The Project Gutenberg eBook of Beethoven: Eine Phantasie

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Title: Beethoven: Eine Phantasie

Author: Béla Révész

Translator: Stefan I. Klein

Release date: June 17, 2016 [eBook #52359]

Language: German

Credits: Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
Proofreading Team at http://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK BEETHOVEN: EINE PHANTASIE ***

Béla Révész

Beethoven

Eine Phantasie

Kurt Wolff Verlag München

Bücherei „Der jüngste Tag“ Band 80

Gedruckt bei E. Haberland in Leipzig

Einzig berechtigte Übertragung aus dem Ungarischen
von Stefan J. Klein

Copyright 1919 by Kurt Wolff Verlag München und Leipzig

Die Ärzte hatten mich im Februar nach Riva geschickt, damit ich warmen Sonnenschein, trockene Luft rieche.

Nun sitze ich hier auf der Terrasse eines weißgetünchten kleinen Hotels, die großen Glasflügel sind geöffnet, und die mittägliche Sonne überflutet uns.

Müßige, lustfrönende Leute sonnen sich in dem geöffneten Glaskäfig, ältere Leute dösen wach nach dem schmackhaften Essen, unter der Last der glutenden Strahlen röten sich urlaubfreie jüngere, im Scheine dunklen Weines hockend, an silbrig gleißenden weißen Tischen keuchen Neuvermählte, sie betrachten den Sonnenglast, und ihr angespannt offenes Auge lodert — wenn sich ihre Blicke treffen — wie über Schneebergen der Sonnenstrahl.

Um mich herum Wachen; regungslose Stille.

Kein Ton tönt, kein Wort schwatzt, unter sich aneinander erfreuenden Menschenpaaren leben wir abgeschieden, ich und der Sonnenglast.

Vor meinem rastenden Auge steht die gleichmäßige, sonnenumspielte Üppigkeit, mit ihrem flutenden Gold die blaue Luft erfüllend, in dunklem Gestrüpp grüner Bäume glühen Orangen, auf dem staubigen Hof löst ein schlafender weißer Hund sich auf, und über allem steht und brennt das unberührte Sonnenlicht.

Blendendes Funkeln umarmt mich und wäscht meine Augen; der Strahl, der ihnen entirrt, wer weiß, ob er noch mir gehört, oder bereits vom güldenden Grau aufgesogen ist? In den fernen Tälern prunkender Unendlichkeit schaudert das Leben, zuckende Streifen, kämmige Flämmchen, gebrochene Feuerbilder steigen aus den Sonnenstrahlen empor, und in der tödlichen Stille, in der Muße des Friedens beginnt das gleißende Lichtmeer sein Spiel.

Weiter draußen gerät die glatte Weite in Bewegung, die Strahlenwiese entflammt, versinkt zerstückt, und aus dem Glanzwirbel lodert zuweilen eine fransengesichtige Flammenschlange auf ... taucht dann wieder unter; aus der verzehrenden Tiefe rollen in keuchendem Wetteifern andere Schlangen ihre Feuerköpfe in die Höhe, zucken im mittäglichen Strahlen, schwanken und verschwinden mit schlankem Hüpfen in den Lichtlabyrinthen. Glanzdelphine spielen ... über ihnen und um sie herum zittern die Sonnenstrahlmyriaden, Blendung glüht, Helle zuckt, Goldgarben lösen sich, ähnlich dem Haar der begehrten Frau. Sonnenstrahlfäden laufen zusammen, trennen sich, sterben verflochten ineinander, fliegen dann abermals aus dem Flammenbecken auf, es tollt das Sonnenlichtdickicht mit wechselnder Eile. Sonnenstrahllegionen zischen, und ich bin mit vergessendem Staunen abermals ein Kind, höre das Einstürzen des Damms, wie damals, da wir daheim in einer furchtbaren Nacht das große Wasser erwartet .... Verflossener Zeiten Brausen umrauscht und umraunt meine blinden Ohren, und es tost das Wasser über den Erdwällen der Insel; das Sonnenlicht schaukelt, lauscht still wie der kleine Hain, in dem ich einst mit dem unwissenden Mädchen saß; über uns gilbten in der Augustdämmerung späte Akazienblüten, der kleine Hain bebte raunend, und das unwissende Mädchen blies mir aus geweiteten Nüstern Glut entgegen ....

Unter jedermanns Herzen wacht eine alte Traurigkeit, ein vergessener Traum, die fahlgewordene Freude. Wohin führt uns das entflammte Auge, wenn wir Töne entschlummerter Gesänge hören?

In umgürtender Linie stoßen einander die großen Berge, hier und dort hat einer seine Höhe zum Gipfel aufgeworfen, auf düsterer Schneeberge Haupt strahlt der blaue Himmel, Schnee und Eis blinken hart im Sonnenglast; blitzende Gletscher stehen und warten in der stummen Helle. Es flammt die Sonnenkugel auf den Gipfeln der Schneeberge, rollt mit ihren Lichtspeichen durch blaue Täler, durch weiße Schluchten, reißt Schleusen der Strahlen zu meerartigem Gischt auf und bringt mit seiner Zauberberührung die auf den Kuppen der Gletscher erstarrten Eisglocken zum Tönen. Jungfräulicher Gesang sickert von den Gefilden der Weiße herüber ... läßt dein müdes Herz mit Freude erbeben, umarmt den schlaffen Daumen mit Ermunterung. In deinem gebrochenen Auge blüht Andacht auf, und wir spielen im Zelt der Einsamkeit mit der nicht kommenden Liebe, mit schwerem Alpdrücken: begeistert ein Aberglaube oder Gott sich über uns? vermöchte ein heißer Atem des Weltgeheimnisses die jahrtausendealten Eisfelsen zu schmelzen? woher kommt der Weg, der aus dem Schoß der Zeit in den Schoß meiner Mutter geführt? Im strahlenden All summen die Eisriesen, eine ungeheuere Hand träumt auf der Angstorgel: Töne, dahinfließend wie das Quellen von Liebespaaren, hüllen unser bebendes Herz ein; zerren meinen zitternden Körper wach, besinnungraubend, wie die Augenblicke des Taumels in der Minute des Lebensabschieds.

Es seufzt, singt das werdende Tongesumme, noch breiten sich fransige Melodienebel um unser Herz, doch meine verlassene Körperlichkeit bebt, fühlt um sich herum bereits beklommen, ringend anderer Leute Lebensnervosität, und mein besonnter Blick gleitet auf die Bewohner des verandaartigen Käfigs hinab; das krinolinetragende, runzlige Tantchen blinzelt mit den Augen, streift den Seidenrock gerad und lacht lächelnd, neben ihm trommelt das Männlein im Jägeranzug mit seinen rundlichen Fingern, trommelt unentwegt und lacht gierig; die tauigen Jungen, Hand in Hand, wie die Keilhaue vereinigt, lächeln gekitzelt, und ihnen gegenüber sitzt an einem verwaisten Tisch ein buckliger Mann, bewegt sich steif und lacht, lacht, lacht. Vor meinen verwirrten Augen flimmern Regenbogen, flattern auf die gekrümmten Ohren des Buckligen, laufen über sein knochiges, sommersprossiges, großes Gesicht, tollen auf seinem lachenden verbitterten Mund; auf den glänzenden Bäuchen und spitzen Lippen der Weinflaschen zechen Sonnenstrahlrosen, auf dem ovalen weißen Bart des kleinen Mannes im Jägeranzug tändeln Sonnenstrahlen, schaukeln auf seinem seligen roten Antlitz, und Sonnenstrahlen hüpfen auf seinem runden, grünen Hut, auf dem Stiel der Fasanfeder; mit törichtem Raten flüstert jemand um mich:

„Dies ist Stüssi, der Flurschütz ...“

„Stüssi, der Flurschütz ...“

hat vielleicht das krinolinetragende Tantchen etwas gesagt? jetzt bewegt sich der spöttelnde Mund des Buckligen: entpurzeln ihm Worte? alle, die hier auf der Veranda des Lichtes sitzen, verstehen einander, schütteln sich plötzlich vor Lachen. Ihre Blicke begegnen einander mit solidarischer Botschaft,

und ich muß fremd außerhalb ihrer Gemeinschaft bleiben?

hat vielleicht der Alpenjäger etwas Wild-drolliges gebrummt? haben vielleicht die Jungen etwas von ihrer ungelenken Freude verraten? die Lippen bewegen sich, die Augen verschrumpfen in des Lachens grauen Ringen;

ich hülle mich in die verwachsenen Kleider der Scham und der Verteidigung, verzerre die Linien des Lächelns und schleudere mein verschrecktes Gesicht vor die Menschen hin ...

Hier gebe ich es, gebe es euch; der müde Zickzack belebt meine gesprungenen Lippen, grinst stutzend (wie in trostlosen Häusern das Lächeln armer Leute, deren letzter Gedanke es ist, daß ihnen der liebe Herrgott aus dem hängenden Kopf den Verstand gesogen), zeigt sich duckmäuserisch, auf daß ihr mir glaubet, um meine Schande nicht wisset und mich (den die Larve des Lächelns verbirgt) in meiner verfolgten Einsamkeit in Ruhe lasset.

Die Larve des Lächelns verbirgt mich ... über kecke, lebensstolze Menschen flutet Sonnenschein dahin, auf meine verschreckten Augen wirft die Gnade ihr Strahlenband und jagt mit meinem vergessenden Blick in ungestümer Hast auf die Gefilde des Gefunkels; mit Flehen, in dem das Herz der Traurigkeit pocht, taste ich nach meinen zerzausten Gesängen ... Lichtgarben lohen im Glast wie Glockenzungen auf, und die in Licht getauchten Glocken ertönen, wie einst allabendlich daheim zur Litanei des weißen Primas. Ich stand auf der Schloßtreppe, alle Sonnenblumen wandten ihre Gesichter in diese Richtung, die pausbäckige Sonne ließ den abendlichen Himmel erröten, unten schwitzte die Insel zwischen Smaragdgräsern, und im breiten Tal der Donau hub das Glockenspiel an; schlanke, bäuchige Glocken tönten durcheinander, der weiße Primas begab sich mit Kardinalsschritten zum Gebet.

Mein bezaubertes Auge betrachtet den bestürmten Sonnenglast ... ein dahingleitender großer Pfau hebt seine seltsamen Flügel, und alles spiegelt sich bis zur opalenen Gemarkung darin. Wie schön ist dieses Glockenspiel, wie müder Atem schwingt zitternd das leise Summen der Marktkirche her, sorglos, wie frischer Kindermund, singt vom Kalvarienberg die kleine Glocke der Rosalienkapelle, die traurigen Glockentöne der Franziskaner schlängeln sich dick herüber, und ihre abgestumpften Fransen flattern hier unter der Schanze. Das Läuten der Klosterkirche seufzt, ähnlich dem Flüstern vertrockneter Nonnen, wenn sie der flammäugige Domherr zur Beichte besucht; tiefergriffene, hocherfreute Töne singen schwirrend, schwimmen aus der Weite herbei; aus dem Tal langt leise ein ohnmächtiger Arm empor. In die harfenbeschwingte Stille klingt, tönt, dröhnt die große Glocke der Basilika. Wie ein stürmender Samum, so erfaßt der aufgepeitschte Ton-Orkan meinen Körper, und ich spähe zusammengekauert vom Chor der Basilika in schüttelnder Hitze. Unten, auf dem Goldthron wird der kleine Primas beweihräuchert, über meinem benommenen kleinen Kopf rauschen die Tore der Orgel auf, Stimmen blasser, bärtiger Männer tönen erzlos, auf reinen Lippen bleicher Mädchen dösen lateinische Lamentationen. Von der strahlenden Höhe der Kuppel schaut St. Hieronymus, ein großes Buch in den vom Mantel verhüllten Armen, aus der Weihrauchwolke mit düsteren Augen auf mich nieder ... auch ich war einst im Chor, auch ich sang an Feiertagsabenden im Gotteshaus; in den schattigen Bänken gerieten die alten Juden in Bewegung, schoben die Gebetbücher mit schwacher Hand beiseite, hoben ihre zitternden weißen Köpfe zur Umfriedung empor, mein erschrockenes Kinderherz pochte mächtig und blieb in der Stille stehn, triumphierend allein, und ich entließ das Lied auf seinen Weg:

Mi adir ...

mit seiner grünberingten, pergamentnen Hand winkte der rote Bischof Segen; auf dem großen Altarbild breiteten sich die Flügel der weißen Taube aus ...

der hebräische Gesang entflog meinem warmen Mund ...

Wie war meine Stimme? ... sie schmettert, tönt, läuft um meine Ohren herum, mein kleiner Körper strafft sich elastisch, meine frische Brust wölbt sich aus der engen Weste hervor, mein weißer Hals wird statuesk, und mit einemmal wird mein Gehirn, mein Auge, mein Herz von Glut erfaßt; herausgeschmettert ist meine Stimme; sie jauchzt, fällt ab, wie der vollkommene Augenblick, in dem Mann und Weib ineinander Leben überströmen lassen; bis hierher höre ich sie ... heraustönend aus dem Dickicht, das mich nunmehr mit altem Laub umwächst, und herüber winkt zu mir die Jugend, wie wenn den auf dem Ufer Lungernden von den sich entfernenden weißen Segeln einer Jacht Abschied gewinkt wird ...

Wie war meine Stimme? ...

O Stimme, die die meine gewesen, deren Klingen ich gehört, die keuchend gejammert wie der Kummer, der mit seinen Ranken die Meinen ewig gedrosselt; o Stimme, die die meine gewesen, gläserner Gartenglocken Erbeben, das mit allmählichem Ersterben in Trostlosigkeit untergeht; wie war meine Stimme? ...

Mein Gesicht zuckt ...

Draußen, um meine Körperlichkeit herum, an weißen Tischen ein Zickzack von Menschen. Sie werfen mit ihrer tonlosen Freude, mit ihrem verschwisternden Rausch, dessen Fühler mich in die fremde Gemeinsamkeit rufen, werfen so ihre Harpune nach mir aus.

Auf meinem Gesicht Larve des Lächelns, ich zeige sie unwillkürlich, diese schlechte Maske der Fröhlichkeit; mein abgewandtes Bewußtsein träumt von Linderung, doch meine ausgelieferte Körperlichkeit ist zwischen Menschen geklemmt und übernimmt aus unermeßlicher Ferne ihre Wildheit ...

Auf meinem starren Gesicht zuckt das Lächeln; mein Mund krümmt sich, mein Auge wird klein, mein Kinn rundet sich lächelnd ...

Worüber freuen sich eigentlich die Leute?

Den Diamantschoß dem Sonnenlicht geöffnet, mit schützender Güte von den Strahlen gestreichelt, so empfindet mein mich versuchendes Kinderherz sprießende Frühlingsbäume, im Regen des Blütenfalls ...

Verzerrt ist mein Gesicht, absichtsloses Lächeln hüpft mit hinterlistigen Krähenfüßen um meinen Mund herum.

Der Bucklige räkelt sich an dem mimosengeschmückten Tisch hoch, sein eingefallener Körper hebt und senkt sich, sein rötliches, großes Gesicht strahlt im Sonnenschein, sein herber Mund zuckt unter der sommersprossigen Nase, er lacht selbstvergessen,

was haben die Leute gesagt? ...

Auf dem Hut des Stüssi zittert die Fasanfeder, in der Goldluft hüpft der weiße Bart, das ovale Gesicht läuft flach zusammen, zieht sich dann länglich aus; das Lachen wogt, in das hübsch rote Gesicht Grübchen grabend ...

In meine betroffenen Augen schlängelt sich hastend das Lachen,

weshalb lachen die Leute? ...

Es baumelt der schmale Kopf des krinolinetragenden Tantchens, der Schildkrotkamm glitzert aufgeregt in dem gebrannten Haar, der dicke Privatier, auf dem Dromedarkörper einen Strahlenmantel, zerplatzt bei seinem Tiroler Wein, die girrenden Jungen sinken mit hochzeitlichem Schaudern gegeneinander, fahren auseinander, jedes Gesicht zittert, jeder Mund speichelt, jede Nase stülpt sich, jedes Auge zwinkert, überall herrscht das Lachen mit seinen flutenden Wellen,

und es ergießt sich schmetternd über mein erschrecktes Gesicht; schlängelnde Linien zerschneiden mein Antlitz, schmerzliche Grimassen krampfen sich mir zwischen Stirne und Kinn, mein ringender Mund tropft vor Lachen ... es dreht mich, schüttelt mich das Lachen.

„Worüber lachen sie?“

„Was haben sie zueinander gesagt? ...“

„Der Bucklige weiß es ...“

„Der Stüssi weiß es ...“

„Der Zerplatzende weiß es ...“

„Und weshalb lache ich? ...“

Das Lachen glotzt mir aus den Augen, das Lachen läßt meine Zähne gegeneinander schlagen, krampft mein schmerzendes Herz zusammen:

„Räuberisches Leben, wozu kommst du zu mir, zu dem Ausgeraubten ...“

„Was willst du von mir? ...“

„Was bin ich denn? ...“

„Eines anderen Gedanke freut sich an Freude, und ich lache ... Eines anderen Gefühl badet in Freude, und ich lache ... Eines anderen blitzendes Auge spricht mit dem Auge des anderen Sprechenden, und ich lache ... Lache mit fortgerissener Demut; ich lache, und kein Gedanke lebt in meiner lachenden Stimme, kein Gefühl in meiner erstickenden Stimme, meine beiden tränenfeuchten Augen taumeln blind in ihren Höhlen ...“

„Was bin ich denn? ... Ein Spielzeug aus Papier ... das von ichsüchtigen Händen hin und her gezerrt wird? Ein seelenloses Geschöpf, das von den Stärkeren hin und her gezerrt wird? Ein abgefallenes Blatt, das von den Vorbeigehenden mit der Schleppe fortgefegt wird? Dienender Schemel der Auserkorenen, der getreten wird?“

„Was bin ich denn? ... Räuberisches Leben ...“

Vor meinen umflorten Augen tänzelt gröhlend der Bucklige.

Sein hungriges, großes Kinn hüpft nach dem Hals, sein zersprungener, wütender Mund klafft erstickend, noch während ihn das Lachen schüttelt, fährt er zusammen, fährt auf, stutzt, richtet sich steif auf, richtet mit seinen langen, knochigen Fingern die Weste, zieht auf seinem gewölbten Hemd tändelnd die verschobene Krawatte breit, bringt eilends die Flügel seines Jacketts in Ordnung, rafft seinen schiefen Kopf immer wieder und immer wieder zurück; der Arme ... weshalb schämt er sich? was verbirgt er? ...

Und wie oft schwindelt es ihn vor dem geheimen Gedanken, der mit Gott hadert? ... O, wenn jeder Mensch bucklig wäre? ... Wie oft erhebt sich in seiner umengten, verwaisten Einsamkeit dieses Phantom?: der Mensch würde so geboren, auf der Brust ein Buckel, auf dem Rücken ein Buckel, wäre jedes Menschen Hals kurz, zwischen Körper und Kopf vom Adamsapfel abgegrenzt? jeder Mensch wäre so, und der Bucklige könnte auf den lenzlichen Straßen promenieren wie die übrigen Menschen, könnte unter den Menschen sitzen wie die übrigen Menschen, stünde vor dem Chef wie die übrigen Menschen, badete auf dem Lido wie die übrigen Menschen? ...

Und der Hinkende? ... Der Hinkende? ... Ob wohl auch auf dem gehüpften Lebenspfad mitunter der spielerische Traum aufbebt? ... Gott schuf den Menschen ... Wenn Gott es so machte, daß bei jedem Menschen das eine Bein kürzer wäre, als das andere? Und jeder hinkte? Ich eile auf der Straße dahin, und auf der Straße hinkt jedermann? Die Soldaten hinken, die Buchhalter hinken? Um die große, blonde Frau herum hinkten alle Männer? Niemand spielte Fußball, niemand liefe Schlittschuhe, niemand spränge auf die Elektrische? ...

Wenn jeder Mann klein wäre? Der Krakeeler klein wäre? Der raufende Gentry klein wäre? Der betrunkene Husar klein wäre? Jeder Christ klein wäre? Jeder Zylinderhut, jeder Winterrock klein wäre? ... O, wenn jeder Mensch eine große Nase hätte? Wenn jeder Mensch stotterte? ...

Und der Blinde? der bloß die schwarzen Schleier löst und niemals den Lichtvorhang erreicht? Sendet auch er, in heimlicher Traumversunkenheit, Fächervögel der Sehnsüchte aus? Wenn die Menschen das Schlechte nicht sähen, ihnen nur die Berührung der Hand still verriete, ob Feind? treues Weib, guter Bruder? ... Wenn sie die Sterne nicht sähen, und die Dämmerung auf dem dunklen Vorhang mit herzversunkenen Farben auftauchte? ...

Und die übrigen? ...

Fehlerhafte Pflanzen des bunten Menschengartens? ...

alle Traurigkeit der häßlichen Welt beugt mir den Kopf.

Der verschlossenen Mysterien sehnsuchtsschwere Vorhänge, o, könnte ich sie doch zurückschlagen ...

Schwer keucht meine Brust in der blutenden Mitte der geoffenbarten Welt. Leben, Mensch, ewiges All zeigen sich mir im Abgrundwirbel der Minute, und die Februarsonne schreibt klirrende Buchstaben auf meines Herzens Wand ...

Siebzehnter Februar.

Tag meiner Geburt.

Freude, Traurigkeit, fremdes Ringen, bin nun alldies ich?

Ist mein dargebotenes Herz die dröhnende Grenze, wohin jetzt die sich entwirrende Erkenntnis pilgert, die durch das Tor des Augenblicks sichtbare Vergangenheit, die aus ferner Weite herbeischwingende Zukunft?

Sind meine beiden Augen mit Balsam verzaubert? und suche ich, mit entsetztem Schrei, mit der Qual der Sehnsucht, mich?

Wer bin ich? ...

Heute Nacht wird es neununddreißig Jahre, daß ich zur Welt gekommen.

Und bisher habe ich nicht gelebt?

Und die Zeit, da die mich hervorrufende Zelle aus dem Unbekannten aufgebrochen, auf daß sie den sich erfreuenden Körper meiner Mutter berühre?

Und die Zeit, da ich mit meiner Mutter zusammen gewesen, da mein Herz ihr Herz, mein Blut ihr Blut gewesen?

Heute Nacht wird es neununddreißig Jahre, daß ich zur Welt gekommen.

Ich fühle diese Nacht.

Als ich meiner Mutter Worte zu verstehen begann, erfuhr ich alsbald, daß meine Geburt in einer hochwasserbedrohten Nacht erfolgt war. Bei den Inselgrenzen hatte das Hochwasser die Dämme durchbrochen, das Volk warnende Mörser und Glocken hatten meine leidende Mutter geschreckt, die in dieser Nacht vor der stetig wachsenden Flut von ebener Erde ins Stockwerk gebracht worden war.

Ich ruhte noch ohne Leben im schützenden Körper meiner Mutter, hatte aber über die Ärmste bereits lange Krankheit gebracht.

Kaum daß meine beiden großen Kinderaugen sahen, was sie erblickten, begegnete ich über meinem Kopf, in den engen Straßen, auf den gelben Wänden allerhand Marmortafeln, auf diesen steife, kalte Finger, die auf eine Linie und auf ein Datum zeigten: 1876. 17. Februar ...

Heute Nacht wird es neununddreißig Jahre, daß ich zur Welt gekommen.

Und ich fühle diese Nacht.

Ein grämlicher, schattiger Abend war’s, die Petroleumlampe döste mit halber Flamme, meine ins Bett gefällte Mutter wartete feige zwischen den heißen Kissen, in der Klemme dolchartiger Ängste.

O, wohlbekannt ist mir die grausame, die zärtliche, die stürmische, die andächtige Phantasie ...

Sie bricht auf dem Lager der Schmerzen zusammen, eine Blutwelle erdrosselt den erwachenden, kampflustigen Gedanken, doch taumelt ihr Bewußtsein auf, und das pochende Herz fragt:

„Bub oder Mädchen? ...“

Überall schwarze Flaggen der Armut gehißt, und auf den trockenen Lippen zuckt die verstummte Glocke:

„Wieder ein Kind ...“

„Schon wieder ein Kind ...“

Aus ihren Qualen stöhnt das Gefühl auf:

„Wenns nur kein Mädchen wäre ...“

„Ein feuchtes, häßliches, jammervolles Mädchen ...“

In ihrem wirren Kopf verschwimmen geschwächt Fieber, Vorstellung; der Angst matter Schatten kreist über ihrem leidenden Körper, und sie hofft zagend:

„Wenn Gott es so beschieden ...“

„Wenn Gott es so will ...“

„Es möge hier bleiben ...“

In ihrem Auge zuckt ungestüme Verständigkeit, und sie schaut, tiefe Leidenschaft im geweiteten Blick, nach der benachbarten Stube.

Jenseits der Türe, im Zimmer, läuft ein kleiner Mann umher, eilt auf und ab und entflieht, wenn ihn meiner Mutter stöhnende Stimme anjammert. In seinem schönen, runden Kopf hetzen ziellose Spekulationen, der Wunsch blitzt auf:

„Vielleicht wird es doch kein Bub sein ...“

„Wenngleich der Konditor gesagt hat, daß er auf Kredit Torte gibt, Likör, anderes ...“

„Doch ist das nicht gewiß ...“

„Wir sind ihm noch von der vorigen Geburt her schuldig ...“

Des Männleins magere Hände zucken nervös in den Hosentaschen, fahren mit klavierspielender Unruhe flink umher, spielen mit roten Vierkreuzerstücken:

„Die zwei Faß Wein hab ich doch nicht verkaufen können ...“

„Die Phylloxera tötet die Weinberge ...“

„Man müßte es in einem anderen Beruf versuchen ...“

Meine Mutter schreit auf, das Männlein stutzt,

lauscht mit aussetzendem Atem dem Abfallen der Stimme, es wischt von der hohen Stirne den Schweiß, und des Schmerzes Laute jammern wieder auf ... das Männlein steht still, zögert, läuft von Winkel zu Winkel, betet ... und draußen dröhnen die Mörser auf, heulen die Glocken; das umherrennende Männlein schielt nach dem Fenster, lauscht aus der Stubenecke auf die Panik ...

Mörser dröhnen, Glocken tollen, mit herzzerschlagenden Schreien klagt meine Mutter, und in der Schreckensnacht betet angstzitternd, vernichtet mein Vater:

„Was hab ich getan ...“

„Was hab ich getan ...“

Nacht vor neununddreißig Jahren ... zu der die heutige Nacht sich zurückneigt.

Und früher habe ich nicht gelebt?

Es mochte ein geschäftiger, schenkender, die Gebetsandacht des Abends vorbereitender Tag gewesen sein ... Jahrmarktstag. In der morgentlichen Luft hüpften die rötlichen Kälblein, braune Bauern schleppten Weizensäcke, aus schattigen Zelten glänzten wohlriechende, faltige Stiefel, glockenröckige Bäuerinnen feilschten keifend vor den Kurzwarenständen, auf dem feuchten Bürgersteig bunte Blumenbeete, im Sonnenschein nickten Goldregen, Stiefmütterchen; aus den Garküchen wehten Fisch- und Bratengerüche von gaumenanreizender Fettigkeit hervor. Am Saume des Marktes, in aufgewirbeltem Staub, wurden Fohlen, stolze Rosse geschirrt; hier rannte mit feilschender Aufregung, mit verschmitztem Eifer, ärgerte sich, scherzte erleichtert, mein arbeitsamer Vater. Und er schickte das rote Kalb zum Metzger, bestimmte die fünf Sack Weizen für den Getreidehändler, kaufte für den Gastwirt Enten, Schafe, und bis zum Abend haben sich die flinken Sechserln, die schwerfälligeren, selteneren Gulden angesammelt; daß nur endlich der milde, schmeichelnde Abend gekommen ist.

Sabbat Abend ...

Braune Schatten engen die kleine Stube ein, aus ihrem Schoß flattern, zittern Alkoholflammen auf dem Tisch, violette Kämme beben auf, in der Höhe wird Goldlicht angezündet, von gaffenden Augen bis an den Tisch reichender Kinder blinkend gespiegelt; ein verbrämter, versteckender Käfig ist nun die kleine Stube, auf den Schattenteppichen spaziert und singt mein Vater, unter des Fensters Baldachin sitzt und schweigt meine strahlende Mutter.

Mein Vater singt.

Körnt summend die Gebetzeilen ab, seine Stimme rastet mit andächtiger Mattigkeit, er geht mit seligen Schritten in der Dämmerung auf und nieder, sein gehetztes Gehirn spielt mit dem Frieden, das hebräische Lied lockt abermals seine Stimme hervor, und er singt, jammert, wie die vielen, vielen alten Leute, die zueinander die gottesfürchtigen Freuden hinübersingen, diese von Traurigkeit verängsteten Melodien.

Spazierend singt mein Vater, seine Stimme schwillt an, bebt vom Feuer der heiligen Kantoren, das Verständnis des Gelehrten verkostet einzeln die gejammerten hebräischen Worte; seine gehetzte Phantasie streift flatternd Geheimnisse der heiligen Bücher und berührt dräuende Schrecken der erschütternden Sorgen; mein Vater singt. Die Qual des Morgens, die Verheißung der Schmach, der Schrecken der Phylloxera, sieghafte Intriguen der geschickteren Feilschereien, Ungemach, Schmerz und ängstliche Feigheit spuken auch jetzt bösartig in der weißen Betäubung, doch zieht mein Vater über sein verwirrtes Herz das Gebet, singt sehnsuchtsvoll, flehentlich:

„Friede mit euch, Selah ...“

Friede mit euch, Selah ... Erschlaffe, schmerzende Ungewißheit, besänftige dich, sinnlose Drohung, zerstreue dich, niedersinkende Düsterheit, Geld, Unheil, Schreck, greint lallend, in armer Leute Heim rastet friedlich der Abend; auf dem Tisch zucken die ersterbenden Flammen; der duftende Alkohol, die dumpfen Muskaten, des Ölbaumes silbriger Zweig flattern verschlungen über dem Opfertischchen, in der Abenddunkelheit züngeln Flammen in die Höhe, mein Vater singt munter, selbstvergessen heiter:

„Der Du erschaffen die duftenden Gewürze ...“

Seine Stimme gurgelt, schwingt auf:

„Gelobet sei Dein Name ...“

Die zwei jungen, schweren Hände über die Flammen ausbreitend, mißt er mit taumelnder Müdigkeit des Käfigs Ferne, mißt und mißt; von östlichen Gewürzen singt mein Vater, über den aneinandergeschmiegten Leuten wölbt sich ungarischer Duft, am Fenster, in staubendem Regen des Essigbaums, sitzt meine träumende Mutter, Duftgewänder um den schönen, schlanken Körper. Feiertag, Abschied ist meines Vaters Gesang, im vertieften Schatten sinken seine Hände wie müde Vögel nieder; die geflochtene Wachskerze lodert, flackert, ihr spitzenzackiger Kopf wird einschläfernd in die auf dem Tisch wühlenden Flämmchen getaucht; mein Vater singt, die Stimmchen der Kinder zirpen kreisend auf, es summt der Bienenstock, im verbrämten Nest erfreuen sich zwitschernde Kindlein; auf dem Opfertischchen entflammt, verlöscht das behende Licht, flackert noch einmal auf, der ringende Glanz verkriecht sich, und der Abend verschließt sein Braun. Meines betenden Vaters langsame Hände segnen streichelnd.

Schlummernde Nacht schütze deine Geheimnisse, Dunkelheit verdichte deine Schleier; jemandes körperloses Leben geistert bereits auf dem Lebensvorhang.

Ineinanderfunkelnde Sterne tummelt euch, umherirrende Sommerwinde weht raunend ineinander, reife Bäume, offene Kelche, Blüten schwebt seufzend ineinander, heiliger David auf dem blassen Thron, spiel, spiel diese Nacht schöne jüdische Psalmen, denn heute segnet reine Freude zwei betörte Menschen. Blut, das sich an der Wärme des Euphrat gewärmt, Phantasie, vom Flüstern der Lotusblume erhitzt, Herz, das auf der Galeere des Stolzes, der Traurigkeit, der Schmach geschwommen, entbrennet; versunkenes Ahnentum, großäugige Hohepriester, Beduinenheiden, Ghettoträumer brechet auf; aus göttlicher Geheimnisse Schoß schießt zitterndes Leben hervor.

Trampelt sorglos zwischen eueren kinderduftigen Kissen, auf eueren Traumschaukeln, ihr, meine kleinen Geschwister.

Ich komme, komme.

Einst sah ich einmal, und sah damals zum letzten Mal meiner Mutter Heimatsdorf Rád; das damalige Kinderaug lebt auch jetzt noch in meinem Auge. Eine zusammengetakelte, baufällige Hütte, kitzelnder, schwerer Stallgeruch auf dem Hof, in einem niedrigen, mit kalter Erde gepflasterten Stübchen zögern sehr alte Leute, und neben dem Herd noch ältere, eine mütterchenartige Frau und ein Riesengreis dösen, am Ende des Hofes ein Hang, und noch weiter etwas wie ein Garten, lauter Pflaumenbäume; dichte Pflaumenbäume, ihre obsttragenden Kronen neigen sich ineinander und wurzeln mit waldiger Ferne in der Wiese; wie war dieses Dickicht über mir? Ich vermag es nicht zu sagen.

Wie ein zischender Augenblick, wenn wir das in die Sonne staunende Auge schließen und um uns herum der Abend mit wildem Tumult, mit wunderlichen Bildern niedersinkt, wie die Blendung, wenn wir zum erstenmal japanische Stiche kennen lernen und Laubkronen der japanischen Bäume unsere sich fortsehnende Neugierde zu Traumreisen verlocken, wie die Decken kleiner Bauernkapellen, von denen in dicken Wogen die himmelblauen Gipswolken herabhängen ... Oft hatte hier meine Mutter geweilt, wenn sie stürmische Traurigkeit von meinem Vater fortführte, und auf den schattigen Pfaden der Ráder Pflaumenbäume sind wir Kinder, im schlummernden Nichtsein, wahrlich alle dahingewandelt, wenn wir über unsere Mutter Unheil gebracht hatten.

Reife Laube, die sich über der müden Phantasie wölbt, o, wie oft hat sie meine Mutter umschlossen? Hat die kraftlose Frucht, der sich loslösende Gedanke meine Mutter in der verzückten Stille des blauen Schattens begleitet? Zeigt die heilige Traumversunkenheit immer nur die Armut, die ihre Verlobten mit dem Zauber des Leids aufsucht? Spielt der besuchende Traum immer nur mit seinen Fragen-Prismen, die der Erwählten Bewußtsein stets lähmen? ...

Armut, schwarzer Blitz über dem Elterngefühl, entfernst du dich denn niemals? und umrankst deinen Diener, wie das Fleisch den Knochen, wie der Atem die Lebenssehnsucht? Bebst du düster im Spiegel der Augen auf, wenn sie sich selbstvergessen öffneten? Gibst Scherben durch Schreck aus unvorsichtigem Lachen? Und drohst grollend geheimer Tiefe des heiteren Augenblicks? ...

Meine Mutter träumt, und über weitem Horizont ihrer Phantasie schwingen die trägen Gedankenvögel:

„Was macht jetzt mein Mann? ...“

„Werde ich immer so leben müssen? ...“

„O, wenn er jetzt hier wäre ...“

„Immer zanken wir ...“

„In unserer Familie kommen alle Frauen wieder nach Hause ...“

„Elend, Zank, Zorn überall ...“

„Wie schön andere Familien leben ...“

„Bei uns nur Zank, Zorn ... immer nur Zorn ...“

„Wir könnten einander töten ...“

„Die Schmach ... diese Schmach ...“

„In unserer Familie war dies immer so ...“

„Wird in unserer Familie dies immer so sein? ...“

Unter hängenden Kronen der Pflaumenbäume, auf den verschwindenden Pfaden der sich blau färbenden Laube tappt ein Riesengreis dahin.

„Immer ... immer wird es so sein? ...“

„Auch ich werde so alt werden? ...“

„Werde auch ich hundert Jahre leben? ...“

„In unserer Familie werden alle alt ...“

„Hundert Jahre ...“

„Hundert Jahre weinen, traurig sein ... Hundert Jahre immer nur Schlechtes ... Nur Sorgen, Elend ... Hundert Jahre so leben ...“

„Mein Gott ...“

„Hundert Jahre ...“

„Und das Kind, das noch um nichts weiß, aber schon mit mir hier ist ... wird auch das alt werden? ...“

„Sich abquälen, weinen ... Hundert Jahre lang sich immer nur schämen ...“

„Wäre nicht besser der kleine Holzsarg? ...“

„Wäre nicht besser unter blauen Blümlein zu ruhn? ...“

„Und wenn es ein Mädchen wird? ...“

„Ein häßliches, altes Mädchen ... das in der Sylvesternacht Blei gießt, zur Schlafenszeit in sein Hemd beißt? ...“

„Nein, nein, es wird kein Mädchen sein ...“

Widerstand ringt die kreisenden Gedanken nieder, meine Mutter hadert verwirrt, ereifert sich im Heraufbeschwören schicksalsschwerer Geheimnisse; die dichte Pflaumenpflanzung sperrt wie ein Tor das Licht aus, und in meiner Mutter Gehirn spukt es auf:

„Man hat uns verflucht ...“

„Hat uns verflucht ... Mein Vater ... Mein Großvater ...“

„Jetzt fluchen wir ... Wie mein Vater ... Mein Großvater ...“

„Als er dort am Fenster stand ...“

„Er betete am Fenster, die weiße Kappe glitt auf seinem Kopf zurück, er schlug sich mit seinem umriemten Arm auf die Brust, und sein betender Mund verfluchte uns ...“

„Und jetzt fluchen wir ...“

„Wenn die Armut uns quält, stets fluchen wir ...“

Und das Entsetzen schnürt meiner Mutter Hirn zusammen. Ihr gehetzter Atem setzt aus, sie schwankt auf dem schwerer gewordenen Weg, und jemand, dessen Seele bereits in ihrer Seele loht, beklemmt ihr Herz; der Mensch, der ich war und der ich meiner Mutter Herzblut getrunken habe. Die Hülle, die mich einst umschließen würde, hat bereits den Platz meines Herzens festgelegt; es erwacht schon zum Sein, öffnet die verlangenden Lippen nach Leben, und meiner Mutter Herzschlag nährt treu ihren Sproß.

Meiner Mutter Herz ...

einsame Glocke, die beim Gespensterspuk böser Gefühle erschrocken tönt,

voller Kelch, den Gottes Hand mit Unerbittlichkeit der Schöpfung an die Quellen ewigen Leids führt,

umwolkter Stern, der jauchzend auffunkelt und von lauernden Schleiern der Düsterheit verdeckt wird,

meeräugige Träne, die winkend blinkt, doch quellt in ihrer Tiefe bereits sprudelndes Weinen,

Leben, Tod, Sonnenglast, Schatten, alles, erlebte Vergangenheit, unbekannte Zukunft, alles, alles: meiner Mutter Herz ...

wie oft schon hat in seinem geschlossenen, schwülen, kleinen Hof die Bahre gestanden? ...

An der Schwelle flügger Jahre, ihr winziges, frisches Herz, als es zum erstenmal gezuckt? ... Vielleicht im dumpfen, kranken Stübchen, zwischen aufbegehrenden Menschen, die einander bis ans Grab lieben und von der Armut gehetzt miteinander hadern, Fluch, kreischende Hölle, gehobene Faust, sich selbst zerfleischender Haß, der die Sonne verdüstert ... Eine längst versunkene Winterdämmerung, draußen heulen die Berge vom Kanonengedröhn, die flüchtige Familie harrt des klirrenden Urteils über Gebetbücher gebeugt, und zur Türe herein stürzt, mit blutendem Kopf, ein Kossuth-Honvéd ... meiner Mutter Herz sieht ihn ... Der Wunderrabbi ist gestorben, der schwarze Tod hat ihn fortgerafft, wahnsinnige Menschen graben in hüllender Nacht den Heiligen aus der Kalkgrube, waschen ihn, kleiden ihn an, sprechen über ihn die überlieferten Worte, und es kommt in der rechenschaftfordernden Nacht der Rächer und schlägt mit fegenden Fransen seiner furchtbaren Schleppe auch meiner Mutter Herz ... Das trostlose Heim, in dem die Eltern bereits geschwächt umherlungern, die Kleinen angstzitternd erlahmen, auf das die Barmherzigkeit nicht mehr niederblickt, wo der Zusammensturz die einander anstarrende Familie eng zusammenschnürt ... Doch schlägt das Terno ein, das Lotterieterno, schmückt mit seinen Strahlen die gebrochenen Augen, behängt die ohnmächtigen Phantasien mit ausgelassenen Kühnheiten, und die Freude, die reine, unbekannte Freude zieht bei den armen Leuten ein, und bei dem freundlichen Zusammentreffen ist auch meiner Mutter Herz zugegen ... Bittere, schwere Schmach ist der lange Fasttag, da sie in den Tempel gehen, meine Mutter neben ihrer Mutter Rock, doch steht in der Türe bereits der Tempeldiener, es sei drinnen kein Platz, den Reichen gehöre das Vorrecht, die Armen mögen draußen auf dem Hof beten ... Als mannbares Mädchen, da meine Mutter schön war wie Maiflieder, von Palmenwuchs; ihre traurigen, sammetschweren Augen, ihr stolzer Mund, ihr scharfes, klares Gesicht ließen die Jünglinge komplimentieren, und die Schwindsüchtigen, die Häßlichen, die Mausäugigen heirateten alle vor ihr, sie aber stand mit ausgebreitetem Herzen auf dem Markt, und es pochte ihr ins Gehirn:

„Ein armes Mädchen sollte nicht geboren werden ...“

„Für arme Mädchen sind die blauen Blümlein da ... dort im Friedhof, recht tief unter der Erde ...“

Und die Zeit des Genusses? da ihr Herz wie ein sich öffnender Mund um die vollkommene Liebe sich krümmte, und in ihre traumversunkenen girrenden Worte das wache Leben hineinwütete:

„Wieder eine Lizitation! ...“

„Pfui, ist das ein Leben? ...“

„Deine Kinder sind bei Handwerkern in der Lehre ...“

„Was wird man in Rád sagen ... Ich kann mit den Rangen heimgehen ...“

Erhalten wir eine Kerbe nach der anderen? von tändelnden Bewegungen schaffender Finger, derweil sie unseres Herzens Gebäude bauen, es mit Glückspflanzen beforsten, Schmerz einschneiden und Träume säen? ...

Meiner Mutter Herz fühlt nun mich ...

taucht das Sein von morgen, das mich bereits ruft, in den Schicksalen überlieferter Leben unter? altes Leid, umnebelter Schmerz, in Gott mündender Aberglaube, matte Freude, verängstigter Wille: bäumt sich dies alles jetzt auf?

meiner Mutter Herzblut ergießt sich über mein aufkeimendes Herz ...

Erstes versunkenes Evoë, das mir entgegenweht, meiner Mutter Evoë; aus welcher Pfeife des orgelnden Wissens ist es erklungen?

Schießt in die Höhe, bejahrte Pflaumenbäume, streckt euere üppigen Kronen in den Himmel; blaue Luft, welle befreiend auf. Meine Mutter steht in gestraffter Schlankheit unter Gott, steht im Kranz reifer Früchte bezaubert-bezwungen und lächelt; ihr funkelnder Blick schweift in die Unendlichkeit, und Lächeln blüht auf ihrem schönen, weißen Gesicht,

ich poche unter ihrem warmen Herzen auf.

Ausgesandter Page der schnaubenden Zukunft, mein ins Leben geschwungenes kleines Herz, in dunkler Sendung pocht es bereits, flattert im glühenden Weltall, und in Blut und Kot beschwören schon welterschaffende Strömungen die Gefühls- und Gedankenkeime.

Wenn der Zauber innehielte, und ich nichts anderes würde, als ein versunkenes Herz, das unwissender und schaudernder Weg des Blutes von den Urbächen zu neuen Lebensmeeren wäre? nichts anderes denn ein träumendes Pochen, in dem Seufzen aller versunkenen Leben atmet? eine Harfe im Freien, die vom Wehen wandernder Schmerzen und Freuden gleich ertönt?

kein Gefühl erzwänge Tränen, denn kein Licht flammte auf meine Augen? kein Beben schwänge bis zum Gedanken empor, denn noch hat die Phantasie mein Herz nicht berührt?

wenn ich so verschlossen, in badendem Blut, umarmt vom Fleische in süßer Wiege entschliefe, in mich weder Erwachen, noch Erkenntnis käme?

wenn mein kleines, verheimlichtes Herz, tik-tak, tik-tak, bloß mit flinker Emsigkeit pochte?

wenn aus Dampfdickicht des Blutes meine beiden Pupillen nicht aufäugten? keine Verständnisschnüre der blinden Instinkte Nebelvorhänge belichtend auseinander zögen?

Wachsames Mysterium des Ursprungs, düsteres Wunder, vor dessen versperrender Schwelle die dröhnende Seele niedersinkt, woher, wohin treibst du mich, im Laufe der Zeit?

sprießt aus Zellenmyriaden dampfender Kelche tatsächlich mein Leben hervor? ...

Ich weiß nicht, ist es Wirklichkeit, ist es Traum ... hinter längst geschlossenen, tausendfachen Gardinen, hinter der Dichtesten, Entferntesten, zeigt sich mir in abendlicher Dämmerung die Gestalt einer kleinen Bauernmagd.

So blond, rötlich-gülden, warm-glänzend ist an ihr alles, daß selbst aus ihrem appetitlichen Fleisch, aus ihren scharfen, kleinen Augen, aus ihrer geschwätzigen, seligen Stimme jauchzende Blondheit strahlt; sie hat kein ausgeprägtes Gesicht, keine bestimmte Form, bloß auf die gespannten Äpfel ihrer offenen Brust schimmert von ihrem ausgestreckten Hals das hin- und herpendelnde goldene Kreuz, und sie erzählt. Im Kreise sitzen auf niedrigen Schemeln die Kinder, und sie verrichtet die Abendarbeit; ihre emsig-harte Faust verschwindet in den Zugstiefeletten, in ihrer rechten Hand geht die breitrückige, große Glanzbürste taktmäßig auf und ab; sie schwingt den Arm und brummt mit verschmitzter, erschreckender Stimme:

„Liebes, schönes Mägdelein ...“

Die Glanzbürste schwingt ein zweites Mal, und sie zeigt den schönen kleinen Gesichtern ein entsetztes Gesicht:

„Öffne mir dein Kämmerlein ...“

Süß-üppig steigt der Schuhwichsgeruch in der Luft auf; in dem kleinen Kreis spiegeln sich in ermüdet aufflammenden Augen die blankgeputzten schwarzen Schuhe, schlafbefallene Menschlein kriechen schaudernd, verstohlen ins Bett ...

Meine Mutter umfängt mit Andacht die Traumgesichte der erschrockenen Herzlein, breitet ihre Liebe über die Betten aus und singt ihrem verängstigten Volk:

„Blas, blas zu, mein Schäferlein ...“

„Prinzessin war auch ich einmal ...“

Ihre langen Wimpern schlagen auf wie ein schwärmerischer Kuß, in der grünen Tiefe ihres Auges brütet Staunen, ihr Blick strahlt in die Ferne, wo das Neue, die Aufregung, in Untiefen kommender Nächte, düster wartet; meine Mutter summt es, singt, beschwichtigt:

„Blas ... blas zu ...“

„Kleine, kleine Ahornflöte ...“

hartumfriedetes Leid? böses Versprechen auf hundert Jahre? armausgebreitete Sehnsucht nach der entzogenen Rast? zucken sie jetzt über den meertiefen Horizont ihrer Augen??

„Prinzessin war auch ich einmal ...“

Ihre kindliche, anmutige Stimme klingt matt ... Erschließt sich ihrem Gehirn der verborgene Gedanke? begegnen einander Leben, Tod, Zukunft im Herzen meiner Mutter? denkt sie im losgerissenen Wirbel ihrer rauschenden Schmerzen und erschütterten Vorstellungen: an mich?

„Mein Schäferlein ...“

Brennt ihr ungelenk ringender Verstand? hat ihre aufrührerische Seele die Schleusen fortgerissen? fängt ihr träumender Blick die Geheimnisse auf? und fühle, übernehme ich ihr durstiges Auge? ihre an Abgrundgrenzen taumelnde Phantasie?

Schlägt mich der Blick, wie das Licht die im Ozean versunkene Koralle trifft, die ihren tastenden Kranz öffnet, wenn die aus der Dunkelheit auftauchende Sonne sie mit Auferstehung bestrahlt? ...

Und ich werde schon gerufen, wie Straßenstaub von Gottes Hauch ... heult, lauscht, versengt, erstarrt, umarmt, zerstückt um mich herum bereits das Leben? werde ich, noch mit der Nabelschnur verknotet, bereits erweckt? Ich wehre mich mit meinen Armen im treuen Körper meiner Mutter:

„Nicht wissen ... Nicht erwachen ...“

„Nicht wissen, was schlecht ... Nicht wissen, was gut ...“

„Fern bleibe mir Gedanke, nicht versuche mich Gefühl ...“

Ein Ringen hebt an, zwischen uns beiden Scheidenden.

„Fern bleibe mir Wille, wenn ich feig ...“

„Nicht erfasse mich Ekel, wenn ich Schönes sehe ...“

und der Krampf, die Qual reißen mich durch verbannende Fügung von meiner Mutter Leib.

„Leben?! ... Leben?! ... damit ich den Tod erkenne! ...“

Der Orkan, der aus der Zeit kommt und nicht inne hält, ehe die Erde zu keimen vermag, hebt meiner lieben Mutter armen Körper; Blut, Schaum, Flut aus ihrem heiligen Fleisch ...

Und nun sitze ich hier am See, mit aufgekeulter Phantasie, in der Blendung, unter meinen zwei verschlossenen Ohren regt sich kein menschliches Leben, kein menschlicher Ton, doch strahlt mein Herz von sonatenhafter Leidenschaft ... o! wenn jeder Mensch hinkte, o! wenn jeder Mensch bucklig wäre ...

In trauriger, verwaister, wartender Lautlosigkeit stoßen klirrend Sonne und Gletscher gegeneinander.