch mit dem Glauben und Aberglauben der Volksmedicin mehr oder weniger gemischt sind. Ebenso wie die vermeintlichen Intuitionen der Somnambulen über metaphysische und religiöse Dinge nur phantastisch gemodelte unbewusste Reminiscenzen aus dem ihnen geläufigen religiösen Vorstellungskreise sind (185), ebenso sind auch die vermeintlichen Intuitionen des somnambulen (oder träumenden) Heilinstinkts in der allergrössten Mehrzahl der Fälle nichts als erinnerungslose Reproduktionen von früher einmal Gehörtem, Gelesenem oder Probirtem, welche durch die Hyperästhesie des Gedächtnisses dem Bewusstsein zur Verfügung gestellt werden ohne jedes Merkmal, dass sie aus dem reflexiven discursiven Wissen stammen (229). Zweitens kreuzen sich bei der Somnambulen, als einer Kranken, die perversen krankhaften Instinkte mit dem Heilinstinkt, und man kann nie wissen, welcher im gegebenen Falle die Oberhand hat; das Verlangen nach den unverdaulichsten Dingen (217), nach kolossalen Dosen stark wirkender Medikamente (270 bis 272), nach Fortdauer und Wiederholung des somnambulen Zustandes gehören ohne Zweifel den ersteren an. Drittens schützt der Verzicht des Magnetiseurs auf Fragestellung bei engem magnetischem Rapport keineswegs davor, dass nicht schon dessen unausgesprochene bewusste und unbewusste Vorstellungen und Wünsche in die Somnambule übergehen und aus ihr zurücktönen. Viertens kann die somnambule Traumphantasie sich in einem Spiel mit ebenso sinnlosen wie unschädlichen Verordnungen ergehen (171), denen vom Magnetiseur und demgemäss auch von der Kranken irrthümlich eine hohe Wichtigkeit beigemessen wird.[– 246 –] Berücksichtigt man endlich, dass Zurückhaltung in der Fragestellung bei den registrirten Krankheitsgeschichten von Somnambulen zu den Ausnahmen gehört, so wird man ermessen können, einen wie geringen Antheil an den berichteten Selbstverordnungen man dem Heilinstinkt zuschreiben darf.

Betrachtet man die berichteten Fälle von günstiger Wirkung der somnambulen Verordnungen, so bleibt nach Ausscheidung der schlechthin unzuverlässigen Angaben und nach Abzug der Fälle, in denen bekannte Heilmittel von anerkannter Wirksamkeit verordnet sind, in der That noch genug Material übrig, um das Erstaunen des Laien zu erwecken. Aber ganz dasselbe ist der Fall bei den zahllosen irrationellen Systemen der Heilkunst, welche auf der Erde im Schwange gehen, ja sogar bei Schäfern und wunderthätigen Heiligenbildern; sie alle haben eine Menge zweifellos glücklicher Kuren aufzuweisen, insbesondere in Fällen von Nervenkrankheiten, die jeder rationellen Behandlung spotten, und bei denen noch immer das Wort gilt: Dein Glaube hat Dir geholfen. Wenn nun eine Somnambule den festen Glauben gewinnt, dass sie in Folge der getroffenen Verordnungen sich bessern oder genesen werde, so kann dieser Glaube sehr wohl eine vorübergehende oder dauernde Veränderung der Krankheit herbeiführen, ganz abgesehen davon, ob den verordneten Mitteln objektiv genommen irgend welche Wirksamkeit zukommt. Aus der objektiven Gleichgültigkeit des Inhalts der Verordnung erklärt sich die Vorliebe der Somnambulen für anscheinend indifferente Mittel oder für homöopathisch kleine Gaben (272), zugleich aber auch die Thatsache, dass die Mittel immer nur ihnen selbst helfen, aber in anscheinend gleichen Fällen jede Wirkung versagen und zur Abstraktion von allgemein giltigen Regeln nicht brauchbar sind (269–270);[– 247 –] ebenso erklärt sich aus der grösseren Kraft des Glaubens an eigene als an fremde Verordnungen die Thatsache, dass die Wirkung der somnambulen Verordnungen für dritte mit ihnen in Rapport gesetzte Personen soviel unsicherer ist, als die Wirkung der Selbstverordnungen.

Hätten die Verordnungen der Somnambulen irgend welche objektive Wirksamkeit, so müsste doch unbeschadet der grössten Individualisirung der einzelnen Fälle irgend welcher greifbare Gewinn für die Therapie, wenn auch nur der allerbescheidensten Art, nachweisbar sein; da dies trotz aller Bemühungen der Magnetiseure nicht der Fall ist, muss man schliessen, dass die Wirkung der Verordnungen, soweit letztere nicht von bereits bekannter objektiver Wirkung sind, nur subjektiver Art ist, und zwar nicht nur bei den Somnambulen selbst, sondern auch bei denen, welche ihre Hülfe in Anspruch nehmen und an deren Wirksamkeit glauben. Darum ist aber auch die Hoffnung abgeschnitten, auf diesem Wege jemals einen Fortschritt der medicinischen Wissenschaft zu erzielen; die Befolgung der somnambulen Verordnungen, soweit keine objektive Wirksamkeit derselben bekannt ist, wird ein verständiger Arzt nur zu dem Zwecke zugeben, um von dem aufrichtenden Einfluss des Glaubens und Vertrauens Nutzen zu ziehen, welcher durch das Vergessen der somnambulen Verordnung im wachen Zustande nicht beeinträchtigt wird. Aber kein verständiger Arzt wird den künstlichen Somnambulismus herbeiführen in der ungewissen Aussicht, eine Selbstverordnung der Kranken zu erzielen, die vielleicht einen günstigen subjektiven Einfluss auf das Nervenleiden haben könnte. Ganz unstatthaft aber ist das Provociren von Verordnungen für dritte Personen; will man einmal Hokus-Pokus treiben, so giebt es andere Mittel genug, um medicinisch nützliche Einbildungen in den letzteren hervorzurufen, als[– 248 –] dass man zu dem Zwecke durchaus mit der Gesundheit eines ohnehin schon Nervenkranken ein frevelhaftes Spiel treiben müsste.

Bei alledem bin ich weit entfernt, die Existenz eines Heilinstinkts und seine erleichterte Aeusserung im somnambulen Zustande zu leugnen; ich behaupte nur, dass diese Aeusserungen unter einem solchen Wust von werthlosen und schädlichen Einfällen und Einbildungen vergraben liegen, dass es ein praktisch aussichtsloses und bei seinen unvermeidlichen Irrwegen gefährliches Unternehmen wäre, auf dieselben eine indirekte hypnotische Behandlung der Kranken gründen zu wollen. Es ist auch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass die Hyperästhesie der Gefühls- und Vorstellungsfunktion im somnambulen Zustande das Auftauchen hellsehender Intuitionen über allerlei andere als medicinische Dinge, ja sogar über transcendent metaphysische Thatsachen erleichtert, und trotzdem müssen, wie du Prel zugiebt (184–185), alle Versuche, „aus den Somnambulen Wahrsager zu machen oder gar über metaphysische Fragen von ihnen Aufklärungen zu erhalten, als ganz werthlos angesehen werden“. Dieselben Gründe, welche diese Versuche auf dem einen Gebiet praktisch werthlos machen, thun es im gleichen Masse auch auf dem andern.

Noch unzulässiger als die medicinische Verwerthung ist die pädagogische Ausnutzung des Somnambulismus im moralischen Interesse, welche du Prel der wohlbegründeten Besorgniss vor unmoralischen Missbrauch der Macht des Magnetiseurs über die somnambule Person entgegengestellt (357–358). Das somnambule Bewusstsein ist ein widerstandsloser und willenloser Geisteszustand, in welchem blindlings jeder Befehl des Magnetiseurs befolgt wird und die Consequenzen des[– 249 –] einmal erhaltenen Thätigkeitsimpulses wie bei einem mechanischen Automaten abschnurren; die somnambule Widerstandslosigkeit gegen den Willen des Magnetiseurs greift aber — und darin liegt eine furchtbare Gefahr — auch in das wache Leben über, so dass die wache Person die unglaublichsten Vorwände aufsucht, um einen im somnambulen Zustande erhaltenen Befehl des Magnetiseurs zu rechter Zeit zu erfüllen, obwohl sie keine Erinnerung an diesen Befehl hat, sondern nur den dunklen, unmotivirten Trieb zum Vollziehen der fraglichen Handlung empfindet. Der pathologische Charakter des Somnambulismus und seine Verwandtschaft mit der Geistesstörung offenbart sich hier mit voller Deutlichkeit, indem die unbewusst fortwirkenden Rückstände des somnambulen Lebens bei ihrem Hineinragen in’s normale Leben sich genau so verhalten, wie die unmotivirten und doch unwiderstehlich wirkenden Triebe bei Wahnsinnigen. Beide Arten von decentralisirten Impulsen kommen aus derselben Region des Centralnervensystems, nur dass sie im ersteren Fall durch den Magnetiseur, im letzteren Fall durch innere krankhafte Reize des Organismus bestimmt sind.

Es ist klar, dass dieses Verhältniss der Somnambule zum Magnetiseur den Begriff der Besessenheit objektiv verwirklicht, von dessen Verwirklichung in wachen Irrsinnsfällen die blosse Illusion besteht; es ist ebenso klar, dass die mit solcher Besessenheit gegebene Aufhebung der Selbstbestimmung des Willens das psychologische Fundament der Sittlichkeit ganz ebenso wie der spontane Irrsinn zerstört. Ob der Inhalt des infiltrirten Willens gut oder böse ist, erscheint relativ gleichgiltig, da seine Ausführung dem Handelnden doch nicht mehr moralisch zugerechnet werden kann; aber das rein Formelle an diesem Verhältniss ist einem Meuchelmord der sittlichen Persönlichkeit[– 250 –] gleich zu achten, und muss als solcher immer sittlichen Abscheu erwecken. Das Hinüberspielen des blinden Automatengehorsams aus dem somnambulen in den wachen Zustand kann niemals Früchte von sittlichem Werth, sondern höchstens eine maschinenmässige Legalität der impulsiven Handlungen erzielen; aber die Legalität ist hier nicht, wie in der echten Pädagogik, eine Vorstufe zur Bethätigung sittlicher Autonomie, sondern mit dem Preise ihrer Zerstörung bezahlt. Nur da, wo durch Geistesstörung ohnehin die psychische Grundlage der sittlichen Persönlichkeit aufgehoben ist, kann die Herbeiführung des somnambulen Zustandes und die Aenderung der krankhaften Willensimpulse und Einbildungen unbedenklich erscheinen; so z. B. wenn man einem Irrsinnigen im somnambulen Zustand befiehlt, hinfort nicht mehr von einem bösen Dämon sondern von einem guten Genius besessen zu sein, oder ihn selbst die Person wählen lässt, mit der er die Vertauschung seines wahnsinnigen Ich vornehmen will. Auch die Möglichkeit Somnambule auf Befehl bestimmte Vorstellungen für die Dauer vergessen zu lassen, könnte zur Bekämpfung von fixen Ideen und Zwangsvorstellungen verwerthet werden, obschon die aus einer Wahnvorstellung verscheuchte Krankheit sich dann sehr bald in einer andern Wahnvorstellung ein neues Ventil zu öffnen pflegt.

Es giebt keine launischeren, selbstsüchtigeren, anspruchsvolleren, herrschsüchtigeren, empfindlicheren, kurz, für ihre Umgebung unerträglicheren Individuen, als jene Art von Nervenkranken, die zum Somnambulismus prädisponirt sind, und die öftere Wiederholung des Somnambulismus steigert die nervöse Gleichgewichtsstörung, aus der diese Unliebenswürdigkeit des Benehmens entspringt, hat also eine entschieden ungünstige Rückwirkung auf die sittliche Haltung der[– 251 –] Person, ebenso wie auf ihr Gedächtniss und ihre intellectuellen Fähigkeiten. Nur in der somnambulen Krise selbst, wo der störende Druck des Nervenleidens auf die Stimmung der Kranken durch die Analgesie aufgehoben ist und alle Gedächtnissvorstellungen nur mit den ihnen in der Vergangenheit (also in gesunden Tagen) anhaftenden moralischen Gefühlswerthen reproducirt werden (317, 319), erscheint auch das aus diesen begleitenden Gefühlswerthen abfliessende moralische Urtheil wieder so, wie es in gesunden Tagen war. Dieser Zustand kann also relativ, d. h. im Vergleich mit der krankhaften Entartung des sittlichen Gefühls im wachen Zustande, als eine Steigerung und Reinigung des moralischen Gefühls erscheinen (434); aber der Somnambulismus erzeugt diese nicht, sondern lässt nur die reineren Gefühlswerthe der gesunden Vergangenheit durch das Gedächtniss wieder aufwachen, während er die Störungen des gegenwärtigen wachen Lebens zeitweilig verdunkelt.

Nach alledem ist der Nutzen des Somnambulismus ebenso problematisch wie die Schädlichkeit desselben für Leib und Seele zweifellos ist; alle Versuche, aus demselben Nutzen zu ziehen, sind (mit Ausnahme einzelner Fälle von Behandlung der Hysterie und des Irrsinns) nicht nur praktisch werthlos, sondern befinden sich auf einem gefährlichen Irrwege. Es ist praktisch höchst wichtig, daran festzuhalten, dass der Somnambulismus ein rein pathologischer Zustand mit ausschliesslich pathologischen Funktionen ist, der vor anderen pathologischen Nervenzuständen nichts voraus hat und keine einzige neue Funktion des menschlichen Geistes enthüllt, sondern nur bekannte Funktionen in anderer Zusammenstellung zeigt. Selbst das eigentliche Hellsehen ist eine Funktion, die bei wachem Bewusstsein unter Umständen auch vorkommt, und die nur beim Somnambulismus wegen[– 252 –] der Hyperästhesie des Gedächtnisses und der Phantasie leichter eintritt; aber noch nie hat die Menschheit in ihrem Kulturprocess vom somnambulen Hellsehen irgend welche Förderung erfahren, weil solche abhängig ist von der Verbindung des Hellsehens mit der zielbewussten Besonnenheit der Geistesthätigkeit, die eben im Somnambulismus unterdrückt ist.

Die willenlose, decentralisirte, automatenartige Passivität des somnambulen Bewusstseins (124) stellt dasselbe tief unter das wache Bewusstsein, ebenso wie das gewöhnliche Traumbewusstsein, dem gleichfalls das zielbewusste Wollen und die Richtung gebende Aufmerksamkeit fehlen (33). Die Geistigkeit und bewusste Vernünftigkeit des wachen Lebens bekundet sich eben formell in der Erhebung über die anschauliche Bildlichkeit der Vorstellungen zu abstrakten Begriffen und zur Gedankenreflexion, inhaltlich in der zielbewussten Leitung des Vorstellungs- und Motivationsprocesses, durch welche auch die autonome Selbstbestimmung des Willens ermöglicht ist. Ein bloss bildliches Bewusstsein, dessen Vorstellungsbilder mechanisch von aussen aufgezwungen werden oder ebenso mechanisch nach zufällig entstandenen Associationen abschnurren, und dessen Handlungen ebenso mechanisch aus den aufgezwungenen oder zufällig aufgetauchten Bildern entspringen, entbehrt der Finalität im Vorstellungsablauf und damit der specifisch geistigen Vernünftigkeit. Je tiefer der natürliche oder somnambule Schlaf ist, desto mehr nimmt diese Lähmung der Spontaneität, diese teleologische Vernunftlosigkeit der Bilderfolge und Handlungen zu, und nur die wachsende Hyperästhesie des Gedächtnisses und der Phantasie bewirkt, dass längere Bilderreihen im Zusammenhang verlaufen. Beim normalen Traum, der schon im Halbschlaf oft längere zusammenhängende Episoden zeigt, mag bei der Schlafvertiefung[– 253 –] der zunehmende Abschluss von den Sinnesreizen die Häufigkeit solcher störenden Unterbrechungen vermindern und dadurch zur Verlängerung der zusammenhängenden Episoden beitragen (32); im Somnambulismus giebt umgekehrt bei gesteigerter Tiefe und damit zunehmendem Aufschluss der Sinne an die Aussenwelt der Magnetiseur den spiritus rector ab, welcher den mechanischen Bilderfluss im Zügel hält und von unwillkürlichen Abschweifungen aus dem Zusammenhang zurückholen kann.

Alles Vernünftige im gewöhnlichen und somnambulen Traum hängt aber doch lediglich von der Vernünftigkeit des wachen Bewusstseins ab, nämlich bei beiden von der Vernünftigkeit der im Gedächtniss niedergelegten Associationen, durch welche die Reihenfolge der Reproduction bestimmt wird, und beim Somnambulismus ausserdem von der Vernünftigkeit des den Traum der Somnambule leitenden Magnetiseurs. Je tiefer der Schlaf wird, desto tiefer versinkt das Traumbewusstsein in mechanische Passivität, in gedankenlose Bildlichkeit und in die Neigung zu symbolischer Personifikation (99), desto weiter entfernt es sich von der vernünftigen Geistigkeit des wachen Bewusstseins; je tiefer und fester der Schlaf, desto tiefer wird die Seele in das organische Treiben der Natur versenkt (215). Je weiter sich aber der Seelenzustand von der vernünftigen Geistigkeit entfernt und je tiefer er in das organische Treiben des blossen Naturdaseins versenkt wird, desto mehr steigt er auf der Stufenleiter der organischen Entwickelung abwärts, desto unähnlicher wird er dem specifisch Menschlichen und desto ähnlicher dem thierischen und pflanzlichen Leben. Das wache Bewusstsein der Thiere von den Amphibien abwärts gleicht zweifellos mehr dem somnambulen Bewusstsein als dem wachen Bewusstsein des Menschen,[– 254 –] und die Sensitivität des somnambulen Zustandes für unorganische und organische Einflüsse, für chemische, elektrische und meteorologische Eindrücke gleicht mehr dem thierischen und pflanzlichen Verwachsensein mit dem Naturganzen als der menschlichen Aussonderung aus demselben.

Wenn man demnach vor die Alternative gestellt wäre, ob der Somnambulismus sammt seiner sensitiven Einfühlung in den Naturzusammenhang als eine atavistische Gestaltung, d. h. als ein Ueberlebsel überwundener biologischer Entwickelungsstufen, oder ob er als keimartige Anticipation einer auf Erden noch unerreichten höheren biologischen Entwickelungsstufe zu deuten sei, so müsste die Antwort zweifellos zu Gunsten des atavistischen Rückfalles in niedere Lebensstufen lauten, und die Erörterung, ob die eventuell dem Somnambulismus entsprechende höhere Entwickelungsstufe noch hier auf Erden, oder in einem besseren Jenseits oder auf anderen Weltkörpern erreicht werden wird (387, 125), ist völlig bodenlos. Aber selbst die Frage, die jener Alternative zu Grunde liegt, ist schon falsch gestellt: denn sie ist nur zulässig bei normalen physiologischen Zuständen, die in der gradlinigen Entwickelung liegen, aber unzulässig bei pathologischen Zuständen, die aus derselben seitlich heraustreten.

Niemand zweifelt daran, dass ein Irrsinniger mit alternirendem Bewusstsein, trotz seines zwiespältigen Bewusstseinslebens, und trotzdem er in dem einen Zustand als eine andere geistige Persönlichkeit wie in dem andern erscheint, doch nur eine einzige geistige Persönlichkeit mit einem einzigen Bewusstsein, aber mit wechselnden Zuständen und demgemäss wechselndem Inhalt dieses Bewusstseins ist. Nicht das Bewusstsein ist bei solchen Kranken doppelt, auch nicht das Vorstellungsmaterial, über das sein Bewusstsein insgesammt[– 255 –] verfügt, sondern nur in zwei Gruppen ist das Vorstellungsmaterial getheilt, so zwar, dass jede Vorstellung einer Gruppe mit jeder derselben Gruppe sich leicht associirt, mit irgend welcher Vorstellung aus der anderen Gruppe aber gar nicht oder doch sehr schwer associirt. Der Vorrath der einen Gedächtnisskammer scheint in zwei Kammern vertheilt (298), weil er in zwei Haufen getheilt ist, die untereinander sich nicht berühren. Dass nur ein leerer Raum, aber keine Scheidewand zwischen ihnen steht, erhellt daraus, dass manchmal beim Uebergang des einen Zustandes in den anderen beide Gruppen doch in einander übergreifen, aber sich wegen ihrer Fremdartigkeit abstossen.

Man kann das Bewusstsein mit einer Blendlaterne vergleichen, welche durch ihren Lichtkegel immer nur einen engbegrenzten Ausschnitt der Umgebung auf einmal beleuchtet; dreht sich die Laterne langsam, so rückt der Lichtkegel stetig weiter und die Continuität des wechselnden Bewusstseinsinhalts bleibt gewahrt, — dreht sie sich aber plötzlich mit einem Ruck um mehr als den Scheitelwinkel ihres Erleuchtungskegels, so sind ganz von einander getrennte Ausschnitte der Umgebung beleuchtet, welche bei der Dunkelheit der sie thatsächlich verbindenden Brücke als zwei getrennte Bewusstseine erscheinen. Dass dieser Schein trügt, ist daraus empirisch zu erweisen, dass die Uebergangsbrücke unter Umständen, bei langsamer Drehung der Laterne, wirklich beobachtet, also das Vorhandensein des objektiven Zusammenhanges beider Gruppen erfahrungsmässig konstatirt wird. Denn wo die Vergleichung von Vorstellungen aus den verschiedenen Bewusstseinszuständen überhaupt möglich ist, da ist sie es nur unter der Voraussetzung der Einheitlichkeit des Bewusstseins in beiden Zuständen; wo sie aber gar nicht beobachtet wird, liegt in dieser Nichtwirklichkeit[– 256 –] doch noch kein Beweis für ihre Unmöglichkeit oder gar (wie du Prel meint — 438) für die Doppelheit des Bewusstseins, da auch dann immer noch ein identisches Bewusstsein bestehen kann, dem nur die Handhabe dazu fehlt, seine Identität mit in seinen Inhalt aufzunehmen.

Nun kennen wir innerhalb desselben menschlichen Organismus keine Bewusstseinszustände, zwischen denen nicht wenigstens ausnahmsweise ein Uebergang, eine wenn auch nur schwache Grenzberührung stattfände. Das wache Bewusstsein erinnert sich vieler Träume und mancher Vorgänge aus dem somnambulen Traumleben, besonders wenn für associative Erinnerungsbehelfe Sorge getragen wird; ebenso erinnert sich das Traumbewusstsein mancher Vorgänge aus dem somnambulen Leben, und das somnambule Bewusstsein ausnahmsweise der Vorgänge aus dem Hochschlaf (347–356). Nach den neueren französischen Berichten, ist der entschiedene Befehl des Magnetiseurs an die Somnambule, sich nach dem Erwachen an bestimmte Vorgänge des somnambulen Zustandes oder die ganze Reihe derselben zu erinnern, ausreichend, um die Erinnerungsbrücke mit Sicherheit herzustellen.[23] Diese Thatsachen genügen zum strengen Beweise des Satzes, dass wir es in allen diesen Fällen nicht mit verschiedenen Bewusstseinen innerhalb desselben organischen Individuums, sondern mit verschiedenen, physiologisch bedingten Zuständen desselben einen und einzigen Bewusstseins zu thun haben, und es bedarf dazu kaum[– 257 –] noch des Hinweises darauf, dass das Umspannen des einen Bewusstseinszustandes durch den andern nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist, wenn wir vom Hochschlaf durch das somnambule und Traumbewusstsein zu den verschiedenen normalen und abnormen Zuständen des wachen Bewusstseins fortschreiten.

Diese Sätze sind so selbstverständlich, dass wohl Niemand darauf verfallen wäre, sie in Frage zu stellen, wenn nicht der optische Dualismus (148) der phantastischen Spaltung (38) des Ich in manchen abnormen Bewusstseinszuständen mit einer Mehrheit relativ gesonderter Bewusstseinszustände zusammenträfe. Nun ist aber klar, dass die hallucinatorische Deutlichkeit eines Trauminhalts gar nichts für dessen Realität beweist, dass es dem Aberglauben verfallen heisst, wenn man die Traumfiguren des gewöhnlichen oder somnambulen Traumes für wirkliche Personen nimmt (210, 186), und dass die Neigung zur Verbildlichung und symbolisch-phantastischen Personifikation mit der Tiefe des Traumbewusstseins wächst (99), also z. B. die Zahl der Schutzengel und Interlocutoren mit der Steigerung des Somnambulismus zunimmt. Wie ist es unter solchen Umständen möglich, die symbolischen Personifikationen des Traumbewusstseins ausnahmsweise als Realitäten zu behandeln, sobald sie sich auf einen anderen, relativ gesonderten Bewusstseinszustand desselben Individuums beziehen, falls nicht schon auch ohnedies ein genügender Grund vorliegt, eine Mehrheit von Bewusstseinen oder Personen innerhalb desselben organisch-psychischen Individuums anzunehmen? Da wir gesehen haben, dass dazu nicht nur kein Grund vorliegt, sondern eine solche Annahme entschieden unstatthaft ist, so ist es auch schlechthin unstatthaft, in der Anerkennung des phantastisch-illusorischen Charakters aller dramatischen Spaltungen des Ich eine Ausnahme zu Gunsten[– 258 –] der Personifikation des normalen wachen Bewusstseinszustandes durch den irrsinnigen (343) oder durch den somnambulen zu machen (438, 189, 127).

Wäre das statthaft in Bezug auf die somnambule Traumpersonifikation des normalen wachen Zustandes durch das somnambule Bewusstsein, so wäre es nicht minder geboten in Bezug auf die Personifikation der abnormen wachen Bewusstseinszustände durch das somnambule Bewusstsein und in Bezug auf die Personifikation des somnambulen Zustandes durch das Bewusstsein des Hochschlafs; wir würden also durch diese Art, zu schliessen, doch niemals auf zwei, sondern sofort auf fünf bis sechs getrennte Bewusstseine und Personen innerhalb desselben organisch-psychischen Individuums geführt werden. Die verschiedenen abnormen Bewusstseinszustände sind von einander in nicht geringerem Grade relativ abgesondert als der normale Bewusstseinszustand von den abnormen; es ist also ganz unzulässig, wie du Prel thut, die Absonderung des normalen Zustandes von den abnormen zur Scheidegrenze zwischen zwei Bewusstseinen oder Personen im Individuum zu stempeln, die Absonderung der abnormen Zustände unter einander aber zu ignoriren und alle diese Bewusstseinszustände kurzweg als „die zweite Person“ im Individuum zusammenzufassen. Der optische Pluralismus der Personen ist überall, auch als Dualismus der Personen im somnambulen oder Traumbewusstsein, eine phantastische psychologische Illusion oder Fiktion, und wenn auch die Thatsache dieser Illusion keine illusorische, sondern eine reelle Thatsache ist (114), so darf man aus diesem Satze doch unter keinen Umständen zu Schlüssen, welche die Realität des Inhalts dieser Illusion unvermerkt voraussetzen, fortschreiten (112).

Das wache Bewusstsein und das somnambule Bewusstsein sind also nicht zwei Bewusstseine, sondern[– 259 –] zwei Zustände eines Bewusstseins, die durch Schwellenverschiebung in einander überfliessen können, und von denen der erste vom zweiten zwar durch regelmässige Erinnerungslosigkeit, der zweite vom ersten aber nur durch die phantastische illusorische Personifikation desselben abgesondert ist. Wenn die Blendlaterne des Bewusstseins sich vom wachen zum Traumzustand oder zum hypnotischen Zustand hin dreht, so erweitert sich der Lichtkegel nach der Seite der sensitiven Gefühlseindrücke, verengt sich aber nach der Seite der Sinneswahrnehmungen und der bewussten Zwecke und Interessen des Tageslebens; wenn dann der hypnotische Zustand in den somnambulen übergeht, so wird die vorherige Verengerung in Bezug auf die Sinneswahrnehmungen wieder rückgängig gemacht.

Das Organ der Willkür, der Spontaneität, der Aufmerksamkeit, der Besonnenheit, der zielbewussten Leitung des Vorstellungsablaufs, der absichtlichen Hervorrufung von Vorstellungen und Motiven und damit der Selbstbestimmung des Willens wird beim Uebergang aus dem wachen in den träumenden oder somnambulen Zustand gelähmt oder ausser Thätigkeit gesetzt; damit hört auch die zügelnde und hemmende Thätigkeit auf, welche dieses Organ auf die äussere und innere Reflexthätigkeit der übrigen Centraltheile des Nervensystems ausübt und durch welche es deren decentralisirende Impulse centralistisch beherrscht. Weil diese reflexhemmende, regulirende und leitende Thätigkeit des höchsten Geistesorgans am meisten anstrengt und am schnellsten ermüdet, so ist auch dieses Organ, das wir der Kürze halber hinfort mit „Willkürorgan“ bezeichnen wollen, am meisten der Erholung bedürftig, und es ist deshalb offenbar als eine teleologische Einrichtung aufzufassen, dass es beim Einschlafen zuerst depotenzirt wird.

[– 260 –]

Nun ist es aber ein allgemeines physiologisches Gesetz, dass die gehemmte Innervationsenergie des Nervensystems eine gewisse Beständigkeit besitzt, und wenigstens keinen plötzlichen Schwankungen ausgesetzt ist. So z. B. ist die hysterische Anästhesie der einen Körperhälfte allemal mit einer entsprechenden Hyperästhesie der andern Körperhälfte verbunden, welche beiden Zustände durch einen die gesammte Innervationsenergie wieder gleichmässig vertheilenden galvanischen Strom in gleichem Masse (wenn auch nur vorübergehend) beseitigt werden können. Dem entsprechend muss die plötzliche Anästhesirung des Willkürorgans beim Einschlafen eine Hyperästhesirung anderer Theile des Nervensystems als unvermeidliche Ausgleichungserscheinung im Gefolge haben, und diese theilweise Kompensations-Hyperästhesie wird um so intensiver auftreten, auf je beschränktere Theile sie koncentrirt ist. Daraus entspringen die lebhaften Träume unmittelbar nach dem Einschlafen, wenn die gesammte Innervationsenergie des Organismus noch nicht Zeit gehabt hat zu sinken, und vor dem Erwachen, wenn sie durch die Kräftigung des genossenen Schlafes sich wieder bis zur Höhe des Tageslebens erhoben hat. Dagegen ist anzunehmen, dass die erholende Wirkung des tiefes Schlafes um so grösser ist, je tiefer die gesammte Innervationsenergie des Organismus allmählich nach dem Einschlafen unter das Niveau des Tageslebens gesunken ist, so dass im gesunden tiefen Schlaf eine Hyperästhesie irgend welcher Theile des Nervensystems nicht stattzuhaben braucht.

Dem Somnambulismus als einem krankhaften Zustand ist es im Unterschiede vom gesunden tiefen und ruhigen Schlaf eigenthümlich, die Innervationsenergie des wachen Lebens und mit ihr die Hyperästhesie gewisser Theile des Nervensystems festzuhalten, und[– 261 –] dies ist der Grund dafür, dass einerseits das Traumbewusstsein in ihm niemals erlischt, und dass andererseits er nicht wie der Schlaf das Schlafbedürfnis befriedigt, sondern bei längerer Dauer geradezu hervorruft. Je höher die Hyperästhesie der im Somnambulismus funktionirenden Theile steigt, auf einen desto engeren Bezirk muss die gesammte Innervationsenergie koncentrirt sein, desto mehr Theile müssen also der Anästhesie verfallen sein; es muss also z. B. das Bewusstsein des Hochschlafs auf einem beschränkteren funktionirenden Gebiet des Centralnervensystems beruhen, als das gewöhnliche somnambule Bewusstsein. Da die Hyperästhesie des Gedächtnisses und der Phantasie im Somnambulismus diejenigen des gewöhnlichen Traumes nach dem Einschlafen übersteigen, trotzdem dass im ersteren die Perceptionscentra für Sinneswahrnehmungen in Funktion, in letzterem anästhetisch sind, so lässt sich daraus entnehmen, dass (wenn man von der unwahrscheinlichen Annahme einer Steigerung der gesammten Innervationsenergie im Somnambulismus gegen den wachen Zustand absieht) entweder im Traum schon eine gesunkene Gesammtenergie sich bethätigt, oder aber im Somnambulismus ein beschränkteres Gebiet des Centralnervensystems funktionirt als im Traum. Vielleicht findet beides zugleich statt.

Jetzt erst erhält der obige Vergleich des Bewusstseins mit einer Blendlaterne eine bestimmte physiologische Bedeutung. Die Umgebung, auf welche der verschiebbare Beleuchtungskegel fällt, ist nicht als die äussere Umgebung des Organismus zu verstehen, sondern als die Gesammtheit des den Bewusstseinsfunktionen zur organischen Unterlage dienenden Centralnervensystems; es zieht immer derjenige Theil den Beleuchtungskegel des Bewusstseins auf sich, auf welchen jeweilig das Maximum von Innervationsenergie koncentrirt ist,[– 262 –] während die zeitweilig anästhetischen Theile im Dunkel bleiben. Je nachdem die funktionirenden Theile der einen oder der anderen Art von sensiblen und sensorischen Nerven näher oder ferner liegen, sinkt oder steigt die Empfindungsschwelle für die betreffende Art von Empfindungen und Wahrnehmungen; allen abnormen Bewusstseinszuständen gemeinsam aber ist die Hyperästhesie des Gedächtniss- und Phantasieorgans, welche deshalb (neben jenen variablen Compensationserscheinungen) als die konstante Compensationserscheinung zur Anästhesie des Willkürorgans anzusehen ist. Wenn im wachen Bewusstseinszustände Vorstellungen aus dem Vorstellungskreise der somnambulen Krisen berührt werden, und dabei ausnahmsweise eine Wiedererkennung stattfindet, so heisst das mit anderen Worten: der Beleuchtungskegel des Bewusstseins hat diejenigen Theile des Centralnervensystems gestreift, in welchen die somnambule Vorstellung sich vollzogen hatte, und in welchen demgemäss auch ihr Gedächtnisseindruck niedergelegt ist; der Beweis dafür liegt in der Thatsache, dass jede solche Wiedererkennung den Wiedereintritt des damals bestehenden Vertheilungszustandes der gesammten Innervationsenergie, d. h. den Rückfall in den somnambulen Zustand begünstigt und nicht selten wirklich hervorruft (363–364).

Es ist für die Psychologie ohne Bedeutung, wenn auch von hohem psychologischen Interesse, welche Theile des Centralnervensystems im Traum und Somnambulismus ausgeschaltet, und welche in gesteigerter Thätigkeit sind. Im Allgemeinen ist anzunehmen, dass die Anästhesirung im Schlaf und Somnambulismus ebenso wie in der Chloroformnarkose von der Peripherie des Centralnervensystems nach dessen Centrum fortschreitet (55); doch hilft uns dieser Satz nicht viel, da wir nicht überall genau wissen, welchen von zwei Hirntheilen[– 263 –] wir als den centraleren ansehen sollen, und da er ausserdem ohne Zweifel beträchtliche Ausnahmen erleidet. Nur soviel ist gewiss, dass das Willkürorgan in der Rindenschicht der Grosshirnhemisphären zu suchen ist, und deshalb im physiologischen Sinne eine peripherische Stellung zum Mittelhirn einnimmt, trotz seiner Hegemonie im Gebrauch der Leistungsfähigkeit des gesammten Organismus. Als die am meisten centralen sind jene Theile zu betrachten, die auch im völlig traumlosen tiefen Schlaf noch funktioniren müssen, um den Fortbestand des Lebens zu sichern; während diese Theile im gesunden tiefen Schlaf besonders günstig funktioniren (wie der stärkende und regenerirende Einfluss dieses Zustandes auf den Organismus beweist), scheinen sie im somnambulen Hochschlaf (wahrscheinlich wegen fortbestehender Hyperästhesie der Perceptionscentra für Sinneswahrnehmungen trotz gesunkener Gesammtenergie) bereits in ihrer Funktion bedroht, als ob sie im Begriff wären, von Lähmung und Anästhesie befallen zu werden; so dass der eigentliche Hochschlaf schon als ein nicht ungefährlicher Zustand zu betrachten ist, dessen künstliche Herbeiführung als ein durch nichts zu rechtfertigendes Wagniss verurtheilt werden muss.

Der Schwerpunkt des physiologischen Problems liegt in der Frage: wo sind im somnambulen Zustande die Perceptionscentra für Sinneswahrnehmungen, das Ausführungscentrum für Handlungs- und Sprachbewegungen und die Centra für Sach- und Wortgedächtniss, sowie für gestaltende Phantasiethätigkeit zu suchen?

Dass sie im Sonnengeflecht nicht zu finden sind, unterliegt keinem Zweifel. Das Sonnengeflecht kann höchstens als reflektorisches und instinktives motorisches Centrum für einen Theil der vegetativen organischen Processe, als Perceptionscentrum für Gefühlseindrücke[– 264 –] der eigenen Eingeweide und allenfalls noch für Gefühlseindrücke, die aus den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Natur stammen, angesehen werden, aber nur soweit die letzteren von gefühlsmässiger Unbestimmtheit, d. h. nicht zu Sinneswahrnehmungen differenzirt sind; denn eben weil das Sonnengeflecht nicht mit Sinnesnerven in directer Verbindung steht, und nicht darauf eingerichtet ist, deren specifisch differenzirte Reize in sich aufzunehmen und zu verarbeiten, kann es sich die allgemeine Perceptionsfähigkeit der Ganglien für undifferenzirte Gefühlsreize in um so höherem Grade bewahrt haben, also wohl geeignet sein, die innere Selbstschau der Somnambulen, ihre Diagnosen fremder Krankheiten und ihre Sensitivität für chemische, meteorologische und andere Einflüsse zu vermitteln. Um aber die so percipirten Reize in Bilder umzusetzen oder zu symbolisiren, und um die Bilder wieder in Worte zu übertragen und gar die Worte auszusprechen, dazu müssen nothwendig die etwaigen Gefühlsperceptionen des Sonnengeflechts zu Hirntheilen hingeleitet werden, welche mit den Sinnes- und Sprachbewegungsnerven in unmittelbarer Verbindung stehen. Die Aussagen der Somnambulen über ihre Perception durch den Magen oder die Herzgrube deuten allerdings auf eine gesteigerte sensitive Thätigkeit des Sonnengeflechts und auf einen krankhaft gesteigerten Rapport zwischen ihm und dem Gehirn (190, 142); aber mehr lässt sich aus denselben sicherlich nicht entnehmen (188, 397–398), und du Prel’s Ueberschätzung des Gangliensystems im Allgemeinen (141, 187, 211) entbehrt der thatsächlichen Begründung.

Es bleibt sonach bloss die Wahl zwischen den verschiedenen Bestandtheilen des Gehirns. Dass das Willkürorgan nur einen Theil der Grosshirnhemisphärenrinde beansprucht, ist als sicher anzunehmen; es ist[– 265 –] demnach wohl möglich, dass der ganze übrige Theil der Grosshirnhemisphären im Traum und Somnambulismus weiter funktionirt, insbesondere das Sprachcentrum, das Gedächtniss und die Phantasie. Wenigstens liegt kein zwingender Grund zu der Annahme vor, dass die Phantasie des Traumes eine schlechthin und specifisch andere als die des wachen Bewusstseins sei, wie du Prel meint (55, 180); denn wenn z. B. Walter Scott seinen Ivanhoe im Fieber komponirte, ohne nachher von dieser Ausführung seiner allgemeinen Idee etwas zu wissen (328), so spricht das dafür, dass die Traumphantasie des Fieberdeliriums mit der künstlerischen Phantasie identisch ist. Dass es streckenweise Funktionslähmungen des Grosshirngedächtnisses giebt ohne Funktionslähmung desselben im Allgemeinen, zeigen eine Menge Beispiele (335); es wäre daher auch dann, wenn wir das somnambule Gedächtniss als identisch mit dem wachen Gedächtniss des Gehirns betrachten, die Erklärung von Erscheinungen nicht ausgeschlossen wie derjenigen, dass das wache Gedächtniss die willkürlich eingeprägten und die zu den wachen Lebensinteressen in Beziehung stehenden Vorstellungen leichter reproducirt, das somnambule Gedächtniss dagegen die unwillkürlich percipirten Vorstellungen und Vorstellungsreihen (308). Auch die verschiedene Färbung, welche das somnambule und Traumbewusstsein im Vergleich zum wachen Bewusstsein seinem Inhalt verleiht, und welche besonders beim Wechsel beider Zustände durch den Kontrast spürbar wird, würde nach dieser Hypothese erklärbar bleiben; denn wenn in einem Orchester auf der einen Seite eine Anzahl Instrumente wegfallen, auf der anderen Seite eine Anzahl neuer Instrumente hinzutreten, so muss die Klangfarbe des Gesammteindrucks nothwendig eine andere werden. Endlich würde die Annahme, dass das somnambule und Traumbewusstsein auf einem Zusammenwirken[– 266 –] von Theilen des Grosshirns mit dem Mittelhirn und Kleinhirn beruht, den Vortheil haben, noch ein weiteres Gebiet übrig zu lassen, innerhalb dessen eine neue Verschiebung des Beleuchtungskegels, wie sie im somnambulen Hochschlaf eintritt, geringeren Schwierigkeiten der Erklärung begegnet.

Andererseits liegt aber auch keine Nöthigung vor, dass Theile des Grosshirns beim Zustandekommen des somnambulen Bewusstseins betheiligt sein müssen. Wir wissen, dass die einzelnen Hirntheile relativ selbstständige Centralorgane mit selbstständigen Perceptions- und Motionscentra, selbstständigem Gedächtniss und selbstständigen Reflexen zwischen Empfindung und Bewegung, zwischen Bewusstsein und Handlung sind, und wir wissen nicht, ob nicht schon die Phantasie des wachen Bewusstseins ihr materielles Substrat ausserhalb des Grosshirns liegen hat, da sie weniger als andere Geistesfähigkeiten von der Willkür beherrscht wird. Sicher ist, dass das Kleinhirn im Traum und Somnambulismus eine erhöhte Thätigkeit entfaltet, womit die Behauptung Reichenbachs übereinstimmt, dass die odische Insensität (d. h. die Innervationsenergie) im Wachen im Grosshirn, im Schlaf im Kleinhirn überwiegt (57).

Das Kleinhirn ist in erster Instanz Gehörs- und Gleichgewichts-Centrum, und demgemäss ist die Fähigkeit der Gleichgewichtsbehauptung im somnambulen Zustand entschieden gesteigert, so wie das Gehör der erste der oberen Sinne ist, durch welchen die Somnambule mit der Aussenwelt in Beziehung tritt, und immer derjenige Sinn bleibt, durch welchen der Magnetiseur die Somnambule am leichtesten und sichersten beherrscht und leitet. Das Kleinhirn besitzt zweifellos ein Gedächtniss für Gehörseindrücke, also auch ein Wortgedächtniss, und wahrscheinlich auch ein Centrum[– 267 –] der musikalischen Phantasie und ein motorisches Centrum für reflektorische Sprachbewegungen. Vermuthlich ist es das Kleinhirn, welches die mit dem Ohr, aber nicht mit dem wachen Grosshirnbewusstsein aufgefassten Worte eines Dritten percipirt und aufbewahrt und uns ermöglicht, sie nachträglich, nachdem sie im Ohr längst verklungen sind, mit dem Grosshirnbewusstsein percipiren zu können, wenn wir veranlasst sind, unsere Aufmerksamkeit auf dieselben zu richten (363).

Aber was dem Kleinhirn fehlt, ist die nähere Verbindung mit dem Sehnerv, und demgemäss die Aufnahmefähigkeit für Gesichtseindrücke und Phantasiebilder; diese besitzen dagegen die Vierhügel, und mit ihr das Bildergedächtniss und die Fähigkeit, auf Gesichtseindrücke reflektorisch zu reagiren. Kleinhirn und Vierhügel zusammen dürften demnach für sich allein schon genügen, um die Art des somnambulen Verkehrs mit der Aussenwelt und das mechanische Fortspinnen somnambuler Träume zu erklären, womit indess keineswegs behauptet werden soll, dass keine anderen Hirntheile bei den betreffenden Funktionen betheiligt seien. Eine exakte Lösung würde die Frage nach der physiologischen Grundlage des somnambulen Bewusstseins und nach dem Mass der funktionellen Betheiligung des Sonnengeflechtes und der einzelnen Hirntheile nur durch Vivisektionsversuche an somnambulen Menschen finden können; indess lässt sich nicht in Abrede stellen, dass die Schmerzlokalisationen bei den mehrfach erwähnten Versuchen von Binet und Féré auf Theile des Grosshirns als materielle Grundlage der somnambulen psychischen Funktionen mit grosser Wahrscheinlichkeit hinweisen.

Wie dem auch sei, so viel ist gewiss, dass wir keinen Grund haben, die abnormen Bewusstseinszustände von der physiologischen Grundlage des Centralnervensystems[– 268 –] abzulösen (187), so lange wir an der Unentbehrlichkeit einer solchen für das wache Tagesbewusstsein festhalten; denn die psychischen Funktionen dieser abnormen Zustände sind, wie wir gesehen haben, weit geistloser, sinnlicher, mechanischer und inniger mit dem organischen Naturleben verwachsen als diejenigen des normalen Bewusstseinszustandes, und sind es um so mehr, je weiter sie sich von dem letzteren entfernen, d. h. je tiefer der Schlaf, je gesteigerter der Somnambulismus wird. Will man mit du Prel das normale wache Bewusstsein „das sinnliche“ in der engeren Bedeutung des Wortes nennen, so sind die abnormen Bewusstseinszustände als „untersinnliche“ zu bezeichnen, und sie sind um so „untersinnlicher“, je weiter sie sich vom normalen sinnlichen Bewusstsein entfernen. Wenn es ein vom leiblichen Organismus und seinem Zerfall unabhängiges „leibfreies“ Bewusstsein hinter dem „sinnlichen“ gäbe, so wäre solches jedenfalls in der entgegengesetzten Richtung zu suchen, als in derjenigen, welche wir mit der Untersuchung der abnormen „untersinnlichen“ Bewusstseinszustände beschritten haben, denn es wäre nur als ein dem organischen Treiben der Natur entrücktes, „übersinnliches“, dem wachen Bewusstsein an teleologisch-vernünftiger Geistigkeit überlegenes zu denken. Will man mit du Prel dieses hypothesische leibfreie Bewusstsein mit dem metaphysischen „Unbewussten“ des betreffenden Individuums gleichsetzen (395, S. VI), so ist jedenfalls der Somnambulismus eine schlechtere Eingangspforte zu dieser Region als das ihr näher stehende wache Bewusstsein, und am allerwenigsten die einzige Eingangspforte zu derselben, wie du Prel meint (158); denn es ist eine Eingangspforte nur zu einem Theil des physiologischen oder untersinnlichen Unbewussten, welches von dem metaphysischen oder übersinnlichen[– 269 –] Unbewussten streng unterschieden werden muss.

Sowohl die normalen wie die abnormen Bewusstseinszustände sind Zustände des Hirnbewusstseins, wenn auch der Brennpunkt seiner Lage wechselt; sie alle zusammen bilden also das eine sinnliche Bewusstsein im weiteren Sinne des Wortes und konstituiren mit dem leiblichen Organismus zusammen die Persönlichkeit des Menschen. Will man hinter diesem sinnlichen Bewusstsein ein übersinnliches annehmen, das in ähnlicher Weise, wie das sinnliche sich auf den leiblichen Organismus stützt, sich auf eine materielle Basis von unvergleichlich feinerer, ätherischer Beschaffenheit (403, 393), auf einen vom Tode des Leibes nicht alternirten Metaorganismus stützen soll (522, 523), so würde man damit allerdings eine zweite übersinnliche Persönlichkeit hinter der sinnlichen Persönlichkeit des Menschen annehmen. Aber dieser hypothesische Dualismus von übersinnlicher und sinnlicher Persönlichkeit im Menschen wäre geradezu entgegengesetzter Art wie der oben als unhaltbar nachgewiesene hypothetische Dualismus zwischen normalem sinnlichen Bewusstsein einerseits und der vermeintlichen Mehrheit abnormer untersinnlicher Bewusstseine andererseits, und dürfte keinenfalls mit demselben verwechselt oder durcheinander gemengt werden, wie du Prel beständig thut[24]. Wäre der Dualismus von normal-sinnlichem und abnormem Bewusstsein, wie du Prel meint, erwiesen, und die Hypothese einer[– 270 –] übersinnlichen Persönlichkeit anderweitig genügend begründet, so hätten wir doch immer keinen Dualismus, sondern einen Trialismus von übersinnlicher, normal-sinnlicher und abnorm untersinnlicher Persönlichkeit, oder genauer einen Septualismus zwischen einer übersinnlichen, einer normal-sinnlichen, einer träumenden, zwei somnambulen und zwei bis drei irrsinnigen Personen in demselben Menschen. Der verfehlte Dualismus zwischen der normal-sinnlichen und der abnorm-untersinnlichen Persönlichkeit, die beide gleichmässig mit dem organischen Leibe zu Grunde gehen, könnte keinesfalls etwas dazu beitragen, den ebenso verfehlten Dualismus zwischen der sterblichen sinnlichen und der unsterblichen übersinnlichen Person im Menschen zu begründen oder auch nur annehmbarer zu machen. Der Versuch du Prels, die uralte, aber in keiner Weise zu begründende metaphysische Weltanschauung des „transcendentalen Individualismus“ auf die Erscheinungen des abnormen Seelenlebens und insbesondere des Somnambulismus zu stützen, erscheint hiernach ebenso misslungen, wie der ihm voraufgegangene Versuch Hellenbachs, dieselbe auf die Erscheinungen des Spiritismus zu stützen.

Man würde mich missverstehen, wenn man glaubte, ich wolle du Prel einen Vorwurf aus seiner Behauptung machen, dass die psychischen Funktionen des Individual-Subjekts nicht mit der sinnlichen Bewusstseinsthätigkeit erschöpft sind, sondern dass dasselbe ausserdem noch vor und jenseits alles organisch vermittelten Bewusstseins liegende Funktionen hervorbringt und trägt, durch welche es einerseits den Organismus producirt und erhält (145, 412) und andererseits die Bewusstseinsfunktionen sowohl des normalen wie der abnormen Zustände durch Inspirationen unterstützt (194, 278). Ich tadle ihn nur deshalb, weil er erstens in der offen[– 271 –] stehenden Frage nach der Bewusstheit oder Unbewusstheit der fraglichen Functionen den Beweis zu Gunsten der Bewusstheit einfach durch die Konfusion zwischen untersinnlichem und übersinnlichem, somnambulem und leibfreiem Bewusstsein geliefert zu haben glaubt, und zweitens, dass er das so eingeschmuggelte übersinnliche Bewusstsein wiederum mit dem dasselbe tragenden Individualsubjekt verwechselt; denn dieses letztere muss doch als das zwei Bewusstseine oder Personen gemeinsam tragende Subjekt (376) beiden gleich fern und gleich nahe stehen, d. h. der unbewusste Producent und Träger beider sein, und es ist unmöglich, demselben dadurch näher zu kommen, dass man von der Erscheinungswelt des einen dieser Bewusstseine in diejenige des anderen hinüberschreitet. Gäbe es also auch hinter der sinnlichen Person im Menschen noch eine zweite übersinnliche, so müsste man doch, um von der Flächenausdehnung dieses zweiten Bewusstseins zum unbewussten gemeinsamen Subjekt beider Personen zu gelangen, ganz ebenso in die metaphysische Tiefendimension hinabsteigen, als wenn man von dem Bewusstsein der ersten Person ausgeht; denn das Subjekt selbst ist niemals empirisch im Inhalt seiner Funktion zu finden, sondern nur aus der Funktion durch einen nach rückwärts gehenden Schluss intellectuell zu erreichen, weshalb eben Kant es das intelligible Subjekt nennt (415).

Wenn es also schon unrichtig ist zu sagen, dass die Bewusstseinssteigerung nach der Seite des abnormen Bewusstseins durch Anleihen beim übersinnlichen Bewusstsein zu Stande komme (401), so ist es doppelt unrichtig zu sagen, dass das im normalen Bewusstsein zurückgetretene gemeinsame Subjekt der übersinnlichen und sinnlichen Person in abnormen Bewusstseinszuständen „aus dem Unbewussten hervortrete“ (139).[– 272 –] Alle etwaigen übersinnlichen Einwirkungen des Individualsubjekts auf das organisch vermittelte Bewusstsein können von diesem letzteren nur aufgefasst werden, insofern sie zugleich in dessen eigene sinnlich-bildliche Form eingekleidet werden (70), und wenn auch eine abnorme Hyperästhesie des Gedächtniss- und Phantasieorgans in untersinnlichen Bewusstseinszuständen diese Auffassung und Einkleidung bis zu einem gewissen Grade erleichtert, so beweist doch der Fortbestand des visionär-bildlichen Charakters der Eingebungen, dass auch bei den äussersten Graden der somnambulen Hellsichtigkeit die organisch-sinnliche Basis des Bewusstseins nicht verlassen wird (117–118) und keineswegs ein direkter Uebergriff oder Uebertritt in’s übersinnliche Bewusstsein stattfindet. Ein solcher bleibt auch dann ausgeschlossen, wenn durch abnorme Hyperästhesie des Gedächtniss- und Phantasieorgans die gewöhnliche Geschwindigkeit des Vorstellungsablaufes zur Bilderflucht gesteigert wird, und es ist unzulässig, in solchem Falle von „transcendentalen Zeitmass“ zu reden (86), oder gar die krankhafte Bilderflucht eines überreizten Gehirns mit Kants Lehre von der Idealität der Zeit und des Raumes zusammenzurühren (93, 147), da zur Erklärung solcher seltener Beispiele nicht einmal die Maximalgeschwindigkeit des wachen Vorstellungsablaufs überschritten zu werden braucht (vgl. oben).

Die allen unsern heutigen Ansichten widersprechende Annahme du Prel’s, dass das „transcendentale“ Bewusstsein ein leibfreies, d. h. ohne das Substrat von Nervencentralorganen zu Stande kommendes Bewusstsein sei, ist als der physiologische Grundfehler seines Standpunktes zu bezeichnen; die Verwechselung dieses „transcendentalen Bewusstseins“ mit dem (unbewussten) „transcendentalen Subjekt“ dagegen ist der logische Grundfehler seines Standpunktes. Du Prel hat in seinen[– 273 –] späteren Arbeiten leider keinen Versuch gemacht, meine Kritik dieser beiden Grundfehler zu widerlegen, sondern hat unbeirrt auf diesen beiden unhaltbaren Voraussetzungen weitergebaut, die bei ihm ebenso unbegründet dastehen als sie ihrer Natur nach unbegründbar sind. Man kann hiernach ermessen, welcher Werth einer so fundirten „transcendentalen Psychologie“ beizulegen ist. —

Die Genauigkeit verlangt zu erwähnen, dass du Prel noch auf einem vom Somnambulismus unabhängigen Wege die Bewusstheit der übersinnlichen Funktionen des Subjekts zu erweisen sucht. Er verwirft nämlich die physiologische Erklärung des Gedächtnisses, wonach dasselbe in hinterlassenen Spuren der Vorstellungsfunktion in den funktionirenden Gehirntheilen bestehen soll, und setzt an deren Stelle eine metaphysische Erklärung, nach welcher alle vom sinnlichen Bewusstsein zeitweilig vergessenen Vorstellungen im übersinnlichen leibfreien Bewusstsein als aktuelle Vorstellungen fortbestehen, und bei der Reproduktion oder Wiedererinnerung aus diesem von Neuem in’s sinnliche Bewusstsein hinübertreten (371–375). Da die abnormen Bewusstseinszustände thatsächlich keine gleichzeitige Aktualität aller jemals gehabten Vorstellungen aufweisen, da vielmehr das zeitweilige Vergessen und Wiedererinnern der Vorstellungen, d. h. das Problem des Gedächtnisses, für die abnormen Bewusstseinszustände ganz ebenso besteht wie für den normalen, so kann dasjenige Bewusstsein welches den aktuellen Gedächtnissvorrath enthalten und erhalten soll, nur als das übersinnliche, in keiner Erfahrung anzutreffende, leibfreie Bewusstsein verstanden werden, welchem dann gleichmässig die Aufgabe zufiele, als Gedächtnissvorrathskammer sowohl für das normale sinnliche, als auch für das abnorme untersinnliche Bewusstsein zu dienen (346).

[– 274 –]

Ich halte diesen Erklärungsversuch aus zwei Gründen für verfehlt. Erstens würde das übersinnliche Bewusstsein, wenn es alle jemals am Menschen vorübergezogenen Vorstellungen und Gefühle in gleichzeitiger Aktualität als seinen Inhalt umfasste, ein sinnverwirrendes chaotisches Durcheinander sein, in welchem eben so wenig noch bestimmte Vorstellungen enthalten wären, wie in der gleichzeitigen Aufführung aller bisher geschriebenen Musikstücke noch Musik wäre; ein solches Bewusstsein könnte niemals für irgend welche Erscheinung als Erklärungsprincip dienen, auch ganz abgesehen davon, dass die Auswahl einer bestimmten Vorstellung aus diesem chaotischen Bewusstsein und die Art ihres Ueberganges aus demselben in das sinnliche Bewusstsein doch immer noch unerklärlich bliebe. Zweitens aber soll der indirekte Beweis für die Richtigkeit dieser Erklärung doch lediglich in der Unannehmbarkeit der gewöhnlichen physiologischen Erklärung des Gedächtnisses durch Gehirnspuren liegen; der Nachweis der Unhaltbarkeit dieser letzteren scheint mir aber entschieden misslungen. Indem nämlich du Prel einerseits die Wiederholung gleicher Vorstellungen, die Verdichtung ähnlicher zu einem gemeinsamen Gedächtnisseindruck ausser Acht lässt und das allmähliche Vergessen der nicht wieder aufgefrischten Spuren bis zum absoluten Verschwinden nach einer kürzeren oder längeren Zeit leugnet (314, 320), rechnet er grosse Zahlen von Gehirnspuren heraus, denen jede Berechtigung fehlt; andererseits unterschätzt er die ausserordentliche Feinheit der organischen Materie und deren Fähigkeit, eine ungeheure Menge von Spuren nicht nur nebeneinander, sondern geradezu ineinander geschoben und verschränkt in sich aufzunehmen, wie ja auch eine unglaubliche Zahl aktueller Bewegungen in jedem Massentheilchen gleichzeitig vor sich gehen. Hätte er aber[– 275 –] in seinen Bedenken gegen die Feinheit der organischen Hirnmasse Recht, so würde doch dieses Bedenken in noch weit höherem Grade für die ungleich geringere materielle Dichtigkeit des Aetherleibes oder Metaorganismus zutreffen, auf dessen Molekularbewegung die Summe aller im übersinnlichen Bewusstsein gleichzeitig aktuellen Gedächtniss-Vorstellungen und Gefühle sich ebenso stützen muss, wie die Summe der im sinnlichen Bewusstsein aktuellen Vorstellungen und Gefühle auf die Molekularbewegungen der Hirnmasse. Diese verfehlte Theorie des Erinnerungsvermögens würde du Prel schwerlich in den Sinn gekommen sein, wenn er nicht vorher schon die Existenz eines übersinnlichen Bewusstseins durch die Verwechselung mit dem untersinnlichen erwiesen zu haben geglaubt hätte. —

Die Behauptung, dass die für uns unbewussten übersinnlichen psychischen Funktionen unseres an und für sich unbewussten Individualsubjekts doch ihrerseits von einem übersinnlichen Bewusstsein begleitet seien, ist bis jetzt durch nichts erwiesen, und doch liegt die Beweislast dem Behauptenden ob; man wird demnach auch ferner logisch im Rechte sein, wenn man sie bis auf Weiteres (d. h. bis zur Erbringung des Beweises vom Gegentheil) als an und für sich unbewusst betrachtet. Es scheint denn doch eine sehr viel einfachere und natürlichere Annahme, dass hinter den bewussten Funktionen des Individualsubjects ohne Störung der Einheit der bewussten Persönlichkeit noch unbewusste Funktionen desselben verlaufen, als dass in jedem Individuum zwei Personen verkoppelt sind, deren eine (die sinnliche) durch die andere (die übersinnliche) dämonisch besessen ist, ohne etwas davon zu ahnen! Insbesondere ist zu beachten, dass die höchst bedenkliche, aber schlechthin unentbehrliche Hülfshypothese eines unsterblichen Aetherleibes oder Metaorganismus[– 276 –] mit dem Wegfall des übersinnlichen Bewusstseins fortfällt; denn bewusste psychische Funktionen brauchen zwar ein materielles Substrat, an dem sie erst sich selbst empfindlich werden, aber unbewusste psychische Funktionen sind allemal rein immaterieller Natur. Alle unbewussten psychischen Funktionen, welche sich auf einen individuellen Organismus beziehen, sind durch dieses Ziel zu einer individuellen psychischen Gruppe von relativer Beständigkeit geeint, ebenso wie sie rückwärts ihren Einheitspunkt an dem sie gemeinsam tragenden Subjekt haben.

Auch ich will keineswegs den Individualgeist oder die individuelle Psyche überspringen,[25] aber wenn du Prel die Frage, ob dieselbe eine substantiell von ihres Gleichen und vom Absoluten getrennte Monade, oder eine blosse Einschränkung oder funktionelle Konkretion (dramatische Spaltung) des absoluten Subjekts sei, offen lässt (72), so habe ich geglaubt, dieselbe zu Gunsten der letzteren Seite der Alternative entscheiden zu müssen.[26] Gerade das Problem der Inspiration des sinnlichen Bewusstseins durch unbewusste Funktionen der Individualseele zwingt in allen Fällen, wo es sich um hellsehendes Ahnen von räumlich oder zeitlich weit entfernten Vorgängen handelt, zu der Lösung durch den konkreten Monismus überzugehen, weil hier eine rückwärtige Verbindung aller Individualsubjekte im absoluten Subjekt (gleichsam ein centraler Telephon-Anschluss für die Inspirationen der unbewussten Individualseele in’s Bewusstsein) existirt, während der monadologische Individualismus nur die Wahl hat, die bezüglichen Thatsachen zu leugnen, oder auf eine ganz[– 277 –] gewaltsame oder unwahrscheinliche Art als Gefühlswahrnehmungen durch materielle Vermittelung zu erklären (198, 421).

Hätte du Prel nicht den pathologischen Charakter des Somnambulismus verkannt, und in Folge dessen nicht das untersinnliche Bewusstsein mit einem übersinnlichen (transcendentalen) verwechselt, so würde sich schwerlich eine Differenz zwischen unseren metaphysischen Deutungen der fraglichen Erscheinungsgebiete herausgestellt haben. Von den metaphysischen Konsequenzen seiner irrigen Theorien aber werden nur zwei Richtungen Nutzen ziehen: der Spiritismus und die christliche Apologetik. Die neueren Veröffentlichungen du Prel’s zeigen leider nur zu sehr, dass er sich dem Spiritismus nicht zu entreissen vermocht hat, nachdem er einmal durch die aufgezeigten Grundfehler demselben eine Handhabe geboten hat. Der Mangel an kritischer Vorsicht in der Benutzung der Berichte, welcher schon in seiner „Philosophie der Mystik“ gerügt werden musste, macht sich in diesen späteren Schriften theilweise in einem solchen Maasse geltend, dass dieselben dadurch einer wissenschaftlichen Kritik entrückt erscheinen.

Verlagssignet

Frühere Schriften desselben Verfassers.

Im Verlag der Königl. Hofbuchhandlung von Wilhelm Friedrich in Leipzig erschien:

Der Spiritismus.

8 Bogen gr. 8. M. 3.—.

Das Judenthum in Gegenwart und Zukunft.

Zweite durchgesehene Auflage. 13 Bogen gr. 8. M. 5.—.

Philosophische Fragen der Gegenwart.

19 Bogen gr. 8. Preis M. 6.—.


In Carl Duncker’s Verlag in Berlin erschien:

A. Hauptwerke:

Philosophie des Unbewussten. Neunte erweiterte Auflage in 2 Bänden. Erster Theil: Phänomenologie des Unbewussten. Zweiter Theil: Metaphysik des Unbewussten. 62 Bogen gr. 8.

M. 12.—

Das sittliche Bewusstsein. Zweite Auflage. 44 Bogen gr. 8.

M. 6.—

Das religiöse Bewusstsein der Menschheit im Stufengang seiner Entwickelung. 40 Bogen gr. 8.

M. 10.—

Die Religion des Geistes. 22 Bogen gr. 8.

M. 7.—

Aesthetik. Erster Theil. Die deutsche Aesthetik seit Kant. 37 Bogen.

M. 5.—

Zweiter Theil: Philosophie des Schönen. 53 Bogen. M. 8. Beide Bände. 90 Bogen gr. 8.

M. 13.—

B. Nebenwerke:

Kritische Grundlegung des transcendentalen Realismus. Zweite erweiterte Aufl. von „Das Ding und seine Beschaffenheit“. 12 Bogen gr. 8.

M. 4.—

Gesammelte Studien und Aufsätze gemeinverständlichen Inhalts. Zugleich zweite Auflage von „Gesammelte philosophische Abhandlungen“, „Schellings positive Philosophie“, „Aphorismen über das Drama“, „Shakespeare’s Romeo und Julia“ u. s. w. 46 Bogen gr. 8.

M. 12.—

Neukantianismus, Schopenhauerianismus und Hegelianismus in ihrer Stellung zu den philosophischen Aufgaben der Gegenwart. Zweite erweiterte Auflage der „Erläuterungen zur Metaphysik des Unbewussten“. 23 Bogen gr. 8.

M. 7.—

Das Unbewusste vom Standpunkt der Physiologie und Descendenztheorie. Zweite vermehrte Auflage. Nebst einem Anhang, enthaltend eine Entgegnung auf Professor Oscar Schmidt’s Kritik der naturwissenschaftlichen Grundlagen der Philosophie des Unbewussten. 26 Bogen gr. 8.

M. 8.—

C. Kleinere Schriften:

Wahrheit und Irrthum im Darwinismus. Eine kritische Darstellung der organischen Entwickelungstheorie. 11½ Bogen gr. 8.

M. 4.—

Zur Geschichte und Begründung des Pessimismus. 10 Bogen gr. 8.

M. 3.—

Die Selbstzersetzung des Christenthums und die Religion der Zukunft. Zweite Auflage. 9 Bogen gr. 8.

M. 3.—

Die Krisis des Christenthums in der modernen Theologie. 9 Bogen gr. 8.

M. 2.70

J. H. von Kirchmann’s erkenntnisstheoretischer Realismus. Ein kritischer Beitrag zur Begründung des transcendentalen Realismus. 4½ Bogen gr. 8.

M. 2.—

Ueber die dialektische Methode. Historisch-kritische Untersuchungen. 8 Bogen gr. 8.

M. 2.—

Zur Reform des höheren Schulwesens. 6 Bogen gr. 8.

M. 2.25

Die politischen Aufgaben und Zustände des deutschen Reiches. 4 Bogen gr. 8.

M. 1.—

D. Erläuterungs- und Vertheidigungsschriften:

Lichtstrahlen aus Eduard von Hartmann’s sämmtlichen Werken, herausgegeben von Dr. M. Schneidewin. 22 Bogen kl. 8. Eleg. gebunden

M. 5.—

Das philosophische System Eduard von Hartmann’s. Von Dr. R. Koeber. 26 Bogen gr. 8. (Breslau bei W. Koebner.)

M. 9.—

Der Kampf um’s Unbewusste. Von O. Plümacher. Nebst einem Anhang, enthaltend ein chronologisches Verzeichniss der Hartmann-Literatur von 1868 bis 1880 (circa 770 Nummern). 10 Bogen gr. 8.

M. 3.—

Der Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart. Geschichtliches und Kritisches. Von O. Plümacher. 23 Bogen gr. 8. (Heidelberg bei G. Weiss.)

M. 7.20


Fußnoten:

[1] In den Kapiteln: „Die Unchristlichkeit des liberalen Protestantismus“ und „die Irreligiosität des lib. Prot.“ (Selbstzersetzung des Christenthums Cap. VI und VII) und in der Schrift „Die Krisis des Christenthums“ Abschn. I. 2, II und IV.

[2] In der Satire: „Das Gefängniss der Zukunft“ (Gesammelte Studien und Aufsätze A. X.) und in der Kritik des socialendämonistischen Princips (Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins Abth. II, B. I.)

[3] Gesammelte Studien und Aufsätze No. I; Philosophische Fragen der Gegenwart No. I.

[4] Vergl. „Das sittliche Bewusstsein“, 2. Aufl., S. 415–418. (1. Aufl. S. 516–518).

[5] Vergl. den Abschnitt über „Das Moralprincip des Mitgefühls“ in „Das sittliche Bewusstsein“, 2. Aufl. S. 184–202 (1. Aufl. S. 217–240).

[6] Man vergleiche zu diesem Abschnitt meine „Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins“, S. 672–673, 692–696; 2. Aufl. S. 536–537, 552–555.

[7] Dieselbe beläuft sich nach medicinischen Annahmen auf 2 vor dem 20. Jahre, 5 in den 20ger, 3 in den 30ger und 1 in den 40ger Jahren, zusammen auf 11. Bei der Verheirathung der Frau mit 26½ Jahren sinkt die zu erwartende Kinderzahl auf die Hälfte, d. h. auf 5½, was mit dem statistischen Durchschnitt in Deutschland übereinstimmt.

[8] Wollte man dem skrupulösesten Gerechtigkeitsgefühl Rechnung tragen, so brauchte man nur die Bestimmung in das Gesetz aufzunehmen, dass Jungfern durch die eidesstattliche Versicherung, niemals einen Heirathsantrag gehabt zu haben, von der Steuererhöhung befreit werden. Wer die Frauen kennt, wird keinen Augenblick daran zweifeln, dass eine solche Klausel unbenutzt bleiben würde, und dass deshalb ihre Aufnahme in’s Gesetz überflüssig und wirkungslos wäre.

[9] Die Besorgniss, dass durch Einreichung des Leitfadens eine zu scharfe Kontrole von Seiten der Universitätsbehörden ermöglicht und damit die Lehrfreiheit beeinträchtigt werden könnte, scheint mir ganz grundlos. Wenn ein Docent Dinge sagt, die den Universitätsbehörden Anstoss geben könnten, so sagt er sie in den mündlichen Erläuterungen, aber nicht in demjenigen, was er den Studenten diktirt, — und mehr soll ja der Leitfaden nicht enthalten.

[10] H. Klinkhardt, Das höhere Schulwesen Schwedens. Leipzig, J. Klinkhardt, 1887. Einen übersichtlichen Bericht über dieses Werk aus der Feder des Grafen Pfeil findet man in der „Zeitung für das höhere Unterrichtswesen“ 1887, Nr. 30–32.

[11] „Die Zukunft unserer höheren Schulen“ von F. Hornemann. Hannover, Carl Meyer, 1887. S. 105 Anmerkung.

[12] Leçons sur les maladies du système nerveux tome III. — Essai d’une distinction nosographique des divers états nerveux, compris sous le nom d’hypnotisme. (Comptes rendus de l’Académie des sciences 1882.)

[13] Die Philosophie der Mystik von Dr. Carl du Prel. Leipzig, Ernst Günthers Verlag 1885.

[14] Die Philosophie der Mystik von Dr. Carl du Prel. Leipzig, Ernst Günthers Verlag 1885.

[15] Vigouroux, Métalloscopie, Métallothérapie, Oesthésiogènes.

[16] „Versuch über das Geistersehen und was damit zusammenhängt“, in den „Parerga und Paralipomena“, 2. Aufl. I. Band. S. 241–328.

[17] Parerga 2. Aufl. I. S. 262 (vgl. S. 264).

[18] Das Gleiche gilt für Träume, in denen ein äusserer Sinnenreiz in den Traum ausnahmsweise einmal in der Art dramatisch verwoben wird, dass die letzten Glieder des Traumes durch die Pointe bedingt erscheinen; auch hier genügen die 2–3 Sekunden, die von der Perception des Gehörseindrucks (z. B. eines Schlusses) im untersten Perceptionscentrum für Gehörseindrücke bis zur Perception desselben durch das Organ des Traumbewusstseins sehr wohl verstreichen können (S. 90 unten bis 91 oben), um 24–36 Vorstellungsbilder auf einander folgen zu lassen.

[19] Bekanntlich zeigt der Traum eine Menge Erscheinungen des Wahnsinns und macht dadurch viele der gewöhnlichsten Irrsinnsformen für jeden, der auf seine Träume achtet, von innen heraus verständlich, so z. B. den Verfolgungswahn, verschiedene sexuelle Abnormitäten, Verbrecherwahn, Grössenwahn u. s. w.

[20] Die oben angeführten Versuche von Binet und Féré streifen bereits an die Grenze des unheimlich Grausamen auch ohne Anwendung des Messers; sie liefern dafür aber auch durch Bestimmung der schmerzenden Stelle bei jeder Art von seitlich transferirter Hirnfunktion einen höchst schätzbaren Beitrag zur Lokalisation der Hirnfunktionen.

[21] Statuvolence oder der gewollte Zustand. Von W. B. Fahnestock. Deutsch von Wittig. Leipzig 1883.

[22] Diese lokale magnetische Hyperästhesirung bildet das Gegenstück zu der lokalen Anästhesirung durch narkotische Mittel, und der lokalen magnetischen Anästhesirung (z. B. bei Brandwunden).

[23] Die Wirksamkeit des Befehls zur Erinnerung ist analog der Wirksamkeit des Befehls zum Vergessen und zur Elimination bestimmter Wahrnehmungskomplexe aus der Wahrnehmungsphäre. Die Sage von der Tarnkappe wird zur Wahrheit, indem die Somnambule nach dem Erwachen unfähig ist, eine bestimmte anwesende Person wahrzunehmen, wenn ihr diess im somnambulen Zustand befohlen war.

[24] Den äusseren Anlass zu dieser Konfusion giebt der Missbrauch des Wortes „transcendental“ in der Bedeutung „latent“ (443) oder „unterhalb der Schwelle des Bewusstseins gelegen“; denn nun bezeichnet der Ausdruck „transcendentales Bewusstsein“ in doppelsinniger Weise bald das untersinnliche, bald das übersinnliche Bewusstsein. Ich habe deshalb das Wort „transcendental“ in der bisherigen Erörterung ganz vermieden, um dieser Verwirrung zu entgehen.

[25] „Religion des Geistes“ S. 226–228.

[26] Vgl. „Das Unbewusste vom Standpunkte der Physiologie und Descendenztheorie“ 2. Aufl. S. 297–306.