The Project Gutenberg eBook of Anthroposophie im Umriss

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Title: Anthroposophie im Umriss

Author: Robert Zimmermann

Release date: January 14, 2017 [eBook #53962]

Language: German

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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK ANTHROPOSOPHIE IM UMRISS ***


[Inhalt]

Neu gefasster Vorderdeckel.

[Inhalt]

ZIMMERMANN.

ANTHROPOSOPHIE.

[Inhalt]

Originaltitelblatt.

ANTHROPOSOPHIE
IM UMRISS.

ENTWURF EINES SYSTEMS IDEALER WELTANSICHT AUF REALISTISCHER GRUNDLAGE
WIEN, 1882.
WILHELM BRAUMÜLLER
K. K. HOF- UND UNIVERSITÄTSBUCHHÄNDLER.
[Inhalt]

„Den Zufall gibt die Vorsehung; zum Zwecke

„Muss ihn der Mensch gestalten. — —”

Schiller.

[Inhalt]

An Harriet.

Du warst es, als sich Nacht über mein Auge zu lagern drohte, deren Seelenstärke mir den Entschluß eingab, die lange unfreiwillige Muße der Dunkelkammer zum ordnenden Abschluß längst zerstreut gereifter Gedankenreihen zu benützen, zu deren Niederschrift eine gefällige Hand willig sich herlieh.

So entstand dies Buch, dessen Ideengehalt also Niemand abzustreiten im Stande sein wird, daß er, wie das Licht, im Dunkeln geboren sei.

Wem anders als Dir dürfte dasselbe zu eigen sein?

R. [VII]

[Inhalt]

VORREDE.

Titel und Vorrede stehen vor dem Buche. Soll diese nicht eine Rede aus dem Buche, sondern vor dem Buche sein d. h. nichts enthalten, was in das letztere selbst gehört, so bleibt ihr nur übrig, sich mit dem ersteren und mit dem Vorredner selbst zu beschäftigen. Ueber beide werden wenige Worte genügen.

Anthroposophie ist der Name des Buches. Die Philosophie, welche denselben wählt, will damit angedeutet haben, dass es weder ihr Ziel sei, wie das der speculativen Schule, Theosophie, noch ihr genüge, wie empirischer Unphilosophie, kritiklose Anthropologie zu sein. Wenn derselben — nicht zu ihrem Leidwesen — die speculativen Schwingen fehlen, um mit ikarischem Aufflug das gottgleiche Wissen des theocentrischen Standpunktes der ersteren zu erreichen, so mangelt ihr nicht weniger die in mancher Hinsicht beneidenswerthe Gabe, über die Schranken und Widersprüche, die der gemeine Erfahrungsstandpunkt in sich trägt, das kritische Auge zuzudrücken. Ihr Wunsch geht dahin, anthropocentrisch d. i. „Menschenwissen” und doch Philosophie d. h. von der Erfahrung aus-, aber, wenn es das logische Denken erfordert, über dieselbe hinausgehende Wissenschaft zu sein.

Dasselbe bezeichnet sich als „Entwurf eines Systems” und zwar „einer idealen Weltansicht auf realistischer Grundlage”. Ersterer Charakter wird dessen knappe Fassung und die Abwesenheit erweiterter [VIII]Polemik rechtfertigen. Als Versuch eines Systems muss es gewärtig sein, so wenig nach dem Geschmack des ungebundenen „Philosophirens auf eigene Hand”, welches in unseren Tagen gerade wie vor hundert Jahren herrschende Mode ist, gefunden zu werden, wie sie dieses selbst nach dem ihrigen findet.

Dagegen möchte die ideale Weltansicht, die es vertritt, weder mit dem schulmässigen Idealismus aller Farben, noch deren realistische Grundlage mit dem platten Realismus ideenloser Erfahrung verwechselt sein. Der Idealismus derselben besteht nicht darin, wie der Platonische, an die Wirklichkeit, sondern wie jener Kant’s und der Sittenlehre Fichte’s, an die Verwirklichung der Ideen durch Menschenhand zu glauben. Die realistische Grundlage desselben aber ist nicht der gemeine (Baconische), sondern der philosophische Realismus, wie er auf Kant’s kritischer Basis von dessen realistischen Nachfolgern dem metaphysischen Idealismus der Gegenseite entgegengesetzt worden ist.

Dessen in vorliegender Darstellung gewonnene Gestalt wird von den Gegnern desselben eben so mit jenem Herbart’s als geistesverwandt erkannt, wie von Freunden des letzteren in nicht wenigen und nicht unerheblichen Punkten über denselben hinausgehend genannt werden. Dass deren Abweichungen von der ursprünglich Herbart’schen Fassung nicht neu, sondern, wie z. B. das kritische Verhältniss zur Theorie der Selbsterhaltungen als des wirklichen Geschehens, so wie jenes zu der Annahme der sogenannten „einfachen Empfindungen”, in der Denkweise des Vorredners vom Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn an vorhanden gewesen seien, haben frühere Schriften desselben, wie dessen 1847 und 1849 erschienene Monographieen: „Leibnitz’s Monadologie” und „Leibnitz und Herbart, eine gekrönte Preisschrift” bezüglich der Selbsterhaltungen, dessen 1865 veröffentlichte: „Aesthetik als Formwissenschaft” bezüglich der einfachen Empfindungen hinlänglich an den Tag gelegt.

Herbart hat sich bekanntlich am Schlusse der Vorrede zu seiner im Jahre 1828 erschienenen „allgemeinen Metaphysik” einen [IX]„Kantianer vom Jahre 1828” genannt. Wenn Schreiber dieses, der seine erste Anregung zum philosophischen Studium einem Gegner Kant’s (dem gerade vor hundert Jahren, am 5. October 1781 geborenen edlen Denker und Dulder Bolzano) und einem Freunde Herbart’s (dem scharfsinnigen Kritiker der Hegel’schen Psychologie, Exner) verdankt, heute, wo seit dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft gerade ein volles, seit jenem der allgemeinen Metaphysik mehr als ein halbes Jahrhundert verflossen ist, sich „einen Herbartianer vom Jahre 1881” zu nennen unternimmt, so glaubt er damit sein Verhältniss zu Kant wie zu Herbart zutreffend bezeichnet zu haben. Die Uebereinstimmung mit Beiden verbirgt sich nicht; über die Abweichungen, zustimmend oder ablehnend, mögen Kundige urtheilen.

Geschrieben im Säcularjahr der „Kritik der reinen Vernunft”.

Der Verfasser. [XI]

[Inhalt]

INHALT.

       Seite

Einleitung        1

I. Buch: Die Ideen.

1. Capitel: Die logischen Ideen        11

2. Capitel: Die ästhetischen Ideen        40

3. Capitel: Die ethischen Ideen        77

II. Buch: Das Wirkliche.

1. Capitel: Das Nicht-Ich        141

2. Capitel: Das Ich        207

3. Capitel: Das Social-Ich        250

III. Buch: Die Kunst.

1. Capitel: Die Bildungskunst        269

2. Capitel: Die Bildekunst        283

3. Capitel: Die bildende Kunst        294

Schluss        307

[Inhalt]

ANTHROPOSOPHIE.

[1]

Zur Einleitung.

1. Philosophie hat ihrem uralten Namen zufolge nicht blos die Aufgabe, zum Wissen zu gelangen, sondern als Liebe zum Wissen, da man dasjenige, was man liebt, zu verkörpern bemüht ist, das Gewusste in die Wirklichkeit einzuführen. Erstere fällt der Philosophie als Theorie d. i. als Wissenschaft, letztere derselben als Praxis d. i. als Kunst zu. Philosophie als Wissenschaft entsteht durch Bearbeitung von Begriffen, während die Philosophie als Kunst das Wirkliche bearbeitet; erstere hat zum Zweck, durch Bearbeitung der, sei es durch Erfahrung gewonnenen, sei es durch Gewöhnung und Ueberlieferung überkommenen Begriffe von dem, was wirklich und wahr ist, zu wirklichen Begriffen d. i. zu solchen, welche die Probe der Kritik, sowohl der logischen, als der erfahrungsmässigen, aushalten, zu gelangen; diese hat den Zweck, durch Bearbeitung des gegebenen, als Material dienenden, sei es in blossen Gedanken, sei es in Sachen bestehenden Wirklichen zu einem den Anforderungen des Begriffs entsprechenden d. i. zu einem begriffsgemässen Wirklichen zu gelangen. Gegenstand der ersteren sind daher Begriffe, welche als solche von den Sachen, Gegenstand der letzteren Sachen, welche als solche von den Begriffen unterschieden sind. Philosophie als Wissenschaft ist daher im buchstäblichen Sinne nicht von dieser Welt, während Philosophie als Kunst von dieser Welt ist.

2. Philosophie als Wissenschaft hat daher die Aufgabe, nicht nur selbst musterhafte Begriffe (Begriffsmuster), sondern solche [2]Begriffe herzustellen, welche der Philosophie als Kunst bei ihrem Verfahren gegenüber den Sachen als Muster dienen können (Musterbegriffe). Jene bedürfen eines Musters, dem sie als musterhaft zu entsprechen haben; diese dagegen sind selbst Muster, denen die Sachen entsprechen sollen. Aufgabe der Philosophie als Wissenschaft, zu musterhaften Begriffen zu gelangen, wird es daher vor allem sein, das Muster herzustellen, dem die Begriffe, um für musterhaft gelten zu dürfen, genügen müssen. Aufgabe der Philosophie als Kunst, Musterbegriffe zu verwirklichen, wird es neben der Verpflichtung, die von der Philosophie als Wissenschaft als musterhaft anerkannten Begriffe zu ihren Musterbegriffen zu machen, vor allem sein, die Beschaffenheit des Wirklichen als des allein ihr zu Gebote stehenden Materials zu studiren, in welchem dieselben verwirklicht werden können.

3. Da jeder Begriff, er sei welcher er wolle, etwas an sich tragen muss, was ihn zum Begriff macht (seine Form), und anderes, was ihn zu diesem besonderen Begriff macht (seinen Inhalt), so wird das Muster, dem jeder Begriff zu gleichen hat, um für musterhaft gelten zu dürfen, sowohl seine Form, als seinen Inhalt, oder vielleicht beides zugleich betreffen können, ja müssen. In ersterer Hinsicht wird es daher eine Musterform geben, welcher als Norm jeder Begriff ohne Unterschied sich zu unterwerfen hat, um als Begriff anerkannt zu werden; in letzterer Hinsicht wird es eine Norm geben, welcher jeder Begriff eines gewissen Inhaltes sich anzubequemen hat, um als musterhafter Begriff eben dieses Inhaltes angesehen zu werden; jene stellt daher die massgebende Norm für sämmtliche Begriffe ohne Unterschied des Inhaltes, diese dagegen stellt die Norm für Begriffe irgend eines gemeinsamen Inhalts, z. B. für alle diejenigen dar, die sich auf Seiendes (Existirendes) oder für alle diejenigen, die sich auf Seinsollendes (noch nicht Existirendes) beziehen.

4. Diejenigen Normen, die sich auf alle Begriffe ohne Unterschied des Inhalts, welche für musterhaft gelten sollen, erstrecken, machen den Inhalt der Logik; diese, die sich nur auf Begriffe eines [3]gewissen gemeinsamen Inhalts, welche innerhalb dessen für musterhaft gelten sollen, beschränken, machen den Inhalt der andern philosophischen Wissenschaften aus. Jene stellt das Muster für jeden Begriff ohne Unterschied, diese stellen die Muster für diejenigen Begriffe dar, welche in den Bereich des von ihnen beherrschten Inhalts gehören. Da nun jeder Begriff seinem Inhalte nach entweder auf ein Wirkliches d. h. auf ein Object bezogen wird, das als seiend gedacht wird, oder auf ein nicht Wirkliches d. i. auf ein Object, das entweder, wie die mathematischen, überhaupt als nichtseiend, oder, wie z. B. ein Kunstwerk, nur als noch nichtseiend, aber voraussichtlicherweise in der Zukunft seiend gedacht wird, so lassen sich die philosophischen Wissenschaften in zwei Gebiete zerfällen. Das eine derselben umfasst die Musterbegriffe für alle diejenigen, welche (mit Recht oder mit Unrecht) auf Wirkliches bezogen werden. Das andere dagegen enthält die Musterbegriffe, welche (mit Recht oder mit Unrecht) auf, sei es überhaupt nicht, oder nur noch nicht Seiendes bezogen werden. Begriffe der erstern Art (deren Inhalt als wirklich gedacht wird) können physische, Begriffe der letztern Art (deren Inhalt als nicht wirklich gedacht wird) müssen sodann nicht-physische heissen. Nimmt man bei den letzteren Rücksicht darauf, ob der Inhalt derselben es unmöglich macht, ihn als wirklich zu denken, wie es bei den mathematischen der Fall ist, oder ob derselbe zwar als im gegebenen Moment nichtseiend gedacht, dessen Existenz in der Zukunft aber keineswegs als unmöglich vorgestellt wird, wie es z. B. bei dem in Gedanken entworfenen Plane eines künftigen Bauwerks der Fall ist, so tritt eine weitere Unterabtheilung hinzu. Jene Begriffe, deren Inhalt die Wirklichkeit ausschliesst, können als solche den obengenannten physischen in dem Sinne zugerechnet werden, als der Inhalt der einen wie der andern einen Zusatz über dessen Wirklichkeit enthält, der Inhalt der einen dieselbe bejaht, jener der andern dieselbe verneint; dieselben können daher in diesem erweiterten Sinne beide physisch heissen. Jene Begriffe dagegen, welche weder über die Wirklichkeit, noch über die Unwirklichkeit ihres Inhaltes eine [4]Aussage in sich schliessen, ja nicht einmal über die zukünftige Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit desselben, deren Inhalt sonach, was seine Wirklichkeit betrifft, in keiner Weise das Interesse in Anspruch zu nehmen vermag, können nichtsdestoweniger ein solches erwecken, inwiefern dieser Inhalt nicht als wirklich oder unwirklich, sondern ausschliesslich als Gedanke d. i. als gedachter Inhalt einen Zusatz im Gemüthe des Denkenden mit sich führt, durch welchen er von letzterem entweder als angenehm oder unangenehm, nützlich oder schädlich, schön oder hässlich — im Allgemeinen entweder beifällig oder missfällig beurtheilt wird. Begriffe dieser Art können, weil es sich bei denselben nicht, wie bei den sogenannten physischen, um eine die Vorstellung ihres Inhalts begleitende Aussage über Wirklichkeit oder (zufällige oder nothwendige) Unwirklichkeit desselben, sondern um einen die Vorstellung des Inhalts (zufällig oder nothwendig) begleitenden Gefühlsausdruck handelt — ästhetische heissen. Die philosophische Wissenschaft, welche die Musterbegriffe für die physischen Begriffe enthält, ist die philosophische Physik (oder Metaphysik); jene, welche die Musterbegriffe für die ästhetischen umfasst, die philosophische Aesthetik.

5. Logik, (philosophische) Physik und (philosophische) Aesthetik machen zusammen den Umfang der Philosophie als Wissenschaft aus. Der Zusatz: philosophisch bei den beiden letztgenannten Disciplinen ist deshalb nicht überflüssig, weil diejenigen Wissenschaften, welche die auf dem reinen Erfahrungswege gewonnenen, keineswegs musterhaften Begriffe von Wirklichem einer- und die von keineswegs allgemeinen und nothwendigen, sondern zufälligen und individuellen oder höchstens particulären Zusätzen des Lobes oder Tadels begleiteten Begriffe umfassen, andererseits, die empirische Natur- und die empirische Geschmackslehre gleichfalls Physik und Aesthetik genannt werden. Die Bezeichnung Metaphysik für die erste derselben hat, von dem bekannten zufälligen historischen Ursprung des Wortes abgesehen, insofern einen zulässigen Sinn, als die durch kritische Sichtung herbeigeführte systematische Zusammenstellung musterhafter physischer Begriffe, welche die mit diesem Namen bezeichnete [5]Wissenschaft ausmacht, das Vorhandensein eines ursprünglich durch Erfahrung gegebenen, logisch noch unbearbeiteten, also im philosophischen Sinne des Wortes rohen Vorrathsmateriales physischer Begriffe voraussetzt, philosophische (Meta-) Physik also der Zeit nach erst nach (μετα) der vor- oder unphilosophischen (empirischen) Physik zu Stande kommen kann.

6. Unter denselben, die als philosophische Wissenschaften sämmtlich musterhafte (d. i. im philosophischen Sinne vollendete) Begriffe umfassen, stehen Logik und Aesthetik insofern in engerer Verwandtschaft unter einander, als ihre musterhaften Begriffe zugleich Musterbegriffe für Anderes sind d. h. diesem zur Nachahmung vorgestellt werden, während die metaphysischen Begriffe keine andere Bestimmung haben, als den Inhalt des Wirklichen musterhaft d. i. wie er wirklich ist, darzustellen. Und zwar enthält die erstere die Musterbegriffe für das Denken sowohl überhaupt, als in Bezug auf einen bestimmten Inhalt, durch deren Nachahmung dasselbe zum Wissen d. i. wahrem Denken erhoben wird, sowohl im Allgemeinen, als in Bezug auf irgend einen besonderen Gegenstand; die Aesthetik dagegen enthält die Musterbegriffe für jede beliebige producirende, sei es geistige, sei es physische Thätigkeit, insofern durch dieselbe etwas Beifallswürdiges oder Tadelnswerthes (Nützliches oder Schädliches, Angenehmes oder Unangenehmes, Schönes oder Hässliches) hervorgebracht wird.

7. Musterbegriffe dieser Art, sie seien nun solche für das Denken oder für jede andere (geistige oder physische) nachahmende Thätigkeit, werden Ideen genannt, und zwar als Vorbilder (Normen) für das Denken, das zum Wissen werden soll, logische Ideen; als Vorbilder dagegen für irgend eine andere, auf Hervorbringung eines Beifallswerthen gerichtete schaffende Thätigkeit, ästhetische Ideen. Erstere machen daher den Inhalt der Logik, letztere den der Aesthetik aus.

8. Unter den geistigen Thätigkeiten, deren Producte Beifall oder Missfallen nach sich ziehen, ist die eine, das Wollen, von der Art, dass sie auf keine Weise, weder willkürlich noch unwillkürlich, unterlassen [6]werden kann; denn auch das Nichtwollen des Wollens wäre ein Wollen. Zugleich hat dasselbe die auszeichnende Eigentümlichkeit, dass von dem Urtheil über dessen Beschaffenheit das Urtheil über den Werth oder Unwerth des Wollenden selbst abhängt und, da, wie oben bemerkt, der Einzelne niemals aufhören kann zu wollen, diesem Urtheil niemals entgangen werden kann. Während daher zu jeder andern ästhetisch producirenden Thätigkeit ein besonderes ästhetisches Talent erforderlich ist, ist nicht nur die Fähigkeit, sondern die Nöthigung zu wollen Jedem ohne Unterschied eigen, und während, um der Kritik jeder andern ästhetisch producirenden Thätigkeit zu entgehen, der Producirende nichts weiter nöthig hat, als dieselbe zu unterlassen, so kann, wie oben bemerkt, auf die Bethätigung des Wollens niemals Verzicht geleistet werden. Aus beiden angeführten Gründen verdienen diejenigen ästhetischen Ideen, welche als Vorbilder für das Wollen dienen, aus dem Kreise der übrigen als ein besonders ausgezeichnetes Gebiet hervorgehoben und zum Unterschied von den übrigen, welche sodann im engeren Sinne des Wortes ästhetische heissen mögen, mit einem besonderen Namen bezeichnet zu werden. Als ein solcher empfiehlt sich, da von dem Urtheil über das Wollen jenes über den sittlichen Werth, das Ethos, des Wollenden abhängt, der Ausdruck ethische, oder, da das Wollen zunächst zum Handeln überführt, praktische Ideen.

9. Logische, ästhetische und ethische Ideen machen daher den Inhalt der Philosophie als Wissenschaft aus, insofern dieselbe Wissenschaft von Musterbegriffen (Ideenwissenschaft) ist. Metaphysische d. i. im philosophischen Sinne musterhafte Begriffe vom Wirklichen machen den Inhalt der Philosophie als Wissenschaft aus, insofern sie Wissenschaft von Wirklichem (Seinswissenschaft) ist. Diese, da sich der Inhalt ihrer Begriffe auf das Wirkliche bezieht, knüpft an die Erfahrung, durch welche zuerst vom Wirklichen ein Begriff gewonnen wird, an, indem sie die durch Erfahrung gegebenen Begriffe vom Wirklichen entweder behält wie sie gegeben sind, wenn sie vor dem Forum des wissenschaftlich d. i. logisch geschulten Denkens behaltbar, oder verwirft, wenn sie nach dem Urtheil des letzteren [7]unhaltbar, oder umbildet, wenn sie zwar nach dem Urtheil der Logik verwerflich, aber vermöge des durch unabweisliche Erfahrung ausgeübten Zwanges unvermeidlich sind. Die logische Unhaltbarkeit der gegebenen Erfahrungsbegriffe verräth sich dadurch, dass in denselben Widersprüche bemerkbar werden, welche demnach ebensowenig, wie sie selbst, abgewehrt, um deren willen jedoch der mit denselben behaftete Inhalt der Erfahrung wissenschaftlich nicht als Wahrheit gelehrt werden kann! Die Umbildung der so gegebenen aber widersprechenden Erfahrungsbegriffe besteht darin, dass dieselben berichtigt d. h., da von dem erfahrungsmässig Gegebenen ohne Schädigung der Erfahrung nichts hinweggelassen werden kann, durch aus dem Denken geschöpfte Zusätze so lange und in der Weise ergänzt werden, bis und dass der Widerspruch verschwindet. Die so umgestalteten d. i. rational (widerspruchsfrei, denkbar) gemachten Erfahrungsbegriffe heissen von da an metaphysische (philosophische Seins- oder Wirklichkeits-) Begriffe.

10. Logische, ästhetische und ethische Ideen knüpfen nicht an das Gegebene an, sondern fordern im Gegentheil als Musterbegriffe, dass das Gegebene an sie anknüpfe. So wenig nach Kant aus dem Sollen ein Sein, so wenig kann aus dem Sein das Sollen „geklaubt” werden. Dieselben sind, wie das a priori Kant’s, zwar nicht vor, aber unabhängig von dem gegebenen Inhalte der Erfahrung, daher ihre Geltung nicht, wie die des letzteren, eine beschränkte (comparative) und nur mehr oder weniger wahrscheinliche (zufällige), sondern, wie die jenes a priori, allgemeine und nothwendige ist. Logik, Aesthetik und Ethik sind daher keine blos beschreibenden (descriptiven), wie die Erfahrungswissenschaft und in gewissem Sinne selbst die Metaphysik es ist, sondern vorschreibende (normative) Wissenschaften, daher sie auch wohl im Gegensatze zu jenen, welche theoretische heissen können, praktische Wissenschaften genannt zu werden pflegen.

11. Mit Rücksicht auf letztere Bezeichnung zerfällt Philosophie als Wissenschaft demnach in einen praktischen: die Ideen- (oder praktischen) Wissenschaften, und theoretischen: die Seinswissenschaft [8](Metaphysik) umfassenden Theil, zwischen welchen beiden Philosophie als Kunst, welche die Gestaltung des Wirklichen nach den Ideen oder die Hineinbildung der Ideen in das Wirkliche vollzieht, die verbindende Brücke bildet. Die Lösung dieser Aufgabe ist daher der philosophischen ebensowenig wie irgend einer anderen Kunst, da der Zweck der Kunst überhaupt in der Ideendarstellung im gegebenen Stoffe besteht, ohne Kenntniss der darzustellenden Ideen (Ideenwissenschaft) einer-, wie des gegebenen Stoffes (Seinswissenschaft) andererseits möglich. Erstere macht den Inhalt des ersten, die Wissenschaft vom Wirklichen den des zweiten, die Lehre von der die logischen, ästhetischen und ethischen Ideen im und am Wirklichen verwirklichenden (philosophischen) Kunst jenen des dritten Buches aus. [9]

ERSTES BUCH.

DIE IDEEN.

[11]

[Inhalt]

ERSTES CAPITEL.

Die logischen Ideen.

12. Logische Ideen (Musterbegriffe) sind die normalen Formen (Begriffsnormen), welchen das Denken sich zu fügen hat, wenn es als wahres Denken d. i. Wissen anerkannt werden will. Dieselben sind weder eins mit den psychologischen Erscheinungsformen des Denkens, vermöge welcher dasselbe ein Entstehen und Vergehen, ein Heller- und Dunklerwerden im Bewusstsein besitzt, noch mit den sogenannten logischen Denkformen, nach welchen dasselbe in Begriffe, Urtheile und Schlüsse zerfällt. Jenes nicht, weil psychologisch betrachtet die Entstehung unwahrer Gedanken (Irrthümer) ebenso nach Naturgesetzen erfolgt, wie jene von Erkenntnissen (wahren Gedanken) — dieses nicht, weil unrichtige und ungiltige Gedanken ebensogut in der Begriffs-, Urtheils- und Schlussform gedacht, gefällt und gefolgert werden, wie richtige und giltige. Das Kriterium, durch welches Denken zum Wissen sich erhebt, muss daher anderswo gesucht werden.

13. Dasselbe kann, da jedes Denken einen gewissen Grad von Intensität (Stärke, Lebhaftigkeit), mit welchem dasselbe, und einen gewissen Inhalt besitzt, welcher in demselben gedacht wird, entweder in diesem oder in jenem liegen. Läge es in jenem, so würde daraus folgen, dass jedes Denken, welches einen gewissen hohen Grad von Lebhaftigkeit besitzt, um dieser seiner Energie willen für Erkenntniss gelten müsse, während es offenbar ist, dass auch einleuchtende Irrthümer, wie Hallucinationen Geistesgestörter, eine hohe, ja für diese unüberwindliche Stärke besitzen können. Liegt es dagegen in diesem, so kann das Kennzeichen des Inhalts als eines wahren entweder in dessen Verhältniss zu einem vom [12]Denken als solchem unterschiedenen Andern, oder es muss in der Beschaffenheit des Denkinhalts selbst gefunden werden.

14. Das Andere, zu welchem das Denken als Denkinhalt betrachtet, ein gewisses Verhältniss haben soll, um für wahr gelten zu dürfen, und das als Anderes des Denkens nicht selbst wieder Denken sein kann, ist das Sein. Das Verhältniss, in welchem das Denken zum Sein stehen muss, um für Wahrheit zu gelten, aber kann kein anderes sein als das der Uebereinstimmung des Denkens mit dem Sein. Das Kriterium der Wahrheit lautet daher von diesem Gesichtspunkt aus: Wissen ist mit dem Sein übereinstimmendes Denken.

15. Dasselbe setzt, um möglich zu sein, daher einerseits die Möglichkeit der Uebereinstimmung, andererseits die Möglichkeit der Erkenntniss jener Uebereinstimmung des Denkens mit dem Sein von Seite des Denkens voraus. Wäre die erstere unmöglich, so wäre damit auch das Wissen d. i. die Uebereinstimmung zwischen Denken und Sein, an sich unmöglich; wäre das letztere unmöglich, so wäre damit das Wissen um jene an sich vorhandene Uebereinstimmung für uns unmöglich. Im ersteren Falle wäre die Wahrheit überhaupt nicht, im letzteren Falle so gut als nicht vorhanden.

16. Soll Uebereinstimmung zwischen beiden von einander verschieden gedachten Elementen — dem Denken einer-, dem Sein andererseits — bestehen, so muss entweder das eine vom andern, das Denken vom Sein oder das Sein vom Denken, abhängig gedacht, oder die Verschiedenheit beider kann nur als eine scheinbare gedacht werden, so dass entweder nur das eine von beiden ist, während das andere nicht ist, oder dass beide nur die unterschiedenen Seiten eines dritten Ununterschiedenen sind. Im ersten Falle wird entweder das Denken vom Sein (das Logische vom Alogischen) oder das Sein vom Denken (das Alogische vom Logischen) beherrscht; im zweiten Falle besteht entweder nur das Sein, so dass das Denken nur ein verhülltes Sein — oder nur das Denken, so dass das Sein nur ein verhülltes Denken ist; während im dritten Falle Denken und Sein nur das unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtete unbekannte X eines Dritten darstellen.

17. Gegen die Abhängigkeit eines der beiden qualitativ von einander unterschiedenen Elemente, des Denkens und des unter der Form der dem Denken qualitativ entgegengesetzten ausgedehnten Materie gedachten Seins, hat sich unter den Neuern zuerst bekanntlich [13]Cartesius ausgesprochen. Denken (Geist) und Sein (Materie) sind für einander schlechterdings unzugänglich, und da, wenn weder der Geist die Materie, noch diese jenen zu beeinflussen vermag, eine Uebereinstimmung zwischen den beiden undenkbar ist, so bleibt, um Wissen d. i. Uebereinstimmung des Denkinhalts mit dem Seinsinhalt zu ermöglichen, nichts übrig, als die Bürgschaft des gemeinschaftlichen Schöpfers beider, welcher als höchstes wissendes und wahrhaftiges Wesen das Denken nicht kann täuschen wollen. Das eigentliche Kriterium des Wissens liegt sodann nicht sowohl in der Uebereinstimmung des Denkens mit dem Sein, von der das Denken durch sich selbst nichts zu wissen vermag, sondern in der Bürgschaftsleistung eines andern höhern Wesens für die Wahrheit unseres Denkens; dasselbe ist sonach kein logisches, sondern ein blos autoritatives.

18. Weder die mit dem Schleier der göttlichen Allmacht, hinter welchem auch das Unmögliche möglich wird, sich deckende unbegreifliche göttliche Assistenz, noch die anscheinende Verbesserung derselben durch das System der sogenannten gelegenheitlichen Ursachen (Occasionalismus), durch welches letztere die Gottheit aus dem erhabenen Dunkel des Nichtwissens herabgezogen und zu einem das Denken mit dem Sein vermittelnden „deus ex machina” (Leibnitz) erniedrigt wird, beseitigt die Schwierigkeit. Dieselbe hört dagegen auf, wenn deren Ursache, die qualitative Verschiedenheit des Denkens und seines Andern (der Materie) aufgehoben und entweder, wie Leibnitz und der Spiritualismus thaten, die Materie in Geist verwandelt (spiritualisirt), oder, wie Hobbes und die Materialisten lehrten, der Geist in Materie verwandelt (materialisirt) wird. Jene machen die Materie zu einem zwar „bene fundatum”, aber doch nur zu einem „phänomenon” des Geistes, so dass der Geist — diese den Geist zu einem „Hirngespinnst” d. i. zu einem blossen Phänomen der Materie, so dass diese allein das wahrhaft existirende ist. Zwischen dem Denken und einem Sein, das selbst wieder Denken (Idealismus) — und dem Sein und einem Denken, das selbst wieder Sein ist (Realismus) — aber ist Uebereinstimmung möglich.

19. Allerdings nur, wenn zwischen Denkendem und Denkendem einer-, wie zwischen Seiendem und Seiendem andererseits Causalitätsverband denkbar ist. Wenn das Denken, wie die Materialisten wollen, selbst materiell, der Geist nichts anderes als ein feinerer Körper ist, liegt nichts Widersprechendes darin, dass zwischen Geist und [14]Materie in demselben Sinn Wechselwirkung stattfinde, wie zwischen den Corpuskeln oder körperlichen Elementen der Materie selbst; wenn dagegen, wie die Spiritualisten wollen, zwischen dem immateriellen Denkenden und den gleichfalls immateriellen, folglich ihrer qualitativen Beschaffenheit nach vom Denken nicht verschiedenen, also selbst als „denkend” gedachten Elementen der Materie (unkörperlichen Atomen, Monaden, „Seelen”) gegenseitiger Einfluss (influxus physicus) herrschen sollte, so wäre dies nur unter der Voraussetzung möglich, dass sich dieselben von dem einen Theile ablösten und von dem andern aufgenommen würden. Beides aber ist unmöglich, da von einem Immateriellen, also Theillosen, kein Theil sich abscheiden lässt und an dem Ort eines anderen Immateriellen, der als Sitz eines Theillosen selbst ohne Theile (ein einfacher Punkt) sein muss, für einen neu hinzutretenden kein Platz vorräthig ist, das heisst, weil, wie Leibnitz sagte, die Monaden keine Fenster haben. Soll dessen ungeachtet zwischen dem Geiste und dem Rest des aus Monaden bestehenden Universums Uebereinstimmung d. i. Harmonie bestehen, so muss diese letztere von aussen, also wie bei Descartes durch die Gottheit, nur weder auf unbegreifliche (durch schlechthinige Allmacht), noch auf unwürdige („deus ex machina”) Weise, sondern, wie es der Gottheit allein würdig ist, auf einem von Ewigkeit her erkannten, gewollten und geschaffenen Wege als prästabilirte Harmonie hergestellt werden.

20. Allein gesetzt auch, es bestünde einerseits zwischen Denken und Denken (Idealismus), andererseits zwischen Sein und Sein (Materialismus) je wirklicher Causalverband, so wäre die dadurch ermöglichte Uebereinstimmung, in welcher das Wissen bestehen soll, doch nur im ersten Fall eine Uebereinstimmung des Denkens mit Denken, also mit sich selbst, im zweiten Fall eine Uebereinstimmung des Seins mit Sein, also wieder mit sich selbst, in keinem von beiden aber jene Uebereinstimmung des Denkens mit Sein, in welcher der Annahme zufolge das Kriterium der Wahrheit gelegen sein soll.

21. Weder die Unabhängigkeit beider, noch die nur scheinbare Verschiedenheit eines der beiden Elemente des Wissens (Denken und Sein) macht deren Uebereinstimmung mit und unter einander möglich; als dritter Fall ist zu untersuchen, ob die Einerleiheit beider dieselbe gestatte. Wenn Denken und Sein zwar der Art nach unterschieden, aber weder, wie im Idealismus, nur das Denken, noch, wie im Materialismus, nur das ausgedehnte (materielle) Sein ist, sondern beide, wie [15]der Spinozismus will, Seiten eines Dritten ihnen gemeinsam zugrundeliegenden (der alleinen Substanz) sind, so sind Denken und Sein dem Wesen nach substantiell identisch d. h. das Denken ist dasselbe was das Sein, und dieses was jenes. Es findet jedoch ebendeshalb zwischen beiden keine „Harmonie” (Uebereinstimmung) statt, denn eine solche setzt Verschiedenheit der Uebereinstimmenden (Gegensatz in der Einheit), nicht Einerleiheit der Aufeinanderbezogenen (Einheit ohne Gegensatz) voraus.

22. Weder Uebereinstimmung mit sich selbst (wie im Idealismus und Materialismus), noch Identität (wie im Spinozismus) ist Harmonie; Leibnitz ist nicht, wie Moses Mendelssohn behauptete, durch Spinoza auf die Idee der prästabilirten Harmonie geführt worden. Jene ist blos formale, diese ist keine Uebereinstimmung. Das materiale, in der Uebereinstimmung des Denkens mit dem Sein bestehende Kriterium des Wissens ist weder auf dem Standpunkt des (metaphysischen) Dualismus, noch des (idealistischen oder materialistischen) Monismus, noch der (pantheistischen oder atheistischen) Identitätslehre brauchbar.

23. Dasselbe ist jedoch auch überhaupt unbrauchbar. Denn gesetzt, es fände zwischen Denken und Sein wirklich und thatsächlich Uebereinstimmung statt, so würde, um sich über dieselbe Gewissheit zu verschaffen, eine Vergleichung zwischen dem Inhalt des Denkens mit jenem des Seins erforderlich sein. Da nun, um letztere zu bewerkstelligen, der Inhalt des Seins selbst gedacht, als gedachter Inhalt aber selbst Gedanke (Denken) sein müsste, so würde in obiger Vergleichung nicht, wie es verlangt ist, Denken mit Sein, sondern Denken mit Denken (gedachtem Sein) verglichen, d. h. das Sein selbst (als ungedachtes, Nichtdenken) bliebe unverglichen. Das materiale Kriterium des Wissens, die Uebereinstimmung zwischen Denken und Sein wäre unerkennbar.

24. Dasselbe ist daher, logisch betrachtet, weder an sich noch für uns möglich. Kann aber das Kriterium des Wissens nicht material in der Uebereinstimmung des Denkinhalts mit dem Seinsinhalt gefunden, so muss es ausschliesslich in ersterem (als formales) gesucht werden. Die Entscheidung, ob ein Denken Wissen d. i. wahres Denken sei, kann nur auf Grund der Beschaffenheit des Inhalts desselben, rein als solcher betrachtet, gefällt werden. Dass damit der Bestand eines von demselben unterschiedenen Sein weder verneint, noch, was schon Aristoteles und Kant verboten, das Denken für das einzige Sein erklärt werde, ist selbstverständlich. [16]

25. Mit der Behauptung, dass das Kriterium der Wahrheit des Denkinhalts in diesem selbst enthalten sei, ist weder ausgesprochen, dass jeder beliebige Inhalt des Denkens eo ipso als Denkinhalt wahr, wie der Panlogismus, noch dass jeder Denkinhalt falsch sei, wie der absolute Skepticismus behauptet. Ersterer, welchem das Denken mit dem Wissen, das thatsächliche mit dem vernünftigen Denken in Eins zusammenfällt, ist logischer Optimismus; der letztere, dem jegliches (wirkliche und vernünftige, gleichviel) Denken als Denkillusion (Scheinwissen) erscheint, ist logischer Pessimismus; beide insofern sie von einem günstigen oder ungünstigen Vorurtheil bezüglich des Denkens als Wissens ausgehen, sind unkritischer (positiver oder negativer) Dogmatismus.

26. Dass wenigstens einige Denkinhalte falsch seien, folgt nothwendigerweise daraus, weil es dergleichen gibt (a, non-a), die sich untereinander selbst aufheben d. h. von denen der eine mit dem andern im Denken unverträglich ist; dass es wenigstens einigen Denkinhalt gibt, der wahr d. h. wenigstens einiges Denken, das Wissen ist, folgt daraus, weil das Gegentheil dieser Behauptung, das Wissen, dass es kein Wissen gebe, sich selbst aufhebt. Aufgabe der Logik bleibt es nun, diejenigen Merkmale, durch welche derjenige Denkinhalt, der Wissen (Erkenntniss), von demjenigen, der Scheinwissen (Irrthum) ist, sich unterscheide, aufzustellen.

27. An jedem Denkinhalt ohne Ausnahme lässt sich zweierlei unterscheiden: die Art, wie er dem Denken, und das Was, welches in demselben dem Denken gegeben ist. In ersterer Hinsicht unterscheiden wir unwillkürliches (ohne, ja wider den Willen des Denkenden demselben aufgezwungenes) und willkürliches (aus dem eigenen Wollen des Denkenden entsprungenes) Gegebensein; im ersteren Sinne vermittelter Denkinhalt kann (in engerer Bedeutung) gegebener, im letzteren Sinne entstandener wird dann gemachter heissen. Im Hinblick auf das Was unterscheiden wir verwandten und nicht verwandten, aber verträglichen Denkinhalt; unter dem verwandten weiters ganz oder theilweise identischen und unverträglichen (sich conträr oder contradictorisch ausschliessenden) Denkinhalt.

28. In Bezug auf das Wie des Gegebenseins gilt, dass der unwillkürlich gegebene (also unabweisliche) Denkinhalt, desgleichen derjenige ist, den wir als Thatsache zu bezeichnen pflegen — was den Anspruch betrifft, für Wissen zu gelten — (alles Uebrige gleichgesetzt), vor dem willkürlich gemachten den Vorzug hat. Ersterer kann als nothwendige Bildung (Repräsentation), letzterer darf als [17]Einbildung (Imagination) bezeichnet werden. Dass daraus, dass ein gewisser Denkinhalt unwillkürlich gegeben ist, zwar geschlossen werden dürfe, die Entstehung desselben sei durch eine von dem Willen des Denkenden verschiedene Ursache, keineswegs aber voreilig gefolgert werden dürfe, sie sei durch eine von ihm gänzlich verschiedene, nicht nur ausserhalb seines Intellects, sondern auch ausserhalb seines Leibes gelegene, also durch eine sogenannte äussere Ursache erzeugt, braucht kaum erst erwähnt zu werden. Ebensowenig, dass aus dem Umstand, dass die Unwillkürlichkeit des Gegebenseins auf eine vom Willen des Denkenden verschiedene Ursache zu schliessen erlaubt, keineswegs zu folgern gestattet sei, dass diese selbst der Beschaffenheit jenes Denkinhalts ähnlich beschaffen sein müsse, da sich, wie oben bemerkt, ohne (unmögliche) Vergleichung des Denkinhalts mit dem jenseits desselben gelegenen Seinsinhalt über das wechselseitige qualitative Verhältniss beider nichts ausmachen lässt.

29. Der Vorzug des gegebenen vor dem gemachten Denkinhalt wird desto begründeter sein, je energischer, je häufiger und in je vollkommenerer Anordnung derselbe gegeben ist. In ersterer Hinsicht wird unter gleichen Verhältnissen der lebhaftere vor dem minder lebhaft, der klare und deutliche vor dem dunkel, der dauerhafte und sich behauptende vor dem augenblicklich und flüchtig gegebenen Denkinhalt — in zweiter Hinsicht der wiederholt vor dem nur einmal, der häufig vor dem selten, der auch Anderen in gleicher Weise vor dem nur dem Einen gegebenen Denkinhalt — in dritter Hinsicht der in regelmässiger Folge ursprünglich gegebene vor dem zerstreuten und sprunghaft gegebenen, der in gleich regelmässiger Folge wiederkehrende vor dem in seiner an sich regelmässigen Reihenfolge unregelmässig wiederkehrenden, der auch in Andern in der nämlichen Anordnung wiederkehrende vor dem bei jedem in anderer Reihenfolge gegebenen Denkinhalt in Bezug auf den Anspruch, als Wissen gelten zu dürfen, den Vorrang haben.

30. Das Was des Gegebenen macht dabei keinen Unterschied, ebensowenig ob das ohne oder wider den Willen des Denkenden dem Denken Aufgedrungene demselben durch einen von aussen (Sinnen-) oder durch einen von innen kommenden (Bewusstseins-) Zwang aufgenöthigt ist. Ersteres ist bei den Thatsachen der sogenannten äusseren, dieses bei jenen der sogenannten inneren Erfahrung der Fall. Unter die ersteren gehört, dass wir unter bestimmten Umständen keine anderen als gewisse Sinnesempfindungen haben (Augenschein), [18]zu den letzteren, dass wir mit oder nach einander in das Bewusstsein eingetretene Empfindungen unter einander verbinden müssen (Ideenassociation), sowie dass wir Denkinhalte, die ein gewisses Verhältniss unter einander haben, entweder (wenn sie gleich oder ähnlich sind) zugleich denken müssen, oder (wenn sie entgegengesetzt sind), nicht zugleich denken können (Denkgesetz der Identität und des Widerspruchs). Im ersteren Fall wird der Zwang durch die Sinne, im zweiten und dritten durch die Natur des Bewusstseins, und zwar der Zwang zur Verknüpfung gleichzeitiger oder successiver Vorgänge durch die sogenannte „Enge des Bewusstseins” — dagegen der Zwang, gewisse Gedanken zugleich denken zu müssen oder nicht zugleich denken zu können, durch deren Inhalt (logischer oder Denkzwang) ausgeübt. In diesem Sinne sind nicht nur die einzelnen Sinnesthatsachen, sondern ist die (im Sinne Kant’s) transcendentale Thatsache der Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit und sind nicht blos die einzelnen Bewusstseinsthatsachen, sondern ist die (gleichfalls transcendentale) Thatsache unserer Bewusstseins- und Denkorganisation (die thatsächlichen Naturgesetze des Bewusstseins, die Denkgesetze) ein dem Denken unwillkürlich d. h. unabhängig vom Willen des Denkenden Gegebenes (Zufälliges), so dass an sich auch eine andere Organisation der Sinne wie des Bewusstseins d. h. ein anders geartetes Erkenntnissvermögen (als gleichfalls transcendentale Thatsache) sich denken liesse.

31. Wie bei der Frage nach dem Gegebensein des Denkinhalts von dessen Was, so wird bei jener nach dem Was des Denkinhalts von dessen Gegebensein abgesehen. Da nun in Bezug auf den Umstand, dass sie Denkinhalt sind, sämmtliche Denkinhalte einander gleichen, so lässt sich daraus allein, dass ein gewisses Was Inhalt des Denkens ist, kein Schluss auf dessen Wahrheit oder Falschheit machen. Die Betrachtung der Besonderheit des Was der einzelnen Denkinhalte aber gehört nicht mehr in die Logik, sondern in die besonderen Wissenschaften, deren Inhalt sie ausmachen (z. B. der Begriff des Seienden in die Metaphysik, der des Guten in die Ethik etc.). Dagegen lässt sich aus dem Verhältniss, in welchem verschiedene Denkinhalte ihrem Was nach unter einander stehen (z. B. aus dem Verhältniss ihrer Congruenz oder Incongruenz) sehr wohl eine Folgerung machen, was, wenn der eine derselben als wahr oder falsch angenommen oder erwiesen wird, mit dem anderen in Bezug auf Wahrheit oder Falschheit vor sich gehen müsse. Die auf letzterem Wege möglichen Folgerungen [19]müssen aus einer vollständigen Aufzählung der zwischen Denkinhalten ihrem Was nach möglichen Verhältnisse sich vollständig ergeben.

32. Da nun die einzelnen Denkinhalte ihrem Was nach unter einander nur entweder verwandt oder nicht verwandt (disparat), die verwandten aber nur entweder ganz oder theilweise identisch oder entgegengesetzt sein können, so ergibt sich als Uebersicht der zwischen verschiedenen Denkinhalten ihrem Was nach möglichen Verhältnisse folgendes Schema: (ganze oder theilweise) Identität, Gegensatz, Disparatheit.

33. Ganz oder theilweise identische Denkinhalte haben das Eigenthümliche, dass sie einander bedingen, so dass, sobald der eine (a oder a b) gedacht wird, ebendadurch auch der andere (a ist a; a b ist a) ganz oder theilweise gedacht wird. Entgegengesetzte Denkinhalte haben das Eigenthümliche, dass sie einander ausschliessen d. h. dass entweder nur, wenn der eine gedacht wird, der andere nicht gedacht werden kann (conträrer Gegensatz: a ist nicht b), oder so, dass zugleich, wenn der eine nicht gedacht wird, der andere gedacht werden muss (contradictorischer Gegensatz: wenn nicht a ist, so ist non-a). Disparate Denkinhalte haben das Eigenthümliche, dass sie einander im Denken weder bedingen noch ausschliessen, so dass, wenn der eine gedacht wird, auch der andere gedacht werden kann, aber weder der andere noch sein Gegentheil gedacht werden muss (z. B. diese Rose ist roth — sie könnte aber auch weiss sein). Ganz oder theilweise identische, sowie disparate Denkinhalte sind daher unter einander verträglich — entgegengesetzte dagegen unverträglich. Zwischen ganz oder theilweise identischen Denkinhalten findet für das Denken eine vom Inhalt derselben ausgehende Nöthigung statt, vom Denken des einen zu jenem des andern überzugehen. Bei entgegengesetzten Denkinhalten findet für das Denken eine vom Inhalt derselben ausgehende Nöthigung statt, vom Denken des einen zum Denken des Gegentheils des anderen überzugehen. Bei disparaten Denkinhalten findet eine vom Inhalte derselben ausgehende Nöthigung für das Denken von einem zum andern überzugehen, überhaupt nicht statt, sondern wenn eine solche eintreten soll, so muss sie durch etwas vom Inhalt derselben Verschiedenes, also entweder durch eine äussere, vom Willen des Denkenden unabhängige Ursache (z. B. den Augenschein) oder durch eine innere, vom Intellect unabhängige Ursache (z. B. die Willkür des Denkenden) herbeigeführt werden. Erstere heissen daher [20]einhellig (consonirend), entgegengesetzte misshellig (dissonirend), disparate blos einstimmig.

34. Gänzlich identische Denkinhalte können, da es nach dem principium identitatis indiscernibilium zwei mit einander völlig übereinkommende Dinge überhaupt nicht geben kann, auch nicht zwei sondern müssen nothwendig ein und derselbe d. h. als Denkinhalt einzig sein; solche können daher auch kein Verhältniss unter einander haben. Dagegen kann es sehr wohl Denkinhalte geben, welche, obgleich dem Was ihres Inhalts nach nicht identisch, doch ihrem Umfang nach identisch sind; in welchem Fall dieselben äquipollent heissen (z. B. Wechselbegriffe). Theilweise identische Denkinhalte können entweder in der Weise identisch sein, dass der eine ganz in dem andern, aber nicht umgekehrt dieser in jenem enthalten ist, in welchem Fall derjenige, welcher den andern in sich enthält, der übergeordnete, derjenige, welcher in dem andern enthalten ist, der untergeordnete heisst; oder dieselben sind so beschaffen, dass jeder ausser dem ihm mit dem anderen Gemeinsamen noch etwas Besonderes enthält, so dass beide diesem Gemeinsamen untergeordnet, unter einander aber beigeordnet sind. Im ersteren Fall ist der im anderen enthaltene Denkinhalt unter diesem subsumirt, im zweiten Falle jeder der beiden dem ihnen gemeinsamen subordinirt; von den äquipollenten wird der eine dem anderen substituirt.

35. Von unter einander subsumirten Denkinhalten gilt, dass wenn der subsumirende Denkinhalt wahr oder falsch, auch der darunter subsumirte entsprechend eines von beiden sei. Der subsumirende heisst in Bezug auf den subsumirten der weitere, dieser dagegen der engere Denkinhalt und es gilt der Satz, dass das von dem weiteren Behauptete oder Ausgeschlossene ebendarum auch von dem engeren behauptet oder ausgeschlossen, keineswegs aber das von dem engeren Behauptete und Ausgeschlossene auch von dem weiteren behauptet und ausgeschlossen sei. Durch die Fortsetzung dieses Verhältnisses, indem jeder einen anderen subsumirende Denkinhalt seinerseits selbst wieder unter einen anderen subsumirt erscheint, gelangt man zu Denkinhalten, welche die weiteste — durch die Fortsetzung desselben in umgekehrter Richtung, indem jeder subsumirte Denkinhalt seinerseits einen anderen als unter sich subsumirend erscheint, gelangt man zu Denkinhalten, welche die engste Geltung besitzen. Jenes Verfahren selbst kann als Subsumtions-, und zwar entweder als analytische (Generalisations-) [21]Methode, welche von — dem Inhalt nach reicheren, aber dem Umfang nach engeren — Denkinhalt zu — dem Inhalt nach ärmeren, aber dem Umfang nach weiteren — Denkinhalt hinaufsteigt, oder als synthetische (Restrictions-) Methode, wenn sie von — dem Inhalt nach ärmeren, aber dem Umfange nach weiteren — Denkinhalt zu — dem Inhalt nach reicheren, aber dem Umfang nach engeren — Denkinhalt hinabsteigt, bezeichnet werden.

36. Von einander coordinirten (beigeordneten), einem gemeinsamen dritten subordinirten Denkinhalten gilt, dass der Inhalt des übergeordneten in dem Inhalt jedes der beiden oder mehreren untergeordneten, aber nicht umgekehrt, enthalten und der Umfang des übergeordneten der Summe der Umfänge sämmtlicher demselben untergeordneten Denkinhalte congruent sein müsse. Der übergeordnete Denkinhalt heisst in diesem Sinne der höhere, die demselben unter-, zugleich aber unter sich einander beigeordneten Denkinhalte heissen die niederen. Durch die Fortsetzung dieses Verhältnisses, indem der subordinirende höhere Denkinhalt seinerseits einem höheren subordinirt erscheint, gelangt man zum höchsten — durch dessen Fortsetzung in entgegengesetzter Richtung: indem die subordinirten niederen Denkinhalte je wieder anderen als unter sich subordinirend erscheinen, gelangt man zum niedersten Denkinhalt. Von dem höheren Denkinhalt gilt der Satz, dass, was von demselben behauptet oder ausgeschlossen, auch von dessen niederen behauptet oder ausgeschlossen, keineswegs zwar, was von nur einem oder mehreren der niederen behauptet, auch von dem höheren behauptet, wohl aber, dass dasjenige, was von sämmtlichen niederen ausgeschlossen, auch von dem höheren ausgeschlossen sei. Das Verfahren, das auf die Fortsetzung jenes Verhältnisses sich gründet, heisst die Subordinations-, und zwar die Abstractions- (Inductions-) Methode, wenn sie von niederen zu höheren Denkinhalten hinauf-, die Determinations- (Deductions-) Methode, wenn sie von höheren zu niederen Denkinhalten hinabsteigt.

37. Von einander äquipollenten, substituirbaren Denkinhalten gilt, wenn der eine wahr oder falsch, dass es auch der andere sei (z. B. was vom gleichseitigen Dreieck gilt, gilt auch vom gleichwinkeligen). Durch die Fortsetzung dieses Verhältnisses, so dass der einem andern äquipollente Denkinhalt seinerseits einem dritten äquipollent ist, entsteht die Substitutions-, wenn wir die sich gleichbleibende Identität des Umfanges, oder die Transmutationsmethode, wenn wir die von einem zum andern eintretende Aenderung des Inhalts im Auge [22]haben. Dieselbe findet ihre Verwendung zumeist in den mathematischen Wissenschaften, in welchen z. B. gesetzt, also bei verändertem Inhalt derselbe Umfang behalten wird. Während das Subsumtions- und Subordinationsverfahren auf wahrer und vollständiger Identität beruht, indem die Identität des Inhalts die des Umfangs nach sich zieht, beruht das Substitutionsverfahren zwar auf wirklicher, aber unvollständiger Identität, indem bei Einerleiheit des Umfangs Verschiedenheit des Inhalts herrscht. Dasselbe bildet daher bereits den Uebergang von dem Verhältniss der Identität zu jenem der Nichtidentität d. i. der Disparatheit der Denkinhalte.

38. Disparate Denkinhalte haben mit äquipollenten das gemein, dass sie verschiedenen Inhalt, gehen aber dadurch über dieselben hinaus, dass sie auch verschiedenen Umfang haben. Daraus folgt, dass während bei den äquipollenten der Uebergang von einem zum andern zwar nicht, wie bei den identischen, mittels des Inhalts, aber doch mittels des beiderseitigen Umfanges, also immer noch durch reines Denken erfolgt — bei den disparaten derselbe weder aus der Betrachtung des Inhalts, noch aus jener des Umfangs, also auch nicht aus dem reinen Denken geschöpft, sondern allein durch etwas von diesem Unterschiedenes, z. B. durch eine Anschauung, welche beide Denkinhalte verbunden aufweist, vermittelt werden kann. Während daher die Verknüpfung zwischen identischen und äquipollenten Denkinhalten analytisch d. i. so erfolgt, dass und weil der mit dem andern verknüpfte Denkinhalt, sei es seinem Inhalt (wie bei den identischen), sei es seinem Umfange nach (wie bei den äquipollenten) bereits in diesem enthalten ist, erfolgt dieselbe bei disparaten Denkinhalten synthetisch d. i. so, dass der eine zu dem andern als (ein dem Inhalt und Umfang nach) völlig neuer hinzugefügt wird. Grund der Verbindung ist bei jenen ein innerer, der so lange besteht, als Inhalt oder Umfang der mit einander verknüpften Denkinhalte derselbe bleiben; Grund der Verbindung ist bei diesen ein äusserer und die Verbindung besteht nur so lange, als dieser Grund besteht. Verbindungen ersterer Art sind daher nicht nur nothwendig, weil und so lange die Denkinhalte dieselben bleiben, sondern auch allgemein, weil der Denkinhalt, von so Vielen und so oft er gedacht werden mag, immer derselbe bleibt. Verbindungen letzterer Art dagegen sind nicht nur zufällig, weil der Grund derselben ein äusserer, sondern [23]auch individuell oder höchstens particulär, weil der äussere Grund derselben jederzeit nur für den einzelnen Denkenden, und zwar in diesem bestimmten Fall, bestenfalls für mehrere Denkende und mehrere Einzelfälle als der gleiche vorhanden ist, keineswegs aber für alle Denkenden und ebensowenig in allen Einzelfällen derselbe sein muss. Jene, zu welchen noch die später zu betrachtenden, auf dem Verhältniss des Gegensatzes beruhenden Trennungen und Verknüpfungen von Denkinhalten hinzukommen, können mit dem für allgemeine und nothwendige Denkverbindungen seit Lambert und Kant gebräuchlich gewordenen Ausdruck apriorische, letztere (z. B. die durch sinnliche Anschauung herbeigeführten) Verbindungen können, da dieselben nicht mit den Denkinhalten ursprünglich gegeben, sondern zwischen denselben erst nachträglich (z. B. durch Erfahrung) entstanden sind, aposteriorische genannt werden.

39. Apriorische Denkverbindungen sind daher stets analytisch oder (wie die mathematischen) äquipollent; synthetische dagegen weder sämmtlich (wie der rationale Dogmatismus lehrte), noch wenigstens zum Theile (wie der zum Kriticismus herabgedämpfte ursprünglich radicale Skepticismus Kant’s einräumte) apriorisch, sondern sämmtlich aposteriorisch. Das (mathematische) Vorurtheil Kant’s, welches darin bestand, dass er sämmtliche mathematische Urtheile für synthetisch hielt, hat denselben im Zusammenhang mit dessen unbegrenzter Verehrung für die Mathematik als Wissenschaft dahin geführt, ihr zu Liebe, da die mathematischen Sätze seiner Ansicht nach synthetisch waren und dennoch allgemein und nothwendig wahr sein sollten, apriorische Synthesen zuzulassen und, da dieselben durch Anschauung vermittelt sein mussten, durch sinnliche Anschauung aber keine apriorische d. i. allgemeine und nothwendige Verbindung hergestellt werden kann, gleichfalls ihr zu Liebe eine besondere, psychologisch nicht nachweisbare Art von Anschauung, die von ihm sogenannte „reine Anschauung”, zu erfinden. Dieselbe sollte einerseits, wie die sinnliche Wahrnehmung, Anschauung, andererseits, wie die sinnliche Wahrnehmung nicht, allgemein und nothwendig d. h. sie sollte a und non-a, Thesis und Antithesis zugleich (ein logisches Wunder) sein; als thatsächliche Erscheinungen einer solchen bezeichnete er die Vorstellungen des Raumes und der Zeit, die er beide der Einzigkeit ihrer beziehungsweisen Gegenstände halber für Anschauungen, und zwar der sinnlich unwahrnehmbaren Beschaffenheit dieser wegen für „reine Anschauungen” erklärte. Die Anschauung des Raumes legte er als [24]vermittelnde den geometrischen, jene der Zeit den arithmetischen Synthesen zu Grunde.

40. Den Beweis für die synthetische Natur des mathematischen Urtheils schöpft Kant aus dem Umstand, dass sowol das Prädicat des arithmetischen Urtheils: 5 + 7 = 12, wie das des geometrischen Urtheils: die Gerade ist die kürzeste zwischen zwei Punkten, etwas vom Subjecte derselben Verschiedenes enthalte: das Prädicat 12 sei nämlich weder mit 5, noch mit 7, das Prädicat „kürzeste Linie zwischen zwei Punkten” nicht mit „die Gerade” identisch. Das Urtheil 5 + 7 = 12 sagt aber weder, dass 5, noch, dass 7 jedes für sich gleich 12, sondern besagt, dass die Summe beider 5 + 7 = 12 sei d. h. dass die Vorstellung (5 + 7) der Vorstellung 12 zwar nicht (dem Inhalt nach) gleich sei, aber (dem Umfang nach) gleich gelte d. h. wie jeder Mathematiker weiss, die eine für die andere substituirt werden könne. Dasselbe ist bei dem geometrischen Urtheil der Fall; es ist richtig, dass die Vorstellung „Gerade” nicht dem Inhalt nach eins mit der Vorstellung „kürzeste Linie zwischen zwei Punkten” ist; unrichtig aber ist, dass sie derselben nicht äquipollent d. h. dass nicht jede Linie, die eine Gerade, auch die zwischen zwei Punkten — ihrem Anfangs- und Endpunkt — gelegene kürzeste sei. Der Uebergang vom Subject zum Prädicat wird daher wirklich in beiden Fällen nicht, wie Kant meinte, synthetisch durch eine von aussen hinzutretende (weder durch eine reine, noch, wie die heutige „inductive Mathematik” wähnt, sinnliche) Anschauung, sondern ausschliesslich analytisch durch die Betrachtung des Umfanges beider im reinen Denken vermittelt.

41. Der Irrthum Kant’s entsprang daher, dass er äquipollente Urtheile nicht für identisch und folglich jedes seiner Ansicht nach nicht (ganz oder theilweise) identische Urtheil für synthetisch hielt. Mathematische Urtheile, in welchen Subject und Prädicat wie bei den zu beiden Seiten des Gleichheitszeichens stehenden Ausdrücken dem Worte nach verschieden lauten, dem Werthe nach ohne Schädigung untereinander vertauscht werden können, galten ihm für apriorische Synthesen, während sie, wie oben gezeigt, zwar apriorisch, aber analytisch sind. Da ihm, wie er sich ausdrückte, sämmtliche analytische Urtheile zwar richtig, aber nicht wichtig, die mathematischen dagegen nicht nur richtig, sondern auch wichtig erschienen, so hätte er, indem er die letzteren für analytische erklärte, dieselben in ihrer wissenschaftlichen Würde herabzusetzen geglaubt; dieselben mussten daher um jeden Preis von den analytischen getrennt bleiben. [25]

42. Die Unwichtigkeit analytischer Denkverbindungen hatte für Kant darin ihren Grund, dass dieselben zu dem schon bekannten nichts neues hinzufügten. Dieselbe bezog sich daher nicht sowohl auf die Haltbarkeit der durch analytische Betrachtung vermittelten Verbindungen gewisser Denkinhalte, als vielmehr auf den durch dieselben zu bewerkstelligenden Erkenntnissfortschritt des Denkenden von Bekanntem zu Unbekanntem. Weil in letzterer Hinsicht das analytische Urtheil in seinem Prädicat das Subject nur ganz oder theilweise zu wiederholen schien, wurde dasselbe von ihm im besten Falle als eine unnütze Tautologie, in allen anderen Fällen als ein Herabsteigen von einer höheren auf eine niedere, bereits überwundene Erkenntnissstufe angesehen. Regressives Subsumtions- und inductives Subordinationsverfahren waren ihm zufolge nichts weiter als Auslösen eines Theiles aus einem schon bekannten Inhalt, durch welchen derselbe zwar „erläutert”, unsere Erkenntniss selbst jedoch keineswegs „erweitert” werde. Des Substitutions- als eines Verfahrens, durch welches ein beständiges idem per idem erzeugt werde, hielt Kant in seinem Bemühen um Ausdehnung der Grenzen der Erkenntniss es nicht einmal der Mühe für werth, Erwähnung zu thun.

43. Von diesem Standpunkt aus allerdings mit Recht, wenn es wahr wäre, dass das Substitutions- d. i. das Verfahren, einen gegebenen Denkinhalt durch einen demselben äquipollenten zu ersetzen d. h. den gegebenen zu transmutiren, in der That für das Erkennen keinen Fortschritt bedeutete. Während aber derjenige, der an der Stelle des subsumirenden den jeweilig subsumirten oder an der Stelle des concreten (subordinirten) nur den abstracten (subordinirenden) Denkinhalt besitzt, in der That sozusagen „der Masse nach” weniger besitzt als er vorher besass, und nichts, was er nicht schon vorher besass, besitzt derjenige, der an der Stelle des ursprünglich gegebenen Denkinhalts einen demselben äquipollenten, aber transmutirten Denkinhalt gewonnen hat — zwar „der Masse nach” (wenigstens was den Umfang betrifft) nicht mehr, als er besass, er besitzt aber etwas, was er vorher entschieden nicht besass, anstatt des ursprünglichen alten den durch Transmutation an dessen Stelle getretenen neuen Denkinhalt. Dasselbe stellt, zwar nicht dem Umfang, aber der Qualität des Gedachten nach, wirklich eine Bereicherung des Denkenden dar.

44. Subsumtions- und Subordinationsverfahren machen daher, wie Kant’s analytische Urtheile, in der That blosse Erläuterung, [26]Substitutions- und synthetisch-aposteriorisches d. i. empirisches Verfahren machen, wie Kant’s synthetische Urtheile, eine wirkliche Erweiterung unserer Erkenntniss, und zwar das erstere mit allgemeiner und nothwendiger, das letztere allerdings nur mit mehr oder weniger beschränkter und mehr oder weniger zuverlässiger, auch im besten Fall nur wahrscheinlicher, niemals ausnahmsloser (unbedingter) Giltigkeit möglich. Erstere beiden eignen daher vorzüglich den deducirenden, aus dem Allgemeinen das Besondere ableitenden und classificirenden, das Allgemeine aus dem Besonderen abstrahlenden Wissenschaften, während das Substitutionsverfahren in den rein mathematischen, das empirische dagegen in den Erfahrungswissenschaften zu Hause ist. Die erstgenannten gehen von einem bereits erreichten Erkenntnissvorrath an Allgemeinem aus, um durch Analyse desselben das darin eingeschlossene Besondere sich zum Bewusstsein zu bringen. Die zweitgenannten gehen von einem bereits gewonnenen Erkenntnissvorrath an Besonderem aus, um durch Ausscheidung des Abweichenden und Zusammenfassung des Gemeinsamen das in demselben gleichsam schlummernde Allgemeine an’s Licht zu ziehen. Die Wissenschaften, welche, wie die Lehre von den Gleichungen in der Mathematik und die Theorie von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes in der Physik und Physiologie den seinem Werthe und Umfang nach sich gleichbleibenden Denk-, wie den seiner Quantität und Qualität nach sich gleichbleibenden Stoffinhalt, in stets neue Formen sich umgiessen lassen, suchen dadurch das im ewigen Wechsel Beharrende und das im ewigen Beharren stets Fliessende zu gewinnen. Die Erfahrungswissenschaften aber sind darauf aus, durch natürliche und künstliche Beobachtung (Experiment) zwischen bis dahin wenn nicht für unverknüpfbar gehaltenem, doch unverknüpft gebliebenem Denkinhalt neue, bisher unerhörte Verbindungen in mehr oder weniger weitreichender und dauerhafter Weise festzustellen.

45. Letztere werden naturgemäss um desto mehr sich befestigen, je öfter dieselben wiederholt worden; sei es, dass diese Wiederholung durch eine unwillkürliche d. i. vom Willen des dieselben verknüpfenden Denkenden unabhängige, also auch ohne ja wider denselben sich erneuernde, oder eine willkürliche d. i. vom Willen des Denkenden entweder abhängige, oder mit demselben identische, also auch mit und durch denselben sich erneuernde Ursache verursacht sei. Dieselbe ist im ersteren Fall eine gegebene, und so auch der Grund ihrer Erneuerung ein gegebener; im letzteren Fall eine gemachte, [27]und so auch der Grund ihrer Erneuerung ein solcher. Im ersteren Fall wird die Verbindung der disparaten Denkinhalte durch das Denken so lange bestehen und so oft sich wiederholen, als die gegebene Ursache besteht und sich erneuert, im letzteren Fall dagegen so lange und so häufig, als der Wille, sie zu verbinden, im Denkenden entsteht und sich erneuert. In beiden Fällen wird im Denkenden in Folge der zunehmenden Wiederholung eine wachsende Disposition zur Verknüpfung jener an sich durch nichts auf einander hinweisenden Denkinhalte zu Stande kommen. Dieselbe wird jedoch im ersten Fall ihren Grund in einem Gegebenen (also Objectivem), im letzteren Falle in einem Wollen (Subjectivem) haben, und daher dort als (objective) Gewohnheit, die dem Denkenden von aussen angewöhnt wird, hier als (subjective) Gewöhnung, zu welcher der Denkende sich selbst verwöhnt hat, sich festsetzen.

46. Denkverbindungen disparater Denkinhalte, die auf Gewohnheit beruhen, gestatten darum einen Rückschluss auf jenen Grund, dessen Folge dieselbe ist, als einen objectiven d. h. unabhängig vom Willen des Denkenden bestehenden. Solche dagegen, welche nur auf einer Verwöhnung des Denkenden beruhen, gestatten höchstens einen Rückschluss auf die subjective Beschaffenheit des Willens des Denkenden. Ungeachtet der Grund der Verbindung in beiden Fällen kein logischer (aus dem Inhalt des zu Verbindenden entspringender Denk-), sondern ein blos psychologischer Zwang ist, welcher in dem einen Fall durch das Gegebensein des Objects auf den Willen, in dem andern Fall von dem Willen auf das Gegebenwerden des Objects ausgeübt wird, so ist der Grad wie der Grund der Festigkeit in jedem der beiden Fälle ein verschiedener. Derselbe beruht im ersten Fall auf dem Natur- und Fundamentalgesetz des Bewusstseins, durch welches dasselbe genöthigt wird, zugleich oder nach einander Gegebenes, sei es (dem Inhalte nach) Homogenes oder Heterogenes, unter einander dergestalt zu verknüpfen, dass mit dem Einen das Andere gedacht oder nach dem Eintreten des Einen das Eintreten des Anderen erwartet wird (Ideen-Associationsgesetz der Coëxistenz und der Succession). Da die Wirksamkeit desselben unabänderlich ist, so muss, sobald irgend etwas dem Denkenden als zugleich oder nach einander Seiendes gegeben ist, das Denken des Einen mit dem Andern, oder das Erwarten des Einen nach dem Andern ebenso unabänderlich erfolgen, so dass selbst der Wille des Denkenden demselben keinen Einhalt zu thun vermöchte. Diese Unabänderlichkeit des psychischen Vorganges des [28]Verbindens gewisser Denkinhalte in einem und des Erwartens gewisser Denkinhalte nach einander im andern Falle lässt in Folge einer (logisch zwar ungerechtfertigten, aber psychologisch sehr erklärlichen) unwillkürlichen Erschleichung die Sachlage so erscheinen, als ob die vom Denken notwendigerweise mit oder nach einander verknüpften Denkinhalte an sich mit oder nach einander nothwendigerweise verknüpft wären d. h. die Naturgesetzlichkeit des Bewusstseinsvorganges (der Association nach Coëxistenz und Succession) wird auf das Verknüpfte (Objective) selbst als dessen naturgesetzliches Mit- oder Nacheinandersein übertragen. Da nun beispielsweise Eigenschaften (Accidentien) nicht ohne Träger derselben (Substanz) und Wirkungen nicht ohne vorangehende Ursachen gedacht werden können, so liegt darin der Grund, warum Gegebenes, welches dem Denkenden entweder mit oder nach einander gegeben wird, von diesem als im Verhältniss — wenn es zugleich gegeben ist — der Inhärenz d. i. des Accidens zur Substanz — wenn es nach einander gegeben ist — der Causalität d. i. der Wirkung zur Ursache stehend gedacht wird. Hume’s Behauptung, dass das Causalgesetz aus der Gewohnheit entspringe und daher nichts anderes als die — durch das ursprünglich beobachtete und zu wiederholtenmalen erneuerte Nacheinanderauftreten gewisser Phänomene — motivirte Erwartung des Wiedereintretens des einen derselben sei, wenn das andere vorangegangen ist, hat daher insofern, als dieselben untereinander völlig disparater Natur sind, berechtigte Geltung.

47. Dagegen beruht in dem Falle, als die Verbindung disparater Denkinhalte nicht durch objectives (gleichzeitiges oder successives) Gegebensein, sondern durch den Willen des Denkenden erfolgt, der Grad und die Dauer ihrer Festigkeit lediglich auf der Energie und der Dauerhaftigkeit dieses Willens. Da nun der letztere, insofern er durch nichts von ihm Unabhängiges beeinflusst (motivirt), sondern lediglich grundlos sich selbst bestimmend (transcendentalfrei, reine Willkür), also im buchstäblichen Sinn des Wortes Eigenwille (Laune, Eigensinn) ist, und als solcher ebenso grundlos vergeht als entsteht, also seiner Natur nach veränderlich (wetterwendisch, launenhaft) ist, so können auch die durch denselben allein herbeigeführten Denkverbindungen nicht anders als veränderlich (Denklaunen, Capricen) sein, welche, so scheinbare Festigkeit dieselben auch besitzen mögen, so lange die sie festhaltende Willensmarotte Bestand hat, dieselbe nicht blos in den Augen Anderer, [29]sondern des Denkenden selbst nothwendig sogleich einbüssen, sobald dessen Eigenwille eine andere Richtung eingeschlagen hat.

48. Auf der durch Gegebenes entstandenen (objectiven) Gewohnheit beruht die unabweisliche (wirkliche), auf der durch Willkür herbeigeführten (subjectiven) Gewöhnung beruht die angebliche (scheinbare) Erfahrung. Jene beansprucht, weil die Naturgesetze des Bewusstseins für alle bewusstseinsfähigen Wesen derselben Gattung dieselben sind, sobald die Bedingungen des Gegebenseins für das Bewusstsein (z. B. die Simultaneität oder Succession) die nämlichen bleiben, auch für alle bewusstseinsfähigen Wesen derselben Gattung die gleiche uneingeschränkte Geltung. Diese kann eine solche höchstens innerhalb des Kreises der Herrschaft desjenigen Willens, auf welchem die ursprüngliche Verknüpfung des Denkinhaltes und deren Bestand beruht, über sich selbst und eventuell über den Willen anderer Denkenden, welche dem seinigen gegenüber als Dienende (Autoritätsgläubige, Willensknechte) sich verhalten, behaupten. Das Verfahren, nach welchem allgemein giltige Erfahrung zu Stande kommt, kann daher allein als erfahrungswissenschaftliche (empirische) Methode, dasjenige dagegen, nach welchem nur individuell oder höchstens in beschränktem Kreise als solche anerkannte d. i. Scheinerfahrung erreicht wird, muss als den Schein erfahrungswissenschaftlicher Methode affectirender, an sich unwissenschaftlicher Erfahrungstrug bezeichnet werden. Beispiele der ersten liefern alle wirklichen Erfahrungswissenschaften; das auffälligste Beispiel des letzteren bietet die auf angeblichen uncontrolirbaren und nur innerhalb des Kreises gläubiger Jünger als solche anerkannten Erfahrungen einzelner Auserwählter (z. B. Medien, Geisterseher) — angeblich unter genauer Beobachtung des methodischen Verfahrens wirklicher Erfahrungswissenschaft — aufgebaute vermeintliche Erfahrungswissenschaft von der Geisterwelt (Spiritismus).

49. Wie disparate Denkinhalte mit äquipollenten darin übereinkamen, dass beiderseits die Denkinhalte ihrem Inhalt nach nicht identisch waren, so unterscheiden sich dieselben von ihrem Inhalte nach entgegengesetzten Denkinhalten dadurch, dass die ersteren ihrem Umfange nach mit einander verträglich, die letzteren dagegen in Bezug auf diesen unter einander unverträglich sind. Dieselben schliessen einander entweder in der Weise aus, dass, was in den Umfang des einen, nicht in den Umfang des andern fällt, in welchem Fall sie conträr, oder in der Weise, dass zugleich dasjenige, was nicht in den Umfang des einen, eo ipso in den Umfang [30]des andern fällt, in welchem Fall sie contradictorisch entgegengesetzt heissen. Sie können einander aber auch in der Weise ausschliessen, dass, was in den Umfang des einen, nicht in den Umfang des andern, was nicht in den Umfang des einen, in den Umfang des andern fällt, die Umfänge beider aber zugleich den Umfang eines dritten, beiden übergeordneten Denkinhaltes ausmachen, in welchem Fall sie subconträr entgegengesetzt genannt werden. Von conträr entgegengesetzten Denkinhalten gilt, dass, wenn der eine wahr ist, der andere falsch, von contradictorisch entgegengesetzten überdies, dass, wenn der eine falsch ist, der andere wahr sein muss; von subconträr entgegengesetzten dagegen gilt, dass, weil beider Umfänge in den Umfang eines dritten fallen und denselben erschöpfen, dasjenige, was in dem Umfang des einen liegt, nicht in dem Umfang des andern liegen kann (wie bei den conträren), aber auch, dass, was nicht in dem Umfang des einen liegt, in dem Umfang des andern liegen muss (wie bei den contradictorischen Gegensätzen), dass also, wo a ist, nicht b, dagegen b ist, wo a nicht ist, und weiter, dass, wo das eine von beiden, auch das beiden übergeordnete dritte ist, dass also beide subconträr entgegengesetzte zugleich keines das andere und (in Bezug auf das dritte als „ihre höhere Einheit”) eins und dasselbe sind. Ist der einem andern conträr entgegengesetzte Denkinhalt seinerseits einem dritten conträr entgegengesetzt, so dass, wenn a wahr ist, b falsch sein muss, so lässt sich aus der Wahrheit von a nicht schliessen, dass nun auch der dem b conträr entgegengesetzte Denkinhalt c wahr sein müsse, wol aber, dass derselbe wahr sein könne, indem aus der Wahrheit von a zwar die Falschheit von b, aus der Falschheit von b aber keineswegs die Wahrheit von c folgt. Lässt sich der einem Denkinhalt a contradictorisch entgegengesetzte Denkinhalt non-a seinerseits wieder in zwei contradictorisch entgegengesetzte Denkinhalte b und non-b spalten, so gilt nicht nur, dass, wenn a wahr ist, sowol b als non-a nothwendig falsch sein müsse, sondern auch, dass, wenn a falsch ist, eines von beiden, b oder non-b nothwendig wahr sein muss. Von subconträr entgegengesetzten Denkinhalten gilt, dass, sobald auch nur einer von beiden wahr ist, ein dritter, der beiden übergeordnete, wahr und daher, wenn dieser selbst einem vierten subconträr entgegengesetzt, auch der ihm und diesem übergeordnete fünfte Denkinhalt wahr sei. Auf die Fortsetzung des ersten Verhältnisses gründet sich das Verfahren, zu einer Reihe conträrer Gegensätze zu gelangen, die [31]alle zugleich wahr, also copulativ verbunden werden können (z. B. die Farbenreihe). Auf die Fortsetzung des zweiten Verhältnisses gründet sich das Verfahren, durch Zerfällung des contradictorisch entgegengesetzten Gliedes in weitere Gegensätze zu einer vollständigen Eintheilung zu gelangen, deren Glieder untereinander disjunctiv getrennt werden können. Auf die Fortsetzung des dritten Verhältnisses gründet sich das construirende oder sogenannte dialektische Verfahren, mittels dessen mit Hilfe stets neu eingeführter subconträrer Gegensätze zu immer neuen sich übereinander aufthürmenden „höheren Einheiten” gelangt wird, deren jede die vorhergehende (nach dem bekannten Hegel’schen Doppelsinn) zugleich aufhebt und „aufhebt” (tollit et servat).

50. Mit dem Verhältniss des Gegensatzes ist die Reihe derjenigen, welche das „was” des Denkinhaltes angehen, erschöpft. Mit dem ersten, auf das „wie” des Gegebenseins sich stützenden, der unwillkürlichen Nöthigung, einen gewissen Denkinhalt zu denken, ergeben sich für die Beurtheilung des Anspruches eines gewissen Denkens, für Wissen gelten zu dürfen, im Ganzen fünf Gesichtspunkte, von denen der erste quantitativ, die übrigen qualitativ heissen können, weil jener sich auf das Quantum des Gegebenseins, diese sich auf das Quale des Gegebenen beziehen, und an deren jeden sich entsprechende methodische Verfahren zum Wissen zu gelangen anschliessen.

51. Der erste derselben ist der Gesichtspunkt der Denknothwendigkeit. Der unwillkürlich gegebene erscheint als der nicht nicht zu denkende d. i. nothwendig zu denkende oder denknothwendige Denkinhalt; und zwar in desto höherem Grade, je besser die Unwillkürlichkeit seines Gegebenseins d. i. dessen Gegebensein ohne, ja wider den Willen des Denkenden bezeugt ist. Letzteres ist aber in desto höherem Grade der Fall: 1. je unwiderstehlicher derselbe sich aufdrängt und gegen alle mit Wissen und Willen angestellten Versuche, sich desselben zu erwehren, behauptet. In diesem Sinne gilt der Satz: facta loquuntur, und dass es nichts fruchte, gegen „Thatsachen” die Augen zu verschliessen; denn da die Ursache dieses ohne, ja wider Willen Gegebenseins nicht im Willen des Denkenden liegen soll, so kann dieselbe nur entweder in einem von diesem Willen Verschiedenen gelegen, oder das Gegebene müsste ohne Ursache (grundlos) gegeben sein. Letzteres ist um so unwahrscheinlicher, als der sogenannte Satz vom zureichenden Grunde (principium rationis sufficientis), welcher besagt, dass nichts ohne [32]Grund erfolge, selbst wahrscheinlicher ist; denn auch dieser ist, als Denkinhalt betrachtet, kein willkürlich gemachter (erfundener), sondern selbst ein unwillkürlich gegebener (evidenter), dessen das Denken sich nicht zu erwehren vermag und der bei jedem sich bietenden Anlass sich wieder — und was das Gewicht seines Gegebenseins verstärkt, Jedermann in gleicher Weise aufdrängt. Je unwahrscheinlicher es aber ist, dass das Gegebensein eines gewissen Denkinhalts ein blosser Zufall sei, desto mehr steigert sich dieselbe, wenn und in dem Masse, als derselbe Denkinhalt in zahlreicheren Fällen mit gleicher Unabweislichkeit wiederkehrt, und damit die Wahrscheinlichkeit, dass die Ursache seines Gegebenseins wie seiner Wiederholung in einer äusseren, und zwar beharrenden (objectiven, nicht subjectiven) Ursache, z. B. die sich aufdrängende Empfindung der rothen Farbe nicht in einer subjectiven Affection des Gesichtsorganes (Rothsehen), sondern in einem objectiven, von aussen kommenden Reize desselben ihren Grund habe.

52. Die Unwillkürlichkeit des Gegebenseins wird aber 2. in noch höherem Grade bestätigt, wenn es sich zeigt, dass dieser beharrende und objective Grund nicht blos für den einzelnen Denkenden, sondern für alle Seinesgleichen in gleicher Weise besteht. Dies aber ist der Fall, wenn die Persönlichkeit des Denkenden als veränderlich angenommen und innerhalb derselben Gattung denkender Wesen jede beliebige andere Persönlichkeit an dessen Stelle gesetzt, der Erfolg ceteris paribus immer derselbe bleibt d. h. der dem Einzelnen als unwillkürlich gegeben erscheinende Denkinhalt auch jedem Anderen mit gleicher Unwiderstehlichkeit als ein solcher sich aufnöthigt, z. B. dieselbe dem Wahrnehmenden als Empfindung sich aufdrängende Gesichtsvorstellung auch von jedem Anderen an seiner Statt als solche empfunden wird. Ist es nämlich an sich schon höchst unwahrscheinlich, dass das unwillkürlich scheinende Gegebensein bei dem einen Denkenden blosser Zufall sei, so ist es noch unverhältnissmässig unwahrscheinlicher, dass derselbe Zufall sich bei jedem beliebigen an dessen Stelle tretenden Anderen wiederholen werde.

53. Der höchste Grad der Bestätigung der Unwillkürlichkeit des Gegebenseins aber wird dann erreicht, wenn 3. derselbe Denkinhalt, der sich dem Einzelnen einmal oder zu wiederholtenmalen, ferner jedem Anderen an dessen Statt in gleicher Weise sich aufgenöthigt hat, von jedem Anderen nicht nur einmal, sondern in jedem beliebigen wiederkehrenden Fall als solcher erfahren wird d. h. wenn derselbe Denkinhalt für Jedermann und unter beliebig [33]veränderten Umständen stets mit gleicher Unabweislichkeit als unwillkürlich gegeben empfunden wird. Das sich auf diese Thatsache gründende Verfahren kann als Constatirungs- oder mit Rücksicht auf die demselben zu Grunde liegende Zählung der Fälle, in welchen die Thatsache des unwillkürlich Gegebenseins beobachtet worden ist, als das statistische Verfahren bezeichnet werden. Durch die Fortsetzung desselben gelangt man mit der Zunahme der Zahl der Bestätigungen zu einem immer wachsenden Grade von Wahrscheinlichkeit, welche, wenn die Zahl der erfahrenen Bestätigungen jener der an sich möglichen Wiederholungen gleicht, zur völligen, wenn sie derselben sich nähert, ohne einen einzigen Fall des Gegentheils (negative Instanz) erlitten zu haben, zur moralischen Gewissheit wird.

54. Der Grad dieser Wahrscheinlichkeit lässt sich, jedoch nur in dem Fall, wenn die Zahl der an sich möglichen Fälle bekannt ist, der Rechnung unterwerfen. Derselbe wird durch einen Bruch ausgedrückt, dessen Nenner die Zahl der überhaupt möglichen (m + n), dessen Zähler die Anzahl der beobachteten einander bestätigenden Fälle (m) ausdrückt. Erreicht die Anzahl der beobachteten die der an sich möglichen Fälle, so wird der Bruch mm + n = m + nm + n = 1 und die Wahrscheinlichkeit verwandelt sich in Gewissheit. Erreicht sie dagegen nur die Hälfte der Zahl der an sich möglichen Fälle, so dass m = n ist, so wird der Bruch mm + n = 12 und die Wahrscheinlichkeit verwandelt sich in halbe Gewissheit d. i. Zweifel. Geht die Zahl der beobachteten über die Hälfte der an sich möglichen Fälle hinaus, oder bleibt sie hinter derselben zurück, so wird der Bruch mm + n im ersten Fall > 12, im zweiten Fall < 12 d. h. es tritt in jenem Fall Wahrscheinlichkeit, in diesem Unwahrscheinlichkeit ein.

55. Der äussere Grund des unwillkürlich Gegebenseins kann, da er nicht im Willen des Denkenden liegt, nur entweder trotzdem im Denkenden selbst, und zwar entweder in dessen psychischer oder somatischer Beschaffenheit, oder ausserhalb desselben in der sogenannten Aussenwelt gelegen sein. Im letzteren Falle heisst das unwillkürlich Gegebene eine äussere, in beiden anderen Fällen dürfte es mit Rücksicht auf die innerhalb des Denkenden zu suchende Ortslage der Ursache eine innere Thatsache heissen; gewöhnlich wird aber nur die in der psychischen Beschaffenheit des Denkenden (in dessen [34]Intellect oder Gefühlsleben) gelegene Ursache als eine innere bezeichnet; die in der somatischen Natur des Denkenden (z. B. in der anormalen Natur seiner Sinnesorgane) gelegene pflegt zu den äusseren Ursachen gerechnet zu werden. Innere Thatsachen werden daher nur solche genannt, welche Bewusstseinsthatsachen, sei es des Intellects, sei es des Gefühlslebens, sind, während alle übrigen, ihr Grund mag innerhalb oder ausserhalb der somatischen Natur des Denkenden liegen, äussere Thatsachen heissen; erstere bilden die Grundlage der inneren, letztere die Basis der äusseren Erfahrung.

56. Zu den inneren Thatsachen, und zwar des Intellects, gehören unwiderstehlich sich aufdrängende und deshalb von gewissen Denkern als „angeboren” bezeichnete Begriffe und Urtheile (wenn es dergleichen gibt); zu den inneren Thatsachen des Gefühlslebens die unwiderstehlich sich aufdrängenden Aussprüche der Mahnung und Abmahnung, die von gewissen Denkern auf die Quelle einer unfehlbaren inneren Stimme (des moralischen oder ästhetischen Gefühls; das δαιμόνιον des Sokrates, der „deus in nobis”) zurückgeführt worden sind (wenn es eine dergleichen gibt); alle übrigen Thatsachen, die ihren Grund in einer inner- oder ausserhalb des Leibes des Denkenden gelegenen Ursache haben, gehören im weiteren, diejenigen, welche ihren Grund in einer vom Leibe verschiedenen Ursache haben, wie die sogenannten „objectiven” Sinnesempfindungen, deren Grund „objective” d. h. von aussen kommende Sinnesreize sind, im engeren Sinne der äusseren Erfahrung an.

57. Zur Constatirung, dass ein gewisser Denkinhalt Thatsache des Intellects d. h. unabweislich sei, sowie, dass ein solcher Thatsache des Gefühlslebens d. h. als Gefühl unwiderstehlich sei, gibt es demnach keinen von dem zur Constatirung, dass ein gewisser Denk- (z. B. Empfindungs-) Inhalt Thatsache der Erfahrung sei d. h. unvermeidlich empfunden werde, einzuschlagenden verschiedenen Weg. In jedem der genannten Fälle muss der Versuch, denselben mit Wissen und Willen nicht zu denken so oft und unter so vielfach wiederholten Umständen und von so Vielen wiederholt werden, bis sich die Aussichtslosigkeit, sich desselben erwehren zu können, zur moralischen Gewissheit erhoben hat. Denkinhalte, welche diese Probe bestanden haben, können als evidente d. i. einleuchtende, wenn auch weiter durch nichts begründungsfähige d. h. als unwiderlegliche, sei es Bewusstseins-, sei es Sinnesthatsachen, gelten. [35]

58. Bei den Intellects- und Gefühlsthatsachen, wie bei den Sinnesthatsachen bleibt dabei die von Moment zu Moment veränderliche Individualität des einzelnen, wie die von Individuum zu Individuum abweichende Individualität der mehreren Denkenden zu überwinden. Weder ist der Einzelne in verschiedenen Momenten seines Daseins sich selbst, noch sind die Einzelnen sich untereinander gleich. Der Intellect wird zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen eben überwiegenden Vorstellungskreisen, das Gemüth von eben vorhandenen Stimmungen beherrscht, welche dem gegebenen Denkinhalt ihre d. h. eine momentane oder temporäre subjective Färbung ertheilen. Das äussere Sinnesorgan des Beobachtenden unterliegt von Fall zu Fall oder von Beobachter zu Beobachter individuellen, sei es augenblicklichen, sei es habituell gewordenen Störungen, welche (wie z. B. die Farbenblindheit, die Kurz- oder Weitsichtigkeit) dem gegebenen Inhalt der Beobachtung eine sei es augenblickliche, sei es dauernde subjective Entstellung (z. B. Farbenfälschung, Entfernungsfälschung) aufprägen. Letztere Gefahr hat bei astronomischen Observationen zur Aufstellung der sogenannten Bessel’schen Augengleichung geführt, durch welche der habituelle Beobachtungsfehler jedes Beobachters ein- für allemal eruirt und sodann, wie der habituelle Gangfehler einer Uhr durch die sogenannte Zeitgleichung, bei jeder von demselben angestellten Beobachtung dieselbe corrigirend ebenso in Anschlag gebracht wird, wie durch Kenntniss der täglichen Acceleration oder Retardation des Pendels auch mittels einer fehlerhaften Uhr richtige Zeitbestimmungen erreicht werden können. Wie hier von der individuellen Natur des Beobachters, so muss bei Beurtheilung desjenigen, was als Bewusstseins-, sei es Intellects- oder Gefühlsthatsache, gelten soll, von der individuellen Natur wie der augenblicklichen Gemüthsstimmung abgesehen d. h. das Urtheil, dass ein gewisser Denkinhalt unwillkürlich gegeben sei, muss, um mit Kant zu reden, „mit Vermeidung aller Privatgefühle” gefällt werden.

59. Der auf diesem Wege als denknothwendig nachgewiesene Denkinhalt gilt dem Denken als wahrer Denkinhalt. Die Idee der Denknothwendigkeit ist die erste logische d. h. die erste derjenigen Ideen, von welchen das Denken in seinem Streben, Wissen zu werden, sich leiten lässt. Da dieselbe auf dem Nachweise des unwillkürlich Gegebenseins des Denkinhalts, dieser Nachweis selbst aber auf einem Constatirungsverfahren beruht, dessen äusserste Grenze die zwar dem Bedürfniss genügende, aber die Sache selbst niemals [36]erschöpfende moralische Gewissheit bildet, so folgt aus dem Erweise, dass ein gewisser Denkinhalt denknothwendig, allerdings nicht mit Nothwendigkeit, dass derselbe wahr sei, aber es folgt mit Nothwendigkeit, dass derselbe dem Denkenden wahr scheine.

60. Die zweite logische Idee, die wie die folgenden auf dem Was des Denkinhalts, statt wie die erste auf dessen Wie, und zwar auf dem Verhältniss der einseitigen oder gegenseitigen Inhaltsidentität zweier Denkinhalte ruht, ist die der Analyse d. i. der Versuch, durch Auflösung des Inhalts in seine näheren und entfernteren Bestandteile zu einem Urtheil über dessen Wahrheit oder Falschheit zu gelangen. Dieselbe tritt, wie oben angeführt, wenn die Inhaltsidentität einseitig ist, als Subsumtion, wenn sie gegenseitig ist, als Subordination des einen unter den andern Denkinhalt auf, an welche die betreffenden Verfahrungsweisen, und zwar an die erstere die analytische (regressive) und synthetische (progressive), an die letztere die Abstractions- und die Determinationsmethode sich anschliessen.

61. Die dritte logische Idee, die auf der Identität des Umfangs (Aequipollenz) beruht, ist die Gleichgeltung d. i. der Versuch, durch Substituirung eines dem Gegebenen gleichgeltenden Denkinhalts zu einem, wenigstens dem Inhalte nach von dem ersten verschiedenen, neuen auf einem Wege zu gelangen, auf welchem die Wahrheit oder Falschheit des letzteren aus jener des gegebenen sich folgern lässt. Auf dieselbe gründet sich das, wenn man die Identität des Umfangs im Auge hat, Substitutionsmethode, wenn man die Verschiedenheit des Inhalts in Betracht zieht, Transmutationsmethode genannte Verfahren, in welchem die Wahrheit des ursprünglich gegebenen Denkinhalts durch allen nicht blos scheinbaren, sondern wirklichen Wechsel des Inhalts hindurch und trotz desselben sich forterhält.

62. Die vierte logische Idee ist die der Synthese d. i. die Verknüpfung disparater Denkinhalte in Folge eines nicht aus der Betrachtung des Inhalts desselben abgeleiteten, diesem fremden, aber zur Begründung jener zureichenden Grundes. Je nachdem derselbe entweder eine äussere (Sinnes-, aposteriorische) oder (wie bei Kant’s mathematischen Urtheilen) eine reine (Intellectual-, apriorische) Anschauung ist, ist die Synthesis selbst entweder empirisch (zufällig, particulär), welche blosse Wahrscheinlichkeit, oder apriorisch (allgemein, nothwendig), welche (wenn es deren überhaupt gibt) ausnahmslose Gewissheit gewährt. Auf dieselbe gründet sich das empirisch- (wenn die Synthese eine empirische) oder apriorisch- (wenn [37]die Synthese eine reine ist) synthetische Verfahren, welches im ersten Falle zu empirischen (mehr oder weniger wahrscheinlichen), dagegen im letzteren Falle zu apriorischen (mit dem Anspruch auf Allgemeinheit und Nothwendigkeit ausgesprochenen) Ergebnissen führt.

63. Die fünfte logische Idee ist die der Ausschliessung, welche auf dem Verhältniss des Gegensatzes, und zwar als Widerstreit auf dem des conträren, als Widerspruch auf dem des contradictorischen, dagegen als sogenannte „Einheit der Gegensätze” (Synthese des Ausgeschlossenen) auf dem des subconträren Gegensatzes beruht. Während die ersten beiden blos trennend (disjunctiv), verhält sich der letzte zugleich verbindend (copulativ). An jene schliesst sich ein negatives, Denkinhalte scheidendes, an dieses ein affirmatives, Geschiedenes wieder vereinigendes Verfahren an, daher jenes vorzugsweise als die Methode des scharfsinnigen, verborgene Unterschiede des Aehnlichen streng sondernden Verstandes, dieses als die einer tiefsinnigen, verborgene Aehnlichkeit des Geschiedenen aufspürenden, Entgegengesetztes als Eins schauenden (speculativen) Vernunft angesehen wird.

64. Keine der fünf angeführten logischen Ideen ist der Schlüssel zum ganzen Wahren, aber jede derselben ist ein Schlüssel zu Wahrem. Weder dasjenige Verfahren im Denken, welches sich ausschliesslich auf das unwillkürliche Gegebensein (Positivität) des Denkinhalts stützt und daher Positivismus oder, weil das Gegebene als Thatsache gilt, auf Thatsachen gegründetes Denken d. i. Empirismus heisst, noch das ebenso ausschliesslich auf das Was des Denkinhalts (Rationalität) gegründete Verfahren, welches auf die Beziehungen (rationes) der Denkinhalte zu und unter einander sich stützt und deshalb Rationalismus heisst, erschöpft die Totalität des dem Denken zugänglichen Erkenntnissgehalts; beide sind, indem der Positivismus des rationalen Verfahrens bedarf, um von den gegebenen Thatsachen aus, der Rationalismus der positiven Grundlage bedarf, um von derselben aus weiter fortzuschreiten, dazu bestimmt, einander gegenseitig zu ergänzen.

65. Der Positivismus oder das lediglich von Thatsachen ausgehende Denken ist, je nachdem diese letzteren innere oder äussere (Bewusstseins- oder Sinnesthatsachen), die ersteren entweder Thatsachen des Intellects, oder des Gefühls, oder des Willens, die letzteren entweder durch krankhafte von innen kommende oder durch normale von aussen kommende Sinnesreize erzeugte Sinnesthatsachen, blosse Hallucinationen (visiones) oder Wahrnehmungen des [38]äusseren Sinnes (visus et auditus) sind, nach der Reihe entweder intellectualer (wie der auf angeborne Ideen sich berufende Cartesianismus) oder sensualer (wie die Gefühlsphilosophie Jacobi’s, die schottische Moral- und sogenannte Philosophie des gesunden Menschenverstandes), oder theletischer (wie die Willensphilosophie Schopenhauer’s), oder visionärer (wie Swedenborg’s Mysticismus und Spiritismus), oder sensualistischer Positivismus (wie die philosophie positive Comte’s, welche seit Diesem im engeren und eminenten Sinne diesen Namen führt). Nimmt derselbe hierbei seinen Ausgangspunkt lediglich von den Thatsachen der, sei es inneren, sei es äusseren Erfahrung, so ist er gemeiner, unkritischer Positivismus (Dogmatismus); betrachtet er dagegen die Erfahrung selbst (sei es die innere, sei es die äussere) als Thatsache, neben und ausser welcher noch andere thatsächliche Erfahrungen (aussermenschliche oder übermenschliche) möglich sind, so ist er transcendentaler, kritischer Positivismus (Kriticismus).

66. Der Rationalismus oder das lediglich auf die ein- oder gegenseitigen Beziehungen (rationes) des Denkinhalts sich stützende Denkverfahren ist entweder analytischer, wenn er lediglich durch die logischen Ideen der Analyse, der Gleichgeltung und der conträren oder contradictorischen Ausschliessung, dagegen synthetischer, wenn er überdies durch jene der Synthese sich leiten lässt. Letzterer heisst empirischer, wenn die Synthese ausschliesslich aposteriorisch, dagegen reiner, wenn dieselbe (wie etwa in Kant’s mathematischen Urtheilen) apriorisch verstanden wird. Tritt zu den logischen Ideen des empirischen Rationalismus jene des Widerstreits und des Widerspruchs in der Weise gesetzgebend hinzu, dass, was durch empirische Synthese gegeben ist, trotzdem ohne Umbildung (Berichtigung oder Ergänzung) nicht behalten werden darf, sobald es Widersprüche einschliesst, so geht derselbe in rationalen Empirismus über, während er im Gegenfall empirischer Irrationalismus (Empiristik) wird. Tritt zu den logischen Ideen, welche den reinen Rationalismus leiten, jene der „Einheit der Gegensätze” in der Weise hinzu, dass das durch den Verstand Getrennte (Reflexions- oder Verstandesphilosophie) in einer „höheren” Vernunft- (intellectualen) Anschauung wieder als Eins geschaut wird, so geht der reine in speculativen Rationalismus (rationale Dialektik, speculative oder Vernunftphilosophie) über.

67. Wenn die logischen Ideen als Vorbilder des Denkens dasselbe zum Wissen (Erkenntniss), so führen die Gegentheile derselben [39]dasselbe zum Nicht- oder Scheinwissen (Irrthum). Gegentheil der Denknothwendigkeit ist die Denkzufälligkeit, des unwillkürlich Gegeben- das willkürlich Gemachtsein des Denkinhalts, in Folge dessen derselbe im Gegensatz zum erfahrenen (Erlebniss) als erfundener (Fiction) erscheint. Das Gegentheil der Analyse d. i. der Zerlegung des Denkinhalts in seine Bestandtheile, wodurch derselbe deutlich wird, ist die Confusion d. i. die Vermengung der verschiedenen Bestandtheile des Denkinhalts, wodurch derselbe verworren und dunkel wird. Das Gegentheil der Gleich- ist die Ungleichgeltung des Denkinhalts, wodurch beliebige Denkinhalte, welche nichts weder dem Inhalt noch dem Umfang nach mit einander gemein haben, für einander gesetzt werden. Das Gegentheil der berechtigten oder doch für berechtigt gehaltenen, sei es auf wirklicher Gewöhnung beruhenden empirischen oder auf, wenn auch blos vermeintlicher, reiner Anschauung beruhenden apriorischen Synthese bildet die, sei es in einem, sei es im andern Sinn unberechtigte, entweder, statt auf wirklicher Gewöhnung, auf blosser Angewöhnung oder Verwöhnung beruhende empirische, oder nicht einmal auf vermeintlicher, sondern willkürlich behaupteter (stat pro ratione voluntas) reiner Anschauung beruhende, fälschlich für apriorisch ausgegebene Synthese. Das Gegentheil der Idee der Ausschliessung bildet die Duldung der Gegensätze, und zwar nicht blos des conträren und contradictorischen, sondern auch die des subconträren, welche letztere sich durch die Annahme der „Einheit der Gegensätze” von blosser Toleranz bis zur durch die logische Idee der Ausschliessung verbotenen positiven Anerkennung des Widerspruchs steigert und in diesem die Wahrheit findet. Wie die logischen Ideen als Schlüssel zum Wahren, kann jedes dieser ihrer Afterbilder als ein solcher zum Falschen dienen.

68. Wie die Summe der logischen Ideen zusammengenommen das Muster darstellt, dem das Wahre, so stellt die Summe der Gegentheile derselben das Schema dar, welchem ganz oder theilweise das Unwahre gleichen muss. Mit der Aufstellung beider, des Einen zur Nachahmung, des Andern zur Abschreckung für jedes Denken, das Wissen (Erkenntniss) werden will, ist das Geschäft der Logik als allgemeiner Wissenschaft von den normalen und anormalen Formen des Denkens (Denknormen) vollendet. [40]

[Inhalt]

ZWEITES CAPITEL.

Die ästhetischen Ideen.

69. Wie die logischen Ideen die (formalen) Normen enthalten, unter welchen beliebiger Denkinhalt zum wahren d. i. zum unbedingt d. h. von Jedermann und allezeit als solcher anerkannten Denkinhalt wird, so stellen die ästhetischen Ideen die Bedingungen dar, unter welchen beliebiger Vorstellungsinhalt zu schönem d. i. zum unbedingt d. h. von Jedermann und allezeit als solches anerkanntem Wohlgefälligen wird. Während dagegen die logischen Ideen auf ein jenseits des Denkinhalts Gelegenes d. i. auf ein Object hinweisen, auf welches derselbe bezogen wird, weisen die ästhetischen von dem dem Denkenden vorschwebenden Vorstellungsinhalte auf diesen als das Subject zurück, von welchem derselbe sei es mit Beifall oder mit Missfallen aufgenommen wird. Jenen, die auf ein Gewusstes d. h. einen dem Sein entsprechenden Denkinhalt ausgehen, ist es daher keineswegs, diesen dagegen, die blos auf ein Wohlgefälliges d. h. einen dem Denkenden genehmen Vorstellungsinhalt aus sind, aber völlig gleichgiltig, ob ein diesem Denk- oder Vorstellungsinhalt entsprechender Gegenstand jenseits oder nebst demselben thatsächlich vorhanden sei.

70. Der Unterschied beider Auffassungsweisen lässt sich durch das Verhältniss des Denkers und des Dichters zu ihren beiderseitigen Stoffen erläutern. Der Denker, er sei nun Philosoph oder Empiriker, hat ein Interesse daran, dass der Inhalt seiner, sei es philosophischen, sei es für Erfahrung gehaltenen Gedanken mit dem Inhalt, sei es der philosophischen, sei es der Erfahrungs- (naturgeschichtlichen oder historischen) Wahrheit sich decke, z. B. dass der Held seiner Gedanken dem Helden der Geschichte congruent sei. Der Dichter, er sei nun ein solcher in Farben, Tönen oder [41]Worten, hat nur ein Interesse daran, dass der Inhalt seiner Vorstellungs- (Farben-, Ton- oder poetischen) Welt wohlgefällig d. h. seiner eigenen, sowie den Anforderungen seiner Zuschauer-, Zuhörer- oder Lesewelt an ein ästhetisches Kunstwerk angemessen sei. Der Held seiner Tragödie braucht darum keineswegs mit dem (wenn auch gleichnamigen) Helden der Geschichte sich zu decken. Jener nimmt als Historiker an Richard III., Egmont, Wallenstein ein historisches, dieser als Dramatiker an denselben Persönlichkeiten nur ein dramatisches (ästhetisches) Interesse. Ersterem kommt es darauf an, seinen Helden zu schildern, wie er wirklich war, aus keinem anderen Grunde, als weil er so war; dieser begnügt sich denselben darzustellen, wie er seiner Charakteranlage nach nicht nur hätte sein können, sondern bei ungehemmter Entfaltung derselben unter den gegebenen Verhältnissen hätte sein müssen, aus keinem anderen Grunde, als weil die wirkliche Entfaltung eines Charakters nur die naturgesetzlich-nothwendige Folge seiner ursprünglichen psychischen Naturell- und Temperamentsanlage sein kann.

71. Verglichen mit dem wissenschaftlichen (theoretischen) Interesse an der Wahrheit und Wirklichkeit des Gedachten ist das ästhetische an der blossen Wohlgefälligkeit und Möglichkeit des Vorgestellten streng genommen kein Interesse. Der Poet oder überhaupt der Künstler scheint dem Forscher und Gelehrten interesselos, gleichgiltig, wie seinerseits wieder dieser gegen die künstlerische Abrundung und innere Geschlossenheit eines dem Reiche des blossen Scheins angehörigen Phantasiebildes kalt und theilnahmslos bleibt. Der ästhetisch Gestimmte nennt den um Wahrheit und Wirklichkeit seiner Gedanken besorgten Denker und Gelehrten einen Realisten und Prosamenschen; dieser den nur auf Schönheit und innere Vollendung bedachten Künstler einen Idealisten und phantastischen Schwärmer. Die Gedankenwelten beider sind durch eine tiefe Kluft getrennt, über welche gleichwohl die Unverbrüchlichkeit der logischen Ideen, ohne welche auch die wohlgefällige Gedankenwelt nicht möglich, durch welche allein aber weder die wirkliche noch irgend eine mögliche Welt wohlgefällig wird, eine ausgleichende Brücke spannt.

72. Aus dem Vorstehenden geht hervor, dass das Schöne (die ästhetische Vorstellungswelt) Schein, keineswegs aber folgt daraus, dass jeder Schein schön sei. So wenig zur Wahrheit eines beliebigen Denkinhalts genügt, dass derselbe Inhalt eines Denkens, so wenig reicht es zur Schönheit eines beliebigen Vorstellungsinhalts hin, dass derselbe Inhalt eines Vorstellens sei. Wie vom logischen Gesichtspunkt [42]aus weder kein noch jeder Denkinhalt wahr, so ist vom ästhetischen Gesichtspunkt aus weder kein noch jeder Schein schön; ästhetischer Dogmatismus und Skepticismus sind wie logischer Dogmatismus und Skepticismus gleichmässig abzuweisen. Und wie für die Logik daraus die Aufgabe erwächst, die Merkmale anzugeben, durch welche wahrer von falschem Denkinhalt, so erwächst für die Aesthetik die ihrige, die Kennzeichen festzustellen, durch welche schöner von unschönem (hässlichem) Schein sich unterscheidet.

73. Wie von derjenigen Logik, welche die Wahrheit in der Uebereinstimmung des Denkens mit dem Sein, also in einem materialen Kriterium findet, das Kennzeichen des wahren im Unterschied zum falschen Denkinhalt darin gefunden wird, dass durch denselben ein anderer, der Seinsinhalt, gedacht und zwar so gedacht wird, wie er wahrhaft ist: so wird von derjenigen Aesthetik, welche die Schönheit in der Uebereinstimmung der Idee mit der sinnlichen Erscheinung, also in einem materialen Kriterium findet, das Kennzeichen des schönen vor hässlichem Schein darin gefunden, dass durch jenen ein Anderes, nämlich die Idee hindurchscheint und zwar so hindurchscheint, wie sie wahrhaft ist. Dieselbe, die eben darum Gehaltsästhetik heisst, geht davon aus, dass das Schöne nicht sowohl Schein, als vielmehr Erscheinung eines hinter demselben befindlichen idealen Gehalts und daher nicht an sich und um seiner selbst willen, sondern mittelbar und um eines andern, des in demselben zur sinnlichen Erscheinung kommenden Gehalts willen schön sei. Dasselbe verhält sich dieser Auffassung zufolge zu dem in demselben erscheinenden um seiner selbst willen werthvollen Gehalt wie der Mond, der sein Licht von der Sonne empfängt, während diese im ureignen Lichte strahlt.

74. Das Schöne als sinnlicher Schein ist von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet nichts weiter als die sinnliche Hülle eines an sich unsinnlichen oder, wenn man will, übersinnlichen, sei es persönlich (wie in der theistischen Aesthetik: Carrière), sei es unpersönlich (wie in der pantheistischen Aesthetik: Vischer) gedachten Wesens, also im ersten Falle die sinnliche Erscheinung Gottes, im zweiten die sinnliche Erscheinung der logischen oder ethischen Idee. Ersterer Auffassung zufolge wäre sonach Schönheit überall dort, wo Gott, aber auch nur dort, wo dieser erscheint, letzterer Auffassung zufolge überall dort, wo die (sei es theoretische oder praktische) Vernunft, aber auch nur dort, wo diese erscheint. Wie das Schöne mit dem sinnlich erscheinenden Göttlichen, so fiele dessen Gegentheil, das Hässliche, mit dem gleichfalls sinnlich erscheinenden Un- [43]oder Widergöttlichen (dem Dämonischen oder Satanischen: Weisse) — zusammen; wie das Schöne mit der sinnlich erscheinenden Vernunft (dem Wahren und Guten), so fiele dessen Gegentheil mit der gleichfalls sinnlich erscheinenden Un- oder Widervernunft (dem A- oder Antilogischen, Unwahren, dem Un- oder Widersittlichen, dem Bösen) zusammen. Im ersten Falle erhielte das Schöne wesentlich religiösen, im letzteren dagegen einen im Wesen lehrhaften (didaktischen und moralischen) Charakter.

75. Folge des ersteren ist, dass die (religiöse) Gehalts-Aesthetik die Kunst der Religion unter-, Folge des letzteren ist, dass die (nichtreligiöse aber philosophische) Gehalts-Aesthetik die Philosophie der Kunst überordnet. Jene macht dieselbe zur Dienerin der Theologie, diese weist ihr den Beruf zu, die „Wahrheit im Bilde” (das Allgemeine im Besonderen: Allegorie, oder im Individuellen: Symbol) darzustellen.

76. Demzufolge hätte die Kunst keinen andern Zweck, als sich selbst überflüssig zu machen d. h. sich entweder in Religion oder in Philosophie, der schöne Schein keine andere Bestimmung, als sich, sobald irgend möglich, in übersinnliches Sein, sei es in das göttliche, sei es in das der Idee, aufzulösen. Die Sinnlichkeit, die nach Leibnitz nur eine „dunkle Vernunft” d. i. eine verworrene Erkenntniss (notio confusa) des Wahren ist, bildet nur die untergeordnete Vorstufe zur reinen Vernunft, welche als solche „klare” d. i. deutliche Erkenntniss (notio clara atque distincta) der Wahrheit ist. Die Vollkommenheit der ersteren, durch welche schon das niedere Erkenntnissvermögen in den Stand gesetzt wird, das Wahre und Gute, wenngleich nur sinnlich zu erkennen, bietet der schwachen, mit der irdischen Mangelhaftigkeit sinnlicher Leiblichkeit behafteten Menschennatur einen dürftigen Ersatz für die mangelnde Vollkommenheit reiner Vernunfterkenntniss, deren übermenschliche Wesen in höherem Grade, und die Gottheit, die aller Sinnlichkeit ledig ist, im höchsten Grade sich erfreuen. Dieselbe macht, wie die Sinnlichkeit den Unterschied des Menschen vom reinen Geistwesen, so gewissermassen einen Vorzug desselben vor diesem aus, indem der Mensch, der allein Sinnlichkeit besitzt, allein auch der Vollkommenheit derselben d. i. der Schönheit, fähig ist. Derselbe theilt, um mit Schiller zu reden, „sein Wissen” (die reine Vernunfterkenntniss) zwar „mit höheren Geistern”, die Kunst aber hat derselbe „allein”.

77. Wie das Schöne nach dieser Auffassung nur eine dem Wissen parallele Auffassung des Wahren und Guten, die Kunst nur eine der Wissenschaft parallele Darstellung von beiden, so ist die [44]Aesthetik als Wissenschaft von der Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntniss nach dieser zuerst von Baumgarten aufgebrachten, von den platonisirenden Aesthetikern des nachkantischen Idealismus (Schelling, Hegel und ihren Schulen) adoptirten Auffassung eine Paralleldisciplin der Logik als Wissenschaft von der Vollkommenheit der reinen Vernunft- und Verstandeserkenntniss. Indem sich dieselbe zur Aufgabe setzt, das niedere Erkenntnissvermögen, den Sinn, als Erkenntnissorgan zur Vollkommenheit zu bringen, steckt sich dieselbe ein Ziel, welches nachher die von Mill und Anderen sogenannte inductive Logik mit ungleich grösserem Recht und Erfolg sich vorgesetzt hat. Indem dieselbe das Schöne als sinnliche d. i. zugleich ver- und entschleiernde Hülle desselben Wahren und Guten betrachtet, von welchem die Wissenschaft durch Vernunft (Philosophie) die nackte und schleierlose Erkenntniss ist, setzt sie dasselbe zu einem Nothbehelf, zu einer Staarbrille herab, da das operirte Auge des Sehendgewordenen den selbst leuchtenden Glanz der Idee nicht aushält.

78. Weder Beliebigkeit des Gehalts, noch dessen an sich vorhandene Trefflichkeit, also überhaupt nicht Beschaffenheit des Gehalts macht den Schein zum Schönen. Ersteres nicht, weil sonst jeder Schein schön, das Zweite nicht, weil der Schein, um schön zu sein, aufhören müsste zu scheinen, das Dritte nicht, weil der Schein, wenn er Gehalt besässe, nicht Schein sondern Erscheinung wäre. Sehen wir aber beim Schein (Bild) von der Forderung eines hinter demselben verborgenen Gehaltes (Sinn) ab, so dass nur jener (das vorschwebende Bild) und der, dem er scheint (das Subject, dem das Bild vorschwebt), übrig bleibt, so kann, da nicht jeder Schein schön ist, der Grund, um deswillen einiger Schein schön ist, anderer nicht, nur entweder in der Beschaffenheit des Scheins als Schein, oder in der Desjenigen, dem er scheint (des ästhetischen Subjects) gefunden werden.

79. Ersterer Fall schliesst in sich, dass der schöne Schein als Schein gewisse Eigenschaften besitze, die dem nichtschönen abgehen; letzterer Fall erheischt, dass das ästhetische Subject, dem nur schöner Schein scheint, von demjenigen, dem auch unschöner vorschwebt, der Art nach verschieden, beziehungsweise das erstere vor dem letzteren bevorzugt, sozusagen ein ästhetisches „Sonntagskind” sei. Aus dem ersteren folgt, dass der Aesthetik die Aufgabe erwachse, die dem Schein als Schein nothwendigen Eigenschaften, um schön zu sein, aufzuspüren; aus dem letzteren folgt, dass es ein Mittel geben müsse, das wirkliche von dem vermeintlichen, entweder sich selbst betrogener- oder betrügerischerweise dafür ausgebenden [45]oder von Anderen fälschlicherweise dafür gehaltenen „Sonntagskind” d. h. das echte, geborene Genie (den künstlerischen Edelstein) von dem unechten, nachgemachten oder sich selbst dazu machenden Aftergenie (dem pierre-de-Strass der Kunst) zu unterscheiden.

80. Letzteres kann in nichts anderem bestehen, als in dem Nachweis, dass das einem gewissen Subject schön Scheinende wirklich schön d. h. dass das für ein ästhetisches Genie sich ausgebende oder dafür gehaltene Subject wirklich ein solches sei. Dieser Nachweis kann aber nicht dadurch geführt werden, dass der Ursprung des fraglichen Scheins aus diesem fraglichen Subject erwiesen wird, denn eben, ob dieses Subject als solches Genie sei, ist die Frage. Die Schönheit des dem genannten Subject vorschwebenden Scheins muss daher unabhängig von dessen Ursprung aus jenem Subject d. h. dieselbe kann nicht (historisch) durch den Hinweis auf den Ursprung, sondern sie muss (philosophisch) durch den Hinweis auf die Beschaffenheit des Scheins dargethan werden.

81. Nicht die Person des Gesetzgebers rechtfertigt das Gesetz; die Güte des Gesetzes bewährt vielmehr den Gesetzgeber. Ist diejenige Beschaffenheit, welche den Schein zum Schönen macht, an sich erkannt, so ist damit auch der Massstab zur Beurtheilung des Anspruchs des Subjects, dem er scheint, gegeben, für ein aesthetisches zu gelten: nicht umgekehrt. Wie diejenige Aesthetik, die den durch die sinnliche Hülle hindurchscheinenden Gehalt zum Massstab der Schönheit nimmt, didaktischen, so nimmt diejenige Form derselben, welche die Offenbarungen des wahren oder blos vermeintlichen Genius zur Norm für die Nachahmung erhebt, positiven (historischen) Charakter an. Jene bewundert das Schöne, weil es wahr oder gut, diese, weil es Product dieses oder jenes (mit Recht oder Unrecht) bewunderten Geistes ist. Der wahre Grund der Bewunderung des Schönen kann aber weder in dem Umstand, dass es Erscheinung eines Gehalts, noch in dem, dass es Schöpfung eines gewissen (Einzel-, Volks-, Zeit-) Geistes ist, sondern muss in dem Besitz derjenigen Eigenschaften gesucht werden, die es zum Schönen machen.

82. Weder die theologisirende, noch die metaphysicirende, am wenigsten die moralisirende Aesthetik, welche einen der Kunst fremden, und ebensowenig der ästhetische Positivismus oder Historismus, welcher eine einzelne positive oder geschichtlich gegebene Erscheinung der Kunst (z. B. die Antike oder die mittelalterliche Kunst) zum allgemein giltigen Massstab des Schönen erheben will, stellt die wahre Form dieser Wissenschaft dar. Diese [46]kann nur von der Betrachtung derjenigen Eigenschaften, welche das Schöne als Schein — abgesehen ebenso von dessen möglicher oder wirklicher Bedeutung für einen ausserhalb desselben gelegenen Gehalt, wie von dessen Ursprung aus einem schöpferischen Subject — an sich (objectiv) besitzt, ihren streng wissenschaftlichen Ausgang nehmen.

83. Aesthetik als Wissenschaft ist daher weder materiale, den Schein auf ein Sein beziehende, noch historische, den Schein seinem Ursprung nach erklärende, sondern wesentlich formale, den Schein als Schein behandelnde Wissenschaft. Da sich nun, wenn, wie gefordert, sowol von der Bedeutung, wie von dem Ursprung des Scheins abgesehen wird, an diesem nichts weiteres unterscheiden lässt, als wie derselbe und was an demselben scheint, so kann die dem Schein als Schein zugewandte Betrachtung wesentlich keine anderen als diese zwei Gesichtspunkte umfassen.

84. Ersterer, welcher das Wie d. i. die Lebendigkeit, Kraft, Energie, Reichthum, Fülle und Mannigfaltigkeit des Scheins oder deren Gegentheile ins Auge fasst, kann der Gesichtspunkt der Quantität, letzterer, welcher die Einheitlichkeit oder Gegensätzlichkeit, innere Uebereinstimmung oder Widerstreit des Scheins zum Objecte hat, der qualitative heissen. Jener umfasst das Verhältniss, in welchem das Quantum des vorschwebenden Scheins zu der aufnahmsfähigen Capacität des ästhetischen Subjects steht, letzterer begreift die Verhältnisse, in welchen entweder der vorschwebende Schein seinem Was nach zu einem ausserhalb desselben gelegenen Sein steht, oder, da nach dem Obigen von einem solchen hier abgesehen werden muss, diejenigen, in welchen die Theile des Scheins ihrem Was nach zu- und untereinander stehen. Nach dem ersteren wird der starke vom schwachen, der reiche vom dürftigen, der geordnete vom ordnungslosen Schein, nach diesem werden im Inhalt des Scheins gleiche und ungleiche, verträgliche und unverträgliche, harmonische und disharmonische Theile unterschieden.

85. In Bezug auf das Wie steht der starke d. i. mit einem hohen Grad von Lebhaftigkeit dem ästhetischen Subject vorschwebende Schein dem schwachen d. i. nur mit einem geringen Grad von Lebhaftigkeit im Bewusstsein vorhandenen; der reiche, einen grössern Raum im Bewusstsein mit mannigfaltigem Inhalt ausfüllende Schein dem dürftigen, mit einförmigem Inhalt erfüllten; der in sich zusammenhängende und geordnete dem zusammenhangslosem und in sich ordnungslosem Schein gegenüber: so dass je der [47]erstere, wenn von dem Was des Vorschwebenden abgesehen und nur das Wie des Vorschwebens im Auge behalten wird, vor dem letzteren — was den die Vorstellung des Scheins im Gemüth begleitenden Zusatz des Wohlgefallens oder Missfallens betrifft — den Vorzug hat. Wird lebhafterer Vorstellungsinhalt mit minder lebhaftem nur in Bezug auf den Grad der Lebhaftigkeit beider verglichen, so gefällt der erstere neben dem letzteren, missfällt der letztere neben dem ersteren unbedingt, welches auch immer der Inhalt des Vorschwebenden selbst oder die sonstige, individuelle Gemüths- und Geistesbeschaffenheit des Subjectes sei, dem er vorschwebt. Aus diesem Grunde gefällt die sinnliche Vorstellung mehr als die unsinnliche, das Bild mehr als der Begriff, die anschauliche Vorstellung mehr als die abgezogene, die concrete mehr als die abstracte; aber auch dasjenige, was „in kürzester Zeit die grösste Menge von Vorstellungen anregt” (worin Hemsterhuis und Goethe das Wesen des Schönen fanden) mehr als dasjenige, das in verhältnissmässig langem Zeitraum verhältnissmässig wenig Vorstellungen erzeugt, dasjenige, welches das Vorstellen in gesetzlicher und geregelter Weise beschäftigt, mehr als dasjenige, durch welche dasselbe in sprunghafte und verworrene Thätigkeit geräth.

86. Der Grund des Gefallens in dem einen, des Missfallens in dem anderen Falle liegt in der naturgesetzlichen Beschaffenheit des Bewusstseins. Wird das Vorstellen in eine seiner Natur angemessene Bethätigung versetzt, so entsteht ein Lust-, findet das Gegentheil statt, ein Unlustgefühl. Da nun die lebhafte d. i. mit einem höheren Grade von Intensität vorgestellte Vorstellung das Vorstellen in einem höheren Grade beschäftigt als dies bei der minder lebhaften d. i. mit einem geringeren Grade von Intensität vorgestellten Vorstellung der Fall ist, so dass die Differenz der Intensitätsgrade beider auf der Bewusstseinsscala sich wie die Differenz der Wärme-Intensitäten auf der Thermometerscala ablesen lässt, so folgt, dass das Vorstellen der lebhafteren von einem höheren, jenes der minderen Intensität von einem geringeren Lustgefühl begleitet sein muss, welches letztere, nur mit dem ersteren verglichen, als relatives Unlustgefühl sich herausstellt. Dasselbe muss bei dem reicheren und mannigfaltigeren verglichen mit dem dürftigeren und einförmigeren Vorgestellten der Fall sein, indem das erstere das Vorstellen nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ mehr beschäftigt als das letztere; und eben dies bei dem in sich zusammenhängenden und gesetzmässigen Vorgestellten im Gegensatze zu dem in sich [48]zerrissenen und lückenhaft Vorgestellten, indem das erstere das Vorstellen in einem naturgemässen und sich aus sich selbst entwickelnden Gange erhält, das letztere dasselbe durch seine Zusammenhanglosigkeit nöthigt, seinen Gang zu unterbrechen, sowie durch seine Sprunghaftigkeit, seine bisherige Richtung plötzlich und gewaltsam abzubrechen und eine neue durch nichts vorbereitete und vermittelte Richtung einzuschlagen. Von der Unlust, die das Bewusstsein durch den Mangel oder die Monotonie des Vorstellungsinhalts erleidet, gibt das Gefühl der Langenweile — von der Unlust, welche die gezwungene Unterbrechung oder das gewaltsame Abbrechen der bisherigen Vorstellungsreihe mit sich führt, gibt der Widerwille Zeugniss, den das Anhören eines zusammengewürfelten Vortrags oder das Auffassen einer regellosen Körpergestalt dem Vorstellenden einflösst.

87. Aus der Natur des Bewusstseins folgt es auch, dass weder der Intensitätsgrad, noch die Fülle des dem Vorstellen Dargebotenen eine gewisse äusserste Grenze der Leistungsfähigkeit desselben überschreiten darf. Das „nicht zu gross” und „nicht zu klein”, worin Aristoteles in seinem bekannten Beispiel von dem hundert Stadien langen Thiere das Wesen des Schönen findet, hat seine Geltung nicht sowol in Bezug auf die Grenzen des vorzustellenden Objects, als vielmehr auf jene des vorstellenden Bewusstseins. Was diese überschreitet, kann nicht mehr vorgestellt werden, so dass an die Stelle der wachsenden Lust, welche die steigende Bethätigung des Vorstellens nach sich zieht, die wachsende Qual des Bewusstseins tritt, welche das mit jedem neuen Ansatz sich steigernde Gefühl des Unvermögens vorzustellen, hervorruft. Auf der letzteren beruht das niederdrückende Gefühl, welches den Eindruck des Erhabenen d. i. eines solchen begleitet, dessen Vorstellung eine Entwicklung von vorstellender Kraft erheischt, welche weit über die Schranken jedes endlichen, also auch unseres eigenen Vorstellens, hinausreicht.

88. Wie das Vorstellen des Erhabenen, weil es den Vorstellenden an die Grenze seines Vermögens vorzustellen mahnt, von einem Unlust-, so ist die Vorstellung des Grossen, weil sie denselben seiner weitreichenden Fähigkeit vorzustellen innewerden lässt, von einem Lustgefühl begleitet. Denn da eine Grösse als Summe von Einheiten nicht anders vorgestellt werden kann, als indem diese Summe d. h. indem diese Einheiten nach einander vorgestellt werden, so ist bei jeder Vorstellung einer solchen die Bethätigung des Vorstellens, folglich die aus derselben folgende Lust um so grösser, je grösser jene Summe d. h. je zahlreicher die nach einander vorgestellten [49]Einheiten sind. Aus diesem Grunde gefällt das Grössere neben dem Kleineren, weil es dem Vorstellen mehr, missfällt das Kleinere neben dem Grösseren, weil es dem Vorstellen weniger Beschäftigung, jenes dem Vorstellenden mehr, dieses ihm minder Lust gewährt. Weil aber die Fähigkeit des Vorstellens in quantitativer Beziehung ihre Grenze, so hat auch das Grosse nach der einen, das Kleine nach der entgegengesetzten Richtung eine solche, jenseits welcher es vorstellbar zu sein, und folglich das eine zu gefallen, das andere zu missfallen aufhört. Das in schönen Verhältnissen gebaute Thier des Aristoteles hört, obgleich alle seine Proportionen dieselben bleiben, sobald es zu einer Länge von hundert Stadien ausgedehnt und zur Höhe eines Gebirges erwachsen vorgestellt werden soll, auf, übersehbar und folglich auch, schön zu sein.

89. Vom quantitativen Gesichtspunkt aus gilt daher für eine ästhetische d. i. eine unbedingt wohlgefällige Welt der Satz, dass (innerhalb der dem Bewusstsein gesteckten Grenzen des Vorstellens) das Grosse ohne Unterschied des Stoffs, in welchem, wie des Objects, an welchem dasselbe sich findet, unbedingt d. h. Jedermann und jederzeit gefalle, das Kleine (unter der gleichen Einschränkung) ebenso missfalle. Beides, das Lustgefühl, welches die Betrachtung des Grossen, wie das Unlustgefühl, welches die des Kleinen erweckt, sind reine Gefühle; das Gefühl, welches den Eindruck des Erhabenen begleitet, ist ein gemischtes Gefühl, indem es einerseits in Folge der oben geschilderten Unvorstellbarkeit des erhabenen Objects ein Unlust-, andererseits eben der jener Unvorstellbarkeit wegen vermutheten unendlichen d. i. jedes Mass überschreitenden Grösse des erhabenen Gegenstandes halber ein Lustgefühl enthält. Aus diesem Grunde bewundern wir das Erhabene, aus jenem Grunde verzweifeln wir an uns selbst; das Erhabene gefällt, indem wir selbst uns missfallen; jenes erscheint über jedes uns erreichbare Mass hinaus gross, während wir selbst ihm gegenüber uns über jedes denkbare Mass hinaus klein erscheinen.

90. Was den qualitativen Gesichtspunkt betrifft, so gilt der Satz, dass das Was des Scheins, da dasselbe ein ästhetisches sein soll, von einem beifälligen oder missfälligen Zusatz im Vorstellenden, da dasselbe ein schönes sein soll, von dem gleichen Zusatz in jedem Vorstellenden begleitet sein muss. Ohne das erste wäre das Vorgestellte dem Vorstellenden gleichgiltig; ohne das letztere wäre der Zusatz von einem Vorstellenden zum andern, ja in demselben Vorstellenden von Zeitpunkt zu Zeitpunkt veränderlich. Gleichgiltiger [50]Vorstellungsinhalt aber ist nicht ästhetisch; veränderliches d. i. vom Vorstellenden zum Vorstellenden oder im Vorstellenden selbst wechselndes Wohlgefallen oder Missfallen aber ist nicht unbedingtes d. h. allgemeines und nothwendiges Wohlgefallen oder Missfallen. Bei völlig gleichgiltigem Vorstellen wäre überhaupt keine Aesthetik, bei dem Mangel eines allgemeinen und nothwendigen Gefallens oder Missfallens d. h. bei der Abwesenheit einer allgemeinen und nothwendigen Norm für Gefallen und Missfallen aber doch keine Aesthetik als Wissenschaft möglich.

91. Das Was des ästhetisch Vorgestellten darf daher, da dessen begleitender Zusatz im Vorstellenden überall (d. h. in jedem Vorstellenden) und jederzeit (d. h. bei jeder Wiederholung seines Vorgestelltwerdens) derselbe sein soll, nicht als Ziel und Inhalt eines Begehrens (Begierde, Wunsch, Wollen) vorgestellt werden. Denn da alles, was überhaupt begehrt wird, sobald dieses Begehren Befriedigung erlangt, ein Lustgefühl nach sich zieht, so würde, wenn der Zusatz des Gefallens eines gewissen Vorstellungsinhalts blos von dem Umstände abhinge, dass dessen Vorgestelltes begehrt wird, überhaupt jeder beliebige Vorstellungsinhalt ohne Unterschied gefallen, weil und so lange, sowie demjenigen, von dem er begehrt wird. Und da sich in keiner Weise vorhersagen lässt, was unter gewissen Umständen Object eines gewissen Begehrens werden könne, da überhaupt jede gegen Hemmnisse im Bewusstsein aufstrebende Vorstellung Sitz eines (bisweilen sehr heftigen) Begehrens werden kann, so wäre es ebenso unmöglich, vorherzusagen, ob und welcher Vorstellungsinhalt, sowie wem er unter Umständen gefallen werde, woraus der Spruch, dass sich über den Geschmack nicht streiten lasse, entstanden ist.

92. Nicht alles Gefallende wird begehrt, aber alles, wodurch ein Begehren befriedigt wird, gefällt. Das höchste und reinste Gefallen ist dasjenige, welches durch keinerlei Beisatz eines (sinnlichen oder idealen) Begehrens getrübt, verunreinigt oder auch nur von einem solchen begleitet wird; „die Sterne, die begehrt man nicht”. Das Gefallen, das nur unter Voraussetzung eines Begehrtwerdens entspringt, bleibt dagegen aus, wenn das letztere mangelt. Ein allgemeiner und nothwendiger Zusatz von Gefallen oder Missfallen kann aus dem zufälligen und individuellen (bestenfalls particulären) Umstand des Begehrt- oder Verabscheutwerdens nicht abgeleitet werden. Das nur bedingt d. h. unter Voraussetzung einer Begierde Wohlgefällige d. h. das nur subjectiv Angenehme, oder, da alles, was [51]als Gegenstand einer Begierde oder als Mittel zu deren Befriedigung gilt, dem Begehrenden nützlich, dessen Gegentheil schädlich scheint, das Nützliche ist kein Gegenstand der Aesthetik.

93. Aber auch das nicht subjectiv sondern objectiv d. h. ohne Voraussetzung eines Begehrtwerdens Angenehme ist als solches noch nicht ein Gegenstand der Aesthetik. Denn zu dieser, damit sie Wissenschaft sei, ist erforderlich, dass sich das Aesthetische d. h. das von einem beifälligen oder missfälligen Zusatz unbedingt (bei Allen und in allen Fällen) Begleitete nicht blos fühlen (d. h. dunkel), sondern wissen (d. h. klar und deutlich vorstellen und in Worten aussprechen) lasse. Das Angenehme aber hat die Eigenschaft, dass dessen Inhalt mit dem begleitenden Zusatz (dem Lustgefühl) ununterscheidbar zusammenrinnt, wie das Gleiche auch bei dessen Gegentheil, dem Unangenehmen mit der dieses begleitenden Unlust (dem Schmerzgefühl) der Fall ist. Das Angenehme der einzelnen Ton- oder Lichtempfindung lässt sich nicht definiren, der Sitz und der Grund des Schmerzgefühls (Kopf-, Zahnschmerz) sich aus diesem nicht herauslesen. Der Inhalt des objectiv d. h. aus dem Vorgestellten selbst, nicht aus der subjectiven Gemüthslage des Vorstellenden entspringenden Lust- oder Schmerzgefühls ist zwar unbedingt, aber nicht wissbar, also kein Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntniss.

94. Während sonach das einzelne Angenehme oder Unangenehme zwar Gegenstand eines Lust- oder Unlustgefühls, von diesem selbst gesondert aber nicht vorstellbar ist, sind die zwei oder mehreren Vorstellungen, aus deren gegenseitiger Beziehung oder Verhalten (ratio) ein auf dieses bezügliches und die Beschaffenheit desselben zum Ausdruck bringendes Lust- oder Unlustgefühl entspringt, sehr wol jede für sich und von jenem Gefühl abgesondert angebbar. In jenem Fall ist das Gefühl ein solches, das aus der Beziehung eines gewissen Vorstellungsinhalts (z. B. einer Ton- oder Farbenempfindung) zum vorstellenden Subject, in diesem Fall ein solches, das aus der Beziehung zweier oder mehrerer Vorstellungen (z. B. Ton- oder Farbenempfindungen) zu und auf einander im Vorstellenden entspringt. Dass jener einzelne Ton oder die einzelne Farbe gefalle oder missfalle, hängt daher wesentlich von der augenblicklichen oder habituellen Beschaffenheit des vorstellenden Subjects, dass das Verhältniss der zwei oder mehreren Töne oder Farben gefalle oder missfalle, dagegen ausschliesslich von der an sich unveränderlichen und immer sich gleich bleibenden Inhaltsbeschaffenheit dieser letzteren selbst ab. Da die Beschaffenheit des Subjects [52]nun von Individuum zu Individuum eine andere ist, so kann folgerichtig das mit von derselben abhängige Gefühl von Einem zum Andern ein anderes d. h. derselbe Ton, dieselbe Farbe kann dem Einen angenehm, dem Anderen unangenehm sein. Den Beleg dafür bieten die sogenannten Idiosynkrasien (z. B. Mozart’s Abneigung gegen den Trompetenton, Cäsar’s und Wallenstein’s Widerwillen gegen den Hahnschrei, die Vorliebe gewisser Individuen oder ganzer Völker für gewisse Klangfarben, Tonlagen, Farbentöne und Beleuchtungseffecte). Wirkungen dieser und ähnlicher Art, die oft zu den stärksten gehören (Klang- und Lichteffecte) sind daher wesentlich pathologischer, durch die physische und psychische Beschaffenheit des vorstellenden Subjects bedingter, keineswegs ästhetischer, von der Beschaffenheit des Vorgestellten (dem Inhalt der Vorstellungen als Object des Vorstellens) abhängiger Natur. Die durch dieselben hervorgerufenen Gefühle können, insofern die sie verursachenden Vorstellungen nicht in Beziehung stehend zu anderen d. i. nicht als Glieder eines Verhältnisses gedacht werden, wol aber an sich in ein Verhältniss zu anderen treten d. h. als Stoff (Material) zu einem solchen dienen können, materiale oder Stoffgefühle; diejenigen Gefühle, welche sich auf das Verhältniss zweier oder mehrerer Vorstellungen d. i. auf die Verbindung derselben zu und unter einander, also auf deren Form beziehen, müssen dann formelle oder Formgefühle heissen.

95. Nur die letzteren bilden die Grundlage der Aesthetik als Wissenschaft. Da die Verhältnisse zweier oder mehrerer Vorstellungen zu einander, insofern sie nur von deren Inhalt abhängen, so lange dieser Inhalt derselbe bleibt, immer dieselben sein müssen; da ferner die oben bezeichneten Formgefühle nichts anderes als die sich mit ihren Ursachen deckenden Effecte jener Verhältnisse im Bewusstsein sind, so folgt, dass dieselben Verhältnisse auch allezeit und in Jedermann dieselben Gefühle zur Folge haben werden d. h. dass die zwischen gewissen Vorstellungen ein für allemal ihrem Inhalt nach bestehenden Beziehungen allezeit und bei Jedermann von demselben Zusatz des Wohlgefallens oder Missfallens begleitet d. h. objective d. i. unbedingt wohlgefällige oder missfällige Formen sein werden. Von dieser Art ist z. B. das nur von dem Inhalt der beiden Töne, des Grundtons und der Quinte, abhängige und als solches unbedingt wohlgefällige Quintenintervall; ein solches die nur von der Beschaffenheit der beiden Farben, Roth und Grün, abhängige harmonische Farbenterz; ein solches endlich der nur von [53]dem Verhältniss der beiden verglichenen Gedanken, des unbildlichen und des bildlichen, abhängige Gedankenaccord der Metapher.

96. Verbindungen derartiger beharrender Verhältnisse zwischen Vorstellungen mit den aus denselben entspringenden und daher ihrer Entstehung nach an deren Vorhandensein im Bewusstsein gebundenen (fixen) Formgefühlen werden, da sich die ersteren (die Verhältnisse) abgesondert von den letzteren (den Formgefühlen) für sich vorstellen lassen, also das Gefühlte mit dem Gefühl nicht in Eins zusammenfliesst, nicht mehr blos ästhetische Gefühle, sondern ästhetische Urtheile genannt. Das Subject derselben wird durch das zwischen den Vorstellungen herrschende Verhältniss (z. B. die Harmonie), das Prädicat derselben durch das darauf bezügliche Gefühl (z. B. die Wohlgefälligkeit) gebildet. Das Urtheil lautet in diesem Fall: die Harmonie zwischen a und b (d. i. den beiden im Verhältniss der Harmonie stehenden Tönen) gefällt. Die logische Natur dieser Urtheile besteht darin, dass der Umfang des Subjects und der Umfang des Prädicats unter einander congruent d. h. dass, so oft das Verhältniss der Harmonie, eben so oft auch das Wohlgefallen vorhanden ist. Dieselben sind daher, da ihre Subjects- und ihre Prädicatsvorstellung verschiedenen Inhalt, aber denselben Umfang haben, nach der logischen Idee der Aequipollenz identische, also unfehlbare Urtheile, und ihre Geltung d. h. die Behauptung, dass ein gewisses Verhältniss (z. B. die Harmonie) gefalle, unbedingt d. i. eben so allgemein als nothwendig.

97. Das Was des ästhetischen Scheins, wenn derselbe schön d. h. unbedingt wohlgefällig sein soll, kann daher niemals weder der Inhalt einer blossen Begierde, noch eine vereinzelte Vorstellung, sondern muss immer ein Verhältniss zwischen mehreren d. h. dasselbe muss stets ein zusammengesetztes aus einer Mannigfaltigkeit von Theilen, welche selbst wieder Vorstellungen sind, bestehendes Ganze sein. Da nun zwischen Vorstellungen, welche nicht verwandten, d. i. disparaten Inhalts sind, zwar ein Verhältniss, eben das der Disparatheit, stattfindet, dieses aber, da die beiden Vorstellungen keine innere Beziehung auf einander haben, im Bewusstsein keinerlei auf sich bezügliches Gefühl erzeugt (weder Lust noch Schmerz erweckt), also ästhetisch indifferent d. h. dem Vorstellenden gleichgiltig ist, so kann das Was des schönen Scheins nur ein Verhältniss zwischen verwandten d. h. entweder ganz oder theilweise identischen, oder entgegengesetzten Vorstellungen d. h. es muss selbst entweder [54]die (ganze oder theilweise) Identität oder der Gegensatz der Vorstellungen sein.

98. In qualitativer Hinsicht ergeben sich daher für das Was des schönen Scheins folgende Möglichkeiten: entweder das Verhältniss zwischen den Theilen des Scheins, die selbst wieder Vorstellungen sind, ist das der völligen Identität, so dass beide dem Inhalte nach nicht, und da an dieser Stelle von der Intensität des Vorgestelltwerdens abgesehen wird, auch nicht durch dessen grössere oder geringere Lebhaftigkeit sich von einander unterscheiden, folglich eins und dasselbe und daher nach dem principium identitatis indiscernibilium eine und dieselbe Vorstellung sind. In diesem Falle findet zwar im strengsten Sinn Identität, aber kein Verhältniss zwischen den beiden statt, da zu jedem solchen zwei Glieder gehören, jene beiden Vorstellungen aber nur ein einziges ausmachen. Das Verhältniss der Identität kann daher, wenn ästhetisch, nur eines der theilweisen Identität sein.

99. Letztere, da sie darin besteht, dass beide Theile einen Theil ihres Inhalts mit einander gemein haben, während der Ueberrest, da beide Theile inhaltsverwandt sind, gegenseitig nicht im Verhältniss der blossen Disparatheit stehen kann, sondern in jenem des Gegensatzes d. h. der gegenseitigen Ausschliessung bestehen muss, kann nun entweder so beschaffen sein, dass das Gemeinsame das Gegensätzliche oder dieses jenes überwiegt, oder dass beides sich gegenseitig gleichschwebend erhält. Letzterer Fall bringt, da das Identische sowie das Gegensätzliche in beiden das nämliche, also abermals kein Verhältniss zwischen mehreren, sondern nur eins und das nämliche (nicht zweimal, sondern ein einzigesmal) vorhanden ist, eben so wenig wie die strenge Identität ein wirkliches Verhältniss, sondern nur den Schein eines solchen hervor und muss daher ebenso wie jene aus der Betrachtung gelassen werden.

100. Die überwiegende Identität kann nun entweder eine einseitige oder eine gegenseitige sein. Im ersten Falle findet der Inhalt des einen Gliedes sich ganz im Inhalt des zweiten, aber nicht umgekehrt dieser in jenem wieder. Im zweiten Fall enthält der Inhalt jedes der beiden Glieder etwas, das ihm mit dem Inhalt des andern gemeinsam, während der Rest des einen dem Reste des andern entgegengesetzt ist. Beide Glieder des Verhältnisses verhalten sich so, dass im ersten Fall eines das andere, aber nicht umgekehrt, im zweiten Fall dagegen jedes das andere abbildet. Und zwar verhält sich im ersten Fall dasjenige Glied, welches im andern [55]ganz, in welchem aber das andere nur zum Theile enthalten ist, zu diesem anderen wie das Nachbild zum Vorbild, die Copie zum Original, wie denn auch das getreueste Porträt selbst dann, wenn es alle Züge der Individualität auf das genaueste ausprägt, hinter dieser noch um das Merkmal der wirklichen Belebtheit zurücksteht. Im zweiten Fall dagegen stellen beide Glieder dem Inhalt nach Unterarten eines dritten, des beide verknüpfenden Gemeinsamen (tertium comparationis) dar, zu welchem jedes derselben im Verhältnisse des Vorbildes zum Nachbilde steht.

101. Ausdruck der überwiegenden, sei es einseitigen, sei es gegenseitigen Identität im Bewusstsein ist ein Lust-, wie jener des überwiegenden Gegensatzes ein Unlustgefühl. Ersteres entsteht, indem die gleichzeitig im Bewusstsein vorhandenen Vorstellungen des in ihnen enthaltenen Identischen halber mit einander zu verschmelzen, letzteres, indem dieselben des in ihnen enthaltenen Gegensatzes halber sich von einander gesondert zu halten streben. Jenes wie dieses Streben ist der Ausdruck eines psychischen Naturgesetzes, kraft dessen ihrem Inhalt nach ähnliche Vorstellungen einander zu verstärken, ihrem Inhalt nach entgegengesetzte einander gegenseitig zu hemmen gezwungen sind. Wenn daher in dem Inhalt zweier im Bewusstsein gleichzeitig vorhandenen Vorstellungen das Identische das Gegensätzliche überwiegt, so gewinnt auch das Streben nach Vereinigung beider durch Verschmelzung naturgemäss die Oberhand über das Streben nach Trennung beider durch Hemmung d. h. die Verschmelzung wird erleichtert; überwiegt dagegen das Gegensätzliche das Identische, so gewinnt das Streben nach Auseinanderhaltung Oberwasser, die Verschmelzung wird erschwert oder gänzlich gehindert. Ausdruck der Erleichterung wird das Lust-, jener der Erschwerung das Unlustgefühl.

102. Den empirischen Beweis für die vorstehende Erklärung liefert die Thatsache der Wohlgefälligkeit harmonischer d. i. solcher Ton- und Farbenverhältnisse, deren Glieder überwiegend identisch, sowie der Missfälligkeit solcher, deren Glieder überwiegend entgegengesetzt sind. Seitdem durch die physiologischen Theorien des Sehens wie des Hörens (von Helmholtz, Young u. A.) erwiesen ist, dass die früher (z. B. von Herbart) sogenannten einfachen Sinnesempfindungen als Elemente des Bewusstseins keineswegs einfach, sondern selbst aus einer Summe gleichzeitig vernommener elementarer Sinneseindrücke zusammengesetzt sind, handelt es sich bei dem Verhältniss zwischen solchen, wie es die Ton- und Farbenintervalle [56]sind, nicht mehr um eine Beziehung zwischen einfachen (theillosen), sondern zwischen zusammengesetzten (aus Theilen bestehenden) Gliedern. Während es, wenn die Glieder eines (harmonischen oder disharmonischen) Ton- oder Farbenverhältnisses einfache sind, schlechthin unerklärlich bleibt, warum dieselben gefallen oder missfallen, wird die Begründung dieser empirischen Thatsache unter der Voraussetzung, dass jene Glieder aus Theilen bestehen, dadurch ermöglicht, dass gewisse (mehr oder minder zahlreiche) dieser Theile in beiden Gliedern dieselben seien. Ueberwiegt die Anzahl der beiden gemeinsamen Bestandtheile jene der in beiden einander entgegengesetzten, so muss ein wohlgefälliges, findet das Gegentheil statt, ein missfallendes Verhältniss sich ergeben.

103. Die Theorie der Obertöne in der Musik (Helmholtz), jene der gleichzeitigen Erregung der complementären Farben in der Optik (Young, Hering u. A.) gibt das Beispiel her. Da jeder Ton, der gehört, d. i. mittels des Ohres empfunden wird, kein abstracter, sondern ein concreter d. i. mittels eines gewissen Instruments, als welches auch das menschliche Stimmorgan gelten muss, hervorgebrachter ist und als solcher eine charakteristische, von der Beschaffenheit der Tonquelle herrührende Färbung, die sogenannte Klangfarbe, besitzen muss, so wird mit jedem empfundenen Ton nothwendig zugleich dessen Klangfarbe d. i. die denselben begleitende Wirkung der specifischen Natur des ihn erzeugenden Organs vernommen. Helmholtz nun hat gezeigt, dass die Wirkung, die wir Klangfarbe nennen, nichts anderes sei, als die Summe gewisser, jeden durch irgend eine Tonquelle erzeugten abstracten Ton (Grundton) begleitenden secundären Töne (Obertöne), deren akustischer Werth und numerische Menge je nach der Art der Tonquelle verschieden, z. B. bei dem Geigenton eine andere als bei dem Clavierton, bei der Alt- eine andere als bei der Sopranstimme u. s. w. ist. Werden daher gleichzeitig verschiedene Töne, deren jeder seine Klangfarbe besitzt, vernommen d. h. werden statt zweier abstracter Tonempfindungen zwei Summen von Tonempfindungen vernommen, deren jede aus der Empfindung des Grundtons und den Empfindungen seiner Obertöne zusammengesetzt ist, so kann nur zweierlei stattfinden: entweder beide Summen der Empfindungen haben nicht nur gemeinschaftliche, sondern so viele gemeinschaftliche Bestandtheile, dass im Gesammteindruck der Eindruck der identischen Tonempfindungen jenen der entgegengesetzten Tonempfindungen überwiegt, oder dieselben haben gar keine oder so wenig Tonempfindungen [57]gemein, dass im Gesammteindruck der Eindruck der identischen gegen den der nicht-identischen Tonempfindungen (d. i. solcher, deren Töne nicht zusammenfallen, Schwebungen) verschwindet. Im ersten Fall consoniren, im zweiten dissoniren die Töne.

104. Consonanz (Harmonie) und Dissonanz (Disharmonie) der Tonempfindungen hängt demzufolge von deren überwiegender Identität oder dem Gegensatz des Inhalts derselben ab. Da nun bei den Farbenempfindungen das Analoge stattfindet, indem eben so wenig wie der abstracte Ton, die abstracte Farbe empfunden wird, so lässt sich vermuthen, dass auch zwischen der Begründung der Farben- und jener der Tonharmonie Analogie sich einstellen werde. Jede empfundene Farbe ist eine concrete, die unter dem Einfluss einer specifischen dieselbe bedingenden Lichtquelle (z. B. des Sonnenlichts, des Mondlichts, des Kerzen- oder Lampenlichts) entstanden ist und die Spur dieser letzteren in einer charakteristischen Eigenthümlichkeit, dem sogenannten Farbenton, errathen lässt. Jede Farbenempfindung aber ist zugleich, physiologisch betrachtet, keine vereinzelte, sondern das gleichzeitige Resultat der gleichzeitigen Erregungen des Sehorgans durch das dieses letztere berührende Licht, so dass gleichzeitig alle in dem letzteren enthaltenen Farben des Spectrums in jenem angeregt und in Folge dessen empfunden werden. Ist z. B. das auffallende Licht Sonnenlicht, in welchem als Grundfarben Roth, Gelb und Blau (oder nach Andern Grün, Roth und Violet) enthalten sind, so werden im Auge jedesmal die jenen dreierlei Lichtreizen entsprechenden Vorgänge zugleich erregt und daher auch in Folge dessen alle drei Farben zugleich empfunden. Der Unterschied, dass in dem einen Fall die Empfindung als Roth, in dem andern als Blau bezeichnet wird, obgleich in dem ersteren neben dem Roth nothwendig auch Blau und Gelb, also Grün — in dem letzteren Falle neben dem Blau auch Roth und Gelb, also Orange empfunden worden sein musste, liegt nur darin, dass in dem einen Fall der rothe Lichtreiz den blauen und gelben, in dem andern Fall der blaue Lichtreiz den rothen und gelben, und folglich sowol der Erregungszustand des Auges, in welchen dasselbe durch rothes und blaues Licht versetzt ward, die anderen gleichzeitigen Erregungszustände, wie die Empfindung Roth und Blau, welche durch jenen Erregungszustand hervorgerufen ward, die anderen mit ihr gleichzeitigen Empfindungen an Intensität übertraf, letztere also durch jene in latenten Zustand versetzt, d. i. für das Bewusstsein verdunkelt wurden. Dass dieselben ihrer [58]Latenz ungeachtet thatsächlich vorhanden waren, beweisen die von Goethe und Purkyně sogenannten subjectiven Farbenerscheinungen d. i. das Hervortreten des complementären Farbenbildes, nachdem durch längeres Anhalten des ursprünglichen das Auge für den bezüglichen Farbenreiz abgestumpft worden ist. Die stärkste unter den gleichzeitigen Farbenempfindungen, nach welcher a potiori die Benennung derselben erfolgt, z. B. in obigen Fällen die Empfindung Roth und die Empfindung Blau, können nach Analogie der Grundtöne als Grundfarben, die der gleichzeitigen, aber durch sie in den Hintergrund gedrängten Lichtreize können nach Analogie der Obertöne als Oberfarben (Nebenfarben) bezeichnet werden. Letztere machen zusammen, wie obige Beispiele zeigen, stets die Empfindung der complementären Farbe aus (Grün, wenn als Grundfarbe Roth, Orange, wenn als Grundfarbe Blau empfunden wird) und die Nuance, welche die Empfindung des Rothen dadurch empfängt, dass mit ihr zugleich mehr oder weniger latent nothwendig Grün empfunden werden muss, kann, wenn die Beimischung einen erheblichen Grad erreicht, als Farbenstich, und zwar des Rothen entweder in’s Grüne als ganze, oder in’s Blaue oder Gelbe als Bestandtheile der grünen Mischfarbe charakterisirt werden.

105. Treten daher unter Voraussetzung derselben Lichtquelle zwei Farbenempfindungen gleichzeitig oder nach einander in’s Bewusstsein, so ist jede derselben nicht einfach, sondern zusammengesetzt, und zwar aus der Empfindung der Grundfarbe und jener der Oberfarbe; trifft es sich nun, dass diejenige Farbe, die in der einen derselben Grundfarbe, in der anderen Oberfarbe ist, so sind beide Farbenempfindungen ihrem Inhalt nach überwiegend identisch, wie dies bei der Farbenverbindung Roth (dessen Nebenfarbe Grün) und Grün (dessen Nebenfarbe Roth ist) und ebenso bei der Verbindung Blau (dessen Nebenfarbe Orange) und Orange (dessen Nebenfarbe Blau ist), dagegen nicht bei der Verbindung Roth (dessen Nebenfarbe Grün) und Blau (dessen Nebenfarbe Orange ist) thatsächlich der Fall ist. Verbindungen ersterer Art können daher harmonische (Farbenconsonanzen), Verbindungen nicht complementärer Farben müssen disharmonische (Farbendissonanzen) heissen.

106. Die Analogien zwischen harmonischen Ton- und dergleichen Farbenverbindungen sind unter Anderen von Unger weiter ausgeführt worden. Wie unter den ersteren Terz, Quint und Octave als Consonanzen, Secunde, verminderte Quart und Septime als Dissonanzen, so werden von ihm unter den letzteren die Terz als [59]harmonische, die Secunde als disharmonische Farbenintervalle unterschieden. Dem musikalischen Accord als harmonischer Verbindung dreier Töne (Dreiklang) wird der Farbenaccord als harmonische Verbindung dreier Farben (Dreischein), der Vervielfältigung der Tonscala durch Erhöhung und Vertiefung der Töne eine ebensolche der Farbenleiter durch Erhöhung und Verminderung der Lichtstärke, der Unterscheidung von Klangfarben und Tongeschlechtern nach Ton- eine ebensolche von Farbentönen und Farbengeschlechtern nach Lichtquellen etc. zur Seite gesetzt.

107. Wie die Consonanz auf überwiegender Identität, so beruht deren Gegentheil auf überwiegendem Gegensatz. Wie die leicht und anstandslos vor sich gehende oder allen Hemmnissen zum Trotz durchgesetzte Verschmelzung überwiegend identischer Vorstellungen ein in dem letztgenannten Fall noch beträchtlich gesteigertes Lustgefühl, so lässt der alles Bemühens, Entgegengesetztes zu vereinigen, ungeachtet immer wiederkehrende Misserfolg, der durch den als unüberwindliches Hemmniss sich herausstellenden Gegensatz herbeigeführt wird, ein nachgerade bis zur Unerträglichkeit sich steigerndes Gefühl der Unbefriedigung zurück. Die theilweise gleichen, aber überwiegend entgegengesetzten Vorstellungen werden durch das in ihnen enthaltene Gleiche immer wieder zu einander gezogen, durch das gleichfalls in ihnen enthaltene Entgegengesetzte, welches letztere überwiegt, aber unaufhörlich aus einander gehalten. Dieses bewirkt, dass sie nicht eins werden, jenes verursacht, dass sie trotzdem nicht von einander loskommen können. Dieses gleichzeitige sich Suchen und sich Fliehen, sich Festhalten und sich Verdrängen der Gegensätze bringt im Gemüth eine Ixionsartige Unruhe hervor, deren Bestand auf die Dauer für den Vorstellenden unhaltbar wird.

108. Folge davon ist, dass derselbe obigen Zustand zu beseitigen sich entschliesst. Da dieser aber auf der gegensätzlichen Beschaffenheit des Inhalts und der in Folge dessen sich schlechterdings unter einander ausschliessenden Natur der gleichzeitig im Bewusstsein vorhandenen Vorstellungen beruht, folglich so lange fortwähren muss, als jener Inhalt derselbe bleibt, so kann obige Qual auf keine andere Weise beschwichtigt werden, als indem an die Stelle der gegenwärtig im Bewusstsein vorhandenen und demselben als mit einander unverträgliche gleichzeitig vorschwebenden Vorstellungen andere unter einander verträgliche entweder zufällig (etwa durch Versetzung in eine andere Umgebung, welche andere Vorstellungen [60]bringt) treten, oder absichtlich (etwa durch freiwilligen Entschluss, den gegenwärtigen durch einen beliebigen anderen künstlich festgehaltenen Vorstellungsinhalt zu ersetzen) an deren Stelle geschoben werden. In beiden Fällen wird die Qual, die aus dem gleichzeitigen Vorhandensein unverträglicher Gedanken entsteht, allerdings beseitigt, aber im ersten Fall, da nur ein Zufall das Verschwinden der unverträglichen Vorstellungen aus dem Bewusstsein veranlasst hat, nur auf so lange, als nicht ein neuerlicher Zufall die Rückkehr derselben in das Bewusstsein herbeiführt, im zweiten Fall nur für den, der jenen Entschluss gefasst, sein inneres Auge gewaltsam gegen die wirklich im Bewusstsein gegenwärtigen Vorstellungen verschlossen und an die Stelle derselben künstlich andere eingeführt hat, und nur auf so lange, als er diesen Willen selbst oder die Kraft hat, denselben ins Werk zu setzen. Die auf solchem Wege herbeigeführte Beseitigung der Qual ist daher keine natürliche und, weil aus der innern Natur der im Bewusstsein vorhandenen Vorstellungen entsprungen, Dauer verheissende, sondern dieselbe findet gleichsam „auf Kündigung” statt d. h. mit dem Vorbehalt, dass, sobald die durch den Zufall oder durch den Willen des Vorstellenden gezogene künstliche Schranke einmal, wie immer, aufhöre, die ursprünglichen, nicht vernichteten, sondern nur in Latenz versetzten unverträglichen Vorstellungen wieder emportauchen und dadurch die alten Wunden von neuem bluten werden.

109. Ein Beispiel einer solchen, und zwar durch den Zufall beseitigten Qual innerlich vorhandener Gegensätze bietet die Heilung eines zerrissenen Gemüths durch die Abwechslung, Zerstreuung und den überwältigenden Eindruck, welchen Reisen, Geselligkeit und erhabene Gebirgsnatur in diesem herbeiführen. Ein Beispiel einer durch freiwilligen Entschluss „auf Zeit” bewirkten Unterdrückung der Unruhe, die das Bewusstsein eines widerspruchsvollen Verhältnisses erzeugt, bietet die Resignation, mit welcher der in einer sogenannten „Vernunftheirat” Befangene den Gegensatz zwischen der ersehnten und der thatsächlichen Beschaffenheit seiner Beziehungen zum anderen Theil erträgt. In beiden Fällen findet Beschwichtigung wirklich statt, aber im ersteren nur auf zufällige Weise, so dass mit der Rückkehr in die frühere Umgebung auch das frühere Gefühl des Unglücks wiederkehrt; in dem letztern nur auf künstliche Weise, so dass mit dem Schwach- oder Schwankendwerden des Entschlusses auch das volle Gefühl des lastenden Widerspruchs erneuert wird. Das gefundene Gleichgewicht ist labil, nicht stabil. [61]

110. Ein unerträglicher Zustand, das gleichzeitige Vorhandensein sich unter einander ausschliessender Vorstellungen im Bewusstsein, ist beseitigt; aber ein anderer, gleich unerträglicher, ist an dessen Stelle getreten. War der frühere Zustand Unruhe, so ist der jetzige vergleichsweise allerdings Ruhe; diese selbst aber ist nichts weiter als verhüllte Unruhe. Nicht wirkliche Ruhe, sondern der Schein der Ruhe ist an die Stelle der, obgleich latent, immer noch währenden Unruhe getreten; der ursprüngliche Zustand schlummert gleichsam unter dem künstlich geschaffenen Boden fort und harrt des Moments, wo er wieder hervorbrechen, den künstlich übergeworfenen Schleier zerreissen, den ursprünglich dagewesenen, niemals vernichteten, sondern nur äusserlich niedergehaltenen Zustand wieder herstellen kann.

111. Von dieser Sachlage gilt, dass Schein, der sich für Sein gibt, auf die Dauer unhaltbar sei, und zwar gleichviel, ob der wirklich vorhandene Zustand im Bewusstsein, an dessen Stelle künstlich ein anderer gesetzt worden ist, ein an sich missfälliger oder ein beifälliger, das Zugleichsein einander ausschliessender oder ein solches mit einander übereinstimmender Vorstellungen sei. Denn nicht darin besteht die Unerträglichkeit, dass an die Stelle eines unerträglichen Zustandes ein erträglicher getreten ist, sondern darin, dass an die Stelle des wirklich, wenngleich latent, vorhandenen, ein scheinbar d. i. nur zum Scheine, vorhandener gesetzt worden ist. Das Unlustgefühl, das sich an das Vorhandensein zweier einander ausschliessender Vorstellungen im Bewusstsein knüpft, ist verschieden von demjenigen, welches dem Umstande gilt, dass Schein für Sein, ein unwahrer an die Stelle des wahren, ein gemachter an jene des gegebenen Zustandes eingetreten ist. Wenn das erstere aufhört, sobald die einander ausschliessenden Vorstellungen entweder aufhören einander auszuschliessen, oder gänzlich aus dem Bewusstsein geschwunden sind, so schwindet das letztere nicht eher, als bis der widernatürlicherweise hergestellte Trug, durch welchen Schein an die Stelle des Seins gesetzt ward, aufgelöst, der künstlich erzeugte Zustand aufgehoben und der ursprüngliche, widerrechtlich aus dem Bewusstsein verdrängte, wieder in dasselbe zurückgekehrt ist. Ausdruck dieses Verhältnisses ist der Satz: Schein, der sich für Sein gibt, missfällt, und zwar in gleichem Grade, das ursprüngliche Sein, welches durch Schein ersetzt worden ist, möge an sich beifällig oder missfällig d. i. der Schein, der durch einen andern verdrängt wurde, möge an sich schön oder hässlich gewesen sein. In dem einen Fall wird durch die Herstellung des ursprünglichen Zustandes ein wohlgefälliger, [62]im andern Fall ein missfälliger Zustand erneuert; aber das Missfallen, welches sich an den Fortbestand eines erlogenen anstatt des wirklichen Zustandes heftet, wird in beiden Fällen vermieden. Alles, was sich sagen lässt, beschränkt sich darauf, dass durch die Wiederherstellung eines ursprünglichen missfälligen Zustandes zwar das Missfallen, das diesem gilt, nicht vermieden, aber doch ein anderes, das dem Trugbild gilt, beseitigt wird, während im Gegenfalle durch die Wiederherstellung eines ursprünglichen beifälligen Zustandes nicht blos das Missfallen an der Geltung blossen Scheins für Sein von Grund aus vernichtet, sondern zum Ueberfluss ein Beifälliges in das Bewusstsein zurückgeführt wird.

112. War der ursprüngliche Zustand Dissonanz, so wird durch dessen Wiederherstellung ein dissonirender, war er Consonanz, ein consonirender erneuert; die inzwischen vorhanden gewesene Verhüllung des wirklich vorhandenen durch einen fälschlicherweise an dessen Stelle getretenen aber wird in beiden Fällen schwinden gemacht. Im ersteren Fall wird eine Wunde blossgelegt, die nur scheinbar geschlossen, aber nicht wirklich geheilt war; im letzteren Fall wird eine Heilung wieder als Heilung anerkannt, die fälschlicherweise für eine Erkrankung ausgegeben worden war. In jenem Fall ist der Schlusszustand allerdings Krankheit, aber der Irrthum, welcher dieselbe für Gesundheit hielt, wenigstens ist beseitigt. In diesem Fall hat nicht blos der Irrthum, welcher Heilung für Erkrankung nahm, seine Geltung eingebüsst, sondern der Schlusszustand ist die wirkliche Gesundheit.

113. Eine Bewegung geht vor sich, die in drei Abschnitten verläuft. Ausgangspunkt derselben bildet der ursprünglich vorhandene, deren Mitte der trügerischerweise an dessen Stelle getretene, ihren Schluss der dem ursprünglichen gleiche, aus dessen Verdunkelung durch den inzwischen waltend gewesenen Druck wieder hergestellte Zustand. Dieselbe vollzieht sich, weil der verdunkelnde Zustand künstlich durch eine äussere Ursache an die Stelle des ursprünglich vorhandenen geschoben worden ist, nicht durch, sondern gleichsam im Kampfe wider die letztere, und gewinnt dadurch den Anschein, Selbstbewegung d. i. Resultat eines ihr selbst innewohnenden und sie bestimmenden Bewegungsimpulses, eines sie belebenden Lebenskeims, einer sie bewegenden Seele zu sein d. h. die Bewegung erscheint als lebendige, beseelte Bewegung. [63]

114. Ist das in obiger Bewegung Begriffene ästhetischer d. h. dem Vorstellenden vorschwebender, beifälliger oder missfälliger (schöner oder hässlicher) Schein, so gewinnt derselbe durch obigen Process selbst den Schein der Beseelung. Der im Bewusstsein ursprünglich vorhanden gewesene Schein, der von dem Vorstellenden künstlich mit Wissen und Willen aus demselben verdrängt und durch einen andern, der sich an seiner Stelle für den wahren ausgibt, ersetzt worden ist, aber ohne, ja wider Willen des Vorstellenden sich behauptet, seinerseits den ihn zu verdrängen bestimmt gewesenen Schein verdrängt und in’s Bewusstsein wieder zurückkehrt, nimmt dadurch selbst den Anschein selbstständigen Lebens, inwohnender Beseelung an, löst sich, indem er sich gegen den Vorstellenden auflehnt, vom Willen desselben, also vom vorstellenden Subject ab und erscheint (nicht als subjectiver, sondern) als objectiver, (nicht als beherrschter, sondern) das Subject beherrschender, in sich selbst abgeschlossener und von innen heraus belebter d. i. als (scheinbar) lebendiger Schein oder als ästhetisches Object.

115. Dasselbe ist harmonisches, wenn der mit dem Schein des Lebens auftretende Schein ursprünglich schöner Schein, dagegen ein disharmonisches, wenn derselbe ein hässlicher Schein war. Der ästhetische Schein, den wir als Vorstellung des Engels, ist als ästhetisches Object nicht mehr und nicht weniger beseelt, als der ästhetische Schein, den wir als Bild eines Satans bezeichnen; weder der eine noch der andere muss darum wirkliches Object d. i. beseelte Wirklichkeit und reale Geistigkeit sein. Diese, die lebendige Existenz, wenn sie mehr sein soll als ein Geschöpf der Einbildungskraft, gehört vor das Forum der Metaphysik, jene, die Existenz des Scheins der Lebendigkeit, die nicht mehr sein will als ein Product der Phantasie, fällt als solches allein unter die Jurisdiction der Aesthetik.

116. In dem nothwendigen Entwicklungsgang der dramatischen Handlung kommt jener Schein nothwendiger Selbstbewegung des Scheins zur ästhetischen Erscheinung. Wie der ursprüngliche Schein aus seiner Verdunklung durch Ueberwindung der letztern wieder zum Vorschein, so kommt der ursprüngliche Thatbestand aus dessen eingetretener Verdunklung durch deren Ueberwindung wieder zur Klarheit. Oedipus, der seinen Vater erschlagen und seine Mutter geheiratet hat, aber in Folge seines Irrthums, dass er der Sohn des korinthischen Königspaares sei, weder das eine noch das andere Verbrechen verübt zu haben wähnt, wird durch die Macht der den [64]trügerischen Wahn zerreissenden Verhältnisse zur Klarheit über sich selbst und zum Bewusstsein der thatsächlichen Lage d. i. der auf ihm lastenden tragischen Schuld gebracht. Der Brudermord im dänischen Königshause, welchen der ehebrecherische und kronenräuberische Mörder durch die schlaueste und künstlichste Veranstaltung in den Schleier des tiefsten Geheimnisses zu hüllen verstanden hat, wird durch den überlegenen Scharfsinn des Prinzen, der sich mit speculativem Tiefsinn paart und, um verborgen zu bleiben, sich in die Maske des Wahnsinns steckt, mit langsamer, aber durch ihre Ausdauer unwiderstehlicher Zähigkeit an’s Licht und in der Schlinge, die er im Andern sich selbst gelegt, zur Bestrafung gezogen. Der ursprüngliche Thatbestand bildet den Anfang, die Exposition — die eingetretene Verdunkelung den Wendepunkt, die Peripetie — die Lichtung derselben und die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes den Schluss, die Katastrophe der dramatischen Bewegung.

117. Dieselbe erscheint in Folge dessen weder zufällig, noch willkürlich d. i. durch die Laune oder das Belieben des dichtenden Subjects, sondern nothwendig und naturgesetzlich d. i. wie ohne und unabhängig vom Willen des Dichters durch die Beschaffenheit des Inhalts der darzustellenden Handlung selbst, und zwar jeder folgende Moment durch den vorhergehenden, wie die unabänderliche Wirkung aus den gegebenen Ursachen herbeigeführt. Die dramatische Handlung (und zwar nicht blos, wie Schiller an Goethe schrieb, „die tragische”) steht unter der Herrschaft des Causalitätsgesetzes, nach welchem bestimmte Ursachen bestimmte Wirkungen und gegebene Ursachen unausbleiblich ihre nie fehlenden Wirkungen nach sich ziehen müssen. Dieselbe gewinnt dadurch als ästhetisches (d. i. Scheins-) Object den Schein eines beseelten d. i. von innen heraus bewegten Naturobjects; wie das Thier, das Geschöpf der Mutter Erde, von ihr losgelöst, Leben und selbstständige Bewegung an den Tag legt, so scheint das dramatische Kunstwerk, Geschöpf der dichterischen Einbildungskraft, von dieser und deren Träger, dem Dichter, losgelöst, inneres Leben und selbstständige, von innen heraus getriebene Beweglichkeit zu besitzen.

118. Was von dem dramatischen, muss von dem Kunstwerk jeder anderen Kunst (der epischen und lyrischen Poesie nicht weniger, wie der Ton- und bildenden Kunst) als ästhetischem Object gelten. Jedes derselben, wenn es für ein solches gehalten werden will, muss den Schein der Objectivität d. i. der beseelten Lebendigkeit und lebendigen Beseeltheit an sich tragen. Derselbe wird [65]durch die Schönheit des beseelt scheinenden Objects, z. B. der Natur, keineswegs ersetzt (seelenlose Schönheit), durch die Abwesenheit solcher keineswegs aufgehoben (seelenvolle Hässlichkeit; „la belle laidron”). Das wirklich Beseelte hat daher vor dem ästhetischen nur scheinbar Beseelten zwar das Merkmal der Wirklichkeit voraus; da aber nicht diese, die ihrerseits für den Beschauer nur als Erscheinung in Betracht kommt, sondern der blosse Schein der Wirklichkeit ästhetisch ist, so bedeutet jener Vorzug, ästhetisch genommen, nichts und der schöne wirkliche Gegenstand ist daher nicht mehr und nicht minder schön als der blosse Schein schöner Wirklichkeit. Es wäre denn, man rechnete die materielle Wirklichkeit des wirklichen Schönen zu dessen ästhetischer statt zu dessen physischer Natur und verstünde unter ästhetischem d. i. dem Genuss des schönen Scheins (wie der platte Realismus und ästhetische Materialismus will) den materiellen d. i. den Genuss der schönen Materie (z. B. den physischen Genuss der weiblichen Schönheit).

119. Mit der Betrachtung des überwiegend Identischen, so wie des überwiegend Gegensätzlichen im theilweise Identischen ist die Aufzählung der ästhetisch in Betracht kommenden möglichen Fälle zwischen dem Was des Scheins statthabender Beziehungen erschöpft. Ein ausschliessend Gegensätzliches, das nicht zugleich bis zu einem gewissen Grade identisch wäre, kann es, da nur verwandte Vorstellungen, also solche, deren Inhalt mehr oder weniger unter denselben Begriff fällt, Bestandtheile der ästhetischen Vorstellungswelt ausmachen können, in dieser nicht geben. Auch die am stärksten entgegengesetzten Elemente der letzteren, die sogenannten contrastirenden oder einander contraponirten (Contrast und Contrapost) Vorstellungen (wie Riese und Zwerg, Licht und Schatten, forte und piano etc.) sind nicht blos dadurch mit einander verwandt, dass ihre Objecte zu der nämlichen Gattung gehören, sondern sie werden einander überdies noch durch das auszeichnende Merkmal nahegerückt, dass diese beiderseits Ausnahmen von der Regel, obgleich in entgegengesetzten Richtungen (der Riese eine Abweichung von der gewöhnlichen Menschengrösse nach oben, der Zwerg eine solche nach unten, das Licht das Maximum, die Finsterniss das Minimum der gewöhnlichen Helligkeit; das Fortissimo den höchsten, das Pianissimo den geringsten Grad der Intensität des Tones) darstellen. Obige Fälle machen daher zusammengenommen mit derjenigen, welche aus der Grösse oder Kleinheit des vorgestellten Objects abgeleitet wird, die Summe derjenigen Bedingungen aus, unter welchen ästhetischer [66]Schein, er enthalte sonst welchen stofflichen Inhalt immer, unbedingt d. i. allgemein und nothwendig gefällt oder missfällt.

120. Aus dem quantitativen Gesichtspunkt entspringt die ästhetische Idee der (ästhetischen) Vollkommenheit. Dieselbe besteht darin, dass der ästhetische Schein, sowol was dessen Vorgestelltwerden, als was dessen Vorgestelltes betrifft, zum „Vollen kömmt” d. h. sowol das erstere zu dem höchstmöglichen Grade von Intensität als das letztere zu dem höchsten mit Rücksicht auf die Grenzen der Vorstellungsfähigkeit des vorstellenden Subjects erreichbaren Masse von Grösse erhoben wird. Ersteres geschieht, indem nicht nur jedes einzelne Vorstellen mit dem höchst erreichbaren Grade von Lebhaftigkeit erfolgt, sondern möglichst viel Vorstellen in kürzester Zeit bethätigt wird, aber auch, indem das Vorstellen selbst auf möglichst gesetzmässige und normale Weise sich vollzieht. Letzteres geschieht, indem das Vorgestellte, soweit dessen Natur es erheischt oder doch gestattet, in möglichster Grösse, Reichthum, Fülle und Wohlordnung vorgestellt und dadurch zwar nicht über (wie dies beim Erhabenen der Fall ist) aber bis an die erlaubten Grenzen des Vorstellenden erweitert wird. An dieselbe schliesst sich ein Verfahren an, dessen Tendenz dahin gerichtet ist, im ganzen Umkreis des das Bewusstsein ausfüllenden Vorstellens schwaches Vorstellen durch energisches, daher, da jede sinnliche Vorstellung die unsinnliche, jede concrete die abstracte, jede bildliche die unbildliche an Lebhaftigkeit übertrifft, unsinnliche durch sinnliche Vorstellungen, Begriffe durch Anschauungen, den eigentlichen Gedanken durch einen uneigentlichen (Tropus, Metapher), im Allgemeinen Begriffe durch Bilder (Symbole, Allegorien, Gleichnisse) zu ersetzen, die Energie des Vorstellens durch associirte, auf das Gemüth wirkende Nebenvorstellungen zu erhöhen, mit einem Wort die gesammte Vorstellungswelt des Bewusstseins entsprechend zu tonisiren. Resultat dieses Verfahrens ist ein im Ganzen und in jedem seiner Bestandtheile lebhaftes, reiches und wohlgeordnetes Vorstellungsleben, vollkommener ästhetischer Schein, welcher nicht mit dem Schein des Vollkommenen d. i. eines einem gewissen Zwecke oder einem gewissen Begriffe Entsprechenden, Zweck- oder Begriffsmässigen zu verwechseln ist. Jener gehört dem Vorstellen, dieser dem Vorgestellten an; jener drückt aus, dass vollkommen vorgestellt, dieser würde ausdrücken, dass Vollkommenes vorgestellt werde.

121. In Bezug auf das Vorgestellte drückt die Idee der Vollkommenheit aus, dass caeteris paribus dasselbe wohlgefälliger sei, [67]wenn es als gross, als wenn es als klein vorgestellt wird. Der einschränkende Zusatz besagt, dass ein Vorgestelltes, das seiner Natur nach eine gewisse Grösse ausschliesst, auch nicht unter dieser vorgestellt werden dürfe, weil es sonst eben nicht dies, sondern ein anderes Vorgestelltes wäre. Das Niedliche, Zarte, Milde kann daher nicht als gross, darum aber darf es auch nicht kleiner vorgestellt werden, als seine Natur es gestattet. Dagegen bekundet sich die Wirkung des Grossen unwiderleglich in der Neigung der spielenden Einbildungskraft, die Grösse vorgestellter Objecte (Räume, Zeiten, Naturgegenstände, Helden und Göttergestalten) über das Mass des Erfahrenen und Wahrgenommenen, so wie des Natürlichen ins Unbestimmte, Schranken- und Grenzenlose, Un-, Ueber-, ja Widernatürliche zu erhöhen und sich ohne Rücksicht auf Möglichkeit oder gar Wirklichkeit an der Steigerung, Häufung und Vervielfältigung von Raum-, Zeit- und Naturgrössen zu ergötzen. Beispiele derselben finden sich vor allem in der Märchen- d. i. in der Lieblingswelt der Kinder- und Kindheitsvölkerphantasie, z. B. bei den Indern, deren Imagination sich in der endlosen Anreihung von Tausenden und aber Tausenden von Jahren und Meilen, sowie in der Ausmalung der übernatürlichen Grösse ihrer Götter- und Büssergestalten, deren Haupt in die Wolken reicht, während ihr Fuss auf der Erde wurzelt, durch deren Locken sich der Gangesstrom vom Himmel herab ergiesst, die hunderttausende von Jahren auf einem Beine stehen etc., gefällt, oder bei den baltischen Letten, deren Volkssage die Ewigkeit dadurch zu schildern sucht, dass, wenn der Diamantberg im Norden, an dessen Gipfel alle hundert Jahre ein winziges Vögelchen dreimal sein Schnäbelchen wetzt, in Folge dessen in Staub verwandelt sein, die erste Minute der Ewigkeit verflossen sein wird. In allen Götter- und Heldensagen kehrt die Vergrösserung der Leibesgestalt wieder, aber auch der irdische Held sucht durch Helm und wallenden Helmbusch und dessen Scheindarsteller, der Heldenspieler, durch den Kothurn seine natürliche Grösse wenigstens scheinbar zu vermehren.

122. Aus dem qualitativen Gesichtspunkte der theilweisen, aber überwiegenden und zwar derjenigen Identität, bei welcher Einseitigkeit der Uebereinstimmung des beiderseitigen Inhalts herrscht, ergibt sich die ästhetische Idee des Charakteristischen. Dieselbe besteht darin, dass derjenige Theil des ästhetischen Scheins, der als charakteristisch bezeichnet wird, zu jenem, als dessen Charakteristik er angesehen sein will, in dem Verhältnisse des Nachbildes [68]zum Vorbilde, der Nachahmung zum Nachgeahmten, der Copie zum Originale steht, so dass alle wesentlichen Züge des letzteren sich an der ersteren wiederfinden und beide einander ihrer Inhaltsbestimmtheit nach so ähnlich werden, als es, ohne dass beide aufhören zwei, und dahin gelangen ein einziges zu sein, nur immer möglich ist. Das Wesen dieses ästhetisch Charakteristischen ist daher von jenem des in wissenschaftlichem Sinne Charakteristischen dadurch verschieden, dass in dem letzteren Fall das Charakterisirte stets ein wirkliches oder ein wahres oder doch ein für eins von beiden gehaltenes ist, während bei dem ersteren das Vorbild eben so gut ein erfundenes (als wahr oder wirklich nur fingirtes) sein kann. Dasselbe ahmt daher weder, wie die Kunst dem Aristoteles zufolge soll, die Natur — noch, wie Winkelmann lehrte, ausschliesslich die schöne Natur nach; das Wohlgefällige der charakteristischen Nachahmung ist sowol von der Wahrheit und Wirklichkeit wie von der Schönheit des Nachgeahmten unabhängig und beruht einzig und allein auf der Treue der Nachahmung. Dieselbe gestattet daher nicht nur die Nachahmung des Hässlichen, sondern diejenige Kunst, welche vornehmlich die Idee des Charakteristischen zum Leitstern nimmt, wählt sogar dasselbe mit Vorliebe, weil dadurch der Verdacht, als sei es ihr mehr darum zu thun, Schönes, als schön darzustellen, am gewissesten abgelenkt und das Streben nach Treue der Darstellung, worin ihr eigentliches Verdienst besteht, am energischesten hervorgehoben wird. Grosse Charakteristiker, auf allen künstlerischen Gebieten, pflegen daher lieber das von Goethe treffend als solches bezeichnete „Bedeutende” als das makellose Schöne, Charakterdarsteller vorzugsweise „Charaktere” d. i. mit hervorstechenden, die Kunst der Nachahmung herausfordernden Zügen ausgestattete Individuen (Richard III., Carl und Franz Moor, Hamlet, Othello, Mephistopheles u. A.) zum Gegenstande der Darstellung zu wählen; unter den Helden Homers hat auch der Thersites nicht gefehlt.

123. An die Idee des Charakteristischen schliesst sich ein Verfahren an, welches dieselbe nicht blos in einem einzelnen vorschwebenden Theile, sondern im ganzen Umfange der ästhetischen Vorstellungswelt (des Scheins) zur Geltung zu bringen d. h. welches, wo und was immer vorgestellt werde, charakteristisch vorzustellen trachtet. Wenn die Uebereinstimmung des Vorzustellenden mit der wirklichen Vorstellung im Allgemeinen als Wahrheit, wenn dieselbe in dem besonderen Falle, da das Vorzustellende ein äusseres, ein [69]Object der Aussenwelt ist, als äussere (geschichtliche oder naturgeschichtliche) Wahrheit bezeichnet wird, so kann jene Tendenz, in der gesammten Welt des Scheins Uebereinstimmung zwischen Vorbild und Nachbild herrschen zu machen, Streben nach innerer d. h. da das Vorbild auch ein erdichtetes sein kann, poetische Wahrheit heissen. Dasselbe geht sonach nicht darauf aus, im Sinne der äusseren Wahrheit wahr zu sein d. h. einen äusseren Gegenstand treu wiederzugeben, wohl aber darauf, im Sinne derselben wahr zu scheinen d. h. einen (gleichviel ob erfundenen oder erfahrenen) Gegenstand so treu nachzubilden, dass diese Nachahmung, wenn jener Gegenstand ein äusserer wäre, im Sinne der äusseren Wahrheit wahr genannt werden müsste. In diesem Sinne der inneren, nicht in jenem der äusseren Wahrheit hat Aristoteles' Poetik die Tragödie philosophischer als die Geschichte genannt, weil jene das Geschehende als Mögliches und daher aus innerlichen Gründen Begreifliches, diese dagegen dasselbe lediglich als Geschehenes, seinen inneren Gründen nach erst zu Errathendes darstellt; jene sonach ihren Werth in der Uebereinstimmung der Wirkungen mit ihren Ursachen d. h. in der Abspiegelung der letzteren durch die ersteren, die Geschichte dagegen lediglich in der Uebereinstimmung ihrer Darstellung mit der äusseren Wirklichkeit sucht.

124. Der qualitative Gesichtspunkt der theilweisen, aber überwiegenden, und zwar derjenigen Identität, welche in der gegenseitigen Uebereinstimmung des beiderseitigen Inhaltes sich offenbart, ergibt die ästhetische Idee des Harmonischen oder des (ästhetischen) Einklangs. Dieselbe besteht darin, dass jedes Glied des Verhältnisses, indem es das andere in sich abbildet, seinerseits ebenso von dem anderen abgebildet wird. Das Wesen des ästhetischen Einklanges unterscheidet sich daher von jenem des Charakteristischen dadurch, dass, während bei dem letzteren das Abbild zwar ganz im Vorbilde, nicht aber umgekehrt dieses in jenem enthalten ist, hier jedes Glied zugleich Nachbild und Vorbild des anderen ist. Beide Glieder enthalten einen gemeinsamen Bestandtheil, durch den sie verknüpft, und ausserdem einen entgegengesetzten, durch welchen sie aus einander gehalten werden. Je wichtiger der erste im Gegensatz zum zweiten, um desto bedeutender der Einklang, um desto nachdrucksvoller das Lustgefühl. Jenes dritte Gemeinsame stellt gleichsam den Exponenten des harmonischen Verhältnisses dar und wird, wenn die im Einklang befindlichen Glieder beide Gedanken z. B. das eine die Vorstellung der Sache, [70]mit welcher eine andere, das andere die Vorstellung des Anderen, das mit jener verglichen werden soll, ausmacht, der Vergleichungspunkt (tertium comparationis) genannt. So bildet in der Metapher, die das Kameel als Schiff der Wüste bezeichnet, das Merkmal, dass beide, Kameel wie Schiff, als Transportmittel durch eine unwirthbare Wüste benutzbar sind, das verknüpfende — dagegen das Merkmal, dass diese Wüste bei dem einen wasserlose Sand-, bei dem anderen eine uferlose Wasserwüste ist, das trennende Element beider Gedanken. Je nachdem die harmonirenden Glieder des Einklanges Ton-, Farben-, Formen- oder eigentliche Gedankenvorstellungen sind, welche letzteren allein sich in Worten ausdrücken lassen, wird der Einklang selbst als musikalische, Farben-, Formen- oder Gedankenharmonie, je nachdem die vorhandene, aber verborgene Aehnlichkeit des Verschiedenen leicht, blitzähnlich, oder in gleichsam visionärer Intuition an den Tag tritt, als Witz oder als Tiefsinn (die sonach beide ebensowol innerhalb der Ton-, Farben- und Formen-, wie der Gedankenwelt vorkommen können) bezeichnet.

125. Geht die beiderseitige Identität der Verhältnissglieder so weit, dass beide sich nur durch die entgegengesetzte Lage im Raume unterscheiden d. h. dass das eine rechts und links gleichweit entfernt von einem idealen Mittelpunkt, oder nach oben gleichweit über, wie nach unten gleichweit unter einer idealen Ebene gedacht wird, so geht der Einklang in die Symmetrie oder den blos räumlichen Contrast (Contrapost) — wenn dagegen der Gegensatz zwischen den Verhältnissgliedern so gross, dass nur das Mass ihrer räumlichen Entfernung von einem gemeinsamen Mittelpunkt oder einer gemeinsamen Ebene dasselbe, ihre beiderseitige Richtung im Raume aber gleichfalls entgegengesetzt ist, so geht dieselbe in den nicht blos räumlichen, sondern eigentlichen (stofflichen) Contrast über. Unter die erstere fällt zum Beispiele die Anordnung gleicher Thürme in gleicher Entfernung von der Mittelaxe der Kirche nach entgegengesetzten Weltgegenden (wie z. B. beim Kölner- oder beim Stephansdom). Unter den letzteren füllt die Anordnung eines noch unverwundeten und eines schon verschiedenen Sohnes in gleicher Entfernung von der Mittelaxe der Gruppe nach entgegengesetzten Richtungen bei der Darstellung des Laokoon. Beide können wie in räumlicher, so auch in zeitlicher Anordnung, wenn an die Stelle des idealen Mittelpunktes im Raume ein eben solcher in der Zeit, und statt der räumlichen Richtung nach rechts und links, oben und unten, die zeitliche nach der Vergangenheit und [71]nach der Zukunft hin eingeführt wird, Anwendung finden. So kehrt in der Tanzmusik nach der Coda die ursprüngliche Melodie, im Ritornell und Strophenlied der Refrain wieder und baut sich im Fortschritte der dramatischen Handlung Schürzung und Lösung vor und nach dem Knoten symmetrisch auf.

126. An die ästhetische Idee des Einklanges schliesst sich ein Verfahren an, welches dieselbe im ganzen Umfange des dem Bewusstsein vorschwebenden Scheins durchzuführen d. h. welches nur solche Bestandtheile in demselben zuzulassen bemüht ist, die unter einander nicht nur verwandt (homogen), sondern überwiegend identisch sind. Das Resultat dieses Verfahrens ist die ästhetische Einheit, welche je nach der specifischen Natur des die ästhetische Vorstellungswelt ausmachenden Scheins bald als musikalische (d. i. als Einheit der Tonwelt, des Tongeschlechts, der Tonleiter), bald als malerische (d. i. als Einheit der Licht- und Farbenwelt, der Beleuchtungsquelle, des Farbengeschlechtes u. dgl.), bald als bildnerische (d. i. Einheit der Formenwelt: der schlanken, aufstrebenden und im Spitzbogen sich wölbenden in der germanischen; der Quader, des Halbrund und der flachgewölbten Kuppel in der römischen; des horizontalen Architravs, der Säule und des Giebels in der griechischen Baukunst etc.), in der poetischen Welt bald als lyrische (d. i. als Einheit der Gemüthsstimmung), epische (d. i. als Einheit der Zeitlinie, an welcher die Begebenheiten aufgereiht werden), bald als dramatische (d. i. als Einheit der Handlung) sich kundgibt.

127. Der qualitative Gesichtspunkt der Ausschliessung des Gegensatzes ergibt die Idee der ästhetischen Correctheit. Dieselbe besteht darin, dass keine mit einander unverträglichen Vorstellungen gleichzeitig im Bewusstsein vorhanden, oder, wenn vorhanden, aus demselben beseitigt sind. Jenes kann als natürliche, dieses als künstliche, also nur auf Zeit und nur für denjenigen, welcher den Gegensatz beseitigt hat, bestehende Correctheit bezeichnet werden. Da die Abwesenheit unverträglicher Vorstellungen im Bewusstsein zwar Missfallen verhindert, selbst aber keinerlei Wohlgefallen hervorruft, so ist die Correctheit im Gegensatze zu den Ideen der Vollkommenheit, des Charakteristischen und des Einklanges, welche als solche positiv beifällig sind, nur eine negative ästhetische Idee, deren Verletzung missfällt, deren Beobachtung jedoch gleichgiltig lässt. Dieselbe stellt daher zwar die conditio sine qua non des unbedingt Beifälligen, für sich allein aber weder als natürliche, noch [72](und zwar noch weniger) als künstliche ein Wohlgefälliges dar. Beispiel der natürlichen Correctheit ist der natürliche, Beispiel der künstlichen dagegen der sogenannte künstliche Anstand, von welchen der erstere auf der Einhaltung der durch das natürliche Schicklichkeitsgefühl gebotenen Grenzen, der letztere dagegen auf der ängstlichen Beobachtung der conventionellen, durch gesellschaftliche Uebereinkunft festgesetzten Formen und Gebräuche des geselligen Umganges beruht. Ein Beispiel aus der Kunstwelt liefert im Gegensatze zu der natürlichen Correctheit, welche im Drama Einheit der Handlung fordert, die dem französischen Nationalgeschmack entsprungene künstliche Correctheit des classischen Dramas der Franzosen, welche noch überdies die sogenannte Einheit der Zeit und des Ortes erheischt. Während daher die natürliche Correctheit eine allgemeine und nothwendige, drückt die künstliche eine zufällige, auf den Umkreis einer Nation oder eines Zeitalters beschränkte Eigenschaft des ästhetischen Scheines aus.

128. An die Idee der Correctheit schliesst sich ein Verfahren an, welches bestimmt ist, die Ausschliessung mit und unter einander unverträglicher Bestandtheile durch den ganzen Umkreis der ästhetischen Vorstellungswelt durchzuführen. Ergebniss desselben ist die ästhetische Reinheit d. i. die Abwesenheit alles Störenden in der ästhetischen Vorstellungswelt, welche, wenn die durchzuführende Correctheit eine natürliche ist, selbst als solche, ist sie dagegen eine künstliche, als künstliche Reinheit bezeichnet wird. Dieselbe ist, wie die Correctheit, nur eine negative Eigenschaft des schönen Scheins, durch welche, wenn sie eine natürliche ist, das Missfallen für Alle, überall und auf immer, wenn sie dagegen blos eine künstliche ist, nur für diejenigen nur an jenen Orten und nur für so lange vermieden wird, für welche, an welchen und so lange das conventionelle Uebereinkommen, auf das sie begründet ist, besteht. Beispiele der natürlichen Reinheit bietet der natürliche, der künstlichen dagegen der künstlich festgesetzte Sprachgebrauch in Regel und Schrift, wie der erste zum Beispiele in der deutschen, der letztere dagegen in Folge der Herrschaft des Dictionnaire de l’Académie in der französischen Literatur stattfindet.

129. Der qualitative Gesichtspunkt der Wiederherstellung des Seins aus dem an dessen Stelle getretenen und dasselbe verdunkelt habenden Schein ergibt die ästhetische Idee der Ausgleichung. Dieselbe besteht darin, dass die wirklich im Bewusstsein vorhandenen Vorstellungen, welche, sei es durch Zufall, sei es durch [73]Absicht, aus dem Bewusstsein verdrängt und durch andere, denselben entgegengesetzte ersetzt worden sind, ohne, ja wider den Willen des Vorstellenden in das Bewusstsein zurückkehren und ihrerseits diejenigen, die ihre Stelle eingenommen haben, verscheuchen. Der durch die Unwillkürlichkeit ihres Wiederauftauchens erzeugte Schein der Unabhängigkeit der Vorstellungen vom Vorstellenden wirft auf deren Vorgestelltes selbst den gleichen Anschein der Selbstständigkeit, inneren Lebens und Beseeltseins, so dass die Bewegung der wieder auftauchenden Vorstellungen im Bewusstsein nicht als eine durch den Vorstellenden hervorgerufene, sondern als eine den Vorstellungen selbst innewohnende, als Selbstbewegung des Vorgestellten, als lebendiger Schein erscheint d. h. das Geschöpf des Bewusstseins sich in Selbstbewusstsein verwandelt. Je nachdem die aus ihrer Verdunklung wieder hergestellten Vorstellungen entgegengesetzt oder harmonische waren, wird das Product des vollzogenen Ausgleiches entweder das Dasein entgegengesetzter oder harmonischer Vorstellungen d. h. der Ausgleich selbst entweder ein solcher mit disharmonischem oder harmonischem Ausgang sein. Ersterer schliesst zwar mit einer offenen Dissonanz (wie ein Heine’sches Lied oder eine Chopin’sche Phantasie), aber das Missfallen, welches der Geltung blossen Scheins für Sein anklebt, wenigstens ist vermieden. In letzterem Falle wird nicht blos letzteres Missfallen unmöglich gemacht, sondern die wieder hergestellte ursprüngliche Consonanz lässt den Process der Ausgleichung in einen volltönenden Accord ausklingen.

130. Wie die Idee der Correctheit, so ist jene der Ausgleichung keine positive, unbedingten Beifall begründende, sondern blos negative, unbedingtes Missfallen verhütende Idee. Weder die Vermeidung des Störenden, noch die Wiederherstellung des Ursprünglichen ist an und für sich beifalls-, aber die Gegenwart des Unerträglichen und der Bestand der Lüge für Wahrheit sind an und für sich verwerfenswerth. Beide Ideen bilden daher zwar Bedingungen, ohne welche kein Schönes sein, durch welche allein aber nichts zum Schönen werden kann.

131. An die ästhetische Idee des Ausgleichs schliesst sich ein Verfahren an, welches dieselbe durch den ganzen Umkreis des ästhetischen Scheins durchzuführen, allenthalben das Sein an die Stelle des Scheins zu setzen und die ursprünglich gegebenen anstatt der für dieselben eingeschobenen Elemente der ästhetischen Vorstellungswelt wieder herzustellen bemüht ist. Ergebniss desselben ist [74]der durch die gesammte Welt des ästhetischen Scheins verbreitete Anschein selbstständiger Lebendigkeit, inwohnender Beseelung und Bewegung, Ablösung des Vorgestellten vom vorstellenden Subjecte d. i. die ästhetische Idee der Objectivität als Beseeltheit und Seelenhaftigkeit des ästhetischen Objectes. Dieselbe geht darauf aus, die Geschöpfe des vorstellenden Subjects als Geschöpfe ihrer selbst d. i. als sich selbst den Leib ihrer äusseren Erscheinung, Bewegung und Handlung bauende und bestimmende seelenhafte Subjecte, die gesammte Welt des ästhetischen Scheins als beseelte Welt, das Kunstwerk der Phantasie wie ein Naturwerk erscheinen zu lassen. Ausdruck dieses Strebens ist die dramatische, nach der natürlichen Verkettung von Ursachen und Wirkungen aus den gegebenen Charakteren und der gegebenen Situation mit innerer Nothwendigkeit hervorspringende, scheinbar ohne Wissen und Willkür des Dichters, wie „auf eigenen Füssen” einherschreitende dramatische Handlung. Die aus dem Hirn des Dichters entsprungenen scheinbar lebendig wandelnden Gestalten gleichen den Steinen Deukalion’s, welche zu Menschen geworden sind.

132. Keine der angeführten ästhetischen Ideen ist das ganze Schöne, aber jede derselben bezeichnet ein Element des Schönen. Weder das Grosse, noch das Charakteristische oder Harmonische, noch weniger das Correcte oder das Ausgeglichene für sich erschöpft das Gebiet des unbedingt Wohlgefälligen, aber jedes der drei ersten, die eben darum die positiven Merkmale des Schönen ausmachen, stellt ein solches dar; die beiden letzteren dienen demselben wenigstens als negative Kriterien. Unter einander verglichen lassen die Eigenschaften der Vollkommenheit, Wahrheit, Einheit und Reinheit als ruhendes, lässt sich dagegen die Beseelung, Bewegung und Objectivität als bewegtes Schönes bezeichnen. Die Gesammtheit sämmtlicher ästhetischer Ideen zu einem Totalbilde vereinigt prägt dem ästhetischen Schein, wenn derselbe von geringerem, ja von dem geringsten denkbaren Umfang ist, den Stempel der Schönheit, wenn derselbe von grösserem, ja von dem grössten denkbaren Umfang ist, durch die Erweiterung der einfachen ästhetischen Ideen mittels des sich an dieselben anschliessenden Verfahrens: der Grösse zur Vollkommenheit, des Charakteristischen zur Wahrheit, des Einklangs zur Einheit, der Correctheit zur Reinheit und der Ausgleichung zur Objectivität, die nie und nirgends erlöschende Marke der Classicität auf.

133. Wie jeder der logischen Ideen, so steht jeder der ästhetischen Ideen ihr Gegenbild zur Seite. Der ästhetischen Idee der [75]Vollkommenheit steht die der Unvollkommenheit, der des Grossen die des Kleinen, jener des Charakteristischen die des Charakterlosen, jener des Einklangs die des Missklangs gegenüber. Wie das Grosse, Reiche und Wohlgeordnete gefällt, so missfällt das Kleine, Dürftige und Zusammenhangslose. Wie das sein Vorbild in bezeichnenden und wesentlichen Zügen wiedergebende Nachbild Wohlgefallen erregt, so folgt der unbestimmten, verblasenen und verschwommenen, kaum kenntlichen Nachahmung das Missfallen auf dem Fusse. Wie das Harmonische, wo und an wem es sich findet, unbedingt Lob, so zieht das Disharmonische, wenn es nicht als Vorbereitung zu einem Harmonischen um dieser seiner dem Schönen dienenden Stellung willen geduldet wird, unbedingt Tadel nach sich. Die Gegensätze des Correcten und Ausgeglichenen sind durch die Missfälligkeit des gleichzeitig vorhandenen Unverträglichen und der Geltung des Scheins für Sein selbst als unbedingt missfällig gekennzeichnet: Incorrectheit und Trug erscheinen als unbedingt verwerflich.

134. Eine Ausnahme macht die Stellung des an sich unbedingt Missfälligen, Unverträglichen, in der Idee der Ausgleichung mit harmonischem Ausgang. Weil in diesem Fall das Ursprüngliche und am Schluss des Processes Wiederhergestellte ein Harmonisches ist und der Eindruck dieses letzteren durch die vorangegangene Verdunklung, durch dessen disharmonisches Gegentheil, wie die Erfahrung zeigt, der auflösenden Consonanz durch die vorangegangene Dissonanz, des neugeborenen Lichtes durch die vorhergegangene Finsterniss, auf das vorstellende Subject, den Beschauer und Hörer, erhöht und bestärkt wird, so tritt in diesem Fall das an sich, wenn es als Zweck gedacht wird, unbedingt auszuschliessende Missfällige (die Dissonanz, das Nachtdunkel) in die Rolle eines die Erscheinung des Harmonischen, welches als Selbstzweck nicht nur möglich, sondern gefordert ist, vorbereitenden und fördernden Mittels zurück und wird um dieser seiner dem Harmonischen nützlichen Beschaffenheit willen nicht nur zugelassen, sondern, um den schliesslichen Effect des Harmonischen auf jede mögliche Weise und zu jedem erreichbaren Grade zu steigern, mit Wissen und Willen als Hilfsmittel verwendet. Von dieser Art ist der Gebrauch der Dissonanzen in der Musik, des Licht- und Schattencontrastes, so wie der Farbengegensätze in der Malerei, des tragischen d. i. das Gerechtigkeitsgefühl beleidigenden Schicksalsverhängnisses in der Tragödie, die Einführung sittlich verwerflicher Charaktere (moralischer Schlagschatten, [76]Bösewichter, Intriguanten) in die dramatische oder epische Handlung etc.

135. Wie die Zusammenfassung der ästhetischen Ideen das Schöne, jede derselben für sich ein Schönes, so stellen die Gegenbilder der einzelnen ästhetischen Ideen jedes für sich ein Hässliches, die Zusammenfassung aller in einem Totalbilde das Hässliche dar. Werden die Gegenbilder der einzelnen ästhetischen Ideen durch ein dem Verfahren bei den ersteren entgegengesetztes auf den ganzen Umkreis der ästhetischen Vorstellungswelt ausgedehnt, so dass in demselben durchgängig statt der Vollkommenheit Unvollkommenheit, statt der Grösse Kleinlichkeit, statt der Wahrheit Unwahrscheinlichkeit, statt der Einheit Verwirrung, statt der Reinheit Rohheit und statt der sich selbst beseelenden und tragenden Objectivität gesetzlose Willkür und genial scheinen wollender Subjectivismus herrscht, so wird, wie durch jene dem Totalbild der Stempel der Classicität, so durch diese demselben das Gepräge der ungebundenen Individualität d. i. des romantischen Subjects, die formlose Form der Romantik aufgeprägt.

136. Mit der Aufstellung der ästhetischen Ideen und ihrer Gegenbilder, der einen zur Nachahmung, der andern zur Abschreckung für jedes Schaffen, das Schönes d. i. unbedingt Wohlgefälliges hervorbringen, unbedingt Missfälliges vermeiden will d. h. mit der Aufzählung der normalen und anormalen Formen, welche Normen des ästhetischen Vorstellens und künstlerischen Producirens sind, ist das Geschäft der Aesthetik als allgemeiner Wissenschaft vom Schönen vollendet. [77]

[Inhalt]

DRITTES CAPITEL.

Die ethischen Ideen.

137. Wie die logischen Ideen die Normen, unter welchen Denken zum Wissen, die ästhetischen die Normen, unter welchen ästhetischer Schein zum Schönen, so stellen die ethischen Ideen die Bedingungen dar, unter welchen Wollen zum Guten wird. Von Kant stammt der Ausspruch, dass das einzige, was wahrhaft und in jeder Hinsicht gut genannt zu werden verdiene, der gute Wille sei; welcher aber der gute d. h. unter allen denkbaren Willen derjenige sei, der unbedingt d. h. allgemein und nothwendig gefällt, sollen nachstehende Betrachtungen entwickeln.

138. Wie bei dem schönen wirklichen Gegenstande dasjenige, was ihn zum schönen macht, nicht darin besteht, dass er Wirklichkeit, sondern darin, dass er Schönheit besitzt, so kann bei dem guten wirklichen Wollen der Grund, der es zum guten macht, nicht darin liegen, dass es wirklich, sondern darin, dass es gut ist. Da nun der wirkliche schöne Gegenstand vor dem blos gedachten (d. i. dem Schein eines solchen) nichts weiter voraus hat als eben die Wirklichkeit, und folglich der Grund seiner Schönheit nicht in demjenigen gefunden werden kann, was ihn vom Schein unterscheidet, sondern nur in demjenigen, was auch diesem eigen ist, so kann auch die Ursache, um deren willen der gute wirkliche Wille gelobt und dessen Gegentheil getadelt wird, keine andere als eine solche sein, welche der wirkliche mit dem blos gedachten (d. i. mit dem blossen Schein-) Willen gemein hat. Wie aber dasjenige, was das schöne Wirkliche mit dem schönen gedachten Gegenstande gemein hat, nur beider Form, so kann auch dasjenige, was dem guten Wirklichen mit dem blos gedachten guten Willen gemeinsam [78]ist, nur deren gemeinschaftliche Form, und der einzige wahre Grund, um deswillen gutes wirkliches Wollen gut genannt zu werden verdient, kann daher nicht in dessen Realität, sondern nur in dessen (unbedingt wohlgefälliger d. i. den Normen des unbedingt Wohlgefälligen entsprechender) Form gefunden werden.

139. Wäre das Gegentheil der Fall d. h. läge der Grund, warum gutes wirkliches Wollen unbedingt gefällt, in Eigenschaften, welche von dessen Wirklichkeit abhängen, so ergäbe sich Folgendes: Jedes wirkliche Wollen bringt einerseits als Wirkendes Wirkungen d. i. Folgen hervor und ist andererseits entweder als Bewirktes die Wirkung eines anderen Willens, oder als Selbstbewirktes die Wirkung seiner selbst, als des eigenen Willens. Im ersten Falle ist es selbst als Wirkliches die Ursache eines anderen Wirklichen; im zweiten Falle ist seine Ursache der entweder gebietende oder der als Muster zur Nachahmung reizende Wille eines Anderen; im letzten Falle ist es selbst seine eigene Ursache.

140. Da jedes wirkliche Wollen ein Streben, ein solches aber nichts anderes ist als das Aufstreben der Vorstellung des Erstrebten im Bewusstsein gegen die Hemmnisse, welche bisher auf derselben lasteten, so erzeugt jedes Wollen, welches etwas bewirkt d. h. eine wirkliche Veränderung seiner bisherigen Lage hervorbringt, ebenso unausbleiblicher Weise ein Lust- als im entgegengesetzten Fall, wenn es nichts bewirkt, ein Unlustgefühl. Indem sich das erstere mit der Vorstellung des im Wollen Erstrebten d. i. des Objectes des Wollens verknüpft, erscheint dieses letztere als ein Gut; indem das letztere das gleiche thut, erscheint das Erstrebte als ein Uebel; jenes, weil an dessen Vorstellung sich ein Lustgefühl geheftet, wird von da an als ein Begehrens-, dieses, weil dessen Vorstellung fortan von einem Unlustgefühl begleitet wird, als ein Verabscheuungswerthes angesehen, die Güte des Wollens von dessen Richtung auf Güter, deren Gegentheil, die Bosheit, von dessen Richtung auf Uebel abhängig gemacht. Die Ethik als Wissenschaft von den Bedingungen des Guten nimmt die Gestalt einer Güterlehre an.

141. Die Eigenschaft eines Objectes als eines Gutes oder Uebels hängt ab von den die Vorstellung desselben begleitenden Lust- oder Unlustgefühlen. Je nachdem diese letztern stärker oder geringer, werden höhere und niedere Güter und Uebel unterschieden. Durch den Umstand, dass die Vorstellung des einen von dem höchsten Lust-, die Vorstellung des anderen von dem höchsten Unlustgefühl unzertrennlich [79]ist, wird das höchste Gut vor dem grössten Uebel gekennzeichnet. Dass sich dabei an die Vorstellung der Lust als solcher das höchste Lustgefühl, an jene der Unlust das höchste Unlustgefühl und zwar nicht blos in diesem und jenem, sondern in jedem Fall heften muss, in welchem von Lust und Unlust als Ziel des Wollens die Rede ist, und dass in Folge dessen kein Gegenstand geeigneter erscheint, als höchstes Gut aufgestellt zu werden, als die Lust (Glückseligkeit, εὐδαιμονὶα) und keiner näher liegt, um als höchstes Uebel zu erscheinen, als die Unlust (Unseligkeit, κακοδαιμονὶα) scheint eben so wenig befremdlich, als es unbestimmt bleibt, ob unter jener Lust, die als Gut, und jener Unlust, die als Uebel bezeichnet wird, jede beliebige ohne Unterschied, oder irgend eine bestimmte, z. B. nur sinnliche oder nur geistige Lust, nur eigene (Egoismus) oder nur fremde Glückseligkeit (Altruismus), die Glückseligkeit eines Theiles oder die des Ganzen (allgemeines Wohl, salus publica) verstanden werden solle.

142. Letzterem Mangel soll dadurch abgeholfen werden, dass diejenige Lust, welche mit keinerlei Unlust gemischt, also rein erscheint, der gemischten — also diejenige, deren Folgen nicht einer solchen vorgezogen wird, deren nachträgliche Wirkungen von Unlust begleitet sind. Aus diesem Grunde wurde von den Hedonikern und Epikuräern die sinnliche Lust als vorübergehende und flüchtige der geistigen als der dauer- und standhaften nachgesetzt, von Aristoteles das beschauliche Leben des Denkers als das einzige wahren Genuss gewährende hoch über das banausische Treiben der Sinnlichkeit erhoben. Dem Streben nach eigener, selbstsüchtiger Glückseligkeit, in welchem die Einen (die Encyklopädisten, Helvetius) das Ziel des Wollens erblickten, wird von Anderen (Hume, Smith, Comte) das Streben nach fremder d. i. nach der Glückseligkeit des Andern (autrui, Altruismus) entgegengestellt d. h. das selbstlose und selbstverleugnende uneigennützige dem selbstsüchtigen eigennützigen Wollen — mit Recht, aber grundlos d. h. ohne Angabe eines Grundes, warum das eine besser als das andere sein solle — vorgezogen. Eben so richtig, aber auch eben so wenig motivirt ist der von Leibnitz u. A. hervorgehobene Vorrang der allgemeinen vor der besondern oder gar individuellen Glückseligkeit, in Folge dessen das Wohl des Ganzen jenem des Theiles, dieses jenem des Einzelnen zwar (mit Recht) vorzuziehen, der Grund aber, durch welchen diese Bevorzugung gerechtfertigt (und welcher, wie später gezeigt werden soll, ausschliesslich in der ursprünglichen [80]unbedingten Wohlgefälligkeit wohlwollender Gesinnung gelegen) ist, eben so wenig anzutreffen ist.

143. Der andere Mangel, an dem jede Ethik als Güterlehre leidet, aber kann auf keine Weise beseitigt werden. Dieselbe geht davon aus, dass es Güter d. h. Objecte gebe, die begehrens-, und solche, die verabscheuungswerth sind, und will durch die Angabe der ersteren, wie durch die Ausscheidung der zweiten das gute d. h. auf Güter, von dem bösen d. h. auf Uebel sich richtenden Wollen unterscheiden. Wenn aber nach Obigem an jede Befriedigung des Wollens, gleichviel welches dessen Object sei, ein Lustgefühl sich knüpft und jedes Object, dessen Vorstellung ein Lustgefühl begleitet, ein Gut darstellt, so folgt, dass das Object jedes Wollens, gleichviel welches es sei, ein Gut — und daher jedes Wollen ohne Unterschied, weil auf ein Gut gerichtet, ein gutes, folglich der Unterschied zwischen gutem und nicht gutem Wollen illusorisch sei. Folge der Ethik als Güterlehre wäre daher, entweder, dass jedes Wollen als Wollen gut (ethischer Optimismus), oder dass kein Wollen besser als das andere (ethischer Indifferentismus), oder dass kein Wollen gut (ethischer Pessimismus und Nihilismus), oder, da jedes wirkliche Wollen aus dem Gefühl des Nichtbesitzes des Gewollten d. i. aus einem Unlustgefühl hervorgeht, dass Nichtwollen am besten sei (ethischer Quietismus). In keinem dieser Fälle ist Ethik als Wissenschaft möglich.

144. Wie das wirkliche Wollen als Wirkendes Ursache, so ist es als Bewirktes Wirkung eines Wirklichen. Kann nun dasjenige, wodurch ein Wollen bewirkt wird, nur wieder ein Wille sein, so ist nur zweierlei möglich: entweder ist der bewirkende Wille ein fremder d. h. der eines von jenem, der will, unterschiedenen, oder der eigene d. i. der eines mit demjenigen, welcher will, identischen Individuums. In beiden Fällen kann der Wille entweder als befehlender, das eigene Wollen als Wirkung jenes Willens als gehorchendes, oder als vorbildender, das eigene Wollen als nachahmendes auftreten. Im ersten Fall nimmt das gute Wollen die Form des pflichtmässigen, die Ethik als Wissenschaft die Gestalt einer Pflichtenlehre, im zweiten Fall das vorbildende Wollen die Rolle eines Tugendmusters, die Ethik als Wissenschaft die Form einer Tugendlehre an.

145. Grund der Güte des Wollens ist in der ersten die Beschaffenheit des befehlenden Willens. Ist dieser selbst gut, so ist es auch sein Gebot (die Pflicht) und folglich auch das diesem [81]gemässe d. i. pflichtgemässe Wollen. Ist er dagegen das Gegentheil, so ist es auch sein Gebot und folglich das Wollen desto schlechter, je pflichtgemässer es ist. Soll daher die Ethik die Form einer Pflichtenlehre annehmen dürfen, so muss zuerst ausgemacht sein, dass der gesetzgebende Wille in der That der gute d. h. dass das von ihm Gebotene niemals etwas anderes sein könne, als was des Gebotenwerdens werth ist. Dieses aber kann weder einfach dadurch erwiesen werden, dass dargethan wird, der gebietende Wille sei der stärkste, noch dadurch, dass zu erweisen versucht wird, er sei entweder der göttliche oder überhaupt ein höherer (übermenschlicher, übersinnlicher, überempirischer), sondern allein dadurch, dass dargethan wird, er sei der gute d. h. sein Inhalt stimme mit demjenigen überein, was den Inhalt des Guten d. h. des am Wollen unbedingt Wohlgefälligen ausmacht. Erweis der Güte des Gebots durch den Nachweis, dass der gebietende Wille der stärkste d. h. stärker als der gehorchende und folglich denselben zu zwingen vermögend sei, würde das Faustrecht d. h. das angebliche Recht des Stärkeren bedeuten d. i. den Grundsatz: dass dasjenige, was die Macht will, gut, nicht aber, dass nur die Macht, die das Gute will, diejenige sei, der man zum Gehorsam verpflichtet ist. Das zweite würde das Vorangehen des Beweises erfordern, dass der Gesetzgeber, als dessen Gesetz das gebotene Wollen sich kundgibt, wirklich Gott d. h. nicht blos ein angeblicher, sondern der wirkliche Gott d. h. ein solcher sei, zu dessen Eigenschaften es naturnothwendig gehört, nur das Gute d. i. das sein Sollende, zu wollen. Da nun dieser Beweis nicht erbracht werden kann, ohne das Gute d. i. das unbedingt Wohlgefällige am Wollen zu kennen, auf dessen Uebereinstimmung mit dem angeblich göttlichen Gebot eben die Anerkennung des letzteren als eines göttlichen beruht, so setzt die Ethik als theologische d. i. das Gute auf das Gebot Gottes zurückführende Wissenschaft, die Kenntniss des Guten als gewonnen voraus, statt dieselbe zu gewähren. Wird jedoch der gesetzgebende Wille statt in einen Andern, in das Innere des Wollenden selbst, gleichsam als ein höherer, überempirischer in das menschliche, empirische Individuum verlegt, so dass der Mensch gleichsam als ein aus zwei Elementen, einem überempirischen und einem empirischen, zusammengesetztes Doppelwesen erscheint, deren eines zum Befehlen, das andere zum Gehorchen bestimmt ist, so kehrt dieselbe Schwierigkeit wieder d. h. es muss neuerdings dargethan werden, dass der sich im Menschen als der höhere geberdende Wille („der Gott in [82]uns”) wirklich den Anspruch besitze und nicht blos mache, als solcher anerkannt, und dessen Gesetz die Berechtigung habe, nicht blos, weil es sein, sondern weil es ein gutes Gesetz ist, Gehorsam zu fordern.

146. Selbst Kant’s souveräner kategorischer Imperativ hat der Verpflichtung, als gutes d. i. Gehorsam zu fordern berechtigtes Gebot sich zu legitimiren, sich nicht zu entziehen vermocht. Freilich thut er dasselbe nicht durch den Erweis, dass der Inhalt seines Gebotes der gute, sondern dadurch, dass das Gegentheil desselben in sich widersprechend sei. Der von ihm aufgestellte Satz: Handle so, dass die Maxime deines Wollens fähig sei, als allgemeines Gesetz zu dienen, soll nicht den Inhalt des Guten, sondern ein Kennzeichen darbieten, denselben zu erkennen. Die Fähigkeit einer Maxime, allgemein als Gesetz aufgestellt zu werden, verräth sich darin, dass das Gegentheil derselben, als allgemeines Gesetz gedacht, sich selbst widerspricht. Kant’s Kriterium des Guten ist logisch, nicht ethisch.

147. Aber das Beispiel, das er gibt, führt nicht einmal zum Widerspruch. Kant erweist die Pflicht, anvertraute Güter zurückzugeben, auf die Weise, dass er bemerkt, im entgegengesetzten Fall würde es keine anvertrauten Güter mehr geben. Allein die der Maxime, anvertraute Güter zurückzustellen, entgegengesetzte Maxime, anvertraute Güter nicht zurückzustellen, würde nur dann auf einen Widerspruch führen, wenn sie verlangte, obgleich keine anvertrauten Güter vorhanden seien, dennoch dergleichen zurückzustellen. Dieselbe führt jedoch auf keinen Widerspruch, wenn sie, wie sie es wirklich thut, verlangt, anvertraute Güter, wenn dergleichen vorhanden sind, nicht zurückzustellen.

148. Kant geht von dem richtigen Satze aus, dass jedes gute Gebot allgemein giltig und schliesst daraus umgekehrt, dass jedes allgemein giltige Gebot nothwendig gut sei. Er erweist daher statt, wie er sollte, die Folge aus dem Grund, umgekehrt, wie er nicht durfte, den Grund aus der Folge. Allgemein giltige Gebote sind nothwendig gute, aber nicht alles, was allgemein gilt d. h. dessen Gegentheil auf einen Widerspruch führt (wie z. B. mathematische Wahrheiten) ist ein ethisches Gebot. In der kürzeren Form, welche Kant seinem obersten Sittengesetze gibt: folge der praktischen Vernunft d. i. thue, was du sollst, wird die leere Tautologie, in die sich der kategorische Imperativ verwickelt, noch auffälliger. Denn da die Vernunft nichts anderes ist als die Stimme des Sollens, so bedeutet jenes Gebot: du sollst, was du sollst — einen identischen Satz. [83]

149. Der kategorische Imperativ oder die sogenannte praktische Vernunft im Wollenden nimmt in Bezug auf den Inhalt ihres Gebots dem an sich Guten gegenüber keine andere Stellung ein, als Gott und die sogenannte göttliche Gesetzgebung ausserhalb des Wollenden. Wie die letztere, um den angeblichen von dem wahren (d. i. eines Gottes würdigen) Willen Gottes unterscheiden zu können, nach den Worten des Thomas von Aquin: non ideo bonum est, quia deus præcepit, sed ideo deus præcepit, quia bonum est, der Rechtfertigung durch Uebereinstimmung ihres Inhalts mit jenem des an sich Guten (d. i. des unbedingt Wohlgefälligen am Wollen) bedarf, so muss, um den Ausspruch der wahren von dem einer blos vermeintlichen gebietenden Vernunft unterscheiden zu können, der Inhalt desselben an dem Massstab einer andern, der über Werth und Unwerth des Wollens unbedingt entscheidenden urtheilenden Vernunft geprüft und durch diese entweder bestätigt oder verworfen werden.

150. Wie in der Pflichtenlehre der Grund der Güte des gehorchenden in jener des befehlenden Willens, so liegt in der Ethik als Tugendlehre der Grund der Güte des nachahmenden in jener des nachgeahmten Willens. Dieselbe stellt, wie die stoische Moral in der Person des stoischen Weisen, wie Aristoteles in seinem „gerechten Mann” (ὀρθὸς ἀνῆρ) ein ethisches Ideal, das Bild einer vollendeten oder doch für vollendet ausgegebenen idealen Persönlichkeit als Tugendmuster d. i. als nachahmungswerthes Vorbild auf, durch dessen Nachahmung das Wollen des Nachahmenden selbst tugendhaft, Mustertugend wird, aus keinem andern Grunde, als weil und insofern es dem Wollen des Tugendmusters gleicht. Ethik als Tugendlehre ist daher zwar vorschreibend, insofern sie ein Vorbild zur Nachahmung aufstellt, aber zugleich blos beschreibend, indem sie das Wesen des Tugendmusters ausmalt. Die stoische Moral begnügte sich nicht damit, auf das Ideal des Weisen als Muster hinzudeuten, sondern entwarf ein Charaktergemälde desselben und seines Verhaltens in allen denkbaren Lebenslagen als musterhaft. Die Ethik als Tugendlehre verfährt weder imperativ, noch deducirend, sondern demonstrirend d. i. auf ein gegebenes, sei es historisch in der Wirklichkeit, sei es poetisch in der idealen Welt, Vorhandenes hinweisend und dasselbe ein- für allemal als ethische Autorität d. i. als den schlechthinigen Ausdruck des an sich Guten proclamirend. Wie Max von Wallenstein sagt: „Auf ihn nur braucht' ich zu schau’n und war des rechten Pfad’s gewiss” — [84]so zeigt die Ethik als Tugendlehre auf jede Frage nach dem Guten, statt aller Antwort auf den Guten hin, in dessen jeweiligem Wollen dasselbe verkörpert sei.

151. Soll dessen ethische Autorität nicht blos „auf Autorität” hin, das Ideal des stoischen Weisen nicht blos auf das Zeugniss der Stoiker, der ὀρθὸς ἀνῆρ nicht blos auf jenes des Aristoteles hin als Tugendmuster gelten, so muss die Berechtigung derselben, ideal d. i. absolut wohlgefälliges Vorbild zu sein, wissenschaftlich d. i. durch Uebereinstimmung ihres Wollens mit dem an sich Guten (d. i. dem unbedingt Wohlgefälligen am Wollen) vorher erwiesen werden. Weil aber dieser Erweis die Kenntniss des Guten bedingt, das gute Wollen nicht deshalb gut, weil es das Wollen des Guten (Mannes), sondern der Gute deshalb gut ist, weil er das Gute will, so setzt Ethik als Tugendlehre, statt selbst Wissenschaft des Guten zu sein, vielmehr diese d. i. die Wissenschaft der Normen, nach welchen das Wollen unbedingt gefällt oder missfällt, die ästhetische Wissenschaft vom Wollen, die Willensästhetik voraus.

152. Güter-, Pflichten- und Tugendlehre als Formen der Ethik sind damit gleichmässig abgelehnt. Die Eigenschaften des Wollens, welche dasselbe zum guten machen, gehören nicht, wie bei jenen, dem wirklichen, sondern ausschliesslich dem gedachten Wollen d. i. der blossen Vorstellung eines solchen, dem Schein eines Wollens an. Wie ästhetischer Schein überhaupt weder dadurch, dass etwas durch denselben hindurchscheint, noch dadurch gefällt, dass er einem gewissen Subjecte scheint, sondern allein dadurch, dass er gewisse unbedingt wohlgefällige Formen an sich trägt, so gefällt das Bild eines Wollens weder dadurch, dass dieses bestimmte Folgen nach sich zieht (wie in der Güterlehre), noch dadurch, dass dieses das, sei es gebietende oder als Muster vorgestellte Wollen eines Andern nachahmt (wie in der Pflichten- und Tugendlehre), sondern allein dadurch, dass das Wollen gewisse unbedingt wohlgefällige Formen an sich trägt. Die Aufstellung dieser letzteren ist die Aufgabe der Ethik als Aesthetik des Wollens.

153. Zieht man von dem guten wirklichen Wollen die äussere Hülle der Wirklichkeit ab, so bleibt der Gedanke, das Bild oder die Vorstellung dieses Wollens allein übrig. Dieses Bild wird als Vorgestelltes nicht nur mit einem gewissen Grade von Intensität vorgestellt, sondern das Wollen, dessen Bild es ist, wird in diesem als Wollen von einem bestimmten höheren oder niederen Intensitätsgrad vorgestellt. Dasselbe wird ferner nicht blos in Beziehungen [85]und Verhältnissen (der Gleichheit, Ungleichheit, der Identität oder des Gegensatzes) zu anderen ähnlichen oder unähnlichen Willensbildern vorgestellt, sondern das Wollen, dessen Bild es ist, wird selbst als in Beziehungen und Verhältnissen (der Uebereinstimmung oder des Widerstreits) zu anderem, sei es Wollen, sei es Vorstellen, stehend vorgestellt. Jenes ergibt einen quantitativen, dieses einen qualitativen Gesichtspunkt zur Beurtheilung des Wollens.

154. Ersterer betrifft das Wie, letzterer das Was des vorgestellten Wollens. Dasselbe wird von jenem aus entweder als stark, oder als schwach, als reich und mannigfaltig, oder als dürftig und einförmig, als wohlgeordnet und in sich zusammenhängend, oder als ordnungslos und in sich zerrissen vorgestellt, und nach der ästhetischen Idee der Vollkommenheit dem starken, reichen, zusammenhängenden vor dem schwachen, armen und zusammenhanglosen Wollen der Vorzug gegeben. Von diesem aus wird dasselbe entweder als mit einem anderen Wollen (z. B. dem eines Andern) ganz oder theilweise identisch oder demselben entgegengesetzt vorgestellt und nach der ästhetischen Idee des Einklangs im ersteren Falle mit Lob, in letzterem mit Tadel begleitet. Die Entwicklung und Aufzählung aller sowol vom quantitativen als vom qualitativen Gesichtspunkt aus möglichen Fälle ergibt die ethischen Ideen.

155. Diese Fälle sind folgende. Jedes Wollen als solches besitzt eine Energie, mit welcher, und einen Inhalt, welcher gewollt wird. Wird die erstere d. i. das Quantum des Wollens, ohne Rücksicht auf den letzteren, das Quale des Wollens, allein ins Auge gefasst, so ergibt sich der quantitative, findet das Gegentheil statt, der qualitative Gesichtspunkt seiner Beurtheilung. Weil jede Bethätigung des Wollens als eines Ueberwindens entgegenstehender Hemmnisse von Lustgefühl begleitet ist und sich dasselbe in gleichem Grade steigert, als das aufgewendete Quantum der Wollensbethätigung wächst, so muss mit der Vorstellung des grösseren Quantums von Wollensbethätigung nothwendig ein grösseres, mit der Vorstellung eines mit dem ersteren verglichen kleineren Wollensquantums eben so nothwendig ein geringerer Grad von Lustgefühl verbunden sein d. h. das stärkere Wollen gefällt neben dem schwächeren, das schwächere missfällt neben dem stärkeren. Dieser Erfolg besteht so lange, als das proportionale Verhältniss zwischen den beiden unter einander verglichenen Wollensquantitäten dasselbe bleibt. Ob die beiden unter einander ihrer relativen Stärke nach verglichenen Wollen als einem und demselben oder als verschiedenen [86]wollenden Wesen angehörig gedacht werden, macht dann keinen Unterschied. Wächst das kleinere Wollensquantum, oder nimmt das grössere ab, so dass schliesslich beide den gleichen Grad von Stärke besitzen, oder bei fortwährendem Wachsen des kleineren oder Abnehmen des grösseren das schwächere zum stärkeren, das stärkere zum schwächeren Wollen wird, so hört in dem einen Fall, da beide gleich stark geworden sind, jeder Vorzug des einen vor dem andern auf, in dem andern Fall, da das schwächere zum stärkeren geworden ist, kehrt sich das Verhältniss um, das vorher wohlgefällige missfällt, das vorher missfällige wird wohlgefällig. In beiden Fällen stellt das stärkere den Massstab des schwächeren, jenes gleichsam das „Volle” dar, zu welchem dieses erst „kommen” soll.

156. Wird das Quantum des Wollens hierbei als über jedes erreichbare Mass hinaus fortschreitend vorgestellt, so geht die Vorstellung des starken in die des durch seine Stärke erhabenen Wollens d. i. eines solchen über, im Vergleich mit welchem jede dem Vorstellenden selbst als Wollendem erreichbare Stärke seines Wollens in nichts verschwindet. Das in diesem Fall vorgestellte Wollen erscheint mit dem des Vorstellenden selbst verglichen unendlich (d. h. über jede diesem vorstellbare Grenze hinaus) gross; das eigene Wollen des Vorstellenden diesem mit jenem verglichen unendlich (d. h. über jede von diesem vorstellbare Grenze hinaus) klein. Letzterer Umstand ruft in dem Vorstellenden das unangenehme Gefühl seiner Schwäche als wollendes, dagegen das Bewusstsein, einen dem seinen unendlich überlegenen Willen zwar nicht im Wollen erreichen, aber doch wenigstens mit seiner vorstellenden Kraft vorstellen zu können, das angenehme Gefühl der eigenen Stärke als vorstellendes Wesen hervor, so dass beide, dieses Lust- und jenes Unlustgefühl zusammen, jenem über alles Mass hinaus gesteigerten Wollen gegenüber wieder das gemischte Gefühl des Erhabenen erzeugen. Letzteres mag, da es ein Wollen ist, zum Unterschied von dem im Vorangehenden erwähnten, welches nur auf der Ueberschreitung der Grenze des Vorstellbaren beruhte, mit einem Kant’schen Ausdruck das dynamisch Erhabene heissen.

157. Wird, wie oben vom Quale, so vom Quantum des vorgestellten Wollens ab und nur auf das Was desselben gesehen, so ergeben sich, da in Bezug auf den Umstand, dass überhaupt etwas gewollt wird, ein Wollen dem andern gleicht, in Bezug auf dasjenige, welches gewollt wird, aber, weil jede beliebige Vorstellung Sitz eines Wollens werden kann, eine so unendliche Mannigfaltigkeit [87]stattfindet, dass von einer Aufzählung oder Vergleichung derselben unter einander keine Rede sein kann, nur nachstehende Fälle. Das vorgestellte Wollen wird entweder auf den Wollenden selbst oder auf einen anderen Wollenden bezogen, letzterer aber entweder als blos in der Vorstellung des ersten vorhanden, oder als wirklich vorhanden vorgestellt. Findet das erste statt d. h. wird das Wollen des Wollenden auf den Wollenden selbst bezogen, so muss etwas in diesem als vorhanden vorgestellt werden, was sich mit dessen Wollen vergleichen lässt. Wird dagegen das Wollen auf einen Anderen bezogen, so muss in diesem etwas vorhanden gedacht werden, das sich mit dem Wollen jenes ersten vergleichen lässt. Dasjenige im Wollenden, mit dem sich sein Wollen vergleichen lässt, kann nun nichts anderes sein, als das Bild dieses Wollens d. h. die Vorstellung, die er sich selbst von seinem Wollen macht. Dasjenige im Andern, womit das Wollen des ersten verglichen wird, seinerseits kann wieder nur ein Wollen, und zwar entweder als blos gedachtes d. i. nur in der Vorstellung des ersten vorhandenes, oder als wirkliches, thatsächlich existirendes im zweiten sein.

158. Das Bild, das sich der Wollende von seinem eigenen Wollen macht, gehört dessen Vorstellen (dem Intellect), das Wollen selbst, von dem er ein Bild sich macht, dessen mit der Vorstellung der Erreichbarkeit des Angestrebten verbundenem Streben (dem Willen) an: beide, das Bild des Wollens im Intellect und das wirkliche Wollen des Willens des Wollenden verhalten sich zu einander, wie Vorbild und Nachbild, Original und Copie; der Intellect entwirft das Bild eines gewissen möglichen Wollens (Willensproject), der Wille führt es aus oder auch nicht im wirklichen Wollen (Willensact). Im ersten Fall trägt das wirkliche Wollen die Züge des gedachten d. h. dasselbe ahmt das letztere nach; im letzteren Fall fallen Willensproject und Willensact, auf ihren Inhalt hin angesehen, gänzlich aus einander, gedachtes und wirkliches Wollen decken einander nicht. Beide Fälle, die auf der einseitigen Identität des gedachten und des wirklichen Wollens beruhen, wiederholen die ästhetische Idee des Charakteristischen auf dem Gebiete des Wollens.

159. Wie jene allgemein darin besteht, dass sich der gesammte Inhalt des Nachbildes am Vorbilde, dagegen nicht alles, was letzterem eigen ist, an dem ersten findet, so besteht das Verhältniss zwischen gedachtem und wirklichem Wollen darin, dass der gesammte Inhalt des wirklichen sich in dem Inhalt des gedachten, nur mit dem Unterschied vorfindet, dass er das einemal nur [88]als Gedanke (Vorstellung, Bild, ideal), das anderemal als Wollen (wirklich, real) vorhanden ist. Wie unter der Herrschaft der Idee des Charakteristischen Original und Portrait einander so nahe kommen, dass nur der Umstand, dass das eine ein wirklich, das andere ein nur scheinbar belebtes ist, sie von einander scheidet, so kommen im vorliegenden Verhältniss gedachtes und wirkliches Wollen mit einander so vollkommen überein, dass nur der Umstand, dass das eine als wirklich nur gedachtes, das andere ein Gedachtes verwirklichendes Wollen ist, sie trennt. Der unbedingte Beifall, welcher die erstere, die Harmonie zwischen Vorbild und Nachbild, begleitet, kann daher auch dem letzteren, welches die Harmonie zwischen gedachtem und wirklichem Wollen des Wollenden ausdrückt, eben so wenig fehlen, wie dessen Gegentheil, der Disharmonie zwischen beiden, das unbedingte Missfallen.

160. Wie die Beziehung zwischen gedachtem und wirklichem Wollen im Wollenden selbst auf der einseitigen, so beruht jene zwischen dem wirklichen Wollen des Wollenden und seiner Vorstellung vom Wollen eines Andern auf jenem der gegenseitigen Identität. Beide Fälle haben das mit einander gemein, dass beide Glieder, deren Beziehung unter einander das Verhältniss ausmacht, dem Bewusstsein eines und des nämlichen Individuums (des Wollenden) angehören; ferner, dass diese Glieder jedesmal je ein gedachtes und ein wirkliches Wollen sind; der Gegensatz beider Fälle aber besteht darin, dass das gedachte Wollen, auf welches das wirkliche Wollen sich bezieht, in dem einen Fall als das eigene des Wollenden, in dem anderen als das eines Anderen gedacht wird. Wie nun im ersten Fall das gedachte eigene zum Vorbild des eigenen wirklichen Wollens, so wird in dem hier vorliegenden Falle das gedachte fremde zum Vorbild des eigenen wirklichen Wollens. In jenem Fall wird das Bild des eigenen Wollens, in diesem das Bild des fremden Wollens vom Wollenden nachgeahmt, so dass in jenem Harmonie zwischen gedachtem eigenem und eigenem wirklichem, in diesem dagegen Harmonie zwischen gedachtem fremdem und wirklichem eigenem Wollen stattfindet. Gedachtes fremdes und eigenes wirkliches Wollen werden dabei ihrem Inhalt nach congruent, dem Umstand nach, dass das eine blos gedacht, das andere wirklich, das eine eigenes, das andere fremdes Wollen ist, als gegensätzlich vorausgesetzt; jedes der beiden Verhältnissglieder hat durch die Identität des Inhalts etwas, und zwar ein Ueberwiegendes mit dem andern gemein und jedes etwas, wenngleich nichts überwiegendes, das eine [89]die Eigenschaft, dass es eigenes und wirkliches, das andere die entgegengesetzte, dass es gedachtes und fremdes Wollen ist, vor dem anderen voraus.

161. Dass in diesem Willensverhältniss die ästhetische Idee des Einklangs auf ethischem Felde wiederkehrt, braucht kaum erst hervorgehoben zu werden. Gedachtes fremdes und eigenes wirkliches Wollen verhalten sich zu einander wie die überwiegend identischen, obgleich jedes dem andern theilweise entgegengesetzten Glieder einer Ton-, Farben- oder Gedankenharmonie. Wie dieser auf ästhetischem, so kann jenem Willensverhältniss auf ethischem Gebiet das unbedingte Lob eben so wenig ausbleiben, wie seinem Gegentheil, der Disharmonie zwischen gedachtem fremdem und eigenem wirklichem Wollen der unbedingte Tadel.

162. Schon hier mag erwähnt sein, dass der Einklang des eigenen wirklichen mit dem gedachten fremden Wollen nicht mit der inhaltlichen Uebereinstimmung des eigenen mit fremdem Lust- oder Unlustgefühl, wie sie in den bekannten psychischen Phänomen des sogenannten Mitgefühls zu Tage tritt, verwechselt werden dürfe. Jener drückt eine Beziehung eigenen Wollens auf fremdes, dieses zwar gleichfalls eine Beziehung eigener auf fremde Gemüthszustände, jedoch nicht eine solche des Wollens, sondern des Fühlens aus. Das sympathetische Gefühl ist die Wiederholung eines fremden oder die Entstehung eines jenem entgegengesetzten Gefühls im eigenen Gemüth, obiges Willensverhältniss dagegen die Wiederholung eines dem fremden gleichen oder die Entstehung eines jenem entgegengesetzten Wollens im eigenen Willen. Jenes ist bei dem Mitleid und der Mitfreude, wo das Leid des Andern Leid, die Lust des Andern Lust in uns hervorruft, einerseits — bei Neid und Schadenfreude, wo die Lust des Andern Leid und das Leid des Andern Lust in uns nach sich zieht, andererseits der Fall. Dieses ereignet sich, wenn ein (wirklich oder vermeintlich) vorhandener Wunsch oder Wille eines Andern Veranlassung wird, unsererseits dasselbe, oder zum Grund für uns wird, das ihm Entgegengesetzte zu wollen.

163. Das sympathetische Gefühl, welches durch Nachahmung der Gefühle eines Andern und obiges Willensverhältniss, welches durch Nachahmung der Wünsche eines Andern von unserer Seite entsteht, haben nichts weiter mit einander gemein, als dass in beiden Fällen der Andere durch seine inneren Vorgänge Ursache wird gewisser Vorgänge in uns, mit dem bedeutsamen Unterschied, dass bei dem sympathetischen Gefühl, auch wenn die nachgeahmten [90]Gemüthszustände nicht wirklich vorhanden sind, doch gewisse Zeichen, welche als Aeusserungen derselben gelten können (z. B. Thränen als Zeichen des Leides, Lachen als solches der Freude) wirklich wahrgenommen (also wenn jener Gemüthszustand nicht wirklich vorhanden ist, künstlich, wie es beim Schauspieler der Fall ist, erzeugt) werden müssen, dass also der Andere jedenfalls wirklich vorhanden sein muss; während bei obigem Willensverhältniss das Wollen des Andern blos gedacht, daher eben so wie dieser Andere selbst nur in der Vorstellung des Wollenden als dessen Gedanke (Imagination) zu existiren nöthig hat.

164. Ein neues Willensverhältniss entsteht, wenn das Wollen des Andern, auf welches das des Wollenden bezogen wird, nicht blos gedacht d. h. nur als Gedanke im Wollenden vorhanden, sondern wirklich d. h. unabhängig von dessen Gedacht- oder Nichtgedachtwerden neben und ausser dem Wollenden vorhanden ist. In diesem Fall muss, da wirkliches Wollen nicht ohne wollendes Subject als Träger desselben gedacht werden kann, jener Andere selbst als Wollender neben und ausser dem ersten Wollenden als wollendes Du neben dem wollenden Ich als existirend gedacht werden. Das Willensverhältniss, welches bisher nur in einer Beziehung, sei es des eigenen gedachten zum eigenen wirklichen, sei es des wirklichen eigenen zum fremden gedachten Wollen, sonach innerhalb des Bewusstseins eines einzigen Wollenden bestand, erweitert sich durch die Beziehung des wirklichen eigenen zu fremdem wirklichem Wollen über die Sphäre des individuellen Bewusstseins hinaus zu einer Beziehung, welche zwischen zwei verschiedenen Wollenden angehörigen Wollen d. i. zu einem solchen, welches zwischen zwei verschiedenen Individuen besteht und daher nicht ohne Hinaustreten des einen wie des andern der beiden auf einander zu beziehenden wirklichen Wollen über die Grenze der Innen- in die Atmosphäre der Aussenwelt gedacht werden kann. Dass diese letztere hiebei für beide eine gemeinsame sein muss, leuchtet von selbst ein. Wäre sie es nicht d. h. wäre die Welt, in welche das Wollen des einen, von der Welt, in welche das des andern hinaustritt d. i. sich äussert, in der Weise verschieden, dass, was in der einen geschieht, in keiner Weise zu jenem, was in der andern vor sich geht, eine Beziehung zu haben vermöchte, so könnte auch zwischen dem Wollen des einen (des Ich) und jenem des andern (des Du) als gänzlich ausser einander gelegenen Welten angehörig, keine solche bestehen, und das Willensverhältniss, von dem hier die Rede, wäre einfach unmöglich. [91]

165. Dadurch, dass die Aeusserungen beider wirklicher Wollen in eine beiden gemeinsame Aussenwelt fallen, ist nur die Möglichkeit, keineswegs die Wirklichkeit einer Beziehung zwischen denselben hergestellt. So lange die beiderseitigen Willensäusserungen neben, aber auch ausser einander herlaufen können, ohne dass eine der andern auf ihrem Wege begegnet, mögen sie beide zwar ihrem Inhalt nach d. h. in Gedanken und als gedachte Willensbestrebungen mit einander verglichen werden; zwischen beiden als wirklichen d. i. als wirkenden Wollen besteht, so lange keiner derselben auf den andern wirkt, kein wirkliches Verhältniss.

166. Letzteres tritt erst ein, wenn die eine Willensäusserung auf die andere trifft, und zwar in der Weise, dass dieselbe weder durch die andere, noch diese durch jene hindurchgehen kann, ohne einander zu stören, sondern dass die eine die andere und diese jene in ihrem Fortschreiten hemmt d. h. dass beide, als gleichzeitig bestehend gedacht, mit einander unverträglich sind. Beide Willensäusserungen stehen sodann unter einander in einem Verhältniss, welches dem der gegenseitigen Ausschliessung des seinem Inhalt nach überwiegend Entgegengesetzten entspricht und, wie dieses einen Conflict zwischen mit einander unverträglichen Vorstellungen im Denken, so einen solchen zwischen mit einander unverträglichen Wirklichen im Sein darstellt. Jene als einander ausschliessende Gedanken können nicht mit einander zugleich gedacht, diese als einander ausschliessende Kräfte können nicht als mit einander zugleich bestehend ertragen werden. Ausdruck dieses Conflicts ist der Streit beider Wollenden.

167. Willensacte (volitiones) sind „Gedanken, die leicht bei einander wohnen”; Willensäusserungen (actiones) sind „Sachen, die sich hart im Raume stossen”. Jene, auch wenn sie dem Inhalt nach einander ausschliessen, überschreiten die Grenze des Bewusstseins ihres Trägers nicht; diese, auch wenn sie dem Inhalt nach mit einander verträglich sind, gehen über dieses hinaus und treten als Veränderungen in der Aussenwelt d. i. als Verschiebungen der bisherigen Lage der Dinge in der letzteren auf. Auch wenn die Willensäusserung in nichts anderem besteht als in einem Ausruf, einem gesprochenen Wort, einer Miene, einer Gliederbewegung des eigenen Leibes des Wollenden, so wird durch dieselbe eine Aenderung der bisherigen Sachlage, durch den Ruf, das Wort eine Erschütterung der den Raum erfüllenden atmosphärischen Luft, durch die Geberde, die Handbewegung eine Umstellung der Masse des eigenen organischen [92]Leibes herbeigeführt, welche bei der stetigen Erfüllung des Raumes mit Nothwendigkeit eine Ortsveränderung der angrenzenden Luft- oder Stofftheile herbeiführen und so als nähere oder entferntere Wirkung des durch den Willen gegebenen Impulses durch den Raum und die Materie sich fortpflanzen muss. Da sonach jede Willensäusserung als solche einen gewissen Theil des den Raum erfüllenden dünneren oder dichteren Stoffes für sich in Anspruch nimmt, so kommt es ganz auf die Natur dieses letzteren an, ob derselbe fähig sei, zweien oder mehreren Willensäusserungen als Werkzeug der Aeusserung zugleich zu dienen. Ist der Stoff, welchen der Wille zu seiner Aeusserung gebraucht, von der Art, dass er zugleich von einem andern, von jenem verschiedenen Wollen zu dessen Aeusserung verwendet werden kann d. h. ist derselbe für beide Wollen durchdringlich (permeabel), so entsteht kein Streit: die Aeusserung des einen geht durch die Aeusserung des anderen Willens hindurch, ohne dieselbe zu hindern oder durch sie gehindert zu werden. So gehen die Schallwellen, die das gesprochene Wort des einen erzeugt, durch jene, die das des andern hervorruft, dem Anscheine nach ohne einander zu stören, hindurch, indem beiden dieselbe den Raum erfüllende atmosphärische Luft zum Schallorgan dient. Ist dagegen jener Stoff von solcher Beschaffenheit, dass derjenige Theil desselben, welcher von einem Willen als Instrument seiner Aeusserung in Beschlag genommen ist, nicht zugleich von einem andern zu gleichem Zweck in Besitz genommen werden kann d. h. ist der von einem Wollen erfüllte Stoff undurchdringlich (unpermeabel) für ein anderes Wollen, so stellt er den Stein des Anstosses dar, an dem beide Wollen und in dem sie beide an einander prallen; es entsteht ein Zustand, der so, wie er ist, nicht dauern und so lange beide Wollen dieselben bleiben, die sie sind, nicht anders werden kann. Eine unhaltbare und doch thatsächliche Sachlage — ein realer d. i. real gewordener Widerspruch.

168. Von dieser Art war die Situation, von welcher Carl V. sagte, „dasselbe, was mein Bruder Franz will, will ich auch, nämlich Mailand.” Indem das Object beider Wollen ein solches ist, dass es nur einem oder keinem von beiden dienen kann und doch beide Wollen solche sind, dass sie nicht aufhören, eben dieses Object zu begehren, wird eine Sachlage geschaffen, welche, obgleich factisch, doch irrational und obgleich irrational, doch factisch ist, als unabweislich zugleich und undenkbar sich aufdrängt. [93]

169. Ausdruck dieses Eindrucks im Zuschauer ist der unbedingte Tadel, der dem Streite folgt. Derselbe kann, da der Grund des Streites einerseits in dem Umstand, dass beide dasselbe Object wollen, andererseits in dem Umstand, dass dieses seiner Natur nach nicht beiden zugleich nachzugeben vermag, gelegen ist, nicht der Natur des Objects, die als solche unveränderlich durch Naturgesetze gegeben ist, sondern nur den beiden Wollenden gelten, deren Wille der Natur des Wollens nach veränderlich und von der Selbstbestimmung der Wollenden abhängig ist. Da nun obiger Tadel so lange sich erneuert, als obige Sachlage unverändert fortbesteht, letztere aber nur eine Aenderung erfahren kann, wenn, da die Natur des Objects unveränderlich ist, eines der beiden streitenden Wollen, oder wenn beide eine Abänderung erleiden, so folgt, dass, um dem Tadel zu entgehen, kein anderer Ausweg möglich ist, als dass das streitende Paar, oder wenigstens einer der Streitenden vom Streite ablässt d. i. sein bisheriges Wollen ändert, auf das Object desselben verzichtet, dasselbe freilässt.

170. Durch diese Aenderung des Wollens erlischt der Streit, es wird Friede. Das Object, das den Anlass zum Streite bot, ist dasselbe geblieben, das es war, nur der nach seiner Beschaffenheit äusserliche, zufällige Umstand, dass es zugleich Gegenstand zweier Wollen und dadurch Grund geworden war, dass diese sich als unverträglich mit einander an den Tag legten, ist geschwunden. Dasselbe kann nunmehr entweder, wenn beide verzichtet haben, ruhig an seinem Ort beharren oder wenn nur einer verzichtet hat, ohne Anstand dem Wollen des Anderen Raum geben. Der unerträgliche, weil in sich widersprechende Zustand besteht nicht mehr, weil die mit einander unverträglichen Wollen nicht mehr bestehen d. h. weil die Wollenden, die bisher sich unter einander ausschlossen, sich jetzt entweder, weil keiner mehr, oder, weil nur mehr einer will, was er wollte, sich unter einander vertragen.

171. Je nachdem dieses nunmehrige Sichvertragen der Wollenden stillschweigend erfolgt oder ausdrücklich durch eine, wie immer geartete Kundgebung von Seite der Wollenden (Vertrag, pactum) bekräftigt wird, nimmt der hergestellte Friede selbst natürlichen oder positiven, vertragsmässigen Charakter an. Je nachdem die Aenderung des Wollens, auf deren Grund hin der Streit erlischt, sei es bei einem, sei es bei jedem der Streitenden entweder nur aus dem Grunde erfolgt, weil derselbe oder dieselben zur Einsicht gelangt sind wegen gänzlicher Erschöpfung an physischer [94]Kraft nicht mehr streiten zu können, oder weil einer oder beide die Ueberzeugung gewonnen haben, es bringe grösseren Vortheil Frieden zu schliessen als weiter zu streiten, oder endlich weil derselbe oder dieselben ausser Stande sich fühlen, den, so lange der Streit fortwährt, stets sich erneuernden Tadel, welcher die Streitenden trifft, weiter zu tragen, nimmt der Friede selbst entweder den Charakter eines blossen „Nothfriedens” oder den eines „Schacherfriedens”, oder im letzten Falle den eines sittlichen d. h. eines um keines andern Motives willen, als um dem ethischen Tadel des Streites zu entgehen, geschlossenen Friedens an.

172. Nur der letztgenannte ist dauerhafter, beide vorher angeführten sind lediglich vorübergehender Natur. Der aus keinem anderen Grunde entstandene Friede, als weil die streitenden Parteien sich erschöpft fühlen, während der Wille zu streiten, wenn die Kräfte zureichten, nach wie vor vorhanden bleibt, besteht nur so lange, als das Kraftgefühl mangelt; mit dem Erwachen des letzteren hebt der Streit wieder an. Der um des materiellen Vortheiles willen geschlossene Friede aber währt nur so lange, als die Aussicht auf Erlangung grösserer Vortheile durch den Frieden, als durch den Streit besteht; von dem Augenblicke an, als diese Aussicht schwindet, oder die ihr entgegengesetzte sich eröffnet, hört auch der Wille Frieden zu halten auf und schlägt in den entgegengesetzten, von neuem Streit zu beginnen, um. Bestand und Dauer des Friedens hängen sonach in beiden Fällen nicht von dem an sich unwandelbaren Urtheil über den unbedingten Unwerth des Streites, sondern von äusseren Umständen ab: in dem einen Fall von denjenigen Verhältnissen, welche den Wiederersatz der verlorenen Kräfte beschleunigen oder verzögern, in dem andern Falle von den Umständen, welche die Erlangung materieller Vortheile durch den Frieden oder durch den Streit begünstigen oder verhindern. Nur derjenige Friede, der auf der Macht der Einsicht in die Verwerflichkeit des Streites über Gemüther und Wollen der im Streit begriffen Gewesenen beruht, trägt die Bürgschaft unveränderten Fortbestandes, so lange jene Macht unverändert sich forterhält, in sich. Die Erhaltung letzterer Macht aber ist so lange gesichert, als das ethische Urtheil des Wollenden ungetrübt, seine Beurtheilung des Streites von dessen den Widerspruch in sich tragender Natur ausschliesslich bestimmt und dadurch die Wiedererneuerung unbedingter Verwerfung desselben in jedem gegebenen Falle unvermeidlich ist. [95]

173. Wie die natürliche Correctheit d. i. die Abwesenheit einander ausschliessender Vorstellungen im Bewusstsein zur künstlichen d. i. zu der sei es zufällig, sei es willkürlich „auf Zeit” hervorgebrachten Verdrängung der unverträglichen aus dem und Ersatz derselben durch mit einander verträgliche Vorstellungen in dem Bewusstsein, so verhält sich der natürliche d. i. der Friede von Natur aus, innerhalb dessen unter einander ausschliessende Willensäusserungen überhaupt nicht vorkommen, zum künstlichen d. i. zu demjenigen Friedenszustande, innerhalb dessen thatsächlich vorhanden gewesene mit und unter einander unverträgliche Willensäusserungen, sei es in Folge physischer Ursachen (z. B. Erschöpfung der Kräfte) zufällig oder in Folge den Willen bestimmender Motive (z. B. der Schädlichkeit oder der Verwerflichkeit des Streites) willkürlich „auf Zeit und Kündigung” beseitigt und durch mit einander verträgliche Willensäusserungen ersetzt worden sind. Derselbe verheisst desto grössere Festigkeit, je dauerhafter die Gründe sind, welche die Ausschliessung der mit einander unverträglich gewesenen Willensäusserungen bewirkt haben; dagegen desto geringere, je wandelbarer und von der Laune des Geschickes abhängiger die Motive waren, welche die ursprünglich Streitenden zur Ablassung von jenem ihren Streit erregenden Wollen bewogen haben. Jenes ist, wie oben gezeigt, bei demjenigen Beweggrund vom Streite abzustehen, der aus der Einsicht von dessen Verwerflichkeit entspringt, dieses dagegen bei denjenigen Friedensgründen der Fall, welche nur durch die Noth oder den äusseren Nutzen dictirt sind.

174. Der künstliche Friede erstickt den Streit, aber nur für so lange, als der Wille nicht zu streiten, die Oberhand behält. Mit dem Verschwinden oder dem Nachlassen der Macht des letzteren taucht der Streit wieder empor; dessen „schlangenhaariges Scheusal” schlummert nur gebändigt aber nicht vernichtet unter der künstlichen Decke des Friedens. Der hergestellte Friede ist auf sein Wesen hin angesehen scheinbarer, nicht wirklicher; die wirklich vorhandenen, nur künstlich beseitigten sind die einander ausschliessenden Willensäusserungen („bellum omnium contra omnes”), der Unfriede. Letztere sind nicht absichtlich mit Wissen durch das Wollen der Streitenden, sondern sie sind unabsichtlich, ohne Wissen, ja voraussichtlicher Weise gegen den Willen der durch dieselben mit einander in Streit Gerathenden herbeigeführt. Das Wollen, dessen Aeusserung an einem bestimmten Punkte der Aussenwelt mit der eines Anderen feindselig zusammentrifft, hat weder vor dem Zusammentreffen [96]von dem Vorhandensein des Du noch von dessen auf jenes Object sich richtendem Wollen, also auch nicht von der Möglichkeit, noch weniger von der Unausweichlichkeit des Streites eine Vorstellung gehabt, dasselbe hat folglich diesen weder gewollt noch wollen gekonnt und würde möglicher Weise, wenn es desselben Bevorstehen gekannt hätte, die streitdrohende Aeusserung seines Willens nicht gewollt haben. Das Wollen der Streitenden ist an der Entstehung des Streites keineswegs ohne Schuld, aber jeder der Streitenden ist am Streite unschuldig; jener wäre nicht entstanden, wenn keiner von beiden das Streitobject gewollt hätte; aber keiner von beiden hat das Object als Streitobject und eben so wenig einer von beiden den Streit gewollt. Der Tadel, der dem Streit gilt, trifft darum jeden der Streitenden nur insofern, als ohne das Wollen desselben kein Streit entstanden wäre; derselbe trifft beide Streitende in gleichem Grade, weil beide an dem Zustandegekommensein des Streites im gleichen Grade in einem Sinn betheiligt, im anderen unbetheiligt sind.

175. Die gleiche Vertheilung des Tadels auf beide Wollende hört auf, wenn die gleiche Betheiligung beider Willenssubjecte an dem zwischen denselben stattfindenden Verhältniss ein Ende nimmt. Dieser Fall tritt ein, wenn das Zusammentreffen beider Wollenden nicht zufällig, ohne Wissen und Absicht beider, sondern absichtlich, mit Wissen und durch das Wollen des einen von beiden, dagegen ohne Wissen und wider den Willen des anderen herbeigeführt wird. Jener, dessen gewusstes und gewolltes Object nicht, wie im vorhin geschilderten Falle des Streites ein beliebiges, sondern ein Anderer und zwar der Andere, das Du, und dessen jeweiliger Zustand ist, heisst insofern der Thätige (agens), dieser, der ohne Wissen und Willen, ja selbst wider Willen, mit seinem jeweiligen Zustand Object für die Willensäusserung des ersten ist, heisst insofern der Leidende (patiens). Letzteres nicht in dem Sinn, als müsse die Folge seines Objectseins für den Anderen eben ein eigentliches Leid d. i. ein Schmerzgefühl sein, sondern in dem Sinn, dass die Veränderung seines gegenwärtigen Zustandes, sei es zum Schlechteren oder zum Besseren, eben die Folge der ihn zum Object wählenden Willensäusserung des Thätigen sei. An der Verursachung dieser Folge d. i. an der Veränderung des bisherigen Zustandes, welche der eine erzeugt, der andere nur duldet, sind beide ungleich betheiligt.

176. Wie Hammer und Ambos verhalten sich Thätiger und Leidender. Das geschmiedete Eisen ist Wohl oder Wehe des Leidenden. [97]Das Schmieden des Eisens erfolgt durch den Hammer, aber auf dem Ambos; die Veränderung der bisherigen Sachlage nicht ohne den Leidenden, an dem, aber durch den Thätigen, von dem sie vollzogen wird. Jene selbst, mit dem bisherigen Zustande verglichen, stellt eine Störung desselben dar; der Urheber derselben, der Thätige, erscheint als Störenfried. Ausdruck dieser Störung d. i. derjenige von dem bisherigen verschiedene Zustand, welcher durch den Thätigen verursacht ist, ist die That. Dieselbe als Zustand, der jetzt ist und vorher nicht war, ist ein Wirkliches und als solches die Wirkung eines Wirkenden (des Thäters). Diese Wirkung selbst aber ist in dem Geiste des Wirkenden vorgebildet als Vorsatz (Absicht) und in dem Zustande des durch dieselbe betroffenen Leidenden abgebildet als Folge (Erfolg). Nur wo beide, Vorsatz im Thätigen, Erfolg im Leidenden, einander decken, ist wirklich That; wo der Erfolg mangelt, ist, wenn das Wollen nicht zur Aeusserung gelangt ist, Intention ohne Action, wenn das Wollen zu nur unvollkommener Aeusserung gelangt ist, Versuch ohne Gelingen, wenn dagegen zwar der Erfolg, aber weder Versuch noch Absicht voranging, blosses Ereigniss vorhanden.

177. Da, wo keine That, auch kein Thäter vorhanden ist, so kann für das nackte Ereigniss, das sich an dem einen der beiden Wollenden, dem Leidenden, vollzieht, der andere der beiden, der sogenannte Thätige, zwar vielleicht als eine der mitbedingenden Ursachen, niemals aber kann das Wollen desselben als Ursache jenes Ereignisses angesehen werden. Da ferner, wo kein Erfolg, keine That, aber doch Absicht, ja Versuch einer solchen vorhanden ist, so kann für das Nichteintreten des Erfolges am Leidenden zwar die geistige oder körperliche Beschaffenheit des sogenannten Thätigen (dessen Unverstand oder Ungeschick) als eine der Mitursachen des Ausbleibens des Erfolges, niemals aber kann dessen Wollen als die Ursache des Nichtgelingens betrachtet werden. Wird daher, wie es auf ethischem Gebiete der Fall ist, nur das Wollen beurtheilt, so fällt in dem ersten der beiden angeführten Fälle der sogenannte Thätige ganz ausserhalb des Kreises ethischer Beurtheilung, in dem zweiten dagegen zwar in denselben hinein, aber da dessen anderweitige psychische und physische Mängel, welche das Misslingen des Erfolges herbeigeführt haben, den Schluss auf eine ähnliche Mangelhaftigkeit in Bezug auf Beherrschung und Regelung seines Wollens gestatten, unter mildernden Umständen. [98]

178. Durch die That als Störung des bisherigen Zustandes ist etwas geschehen; aber so lange dieselbe als That d. i. als Störung nicht anerkannt ist, scheint es, als sei nichts geschehen. Oedipus hat seinen Vater erschlagen und seine Mutter geheiratet, aber nach aussen scheint es, als habe er weder das eine noch das andere gethan. Gegen scheltende Knechte eines unbekannten Reisenden hat er als ungerecht angegriffener Wanderer sich zur Wehre gesetzt: die zum Preise der Befreiung der Stadt von der Pest und Sphinx ausgesetzte Witwe des verstorbenen Königs hat er durch Lösung des Räthsels auf rechtmässigem Wege zur Gattin erworben. Ein Verbrechen ist geschehen, aber es scheint, als sei keines geschehen; Schein gibt sich für Sein, ein nur scheinbar vorhandener für den wirklich vorhandenen Zustand aus. Die anscheinende Sachlage steht mit der thatsächlichen in einem Widerspruch, der sich auf eine Zeit lang, aber nicht auf die Dauer verheimlichen lässt, und dessen klaffender Spalt um so unerträglicher erscheint, als der Inhalt des scheinbar zu dem Inhalt des wirklich Geschehenen im einander ausschliessendem Gegensatze steht.

179. Wie das Missfallen am Streit auf dem gleichzeitigen Bestand zweier einander ausschliessenden Willensäusserungen, so beruht das Missfallen an der Störung durch die That in dem gleichzeitigen Fortbestand zweier einander ausschliessender Sachlagen, der scheinbaren, die vor der That bestand und dem Anschein nach trotz der That fortbesteht, und der wirklichen, welche durch die That erzeugt worden ist und dem Anschein nach noch nicht besteht. Wie es unmöglich ist, dass zwei mit einander unverträgliche Willensäusserungen zugleich existiren, so ist es unmöglich, dass zwei mit einander unverträgliche Sachlagen zugleich als bestehend und wirklich anerkannt werden: dass Oedipus zugleich schuldig und schuldlos sei. Wie der Bestand unverträglicher Willensäusserungen, so ist der Bestand unverträglicher Sachlagen ein irrationaler; aber, wie der Bestand jener Willensäusserungen, so lange das Object und die Willen der Streitenden dieselben bleiben, ein factischer, so ist der Bestand der einander ausschliessenden Sachlagen, deren eine, die scheinbare, für wirklich, deren andere, die wirkliche, für Schein gehalten wird, ein thatsächlicher: wie dort, so ist hier das Irrationale factisch, und ist das Factische irrational; in jenem wie in diesem Falle existirt der Widerspruch.

180. Derselbe besteht so lange, als der Schein besteht, dass die scheinbare Sachlage wirklich und die wirkliche Sachlage Schein [99]sei. Soll derselbe verschwinden, so muss dieser Schein verschwinden, die scheinbare Sachlage muss als Schein, die wirkliche sich als wirklich offenbaren. Dies geschieht, wenn die todtgeschwiegene Störung als solche anerkannt d. h. durch entsprechende Gegenstörung ausgeglichen und auf diese Weise zwar nicht der ursprüngliche Zustand, der als zeitlich vergangener nicht wiederkehren kann, aber doch ein demselben gleicher wieder hergestellt wird.

181. Die ästhetische Idee des Ausgleichs ist es, die hier auf ethischem Gebiete wieder zum Vorschein kommt. Die wirkliche Sachlage, die durch die That herbeigeführt, aber durch den anscheinenden Fortbestand des vorherigen Zustandes gleichsam mit einem Schleier bedeckt worden ist, tritt aus der Verdunkelung wieder ans Tageslicht. Oedipus, der zum Verbrecher geworden ist, aber keiner scheint, wird durch die Aufhellung der That als solcher erkannt und durch die an ihm verübte Vergeltung die durch den Schein seiner Schuldlosigkeit entstandene Verrückung des wirklichen Thatbestandes wieder zurechtgerückt. So weit die Sachlage durch den Anschein des Gegentheils nach einer Richtung hin verschoben worden ist, so weit muss sie zum Zwecke der Aufhebung dieses Anscheins nach der entgegengesetzten Richtung hin zurückgeschoben werden. So viel (quantum) Ablenkung vom wirklichen Thatbestand nach der einen Seite hin stattgefunden hat, so viel (tantum) Einlenkung zum wirklichen Thatbestande hin muss von der andern Seite stattfinden. Störung und Gegenstörung heben einander auf; wie jene in der That, findet diese ihren Ausdruck in der Vergeltung. Das Mass der Gegenstörung ist durch das Mass der Störung, die Ausdehnung der Vergeltung durch jene der That gegeben. Ausdruck dieses gegenseitigen Verhältnisses ist die Billigkeit (æquitas).

182. Da, so lange der Widerspruch beider Sachlagen, der wirklichen und der scheinbaren, bestand, Missfälliges bestand, so lange die Störung als todtgeschwiegene, die That als unvergoltene währte, aber auch der Widerspruch währte, so hört mit der Aufhebung der Störung durch Gegenstörung d. i. mit der Vergeltung der That, zwar der Widerspruch und damit das Missfällige auf, wie mit der Aenderung der streitenden Willensäusserungen der Streit aufhört, aber ein unbedingt Beifälliges ist dadurch nicht hergestellt. Weder, wenn, vom Gesichtspunkt des Leidenden angesehen, die That eine Weh- noch wenn sie eine Wohlthat ist; denn die Beschaffenheit des Erfolges, den der Leidende erfährt, ist für die Qualifikation der That, insofern sie dem Thäter angehört, gleichgiltig. [100]Nicht die Wohlthat als Wohl- noch die Wehethat als Wehe-, sondern beide als Thaten bedürfen der Vergeltung. Wenn es von einem andern, z. B. vom politischen oder gesellschaftlichen Gesichtspunkt aus nöthiger scheint, dass Wehthaten, als dass Wohlthaten Vergeltung erfahren, weil die letzteren die Summe des schon vorhandenen Wohlbefindens nur vermehren, die ersteren dagegen die vorhandene Summe nur vermindern können und deshalb die Gesetzgebung der Staaten früher und eifriger für die Bestrafung der einen als für die Belohnung der andern Sorge zu tragen pflegt, so stellt dieser Unterschied sich vom ethischen Gesichtspunkt aus als unzulässig dar, da nicht die That in ihrer specifischen Qualität als Wohl- oder Wehe-, sondern als That überhaupt zur Vergeltung auffordert. Während das sogenannte jus talionis mit seinem Ausspruch: Aug um Aug, Zahn um Zahn, sich an das quale der That, dem ein tale der Vergeltung, hält sich die Billigkeit an das quantum der That, welchem das tantum der Vergeltung entspricht. Jenes betrachtet die Zufügung eines andern als des erlittenen Leides, diese nur die Zufügung eines grösseren, aber auch die eines geringeren Leides als das erfahrene war, als Verletzung der Norm. Das eine, die Rückgabe eines geringeren Masses von Weh, liesse einen unvergoltenen Ueberrest der That zurück; das andere, die Rückgabe eines grösseren, wäre als Ueberschuss über das zu vergeltende seinerseits selbst That, die Vergeltung erheischte.

183. Mit der Betrachtung des absichtlich von Seite des einen der Wollenden herbeigeführten Zusammentreffens zweier wirklicher Wollenden ist die Reihe der möglichen Willensverhältnisse, die Gegenstand unbedingten Lobes oder eben solchen Tadels werden können, erschöpft. Dieselbe ist durch eine Folge einander dichotomisch ergänzender Eintheilungen entstanden, zwischen deren einzelne Glieder sich weder ein weiteres einschieben, noch an deren Schluss ein weiteres sich anfügen lässt. Die zu vergleichenden Wollen wurden entweder ohne, oder mit Rücksicht auf den Umstand, ob sie einem und demselben, oder verschiedenen Wollenden angehören, angesehen; jene, welche in den Umfang des letzteren Gliedes der Eintheilung fielen, abermals in solche, welche einem und demselben oder welche verschiedenen Wollenden (und zwar der geringsten Anzahl derselben, dem Ich und dem Du) angehörten, unterschieden. Erstere, da sie, um als Glieder eines Willensverhältnisses innerhalb desselben Wollenden auftreten zu können, sich zu einander nur wie gedachtes zu wirklichem Wollen verhalten konnten, boten nur eine Gelegenheit [101]zu weiterer Unterabtheilung dar — je nachdem das gedachte Wollen, als dessen Nachbild das wirkliche auftrat, entweder das eigene (Vorstellung des eigenen Wollens), oder ein fremdes (Vorstellung des Wollens eines Andern) war. Letztere, welche als solche verschiedenen Wollenden angehören und nur dadurch, dass sie mit einander irgendwie und irgendwo in Berührung gebracht wurden, in ein Verhältniss zu einander treten konnten, vermochten in Contact nur entweder durch Zufall oder durch Absicht (eines der Wollenden) versetzt zu werden. Weder ein Wollen, das weder eigenes, noch fremdes, noch ein Zusammentreffen Wollender, das weder absichtslos, noch absichtlich wäre, ist denkbar. Die Glieder obiger Eintheilung schliessen einander daher vollständig aus und ergänzen einander zum Umfang des einzutheilenden Ganzen: die Eintheilung ist vollständig.

184. Auch in dem Sinn, dass ein weiteres Glied am Schlusse sich nicht hinzufügen lässt. Denn ein solches könnte nur durch die Vermehrung der zu einander in Beziehung zu setzenden wirklichen Wollen über die kleinstmögliche Anzahl hinaus gesucht werden; eine solche aber ergibt kein neues, sondern nur eine Wiederholung vorheriger Willensverhältnisse. Auch die drei, vier, n wirklichen Wollen verschiedener wollender Wesen müssen, um zu einander ein Verhältniss einzugehen, irgendwie und irgendwo zusammengeführt und dadurch die mehreren Wollenden mit einander in Berührung gebracht werden. Da nun von selbst einleuchtet, dass jenes Zusammentreffen nur entweder durch Zufall oder durch Absicht verursacht werden könnte, so würde im ersteren Falle Streit, im letzteren Falle würden Wohl- oder Wehethaten die Folge sein d. h. die zwei letztgenannten obiger Willensverhältnisse würden, nur vervielfältigt, wiederkehren.

185. Aus dem quantitativen Gesichtspunkt der Beurtheilung des Wollens ergibt sich die ethische Idee der (ethischen) Vollkommenheit. Dieselbe unterscheidet sich von der ästhetischen Vollkommenheit dadurch, dass der letzteren entsprechend das Grosse überall, wo es sich findet, neben dem Kleineren — der ersteren zufolge das Grosse am Wollen neben dem Kleinen an diesem insbesondere gefällt. Da nun die Grösse des Wollens als eines wirklichen und wirkenden d. i. als einer Kraft, in der Intensität d. i. in der Stärke desselben besteht, so nimmt das allgemein ästhetische Urtheil: das Grosse gefällt neben dem Kleinen, das Kleine missfällt neben dem Grossen, auf ethischem Boden die Gestalt an: das starke Wollen [102]gefällt neben dem schwachen, das schwache missfällt neben dem starken. Indem hiedurch das stärkere Wollen zum Massstab des schwächeren wird, stellt der Grad seiner Stärke dem schwachen gegenüber jene Grenze dar, zu welcher dieses gelangen, das „Volle”, zu dem dieses „kommen” muss, wenn seine Missfälligkeit ein Ende nehmen soll. Mit der Erreichung jener Grenze hört, wie schon oben bemerkt, das Missfallen am schwächeren, weil dessen Schwäche selbst, auf, aber auch das Verhältniss; mit der Ueberschreitung derselben kehrt sich, wie gleichfalls oben bemerkt, dasselbe um: das jetzt stärkere Wollen gefällt, das jetzt schwächere Wollen missfällt von nun an. Da das Gefallen an der Stärke des Wollens von jeder sonstigen Beschaffenheit desselben abstrahirt, so folgt, dass ein nach der Idee der ethischen Vollkommenheit wohlgefälliger Willensact in anderer Hinsicht missfällig, ja unbedingt verwerflich sich darstellen kann, ohne den Anspruch auf Beifall, ja auf Bewunderung nach jener Richtung hin einzubüssen. In diesem Sinn bleibt auch dem Bösewicht, ja dem verkörpert gedachten Bösen, dem satanischen Ideal ethisches Lob nicht aus, wenn sich derselbe oder dieses letztere in gewaltiger, das gewöhnliche, ja selbst alles menschliche Mass übersteigender Energie der Willenskraft offenbart. Richard III., Jago, Carl Moor, Milton’s Satan, Klopstock’s Abadonna, „der Geist, der stets verneint”, regen von diesem ethischen Einzelgesichtspunkt aus „schaudernde Bewunderung” an. In Heroenzeitaltern und bei Naturvölkern macht die Verehrung für die ins Ungemessene gesteigerte Willensenergie fast allein den Inhalt des moralischen Codex aus; die Achtung des schwächeren für das stärkere Geschlecht ist vorwiegend auf das Gefühl überlegener Willensmacht des letzteren begründet. Wie die intensive Grösse des einzelnen Willensactes, so erweckt die extensive Grösse der Vervielfältigung des Willens in zahlreichen, sei es dem Inhalt nach gleichen, oder mannigfaltigen Willensacten und die Geschlossenheit und innere Systematik dieser letzteren, verglichen mit Armuth und Einförmigkeit des Wollens, so wie mit dessen Halt- und Systemlosigkeit, unbedingtes Lob, während dem letzteren Tadel folgt.

186. An die ethische Idee der Vollkommenheit schliesst sich ein Verfahren an, welches die in derselben enthaltene Forderung der Stärke, der Mannigfaltigkeit und des inneren Zusammenhangs des Wollens einerseits auf den gesammten Umkreis der Willensbethätigung des Wollenden d. h. auf dessen Gesammtwollen, andererseits über den einzelnen Wollenden hinaus, auf jede Vereinigung [103]mehrerer, ja aller überhaupt Wollenden d. i. auf alle durch ein gemeinsames Band unter sich verknüpften Glieder einer Gesellschaft d. i. auf deren gesammtes, innerhalb ihres Umkreises vorhandenes Wollen ausdehnt. Dasselbe besteht darin, dass sowol in jedem einzelnen Individuum als solchem wie in der Gesellschaft jedes vorhandene Wollen zur höchstmöglichen Energie gesteigert, nicht vorhandenes Wollen in jeder erreichbaren Vielheit und Mannigfaltigkeit geweckt, ferner das gesammte auf diese Weise gegebene oder entwickelte Wollen in inneren Zusammenhang und gesetzliche Anordnung gebracht und in beiden erhalten werde. In ersterer Hinsicht begünstigt jenes Verfahren die Einseitigkeit, in Bezug auf die Menge dagegen die Vielseitigkeit des Wollens, davon die erste weniges, aber starkes, die letztere, wenngleich schwaches, doch vieles und mannigfaltiges Wollen fördert, während durch die Berücksichtigung des Verhältnisses des gesammten Wollens zu jedem der dasselbe ausmachenden Willensacte das Vorwiegen der einseitigen auf Kosten der vielseitigen, aber auch umgekehrt das Uebergewicht der vielseitigen über die einseitige Willensentwicklung vermieden und dadurch das Gleichgewicht zwischen beiden entgegengesetzten Richtungen der Vervollkommnung des Wollens erhalten wird. In letzterer Hinsicht geht jenes Verfahren darauf, dass innerhalb des Umkreises der Gesellschaft jedes in irgend einem ihrer Glieder vorhandene Wollen zu dem höchsten erreichbaren Grade von Energie gesteigert, aber auch dass innerhalb desselben jedes nicht vorhandene Wollen, sei es in einem einzelnen, sei es in sämmtlichen Gliedern, geweckt und auf diese Weise die Mannigfaltigkeit des Wollens innerhalb der Gesellschaft zum höchsten erreichbaren Grade entwickelt werde. Durch ersteres wird innerhalb der Gesellschaft die Einseitigkeit, durch letzteres die Vielseitigkeit des Wollens gefördert, durch die Herstellung des Gleichgewichts zwischen beiden entgegengesetzten Richtungen der innerhalb der Gesellschaft vorhandenen Willensentwicklung aber sowol die Ueberhebung einer einzelnen, als die Verseichtigung der vielen vorhandenen Willensrichtungen verhütet.

187. Steigerung wirklicher oder doch als Anlage vorhandener Kräfte in quantitativer Hinsicht ohne Rücksichtnahme auf deren anderweitige qualitative Beschaffenheit ist es, was im Allgemeinen Cultur heisst. Die ethische Idee der Vollkommenheit enthält die Forderung der Cultur des Wollens in jedem einzelnen Wollenden, wie in jeder Gesellschaft von solchen. Jedes obiger Forderung entsprechende Individuum stellt ein ethisches Culturideal d. h. [104]das Ideal eines ethisch cultivirten Gesammtwollens dar; jede Gesellschaft, welche das gleiche thut, repräsentirt ein ethisches Cultursystem d. i. das Ideal einer die Cultur des Wollens in ihrem gesammten Umfang und nach jeder möglichen Richtung hin verwirklichenden Gesellschaft. Ersteres schliesst in sich, dass innerhalb des Wollenden keine Richtung des Wollens unvertreten, aber auch keine über das mit der gleichzeitigen Pflege aller übrigen verträgliche Mass hinaus getrieben sei. Letzteres schliesst in sich, dass innerhalb des Umkreises der Gesellschaft jede vorhandene Willensrichtung stark, nicht nur in jedem einzelnen Gliede, in dem sie sich findet, sondern durch möglichst viele Glieder der Gesellschaft, in welcher sie sich findet, vertreten, aber auch, dass keine innerhalb des Umfangs der Gesellschaft unvertreten d. h. nicht wenigstens in einigen oder in einem ihrer Glieder in genügender Stärke entwickelt sei. Jene Glieder der Gesellschaft, in welchen die nämliche Willensrichtung vorhanden ist, machen dadurch in ethischer Hinsicht eine Gesellschaftsclasse für sich, die Mannigfaltigkeit der innerhalb der Gesellschaft vorhandenen einzelnen, mehreren oder vielen Gliedern derselben gemeinsamen Willensrichtungen macht in Bezug auf die Gesellschaftsclassen die Buntheit und Mannigfaltigkeit der (ethisch) cultivirten Gesellschaft aus. Stellen unter den mannigfaltigen in der Gesellschaft durch Classen vertretenen Willensrichtungen die ihrem Inhalt nach lobenswerthen das Licht, die ihrem Inhalt nach verwerflichen den Schatten (in ethischer Hinsicht) dar, so kommt durch die Vielfältigkeit der Gesellschaftsclassen Licht und Schatten, überhaupt ethische Färbung in die Gesellschaft, innerhalb welcher je nach dem Uebergewicht der vorhandenen guten über die schlechten, oder der vorhandenen schlechten über die guten Willensrichtungen in der Gesellschaft, das Urtheil über die (im ethischen Sinne) helle oder dunkle Natur dieser selbst erfolgt und diese je nach der Proportion, die zwischen der Summe der guten und jener der verwerflichen in ihr vorhandenen Willensrichtungen (wie sie z. B. die Statistik der stationären Anzahl innerhalb der Gesellschaft vorkommenden Verbrechen ausweist) herrscht, als (a potiori) eine relativ gute oder relativ verdorbene bezeichnet wird.

188. Aus dem qualitativen Gesichtspunkt der Uebereinstimmung des eigenen gedachten mit dem eigenen wirklichen Wollen ergibt sich die ethische Idee der inneren Freiheit. Dieselbe entsteht dadurch, dass die ästhetische Idee des Charakteristischen auf das [105]ethische Gebiet übertragen, das gedachte eigene Wollen als Vor-, das eigene wirkliche Wollen als dessen Nachbild angesehen wird. Insofern jenes als Bild eines noch nicht vorhandenen, aber dem Wollenden möglichen Wollens in dessen Geiste vorangeht, dieses als wirklich vorhandenes, jenem Bilde entweder entsprechendes oder nicht entsprechendes, demselben in der Zeit nachfolgt, lässt sich das erste als Project, das letztere als getreue oder ungetreue Ausführung desselben betrachten. Jede sogenannte Maxime oder praktischer Grundsatz des Handelns stellt, da sie nicht vorhandenes Wollen beschreibt, sondern eine Regel für nicht vorhandenes, also künftiges Wollen formulirt, das Bild eines möglichen Wollens, ein Willensproject dar, welches sich zu der Gesammtheit aller Maximen d. i. zu der sogenannten praktischen Einsicht des Wollenden verhält, wie dessen einzelner Willensact zu der Totalität seines wirklichen Wollens. Dasselbe Verhältniss, welches zwischen dem einzelnen Willensproject und dem einzelnen Willensact herrscht, kann daher auch zwischen der gesammten praktischen Einsicht und dem gesammten wirklichen Wollen des Wollenden stattfinden, so dass das letztere entweder als getreue oder als ungetreue Nachahmung der ersteren sich darstellt. Fasst man blos das Verhältniss zwischen einem einzelnen Willensproject und dem darauf seinem Inhalt nach bezüglichen Willensact ins Auge, so findet, im Fall der letztere seinem Inhalt nach dem Willensproject entspricht, zwischen beiden unbedingt wohlgefällige Harmonie, im Gegenfall, wenn der einzelne Willensact durch seinen Inhalt dem des Willensprojects entgegengesetzt ist, unbedingt missfällige Disharmonie statt. Wird an die Stelle obiger Verhältnissglieder dagegen einerseits die praktische Einsicht, anderseits die Gesammtheit des wirklichen Wollens des Wollenden gesetzt, so tritt, wenn zwischen beiden Uebereinstimmung herrscht, gleichfalls unbedingtes Lob, herrscht aber Zwietracht zwischen beiden, unbedingte Verwerfung ein.

189. Das Bild harmonischen Einklangs zwischen Willensproject und Willensact bietet ein (im psychologischen Sinne) freies, das missfällige Zerrbild machtlosen Widerstreits zwischen Willensproject und Willensact bietet ein (im selben Sinne) unfreies Wollen. Im psychologischen Sinne frei heisst dasjenige Wollen, das durch Motive, die aus der praktischen Einsicht (diese sei, wie sie wolle) genommen sind, bestimmt, unfrei dagegen dasjenige, welches, obgleich wie das vorhergehende motivirt, durch Beweggründe bestimmt ist, die anderswoher (z. B. von den Antrieben der Sinnlichkeit, [106]von Affecten und Leidenschaften) genommen sind. Ein in diesem Sinne freies (obgleich nicht „transcendental freies”, sondern determinirtes) Wollen wird mit dem praktischen Grundsatz, der sein Motiv ausmacht, sich stets, ein in diesem Sinne unfreies d. i. anderswoher (z. B. durch eine Leidenschaft) beherrschtes Wollen wird sich dagegen zwar mit diesem seinem dasselbe besitzenden Motiv, niemals aber mit einem der praktischen Einsicht entlehnten Grundsatz in Uebereinstimmung, sonach mit einem solchen sich stets in Widerspruch befinden. Im psychologischen Sinne freies Wollen ist daher nicht blos äusserlich d. h. in dem ohnehin selbstverständlichen Sinn des Wortes „frei”, in welchem zwar das Handeln, aber niemals das Wollen durch eine äusserliche Macht erzwungen oder verhindert zu werden vermag, sondern ein solches ist zugleich innerlich frei d. h. in dem Sinne, dass auf dasselbe Beweggründe, die nicht aus der praktischen Einsicht, also aus dem Intellect genommen sind, keinen bestimmenden Einfluss auszuüben vermögen. Insofern das nämliche Verhältniss nicht blos zwischen einem einzelnen Grundsatz und einem einzelnen Willensact, sondern zwischen dem Ganzen der praktischen Einsicht und dem Ganzen des Willens besteht, heisst nicht blos, wie oben, das einzelne Wollen (volitio), sondern der ganze Wille (voluntas) im psychologischen Sinne und zwar innerlich frei, und der Wollende selbst, dessen Wille diese Eigenschaft besitzt, ein Charakter. Im entgegengesetzten Falle, wenn der Wille unfrei ist, heisst derselbe charakterlos.

190. Aus diesem Grunde, weil der Einklang zwischen gedachtem und wirklichem Wollen der Freiheit des Wollens bedarf, um zur Erscheinung zu gelangen, wird der auf jenem beruhenden ethischen Idee der inneren Freiheit letzterer Name beigelegt. Dieselbe ist als Idee d. h. als Musterbild für das wirkliche Wollen weder eins mit der Freiheit des Willens, welche als solche ein Wirkliches, der freie wirkliche Wille, noch mit dem Charakter, welcher als solcher gleichfalls ein Wirkliches d. h. der in einem wirklichen Individuum verwirklichte freie Wille ist. Jene gehört als Idee dem ethischen, beide letzteren gehören als Wirkliche dem Gebiete des Wirklichen und zwar des Psychischen, dem psychologischen Gebiete an; jene, gleichviel ob ein ihr entsprechendes Wirkliches vorhanden sei, drückt eine allgemein giltige Forderung (ein Postulat), letztere beiden drücken, wenn und wo sie existiren, die verkörperte Erfüllung dieser Forderung selbst aus. [107]

191. An die Idee der inneren Freiheit schliesst sich ein Verfahren an, welches bestimmt ist, die Uebereinstimmung zwischen gedachtem und wirklichem Wollen nicht blos über die Gesammtheit des Wollens des einzelnen Individuums, sondern über die Gesammtheit der innerhalb des Umkreises einer durch ein gemeinsames Band verknüpften Mehrheit von Individuen (einer Gesellschaft) vorhandenen praktischen Einsicht und wirklichen Wollens auszudehnen. Dasselbe geht darauf aus, dass nicht nur innerhalb eines einzelnen Individuums das gesammte Wollen frei d. i. der Wollende ein Charakter sei, sondern auch, dass innerhalb der Gesellschaft der Wille jedes einzelnen Mitgliedes derselben frei d. i. dass die Gesellschaft selbst eine Vereinigung von charaktervollen Individuen sei. Erstere Forderung drückt aus, dass die jeweilige praktische Einsicht d. i. die Gesinnung des Wollenden die Seele seines gesammten Willens und Handelns, letztere Forderung drückt aus, dass die Gesellschaft eine Vereinigung in diesem Sinne gesinnungsvoller d. i. durch ihre jeweilige praktische Einsicht, welchen Inhalts dieselbe auch sein möge, in ihrem gesammten Wollen und Thun beseelter Individuen darstelle. Die Erfüllung der erstgenannten macht das Ideal eines (im ethischen Sinne) beseelten Wollenden, die Erfüllung der letztgenannten das Ideal einer (im ethischen Sinne) beseelten Gesellschaft aus. Wie innerhalb der praktischen Einsicht des Individuums die verschiedenen in derselben enthaltenen praktischen Grundsätze jeder für sich ein Gebiet des Gesammtwollens des Wollenden beherrschen, so werden innerhalb der Gesellschaft durch die dem Inhalt nach unter einander abweichenden Gesinnungsweisen, deren jede einem Bruchtheil der dieselbe ausmachenden Mitglieder gemeinsam ist (im ethischen Sinne) Gesinnungsgenossenschaften als gesellschaftliche Fractionen d. i. Parteien gebildet, deren jede für sich als Vereinigung von derselben Gesinnung in ihrem Thun und Lassen geleiteter Individuen eine beseelte Gesellschaft im Kleinen repräsentirt. Die Mannigfaltigkeit der in den verschiedenen Parteien als herrschende auftretenden Sinnesarten gibt der Gesellschaft selbst, innerhalb deren dieselben sich bewegen, den Charakter der Buntheit und ertheilt ihr zugleich je nach dem Uebergewicht gewisser Parteirichtungen über die denselben entgegengesetzten ihre (im ethischen Sinne) vorstechende Färbung. Wie dem charaktervollen Individuum eine Vielheit von Maximen, die sich dem Anschein nach nicht selten unter einander aufzuheben trachten, in Wahrheit aber, wie es die Einheit der Gesinnung verlangt, [108]schliesslich einem obersten praktischen Grundsatz als Kern und Seele der gesammten praktischen Einsicht sich unter- und einordnen, unentbehrlich ist, so bedarf eine im wahren Sinne des Wortes beseelte Gesellschaft innerhalb ihres Umkreises eines rege bewegten Parteilebens, dessen jeweilige Richtungen nicht selten einander zu widerstreiten, ja gegenseitig einander aufzuheben scheinen, schliesslich jedoch, je nach dem Uebergewicht einer oder einiger über die übrigen, einer obersten die Richtung der Gesellschaft selbst ihrem grösseren oder doch mächtigeren Theile nach (a potiori) ausdrückenden Tendenz mit oder gegen ihren Willen zu dienen gezwungen sind. In diesem Sinne stehen die Fortschritts- den Rückschrittsmännern, die Reformer den Conservativen, standen einst die liberales, die nach einem bekannten Witzwort „lieber alles”, den serviles, die „sehr vieles” wollten, stehen noch heute „Culturkämpfer” den Clerikalen, die Schwarzen den Rothen, die Tories den Whigs u. s. w. gegenüber.

192. Aus dem qualitativen Gesichtspunkt des Einklanges des eigenen wirklichen mit dem nur gedachten fremden Wollen ergibt sich die ethische Idee des Wohlwollens. Dieselbe entsteht durch die Uebertragung der ästhetischen Idee des Einklanges, welche auf dem Verhältniss überwiegender gegenseitiger Identität beruht, auf das Gebiet des Wollens. Beide Glieder, das gedachte fremde und das eigene wirkliche Wollen, gehören einem und demselben Wollenden an; das fremde Wollen ist in demselben als Vorstellung, das eigene Wollen dagegen als Wille wirklich. Ob das seiner Vorstellung entsprechende Wollen des Anderen in diesem und somit dieser Andere selbst auch wirklich existire, ist dabei gleichgiltig. Da der Einklang nur zwischen der Vorstellung des fremden Wollens und dem wirklichen eigenen stattfinden soll, so kann jene erstere eben so gut eine blosse Einbildung (Fiction) als eine Abbildung (Reflex) eines anderen Wollens sein. In keinem Falle leidet die Wohlgefälligkeit der Uebereinstimmung des eigenen mit dem vorgestellten fremden Wollen dadurch einen Abbruch, dass dieses letztere und dessen Träger nur in der Vorstellung des ersten besteht. Zeugniss dafür gibt der Verkehr des Kindes mit seiner Puppe, deren ihr angedichtete Wünsche dasselbe mit Eifer zu erfüllen sich bemüht, wie jener des Dichters mit der nur in seiner Phantasie beseelten leblosen Natur und mit der oft nur als Ideal seiner Einbildungskraft lebendigen Geliebten.

193. Eben so wenig als die Schönheit der Harmonie des gedachten fremden und des eigenen wirklichen Wollens von der mehr [109]als blossen Gedankenexistenz, ist dieselbe von der Inhaltsbeschaffenheit des fremden Wollens abhängig. Nicht darin hat der unbedingte Beifall, welcher obigen Einklang begleitet, seinen Grund, dass das gedachte Wollen des Anderen ein an sich gutes, sondern darin, dass das wirkliche eigene Wollen mit dem wie immer beschaffenen Inhalt des fremden Wollens identisch ist. Die Gesinnung, aus welcher die Erfüllung wenn auch thörichter Wünsche des Andern entspringt (Affenliebe), ist als wohlwollender Ausdruck der Unterordnung des eigenen unter die Vorstellung eines fremden Wollens nicht weniger schön als diejenige, die sich als werkthätige Theilnahme an berechtigten Strebungen und Absichten des Andern kund thut. Wie bei der ästhetischen Idee des Einklanges ist das Lob des Wohlwollens nur durch die Harmonie, keineswegs durch die anderweitige stoffliche Qualität der Verhältnissglieder bedingt.

194. Das Bild harmonischen Einklangs zwischen gedachtem fremden und eigenem wirklichen Wollen bietet das psychische Phänomen des selbstlosen oder uneigennützigen d. i. nicht durch die Rücksicht auf das eigene Selbst, oder den Vortheil des Wollenden begründeten Wollens. Dasselbe ist so wenig, wie irgend ein wirkliches Wollen, ohne Grund d. h. dasselbe ist, wie jedes wirkliche Wollen, durch ein Motiv (Beweggrund) bewegt (motivirt); aber dieses Motiv ist im Unterschied von andern, die aus den Folgen des Wollens für den Wollenden selbst d. i. aus der möglichen Vermehrung oder Verminderung des eigenen Wohles des Wollenden (Eudämonie) hergenommen sind, aus dem einzigen Umstand entlehnt, dass das vorgestellte Wollen wirklich Wollen eines Andern sei d. h. dessen Gegenstand von einem Andern angestrebt und der Besitz desselben von einem Andern werde als Lust d. i. als Vermehrung seines (des Andern) Wohles empfunden werden. Das uneigennützige Wollen ist daher keineswegs motivlos, sondern dasselbe hat nur kein eigennütziges (eudämonistisches), nicht die Rücksicht auf das eigene, wol aber eine solche auf das fremde Wohl zum Motiv. Wie das Beherrschtsein des Wollens durch selbstsüchtige Beweggründe, wo es als habituelle Willensbeschaffenheit auftritt, Egoismus (Selbstliebe, Selbstsucht), so heisst im entgegengesetzten Sinne das Freisein des Wollens von eudämonistischen Beweggründen und der willige Gehorsam desselben gegen von der Rücksicht auf das Wohl des Andern dictirte Motive, wenn er zu habitueller Willensbeschaffenheit geworden ist, Nächstenliebe (Altruismus). Wo die letztere lebt, wird [110]die Vorstellung, dass ein gewisses Wollen von dem Andern gehegt werde, hinreichen, ein demselben conformes im Vorstellenden zu erzeugen; wo der erstere waltet, wird dieselbe Vorstellung genügen, nicht blos, um jedes dem Wollen des Andern conforme eigene Wollen zu hemmen, sondern, wenn die Selbstsucht so weit gesteigert ist, dass sie das Phlegma ihrer natürlichen Trägheit zu überwinden und zur Action überzugehen vermag, ein den Wünschen des Andern widerstrebendes Wollen im Wollenden hervorzurufen.

195. Ausfluss der Nächstenliebe wird ein wirkliches Wollen sein, das nach der Idee des Wohlwollens gefällt, Wirkung der Selbstliebe ein solches, das nach derselben Idee unbedingt missfällt. Jenes, das uneigennützig nur auf das Wohl des Andern bedachte, wird darum als gütiges, dieses, das selbstsüchtig nur auf das eigene Wohl oder gar auf dem Wohl des Andern Entgegengesetztes bedachte Wollen wird deshalb im ersten Fall ein herzloses, im andern Fall ein boshaftes, das Wohlwollen selbst Güte, sein Gegentheil, das Uebelwollen, Bosheit genannt. Von der ersteren wie von der letzteren, insofern jede von beiden, die Güte grundlos liebt, die Bosheit grundlos hasst, gilt des Dichters Wort: Ich glaube selbst, die Lieb' hat keinen Grund (Immermann).

196. Verschieden von der ethischen Idee des Wohlwollenden, wie von dem psychischen Phänomen der Güte und deren Gegentheil, ist das gleichfalls psychische Phänomen der sogenannten sympathetischen Gefühle. Zwar bietet sowol die psychische Erscheinung des Mitleids wie der Mitfreude das Bild eines harmonischen Einklangs, die Erscheinung des Neides wie der Schadenfreude das Bild einer missfälligen Disharmonie dar, aber weder zwischen Wollen, noch zwischen einem blos gedachten und einem wirklichen Verhältnissgliede, wie beides beim Wohl- oder Uebelwollen der Fall ist. Das sympathetische Gefühl wiederholt das Gefühl eines Andern entweder durch ein demselben gleiches, oder durch ein demselben entgegengesetztes Gefühl. Ursache dieser Wiederholung ist jedoch keineswegs die bewusste Reflexion, dass das eigene Gefühl Nachahmung eines fremden Gefühls, sondern der unwillkürliche und folglich auch unbewusste Reflex des fremden Gefühls durch das eigene Gefühlsleben. Das fremde Gefühl wirkt auf das eigene gleichsam durch Ansteckung, wie es im Gebiete der Muskelbewegungen bei der Entstehung solcher mit gewissen Vorstellungen durch Association verbundener Bewegungen durch die zufällige oder absichtliche Erregung jener Vorstellungen der Fall zu sein pflegt. Das Bewusstsein [111]des Unterschieds der fremden von der eigenen Persönlichkeit wird dabei gar nicht geweckt, oder geht im Mechanismus des nachahmenden Gefühlsprocesses verloren. Auf diese Weise setzt ein Komiker die Lachmuskeln, ein Tragöde die Thränenfisteln der Zuschauer in unwillkürliche und dem Bewusstsein entrückte Bewegung, so dass die letzteren gleichsam wie aus einem Zustand der Verzücktheit erwachen und sich hinterdrein wundern, gelacht und geweint zu haben. So wenig fühlt sich der nachahmende Theil als Nachahmer eines Andern, dass nicht selten das Mitgefühl, sei es Mitfreude oder Mitleid, sofort aufhört, wenn der Mitfühlende sich darauf besinnt, dass es nicht eigenes, sondern das Leid eines Andern, und nicht eigene, sondern fremde Freuden sind, die ihn bewegen. In solchem Fall hält das Mitgefühl nur so lange und nur darum vor, als und weil der Mitfühlende sich nur bewusst ist, dass er fühle, keineswegs aber bewusst ist, dass er nur mitfühle. Ohne daher geradezu egoistisch zu sein, weil weder das Bewusstsein vorhanden ist, dass das Gefühlte uns, noch der Gedanke, dass es einen Andern angehe, ist das Mitgefühl doch sicher nicht altruistisch, weil es im Augenblick schwinden kann, sobald wir des letzteren innewerden.

197. Dasselbe wird jedoch vollkommen selbstsüchtig, wenn, wie Schopenhauer behauptet hat, der Grund des Mitleids einzig darin gelegen sein soll, dass der Mitleidige sich in demselben seiner metaphysischen Einerleiheit mit dem Andern bewusst und auf diesem Wege innewerde, dass weder der Andere von ihm verschieden, noch des Andern Leid mehr als sein eigenes Leid sei. Unter dieser Voraussetzung könnte das Mitgefühl nicht nur, wie oben bemerkt, sondern es müsste nothwendiger Weise, also jedesmal aufhören, sobald der Einzelne über seine persönliche Unterschiedenheit vom Andern und folglich über den Umstand, dass das gefühlte Leid nicht sein eigenes sei, zur Besinnung käme. Die wesentliche und unentbehrliche Eigenschaft, wenn auf das Mitgefühl ein Theil des Glanzes fallen soll, den das Wohlwollen ausstrahlt, die individuelle Sonderung beider Fühlenden, wäre durch obige Annahme grundsätzlich beseitigt.

198. So wenig Mitleid und Mitfreude sich mit dem Wohlwollen, eben so wenig decken sich Neid und Schadenfreude mit dessen Gegentheil, dem Uebelwollen. Gleichwol tritt bei den letzteren die unleugbare Aehnlichkeit beider, obgleich gattungsmässig verschiedener Gemüthszustände stärker hervor als bei den ersteren. Während [112]Mitleid und Mitfreude zu ihrer Entstehung des Bewusstseins des individuellen Unterschieds des Mitfühlenden vom Fühlenden nicht bedürfen, setzt die Entstehung sowol des Neides, als einer durch fremde Lust geweckten Unlust, wie der Schadenfreude, als einer durch fremde Unlust erregten Lust, dieses Bewusstsein in gewissem Grade voraus, da es sich nicht um eine Wiederholung des fremden Gefühls durch ein gleiches, sondern um die Beantwortung eines solchen durch ein entgegengesetztes eigenes handelt, fremdes und eigenes Gefühl also schon um deswillen als verschiedenen Individuen angehörig empfunden werden müssen, weil beide verschiedene, und zwar, da sie entgegengesetzter Natur sind, sehr merklich verschiedene Qualität besitzen. Beide kommen daher nicht nur in ihren Wirkungen, die sowol bei dem Neid als bei der Schadenfreude, bei dem blossen Gefühl nicht stehen zu bleiben, sondern zu demselben entsprechenden Wünschen, Entschlüssen, ja selbst Aeusserungen fortzuschreiten pflegen, dem Uebelwollen so nahe, als überhaupt Phänomene verschiedener Gattungen sich einander zu nähern vermögen, sondern auch das Urtheil, das über dieselben, wo sie zu Tage treten, ergeht, fällt von der unbedingten Verwerfung, welche das Uebelwollen begleitet, nichts weniger als verschieden aus. Von dem „Neide” der Götter redet die Mythologie, wenn sie deren dem Menschengeschlecht übelwollende Gesinnung, und vom „Neidhart” die Volkssage, wenn sie den Bösen bezeichnen will.

199. Die selbstlose Freiwilligkeit der Unterordnung des eigenen unter das fremde Wollen tritt um so anschaulicher hervor, je grösser die Ueberlegenheit der eigenen über die fremde Kraft und je weniger der Verdacht, dass jene Unterordnung eine durch Furcht erzwungene sein könnte, zulässig erscheint. Dieselbe offenbart sich dort am auffälligsten, wo die Ueberlegenheit die denkbar höchste d. h. wo der dem Andern freiwillig sich unterordnende Wille, mit diesem verglichen, unendlich stark, derjenige, dem er sich unterordnet, mit jenem verglichen, unendlich schwach ist. Beides ereignet sich im Verhältniss der Gottheit zum Menschen, deren Güte gegen diesen eben darum als unendlich gross und der göttliche Wille selbst als Ideal des Gütigen sich kundgibt.

200. An die ethische Idee des Wohlwollens schliesst sich ein Verfahren an, welches die in derselben enthaltene Forderung nicht blos auf das gesammte Wohl und Wehe Anderer berührende (sociale) Wollen des einzelnen Wollenden, sondern auf die Gesammtheit des innerhalb des Umkreises einer Gesellschaft vorkommenden, auf deren [113]gegenseitiges Verhältniss zu einander bezüglichen Wollens der Mitglieder ausdehnt. Dasselbe geht darauf aus, dass jedes sociale Wollen des einzelnen, so wie dass das sociale Wollen jedes Mitgliedes der Gesellschaft Wohlwollen sei; sociales Uebelwollen sowohl im Einzelnen wie in der Gesellschaft gemieden werde. Da nun das Wohlwollen (bene velle) darin besteht, des Andern Wohl zu wollen (bonum velle), so geht jene Forderung dahin, dass jedes sociale Wollen im Einzelnen wie in der Gesellschaft die Tendenz habe, in jenem des Andern, in dieser aller Andern (d. i. das allgemeine) Wohl zu fördern. Und da die Befriedigung jedes — stofflich wie immer beschaffenen — Wollens Lustgefühl, also Wohlbefinden zur Folge hat, so kann unter dem, was jeder sein Wohl und folglich auch die Gesellschaft das ihre, d. i. das allgemeine Wohl nennt, nicht wol etwas anderes sein als die Befriedigung dort sämmtlicher Wünsche und Willensbestrebungen des Andern, hier die Erfüllung sämmtlicher im Umkreise der Gesellschaft vorhandenen oder doch zur Aeusserung gelangenden Wünsche und Willensbestrebungen Aller. Die Erreichung beider Ziele, die Befriedigung sämmtlicher Wünsche des Andern (die Glückseligkeit des Andern), und die Befriedigung sämmtlicher Wünsche Aller (die allgemeine Glückseligkeit) müssen daher in der wohlwollenden Gesinnung, das erste in der jedes Einzelnen gegen jeden Andern, das zweite in der jedes Mitgliedes der Gesellschaft gegen alle übrigen d. i. gegen die Gesellschaft selbst gelegen und die Erreichung derselben muss der Zweck aller socialen Bestrebungen sein.

201. Diese selbst d. i. die Befriedigung der vorhandenen Wünsche aber ist nicht blos durch die auf sie gerichtete dauernde Gesinnung des Einzelnen und jedes Einzelnen, sondern zugleich, da es sich um die Realisirung wirklich vorhandener Wünsche in der wirklich vorhandenen Aussenwelt handelt, durch die Existenz der und die Möglichkeit der Verfügung über die zu jenem Endzweck unentbehrlichen oder doch förderlichen Mittel d. i. der und über die realen Objecte, welche, insofern sie jenem Zweck dienstbar gemacht werden, Güter heissen sollen, bedingt. Dieselben können sowol materieller als geistiger Natur, Gegenstände der Körper- wie der geistigen Welt sein; wesentlich ist ihnen nur, dass dieselben zur Befriedigung vorhandener Wünsche dienen und in Anspruch genommen werden können. Von dieser Art ist der Grund und Boden mit seinem Ertrag, sowol dem inneren (Erz- und Gesteinsschätzen), wie dem äusseren (Nahrungspflanzen und verarbeitungsfähigen [114]Gewächsen), aber auch der vorhandene Fond an geistiger Kraft und Intelligenz mit seinem Ertrag, dem inneren: den Gefühls- und Gedankenschätzen des einzelnen, dem äusseren: den Literatur- und Kunsterzeugnissen des Gesellschaftsgeistes.

202. Diese, sei es materiellen, sei es geistigen Güter zur Befriedigung vorhandener Wünsche in der Art zu verwenden, dass die mit den gegebenen Mitteln erreichbare höchste Befriedigung der gegebenen Wünsche erzielt werde, ist die Aufgabe einer besondern auf dieses Endziel hin arbeitenden Kunst, die, insofern es dabei auf die bestmögliche Verwendung der Mittel zum Zwecke d. i. auf die Verwaltung ankommt, Haushaltungs- oder Verwaltungskunst (Oekonomik) und zwar entweder private, wenn es sich blos um den klugen Gebrauch der dem einzelnen Individuum zum Besten des Anderen verfügbaren Güter handelt, oder öffentliche (Oekonomik der Gesellschaft; Nationalökonomik, Staats- und Volkswirthschaftskunst), wenn das Ziel die grösstmögliche Förderung des allgemeinen Wohls durch geschickte Benützung der innerhalb der Gesellschaft disponibeln materiellen und geistigen Vermögen ist. Die Erfüllung derselben von Seite des einzelnen Wollenden macht das Ideal eines Menschenfreundes (Philanthropen), d. i. eines solchen aus, der sein gesammtes geistiges wie materielles Vermögen in selbstverleugnender Gesinnung dem Besten Anderer opfert; ihre Erfüllung von Seite einer Gesellschaft dagegen stellt (im ethischen Sinne) das Ideal eines Verwaltungssystems dar d. i. einer derartigen Organisation des Gebrauchs und der Verwendung sämmtlicher innerhalb des Umkreises der Gesellschaft vorhandenen und verfügbaren materiellen wie geistigen Güter, dass dadurch die grösstmögliche Befriedigung vorhandener Wünsche und Bedürfnisse sämmtlicher Gesellschaftsmitglieder, die unter den gegebenen Umständen höchstmögliche Summe des allgemeinen Wohls oder der allgemeinen Glückseligkeit (salus publica) verwirklicht wird.

203. Von selbst leuchtet ein, dass auch bei der sorgfältigsten und wohlwollendsten Verwaltung die erreichbare Gesammtsumme der Wünschebefriedigung hinter der jeweiligen Summe der vorhandenen Wünsche zurückbleiben muss. Denn während die letztere eine ins Unbegrenzte wachsende, ist der Vorrath gegebener Güter und der aus demselben zum Besten des Ganzen zu schöpfende Vortheil auch bei der umsichtigsten Benutzung nur einer begrenzten Steigerung fähig. Das Ziel des Philanthropen, wie das der philanthropischen Gesellschaft ist als erreicht anzusehen, wenn die Summe [115]des allgemeinen Wohls die unter den gegebenen Bedingungen erreichbare höchste Grenze gewonnen hat. Je nachdem in den wohlwollenden Bestrebungen des Einzelnen zum Besten des Andern, der Gesellschaft zum Besten Aller, vorzugsweise die mittels materieller oder die mittels geistiger Güter realisirbaren Wünsche d. i. die materiellen oder die geistigen Interessen berücksichtigt werden, nimmt die Philanthropie dort, das Verwaltungssystem hier selbst einen vorwiegend materialistischen, der Pflege der materiellen, oder idealistischen, der Pflege der idealen Interessen gewidmeten Charakter an. Innerhalb der menschenfreundlichen Bestrebungen des Einzelnen lassen sich je nach der Beschaffenheit der Güter verschiedene Zweige des Philanthropismus, innerhalb des wohlwollenden Verwaltungssystems lassen sich je nach den Zwecken, welche, und den Gütern, mittels welcher dieselben verwirklicht werden sollen, verschiedene Zweige der Verwaltung unterscheiden. Die Mannigfaltigkeit derselben, deren einige auf die Hebung der materiellen Zwecke und Güter, z. B. auf die Cultivirung, Bebauung und Ausnutzung der Bodenschätze und des Grundertrags, andere auf die Hebung ideeller Zwecke durch Förderung und Pflege wissenschaftlicher und literarischer Bildung und Schöpfungen abzielen, bringt in die Verwaltung selbst jene Vielheit und Buntheit gleichzeitiger auf das Wohl, sei es einzelner Classen von Gesellschaftsmitgliedern, in deren Besitz eben jene Güter sich befinden oder zu deren Beruf jene Zwecke gehören d. i. gewisser Stände — sei es des Ganzen, abzweckender Bestrebungen hervor, die sich nicht selten unter einander zu widerstreiten scheinen, zusammengenommen aber je nach dem Ueberwiegen der einen über die andern dem Verwaltungssystem seine bestimmte individuelle Färbung ertheilen. Dieselbe zeigt je nach dem Uebergewicht der materiellen über die geistigen, oder dieser über die materiellen Interessen einen bestimmten hervorstechenden mehr realistischen oder mehr spiritualistischen Ton, zwischen welchen Gegensätzen ein weises, die Harmonie aller Interessen im Auge behaltendes Administrationssystem eine gleichschwebende Temperatur herzustellen und zu erhalten bemüht sein wird.

204. Der qualitative Gesichtspunkt des missfälligen Streits einander ausschliessender Willensäusserungen ergibt die ethische Idee des Rechts. Dieselbe entsteht durch die Uebertragung der ästhetischen Idee der Correctheit auf das ethische Gebiet. Wie correcte Vorstellungen solche sind, die als gleichzeitige im Bewusstsein [116]sich unter einander vertragen, so sind rechtmässige (d. i. dem Recht gemässe) Willensäusserungen solche, die gleichzeitig vorhanden einander nicht ausschliessen. Wie die Correctheit eine natürliche oder künstliche, je nachdem die Verträglichkeit jener Vorstellungen eine ursprüngliche d. i. aus dem Inhalt derselben selbst fliessende, oder eine (sei es durch Zufall oder durch Willen) herbeigeführte ist, indem der ursprüngliche Inhalt so lange abgeändert oder durch einen anderen ersetzt wurde, bis die anfänglich unverträglichen zu verträglichen Vorstellungen wurden, so ist die Rechtsgemässheit (oder, was eben so viel ist, die Erlaubtheit gewisser Willensäusserungen) eine natürliche oder künstliche, je nachdem dieselben schon ursprünglich ihrem Inhalt nach verträglich sind, oder erst in Folge einer gemeinsamen Uebereinkunft (Vertrag) der Wollenden eine solche Abänderung, beziehungsweise Ersetzung durch anders beschaffene erfuhren, dass die bisher unter einander unverträglichen fortan für verträglich gelten können. Heissen daher Willensäusserungen, die sich unter einander nicht ausschliessen d. h. ohne missfälligen Streit hervorzurufen gleichzeitig mit und neben einander bestehen können, im Allgemeinen (im ethischen Sinn) erlaubte, so sind solche, deren Verträglichkeit eine ursprüngliche, aus ihrem Inhalt selbst fliessende ist, natürlich erlaubte, solche dagegen, deren Verträglichkeit erst aus einem zwischen den Wollenden stattgehabten Vertrage stammt, vertragsmässig erlaubte Willensäusserungen. Erstere, da ihre Erlaubtheit durch den Inhalt der Willensäusserungen selbst begründet ist, sind jedesmal und jedermann erlaubt, sobald dieser Inhalt der nämliche ist; diese dagegen, deren Verträglichkeit nur aus dem durch Vertrag festgesetzten Inhalt fliesst, sind nur so lange und nur denjenigen erlaubt, so lange und für welche jener Vertrag besteht. Erlaubte Willensäusserungen der ersteren Art werden daher auch wol als natürliche (sogenannte angeborene), erlaubte Willensäusserungen der letzteren Art dagegen als erworbene (sogenannte positive) Rechte bezeichnet. Die Summe der (angeborenen und erworbenen) Rechte d. i. der Inbegriff sämmtlicher dem Wollenden erlaubter, oder solcher Willensäusserungen, durch deren Vornahme derselbe keinen Streit erhebt, macht das Recht des Wollenden aus.

205. Wie der als correct bezeichnete Vorstellungsinhalt eine Grenze für die unbeschränkte Freiheit des Vorstellens bezeichnet, jenseits welcher dasselbe aufhört, ästhetisch geduldet, und anfängt, unbedingt missfällig zu werden, so stellt der Inhalt der („angeborenen [117]und erworbenen”) Rechte d. i. des Rechts des Wollenden, eine (natürliche oder vertragsmässige) Schranke für die grenzenlose Freiheit der Willensäusserung desselben dar, jenseits welcher diese aufhört, ethisch geduldet, und anfängt, unbedingt missfällig zu werden. Der Doppelsinn des Begriffs der Grenze, welcher zugleich die Ausdehnung des einen und dessen Ausschliessung von dem Nachbarlande bedeutet, kehrt im Begriff des Rechts insofern wieder, als durch dasselbe sowol die Ausdehnung der erlaubten Willensäusserung einer-, wie deren Ausschliessung von der gleichfalls erlaubten Willensäusserung des nachbarlichen Wollenden andererseits bezeichnet wird. Jenes, die Summe der Rechte des Wollenden, macht das Recht im subjectiven, dieses, die Summe der (natürlichen oder vertragsmässig festgesetzten) Schranken der Willensäusserung, das Recht im objectiven Sinne des Wortes aus.

206. Wie die Rechtfertigung des Correcten nur in dem Umstand liegt, dass ein von demselben abweichender Inhalt des Vorstellens Ausschliessung unter dem gleichzeitig Vorgestellten d. i. Widerstreit im Vorstellen, und dadurch Missfallen erzeugt, so liegt der Grund des Rechtmässigen (Erlaubten) ausschliesslich in dem Umstand, dass eine von dem Inhalt desselben abweichende Willensäusserung mit einander unverträgliche Willensäusserungen im Umfang des zur Aeusserung gelangenden Wollens d. i. Streit hervorruft und dadurch Missfallen erzeugt. So wenig dort ein Unterschied dadurch begründet wird, dass die Correctheit eine natürliche oder künstliche, so wenig geschieht dies hier durch den Umstand, dass die Rechtmässigkeit eine natürliche oder vertragsmässige ist; wie bei dem Incorrecten das Missfallen nur denjenigen, aber jeden trifft, dessen Vorstellen vom Correcten abweicht, so geschieht es hier mit dem Missfallen, das nur jenem, aber auch jedem gilt, dessen Willensäusserung das Erlaubte überschreitet. Wie es aber beim Correcten sich ereignen kann, dass der Inhalt des künstlich mit dem des von Natur aus Correcten in der Weise in Collision geräth, dass von Natur aus Correctes durch conventionelle Uebereinkunft künstlich als incorrect, dagegen durch letztere ein Vorstellungsinhalt künstlich als correct festgesetzt werden kann, welchen das unbefangene Vorstellen als incorrect empfindet, so kann es geschehen, dass natürlich Erlaubtes vertragsmässig als unerlaubt und solches durch Vertrag als erlaubt hingestellt werden kann, was dem unbefangenen ästhetischen Urtheil als unerlaubt erscheinen muss. Was in solchem Fall auf ästhetischem Gebiete gilt, dass der Umfang des natürlich Correcten ein unbeschränkter, [118]weil nur von dem sich immer gleich bleibenden Inhalt des Vorgestellten abhängiger, jener des künstlich Correcten aber ein auf den Umkreis eingeschränkter sei, innerhalb dessen, sei es Herkommen, Ueberlieferung, Sitte und Gebrauch oder positive Convention dasselbe fixirt haben, wird anstandslos auf das ethische angewendet werden dürfen, dass das natürlich Erlaubte unbeschränkte, weil nur aus dem Inhalt der Willensäusserungen fliessende, das vertragsmässig Erlaubte jedoch nur auf denjenigen Umkreis beschränkte Geltung besitze, innerhalb dessen stillschweigender d. h. blos durch Zulassung, oder ausdrücklicher d. i. mit mehr oder weniger Förmlichkeit kundgegebener Vertrag dasselbe für die Vertrag Schliessenden (aber auch nur für diese) als erlaubt festgestellt haben.

207. Indem die ästhetische Idee der Correctheit jeden Vorstellungsinhalt verbietet, durch welchen Unverträglichkeit zwischen dem gleichzeitig Vorgestellten, so verwehrt die Idee des Rechts jede Willensäusserung, durch welche Streit zwischen den Wollenden hervorgerufen wird. So wenig die erstere hiebei einen Unterschied zwischen den beiden Vorstellungen, eben so wenig macht diese einen solchen zwischen den beiden Wollenden. Die Aufforderung, Streit zu meiden d. i. sich innerhalb der durch das (sei es natürliche oder vertragsmässige) Recht gezogenen Willensgrenze zu halten, ergeht an beide Wollende in ganz gleicher Weise, ganz abgesehen von dem Umstände, ob durch diese letztere die Freiheit der Willensäusserung des Einen eine Erweiterung, jene des Anderen eine Verengerung erfahren hat d. h. ob durch dieselbe dem ersten eine Befugniss (ein Recht gegen den zweiten) eingeräumt, dem zweiten eine solche zu Gunsten des ersten entzogen (demselben eine Pflicht gegen den ersten auferlegt) worden sei. Da nun eben so wol Streit entsteht, wenn die eingeräumte Befugniss überschritten, als wenn die entzogene Befugniss wieder in Anspruch genommen wird, so bedeutet jene Aufforderung für denjenigen, dem das Recht jene Befugniss gibt, so viel, dass er dieselbe nicht missbrauchen, dagegen für denjenigen, dem das Recht jene Befugniss nimmt, so viel, dass er dieselbe nicht mehr als sein Recht gebrauchen dürfe, beides aus keinem andern Grunde, als weil jede obiger beider Handlungsweisen Streit erzeugt.

208. Mehr als diese Aufforderung, um der Vermeidung des Streites willen einerseits seine Berechtigung nicht zu überschreiten, andererseits seine Verpflichtung zu erfüllen, kann aus der Idee des [119]Rechts nicht abgeleitet werden. Dieselbe enthält weder die Ermächtigung für den Berechtigten, im Falle unterlassener Pflichterfüllung von Seite des Verpflichteten dieselbe mit Gewalt d. i. durch Anwendung von Zwangsmassregeln durchzusetzen, noch schliesst dieselbe für den Verpflichteten die Befugniss ein, sich im Falle gemissbrauchten oder mit Zwang durchgesetzten Rechts von Seite des Berechtigten demselben mit Gewalt d. i. mittels Anwendung von Gegenzwangsmassregeln zu widersetzen. Ersteres nicht, weil jeder Zwang einen Eingriff in die erlaubten Willensäusserungen des Verpflichteten, somit von Seite des Berechtigten diesem gegenüber selbst eine Streiterhebung darstellt. Letzteres nicht, weil jeder Gegenzwang von Seite des Verpflichteten einen Eingriff in die erlaubten Willensäusserungen des Berechtigten, also seinerseits eine Streiterhebung einschliesst. Weder kann der Zwang, welcher von Seite des Berechtigten zur Durchsetzung seiner Berechtigung, noch kann der Gegenzwang, welcher von Seite des Verpflichteten gegen den Berechtigten ausgeübt wird, sich auf diejenige Willensäusserung einschränken, welche im ersten Fall ausschliesslich das Recht, im letzteren eben so ausschliesslich die Pflicht ausmacht. Beide, Berechtigter und Verpflichteter, werden in solchem Falle sich in gleicher Lage befinden wie der Jude Shylock, dem das Gesetz die Befugniss einräumt, zur Durchsetzung seines Rechts gegenüber dem Kaufmann von Venedig Gewalt anzuwenden d. i. das contractlich zugestandene Pfund Fleisch nahe dem Herzen demselben wirklich aus lebendigem Leibe zu schneiden, jedoch unter der von dem „klugen” Richter hinzugefügten Bedingung, dass er bei Ausübung dieses seines Rechts nicht selbst seinerseits ein Unrecht begehe d. h. nicht eine ihm contractlich nicht zugestandene Handlung ausführe, daher keinen einzigen Tropfen Blutes vergiessen dürfe. Wie durch letzteren Zusatz die ihm zugestandene Zwangsbefugniss illusorisch, weil der Natur der Sache nach unausführbar, so wird die angeblich in der Idee des Rechtes enthaltene Zwangsbefugniss in ethisch geschärften Augen dadurch zunichte gemacht, dass die Ausübung einer solchen ohne neue Streiterhebung, also seinerseits Rechtsverletzung, dem Berechtigten durch die Natur der Sache unmöglich gemacht wird.

209. Ist nun in der Idee des Rechts wirklich nichts mehr als die Aufforderung, beim Rechte zu bleiben, keineswegs aber die Erlaubniss enthalten, Unrecht mit Gewalt zu hintertreiben, so ist allerdings zu erwarten, dass, wenn nicht auf anderem Wege Vorsorge getroffen wird, Missbrauch des Rechtes unmöglich, Unterlassung [120]der Pflicht unthunlich zu machen, sowol das eine wie das andere in einem Grade überwuchern werde, dass der thatsächliche Zustand der durch die Idee des Rechts gestellten Forderung Hohn sprechen wird. Weder lässt sich hoffen, dass die Scheu, vor der Idee des Rechts durch Streiterhebung missfällig zu werden, in dem Gemüthe des Berechtigten häufiger als es bei solchen, die einer Aufforderung zur Rechtlichkeit überhaupt nicht bedürfen, ohnehin der Fall zu sein pflegt, eine solche Macht besitzen werde, um ihm die Anwendung von Zwang zur Durchsetzung seines Rechts unmöglich zu machen, noch könnte es Wunder nehmen, wenn die Furcht, durch gewaltsamen Widerstand vor der Idee des Rechts missliebig zu erscheinen, bei dem Verpflichteten, der sich durch Missbrauch des Rechtes bedroht und durch Anwendung von Zwang in unbestrittenen Rechten beeinträchtigt sieht, zu schwach wäre, ihn von dem Versuch gewaltsamer Gegenwehr zurückzuhalten. Vielmehr ist vorauszusehen, dass in den bei weitem meisten Fällen der Berechtigte der Verlockung, sein verweigertes Recht auf Kosten des Verpflichteten durchzusetzen, der Verpflichtete dem Drange, sein angegriffenes Recht gegen den Uebermuth oder die Uebermacht des Berechtigten sicherzustellen, nicht werde widerstehen und dadurch an die Stelle des Friedenszustandes, wie ihn die Idee des Rechtes fordert, ein Kriegszustand, wie ihn der Kampf des Berechtigten um sein Recht gegen den Verpflichteten und der Kampf des Verpflichteten für sein Recht wider den Berechtigten darstellt, treten werde. Soll letzteres verhütet und die Herstellung des Rechts- d. i. eines solchen Zustandes, in welchem der Berechtigte sein Recht, aber nicht mehr als dieses fordert, der Verpflichtete seine Pflicht und nie weniger als diese leistet, nicht auf jene märchenhaften Zeiten verschoben werden, in welchen die Idee des Rechts durch Erziehung und Gewöhnung Macht genug über die Gemüther gewonnen haben wird, um die Sicherstellung des Rechts durch andere Mittel überflüssig zu machen, so muss ein Ausweg ausfindig gemacht werden, dem Berechtigten seine Leistung, dem Verpflichteten seinen Schutz vor Uebergriffen zu verbürgen, ohne von Seite des ersten wie des letzteren durch unrechtmässige Streiterhebung missfällig zu werden. Derselbe besteht darin, dass die Befugniss im Falle der Pflichtverweigerung Zwang, im Falle des Missbrauchs der Berechtigung Widerstand ausüben zu dürfen, ihrerseits ausdrücklich vertragsmässig stipulirt und dadurch selbst zum Recht d. i. zu einem Zwangsrecht erhoben werde. Der Unterschied [121]desselben von der oben erörterten Sachlage besteht darin, dass in der letzteren das Recht zu zwingen als eine mit jedem Rechte unmittelbar nicht nur verbundene, sondern demselben innewohnende und folglich aus demselben ohne weiteres fliessende Befugniss angesehen, dagegen nun als ein zweites neben und ausser dem Recht, zu dessen Schutze es bestimmt ist, ausdrücklich errichtetes und mit diesem nicht innerlich (deductiv), sondern nur äusserlich (copulativ) verbundenes Recht betrachtet wird. Durch dasselbe verwandelt sich der zur gewaltsamen Zurückeroberung der verweigerten Leistung ausgeübte Zwang und der zum Schutz gegen Ueberschreitung geübte gewaltsame Widerstand aus unrechtmässigen (unerlaubten) in rechtmässige Handlungen, indem beide Theile eingewilligt haben, der eine die zur Durchsetzung der Pflicht, der andere die zum Schutz gegen Missbrauch nothwendigen Gewaltmassregeln sich gefallen lassen zu wollen.

210. Da die Idee des Rechts nichts weiter verlangt, als dass Streit gemieden d. h. gegenwärtiger Streit geschlichtet, zukünftiger verhütet werde, so ist dasselbe in dem Grade als vollkommener anzusehen, als obiger Zweck erreicht d. h. als durch dasselbe Streit beseitigt oder unmöglich gemacht wird. Welcherlei Inhalt dazu in jedem gegebenen Falle der zweckdienlichste d. h. welcherlei Recht in jedem gegebenen Falle das zweckentsprechendste sein werde, lässt sich nicht im Allgemeinen festsetzen, sondern hängt von dem jeweiligen Inhalt derjenigen Willensäusserungen ab, deren Verträglichkeit unter einander durch dasselbe gesichert werden soll. Schon von Natur aus mit einander verträgliche Willensäusserungen (sogenannte angeborene Rechte), sobald es deren überhaupt gibt, bedürfen, da zwischen ihnen kein Streit herrscht, auch nicht besonderer Festsetzungen, denselben zu vermeiden; es wäre denn, es träten Fälle ein, in welchen auch diese sonst verträglichen Willensäusserungen zu einander ausschliessenden werden und Streit verursachen. Von dieser Art sind z. B. diejenigen Willensäusserungen, die im Gebrauch der Athmungsorgane zum Einschlürfen der zum Lebensunterhalt unentbehrlichen Quantität atmosphärischer Luft bestehen. Dieselben gelten unter normalen Verhältnissen als verträglich unter einander, indem jederzeit Luft genug existirt, um dem gleichzeitigen Athmungsbedürfniss Mehrerer zu genügen. Das Recht, sich derselben zum Athmen zu bedienen, kann daher im obigen Sinne als ein natürliches (sogenanntes angeborenes) angesehen werden. Tritt jedoch der Fall ein, dass (wie [122]z. B. in Holwell’s „schwarzer Höhle” oder unter der Taucherglocke) das vorhandene Quantum athembarer Luft ein beschränktes, wol gar für das vorhandene Bedürfniss der Mehreren nicht ausreichendes wird, so werden die sonst verträglich gewesenen Aeusserungen des Willens, zu athmen, sofort zu unverträglichen: es entsteht Streit und damit nicht nur die Möglichkeit, sondern der Idee des Rechts zufolge die Aufforderung, ein Recht d. i. eine Bestimmung zu treffen, durch welche (wie es z. B. unter der Taucherglocke thatsächlich der Fall ist) der Verbrauch der Luft bezüglich der Einzelnen geregelt und deren erlaubter vom unerlaubten gesondert wird. Sind dagegen die Willensäusserungen von Haus aus unverträgliche, so wird jenes Recht das beste sein, welches die darin liegende Ursache des Streits am schnellsten, gründlichsten und dadurch am dauerhaftesten behebt, wobei indess immer der Grundsatz gilt, dass auch das schlechte Recht, weil es den Streit, wenn auch nur oberflächlich und vorübergehend, beseitigt, immer noch besser sei als der Streit selbst.

211. Lässt sich aber auch über den Inhalt möglicher Rechte ohne Berücksichtigung des Inhaltes möglicher Willensäusserungen nichts allgemeines aussagen, so lassen sich doch in Bezug auf die Form, durch welche das Recht seiner Idee in mehr oder minder vollkommener Weise genügt, Bestimmungen treffen. Hier gilt, dass das Recht (es sei natürliches oder vertragsmässiges) seinem Inhalt nach, er sei, welcher er wolle, nicht zweifelhaft sein d. h. dass derselbe entweder (wie es bei den natürlichen Rechten der Fall zu sein pflegt) an sich evident sein, oder (wie es bei den vertragsmässigen Rechten durch besondere die Festsetzung derselben begleitende Förmlichkeiten: Gebrauch bestimmter Worte oder äusserer Zeichen, Handschlag, Stabbruch u. dgl. zu geschehen pflegt) evident gemacht werden muss. Zweifel in ersterer Hinsicht, durch welche entweder der Inhalt wirklicher natürlicher Rechte ungebührlich ausgedehnt, oder ein seinem Inhalte nach keineswegs natürliches Recht als angeborenes in Anspruch genommen wird, sind daher (im ethischen Sinne) nicht weniger schädlich als Zweifel der letzteren Art, durch welche der vertragsmässige Inhalt eines positiven Rechtes seinem ursprünglichen Sinne entgegen umgedeutet oder ein anderes als das vertragsmässige Recht als vertragsmässig behauptet wird. Doppelsinn, Halbheit oder Zweideutigkeit des Ausdruckes, Ausserachtlassen von Bedingungen, die auf die künftige Geltung des Rechtes von Einfluss sein können, sind daher Mängel des Rechtes, denen [123]gegenüber die, wenn auch an Pedanterie streifende Deutlichkeit und Umständlichkeit der Formulirung, so wie der vorschriftsmässige Gebrauch feststehender Formeln und Symbole (wie im römischen, im deutschen Recht) im Recht am Platze ist.

212. Ist schon das zweifelhafte Recht von Uebel, weil es die Bestreitung des Rechtes seinem Inhalte nach möglich macht, ja erleichtert, so ist das „naturwidrige” Recht d. i. ein solches, dessen Bestimmungen mit Gesetzen, sei es der leblosen, sei es der lebendigen Natur im Widerspruch stehen, also ohne jene, was unmöglich ist, zu umgehen, nicht in Vollziehung gesetzt werden können, in noch höherem Grade fehlerhaft, weil es anstatt den Streit zu verhüten, zu demselben reizt und dessen Bestand permanent macht. In Bezug auf dasjenige Recht, dessen Bestimmungen den Naturgesetzen der leblosen Natur zuwiderlaufen, versteht diese Mangelhaftigkeit und damit die Nichtigkeit desselben der Idee des Rechtes gegenüber sich von selbst, und das Märchen wie die Mythe haben von derartigen, physisch unerfüllbaren Pflichtleistungen, die den Hörer rühren und die Hilfe übernatürlicher Mächte herausfordern sollen, reichlich Gebrauch gemacht. In Bezug auf solche dagegen, deren Bestimmungen die lebendige Natur z. B. die Bewegung und den Gebrauch der Glieder des eigenen Leibes als Werkzeug der Willensäusserung betreffen, offenbart sich die Widernatürlichkeit einer Verpflichtung, durch welche auf jene verzichtet werden soll, dadurch, dass in Folge der unzerreissbaren Association zwischen Bewusstseinsvorgängen und Willensimpulsen auf der einen und Muskelbewegungen, die zur Veränderung der Stellung des Leibes und der Glieder führen, auf der anderen Seite jener Verzicht unaufhörlich nicht durch, sondern ohne, ja wider den Willen des Verpflichteten zurückgenommen, das Recht gebrochen werden wird, obige Bestimmung daher, weit entfernt, den Streit dauernd hintanzuhalten, vielmehr unaufhörlich dazu beiträgt, denselben zu erneuern. Die streng genommen zwar nicht Unrechtmässigkeit, aber der Idee des Rechtes gegenüber Zweckwidrigkeit derartiger Rechte (Leibeigenschaft, Hörigkeit, Sclaverei) hat dazu geführt, z. B. das Recht auf den Gebrauch der eigenen Glieder und die freie Bewegung des Leibes als ein sogenanntes „angeborenes” anzusehen, was es im strengen Sinne des Wortes nicht ist, da die physische Unmöglichkeit, auf dieselben zu verzichten, nicht behauptet, sondern nur der in einem solchen Verzicht enthaltene, unaufhörlich wiederkehrende Reiz zur Verletzung des eingegangenen Rechtes tadelnd hervorgehoben werden kann. [124]

213. Ein der Idee des Rechtes entsprechendes Bild eines Zustandes, in welchem kein Streit herrscht, liefert der Friede, sei es der natürliche, innerhalb dessen entweder (wie „im Paradiese” und im „goldenen Zeitalter”) nur unter einander verträgliche Willensäusserungen stattfinden, oder (so wie im sogenannten Nothfrieden) mit einander unverträgliche Willensäusserungen nur deshalb nicht stattfinden, weil die Streitenden, oder doch einer von ihnen, obgleich der Wille zu streiten nach wie vor besteht, in Folge physischer Erschöpfung ausser Stande sind ihren Willen zu äussern, sei es der vertragsmässige, innerhalb dessen entweder aus Furcht oder um des Vortheiles willen (Schacherfrieden) in dem einen, oder aus Respect vor der Idee des Rechtes in dem anderen Falle vertragswidrige d. h. unter einander unverträgliche Willensäusserungen unterlassen werden. Letztgenannter entspricht, da der Respect vor der Rechtsidee, wie diese selbst, sich immer gleich bleibt, dem Ideal eines Rechts- d. i. eines Zustandes, in welchem der Streit dauernd vermieden wird, unter den sämmtlichen angeführten in vollkommenster Weise.

214. An die ethische Idee des Rechtes schliesst sich ein Verfahren an, welches die in derselben enthaltene Forderung nicht blos auf die gesammten Willensäusserungen des Wollenden, sondern auf die Gesammtheit der innerhalb des Umkreises einer Gesellschaft an den Tag tretenden Willensäusserungen der Mitglieder derselben ausdehnt. Dasselbe besteht darin, dass sämmtliche Willensäusserungen des Individuums zum mindesten erlaubt d. i. rechtmässig, so wie dass keine der innerhalb des Umkreises der Gesellschaft an den Tag tretenden Willensäusserungen eines ihrer Mitglieder unerlaubt d. i. unrechtmässig sei; oder, was dasselbe ist, dass weder der Wollende noch irgend ein Mitglied der Gesellschaft durch irgend eine seiner Willensäusserungen Streit erhebe. Die Tendenz desselben ist, nicht nur jede unrechtmässige Handlung zu unterlassen, sondern wo Streit entstanden ist denselben auf rechtmässige Weise zu schlichten, nicht nur von Seite des Wollenden in Bezug auf jede seiner Handlungen, sondern von Seite der Gesellschaft in Bezug auf jede innerhalb ihres Umkreises vorfallende Handlung ihrer Mitglieder. Die Erfüllung derselben von Seite des einzelnen Wollenden ergibt das Ideal des rechtlichen Mannes d. i. eines solchen, der nicht nur für seine Person jeder unerlaubten Handlungsweise sich jederzeit enthält, sondern wenn ohne, ja wider seinen Willen Streit dennoch entstanden ist, denselben auf keine andere als auf erlaubte Weise (also nicht durch Selbsthilfe, Duell u. s. w.) [125]schlichtet; die Erfüllung derselben von Seite einer Gesellschaft dagegen ergibt das Ideal einer Rechtsgesellschaft d. i. einer solchen, die nicht nur innerhalb ihres Umkreises diejenigen Anstalten trifft, um Streit zwischen ihren Mitgliedern zu verhüten (Rechtsgesetzgebung), sondern auch alle diejenigen anordnet, deren Zweck es ist, entstandenen Streit auf rechtmässige Weise zu schlichten (Gerichtsverfahren). Jenes bildet sowol beim einzelnen Wollenden wie bei der Rechtsgesellschaft den präventiven, den Ausbruch des Streites beseitigenden, dieses bei beiden den repressiven, ausgebrochenen Streit beschwichtigenden Theil der Erfüllung der Rechtsidee.

215. Je nach den verschiedenen Gattungen unerlaubter Handlungen und Achtung heischender Rechte, welche der Einzelne sich zu unterlassen und zu respectiren gebietet, wie je nach der Mannigfaltigkeit der Veranlassungen, welche zum Streitausbruch, und der Verfahrungsweisen, welche zum Streitaustrag führen können, kommt in die rechtliche Gesinnung des Einzelnen wie in die Rechtsgesetzgebung und das Rechtsverfahren der Gesellschaft eine Buntheit und Vielartigkeit, welche je nach der vorherrschenden Berücksichtigung einer bestimmten Classe von Rechten vor und im Gegensatz zu den übrigen (z. B. der privaten vor den öffentlichen, oder umgekehrt der öffentlichen vor dem privaten, des Hausrechts vor dem Landrecht und dessen vor dem Reichs- und Staatsrecht, des kirchlichen vor dem weltlichen Recht, oder umgekehrt u. s. w.) der Rechtsgesinnung des Einzelnen so wie der Gesellschaft eine bestimmte Färbung (z. B. die privatrechtliche im germanischen, die öffentlich rechtliche im antiken Recht, die clericale im mittelalterlichen, die profane im modernen Staate) ertheilt und in den verschiedenen Zweigen sowol der Rechtsgesetzgebung wie des Rechtsverfahrens sich, sei es zu Gunsten, sei es zu Ungunsten einer oder der anderen Classe von Rechten, geltend macht. Letztere beiden zerfallen je nach den verschiedenen Classen der Rechte, die zu errichten und zu schützen sind, sich unter einander aber eben so wol zu widerstreiten scheinen, als zu ergänzen bestimmt sein können, in eben so viele Zweige sowol der Gesetzgebung als des gerichtlichen Verfahrens, zwischen welchen ihres scheinbar ausschliessenden Charakters ungeachtet (z. B. geistliche und weltliche Gesetzgebung, canonisches, militärisches und Civilgerichtsverfahren u. dgl.) eine weise Rechtsorganisation das Gleichgewicht nicht nur, wo es gestört zu werden droht, herzustellen, sondern dauernd zu erhalten und zu befestigen bemüht sein wird. [126]

216. Der qualitative Gesichtspunkt der missfälligen Störung durch absichtliche Willensäusserung ergibt die ethische Idee der (billigen) Vergeltung. Dieselbe entsteht durch die Uebertragung der ästhetischen Idee des Ausgleichs auf das ethische Gebiet. Wie Schein, der sich für Sein gibt, um deswillen unbedingt missfällt und, so weit sich derselbe vor das Sein hervorgedrängt hat, so weit wieder zurückgedrängt d. i. das ursprüngliche Sein aus seiner Verdunkelung wieder hergestellt werden muss, damit das Missfallen verschwinde, so missfällt absichtlich herbeigeführte Störung, die sich für Nichtstörung ausgibt und daher durch entsprechende Gegenstörung ausgeglichen d. i. der ursprüngliche oder doch ein diesem gleicher Zustand wieder hergestellt werden muss, damit das Missfallen aufhöre. Da die Ursache der eingetretenen Störung weder eine leblose (ein blosses Naturereigniss), noch eine absichts- (also bewusst-) lose Willensäusserung (im Affect, in der Leidenschaft), sondern eine absichtliche (also bei klarem Bewusstsein beabsichtigte) Willensäusserung ist, so fällt, da die entsprechende Gegenstörung nichts anderes als die Wirkung der Störung und folglich, da diese selbst die Wirkung jener Ursache, zugleich die (nur entferntere) Wirkung jener absichtlichen Willensäusserung ist, dieselbe mit ganzer Gewalt und in ihrem ganzen Umfange auf den Träger der absichtlichen Willensäusserung d. i. den Thäter als den „Störenfried” zurück. Derselbe erscheint daher einerseits als verantwortlich für die Störung, andererseits als Gegenstand der Gegenstörung. In ersterer Hinsicht hängt der Grad seiner Verantwortlichkeit ab von dem Grad seiner Urheberschaft; in letzterer Hinsicht wird das Mass der an ihm zu verwirklichenden Gegenstörung durch dasjenige der von ihm ausgegangenen Störung vorgezeichnet.

217. Der Grad der Urheberschaft wird gemessen durch die Erwägung, inwiefern und inwieweit eine gewisse Störung als Wirkung absichtlicher Willensäusserung eines gewissen Wollenden angesehen werden könne. Dieselbe hat zunächst zu erforschen, ob und dass die stattgehabte Störung Wirkung eines Willens (d. i. ob und dass sie Willensäusserung), hierauf, ob und dass diese Willensäusserung absichtlich d. i. unter Umständen erfolgt sei, unter welchen allein von Wollen einer- und Absichtlichkeit andererseits die Rede sein könne. Erstere Untersuchung, da sie den Zusammenhang einer in der Aussenwelt eingetretenen Veränderung eines bisherigen Zustandes und die Verursachung dieser durch einen wirksam gewordenen Willen betrifft, hängt von der Rücksicht auf die Naturgesetze [127]der äusseren (physischen) Welt ab; letztere Untersuchung, da sie den Zusammenhang eines bestimmten Wollens mit einem bestimmten Vorsatz d. i. die Verursachung einer im Innern des Bewusstseins vor sich gegangenen Veränderung im Wollen durch einen gleichfalls im Bewusstsein vorgegangenen Act des Intellects betrifft, hängt von der Rücksicht auf die Naturgesetze der inneren (psychischen) Welt ab. Jene hat zu constatiren, dass es bei der Verursachung der Störung durch ein Wollen, diese, dass es bei der Verursachung des Wollens durch den Intellect „mit rechten Dingen” zugegangen d. h. dass nicht nur zwischen der Störung und dem angeblichen Störenfried ein Causalzusammenhang bestehend, sondern dass derselbe an keiner Stelle unterbrochen, kein Ring der Kette ausgefallen sei. Das Ergebniss der ersteren ist der Grad der physischen, jenes der letztern Betrachtung der Grad der psychischen Urheberschaft des Thäters.

218. Letzterer hängt ab von der Zurechnungsfähigkeit des Thäters. Eine solche ist nicht vorhanden, wenn die psychischen Bedingungen mangeln, von welchen nach psychischen Naturgesetzen das Zustandekommen eines wirklichen Wollens, so wie dessen Beeinflussung durch den Intellect abhängig ist. Da nun wirkliches Wollen nur dort existirt, wo weder, wie beim Begehren, zwar eine Vorstellung des Begehrten, aber keine von dessen Erreichbarkeit oder Nichterreichbarkeit, noch, wie beim Wünschen, nebst der Vorstellung des Gewünschten auch noch die Vorstellung von dessen Unerreichbarkeit, sondern nur dort, wo ausser der Vorstellung des Gewollten auch noch die Ueberzeugung von dessen Erreichbarkeit vorhanden ist, so hängt die Entscheidung über die Zurechnungsfähigkeit in erster Reihe davon ab, ob der Zustand des Bewusstseins ein solcher gewesen sei, in welchem die Möglichkeit vorhanden war, über Erreichbarkeit oder Unerreichbarkeit des Begehrten Erwägungen anzustellen, Urtheile zu fällen und sein Begehren durch dieselben bestimmen zu lassen d. h. ob der angebliche Thäter in einem Gemüthszustande sich befunden habe, der es ihm psychisch möglich machte, verständige Ueberlegungen über sein Begehren anzustellen. Da ferner von einer Absicht in Bezug auf den Andern nur insofern die Rede sein kann, als eine Vorstellung davon vorausgesetzt wird, was die Folge einer gewissen Willensäusserung in dem Zustande des Anderen sein d. h. ob derselbe dadurch verbessert oder verschlechtert werden werde, so hängt die Entscheidung über die Zurechnungsfähigkeit in zweiter Reihe davon ab, ob der Zustand [128]des Bewusstseins ein solcher gewesen sei, um eine Vorstellung von den unausbleiblichen oder doch möglichen Folgen einer gewissen Handlung für den Leidenden wirklich oder auch nur möglich zu machen d. i. ob der angebliche Thäter sich in einem Geisteszustande befunden habe, der ihm erlaubte, eine vernünftige Ueberlegung anzustellen.

219. Der Unterschied beider Ueberlegungen ist dieser: erstere, die sogenannte verständige, hat es, nachdem das Begehren einmal vorhanden ist, lediglich mit der Frage zu thun, ob das Begehrte auch möglich sei. Letztere, die sogenannte vernünftige, hat es, bevor noch ein Begehren wirklich vorhanden ist, mit der Frage zu thun, ob ein solches erlaubt sei. Die Antwort auf jene Frage hängt lediglich von Erwägungen ab, deren Gegenstände aus dem Bereiche der physischen, die Antwort auf diese dagegen von solchen, die aus dem Bereiche der sogenannten moralischen Welt entnommen sind. Ueber Erreichbarkeit oder Unerreichbarkeit entscheidet richtig oder unrichtig die Kenntniss oder Unkenntniss der Naturgesetze; über die Erlaubtheit oder Unerlaubtheit entscheidet wahr oder falsch das Bewusstsein oder das Nichtbewusstsein der Moralgesetze. In einem Zustand, in welchem das „Weltbewusstsein” d. i. die Fähigkeit, nach der vorhandenen Kenntniss der Naturgesetze zu verfahren, aus was immer für einem Grunde (augenblickliche oder dauernde Unwissenheit) nicht vorhanden oder abhanden gekommen ist, kann keine verständige, in einem solchen, in welchem „das ethische Bewusstsein” d. i. die Stimme des Gewissens, die Kenntniss des Gebotenen und Verbotenen, sei es aus was immer für einem Grunde (ethische Blindheit oder ethische Verblendung) unterdrückt ist, keine vernünftige Ueberlegung stattfinden. Der angebliche Thäter ist in solchem Falle entweder schon in erster oder doch in zweiter Reihe im psychologischen Sinne des Wortes unzurechnungsfähig.

220. Der Umstand, ob die dem Störenfried zur Last fallende Störung seinerseits durch die absichtliche Herbeiführung oder die eben so absichtliche Unterlassung einer gewissen Willensäusserung verursacht wird, macht in der Beurtheilung seiner Urheberschaft keinen wesentlichen Unterschied. Ersterer Fall, welcher, wenn die verursachte Störung ein Wehe des von derselben Betroffenen darstellt, als dolus bezeichnet wird, kommt mit dem letzteren, welcher unter derselben Voraussetzung den Namen culpa führt, darin überein, dass beide Ursache der Störung sind, und unterscheidet sich von diesem nur dadurch, dass der Thäter das einemal etwas thut, von [129]dem er weiss, dass dessen Thun, das anderemal etwas nicht thut, von dem er weiss, dass dessen Nichtthun eine gewisse Folge nach sich ziehen müsse und werde. Letzteres Wissen wird nothwendig erfordert, wenn von einer durch Unterlassung auf sich geladenen Schuld des Unterlassenden die Rede sein soll; wo dasselbe mangelt, aber durch die Unterlassung Störung entsteht, kann der Unterlassende höchstens in dem Falle für dieselbe zur Verantwortung gezogen werden, als ihm die Nichtunterlassung ausdrücklich zur Pflicht gemacht war. Dessen Vergehen besteht jedoch in einem solchen Fall nicht sowol in der Herbeiführung der Störung, von deren Möglichkeit er nichts wusste, als vielmehr in der Vernachlässigung der ihm aufgetragenen Pflicht. Fand weder Wissen um die Folgen, noch ausdrückliches Gebot der Nichtunterlassung statt, so kann von einer absichtlichen Unterlassung nicht gesprochen und die Folge der Störung dem „unfreiwilligen” Störenfried nicht aufgebürdet werden.

221. Mit dem Erweis der Thäterschaft ist das Object der Vergeltung, mit dem Mass der Thäterschaft das Mass dieser letzteren gegeben. Jede wirkliche Störung kann, um nicht missfällig zu werden, nur am wirklichen Thäter und nur in dem Masse, aber auch nicht unter demselben vergolten werden, in welchem er Thäter ist. Inwiefern die von ihm ausgegangene That selbst Wohl- oder Wehethat, der Thäter wirklicher Wohl- oder Wehethäter ist, nimmt die Vergeltung die Gestalt der Belohnung d. i. des Rückgangs eines dem zugefügten gleichen Quantums von Wohl an den Wohlthäter, oder der Bestrafung d. i. des Rückgangs eines gleichen Quantums von Wehe an den Wehethäter an.

222. Ueber das Subject der Vergeltung d. i. den zur Vergeltung Berufenen, wird durch die Idee der Vergeltung nichts ausgesagt. Die Forderung derselben lautet dahin, dass vergolten werde, aber sie lässt dahingestellt, durch wen vergolten werde. Dieselbe ist erfüllt und das Missfallen geschwunden, wenn die Störung ausgeglichen, auch dann, wenn durch die Ausgleichung dieser Störung der Ausgleichende (der Vergelter) aus irgend einem Grunde selbst tadelnswerth geworden ist. Die Vergeltung kann eben so gut durch einen unpersönlichen Vorgang (auf dem Naturwege), wie durch einen persönlichen Act (auf dem Gerichtswege) erfolgen. In ersterem Fall zieht die eingetretene Störung die entsprechende Gegenstörung (die That das Loos) wie die Ursache ihre Wirkung nach sich; im letzteren Fall wird die Vergeltung, welche sonst ausgeblieben wäre, [130]über den Thäter in Folge des Rathschlusses einer persönlichen Vergeltungsmacht (sei es göttlicher oder menschlicher) verhängt und ausgeübt. In ersterem Fall herrscht Nemesis, im letzteren Dike.

223. Die vergeltende Persönlichkeit kann tadelnswerth erscheinen, nicht weil sie vergilt, sondern weil sie vergilt. Die Vergeltung von Wohlthaten durch ein entsprechendes Quantum Wohl an dem Wohlthäter lässt nicht nur die Idee der Vergeltung, sondern auch die Person des Vergelters in verklärendem Lichte erscheinen, weil bei dem Wohlspendenden nicht blos billige, sondern (mit Recht oder Unrecht) auch wohlwollende Gesinnung vorausgesetzt wird. Die Vergeltung der Wehethat durch ein entsprechendes Quantum Wehe an dem Wehethäter dagegen lässt die Person des Vergelters in einem ungünstigen Lichte sich darstellen, weil an derselben zwar die billige Gesinnung allenfalls anerkannt, aber der Verdacht übelwollender Gesinnung d. i. einer Freude am Wehethun rege gemacht wird. Der Strafrichter, der das Urtheil fällt, noch mehr der Nachrichter, der es vollzieht, hat die Wirkung dieses unwillkürlichen Nebenverdachtes an seiner Person zu erfahren; der Henker, der Hand anlegt an den, wenn auch gerechterweise, Verurtheilten, wird von der Volksmeinung für unehrlich erklärt und wurde nicht selten in der Ausübung seiner Pflicht vom Volke gehindert und gesteinigt. Wie es in feiner empfindenden Zeitaltern einst dahin kommen mag, dass die Anwendung der Todesstrafe von selbst aufhören muss, weil sich niemand mehr finden wird, der das verrufene Amt des Scharfrichters auf sich nimmt, so liesse sich denken, dass die Fällung von, wenn auch gerechten, Strafurtheilen bei empfindlichen Seelen Widerstand erfährt, weil sich dieselben weder vor Anderen noch vor sich selbst dem Verdacht aussetzen mögen, mehr der Freude, Anderen weh thun zu können, nachgegeben, als der Idee billiger Vergeltung ausschliesslich gehorcht zu haben.

224. Dieser Verdacht wird gesteigert, wenn die Person des Vergelters mit dem Beleidigten, schwindet beinahe völlig, wenn dieselbe mit dem Beleidiger identisch ist. Ersteres enthält den Grund, um deswillen Vergeltung von Rache verschieden, letzteres den Grund, warum unter allen Formen der strafenden Vergeltung die der Selbstvergeltung die am mindesten anstössige ist. Bei demjenigen, der durch den Andern absichtliches Weh erlitten hat, liegt die Voraussetzung, dass er die sich darbietende Gelegenheit, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, nicht sowol mit der persönlichen Kühle des unbetheiligten Richters, sondern mit der schadenfrohen Hitze des [131]gereizten Rachgierigen ergreifen werde, am nächsten; die Hoffnung, dass derselbe es bei dem billigen Masse der Vergeltung bewenden lassen werde, ist bei ihm die geringste; die Aussicht, dass er dasselbe in ungebührlicher Weise überschreiten werde, die wahrscheinlichste. Unter allen als passende Werkzeuge der Vergeltung denkbaren Persönlichkeiten ist daher die des Beleidigten die unpassendste und sonach durch die Idee der Billigkeit vom Vergelteramt (z. B. im Zweikampf, Duell) ausgeschlossen. Dagegen, da bei jedem Einzelnen die Neigung, sich selbst Wehe zu thun, nicht, der Entschluss, sich selbst ein derartiges zuzufügen, nur als Wirkung eines über die Schranken eudämonistischer Motive hinausreichenden, idealen d. i. nur von ethischen Ideen beherrschten Wollens vorausgesetzt werden kann, ist die Selbstvergeltung d. i. die Zufügung eines dem von ihm ausgegangenen gleichen Quantums von Wehe an seine eigene Person von der Hand des Wehethäters über jeden Verdacht anderer als rein ethischer Vergeltungsgesinnung erhaben und zugleich die Annahme, dass sich der Vergelter mit dem billigen Masse der Vergeltung begnügen werde, gerechtfertigt, so dass durch dieselbe der Idee der Vergeltung zugleich in der reinsten und in der angemessensten Weise Genüge gethan wird. Dieselbe ist daher nicht nur des Nimbus halber, mit dem sie die Person des Vergelters umgibt, sondern auch um der Kürze und Anschaulichkeit des Vergeltungsverfahrens willen (z. B. als vergeltender Selbstmord) im Drama (Othello, Don Caesar, Guido von Tarent u. A.) besonders beliebt.

225. Wie die Nothwendigkeit zu strafen, um Missfallen zu vermeiden, von der Idee der Vergeltung, so hängt die Möglichkeit zu strafen, ohne missfällig zu werden, von dem Motiv des Strafenden ab. Fordert die erste: fiat justitia pereat mundus, so erlaubt die letztere nur: fiat justitia, ne pereat mundus. Das Motiv der Strafe kann kein anderes sein, als damit die geschehene Wehethat nicht unvergolten, der Wehethäter nicht straflos bleibe. Der Beweggrund des Strafenden kann kein anderer sein, als die wohlwollende Gesinnung, dass durch den Vollzug der Strafe nicht sowol Anderen Leid zugefügt, als vielmehr Anderer Leid verhütet, oder Anderer Wohl gefördert werde. Je nachdem dieser Andere der Wehethäter selbst, oder ein Anderer als dieser ist d. h. durch das Wehe, das dem Wehethäter zugefügt wird, entweder dessen eigenes Weh verhütet oder gemildert, dessen eigenes Wohl gewahrt und gemehrt werden soll, oder das gleiche bei einem Andern dadurch [132]herbeigeführt werden soll, zerfällt vom Gesichtspunkt des Strafenden aus die Strafe in Besserungs- und Abschreckungsstrafe. Jene geht darauf aus, den Wehethäter selbst, diese den Anderen seiner ethischen Beschaffenheit nach durch das dem ersteren zugefügte Leid zu verändern d. h. die Strafe als ein Motiv in das Bewusstsein des einen wie der anderen zu dem Zwecke einzuführen, damit in der Folge eine der strafbaren Handlung gleiche Handlungsweise, sei es von dem Gestraften selbst, sei es von den Zeugen seiner Bestrafung unterlassen werde. Die durch die Strafe herbeizuführende Aenderung der ethischen Qualität besteht bei dem Gestraften in einer wirklichen Aenderung seines bisherigen (sträflichen) Wollens, so dass an die Stelle desselben künftig ein seinem Inhalt nach entgegengesetztes (unsträfliches) Wollen trete, sein Wollen demnach ein besseres werde. Bei Anderen dagegen kann dieselbe nur darin bestehen, dass ein gewisses bisher nicht wirklich vorhandenes d. h. noch niemals in Handlung übergegangenes, wenngleich vielleicht als Neigung, Hang, Vorsatz längst bestandenes Wollen auch künftig nicht wirklich d. i. wirksam werde. Während daher die Abschreckungsstrafe ihren Zweck erfüllt, wenn sie überhaupt Andere, also auch den Gestraften selbst zur Enthaltung von der strafbaren Handlung bewegt, hat die Besserungsstrafe denselben erst dann erreicht, wenn sie in den Anderen und darunter vor allem in dem Gestraften ein neues, dem Inhalt der sträflichen Handlung entgegengesetztes Wollen erzeugt. Da die Strafe ein Wehe zufügt, so wird der Grund, durch welchen dieselbe sowol zum Motiv der Enthaltung vom sträflichen, wie zur Erzeugung eines demselben entgegengesetzten Wollens wird, zunächst kein anderer sein, als Furcht vor dem Wehe, das sie mit sich bringt: Furcht vor dessen Wiederkehr bei dem Gestraften, vor dessen drohendem Eintreten bei dem Zeugen der Strafe. Hat dieselbe zur Folge, dass sowol bei dem Gestraften als bei den Zeugen der Strafe, das sträfliche Wollen, bei dem Gestraften nicht mehr, bei den Anderen überhaupt nicht eintritt, so sind die letzteren nicht schlechter geworden, als sie waren, so ist das Wollen des Gestraften besser geworden, als es war; der Gestrafte selbst aber, so lange nur Furcht vor der Strafe ihn von der Wiederbegehung der sträflichen Handlung abhält, ist nicht gebessert. Letzteres ist erst dann der Fall, wenn nicht nur das Wollen ein anderes, sondern auch das Motiv des anders Wollens ein anderes als das eudämonistische der Furcht d. h. wenn es das ethische, die Ueberzeugung von der Verwerflichkeit [133]der strafbaren Handlung als solcher geworden ist. Diesen äussersten Schritt, welcher nicht blos eine Aenderung des Wollens, sondern eine solche der Gesinnung bedeutet, in dem Gestraften herbeizuführen, reicht die blosse Strafe, welche als solche zwar auf das Gemüth d. i. auf die Empfänglichkeit für die angenehmen oder unangenehmen Folgen einer gewissen Handlungsweise, und auf die Klugheit, unangenehmen Folgen auszuweichen, keineswegs aber auf die praktische Weisheit d. i. auf die Einsicht in den unbedingten Werth oder Unwerth einer Handlungsweise Einfluss zu üben vermag, für sich so wenig aus, dass zur Erreichung dieses Zweckes vielmehr andere Mittel (Belehrung, Erziehung) zu Hilfe genommen werden müssen, das Beste aber von dem im Gemüth des Gestraften selbst zum Durchbruch gelangten Erwachen der unwiderstehlichen Stimme und Macht des Gewissens erwartet werden muss.

226. Letztgenannter Grund ist es, welcher bewirkt, dass die Formen der Strafe, je nachdem dieselbe als Besserungs- oder als Abschreckungsstrafe betrachtet wird, unter einander abweichende, nicht selten sogar entgegengesetzte Gestalt annehmen. So fordert die Strafe, die abschreckend wirken soll, volle, ja verstärkte Oeffentlichkeit, während die Besserung des Gestraften, wenn sie den Zweck der Strafe abgeben soll, durch Geheimhaltung derselben, um diesem die Beschämung zu ersparen, begünstigt wird. Während die Oeffentlichkeit des Strafvollzuges die Furcht vor der Strafe steigert, erleichtert deren Geheimhaltung dem Gestraften die Aenderung sowol seines bisherigen Wollens wie seiner bisherigen Gesinnung. Jene erschwert dem Gestraften auch nach eingetretener Besserung den Rücktritt in die Gesellschaft, die Zeuge seiner Bestrafung gewesen ist; diese, indem sie Bestrafung und Gesinnungsänderung in der Stille sich vollziehen lässt, macht durch weise Schonung des Ehrgefühles dem Gestraften nicht sowol die Wiederaufnahme als vielmehr das dem Anschein nach wenigstens ungestörte Fortleben unter Anderen möglich. Entmenschte Rohheit und gedankenlose Neugier haben den öffentlichen Strafvollzug längst mehr zur Befriedigung brutaler Schaulust und barbarischer Gefühllosigkeit erniedrigt, als zum wirksamen Drohmittel erhabener Gerechtigkeitspflege erhöht; die Verlegung desselben in abgelegene und der Menge verschlossene Räume, so wie die Ersetzung der die sittliche Pest durch Ansteckung mehrenden gemeinsamen durch der Einkehr in sich selbst und dem Wachwerden ethischer Gesinnung vortheilhafte Einzelhaft [134]stehen in der Gegenwart als sichtbare Zeichen des Uebergewichtes des Besserungs- über das blosse Abschreckungsmotiv und verfeinerten ethischen Zartgefühles aufrecht.

227. An die Idee der billigen Vergeltung schliesst sich ein Verfahren an, welches dieselbe nicht blos über die gesammte Willenssphäre des Einzelnen, so weit nicht andere Motive es verhindern, einer-, so wie auf sämmtliche innerhalb des Umkreises einer Gesellschaft zu Tage tretende mittels absichtlicher Willensäusserung hervorgerufene Störungen andererseits ausdehnt. Dasselbe geht darauf aus, dass nicht nur jede vom Einzelnen verübte, wie jede am Einzelnen geübte That vergolten, sondern dass jede innerhalb des Umkreises der Gesellschaft ans Licht getretene Wohl- oder Wehethat in entsprechender Weise vergolten werde. In ersterer Hinsicht schliesst die Idee der Vergeltung die Forderung ein, dass jeder, der Gegenstand einer Wohl- oder Wehethat gewesen ist, deren Vergeltung (entweder durch ihn selbst oder durch Andere) suche, und jeder, der Urheber einer Wohl- oder Wehethat geworden ist, deren Vergeltung (durch Andere oder durch sich selbst) dulde. In letzterer Hinsicht drückt dieselbe aus, dass innerhalb des Umkreises der Gesellschaft keine wie immer geartete wirklich vollzogene That verborgen, so wie dass keine durch Zufall oder durch absichtliche Veranstaltung ans Licht gezogene That ohne Vergeltung bleibe. Die Erfüllung ersterer Forderung stellt das Ideal des gerechten Mannes, der sein Recht fordert, aber auch nimmt, die Erfüllung der letzteren das Ideal eines Lohnsystems d. i. einer Gesellschaft dar, innerhalb welcher jeder That ihr Lohn, der Wohlthat die ihr gebührende Belohnung, der Wehethat die verdiente Bestrafung zu Theil wird. Jenem entspricht es, wie Heinrich von Kleist’s Michael Kohlhaas darauf zu bestehen, dass die ihm widerrechtlich geraubten Rosse, von dem junkerlichen Räuber mit eigener Hand dick gefüttert, ihm zurückgestellt werden, aber zugleich die über ihn selbst rechtmässig verhängte Strafe gesetzloser Willkür und widergesetzlicher Selbsthilfe sich willig gefallen zu lassen. Wie in ersterer Handlung des Gerechten berechtigter „Kampf ums Recht”, so tritt in der letzteren des Gerechten bereitwillige Anerkennung des „Sieges des Rechtes” ans Tageslicht. Dem Ideal eines Lohnsystems würde eine Gesellschaft genügen, in welcher nicht nur alle zweckdienlichen Anstalten getroffen werden, nicht blos wie die heutigen „Detectives” verborgen gebliebene Missethaten aufzudecken und wie die heutigen „öffentlichen Ankläger” der Strafgewalt zu denunciren, sondern in [135]gleicher Weise geheime oder (zufällig oder absichtlich) vergessene Wohlthaten aufzuspüren und als öffentliche Lobredner der Macht, welche die Pflicht und die Mittel zur Belohnung besitzt, zur Kenntniss zu bringen. In letzterem Sinn hat schon Sokrates den ihm gebührenden Lohn dahin definirt, dass er verdient habe, auf öffentliche Kosten im Prytaneum erhalten zu werden. Während die heutige Gesellschaft für den Zweck der Entdeckung und Kundmachung geschehener Wehethaten ein zahlreiches Heer besonders geschulter und instruirter Organe besitzt, zieht sie es vor, ohne Zweifel um den Zartsinn der Wohlthäter zu schonen, das Bekanntwerden geschehener Wohlthaten dem Zufall, oder dem seltenen guten Willen der Empfänger so wie der Neider anheimzustellen. Dieselbe hat ebenso es längst als ihre Aufgabe angesehen, zur Bestrafung innerhalb ihres Umkreises kundgewordener Vergehen zweckdienliche Anstalten (Strafgerichte) und Verfahrungsweisen (Strafverfahren) zu errichten und zu ersinnen, hat es jedoch in Bezug auf den zweiten, nicht minder wichtigen Theil des Lohnsystems, die Belohnung auch der ihr bekannt gewordenen Wohlthaten, bei den dürftigsten Einrichtungen (Preisgerichte) und den armseligsten Verfahrungsweisen (Bürgerkronen, Ehrenzeichen, Monthyon’sche Tugendpreise) bewenden lassen. Nicht Keppler allein ist ein Beispiel, dass die moderne Gesellschaft Wohlthätern der Menschheit „öffentliche Steine” statt Brot gegeben hat. Wie in der gerechten Gesinnung des Einzelnen zwischen der Geneigtheit, sein Recht zu fordern, und der Bereitwilligkeit, dasselbe zu nehmen, so kann innerhalb des Lohnsystems zwischen der Sorgfalt Strafen zu verhängen und der Lässigkeit Wohlthaten zu belohnen ein empfindliches Missverhältniss herrschen, in Folge dessen die gerechte Gesinnung in Vergeltungssucht einer- und Widersetzlichkeit andererseits, die Gerechtigkeit der Gesellschaft in drakonische Strenge einer- und athenische Undankbarkeit andererseits ausartet. Das Ueberwiegen der Recht fordernden über die rechtsduldsame, der Straffrohen über die belohnungseifrige Gesinnung oder das Gegentheil gibt dem Einzelnen wie der Gesellschaft hinsichtlich der Idee der Vergeltung ihre eigenthümliche Färbung und ruft jenen Gegensatz einander bekämpfender Willensrichtungen, deren eine auf die Zufügung wenn auch verdienten Weh’s, die andere auf die Schenkung wohlverdienten Wohls gerichtet ist, hervor, zwischen welchen eine weise Organisation sowol des Strafs- wie des Belohnungssystems das versöhnende Mass herzustellen und festzuhalten bemüht sein wird. [136]

228. Mit der Idee der billigen Vergeltung ist die Reihe der ethischen d. i. der Uebertragungen ästhetischer Ideen auf das ethische Gebiet erschöpft. Keine derselben ist das ganze Gute, aber jeder derselben entspricht ein Element des Guten. Wie das vollkommene, so ist das innerlich freie und das wohlwollende Wollen ein gutes; sind die Gegentheile des Streits: der Friede unter den Wollenden, und der unvergoltenen That: die billige und willige Vergeltung seitens der Wollenden, kein schlechtes Wollen. Aber nur alle zusammengenommen als Eigenschaften des Wollens d. i. dasjenige Wollen, das zugleich in quantitativer Hinsicht stark, in qualitativer Hinsicht charaktervoll, gütig, rechtlich und gerecht ist, ist das gute Wollen. Die Erweiterung der ethischen Ideen auf die Gesellschaft, welche derselben nach einander den Charakter eines Cultursystems, einer beseelten Gesellschaft, eines Verwaltungssystems, einer Rechtsgesellschaft und eines Lohnsystems verleiht, bringt nicht nur durch jede der genannten Eigenschaften eine von dem Gesichtspunkt einer vereinzelten ethischen Idee aus verehrungs- oder doch wenigstens achtungswürdige Gesellschaft, sondern durch die Vereinigung aller genannten Eigenschaften das Ideal desjenigen hervor, was in besserem als in dem banal-herkömmlichen Sinne der „guten Gesellschaft” eine wahrhaft gute Gesellschaft d. i. eine solche heissen darf, in welcher, wie in dem guten Wollen die einfachen, so die gesellschaftlichen ethischen Ideen zur Verwirklichung gelangt sind.

229. Wie jeder der logischen und ästhetischen Ideen, so steht jeder der ethischen Ideen ein Gegenbild zur Seite; jener der (ethischen) Vollkommenheit das der (ethischen) Unvollkommenheit, jener der inneren Freiheit das der inneren Unfreiheit (Willensknechtschaft), jener des Wohlwollens das des Uebelwollens, während Streit und unvergoltene That die natürlichen Gegensätze des durch die Ideen des Rechts und der billigen Vergeltung Geforderten ausmachen. Wie jedes einer ethischen Idee entsprechende Wollen ein gutes (lobenswerthes, im ethischen Sinn schönes), so stellt jedes einem ihrer Gegenbilder gleichende Wollen ein schlechtes (tadelnswerthes, im ethischen Sinne hässliches) Wollen dar. Wie jene zusammengenommen den Inhalt des Guten, so erschöpfen diese zusammengenommen den Inhalt des ethisch verwerflichen Wollens. Wird dabei durch ein dem bei den ethischen Ideen angewendeten ähnliches Verfahren die in dem Gegenbilde enthaltene Forderung nicht blos auf das Gesammtwollen des einzelnen Wollenden, sondern auf jenes einer ganzen [137]Gesellschaft ausgedehnt, so entstehen nach der Reihe die den oben genannten entgegengesetzten Einzel- und Gesellschaftsideale. Dem Ideale des Willensstarken tritt gegenüber die Willensschwäche, dem Ideal des Cultursystems das Zerrbild eines solchen in der innerlich schwächlichen, dürftigen und zerfahrenen Willensbeschaffenheit ihrer sämmtlichen Mitglieder. Dem Ideal des Charakters und der beseelten Gesellschaft stellt sich das Extrem innerer Haltlosigkeit im Einzelnen, so wie der seelenlose Mechanismus und Formalismus in der Gesellschaft entgegen. Die Kehrseite des Ideals der Güte und eines wohlwollenden Verwaltungssystems offenbart sich in dem satanischen Ideal der Bosheit (dem Bösen), wie in dem wüsten, auf Raubbau und nutzlose Vergeudung der Güter gegründeten Haushalt innerlich und äusserlich verlotterter Wirthschaftsgesellschaften. Das Widerspiel, sei es auf natürliche, sei es vertragsmässige Basis gestellter Rechts- und Friedenszustände tritt in dem rücksichtslosen Walten der Macht des Stärkern, in dem Kriege Aller gegen Alle und dem auf gegenseitige Vernichtung abzielenden „Kampf ums Dasein” zu Tage, während das Gegenstück zu dem in der Forderung billiger Vergeltung enthaltenen Gemälde das Bild eines Zustandes darbietet, in welchem der Wohlthäter darbt und das vergossene Blut vergebens zum Himmel schreit. Wie die Zusammenfassung ethischer Gegenbilder im Wollen eines einzelnen Individuums dieses zum Ideal der Schlechtigkeit stempelt, so drückt die Zusammenfassung sämmtlicher Gegenbilder ethischer Gesellschaftsideale im Wesen einer einzigen Gesellschaft dieser in einem andern als in dem herkömmlich alltäglichen Sinn der sogenannten „schlechten Gesellschaft” das Gepräge einer schlechten Gesellschaft auf.

230. Mit der Aufstellung der ethischen Ideen und ihrer Gegenbilder, der einen zur Nachahmung, der andern zur Abschreckung für jedes Wollen, das auf Hervorbringung des guten d. h. unbedingt wohlgefälligen Wollens gerichtet ist d. i. mit der Aufzählung der normalen und anormalen Formen, welche Normen des Wollens und Handelns sind, ist das Geschäft der Ethik als allgemeiner Wissenschaft vom Guten vollendet. [139]

ZWEITES BUCH.

DAS WIRKLICHE.

[141]

[Inhalt]

ERSTES CAPITEL.

Das Nicht-Ich.

231. Was überhaupt Wirkliches, dass irgendwie Wirkliches, und was oder welcher Art das Wirkliche sei, ist weder so ausgemacht, noch so leicht auszumachen, als diejenigen, welche es lieben, die Wissenschaft vom Wirklichen als allein wirkliche Wissenschaft den „hohlen Träumen der Speculation” entgegenzusetzen, zu glauben sich anstellen oder Andere gern überreden möchten. Sofern und so lange es gewiss ist, dass der Weg zum Wirklichen für das wirkliche Vorstellen nur durch das wirklich Scheinende d. i. durch den Schein des Wirklichen führt, der Schein der Wirklichkeit für das Bewusstsein früher gegeben ist und demselben näher steht als die, wenn überhaupt vorhandene, hinter demselben stehende Wirklichkeit selbst: so lange bleibt es unbestreitbar, dass die Wissenschaft vom Wirklichen zunächst und vor allem mit dem anscheinend Wirklichen sich aus einander zu setzen hat, wenn sie nicht in Gefahr gerathen soll, blos scheinbar Wirkliches für das Wirkliche selbst, oder, was in den Ohren der Freunde der Wirklichkeit noch befremdender klingen müsste, den Schein für das einzige Wirkliche zu halten.

232. Ersteres ist die Ansicht des (gemeinen empirischen) Realismus, letzteres jene des (gleichfalls empirischen, obgleich nicht eben gemeinen) Idealismus. Jener geht davon aus, dass das wirklich Scheinende das Wirkliche, dieser davon, dass der Schein eines Wirklichen das einzige Wirkliche sei. Vom Gesichtspunkt des Realismus aus sind die Dinge nicht nur, wenn, sondern sie sind auch das, was sie zu sein scheinen; von dem Gesichtspunkt des Idealismus aus sind die Dinge, die scheinen, die einzigen, welche sind. [142]Jener schliesst jede Möglichkeit eines Zwiespaltes zwischen Schein und Wirklichkeit aus dem Grunde aus, weil das scheinbar Wirkliche mit dem Wirklichen identisch, dieser dagegen aus dem Grund, weil ausser dem Schein kein Wirkliches vorhanden ist.

233. Ersterem steht die Thatsache im Wege, dass es wirklich Scheinendes gibt, dem doch keine Wirklichkeit entspricht, letzterem der Umstand, dass, wenn dem Schein kein Wirkliches gegenübersteht, es auch keinen Schein geben kann. Der Mond, der am Horizont emporsteigt, scheint wirklich grösser als derselbe Mond, wenn er im Zenith steht, ohne dass daraus folgte, dass er wirklich grösser sei. Der wirklich vorhandene Schein ist in diesem Fall eine nothwendige Täuschung, welche dadurch, dass sie nothwendig ist, nicht aufhört, Täuschung zu sein. Die scheinbare Bewegung des gestirnten Himmels um die Erde, welche der wirklichen Bewegung der Erde um ihre Axe gerade entgegengesetzt ist, ist der Schein einer Wirklichkeit, aber nicht diese selbst. Wie in den angeführten Fällen vertreten in allen sogenannten Sinnestäuschungen, denen entweder ein Anderes als das scheinbare Wirkliche (Illusionen), oder überhaupt kein Wirkliches entspricht (Hallucinationen), anscheinende die Stelle der wirklichen Dinge, während in den sogenannten Sinnesqualitäten (Färbung, Klang, Geruch, Geschmack, Härte, Weichheit u. dgl.) anscheinende Eigenschaften, die ihren Grund nur in der Beschaffenheit des wahrnehmenden Sinnesorgans, die Stelle wirklicher Eigenschaften vertreten, die ihren Grund in der Zusammensetzung, inneren und äusseren Structur, oder in der Beschaffenheit der Oberfläche der Körper selbst haben. So ist die Farbe, die dem gemeinen Realismus als eine wirkliche Eigenschaft der Körper gilt, in Wahrheit nur eine scheinbare Eigenschaft derselben, weil sie denselben nur insofern und nur unter der Voraussetzung zukommt, inwiefern und dass ein sehendes Auge vorhanden sei, welches den Eindruck des von der Oberfläche des Körpers reflectirten Lichts auf der empfindlichen Netzhaut empfängt und in Empfindung der Farbe verwandelt. So ist der Klang, der nach derselben Anschauungsweise zu den realen Eigenschaften des tönenden Körpers gehört, nichts weiter, als die in Folge innerer oder äusserer Erschütterung der kleinsten Theile desselben hervorgebrachte periodische Wellenbewegung der atmosphärischen Luft, welche dem Hörnerven sich mittheilt und im Centralorgan des empfindlichen Nervensystems in die Sprache des Bewusstseins, in dem Reiz heterogene aber correspondirende [143]Empfindung, aus Gehörreiz in Gehörsempfindung sich umsetzt. Ohne Augen, lässt sich sagen, wäre das All der Dinge dunkel, ohne Gehörsorgan stumm. Sämmtliche sogenannte wirkliche Eigenschaften, welche der Körperwelt Sinnlichkeit, sichtbare Gestalt für das Auge, hörbaren Reiz für das Ohr und entsprechende Wahrnehmbarkeit für die übrigen Sinnesorgane verleihen, werden denselben viel mehr von dem aufnehmenden mit Sinnesorganen ausgerüsteten Träger des Bewusstseins aufgeprägt, als diesem von jenem übermittelt, und verdienen daher mit weit grösserem Recht anscheinende d. h. den Dingen nur scheinbar anhaftende, in Wirklichkeit denselben nur angedichtete Eigenschaften zu heissen.

234. Folgt aus obiger Betrachtung, dass nicht alles wirklich Scheinende wirklich, so folgt daraus doch nicht, dass der Schein des Wirklichen das einzige Wirkliche sei. Jene Erwägung begründet den Unterschied eines scheinbar Wirklichen, dem Wirkliches, und eines ebensolchen, dem kein Wirkliches entspricht; letztere Behauptung möchte denselben verwischen und alles wirklich Scheinende in blossen Schein eines Wirklichen, somit das Wirkliche selbst in ein Unwirkliches verwandeln. Dieselbe geht von der Ansicht aus, dass, was nicht im Bewusstsein gegenwärtig, auch nicht für dasselbe vorhanden sei; dass aber, weil das im Bewusstsein vorhandene nichts anderes sein kann als Bewusstseinsvorgang, auch das für dasselbe Vorhandene ausschliesslich Bewusstseinsvorgänge sein können. Da nun, was im Bewusstsein (also als Vorstellung) vorhanden sein kann, nicht das Wirkliche selbst (die von der Vorstellung der Sache verschiedene Sache), sondern nur der Schein eines solchen (die als wirklich gedachte Sache d. i. der Gedanke der Sache) zu sein vermag, so könne alles für das Bewusstsein Vorhandene unmöglich das Wirkliche selbst, sondern nur dessen Schein, somit für dasselbe das einzige Wirkliche ausschliesslich der Schein eines Wirklichen sein. Statt daher hinter dem Schein ein imaginäres Wirkliches zu suchen, trachtet der Idealismus den Schein als nur scheinbar Unwirkliches, in Wahrheit als einziges Wirkliches festzuhalten, so dass, mit dem Realismus verglichen, das Verhältniss des Scheinbaren zum Wirklichen sich umkehrt, das in den Augen des Realismus Unwirkliche (der Schein, die Vorstellung, idea) für wirklich, dagegen das in dessen Augen Wirkliche (die Sache, dasjenige, was mehr als blosse Vorstellung ist, res) für unwirklich erklärt wird.

235. Die Widerlegung des Realismus bestand darin, dass in dem scheinbar Wirklichen, welches derselbe seinem Grundsatz gemäss, [144]dass zwischen dem Inhalt des wirklich Scheinenden und jenem des Wirklichen kein Unterschied bestehe, für wirklich erklärt, Fälle aufgezeigt wurden, in welchen das anscheinend Wirkliche unmöglich für wirklich genommen werden konnte. Die Widerlegung des Idealismus, wenn sie denselben Weg einschlüge und in dem Inhalt des Scheins, den der letztere für das einzig Wirkliche erklärt, Widersprüche nachwiese, hätte damit nur dargethan, dass sich im Schein, also im Unwirklichen, keineswegs aber, dass sich im Wirklichen, also in dem, was mehr ist als Schein, Widersprüche vorfinden. Die bekannten Antinomien, welche Kant in Bezug auf die Möglichkeit aufstellt, dass die Welt Grenzen im Raum und einen Anfang in der Zeit, aber auch, dass sie keine Grenzen im Raume und keinen Anfang in der Zeit habe, stammen daher, weil die eine wie die andere beider einander ausschliessender Behauptungen einem Gegenstande gilt, welcher als solcher nicht der realen, sondern der Scheinwelt angehört, von einem solchen aber sich gleichzeitig einander Ausschliessendes behaupten lässt, ohne dadurch mit der Natur des Scheines, der ja als solcher ein Unwirkliches ist, also das Widersprechende erträgt, in Widerstreit zu gerathen.

236. Die Widerlegung des Idealismus, wenn überhaupt möglich, muss auf anderem Wege gesucht werden. Kann dieselbe nicht aus dem Umstande geschöpft werden, dass der Inhalt des Scheines in seinen Bestandtheilen sich unter sich selbst, so kann sie vielleicht ihren Ausgangspunkt nehmen von der Betrachtung, dass der Begriff eines Scheines, der neben sich selbst kein Wirkliches zulässt, sich selbst widerspricht. Da nun ein Scheinen undenkbar ist ohne ein Etwas, welches scheint (objectiver Schein) oder ein Etwas, welchem es scheint (subjectiver Schein) vorauszusetzen, so muss entweder dasjenige, welches scheint (das Object) und dasjenige, welchem scheint (das Subject) abermals Schein und als solcher eines weiteren, sei es Objects, sei es Subjects des Scheinens bedürftig sein, welcher Regressus sich sofort in infinitum wiederholt, oder es muss, sei es das Object, sei es das Subject, näher oder entfernter etwas anderes als Schein d. i. ein Wirkliches sein, womit die Behauptung des Idealismus, dass Schein das einzige Wirkliche sei, sich von selbst aufhebt.

237. Allerdings nur unter der Annahme, dass das nach den Gesetzen des Denkens Undenkbare unmöglich d. h. dass das nach den Gesetzen des Denkens nicht als wirklich Denkbare auch nicht wirklich sei. Folgt aus der Natur des Denkens zwar, dass der [145]Denkende einen gewissen Denkinhalt mit Nothwendigkeit denken müsse, so folgt daraus keineswegs, dass der Seinsinhalt mit diesem nothwendigen Inhalt des Denkens eins sein müsse. So lange es kein Mittel gibt, den Inhalt des Seins mit dem Inhalt des Denkens zu vergleichen, um denjenigen Denkinhalt, der mit dem Seinsinhalt als congruent sich herausstellt, als Wissen zu fixiren (und dass es kein solches gibt, hat die Betrachtung der logischen Ideen zur Evidenz gebracht), so lange bleibt die Möglichkeit offen, dass die Dinge in der Wirklichkeit sich anders verhalten, als die Gesetze des Denkens letzteres nöthigen, das Verhalten derselben mit Nothwendigkeit zu denken d. h. dass der unvermeidliche und durch die Gesetze des Denkens demselben aufgenöthigte Denkinhalt des Denkens und der um seiner Unzugänglichkeit willen stets unbekannt bleibende Inhalt des Seins unter einander nicht übereinstimmen, ja vielleicht, was weder wahrscheinlich, noch unwahrscheinlich, sondern eben nur möglich ist, sich unter einander sogar widersprechen.

238. Erst ein späterer Anlass wird Gelegenheit bieten, von der aus obiger Betrachtung fliessenden Einschränkung Gebrauch zu machen. Aus der Widerlegung des Realismus folgt, dass die Wissenschaft des Wirklichen, wenn sie nur Wirkliches besitzen will, aus dem wirklich Scheinenden alles dasjenige ausscheiden muss, was nur den Schein der Wirklichkeit hat. Aus der Widerlegung des Idealismus folgt, dass der „Traum der Speculation”, wenn er aufhören soll, „Traum” zu sein, zu dem Schein, der ihm zufolge das einzige Wirkliche ist, ein Wirkliches, sei es im subjectiven Sinne, als Träger des Scheins, sei es im objectiven Sinne, als Ursache des Scheins, hinzufügen muss. Erstere Operation, durch welche im wirklich Scheinenden der Schein des Wirklichen vom Wirklichen gesondert wird, ist eine kritische, letztere, durch welche zu dem ursprünglich allein vorhandenen Schein des Wirklichen ein Wirkliches hinzugethan wird, ist eine ergänzende. Jene führt in das wirklich Scheinende neben der Betrachtung des Wirklichen, welches scheint (des Objects), die Betrachtung eines anderen Wirklichen ein, welchem es scheint (des Subjects); diese geht von der Betrachtung des ihrer ursprünglichen Ansicht nach allein wirklichen Scheins zu dessen Erklärung, sei es aus einem Wirklichen (dem Subject) oder durch ein Wirkliches (Object) fort.

239. Die Einführung des Subjects, welchem das Wirkliche scheint, um aus dem Zusammenwirken beider, des Objects, welches scheint, und des Subjects, dem es scheint, das wirklich Scheinende [146]als deren Product begreiflich zu machen, bedeutet die Einfügung eines idealistischen Elements in die realistische Betrachtung. Die Hinzufügung eines Wirklichen, sei es als Träger (Subject), sei es als Ursache (Object) des Scheins zu diesem selbst, um, sei es durch jenen, sei es durch diese, dessen Schein der Wirklichkeit begreiflich zu machen, bedeutet die Einführung eines realistischen Elements in die idealistische Betrachtungsweise. Durch die allmälige Ausbreitung des ersteren im Realismus wird dieser dem Idealismus, durch die allmälige Vertiefung des letzteren im Idealismus wird dieser dem Realismus näher gebracht. Der gemeine oder empirische Realismus nimmt in Folge kritischer d. i. philosophisch sichtender Behandlung idealistischen, der gemeine oder empirische Idealismus nimmt in Folge der ergänzenden d. i. philosophisch erklärenden Behandlung realistischen Charakter an.

240. Schon der Vater des gemeinen Realismus, Bacon, hat die Bemerkung gemacht, dass das wirklich Scheinende Elemente umschliesst, welche nicht aus dem Wirklichen, sondern aus dem dasselbe wahrnehmenden und auffassenden Subjecte stammen, und, weil sie jenem als wirklich von diesem nur angedichtet sind, dieselben treffend als „Idole” (Fictionen) bezeichnet. Dass unter denselben auch solche sich vorfinden, welche, wie die von ihm sogenannten „Idola tribus”, dem auffassenden (menschlichen) Subject vermöge dessen Gattungscharakter angehören und daher bei sämmtlichen Individuen derselben Gattung (also zum Beispiel bei allen Menschen) zu deren Auffassung des ihnen wirklich Scheinenden in stets gleicher Weise beitragen müssen, kann als ein Vorspiel zu der von Kant nachdrücklich hervorgehobenen Betheiligung des transcendentalen (d. i. des Gattungs-) Subjects an dem Zustandekommen der Erfahrung, als des Productes zweier Factoren, eines subjectiven und eines objectiven, angesehen werden. Wie diesem zufolge „die Welt der Erscheinung” d. i. das wirklich Scheinende zwar der „Materie” d. i. dem Stoffe nach aus dem Object, welches scheint, der „Form” nach jedoch aus dem transcendentalen Subjecte stammt, dem es scheint, so setzt sich nach Bacon die Welt des wirklich Scheinenden zusammen einerseits aus demjenigen, was aus dem Wirklichen stammt (der Erfahrung), und demjenigen, was diesem von dem auffassenden Gattungssubject nur angedichtet wird (der Scheinerfahrung der „Idola tribus”).

241. Allerdings mit dem Unterschied, dass der eine, der Realist, diese subjective Hinzuthat im wirklich Scheinenden als eine [147]Verunreinigung der Wissenschaft vom Wirklichen angesehen hat, von welcher dieselbe so bald und so gründlich als möglich befreit werden müsse, um die Erfahrung d. i. das Wirkliche rein zu erhalten, während der andere, der Idealist, gerade in dieser aus dem Gattungssubject herkommenden und daher allen auffassenden Individuen derselben Gattung in gleicher Weise eigenen subjectiven Hinzuthat im wirklich Scheinenden das Mittel erblickt hat, dieses aus einer nur individuellen in eine für alle Individuen derselben Gattung der Form nach identische Scheinwelt und dadurch aus einer nur individuell giltigen in eine allgemeine und nothwendige Erfahrung zu verwandeln. Bacon ging darauf aus, das subjective, also, vom Standpunkt des Realismus aus angesehen, idealistische Element im wirklich Scheinenden gänzlich aus demselben zu entfernen, und nur dasjenige, was in demselben nicht sowol Schein eines Wirklichen, als Schein des Wirklichen ist, für Erfahrung gelten zu lassen. Aber schon dessen Nachfolger Locke hat gezeigt, dass die sogenannten secundären Eigenschaften der Körper, wie Farbe, Klang, welche jener als Schein des Wirklichen gelten liess, nur als Schein eines Wirklichen gelten dürfen d. h. nicht, wie jener glaubte, am Wirklichen wirklich vorhanden, sondern von einem anderen Wirklichen, dem auffassenden Subject, als scheinbare Eigenschaften den Körpern angedichtet seien. Werden dieselben, als blosser Schein eines Wirklichen, aus dem wirklich Scheinenden ausgeschieden, so bleiben in diesem als Schein des Wirklichen nur mehr die sogenannten primären Eigenschaften (wie Gestalt, Ausdehnung, Grösse) und als Kern alles wirklich Scheinenden und κατ’ ἐξοχήν Wirkliches das (übrigens unbekannte) Substrat des Scheins und Träger der Eigenschaften, die sogenannte Substanz, als alleiniges Object einer wirklichen Wissenschaft vom Wirklichen übrig. Das von Bacon vergebens zu verdrängen gesuchte idealistische Element hat seine Stelle im Realismus mit Gewinn zurück erobert.

242. Aber auch ein skeptisches ist damit in den Vordergrund getreten. Wenn die sogenannten secundären Eigenschaften nur den Schein eines Wirklichen, aber nicht eine Erscheinung des Wirklichen darstellen, dann ist die sinnliche Erfahrung, welche dieselben als Schein des Wirklichen zeigt, eine trügerische, den Schein an die Stelle der Wirklichkeit setzende Vorstellung des Wirklichen, nicht sowol eine Erkenntniss der, als eine fortgesetzte Täuschung über die Wirklichkeit. Die nächste Folge dieser Einsicht kann keine andere sein, als dem Sinnenschein, welcher die Basis aller [148]sinnlichen Erfahrung ausmacht, und damit dieser selbst, die auf so ungewisser Grundlage sich aufbaut, mit Misstrauen entgegen zu kommen.

243. Dasselbe muss sich naturgemäss in demselben Grade steigern, als sich der Umfang des idealistischen Elementes d. i. der subjectiven Hinzuthat im wirklich Scheinenden erweitert. Die Ausbreitung desselben hat zuerst Locke’s idealistischer Fortsetzer Berkeley herbeigeführt durch die Behauptung, dass die sogenannten primären Eigenschaften der Körper, welche derselbe als wirkliche ansah, nicht weniger scheinbar als die sogenannten secundären Eigenschaften, und, ebenso wie diese, Hinzuthaten des vorstellenden Subjects im wirklich Scheinenden d. i. durch das vorstellende Subject, keineswegs durch das Object des Vorgestellten hervorgebrachter Schein, also zwar Schein eines Wirklichen, aber nicht selbst Wirkliches seien. Dieselbe erreichte den höchsten Grad dadurch, dass Berkeley die weitere Bemerkung hinzufügte, dass der Körper nichts anderes als die Summe seiner Eigenschaften, die Annahme einer den Kern desselben ausmachenden Substanz als Träger der Eigenschaften eine an sich völlig überflüssige, von dem vorstellenden Subject, wenn auch nicht willkürlich, aber doch unwillkürlich gemachte grundlose Voraussetzung, die sogenannte Substanz daher eben so wol wie die sogenannten primären und secundären Eigenschaften zwar der Schein eines Wirklichen, aber eben so wenig wie diese ein Wirkliches sei. Letztere Behauptung verwandelte, da der Körper fortan nichts weiter als die Summe seiner (primären und secundären) Eigenschaften, diese aber als Summe von nicht wirklichen, sondern nur scheinbaren Eigenschaften selbst nur eine Scheinsumme sein sollte, den angeblich wirklichen Körper in blossen Schein eines Körpers, die sogenannte Welt des Wirklichen in blossen Schein einer wirklichen Welt und löste somit den gesammten Realismus in Idealismus, die gesammte Sinneswahrnehmung als Basis der sinnlichen Erfahrung in Sinnestrug, und damit jene selbst aus einem Spiegel der wirklichen Welt in die leere Vorspiegelung einer solchen auf.

244. Diese äusserste mögliche Ausdehnung des idealistischen Elementes im Gebiete des Realismus musste die Ausdehnung der Skepsis auf den ganzen Umfang der sinnlichen Erfahrung zur unausbleiblichen Folge haben. Hatte der Idealismus sämmtliches wirklich Scheinende in innerlich hohlen Schein eines Wirklichen verkehrt, so musste die Aussicht auf Erkenntniss des Wirklichen auf dem [149]Wege der Erfahrung sich in die trostlose Einsicht in die Unmöglichkeit einer solchen, auf Grund völligen Mangels eines Wirklichen verwandeln. Nicht nur die Bestandtheile des wirklich Scheinenden d. i. die Elemente, aus welchen die scheinbare Welt bestand, waren sofort zu blossem Schein eines Wirklichen herabgesetzt, sondern auch die Verknüpfung derselben unter einander und zu einem Ganzen konnte nur eine scheinbare, das durch dieselbe hergestellte Ganze nur dem Schein nach ein Ganzes sein d. h. die gesammte angeblich wirkliche Welt mit ihren vermeintlich wirklichen Bestandtheilen und deren vermeintlich wirklichem und wirksamem Zusammenhang unter einander (dem Causalverband) musste sich dem Auge des Denkers als eine Scheinwelt, deren Bestandtheile als elementarer Schein, deren Zusammenhang unter einander als zwar anscheinend, aber nicht wirklich vorhandener d. i. vom vorstellenden Subject in die Welt der Phänomene hineingelegter, keineswegs (wie die Erfahrung von ihren sogenannten Naturgesetzen behauptet) aus derselben herausgelesener Zusammenhang darstellen.

245. Hume ist es, der diese Consequenz des Skepticismus aus dem in bodenlosen Idealismus umgewandelten Realismus seiner Vorgänger gezogen hat. Dieselbe wird nicht verbessert dadurch, dass an die Stelle des realen Zusammenhanges zwischen den Erscheinungen von ihm die subjective Gewöhnung des vorstellenden Subjectes gesetzt wird, in Folge wiederholten nach einander Auftretens gewisser Phänomene jedesmal, sobald das eine derselben (das antecedens) wiederkehrt, das andere (das consequens) zu erwarten und daher ersteres als Ursache, letzteres als Wirkung zu bezeichnen. Denn es muss einleuchten, dass zwar, wenn der eine jener Vorgänge der reale Grund, der andere die reale Folge ist, das Eintreten des ersten jedesmal jenes des zweiten nach sich ziehen muss, keineswegs aber, dass in umgekehrter Weise das (vielleicht ganz zufällige) Vorausgehen der einen, Nachfolgen der andern Erscheinung als genügender Beweis dafür gelten darf, dass die erste die Ursache der zweiten sei. Während die Auseinanderfolge zweier Phänomene deren Aufeinanderfolge nothwendig, macht deren Aufeinanderfolge den Schluss auf die Auseinanderfolge nur möglich; die Behauptung der letzteren (des Causalzusammenhanges) in Folge einer durch öfter beobachtete Succession beider Erscheinungen im Vorstellenden erzeugten Gewohnheit, beide unter einander in Verbindung stehend zu denken, kann daher niemals völlige (apodiktische), sondern höchstens sogenannte moralische (problematische) [150]Gewissheit d. i. mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit erlangen.

246. Diese Folgerung war es, welche Kant, wie er selbst sagt, „aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt hat”, nicht aus dem des Wolf’schen Rationalismus, über welchen er längst hinaus, sondern aus dem des Locke-Newton’schen Empirismus, in welchem er damals (1770) noch völlig befangen war. Dass es auf dem von Hume eingeschlagenen Wege, der auch ihm als die natürliche Fortsetzung der Bahn seiner Vorgänger galt, schliesslich dahin kommen müsse, dass auch die allgemeinen Naturgesetze, durch welche der Gang der Natur und die Einheit des Weltalls zusammengehalten wird, ihre strenge und ausnahmslose Nothwendigkeit und Allgemeinheit einbüssen und sich in blosse, mehr oder weniger wahrscheinliche und mit mehr oder weniger Zuversicht ausgesprochene Vermuthungen des die Natur auffassenden und in seiner Vorstellung zusammenfassenden Subjects verkehren müssen, erschien Kant so unausweichlich, zugleich aber für ein auf Erkenntniss des Wirklichen, wie es ist, statt auf Einbildung einer blossen Scheinwelt gerichtetes Denken, wie das seinige, so unerträglich, dass er um deswillen mit dem zum Skepticismus entarteten Empirismus brach und von dem Ergebniss einer nicht nur subjectiven, sondern auch nur particulär giltigen und blos wahrscheinlichen Naturauffassung zu der sofortigen Erforschung und Feststellung der Bedingungen einer zwar gleichfalls nur subjectiven, aber schlechterdings allgemeinen und nothwendigen Erfahrung überging.

247. Wie die bisherige Betrachtung das allmälige Eindringen des idealistischen Elements in den Realismus und dessen allmälige, schliesslich denselben überfluthende Ausbreitung in diesem blossgelegt hat, so legt die Entwicklungsgeschichte des Idealismus in umgekehrter Weise nicht nur das Eindringen, sondern das stetige Anwachsen des realistischen Elements im Idealismus als unvermeidlich dar. Schon dem Vater des gemeinen Idealismus, Berkeley, ist die Schwierigkeit nicht entgangen, die für denjenigen, der die gesammte wirklich scheinende Welt nur als im vorstellenden Subject vorhandenen Schein einer wirklichen Welt ansieht, aus dem Umstande erwächst, dass in den verschiedenen vorstellenden Subjecten, wenn unter denselben Uebereinstimmung und Mittheilung möglich sein soll, diese nur in ihrem jeweiligen Vorstellen existirende Scheinwelt in sämmtlichen Vorstellenden die nämliche, nach Inhalt und Form unter sich harmonirende Welt sein muss, ohne dass sich die Frage beantworten [151]liesse, warum, da in jedem seine eigene Welt entsteht, diese Welt in allen als die gleiche entstehen müsse. Leibnitz hat diese Frage, die sich auch ihm aufdrängen musste, weil jede „fensterlose” Monas in ihrem Innern eine „Welt als Vorstellung” enthält, mit der Berufung auf die durch Gott prästabilirte Harmonie aller Monaden und somit auch ihrer sämmtlichen, obgleich von einander unabhängigen inneren Vorstellungswelten beantwortet. Der Bischof von Cloyne, von dem es zweifelhaft ist, ob er von Leibnitz etwas wusste, sucht die Lösung des Problems, wie die vorgestellten Welten der einzelnen Vorstellenden unter einander correspondirend gedacht werden können, gleichfalls in Gott, welchen er als den Urheber der im Vorstellenden vorhandenen Vorstellungswelt und dadurch zugleich als Veranstalter der Uebereinstimmung zwischen den in den verschiedenen Vorstellenden vorhandenen Vorstellungswelten bezeichnet. Die nur als Schein eines Wirklichen im Bewusstsein vorhandene wirkliche d. i. der Schein einer wirklichen Welt, ist sonach schon bei Berkeley, dem Urheber des Idealismus, nicht das einzige Wirkliche, sondern derselbe setzt nicht nur das vorstellende Subject (den Geist), in dem er existirt d. i. dem er scheint, sondern überdies seinen Urheber, Gott, durch den er existirt d. i. der in ihm scheint, als Wirkliche voraus d. h. der Schein ist weder, wie der strenge Idealismus will, das einzige Wirkliche, noch mit jenen beiden Wirklichen, dem vorstellenden Subject einer- und der den Schein erzeugenden Gottheit andererseits verglichen, überhaupt wirklich (real), sondern nur ideal (unwirklich), während der Geist und Gott die eigentlich Wirklichen d. i. real Existirenden sind.

248. Das realistische Element, das Wirkliche neben dem Schein, als einzigem Wirklichen, ist sonach schon in die ursprünglichste Gestalt des Idealismus, und zwar so von Seite des Subjects, dem er scheint (des Geistes), wie von jener des Objects, das ihm scheint (der Gottheit), eingedrungen. Von jener aus angesehen, tritt das Wirkliche auf als Träger, von dieser aus angesehen, als Ursache des im Bewusstsein schwebenden Scheins. Während aber in dieser Gestalt des mit realistischen Elementen versetzten Idealismus der Träger des Scheins sich leidend (receptiv), die Ursache des Scheins allein thätig (spontan) sich verhält, sind daneben Auffassungen denkbar, nach welchen entweder der Träger sich gleichfalls wie die Ursache thätig, oder der Träger sich thätig, aber zugleich als einzige Ursache sich verhält, während eine dritte von jener ursprünglichen nur dadurch sich unterscheidet, dass als die Ursache des Scheins [152]nicht ein geistiges d. i. ein solches Object, in dessen Natur es liegt, Subject d. i. vorstellendes Wesen zu sein, sondern ein seiner Qualität nach beliebiges Wirkliches betrachtet wird, dessen Beschaffenheit unbekannt bleibt, dessen Existenz jedoch von derjenigen des Subjects als Träger des Scheins völlig unabhängig ist.

249. Wird der Träger des Scheins d. i. das vorstellende Subject ebenso wie die Ursache des Scheins d. i. das vorgestellte Object als thätig d. i. jedes derselben als wirklich d. i. wirkend betrachtet, so stellt der im Bewusstsein schwebende Schein eines Wirklichen, die scheinbar wirkliche Welt (die Welt als Phänomenon), ein Product aus zwei Factoren, dem Subject des Vorstellens und dem Object der Vorstellung, dar, dessen Beschaffenheit sonach als solches von der Beschaffenheit seiner Factoren als solcher nothwendig abhängen muss. In dem Einfluss des Subjects auf die Beschaffenheit dieses Products besteht die Herrschaft des idealistischen, in dem Einfluss des Objects auf dieselbe jene des realistischen Elements in der phänomenalen Welt. Je nachdem jener Einfluss zur Vorherrschaft des einen oder des andern wird, nimmt diese Scheinwelt selbst vorwiegend idealistischen, auf die Seite blossen Scheines der Wirklichkeit, oder realistischen, auf die Seite der Wirklichkeit selbst hindeutenden Charakter an.

250. Der Einfluss des realistischen Objects auf das Zustandekommen der phänomenalen Welt im Bewusstsein ist der geringste, wenn dasselbe als Wirkliches durch seine Thätigkeit nichts weiter bewirkt, als dass überhaupt Schein, der als Material zum Aufbau einer phänomenalen Welt durch das vorstellende Subject verwendet werden kann, im Bewusstsein vorhanden ist. Dieser Fall tritt in jener Gestalt zu Tage, welche Kant dem Idealismus gegeben hat, und die Rolle, die das Object in obiger Darstellung spielt, ist die nämliche, die Kant seinem „Ding an sich” zugewiesen hat. Dasselbe hat ihm zufolge keine andere Bestimmung, als die Existenz, keineswegs aber die Qualität des im Bewusstsein schwebenden Scheins eines Wirklichen begreiflich zu machen. Dass ein Wirkliches ausser und neben dem vorstellenden Subjecte sei, wird durch die Thatsache der Existenz des Scheins eines solchen im Bewusstsein unzweifelhaft gemacht. Was das Wirkliche, das nebst und ausser dem vorstellenden Subjecte existirt, seiner Qualität nach sei, dagegen kann aus der Qualität des im Bewusstsein schwebenden Scheins nicht ausgemacht werden, weil diese letztere lediglich von der Qualität des vorstellenden Subjects abhängig ist. Das [153]reale Object, „das Ding an sich”, ist der Grund, dass überhaupt im Bewusstsein Sinnesempfindungen (wie Gesichts-, Gehörs-, Geruchs-, Geschmacks- und Tastempfindungen) vorhanden sind; die Qualität des realen vorstellenden Subjects dagegen ist der Grund, dass im Bewusstsein gerade Empfindungen (wie Farben, Töne, Wohlgerüche, Wohlgeschmäcke, Härte, Weichheit) vorhanden sind. Wäre das erste nicht, so entstünde überhaupt kein Schein, wäre das letztere ein anderes, als es ist, so entstünde anderer Schein. Wie die Existenz des Scheins von jener des Objects, so hängt die Qualität des Scheins von jener des Subjects ab; der im Bewusstsein wirkliche Schein in seiner qualitativen Eigenthümlichkeit ist daher nur durch das gemeinsame Zusammenwirken des Dings an sich und der specifischen Organisation des vorstellenden Subjects d. i. (wie Kant nach der alten Terminologie seiner Wolf’schen Schulung sich ausdrückte) „des Erkenntnissvermögens” erklärlich.

251. Erklärlich aber auch, dass bei dieser Sachlage der jeweiligen thatsächlichen Beschaffenheit des sogenannten Erkenntnissvermögens an dem Zustandekommen und der Gestaltung der phänomenalen Welt der Löwenantheil zufallen muss. Liefert der objective Factor, das Ding an sich, nichts weiter als den Stoff, ja nicht einmal diesen selbst, sondern nur die Veranlassung, dass ein solcher, aus welchem die phänomenale Welt aufgebaut werden soll, überhaupt im Bewusstsein vorhanden ist, so muss der Grund der gesammten Form, in welcher der Stoff zum Aufbau zusammengeordnet, ja sogar der Form, in welcher derselbe zum Baue verwendet wird, gänzlich in dem subjectiven Factor d. i. in der Beschaffenheit des vorstellenden Subjectes d. i. in jener seines sogenannten Erkenntnissvermögens gesucht werden. Letzteres, als Baumeister der phänomenalen Welt, baut sozusagen auf eigene Hand, nicht nur nach eigenem Plan, sondern auch mit selbstgeformtem Material; das „Ding an sich” als Bauherr ist nur die Ursache, dass überhaupt gebaut wird und dass die erforderlichen Mittel zum Baue vorhanden sind.

252. Der Organismus des sogenannten Erkenntnissvermögens ist es, welchen Kant seiner „Kritik der reinen Vernunft” zu Grunde gelegt und als dessen nothwendige Folgen die kritischen Ergebnisse dieser letzteren entsprungen sind. Insofern derselbe den idealistischen Factor der phänomenalen Welt repräsentirt, hat Kant seine Philosophie als Idealismus, insofern deren Ergebnisse auf die Betrachtung desselben als der Quelle der Bedingungen aller Erkenntniss gestützt sind, [154]als Transcendentalphilosophie, und jenen Idealismus selbst (im Gegensatz zu dem gemeinen, empirischen) als transcendentalen Idealismus bezeichnet. Die Differenz seines und des empirischen Idealismus beschränkte sich jedoch nicht auf den genannten Unterschied, sondern wurzelte zugleich in der Verschiedenheit des vorstellenden Subjectes, welches den idealistischen Factor der phänomenalen Welt ausmacht, und welches im empirischen Idealismus das individuelle Einzelsubject, in dem seinen dagegen das allgemeine Gattungssubject, oder, nach Kant’s Ausdruck, das sogenannte transcendentale Subject ist. Folge davon ist, dass die Form der phänomenalen Welt, insofern dieselbe aus der Beschaffenheit des vorstellenden Subjectes stammt, im empirischen Idealismus nur eine individuelle, zufällige, für die Vorstellungswelt des Einzelsubjectes bestimmende, im transcendentalen Idealismus dagegen eine allgemeine und nothwendige, die Vorstellungswelt aller vorstellenden Einzelsubjecte derselben Gattung bestimmende sein muss. Durch diese Einführung der Form als einer allgemeinen und nothwendigen an der Stelle der blos zufälligen und singulären überwindet Kant den Hume’schen Skepticismus, der sich an die Sohlen des empirischen Idealismus geheftet hat, und verwandelt die phänomenale Welt d. i. die Welt der Erfahrung aus einer nur für den Einzelnen giltigen und nur zufällig (durch dessen individuelle Gewöhnung) entstandenen in eine für Alle identische und nothwendig (d. i. als unausbleibliche Folge der allen gemeinsamen Organisation des Erkenntnissvermögens) entstehende Erfahrung.

253. Die beziehungsweisen Antheile des idealistischen Factors d. i. des in Allen identischen transcendentalen Subjectes einer- und des realistischen Factors d. i. des für Alle identischen (als seiner Qualität nach unbekanntes x hinter der phänomenalen Welt stehenden) Dings an sich an dem Zustandekommen einer allgemein giltigen Erfahrung sind es, welche Kant als das a priori und das a posteriori der Erfahrung bezeichnet. Zu dem letzteren gehört nach der Auffassung Kant’s nichts weiter als der sinnliche Stoff, zu welchem das „Ding an sich” den äusseren Anstoss gegeben hat; zu dem ersteren gehören sämmtliche Formen, welche demselben in aufsteigender Reihe durch die (im Sinne der alten Wolf’schen psychologischen Theorie) einander übergeordneten Stufen des sogenannten Erkenntnissvermögens, des Sinnes, des Verstandes und der Vernunft zu Theil werden sollen. Als solche betrachtete Kant bekanntlich die zwei von ihm sogenannten „reinen Anschauungsformen”, welche dem Sinn, die (zwölf) von ihm construirten „Urtheilsformen”, [155]welche dem Verstande, und die (drei) von ihm anerkannten (Schlussformen), welche der Vernunft erb und eigen seien. Durch die Anwendung der erstgenannten, und zwar der reinen Anschauungsform des Raumes d. i. des Nebeneinander auf den durch die äusseren Sinne, der reinen Anschauungsform der Zeit d. i. des Nacheinander auf den durch den sogenannten inneren Sinn gegebenen Stoff entsteht der Schein räumlich und zeitlich verschieden angeordneter Gruppen sinnlichen Vorstellungsmaterials, welche durch die Anwendung der reinen Urtheilsformen und der daraus deducirten Stammbegriffe (Kategorien) des Verstandes den Schein wirklicher Einzeldinge, und zwar solcher erhalten, die als Substanzen Träger von Eigenschaften, und entweder als Ursachen Urheber von anderen ihresgleichen als Wirkungen, oder selbst als Wirkungen durch andere ihresgleichen als Ursachen hervorgebracht sind. Durch die Anwendung endlich der reinen Schlussformen und der daraus abgeleiteten Ideen der Vernunft entsteht der Schein solcher Wirklicher, die entweder (wie die Seele) das einheitliche Subject zu allen möglichen Prädicaten, oder (wie die Welt) die Totalität aller Ursachen und Wirkungen, oder (wie die Gottheit) als ens realissimum die Summe aller möglichen Prädicate darstellen.

254. In dem Nachweis der Nothwendigkeit der Entstehung obiger Gattungen des wirklich Scheinenden besteht das positive, in dem gleichzeitigen Erweis, dass obige Gattungen des wirklich Scheinenden nur eben so viele Gattungen vom Schein eines Wirklichen seien, das negative Resultat des Transcendentalidealismus. Hauptsächlich um des letzteren willen ist Kant der „alles Zermalmer” genannt worden. Es ist aber nicht zu übersehen, dass von anderer Seite aus angesehen Kant’s Philosophie dem negativen Ergebniss des Idealismus, der alles sogenannte Wirkliche in Schein auflöst, gegenüber ein sehr positives Ergebniss durch die nachdrückliche Betonung der Unentbehrlichkeit einer realen Unterlage der phänomenalen Welt in der Existenz des „Dings an sich” bietet, durch welche sich, wie Schopenhauer richtig gesehen hat, die zweite Auflage der „Kritik der reinen Vernunft” sehr merklich von der ersten, welche fast ausschliesslich der Hervorkehrung des idealistischen Factors gewidmet ist, unterscheidet. Nachdem diejenigen Wirklichen, welche Kant selbst als die eigentlichen Gegenstände der alten Metaphysik bezeichnet hat, Seele, Welt und Gott, sich unter dem Prisma der Kritik in blosse Scheinwirkliche aufgelöst haben, bleibt als Rest des Wirklichen das Ding an sich allein übrig, welches man [156]mit Recht als den Rest der alten Metaphysik in Kant’s Philosophie, und dessen zu einem Minimum zusammengeschrumpfte Beschreibung man als den Inhalt dessen betrachten kann, was im eigentlichen Sinne des Wortes Kant’s Metaphysik heissen darf.

255. Dieselbe setzt sich mit Ausnahme der Behauptung der leeren Existenz durchaus aus negativen Prädicaten zusammen. Dem Ding an sich können weder quantitative noch qualitative Bestimmungen beigelegt werden. Dasselbe kann in ersterer Hinsicht weder als Eins, noch als Vieles, in letzterer Hinsicht weder als raumlos, noch als räumlich (also auch weder als unendlich, noch als endlich, weder als ausgedehnt, noch als unausgedehnt), noch als zeitlos, oder zeitlich (also auch weder als in der Zeit entstanden, noch als ewig), noch als geistig (immateriell) oder körperlich (materiell) bezeichnet werden. Alles, was der transcendentale Idealismus von demselben weiss und auszusagen berechtigt ist, beschränkt sich darauf, zu behaupten, dass es sei, aber nicht, was es sei.

256. Aber auch dies nur aus dem Grunde, weil der sinnliche Stoff als wirklicher Schein eine im Bewusstsein vorhandene Wirkung ist und daher als solche zur Ursache ein Wirkliches haben muss. Die Voraussetzung, dass jede Wirkung ihre zureichende Ursache haben müsse (das von Leibnitz sogenannte principium rationis sufficientis) gehört zu den fundamentalen Axiomen des Denkens, nach Kant insbesondere zu den dem Organismus des Erkenntnissvermögens wesentlichen Urtheilsformen des Verstandes. Aus ersterem folgt, dass sich ein Denken, für welches obiger Satz fundamentale Geltung besitzt, von einem in dieser Hinsicht anders geartet sein sollenden Denken d. i. einem solchen, für welches derselbe jene Giltigkeit nicht besässe, schlechterdings keine Vorstellung zu machen im Stande sei. Aus letzterem folgt, dass ein im Kantschen Sinn organisirtes Erkenntnissvermögen der Folgerung, dass jeder angeblichen Wirkung eine derselben genügende Ursache entsprechen müsse, schlechterdings nicht zu entrathen vermag, ohne sich selbst aufzuheben. Beides zusammen macht einleuchtend, dass die auch vom Idealismus unbestrittene Thatsache der Existenz wirklichen Scheins zu dem Schlusse führen muss, dass auch als Ursache desselben irgend ein Wirkliches existire.

257. „Wie der Rauch auf die Flamme, deutet Schein auf Sein”; in diesen Worten Herbart’s ist obiger Schluss am prägnantesten ausgesprochen. Allerdings mit dem Seitenblick, dass dieses angedeutete Sein nicht inner-, sondern ausserhalb desjenigen Wirklichen, [157]welches den Träger des Scheins darstellt, d. i. des vorstellenden Subjects zu suchen sein möchte. Hier ist der Punkt, wo die Nachfolger Kant’s, die, wie er, auf dem Boden des Transcendentalidealismus stehen, in die einander entgegengesetzten Richtungen eines Idealismus, der sich auf das Subject des Scheins (den idealistischen Factor) d. i. eines idealistischen, und eines solchen, der sich auf das Object des Scheins (den realistischen Factor) stützt, d. i. eines realistischen Idealismus (der im Vergleiche mit jenem auch Realismus heissen kann) aus einander gehen. Aber auch die Stelle, wo diejenigen, die nicht wie Kant auf dem Boden des transcendentalen Idealismus beharren, sondern mit Umgehung des idealistischen Factors das Wirkliche unmittelbar, weder durch einen Schluss von der Wirkung auf die Ursache, noch überhaupt durch einen Act eines wie immer gearteten Denkens, sondern auf einem von diesem gänzlich verschiedenen Wege (etwa durch das Gefühl wie Jacobi, oder durch den Willen wie Schopenhauer) ergreifen zu können glauben, sich von jenen trennen und zu einem das Denken transcendirenden (deshalb fälschlich transcendental genannten) Realismus gelangt sind.

258. Darin stimmen beide, der idealistische und der realistische Idealismus, mit einander überein, dass der Schein als wirklicher eine Ursache und zwar ein Wirkliches zur Ursache haben müsse; aber darin gehen sie beide aus einander, dass der erstere diese Ursache innerhalb, der andere dieselbe ausserhalb des Bewusstseins sucht. Der „Jude Kant’s”, Salomon Maimon, war es, der zuerst die Bemerkung machte, dass die Annahme des Dings an sich von Seite Kant’s auf einem Fehlschluss beruhe. Wenn der Satz, dass jede Wirkung eine Ursache haben müsse, wie die kritische Organisation des Erkenntnissvermögens lehrt, nichts anderes ist als eine dem vorstellenden Subject, und zwar dessen Verstande innewohnende Urtheilsform, so folgt, dass das Subject zwar niemals umhin kann, wo es eine Erscheinung als Wirkung betrachtet, eine Ursache derselben vorauszusetzen, dass aber daraus, dass das Subject durch die Natur seines Erkenntnissvermögens zu diesem Vorgang gezwungen ist, auf keine Weise gefolgert werden darf, dass eine derartige Ursache auch wirklich vorhanden sei. Wenn daher Kant aus der Existenz der Empfindungen auf die nothwendige Existenz des Dings an sich als deren Ursache schliesse, so begehe derselbe eine mit seinen eigenen Principien im Widerspruch stehende Erschleichung, indem aus den letzteren keineswegs die Existenz des Objects, [158]sondern höchstens für das Subject die Nothwendigkeit sich ableiten lasse, ein solches vorauszusetzen. Als Fichte’s Wissenschaftslehre mit der Behauptung hervortrat, dass Kant durch die Zulassung des Dings an sich als Ursache des Stoffs der phänomenalen Welt mit sich selbst in unhaltbaren Widerspruch gerathe, war ihm jener mit der gleichen schon vorangegangen. Fichte aber war es, welcher aus obigem Selbstwiderspruch zuerst die Folgerung zog, dass die Annahme der Existenz eines Dings an sich als eines vom Träger des im Bewusstsein wirklichen Scheins unterschiedenen Wirklichen gänzlich fallen gelassen d. h. dass der realistische Factor des Transcendentalidealismus, das Object, welches scheint, entfernt werden müsse.

259. Nach dem Verschwinden des realistischen bleibt von den beiden Factoren, durch deren Zusammenwirken die phänomenale Welt des transcendentalen Idealismus entsteht, nur der idealistische Factor, nach der Entfernung des Objects, welches scheint, von den beiden Wirklichen, deren gemeinsames Product die Welt des Bewusstseins ist, nur das Subject, welchem scheint, übrig, geht der transcendentale Idealismus in einen solchen des Subjects (subjectiver Idealismus) über. Statt zweier Wirklicher, welche die Basis des transcendentalen Idealismus bilden, hat der subjective Idealismus zu seinem Substrat ein einziges Wirkliches, welches zugleich die Rolle des idealistischen und des realistischen Factors der phänomenalen Welt übernimmt d. h. der phänomenalen Welt nicht nur (wie der erste) die Form gibt, sondern auch (wie der letztere) den erforderlichen Stoff (das sinnliche Empfindungsmaterial) selbst erzeugt. Während daher im transcendentalen Idealismus der Träger des Scheins, das wirkliche Subject, gegen die Ursache desselben, das wirkliche Object, sich leidend, letzteres gegen ersteres sich thätig verhält, stellt derselbe im subjectiven Idealismus als Träger (Subject) zugleich die Ursache (Object) des Scheins in einem identischen Wirklichen dar, verhält sich das nämliche Wirkliche zugleich als Subject leidend gegen sich selbst als Object und thätig als Object gegen sich selbst als Subject d. h. als Subject-Object. Den Anstoss, welchen im transcendentalen Idealismus das Subject vom Object empfing, um Empfindung d. i. Material der phänomenalen Welt im Bewusstsein hervortreten zu lassen, empfängt dasselbe nunmehr nicht von einem von ihm unterschiedenen Andern, sondern von sich selbst. Das von ihm unterschiedene Andere (Object), welches der transcendentale Idealismus noch als ein wirklich Anderes (d. i. als ein anderes Wirkliches) ansah, ist in den Augen des subjectiven [159]Idealismus nur mehr ein scheinbar Anderes, in Wirklichkeit kein Anderes als das Subject, welches das erste und einzige Wirkliche zugleich ist. Dasselbe, insofern es die Rolle des wirklichen realistischen Factors, des Objects, spielt, producirt nicht blos sämmtlichen Stoff der phänomenalen Welt, sondern es schafft auch den Schein, als sei dieser Stoff durch ein Anderes als es selbst d. h. es schafft den Schein eines realen Objects, welches den Stoff der phänomenalen Welt producirt. Letzterer, als vom Subject geschaffener Schein eines von diesem unterschiedenen Objects und daher dieses selbst, ist sonach in der That nichts weiter als eine Schöpfung d. i. eine durch einen Setzungsact des Subjects entstandene und daher von diesem abhängige Setzung desselben, eine Fiction, aber nichts Wirkliches. Wird diese seine fictive Natur vorübergehend verkannt, der Schein eines Objects für dessen Wirklichkeit genommen, das scheinbare Object, als ob es ein Wirkliches wäre, dem Subject entgegengesetzt, so muss diese Täuschung, welche, weil das Subject das einzige Wirkliche ist, nur eine Selbsttäuschung des Subjects sein kann, einmal ein Ende nehmen, das scheinbare Object als blosser Schein eines Objects erkannt und das vermeintlich vom Subject unterschiedene, als von ihm unabhängig wirklich bestehendes gedachte Object als von ihm abhängiges und nur durch dessen eigene Setzung entstandenes vom Subjecte zurückgenommen werden.

260. Setzung des Objects durch das Subject, Verkennung des scheinbaren Objects, indem dasselbe für wirklich gehalten wird, und Wiedererkennung des fälschlich für wirklich gehaltenen Objects als eines nur scheinbar vom Subject Verschiedenen sind die drei Momente, in welchen die innere Entwickelungsgeschichte des einzigen Wirklichen, welches der subjective Idealismus stehen gelassen hat, des Trägers des Scheins im Bewusstsein sich vollzieht. Dieselbe stellt gleichsam den Fortschritt einer dramatischen Handlung dar, in welcher das ursprünglich Geschehene durch den Schein des Gegentheils vorübergehend verdunkelt und am Schlusse aus der Verdunkelung wieder hergestellt wird. Wie in der letzteren das wirklich Geschehene vor dem Beginn d. i. ausserhalb der sichtbaren Handlung gelegen, also der Kenntniss des Zuschauers anfänglich entzogen ist, so liegt im obigen Process innerhalb des Bewusstseins das wirklich Geschehene, die Setzung des scheinbaren Objects durch das Subject, vor dem Beginn d. i. ausserhalb des erwachten Bewusstseins und bleibt auf diese Weise der Kenntniss des Subjects d. i. dessen eigenem Bewusstsein über sich selbst verborgen. Aus ersterem folgt, [160]dass beim Beginne des Dramas die sichtbare Handlung das Gegentheil dessen zeigt, was wirklich geschehen ist; aus dem letzteren folgt, dass beim Erwachen des Bewusstseins der Inhalt desselben das Gegentheil dessen aufweist, was wirklich der Fall ist; jene stellt das Geschehene als nicht geschehen, diese stellt das vom Subject gesetzte Object als nicht gesetzt durch das Subject dar. Die schliessliche Lösung erfolgt, wie in der dramatischen Handlung durch die Aufhellung des Geschehenen, so in obigem Bewusstseinsprocess durch die Selbstaufhellung d. i. durch das Bewusstwerden des Subjects über sich selbst und seine eigene Setzung des Objects, d. i. durch das Selbstbewusstsein.

261. Dieses Subject, das einzige Wirkliche und folglich Wirkende ist es, welches der Urheber der Wissenschaftslehre das „Ich” genannt und dessen in den drei auf einander folgenden Stufen der Thesis, Antithesis und Synthesis sich entwickelnde Natur derselbe als niemals rastendes Thun (d. i. unablässiges Wirken) bezeichnet hat. Dasselbe setzt im Lauf seiner Entwickelung sein eigenes Gegentheil, das Nicht-Ich, und nimmt es im Verfolge derselben als von ihm selbst gesetztes d. h. als Ich in sich wieder zurück. Der erste Theil dieses Processes, welcher sich vor dem Bewusstwerden vollzieht, stellt die bewusstlose d. i. die Naturseite (Nachtseite) der Entwickelung des Ich, der zweite Theil desselben, weil er sich bei Bewusstsein vollzieht, stellt die bewusste d. i. die Geistesseite (Tagseite) derselben und, da das Ich das einzige Wirkliche ist, jener Abschnitt zugleich die Entwickelung des Wirklichen als eines bewusstlosen d. i. als Natur, dieser jene des nämlichen Wirklichen als eines bewussten d. i. als Geist dar. Die Gliederung der gesammten Wissenschaft vom Wirklichen vom Standpunkt des subjectiven Idealismus aus in eine solche vom Ich als Natur (Naturphilosophie) und vom Ich als Geist (Geistesphilosophie), aber auch die Möglichkeit einer solchen, welche beide Seiten der Entwickelung des Ich als Entwickelungsseiten eines und des nämlichen Ich, als identisch betrachtet (Identitätsphilosophie), so wie einer weitern, welche die Betrachtung des Entwickelungsgesetzes des Ich als eines nicht nur selbst innerlich nothwendigen, sondern diese Entwickelung nothwendig fordernden, der Betrachtung des wirklichen Entwickelungsganges desselben als Natur und Geist voranstellt (Dialektik, metaphysische Logik) ist dadurch vorgezeichnet.

262. Je nachdem das Ich als Wirkliches (agens), oder als blosser Infinitiv, als Wirken (agere) bestimmt, das erstere entweder [161]als endliches oder als unendliches (absolutes) Ich aufgefasst wird, gliedert sich der Idealismus des Subjects in die drei Stufen des (im engeren Sinn sogenannten) subjectiven Idealismus (Fichte), absoluten Idealismus (Schelling) und Panlogismus (Hegel). Jener besteht darin, dass als einziges Wirkliches ein endliches Ich (das transcendentale Subject); der zweite darin, dass als einziges Wirkliches ein absolutes Ich (die Gottheit, das absolute Subject); der dritte darin, dass als einziges Wirkliches das unpersönliche Wirken und zwar, da das einzige Wirkliche des Idealismus das vorstellende (denkende) Subject ist, das unpersönliche Denken, die Vernunft angesehen wird. Die Entwickelungsgeschichte des ersten d. i. der Inhalt der gesammten Wissenschaft stellt den Bewusstseinsprocess dar, mittels dessen das endliche Ich zum Bewusstsein seiner selbst, zum Selbstbewusstsein gelangt d. i. Geist wird. Jene des zweiten macht den immanenten Entwickelungsprocess aus, mittels dessen das absolute Subject durch die vorläufigen Phasen der Natur- und der Weltgeschichte hindurch zum Bewusstsein seiner selbst d. i. zum Bewusstsein seiner Göttlichkeit, zum absoluten Bewusstsein gelangt d. i. absoluter Geist, Gott wird. („Am Ende der Weltgeschichte”, sagte Schelling, „wird Gott sein”.) Der Panlogismus endlich repräsentirt den dialektischen Process, mittels dessen die unpersönliche (objective) Vernunft (die logische Idee) durch ihr Gegentheil, das vernunftlose Sein (die Natur), hindurch zur persönlichen (subjectiven) Vernunft (zum absoluten Geiste) wird. („Aufgabe der Philosophie ist”, sagte Hegel, „die Substanz zum Subjecte zu machen”.)

263. Alle drei Formen des Idealismus des Subjects kommen darin überein, das Wirkliche sei, aber auch, dass nur ein Einziges wirklich sei. Wird daher dieses als einziges Wirkliches von einem Widerspruch betroffen, welcher entweder verhindert, dasselbe überhaupt anzunehmen, oder doch hindert, dasselbe als wirklich gelten zu lassen, so werden sämmtliche Formen jenes Idealismus von demselben zugleich betroffen. Derselbe ging von dem Satze aus, dass der Schluss des transcendentalen Idealismus von dem Schein als Wirkung auf ein Object als Ursache desselben ein Selbstwiderspruch sei, aus dem Grunde, weil die Folgerung von der Wirkung auf die Ursache nur eine Urtheilsform des Verstandes, und daher die Consequenz, dass der Schein im Bewusstsein eine Ursache haben müsse, zwar für den Verstand unvermeidlich, aber darum nichts weniger als (objectiv) giltig sei. Gleichwol hat diese Einsicht, wenn sie den Namen verdient, den Idealismus nicht gehindert, von der Thatsache [162]des im Bewusstsein schwebenden Scheins auf eine erzeugende Ursache desselben zurückzuschliessen, nur mit dem Unterschied, dass er dieselbe nicht ausserhalb des Bewusstseins (in ein Object), sondern in den Träger des Bewusstseins (in das Subject) verlegt d. h. dieses selbst zur Ursache des Scheines macht. Wenn nun, wie der Idealismus behauptet, der Schluss von der Wirkung auf eine Ursache als blosse Verstandesform überhaupt unberechtigt ist, so ist der Schluss von der Wirkung auf eine innerhalb des Bewusstseins gelegene, sogenannte innere Ursache mindestens ebenso unberechtigt, wie jener von der Wirkung auf eine ausserhalb des Bewusstseins gelegene, sogenannte äussere Ursache. Der subjective Idealismus hat daher von diesem Gesichtspunkt aus ebensowenig das Recht, das Subject als Wirkliches, wie der objective Idealismus seiner Meinung nach ein solches besitzt, ein vom Subject unterschiedenes Object als Wirkliches anzunehmen.

264. Wie man sieht, hat der Idealismus des Subjects, der gewöhnlich kurzweg mit dem Namen Idealismus bezeichnet wird, in diesem Punkt dem Idealismus des Objects, kurzweg Realismus genannt, nichts vorzuwerfen. Derselbe hat nicht nur nicht mehr und nicht weniger ein Recht, als erzeugende Ursache des Scheins ein Wirkliches, er hat überdies, was bedenklicher ist, kein Recht, das von ihm angenommene Wirkliche als wirklich anzunehmen. Letztere Annahme fällt, wenn dasjenige, was als wirklich gedacht werden soll, mit einer Eigenschaft behaftet ist, welche verhindert, dasselbe als wirklich zu denken. Dieser Fall tritt aber ein, wenn dasjenige, was als wirklich gedacht werden soll, in sich einen Widerspruch einschliesst. So gewiss aus dem Umstand, dass ein als wirklich zu Denkendes keinen Widerspruch einschliesst, nur geschlossen werden kann, dass es möglich, keineswegs, dass es wirklich sei, so gewiss muss aus dem Umstand, dass ein als wirklich zu Denkendes in sich einen Widerspruch enthält, die Folgerung gezogen werden, dass dasselbe unmöglich d. i. auf keine Weise je wirklich sei. Das einzige Wirkliche des Idealismus, das Ich, nun soll in der Weise gedacht werden, dass dasselbe zugleich sein eigenes Object und sein eigenes Subject sei, den Stoff seiner phänomenalen Welt zugleich empfange und erzeuge, also zugleich gegen sich selbst als Leidendes und auf sich selbst als Thätiges sich verhalte d. h. es soll so gedacht werden, dass es zugleich seine eigene Ursache und seine eigene Wirkung (causa sui), also dass es im strengsten logischen Sinn des Wortes Entgegengesetztes d. i. sich [163]unter einander Ausschliessendes zugleich und als jedes von beiden sein eigenes Gegentheil, um es mit einem Wort zu sagen, der lebendige Widerspruch sei. Ein solcher aber kann nicht als wirklich gedacht werden.

265. Auch dann nicht, wenn die Erfahrung ihn zu bestätigen scheint. Die Thatsache, welche der Idealismus anzuführen liebt, um durch dieselbe zu erweisen, dass ein sich zugleich als Thätiges und Leidendes Verhaltendes, eine causa sui, wirklich, und daher, was auch die Logik dagegen einwenden möge, möglich sei, ist das Phänomen des Selbstbewusstseins. Dasselbe, so schliesst der Idealismus, als factisches Bewusstsein des Selbst von sich selbst, ist thatsächlich Subject und Object, Leidendes und Thätiges, Ursache und Wirkung zugleich: das Ich stellt sich vor und das Ich stellt sich vor. Als jenes ist es das Vorstellende (Subject), als dieses das Vorgestellte (Object), als beider Identität ist das Ich Vorstellendes und Vorgestelltes zugleich (Subject-Object). Durch diese unbestreitbar scheinende psychologische Thatsache, d. i. durch die Wirklichkeit eines im logischen Sinn mit einem inneren Widerspruch Behafteten ist nach der Meinung des Idealismus die Möglichkeit, ein in sich Widersprechendes als wirklich zu denken, erwiesen; der Einspruch der Logik, dass Widersprechendes nicht als wirklich gedacht werden könne, abgewiesen.

266. Gegenüber dem Canon: a non posse valet conclusio ad non esse, geht der Idealismus von dem entgegengesetzten aus: ab esse valet conclusio ad posse. Die Richtigkeit seiner Folgerung hängt von dem Umstande ab, ob und dass die angebliche Thatsache des Selbstbewusstseins wirklich eine Thatsache, oder, was eben so viel ist, ob und dass die Behauptung, das Ich stelle sich vor, auf einer wirklichen Erfahrung oder auf einer blossen Einbildung beruhe. Die Thatsache, welche den Widerspruch zu stürzen bestimmt ist, darf nicht selbst wieder auf einen Widerspruch sich stützen. Dieselbe muss, um gegen die Einrede der Logik Stand zu halten, eine selbst widerspruchsfreie, evidente, nicht nichtanzuerkennende Thatsache sein.

267. Es fehlt viel, dass die sogenannte Thatsache des Selbstbewusstseins dieser Forderung genügte. Wenn, wie der Idealismus einräumt, das Phänomen des Selbstbewusstseins nichts weiteres in sich schliesst als das „Sich sich Vorstellen” (se sibi repraesentare) des Ichs, so enthält das Sich (se) abermals nichts anderes als das Ich d. h. das Sich sich Vorstellen, das Sich (se) in diesem aber [164]das nämliche „Sich sich Vorstellen” zum dritten, und das sich darin wiederholende Sich dasselbe zum vierten Male u. s. f., d. h. es entsteht ein regressus in infinitum. Das Ich erweist sich als eine mit der Forderung, eine unendliche Reihe vorzustellen, behaftete, demnach als eine im wirklichen Vorstellen schlechthin unvollendbare Vorstellung d. h. als eine solche, die niemals Thatsache d. i. wirkliche Vorstellung sein kann. Einer Thatsache aber, die keine sein kann, gegenüber steht der Einwand der Logik, dass in sich Widersprechendes niemals wirklich sein könne, aufrecht.

268. Der Widerspruch, welcher den Idealismus ausschliesst, liegt sonach nicht darin, dass er als Ursache des im Bewusstsein schwebenden Scheins ein Wirkliches setzt, sondern darin, dass er als solche ein in sich Widersprechendes d. h. ein Wirkliches setzt, das nicht als wirklich gedacht werden darf. Indem der Idealismus des Objects, der Realismus, von dem im Bewusstsein schwebenden Schein als Wirkung auf eine denselben erzeugende Ursache schliesst, thut er nichts anderes, als, wie oben gezeigt, auch der Idealismus thut; indem derselbe als solche jedoch nicht ein in sich Widersprechendes, sondern ein solches setzt, das ohne Einsprache der Logik als wirklich gedacht werden kann, thut er wirklich anderes und besseres, als jener that. Derselbe begnügt sich weder, im Gegensatz zum Idealismus des Subjects, die Annahme des Ich als des einzigen Wirklichen abzulehnen, noch, in Uebereinstimmung mit Kant, die Unerlässlichkeit der Annahme eines übrigens in jeder Hinsicht unbekannten realen x, des von jeder denkbaren quantitativen und qualitativen Bestimmtheit entblössten „Dings an sich”, zuzugeben, sondern schreitet im Gegensatze zu beiden zu der eben so wol realistischen als pluralistischen Behauptung fort, dass nicht nur Wirkliches sei, sondern unbestimmt viele Wirkliche seien d. h. dass die Voraussetzung solcher auf Grundlage und zur Erklärung des thatsächlich im Bewusstsein schwebenden Scheins nicht nur nicht widersprechend, sondern im Gegentheil, das Gegentheil derselben der Forderung eines logischen Denkens widersprechend sei.

269. Weshalb die Annahme, es gebe Wirkliches, nicht nur nicht widersprechend, sondern vielmehr die gegentheilige Annahme, es gebe kein Wirkliches, widersprechend sei, ist schon oben gezeigt worden. Von dem „Rauche” des Scheins gilt der Schluss auf die „Flamme” des Seins. Wo nichts Wirkliches wäre, könnte auch keines scheinen; keineswegs aber gilt auch der umgekehrte Satz, [165]dass, wo kein Wirkliches scheint, auch kein Wirkliches vorhanden sei. Denn es lässt sich sehr wol denken, dass Wirkliches sei, auch ohne zu scheinen. Die Setzung des Wirklichen auf Grundlage des vorhandenen Scheins ist eine bedingte; das Gesetztsein des Wirklichen aber ist ein durch dessen Setzung auf Grundlage des Scheins nicht bedingtes, also unbedingtes. Dasselbe wird gesetzt, weil der Schein gesetzt ist; aber es wäre gesetzt, auch wenn der Schein nicht gesetzt wäre. Die Setzung desselben erfolgt nicht, wie jene des (scheinbaren) Objects im Idealismus, durch das Ich, welches setzt, sondern besteht, wie der von seinem Gedachtwerden unabhängige Denkinhalt, auch ohne Subject, welches setzt. Die Position des (scheinbaren) Objects durch das Subject (im Idealismus) ist eine relative; mit dem Subject fällt auch das Object. Die Position des Wirklichen im Realismus ist eine absolute; dieselbe hört nicht auf, auch wenn das Subject aufhört.

270. Nur die letztere Position ist wahre, die relative ist keine Position. Das eigentlich Ponirte ist in der relativen Position nicht das Gesetzte (das Object), sondern das Setzende (das Subject); die Position des Ponirten ist daher nur eine scheinbare; die wahre Position ist die des Ponirenden. Dieses allein ist wahrhaft, das von ihm Gesetzte nur dem Anschein nach wirklich; das einzige Wirkliche sonach nicht das Gesetzte, das Object, sondern das Setzende, das Subject. Soll das Object das Wirkliche d. i. nicht nur dem Schein nach, sondern in Wahrheit wirklich sein, so muss es von seiner Setzung durch das Subject unabhängig gesetzt d. h. es muss als das, was es ist, auch dann gesetzt sein, wenn weder eine Setzung desselben durch ein Subject, noch überhaupt ein von demselben unterschiedenes Subject je wirklich vorhanden ist.

271. Die absolute Position ist der Ausdruck des Seins. Durch dieselbe ist das Sein, wie von jeder Setzung durch das Subject, so auch von der Setzung durch jedes, wie immer geartete Denken unabhängig. Dasselbe ist, wie Bonaparte zu Campoformio von der französischen Republik sagte: „wie die Sonne, wehe dem, der sie nicht sieht!” Dem Denken bleibt nichts übrig, als das Sein als das, was es von vornherein ist, als Sein anzuerkennen; das Sein aber als solches bedarf dieser Anerkennung durch das Denken nicht. Das Sein ist nicht, wie Schelling sagte, „vor” dem Denken, aber es bestünde auch ohne das Denken.

272. Ein Denken, welches das Wirkliche nicht als absolut d. i. als von ihm unabhängig gesetzt dächte, hätte dasselbe nicht als [166]Sein, sondern als Schein gedacht. Derselbe Grund, welcher das Denken nöthigt, ein Wirkliches zu denken, nöthigt es auch, dieses letztere als unbedingt gesetzt d. i. als seiend zu denken. Der Grund aber, der für das Denken die Annahme eines Wirklichen unvermeidlich macht, ist die Thatsache des Scheins des Wirklichen d. i. das — nicht willkürlich durch den Willen des Denkenden, sondern unwillkürlich, ohne, ja selbst wider den Willen des Denkenden — Gegebensein des Scheins des Wirklichen. Der Inhalt dieser durch die Thatsache des Scheins des Wirklichen d. i. durch die Erfahrung bedingten Setzung ist das unbedingt Gesetzte.

273. Dass das Wirkliche, was es auch immer sei, unbedingt gesetzt, nicht aber, was das Wirkliche, wenn gesetzt, seinem Was nach sei, ist damit ausgesprochen. Nur so viel lässt sich folgern, dass, wie auch das Was des Wirklichen gedacht werden möge, dasselbe nicht so gedacht werden dürfe, dass dessen unbedingtes Gesetztsein dadurch unmöglich gemacht wäre. Dies aber würde der Fall sein, nicht nur wenn das Was des Wirklichen in irgend einer Weise von der Natur eines dasselbe Setzenden abhängig gedacht, sondern auch dann, wenn dasselbe durch das Gesetztsein eines Andern bedingt gedacht würde. Dasselbe darf in ersterer Hinsicht daher nicht so beschaffen gedacht werden, wie das vermeintlich Setzende (z. B. das vorstellende Subject) seiner Beschaffenheit nach ist d. h. etwa als vorstellend, weil dieses letztere vorstellt, oder als fühlend, oder wollend, weil dieses letztere fühlt und will. Es darf aber auch in letzterer Hinsicht nicht so gedacht werden, dass dessen Gesetztsein das Gesetztsein eines Anderen bedingt, also nicht als zusammengesetzt d. i. aus Theilen bestehend, weil dann dessen Gesetztsein durch das Gesetztsein jedes einzelnen dieser Theile bedingt, also nicht unbedingt wäre. Aus ersterem folgt, dass das Was des Wirklichen in keiner Weise aus dem Was etwa des vorstellenden Subjects als des vermeintlich dasselbe Setzenden erschlossen werden könne. Aus dem letzteren folgt, dass das Was des Wirklichen, weil unbedingt gesetzt, nicht zusammengesetzt d. i. nicht aus Theilen bestehend sein dürfe, sondern streng einfach sein müsse.

274. Jedes wahrhaft Wirkliche ist daher einfaches Wirkliches. Dasselbe ist nicht nur, wie das sogenannte physikalische Atom, scheinbar, sondern wirklich „atom” d. i. untheilbar; nicht blos, wie jenes, weil es mit den vorhandenen Werkzeugen nicht mehr getheilt werden kann, oder für den gegebenen Zweck nicht mehr [167]weiter getheilt zu werden braucht, sondern, weil es schlechthin keine Theile hat. Dasselbe schliesst seiner Einfachheit halber zwar nicht jede Vielheit, aber doch jede Vielheit einander coordinirter Glieder von sich aus d. h. dasselbe ist weder ein Bündel einander nebengeordneter Eigenschaften, noch eine Summe ebensolcher sogenannter Kräfte oder Vermögen. Es kann sein Was weder verlieren noch verändern, ohne (was unmöglich ist bei einem unbedingt Gesetzten) selbst aufzuhören. Dasselbe kann daher weder qualitativ ein anderes als, noch quantitativ ein mehr oder weniger dessen werden, was es ist; dasselbe ist, sobald es ist, sowol ewig als unveränderlich; weder dessen (unbedingtes, also von jeder Bedingung unabhängiges) Gesetztsein, noch dessen einfaches, jeder Zuthat oder Abtrennung von Theilen, jedes Wachsthums wie jeder Abnahme unfähiges Was kann einen Wechsel erleiden. Die unvermeidliche Consequenz der absoluten Position und der Einfachheit des Was ist die Erhaltung des wandellosen Selbst jedes Wirklichen.

275. Im Begriffe des Wirklichen liegt, dass es Wirkendes ist d. i. wirkt d. h. dass dessen Sein und dessen einfache Qualität von dessen Wirken d. i. sich Bethätigen unabtrennlich ist. Weder ein Wirkliches, das nicht wäre, noch ein Seiendes, das nicht wirkte, wäre ein wahrhaft Wirkliches; jenes wäre nur der Schein eines Wirklichen, dieses wäre ein Todtes, also nicht Wirkliches. Die Zusammengehörigkeit beider darf nicht so gedacht werden, als wäre das Sein und die Qualität das Substrat des Wirkens d. h. als besässe das Wirkliche als seiende, aber nicht wirkende Qualität seine besondere, als seiende, aber wirksame Qualität wieder seine abgesonderte Wirklichkeit d. h. als stellte die seiende Qualität nach Abzug des Wirkens gleichsam das Residuum, das caput mortuum des Wirklichen dar. Die unbedingt gesetzte einfache Qualität und das Wirken sind nicht nur im Begriffe des Wirklichen, sondern in diesem selbst unzertrennlich eins, so dass das Wirkliche weder gedacht werden kann, ohne dasselbe als wirkend zu denken, noch als Wirkliches sein d. h. wirklich sein kann, ohne zu wirken.

276. Ebensowenig wie die absolute Position, das unbedingte d. i. bedingungslose Gesetztsein, darf das mit derselben im Wirklichen in Eins verschmolzene Wirken von einer, wie immer gearteten Bedingung abhängig gedacht werden. Weder kann dessen Beginn, noch dessen Aufhören an einen Zeitpunkt geknüpft werden, vor welchem und nach welchem zwar das unbedingt Gesetzte, aber nicht als Wirkendes, sondern als Wirkungsloses bestünde, noch darf [168]dasselbe so verstanden werden, als setzte es einen besondern, noch weniger einen von ihm, dem Wirklichen, unterschiedenen Stoff voraus, um sich als Wirken zu bewähren. Die Frucht des mit der absolut gesetzten einfachen Qualität unauflöslich und unablösbar verbundenen Wirkens des Wirklichen ist dessen Wirklichkeit.

277. Nothwendige Wirkung des mit dem Wirklichen seiner Natur nach verbundenen Wirkens ist, dass etwas geschieht. Das Gegentheil, die Annahme, dass nichts geschehe, ungeachtet gewirkt wird, widerspricht sich selbst. Denn ein Wirken ohne wie immer beschaffenen Erfolg hätte nichts bewirkt d. h. wäre kein Wirken gewesen. Nothwendige Folge der Einfachheit und Unveränderlichkeit der Qualität des Wirklichen ist, dass, was immer geschehe, weder eine Setzung, noch Aufhebung der absoluten Position eines Wirklichen, noch die, sei es quantitative, sei es qualitative Abänderung der Qualität eines Wirklichen, weder der eigenen, noch einer fremden sein kann; daher alles, was wirklich geschieht, weder die Qualität, noch das Gesetztsein des Wirklichen, sondern nur das mit demselben unablöslich verschmolzene Wirken des Wirklichen angehen kann d. h. dass alles, was wirklich in Folge des Wirkens geschieht, nur eine Aenderung (Modification) dieses Wirkens selbst, beziehungsweise dessen Zunahme oder Abnahme, Förderung oder Hemmung, Erhaltung in der bisherigen, oder Ablenkung nach einer andern Richtung bedeuten kann.

278. Dass überhaupt Wirkliches ist und, was wirklich ist, wirkt, macht die realistische, dass mehr als ein einziges Wirkliches, eine unbestimmbare Menge von Wirklichen sei, die pluralistische Seite des Realismus aus. Wie das erstere aus dem Satze, dass scheinbar Wirkliches, so folgt das letztere aus der Thatsache, dass der Schein eines vielfachen Wirklichen gegeben ist. Während der Schluss dort lautet: ohne Sein kein Schein, lautet er hier: ohne Vielheit und Vielfachheit des Seins keine Vielheit und Vielfachheit des Scheins. Die entgegengesetzte Annahme, dass aus der Einheit und Einfachheit des Seins der Schein der Vielheit und Vielfachheit des Seins hervorgehe, widerspricht sich selbst. Dieselbe lässt unerklärt, warum, wenn das Erzeugende, der realistische Factor, die Ursache der Empfindung, das nämliche ist, die Wirkung derselben, die Empfindung, bald diese, bald jene sei, das „Ding an sich”, von welchem der Anstoss zur Empfindung ausgeht, bald eine Gesichts-, bald eine Gehörsempfindung, und wieder einmal die Empfindung des Blauen, ein anderes mal die des Rothen verursache, dabei aber selbst als [169]Ursache immer dasselbe bleibe. Wird an die Stelle des Dings an sich das Wirkliche d. i. eine absolut gesetzte, einfache Qualität substituirt, so erhöht sich die Schwierigkeit, zu begreifen, wie diese letztere, welche als einfach jede Vielheit coordinirter, aber unter einander qualitativ verschiedener Wirkungsweisen ausschliesst, doch zugleich Ursache qualitativ verschiedener Wirkungen d. i. z. B. qualitativ unterschiedener Empfindungen werden könne; dieselbe führt daher mit Nothwendigkeit dazu, so viele und so vielerlei qualitativ verschiedene Ursachen vorauszusetzen, als und so vielerlei qualitativ verschiedene Wirkungen gegeben sind d. h. wo die Thatsache vielfachen qualitativ unterschiedenen Scheins gegeben ist, auch die Existenz eines vielfachen und qualitativ unterschiedenen Wirklichen zu postuliren.

279. Wie durch die Betonung der realistischen Grundlage des Scheins dem Idealismus, so ist durch die Betonung der pluralistischen Grundlage des Scheins der Realismus jedem wie immer gearteten Monismus d. i. jeder All-Eins-Lehre entgegengesetzt. Jener, er sei subjectiver, absoluter oder Panlogismus, entbehrt eines wahrhaft Wirklichen; dieser, er sei idealistisch oder selbst realistisch, entbehrt einer wahren Vielheit des Wirklichen. Jenem zufolge ist das Wirkliche blosser Schein (Phantasmagorie) welchen sich entweder das endliche oder das absolute Ich, oder die absolute Vernunft vorspiegelt, um mittels desselben zum Bewusstsein seiner, beziehungsweise ihrer selbst zu kommen d. i. Geist zu werden. Diesem zufolge ist jede Vielheit und Individuation des Seins blosser Schein (Phantasmagorie), welchen das eine und einzige Wirkliche (es sei nun Spinozistische Substanz oder Schopenhauer’scher Allwille) entweder (wie die beiden genannten) mit blinder Nothwendigkeit, oder (wie das Hartmann’sche „Unbewusste”) zu dem Zwecke sich vorgaukelt, um mittels desselben zum Bewusstsein und sei es durch Selbstverneinung oder durch werkthätigen Anschluss zur Realisirung des Weltzwecks zu gelangen. Während der erstere begreiflich zu machen unterlässt, wie aus demjenigen, was selbst nicht einmal den Schatten der Wirklichkeit besitzt, auch nur der Schein einer solchen entspringen könne, setzt der letztere dem Bedenken, wie aus demjenigen, was selbst nicht einmal eine Spur der Vielheit in sich schliesst, auch nur der Schein einer solchen und der Vielfachheit des Wirklichen hervorgehen könne, vorsichtiges Stillschweigen entgegen.

280. So viel wirklicher Schein, so viel wirkliches Sein — lautet der Satz des Realismus, aber nicht, wie viel wirkliches Sein. Derselbe [170]begnügt sich, zu behaupten, dass um der Vielheit und Mannigfaltigkeit des durch die Erfahrung gegebenen Scheins willen eine eben solche Vielheit und Mannigfaltigkeit des Wirklichen gesetzt, aber er enthält sich, der Versuchung nachzugeben, bestimmen zu wollen, welche (ob endliche oder unendliche) Vielheit des Wirklichen gesetzt werden müsse. Eben so wenig wie das Quantum, wagt er das Quale des Wirklichen anders als durch die schon oben angeführte, aus dem Begriff der absoluten Position abgeleitete Folgerung der qualitativen Einfachheit zu bestimmen. Wie die Vielheit des Scheins zwar die Annahme einer Vielheit des Wirklichen, aber nicht die Bestimmung der Vielheit des Wirklichen, so erlaubt die Mannigfaltigkeit des Scheins zwar die Annahme einer Mannigfaltigkeit des Wirklichen, aber nicht die Bestimmung des Mannigfaltigen des Wirklichen. Dass vieles und mannigfaltiges Wirkliches sei, weder aber wie vieles, noch welcherlei Art das Wirkliche sei, vermisst sich der Realismus anzugeben.

281. Die Mannigfaltigkeit ist die geringste d. h. die Gleichartigkeit des Wirklichen ist die denkbar grösste, wenn dessen Verschiedenheit nicht in einer sogenannten inneren (Eigenschaft), sondern nur in einer sogenannten äusseren Beschaffenheit, also in einer solchen gelegen ist, welche weder Aehnlichkeit noch Gegensatz, überhaupt keinerlei Verwandtschaft des Wirklichen voraussetzt, sondern auch bei übrigens völlig disparaten Wirklichen stattfinden kann. Von dieser Art sind die räumlichen und zeitlichen d. i. diejenigen Bestimmungen eines Wirklichen, welche sich ändern können, ohne dass dieses letztere selbst dadurch eine Aenderung erfährt, obgleich andere Wirkliche dadurch eine solche erfahren mögen. Der in seiner Umlaufsbahn und Umlaufszeit sich um die Sonne bewegende Planet erleidet durch seine Fortbewegung in seinen inneren Eigenschaften keinerlei Veränderungen, während die Wirkungen, welche er selbst auf andere Planeten ausübt (z. B. die sogenannten Störungen) wesentlich durch die Stellung d. i. durch den Ort bedingt werden, welchen derselbe in einem jeweiligen Zeitpunkt im Verhältniss zu ihnen im Weltraum einnimmt. Eben so wenig erleidet der Weltkörper, wenn nicht andere Ursachen in und an demselben Veränderungen bewirken, durch den blossen Abfluss der Zeit, innerhalb welcher er seine Bahn zurücklegt, eine Veränderung, obgleich, wenn eine solche an ihm vorgegangen und er demungeachtet derselbe geblieben sein soll, dies nur unter der Voraussetzung denkbar ist, dass seine Beschaffenheit vor und seine [171]Beschaffenheit nach obiger Veränderung in verschiedene Zeitpunkte fallen. Die vielen und verschiedenen Wirklichen sind daher am wenigsten verschieden, jedoch in keiner Weise nicht verschieden, wenn deren Verschiedenheit lediglich in der Verschiedenheit d. i. in der Nichtidentität ihrer räumlichen und zeitlichen Bestimmungen d. i. des Wo und des Wann ihrer Wirklichkeit d. i. ihres Wirkens gelegen ist. Dieselben sind verschieden, insofern ihre Orte im Raum verschieden d. h. ausser einander, dagegen nicht verschieden, insofern sie Wirkliche d. i. Wirkende sind. Dieselben sind verschieden, insofern je nach der Verschiedenheit ihres Aussereinander (d. h. der räumlichen Distanz ihrer Orte) ihr Wirken verschieden, dagegen nicht verschieden, insofern sie Wirkende sind. In Bezug auf die Zeit sind sämmtliche Wirkliche als unbedingt Gesetzte insofern nicht verschieden, als ihr Gesetztsein von jeder, also auch von jeder zeitlichen Bedingung unabhängig ist; dagegen können sie als Wirkende insofern verschieden sein, als ihr Wirken sich ändert, während sie selbst dieselben bleiben und diese Aenderung nur unter der Annahme möglich ist, dass das eine zu einer, das anders geartete Wirken dagegen zu einer andern Zeit stattfindet.

282. Wirkliche, die sich durch räumliche und zeitliche Bestimmungen unterscheiden, können im Uebrigen eben so wol unterschieden als nicht unterschieden, sie werden trotzdem unterschiedene d. i. Einzelwesen und, da dieselben als unbedingt gesetzte, einfache Qualitäten, Atome d. i. untheilbare Wesen sind, Individuen sein. Dieselben müssen als räumlich (d. i. dem Ort nach) verschiedene, ausser einander, beziehungsweise neben einander sein; das Wirken derselben, insofern es in einem und demselben Individuum ein verschiedenes sein soll, kann nur nach einander, beziehungsweise auf einander erfolgen. Da dieselben ausser einander d. h. da ihre Orte, wenn sie selbst unterschiedene sein sollen, nicht dieselben sein sollen, so muss es der Orte wenigstens eben so viele geben, als es Wirkliche gibt. Da das Wirken eines jeden derselben, wenn es ein anderes sein soll, in einen anderen Zeitpunkt fallen muss, so muss es der Zeitpunkte wenigstens eben so viele geben, als in demselben Wirklichen Abänderungen seines Wirkens gegeben sind. Mit der Unbestimmbarkeit der Zahl der Wirklichen ist daher zugleich die Unbestimmbarkeit der Zahl der Orte, mit der Unbestimmbarkeit der Zahl möglicher Abänderungen des Wirkens eines und desselben Wirklichen zugleich die Unbestimmbarkeit der Zahl der Zeitpunkte gegeben. Wie die Menge des auf Grundlage des durch die Erfahrung [172]gegebenen Scheins anzunehmenden Wirklichen, so lässt sich die Menge der auf Grundlage des angenommenen Wirklichen anzunehmenden Orte, so wie jene der auf Grundlage der durch Erfahrung gegebenen Abänderungen des Wirkens des Wirklichen anzunehmenden Zeitpunkte je nach Bedürfniss ins Unbestimmte erweitern.

283. Der Inbegriff des gesammten auf Grundlage des durch die Erfahrung gegebenen Scheins jeweilig anzunehmenden Wirklichen d. i. der Inbegriff sämmtlicher Atome macht den Stoff, der Inbegriff des von sämmtlichen Wirklichen ausgehenden Wirkens die Kraft, der Inbegriff sämmtlicher Orte den Raum, und jener sämmtlicher Zeitpunkte die Zeit aus. Da der in jedem gegebenen Augenblick dem Bewusstsein durch Erfahrung aufgedrungene Schein eines Wirklichen ein bestimmter, und insofern endlich, in jedem gegebenen Augenblick aber ein anderer seinerseits abermals bestimmter und insofern endlicher ist, so folgt, dass das Quantum des Wirklichen, da dessen Annahme nur auf Grund des gegebenen Scheins eines solchen erfolgt, nur dann ein unendliches sein muss, wenn der gegebene Schein die Annahme eines solchen fordert, im Uebrigen aber über dasselbe keine andere Bestimmung möglich ist, als dass das Quantum des Stoffs dem Quantum des durch Erfahrung gegebenen Scheins proportional sein muss. Da nun der Schluss vom Schein auf das Sein keineswegs verlangt, dass unendlich, sondern nur, dass unbestimmt viele Wirkliche dessen reale Grundlage ausmachen sollen, so kann auf Grund der gegebenen Erfahrung über das Quantum des anzunehmenden Stoffs nichts weiter ausgesagt werden, als dass dasselbe ein verhältnissmässiges, mit dem Wachsthum des durch Erfahrung gegebenen Scheins für das Bewusstsein in stetem Wachsen begriffenes, an sich aber, da das Wirkliche als unbedingt gesetztes keinerlei Abänderung seines Gesetztseins fähig ist, ein unveränderliches sein muss.

284. Wie das Quantum des Stoffs, so ist das Quantum der Kraft zugleich als veränderlich d. i. der Zunahme fähig, und als unveränderlich, einer solchen unfähig anzusehen. Ersteres, insofern die Annahme wirklichen Wirkens nur auf Grund des durch die Erfahrung dargebotenen scheinbaren Wirkens und sonach die Bestimmung des Quantums des ersteren nur im Verhältniss zu dem erfahrungsmässig gegebenen Quantum des letzteren statthat, letzteres, insofern das Wirken nichts anderes als die Verwirklichung der im Wirklichen unbedingt gesetzten einfachen Qualität und folglich, da diese letztere unveränderlich ist, die Summe der Verwirklichungen [173]sämmtlicher einfacher Qualitäten des Wirklichen eben so wie die Summe dieser selbst immer dieselbe bleiben muss. Das Gesetz der Unveränderlichkeit des Quantums wirklichen Wirkens d. i. der Erhaltung der Kraft ist nur die unvermeidliche Folge des Gesetzes der Unveränderlichkeit des Quantums des Wirklichen d. i. der Erhaltung des Stoffs. Dagegen ist das Quantum der aus dem jeweilig durch Erfahrung gegebenen scheinbaren Wirken erschlossenen Kraft eben so wie das Quantum des auf Grund des durch die jeweilige Erfahrung dargebotenen scheinbaren Wirklichen erschlossenen Stoffs der Veränderung, und zwar eines im richtigen Verhältniss zu der allmälig anwachsenden Erfahrung zunehmenden Wachsthums bedürftig und fähig.

285. Der Grund, weswegen letzteres, das jeweilige Quantum des scheinbaren mit dem des wirklichen Wirkens weder jemals identisch ist, noch werden kann, liegt in der Verschiedenheit, beziehungsweise dem Gegensatz der individuellen Wirklichen und der daraus fliessenden Verschiedenheit, beziehungsweise des Widerstreits ihres Wirkens. In der Natur der Sache liegt es, dass verschiedene, ganz oder theilweise der Qualität nach entgegengesetzte Wirkliche auch in ihrem Wirken ganz oder theilweise einander entgegengesetzt sind d. h. dass ihr Wirken sich gegenseitig ganz oder theilweise zwar nicht vernichtet, weil die unbedingt gesetzte und selbst unveränderliche Qualität des Wirklichen der Vernichtung unfähig ist, aber ganz oder theilweise hemmt, so dass der Schein entsteht, als werde nichts oder als werde weniger gewirkt, während thatsächlich gewirkt, und zwar mehr gewirkt wird als gewirkt zu werden scheint. Das auf diese Weise gehemmte, also scheinbar nicht wirklich, in der That aber wirklich, jedoch im — durch entgegengesetztes Wirken — gebundenen Zustande vorhandene Wirken ist gleichsam latentes, schlummerndes, dagegen das ungehemmte, durch ganz oder theilweise Entgegengesetztes nicht gebundene, also freie Wirken offenbares, lebendiges Wirken. Die Summe des letzteren muss, da unter der Summe des Wirkenden jedesmal ein bestimmter Bruchtheil unter sich entgegengesetzten Wirkens vorhanden sein muss, nothwendig kleiner ausfallen als die Summe des überhaupt (im gehemmten und ungehemmten Zustande) vorhandenen Wirkens und zwar desto kleiner, je grösser die Summe des unter sich entgegengesetzten, also sich hemmenden Wirkens im Verhältniss zur Summe des Wirkens überhaupt ist. Die Wirklichen selbst, deren Wirken gehemmt ist, die also, um dieses Gehemmtseins [174]willen, nicht zu wirken, also nicht wirklich zu sein scheinen, während sie doch wirkend, also wirklich sind, stellen zusammengenommen den Inbegriff desjenigen Wirklichen dar, welches zwar wirklich, dem Scheine nach aber nicht wirklich d. h. für die aus dem Scheine des Wirklichen auf die Wirklichkeit folgernde Beobachtung so gut wie nicht vorhanden ist d. h. den Inbegriff des latenten, jeweilig nicht nur seiner Qualität nach unbekannten, sondern auch seiner Existenz nach ungekannten Wirklichen.

286. Letzterer liefert den Vorrath sowol zur Vermehrung des sichtbaren, wie zur Erweiterung des Umfanges des aus gegebenem scheinbaren erschlossenen wirklichen Wirkens. Indem bisher gebundenes Wirken aus irgend einem Anlass frei d. h. ungehemmtes Wirken wird, tritt es aus dem latenten in den Zustand offenbaren Wirkens d. h. es tritt selbst, wenigstens scheinbar, als neues, bisher nicht wahrgenommenes Wirken zu der Summe des bisher sichtbar gewesenen Wirkens hinzu; indem es als offenbar gewordenes, also den Schein des Wirkens erzeugendes Wirken vor das Bewusstsein tritt, ruft es in diesem den unvermeidlichen Schluss auf wirkliches Wirken d. i. eine Erweiterung des bisherigen Umfanges bekannten Wirkens hervor. Wie durch den ersteren Umstand die Summe des sichtbaren Wirkens, so wird durch den letzteren die Kenntniss wirklichen Wirkens vermehrt, durch jenen die Summe der in der Totalität des Wirklichen lebendig thätigen, im Verhältniss zur Summe der in derselben leblos schlummernden Kräfte, durch diesen die Summe des auf Grund erweiterter Erfahrung erschlossenen Wirklichen gegenüber dem auf Grund der bisherigen Erfahrung als wirklich gekannten, ebenmässig vergrössert.

287. Da das Quantum des überhaupt vorhandenen Wirkens nach Obigem unveränderlich, die Summe des jeweilig ungehemmten Wirkens aber veränderlich ist, so folgt, dass jede Zunahme der Summe des sichtbaren von einer entsprechenden Abnahme der Summe des gebundenen Wirkens und umgekehrt jede Zunahme dieser von einer Verminderung jener begleitet sein muss. Könnte die Abnahme sichtbaren Wirkens je so weit sich erstrecken, dass jedes ungehemmte Wirken sich in gehemmtes, also jedes wirkliche Wirken in scheinbares Nichtwirken verkehrte, so müsste an Stelle des Scheins eines Wirklichen vielmehr der entgegengesetzte Schein der Abwesenheit irgend eines Wirklichen d. h. es müsste der Schein der Wirklichkeit des Nichts (Nihilismus) entstehen, welches sich selbst widerspricht. Sollte dagegen in umgekehrter Weise die Zunahme [175]des sichtbaren Wirkens so weit fortschreiten, dass sämmtliches gebundenes sich in freies Wirken verwandelte, also jeder Schein eines Nichtwirkens sich in den entgegengesetzten Schein des Wirkens auflöste, so müsste, da jede Hemmung eines Wirkens nur aus der Verschiedenheit, beziehungsweise dem Gegensatze der Wirkenden entspringt, der Schein entstehen, als sei zwischen den Wirkenden überhaupt keine Verschiedenheit d. h. als seien überhaupt nicht unterschiedene Wirkliche (Pluralismus, Individualismus), sondern nur ein einziges, schlechterdings unterschiedloses Wirkliches (Monismus, All-Eins-Lehre) vorhanden; welcher Schein, da, wie oben gezeigt, die Annahme eines einzigen Wirklichen auch nicht einmal die Entstehung des Scheins einer Vielheit ermöglicht, sich selbst widerspricht. Da sonach von diesen beiden Fällen keiner als jemals möglicher Weise eintretend gedacht werden darf, ohne etwas sich selbst Widersprechendes zu denken, so folgt, dass weder die Abnahme des sichtbaren Wirkens jemals so weit gehen kann, dass völlige Ruhe (Leblosigkeit), noch die Zunahme desselben je so hoch sich steigern kann, dass durchgängige Lebendigkeit (Bewegung) im ganzen Umkreis des Wirklichen herrsche, sondern dass immer Ruhe und Bewegung, Leblosigkeit und Lebendigkeit zugleich, jedes in einem mehr oder weniger weit reichenden Theile des Wirklichen vorhanden sei.

288. Wie den Quantis des Stoffs und der Kraft, kommt den Quantis des Raumes und der Zeit Wandelbarkeit zugleich und Wandellosigkeit zu. Wenn der erstere nichts anderes ist als der Inbegriff der Orte des Wirklichen, so folgt, dass dessen Quantum weder grösser noch kleiner sein kann als das Quantum des Wirklichen. Da nun das letztere, wie gezeigt, in einer Hinsicht veränderlich, in einer andern dagegen unveränderlich ist, so folgt, dass in Bezug auf das Quantum des Raumes dasselbe stattfinden muss. Jede Erweiterung des bisher bekannten Umfanges des Wirklichen durch die Annahme neuer Wirklicher macht die Annahme neuer Orte und damit die Vermehrung des bisherigen Quantums des Raums nöthig. Die Erhaltung des Quantums des Stoffs d. i. des Inbegriffs aller Wirklichen, deren jedes seines von dem jedes andern unterschiedenen Orts bedarf, macht die Erhaltung des Quantums des Raums unvermeidlich. Wenn die Zeit nichts anderes ist als der Inbegriff der Zeitpunkte d. i. derjenigen Bedingungen, unter welchen allein das Wirken eines Wirklichen jeweilig ein anderes geworden, das Wirkliche selbst aber dasselbe geblieben sein kann, [176]so folgt, dass jedes Anderswerden der Wirkung mindestens zwei Zeitpunkte, denjenigen, in welchen das unveränderte, und denjenigen, in welchen das veränderte Wirken fällt, fordere, und daher das Quantum der Zeitpunkte nicht kleiner sein könne als das Quantum der eingetretenen Veränderungen des Wirkens. Da nun das Quantum des Wirkens überhaupt, also auch das Quantum der in demselben enthaltenen Abänderungen des Wirkens einerseits, wie aus der Erhaltung des Stoffs folgt, immer dasselbe, andererseits, wie aus der Veränderlichkeit des scheinbaren Wirkens folgt, veränderlich ist, so folgt, dass auch das Quantum der Zeit einerseits, so weit dasselbe durch das Quantum der überhaupt wirklichen Abänderungen des Wirkens bedingt ist, immer dasselbe, dagegen, so weit dasselbe von dem jeweilig im Bewusstsein schwebenden Quantum scheinbaren Wirkens abhängig ist, veränderlich sein muss.

289. Aus dem Begriff des Raumes folgt, dass er erfüllter Raum sei d. h. dass es einen sogenannten leeren Raum nicht geben könne. Da derselbe nichts anderes ist, als der Inbegriff der Orte, die Setzung eines Orts aber nur auf Veranlassung und im Gefolge der Setzung eines Wirklichen, dessen Ort er ist, erfolgt, so kann es weder Orte geben, in welchen kein Wirkliches, noch Wirkliche, für welche kein Ort gesetzt ist. Die an verschiedenen Orten befindlichen Wirklichen können daher zwar nicht nur ausser einander, sondern es können auch zwischen ihren Orten andere Orte gelegen d. h. sie müssen nicht an einander sein; keineswegs aber dürfen die zwischen ihren Orten gelegenen Orte als leer d. h. als solche gedacht werden, in welchen kein Wirkliches befindlich ist. Folge davon ist, dass eine sogenannte actio in distans d. h. ein Wirken durch den leeren Raum hindurch schon aus dem Grunde unmöglich wird, weil die Voraussetzung derselben, der leere d. h. mit Wirklichen nicht erfüllte Raum eine in sich widersprechende, folglich im Umfang des auf Grundlage des Wirklichen gesetzten Raums niemals zutreffende Annahme ist.

290. Da der Ort jedes Wirklichen, so lange deren individuelle Unterschiedenheit von ihren räumlichen und zeitlichen Bestimmungen abhängig gedacht wird, nur ein einziger sein kann, so bleibt derselbe so lange unbestimmt, als sich auch nur ein einziger Ort angeben lässt, welcher demselben Wirklichen mit gleichem Recht zugesprochen werden kann. Dieses aber ist der Fall, wenn das Wirken des Wirklichen als eine Function seines Aussereinander mit anderen Wirklichen gedacht und sonach der Ort desselben als [177]lediglich durch die Entfernung von dem Ort eines anderen Wirklichen bestimmt vorgestellt wird. Denn sodann findet sich nicht nur ein einziger Ort, sondern es finden sich unzählige Orte, welche mit gleichem Recht als Ort jenes Wirklichen angenommen werden können, da sie alle von dem zweiten die gleiche Entfernung haben, nämlich alle diejenigen, welche die Oberfläche einer Kugel bilden, deren Mittelpunkt das zweite Wirkliche und deren Radius der Abstand des ersten vom zweiten ist. Soll daher aus diesen unzähligen ein einzelner als Ort des Wirklichen ausgeschieden werden, so müssen zu der Angabe der Entfernung weitere Angaben hinzukommen, deren eine darin besteht, in welcher der unzähligen Kreisebenen, welche durch den Mittelpunkt jener Kugel gelegt werden können, deren zweite dahin lautet, in welchem der in jener Kreisebene vom Mittelpunkt an die Peripherie gezogenen Radien der Ort jenes Wirklichen zu suchen sei. Erst durch die letztgenannte dieser Angaben ist der Ort des Wirklichen völlig und dergestalt bestimmt, dass schlechterdings kein zweiter angebbar ist, welcher mit ihm die nämlichen räumlichen Bestimmungen theilte. Dieselben sind daher für jeden unter obigen Bedingungen gesetzten Ort eines Wirklichen dreifach und zwar durch dessen Beziehungen zu drei auf einander in demselben Punkte senkrechten Richtungen (den sogenannten Coordinaten) fixirt, der auf solche Weise gedachte Raum daher als ein dreidimensionaler, nach den Richtungen der Länge, Breite und Tiefe ausgedehnter, vorgestellt.

291. Da letztere Vorstellung nur unter der Annahme erfolgt, dass das Wirken des Wirklichen eine Function der Entfernung desselben von einem anderen Wirklichen sei, so leuchtet ein, dass deren Nothwendigkeit schwindet, sobald an die Stelle obiger Annahme eine andere gesetzt, das Wirken des Wirklichen z. B. statt von der Entfernung desselben von einem andern Wirklichen, von dessen Nichtentferntsein von letzterem d. h. statt von dem räumlichen Aussereinander von dem örtlichen Ineinander beider Wirklichen abhängig gedacht wird. In diesem Falle wäre nämlich der Ort des Wirklichen auch durch die Angabe seiner Lage im Raume nach allen drei Dimensionen desselben noch nicht bestimmt, da sich noch immer ein zweiter Ort angeben liesse, welcher ganz die nämliche Lage im Raume besässe, nämlich jener des zweiten Wirklichen, von welchem das erste der Annahme zufolge „nicht entfernt”, sondern mit welchem dasselbe „in einander” sein soll. Es müsste also, wenn die Wirklichen dennoch verschieden sein sollten, entweder [178]der Raum eine weitere, sogenannte vierte Dimension besitzen, nach welcher Orte desselben, deren Lage nach Länge, Breite und Tiefe identisch ist, dennoch verschieden sein könnten, oder die Verschiedenheit der Wirklichen dürfte nicht mehr blos in deren räumlichen (oder zeitlichen) Bestimmungen, sondern sie müsste in deren sogenannter innerer Beschaffenheit gelegen sein. Obige Annahme, dass das Wirken des Wirklichen eine Function der Entfernung, um so mehr die fernere enger begrenzte, dass dieselbe in einer Abnahme der Wirkung mit der Entfernung, so wie die engste, dass diese Abnahme im Quadrat der Entfernung erfolge, hat schon Kant in seinen „Gedanken von der wahren Schätzung lebendiger Kräfte” (Werke Hart. VIII. 26) für eine „willkürliche” erklärt, an deren statt an sich eben so gut eine andere, z. B. dass mit der Entfernung eine Zunahme des Wirkens eintrete, oder die Abnahme im Cubus der Entfernung erfolge etc. hätte gedacht werden können. Dieselbe wird eben nur deshalb gedacht, weil wir uns von einem Raume, der unter einer anderen Annahme entsteht, z. B. von einem vierdimensionalen, eben, wie Kant gleichfalls p. 27 bemerkt, keine Vorstellung zu machen im Stande sind, und die gegebene Erfahrung des scheinbar Wirklichen mit der Annahme des dreidimensionalen Raums und der Abnahme der Wirkung im Quadrate der Entfernung am vollkommensten übereinstimmt.

292. Wie der Raum unter der Annahme, dass das Wirken eine Function der Entfernung sei, eine dreidimensionale, so hat die Zeit unter der Annahme dass das Wirkende vor und nach der Abänderung seines Wirkens dasselbe sei, nur eine eindimensionale Ausdehnung. Wie jeder Ort im Raum durch sein Verhältniss zu einem andern nach drei in demselben auf einander senkrechten Richtungen, so ist jeder Punkt in der Zeit durch sein Verhältniss zu zwei andern mit ihm in derselben Richtung gelegenen, deren einer vor, der andere hinter ihm liegt, so lange vollkommen bestimmt, als nicht an die Stelle des ersten ein zweites Wirkliches getreten ist. Denn nur unter der letztern Voraussetzung, dass es sich nicht mehr um eine Abänderung des Wirkens desselben, sondern eines anderen Wirklichen handelt, ist es möglich, dass es noch einen zweiten Zeitpunkt gibt, welcher in der nämlichen Richtung von einem vor und einem hinter ihm gelegenen Punkte die nämliche Entfernung besitzt wie jener erste.

293. Mit der Annahme, dass das Wirken überhaupt keine Function der Entfernung, also von dieser unabhängig, jedes Mass [179]der Entfernung für das Mass der Wirkung gleichgiltig sei, hat sich der Mysticismus, der an die „Wirkung in die Ferne” glaubt, mit der Voraussetzung, dass der Raum eine vierte Dimension besitze, der moderne in ein exactes Gewand sich drapirende Spiritismus, mit der Hypothese endlich, dass die Verschiedenheit der individuellen Wirklichen nicht sowol in deren räumlicher und zeitlicher Bestimmtheit, als vielmehr in deren innerer qualitativer Unterschiedenheit zu suchen sei, der (im Unterschied vom quantitativen sogenannte) qualitative Atomismus (Leibnitz, Herbart, Lotze) zu schaffen gemacht. Der erste geht von dem Grundsatz aus, dass zwar die Orte der Wirklichen verschieden, also die Wirklichen ausser einander, das eine z. B. wie Ennemosers magnetisirte Frau in St. Petersburg, das andere, der Magnetiseur, in München seien, die Entfernung beider Orte jedoch für die Wirkung gleichgiltig d. h. diese auch bei der grössten Entfernung ungeschwächt und die nämliche sei. Der zweite lässt, und darin besteht seine Uebereinstimmung mit der einmal angenommenen Basis der exacten Naturwissenschaft, welche bewirkt, dass derselbe auch für Naturforscher verlockende Kraft besitzt — der zweite lässt die Annahme, dass das Wirken eine Function der Entfernung d. h. der Verschiedenheit der Orte der Wirklichen sei, gelten, besteht aber darauf, dass die Orte zweier Wirklichen, deren räumliche Lage nach allen drei bekannten Abmessungen des Raumes identisch ist, dennoch verschiedene seien d. h. dass der Raum eben noch eine, die vierte Dimension, besitze. Der qualitative Atomismus aber, welcher die räumliche und zeitliche Verschiedenheit der Wirklichen nur als eine Folge der qualitativen Verschiedenheit derselben ansieht d. h. deren räumliches Ausser- und zeitliches Nacheinander nicht als die Bedingung, sondern als die Folge der Wechselwirkung der letzteren betrachtet, daher statt die Wirkung als eine Function der Entfernung zu definiren, dieselbe vielmehr (wie der Mysticismus) nur unter Voraussetzung völligen „Ineinanders” der Wirklichen für möglich hält, kommt dadurch dahin, die räumliche und zeitliche Ausdehnung für blossen (wenngleich objectiven) Schein, die Totalität sämmtlicher individueller Wirklichen für räumlich und zeitlich ungeschieden, sonach (in räumlicher und zeitlicher, also quantitativer Hinsicht) als eins und doch ihrer Beschaffenheit nach als geschieden: d. h. (in qualitativer Hinsicht) als vieles zu setzen.

294. Mit der Entwickelung der Dreidimensionalität des Raums aus der „willkürlichen Annahme”, dass das Wirken Function der [180]Entfernung sei, hat die Wissenschaft vom Wirklichen die Grenze desjenigen, was sich aus der Thatsache des Scheins des Vielen und Vielfachen auf philosophische d. i. auf nothwendige Weise, oder so aussagen lässt, dass eine gegentheilige Behauptung das Denken selbst aufheben würde, überschritten. Dass Wirkliches, und zwar Vieles und Vielfaches, demnach, wenn nicht anders, doch wenigstens als durch seine räumliche und zeitliche Bestimmtheit Unterschiedenes gedacht werden müsse und nicht nicht gedacht werden könne, ohne das Denken mit sich selbst d. i. mit seinen eigenen Normen in Widerspruch zu versetzen, folgert der Realismus aus der Thatsache des Scheins vieler und vielfacher Wirklichen mit Nothwendigkeit; dass das Wirken des Wirklichen eine Function der Entfernung der Orte des Wirklichen, zu der Erklärung des ersteren demnach die Annahme der Dreidimensionalität des Raumes erforderlich sei, folgert derselbe aber nur als Möglichkeit, neben welcher andere Möglichkeiten, und auf Grund der gegebenen Erfahrung als eine Wahrscheinlichkeit, neben welcher diese anderen als Unwahrscheinlichkeiten bestehen. Weder die Annahme des Mysticismus, dass das Wirken keine Function der Entfernung, noch jene des Spiritismus, dass der Raum vierdimensional sei, hat, so lange nicht zahlreichere und besser als die bisherigen beglaubigte Thatsachen deren Möglichkeit erweisen, die Wahrscheinlichkeit für sich; der qualitative Atomismus, welcher dahin gelangt, die Vielen (quantitativ) als eins und (qualitativ) als viele zu setzen, hat den Widerspruch, dass eins = vieles und vieles = eins sein soll, und damit die Möglichkeit gegen sich.

295. Aber auch der Versuch, das Denken selbst zu verleugnen und mit dessen Umgehung auf einem anderen Wege des Wirklichen sich zu bemächtigen, wie ihn der das Denken transcendirende und darum wol auch (obgleich, wie oben bemerkt, fälschlich) sogenannte transcendentale Realismus wagt, führt zu keinem andern Ziel. Derselbe stützt sich entweder, um der Nothwendigkeit zu entgehen, dasjenige, was vom Denken als seiend anzunehmen verboten wird, ablehnen, oder, was von diesem als wirklich anzunehmen geboten wird, annehmen zu müssen, auf den trivialen Satz, dass dasjenige, was durch das Zeugniss der Sinne bestätigt, wahr, was durch dasselbe verworfen werde, falsch sei, gleichviel ob das erstere den Normen des Denkens entgegen, das letztere durch dieselben zu denken geboten sei, und fällt dadurch auf den längst kritisch überwundenen Standpunkt des gemeinen empirischen Realismus zurück. Oder er [181]beruft sich, um den Forderungen des Denkens auszuweichen, auf ein vom Vorstellen (dem Intellect) wesentlich und der Art nach verschiedenes Organ, über welches die Gesetze des logischen Vorstellens (die Normen des Intellects) keine Gewalt haben, dem sie daher auch weder zu gebieten, noch zu verbieten berechtigt sein sollen. Als ein solches wird von der einen Schule des transcendenten Realismus (Gefühlsphilosophie: Jacobi) das Gefühl, von der andern (Willensphilosophie: Schopenhauer) das Wollen bezeichnet. Jener zufolge ergreift im Gefühl der Fühlende das Wirkliche (übersinnlich Reale) unmittelbar, ohne Dazwischenkunft und folglich zwar ohne die Hilfe, aber auch ohne die Mängel des Intellects; dieser zufolge weiss das Subject, indem es sich selbst als wollendes weiss, damit zugleich das einzige wahrhaft Wirkliche, den Willen, unmittelbar, ohne Dazwischenkunft und folglich auch ohne das Trügerische der Vorstellung. Von der ersteren gilt, dass, da im Gefühl Gefühltes und Fühlen ununterscheidbar zusammenrinnt, derjenige, der blos fühlt, eben darum nicht weiss, und daher blosses Fühlen eben so wenig wie blosses „Ahnen” (Fries) Princip und Grundlage einer Wissenschaft werden kann. Von der letzteren gilt, dass, wie schon Herbart treffend bemerkt hat, unmittelbares Wissen wie seiner selbst als Wollenden, so des Wirklichen als Willen, ein Wissen, folglich die Möglichkeit zu wissen, und schliesslich, da Wissen eben nichts anderes als eine Art des Denkens d. i. wahres Denken ist, das angeblich mit Umgehung des Denkens erfolgte Ergreifen des Wirklichen, um überhaupt möglich zu sein, das Denken voraussetzt.

296. Letzterer Einwand, welcher die Möglichkeit, mit Umgehung des Denkens zu dem transcendenten Sein, dem Wirklichen selbst zu gelangen, überhaupt trifft, wird nicht widerlegt, sondern nur umgangen durch die Behauptung, dass die Natur des Wirklichen auf dem Erfahrungswege zwar nicht der gemeinen, sinnenfälligen, aber einer nicht gemeinen, mystischen Empirie erkannt d. h. dass das „speculative Resultat” die Erkenntniss des Wirklichen seinem Wesen nach, „auf inductivem Wege” d. i. an der Hand exacter Thatsachen erreicht werde. Ersteres wäre nur dann der Fall, wenn entweder der „Erfahrungsweg” das Denken aus- oder der angeblich „inductive Weg” exacte Thatsachen einschlösse. Jenes findet so wenig statt, dass vielmehr die Kritik des sogenannten empirischen Realismus eben nichts anderes betrifft als das Verbot, sich des sogenannten Erfahrungsweges ohne vorläufige Sichtung [182]nach den Normen des logischen Denkens zu bedienen, dieses aber bleibt wenigstens so lange und für alle diejenigen zweifelhaft, als und für welche die angeblichen Erscheinungen der Naturheilkraft des Hellsehens, des Instincts u. s. w. den Werth unbestrittener Erfahrungsthatsache entweder noch nicht erreicht haben, oder, was eben so möglich, ja vielleicht wahrscheinlicher ist, niemals erreichen werden.

297. Mit obiger Grenzüberschreitung ist aber auch der Punkt erreicht, wo die philosophische Wissenschaft vom Wirklichen der Erfahrungswissenschaft von demselben die Hand zu bieten vermag. Jene, die von der Erfahrung aus-, aber auf Grund in deren Inhalt gelegener Nöthigung über dieselbe hinausgeht, hat mit der letzteren, die nicht nur wie jene auf der Erfahrung fusst, sondern auch innerhalb derselben verharrt, die Aufgabe gemein, die Erfahrung begreiflich zu machen. Seitens der letzteren geschieht dies, indem sie das gesammte Wissen vom Wirklichen auf den Boden der Erfahrung zu stellen, seitens der ersteren, indem sie den Boden der Erfahrung selbst sicher zu legen unternimmt. Beide, die philosophische und die empirische Wissenschaft vom Wirklichen gleichen Arbeitern, welche von den entgegengesetzten Seiten eines Berges her, unsichtbar für einander, aber auf gemeinsamen Voraussetzungen fussend und einer gemeinsamen Methode sich bedienend, einen Tunnel durch das Innere desselben zu bohren unternehmen, in der Hoffnung, wenn ihre Voraussetzungen giltig und ihre Berechnungen richtig sind, irgendwo in der Höhlung desselben zusammenzutreffen. Jene schreitet von den allgemeinen Begriffen und Principien des Wirklichen und seines Wirkens in der Richtung gegen die erfahrungsmässig gegebenen Erscheinungen der scheinbaren Wirklichkeit nach vorwärts, diese, von der Erscheinungswelt der Erfahrung in der Richtung gegen deren allgemeinste und oberste reale und gesetzliche Voraussetzungen nach rückwärts. Wenn beider methodische Grundsätze giltig und ihre Folgerungen zutreffend sind, werden beide früher oder später irgendwo an der Grenze einerseits des Denknothwendigen, andererseits des Erfahrbaren einander begegnen müssen.

298. Einen thatsächlichen Beweis für die Richtigkeit dieser Annahme liefert die Herrschaft, welche die Atomistik einerseits als philosophische über die philosophische, andererseits als physikalische über die empirische Wissenschaft vom Wirklichen gewonnen hat. In der ersteren ist dieselbe als zugleich realistische und pluralistische [183]Grundlegung der phänomenalen Welt an die Stelle der sowol idealistischen als monistischen einstigen „Naturphilosophie”, in der letzteren ist sie, wie Fechner eben so gründlich als scharfsinnig ausgeführt hat, längst mit Recht an die Stelle der (noch von Kant begünstigten) einstigen dynamischen Naturauffassung getreten. So wenig, wie Fechner selbst zugestanden hat, die philosophische Atomenlehre mit der physikalischen identisch, so gewiss ist dieselbe mit der letzteren verträglich d. h. bietet die Existenz einer unbestimmten Vielheit einfacher wirklicher und unausgesetzt wirkender Wesen einen realen Anknüpfungspunkt dar für die Zurückführung der gesammten Phänomene der körperlichen Welt auf die Existenz unbestimmt vieler untheilbarer und daher gleichfalls „einfach” genannter, mit rastlos thätigen Kräften ausgestatteter Elemente. Dass die letzteren ihrer behaupteten Einfachheit ungeachtet von Fechner als „körperliche” bezeichnet werden, ist nur als Beleg anzusehen, dass die empirische Wissenschaft vom Wirklichen, welche innerhalb der Grenzen des sinnlich Erfahrbaren bleibt, der philosophischen, welche von Haus aus über dieselben hinaus führt, zwar stetig sich nähert, aber sie noch nicht berührt.

299. Aber nicht nur der empirischen Wissenschaft von der körperlichen, auch jener von der Bewusstseinswelt sowol des Einzel- wie des gesellschaftlichen Subjects bietet die philosophische Wissenschaft vom Wirklichen, jener in dem einfachen Wirklichen eine reale, dieser in der unbestimmten Menge realer Bewusstseinsträger eine reale und pluralistische Grundlage dar. Wie die unbestimmte Vielheit einfacher Wirklicher den haltbaren Boden für den aus einer eben so unbestimmten Vielheit atomistischer Elemente zusammengesetzten Stoff der physischen Welt, so bildet das einzelne individuelle Wirkliche den haltbaren Mittelpunkt, in welchem der aus einer unbestimmten Menge elementarer Bewusstseinsvorgänge bestehende Stoff der psychischen Welt im Phänomen der Einheit des Ich’s wie in einem Brennpunkt zusammenfliesst, und macht die Vielheit individueller Wirklichen der letztgenannten Art, deren jedes für sich ein Bewusstseinscentrum abgibt, die unentbehrliche Grundlage dessen aus, was als Vereinigung durch ein gemeinsames Band unter einander verknüpfter, bewusster oder doch bewusstseinsfähiger Individuen den Stoff der Gesellschaft und der Entwickelung derselben in den Grenzen des Raums und in der Folge der Zeit d. i. der Geschichte ausmacht. [184]

300. Letzteren, den dreifachen Stoff, den die Betrachtung der körperlichen, der Bewusstseins- und der geschichtlichen Welt liefert, aber vermag die Wissenschaft vom Wirklichen nicht der philosophischen, sondern nur der empirischen Wissenschaft von diesem zu entlehnen. Der philosophischen Wissenschaft vom Wirklichen kann es nicht beikommen, die unausgefüllte Kluft, welche zwischen den äussersten erlaubten Consequenzen des Denknothwendigen und den äussersten Grenzen des Erfahrbaren übrig bleibt, durch Conjecturen ausfüllen, oder den Uebergang von dem einen zum andern durch Einbildungen ebnen zu wollen, welche weder mehr in der Nothwendigkeit des Denkens, noch schon in der Möglichkeit der Erfahrung eine Rechtfertigung zu finden im Stande sind. Dieselbe hat zwar die Aufgabe, die Erfahrung zu befragen und, wenn deren Antwort ihr unbefriedigend, sei es der Form nach unvollkommen, sei es dem Inhalt nach unvollständig dünkt, dieselbe den Normen des Denknothwendigen gemäss der ersten nach zu berichtigen, dem zweiten nach deren Ergänzung abzuwarten, aber sie hat weder die Mittel dieselbe aus Eigenem zu ersetzen, noch, wenn sie nicht vom Taumel orphischen Hochmuths ergriffen ist, jemals die Anmassung, die Erfahrung überflüssig machen zu wollen. Indem sie sonach an die selbst aus der Erfahrung geschöpfte Eintheilung des erfahrbaren Wirklichen in ein solches, dessen Kenntniss aus der sogenannten äusseren (Physisches) ein solches, dessen Kenntniss aus der sogenannten inneren (Psychisches), und in ein solches, dessen Kenntniss aus der äussern und innern Erfahrung zugleich stammt (Sociales, Geschichtliches) sich unbedenklich anschliesst, begnügt sie sich, jedes der drei genannten Gebiete des Erfahrbaren mit dem auf Grund der Erfahrung, aber durch Hinausgehen über dieselbe als denknothwendig erkannten, wahren Wirklichen zu vermitteln und in einer an logischem Faden ungezwungen fortlaufenden Anordnung des durch die Erfahrung gebotenen Stoffs eine systematische Uebersicht des erfahrbaren Wirklichen in der Körper-, in der Geistes- und in der geschichtlichen Welt zu entwerfen. Jenes macht den Inhalt der philosophischen Betrachtung der sogenannten bewusstlosen Welt, oder des Nicht-Ich, das zweite den Inhalt der Betrachtung der bewussten Welt, des Ich, das dritte den Inhalt der Betrachtung einer gleichfalls bewussten, aber in dem Bewusstsein einer Mehrheit zur Einheit verknüpfter, bewusster Individuen d. i. einer Gesellschaft sich abspielenden Welt des socialen oder geschichtlichen Ich aus. [185]

301. Die Betrachtung des Nicht-Ich beginnt mit jener des letzten, was auf dem Wege der Erfahrung, oder vielmehr schon nur durch einen Sprung, der über die wirkliche Erfahrung hinausführt, erreichbar ist, des Atoms. Dasselbe ist nach der Ansicht der Physiker (Ampère, Moigno u. A.) zwar einfach aber doch „körperlich” (Fechner); jenes bedeutet, dass dasselbe untheilbar oder doch wenigstens für jetzt nicht weiter als getheilt angesehen sein soll, dieses, dass dasselbe nichts desto weniger als materiell d. i. dem körperlichen Stoff (Materie), dessen letzten Bestandtheil es ausmacht, als gleichartig gelten soll. Erstere Eigenschaft nähert, letztere dagegen entfernt das physikalische Atom von dem philosophischen, welches letztere zwar im strengsten Sinn des Wortes seiner Qualität nach als einfach, dessen Qualität selbst aber als schlechterdings unbekannt d. h. auch nicht, wie jene des physikalischen Atoms, etwa als materiell zu denken ist. Je nachdem empirische Naturbetrachtung von der Ansicht ausgeht, dass sämmtliche Atome unter einander der Qualität nach gleich, oder einige derselben ursprünglich und unveränderlich ihrer qualitativen Beschaffenheit nach von jener der anderen verschieden sind, scheidet sich dieselbe in eine rein quantitative und in eine ganz oder doch zum Theile qualitative Atomistik, deren erstere nicht nur alle Verschiedenheiten der Körper, sondern auch sämmtliche Erscheinungen der körperlichen Welt aus den Verschiedenheiten rein quantitativer Beziehungen unter der Qualität nach homogenen, die letztere dagegen dieselben ganz oder doch theilweise aus der verschiedenen qualitativen Natur die Elemente der Körper, so wie die Grundlage körperlicher Erscheinungen ausmachender, unter einander heterogener Atome abzuleiten bemüht ist.

302. Die erfahrungsmässig gegebenen Verschiedenheiten der Körper d. i. der räumlich und zeitlich begrenzten zusammengehörigen Gruppen von Atomen, also die Unterschiede einerseits des belebten (organischen) oder leblosen (unorganischen) Körpers, ferner die Unterschiede der letzteren, als zusammengesetzte, die sich in weitere, der Qualität nach verschiedene Bestandtheile zerlegen, und einfache (die sogenannten einfachen Stoffe der Chemie), die sich in solche nicht weiter auflösen lassen, ferner die Unterschiede der letzteren selbst je nach ihrer qualitativen Beschaffenheit (z. B. des Sauerstoffs vom Wasserstoff, des Stickstoffs vom Kohlenstoff, des Calcium vom Magnesium u. s. w.) werden von der qualitativen Atomistik auf eine fundamentale qualitative Verschiedenheit der den Stoff der [186]Körper ausmachenden letzten Elemente zurückgeführt, so dass dieselben bei den organischen Körpern andere als bei den unorganischen und ebenso bei jedem der einfachen Körper, welche die letzten qualitativ unterschiedenen Bestandtheile der zusammengesetzten abgeben, andere als bei den übrigen seien. Dieselbe betrachtet als sogenannte biologische Atomistik jeden belebten Körper als bestehend aus gleichfalls lebendigen Atomen, den sogenannten Zellen, während der leblose Körper bis in seine letzten Elemente hinab aus gleichfalls leblosen Elementen bestehend vorgestellt wird. Als sogenannte chemische Atomistik sieht dieselbe nicht nur den zusammengesetzten Körper, z. B. das Wasser, für bestehend aus qualitativ verschiedenen und zwar aus Atomen von zweierlei Art an, davon die einen sauerstoff-, die andern wasserstoffartig und davon jene mit diesen nach einem bestimmten Verhältniss, so dass auf je zwei Atome Wasserstoff ein Atom Sauerstoff (H2O) gerechnet wird (dem sogenannten stöchiometrischen Verhältniss), unter einander verbunden sind. Wird letztere Ansicht auch auf die sogenannten organischen Körper ausgedehnt, so dass diese als zusammengesetzt aus einfachen Stoffen gedacht werden, welche unter andern Verhältnissen die Bestandtheile unorganischer Körper ausmachen z. B. aus Sauerstoff, Wasserstoff, Kohlenstoff und hauptsächlich Stickstoff, so schwindet zwar der qualitative Unterschied zwischen belebten und unbelebten Körpern, aber derjenige zwischen den einfachen Körpern bleibt bestehen d. h. die Atome des Sauerstoffs sind nach wie vor qualitativ verschieden von jenen des Wasserstoffs, die des Azots von jenen des Carbons u. s. w. Zeigen nun Körper, ungeachtet die qualitativen Bestandtheile derselben die nämlichen sind, dennoch verschiedene Eigenschaften (die sogenannte Isomerie), so werden, da diese Verschiedenheit nicht mehr aus der Verschiedenheit der qualitativen Beschaffenheit der Elemente sich erklären lässt, quantitative Verschiedenheiten der (qualitativ gleichen) Körper und zwar solche, welche entweder aus dem arithmetischen Gesichtspunkt der Menge oder aus dem geometrischen der (räumlichen) Lage der Elemente entlehnt sind, zur Erklärung herangezogen. (Wie dies z. B. bei der Weinsteinsäure, welche auf die Polarisationsebene des Lichtes eine drehende Wirkung ausübt, bei der Thatsache der Fall ist, dass eine Gattung derselben unter übrigens ganz gleichen Verhältnissen jene Ebene nach rechts, eine andere dagegen dieselbe nach links dreht. In diesem Falle wird angenommen, dass die Atome der rechtsdrehenden Weinsteinsäure [187]eine Lagerung nach rechts, jene der letzteren eine solche nach links besitzen.)

303. Das Charakteristische der quantitativen Atomistik besteht darin, dass sie diejenige Hypothese, welche die qualitative nur in Ausnahmsfällen, wie z. B. in jenem der Isomerie, zu Hilfe ruft, der gesammten Erklärung der Körperwelt als alleinige zu Grunde legt. Während dieser zufolge die Verschiedenheit der Körper in der Regel auf der qualitativen Verschiedenheit ihrer Elemente d. h. auf der Verschiedenheit ihres Stoffes und nur in einigen Fällen auf der Verschiedenheit der Zusammensetzung ihrer übrigens gleichen Elemente d. i. auf jener der Form beruht, macht jene letztere Ausnahme zur Regel d. h. betrachtet die Isomerie als eine Grund- und gemeinsame Eigenschaft aller sonst wie immer unterschiedenen Körper und leitet sämmtliche Verschiedenheiten der letztern ausschliesslich aus der Verschiedenheit ihrer Zusammensetzung aus übrigens gleichen Elementen d. i. aus der Form ab. Ihr zufolge sind daher nicht nur die Elemente des belebten nicht von jenen des unbelebten Körpers, sondern auch die Elemente irgend eines einfachen Stoffes nicht von jenen jedes beliebigen andern Stoffes verschieden. Letzteres setzt voraus, dass die gleichwol unbestreitbare Unterschiedenheit sowol der nächsten — durch die Analyse organischer Körper erreichbaren — Bestandtheile von den — durch Analyse sogenannter unorganischer Körper darstellbaren — Stoffen (z. B. des Eiweissstoffes, des Proteïns, des Caffeïns, Theïns u. dgl. von Oxygen, Hydrogen, Gold, Eisen, Platin u. s. w.) wie die gleichfalls unleugbare Unterschiedenheit der einfachen Stoffe selbst gleichwol nur eine scheinbare, der Grund derselben lediglich in der verschiedenen Art der Verbindung ursprünglich durchaus homogener Elemente zu einem Ganzen zu suchen, der sogenannte organische Körper zwar in seinen nächsten und näheren, keineswegs aber in seinen entfernten und entferntesten Bestandtheilen von den unbelebten unterschieden, so wie dass die ganze bekannte und noch zu ergänzende Reihe sogenannter einfacher d. i. weiter nicht zerlegbarer Stoffe nur als eine Reihe der Form nach unterschiedener Umbildungen eines einzigen (sei es eines der bereits bekannten Stoffe oder eines bisher unbekannten Stoffes) anzusehen sei. Erstere Behauptung, die der stofflichen Identität der lebendigen und leblosen Körper, hat in der Naturwissenschaft unserer Tage bereits weite Verbreitung gefunden; letztere Behauptung, welche auf einem weiten Umwege in exacter Weise die Ansicht der Urmutter der Chemie, [188]der Alchymie, von der Transformationsfähigkeit der verschiedenen Körper in einander erneuert, hat in der sogenannten „Philosophie der Chemie” (J. B. Dumas) ihren Platz und durch die Aufstellung der sogenannten Typentheorie und die Entdeckung der sogenannten typischen Körper, durch welche von Einigen die grosse Zahl der bisher als einfach angenommenen Stoffe bereits bis auf acht herabgemindert scheint (Ciancian), bereits eine empirische, wenigstens annähernde Bestätigung erhalten.

304. Die Aufgabe einer logischen Uebersicht des empirischen Stoffs kann es nicht sein, über die Geltung der einen oder der andern beider entgegengesetzten Formen der Atomistik, über welche nur Thatsachen zu entscheiden vermögen, einen Ausspruch zu thun. Die logische Consequenz d. i. die innere Uebereinstimmung mit der durch die philosophische Wissenschaft vom Wirklichen gelegten realen Grundlage der phänomenalen Welt hat, wie es augenscheinlich ist, die quantitative Atomistik in höherem Grade als die qualitative für sich. Ist es überhaupt richtig, dass die vielen unbedingt gesetzten einfachen Wirklichen unter einander die kleinste denkbare qualitative Verschiedenheit d. i. keine andere besitzen als diejenige, welche in deren räumlichen und zeitlichen Bestimmtheiten sich ausdrückt, so ist es nur folgerichtig, auch die Gesammtheit der letzten realen Elemente, welche zusammengenommen den Stoff der Körperwelt ausmachen, der physikalischen Atome, als einen Inbegriff qualitativ gleichartiger Elementarbestandtheile der Körper zu betrachten. Das elementare Atom, dessen Qualität eben diejenige des einzigen wirklichen Grundstoffs ist, wird sodann gleichsam die unterste Stufe einer aufsteigenden Reihe bilden, als deren einzelne Glieder nach einander die Atome der bisher sogenannten einfachen Stoffe (das Sauerstoff-Atom, das Stickstoff-Atom, das Gold-Atom u. s. w.) auftreten würden, deren jedes für sich durch eine eigenthümliche Combination, sei es von Atomen des Urstoffs, sei es von solchen, die selbst schon durch dergleichen gewonnen wären, repräsentirt würde. Die Aufstellung dieser Reihe, welche die übliche Zerlegung organischer und unorganischer Körper in deren sogenannte einfache Bestandtheile über die Grenze der bis zu diesem Augenblicke als einfach betrachteten Stoffe hinaus durch die erreichte oder doch versuchte Zerlegung dieser selbst bis zu dem schlechterdings letzten nicht blos relativ, sondern absolut einfachen Grundstoff ausdehnt, würde sodann das Ziel der Chemie als Wissenschaft ausmachen. [189]

305. Wie der quantitativen Atomistik für die stoffliche Beschaffenheit sämmtlicher Elemente der Körperwelt eine einzige Qualität, so genügt ihr für die Art und Weise des Wirkens derselben ein einziges Gesetz; die qualitative Atomistik, insofern sie eine Mehrheit qualitativ unterschiedener Classen körperlicher Bestandtheile zulässt, bedarf für die qualitativ verschiedene Art des Wirkens jeder einzelnen derselben eben so vieler specifisch verschiedener Gesetze. So lange die Elemente organischer Körper selbst als organisch, die unorganischer Körper dagegen als unorganisch gelten, kann das Gesetz, welches das Wirken der erstern, mit jenem, welches das der letzteren beherrscht, so wenig wie das Wirken jener „lebendigen” Elemente (die Lebenskraft) mit jenem der „leblosen” Elemente (der todten Naturkraft) identisch sein. Eben so wenig kann das Wirken, welches seinen Grund in der qualitativen Verwandtschaft (Affinität) der Körper hat (chemische Anziehung) das nämliche sein mit demjenigen, das auch bei völliger Nichtverwandtschaft (Disparatheit, Heterogeneität) der Körper erfolgt (mechanische Anziehung) und folglich eben so wenig das Gesetz, welches jenes (Affinitätsgesetz, Wahlverwandtschaft), identisch mit demjenigen, welches dieses regelt (Gravitationsgesetz, Schwere). Mit der Aufhebung qualitativer Verschiedenheit der Körper tritt der umgekehrte Fall ein. Das Gesetz, welches das Wirken der Elemente organischer Körper bestimmt, braucht fortan von demjenigen, von welchem das Wirken der Elemente unorganischer Körper abhängt, eben so wenig verschieden zu sein, als das Wirken, das seinen Grund in der Verwandtschaft der Körper hat, als das Wirken der ursprünglichen Elemente d. h. als dasjenige betrachtet werden kann, für welches Gleichartigkeit oder Ungleichartigkeit derselben gleichgiltig und das daher eben so wenig durch die qualitative Aehnlichkeit wie durch den qualitativen Gegensatz der Körper bedingt ist. Sind die Elemente belebter und unbelebter Körper qualitativ dieselben, so ist auch deren Wirken und folglich dessen Gesetz dasselbe; ist das Wirken in Folge der Verwandtschaft nicht dasjenige der ursprünglichen Elemente, so ist auch dessen Gesetz nicht mit dem Gesetz des Wirkens dieser letzteren, und da diese die wahren, weil letzten Elemente der Körper sind, nicht mit jenem der wahren Körperelemente identisch. Wird daher, wie die quantitative Atomistik thut, auf die in der That letzten Bestandtheile der Körperwelt, die unter einander qualitativ nicht weiter unterschiedenen Atome zurückgegangen, so muss das Gesetz, welches das Wirken dieser letzteren [190]regelt, das nämliche und einzige für das Wirken der gesammten Körperwelt sein. Die Aufstellung dieses Gesetzes, welches die Zerlegung der scheinbar unter einander grundverschiedenen Wirkungsweisen der scheinbar von einander qualitativ unterschiedenen Körper bis zur Auflösung der ersteren in die überall in gleicher Weise erfolgende Wirkungsweise der wahren d. i. in allen Körpern qualitativ identischen Elemente der Körperwelt verfolgt und dadurch die gesammte phänomenale Welt als unter der Herrschaft eines und desselben, wenn gleich nicht selten in so verwickelter Form auftretenden Gesetzes, dass es den Anschein eines neuen Gesetzes erhält, stehend erweist, müsste das Ziel der Physik als mechanischer Wissenschaft ausmachen.

306. Als dieses Gesetz sieht die moderne Naturwissenschaft das Gravitationsgesetz Newton’s an. Die philosophische Wissenschaft vom Wirklichen bestimmt, wie oben gezeigt, das Wirken der Atome als eine Function ihres räumlichen Abstandes von einander. Die empirische geht über diese Allgemeinheit des Inhalts hinaus und bestimmt letztere näher als Abnahme des Wirkens im Quadrate der Entfernung. Dieselbe bleibt jedoch keineswegs bei der Bestimmung des Wirkens seinem Quantum nach stehen, sondern schreitet zu der Erweiterung derselben seinem Quale nach fort, indem sie dasselbe in den relativ grössten Abständen der Atome von einander als Anziehung, Attraction, in den relativ kleinsten als Abstossung, Repulsion charakterisirt. Erstere bewirkt, dass die Atome auch in den relativ weitesten Abständen von einander noch zusammengehalten, letztere macht, dass dieselben in Eins zusammen zu fallen verhindert werden. In Folge der Attraction bilden sämmtliche durch dieselbe an einander geknüpfte Atome ein nicht nur in Gedanken, sondern durch ein physisches Band zusammenhängendes Ganzes; in Folge der Repulsion bilden dieselben, weil die letztere die Annäherung der Atome an einander über das Mass einer gewissen (kleinsten) Entfernung hinaus unmöglich macht, ein discretes Ganzes. Während der Raum, der philosophischen Wissenschaft vom Wirklichen zufolge, demnach stetig mit „philosophischen” Atomen d. i. im strengsten Sinne des Wortes einfachen Wirklichen erfüllt gedacht werden muss, erscheint derselbe in der empirischen Wissenschaft vom Wirklichen nur in der Weise mit „physikalischen” Atomen d. i. mit im physikalischen Sinn letzten Elementen der Körperwelt erfüllt, dass zwischen je zwei derselben leerer Raum d. h. ein Zwischenraum vorhanden ist, in dem keine weiteren [191]„physikalischen” Atome sich befinden. Dass mit der Einschiebung desselben die Schwierigkeit des Begreifens einer actio in distans d. i. eines Wirkens durch den leeren Raum hindurch wiederkehrt, pflegt, da dieselbe ja nur eine „philosophische” ist, der empirischen Physik selten Verlegenheit zu bereiten.

307. Dagegen hat sich dieselbe auf Grund der sogenannten „Imponderabilien” veranlasst gesehen, durch die Einführung eines weiteren gleichfalls körperlichen, jedoch, mit den physikalischen Atomen verglichen, relativ „unkörperlichen” Stoffs, des sogenannten „Aethers”, in die leer gelassenen Zwischenräume der physikalischen Atome, welche letzteren in demselben gleichsam, wie die Sterne am Firmament, zerstreut zu schweben, oder, wie die Fische im Wasser, in unregelmässigen Abständen zu schwimmen scheinen, der Ansicht der philosophischen Wissenschaft vom Wirklichen von dem stetigen Erfülltsein des Raumes durch einfache Wirkliche, um einen beträchtlichen Schritt näher zu kommen. Die Elemente desselben, die sogenannten Aetheratome, verhalten sich zu den physikalischen gleichsam wie Atome zweiter zu solchen erster Ordnung. Dieselben werden zwar eben so wenig wie diese ohne leere Zwischenräume, letztere selbst aber werden im Verhältniss zu diesen als „unendlich klein” und das von den Aetheratomen ausgehende Wirken wird zwar gleichfalls wie das der Körperatome als Anziehung und Abstossung, jedoch als nur in der kleinsten Entfernung wirksam vorgestellt. Jedes Körperatom erscheint wie von Aetheratomen eingehüllt, welche dasselbe in Gestalt einer Sphäre von allen Seiten umgeben und mit jenem zusammen unter der Form winziger Kügelchen, deren vergleichsweise dichten Kern das Körperatom, deren dünnere Peripherie die Aetheratome ausmachen, die reale durch den Raum discret vertheilte Grundlage der sogenannten Materie bilden.

308. Je nachdem die erfahrungsmässig gegebenen Phänomene der körperlichen Welt auf die Körperatome allein ohne Berücksichtigung des deren Zwischenräume ausfüllenden Aethers, oder auf die Aetheratome allein als Bestandtheile des die Zwischenräume der physikalischen Atome ausfüllenden Stoffs zurückgeführt werden, ergeben sich zwei Hauptclassen physischer Phänomene, deren eine das Wirken und die Zustände des im engern Sinn sogenannten körperlichen Stoffs, die andere das Wirken und die Zustände des Zwischenstoffs d. i. des Aethers umfasst. Jene begreift, je nach der Grösse der Abstände der Körperatome unter einander und der davon abhängigen Menge dieser letzteren selbst innerhalb [192]bestimmter räumlicher Grenzen (Volumen), dreierlei Gattungen von Körpern, deren eine bei einem gewissen Volumen die relativ grösste, deren dritte bei demselben Volumen die relativ kleinste Menge von Körperatomen enthält, während die zweite eine im Verhältniss zu jenem Volumen mittlere Menge von Atomen einschliesst. Folge davon ist, dass in den Körpern der ersten Gattung die Abstände der einzelnen Atome von einander relativ die kleinsten, dagegen bei Körpern der dritten Gattung relativ die grössten sein müssen, während bei den Körpern der Mittelgattung die Distanz der Atome eine mittlere ist. Die Atome von Körpern der ersten Gattung werden daher, da die anziehende Kraft je kleiner die Entfernung desto stärker wirkt, am festesten, die Atome von Körpern der dritten Gattung werden, da die Anziehung mit der Entfernung abnimmt, am lockersten unter einander zusammenhängen; die Atome der Körper der Mittelgattung werden, da die Entfernung und folglich die Anziehung eine mittlere ist, einen mittleren Grad des Zusammenhangs darstellen. Bei Körpern der ersten Art wird daher nicht nur das Verhältniss der Menge der Atome (der Masse) zu der räumlich begrenzten Grösse des Inhalts (dem Volumen) d. i. die relative Dichtigkeit die grösste, sondern auch der Widerstand, welchen dieselben der Trennung der Atome entgegensetzen, in Folge der starken Anziehung der Theile unter einander (der Cohäsion) der relativ bedeutendste, bei Körpern der dritten Art dagegen aus demselben Grunde die Dichtigkeit die geringste und der Widerstand gegen die Trennung der mindestbedeutende sein, während den Körpern der zweiten Art mit einer mittleren Dichtigkeit auch ein mittlerer Widerstand d. h. ein solcher, welcher die Trennung der Atome weder erschwert noch erleichtert, also gegen dieselbe sich gleichgiltig verhält, eigen ist. Körper der ersten Art, als deren Repräsentant die Erde angesehen wird, werden als feste, Körper der dritten Art, als deren Repräsentant die atmosphärische Luft gilt, als luft- oder gasförmige, Körper der mittleren Art, deren Typus das Wasser darstellt, werden als flüssige bezeichnet.

309. Weder die Grösse des räumlichen Volumens, noch jene der Masse, oder der Abstände der Atome von einander, absolut betrachtet, macht hiebei einen Unterschied. Das Gesetz, welches die Atome der grossen Weltkörper, der Nebelflecke und Sternhaufen zusammenhält, ist genau das nämliche, welches auch die Atome des kleinsten Bruchtheils eines festen Körpers auf der Erde an einander bindet; die Atome des Weltmeeres hängen in keiner [193]andern Weise zusammen, als jene des Wassertropfens; und die Atmosphäre, welche entfernte Weltkörper umhüllt, ja die ganze durch den Weltraum ausgebreitete, verdünnte Luftmasse zeigt mit jener der irdischen Lufthülle verglichen nur graduell verschiedene Structur. Zwischen den drei genannten Gattungen von Körpern aber herrscht dabei das Verhältniss, dass einerseits der luftförmige Körper durch Verminderung der Abstände seiner Atome unter einander zuerst, wenn dieselbe den mittleren Grad der Entfernung erreicht, in flüssigen, wenn sie denselben überschreitet, allmälig in festen Zustand übergehen d. h. sich verdichten, umgekehrt der feste Körper durch Vergrösserung jener Abstände seinerseits in flüssigen und allmälig in luftförmigen Zustand übergehen d. h. sich verdünnen kann. Je nachdem hiebei die zeitliche Aufeinanderfolge der genannten Zustände verschieden, also entweder der feste, oder der luftförmige, oder der flüssige als der (zeitlich) erste gedacht wird, aus welchem die andern sich entwickelt haben, so dass im ersten Fall aus der Verdichtung allmälig die Verdünnung, im zweiten aus der Verdünnung allmälig (durch Niederschlag) die Verdichtung, im dritten aus einer mittleren Dichtigkeit durch Verdichtung einerseits das Feste, durch Verdünnung andererseits das Luftförmige hervorgeht, gliedern sich die verschiedenen physikalischen Kosmogonien, als deren Repräsentanten schon im Alterthum erscheinen: die Atomistiker, welche das Feste (die körperlichen Atome), die jonischen Naturphilosophen Anaximenes und Diogenes von Apollonia, welche das Luftartige, und Thales, welcher das Flüssige für das der Zeit nach Erste erklärten, aus dem alles Uebrige entstanden sei.

310. In allen genannten Fällen ist die Verbindung der Atome unter einander eine mechanische, durch ein und dasselbe allgemeine Gesetz der Anziehung nach dem umgekehrten Quadrate der Entfernung beherrschte, welche so lange besteht, als dieses seine Geltung behauptet, und daher jeder willkürlichen Aufhebung, sie komme von welcher Seite immer, entzogen ist. Die zum Körper vereinten Atome erscheinen unter der Pression dieses Gesetzes selbst zu einem mehr oder minder lockern Gefüge comprimirt, also gleichsam einem von aussen kommenden Drucke unterworfen. Die Elemente der Körper selbst stellen zusammengenommen einen durch Vereinigung (Association) entstandenen räumlich begrenzten Haufen, eine Menge gemengter (nicht gemischter) Bestandtheile dar, deren jeder undurchdrungen von dem andern und undurchdringlich für die [194]andern für sich und zugleich im Verbande mit den andern als Glied eines physischen Ganzen besteht. Auf qualitative Verschiedenheit der zum Ganzen des Körpers verbundenen Theile konnte bisher schon aus dem Grunde keine Rücksicht genommen werden, weil die quantitative Atomistik eine solche bei den ursprünglichen Elementen der Körperwelt, den primitiven Körperatomen, nicht kennt. Soll daher dennoch von qualitativ unterschiedenen Elementen der Körper die Rede sein, so können diese nicht selbst primitiv, sondern sie müssen aus der allerdings primären Verbindung primitiver Atome gleichsam als Atome höherer Ordnung entstanden sein. Von dieser Art wären, wenn die Ansicht der quantitativen Atomistik die richtige und die darauf fussende Behauptung der „philosophischen” Chemie, dass alle scheinbar heterogenen Stoffe Umbildungen eines Grundstoffs seien, giltig sein sollte, die bisher sogenannten einfachen Stoffe d. i. Körper wie Sauerstoff, Wasserstoff, Kohlenstoff u. s. w. aufzufassen, deren jeder demzufolge aus Atomen bestehend gedacht würde, welche selbst eine eigenartige Gruppirung der primitiven Atome in sich schlössen. Das sogenannte Sauerstoffatom wäre sonach zwar im Verhältniss zu dem sogenannten Kohlenstoffatom, keineswegs aber im Verhältniss zu den primitiven Atomen als wirklich atom d. i. als theillos zu bezeichnen, da dasselbe zwar eben so wenig aus weiteren Sauerstoffatomen wie das Kohlenstoffatom aus weiteren Kohlenstoffatomen, keineswegs aber, wie es im Begriff des primitiven Atoms liegt, überhaupt nicht aus weiteren Atomen bestehend gedacht wird. Wie das primitive einfaches, so wäre demnach das Sauerstoffatom zusammengesetztes d. i. aus zu einem Ganzen verbundenen primitiven Atomen bestehendes Atom (Molecul) und der (feste, flüssige oder luftförmige) Körper, bei dessen Zusammensetzung die qualitative Beschaffenheit seiner Bestandtheile in Frage kommt, ist sonach als ein in seinen nächsten Bestandtheilen nicht aus einfachen, sondern aus zusammengesetzten Atomen bestehender anzusehen.

311. Wie die Verbindung der Atome im mechanisch zusammengesetzten Körper eine mechanische, so ist sie in dem chemisch zusammengesetzten Körper, derselbe bestehe nun aus einander homogenen oder heterogenen Elementen, eine chemische, auf der Anziehung derselben in Folge ihrer qualitativen Verwandtschaft (Affinität) beruhende. Dieselben stehen wie die Bestandtheile des mechanischen Körpers unter der Herrschaft eines allgemeinen Gesetzes, nur dass dieselbe nicht sowol, wie dort, einem von aussen [195]ausgeübten Drucke, als vielmehr einem von innen aus der Beschaffenheit der Atome stammenden Zuge sich vergleichen lässt, vermöge dessen die Atome wie Glieder einer und derselben Familie sich zu einander hingezogen, oder wie Glieder heterogener Rassen (z. B. Weisse und Farbige) sich von einander abgestossen fühlen. Wie die Verbindung blutsverwandter Familienglieder eine innigere ist als die blos gesellige Zusammenkunft einander gleichgiltiger Genossen, so ist die chemische Vereinigung qualitativ Verwandter inniger, als jene blos mechanische indifferenter Atome und wird deshalb als Verschmelzung im Gegensatz zur blossen Summation, als „Mischung” im Gegensatz zur blossen Mengung bezeichnet. Letzterer Ausdruck ist insofern ungenau, als er zu dem Irrthum verleiten kann, eine völlige „Durchdringung” der einzelnen Atome als möglich anzunehmen, während doch nur eine „Durchdringung” der sich unter einander verschmelzenden Körper (z. B. Kohlenstoff und Sauerstoff zu Kohlensäure) in der Weise stattfindet, dass mit jedem Atom des ersteren zwei Atome des letzteren sich verbinden, also ein neues Gemenge gleichsam höherer Art entsteht, dessen Atome je eine binäre Verbindung zwischen O und C darstellen, die einzelnen, sowol Kohlenstoff- als Sauerstoffatome, dagegen für einander undurchdringlich bleiben.

312. Sowol der mechanisch wie der chemisch zusammengesetzte Körper hat die Eigenschaft, dass, sobald der dessen Bestandtheile zusammenhaltende Druck oder Zug aus was immer für einem Grunde erlischt, derselbe in seine Elemente zerfallen oder sich auflösen muss. Wird statt dessen auf Grund einer im Körper selbst enthaltenen Veranlassung jene zusammenhaltende Kraft ununterbrochen erneuert, entweder indem überhaupt neuer Stoff, welchem dieselbe Anziehung, oder neuer qualitativ verwandter Stoff, welchem derselbe Zug innewohnt, von neuem herbeigeschafft wird, so entsteht im Gegensatz zu jenem aus Mangel an Erneuerung abgestorbenen leblosen (unorganischen) der belebte (organische) Körper. Die Eigenthümlichkeit, welche denselben von dem mechanischen Körper unterscheidet, besteht darin, dass der letztere, sobald die Bestandtheile desselben durch andere ersetzt werden, nicht mehr derselbe, sondern ein neuer, wenngleich dem vorigen gleicher, der organische Körper dagegen auch nach dem Ersatz derjenigen seiner Bestandtheile, deren Anziehung unter einander erloschen ist, durch andere, noch immer derselbe wie früher d. h. ein blos erneuerter ist. Die Eigenthümlichkeit, welche denselben vom chemischen Körper [196]unterscheidet, dagegen besteht darin, dass der organische Körper niemals, wie der einfache chemische homogen, sondern stets heterogen d. h. aus verschiedenen Stoffen zusammengesetzt sein muss, aber nicht, wie andere chemische Körper, aus beliebigen (z. B. Wasser aus Sauerstoff und Wasserstoff, atmosphärische Luft aus Sauerstoff und Stickstoff, Kalk aus Calcium und Sauerstoff, Kochsalz aus Chlor und Natrium), sondern jedesmal nur aus gewissen Stoffen zusammengesetzt sein darf. Folge der ersteren Eigenschaft ist, dass ein Theil des organischen Körpers, nämlich derjenige, in dem die Veranlassung liegt, dass sich der übrige Theil ohne Schädigung des Ganzen zu erneuern vermag, diesem letzteren gegenüber eine ausgezeichnete Stellung behauptet, insofern er den bleibenden, dieser dagegen den wechselnden Bestandtheil des Körpers ausmacht, jener also denjenigen, durch welchen der Körper immer derselbe bleibt, dieser denjenigen, durch welchen derselbe unaufhörlich ein anderer wird. Folge der letzteren Eigenschaft ist, dass, wo gewisse einfache chemische Körper mangeln, als welche die Erfahrung bisher Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff und hauptsächlich Kohlenstoff hervorzuheben gelehrt hat, die Entstehung organischer Körper, auch wenn alle übrigen Bedingungen und die grösste Fülle anderweitiger chemischer Körper vorhanden wäre, unmöglich ist. Finden beide Bedingungen vereinigt bei der kleinstmöglichen Anzahl körperlicher Atome Erfüllung, so entsteht der denkbar kleinste belebte Körper, das organische Atom, die sogenannte Zelle, während aus der Verbindung von solchen, sei es mit, sei es ohne Zuhilfenahme unorganischer Bestandtheile, der Zellenorganismus d. i. der — wie der mechanische Körper aus mechanisch verbundenen mechanischen, wie der chemische Körper aus chemisch verbundenen chemischen, so aus organisch verbundenen organischen Elementen bestehende — organische Körper hervorgeht.

313. Die ausgezeichnete Stellung des beharrenden Theils gegenüber dem wechselnden im belebten Körper äussert sich nicht blos darin, dass er selbst (er sei nun ein einzelnes Atom oder eine Gruppe von solchen) während der ganzen Dauer des organischen Körpers (Lebensdauer) immer derselbe bleibt, sondern auch darin, dass in ihm die Ursache enthalten ist, um welcher willen und durch welche nicht nur stets neuer und zwar zu seiner Erhaltung passender Stoff (Leibesnahrung) herbeigeschafft, sondern auch der Neuheit des Materiales zum Trotz die ursprüngliche Form (Leibesform) im Wesentlichen unverändert erhalten wird. Derselbe stellt [197]daher gleichsam den beherrschenden Mittelpunkt („die Seele”) dar, zu welchem die Gesammtheit des übrigen den Körper jeweilig ausmachenden Stoffs sich als beherrschtes, zur Erhaltung des Ganzen verbrauchbares Material („als Leib”) verhält. Da derselbe beherrschend nur im Verhältniss zu dem von ihm Beherrschten, mit dem Aufhören der Herrschaft aber zwar Beherrschendes wie Beherrschtes nach wie vor vorhanden, aber nicht mehr als Herrscher und Beherrschtes vorhanden sind, so hört mit dem Erlöschen des organischen Bandes zwischen der „Seele” und dem „Leibe” des belebten Körpers d. i. mit dem Tode auch der bisher herrschend gewesene Bestandtheil desselben auf, Seele eines Leibes, wie der bisher beherrscht gewesene Bestandtheil desselben aufhört, Leib einer Seele zu sein; das Atom oder die Atome, welche bisher den bleibenden, so wie diejenigen, welche bisher den jeweiligen veränderlichen Bestandtheil des organischen Körpers ausgemacht haben, hören jedoch dadurch keineswegs auf, als Atome d. i. zwar aus ihrer bisherigen Verbindung ausgelöst, aber fähig und bereit, neue Verbindungen einzugehen, sei es wieder als „Seele” eines Leibes (Metempsychose) oder als Leibtheil einer Seele (Palingenesie), zu existiren.

314. Je nachdem der organische Körper als am Orte haftend, oder mit der Fähigkeit begabt, denselben beliebig zu wechseln, so wie, je nachdem derselbe als sich oder anderes vorstellend oder überhaupt nicht als vorstellend gedacht wird, wird derselbe im ersten Falle, da die Erfahrung an der sogenannten Pflanze weder freie Bewegung, noch Zeichen vorstellender Thätigkeit aufweist, als pflanzenartiger, im zweiten Fall, da die Erfahrung am sogenannten Thiere zwar freie Beweglichkeit, aber (wenigstens bei den niedersten Thiergattungen) keine Spur von vorstellender Thätigkeit zeigt, als thierartiger, im dritten Fall, wenn sich nicht nur die Fähigkeit, anderes, sondern (wie schon bei den höheren Thiergattungen) sogar die Fähigkeit äussert, bis zu einem gewissen Grade sich selbst vorzustellen, da die Erfahrung letztere Eigenschaft (die Vorstellung des Ich) hauptsächlich am Menschen kennt, als menschenähnlicher bezeichnet werden. Mit dem Erwachen des Ich d. i. derjenigen Vorstellung, durch welche der belebte Körper andere, sei es belebte oder leblose Körper, von sich unterscheidet d. h. als Anderes als er selbst, als Nicht-Ich sich gegenüberstellt und dadurch sich zu diesem und dieses zu sich in ein Verhältniss bringt, welches je nach dem Mass seiner im Vergleich zu der Kraft jenes Andern und nach der Beschaffenheit seiner Bedürfnisse im Vergleich [198]zu den Bedürfnissen jenes Andern zu einem überlegenen oder unterliegenden, zu einem freundlichen oder feindseligen, zu friedlichem Genuss oder zum Kampfe ums Dasein werden kann, ist das Reich des Bewusstlosen, des Nicht-Ich, abgeschlossen.

315. Wie die Atome, so üben auch die Körper eine Wirksamkeit auf einander aus, welche je nach der Beschaffenheit derselben entweder mechanischer, chemischer oder organischer Art ist. Erstere äussert sich als Schwere, indem ein Körper den andern vermöge seiner überlegenen Masse, die zweite als Wahlverwandtschaft, indem ein Körper den andern vermöge seiner innigeren Verwandtschaft, die dritte als Geschlechtsneigung, indem ein Körper den andern in Folge des geschlechtlichen Gegensatzes an sich zieht. Wie durch die erstere eine Ablenkung des angezogenen Körpers, wenn derselbe bewegt ist, von seiner ursprünglichen Richtung, wenn er unbewegt ist, eine Annäherung an den Ort des anziehenden Körpers, in beiden Fällen jedoch, wenn kein anderweitiges Hinderniss, z. B. die widerstrebende Eigenbewegung des angezogenen Körpers, dazwischen tritt, eine Vereinigung des angezogenen mit dem anziehenden und dadurch eine Vergrösserung der Masse des letzteren herbeigeführt wird, so wird durch die zweite eine Auflösung der bisherigen Verbindung des angezogenen Körpers und die Entstehung einer neuen Verbindung durch die Verschmelzung desselben mit dem anziehenden veranlasst, auf dem dritten Wege aber durch die organische Vereinigung zweier geschlechtlich entgegengesetzten belebten Körper ein neues organisches Individuum auf Kosten und aus dem Stoffe der Zeugenden erzeugt. Jene, die mechanische Anziehung associirt bisher getrennte Körper zu einem neuen, welcher dieselben in sich begreift; die zweite trennt nicht zusammengehörige Körper, die vereinigt, und führt zusammengehörige zusammen, die getrennt waren; die dritte leitet aus bisher vereinzelt gestandenen organischen Individuen durch Zusammenschluss derselben ein neues, in keinem derselben für sich allein, aber in beiden zusammengenommen wol- und vollbegründetes Individuum ab. Das Wirken der ersten wie der zweiten Art bringt als producirende Thätigkeit zwar nicht dem Stoff, aber der Form nach neue Körper, die letztgenannte als reproducirende weder dem Stoff, noch der Form nach neue, sondern denjenigen, aus welchen sie entstanden sind, gleiche Körper d. h. sie bringt das in der Zeugung untergegangene in einem neuen Individuum wieder hervor. Während durch die erstere, die schaffende („die Phantasie der physischen Welt”) Thätigkeit der [199]gegebene Stoff in vorher nicht gegebener Gestalt umgebildet, wird durch die letztere, die fortpflanzende („das Gedächtniss der Materie”) Thätigkeit die Spur des einmal vorhanden Gewesenen in allem Folgenden mehr oder minder getreu aufbewahrt und dessen Andenken durch dasselbe erneuert. Auf ersterem Wege bilden sich aus dem im Weltraum gleichmässig vertheilten Stoffe durch locale Verdichtung frei schwebende, sogenannte „kosmische Wolken”, durch Anhäufung desselben um einen dichtern Kern sogenannte „Nebelflecke” und „schweifende Kometen”; wachsen durch Vereinigung kleinerer Weltkörper allmälig jene im Weltraum zerstreuten Massenkugeln heran, die andern als Central- und, wie es das Niederstürzen von Sternschnuppen und Meteorsteinen auf deren Oberfläche beweist, zum Sammelpunkte dienen. Auf dem zweiten Wege bildet sich jener wirthschaftliche Haushalt in der Natur, durch welchen die von den pflanzlichen Organismen aufgenommene Kohlensäure im Inneren derselben zersetzt, der Kohlenstoff zurückbehalten und der Sauerstoff durch die Lungen der Pflanze, die Blätter, ausgeathmet, von den thierischen Organismen dagegen eingeathmet und in den Lungen zur Oxydirung des Blutes verwendet wird. Auf dem letztgenannten Wege endlich werden wenigstens in den höheren pflanzlichen und thierischen Gattungen die unzähligen Nachkommen gezeugt, während auf den niederen Stufen der vegetabilischen Organismen die Fortpflanzung durch Keimzellen (Sporen) und Sprossen, bei den animalischen durch Theilung und Zerfällung der ursprünglich zu einem einzigen vereinigt gewesenen in mehrere selbstständige Individuen die Stelle der sexualen Generation vertritt.

316. Wie die Atome, so sind die Körper in verschiedenen regelmässigen oder unregelmässigen Abständen durch den Weltraum ausgestreut, so dass einzelne derselben unter einander, wie die Atome zu Körpern, so die Körper zu Systemen und weiter diese selbst wieder zu ihrerseits unter sich zu einem Ganzen verknüpften Aggregaten von Systemen gehören, während andere keinem in sich geschlossenen Körperverband einverleibt, sei es aus dem Gebiet eines in das eines anderen Körpersystems hinüberstreifen, theils frei durch den Weltraum irren. Zu den ersteren gehören die Systeme einzelner Centralkörper mit ihren in ihren Bewegungen von ihnen abhängigen Begleitern, welche ihrerseits wieder von solchen begleitet sein können. Dieselben bilden im Weltmeer des mit Körpern erfüllten Raumes gleichsam „Weltinseln” und können ihrerseits mit anderen ihresgleichen zu einem „Inselmeer” d. i. zu einem Archipelagos [200]von Weltsystemen vereinigt sein. Ein solches bildet allem Anschein nach der selbst um einen, sei es idealen, sei es realen (nach Mädler Alpha Herculis) Mittelpunkt gravitirende Weltring der sogenannten Milchstrasse, von welchem unser Sonnensystem mit seiner Centralsonne, seinen Planeten und Planetoiden, deren Trabanten und Ringen, sowie mit den theils gleichfalls ringförmig angeordneten, theils zerstreut rotirenden Asteroiden, Sternschnuppen und Meteormassen einen Bestandtheil ausmacht. Der Inbegriff sämmtlicher Weltkörper bildet das sichtbare Universum, das mechanisch durch das Gesetz der Gravitation beherrscht und chemisch, wie die Spectralanalyse gezeigt hat, durchgängig aus solchen Stoffen zusammengesetzt ist, welche auch auf oder innerhalb der Erde vorkommen. Flüssige und luftartige Bildungen (Meere und Atmosphären) sind auch auf von der Erde verschiedenen Weltkörpern beobachtet, dagegen Spuren organischen Lebens bisher nur auf dieser wahrgenommen worden, daher von vegetabilischen und animalischen, so wie von menschenähnlichen Bewohnern erfahrungsgemäß bisher nur auf dieser die Rede sein kann.

317. Sowol die Zwischenräume zwischen den Welt-, so wie jene zwischen den festen und flüssigen Körpern auf der Erde sind von luftartigen Körpern (auf der Erde von einem aus Sauerstoff und Stickstoff, so wie einigem Ozon bestehenden Luftkörper, der sogenannten atmosphärischen Luft) ausgefüllt, deren Gegenwart auch in den scheinbar leeren Theilen des Weltraums durch die Widerstände, welche bewegte Weltkörper mittels derselben erlitten haben (z. B. durch die allmälige Verengung der Bahn des Enke’schen Kometen), erwiesen ist. Die Zwischenräume der physikalischen Atome werden, wie oben bemerkt, durch Atome des sogenannten Weltäthers erfüllt gedacht, auf dessen Zustände diejenigen Phänomene, welche sonst je specifisch verschiedenen sogenannten „unwägbaren” Stoffen (Imponderabilien), z. B. die Lichterscheinungen einem Lichtstoff, die magnetischen einem magnetischen Fluidum u. s. w. zugeschrieben wurden, nunmehr als auf deren gemeinsamen Träger zurückgeführt zu werden pflegen. Dieselben zerfallen in solche, bei welchen die qualitative Beschaffenheit der Körperatome gleichgültig, und solche für welche dieselbe bestimmend ist. Zu den ersteren gehören die Licht- und Wärmeerscheinungen, die sich deshalb (wenngleich in unzähligen Graden der Abstufung) zwischen und in allen Körpern des Weltalls vorfinden; zu den letzteren lassen sich die sogenannten, magnetischen und elektrischen Erscheinungen zählen, deren erstere [201]an die Gegenwart eines bestimmten chemischen Stoffs (des Eisens), deren letztere an die Gegenwart und gegenseitige Berührung mindestens zweier qualitativ heterogener Stoffe (z. B. Zink und Kupfer) gebunden ist. Der Zustand des Aethers selbst wird als kleinste periodische Bewegung der Aetheratome (Schwingung) in verschiedener Menge und Richtung vorgestellt, wobei der Unterschied stattfindet, dass diejenigen, welche als Träger des Lichtphänomens angesehen werden, an der Oberfläche der Körper (mit Ausnahme der durchsichtigen oder durchscheinenden) stattfinden und diese daher im Inneren dunkel erscheinen, während diejenigen, welche die Träger des Wärmephänomens sind, auch im Inneren der Körper statthaben, diese daher je nach dem Grade derselben innerlich erhitzt oder erkältet erscheinen. Bei den magnetischen und elektrischen Erscheinungen lässt sich die Betheiligung des Aethers in der Weise verschieden denken, dass derselbe in dem Körper, welcher den erforderlichen Stoff, das Eisen enthält, an zwei entgegengesetzten Enden, den Polen, angehäuft erscheint, wobei die Erfahrung zeigt, dass gleichnamige Pole einander abstossen, während bei den elektrischen Erscheinungen an den zu ihrer Entstehung erforderlichen heterogenen Körpern der Aether an zwei einander der Richtung nach entgegengesetzten Enden (+ und -) sich anhäuft, wobei die Erfahrung zeigt, dass entgegengesetzte Pole sich anziehen. Inwieweit bei den elektrischen Strömen, von welchen Muskelcontractionen begleitet zu werden pflegen, sowie bei den Erscheinungen des sogenannten thierischen Magnetismus und der thierischen Elektricität eben so wie bei jenen der sogenannten animalischen Wärme die Betheiligung des Aethers eine Rolle übernehme, muss um so mehr dahingestellt bleiben, als mit Ausnahme der elektrischen Muskelströme und der thierischen Wärme die übrigen sogenannten Thatsachen noch allzu sehr der empirischen Bestätigung bedürfen. Insofern jene dem Weltäther zugeschriebenen Phänomene, mit den auf die physikalischen Atome zurückgeführten Erscheinungen verglichen, dem der groben Masse der letzteren gegenüber verfeinerten Charakter ihrer materiellen Grundlage entsprechend selbst einen gleichsam „vergeistigten” Stempel tragen, sind sie es, welche durch ihre Gegensätze der Helligkeit und der Finsterniss, der Hitze und der Kälte, der magnetischen und elektrischen Spannung und Lösung der Physiognomie der physischen Körperwelt ein an die wechselnden Stimmungsgegensätze des menschlichen Gemüthes mahnendes Gepräge aufdrücken und daher als Bilder und Gleichnisse für die letzteren mit [202]Vorliebe pflegen verwendet zu werden. Steigern sich dieselben so weit, dass sie namhafte Veränderungen in der Welt der physischen Körper verursachen, die Lichterscheinung als Brand, die Wärmeerscheinung als Explosion oder Eruption, der Magnetismus als magnetisches, der elektrische Strom als atmosphärisches Ungewitter auftritt, so nimmt deren Wesen eine an die plötzliche, aber auch vorübergehende Natur der von unwillkürlichen Körperbewegungen begleiteten Gemüthserschütterungen, der sogenannten Affecte, an und liefert für diese („flammender Zorn”, „leidenschaftlicher Ausbruch”) das treffendste Gleichniss.

318. Wie dem denknothwendigen das durch die Erfahrung gegebene Wirkliche, so steht dem denknothwendigen das empirisch gegebene Wirken gegenüber. Die Vorstellung des letzteren unterliegt um so mehr logischen Schwierigkeiten, als weder der Begriff eines Wirkens durch den leeren Raum, wie er durch die discrete Vertheilung der Atome im Raume gefordert ist, noch der Begriff eines Dinges, welches eins und zugleich der Träger vielfach sich ändernden Wirkens, noch endlich jener der Veränderung d. h. eines Dinges, welches anders geworden und doch dasselbe geblieben sein soll, und jener der unter den letztgenannten fallenden Bewegung als Ortsveränderung ohne schwerwiegende kritische Bedenken bleibt. Erstgenannter ficht durch die Einsicht in die Unmöglichkeit, dass von dem angeblich Einfachen Theile sich loslösen und durch einen Sprung über das Leere hinüber einem andern eben so Einfachen einverleibt werden könnten, streng genommen die Möglichkeit so wol der Anziehung wie der Abstossung und damit die Basis des physischen Zusammenhangs unter den Elementen der Körperwelt an. Die Einheit des Dinges, während dessen Wirken ein vielartiges sein soll, ruft den Widerspruch, wie Eins = Vielem gedacht werden könne, die Identität des Dinges, nachdem es ein anderes geworden, ruft den Widerspruch, wie Eines und dasselbe zugleich nicht dasselbe sein könne, wider sich hervor und nöthigt, dem ersteren durch die Annahme, dass das Wirken eines Dinges das Product nicht eines einzigen Atoms, sondern des Zusammenseins einer Gruppe mehrerer Atome sei und demnach, wenn die Bestandtheile dieser Gruppe verschiedene seien, sehr wol ein Verschiedenes nicht nur sein könne, sondern sein müsse, dem zweiten dagegen durch die Bemerkung zu begegnen, dass, weil jedes sogenannte „Ding” nur eine Gruppe von Atomen, also ein Ganzes sei, dasselbe durch das Ausscheiden einzelner und Eintreten anderer, während der Rest [203]derselbe geblieben ist, sehr wol eine Veränderung erlitten und doch (in Bezug auf obigen Rest) seine Identität aufrecht erhalten haben könne. Bezüglich der Bewegung als Ortsveränderung aber gilt, dass dieselbe nur dann einen Widerspruch einschliesse, wenn dieselbe in dem Sinn verstanden wird, dass das Bewegliche im selben Zeitpunkt an einem und demselben Orte befindlich und nicht befindlich, keineswegs aber, wenn dieselbe so aufgefasst wird, dass das Bewegliche in jedem stetig auf einander folgenden Zeitpunkt in einem anderen Orte befindlich sei. Dieselbe setzt daher eben so nothwendig die Zeit als den Raum voraus und wird durch das Verhältniss des in einem gewissen Zeitabschnitt zurückgelegten Raumes d. i. durch die Geschwindigkeit gemessen.

319. Das in der Zeit vor sich gehende erfahrungsmässig gegebene Geschehen, die Veränderung des Zustandes der Körperwelt, ist eine dreifache, und zwar tritt dasselbe, je nachdem entweder nur der Ort des Körpers, wobei dessen Form sowol als Stoff dieselben bleiben, oder nur die Form des Körpers, während der Stoff unberührt bleibt, oder schliesslich auch dieser eine Veränderung erleidet, als Orts-, Form- oder Stoffwechsel auf. In ersterer Hinsicht kann die Bewegung der Richtung nach entweder eine fortschreitende, wie bei dem Stoss und Wurf, oder eine in sich zurückkehrende, wie bei den rotirenden Weltkörpern und den Blutkörperchen im Blutkreislauf, oder eine zugleich fortschreitende und in sich zurückkehrende Bewegung, wie bei dem um die Erde sich drehenden und zugleich mit dieser um die Sonne bewegten Monde sein. Der Qualität nach kann dieselbe entweder eine in gleichen Zeitabschnitten auf gleiche Weise sich wiederholende (gleichförmige) oder in gleichen Zeiträumen abnehmende (retardirende) oder zunehmende (accelerirende) Bewegung, in ersterer Hinsicht überdies entweder eine am selben Ort sich gleichförmig wiederholende (schwingende), oder dabei zugleich im Raume fortschreitende, entweder nach der nämlichen, oder abwechselnd nach entgegengesetzten Richtungen von der Fortschrittslinie gleichförmig ausschlagende Bewegung sein: jene ergibt die periodische Bogen-, diese die Wellenbewegung. Hinsichtlich des Formenwechsels findet beim mechanischen und chemischen Körper ein Uebergang des festen in den flüssigen und luftartigen Zustand, oder des flüssigen in den festen und luftförmigen, oder des letztgenannten in den festen und flüssigen statt, während beim organischen die sogenannte Transformationslehre (Darwinismus) im Gegensatz gegen die Theorie von der Constanz der Arten und Gattungen [204]es mehr als wahrscheinlich gemacht hat, dass nicht nur in der vegetabilischen Natur die Arten und Gattungen der Organismen durch allmälige Umbildung einer oder weniger ursprünglichen Pflanzentypen („Urpflanze”, „Metamorphose der Pflanze”: Goethe), sondern auch in der animalischen Welt die Arten und Gattungen des Thierreichs durch allmälige Umbildung eines oder einiger ursprünglicher Thiertypen („Bathybios”, „Gastraea”: Haeckel), sei es auf dem Wege immanenter Teleologie (Goethe), sei es auf dem natürlicher Zuchtwahl (Darwin), oder unwillkürlicher, reflexartiger Nachahmung („Mimicry”: Wallace) in einander übergehen. Was den Stoffwechsel betrifft, so hat die Erfahrung bis heute zwar die Vermuthung, dass der unorganische chemische Stoff nur eine Umbildung des primitiven mechanischen Stoffs sei, durch die chemische Typentheorie wahrscheinlich zu machen, für die Behauptung aber, dass der organische Stoff nur eine Umbildung des unorganischen, der belebte Naturkörper aus leblosen, etwa durch Urzeugung (generatio æquivoca), entstanden sei, eben so wenig einen jeden Zweifel ausschliessenden Beweis durch Thatsachen zu führen vermocht, wie für die weitere, dass das „Phänomen der Empfindung”, durch welches der (anderes und sich selbst) vorstellende Organismus sich von dem nicht vorstellenden, obgleich ebenfalls organischen Körper unterscheidet, nichts anderes als eine Umbildung des derselben entsprechenden „Nervenreizes” und demnach als psychischer oder Bewusstseinsvorgang von diesem als physiologischem d. i. Nervenzustand, eben so wenig wie dieser als organischer Vorgang von den unorganischen Vorgängen der mechanisch-chemischen Körper dem Wesen nach verschieden sei. Insbesondere was die letztgenannte von den positivistischen und materialistischen Gegnern einer weder mit Biologie noch mit Phrenologie und Physiologie identischen Psychologie immer von neuem wiederholte, aber niemals bewiesene Versicherung betrifft, haben ausgezeichnete Physiologen (Ludwig, Fick) ein offenes: ignoramus, einer der ausgezeichnetsten (Dubois-Reymond) sogar ein eben solches: ignorabimus ausgesprochen.

320. Wie die Gesammtheit der im Weltraum vertheilten (unorganischen und der auf einem oder dem andern derselben anzutreffenden organischen) Körper in ihrer gegenseitigen physischen Zusammengehörigkeit mit und in ihrer Abhängigkeit von einander, so weit dieselben unserer Erfahrung zugänglich sind, das physische Weltall, den Kosmos, so macht die Gesammtheit des in und zwischen denselben in der Zeit vor sich gehenden Geschehens, deren periodischer [205]und nichtperiodischer Orts-, Formen- und Stoffwechsel von der unmessbaren, primitiven Oscillation des Aethers bis zu den Umläufen der Weltkörper und dem schwankenden Gleichgewicht einander äquilibrirender Weltsysteme, von der Zerlegung des Wassertropfens durch den elektrischen Funken in seine Elemente bis zu den ein System von Weltkörpern erleuchtenden und erwärmenden Verbrennungsprocessen gasförmiger Centralsonnen, von der molecularen Anziehung und Abstossung primitiver Stofftheile bis zu den verwickelten mechanisch-chemischen Processen, welche die Erscheinung des Lebens und das Erwachen des Bewusstseins bedingen, herauf, so weit dasselbe unserer Erfahrung zugänglich ist, die Naturgeschichte der physischen Welt, die Geschichte des Weltalls aus. [206]

[Inhalt]

ZWEITES CAPITEL.

Das Ich.

321. Wie die Erfahrung lehrt, dass es physische d. h. mechanische, chemische und organische, so lehrt sie auch, dass es psychische d. h. dass es Phänomene des Empfindens und Vorstellens, des Fühlens, Begehrens und Wollens gibt, aber sie lehrt keineswegs, weder dass physische und psychische Vorgänge identisch, noch dass sie nicht identisch seien. Was die Erfahrung als äussere an der Hand der sinnlichen Beobachtung und des durch künstliche Werkzeuge verschärften Experiments über die Phänomene des als vorstellend bezeichneten belebten Organismus zu erreichen vermag, ist (wenigstens bis zur Stunde) noch niemals Empfindung (psychischer Zustand) gewesen, sondern jedesmal, wenn auch noch so sehr verfeinerter physischer Zustand (eine Bewegung, ein Nervenreiz, ein Zersetzungsvorgang) geblieben. Was die Erfahrung als innere an der Hand der Beobachtung seiner selbst und Anderer und des, so weit die Natur der Sache es erlaubt, künstlich angestellten Versuchs blosszulegen vermochte, war noch nicht physischer (Bewegung, Reiz, chemischer Process), sondern ausschliesslich immer wieder psychischer Vorgang (elementare Sinnes- oder Muskelempfindung, elementares Lust- oder Schmerzgefühl, elementares Streben oder Verabscheuen). Sowol die Behauptung, dass Bewegung (ein extensiver Zustand) Empfindung, wie jene, dass Empfindung (ein intensiver Zustand) Bewegung sei, ist jede für sich ein unerlaubter Schritt auf Grund angeblicher über die Grenze gegebener Erfahrung hinaus auf ein Gebiet, wo nicht die (nicht vorhandene) Thatsache, sondern allein die aus Thatsachen gezogene denknothwendige Folgerung zu entscheiden vermag. [207]

322. Es ist nicht die Verschiedenheit beider Classen von Erscheinungen dem äusseren Anschein nach, welche bestritten wird, eben so wenig als die Gegner der Verschiedenheit organischer und unorganischer Körper den anscheinenden Unterschied beider zu leugnen gewillt sind. Aber in dem einen wie in dem andern Fall geht die Tendenz dahin, die allerdings anscheinende Verschiedenheit als eine blos scheinbare darzulegen und so wie die organischen und unorganischen Körper, auch physische und psychische Phänomene dem Wesen nach als identisch hinzustellen. Insoweit dieses Bemühen sich auf das angebliche wissenschaftliche Bedürfniss stützt, in der Gesammtheit der erfahrungsmässig gegebenen Erscheinungen Einheitlichkeit nachzuweisen, würde dasselbe, wenn die letztere Einheit in der Mannigfaltigkeit d. i. Harmonie wäre, mehr ein ästhetisches, also der strengen Naturwissenschaft fremdes, als ein direct wissenschaftliches Bedürfniss, wenn dieselbe aber vielmehr Einerleiheit (langweilige Monotonie, abwechselungslose Einförmigkeit), wie es wahrscheinlicher ist, bedeuten sollte, im Grunde gar kein Bedürfniss befriedigen. Insofern dasselbe einerseits die Verschiedenheit der Phänomene d. i. des scheinbar Wirklichen, andererseits die Identität des Substrats d. i. des wahrhaft Wirklichen zur Voraussetzung hat, widerspricht dasselbe dem denknothwendigen Axiom, dass, wie der Vielheit des Scheins eine Vielheit des Seins, so der qualitativen Mannigfaltigkeit des ersteren eine eben solche des letztern entsprechen müsse. Das Gleichniss Fechner’s, dass Physisches und Psychisches wie die beiden Ansichten eines Kreisbogens sich verhalten, der von der Seite des Mittelpunktes aus betrachtet concav, von jener der Peripherie aus gesehen convex erscheint, ohne dadurch aufzuhören, ein und dasselbe zu sein, kann wol blenden, aber nicht beweisen. Denn eben dieses Herausgehen nach der entgegengesetzten Seite, um das Object von dieser aus ins Auge zu fassen, ist bei dem Verhältniss zwischen Physischem und Psychischem aus dem Grunde unmöglich, weil der Umkreis des Psychischen d. i. der Bewusstseinsphänomene, zu welchen auch die Sinnesempfindung und sinnliche Wahrnehmung gehört, auch von demjenigen Beobachter, der sich wie der Naturforscher auf die Seite des Physischen stellt, in keiner Weise überschritten werden kann. Von dem, worin der Physiker das Wesen des optischen oder des akustischen Phänomens erblickt, von der Oscillation der Aethertheilchen oder den Luftwellen ist in demjenigen, was der Psychologe als das Wesen der Gesichts- oder Gehörsempfindung ansieht, in der [208]qualitativen Farbe oder dem eben solchen Ton, nichts Gleichartiges anzutreffen, noch lässt sich die Anzahl von mehr als vierhundert Billionen Schwingungen mit der Empfindung des Blauen oder jene von 32 Schallwellen in der Secunde mit jener des tiefsten hörbaren C-Tones der Orgel vergleichen. Physische und psychische Erscheinungen, als Phänomene betrachtet, sind nicht blos scheinbar, sondern wahrhaft verschieden und, was ihre qualitative Natur, allerdings nicht, was deren quantitatives Mass betrifft, schlechterdings unvergleichbar.

323. Dennoch wäre es voreilig, wie der qualitative Dualismus thut, aus der Verschiedenheit beider Classen von Erscheinungen auf eine qualitative Verschiedenheit ihrer beziehungsweisen Substrate d. i. da das scheinbar Wirkliche auf wahrhaft Wirkliches deutet, auf eine zwiespältige qualitative Beschaffenheit des Wirklichen zu schliessen. Die Folgerung, dass, wenn die Erscheinung verschiedenartig sei, auch das Wesen des derselben zu Grunde liegenden Wirklichen ein verschiedenartiges sein müsse, hat nur dann Gewalt, wenn sie dazu gebraucht wird, um darzuthun, dass das in diesem Falle zu Grunde liegende Wirkliche nicht ein einziges, sondern ein multiplum von Wirklichen sein, den verschiedenen Erscheinungen demnach nicht ein und dasselbe, sondern bald diese, bald eine andere Gruppe von mehreren Wirklichen zu Grunde liegen müsse. Keineswegs aber folgt daraus, dass jene Wirklichen selbst nicht blos numerisch, sondern ihrer inneren Beschaffenheit nach unter einander verschieden sein d. h. dass sie etwa verschiedenen Classen von Wirklichen angehören müssten, so lange nicht erwiesen ist, dass die blosse Verschiedenheit äusserer Beschaffenheiten, wie Zahl, Lage, Gruppirung der Atome, nicht hinreiche, verschiedenartigen Schein in der Erscheinungswelt hervorzubringen. Da letzterer Erweis, wie das Beispiel der quantitativen Atomistik lehrt, keineswegs erbracht, im Gegentheil durch diese einleuchtend gemacht worden ist, wie unter Voraussetzung durchgängig gleicher Beschaffenheit der Atome lediglich durch verschiedene Zahl und räumliche Anordnung derselben verschiedene, ja anscheinend ganz entgegengesetzte Phänomene (wie z. B. das nach rechts und das nach links Drehen der Polarisationsebene) sich erklären lassen, so steht von dieser Seite, wie es scheint, nichts im Wege, auch physische und psychische Phänomene auf qualitativ gleichartiges Wirkliches zurückzuführen.

324. Letzteres würde nur dann undenkbar sein, wenn die Qualität eines, mehrerer, oder aller zum erklärenden Phänomen [209]einer-, und jene des denselben zu Grunde zu legenden Wirklichen andererseits einander in der Weise widersprächen, dass die durch die Erfahrung gewährleistete Thatsächlichkeit des oder der einen durch die (aus was immer für einem Grunde) behauptete Beschaffenheit des andern geradezu ausgeschlossen wird. Dieser Fall würde eintreten, wenn zum Beispiel unter den thatsächlichen psychischen Erscheinungen eine solche sich vorfände, die ihrer Natur nach nur innerhalb eines einzigen und zwar eines seiner Qualität nach streng einfachen Wirklichen vor sich gehen kann, während dagegen von anderer Seite behauptet würde, nicht nur, dass alles, was überhaupt als Substrat einer Erscheinung solle angesehen werden können, eine Verbindung mehrerer Wirklicher, eine Gruppe von solchen sein müsse, sondern auch, insofern dasselbe als Träger einer Erscheinung gelten soll, seiner Qualität nach zusammengesetzt sein müsse. In diesem Fall würde entweder die Thatsächlichkeit jenes Phänomens verleugnet, oder, wenn dies dem Zeugniss der Erfahrung gegenüber als unausführbar sich herausstellt, angenommen werden müssen, dass dasselbe, obgleich wirklich, doch ohne wirkliches Substrat, gleichsam in der Luft schwebe.

325. Obiger Fall tritt ein bei dem Phänomen der sogenannten Einheit des Bewusstseins, der Theorie der sogenannten „Psychologie ohne Seele” und der Psychologie des sogenannten „Materialismus” gegenüber. Jene geht davon aus, dass die Natur des Phänomens der Einheit des Bewusstseins mit der Qualität des ihrer Ansicht nach ausschliesslich wahrhaft Wirklichen unverträglich und daher, da dessen Wirklichkeit nicht bestritten werden könne, dasselbe thatsächlich ohne reales Substrat sei. Letztere räumt ein, nicht nur dass obiges Phänomen thatsächlich, sondern auch, dass kein irgendwie wirklich vorhandenes Phänomen ohne irgendwie beschaffenes Wirkliches als Substrat desselben denkbar, behauptet aber, dass die Natur obiger Erscheinung auch mit der Annahme eines aus Theilen bestehenden Substrates verträglich sei. Die Widerlegung der ersteren müsste darauf ausgehen darzuthun, nicht nur, dass dasjenige Substrat, welches die „Psychologie ohne Seele” für das ausschliesslich Wirkliche, weil ausschliesslich mögliche ausgibt, weder das einzig Wirkliche, noch überhaupt ohne Selbstwiderspruch ein mögliches sei, sondern auch, dass eine als wirklich zugestandene Erscheinung weder ohne ein Wirkliches als Substrat, noch überhaupt ohne Substrat gedacht werden könne. Die Widerlegung der letzteren müsste dahin gerichtet sein, zu erweisen, dass der Versuch, [210]die Natur obigen als thatsächlich anerkannten Phänomens mit der materiellen d. i. aus Theilen bestehenden Natur seines Substrats als verträglich darzustellen, illusorisch, und daher die einzige Möglichkeit, dessen Thatsächlichkeit begreiflich zu finden, in der Annahme eines „atomistischen” d. i. theillosen Trägers für dasselbe gelegen sei.

320. Den Beweis zu führen, dass das wahrhaft Wirkliche seiner Qualität nach einfach d. i. nicht aus Theilen bestehend, dass sonach dasjenige Wirkliche, welches die „Psychologie ohne Seele” nicht nur, obgleich dasselbe, sondern wol gar, weil es zusammengesetzter Natur (materiell) ist, für das wahrhaft Wirkliche hält, weder ein solches sei noch sein könne, sondern blos den Schein eines solchen enthalte, hat im Obigen bereits der philosophische Realismus durch seine von der Erfahrung aus-, aber aus denknothwendigen Gründen über dieselbe hinaus gehende Wissenschaft vom Wirklichen übernommen. Derselbe hat aber auch zugleich dargethan, und in diesem Punkt steht, wie aus dem Vorigen sich ergibt, selbst die „Psychologie des Materialismus” ihm als Bundesgenossin zur Seite, dass auch der Schein eines Wirklichen, wenn er ein wirklicher d. i. thatsächlicher ist, nicht ohne ein Wirkliches als dessen Substrat gedacht werden könne und daher die Annahme der „Psychologie ohne Seele”, dass der von ihr als thatsächlich anerkannte Schein der Einheit des Bewusstseins ohne ein solches, also buchstäblich ein Luftphantom sei, auf einer argen Selbsttäuschung beruhe.

327. Zum Beweise für die andere d. i. für diejenige Behauptung, welche den thatsächlichen Schein der Einheit des Bewusstseins mit der aus Theilen bestehenden Natur des Trägers derselben für vereinbar hält, haben sich deren Vertheidiger, die Psychologen des Materialismus, auf ein ihrer Meinung nach zutreffendes Beispiel aus der exacten Naturwissenschaft, auf die in der Mechanik der Zusammensetzung der Kräfte fundamentale Thatsache der Resultante berufen. Dieselbe stellt in der That ein Wirkliches dar, welches als solches nur durch das Zusammenwirken anderer Wirklichen, der sogenannten Componenten zu Stande kommt, zugleich aber auch ein solches, das mit der Wirklichkeit dieser letzteren verglichen nur ein scheinbares ist d. h. nur den Schein selbstständiger Wirklichkeit hat, während die eigentlich Wirklichen, weil die eigentlich Wirkenden, die Componenten sind. Werden die letzteren, also ein Vielfaches, als das Substrat der Resultirenden, welche als solche ein Einfaches ist, vorgestellt, so scheint obige Thatsache anschaulich [211]zu machen, wie die zusammengesetzte Natur der Grundlage eines Phänomens die einheitliche, ja sogar einfache Beschaffenheit des letztern nicht ausschliesse, und sonach auch die Möglichkeit, dass das seiner Natur nach einfache Phänomen der Einheit des Bewusstseins in einem zusammengesetzten, aus einer Mehrheit von Theilen bestehenden Substrate vor sich gehe, plausibel zu machen.

328. Trifft obiges Gleichniss zu, so beweist es nichts; beweist es aber etwas, so beweist es das Gegentheil von dem, was nach dem Wunsche seiner Urheber dadurch bewiesen werden soll. Die Beweiskraft desselben hängt davon ab, dass dasjenige, was unter dem Namen der Resultirenden mit dem Phänomen der Einheit des Bewusstseins verglichen wird, wirklich im Sinn der Mechanik eine solche sei. Aber schon Lotze hat bemerkt, dass dieser sogenannten Resultanten das wichtigste Merkmal einer solchen, nämlich nichts geringeres fehle als der gemeinschaftliche Angriffspunkt, der ihr mit ihren Componenten gemeinsam sein muss. Die Resultirende ohne einen solchen wäre wie Schiller’s Glocke, welcher, wie Schlegel witzig bemerkt hat, der Schwengel fehlt. Ist aber die Resultante eine wirkliche Resultirende d. h. hat sie mit ihren Componenten den Punkt des Angriffs wirklich gemein, dann stellt dieser Punkt eben dasjenige dar, was für das Phänomen der Einheit des Bewusstseins der atomistische Träger desselben darstellen soll d. h. obiges Gleichniss beweist, statt gegen, im Gegentheil für die Unentbehrlichkeit eines einfachen Wirklichen als Substrat des Phänomens der Einheit des Bewusstseins.

329. Aus der Thatsache der Einheit des Bewusstseins folgt, dass es Phänomene gibt, welche als Substrats nur eines einzigen theillosen und untheilbaren Wirklichen bedürfen und daher mit allen denjenigen Phänomenen, welche zu ihrer realen Unterlage ein Aggregat von solchen d. i. (im physikalischen Sinne) einen (mehr oder weniger verfeinerten oder vergröberten) Körper voraussetzen, qualitativ schlechterdings unvergleichbar sind. Umgekehrt wird es erlaubt sein, anzunehmen, dass alle diejenigen Phänomene, welche mit letzteren unvergleichbar, ihrerseits dagegen mit dem Phänomen der Einheit des Selbstbewusstseins insofern vergleichbar seien, als sie ebenso wie dieses jedes irgendwie zusammengesetzte Substrat ausschliessen und im Gegensatz zu den mit diesem unvergleichbaren Erscheinungen einen atomistischen Träger als reale Unterlage bedingen. Da nun das Phänomen der Einheit des Bewusstseins ein psychisches ist, alle diejenigen Phänomene aber, welche als ihr [212]Substrat eine materielle Grundlage erfordern, als physische bezeichnet werden, so folgt, dass alle mit letzteren unvergleichbaren Phänomene (wie Vorstellen, Fühlen, Streben und Wollen) als psychische dem Phänomen der Einheit des Bewusstseins gleichartig sein und daher ebenso wie dieses an einem theillosen Träger haften werden. Wird dabei vorzugsweise die Eigenthümlichkeit ins Auge gefasst, dass jedes zusammengesetzte d. h. aus Theilen bestehende Substrat ein Aussereinander der Orte dieser letzteren d. h. eine räumliche Ausdehnung (extensum) erheischt, während das einfache theillose Wirkliche eine solche ausschliesst und nur den einfachen Ort (mathematischen Punkt) eines einfachen Wirklichen (eines dynamischen Punkts oder einer punktuellen Kraft; „Monade”, „Dynamide”) ausfüllt, so können die physischen Phänomene auch extensive und müssen die psychischen sodann im Gegensatz dazu intensive genannt werden. Jene schliessen die Ausdehnung und damit die Räumlichkeit ein, diese dagegen zwar die Ausdehnung, keineswegs aber die Räumlichkeit aus; jene erfolgen als Vorgänge innerhalb eines räumlich ausgedehnten Substrats selbst in räumlich ausgedehnter Weise (Bewegung als Ortsveränderung, Anziehung, Schwingung u. s. w.), diese erfolgen als Vorgänge innerhalb eines zwar an einem Orte im Raume befindlichen (also nicht raumlosen oder unräumlichen), aber nur einen einfachen (ausdehnungslosen) Ort im Raume einnehmenden (also selbst ausdehnungslosen) Wirklichen zwar im Raume, können aber selbst eben so wenig wie das Wirkliche, dessen Vorgänge sie sind, räumlich ausgedehnt sein (Empfindung als Intensitätsveränderung, Hemmungsgefühl, Streben u. s. w.). Wie der Inbegriff der extensiven Phänomene die Grundlage der Physik, so bildet jener der intensiven die Grundlage der Psychik oder Psychologie; jener umfasst alle materiellen d. h. an einem materiellen Substrat haftenden und durch die Wechselwirkung zwischen den Elementen der Materie, den physikalischen Atomen, hervorgebrachten, dieser dagegen alle an einem atomistischen Substrat haftenden und aus der Wechselwirkung der elementaren Vorgänge innerhalb desselben entspringenden Erscheinungen.

330. Da das einzige atomistische Substrat erfahrungsmässig gegebener Erscheinungen dasjenige ist, welches auf Grund des thatsächlichen Phänomens der Einheit des Bewusstseins als Träger nicht nur dieses, sondern sämmtlicher ihm gleichartiger Phänomene vorausgesetzt wird, so folgt, dass wie es voreilig schien, aus der qualitativen Verschiedenheit der physischen und psychischen Erscheinungen [213]auf qualitativ verschiedene Beschaffenheit ihrer beziehungsweisen Substrate zu schliessen, es eben so voreilig wäre, aus den erfahrungsmässig gegebenen Zuständen eines atomistischen Wirklichen auf das Vorhandensein gleicher oder doch ähnlicher Zustände im Innern anderer oder gar aller atomistischen Wirklichen zu schliessen. Aus der denknothwendigen Folgerung, dass, was immer in einem atomistischen Wirklichen vor sich gehe, nur intensive und insofern den erfahrungsgemäss gegebenen Vorgängen des Vorstellens, Fühlens und Strebens ähnliche Zustände sein können, folgt keineswegs, dass, weil dergleichen in demjenigen Atome, welches als Träger des Phänomens der Einheit des Bewusstseins gilt, durch die Erfahrung gegeben sind, ähnliche auch in allen übrigen einfachen Wirklichen, also z. B. auch in denjenigen, welche als letzte reale Grundlage der physikalischen Materie angesehen werden, gegeben sein müssten oder thatsächlich seien. Jene einfachen Wirklichen, welche auf Grund thatsächlich erfahrener intensiver Zustände d. i. erfahrungsmässig gegebener psychischer Phänomene (selbst erlebter oder an Anderen beobachteter Vorstellungen, Gefühle, Begehrungen und Willensentschliessungen) als deren unentbehrliche atomistische Träger denknothwendig vorausgesetzt werden müssen, mögen als solche „Seelen” d. h. reale Atome heissen, deren eigenthümliches Wirken in der gegebenen Erfahrung unter der Form des Vorstellens, Fühlens, Strebens und anderer aus diesen letzteren abgeleiteten Zustände erscheint, deren specifische Qualität aber eben so wie jene aller übrigen einfachen Wirklichen, welche den Boden des erfahrungsmässig gegebenen Scheins der Wirklichkeit ausmachen, der Erkenntniss entzogen bleibt. Wie die Farbe, der Klang, die Härte oder Weichheit, ja wie die Körperlichkeit selbst nicht das Wesen des Wirklichen, sondern die Form ausmacht, unter welcher dasselbe für die äussere Erfahrung, so stellt die vorstellende, fühlende, strebende Thätigkeit, ja die Seelenhaftigkeit selbst diejenige Gestalt dar, unter welcher das Innere des Wirklichen für die innere Erfahrung erscheint; was das Wirkliche selbst, von der Erfahrung, äusserer wie innerer, abgesehen, an sich seiner Natur nach sei, bleibt hier wie dort unbekannt.

331. Wie aus der einfachen Qualität des atomistischen Wirklichen, welches als Träger der erfahrungsmässig gegebenen psychischen Zustände vorausgesetzt werden muss, dessen Unveränderlichkeit, so folgt aus der Vielheit und Mannigfaltigkeit der zugleich und nach einander durch die Erfahrung gegebenen psychischen [214]Zustände, als deren Träger es gilt, dessen Veränderlichkeit. Während der ersteren zufolge die Qualität desselben und dadurch das Wirkliche immer dasselbe bleibt d. h. als dasjenige Selbst, das es ist, sich erhält, scheint es der letzteren zufolge nicht nur im nämlichen Zeitaugenblick mehreres und verschiedenes zugleich, sondern in auf einander folgenden Zeitmomenten jeweilig ein anderes zu sein. Da jener Schein der Vielheit und Mannigfaltigkeit nicht entstehen könnte, wenn in der Einheit und Einfachheit des Wirklichen nicht dessen Anlage gegeben wäre, so entsteht die Frage, wie sich die letztere mit der ersteren, die Einheit und Einfachheit des Wirklichen mit der Vielheit und Mannigfaltigkeit des Scheines im Wirklichen, also die Annahme, dass viele und vielerlei Zustände im Wirklichen zugleich oder nach einander gegeben seien, mit der denknothwendigen Voraussetzung seiner Einheit und Einfachheit vertrage. Die Beantwortung derselben wird zwar erleichtert, aber nicht überflüssig gemacht durch die Bemerkung, dass diese mehreren zugleich gegebenen Zustände vorübergehende, also nicht etwa bleibende Eigenschaften des einfachen Wirklichen, sogenannte dauernde „Seelenvermögen” oder Seelenkräfte sein sollen, welche schon Herbart treffend der alten Psychologie gegenüber als „mythologische Wesen” bezeichnet hat; die Schwierigkeit besteht fort, wenn auch nur in einem einzigen Zeitmoment eine Vielheit unter einander verschiedener Zustände in dem einfachen Wirklichen als zugleich vorhanden vorgestellt und dasselbe dadurch gleichsam in vieles gespalten gedacht werden soll.

332. Ein Blick auf die gegebene Erfahrung lehrt, dass dies thatsächlich der Fall sei. Qualitativ verschiedene Empfindungen, wie die einer bestimmten Farbe, eines bestimmten Wohlgeruchs u. s. w. sind in der sinnlichen Wahrnehmung der Rose dem Bewusstsein gleichzeitig gegeben und müssen sonach in dem realen atomistischen Träger desselben als gleichzeitig vorhandene, aber qualitativ unterschiedene Zustände angesehen werden. Dasselbe soll daher nicht blos wirklich, sondern es soll als einfache Qualität zugleich in so vielen verschiedenen Qualitäten wirklich sein, als qualitativ verschiedene Zustände in demselben als zugleich vorhanden gedacht werden sollen. Wie die qualitative Atomistik die Gesammtheit der körperlichen Erscheinungen auf eine Anzahl einfacher qualitativ unter einander verschiedener Stoffe zurückführt, so leitet eine derselben entsprechende empirische Psychologie die Gesammtheit der psychischen Erscheinungen von einer Anzahl einfacher, qualitativ [215]verschiedener Elementarzustände ab, als dergleichen sie die sinnlichen Empfindungen, wie sie durch die verschiedenen Sinnesorgane gegeben sind (Gesichts-, Gehörs-, Geruchs-, Geschmacks- und Tastempfindungen, ferner die Temperatur-, die Muskelempfindungen etc.) betrachtet. Werden die letztern als wirklich einfach und zugleich als unter einander specifisch verschieden angesehen, so muss obige Schwierigkeit, wie in dem qualitativ einfachen Träger qualitativ verschiedene Zustände zugleich gegenwärtig sein können, in ganzer Schärfe hervortreten.

333. Um dieselbe zu heben, hat Herbart den Ausweg der sogenannten „zufälligen Ansichten” ergriffen. Indem das Reale a, dessen einfache Qualität α sein soll, mit dem Realen b, dessen Qualität durch β ausgedrückt werden soll, der Qualität nach verglichen wird, zeigt sich, dass jede der beiden Qualitäten Bestandtheile enthalte, die sich unter einander wie plus und minus verhalten und daher, wenn die beiden Realen zusammengedacht werden, sich unter einander aufheben müssen. Da jedoch die einfache Qualität, als einfach, keine Theile enthalten, also auch keine solchen, die sich, mit einer andern Qualität verglichen, wie plus und minus verhalten, in sich schliessen kann, so stellt jene Auffassung derselben in Gedanken, laut welcher dieselbe nicht nur Theile, sondern einer andern Qualität entgegengesetzte Theile umfassen soll, nicht den wahren Inhalt der Qualität, sondern blos eine zufällige Ansicht derselben dar, kraft welcher gewisse Bestandtheile der Qualität des Realen in ihrem Zusammen mit andern aufgehoben werden sollten, aber nicht können, die Qualität zwar verändert werden sollte, aber nicht kann, weil jene aufzuhebenden Theile eben keine Theile, sondern nur in der zufälligen Ansicht der Qualität als solche angedichtet sind. Diese durch das Zusammen eines Realen mit anderen Realen demselben in Folge des gegensätzlichen Verhaltens seiner Qualität zu deren Qualitäten, von dem dieselben zusammenfassenden Denken zugemutheten, aber da jede einfache Qualität unveränderlich ist, niemals wirklich eintretenden Störungen sind es, welche Herbart „Selbsterhaltungen” des Realen genannt und als die einzige mit der strengen Einfachheit der Qualität desselben verträgliche Art des wirklichen Geschehens, den erfahrungsmässig gegebenen psychischen Vorgängen als metaphysische Grundlage untergebreitet hat. Dieselben sollen je nach der Qualität desjenigen Realen, welches mit dem gegebenen, um dessen Zustand es sich handelt, in einer zufälligen Ansicht zusammengefasst wird, selbst qualitativ verschieden [216](z. B. einmal eine Gesichts-, das andere Mal eine Gehörsempfindung u. dgl.), nichts desto weniger aber die Qualität des Realen, dessen Zustände sie sind, qualitativ immer dieselbe und ungespalten sein. Sie sollen ferner wirklich und doch als Störungen der Qualität des Realen, die zwar eintreten sollten, aber, weil sonst letztere und damit das Reale selbst aufgehoben würde, niemals eintreten können, zwar zugemuthete, aber niemals wirklich gewordene, also im Grunde blosse Forderungen sein, die an das Reale um seines Zusammen mit anderen willen vom zusammenfassenden Denken gestellt, aber von jenem niemals erfüllt werden. Ob Zustände der Art überhaupt das Recht gewähren, dieselben als wirkliches Geschehen und zugleich als den einzigen Anknüpfungspunkt zu bezeichnen, welchen das streng einfache Reale für die erfahrungsmässig gegebene vielfache Mannigfaltigkeit psychischer Phänomene zu bieten vermöge, ist von der Seite der Erfahrungspsychologie eben so vielfach bestritten, als von der Seite der Schule ohne durchschlagenden Erfolg vielfach vertheidigt worden. Angriff und Abwehr gehen von der Alternative aus, dass entweder das wirkliche Geschehen im Realen nicht wirklich, oder die Qualität des Realen nicht einfach sein könne. Jenes, weil Einfachheit der Qualität die Wirklichkeit qualitativer Verschiedenheit des Geschehens, dieses, weil die qualitative Verschiedenheit des Geschehens die Einfachheit der Qualität ausschliesse.

334. Allerdings nur, weil und so lange das wirkliche Geschehen als qualitativ wirklich verschieden gedacht wird. Findet das Gegentheil statt d. h. wird das wirkliche Geschehen als qualitativ nicht verschieden d. h. seiner Qualität nach unter einander homogen und der Qualität des Wirklichen, dessen Geschehen es ausmacht, entsprechend vorgestellt, so entfällt der nicht abzustreitende Widerspruch zwischen der Qualität des Wirklichen, die einfach, und jener des Geschehens, die mannigfaltig sein soll, und damit auch der Grund, welcher die Wirklichkeit qualitativ verschiedenen Geschehens mit der Einfachheit der Qualität des Wirklichen selbst unverträglich zu machen droht. Nicht die Vielheit des Wirkens, sondern die gleichzeitige Vielartigkeit des Wirkens widerspricht der qualitativ einfachen Natur des Wirklichen; letztere schliesst nicht aus, dass das einfache Wirkliche zu anderen einfachen Wirklichen gleichzeitig anders sich verhält, wol aber schliesst sie aus, dass sich dasselbe zu jedem der andern als ein Anderes verhält.

335. Wie in der Physik die quantitative Atomistik der qualitativen, an Stelle der qualitativ verschiedenen qualitativ gleichartige [217]Atome entgegensetzt, so führt dieselbe in der Psychologie, den qualitativ unterschiedenen psychischen Elementarzuständen gegenüber, qualitativ ununterschiedene primitive psychische Vorgänge in die Betrachtung ein. Jene geht von der Voraussetzung aus, dass die sogenannten einfachen Stoffe in der Chemie, diese glaubt sich zu der Annahme berechtigt, dass die sogenannten einfachen Empfindungen im Bewusstsein nicht die ursprünglichen primitiven, sondern, die einen wie die andern, aus weiteren, wahrhaft letzten Elementen und zwar jene aus unter sich gleichartigen primitiven Körper-, diese aus gleichfalls unter einander homogenen primitiven Bewusstseinselementen zusammengesetzt seien. Wie die quantitative Atomistik in der Körperwelt, so strebt sie in der Bewusstseinswelt die qualitativen auf blos quantitative Unterschiede zurückzuführen; wie in der Chemie das Sauerstoffatom als eine Gruppe primitiver Atome und dadurch als verschieden vom Kohlenstoffatom, als einer anders geformten Gruppe derselben primitiven Atome, so geht sie darauf aus, in der Psychologie z. B. die Empfindung des Blauen als eine Gruppe primitiver Bewusstseinselemente und dadurch als verschieden von der Empfindung des Rothen, als einer anders geformten Gruppe derselben primitiven Bewusstseinselemente, hinzustellen. Das qualitativ specifische Atom (z. B. das Kohlenstoffatom) ist ihrer Auffassung zufolge eine räumlich, die qualitativ specifische Empfindung (z. B. die Empfindung des Roth oder die Empfindung des Tones C) eine zeitlich geordnete Gruppe, jene von neben-, beziehungsweise ausser einander im Raume gelagerten primitiven Atomen (etwa in Gestalt eines Würfels oder einer Kugel), diese von nach, beziehungsweise auf einander folgenden primitiven Bewusstseinsacten (etwa Billionen derselben für die Empfindung des Roth, 32 derselben für den Ton des tiefen C).

336. Wie diese Ansicht in der Physik durch die Entdeckung der typischen Körper und die chemische Typentheorie, so hat dieselbe in der Psychologie durch die Entdeckung von Helmholtz, dass unsere vermeintlich einfachen Tonempfindungen zusammengesetzter Natur seien, eine Bestärkung erhalten. Jene hat es wahrscheinlich gemacht, dass die bis jetzt für einfach gehaltenen chemischen Stoffe sich in weitere zerlegen lassen und deren Analysen schliesslich zu der Annahme eines Grundstoffs führen werden; diese lässt die Vermuthung zu, dass, wie die Ton-, so auch die Empfindungen anderer Sinnesorgane sich als zusammengesetzt und schliesslich als quantitative Combinationen einer und derselben Grundempfindung erweisen [218]werden. Mehr als jene Wahrscheinlichkeit und diese Vermuthung auszusprechen, lässt weder der gegenwärtige Stand der äussern noch jener der innern Erfahrung zu, obgleich nicht geleugnet werden kann, dass die quantitative Atomistik, wie sie der Erfahrung über die Körperwelt sich am bequemsten anschmiegt, so auch einer consequenten Betrachtung der Bewusstseinswelt Vortheile in Aussicht stellt.

337. Einer und zwar nicht der geringste besteht darin, dass durch die Zurückführung der vermeintlich specifisch verschiedenen elementaren Bewusstseinsvorgänge auf ursprünglich gleichartige die schwer empfundene Unvergleichbarkeit physischer Vorgänge, wie es die Nervenreize, und psychischer, wie es die unmittelbar durch dieselben ausgelösten und auf dieselben bezüglichen Empfindungen sind, auf das geringste denkbare Mass herabgesetzt wird. Werden, wie längst in der physischen, so nun auch in der psychischen Welt die Verschiedenheiten sämmtlicher Phänomene auf rein quantitative Bestimmungen zurückgeführt, so steht nichts im Wege, die quantitativen Bestimmungen der physischen jenen der correspondirenden psychischen Vorgänge als gleich oder doch (wie das Weber-Fechner’sche Gesetz in einem einzelnen Falle versucht hat) als irgendwie proportional zu denken und dadurch die Unvergleichbarkeit beider auf die allerdings durch nichts zu beseitigende Unvergleichbarkeit des ursprünglichen physischen (der als solcher ein extensiver) und des gleichfalls ursprünglichen psychischen Vorgangs (der als solcher ein intensiver ist) zu beschränken. Stellt der Gehirn- oder Nervenvorgang, welcher die nächste Voraussetzung der Empfindung bildet, in der Reihe der sich stufenförmig über einander erhebenden physischen Vorgänge des mechanischen, chemischen und organischen Geschehens das oberste, so stellt die unmittelbar, obgleich unvergleichbar an jene sich anschliessende, primitive Empfindung in der Reihe der sich stufenweise über einander erhebenden Formen des psychischen Geschehens das unterste oder Anfangsglied dar, aus welchem, wie dort aus der Wechselwirkung der kleinsten Körpertheilchen (physikalische Atome, Molecüle) alle höheren physischen, so durch Umbildung und Wechselwirkung alle höheren psychischen Bildungen sich entwickeln.

338. Für die primitive Empfindung d. i. für den dem elementaren Vorgang im Nervenreiz entsprechenden elementaren Vorgang im Bewusstsein hat Lotze den Ausdruck „ictus” geprägt. Derselbe macht anschaulich, dass die Wirkung eines kleinsten extensiven [219]Vorgangs, z. B. einer einzelnen Aetherschwingung, ein kleinster intensiver Vorgang, die einer solchen entsprechende und daher im Innern so oft sich wiederholende Empfindung sein kann, als der sie veranlassende physische Vorgang, die Aetherschwingung, im äussern sich wiederholt. Wie die Empfindung selbst von der veranlassenden Schwingung, so hängt die Zahl der sich wiederholenden gleichen Empfindungen von der Zahl sich wiederholender gleicher Schwingungen ab, und wie durch die letztere in den Augen des Physikers der specifische Charakter des physischen Phänomens (z. B. durch die Zahl von 745 Billionen Schwingungen in der Secunde jener des rothen Lichtes), so erscheint durch die Zahl der sich wiederholenden primitiven Empfindungen der specifische Charakter des psychischen Phänomens (in obigem Fall der Empfindung des Rothen) in den Augen des Psychologen gegeben. Die Zahl der Schwingungen innerhalb einer bestimmten Zeiteinheit drückt für den Physiker das Quale, die Grösse der Schwingung (amplitude) die dynamische Intensität des Physischen (z. B. der Farbe) aus; eben so stellt in den Augen des Psychologen die Zahl der innerhalb derselben Zeiteinheit sich wiederholenden primitiven Empfindungen das Quale, die Stärke des einzelnen ictus durch ihr multiplum die dynamische Intensität des psychischen Phänomens (z. B. der Gesichtsempfindung des Rothen) dar. Die quantitative Bestimmung dort (das Vielfache der Schwingungen) und die quantitative Bestimmung hier (das Vielfache der primitiven Empfindungen) lassen, vorausgesetzt dass die Zeiteinheit dieselbe sei (z. B. die Secunde), der Unvergleichbarkeit der beiderseitigen Quales (der Schwingung einer- und des ictus anderseits) ungeachtet, eine Vergleichung der beiderseitigen Quanta zu und gestatten die eine durch die andre zu messen.

339. Dieselbe Voraussetzung macht es aber auch möglich, nicht nur das Verhältniss der primitiven Empfindungen selbst, sondern auch das aller aus denselben abgeleiteten psychischen Phänomene, ähnlich wie das Verhalten der körperlichen Elemente und aller daraus abgeleiteten physischen Phänomene, mit Rücksicht auf die in denselben enthaltenen quantitativen Bestimmungen und deren Relationen zu einander einer mathematischen Behandlung zu unterwerfen. Wie die Atome der Körperwelt sich als Kräfte betrachten lassen, die im Verhältniss ihrer Stärke anziehend oder abstossend auf einander wirken, so lassen die primitiven Empfindungen mit Rücksicht auf den Grad ihnen eigener Intensität als Kräfte sich ansehen, welche sich unter Voraussetzung gleichartiger Richtung [220]verstärken, unter Voraussetzung entgegengesetzter ganz oder theilweise hemmen werden. Die exacte Naturwissenschaft trachtet die gesammten Erscheinungen der körperlichen Welt, auch die verwickeltesten, die sogenannten Lebenserscheinungen, nicht ausgeschlossen, in ihrem letzten Grunde auf Annäherungen und Entfernungen der kleinsten Theilchen der körperlichen Masse (der Molecüle und physikalischen Atome) nach statischen und mechanischen Gesetzen zurückzuführen; eine exacte Psychologie wird das gleiche Ziel, die Reduction der gesammten Bewusstseinserscheinungen auf gegenseitige Verstärkung oder Hemmung der primitiven Bewusstseinserscheinungen („Bewusstseins-Atome”) nach statischen und mechanischen Gesetzen vor Augen haben.

340. Wie die Gesammtheit der physikalischen Atome den Stoff der Körper-, so bildet die Gesammtheit primitiver Bewusstseinsvorgänge den Stoff der Welt des individuellen Bewusstseins. Wie jene erfahrungsgemäss eine begrenzte d. h. so weit reichende ist, als nach unserer Erfahrung das physische Band reicht, welches als Gravitation die Elemente der Materie zusammenhält, so ist die Menge des psychischen Materiales erfahrungsgemäss für jedes individuelle Bewusstsein eine begrenzte, deren Beginn mit dem Zeitpunkt des erwachenden (Geburt), deren Ende mit jenem des erlöschenden Bewusstseins (Tod) des Individuums zusammenfällt. Jene wie diese stellt ein Stoffquantum dar, das sich weder vermehren noch vermindern lässt, dessen Form jedoch im Laufe der Zeit, und zwar die des physischen Stoffs während der Dauer des sichtbaren Universums, die des primitiven Bewusstseinsmaterials während der Dauer des psychischen Individuums, Aenderungen in ununterbrochener Folge erfahren kann und, wie die Erfahrung, die äussere durch Beobachtung der Entwickelungsgeschichte des Weltalls, die innere durch Beobachtung der Processe im Bewusstsein des Individuums, zeigt, thatsächlich erfährt. So wenig jemals dem Begriff unbedingten Gesetztseins entsprechend das Denken ein Sein d. h. Realität hervorzubringen vermag, so wenig vermag der atomistische Träger des Bewusstseins auch nur eine einzige primitive Empfindung aus sich selbst d. i. ohne durch anderes Wirkliche gegebene Veranlassung zu erzeugen. So gewiss das Wirkliche als unbedingt Gesetztes durch das Denken zwar als solches anerkannt, aber nicht aufgehoben zu werden vermag, so gewiss kann ein einmal stattgehabtes wirkliches Geschehen (eine primitive Empfindung im Bewusstsein) durch Verleugnung von Seite des Wirklichen, in [221]dem es geschehen ist, zwar verdunkelt, aber niemals ungeschehen gemacht werden.

341. Wie die Totalität des körperlichen Stoffs und aller daraus näher oder entfernter sich entwickelnden Erscheinungen den Inhalt des räumlich und zeitlich ausgedehnten Weltalls, so bildet die Gesammtheit des Bewusstseinsmaterials und aller näher oder entfernter daraus abgeleiteten Bewusstseinsphänomene den Inhalt des nicht räumlich, wol aber zeitlich ausgedehnten Bewusstseins. Jenes besitzt obige Eigenschaft, weil dessen Bestandtheile nicht nur ausser einander, sondern auch nach einander, dieses nur die letztere, weil dessen Bestandtheile zwar nicht blos nach einander, sondern auch mit einander, in dieser letzteren Eigenschaft aber niemals ausser einander sein können. Letzteres nicht, weil das atomistische Wirkliche, dessen Zustände sie sind, keinen Raum darbietet für eine gleichzeitige „itio in partes”. So gut die gleichzeitig existirenden Elemente des körperlichen Stoffs ihres räumlichen Aussereinander ungeachtet durch das physische Band, das sie an einander fesselt, gezwungen sind, als Theile desselben physischen Weltalls mit einander in Zusammenhang zu bleiben, so gut sind die gleichzeitig vorhandenen Elemente des individuellen Bewusstseins durch die atomistische Beschaffenheit ihres gemeinsamen Trägers gezwungen, als Theile desselben Bewusstseins unter einander in realen Zusammenhang zu treten. So wenig ein Weltkörper, durch das Band der Schwere gehalten, aus dem sichtbaren Universum und seinem Verband mit anderen Weltkörpern sich entfernen, so wenig kann irgend ein Bestandtheil des Bewusstseins der Berührung mit den gleichzeitig mit ihm in demselben Bewusstsein vorhandenen Bestandtheilen ausweichen. Derselbe ist, wohl oder übel, gezwungen, sich mit denselben, sei es feindlich oder freundlich, in Contact zu setzen.

342. Letztere Nöthigung enthält den Grund der sogenannten Ideenassociation d. i. der Vergesellschaftung der gleichzeitig in demselben Bewusstsein vorhandenen Phänomene. Derselbe ist ein „mechanischer”, demjenigen vergleichbar, dessen Wirkung wie durch einen Druck von aussen auf mittels desselben zusammengehaltene Körper ausgeübt wird, und steht so wenig, wie dieser zu der qualitativen Beschaffenheit der Körper, zu der qualitativen Beschaffenheit der associirten Phänomene in Beziehung. Nicht der Umstand, dass sie dem Inhalt nach ähnlich oder unähnlich, sondern allein die Thatsache, dass sie gleichzeitig Bestandtheile desselben Bewusstseins [222]sind, knüpft die Erscheinungen an einander und dehnt ihre Wirksamkeit nachhaltig auch auf solche Bestandtheile des Bewusstseins aus, welche nicht ganz, sondern nur theilweise mit den eben im Bewusstsein anwesenden Erscheinungen gleichzeitig sind. Letzteres macht erklärlich, warum in demselben Bewusstsein auf einander folgende Erscheinungen, vorausgesetzt dass dieselben schon einzutreten angefangen haben, bevor die gegenwärtigen gänzlich geschwunden sind, sich mit den letzteren gleichfalls und, wenn obige Voraussetzung sich erfüllt, alle einander succedirenden Bewusstseinsphänomene sich unter einander associiren.

343. Treten daher gewisse Bewusstseinsphänomene (z. B. primitive Empfindungen) thatsächlich zugleich oder in der Weise nach einander ins Bewusstsein ein, dass die vorangehende noch fortdauert, wenn die folgende schon eintritt, so müssen sich dieselben unter einander verbinden, und zwar desto inniger, je öfter das gleichzeitige oder successive Eintreten derselben sich wiederholt. Sind nun Gründe vorhanden, welche bewirken, dass gewisse Phänomene niemals anders als gleichzeitig oder in derselben Ordnung nach einander ins Bewusstsein eintreten können, so muss diese Nöthigung, sich unter einander zu verbinden, zuletzt eine so unwiderstehliche werden, dass jene Phänomene schlechterdings nicht mehr ohne einander gedacht d. h. dass dieselben nur als ein zusammengehöriges Ganzes d. i. als Aggregat von Bewusstseinsphänomenen gedacht werden können, dessen Theile zwar eben so wenig wie die des mechanischen Körpers durch Gleichartigkeit oder Gegensatz unter einander verwandt sein müssen, aber eben so wie diese durch mechanischen Druck und Cohäsion, so durch den Zwang der Simultaneität oder Succession mit einander verbunden sind.

344. Aggregate dieser Art sind von Herbart „Complicationen” genannt worden. Das Charakteristische derselben liegt darin, dass die Beschaffenheit des Inhalts des Verbundenen gleichgiltig, der Grund der Verbindung einzig die Gleichzeitigkeit oder Aufeinanderfolge des Verknüpften ist. Daraus folgt, dass auf diesem Wege eben so gut verwandte, als gänzlich disparate Bewusstseinsphänomene zur Verbindung gelangen, und nicht nur Heterogenes, sondern selbst Widersprechendes durch die blosse Thatsache der Gleichzeitigkeit oder der Succession zu einem (im letzteren Falle sogar widerspruchsvollen) Ganzen zusammengewürfelt und durch den Zwang der Ideenassociation zusammengeschweisst werden kann. So wenig der nur mechanisch zusammengesetzte physische Körper aus qualitativ [223]gleichartigen Elementen, so wenig braucht die Complication aus solchen zu bestehen; so gewiss aber vom Standpunkt der quantitativen Atomistik aus der chemisch einfache Körper (z. B. das Sauerstoffatom), da derselbe nichts weiter als eine eigenartig geformte Gruppe primitiver physikalischer Atome ist, nichts anderes als ein blosses Aggregat sein kann, weil bei dessen Zusammensetzung die Qualität seiner Bestandtheile noch keine Rolle spielt, so gewiss kann die im Sinne der bisherigen Psychologie einfach genannte Empfindung (z. B. die Empfindung Roth oder Ton C), wenn dieselbe nichts weiter als eine eigenartige Gruppe primitiver Bewusstseinsacte (ictus) sein soll, nichts anderes sein, als eine Complication, weil bei derselben von einer Rücksicht auf qualitative Beschaffenheit ihrer primitiven Elemente keine Rede sein kann. Das Sauerstoffatom stellt in diesem Fall unter den möglichen Gruppirungen, welche physikalische Atome überhaupt einnehmen können, eine solche dar, welche thatsächlich gegeben und von der äusseren Erfahrung unter dem Namen des Sauerstoffes fixirt worden ist; eben so möchte die vermeintlich einfache Empfindung des Rothen eine Complication primitiver Bewusstseinsacte ausdrücken, welche unter den zahllosen möglichen Combinationen primitiver Bewusstseinselemente thatsächlich gegeben und von der inneren Erfahrung durch den Namen des Roth-Empfindens vor andern ihrer Gattung ausgezeichnet worden ist.

345. Qualitativ verschiedene Empfindungen der Art (Farbenempfindungen wie Roth, Blau, Grün; Tonempfindungen wie Violinton g, h; Geruchsempfindungen wie Rosengeruch, Veilchengeruch etc.), welche selbst schon Complicationen primitiver Bewusstseinsacte sind, verhalten sich zu diesen letzteren, wie sich die qualitativ verschiedenen sogenannten einfachen chemischen Stoffe (Sauerstoffatom, Kohlenstoffatom) als Gruppen ursprünglicher Molecüle zu diesen letzteren selbst verhalten. Dieselben nehmen die nach den primitiven Bewusstseinsacten nächste Stufe unter den Bildungen des Bewusstseins, wie die chemischen einfachen Stoffe die nach den physikalischen Atomen nächste Stufe unter den Körperbildungen des Naturlebens ein und können, wie diese letzteren zu „Gemengen” einfacher Stoffe (wie die atmosphärische Luft ein solches von Sauerstoff und Stickstoff darstellt), so zu neuen Complicationen, sei es gleichartiger, sei es ungleichartiger Empfindungen sich verbinden. Wie aus der Verbindung chemisch gleichartiger Atome ein homogener Körper, so entsteht aus der Verbindung [224]gleichartiger Empfindungen, z. B. durchgehends Empfindungen rothen Lichts, eine homogene, wie aus der Verbindung ungleichartiger Atome ein chemisches Stoffgemenge, so aus der Verknüpfung heterogener Empfindungen eine heterogene Complication. Complicationen dieser Art, die also eben so bereits fertige Empfindungen, wie diese letzteren primitive Bewusstseinsacte zur Voraussetzung haben, sind die sogenannten Anschauungen, die als solche entweder reine d. h. aus durchaus homogenen, oder gemischte d. i. aus heterogenen Empfindungen zusammengesetzt sind. Von jener Art ist die Anschauung des Rothen, von dieser die Anschauung z. B. des Goldes. Jene entsteht dadurch, dass vermöge der flächenförmigen Ausbreitung des Sehnervs als Netzhaut auf der Oberfläche des kugelförmigen Augapfels bei der Einwirkung rothen Lichts auf denselben niemals eine vereinzelte Empfindung des Rothen, sondern stets, da mehrere Punkte der Netzhaut zugleich von rothem Licht getroffen werden, eine Summe von Roth-Empfindungen d. h. eine durch Gleichzeitigkeit verknüpfte Complication unter einander homogener Empfindungen zum Vorschein kommen muss. Diese entsteht dadurch, dass mehrere unter einander verschiedene Sinne durch das angeschaute Object zugleich, jeder in seiner Weise, der Sehnerv z. B. durch den Glanz und die gelbe Farbe des Goldes, der Hörnerv durch dessen Metallklang, der Tastnerv durch dessen Glätte und Kälte u. s. w. in Erregung versetzt werden und so eine Gruppe heterogener Empfindungen gebildet wird, die unter einander durch Gleichzeitigkeit verknüpft und als Complication mit dem gemeinsamen Namen des Goldes belegt werden.

346. Wie chemisch disparate Körperbestandtheile, die zu einander keinerlei Affinität besitzen und lediglich durch mechanischen Druck zusammengehalten werden, in ihrem Verbande beharren, aber auch nur so lange beharren, als jener währt, chemisch verwandte Körperbestandtheile aber in Folge dieser Verwandtschaft eine viel innigere, und zwar so weit gehende Verbindung unter einander eingehen, dass dieselbe nicht wieder auf mechanischem, sondern nur auf chemischem Wege in Folge stärkerer Verwandtschaft mit einem anderen Körper gelöst werden kann: so bleiben reine Anschauungen, deren Bestandtheile homogen, also dem Inhalt nach unter einander verwandt sind, auf dem Niveau einer durch blosse Gleichzeitigkeit verknüpften Complication nicht stehen, sondern gehen deren Elemente in Folge ihrer Homogeneität unter einander allmälig eine viel innigere Verbindung ein, während die gemischten [225]Anschauungen, deren Elemente unter einander disparat d. h. dem Inhalt nach gegen einander indifferent sind, fortfahren, ausschliesslich durch das Band blosser Gleichzeitigkeit vereinigt zu sein. Jene innigere Verbindung homogener Empfindungen, welche im Gegensatz zu der durch Gleichzeitigkeit erzeugten, durch deren Gleichartigkeit hervorgebracht wird, ist von Herbart treffend „Verschmelzung” genannt und dadurch von der blossen Complication in ähnlicher Weise wie die chemische Verbindung von der mechanischen unterschieden worden. Das Charakteristische derselben liegt darin, dass sie wol auf Veranlassung des gleichzeitigen Vorhandenseins homogener Bewusstseinsvorgänge, aber nicht durch diese Gleichzeitigkeit entsteht d. h. dass die gleichzeitig gegebenen gleichartigen Empfindungen zwar nicht verschmelzen könnten, wenn sie nicht gleichzeitig wären, jedoch nicht verschmelzen, weil sie gleichzeitig, sondern weil sie gleichartig sind.

347. Wie mit der Einführung des qualitativen Unterschieds der körperlichen Elemente ein neuer Gesichtspunkt in der Betrachtung der physischen Welt eröffnet und damit eine neue Stufe im Aufbau des Naturlebens erreicht wird, so treten mit der Berücksichtigung des qualitativen Unterschieds der Bewusstseinselemente nicht nur die einzelnen psychischen Bildungen, sondern auch deren Beziehungen zu, unter und auf einander in eine neue Beleuchtung. Wurden dieselben bis dahin nur auf die Thatsache hin angesehen, dass sie entweder gleichzeitig oder nach einander ins Bewusstsein eintraten und in Folge dessen, wie sie sonst immer beschaffen sein mochten, sich unter einander associiren mussten, so werden dieselben von nun an eben so ausschliesslich ihrer Verwandtschaft d. h. der ganzen oder theilweisen Identität oder dem Gegensatz ihres Inhalts nach ins Auge gefasst, in Folge deren sie, wenn sie einmal gleichzeitig oder successiv im Bewusstsein vorhanden sind, unvermeidlich mit einander in Contact treten müssen. Je nachdem jener Inhalt beschaffen, entweder ganz oder theilweise derselbe oder ein ganz oder theilweise entgegengesetzter ist, wird die Berührung der im Bewusstsein gleichzeitig vorhandenen Vorgänge, welche einander in Folge der atomistischen Beschaffenheit ihres gemeinsamen Trägers nicht auszuweichen vermögen, freundlich oder feindlich sein d. h. dieselben werden sich im ersten Fall unter einander verstärken d. h. mit einander verschmelzen, im zweiten Fall unter einander schwächen d. h. einander gegenseitig hemmen. Jener Vorgang entspricht der chemischen Anziehung zwischen qualitativ [226]gleichen, dieser dem Kampf zwischen qualitativ ungleichen Körpern, von welchen der eine Bestandtheile enthält, welche zu dem andern eine grössere Verwandtschaft besitzen als zu ihm selbst d. h. zu ihm selbst im innerlichen Gegensatze stehen. Wie jene zu der Verschmelzung der gleichen Körper, so führt dieser zur Ausscheidung des Entgegengesetzten, worauf die zurückgebliebenen, nunmehr nicht mehr gegensätzlichen Bestandtheile sich mit einander vereinigen.

348. Wie bei der Nichtberücksichtigung der qualitativen Beschaffenheit des zu Verknüpfenden eine Association auf Grund der Gleichzeitigkeit oder Succession, so findet bei Berücksichtigung derselben zwar gleichfalls Association, aber in Folge der Gleichartigkeit oder des Gegensatzes des zu Verknüpfenden statt. Zwar lässt sich die letztere auf die erstere zurückführen, insofern Bewusstseinsphänomene, die ihrem Inhalt nach identisch sind, als gleichzeitige deshalb sich ansehen lassen, weil, wenn ihr Inhalt einmal gegeben ist, derselbe in diesem Fall als der nämliche gegeben ist, welcher in allen folgenden Fällen wiederkehrt. Allein, da jede Wiederholung desselben Inhalts nichts desto weniger ein von der ursprünglichen Vorstellung desselben verschiedener Act des Bewusstseins, also in diesem Betracht ein neues Bewusstseinsphänomen und demnach mit jenem keineswegs gleichzeitig ist, so kann der Grund der Verbindung beider demungeachtet nicht in deren (nicht vorhandener) Gleichzeitigkeit, sondern muss in der (ganzen oder theilweisen) Identität ihres Inhalts gesucht werden. Die Association durch Gleichzeitigkeit, durch welche gleichsam „mechanische”, und die Association durch Gleichartigkeit, durch welche gleichsam „chemische” Verbindungen zwischen Bewusstseinsvorgängen zu Stande kommen, ist daher wesentlich verschieden.

349. Wie in der reinen Anschauung d. i. in der homogenen Complication homogene Empfindungen, so werden in dem durch Verschmelzung entstandenen Bewusstseinsgebilde homogene, sei es reine, sei es gemischte Anschauungen unter einander verbunden. Da dieselben homogen d. h. ihrem Inhalt nach gleichartig sind, so verstärken sie einander, so dass das neu entstehende Bewusstseinsgebilde in seiner Intensität die Intensitäten aller derjenigen Anschauungen vereint, aus deren Verschmelzung unter einander es erwachsen ist. Von dieser Art sind die sogenannten sinnlichen Vorstellungen, welche als solche kein primitives Bewusstseinsgebilde, sondern erst auf Grund und durch Verschmelzung zahlreicher einzelner, unter einander gleichartiger Anschauungen allmälig geworden [227]sind. Auf diesem Wege sucht der sogenannte Anschauungsunterricht durch künstliche Veranstaltungen, welche die wiederholte Vorführung gleicher Anschauungen durch Vorzeigung des nämlichen Gegenstandes bezwecken, sinnliche Vorstellungen von bedeutender Intensität zu erzeugen. Dieselbe stellt daher gleichsam die Summe derjenigen homogenen Einzelanschauungen dar, aus denen sie erwachsen, oder welche vielmehr in ihr zu einem Ganzen verwachsen ist, zugleich aber auch einen Kern, durch dessen überlegen gewordene Intensität jede im Verlauf des Bewusstseinsprocesses in denselben eintretende homogene Anschauung herangezogen und mit welchem dieselbe sofort, denselben neuerdings verstärkend, verschmolzen wird. Da die Stärke auf diesem Wege gebildeter sinnlicher Vorstellungen mit der Menge der Anschauungen, welche deren Unterlage im Bewusstsein ausmachen, sich fortwährend steigert, so erklärt es sich, dass solche, die aus den Anschauungen der Umgebung (z. B. der Heimat), also aus den natürlicher Weise häufigsten entstanden sind, die relativ grösste Stärke besitzen müssen und daher im Bewusstsein am längsten und dauerhaftesten sich festsetzen, aber auch auf die weiteren ihrerseits aus sinnlichen Vorstellungen auf was immer für einem Wege abgeleiteten Bewusstseinsbildungen (z. B. Begriffe) den grössten Einfluss üben müssen.

350. Wenn die sinnliche Vorstellung durch die Verschmelzung homogener Anschauungen entsteht, so leuchtet ein, dass, wenn diejenigen Anschauungen, welche die Unterlage einer gewissen sinnlichen Vorstellung ausmachen, zwar unter einander homogen, aber zugleich einem gewissen Kreise von Anschauungen, welcher seinerseits einer sinnlichen Vorstellung als Basis dient, heterogen sind, auch die durch die Verschmelzung der ersteren und die durch die Verschmelzung der letzteren entstehende sinnliche Vorstellung unter einander heterogen sein müssen. Dieselben werden je nach der Beschaffenheit der Anschauungskreise, aus welchen sie erwachsen sind, unter einander entweder gänzlich disparat, oder ihrer Heterogeneität ungeachtet mehr oder minder unter einander verwandt d. h. ihrem Inhalt nach theilweise identisch, theilweise entgegengesetzt d. h. zum Theil aus gleichen, zum Theil aus entgegengesetzten Elementen zusammengesetzt sein. Findet das erstere statt, so werden dieselben, wenn sie gleichzeitig oder nach einander im Bewusstsein vorhanden sind, sich zu einer Complication höherer Ordnung, d. i. zu einer solchen verbinden, deren Bestandtheile im Gegensatz zu den früher erwähnten niederer Gattung weder blosse primitive Bewusstseinsacte, [228]noch Empfindungen oder Anschauungen, sondern selbst schon sinnliche Vorstellungen, also Gebilde höherer Art sind. In letzterem Falle dagegen werden dieselben unter einander, so gut es geht, sich zu verschmelzen trachten, wobei die identischen Bestandtheile in beiden die Verschmelzung begünstigen, die entgegengesetzten in beiden dagegen dieselbe mehr oder minder vereiteln werden. Dadurch wird ein Bewusstseinsgebilde zum Vorschein kommen, in welchem ein Theil völlig verschmolzen d. h. eins, der andere Theil dagegen der Verschmelzung widerstrebend d. h. in Spannung begriffen ist. Jener setzt sich aus den in sämmtlichen sinnlichen Vorstellungen, aus welchen das neue Gebilde erwachsen ist, identischen, dieser dagegen aus den in sämmtlichen obigen sinnlichen Vorstellungen von einander abweichenden d. h. sich unter einander ausschließenden Bestandtheilen zusammen; jener, der die Intensität sämmtlicher jenen sinnlichen Vorstellungen gemeinsamen Bestandtheile in sich vereinigt, besitzt eine vergleichsweise überlegene, die widerstrebenden Bestandtheile gleichsam „wider Willen” festhaltende Kraft; dieser, dessen einzelne Bestandtheile sich unter einander ausschliessen d. h. trennen möchten, aber nicht können, weil sie mit den identischen zu einem Ganzen vereinigt sind, stellt einen Zustand in sich gespannter, einander gegenseitig hemmender, aber nicht vernichtender, relativ schwacher Kräfte dar, welche gegenüber der gesammelten Intensität der in dem bleibenden Bestandtheil verschmolzenen identischen Elemente gleichsam verschwinden. Das so entstandene Bewusstseinsgebilde, das zu seinem Inhalt die sämmtlichen sinnlichen, unter einander verwandten Vorstellungen, aus denen es entstanden ist, gemeinsamen Bestandtheile, zu seinem Umfang d. i. zu seiner Grundlage im Bewusstsein aber die Summe dieser sinnlichen Vorstellungen, aus denen es entstanden ist, selbst hat, ist das sogenannte Gemeinbild oder im psychologischen Sinne der Begriff.

351. Derselbe kommt als psychisches mit dem belebten Naturkörper als physischem Gebilde insofern überein, als er, wie dieser, einen bleibenden unveränderlichen und einen veränderlichen, wechselnden Bestandtheil in sich schliesst. Vermöge des ersteren bleibt das Gemeinbild: Baum, das aus den sinnlichen Vorstellungen Birke, Buche, Tanne, Apfelbaum, Palme u. s. w. durch Verschmelzung der diesen allen gemeinsamen Bestandtheile entstanden ist, immer dasselbe, während die Merkmale, welche der Birke oder der Buche eigenthümlich sind, beliebig mit einander vertauscht werden und so das Gemeinbild bald in das Bild einer Birke, bald in das einer [229]Buche u. s. w. verändern können. Letztere, die sinnlichen Vorstellungen Birke, Buche, Fichte u. s. w. machen den Umfang, die ihnen allen gemeinsamen Merkmale den Inhalt des Begriffs Baum aus. Dieser als identischer Vereinigungspunkt des dem ganzen Umfang Gemeinsamen stellt gleichsam „die Seele” dieses ganzen Kreises von Vorstellungen dar, in welchen derselbe als allen gemeinsamer Bestandtheil erscheint. Mit der sinnlichen Vorstellung hat der Begriff als psychisches Gebilde gemein, dass er wie diese durch Verschmelzung homogener Elemente entstanden ist. Er unterscheidet sich aber von ihr durch den Umstand, dass die Anschauungen, aus welchen die sinnliche Vorstellung erwächst, keine andern als durchaus homogene Elemente in sich schliessen, während die sinnlichen Vorstellungen, aus welchen der Begriff erwächst, neben den homogenen d. i. in allen identischen Bestandtheilen, die im Begriff mit einander verschmelzen, noch heterogene ja einander entgegengesetzte Bestandtheile in sich schliessen, die im Begriff einander hemmen und gegenseitig in Spannung versetzen. So hat die Vorstellung Birke mit der Vorstellung Tanne alle diejenigen Merkmale gemein, die der Begriff Baum enthält, aber in jener ist zugleich das Merkmal des belaubten, in dieser das des Nadeln tragenden Baumes enthalten, die sich unter einander ausschliessen. Da sich nun niemals vorhersagen lässt, ob nicht künftig ins Bewusstsein eintretende Anschauungen sinnliche Vorstellungen herbeiführen werden, welche zwar unter denselben bereits vorhandenen Begriff fallen, aber zugleich Elemente in sich schliessen, welche mit jenen aller bisherigen sinnlichen Vorstellungen des Umfangs jenes Begriffs im Widerspruch stehen, so muss der Umfang des Gemeinbildes und dadurch dieses selbst ein gewisses Schwanken zeigen, von welchem die sinnliche Vorstellung, die nichts anderes als die Verschmelzung sämmtlicher ihr zu Grunde liegenden homogenen Anschauungen zu einem einzigen Ganzen ist, sich frei erhält. Je nachdem der Zusammenhang des Begriffs mit den Vorstellungen, aus denen er stammt, mehr oder minder lose d. h. entweder ein solcher ist, bei welchem die gemeinsamen Bestandtheile von den sich unter einander ausschliessenden sich noch nicht so weit losgemacht haben, dass nicht mit dem Vorstellen der ersteren zugleich eines oder einige der letzteren (mit Ausschluss der übrigen) vorgestellt würden, während im anderen Falle die Verbindung zwischen den gemeinsamen und den individuellen Bestandtheilen bereits so weit gelockert ist, dass die ersteren rein und ohne Begleitung eines oder mehrerer der letzteren [230]vorgestellt werden, scheiden sich die Begriffe als psychische Gebilde in eine niedere und eine höhere Ordnung, welche zugleich an die entsprechende der organischen Körperwelt erinnern. Im ersten Fall, so lange das Gemeinbild nicht rein, sondern jedesmal unter Begleitung eines oder mehrerer Merkmale, die nicht dem ganzen Umfang, sondern nur einem Theile desselben eigen sind, vorgestellt wird (z. B. der Baum nur als belaubt, während es doch auch Coniferen gibt, oder nur als ästig, während es doch auch astlose Bäume wie die Palmen gibt), erscheint dasselbe gleichsam wie die Pflanze an den Boden, aus dem es erwachsen ist d. i. an die sinnlichen Vorstellungen geheftet, die dessen Unterlage im Bewusstsein bilden, ohne sich von der „Scholle” losmachen und frei (wie das Thier in seinen Bewegungen) über die sinnlich anschauliche Basis, in welcher es seine Wurzel hat, erheben zu können. Auf dieser Stufe wird z. B. das Dreieck, weil es aus den Vorstellungen eines recht-, stumpf- oder spitzwinkeligen, eines gleichseitigen, gleichschenkligen oder ungleichseitigen, eines ebenen oder sphärischen Dreiecks erwachsen ist, jedesmal unter dem Bilde eines von diesen d. h. es wird entweder als spitzwinklig oder als rechtwinklig, als gleichseitig oder als ungleichseitig, niemals aber als keines von diesen d. i. rein als Dreieck (in abstracto) vorgestellt. Die Eierschale der sinnlichen Vorstellungen, aus denen es erwachsen ist, klebt dem aus dem Ei geschlüpften Küchlein des psychischen Begriffs in diesem Stadium der psychologischen Entwickelung gleichsam noch auf dem Rücken an. Dasselbe erhält sich um so länger, je kleiner und homogener der Kreis der sinnlichen Vorstellungen ist, aus welchen das Gemeinbild seine Nahrungssäfte zieht. Denn je gleichartiger die sinnlichen Vorstellungen unter einander d. h. je geringer an Zahl und Intensität die unter einander entgegengesetzten Bestandtheile derselben sind, desto weniger hemmen und verdunkeln sich dieselben unter einander; desto weniger wird der Zusammenhang zwischen den identischen und den particulären Merkmalen d. i. zwischen dem Begriff und seinem Umfang aufgehoben, und desto leichter werden mit den gemeinsamen auch eines oder einige besondere Merkmale d. h. wird das Gemeinbild selbst in einer besonderen Färbung (in concreto) vorgestellt. Je reicher und mannigfaltiger dagegen der Umkreis der sinnlichen Vorstellungen wird, um desto grössere Gegensätze finden zwischen den letzteren statt, um so mehr löschen die einander entgegengesetzten Merkmale sich unter einander völlig aus, um desto mehr wird der Zusammenhang zwischen den allen gemeinsamen und den [231]individuell besonderen Merkmalen gelockert, um desto weniger tritt eine Nöthigung ein, im Gemeinbilde nebst den gemeinsamen auch noch eines oder einige nur particuläre Merkmale vorzustellen, um desto mehr löst sich das Gemeinbild als ein abstractes von der ihm zu Grunde liegenden Vorstellungsunterlage im Bewusstsein ab und schwebt als ein auf dieser zwar erwachsenes, aber nicht mehr mit ihr verwachsenes Gebilde frei über der Sphäre concreter Vorstellungen. Erst das auf diese Stufe der Entwickelung erhobene Gemeinbild ist wahres Allgemeinbild d. h. stellt nicht blos eines, einige oder viele Theile des Umfangs, sondern im eminenten Sinn den ganzen Umfang vor und kann, statt wie bisher an einem Theile desselben mit Ausschluss des übrigen zu haften, über alle Theile desselben ohne Ausnahme frei hin und her sich bewegen. Das so geläuterte Gemeinbild ist wirklich Begriff, denn es begreift sämmtliche Glieder seines Umfangs unter sich, zugleich in dieser abstracten Reinheit aber auch ein blosses „Ideal”, dem sich das wirklich vorhandene Gemeinbild zwar zu nähern, welches dasselbe jedoch niemals vollkommen zu erreichen vermag, weil der Zusammenhang zwischen den gemeinsamen und zum Begriff verschmolzenen und den individuellen, den sinnlichen Vorstellungen angehörigen Merkmalen zwar vermindert, aber niemals zerrissen werden kann und daher der thatsächliche Begriff eine, wenn auch noch so leichte Färbung auf Grund seines Ursprungs immer an sich tragen muss. Letzteres ist um so weniger zu verwundern, als ja auch der thierische Organismus, seiner, mit der Sesshaftigkeit der Pflanze verglichen, frei erscheinenden Beweglichkeit ungeachtet, dem Boden seiner Heimat und den Bedingungen seiner Geburt verhaftet bleibt und sich fremden Himmelsstrichen entweder gar nicht, oder nur höchst allmälig durch Acclimatisation einverleibt.

352. Die höchste Stufe erreicht der Begriff, wenn er sich selbst begreift d. h. wenn er das auf dem Grunde der sinnlichen Vorstellungen erwachsene Gemeinbild sich selbst vorstellt. Dieses geschieht, wenn das im Bewusstsein vorhandene Gemeinbild jedes andere in demselben Bewusstsein auftauchende homogene, psychische Gebilde in Folge dieser seiner Homogeneität als gleichartig erkennt, vermöge seiner überlegenen Intensität an sich zieht und mit sich selbst verschmelzt. Dasjenige Gebilde, von welchem die Verschmelzung ausgeht (das thätige), spielt dabei die herrschende, dasjenige, welches mit demselben verschmolzen wird, das leidende, die unterthänige Rolle. Jenes erscheint als das überlegene, das sich des [232]anderen bemächtigt; gleichsam als der Krystallisationspunkt, an welchen das andere anschliesst, oder als der Organismus, welchem das andere zur Nahrung dient. Wie der thierische Organismus den pflanzlichen (die vegetabilische Nahrung) sich assimilirt, so wird von dem mächtigeren psychischen Gebilde das ihm homogene schwächere appercipirt d. h. nicht blos als vorhanden wahrgenommen (percipirt), sondern als verwandt d. h. ihm zugehörig erkannt und als das seinige in Besitz genommen (appercipirt). Hat sich einmal der Begriff Baum im Bewusstsein festgesetzt, so reisst derselbe jede später in dasselbe eintretende homogene Erscheinung d. i. jede künftige Wahrnehmung irgend eines Baumes sofort als ihm zugehörig an sich und fügt sie als ihm Gleichartiges zu sich als bereits vorhandenem psychischem Gebilde hinzu, welches dadurch naturgemäss zu immer grösserer Stärke und dem entsprechender Macht im Bewusstsein anwachsen muss.

353. Psychische Bildungen dieser letzten Art, welche nicht mehr weder zunächst noch entfernt blosse Perceptionen d. h. wie die primitiven Bewusstseinsacte durch extensive (äussere) veranlasste intensive (innere) Zustände oder, wie die Anschauungen, sinnlichen Vorstellungen, niederen und höheren Gemeinbilder aus jenen durch Complication oder durch Verschmelzung entstanden, sondern Apperceptionen d. h. andere ihresgleichen beherrschende Phänomene sind, lassen sich als im Bewusstsein vertheilte Centralmassen betrachten, deren jede zahlreichen andern zum Mittel-, Sammel- und Vereinigungspunkte dient. Da die Macht derselben über andere ihresgleichen von ihrer eigenen, relativ diesen überlegenen Intensität abhängt, indem jede Vorstellungsmasse eine ihr ähnliche desto leichter sich aneignen wird, je stärker sie selbst und je schwächer die letztere ist, so ist es klar, dass diejenige, welche durch die Umstände begünstigt, nothwendig von allen die stärkste werden, zugleich die stärkste Anziehungskraft erlangen und schliesslich die übrigen alle oder doch fast alle sich aneignen muss. Eine solche aber ist diejenige Vorstellungsmasse, welche sich auf den Vorstellenden d. i. auf den Träger des Bewusstseins selbst bezieht und deshalb als „Ich” bezeichnet wird. Während z. B. die Vorstellung des Baumes nur dann im Bewusstsein vorhanden sein kann, wenn die Anschauungen, aus welchen dieselbe erwächst, wirklich in das Bewusstsein jemals eingetreten sind, und demnach jenem nothwendig fehlen muss, dem jene Anschauungen mangeln (eben so wie dem Blinden die Farben, dem Tauben die Töne u. s. w.), kann eine auf sich selbst [233]bezügliche Vorstellung dem Vorstellenden niemals abgehen, weil die Anschauungen, auf deren Grund dieselbe erwächst (zunächst die Empfindungen des eigenen Leibes) demselben nie fehlen können; und dieselbe muss nothwendig unter allen übrigen die relativ höchste Intensität erreichen, weil die Veranlassungen zu derselben mit jenen aller andern Vorstellungen verglichen die häufigsten und, wie der eigene Leib, dem Bewusstsein beinahe ununterbrochen gegenwärtig sind. Zwar durchläuft dieselbe als psychisches Gebilde eine Reihe von Entwickelungsstadien, in deren Verfolge sich dieselbe immer mehr von überflüssigen d. h. zur reinen Ich-Vorstellung wesentlich nicht erforderlichen Bestandtheilen befreit und aus einer Vorstellungsmasse, welche zunächst aus den Vorstellungen des eigenen Leibes und seiner Bestandtheile besteht, allmälig zu jener des reinen Sichselbstwissens im Selbstbewusstsein hinauf läutert; allein ihre bevorzugte Stellung und in deren Folge ihre appercipirende Macht über die übrigen Bildungen im Bewusstsein bleibt immer dieselbe und bewirkt, dass zuletzt nur dasjenige als im Bewusstsein wirklich vorhanden angesehen wird, was, weil vorhanden, durch das Ich appercipirt und als das Seinige angeeignet worden ist.

354. In dieser appercipirenden Macht, welche die Ich-Vorstellung über die Gebilde des Bewusstseins im weitesten Umfange ausübt, liegt der Grund, weshalb der sich selbst begreifende Begriff d. i. das zur appercipirenden Vorstellungsmasse gewordene Gemeinbild „Ich-ähnliche” Vorstellung genannt werden kann. Derselbe kann, während er für die Vorstellungen seines Kreises im Bewusstsein das Centrum bildet, seinerseits von der Ich-Vorstellung, welche das Centrum des individuellen Bewusstseins ausmacht, als zu ihrem Kreise gehörig appercipirt werden. Jeder derselben lässt sich mit einem jener kleineren Centralkörper, im Weltraum vergleichen, welcher seinerseits wieder einem grösseren ein ganzes Weltsystem beherrschenden Centralkörper unter- und in dessen Umkreis eingeordnet ist. So wenig die Abhängigkeit von diesem die relative Selbstständigkeit jenes ersten anderen gegenüber, so wenig schliesst die Apperception des zum Begriff gewordenen Gemeinbilds durch das Ich die Fähigkeit des ersteren aus, seinerseits zu seinem Kreise gehörige Vorstellungen als die seinigen zu appercipiren. Wie die Ich-Vorstellung den appercipirenden Begriff im Grossen, so stellt jeder für sich ein Ich im Kleinen dar und öffnet dadurch die Möglichkeit, unabhängig vom Ich als ein solches für sich d. h. als ein anderes Ich im Bewusstsein sich geltend zu machen. [234]

355. Abnorme Erscheinungen des Bewusstseinslebens, in welchen neben der herrschenden Ich-Vorstellung eine zweite deren Rolle usurpirende Vorstellungsmasse ihrerseits einen Theil des Bewusstseinsinhalts an sich reisst, so dass in Folge dessen, wie etwa in einem und demselben Weltsystem zwei Centralkörper, so in einem und demselben Bewusstsein zweierlei Ich sich in die Herrschaft über dasselbe getheilt zu haben scheinen, lassen sich auf die übermächtig gewordene Apperception solcher „Neben-Iche” zurückführen. In dem Geisteskranken, der sich in seinem Delirium für Gott Vater hält und als solcher beträgt, während er in den sogenannten lichten Zwischenräumen bei gutem Verstande ist und seinem eigentlichen Ich gemäss denkt, will und handelt, ist jene fixe Idee zum ichartigen Mittelpunkt geworden, um welchen herum der mit demselben harmonirende Theil des Bewusstseinsinhalts sich krystallisirt, während der mit ihm disharmonirende von demselben abgestossen wird. Folge davon ist, dass der Kranke während seiner gesunden Momente von dem, was er während seines „Aussersichseins” geredet und gethan, kein Bewusstsein haben kann, da die betreffenden Bewusstseinsphänomene nicht von seiner d. i. von der Ich-Vorstellung seines gesunden Bewusstseinslebens, sondern von einer dieser fremden, wenngleich innerhalb desselben „Bewusstseinsraums” befindlichen, ihrerseits als Ich-Vorstellung fungirenden Vorstellungsmasse appercipirt worden sind. Folge aber auch, dass ein solcher Kranker von der Haltlosigkeit seiner Selbsttäuschung niemals überzeugt werden kann, da ja derjenige, der Ueberzeugungsgründen zugänglich ist, mit demjenigen, welcher derselben bedarf, zwar real d. i. insofern deren beiderseitigem Bewusstsein derselbe atomistische Träger zu Grunde liegt, identisch, dem Bewusstsein d. h. dem von einer und derselben Ich-Vorstellung appercipirten Umkreis psychischer Vorgänge nach aber von demselben gänzlich verschieden ist.

356. Mit dem Erwachen und allmäligen Heranwachsen der Ich-Vorstellung, welches nicht mit dem Erwachen des Bewusstseins d. h. mit dem Auftauchen psychischer Vorgänge zu verwechseln ist, tritt in der Entwicklungsgeschichte des psychischen Lebens ein Wendepunkt ein. Das neugeborne Kind hat ein Bewusstsein d. h. in demselben finden nicht nur primitive Bewusstseinsacte, sondern bereits aus solchen durch Complication und Verschmelzung sich bildende Empfindungen, Anschauungen und sinnliche Vorstellungen, aber es hat keine Ich-Vorstellung und in Folge dessen findet keine [235]Apperception der in ihm vorgehenden Bewusstseinsacte als der seinigen statt. Wie die Processe in der Körperwelt des Weltraums vor dem Auftreten des Menschen zwar gesetzmässig ihren Verlauf nahmen, aber weder als solche gewusst, noch von irgend einem Wesen als zu ihm in irgend einem Verhältniss stehend auf sich bezogen werden, so wickeln sich die Processe im Bewusstsein vor dem Auftreten der Ich-Vorstellung in diesem zwar gesetz- und regelmässig ab, ohne jedoch als solche gewusst und von irgend einer auf den Träger des Bewusstseins bezüglichen Vorstellungsmasse als die ihrigen angeeignet zu werden. Während der leblose Naturkörper den ihn bewegenden Impulsen der Naturkräfte Widerstand und bewusstlos Folge leistet, ist es für den belebten Naturkörper, sobald er sich, wie im Menschen, nicht blos zur Vorstellung, sondern zur Vorstellung seiner selbst erhoben hat, charakteristisch, dass er das Vorgestellte, die ihn umgebende Körperwelt, in ein Verhältniss zu sich, dem dieselben und sich selbst vorstellenden Wesen setzt und nicht blos als daseiend, sondern als um seinetwillen und für ihn daseiend d. h. als sein „Eigenthum” betrachtet, Sonne und Mond als bestimmt, ihm zu leuchten, Früchte und Thiere als bestimmt, ihn zu nähren und zu kleiden, sich selbst als den Ziel- und Endpunkt des gesammten sichtbaren Weltalls ansieht. In der Entwicklungsgeschichte des Bewusstseins stellt der vor dem Erwachen und Mächtigwerden der Ich-Vorstellung ablaufende Zeitraum gleichsam die vorgeschichtliche (wie in der Entwicklungsgeschichte des Weltalls die vormenschliche) Periode dar; innerhalb desselben sind zwar Bewusstseinsphänomene verschiedenster Art (Vorstellungen, Gefühle, Begierden und Wünsche) bereits vorhanden, aber erst mit dem Auftreten der Ich-Vorstellung in ihrer Mitte werden sie von der letzteren als um ihretwillen vorhanden, als zu ihr in Beziehung stehend und ihr zugehörig angesehen und dadurch aus „unbewussten” d. h. von keinem Ich als die seinigen gewussten zu „bewussten” d. h. zu nicht nur im Bewusstsein vorhandenen, sondern auch von dem Ich dieses Bewusstseins als vorhanden gewussten und als die seinigen anerkannten Bewusstseinsacten erhoben. Wie jener Zeitraum, in welchem nur unbewusste Phänomene im Bewusstsein vor sich gehen, gleichsam die Nachtseite, so macht derjenige, innerhalb dessen nach dem Erwachen und Mächtigwerden der Ich-Vorstellung auch bewusste psychische Zustände, und zwar in immer steigender Menge auftreten, die Tagseite des psychischen Lebens aus. Letztere kann durch vorübergehendes Erlöschen der Ich-Vorstellung [236](wie es z. B. in der Ohnmacht, im Affect, im Delirium und periodisch wiederkehrend im Schlafe stattfindet) eben so vorübergehende Unterbrechungen (gleichsam Rückfälle in die Nacht des unbewussten Daseins), aber nur mit dem bleibenden Aufhören der Ich-Vorstellung ein bleibendes Ende erfahren.

357. Wie die elementaren Bewusstseinsacte, so üben die durch Complication oder Verschmelzung aus denselben entstandenen Bewusstseinsgebilde höherer Ordnung, durch die Einheit des atomistischen Trägers gezwungen, der kein Ausweichen gestattet, gegenseitig Wirkungen auf einander aus. Jene vereinigen sich zu einer Complication, wenn sie gleichzeitig oder succedirend, verschmelzen mit einander, wenn sie dem Inhalt nach gleichartig sind. Letzterer Act geht ohne Aufenthalt und widerstandslos vor sich, wenn die zu verschmelzenden dem Inhalt nach identisch, dagegen zögernd und erst nach vorausgegangenem Sichsträuben, wenn dieselben dem Inhalt nach entgegengesetzt sind. In ersterem Falle verstärken, im zweiten Falle schwächen die mit einander verschmelzenden Bewusstseinsacte einander, indem in jenem Fall die Intensität des einen zu der Intensität des mit ihm identischen andern einfach hinzugefügt, dagegen im zweiten Fall ein Theil der Intensität des einen durch einen Theil der Intensität des andern „gebunden” und dadurch sowol der gebundene Theil der Intensität des einen, wie der ihn bindende Theil der Intensität des anderen unwirksam gemacht, folglich die ursprüngliche Intensität beider um diesen beziehungsweisen Bruchtheil vermindert wird. Der auf diese Weise an Intensität gewachsene Bewusstseinsact ist, bildlich gesprochen, heller, diejenigen, deren Intensität abgenommen hat, sind beziehungsweise dunkler geworden, als sie vorher waren; der Inhalt derselben aber ist derselbe geblieben. Geht die Verdunkelung so weit d. h. hat die Intensität eines Bewusstseinsactes so sehr abgenommen, dass die Gegenwart desselben im Bewusstsein unmerklich wird (in ähnlichem Sinn, wie ein gleichwol vorhandener Lichtreiz für die Netzhaut, ein vorhandener Schallreiz für den Gehörsnerv unmerklich werden kann), so hat der Act die äusserste Grenze im Bewusstsein, die sogenannte „Schwelle des Bewusstseins” (wie der Licht- und Schallreiz die Reizschwelle) erreicht; sinkt sie noch tiefer herab, letztere überschritten. Das sogenannte Vergessene ist diesem Grade der Verdunkelung anheimgefallen, indem dasselbe, da nichts, was einmal geschah, ungeschehen gemacht werden kann, zwar („als Spur”) nach wie vor im Bewusstsein vorhanden, aber, weil unmerklich [237]geworden, seiner Wirksamkeit nach so gut wie nicht vorhanden ist und sich von dem im Bewusstsein wirklich nicht vorhandenen, weil niemals vorhanden gewesenen, nur dadurch unterscheidet, dass es unter günstigen Umständen wieder hell zu werden d. h. sich im Bewusstsein wieder bemerklich zu machen vermag. Geschieht letzteres, so heisst der Bewusstseinsact ein erneuerter (z. B. die schon vergessen gewesene Vorstellung eine Erinnerung), kein neuer, weil es der frühere „latent” gewordene Zustand ist, welcher neuerdings „patent” d. i. als wirksamer auftritt. Bewusstseinsacte dieser Art werden im Gegensatz zu den ursprünglichen auf Veranlassung äusserer Reize erzeugten (producirten) wiedererzeugte (reproducirte) genannt und, je nachdem sie den ursprünglichen ganz oder nur zum Theile gleichen, als unverändert (Gedächtnissacte) oder als verändert reproducirte (Phantasieacte) unterschieden. Die Reproduction selbst erfolgt entweder mit oder ohne Hilfe von Seite anderer Bewusstseinsacte; in letzterem Fall erhellt sich der verdunkelt gewesene Bewusstseinsact gleichsam von selbst, sobald und weil die bisherige Ursache seiner Verdunkelung (z. B. der von Seite eines dem Inhalt nach entgegengesetzten Acts ausgeübte Druck) aufgehört hat zu wirken; in ersterem Falle wird der unter die Schwelle herabgedrückte Bewusstseinsact durch einen andern über derselben befindlichen, welcher mit jenem, sei es durch Gleichzeitigkeit oder Succession, associirt oder durch Gleichartigkeit des Inhalts verwandt ist, wieder emporgezogen. Unmittelbar reproducirte Vorstellungen, welche nach Herbart „freisteigende” heissen, machen, wenn sie während des Schlafes auftreten, als Träume, wenn sie mitten unter heterogenen Vorstellungskreisen im Wachen auftauchen, als sogenannte Einfälle sich geltend, die, wenn sie dem Inhalt nach als besonders überraschend oder glücklich erscheinen, wol auch für „Eingebungen” (Inspirationen) gehalten zu werden, Veranlassung geben. Mittelbar reproducirte Vorstellungen bilden, wenn sie zugleich unverändert reproducirte sind, die Grundlage des auf Gedächtniss und Ueberlieferung beruhenden sogenannten historischen Wissens; wenn sie zugleich zum Theil verändert reproducirte sind, das wirksamste Hilfsmittel eines nicht nur das vorhandene Vorstellungsmaterial frei umformenden (dichtenden), sondern jede erregte Vorstellung durch eine Fülle begleitender Vorstellungen bereichernden und dadurch die gesammte Vorstellungsthätigkeit belebenden (phantasievollen) Schaffens.

358. Wie die Wirksamkeit der Körper im physischen, so ist die Wirksamkeit der durch Complication oder Verschmelzung entstandenen [238]Vorstellungsmassen im psychischen Leben auf einander dreifacher Art. Dieselbe erfolgt nach Art der mechanischen Wirksamkeit zwischen Körpern, wenn die vorhandenen Vorstellungsmassen ohne Rücksicht auf die Beschaffenheit ihres Inhalts lediglich auf Grund einer äusseren Veranlassung mit einander verbunden oder von einander getrennt werden; dagegen nach Art der chemischen Wirksamkeit zwischen Körpern, wenn dieselben mit Rücksicht und in Folge der Beschaffenheit ihres Inhalts mit einander verknüpft oder getrennt werden, endlich nach Art der organischen Wechselwirkung zwischen den Körpern, wenn durch zwei oder mehrere Bewusstseinsgebilde mit Rücksicht auf deren Inhaltsbeschaffenheit ein neues hervorgebracht wird. Erstere Art der Wirksamkeit findet bei der durch blosse Gleichzeitigkeit oder Aufeinanderfolge veranlassten Vereinigung gewisser Vorstellungen zu Begriffen, eben solcher Begriffe als Subjects- und Prädicatsbegriff zu Urtheilen, eben solcher Urtheile als Prämissen und Schlusssatz zu Schlüssen statt. Da dieselbe nicht durch den Inhalt des zu Verknüpfenden, sondern lediglich durch die Thatsache bedingt wird, dass das zu Verknüpfende gleichzeitig oder nach einander im Bewusstsein erlebt, also erfahren wurde, so wird um der empirischen Natur des Grundes der Verknüpfung halber die vollzogene Verknüpfung selbst eine empirische und werden die durch eine solche zu Stande gekommenen Begriffe, Urtheile und Schlüsse deshalb empirische genannt. Die zweite Art der Wirksamkeit findet bei der durch Homogeneität bewirkten Verschmelzung gewisser Anschauungen zu sinnlichen Vorstellungen, so wie der durch Verschmelzung der identischen Bestandtheile gewisser Vorstellungen verursachten Entstehung von Begriffen, endlich bei der mit Rücksicht auf den Inhalt herbeigeführten Vereinigung bisher getrennt gewesener, aber zusammengehöriger Begriffe als Subjects- und Prädicatsbegriff im bejahenden, so wie durch Trennung bisher verbunden gewesener, aber nicht zusammengehöriger Begriffe im verneinenden Urtheil statt. Die dritte Art der Wirksamkeit aber zeigt sich, wenn, wie z. B. im einfachen oder zusammengesetzten Syllogismus, aus zwei (oder mehreren dem Inhalte nach verwandten d. i. theilweise identischen, theilweise entgegengesetzten) Urtheilen (major, minor) ein neues, dem Inhalte nach mit keinem der Vordersätze für sich, aber mit allen zusammengenommen (wie die Folge mit der Summe ihrer Theilgründe) identisches Urtheil erzeugt wird. Letztere beiden Arten der Wirksamkeit werden zusammengenommen im Gegensatz zu der ersten, da dieselbe mit Rücksicht, die erste [239]dagegen ohne Rücksicht auf den Inhalt erfolgt, um der logischen Natur des Grundes der Verknüpfung willen logische und die auf diesem Wege zu Stande kommenden Bewusstseinsgebilde logische Begriffe, logische Urtheile und logische Schlüsse genannt. Während die erste den durch Erfahrung gegebenen Stoff in Folge der Gleichzeitigkeit oder der Aufeinanderfolge desselben zu einem Ganzen verknüpft, welches als solches ein blosses Aggregat des Erfahrenen d. h. eine durch Wiederholung sich stets vermehrende Häufung einzelner Erfahrungen ausmacht, verfährt die zweite Art der Wirksamkeit dem durch Erfahrung gegebenen Bewusstseinsinhalt gegenüber kritisch (sichtend), indem sie dasselbe mit Rücksicht auf dessen Inhalt prüft, das Verwandte verbindet, das Verträgliche duldet, das Unverträgliche ausscheidet, die dritte Art der Wirksamkeit aber begründend (constructiv), indem sie auf Grund der im gegebenen Bewusstseinsmaterial gegebenen Bedingungen in jenem nicht Gegebenes, aber durch diese Bedingtes folgert d. h. aus dem Vorhandenen Nichtvorhandenes, aus dem Alten Neues erzeugt. Ersteres, das rein empirische Verfahren, aus dem die sogenannte „Praxis” im Leben und der „Empirismus” in der Wissenschaft sich entwickeln, kann auch als „Juxtaposition” d. i. als Nebeneinanderreihung von Thatsachen, das zweite als „Analyse”, aus der die sogenannte Verstandesthätigkeit im Leben und die zersetzende Kritik in der Wissenschaft hervorgeht, die dritte als „Synthese”, auf welcher die sogenannte Vernünftigkeit im Leben und die aufbauende Deduction in der Wissenschaft beruht, bezeichnet und je nach dem Vorherrschen der einen oder der andern das individuelle Bewusstseinsleben als überwiegend empirisches (mechanisches), verständiges (auflösendes) oder vernünftiges (organisches) benannt werden. Sowol durch das empirische wie durch das analytische Verfahren werden zwar nicht dem Stoff, aber doch der Form nach neue Bewusstseinsbildungen, durch das organische werden anstatt und auf Grund alter Bewusstseinsbildungen neue, denselben gleichartige wiedererzeugt. Wie durch das Summirung vorangegangener Bewusstseinsacte ein neuer entsteht, der eben nur die Summe der früheren ist (z. B. das copulative Urtheil als Summe der copulirten Urtheile; der auf vollständiger Induction ruhende Schlusssatz als Summe der vollständig aufgezählten Prämissen), so kommen durch die Verbindung des Zusammengehörigen aber Getrenntgewesenen, und durch die Trennung des Nichtzusammengehörigen aber Verknüpftgewesenen neue [240]Bewusstseinsgebilde zu Stande, die von den früheren nicht dem Stoff, aber der Form nach verschieden sind (z. B. das Urtheil: die Erde bewegt sich um die Sonne, durch die Auflösung des früheren Urtheils: die Sonne bewegt sich um die Erde). In beiden Fällen bestehen diejenigen Bewusstseinsbildungen, aus welchen die neue entstanden ist, neben dieser in der Weise fort, dass dieselben im ersten Fall Theile der neu entstandenen ausmachen d. h. in derselben einbegriffen sind, im zweiten Fall dagegen nur die Stelle gewechselt haben und, wie im obigen Beispiel von dem Verhältniss der Erde zur Sonne, das frühere Subject zum Prädicat, das frühere Prädicat zum Subjecte geworden ist. Dagegen gehen bei der organischen Bewusstseinsthätigkeit die Bewusstseinsbildungen, auf Grund welcher eine neue, denselben gleichwerthige entstehen soll, in letzterer unter; die neue (z. B. der Schlusssatz) tritt nicht blos neben die alten, sondern an die Stelle der alten (der Prämissen); letztere werden durch die neu entstandene Bewusstseinsbildung weder vermehrt, noch ergänzt, sondern im vollen Sinne des Wortes ersetzt und wie die Schildwache von ihrem Posten durch deren Nachfolger abgelöst. Wie die Summe nicht mehr enthält als ihre Summanden, das Product nicht mehr als seine gleichviel in welcher Ordnung multiplicirten Factoren, so enthält auch das neue auf Grund seiner Vorgänger organisch entstandene Bewusstseinsgebilde, die Folge, nicht mehr und nicht weniger als diese (die Gründe) zusammengenommen, mit dem Unterschied, dass die Summanden in der Summe, die Factoren im Product unverändert fortbestehen, während die Theilgründe in der Folge fortan ununterscheidbar mit dieser zur Einheit zusammenfliessen. Letztere Art des Zusammenhanges unter Bewusstseinsgebilden stellt gleichsam eine fortlaufende Kette von Gründen und Folgen dar, in welcher jedes einzelne Glied alle vorangegangenen in sich schliesst und seinerseits von allen folgenden umschlossen wird, und welche sich mit der organischen Kette vergleichen lässt, welche durch Fortpflanzung geschlechtlich geschiedener Organismen von Generation zu Generation hin gebildet wird. Wie in jeder der letzteren die Spur aller Stammeltern, so erhält sich in jedem Gliede der ersteren, als Folge betrachtet, die Spur aller Stammgründe. Und wie jene durch die organische Umbildung sämmtlichen in den vorangegangenen elterlichen Organismen enthaltenen Stoffs entstanden, so ist diese durch das causale Zusammenwirken aller in den vorangegangenen Gliedern der Kette wirksam gewesenen Theilgründe begründet. [241]

359. Alle bisher in Betracht gezogenen Bewusstseinsvorgänge waren entweder primitive Bewusstseinsacte, oder solche, welche aus diesen in Folge der zwischen ihnen herrschenden quantitativen und qualitativen Beziehungen entstanden sind. Machen nun jene Beziehungen, von den mittels derselben hervorgerufenen Bewusstseinsgebilden abgesehen, abgesondert für sich im Bewusstsein sich geltend, so entsteht eine neue Classe von psychischen Phänomenen, die von der ersteren zwar insoweit abhängig ist, als sie ohne Vorhandensein jener überhaupt nicht entstände, sich aber zugleich dadurch von jener unterscheidet, dass ihre Veranlassung nicht, wie bei den primitiven Bewusstseinsacten, ausser dem Bewusstsein (in Nervenreizen), sondern im Bewusstsein selbst liegt d. i. in den Beziehungen, welche zwischen den einzelnen Bewusstseinsgebilden im Bewusstsein selbst herrschen. Solche Beziehungen sind z. B. die relative Unterdrückung oder im Gegensatz dazu die relative Befreiung, welche Gebilde im Bewusstsein durch andere in demselben Bewusstsein erleiden oder erleben, und die Bewusstseinsvorgänge, welche durch solche veranlasst werden, z. B. die Unlust bei der Einklemmung, die Lust bei der Erlösung eines Bewusstseinsgebildes durch andere, werden Gefühle genannt. Während alle primitiven Bewusstseinsacte und in Folge dessen alle aus denselben in directer Reihe gewordenen, wenn auch in noch so entfernter und sinnlich abgeblasster Weise zu ihrem Gegenstand ein äusseres Object haben, ist das Object der Gefühle, das relative Verhältniss der Bewusstseinsgebilde im Bewusstsein zu einander, im eminenten Sinne ein inneres und der Inhalt derselben dem Inhalt der (sinnlichen wie unsinnlichen) Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe) durchaus unähnlich. Dieselben lassen sich als psychische Phänomene mit jenen physischen vergleichen, deren Ursache nicht in den physikalischen Atomen und deren Verknüpfung zu Körpern, sondern in dem die Zwischenräume der physikalischen Atome ausfüllenden Weltäther und dessen Beziehungen zu dem physischen Stoffe zu suchen ist. Licht, Wärme, Magnetismus und Elektricität stellen Erscheinungen dar, deren Grund nicht in den Atomen, sondern zwischen denselben liegt; Lust und Unlust, Freude und Schmerz Phänomene, deren Grund nicht oder doch wenigstens nicht immer in dem Inhalt, sondern in der Lage gewisser Vorstellungen oder Vorstellungsmassen im Bewusstsein zu finden ist. Die Vorstellung des abwesenden Freundes ist von einem Unlustgefühl begleitet; nicht weil uns die Vorstellung des Freundes unangenehm, sondern weil dieselbe durch [242]das Bewusstsein seiner Abwesenheit gedrückt und dadurch in eine Klemme gerathen ist, aus welcher dieselbe zu befreien wir uns ausser Stande wissen. Dieselbe Vorstellung tritt aber sogleich in Begleitung eines Lustgefühls auf, wenn die Erscheinung des Freundes dieselbe aus dem Banne der Vorstellung seiner Abwesenheit erlöst. Dieselben zerfallen (wie die Aetherphänomene) von vornherein in zwei Classen, je nachdem die Entstehung des Gefühls von der Beschaffenheit des Inhalts der Vorstellung, an die es sich heftet (wie dort die Beschaffenheit des Aetherphänomens von der Qualität der Körper, deren Zwischenräume er ausfüllt) unabhängig, oder durch denselben (wie dort das Aetherphänomen durch die specifische Natur der Körper) bedingt ist. Gefühle ersterer Art, weil sie durch Vorstellungen jedes beliebigen Inhalts veranlasst werden können, werden (von Herbart) treffend als „vage”, solche, die einen bestimmten Vorstellungsinhalt voraussetzen, als „fixe” bezeichnet. Jene entsprechen in dieser Hinsicht den Licht- und Wärme-, diese den magnetischen und elektrischen Phänomenen. Jene, da sie nicht nur bei jeder Vorstellung andere, sondern auch bei derselben Vorstellung verschiedene, um so mehr in verschiedenen mit Bewusstsein ausgerüsteten Individuen immer wieder andere sein können (indem nicht nur Demselben dasselbe bald süss bald bitter, sondern auch Verschiedenen dasselbe verschieden schmeckt), haben mit Recht zu dem Sprichwort, dass sich über den Geschmack (eigentlich das Gefühl) nicht streiten lasse, Veranlassung gegeben und sind ihrer „Subjectivität” halber auch wohl „subjective Gefühle” genannt worden. Diese, die fixen Gefühle, trifft zwar obiges Sprichwort nicht, weil die an dem Inhalt gewisser Vorstellungen haften und daher stets nicht nur im einzelnen, sondern in jedem Bewusstsein im Gefolge dieser Vorstellungen auftreten, also im Gegensatz zu den subjectiven Gefühlen „objectiv” (allgemein d. i. allen gemein) sind; dafür tritt bei ihnen, wenn nicht besonders Rath geschafft wird, der allgemeine Uebelstand des Gefühls, dass es sich, statt auf Objecte, auf das Subject d. i. statt auf Vorgestelltes, auf den Vorstellenden selbst bezieht (in Bezug auf jenes also „dunkel” ist, nicht weiss, was es fühlt) so sehr in den Vordergrund, dass dasselbe darum mit Misstrauen betrachtet und von dem Versuch, auf dasselbe eine Wissenschaft zu gründen, ausgeschlossen zu werden pflegt. Dieser Uebelstand schwindet, wenn das Gefühlte (die Vorstellung) nicht, wie es bei dem sogenannten Angenehmen und Unangenehmen der Fall ist, mit dem Gefühl in eins zusammenrinnt, sondern, wie es bei dem Schönen [243]und Hässlichen der Fall ist, von dem Gefühl abgesondert vorgestellt d. h. nicht nur gefühlt, sondern auch gewusst und als Subject eines ästhetischen Urtheils d. i. eines solchen, dessen Prädicat ein Wohlgefallen oder Missfallen ausdrückt, im Verhältniss zu einem andern Gleichartigen (ganz oder theilweise Identischen oder Gegensätzlichen) seiner Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung nach mit diesem und dadurch seinem Werthe nach beurtheilt wird. Wie der Inbegriff der Gefühle (der vagen wie der fixen) überhaupt das Gemüth, so wird der Inbegriff der ästhetischen Urtheile, die ihrer logischen Natur nach identische, also unfehlbare Urtheile sind, der Geschmack, in dem besonderen Fall, wenn das Object des ästhetischen Urtheils ein Wollen ist, das Gewissen genannt.

360. Wie die Aetherphänomene zeigen auch die Gemüthserscheinungen Gegensätze und Intensitätsunterschiede, die bei jenen durch die Bezeichnungen Helligkeit und Finsterniss einerseits, Hitze und Kälte andererseits, bei diesen durch die Begriffe Lust und Unlust einer-, Freude (gesteigerte Lust) und Schmerz (gesteigerte Unlust) andererseits ausgedrückt werden. Wie unter den ersteren die magnetischen und elektrischen Erscheinungen insofern eine besondere Stellung einnehmen, als sie zu ihrem wirksamen Hervortreten der Gegenwart eines anderen Körpers bedürfen, welcher entweder angezogen oder abgestossen wird, so spielen unter den Gefühlen diejenigen, welche zu ihrem Hervortreten der Gegenwart eines zweiten Bewusstseins bedürfen, in welchem ähnliche oder entgegengesetzte Gefühle entweder wirklich vorhanden sind oder doch vorhanden zu sein scheinen, die sogenannten sympathetischen oder Mitgefühle, eine eigenthümliche Rolle. Dieselben stellen als Mitleid und Mitfreude die Wiederholung eines wirklichen oder vermeintlichen Leid- oder Lustgefühles des fremden im eigenen Bewusstsein, dagegen als Neid und Schadenfreude die Begleitung eines wahren oder vermeintlichen Lust- oder Leidgefühles im andern durch ein dem Inhalt nach entgegengesetztes Gefühl im eigenen Bewusstsein dar. Fremdes und eigenes Gefühl sind im ersten Fall gleich-, im letzteren ungleichnamig. Wie der elektrische Strom durch sogenannte Induction einen ihn in gleicher oder entgegengesetzter Richtung begleitenden, so erzeugt fremdes wirkliches oder vermeintliches Gefühl durch Nachahmung das ihm gleiche oder entgegengesetzte im eigenen Bewusstsein. Leid und Freude wirken ansteckend wie Weinen und Lachen und pflanzen sich unwillkürlich, ja wider Willen von einem zum andern fort. Sympathetische Gefühle haben daher, auch wenn [244]sie wie Mitleid und Mitfreude einen guten oder wie Neid und Schadenfreude einen schlimmen Charakter zu haben scheinen und Veranlassung zu wohlthätigen wie zu feindseligen Handlungen werden können, im Grunde weder den einen noch den andern, sondern entstehen durch einen blossen Naturprocess. Da dieselben jedoch, um zu Tage zu treten, der Gegenwart eines zweiten Individuums bedürfen, so weisen dieselben über den Umkreis des einzelnen hinaus und stellen zwischen diesem und dem andern eine zunächst blos ideelle d. h. nur im Bewusstsein des Mitfühlenden vorhandene Verbindung her, die aber, wenn das Gefühl Willensentschliessungen und in deren Folge Handlungen nach sich zieht, zu einer realen, den andern entweder anziehenden (sympathische Annäherung) oder von sich entfernenden (antipathische Abstossung) Beziehung werden, daher die Gesellung der Individuen entweder befördern oder hemmen kann, daher die sympathetischen Gefühle auch als sociale oder gesellige Gefühle bezeichnet und die aus denselben entspringenden Attractionen und Repulsionen zwischen den Individuen mit den Wirkungen zwischen den physikalischen Atomen wirksamer Anziehungs- und Abstossungskräfte verglichen werden.

361. Wie plötzlich zu grosser Intensität gesteigerte und über einen ausgedehnten Raum sich verbreitende Aetherphänomene als (magnetisches, elektrisches) „Ungewitter”, so werden plötzlich hochgesteigerte Gefühle, wenn dieselben sich über den grössten Theil des Bewusstseins oder über das ganze Bewusstsein in der Weise ausbreiten, dass die Ich-Vorstellung unterdrückt und die von dieser ausgehende, beherrschende Macht vorübergehend aufgehoben wird, als Affecte bezeichnet. Wie jene ihres keineswegs unvorbereiteten, aber unvermutheten Auftretens halber Ausnahmen von dem gewohnten Naturlauf, so scheinen diese, da sie, obgleich nicht ohne Grund, doch ohne bekannten Grund erfolgen, gesetzlose Unterbrechungen des regelmässigen Bewusstseinsverlaufs zu bilden, daher sie, wie jene als elementare, so als psychische Zufälle betrachtet zu werden pflegen. Dort scheint die Natur, hier ist in Folge der Unterdrückung der Ich-Vorstellung der im Affect Befindliche ausser sich und die durch das aussergewöhnliche Ereigniss in der Natur (Erdbeben, Sturmflut, Blitzstrahl u. s. w.) etwa angerichteten Verheerungen können eben so wenig den (vorübergehend ausser Wirksamkeit gesetzt zu sein scheinenden) Naturgesetzen, als die etwa im Zorn verübten unerlaubten oder gemeinschädlichen Handlungen dem (vorübergehend seiner Herrschaft über das Bewusstsein beraubten) [245]Ich des Zornigen zur Last gelegt werden. Folge der plötzlichen Lösung des Bandes zwischen der Ich-Vorstellung und dem bis dahin von dieser beherrschten Bewusstseinsinhalt ist es auch, dass die etwa bestehenden Associationen zwischen inneren Gemüths- und äusseren Körperbewegungen widerstandslos zum Ablauf kommen und daher der vorhandene Gemüthszustand z. B. des Zornes, dessen Aeusserung sonst durch die Schranken des Wohlanstandes gehemmt oder doch gezügelt würde, sich rücksichtslos in masslose Reden und Handlungen umsetzt. Je nachdem die Ursache, durch welche die Ich-Vorstellung und deren Herrschaft unterdrückt wird, darin besteht, dass plötzlich eine zu grosse Menge von Vorstellungen auf einmal ins Bewusstsein eindringt, neben welchen jene sich nicht zu behaupten vermag, oder dass Umstände eintreten, welche bewusstes Vorstellen (also auch das der Ich-Vorstellung) überhaupt unmöglich machen, werden die Affecte in sthenische (Affecte der Stärke) und asthenische (Affecte der Schwäche) eingetheilt. In jenen wird die Ich-Vorstellung gehemmt, während die durch den Affect herbeigeführten Vorstellungen einander gegenseitig unterstützen; in diesen werden die letzteren sich zugleich unter einander selbst hemmen. Ersterer Art ist der Zorn, welcher beredt, letzterer der Schrecken, welcher stumm macht.

362. Wie das in der Zeit vor sich gehende wirkliche Geschehen in der physischen, so ist auch das in der psychischen Welt ein dreifaches. Wie die erste Art desselben in der Körperwelt darin besteht, dass der Körper sich bewegt d. h. seinen Ort im Raume, so besteht die erste Art des Geschehens in der Bewusstseinswelt darin, dass der Bewusstseinsact aus seinem gegenwärtigen in einen anderen, also zukünftigen Zustand überzugehen strebt d. h. seinen „Ort” im Bewusstsein verändert. Von dieser Art ist das Aufstreben einer durch andere verdunkelten d. h. unter die Schwelle des Bewusstseins gedrückten Vorstellung aus der Tiefe nach oben gegen die hemmenden Widerstände. Jede auf diese Weise im Streben begriffene Vorstellung stellt ein Begehren dar, dessen Gegenstand, der zu erreichende Zustand der Vorstellung, abwesend, und dessen Befriedigung eben die Erreichung jenes Zustandes der Vorstellung selbst ist. Folge des Gesagten ist, dass ohne Vorstellung des Begehrten keine Begierde entstehen (ignoti nulla cupido), aber auch, dass jede Vorstellung Sitz einer Begierde werden kann. Dieselbe wird gesteigert, je mehr Hindernisse sich der Erreichung ihres Ziels in den Weg stellen d. h. je grösser die Zahl und der Druck [246]derjenigen Vorstellungen ist, welche dem Inhalt der aufstrebenden Vorstellung des Begehrten entgegengesetzt sind. Die Vorstellung der Nahrung erzeugt in dem Hungrigen eine Begierde, weil sich dieselbe durch die Abwesenheit ihres Gegenstandes (den Mangel an Nahrung) in gedrücktem Zustande befindet. Dieselbe strebt nach Befriedigung, indem der Hungrige diejenigen Hindernisse zu beseitigen sucht, welche der Anwesenheit des Begehrten (der Herbeischaffung von Nahrungsmitteln) im Wege stehen. Sind dieselben beseitigt d. h. ist die Nahrung nicht nur herbeigeschafft, sondern der Hungrige wirklich in deren Genuss begriffen, so hört die Begierde auf. Die Befriedigung ist erreicht, die Vorstellung der Nahrung, die bis dahin eine blosse Einbildung war, ist zur Empfindung, die bis dahin nur „imaginirte” zur „geschmeckten” Speise geworden d. h. die Vorstellung der Nahrung hat sich aus dem Zustande einer Fiction in den einer sinnlichen Wahrnehmung bewegt, also ihren „Ort” im Bewusstsein wirklich verändert.

363. Je nachdem der Gegenstand einer aufstrebenden Vorstellung ein sinnlicher oder nicht-sinnlicher (intellectueller), kann das Begehren selbst ein sinnliches oder intellectuelles, je nachdem dasselbe von einer Vorstellung über Erreichbarkeit oder Nichterreichbarkeit, Erlaubtheit oder Unerlaubtheit des Begehrten nicht nur begleitet, sondern von dieser abhängig gemacht wird oder nicht, wird es verständiges oder verstandloses, vernünftiges oder vernunftloses Begehren heissen. Das verständige Begehren ist Wollen, wenn es begehrt, weil das Begehrte ihm erreichbar, dagegen blosser Wunsch, wenn es begehrt, ungeachtet das Begehrte ihm unerreichbar scheint. Das vernünftige Begehren ist vernünftiges Wollen, wenn es begehrt, was und weil dasselbe nicht nur erlaubt, sondern geboten, dagegen verblendetes Wollen (Leidenschaft), wenn ihm, was es begehrt, erlaubt, vernunftwidriges (böses) Wollen, wenn es begehrt, was und obgleich es ihm selbst unerlaubt, ja verboten scheint. Die Gesammtheit des innerhalb eines individuellen Bewusstseins enthaltenen Begehrens macht dessen (psychisches) Naturell, die Gesammtheit des innerhalb desselben eingeschlossenen verständigen und vernünftigen oder verstand- und vernunftlosen Wollens dessen (im psychologischen Sinne des Worts) Charaktermässigkeit oder Charakterlosigkeit aus.

364. Wie in der physischen, so auch in der psychischen Welt ist die zweite Art der wirklich vor sich gehenden Veränderung ein Formwechsel. Wie der feste Körper in flüssigen und luftförmigen, [247]so kann das Bewusstseinsgebilde aus dem lockeren Zustand blosser Complication in den inniger Verschmelzung homogener Elemente übergehen. Wie der chemische Körper in Folge der Anziehung wahlverwandter Elemente Bestandtheile abgibt und andere an sich zieht, so wird durch die Verschmelzung identischer und die Ausstossung sich unter einander ausschliessender Bestandtheile einer-, durch die Verbindung bis dahin unverbundener Bestandtheile andererseits die Form der Bewusstseinsgebilde verändert, werden im ersteren Fall aus sinnlichen Vorstellungen durch Abstraction der gemeinsamen Bestandtheile Gemeinbilder (Begriffe), im letzteren Fall durch Combination bisher getrennter, obgleich mit einander verträglicher Bestandtheile durch die Erfahrung gegebener sinnlicher Vorstellungen neue durch die Erfahrung nicht gegebene sinnliche Bilder (Phantasievorstellungen) hervorgebracht. Wie endlich die Formen der Organismen durch organische Transmutation der Arten und Gattungen im Pflanzen- wie im Thierreich in einander übergehen, so werden aus den ursprünglich auf Grund von Anschauungen entstandenen Begriffen durch fortgesetzte Abstraction höchste und allgemeinste Begriffe (Kategorien) und wird durch fortgesetzte Combinationen sinnlicher Erfahrungselemente eine neue erfundene Welt voll sinnlich anschaulicher Lebendigkeit (Phantasiewelt) gewonnen. Während aber in der physischen Welt die Erfahrung den Beweis für den Uebergang der unorganischen in die organische und dieser in die bewusste Form bisher schuldig geblieben ist, tritt im Bewusstseinsleben die Abhängigkeit der beiden scheinbar fundamental verschiedenen Classen von Bewusstseinsphänomenen, der Gefühle und der Bestrebungen, von jener der Vorstellungen offen an den Tag, indem sowol die Gefühle wie die Strebungen sich nicht als gattungsmässig verschiedene Vorgänge, sondern als blosse Zustände der Vorstellungen herausgestellt haben.

365. Die dritte Art des wirklichen Geschehens ist der Stoffwechsel. Derselbe bildet den Abschluss der physischen Welt, indem der Reiz (der extensive physische) sich in Empfindung (den intensiven psychischen Zustand) umsetzt d. h. der reale sich in einen Bewusstseinsvorgang verwandelt. Derselbe bildet den Abschluss der psychischen Welt, indem der intensive psychische (Vorstellung, Gefühl, Wollen) sich in einen extensiven physischen Zustand (Lautsprache, Geberdensprache, Handlung) umsetzt und so der Bewusstseinsvorgang in einen realen Vorgang sich verwandelt. Wie dort die Bewegung der Moleculartheilchen des Nervensystems als Empfindung [248]in das Bewusstsein, so wird hier der Gedanke durch den tönenden Laut des Worts, das Gefühl durch den sichtbaren Ausdruck der Miene, der Wille durch die von ihm veranlasste Bewegung des eigenen und dadurch mittelbar eines oder mehrerer fremder Körper wieder in die materielle d. i. in die Körperwelt aufgenommen, indem die durch das Stimmorgan schallend bewegte atmosphärische Luft als Verkörperung des Gedankens, die unwillkürlich veränderte oder (im Affect) verzogene Physiognomie als Verleiblichung des Gemüths, die durch Muskelbewegung der eigenen Leibesglieder bewegte Verschiebung der anstossenden Nachbarkörper als sich bethätigende Aeusserung des eigenen Willens erscheint. Die erste als hörbares Zeichen für die Vorstellung liefert das Werkzeug für die Bewahrung und Mittheilung der Gedankenwelt und als solche die Grundlage der Sprache. Die zweite als sichtbares Zeichen für das im Innern lebendige Gefühl liefert das Material zur Veranschaulichung des Anderen (Höheren, Niederen oder Gleichen) gegenüber vorhandenen oder doch vorhanden zu sein scheinenden Gefühls und bildet als solches die Grundlage der Sitte. Die dritte als physischer Ausdruck des entweder wirklich oder doch dem Anschein nach vorhandenen Wollens liefert den greifbaren Stoff zur Beurtheilung des gegen Andere beobachteten streitsüchtigen oder friedlichen Verhaltens und bildet als solcher die Grundlage des Rechts. Indem das individuelle Ich auf diese Weise sein Inneres nach aussen kehrt, die Vorgänge seines Bewusstseins in Reden, Geberden und Thaten umsetzt und dadurch für andere seinesgleichen hörbar, sichtbar und greifbar macht, wird dasselbe aus einem vereinzelten zum sociabeln d. i. des geselligen Zusammenseins mit Anderen fähigen und dadurch in Vereinigung mit diesen zur Grundlage eines Mehreren gemeinsamen d. i. des Social-Ichs.

366. Wie die Gesammtheit der Weltkörper und ihrer „Parasiten” den physischen Kosmos, so macht die Gesammtheit der im individuellen Bewusstsein während der gesammten Fortdauer desselben vertheilten Bewusstseinsgebilde (Empfindungen, Anschauungen, Begriffe, Gefühle, Begehrungen und Willensacte), soweit dieselben der innern Erfahrung zugänglich sind, in ihren gegenseitigen Beziehungen zu und ihrer relativen Abhängigkeit von einander, von den primitiven, namenlosen Bewusstseinsacten, deren jedem ein ebenso anonymer Nervenreiz oder eine unmerkliche Transversalschwingung des Weltäthers entspricht, bis zu den höchsten und ausgearbeiteten des abstracten Allgemeinbegriffs, des verfeinerten Geschmacksurtheils [249]und des der empfindlichsten Gewissensstimme willig gehorchenden Willensentschlusses herauf die Seelenwelt des Individuums aus. Wie dort die Totalität des physischen Geschehens die Naturgeschichte des Weltalls, so stellt hier der Inbegriff des im individuellen Bewusstsein nach unveränderlichen Naturgesetzen sich vollziehenden Geschehens, von der Wechselwirkung zwischen den primitiven Bewusstseinsacten bis zu der logischen Verbindung von Anschauungen zu Begriffen, Begriffen zu Urtheilen, Urtheilen zu Schlüssen, Schlüssen zu Gedankensystemen und dieser, wenn ihr Inhalt es gestattet, zu einem sie alle umfassenden Universalsystem einer-, von den leisesten Regungen der Lust und Unlust bis zu Entzücken und Jammer und den verheerenden Stürmen affectvoller Gemüthserschütterung, von sinnlichen Gelüsten und kindischen Wünschen bis zu sittlichen Entschliessungen und männlichen Thaten andererseits herauf, soweit dasselbe der innern Erfahrung zugänglich ist, den Entwickelungsprocess des Bewusstseins, die Naturgeschichte der Seele dar. [250]

[Inhalt]

DRITTES CAPITEL.

Das Social-Ich.

367. Wie mit der Einkehr des anziehend oder abstossend nach aussen gewandten einfachen Wirklichen in sich selbst die Möglichkeit des individuellen, so ist mit der Auskehr des Innern in Rede, Geberde und Handlung die Möglichkeit eines Mehreren gemeinsamen Bewusstseins gegeben. Letzteres kann nicht bedeuten, dass in Mehreren dasselbe, sondern nur dass in Mehreren ein gleiches Bewusstsein oder, was dasselbe ist, dass der Inhalt des jeweiligen individuellen Bewusstseins Mehrerer das gleiche, dieses Bewusstsein selbst aber nichts desto weniger bei jedem das eigene sei. Identität des Bewusstseins in dem Sinne, dass dasselbe Bewusstsein in Allen sei, würde die Individualität der Einzelnen in den blossen Schein einer solchen verwandeln, das Bewusstsein des Einzelnen in einen Bewusstseinsact des in Allen identischen Allgemeinbewusstseins auflösen. Letzteres darf daher nicht als Substanz, zu welcher die Einzelbewusstsein wie vorübergehende modi sich verhalten, sondern muss als Summe der in Mehreren gleichen d. i. dem Inhalt, nicht der Zahl nach eins seienden Bewusstseinsacte gedacht werden. Die Einzelbewusstsein, welche zusammengenommen die Voraussetzung eines ihnen allen gemeinsamen Bewusstseins ausmachen, sind ihrer realen Basis nach so wenig eins, dass derselbe Bewusstseinsinhalt in dem einen mit grösserer, in dem andern mit geringerer Lebhaftigkeit, dort mit völliger Klarheit, hier im ungewissen Dunkel vorhanden sein kann, ohne dass derselbe aufhört, jenem mit diesem gemein und dadurch ein integrirender Bestandtheil des gemeinsamen Bewusstseins, der „Volksseele” zu sein. [251]

368. Niemals darf die letztgenannte als eine von den „Seelen” der Angehörigen des Volks real unterschiedene, gleichsam als eine Seele vor, neben oder über den ihrigen gedacht werden. Dieselbe stellt nichts weiter als den mit einem Namen bezeichneten Inbegriff dessen dar, worin alle Volksangehörigen als vorstellende, fühlende und strebende Wesen mit einander dauernd übereinstimmen d. h. was abgesehen von den Privat- und individuellen Meinungen, Geschmäcken und Gelüsten jedes Einzelnen den bleibenden und Allen gemeinsamen Bestandtheil ihres Fürwahrhaltens, Werthhaltens und Anstrebens ausmacht.

369. Weil nun jeder Versuch, über die Gemeinsamkeit des Inhaltes individuell verschiedener Einzelbewusstsein ein Urtheil zu fällen, nicht nur voraussetzt, dass dieser Inhalt selbst äusserlich wahrnehmbar, sondern auch dass er Anderen verständlich sei, so folgt, dass die Entstehung einer auf das Bewusstsein gemeinsamen Bewusstseinsinhaltes gegründeten Vereinigung Mehrerer zur Einheit die Möglichkeit gegenseitig verständlicher Mittheilung durch Allen gemeinsame äussere Zeichen der inneren Vorgänge bedingt. Letztere werden, insofern sie bestimmt sind, das Innere Anderen sinnlich wahrnehmbar zu machen, je nach der Verschiedenheit der Sinne verschiedenartige (hörbare, sichtbare, tastbare etc.) sein können, da die Gemüthsvorgänge, zu deren Versinnlichung für Andere sie dienen sollen, verschiedene (Empfindungen, Anschauungen, Begriffe, aber auch Gefühle und Willensacte) sind, je nach der Art dieser letzteren andere sein müssen. Jener Umstand erzeugt die Laut- und Tonsprache, die zur Bezeichnung hörbare, die Schrift- und Geberdensprache, die zur Bezeichnung sichtbare, die monumentale oder Gedenksprache, die zur Bezeichnung tastbare Zeichen verwendet. Von diesem Gesichtspunkt aus lässt sich die Sprache des Gedankens von jener des Gefühls und des Willens unterscheiden. Von den drei letztgenannten verwendet die Sprache der Vorstellung meist hörbare, als (chinesische und mexikanische) Bilderschrift aber auch sichtbare Zeichen, wobei auf die Beschaffenheit der zu verkörpernden Vorstellungen Rücksicht genommen wird. Sind dieselben z. B. Empfindungen (Farben- oder Tonempfindungen), so können dieselben nur dadurch Anderen mitgetheilt werden, dass man die ihnen entsprechenden Sinnesreize erzeugt d. h. durch Töne (Musik) und Farben (Colorit). Sind dieselben sinnliche Vorstellungen, deren Objecte in der Erfahrung gegeben sind, so können dieselben Anderen mitgetheilt werden, entweder indem jene Objecte ihnen selbst vor [252]Augen geführt (demonstrirt) oder statt der Gegenstände selbst deren Bild zur Anschauung gebracht wird (Bilderschrift, Anschauungsunterricht). Sind sie dagegen Begriffe, also solche Vorstellungen, deren Objecte in der Erfahrung nicht angetroffen werden, die also auch nicht durch die letzteren oder deren Bilder sichtbar gemacht werden können, so bleibt nur übrig, entweder jene Begriffe durch sinnliche Vorstellungen (Symbole) zu ersetzen und sodann diese durch ihre Gegenstände oder deren Bilder sichtbar zu machen, oder zu deren Bezeichnung hörbare Zeichen zu wählen (Lautsprache). Letztere selbst werden entweder so gewählt, dass sie mit dem Gegenstand der zu bezeichnenden Vorstellung eine Aehnlichkeit haben oder doch an diesen erinnern (Onomatopöïen, natürliche Lautsprache) oder, wenn dies nicht der Fall ist, willkürlich festgesetzt (conventionelle Lautsprache). Die Sprache des Gefühls verwendet sowol hörbare als sichtbare Zeichen; unter jenen nehmen die Freuden- und Schmerzenslaute (Interjectionen), so wie die Anwendung gewisser Rede- und Begrüssungsformeln, um bestimmte Gefühle (Ehrfurcht oder Verachtung, Liebe oder Hass etc.) auszudrücken, unter diesen Lachen und Weinen als Zeichen der Freude und der Trauer, aber auch Geberden und Stellungen, welche bestimmt sind, gewisse Gefühle (der Anbetung, der Unterwerfung, der Freundschaft oder deren Gegentheile) zu veranschaulichen, ihre Stelle ein. Auch diese zerfallen, je nachdem dieselben ohne Erklärung jedermann verständlich, oder nur innerhalb eines bestimmten Kreises üblich sind, in natürliche (Natursprache des Gefühls) und künstliche (conventionelle Gefühlssprache). Die Sprache des Willens endlich, die Handlung bedient sich als Materials ihrer Aeusserungen des eigenen Leibes und der Organe desselben, entweder des tönenden (Stimmorgan), um sich hörbar (Befehl), oder der Gliedmassen, um sich sichtbar (Armschwenkung als Commandozeichen), oder dessen physischer Kraft, um sich tastbar (Schub, Stoss, Schlag) vernehmlich zu machen, wobei auch diese Zeichen in natürliche (Erhebung der Stimme, des Stockes) und künstliche (Handschlag als Einwilligungszeichen, Anstecken des Ringes als Vermählungszeichen etc.) sich sondern.

370. Mittheilbarkeit und Verständlichkeit der Zeichen würden nicht ausreichen, wenn die räumlichen und zeitlichen Verhältnisse nicht derart beschaffen wären, dass deren Gebrauch zu gegenseitiger Verständigung sein Ziel zu erreichen vermag. Zu diesem Zweck dürfen diejenigen, durch deren Verständigung unter einander ein allen gemeinsames Bewusstsein zu Stande kommen soll, weder [253]räumlich noch zeitlich so durchgreifend von einander geschieden, noch so weit von einander entfernt sein, dass die Mittheilung durch (hörbare, sichtbare, tastbare) Zeichen unmöglich wird. Dieselben dürfen daher weder durchaus verschiedenen Welten (z. B. die einen der erfahrungsmässigen dreidimensionalen, die andern einer vorgeblichen vierdimensionalen Raumwelt) angehören, noch innerhalb derselben Welt räumlich und zeitlich so weit aus einander liegen, dass eine, sei es räumliche Berührung, sei es zeitliche Ueberlieferung, wo nicht aufgehoben, doch in äusserstem Grade erschwert und dadurch ihrem Gehalte nach bis zum Unmerklichen herabgeschwächt wird. In ersterer Hinsicht wird die Entstehung eines Vielen gemeinsamen Bewusstseins erleichtert durch deren Anwesenheit innerhalb eines Allen gemeinsamen Raumes und vermittelt durch ein Generationen überdauerndes und von Geschlecht zu Geschlecht sich fortpflanzendes, sei es mündlich (Tradition), sei es schriftlich (Literatur) aufbewahrtes Gedankencapital. Wie durch die Gemeinsamkeit des Bodens, auf dem die Vereinigung Mehrerer zur Einheit erwächst (z. B. der gemeinsamen Heimat) die Genesis eines gemeinsamen Bewusstseinsinhalts durch den Umstand begünstigt wird, dass die Umgebung für alle dieselbe, also auch der aus dieser stammende Anschauungskreis, welcher die Grundlage aller spätern Vorstellungs- und Begriffsbildung ausmacht, bei allen der nämliche ist, so wird den Nachkommen durch stillschweigendes Herkommen und unwillkürliche Gewöhnung ein von Geschlecht zu Geschlecht sich ansammelnder Vorrath von Begriffen, Gebräuchen und Gesetzen von den Eltern her gleichsam angeerbt und von ihnen ihrerseits den Enkeln hinterlassen. Folge davon ist, dass sich der Besonderheit der räumlichen und zeitlichen Verhältnisse, so wie der Verständigungsmittel, unter welchen das Mehreren gemeinsame Bewusstsein sich entwickelt, entsprechend, letzteres selbst und damit die Vereinigung Mehrerer, innerhalb welcher es heimisch ist, eine besondere, nur dieser Vereinigung von Individuen eigenthümliche Färbung annimmt, und dadurch nicht nur selbst, mit dem Allgemeinbewusstsein einer andern „Gesellschaft” verglichen, einen individuellen Charakter trägt, sondern auch der Gesellschaft selbst, deren Eigenthum es ist, das Gepräge einer (gesellschaftlichen) Individualität verleiht.

371. Was die physikalischen Atome für die physischen, die primitiven Bewusstseinsacte für die psychischen, das sind die „sociabeln” Individuen für die socialen Gebilde. Wie jene zusammengenommen den Stoff aller körperlichen, die primitiven Empfindungen [254]das Material aller Bewusstseinsphänomene, so machen die mit Bewusstsein ausgerüsteten Individuen die Basis aller gesellschaftlichen Vereinigungen aus. Als solche werden dieselben dem Gesichtspunkt der quantitativen Atomistik entsprechend als unter einander ursprünglich eben so gleichartig gedacht wie die Atome in der Physik, die primitiven Empfindungen in der Psychologie. So wenig die beiden letztgenannten selbst ein Gegenstand weder der äussern noch der innern Erfahrung sind, sondern auf Grund der letztern durch einen Sprung über dieselbe hinaus als deren unentbehrliche Grundlage vorausgesetzt werden, eben so wenig werden bewusste Individuen vollkommen gleicher Beschaffenheit in der (geschichtlichen) Erfahrung angetroffen, sondern wie jene als Annahme der thatsächlich vorhandenen Ungleichheit der Individuen hypothetisch untergelegt. Letztere macht es möglich, wie es die Physik mit den Körpern, die Psychologie mit den Gebilden des Bewusstseins thut, auch die verschiedenen „Gesellschaftskörper” (Corporationen) aus dem Gesichtspunkt ihrer Zusammensetzung aus primitiven Elementen („Atomen der Gesellschaft”) zu betrachten und je nach der Beschaffenheit des dieselben mehr oder minder innig, mehr oder minder dauerhaft zusammenhaltenden Bandes als eben so viele verschiedene Ordnungen socialen Zusammenseins anzusehen.

372. Die erste und unterste derselben ist diejenige, bei welcher die qualitative Gleichheit oder Verschiedenheit der zu einem Ganzen verbundenen Individuen gleichgiltig, das sie verknüpfende Band von derselben unabhängig ist, der Grund der Vereinigung daher eben so gut innerhalb der allen gemeinsamen Beschaffenheit ihrer Natur, wie gänzlich ausserhalb der Natur derselben in einem dieser zufälligen Umstände gelegen sein kann. Ersterer Art sind alle aus der allen Menschen ohne Unterschied eigenen physischen und psychischen Beschaffenheit (z. B. dem Bedürfniss nach Nahrung, nach Schutz, nach geselliger Unterhaltung etc.) entspringenden Anlässe zur Vereinigung, um deren willen schon Aristoteles den Menschen als „das gesellige Thier” bezeichnet, und aus welchen Hugo Grotius den von ihm sogenannten „Geselligkeitstrieb”, so wie Hobbes das im „Kriege Aller gegen Alle” erwachende Schutzbedürfniss der Schwächern als Motiv gesellschaftlicher Vereinigung besonders hervorgehoben hat. Letzterer Art ist das absichtslos, ja selbst wider die Absicht herbeigeführte Zusammensein Mehrerer an demselben Orte und zu derselben Zeit (z. B. Schiffbrüchiger auf einer einsamen Insel, welche sie nöthigt, oder ihnen Gelegenheit gibt, sei es [255]wider, sei es mit ihrem Willen unter einander in gesellige Verbindung zu treten). Verbindungen der Art, welche entweder, wie die letztgenannten zufälligen, kein oder, wie überall dort, wo es sich um die blos vorübergehende Befriedigung eines (wenngleich in der allgemeinen Menschennatur gegründeten, also in anderer Form stets wiederkehrenden) Bedürfnisses handelt, ein gleichfalls nur augenblickliches Interesse der Einzelnen zur Ursache haben, sind dieser ihrer Natur nach die häufigsten, weil sie immer wieder von neuem durch Zufall oder durch die Wiederkehr desselben Bedürfnisses entstehen, aber eben so zufällig wie nach eingetretener Befriedigung sofort wieder vergehen können und werden. Das zunächst liegende Beispiel liefern die sogenannten geselligen Zusammenkünfte, deren Beweggrund lediglich in dem augenblicklichen Bedürfniss des Zeitvertreibs, oder die ebenso zahlreichen als mannigfaltigen Associationen, deren Ziel auf gemeinsam durchzusetzende Zwecke der Ersparung, des Erwerbes, des Gewinns, der Sicherung und Versicherung des Lebens und Eigenthums u. s. w. gerichtet ist. Insofern dieselben nichts weiter sind als vorübergehende, durch das Band eines äusseren Zwecks, aber auch nur durch dieses zusammengehaltene Aggregate einander im übrigen persönlich durchaus gleichgiltiger Individuen, lassen sie sich mit nur mechanisch zusammengesetzten Körpern vergleichen, deren zeitweiliger Cohäsionszustand von der geringeren oder grösseren Anziehung zwischen den Atomen und deren Dauer von jener des sie zusammenhaltenden äusseren Druckes bedingt ist. Wie die letztern desto schwerer beweglich sind, je ungleichartiger, dagegen desto leichter, je gleichartiger ihre Bestandtheile sind, so erscheinen gesellige Vereinigungen „schwerflüssig”, wenn sie aus ungleichartigen Individuen zusammengewürfelt, dagegen „leicht in Fluss zu bringen”, wenn ihre Mitglieder der Stimmung, dem Stande und dem Streben nach gleichgeartet sind. Sogenannte Actiengesellschaften, deren Theilnehmerschaft weder an persönliche Mitwirkung, noch an ein Andere übertreffendes Mass der Betheiligung, sondern lediglich an den Besitz einer mit jeder andern gleichwerthigen, gleichgiltig von Hand zu Hand wandernden Actie geknüpft ist, stellen die loseste, gleichsam „luft- oder gasförmige” Form der Gesellschaft zur Schau, deren Mitglieder einander eben so fremd und fern wie die in weiten Distanzen von einander befindlichen, in steter Abstossung gegen einander begriffenen ruhelos beweglichen Molecüle eines Gases stehen. [256]

373. Wird die qualitative Beschaffenheit der Gesellschaftsatome berücksichtigt, so entsteht jene zweite Ordnung geselliger Corporationen, die man dem chemisch zusammengesetzten Körper vergleichen kann. Wie durch die Verschmelzung homogener Atome der chemisch einfache, durch die Complication qualitativ verschiedener Stoffe der chemisch zusammengesetzte Körper, so entstehen auf Grund der Beschaffenheit der Gesellschaftselemente zwei Arten von Corporationen, deren eine Verbindungen qualitativ gleichartiger, die andere ungleichartiger Individuen umfasst. Zu jenen gehört, wenn dieselbe blos gesellige Zwecke verfolgt, die sogenannte „Männer-” oder „Frauen-”, zu diesen die „gemischte Gesellschaft”, ferner, wenn jene aus Personen desselben Alters, Berufs, Standes besteht, die Alters-, Berufs-, Zunft- und Standesgenossenschaft: zu diesen, wenn sie aus Personen verschiedener Berufe und Stände gemengt ist, die sogenannte bürgerliche Gesellschaft, wenn sie auf dem Grunde der geschlechtlichen Beschaffenheit beruht, die Freundschaft zwischen Personen desselben (männlichen oder weiblichen), die Liebe zwischen Personen entgegengesetzten Geschlechts. Findet dieselbe ihren Halt im Bewusstsein gegenseitiger Bluts- oder Gesinnungsgemeinschaft, so bildet sich diejenige Gruppe gesellschaftlicher Zusammengehörigkeit, welche als physische (Bluts-) Einheit, da sie im Gegensatz zur Familie aus einander dem Grade nach gleichstehenden Gliedern besteht, Verwandtschaft (Sippe), als psychische (Geistes-) Einheit im Gegensatz zur Schule, da sie einander dem geistigen Range nach gleich hoch stehende Mitglieder begreift, Jüngerschaft (Wissens- oder Glaubensgemeinde) heisst. Da der Grund der Vereinigung in den genannten Fällen nicht in einem vorübergehenden Zweck, sondern in der bleibenden, sei es leiblichen, sei es geistigen Beschaffenheit der Gesellschaftsglieder gelegen ist, so kann nicht nur, sondern muss dieselbe (Ausnahmsfälle abgerechnet) so lange bestehen, als jene Beschaffenheit unverändert bleibt, also z. B. die geschlechtliche Basis der Liebe sich nicht durch Naturvorgänge in eine geschlechtlose verkehrt oder das geistige Band des Jüngerthums durch den Abfall vom Glauben zerschnitten wird.

374. Wie der beseelte Körper vom leblosen sich dadurch unterscheidet, dass ein Theil desselben („die Seele”) beharrt, während der andere („der Leib”) sich im Laufe des Lebens fortwährend erneuert, ohne dass der Körper selbst ein anderer wird, so liegt das Charakteristische der dritten Ordnung gesellschaftlicher Vereinigungen darin, dass dieselben „ewige Dauer” besitzen, indem [257]ein Theil derselben („der herrschende”) immer derselbe bleibt („le roi est mort, vive le roi), während der andere (der „beherrschte”) sich unaufhörlich erneuert, ohne dass die Gesellschaft selbst eine andere wird. Je nachdem das Band, welches den bleibenden Bestandtheil mit dem veränderlichen verbindet, ein reales (Blutsband) oder blos ideales (Gesinnungsverband) ist, erfolgt die Erneuerung entweder durch Geburt jüngerer aus den älteren (Generation) oder durch Aufnahme späterer Mitglieder durch die frühern (Adoption). Ersteres ist in der Familiengemeinschaft zwischen Eltern und Kindern (Ascendenten und Descendenten, Vorfahren und Nachkommen), letzteres in der Gesinnungs- oder Glaubensgemeinschaft (Schule, Kirche, politische Partei) der Fall. Jene erweitert sich durch die Aufnahme der Seitenverwandten zur Stammesgemeinschaft, durch die Zurückführung blutsverwandter Stämme auf einen gemeinsamen Stammvater zum Stammvolk (Nation), durch die Ableitung mehrerer Stammvölker von einem gemeinsamen Urvolk (Indogermanen, Arier) zur Racengemeinschaft und mittels der mythischen Abstammung der gesammten Menschheit von einem gemeinsamen Stammvater zur Gemeinschaft aller Menschen (Weltbruderschaft). Diese dehnt sich von der an Umfang kleinsten Gesinnungs- und Glaubensgenossenschaft, die, wie z. B. die erste Christengemeinde, nur den Stifter und zwölf Genossen umfasst, bis zu der räumlich Millionen und zeitlich Jahrtausende einschliessenden Bildungs- oder Glaubensgemeinschaft aus, welche, wie z. B. die europäische Civilisation, das Christen- oder Buddhistenthum Theilnehmer und Bekenner im Laufe der Zeit nach hunderttausenden von Millionen zählen. Wie die durch Geburt der Gemeinschaft einverleibten Mitglieder von Natur aus den Aeltern ähnlich, so werden durch Aufnahme gewonnene den ursprünglich vorhandenen künstlich verähnlicht (assimilirt), indem entweder, wenn die Aufnahme durch Wahl erfolgt, nur ähnliche gewählt (z. B. in eine Akademie der Wissenschaften nur Gelehrte, in eine politische Partei nur politische Gesinnungsverwandte) oder, wenn sie durch freiwilligen Anschluss geschieht, die Aufgenommenen im Sinn der bestehenden Gemeinschaft (z. B. der ägyptische Neophyt durch die Priesterschule, der künftige Soldat durch das Cadetteninstitut) erzogen werden.

375. Die so entstandene Gesellschaft bildet einen organischen Körper, welcher entweder wie der vegetabilische Organismus an dem Boden haftet, auf dem er erwachsen und mit dem er verwachsen ist, oder wie der animalische Organismus von demselben [258]äusserlich und innerlich abgelöst, frei über ihn hinstreifend, obgleich innerhalb durch die Schranken der Acclimatisationsfähigkeit gezogener Grenzen den Ort seiner vorübergehenden Niederlassung wechselt. Jener ergibt die autochthone, dieser die nomadische Gemeinschaft (Familie, Stamm, Volk). Jene tritt vorzugsweise als sesshafte und in Folge dessen, da die von der Natur freiwillig dargebotene Nahrung allmälig versiegt, zur künstlichen Erzeugung derselben, so wie der übrigen Lebensbedürfnisse d. i. zum Ackerbau und zur Industrie gedrängte Bevölkerung auf. Diese, da sie die an einem Orte mangelnden Bedürfnisse nicht selbst erzeugt, sondern dort nimmt, wo sie dieselben findet, erscheint in den mannigfaltigsten Formen als Jäger-, Handels- und Räuber- oder Eroberervolk. Wie der belebte Organismus durch die Entwickelung eines Centralorgans (Gehirn und Nervensystem), innerhalb dessen der physische Reiz sich in bewusste Empfindung umsetzt, zum vorstellenden, Ich-ähnlichen und als solcher durch die allmälige Vorstellung seiner selbst (Ich-Vorstellung) selbst zum Ich d. i. zum sein selbst bewussten Individuum wird, so gestaltet sich die organische Gesellschaft dadurch, dass innerhalb ihres Umkreises ein Centralorgan (Regent und Regierung) entsteht, in welchem das allen gemeinsame Denken, Fühlen und Streben sich in bestimmte Vorstellung d. i. in deutlich vorschwebenden Zweck, Erwägung und Herbeischaffung der Mittel und verwirklichende That umsetzt, zu einer (nach Haupt und Gliedern) organisirten staatähnlichen Gesellschaft, welche durch die allmälig fortschreitende Verkörperung der Vorstellung der Gesellschaft (der Gesellschaftsidee) selbst zum Staat d. i. zu der ihrer selbst als Gesellschaft bewussten, die Verwirklichung der Gesellschaftsidee sich zum Zweck und dieselbe mittels der zu ihrer Realisirung erforderlichen Mittel in Vollzug setzenden individuellen Gesellschaft wird.

376. Organisirte Gesellschaften der Art, wenn sie reale d. h. ihre Mitglieder unter einander blutsverwandt sind, treten je nach dem Umfang und dem Grade der Verwandtschaft als Familie im engeren, nur Eltern und Kinder, oder weiteren, auch die nächsten Seitenverwandten begreifenden Sinne als Verband der Familienglieder unter dem Familienhaupt, oder als Stamm (Clan) unter dem Stammeshaupt (Häuptling, Scheik), oder als Volk unter dem (angestammten) Volkshaupt (König) auf. Dagegen, wenn ihre Glieder zwar geistes-, glaubens-, oder gesinnungs-, aber nicht blutsverwandt sind, erscheint die organisirte Gesellschaft, je nachdem der Inhalt der allen gemeinsamen Ueberzeugung entweder ein wissenschaftlicher, oder ein [259]religiöser, oder ein politischer ist, in Gestalt entweder der (philosophischen oder künstlerischen) Schule unter einem (philosophischen oder künstlerischen) Schulhaupt (Meister), oder als (Landes-, National-, Welt-) Kirche unter einem (Landes-, National-, Universal-) Kirchenhaupt (Landesbischof, Papst, Dalai Lama), oder als (theokratischer, nach göttlichen, oder militärischer, nach mit Gewalt aufgedrungenen fremden Gesetzen beherrschter, oder autonomer, Verfassungs- d. i. nach eigenen Gesetzen sich selbst beherrschender) Staat unter einem (theokratischen, von Gott eingesetzten, oder kriegerischen, durch Unterjochung aufgedrungenen, oder verfassungsmässigen) Staatsoberhaupt (Fürst „von Gottes Gnaden”, Eroberer, constitutioneller Herrscher). Je nachdem das Centralorgan, in welchem das allen gemeinsame Bewusstsein der Gesellschaft sich verkörpert, dessen Bewusstsein also gleichsam die Stelle des allen gemeinsamen Bewusstseins vertritt, selbst aus einem einzigen oder mehreren unter einander coordinirten oder aus einem und mehreren diesem zusammengenommen coordinirten Individuen besteht, nimmt derselbe monarchische, oder collegiale, oder parlamentarische Form an, indem im ersten Fall das Gesammtbewusstsein im Monarchen (Josef II. und Friedrich II. als „erste Diener des Staates”) im zweiten Fall im Regierungscollegium (Directorium, Bundesrath), im dritten Fall im Herrscher und den Stellvertretern des Gesammtbewusstseins (Abgeordnete, Parlament, Kammer, Reichstag) zusammengenommen incarnirt erscheint. Die monarchische Gestalt entartet zur Tyrannis, wenn an die Stelle des Gesammtbewusstseins das Einzelbewusstsein des Herrschers (l'état c’est moi), die collegiale Regierung zur Oligarchie, wenn an die Stelle des Gesammtbewusstseins jenes einer Minderheit (einer Kaste in der Priester-, Adels- oder Geschlechter-, eines Standes in der Militär- oder Zünfte-, des Geldes in der Finanz- und Bankiersherrschaft: Theokratie, Aristokratie, Martokratie, Plutokratie), dagegen zur Ochlokratie, wenn an die Stelle des Gesammtbewusstseins die bewusstseinslose Menge als herrschende Macht tritt. Die parlamentarische Regierung kann je nach dem Uebergewicht des Einen über die Vielen, oder der Vielen über den Einen in Scheinparlamentarismus (wie unter dem Julikönigthum) oder in Scheinmonarchismus (wie in England) ausarten. In der monarchisch organisirten Gesellschaft wird nicht nur die Einheit des Gesammtbewusstseins, sondern werden auch die in demselben, wie in jedem Bewusstsein vorhandenen und einander bestreitenden Gegensätze in das stellvertretende Bewusstsein des Alleinherrschers [260]verlegt und damit demselben die gesammte Verantwortlichkeit für die aus dem Zwiespalt der letzteren entspringenden Folgen aufgebürdet. In der collegialen Form der Regierung prägen die im Gesammtbewusstsein einander bekämpfenden Extreme (Radicalismus und Conservatismus) innerhalb des höchsten Regierungsorgans selbst als solche sich aus, während die Einheit des Bewusstseins durch die mangelnde Spitze nur collectiv und daher nur unvollkommen (Präsident) vertreten erscheint. Die parlamentarische Form hat den Vorzug, dass in derselben die Einheit des Gesammtbewusstseins, wie die in demselben vorhandenen Gegensätze gleichzeitig, die eine in der monarchischen Spitze und durch deren ewige Dauer in der festgesetzten Erbfolgeordnung am dauerhaftesten, die andere in den innerhalb der Volksvertretung einander bekämpfenden politischen Parteien (Fortschritts- und Stillstandsmänner, Whigs und Tories) am vollkommensten repräsentirt erscheint und daher das Ganze der Regierung, Monarch und Parlament, vereinigt das treueste Spiegelbild des gesellschaftlichen Gesammtbewusstseins darstellt.

377. Wie die andere ihresgleichen appercipirenden d. h. sich anschmelzenden Vorstellungsmassen im individuellen Bewusstsein, so stellen die einzelnen, jede für sich organisirten Gesellschaften (Familie, Stamm, Schule, Kirche etc.) innerhalb der räumlich, zeitlich und organisch zu einem Ganzen geeinigten Gesellschaft Mittelpunkte dar, welche vermöge ihrer bereits erlangten und befestigten Macht ihren Einfluss und Umfang durch die Heranziehung und Assimilirung gesinnungs- oder stammesverwandter Individuen zu vergrössern und zu erweitern bemüht sind. In diesem Sinne bildet sich um die durch Geburt, Ansehen oder Reichthum hervorragende Familie ein Familienanhang, um den durch Zahl, Macht oder Intelligenz zur Präponderanz gelangten Stamm ein Stammesgefolge, zieht die zu Gewicht und Nachdruck gelangte Schule (Staatsphilosophie Hegel’s unter Altenstein) stets neue Anhänger, wie eine durch den Besitz himmlischer und irdischer Güter reich gewordene, mit Privilegien für jenseits und diesseits ausgestattete Kirche (Staatskirche, englische Hochkirche) stets neue Bekenner an sich und droht, indem sie aus einer staatähnlichen zu einer dem Staat ebenbürtigen oder demselben überlegenen Macht innerhalb der Gesellschaft heranwächst und die besonderen Familien- oder Stammes- (Nationalitäts-), Schul- oder Kircheninteressen allmälig im Allgemeinbewusstsein einen überwiegenden Einfluss gewinnen, zu einem Staat im Staate und dadurch für diesen selbst zu einer ähnlichen Gefahr, [261]wie das im individuellen Bewusstsein übermächtig gewordene Neben- oder zweite Ich für die Ich-Vorstellung zu werden.

378. Wie die Ich-Vorstellung über das gesammte, oder doch den grössten Theil des Bewusstseins seine Herrschaft auszudehnen, so strebt der Staat über alle innerhalb seiner Raum-, Zeit- und Volksgrenzen vorhandenen organisirten Gesellschaften die Oberhoheit auszuüben d. h. sie aus unabhängigen in von ihm abhängige Corporationen, als seine Familien und Stämme, seine Schule, seine Kirche u. s. w. zu verwandeln. Derselbe duldet demgemäss innerhalb seines Umkreises weder sich souverän geberdende Feudalherren, noch von der Staatseinheit sich emancipirende Nationalitäten- oder Ländergelüste (Kantönligeist), eben so wenig von derselben unabhängige Unterrichts- (die „freie Schule”), oder religiöse Körperschaften (die „freie Kirche”), während diese ihrerseits gegen den „Racker von Staat” (Friedrich Wilhelm IV.) sich zu behaupten bemüht sind (Kampf der Reichsfürsten gegen den Kaiser, der Vasallen gegen den Landesherrn, der Provinzen und Stämme gegen das Reich, der „freien” d. i. katholischen Universitäten in Belgien gegen die Staatsuniversität, der Kirche gegen den Staat; „Culturkampf”).

379. Wie die physischen, so üben die Gesellschaftskörper gegenseitig Wirkungen auf einander aus. Wie die mechanisch zusammengesetzten Körper durch Häufung, so vergrössern sich die auf Association zu einem gemeinsamen Zwecke beruhenden Corporationen durch Vermehrung ihrer Mitgliederzahl in Folge der Fusion derjenigen, welche gleiche Zwecke verfolgen. Dieselbe wird überall dort, wo die gegebenen Umstände das gleichzeitige Bestehen mehrerer denselben Zweck verfolgenden Gesellschaften nicht erlauben, durch den daraus entspringenden „Kampf ums Dasein” d. i. durch die sogenannte „freie Concurrenz” herbeigeführt, dessen Devise das „ôte toi, que je m’y mette”, und dessen Ursache das „da-” d. i. das „an dem Orte sein wollen” ist, den ein Anderer einnimmt. Dagegen stehen die auf der qualitativen Gleichheit oder Ungleichheit ihrer Mitglieder ruhenden Gesellschaften unter einander wie die chemischen Körper in wahlverwandtschaftlichen Beziehungen, vermöge deren bestehende Verbindungen in Folge stärkerer Anziehung gelöst und bisher nicht bestandene aus demselben Grunde geschlossen werden. Wechsel der Berufs-, der Standesgenossenschaft auf der einen, des Gegenstandes der Freundschaft, der Liebe auf der anderen Seite sind die Folgen derselben. Jene werden durch Abneigung gegen den gegenwärtigen, durch Vorliebe für den künftigen Beruf oder Stand, [262]diese durch Antipathie gegen den bisherigen, Sympathie für den künftigen Gegenstand der Freundschaft oder der Liebe verursacht. Organische Gesellschaftskörper verschmelzen unter einander entweder auf realem z. B. dem geschlechtlichen Wege, indem durch Heirat verschiedenen Familien angehöriger Familienglieder (Familienheirat) eine neue Familie, durch Heiraten aus verschiedenen Stämmen ein neuer Stamm (Römer: aus Latinern und Sabinern), durch Ineinanderaufgehen zweier oder mehrerer Nationalitäten eine neue Nationalität (die englische: aus Sachsen und Normannen; die lateinische: aus Celten und Germanen; die amerikanische: aus Briten, Iren, Deutschen) entsteht, oder auf idealem Wege, indem aus der Vereinigung zweier oder mehrerer Wissens-, Glaubens-, oder politischer Genossenschaften eine neue Schule (z. B. die neuere Akademie aus Platonismus und Stoicismus), eine neue Kirche (z. B. die anglicanische aus Katholicismus und Lutherthum), eine neue politische Partei (z. B. Disraeli’s Reformtories aus Tories und Peeliten) hervorgehen.

380. Autochthone Gesellschaften, die ihre „Scholle” behaupten, werden auf diesem Wege von nomadischen, welche dieselbe vorübergehend occupiren, letztere von staatbildenden, welche daselbst sich bleibend niederlassen wollen, im „Kampf ums Dasein” bedrängt und verdrängt. Wie jene nach einander, so treten gleichzeitige nachbarliche organisirte Gesellschaften (Familien, Stämme, Schulen, Kirchen und Staaten) im Kampf ums Dasein (Familienfehde, Stammesfehde, Schulzwist, Sectenhass, Krieg) in feindliche oder freundliche Berührung (Familienbund, Stammesbündniss, Schulen- und Kircheneinigung, Staatenbündniss.) Je nachdem die Folge derselben die gegenseitig anerkannte Unabhängigkeit oder die auf gewaltsamem oder friedlichem Wege herbeigeführte Abhängigkeit des einen von dem andern Gesellschaftskörper ist, geht im ersten Falle ein statisches Gleichgewicht zwischen denselben (Oesterreichs und Preussens Aequilibrium im deutschen Bunde; das „europäische Gleichgewicht”) oder das Uebergewicht eines über die übrigen (Preussens im deutschen Reich; Russlands während der Zeiten der heiligen Allianz in Europa; der Nord- über die Südstaaten in Amerika), in beiden Fällen ein System von Gesellschaftskörpern (Staatensystem) aus demselben hervor, in welchem entweder die einzelnen sich zu einander wie Gegensonnen oder wie um eine Centralsonne rotirende Planeten verhalten. Ersteres kann, wenn die einzelnen Glieder (Staaten) ihrer Unabhängigkeit von einander ungeachtet zu einem Ganzen sich vereinigen, zu einer Gesellschaftsföderation [263](Staatenbund), letzteres, wenn die Abhängigkeit der vielen vom Centralkörper sich vermindert, zu einem Föderativkörper (Bundesstaat) führen.

381. Wie der die Zwischenräume der physikalischen Atome füllende Aether und die zwischen den festen Körpern befindliche Luftmasse, jener gleichsam die immaterielle, diese die materielle Atmosphäre der Körperwelt ausmacht, wie die auf die Beziehungen zwischen den einzelnen Bewusstseinsgebilden bezüglichen Phänomene des Bewusstseins (die Gefühle) gleichsam die gemüthliche Temperatur der Bewusstseinswelt, deren Wärme oder Kälte ausdrücken, so stellt das innerhalb einer Gesellschaft vorhandene gemeinsame Bewusstsein mit seinen allen gemeinsamen Vorstellungen, Gefühlen und Strebungen gleichsam das psychische Innere der Gesellschaft, die ersten deren Geist, die zweiten deren Gemüth, die letzten deren Charakter dar. Erstere, der Inbegriff des im Bewusstsein der Gesellschaft lebenden Meinens, Glaubens und Wissens, macht dabei gleichsam die Licht-, die Summe der innerhalb derselben vorhandenen Lust- und Unlustgefühle, insbesondere aber jene der im gemeinsamen Bewusstsein wirksamen Mit- oder socialen Gefühle gleichsam die Wärme-, die magnetischen und elektrischen Phänomene innerhalb der gesellschaftlichen Atmosphäre aus, während die Zahl und Beschaffenheit der innerhalb der Gesellschaft begangenen Thaten, wenn dieselben als unvorsätzliche im Rausche der Leidenschaft begangene Handlungen angesehen werden dürfen, den Grad der innerhalb der Gesellschaftsatmosphäre vorhandenen, der Gewitterschwüle vergleichbaren, affectvollen Spannung, wenn sie dagegen als vorsätzliche, im zurechnungsfähigen Zustand zur Aeusserung gelangte Willensacte betrachtet werden müssen, das der mittleren Witterung ähnliche Niveau des innerhalb der Gesellschaft gegebenen Sittlichkeitszustandes bezeichnen. Licht und Finsterniss in der physischen kehren innerhalb der gesellschaftlichen Welt als die Gegensätze der Aufklärung und des Wahn- und Aberglaubens, Hitze und Kälte jener als Gemüthsfülle und Gemüthlosigkeit, Anziehung und Abstossung gleichnamiger und ungleichnamiger Pole als menschenfreundliches Mitgefühl und erkältende Selbstsucht, verheerende Sturmfluten, magnetische und elektrische Ungewitter, aber auch luftreinigende Gewitterstürme und befruchtende Frühlingsregen als zerstörende Ausbrüche entfesselter Leidenschaft, aber auch als heroische Thaten enthusiastischer Aufopferung, endlich der durchschnittliche Zustand der Licht- und Wärmevertheilung [264]in dem durchschnittlichen Verhältniss begangener Ausschreitungen und Verbrechen (wie es die sogenannte moralische Statistik aufweist) zu der Zahl und dem Bildungszustand der Gesellschaft wieder.

382. Wie die Körper im Raume, die Vorstellungen im Bewusstsein, so wechseln die Gesellschaftsglieder ihren Ort innerhalb der Gesellschaft, die Gesellschaften selbst den ihrigen im Raume neben, in der Zeit nach und vor andern Gesellschaften. In dem „Kampf ums Dasein”, welchen die Körper in der physischen, die Vorstellungen der Bewusstseinswelt, wie die Mitglieder der Gesellschaft um ihre Stellung in dieser mit einander führen, werden die einen, die herrschenden, von oben nach unten, andere, beherrschte, von unten nach oben gedrängt, und wie die Hindernisse, die dem im Raume bewegten Körper, und die Hemmungen, die der zur Klarheit aufstrebenden Vorstellung im Wege stehen, so die gesellschaftlichen Widerstände, welche den innerhalb der Gesellschaft Emporstrebenden begegnen, durch Glück oder Klugheit überwunden. Wandervölker und Auswanderer verändern den Ort ihres geselligen Zusammenlebens, während bis dahin blühende Gesellschaften durch Zerfall und innere Erschlaffung von ihrer Höhe herabsinken oder durch andere von derselben gestürzt werden. Wie aber der physische Körper gleich dem Bewusstseinsgebilde nicht blos den Ort, sondern auch Form und Stoff zu wechseln vermag, so geht der Gesellschaftskörper nicht nur aus der lockeren in engere Association (Actiengesellschaft in Handelscompagnie), sondern aus der qualitätslosen in die qualitative Genossenschaft (aus blosser Geselligkeit zur Freundschaft) und endlich in organische Verschmelzung (aus dem Liebesverhältniss zur Heirat und Familie) und organisirte Gesellschaft, diese aus der pflanzenartigen Form des Autochthonenthums aber selbst in die freibewegliche der Wandergesellschaft, nach dieser in die höhere Form der staatähnlichen Organisation und schliesslich in deren höchste und vollkommenste Gestaltung, den Staat über.

383. Wie der Stoff des Bewusstseins die primitiven Bewusstseinsacte, so ist der Stoff der Gesellschaft der Inbegriff jener Bewusstsseinsindividualitäten, welche unter einander durch die Congruenz ihres individuellen Bewusstseinsgehalts zu einem Alle umfassenden gemeinsamen Bewusstsein verbunden werden. Hört eines dieser Einzelbewusstsein auf, seinem Inhalt nach mit jenem der übrigen zu harmoniren, so gehört dasselbe nicht mehr dem Allgemeinbewusstsein [265]an und hat der Einzelne, dessen Bewusstsein auf diese Weise sich von dem allgemeinen geschieden hat, innerlich längst aufgehört Gesellschaftsmitglied zu sein, auch wenn nach aussen hin dessen bisheriger Verband dem Anschein nach unverändert fortbesteht. So kann der innerlich von dem Glaubensbekenntniss einer Glaubensgenossenschaft Abgefallene äusserlich in dem gesellschaftlichen Verbande seiner Kirche fortleben, also längst „confessionslos” geworden sein, ehe er sich äusserlich als solchen bekennt. Mit der Auflösung des gemeinschaftlichen Bewusstseins löst die Gesellschaft sich selbst auf, mit der Selbstauflösung aller unter eine gemeinsame Kategorie (z. B. unter jene der Familie, der Schule, der Kirche etc.) gehörigen Gesellschaften tritt für jede jener Kategorien socialer Nihilismus (der Familie als Auflösung jedes Familien-, der Schule oder Kirche als solche jedes wissenschaftlichen und Bekenntnissverbandes) ein. Mit der Selbstauflösung des Staats als der gesellschaftlichen Verwirklichung der Gesellschaftsidee erfolgt die Verneinung dieser selbst, die Annihilisation eines gesellschaftlichen Verbandes überhaupt und damit die Rückkehr zum ursprünglichen Zustand ungesellter Individuen, des Zerfalls des socialen, wie oben des physischen Stoffs, in seine Atome.

384. Wie die Gesammtheit der physischen Körper den Kosmos, die Gesammtheit der Bildungen des individuellen Bewusstseins die Seelenwelt des Individuums, so macht die Gesammtheit gesellschaftlicher Körper von den gleichgiltigsten und flüchtigsten Associationen bis zu dauerhaften, sei es durch Bluts-, sei es durch Ueberzeugungsbande verschmolzenen organischen und organisirten Corporationen und zu der ausdauerndsten und umfassendsten von allen, dem Staate und den Staaten in ihren gegenseitigen, sei es auf Ebenbürtigkeit, sei es auf Abhängigkeit gegründeten Beziehungen, als Staatensystem, so weit die geschichtliche Erfahrung reicht, die Welt der Geschichte aus. Wie die Totalität des physischen und jene des im individuellen Bewusstsein sich vollziehenden psychischen Geschehens die Naturgeschichte des Kosmos und die Geschichte der Seelennatur, so stellt die Gesammtheit des innerhalb der Gesellschaft wie innerhalb der Gesellschaften von den unscheinbarsten Regungen eines gemeinschaftlichen Bewusstseins im Umkreis locker verknüpfter bis zu der reichsten Entfaltung gemeinsamen Denkens, Fühlens und Wollens unter einander physisch oder psychisch eng verwandter Individuen, von dem einförmigen Dahinleben der Natur- bis zu den wechselvollen Schicksalen hochcivilisirter [266]Culturvölker, von den seltenen und zufälligen feindseligen und freundlichen Berührungen zerstreuter Horden, Familien und Stämme bis zu den eng verflochtenen materiellen und geistigen Interessen und dem Raum und Zeit überwindenden Handels-, literarischen und persönlichen Verkehr einer zu stets sich steigernder Gleichartigkeit der Bildung, der Sitten und der staatlichen Formen entwickelten Menschheit herauf, so weit die geschichtliche Erfahrung reicht, die nach unveränderlichen Gesetzen sich vollziehende Entwickelungsgeschichte der Gesellschaft, die Weltgeschichte dar. [267]

DRITTES BUCH.

DIE KUNST.

[269]

[Inhalt]

ERSTES CAPITEL.

Die Bildungskunst.

385. Wie es die Aufgabe des ersten Buches war, die Ideen als Musterbegriffe ohne Rücksicht auf eine denselben entsprechende oder nicht entsprechende Wirklichkeit, jene des zweiten dagegen, das Wirkliche ohne Rücksicht auf dessen vorhandene oder nicht vorhandene Uebereinstimmung mit den Ideen, jedes der beiden genannten Gebiete rein, ohne Beeinflussung oder Färbung durch das andre für sich darzustellen, so ist es die Aufgabe des dritten, durch dessen Gegenstand, die Kunst, welche weder, wie der Inhalt des ersten vorschreibende, noch wie jener des zweiten Buches beschreibende Betrachtung, sondern reale Bethätigung ist, die Ideen in die Wirklichkeit einzuführen d. h. das mit den Ideen nicht in Einklang stehende Wirkliche diesen, so weit dessen Natur es gestattet, harmonisch zu gestalten.

386. Aus dem Gesagten folgt, dass der Begriff der Kunst, insofern unter demselben Darstellung von Ideen im wirklichen Stoffe verstanden wird, weder mit jenem der schönen Kunst, welche die Darstellung ästhetischer Ideen, noch mit jenem der Technik, welche die kunstfertige Ueberwindung der Ideendarstellung durch das wirkliche Material in den Weg gestellter Widerstände in sich begreift, identisch, sondern weiter als beide ist und als auf Wissen sich stützendes Können überall dort zur Anwendung kommt, wo von Darstellung gleichviel was für welcher Ideen in wirklichem, gleichviel ob willigem oder sprödem Stoffe die Rede ist. Jenes, das Merkmal der Ideendarstellung, unterscheidet die Kunst von der ideenlosen Virtuosität, die sich in Ueberwindung im Material nicht gegebener, sondern in demselben ausdrücklich hervorgesuchter, also [270]selbstgemachter Schwierigkeiten gefällt. Dieses, das Merkmal der Realität des Materials, durch welche die Idee selbst solche gewinnt, unterscheidet die Kunst von dem traumhaft dahinfliessenden Bewusstseinsgespinnst, welches weder durch die Verarbeitung nach logischen Ideen logischen Halt, noch durch solche nach ästhetischen Ideen ästhetische Form, noch durch gleiche nach ethischen Ideen ethischen Gehalt, noch endlich durch Verkörperung in lebendigem, eigenem oder fremdem, oder in leblosem Stoff reale Gestalt annimmt. Wie jene Können ohne Wissen (entweder nicht Kennen oder nicht Kennenwollen der Ideen, die sich gar wol mit umfassender Kenntniss des sonst zur Ideendarstellung bestimmten Stoffs verträgt), so stellt dieses, auch wenn es wie der hellseherische Traum des Genius das Wahre trifft, ein Wissen ohne Können dar (nicht Verarbeiten, oder nicht Verarbeitenwollen der Idee im Stoff, welches sich gar wohl wo mit umfassendem Vermögen künstlerischer Darstellung vertragen, aber auch aus Mangel technischer Anlage oder aus „göttlicher Trägheit” entspringen kann).

387. Kunst in diesem Sinn ist einerseits so vielfach, als überhaupt zur Darstellung geeignete Ideen, und so mannigfaltig, als zur Aufnahme derselben empfängliche Stoffe vorhanden sind. Dieselbe erscheint in ersterer Hinsicht als Darstellerin logischer, ästhetischer und ethischer d. i. der Ideen des Wahren, Schönen und Guten. In letzterer Hinsicht wird es darauf ankommen, ob das Material, dessen die Kunst sich bedient, psychischer (Bewusstseins-) oder physischer (materieller) Natur, und im ersteren Fall, ob der Bewusstseinsstoff Inhalt des eigenen oder eines fremden Bewusstseins sei. Dieselbe gliedert sich in dieser Hinsicht in die dreifache Kunst der Bildung der Vorgänge des eigenen Bewusstseins (Vorstellen, Fühlen, Wollen), so wie jener eines fremden Bewusstseins, endlich der Körper und Processe der physischen (leblosen und lebendigen) Natur nach (logischen, ästhetischen, ethischen) Ideen. Die erste als Kunst der Ideendarstellung im eigenen Vorstellen, Fühlen und Wollen d. i. der Bildung des eigenen Vorstellens nach logischen, ästhetischen und ethischen, des eigenen Fühlens nach ästhetischen und des eigenen Wollens nach ethischen Normen ergibt die Kunst der Selbstbildung oder die Bildungskunst. Die zweite als Kunst, das Vorstellen, Fühlen und Wollen eines Andern, das erste nach logischen, ästhetischen und ethischen, das zweite nach ästhetischen, das dritte nach ethischen Normen zu bilden, ergibt die Kunst der Bildung Anderer oder die Bildekunst. Die dritte als die Kunst, die Processe [271]und Körper der materiellen, lebendigen und leblosen Natur nach Ideen zu behandeln d. i. durch die Wahrheit als Wissenschaft zu beherrschen, durch die Schönheit als Kunst zu verschönern und durch die Güte als wohlwollende und menschenwürdige Behandlung zu veredeln, ergibt als Kunst die Natur zu bilden, die bildende Kunst.

388. Bildungskunst als Ideendarstellung im eigenen Vorstellen ist als Darstellung logischer Ideen in demselben zunächst logische Kunst. Insofern die logischen Ideen den Inbegriff der Bedingungen ausmachen, unter welchen Denken zum Wissen wird, besteht deren Aufgabe darin, das eigene Vorstellen in Wissen, den Inhalt desselben in Wissenschaft zu verwandeln. Der Denkende wird zum Wissenden, wenn ihm alles dasjenige, aber auch nur dasjenige als wahr d. i. als richtig und giltig erscheint, was ihm in Folge der Anwendung logischer Normen auf sein Denken als solches erscheinen muss. Andernfalls weiss er nicht, sondern meint, ahnt oder glaubt nur. Ersteres, wenn er überhaupt keine Gründe, letzteres, wenn er andere als logische d. i. aus dem Inhalt des Gedachten stammende Gründe hat, dasselbe für wahr zu halten. Je nachdem diese letzteren entweder aus dem Gefühl, oder aus dem Begehren, Wünschen und Wollen genommen sind, so dass der Vorstellende dasjenige für wahr oder falsch hält, was seinen Gefühlen, oder dasjenige, was seinen Wünschen entspricht oder entgegen ist, tritt das von ihm für wahr Gehaltene in der Form eines Vorausgefühlten (Geahnten) oder Vorauserwarteten (Geglaubten) auf, auch dann, wenn dasselbe nach logischen Regeln aus der Beschaffenheit des Gedachten weder vorhergesehen, noch überhaupt gewusst werden kann.

389. Insofern und weil das Wissen vom Meinen, Ahnen und Glauben verschieden, die Form des Gewussten auch dann, wenn der Inhalt derselbe ist, von der Form des blos Gemeinten, Geahnten oder Geglaubten verschieden sein muss, so folgt, dass die logische Kunst als Bearbeitung des eigenen Vorstellens nach logischen Regeln zunächst darauf ausgehen muss, das zu bearbeitende Material d. i. das eigene Vorstellen von allen ihm fremdartigen Bestandtheilen und Zusätzen zu reinigen d. h. alles dasjenige auszuscheiden, was nicht selbst Vorstellung, sondern Gefühl oder Streben (Begierde, Wunsch, Wille) ist. Dieselbe trachtet daher vor allem den Vorstellenden von jeder Rücksicht auf dasjenige frei zu machen, wodurch der Inhalt des Gedachten zu dessen Gefühlen, Begierden, Wünschen und Willensbestrebungen in förderlicher oder hemmender [272]Beziehung steht d. h. entweder ein ästhetisches oder ein praktisches Interesse für denselben hat. Denn, wo das erstere herrscht, wird der Vorstellende eine eben so begreifliche Neigung zeigen, dasjenige, was ihm aus irgend einem Grunde nützlich, angenehm oder schön erscheint d. h. gefällt, für wahr oder wirklich, wie dasjenige, was ihm missfällt, für falsch oder Fiction zu halten; wo das letztere herrscht, wird er bereit sein, dasjenige, was er aus irgend einem Grunde begehrt, wünscht oder will, für begehrenswerth, möglich und erlaubt, so wie dessen Gegensätze d. i. alles dasjenige, was er verabscheut, weder wünscht noch will, für das Gegentheil zu halten. Aus dem ersteren entspringt, wenn das für wahr Gehaltene deshalb dafür gehalten wird, weil dasselbe uns nützlich, dagegen für falsch, wenn es uns schädlich scheint, die sogenannte gute oder schlimme Ahnung, — wird es dagegen für wahr oder falsch gehalten, je nachdem es uns angenehm und schön oder unangenehm und hässlich dünkt, der poetische Optimismus oder Pessimismus, poetischer Glaube oder Unglaube (Wahnglaube). Aus dem letzteren entspringt, je nachdem das praktische Interesse an dem Inhalt des Gedachten den Vorstellenden nur gestimmt macht, Ungewisses, ja selbst Unwahrscheinliches, aber doch Mögliches und bis zu einem gewissen Grad Wahrscheinliches über diesen hinaus für wahrscheinlich, ja selbst für gewiss zu halten, oder dermassen verblendet, dass er nicht blos Unwahrscheinliches für wahrscheinlich, sondern Unmögliches für möglich, ja selbst für wirklich hält, im ersten Fall Leichtgläubigkeit, im zweiten Fall Aberglaube. Beide sind verzeihlich, wenn die Begierden, Wünsche und Willensbestrebungen, durch die sie veranlasst werden, entweder an sich löblich oder doch erlaubt, dagegen unentschuldbar, wenn dieselben nicht blos thöricht, sondern unerlaubt und verwerflich sind.

390. Die Bearbeitung des eigenen Vorstellungsmaterials erfolgt, wenn das letztere von fremdartigen, ästhetischen und praktischen Zusätzen gereinigt ist, „sine ira”, aber erst, wenn dieselbe nicht blos auf Grund des psychischen Mechanismus, sondern nach logischen Normen geschieht, „cum studio”. Jene dient nur dazu, den Vorstellenden von den Einflüssen des ästhetischen und praktischen Interesses auf sein Denken frei d. h. das rein wissenschaftliche Interesse an dem Inhalt des Gedachten zu dessen einzigem zu machen: diese geht darauf aus, die durch den psychischen Mechanismus des Bewusstseins thatsächlich in demselben entstandenen Gedanken vom Gesichtspunkt der logischen Ideen einer kritischen [273]Prüfung zu unterziehen d. h. das specifisch logische oder im weiteren Sinn philosophische Interesse zu befriedigen. Die Aufgabe der ersteren ist erfüllt, wenn es derselben gelungen ist, auf rein wissenschaftlichem d. i. weder durch ästhetische, noch praktische Interessen beeinflusstem Wege inhaltsvolle Gedanken (Begriffe, Urtheile, Schlüsse, Systeme), jene der letzteren aber erst, wenn sie es dahin gebracht hat, den Forderungen logischen Denkens gegenüber haltbare d. i. logisch denkbare Gedanken (denknothwendige oder doch logisch erlaubte Begriffe, Urtheile, Schlüsse und Systeme) herzustellen. Frucht der ersteren ist die naive d. i. empiristische und im philosophischen Sinn kritiklose, die der letzteren dagegen die bewusste d. i. philosophische, weil durch logische Kritik gesichtete Wissenschaft.

391. Die naive Wissenschaft führt ihren Namen daher, weil sie einerseits zwar Wissenschaft d. h. von den Einflüssen des Gefühls und des Willens frei, andererseits aber naiv ist d. i. um die Frage, ob der psychische Mechanismus von Haus aus derart beschaffen sei, dass die durch denselben im Bewusstsein zum Vorschein kommenden Gebilde (Begriffe, Urtheile, Schlüsse, Schlussketten und Systeme) wahre d. i. richtige und giltige Begriffe, Urtheile u. s. w. sein müssen oder doch sein können, sich unbekümmert zeigt. Letztere aber d. i. die eigentlich kritische Frage, weil sie nichts geringeres als das gesammte erkenntnisstheoretische Problem d. i. die Würdigung der gesammten auf dem Wege des psychischen Mechanismus entstandenen Vorstellungen in Bezug auf deren Erkenntnisswerth enthält, ist um so unabweislicher, je weniger es sich bestreiten lässt, dass gewisse auf obigem Wege mit naturgesetzlicher Nothwendigkeit im Bewusstsein sich einstellende Vorstellungsgebilde in Hinsicht auf deren Bedeutung für die Erkenntniss keinen oder sogar einen negativen Werth besitzen d. h. nicht blos Hohl-, sondern Wahngebilde sind. Zu diesen gehören die sogenannten Sinnestäuschungen (Illusionen und Hallucinationen), aber auch der Schein der täglichen Bewegung des gestirnten Himmels um die Erde, oder des am Horizont vergrösserten Durchmessers des Mondes, deren sich der Astronom, der sie als Trug erkennt, eben so wenig wie der Laie, der sie für Wirklichkeit nimmt, zu erwehren vermag. Ebendahin aber auch gewisse Begriffe, welche, wie jener Schein, auf Grund des psychischen Mechanismus im Bewusstsein mit naturgesetzlicher Nothwendigkeit entstehen und daher unabweislich, aber nichts desto weniger von einer Inhaltsbeschaffenheit sind, welche nicht ohne weiteres gestattet, deren Inhalt für möglich, geschweige denn für wirklich, also auch nicht [274]sie selbst für richtige und giltige Begriffe zu halten. Von dieser Art sind Begriffe, deren Inhalt auf Wirkliches bezogen und folglich, da dieselben thatsächlich im Bewusstsein gegeben sind, als wirklich gesetzt wird, zugleich aber in sich widersprechend ist, so dass die Forderung, denselben als wirklich zu setzen, nichts geringeres bedeutet als ein Widersprechendes, also ein solches, was nach logischen Ideen als wirklich nicht gedacht werden darf, denselben zum Trotz als solches zu denken. Zeigt sich nun, dass zu diesen Begriffen gerade diejenigen gehören, von welchen die sogenannten Erfahrungswissenschaften, Natur- und Geschichtswissenschaft, den umfassendsten Gebrauch und die freigebigste Anwendung machen, ja solche, ohne welche das von obigen Wissenschaften errichtete Wissenschaftsgebäude, die sogenannte Natur- und Geschichtserfahrung, weder Grundlage noch Zusammenhang, überhaupt keinerlei Halt besässe, so erscheint das in die Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit jener Wissenschaften gesetzte Vertrauen so lange als unberechtigt, die Wissenschaft selbst als naiv, so lange nicht entweder jene Begriffe beseitigt oder, da dies, ohne das Werk jener Wissenschaften selbst zu zerstören, unmöglich ist, wenigstens die Widersprüche aus deren Inhalt verschwunden sind.

392. Der geschilderte Fall ereignet sich bei den sogenannten metaphysischen oder, wenn alle Begriffe, deren Inhalt auf Wirkliches bezogen wird, ontologische (Seinsbegriffe) heissen sollen, bei den allgemeinsten ontologischen Begriffen, als welche (von Herbart) namentlich jene des Dings mit mehreren Merkmalen, der Veränderung (incl. der Bewegung) der Materie und des Ichs angeführt worden sind. Dieselben sind sämmtlich „Thatsachen des Bewusstseins” d. h. sie finden sich in Folge und auf Grund des psychischen Mechanismus in jedem normal naturgesetzlich entwickelten Bewusstsein in gleicher Weise, als aus den ursprünglichen Bewusstseinsacten gesetzmässig abgeleitete psychische Gebilde vor; der Inhalt derselben ist daher weder selbst gemacht, sondern gegeben, noch willkürlich anders gemacht, als er gegeben ist, sonach unabweislich. Derselbe ist aber zugleich so beschaffen, dass er einander gegenseitig ausschliessende, weil widersprechende Bestimmungen enthält, sonach unhaltbar. Bei dem Begriff des Dings mit mehreren Merkmalen besteht dieser Widerspruch darin, dass dasselbe zugleich als eins und als vieles, bei dem Begriff der Veränderung darin, dass das Veränderte zugleich als dasselbe und nicht dasselbe, bei der Materie darin, dass dieselbe ins Unendliche getheilt und doch aus [275]Theilen entstanden, bei dem Begriff des Ich endlich darin, dass dasselbe als sich sich vorstellend d. i. einen regressus in infinitum einschliessend und doch als finitum d. i. als vollendet gedacht werden soll. Dieselben sind aber zugleich von der Art, dass das gesammte Gebäude der Erfahrung und sonach der Erfahrungswissenschaft auf der Voraussetzung ihrer Giltigkeit ruht; weder die Körper-, noch die geschichtliche Welt, wie sie erfahrungsmässig gegeben sind, wären ohne Voraussetzung der Wirklichkeit von Dingen als Trägern zahlreicher Eigenschaften, von Bewegung in Raum und Zeit, so wie qualitativer Veränderung von Stoff in der einen und bewussten Individuen in der anderen möglich. Letztere und damit die gesammte auf Erfahrung beruhende vorgebliche Wissenschaft vom Wirklichen müsste sonach so lange für bodenlos, diese Wissenschaft selbst für naiv gelten, als jene vor dem Forum der Logik unhaltbaren Begriffe deren Grundlage ausmachen.

393. Da die Bearbeitung der im Bewusstsein auf normalem Wege entstandenen Vorstellungen vom Gesichtspunkt jener erkenntnisstheoretischen Frage nicht durch den Inhalt der Vorstellungen selbst, sondern durch das Verhältniss der Naturgesetze des Denkens (des psychischen Mechanismus) zu dessen Normalgesetzen (den logischen Ideen) bedingt ist, so erstreckt sich die Bezeichnung der Naivetät über das ganze Gebiet der unkritisch (d. i. ohne Rücksicht auf obige Frage) verfahrenden Wissenschaft d. h. auf die Gebiete aller besonderen Wissenschaften, gleichviel welchen Gegenstand dieselben betreffen mögen, sonach auf die formalen, wie Mathematik und Grammatik, nicht weniger, wie auf die realen, und unter diesen ebenso auf die theoretischen, welche, wie Geschichte und Naturwissenschaft, von Wirklichem, wie auf die praktischen, welche wie Kunst- und Sitten-, Rechts-, Staats- und Erziehungslehre von erst zu Verwirklichendem handeln; endlich auf das von der Erfahrung nicht blos ausgehende, sondern ausschliesslich auf dieselbe sich stützende d. i. empirische Denken (empirischer Dogmatismus) nicht weniger als auf jedes den Ursprung seiner Begriffe aus dem psychischen Mechanismus und damit die Zweifelhaftigkeit ihres erkenntnisstheoretischen Werths entweder nicht kennende oder vornehm ignorirende, um dieser seiner begrifflichen Form willen im eminenten Sinn „philosophisch” (rational, speculativ, dialektisch) sich nennende Denken (dogmatische Philosophie).

394. Wie jeder Dogmatismus, auch der in der Philosophie, vor, so liegt die bewusste d. i. durch Bearbeitung der im psychischen [276]Mechanismus gewordenen Begriffe nach logischen Normen entstandene und ihrer Uebereinstimmung mit den letztern innegewordene Wissenschaft nach der Beantwortung der kritischen Frage d. i. dem Kriticismus. Wie dieser selbst aus der Skepsis, so geht die wahre d. h. kritisch gesichtete Wissenschaft aus der Kritik hervor. Insofern die letztere auf alle thatsächlich im Bewusstsein vorfindlichen Begriffe, gleichviel welchem wissenschaftlichen Gebiete dieselben angehören mögen, sich ausdehnt, unterscheidet sie sich von jener Gattung von Kritiken, deren jede sich nur auf ein begrenztes Gebiet für richtig und giltig gehaltener Begriffe, Urtheile oder Schlüsse erstreckt d. i. wie die sogenannte historische Kritik angeblich historische Thatsachen, wie die sogenannte philologische Kritik vermeintlich echte Textesüberlieferungen, wie die ästhetische Kritik unverdienter Weise als mustergiltig gepriesene Kunstleistungen u. s. w. auf ihre wahre Gestalt und wirklichen Gehalt zurückzuführen sich zur Aufgabe macht. Wie durch letzteren Umstand dem Umfange nach, so sondert sie sich von den angeführten Arten der Kritik überdies durch die Beschaffenheit des der Beurtheilung zu Grunde liegenden Massstabs ab, welcher für sie weder in der Uebereinstimmung oder im Widerspruch des angeblich Geschichtlichen mit als solches Anerkanntem (wie bei der historischen Kritik), noch in dem Einklang oder der Abweichung der vermeintlich echten mit oder von der als solche beglaubigten Textesüberlieferung (wie bei der philologischen Kritik), noch in der Harmonie oder Disharmonie der jeweilig gelobten oder getadelten Leistung mit den ästhetischen Normen (wie bei der Kunstkritik) u. s. w., sondern einzig und allein in der Denkbarkeit oder Undenkbarkeit, so wie in der Denknothwendigkeit der Begriffe nach logischen Normen gelegen ist.

395. Die auf diesem Wege durch Bearbeitung der Begriffe entstandene Wissenschaft ist Philosophie. Der Unterschied derselben von den besonderen Wissenschaften liegt, da die Bearbeitung, aus der sie entspringt, sich auf die Gebiete aller Wissenschaften ausdehnt, nicht darin, dass sie anderes, sondern darin, das sie anders weiss. Wenn der Name der Wissenschaft nicht nach dem Grade der Wissenschaftlichkeit ertheilt, sondern je nach der Besonderheit des Gegenstandes vertheilt werden soll, so ist die Philosophie, wie der Poet bei der Theilung der Erde, so bei der Theilung des (Bacon’schen) „Globus intellectualis” zu spät gekommen. Wenn dagegen jener allein entscheidet, so ist die bewusste aus kritischer Sichtung des Gewussten hervorgegangene allein wahre [277](Normal- und zugleich Universal-) Wissenschaft. Dieselbe zerfällt, je nachdem die Bearbeitung gegebener Begriffe nach logischen Normen der formalen oder der realen Seite derselben gilt, selbst in eine philosophische Formal- und in philosophische Realwissenschaften. Jene behandelt die gegebenen Begriffe lediglich als Begriffe, wobei von der Beschaffenheit des Inhalts derselben abgesehen wird, und erstreckt sich daher auf alle gegebenen Begriffe ohne Unterschied. Diese unterscheiden sich von jener gemeinsam durch den Umstand, dass der Inhalt der Begriffe berücksichtigt, unterscheiden sich aber unter einander selbst wieder durch den Umstand, dass die eine derselben alle diejenigen Begriffe umfasst, deren Inhalt als wirklich gedacht, die andere dagegen alle diejenigen, deren Inhalt allgemein und nothwendig wohlgefällig oder missfällig gefunden werden soll. Erstere, die philosophische Formalwissenschaft fällt mit der (formalen) Logik, letztere beiden als theoretische und praktische philosophische Realwissenschaft fallen mit der Metaphysik (philosophische Wissenschaft vom Wirklichen, Ontologie) und Aesthetik (philosophische Wissenschaft vom Gefallenden und Missfallenden, welche auch als Ethik das unbedingt Gefallende am Wollen in sich schliesst) zusammen.

396. Wie die Darstellung logischer Ideen im eigenen Vorstellen logische, so ist jene, ästhetischer Ideen in demselben schöne Kunst. Insofern in den letztgenannten die Summe der Bedingungen enthalten ist, unter welchen wie immer beschaffener realer Stoff unbedingt gefällt oder missfällt, geht die ästhetische Ideendarstellung darauf aus, das eigene ohne Rücksicht auf ästhetische Zwecke durch psychischen Mechanismus entstandene in schönes d. i. den ästhetischen Normen angemessenes Vorstellen zu verwandeln. Da nun dasjenige, wodurch Vorgestelltes gefällt oder missfällt, nicht das Was (der Gehalt), sondern das Wie (die Gestalt) desselben ist, so muss, um das gegebene Vorstellen in ästhetisches zu verwandeln, zunächst von dem Inhalt desselben und der Frage, ob derselbe wahr oder ein demselben entsprechendes Object wirklich oder nicht wirklich sei, völlig abgesehen und das wissenschaftliche (prosaische) Interesse an der Wahrheit oder Wirklichkeit durch das ästhetische (poetische) Interesse an der Schönheit des Gedachten ersetzt werden. Während die logische Kunst Denken in Wissen, muss die schöne Kunst auch wahre in nur wahr scheinende Gedanken verkehren, wenn dieselben ästhetisch d. i. als schöner Schein, statt didaktisch d. i. als theoretische, oder moralisch [278]d. i. als bessernde Belehrung wirken sollen. Sogenannte didaktische oder moralische Kunst („moralisch Lied”) ist daher nicht sowol Kunst als vielmehr Wissenschaft (Gedankenprosa) in Kunstform (Lehrgedicht, Fabel).

397. Das auf diesem Wege in Schein umgewandelte Vorstellen (die „Welt der Phantasie”) bildet das Material der ästhetischen Ideendarstellung. Dasselbe ist so vielfach und mannigfaltig als das Vorstellen selbst und zerfällt, wie dieses, je nach der Beschaffenheit seines Inhalts in verschiedene Classen. Die erste derselben ist jene der sogenannten einfachen Empfindungen (des Gesichts oder Gehörs oder des Tastsinns, während Geruchs- und Geschmacksempfindungen ihrer Unbestimmtheit wegen als ästhetisches Material keine Verwendung finden, ausser etwa in der Gastronomie, in welcher durch Abwechslung verschiedener Geschmäcke, oder in der Garten- und Toilettenkunst, wo durch Abwechslung verschiedener Wohlgerüche ein dem ästhetischen verwandter Eindruck hervorgebracht werden soll). Die Gesichtsempfindungen, und zwar sowol jene der quantitativ verschiedenen Helligkeits- und Dunkelheitsgrade (Licht und Schatten) wie die der qualitativ unterschiedenen Lichteindrücke (Farben) liefern den Stoff für die Kunst des Colorits (Helldunkel und Farbengebung). Die Empfindungen des Gehörssinns, und zwar sowol jene der quantitativ verschiedenen Intensitätsgrade des Schalls (forte piano), wie jene der qualitativ verschiedenen periodischen Klangreize (Töne) liefern den Stoff für die phonetische Kunst (Modulation, Klangfarbe). Die Tastempfindungen, und zwar sowol jene des quantitativ verschiedenen Drucks und der demselben Widerstand leistenden Kraft, die „statischen” Empfindungen, wie jene der qualitativ verschiedenen (ebenen oder gekrümmten) Körperoberflächen (Ebene, Kugeloberfläche, gewellte Oberfläche u. s. w.), die „plastischen” Empfindungen, liefern das Material, jene für die bauende, diese für die bildende Kunst (Architektur und Sculptur). Die zweite Art der Vorstellungen begreift diejenigen, deren Inhalt leere Reihen und deren Grössenverhältnisse, und zwar sowol Zeit- und Zahlen- als Raumverhältnisse ausmachen, welche letzteren selbst einander entweder quantitativ gleich (wie bei den symmetrisch angeordneten Gegenständen im Raum), oder proportional (wie bei der regelmässigen Aufeinanderfolge gleicher und ungleicher Abschnitte in der Zeit), oder qualitativ gleichartig (z. B. als Raumformen entweder durchaus lineare, oder ebene, oder gekrümmte Flächenformen, als Zeitabschnitte durchaus lineare Formen) oder ungleichartig (als Raumformen [279]aus geraden und krummen Linien, ebenen und gekrümmten Flächen, als Zeitformen aus Eintheilungsgliedern nach verschiedenen Zeiteinheiten gemischt) sein können. Dieselben liefern den Stoff, wenn sie Raumformen und deren Verhältnisse zum Inhalt haben, für die zeichnende (raummessende und raumbildende), wenn Zeitformen und deren Verhältnisse ihren Inhalt ausmachen, für die rhythmische (zeitmessende und zeitraumbildende Kunst). Die dritte Classe von Vorstellungen umfasst die sinnlichen Vorstellungen und die aus denselben entwickelten Gemeinbilder (Begriffe), welche als solche einen bestimmten aus der Erfahrung entweder unmittelbar, oder durch inzwischen eingetretene Veränderungen mittelbar geschöpften Inhalt besitzen d. i. Gegenstände darstellen, welche entweder ganz oder deren Bestandtheile in der sogenannten wirklichen d. h. in der phänomenalen Welt der Erfahrung vorfindlich sind, liefert den Stoff zur Ideendarstellung in der Vorstellungswelt der gegebenen Erfahrung d. i. zur Dicht- oder poetischen Kunst. Durch die Vereinigung zweier oder mehrerer dieser sogenannten einfachen Künste zu einer einzigen Kunst kann eine zusammengesetzte Kunst d. h. Ideendarstellung in einem Material entstehen, welches die Summe der Materiale der zum Ganzen verbundenen Künste ist. So ergibt sich durch die Verbindung der zeichnenden und der coloristischen Kunst die malerische, durch jene der rhythmischen und phonetischen Kunst die musikalische, durch jene der zeichnenden und bauenden die architektonische, und durch jene der zeichnenden und bildenden die plastische Kunst. Nur dürfen die Materialien, die mit einander verbunden werden sollen, nicht ungleichartig d. i. nicht z. B. das eine Raumform, das andre Zeitform sein, daher sich Rhythmik als Zeitkunst wol mit phonetischer Kunst, deren Empfindungen (die Tonempfindungen) nach einander (successiv), nicht aber mit der coloristischen Kunst, deren Material (die Licht und Farbenempfindungen) zugleich (simultan) auftritt, verbinden lässt.

398. Aus dem Umstande, dass die ästhetische Ideendarstellung je nach der Verschiedenheit des Vorstellungsmaterials zwar immer schöne Kunst, aber stets eine andere ergibt, fliesst, dass wo das erforderliche Material im Bewusstsein gar nicht oder in ungenügendem Masse vorhanden ist, die bezügliche schöne Kunst durch keine Art künstlicher Bildung erworben zu werden vermag (poeta nascitur). Derjenige, welchem aus was immer für einem Grunde (z. B. durch die mangelhafte Lichtreizempfindlichkeit seines Gesichts-, oder Gehörsreizempfindlichkeit seines Gehörsorgans) die [280]Unterscheidungsgabe für die feinen Nuancen der Farben- oder Tonempfindungen und deren Intensitäten versagt ist, ist weder zum Coloristen noch zum Musiker geschaffen; demjenigen, welcher für die sinnlichen Eindrücke seiner Umgebung entweder, wie der träumerische Denker in Folge seines Insichgekehrtseins, oder wie der oberflächliche Weltling in Folge unaufhörlichen Zerstreutseins weder Auge noch Ohr besitzt, geht die Bedingung des Dichters ab.

399. Wie die logische Kunst, wo sie nicht die Wissenschaft, sondern die Virtuosität in der Handhabung logischer Kunstgriffe zum Ziel hat, in Sophistik, so artet die schöne Kunst, wenn sie nicht die Darstellung ästhetischer Ideen, sondern die Darlegung unumschränkter Herrschaft über das ästhetische Material d. i. blosse Kunstfertigkeit sich zum Zweck setzt, in Künstelei aus. Jene wie diese wird dadurch abgeschnitten, dass sowol die logische wie die schöne Kunst unter die Herrschaft der ethischen Ideen gestellt d. h. dass sowol die Ausübung der logischen Pflicht, nur Logisches zu denken, wie jene der ästhetischen Pflicht, nur Schönes zu schaffen, von der ethischen Pflicht, nur das Gute zu wollen, abhängig gemacht d. h. weder alles, was überhaupt gewusst werden kann, zu wissen gestrebt, noch alles, was Schönes überhaupt geschaffen werden kann, zu schaffen unternommen wird. Ausdruck dieser Mässigung, welche vor allem einerseits das zur Erfüllung des sittlichen Berufs Unentbehrliche („das Reich Gottes”) im Wissen sucht und das der Erreichung desselben im Wege Stehende seiner lockenden Schönheit ungeachtet im Schaffen unterlässt d. h. nur Wissenschaft, aber nicht jede Wissenschaft, und nur Schönes, aber nicht jedes Schöne duldet, ist als Darstellung der ethischen Ideen im eigenen, sei es Forscher-, sei es Künstlerbewusstsein, die Weisheit.

400. Wenn die Bildungskunst des eigenen Vorstellens nach logischen, ästhetischen und ethischen Ideen zusammengenommen die Kunst der Geistesbildung, so macht jene des eigenen Fühlens nach ästhetischen Ideen die Kunst der Gemüthsbildung aus. Dieselbe geht, um Kunst d. h. um Darstellung in einem dem Darzustellenden homogenen Material zu sein, darauf aus, ihren Stoff, die Gefühle, in ihrer Reinheit herzustellen d. h. von jedem Zusatz, der etwas anderes als Gefühl (z. B. Begierde) und jeder Form, die eine andere als die Form des Gefühls (z. B. bewusste Vorstellung; wissenschaftliche Einsicht) wäre, freizumachen. Dieselbe scheidet daher einerseits alle diejenigen Gefühle aus, die nur durch die Befriedigung oder Nichtbefriedigung eines eben vorhandenen zufälligen und [281]ausschliesslich individuellen Begehrens, Wünschens oder Wollens veranlasst sind (die sogenannten „vagen” oder subjectiven Gefühle, Erregungen), andrerseits aber auch alle diejenigen sogenannten kritischen d. h. ein Gefallen oder Missfallen ausdrückenden Urtheile, welche mit Bewusstsein aus anderen Urtheilen als ihren Gründen abgeleitet, also nicht in der Gefühlsform d. h. als unwillkürlicher (bewusstloser), unvermittelter Vorgang im Bewusstsein gegeben sind. Folge des ersteren ist, dass als Material für ästhetische Ideendarstellung nur allgemeine und nothwendige (sogenannte „fixe” oder objective) Gefühle, Folge des letzteren, dass nur sogenannte ästhetische (d. i. an sich evidente, eines Beweises weder fähige noch bedürftige) Werthurtheile als solches zugelassen werden. Jene wie diese, da es zu beider Beschaffenheit gehört, allgemein und nothwendig d. h. unbedingter Ausdruck eines Wohlgefallens oder Missfallens zu sein, die ästhetischen Ideen aber selbst nichts anderes sind als das an sich unbedingt Wohlgefällige und Missfällige, machen von Haus aus die Darstellung der letzteren als deren „Stimme” im Bewusstsein (die Idee in uns; das „Daimonion des Sokrates”) aus. Je nachdem diese letztere sich richtend d. i. lobend oder tadelnd über eigenes Verhalten (Schaffen oder Wollen), oder als harmonischer oder disharmonischer Nachklang fremder Gefühle vernehmen lässt, wird sie im ersteren Fall, wenn sie das eigene Schaffen seinem Werthe nach beurtheilt, Geschmack (ästhetisches Gewissen), wenn sie das eigene Wollen billigt oder missbilligt, Gewissen (sittlicher Geschmack), in letzterem Falle sympathetisches Gefühl und zwar als harmonisches Sympathie (Mitgefühl, Mitleid, Mitfreude), wenn es disharmonisch ist, Antipathie (Neid, Schadenfreude) genannt.

401. Frucht der Gemüthsbildung ist die Lebendigkeit des Geschmacks (der „Stimme des Gottes”) im Künstler, des Gewissens (der „Stimme Gottes”) im Einzel- und des Mitgefühls (socialen Gefühls) im geselliglebenden (socialen) Menschen. Wie die erste der schönen Kunst, so arbeitet die zweite der Bildungskunst des eigenen Wollens nach ethischen Normen vor; jene, indem durch die Lebendigkeit der eigenen Kunsteinsicht und des eigenen Kunsturtheils das eigene Schaffen des Künstlers gehoben und geregelt, diese indem durch die Regsamkeit der eigenen ethischen Einsicht und des Gewissensurtheils das eigene Wollen und Thun geweckt, beaufsichtigt und beeinflusst wird. Wie das Geschmacksurtheil die ästhetische Norm für den Schaffenden, so bietet das Gewissensurtheil die sittliche Norm für den Wollenden dar, und deren Anwendung auf den [282]gegebenen Fall erfolgt um so leichter, aber auch von Seite des im Bewusstsein vorhandenen Materials zur Darstellung der sittlichen Ideen d. i. von Seite des eigenen Begehrens, Wünschens und Wollens um so widerstandsloser, je reiner d. h. je freier von fremdartigen Zusätzen und Einmischungen das letztere gehalten wird. Dasselbe darf daher weder in der Form blosser Vorstellung eines Wollens, noch in jener eines bewusstlosen Begehrens oder einsichtslosen Wünschens, sondern es muss in jener des wirklichen Wollens zur Beurtheilung vorliegen, um an der ethischen Norm mit Bewusstsein gemessen und von der Stimme des Gewissens zugelassen oder verworfen werden zu können. Indem auf diese Weise die ethische Idee im Willens- wie auf ähnlichem Wege die ästhetische Idee im Schaffensact zur Darstellung gelangt, verkörpert sich durch deren Ausdehnung einerseits auf das gesammte Wollen, andrerseits auf das gesammte Schaffen die ethische Idee, der Inhalt der Gewissensstimme, im sittlichen, wie die ästhetische Idee, der Inhalt der Geschmacksstimme, im künstlerischen Charakter und tritt, wie die Ideendarstellung im eigenen Vorstellen als Geistes-, jene im eigenen Fühlen als Gemüths-, so jene im eigenen Wollen als Kunst der Charakterbildung auf. [283]

[Inhalt]

ZWEITES CAPITEL.

Die Bildekunst.

402. Wie die Bildungskunst darauf ausgeht, das eigene, so ist die Bildekunst bemüht, fremdes Vorstellen, Fühlen und Wollen ideengemäss zu gestalten. Dieselbe setzt daher nicht nur Bewusstsein der Ideen im eigenen und Empfänglichkeit für dieselben im fremden Bewusstsein, sondern sie setzt überdies, wie jede für Andere bestimmte Mittheilung, eine beiden gemeinsame Welt und ein beiden verständliches Verständigungsmittel voraus. Ersteres, wie letzteres, bedingt eine innerhalb bestimmter Grenzen sich bewegende Gleichartigkeit des sich mittheilenden und des zur Aufnahme der Mittheilung bestimmten Bewusstseins, welche weder so weit gehen darf, dass die Verschiedenheit zwischen beiden zu einer blossen Wiederholung des einen im andern herabsinkt, noch so sehr abgeschwächt werden darf, dass die Verschiedenheit beider bis zu völligem Gegensatz sich steigert. Jenes wäre der Fall, wenn das sich mittheilende Bewusstsein weder quantitativ noch qualitativ verschiedenen Inhalt von dem des empfangenden besässe, letzteres dagegen, wenn das empfangende Bewusstsein dem sich mittheilenden nicht nur quantitativ überlegen, sondern qualitativ demselben etwa in der Weise, dass das eine endliches (menschliches), das andere schlechthin unendliches (göttliches) Bewusstsein darstellte, entgegengesetzt wäre. Während qualitativ homogene, obgleich quantitativ weit von einander abstehende Bewusstseinsindividualitäten immerhin der nämlichen Welt angehören und eines gemeinsamen Verständigungsmittels sich bedienen können, fallen die Welten qualitativ entgegengesetzter Bewusstseinsindividualitäten, wie diese selbst, als qualitative Gegensätze aus einander und ist zwischen denselben [284]eine Verständigung nur unter der Voraussetzung möglich, dass entweder die eine (niedere, endliche) in die Sphäre der andern („der Mensch zum Gotte”) emporgehoben, oder die andere (die höhere, unendliche) in jene der niederen „der Gott zum Menschen” herabgezogen wird. In jenem Fall nimmt das endliche Bewusstsein Inhalt und Form des unendlichen (der Mensch Göttergestalt: Apotheose) und damit nicht nur die Erkenntniss- (Intuition, absolutes Wissen), sondern auch die Ausdrucksweise (visionäre, prophetische Sprache) des absoluten Bewusstseins an. In letzterem Falle steigt das göttliche Bewusstsein nicht nur zu den Formen und Gesetzen des menschlichen, sondern auch zur Menschengestalt (Menschwerdung: Incarnation) und menschlichen Sprache (Unterredung, Belehrung durch Rede und Beispiel) herab.

403. Wie bei der Kunst der Ideendarstellung im eigenen, besteht die Vorbedingung bei jener im fremden Bewusstsein darin, dieses letztere als dargebotenes Material rein d. h. je nach der verschiedenen Classe von Bewusstseinsindividualitäten, zu der es gehört, von fremdartigen Zusätzen und Vermengungen frei zu erhalten. Je nachdem das fremde Bewusstsein Einzelbewusstsein, oder einer Gesellschaft gleichartiger Individuen gemeinsames (Gesellschafts-) Bewusstsein, ersteres selbst entweder dem Bildner qualitativ gleichartiges und nur quantitativ untergeordnetes (werdendes) oder demselben ungleichartiges, quantitativ entweder ebenbürtiges oder überlegenes, in beiden Fällen fertiges Bewusstsein ist, werden drei Classen der Bildekunst, je nachdem die Thätigkeit des Bildners auf die Bildung des fremden Vorstellens oder des fremden Fühlens oder des fremden Wollens gerichtet ist, in jeder derselben drei besondere Formen der Bildekunst unterschieden. Jene drei ergeben nach einander a. die Kunst der Ideendarstellungen im jugendlichen Bewusstsein (Jugendbildung), b. die Kunst der Ideendarstellung im schon geformten, gereiften Bewusstsein (Regiment), c. die Kunst der Ideendarstellung im öffentlichen Bewusstsein (Staatskunst); diese ebenso nach einander a. die Kunst der Ideendarstellung im fremden Vorstellen (Unterricht), b. die Kunst der Darstellung der ästhetischen Ideen im fremden Fühlen (Zucht), c. die Darstellung ethischer Ideen im fremden Wollen (Regierung).

404. Wie die Kunst der Selbstbildung jene der Geistes-, Gemüths- und Charakterbildung, so begreift die der Jugendbildung (Erziehungskunst, Pädagogik) die des Unterrichts (Didaktik), der Zucht und der Regierung der Jugend in sich. Dieselbe setzt, wie [285]jede Kunst, die Kenntniss der darzustellenden Ideen einer-, des Materials, in welchem dieselben zur Darstellung gelangen sollen d. i. nicht nur jene des menschlichen Bewusstseins überhaupt (Psychologie des Menschen), sondern die des jugendlichen Bewusstseins (Psychologie der Jugend) insbesondere andrerseits voraus. Insofern das letztere von dem des erwachsenen Menschen nicht qualitativ, sondern nur quantitativ, nicht den Gesetzen seiner Entwickelung, sondern nur dem bisher eingesammelten Vorrath des Bewusstseinsinhalts nach verschieden, in Anbetracht des letzteren dürftiger als jenes ist, geht die Aufgabe der Jugendbildung dahin, einerseits den mangelnden Bewusstseinsinhalt in das Bewusstsein einzuführen, andererseits für die normale Entwickelung der aus dem Wechselverkehr der Vorstellungen entspringenden Gefühle, Begehrungen, Wünsche, Willensacte und Handlungen Sorge zu tragen. Jenes, die Zuführung des erforderlichen Bewusstseinsinhalts (Bildung der Vorstellungen und Vorstellungsmassen) macht den Zweck des Unterrichts; dieses, und zwar die Regelung der aus der wechselseitigen Hemmung und Förderung der Vorstellungsmassen entspringenden Gefühle macht die Aufgabe der Zucht, dagegen die Bändigung des aus den aufstrebenden Vorstellungen und Vorstellungsmassen aufbrausenden Begehrens, Wünschens und Wollens, insbesondere aber der das Zusammenleben mit Andern störenden Aeusserungen der Gefühle und Begierden in Handlungen die Aufgabe der Regierung der Jugend aus.

405. Welcherlei Material an Vorstellungen dem Bewusstsein zugeführt werden soll, hängt von der Natur der in demselben darzustellenden Ideen ab. Dasselbe und folglich auch der Charakter des vermittelnden Unterrichts wird naturgemäss ein anderes sein, wenn Ideen aller Art, als wenn Ideen nur einer besonderen Gattung (z. B. nur die ästhetischen oder nur die ethischen oder nur die logischen) in demselben zur Darstellung kommen sollen. In jenem Fall werden alle Vorstellungen dem Bewusstsein zugeführt werden müssen, an deren Vorhandensein überhaupt eine Classe der Ideen, in letzterem Fall nur solche, an welchen gerade eine bestimmte Classe von Ideen Interesse nimmt. Erstere Form des Unterrichts umfasst daher alle Vorstellungen und Vorstellungsmassen, an deren Herbeiführung der Erziehungs- d. i. der Kunst der Darstellung aller, der logischen nicht weniger wie der moralischen und ästhetischen Ideen im Jugendbewusstsein gelegen ist, und wird deshalb als erziehender, im Gegensatze dazu jene Form des Unterrichts, welche an der Darstellung nur einer Classe von Ideen und zwar der [286]logischen im jugendlichen Vorstellen Interesse hat, als wissenschaftlicher Unterricht bezeichnet. Letztere Form zerfällt, je nachdem es sich lediglich darum handelt, dem jugendlichen Bewusstsein wissenschaftliche d. i. den logischen Normen gemässe Vorstellungen und Vorstellungsmassen zu überliefern oder dasselbe nicht blos anzuregen, sondern anzuleiten und zu befähigen, dergleichen ohne vorhergegangene Mittheilung (nicht reproductiv), durch eigene, den logischen Normen entsprechende Thätigkeit aus sich (productiv) zu erzeugen, in eine niedere und höhere Stufe, deren erste nur darauf ausgeht, Gelehrte, deren letztere darauf hinzielt, Forscher zu bilden. Die Aufgabe der Bildung durch erziehenden Unterricht fällt, wenn der Unterricht weder gelegentlich, noch einem oder wenigen (wie in der Familie), sondern vielen zugleich und in einer seinem Zwecke besonders gewidmeten Anstalt (Unterrichtsanstalt, Schule) ertheilt wird, der untersten, für alle ohne Unterschied bestimmten Stufe derselben, der Volksschule; die Gelehrtenbildung der mittleren, zur Ausbildung einer Gelehrtenclasse und zugleich zur Vorbereitung für die Selbstforschung gewidmeten Gelehrtenschule (Gymnasium, Realschule); die dritte der zur Bildung künftiger wissenschaftlicher Selbstforscher bestimmten obersten Stufe, der Hochschule (Universität, Polytechnicum) zu.

406. Durch die Wahrnehmung des moralischen und des ästhetischen Interesses mit und neben dem wissenschaftlichen arbeitet der erziehende Unterricht sowol der Zucht wie der Regierung vor. Der ersteren, indem durch die Beachtung solcher Vorstellungen und Vorstellungsmassen, durch welche die Entstehung (sei es der Intensität wie der Qualität nach) bedenklicher Gefühle entweder gänzlich verhindert oder doch beschränkt, dagegen jene (sowol der Stärke als dem Inhalt nach) wünschenswerther Erregungen geweckt und gefördert wird, bei der Auswahl des Unterrichtsmaterials die Regelung der im Bewusstsein vorhandenen Gefühle nach Qualität und Energie erleichtert, das jugendliche Gemüth in Freud und Leid „in Züchten”, in seinen Mitgefühlen für und gegen Andere keusch, schamhaft und „züchtig” gehalten wird; der letzteren, indem durch die Beachtung solcher Vorstellungen und Vorstellungsmassen bei der Auswahl des Unterrichtsmaterials, durch welche einerseits die Furcht vor den Folgen unbändiger Ausschreitungen in Affects- und Willensäusserung erweckt und erhöht, andererseits die Aussicht auf die wohlthätigen Wirkungen gemässigten Verhaltens nach aussen, so wie in Beziehung auf Andere wirksam belebt und gesteigert, [287]der Uebermuth der im Bewusstsein auftauchenden blinden Triebe, Affecte und Leidenschaften gezügelt, der Störungs- und Zerstörungseifer der Jugend durch Lohn und Strafe eingedämmt wird.

407. Wie der Unterricht, so hat die Zucht und die Regierung, also die gesammte Jugenderziehung zum letzten Zweck, mit der Erreichung ihres Ziels, der Geistes-, Gemüths- und Charakterreife, sich selbst überflüssig zu machen. Jenes geschieht, wenn der Schüler zum Selbstforscher, dieses, wenn das stürmisch bewegte und erregte Gemüth zur ruhig prüfenden Stimme des Innern und das halt- und ziellos zerfahrende Trachten und Treiben zum zielbewussten Wollen und in sich gefesteten Charakter geworden ist.

408. Wie die Erziehung an das werdende, so wendet sich die zweite Art der Bildekunst an ein bereits („im Strom der Welt”) gewordenes Bewusstsein. Soll dasselbe nicht blos einförmiger Wiederholung, sondern lebendiger Wechselwirkung zugänglich und fähig sein, so muss zwischen demjenigen Theil, welcher den andern nach sich zu bilden trachtet, und jenem, welcher sich das vom Andern „nach seinem Bilde” Gebildetwerden gefallen lässt, zwar Verwandtschaft, aber nicht Gleichheit, darf zwar Ungleichheit, aber nicht Gegensatz herrschen. Dieser Fall findet statt bei der gegenseitigen, Geist, Gemüth und Charakter beeinflussenden Wechselwirkung zwischen dem Geschlecht nach entgegengesetzten (Mann und Weib), oder dem Range, Stande, Beruf, der Lebensstellung nach verschiedenen, insbesondere einander über- und untergeordneten Individuen (Vornehmen und Geringen, Herren und Dienern), am entschiedensten und folgereichsten aber zwischen dem Gläubigen und dem „nach seinem Ebenbilde” gedachten d. i. vom Menschen menschenähnlich erschaffenen Gott (homo homini deus).

409. Dieselbe tritt, da es sich um Ideendarstellung in dem Bewusstsein eines fremden Erwachsenen handelt, nicht als (ja bereits vollendete) Erziehung, sondern als „Regiment” (des Mannes über das Weib oder umgekehrt; des Herrn über den Knecht oder „des Kammerdieners über den Fürsten”; des Gläubigen über seinen Gott oder umgekehrt der Götter über den Menschen) auf. Dasselbe setzt von Seite des Bildenden zwar Ueberlegenheit, aber nicht, wie bei der Erziehung, an Bildung überhaupt, sondern in einer bestimmten Art und Richtung der Bildung voraus. Daher ist der Unterricht innerhalb dieser Classe der Bildungskunst nicht wie bei der Jugendbildung allgemein bildender, sondern fachmännischer (Fachunterricht), der Lehrer dem Schüler nicht an Bildung im Allgemeinen, sondern [288]nur an Bildung in dem besondern Fache überlegen (Fachlehrer, Fachstudium). An die Stelle des erziehenden tritt daher hier der für ein bestimmtes Fach vorbereitende Unterricht (Proseminar für Philologen; pharmaceutischer Vorbereitungscurs für Apotheker), während der Fachunterricht selbst in zwei Stufen, die niedere und höhere zerfällt, auf deren erster das Fach wissenschaftlich gelehrt, auf deren zweiter die Ausübung desselben praktisch zur Fertigkeit erhoben wird. Als Schule gliedert sich der Fachunterricht nach obigen Stufen in die Vorbereitungs-, gelehrte Fach- und fachliche Hochschule (Zeichenschule, Kunstschule, Meisterschule d. i. Atelier). Wird der Charakter des Unterrichts nicht durch das Fach, für welches, sondern durch die Beschaffenheit des Schülers, für welchen er ertheilt wird, bestimmt, so entsteht, wenn das Geschlecht massgebend ist, der sogenannte „weibliche Unterricht” (Töchterschule, Frauenlyceum), wenn der gesellschaftliche Rang den Ausschlag gibt, der privilegirte Unterricht (Ritterakademie, Adelsconvict), wenn das Glaubensbekenntniss entscheidet, der confessionelle Unterricht (confessionelle Schule, katholische Universität) u. s. w.

410. Einen besonderen Charakter nimmt der Unterricht an, wenn der zu Unterrichtende in den Augen des Unterrichtenden selbst als der besser Unterrichtete gilt. Dieser Fall, welcher eigentlich die Ironie des Unterrichts darstellt, ereignet sich dort, wo dem Kläger ein Richter, dem Gläubigen sein Gott gegenübersteht. Jener wie dieser wird von demjenigen, der sich an einen von beiden wendet, für ihn selbst an Einsicht überlegen und doch von dem besonderen Fall, um den es sich handelt, für nicht unterrichtet gehalten, zugleich aber vorausgesetzt, dass es dem Richter gegenüber nur einer „Vorstellung”, dem Gotte gegenüber nur eines „Gebets” bedürfe, um als Kläger von jenem die Gewährung seines Rechts, als Gläubiger von diesem die Erhörung seiner Bitte zu erlangen. Der geschilderte Fall ist gleichsam die Umkehrung der sogenannten sokratischen Ironie; denn während bei dieser der Wissende sich unwissend stellt und zum Schein Belehrung heischt, wird der Wissende hier als unwissend vorgestellt, welcher der Belehrung bedarf.

411. Wie das Regiment dem Unterricht das Gepräge des Fachs, Standes, Geschlechts, Glaubensbekenntnisses u. s. w., so verleiht dasselbe der Zucht wie der Regierung den Charakter desjenigen Gefühls- und Willensmaterials, in welchem die Darstellung der ästhetischen oder der ethischen Ideen statthaben soll. Dieses Material sind, wenn der zu bildende Erwachsene einem bestimmten Geschlecht [289]oder Stande, Range, Glaubensbekenntniss oder Nationalität angehört, die entsprechenden, jenem Geschlecht, Stande, religiösen Bekenntniss u. s. w. angehörigen besonderen Gefühle (männliches Ehr-, weibliches Schamgefühl; militärischer esprit de corps; Adels-, confessionelles, Nationalitätsbewusstsein), welche als Ausdruck der ästhetischen Idee im Gemüthsleben die sogenannte (militärische, religiöse, sexuale u. s. w.) Disciplin (Standeszucht, Kirchenzucht, Keuschheit) im Gefolge haben. In gleicher Weise machen die einem gewissen Geschlechte, Stande, Glaubensbekenntniss u. s. w. gestatteten oder versagten Willensäusserungen und Handlungen dasjenige aus, was als Ausdruck der ethischen Ideen innerhalb jenes Geschlechts, Hauses, Standes, Glaubensbekenntnisses u. s. w., dessen Reglement (Standesordnung; Haus- und Dienstordnung; religiöses Ceremoniell; Fasten- und Kleiderordnung etc.) darstellt. Wie auf der Herrschaft des Vornehmen über den Geringen der Herrn-, so beruht auf der Minneherrschaft der Frau über den Mann der Minne-, oder (Ulrich von Lichtenstein’s) Frauendienst. Wie auf der Herrschaft des Gottes über den Gläubigen der Gottes-, so ruht auf der romantischen Anbetung der jungfräulichen Mutter der Mariendienst.

412. Wie die Erziehungskunst das jugendliche, das Regiment das erwachsene Einzel-, so geht die Politik (Staatskunst) das den Mitgliedern einer organisirten Gesellschaft (Schule, Partei, Kirche, Staat) gemeinsame, daher als solches öffentliche Bewusstsein an. Dieselbe hat als Ideendarstellung im öffentlichen Bewusstsein dieselben sowol in dessen Vorstellen d. i. im öffentlichen Geiste, wie in dessen Fühlen d. i. in der öffentlichen Meinung, und dessen Wollen d. i. im öffentlichen Willen zum Ausdruck zu bringen. Jede organisirte Gesellschaft trachtet demnach als Ausfluss ihrer Politik ihre eigene Schule zu gründen, ihren eigenen Anstand zu behaupten und ihre eigene Regierung zu führen. Je nachdem die Gesellschaft selbst als philosophische oder wissenschaftliche Secte unter einem Schul- oder Sectenhaupt (Stoa unter Zeno), oder als politische Partei unter einem Parteihaupt (Conservative unter Pitt, Liberale unter Fox in England), als eine Kirche unter ihrem Kirchenhaupt (die katholische Kirche unter dem Papst), als Staat unter seinem Staatshaupt (Oesterreich unter Josef II., Preussen unter Friedrich dem Grossen) organisirt ist, bedarf sie einer Schule (Sectenschule, Parteischule, confessionell kirchliche Schule, Staatsschule) als Werkzeug zur Bildung des ihrem Geiste entsprechenden öffentlichen Geistes, deren und der von ihr aus verbreiteten Wissenschaft Färbung demnach eine politische, die Farbe [290]der Politik der sie stiftenden und erhaltenden Gesellschaft (der Secte, Partei, Confession oder des Staates) sein wird. Dieselbe wird nicht sowol darauf bedacht sein, gebildete, als vielmehr im Sinn ihrer eigenen Politik politisch gebildete Anhänger ihrer Secte, Parteigenossen, confessionelle Bekenner oder „gute” Staatsbürger zu bilden; die wissenschaftliche wird unter ihren Händen in eine Schul-, Partei-, Kirchen- oder staatspolitische Lehrkanzel umgewandelt.

413. Wie die Politik als Anwendung der logischen Ideen auf den öffentlichen Geist als Staatsklugheit, so erscheint sie in der Anwendung der ästhetischen Ideen auf denselben als politischer Anstand, in jener der ethischen Ideen dagegen als politische Weisheit. Jene verbietet, den öffentlichen Geist verstandeswidrig, z. B. durch die Berufung auf den sogenannten „beschränkten Unterthanenverstand”, der zweite, denselben anstandswidrig z. B. durch Verletzung des öffentlichen Schicklichkeitsgefühls, die dritte, denselben vernunftswidrig z. B. durch Festhalten an dem längst im öffentlichen Bewusstsein Abgestorbenen zu beeinflussen. Dagegen gebietet die Politik als öffentliche Zucht nicht nur den Ausschreitungen des öffentlichen Gemüthslebens nach der Seite des Lust- wie des Unlustgefühls, Rohheit und Ausgelassenheit einer-, Jammer- und Wehklagen andererseits Einhalt zu thun, sondern auch die dem geselligen Zusammenleben hinderlichen antisocialen Gefühle nach Möglichkeit zu hemmen und deren entgegengesetzte, die socialen Gefühle (Mitgefühle) eben so zu wecken und zu fördern, so wie auch direct (durch Belehrung), oder indirect (durch Anschauung) die ästhetischen Gefühle zu beleben, die sittlichen Gefühle zu wecken und auf diese Weise zur Hebung des öffentlichen Humanitätsgefühls, Gewissens und Geschmacks wirksam beizutragen. Von selbst leuchtet ein, dass je nach dem Charakter der Gesellschaft von welcher und innerhalb welcher auf das öffentliche Gemüthsleben Einfluss genommen wird, dieses selbst und sonach auch die innerhalb ihrer herrschende öffentliche Zucht einen der Politik dieser Gesellschaft entsprechenden Charakter tragen, also nicht nur innerhalb einer philosophischen oder wissenschaftlichen Secte anders als innerhalb einer politischen Partei, innerhalb einer Kirche anders als innerhalb eines Staates gehandhabt werden, sondern auch je nach dem verschiedenen Charakter der Schule, Partei, Kirche oder des Staats in der einen Schule (z. B. in jener der Stoiker) anders als in einer anderen (z. B. in jener der Epikuräer), unter Radicalen und Socialdemokraten anders als unter Legitimisten und Hochconservativen, unter Christen anders als unter Mohamedanern und [291]in einem freien anders als in einem südstaatlichen Sclavenstaate ausfallen wird. Nicht nur die Anstands- und Schicklichkeitsbegriffe werden verschiedene, auch die Schönheits- und sittlichen Gefühle werden je nach dem Gesichtspunkt und der Beschaffenheit des Gesellschaftsbewusstseins verschiedene sein. Wie die Staatskunst beim Unterricht der Schule, so wird sie sich bei ihrer Einwirkung auf die öffentliche Meinung aller derjenigen Organe bedienen, welche durch eine lebhafte und mit sich fortreissende Erregung der Gefühle auf dasjenige, was sie für löblich oder schändlich, erlaubt oder unerlaubt, schön oder hässlich, anständig oder anstandswidrig angesehen wissen will, einer-, wie auf die Erregung, sei es des öffentlichen Mitgefühls oder des öffentlichen Hasses, anderseits vorübergehend oder bleibend thätigen Einfluss zu üben vermögen. Wie sie zum Zwecke der Bildung des öffentlichen Geistes der Wissenschaft, so bedient sie sich behufs der Bildung des öffentlichen Geschmacks, Gewissens und Mitgefühls der schönen Kunst und zwar der ästhetischen Beredsamkeit in Wort und Bild, sei es (wie die Kirche) von der Kanzel (Predigt, Erbauungsrede), sei es, wie in der profanen Gesellschaft (Schule, Partei, Staat), von der „moralischen” Schaubühne herab (Schulkomödie, politisches Tendenzstück, Nationaltheater). Wie die Kirche durch die schöne Kunst (Tempel und Kirchenbau, geistliche Musik, priesterlicher Festschmuck, Altardienst) den öffentlichen Gottesdienst zu verherrlichen, so trachtet der Staat durch öffentliche Feste („Circenses”) das öffentliche Vergnügen zu fördern, durch Veranstaltung öffentlicher Schauspiele (wie in Athen durch Aussetzung von Preisen), durch Kunstsammlungen, Monumentalbau- und Bildwerke (Akropolis, Stoa poikile) den öffentlichen Geschmack zu erziehen, durch Aufführung von Tragödien, welche „Mitleid und Furcht”, von Komödien, welche durch Darstellung „unschädlicher Thorheit” Heiterkeit erregen, wohlthätige „Entladung” (Katharsis: Aristoteles-Bernays) des öffentlichen Gemüths von „diesen und derlei Leidenschaften” zu bewirken. Wie die Predigt und die Bühnenrede vom Munde, so dringt die (periodische und nicht periodische) ästhetische Presse vom lesenden Auge aus zum Herzen und wird um ihrer mächtigen Wirkung willen auf das öffentliche Gemüthsleben (Romanliteratur) von der organisirten Gesellschaft mit Vorliebe als ein Gegenstand der öffentlichen Zucht angesehen und je nach ihrer den Zwecken derselben nachtheiligen oder vorteilhaft scheinenden Richtung zu hemmen (Censuredicte, index librorum prohibitorum) oder (durch Subventionen, Preise) zu fördern gesucht. [292]

414. Wie durch den Unterricht auf den öffentlichen Geist, durch die Zucht auf die öffentliche Meinung, so sucht die Staatskunst durch die Regierung auf den öffentlichen Willen zu wirken. Wie jenes zur wissenschaftlichen Erziehung im Geist einer philosophischen oder wissenschaftlichen Schule oder Secte, politischen Partei, der Kirche oder des Staates, das zweite zur ästhetischen Erziehung ebenso im Geiste einer der genannten Gesellschaften, so führt das letzte zur Regierung der Gesellschaft entweder vom Schul- oder vom Partei-, vom kirchlichen oder vom staatlichen Standpunkt aus. Wie die darzustellenden Ideen die ethischen, so ist das zur Darstellung bestimmte Material das innerhalb der Schule, Partei, Kirche oder Staatsgesellschaft existirende gemeinsame Wollen, welches jenen gemäss zu gestalten das Ziel der Regierung jeder der genannten Gesellschaften ausmacht. Mittel und Werkzeug zur Erreichung desselben ist daher alles, was einerseits den Ausartungen des öffentlichen Willens zuvorzukommen (präventive), andererseits stattgehabte Ueberschreitungen zurückzudrängen (repressive Massregeln) im Stande ist. Zu jenen gehört in erster Reihe die (politische) Belehrung, welche den öffentlichen Willen in die von dem Geiste der Gesellschaft demselben angewiesenen Schranken, sei es durch Ueberzeugung, sei es durch Ueberredung zu leiten und in denselben aller Verlockungen zum Gegentheil ungeachtet zu erhalten vermag. Zu den letzteren gehört die (politische) Bestrafung, welche nicht nur die Folgen der eingetretenen Ueberschreitung auszugleichen, sondern die Wiederkehr ähnlicher durch Abschreckung zu verhindern trachtet. Wie der Unterricht der Katheder, die öffentliche Zucht der Kanzel oder der Schaubühne, so bedient sich die Regierung zu jenem Zwecke der Redner-, zu diesem der Gerichtsbühne. Von jener herab wird auf den öffentlichen Willen im Geiste der Schule, Partei, Kirche oder staatlichen Gesellschaft durch öffentliche Rede bestimmend, also in der Richtung jeder der obengenannten mit sich fortreissend, von dieser herab auf denselben durch das Schauspiel öffentlichen Gerichtsverfahrens d. i. öffentlicher Klage und Vertheidigung einer- und ebensolcher Urtheilsvollstreckung andererseits im Geiste derjenigen Gesellschaft, welche Gericht hält, abschreckend eingewirkt. Wie der politische Redner für die Schule, so wirbt der Parteiredner (mündlich oder als Parteischriftsteller schriftlich) für die Partei, der kirchliche Redner für seine Kirche, der staatliche für den Staat; wie die Schule Schulstrafen z. B. Ausschliessung aus der Schule, die Partei Parteistrafen, so verhängt die Kirche für den [293]Abfall von ihrem gemeinsamen Bekenntniss Kirchenstrafen (Excommunication) und veranstaltet öffentliche kirchliche Gerichtsvollziehungen (Kirchenbusse, Autos da fé), und übt der Staat in seinem Namen Gerichtspflege und setzt deren Urtheile öffentlich in Vollzug (Hinrichtungen, öffentliche Gefängnisse). Während die letzteren auf das Auge, so sind die Parteiergiessungen und Parteiargumente der politischen Eloquenz auf das Ohr der Oeffentlichkeit berechnet und werden weit über den Gehörskreis der letzteren hinaus durch die politische (periodische und nichtperiodische) Presse („die sechste Grossmacht”), die Rednerbühne durch den Leitartikel, das öffentliche Gericht durch die (politische) Caricatur und den öffentlichen politischen Witz in harmloser, durch die öffentliche Brandmarkung mittels der Schrift in um so drastischerer Weise vollzogen, als die unter einander widerstreitenden Schul-, Partei-, kirchlichen und staatlichen Gesichtspunkte unter einander so widerstreitende Urtheile zur Folge haben, dass die Wunden, welche die Presse nach einer Seite schlägt, von derselben Presse wie von der goldenen Lanze des Achilleus nach der andern wieder geheilt werden.

415. Wie die Kunst als Ideendarstellung ihr Zerrbild in der ideenlosen Virtuosität, die logische Kunst insbesondere das ihre in der grundsatzlosen Sophistik, so findet der Jugendunterricht, dessen Wesen in der Anpassung an das jugendliche Bewusstsein liegt, das seine in der von diesem sich freimachenden Emancipation (vorzeitigen Reife, Präcocität), das Regiment als Bildung des Andern nach sich seine Entartung im Despotismus (Tyrannei), welcher die qualitative Beschaffenheit des Andern, sei es den geschlechtlichen Gegensatz (Sclaverei des Weibes), sei es die allgemein menschliche Verwandtschaft (Leibeigenschaft des Knechtes) ausser Acht lässt, endlich die Staatskunst als Erziehung des öffentlichen Bewusstseins ihr Afterbild in der sogenannten Staatsraison, welche der ersteren als Kunst der Ideendarstellung die ideenlose Praktik (politische Routine) in der willkürlichen Beeinflussung des öffentlichen Geistes nach Schul-, Partei-, Kirchen- und Staatszwecken, der öffentlichen Meinung nach persönlichen Stimmungen und des öffentlichen Willens nach Opportunitätsgelüsten unterschiebt. [294]

[Inhalt]

DRITTES CAPITEL.

Die bildende Kunst.

416. Wie die Bildungskunst Ideendarstellung im eigenen, die Bildekunst im fremden Bewusstsein, so ist die bildende Kunst Ideendarstellung in unbewusstem, sei es leblosem, sei es belebtem Stoff. Dieselbe setzt daher nicht nur, wie jede Kunst, die Kenntniss der (logischen, ästhetischen und ethischen) Ideen, sondern als solche überdies die Kenntniss des gesammten ihr zu Gebote stehenden (leblosen und belebten) Materials d. i. die Naturwissenschaft und zwar sowol jene der leblosen (Physik) wie der belebten Natur (Physiologie, Biologie) in ihrem ganzen Umfange voraus. Während jedoch letztere sich mit der Kenntniss der Natur, ihrer Erscheinungen und ihrer Gesetze begnügt d. h. die Natur nur beschreibt, geht jene darauf aus, den Gehalt der Natur mit der Forderung der Ideen zu vergleichen und die Gestalt der Natur, soweit es thunlich ist, nach dieser zu verändern.

417. Da jeder Abänderungsversuch der der Natur natürlichen Gestalt, Herrschaft über die Natur, letztere aber vor allem Macht über dieselbe d. h. die in derselben gegebenen wirksamen Kräfte bedingt, letztere aber nur durch die Wissenschaft („Wissenschaft ist Macht”) erlangt werden kann, so folgt, dass die Bedingung der bildenden Kunst in dem Gewinn echter d. i. den logischen Ideen entsprechender Wissenschaft zu suchen und nur von einer solchen die zur Gewinnung einer vollständigen Herrschaft über die Natur unentbehrliche Macht zu erwarten ist.

418. Insofern die Kunst dieser durch die Naturwissenschaft ihr zu Gebote gestellten Macht über die Natur sich bedient, um überhaupt Veränderungen an derselben hervorzubringen, ist dieselbe [295]technische, inwiefern sie dies thut, um Ideen in derselben zur Darstellung zu bringen, jedoch allein bildende Kunst. Jene fällt als nur um ihrer selbst willen ins Werk gesetzte Ueberwindung durch die Natur ihrer Beherrschung in den Weg gestellter Widerstände mit der Virtuosität, als Unterschiebung persönlicher, der Ideendarstellung fremder Zwecke bei der Beherrschung der Natur (z. B. Ausbeutung derselben zu persönlichem Gewinn) mit der politischen Willkürherrschaft in Eins zusammen, während die letztere einerseits mit der Bildungs- und Bilde-, andererseits mit der echten Staatskunst (Staatsweisheit) gleichlaufende Richtungen verfolgt.

419. Dieselbe geht zunächst darauf aus, die Gestalt der Natur logischen Normen anzubequemen d. h. wo in derselben Widersprechendes thatsächlich, aber den Widerspruch aus demselben zu entfernen möglich ist, diesen zu beseitigen, wo dagegen Gleichartiges, mit dem Gegebenen Verträgliches oder durch dasselbe sogar Gefordertes thatsächlich nicht gegeben, aber dessen Herbeiführung möglich ist, dasselbe heranzuziehen d. h. im ganzen Umfang der Natur das nicht Zusammengehörige, aber Vereinigte zu sondern, das Zusammengehörige, aber Getrennte zu verbinden und auf diese Weise nicht nur für die Erhaltung, beziehungsweise Wiedererzeugung bestehender oder längst bestandener innerlich zusammengehöriger, sondern auch für das künftige Bestehen bisher nicht bestandener, innerlich zusammengehöriger Verbindungen durch Erzeugung neuer Sorge zu tragen. Wie die Erfüllung der ersten Aufgabe mit der kritischen Sichtung durch die Erfahrung gegebener Begriffe, in Folge deren bestehende Urtheile aufgehoben (negirt), nicht bestehende neu gebildet (affirmirt) werden, so zeigt jene der letzteren einerseits mit dem Ersatz durch die Erfahrung gegebener Begriffe durch denselben an Umfang gleiche, an Inhalt ungleiche (äquipollente), andererseits mit der Erzeugung neuer Urtheile als Schlusssätze aus durch die Erfahrung gegebenen Prämissen (Vordersätzen) und deren Fortsetzung zu Schlussketten und Begriffssystemen Verwandtschaft. Jene fasst die Naturproducte nicht nur mit Rücksicht auf den Ort, an welchem, und die Zeit, zu welcher, sondern auch auf die begleitenden Umstände und die Umgebung, unter welcher sie gegeben sind d. h. in Beziehung auf- und zu einander, folglich, da unter denselben der Mensch selbst erscheint, auch in Beziehung zu diesem und auf diesen d. h. als für ihn nützlich oder schädlich ins Auge; diese berücksichtigt bei der Betrachtung der im Raume gegebenen Erscheinungen und Naturkörper vornehmlich deren [296]Vergänglichkeit in der Zeit und bemüht sich, einerseits durch die Fürsorge für die Erzeugung neuer Individuen die Gattungen, wie durch die Verschwisterung verschiedenen Gattungen angehöriger Individuen neue Gattungen zu erhalten. Je nachdem die bildende Kunst sich auf die blosse Veränderung des Ortes und Zeitpunkts, so wie des Quantums der Naturproducte beschränkt oder an deren qualitative Zusammensetzung, so wie deren stoffliche Veränderung Hand anlegt, zerfällt dieselbe in drei verschiedene Classen, die sich als Handel und Verkehr, Gewerbe und Industrie, Bodenbebauung und Thierzucht bezeichnen lassen.

420. Handel und Verkehr sind bestimmt, Naturproducte nach ihrem eigenen und des Menschen Bedürfniss von Orten, welche für sie nicht passen, weil sie zu eng für dieselben geworden sind (Ueberproduction im Pflanzen- und Thierreich; Uebervölkerung), zu entfernen (Export; Auswanderung) und an Orten, wo sie mangeln oder Raum zur Ausbreitung finden (productionsarme Flächen; unbewohnte Gegenden), abzusetzen (Import; Colonisation). Beide suchen daher vor allem die Schranken, welche einerseits der freien, andrerseits der raschen Beweglichkeit im Wege stehen, aufzuheben (Zoll- und Handelsfreiheit; „Time is money”), andrerseits alle Mittel anzuwenden, die den Erwerb und Vertrieb der Producte erleichtern (Geld statt Tausch), die Geschwindigkeit der Bewegung erhöhen (Eisenbahnen, Dampfschiffe), den Zeitverbrauch zum (schriftlichen und mündlichen) Verkehr kürzen (Post, Telegraph, Telephon) und die Sicherheit desselben gewährleisten (Handelsschutz, Handelsbündniss, Handelsversicherung, Monopol). Gewerbe und Industrie gehen darauf aus, unzusammengehörige Stoffverbindungen, wenn sie Gemenge sind, mechanisch von einander zu trennen (Bergbau), wenn sie Mischungen sind, chemisch von einander zu lösen (Erzschmelze), zusammengehörige durch Anhäufung (Baukunst) oder durch Verschmelzung (Legirung) zu stiften. Je nachdem dies bei unorganischen oder organischen, in letzterer Hinsicht bei Stoffen aus dem vegetabilischen oder aus dem animalischen Reiche geschieht, nehmen beide stofflich, je nachdem es durch Händearbeit, oder mit einfachen, oder fast ohne diese mittels verwickelter bis zur scheinbaren Selbstständigkeit gesteigerter Werkzeuge (Maschinen) geschieht, formell verschiedenen Charakter an (Handwerk, Maschinenarbeit). Nach dem Quantum der Production und der zu derselben erforderlichen Kosten werden Klein- und Grossgewerbe, Klein- und Grossindustrie unterschieden. Wie der Handel und der Verkehr [297]eine Tendenz, in die Ferne zu streben, so zeigen Gewerbe und Industrie eine solche, am Orte zu beharren d. h. die Naturproducte dort, wo sie zu finden sind, ihrer Form nach zu verändern, (örtliche Vereinigung von Bergbau und Erzschmelzen; Verwendung des localen Steinbruchs als Baumaterial: Schieferdächer am Rhein, Holzbau im Gebirge; Tracht aus Thierhäuten und einheimischer Wolle). Dieselben suchen daher einerseits alle Schranken, welche der Freiheit des Gewerbes überhaupt (Zunftzwang), wie an dem Orte des betreffenden Materials (Bodeneigenthum) im Wege stehen, zu entfernen (Gewerbefreiheit, Freischurf), andrerseits alle Mittel zu entdecken und zu verwenden, welche die, sei es mechanische, sei es chemische Formänderung der Naturstoffe ermöglichen (Mechanik, Maschinentechnik, Ingenieurkunst) oder erleichtern (technische Chemie, Technologie, Scheidekunst), zugleich aber das auf diesem Wege geschaffene industrielle Product gegen Verdrängung oder Ersatz durch seinesgleichen im Verbrauche sichern (Gewerbeschutz durch Marken und Zölle, industrielle Privilegien). Bodenbebauung und Thierzucht sind bestrebt, einerseits jene durch künstliche Anpflanzung von Gewächsen dieselben vor der allmäligen Entartung (Degeneration) und schliesslichem Untergang, diese durch künstliche Züchtung von Thieren letztere vor gleichem Schicksal zu bewahren, andererseits durch Veredelung (z. B. Pfropfung) auf künstlichem Wege neue Varietäten von Pflanzen wie durch Kreuzung neue Schläge von Thieren zu erzeugen. Beide gehen darauf aus, nicht nur das vorhandene Quantum organischer Naturproducte sich nicht vermindern, sondern dasselbe sich stets vermehren zu lassen (natürliche Fruchtbarkeit), aber auch die Qualität derselben den Beziehungen der Naturorganismen unter einander gemäss zu ändern, Futterpflanzen für Thiere, Gemüse für die Menschen zu schaffen, oder wucherndes Unkraut (Gramineen) in Nutzpflanzen (Getreide) umzubilden (Agricultur), so wie durch Zähmung und Pflege wild lebende Thiere in Hausthiere (Civilisation bei Thieren und Menschen) und durch Kreuzung schwächerer mit stärkeren, oder Ersatz ersterer durch letztere Racen brauchbare Nutzthiere hervorzubringen (veredelnde Schaf-, Rinder-, Pferde-, Geflügelzucht etc.). Da die Bodenbebauung nicht blos, wie Gewerbe und Industrie, eine natürliche Tendenz am Orte zu bleiben besitzt, sondern am Boden als unbeweglichem haftet, so muss dieselbe, was diesem an natürlicher Fruchtbarkeit abgeht, durch künstliche Steigerung derselben d. i. durch Bodenverbesserung (künstliche Düngung, Bewässerung, [298]Bearbeitung) zu ersetzen, so wie dessen Ertrag durch künstliche Sicherungsanstalten gegen nicht abzuwehrende Störungen von aussen (atmosphärische Einflüsse, Dürre, Hagelwetter) zu schützen trachten (Hagel- und Wetterschadenversicherung). Umgekehrt muss die Thierzucht, da sie des freibeweglichen Charakters der Thiernatur wegen eines erweiterten Spielraums bedarf, sich in die Lage versetzt fühlen, den Mängeln des Orts, an dem sie geübt wird, durch Ortsveränderung (Weideplätze, Austrieb des Viehs auf die Alpen, Uebersiedelung je nach dem Wechsel der Jahreszeiten) abhelfen, so wie Leben und Gesundheit ihrer Pfleglinge gegen drohende Störungen von aussen (Thierseuchen) entweder indirect durch künstliche Absperrung (Thiereinfuhrverbote), oder direct durch künstliche Heilung und Wiederherstellung (Thierarzneikunde, Sanitätsmassregeln) schützen zu können. Insofern aber weder Bodenanbau noch Thierzucht das natürliche Hinderniss aus dem Wege zu räumen vermögen, welches durch das Aufwachsen von Pflanzen und Thieren unter den klimatologischen und atmosphärischen Einflüssen ihrer einheimischen Natur deren Verpflanzung in andere Erd- und unter andere Himmelsstriche entgegensteht, muss dieser letztern die (der Natur der Sache nach nur langsam erfolgende) Acclimatisation und allmälige Einbürgerung derselben vorhergegangen sein, welchem Zweck beide durch besondere Eingewöhnungsanstalten (Acclimatisationsgärten für Pflanzen und Thiere) zu genügen bedacht sein werden.

421. Die hervorragende Stellung, welche der Mensch (wie die Ich-Vorstellung unter den Bewusstseinsbildungen und der Staat unter den organisirten Gesellschaften) unter den organischen Producten der Natur einnimmt, macht es erklärlich, dass die Beziehungen der übrigen Naturerzeugnisse auf ihn d. i. deren beziehungsweise Nützlichkeit oder Schädlichkeit für den Menschen vom menschlichen Gesichtspunkt aus die Hauptrichtschnur für die Zwecke des Handels und Verkehrs, der Gewerbe und Industrie, des Ackerbaues und der Thierzucht abgeben. Wie derselbe geneigt ist, mit dem Erwachen seines Bewusstseins sich als den Mittelpunkt des Weltalls (wie das Kind sich als den Mittelpunkt des Hauses) zu betrachten, Sonne Mond und Gestirne als bestimmt anzusehen, ihm zu leuchten, ihn zu wärmen, so sieht er sich als den natürlichen Herrn und Gebieter seiner organischen wie unorganischen Umgebung an und nimmt keinen Anstand, die unterirdischen wie oberirdischen Schätze der Erdrinde (Erz und Gestein, Pflanze und Thier) zu seinem Dienste [299]zu gebrauchen. Die bildende Kunst als Ideendarstellung im belebten wie leblosen Material nimmt dadurch, dass der Mensch anderen Naturproducten gegenüber für sich eine Ausnahmsstellung beansprucht, unwillkürlich einen beschränkten, im menschlichen Sinn egoistischen, die Beherrschung der Natur zum Nutzen des Menschen gebrauchenden Charakter (Utilitarismus) an, welcher, wenn der ideale, auf Darstellung der logischen, ästhetischen, oder ethischen Ideen gerichtete Zweck der Kunst mit des Menschen natürlichen, aber auch, wenn er mit dessen erkünstelten (Luxus-) Bedürfnissen, Gelüsten und Anmassungen in Widerstreit geräth, denselben rücksichtslos aufopfert. Derselbe steht als despotische Willkürherrschaft über die Natur der ideenlosen technischen Virtuosität in der Besiegung natürlicher Hindernisse eben so als Entartung bildender Kunst zur Seite, wie andererseits die zu zweck- und nutzlosem Spiel mit den natürlichen Formen und Kräften des menschlichen Körpers ausgeartete Athletik, Pantomimik, Akrobatik und andere Schwimm-, Gang-, Ritt- und Forceproben zu der auf durchgreifender Kenntniss des Baues und normalen Lebensprocesses desselben beruhenden Gymnastik, Diät und Gesundheitspflege das Gegenstück darstellen.

422. Wie die bildende Kunst als Darstellung der logischen Ideen in der leblosen und belebten Natur als „Weltverbesserung”, so tritt sie als Verwirklichung der ästhetischen Ideen in derselben als „Weltverschönerung” auf. Als solche geht dieselbe darauf aus, die Gestalt der Natur ästhetischen Normen anzubequemen d. h. wo in derselben Schwächliches, Verkommenes, Krüppelhaftes sich zu entfalten droht, dieser Gefahr zuvorzukommen (Orthopädie bei Pflanzen und thierischen Körpern), wo es sich vorfindet, dasselbe zu beseitigen (Durchforstung des Waldes; Aussetzung der Kinder in Sparta und Rom), wo Disharmonisches in der Natur thatsächlich gegeben ist oder bevorsteht, nach Möglichkeit Einklang an dessen Stelle zu setzen (Landschaftsgärtnerei, Parkanlagen), auch leblose Natur wie Producte der Menschenhand mit dem Schein der Lebendigkeit und der Beseelung auszustatten (Cascaden als Gartenzier; Kunstgewerbe; Ornamentik). Je nachdem zum Material der Ideendarstellung die leblose oder die lebendige Natur, in der letzteren die vegetabilische oder die thierische, in dieser insbesondere der menschliche Körper gewählt, die ästhetische Idee in demselben minder oder mehr durch die schon vorgefundene Gestalt des natürlichen Stoffes gebunden erscheint, wird die bildende Kunst als ästhetische Ideendarstellung [300](Plastik) in leblose und lebendige, oder in freie (schöne), oder decorative (verschönernde) Plastik (ornamentale Kunst), je nach dem Quantum des verwendeten Materials in Gross- und Kleinplastik unterschieden.

423. Zu der im leblosen Material ästhetisch bildenden Kunst gehört die Bildnerkunst, welche entweder unbeweglichem materiellem Stoff, z. B. Felsgestein („lebendigem Fels”) eine bestimmte ästhetische Form ertheilt (Höhlentempel, Felsengräber, behauener Fels) oder bewegliches, lebloses Material (natürliches oder künstliches Gestein, Bruchstein, Backstein; Holz, Bein, Metall) entweder (als Block, Stamm, Thierzahn, Erz u. s. w.) einzeln geometrisch (wie der Steinmetz, der Zimmermann etc.) oder ästhetisch (wie der Bildhauer, der Bildschnitzer in Holz und Bein, der Bildgiesser in Erz u. s. w.) formt, oder (als Baukunst) in Massen entweder als ungeformtes (Roh-) Material (unbehauenes Holz oder Gestein) oder als schon geformten Stoff (gezimmertes Holz, behauenen Stein) zu ästhetischen Formen zusammenhäuft und entweder auf natürlichem Wege durch eigene Schwere (Cyklopenmauern) oder durch künstliche Bande (Kitt, Mörtel, Klammern etc.) zu einem ästhetischen Ganzen verbindet (Rohbau, Kunstbau, Architektur, Monumente). Zu der lebendigen Plastik gehört, je nachdem das Material derselben dem Pflanzen- oder dem Thierreich entnommen ist, die Kunstgärtnerei, welche lebendige, sei es wildgewachsene (Feldblumen), sei es veredelte Gewächse (Garten- und Treibhauspflanzen) zu einem ästhetischen Ganzen (Blumenstrauss, Beet, Gartenanlage), und die Schauspielkunst, welche thierische und menschliche Körper, sei es in ihren natürlichen (Nacktheit), sei es in künstlichen Bedeckungen (Maske, Costüm) zu einem ästhetischen Ganzen (lebendigem Gemälde) vereinigt, welches letztere entweder als ruhend (Tableau, lebendes Bild) oder als bewegt und in diesem Fall entweder als episch fliessende (Aufzug, Parade, Makart’s „Festzug”), oder als causal sich aus sich selbst entwickelnde dramatische Handlung (Bühnenschauspiel) dargestellt wird.

424. Die Plastik ist frei, wenn die ihr bei der Verwirklichung der ästhetischen Idee durch das Material dargebotenen Schranken keine andern sind als solche, die in den Bedingungen der Darstellung in physischem (also schwerem und schwer zu behandelndem) Stoffe (Statik und Mechanik; Schwerpunkt) und in der Beschaffenheit des letzteren selbst liegen (Brüchigkeit des Gesteins, Geäder des Marmors, Spaltrichtungen und Geäst im Holze u. s. w.), dagegen [301]gebunden, wenn ihr dergleichen durch einen ausserhalb der ästhetischen Ideendarstellung gelegenen Zweck (des Bedürfnisses oder des Luxus, des Nutzens oder der Laune) auferlegt werden. Nur in jenem Fall ist die Plastik schöne, in diesem dagegen nur verschönernde Kunst, welcher die Aufgabe gestellt ist, das Unentbehrliche (Haus, Hausgeräth, Kleidung), oder das zwar Entbehrliche, aber Erwünschte (Bequemlichkeit, Reichthum), das Erforderliche im Dienste bestimmter Gesellschaftszwecke (Gotteshäuser und Altargeräth in der Kirche, öffentliche Gebäude und politische Insignien im Staate) oder das Ueberflüssige, auf zufälligen Stimmungen und vorübergehenden Einfällen augenblicklich tonangebender Gesellschaftskreise (Mode, „chic”) mit ästhetischen Formen zu schmücken. Der ersten der genannten Richtungen entspricht die sogenannte „Kunst im Hause”, welche das Wohnhaus und die häusliche Umgebung, so wie die äussere Erscheinung (Tracht, Zierat, Haartracht), der zweiten die Decorationskunst, welche auch die weiteren und in grösserem Massstabe angelegten Umgebungen (Palast, Park, Staatskleid), der dritten die kirchliche Kunst, welche Ort und Art der gottesdienstlichen Verrichtungen (Tempel, Dom, Altar, kirchliches Ceremoniell), der letzten die patriotische oder Monumentalkunst, welche Ort und Art der staatlichen Vorgänge (Residenzschloss, Parlamentshaus, Thron- und Kroninsignien, Hof- und Staatsceremoniell) ästhetisch belebt und veredelt. Zur schönen Plastik gehören Sculptur und Architektur und zwar sowol wenn es sich um die Herstellung in ihren Massen geringer (kleine Plastik z. B. Medailleurkunst) wie grosser Objecte handelt (grosse Plastik: Denkmalkunst, Triumphbogenarchitektur). Zu der verschönernden Kunst gehört das Kunstgewerbe und die Kunstindustrie, die, wenn es sich um die ornamentale Verzierung beweglicher Gegenstände handelt, als „Kleinkunst” (Keramik, Kunsttischlerei, Kunstschlosserei, Emaillirkunst u. s. w.), wenn dagegen unbewegliche Gegenstände (Nutzbauten, Wohnräume, Gesellschafts- und Festsäle, Gärten, öffentliche Anlagen und Plätze, Brücken, Thore u. s. w.) verschönert werden sollen, als decorative Kunst (Stadtverschönerung, Gartenarchitektur) auftritt.

425. Ausdruck der Verwirklichung der ästhetischen Idee in der gesammten Erscheinung des menschlichen Lebens, des Einzelnen wie der Gesellschaft und ihrer näheren und entfernteren Umgebung, ist die Kunst „schön zu leben” („Kalobiotik”: Rahel; W. Bronn). Dieselbe ist als Ideendarstellung so wenig mit der Kunst „gut zu [302]leben” („rasend” gut zu leben, rühmte sich Gentz) d. i. mit der gesuchten Verfeinerung (Raffinement) des Sinnengenusses (Schlemmerei), als die Kunst (logisch) überzeugender mit der Kunstfertigkeit (sophistisch) überredender Beredsamkeit zu verwechseln. Ihre Tendenz geht dahin, aus der gesammten, psychischen und physischen Beschaffenheit des Individuums wie der Gesellschaft, aus deren Vorstellen, Fühlen und Wollen, aber auch aus deren hörbarer und sichtbarer Selbstdarstellung in Rede, Manier, Haltung und Handlung, so wie selbstgeschaffener oder doch selbstgewählter naher und ferner Hülle und Begleitung (Kleidung, Schmuck, Hausgeräth, Wohnung, Umgang, Sitten und Gebräuchen) nicht nur (negativ) alles Störende und Disharmonische auszuscheiden, sondern (positiv) denselben das Gepräge edler Freiheit und innerer Uebereinstimmung mit und unter einander und zu einem wohlgefällig abgerundeten Ganzen aufzudrücken d. i. das Leben in jedem gegebenen Zeitmoment und die gesammte Zeitdauer desselben hindurch (wie die Griechen und Goethe) zum „Kunstwerk” zu gestalten. Ergebniss derselben, so weit ein solches durch die spröde Natur der ideenlosen Wirklichkeit gestattet wird, ist eine schöne Erscheinungs-, wie jenes der logischen, das gesammte Denken zum Wissen durchläuternden Kunst eine wahre Gedankenwelt.

426. Weder nach jenen der logischen, noch nach jenen der ästhetischen, sondern ausschliesslich nach den Anforderungen der ethischen Idee ist die dritte Form der bildenden Kunst bemüht, die gegebene Gestalt der Erfahrungswelt zu verändern. Dieselbe kann nicht darauf ausgehen, in der Natur (etwa) vorhandenen Willen („blinden Willen”: Schopenhauer) den Anforderungen der ethischen Norm anzubequemen, weil deren Bewusstlosigkeit die Willensform ausschliesst. Die Absicht derselben kann daher einzig darauf gerichtet sein, der Natur, soweit thunlich, diejenige Gestalt zu verleihen, welche sich dieselbe, wenn sie von einem Willen beseelt wäre d. h. die Fähigkeit besässe, die Stimme der ethischen Ideen nicht nur zu vernehmen, sondern auch zu befolgen, selbst geben oder gegeben haben müsste. Da unter dieser Voraussetzung die Gestalt der Natur die unter den gegebenen Verhältnissen beste d. h. diejenige geworden wäre, welche den Normen der ethischen Ideen unter allen überhaupt möglichen Gestaltungen der Natur am meisten entsprochen haben würde, so folgt, dass das Streben der dritten d. i. der ethischen bildenden Kunst auf nichts anderes als auf die Herstellung der besten unter den überhaupt möglichen [303]Naturen, beziehungsweise auf die Annäherung der bestehenden an das Ideal der besten Natur gerichtet sein könnte.

427. Dieses selbst aber kann nichts anderes sein als das Bild einer Natur, deren sämmtliche Bestandtheile, leblose wie belebte, zum Ganzen in einer Weise verbunden werden, welche die zweckmässigste d. h. der Summe der innerhalb der gesammten Natur vorhandenen Bedürfnisse, Wünsche und Bestrebungen unter allen überhaupt denkbaren am meisten entsprechend d. h. dem allgemeinen Wohl oder der Glückseligkeit des Ganzen unter allen denkbaren am vollkommensten genügend wäre. Da nun die Summe in der Natur gegebener Wünsche eine bestimmte, die Summe der zu deren Verwirklichung zu Gebote stehenden Bedingungen d. i. der Naturproducte, als Güter betrachtet, gleichfalls eine begrenzte ist, so folgt, dass die Aufgabe der ethischen Kunst auf nichts anderes gerichtet sein könne, als durch die unter allen denkbaren beste Verwaltung der gegebenen Natur der grösstmöglichen Summe von Glückseligkeit in der gesammten (leblosen wie lebendigen) Natur (den Menschen mit eingeschlossen) zur Verwirklichung zu helfen.

428. Dieselbe geht darauf aus, nicht nur Verwaltungssystem, sondern das unter den gegebenen Verhältnissen beste Verwaltungssystem der Natur, nicht nur, wie die Oekonomik Hauswirthschafts-, wie die Nationalökonomik Volks- oder Staatswirthschaftskunst, sondern als Weltökonomik Weltwirthschaftskunst (bestmöglicher Haushalt der Natur) zu sein d. h. weder (wie die gewinnsüchtigen Ausbeuter der Natur) ausschliesslich im Dienste und zu den Zwecken des Menschen, noch (wie erbarmungslose Naturkräfte) taub gegen Wohl und Wehe gefühlsfähiger Wesen, sondern der bestehenden Proportion zwischen dem empfindungs- und genussfähigen und dem genuss- und empfindungslosen Antheil der gesammten Natur gemäss, dem Wohle des ersten und den Hilfsmitteln des zweiten entsprechend zu wirthschaften. Je nachdem es sich dabei entweder um die Hinderung des Missbrauchs durch Zerstörung oder Verminderung gegebener, oder um die Förderung des Verbrauchs durch Vermehrung gegebener und Erzeugung nicht gegebener Güter handelt, nimmt dieselbe negativen (internationaler Schutz der Meere, Gewässer, Wälder, Singvögel; Antisclavenliga; Sanitätspflege; völkerrechtlicher Schutz des Privateigenthums in Kriegszeiten) oder positiven Charakter an (internationale Welt- und Handelsstrassen: Suez-Canal, Durchstich von Panama; Handels- und Schifffahrtsbündnisse, Entdeckungsreisen). Je nachdem dieselbe mehr auf den vorhandenen [304]Wünschen entsprechende Vertheilung der schon vorhandenen, oder auf entsprechende Betheilung der bisher Unbefriedigten durch neu zu schaffende Güter gerichtet ist, nimmt dieselbe mehr den Charakter einer Versorgung (bestehender Wünsche mit vorhandenen Mitteln: Communismus, Gütertheilung) oder Vorsorge (für künftige Wünsche durch neue Mittel: Socialismus, Organisation der Gesellschaft) an. Die Frucht der auf die gesammte Natur, leblose wie lebendige, ausgedehnten Darstellung der ethischen Ideen durch die bildende Kunst ist die in ethischem Sinn vollendete, dem Zweck grösstmöglichen Wohlbefindens aller empfindungsfähigen Wesen entsprechende, unter den gegebenen Umständen bestmögliche Natur, der ethische Kosmos, die beste Welt (Optimismus).

429. Wie die erste Form der bildenden Kunst die logischen, die zweite die ästhetischen, so verkörpert die dritte die ethischen Ideen. Wie die bildende Kunst als Ideendarstellung im Physischen Erziehung der Natur, so ist die Bildungskunst eigene, die Bildekunst Erziehung des Menschengeschlechts. Wie diese im gemeinsamen, die Selbsterziehung im einzelnen Bewusstsein, so stellt die bildende Kunst die Culturentwickelung und den Culturprocess in der gesammten leblosen und lebendigen Natur dar. Die Ideendarstellung im Wirklichen überhaupt, die Kunst, ist der lebendige Culturprocess; die Entwickelungsgeschichte derselben von deren ersten Anfängen im erwachenden Bewusstsein des Einzelnen durch das Jugend-, Mannes- und gesellschaftliche Bewusstsein hindurch bis zu den fernen und fernsten Grenzen des Alls, soweit dieselben unserer Erfahrung zugänglich sind, bildet den Inhalt der Entwickelungsgeschichte der Cultur, der Culturgeschichte des Weltalls. [305]

SCHLUSS.

[307]

430. Mit der Ideendarstellung in der Geistes- und Körperwelt ist die Philosophie als Kunst, wie mit der Darlegung des Ideeninhalts einer-, des Inhaltes der Wirklichkeit andererseits die Philosophie als Wissenschaft zum Abschluss gebracht. Der philosophische Realismus geht nicht von der Annahme aus, weder dass das Wirkliche als solches vernünftig, noch dass das Vernünftige als solches wirklich sei (Optimismus: Hegel); aber auch nicht von der entgegengesetzten, dass das Wirkliche als solches vernunftlos (Pessimismus: Schopenhauer), oder gar als solches vernunftwidrig (lebendiger Widerspruch; Realdialektik: Bahnsen) sei. Derselbe setzt aber voraus, sowol dass das Vernünftige, welches als solches nicht wirklich ist (die Ideen), wirklich, als dass das Wirkliche, welches als solches nicht nothwendig vernünftig ist (Natur, Geist, Geschichte), vernünftig werden kann, werden soll und werden wird, wenn nach dem bekannten Wort „Jeder seine Schuldigkeit thut”. Die Verwirklichung der Ideen ist weder eine Thatsache, die in der Vergangenheit, noch eine solche, die in der Gegenwart, sondern eine Aufgabe, deren Erfüllung in der Zukunft und in den Händen des Menschen liegt. Der Traum eines „goldenen Zeitalters”, von welchem ein nüchterner Rationalist wie Kant als von jenem des „ewigen Friedens”, wie ein extremer Positivist wie Comte als dem „état positif” schwärmte, wird dann erfüllt sein, wenn die gesammte Ideenwelt real geworden und die gesammte Wirklichkeit von den Ideen durchdrungen d. h. wenn dasjenige, was Schiller „das Kunstgeheimniss [308]des Meisters” nannte, die „Vertilgung des Stoffes durch die Form” offenbar, oder, wie Schleiermacher es ausdrückte, „wenn die Ethik Physik und die Physik Ethik” geworden sein wird. Eine Philosophie, welche, wie die vorstehende, sich weder wie die Theosophie auf einen menschlichem Wissen unzugänglichen theocentrischen Standpunkt versetzt, um von ihm aus den „Vernunfttraum” als längst geschaffene Wirklichkeit, noch wie die Anthropologie auf den zwar anthropocentrischen, aber unkritischen Standpunkt gemeiner Erfahrung stellt, um von ihm aus eine ideenerfüllte Wirklichkeit als „Traum der Vernunft” anzusehen, welche sonach zugleich anthropocentrisch d. i. von menschlicher Erfahrung ausgehend und doch Philosophie d. i. an der Hand des logischen Denkens über dieselbe hinausgehend sein will, ist Anthroposophie. [309]

[Inhalt]

Als Separat-Abdrücke

aus den

Abhandlungen der philosophisch-historischen Classe der kais. Akademie der Wissenschaften

sind von demselben Verfasser erschienen:

Samuel Clarke’s Leben und Lehre. Ein Beitrag zur Geschichte des Rationalismus in England. Wien, 1870. (A. d. Denkschriften. XIX. Bd.)

Ueber Kant’s mathematisches Vorurtheil und dessen Folgen. Das., 1871. (A. d. Sitz.-Ber. LXVII. Bd.)

Ueber Kant’s Widerlegung des Idealismus von Berkeley. Das., 1871. (A. d. Sitz.-Ber. LXVIII. Bd.)

Zwei Briefe Herbart’s. Das., 1871. (A. d. Sitz.-Ber. LXIX. Bd.)

Ueber Trendelenburg’s Einwürfe gegen Herbart’s praktische Ideen. Das., 1872. (A. d. Sitz.-Ber. LXX. Bd.)

Ueber den Einfluss der Tonlehre auf Herbart’s Philosophie. Das., 1873. (A. d. Sitz.-Ber. LXXIII. Bd.)

Kant und die positive Philosophie. Das., 1874. (A. d. Sitz.-Ber. LXXVII. Bd.)

Schelling’s Philosophie der Kunst. Das., 1875. (A. d. Sitz.-Ber. LXXX. Bd.)

Perioden in Herbart’s philosophischem Geistesgang. Das., 1876. (A. d. Sitz.-Ber. LXXXIII. Bd.)

Glaube und Geschichte im Lichte des Dramas. Ein Beitrag zur Philosophie des Dramas. Das., 1877. (A. d. Sitz.-Ber. LXXXV. Bd.)

Kant und der Spiritismus. Das., 1879. (A. d. Sitz.-Ber. XCIV. Bd.)

Lambert, der Vorgänger Kant’s. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Kritik der reinen Vernunft. Das., 1879. (A. d. Denkschriften. XXIX. Bd.)

Henry More und die vierte Dimension des Raumes. Das., 1881. (A. d. Sitz.-Ber. XCVIII. Bd.)

Kolophon

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38 transscendentaler transcendentaler
64 [Nicht in der Quelle] .
84 niederern niederen
85 vorgetellt vorgestellt
86 hiebei hierbei
112 inviduellen individuellen
114, 300 [Nicht in der Quelle] )
116 angeborne angeborene
117 ntürli che natürliche
118 erlaubte Erlaubte
131 beherschten beherrschten
146 imwirklich im wirklich
155 von vom
163 entgegengetzten entgegengesetzten
185, 273 d.i. d. i.
204 Natur körper Naturkörper
206 gibt aber, gibt, aber
207 Psycholog Psychologe
209 innnerhalb innerhalb
213 äusserere äussere
214 derletzteren der letzteren
225 verhandenen vorhandenen
229 erstern ersteren
232 anschiesst anschliesst
243 nich nicht
252, 278 so wol sowol
256 [Nicht in der Quelle] -
257 [Nicht in der Quelle]
272 , .
278 Ideendastellung Ideendarstellung
281 eigene eigenes
293 grundsätzlosen grundsatzlosen