The Project Gutenberg eBook of Sämtliche Werke 9: Novellen aus Österreich III

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Title: Sämtliche Werke 9: Novellen aus Österreich III

Author: Ferdinand von Saar

Editor: Jacob Minor

Release date: September 15, 2015 [eBook #49971]

Language: German

Credits: Produced by Peter Becker, Jens Sadowski, and the Online
Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net.

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMTLICHE WERKE 9: NOVELLEN AUS ÖSTERREICH III ***

Ferdinand von Saars
sämtliche Werke
in zwölf Bänden.

Im Auftrage des Wiener Zweigvereins der Deutschen Schillerstiftung
mit einer Biographie des Dichters von Anton Bettelheim
herausgegeben von Jakob Minor.

Mit 5 Bildnissen, einer Wiedergabe des Grabdenkmals des Dichters und einem Briefe als Handschriftenprobe.

Neunter Band.
Novellen aus Österreich. III.

Leipzig.
Max Hesses Verlag.

Ferdinand von Saars

Novellen aus Österreich.

Herausgegeben
von
Jakob Minor.

Dritter Teil:
Schicksale. — Frauenbilder. — Schloß Kostenitz.

Leipzig.
Max Hesses Verlag.

Das Recht der Übersetzung behält sich der Wiener Zweigverein der Deutschen Schillerstiftung vor.

Inhalt.
Novellen aus Österreich.
Dritter Teil.

      Seite
Schicksale.
  9. Leutnant Burda 7
  10. Seligmann Hirsch 77
  11. Die Troglodytin 117
Frauenbilder.
  12. Ginevra 161
  13. Geschichte eines Wienerkindes 209
14. Schloß Kostenitz 273

Leutnant Burda.

Vorwort des Herausgebers.

Die Novelle ist im Sommer 1887 in Blansko geschrieben und noch in demselben Jahre in der „Deutschen Dichtung“ von Karl Emil Franzos am 1. und am 15. September (zweiter Band, Heft 11 und 12, Seite 312-334 und 338-354) zuerst erschienen. Hier sollte sie den Titel: „Vanitas“ führen, den Saar auf den Rat Franzos’ in den ursprünglichen: „Leutenant Burda“ verändert hat. Die Handschrift hat sich Franzos nach dem Abdruck für seine Autographensammlung ausgebeten; der Dichter aber konnte ihm nicht zu Willen sein, da sie die Fürstin Salm besitzen wollte, in deren Nachlaß sie sich also wohl befinden dürfte. Früher aber hat sie der Dichter noch mit vielen, jedoch bloß stilistischen Abänderungen der Buchausgabe in der dritten Novellensammlung: „Schicksale“ (Seite 1-126) zugrunde gelegt, welche im Herbst 1888 mit der Jahreszahl 1889 erschien. Für die zweibändigen Ausgaben der „Novellen aus Österreich“ 1897 und 1904 (zweiter Band, Seite 1-81) hat Saar hie und da neuerdings zu bessern gesucht und noch in der letzten Korrektur von 1904 die Chiffre B... in Brünn aufgelöst. Eine merkwürdige Mittelstellung zwischen den Drucken von 1889 und 1897 nimmt der Abdruck in der „Wiener Mode“ 1898 (Elfter Jahrgang, 7. bis 12. Heft, Seite 294 ff., 337 f., 376-378, 415-417, 456 f., 497 f.) ein, der zwar nach der Angabe des Herausgebers auf Grund der „Novellen aus Österreich“ von 1897 veranstaltet sein soll und mit ihnen auch in der Regel übereinstimmt, wiederholt aber doch noch Lesarten der „Schicksale“ von 1889 aufweist; er muß auf eine Handschrift oder auf Korrekturbogen zurückgehen, die für den Druck von 1897 dann noch weitere Änderungen erfahren haben. Dagegen beruht die zweite Auflage der „Schicksale“ von 1897 auf demselben Satz wie die „Novellen aus Österreich“ von demselben Jahre.

I.

Bei dem Regiment, in welchem ich meine Militärzeit verbracht hatte, befand sich auch ein Leutnant namens Joseph Burda. In Anbetracht seiner Charge erschien er nicht mehr allzu jung; denn er mochte sich bereits den Dreißigern nähern. Dieser Umstand würde schon an und für sich genügt haben, ihm bei seinen unmittelbaren Kameraden, die fast durchweg flaumige Gelbschnäbel waren, ein gewisses Ansehen zu verleihen; aber er besaß noch andere Eigenschaften, die ihn besonders auszeichneten. Denn er war nicht bloß ein sehr tüchtiger, verwendbarer Offizier, er hatte sich auch durch allerlei Lektüre eine Art höherer Bildung erworben, die er sehr vorteilhaft mit feinen, weltmännischen Manieren zu verbinden wußte. Als Vorgesetzter galt er für streng, aber gerecht; Höheren gegenüber trug er eine zwar bescheidene, aber durchaus sichere Haltung zur Schau; im kameradschaftlichen Verkehr zeigte er ein etwas gemessenes und zurückhaltendes Benehmen, war jedoch stets bereit, jedem einzelnen mit Rat und Tat getreulich beizustehen. Niemand wachte strenger als er über den sogenannten Korpsgeist, und in allem, was den Ehrenpunkt betraf, erwies er sich von peinlichster Empfindlichkeit, so zwar, daß er in dieser Hinsicht, ohne auch nur im geringsten Händelsucher zu sein, mehr als einmal in ernste Konflikte geraten war und diese mit dem Säbel in der Faust hatte austragen müssen. Infolgedessen wurde er ein wenig gefürchtet, aber auch um so mehr geachtet, ohne daß er dadurch anmaßend oder hochfahrend geworden wäre, wenn es gleichwohl dazu beitrug, die etwas melancholische Würde seines Wesens zu erhöhen.

Dem allen hatte er es zu danken, daß man auf eine große persönliche Schwäche, die ihm anhaftete, kein Gewicht legte — oder besser gesagt, sie wie auf Verabredung einmütig übersah. Er war nämlich ungemein eitel auf seine äußere Erscheinung, die auch in der Tat eine höchst einnehmende genannt werden mußte. Von hoher und schlanker Gestalt, hatte er ein wohlgebildetes Antlitz, dessen leicht schimmernde Blässe durch einen dunklen, fein gekräuselten Schnurrbart noch mehr hervorgehoben wurde, und auffallend schöne graue Augen, die von langen Wimpern eigentümlich beschattet waren. Es fehlte zwar nicht an Krittlern, welche behaupteten, daß er eigentlich schief gewachsen sei, und wirklich pflegte er beim Gehen die rechte Schulter etwas emporzuziehen. Aber gerade das verlieh seiner Haltung jene vornehme Nachlässigkeit, die mit der Art, wie er sich kleidete, in sehr gutem Einklange stand. Denn obgleich sein Uniformrock stets von untadelhafter Weiße und Frische war, so zeigte er doch niemals jenes gleißende Funkeln, welches das unmittelbare Hervorgehen aus der Schneiderwerkstätte bekundet hätte, und wiewohl Burda gar sehr auf „taille“ hielt, so saß doch, bis zur eleganten Beschuhung hinab (von der man wußte, daß sie stets nach einem eigenen Leisten hergestellt wurde), an ihm alles so leicht und bequem, als wäre es nur so obenhin zugeschnitten und angepaßt worden. In dieser Weise erschien das, was ein Ergebnis sorgfältiger Berechnung war, nur als der natürliche gute Geschmack eines vollendeten Gentleman, dessen Taschentücher, wenn sie entfaltet wurden, einen kaum merkbaren Wohlgeruch von sich gaben, und wenn man auch im stillen seine Glossen machte, daß sich Burda von seinem Burschen — der ein kurzes Privatissimum bei einem Haarkünstler hatte nehmen müssen — täglich frisieren ließ, so trachtete doch mancher, es ihm in seiner Weise gleich zu tun, ohne jedoch das Original auch nur im entferntesten zu erreichen.

Daß diese raffinierte und gewissermaßen verborgene Sorgfalt, die er auf sein Äußeres verwendete, im letzten Grunde mit dem Bestreben zusammenhing, bei dem anderen Geschlechte den günstigsten Eindruck hervorzubringen, braucht wohl nicht erst ausdrücklich gesagt zu werden, und ebenso selbstverständlich ist es, daß sich Burda nach dieser Richtung hin für unwiderstehlich hielt. Nicht daß er etwa dieses Bewußtsein irgendwie zur Schau getragen oder gar, wie es wohl einige von uns pflegten, mit Herzenseroberungen geprahlt hätte; er beobachtete vielmehr in solchen Dingen die äußerste Zurückhaltung, und nur aus manchen Symptomen konnten Schlüsse gezogen werden. Da waren es denn entweder zarte Damenringe, die er am kleinen Finger seiner wohlgepflegten Hand trug, oder ein aus Haaren geflochtenes Armband, das zufällig unter seiner Manschette zum Vorschein kam — sowie plötzliches geheimnisvolles Verschwinden zu gewissen Stunden, was zu allerlei Vermutungen Anlaß gab, denen er zwar nicht geradezu widersprach, aber deren weitere Erörterung er sofort mit ernstem Stirngerunzel abschnitt. Überhaupt nahm er nur selten an Gesprächen teil, welche die Liebe und somit auch die Frauen zum Gegenstand hatten, welch letztere er von einem ganz eigentümlichen Standpunkt aus betrachtete. Wie nämlich für einen mehr berüchtigten, als berühmten Feldherrn der Mensch erst beim Baron anfing, so begann für Burda das weibliche Geschlecht erst bei der Baronesse. Den einfachen Geburtsadel einer jungen Dame ließ er nur dann gelten, wenn der betreffende Vater General oder Präsident irgend einer hohen Landesstelle war; auf gewöhnliche Hofratstöchter pflegte er mit einer Art von Mitleid herabzusehen; Damen der Plutokratie verachtete er gründlich. Alles andere existierte für ihn einfach gar nicht, und er gab jedesmal seiner Verwunderung Ausdruck, wenn er erfuhr, daß ein Offizier irgend eine wohlhabende Bürgerstochter geheiratet hatte (was er eine Mesalliance nannte); im schärfsten Tone aber tadelte er es, wenn jemand zu einer Dame von zweifelhaftem Rufe in mehr als ganz vorübergehende Beziehung getreten war.

Diese hochstrebenden Neigungen konnten um so seltsamer erscheinen, als Burda selbst sehr bescheidener Herkunft war. Als Sohn eines kleinen Rechnungsbeamten hatte er eine nur dürftige Erziehung erhalten, anfänglich das Gymnasium besucht, aber sich bald als Eleve in das Amt seines Vaters aufnehmen lassen, um diesem weiterhin nicht mehr zur Last fallen zu müssen. Später, als die Zeitläufte günstige Aussichten bei der Armee eröffneten, war er als Kadett in unser Regiment getreten. In jene Zeit schienen auch seine ersten Erfolge bei den Frauen gefallen zu sein. Denn wie die Sage ging, hatte sich damals die Tochter eines höheren Generals, in dessen Adjutantur er, seiner schönen Handschrift wegen, verwendet wurde, schwärmerisch in ihn verliebt. Diesem Roman hatte jedoch der General, nachdem er einem geheimen Briefwechsel auf die Spur gekommen, sofort damit ein Ende bereitet, daß er den Helden nach Verona versetzen ließ, wo sich der Werbebezirk des Regimentes — das ein italienisches war — befand. Dort, unter südlichem Himmel, in der Vaterstadt Romeos und Julias, hatte auch unverzüglich eine dunkellockige Marchesa ihr Auge auf den schmucken Krieger geworfen und mit ihm — einem eifersüchtigen, der österreichischen Fremdherrschaft äußerst abholden Gemahl zu Trotz — ein höchst leidenschaftliches Verhältnis begonnen, bei welchem es an nächtlichen Zusammenkünften mittels Strickleiter, blutigen Überfällen von seiten des Marchese usw. nicht gefehlt haben sollte. Kein Wunder also, daß Burda, einmal Offizier geworden, nicht tiefer mehr herabsteigen konnte und seine Netze bloß in den oberen Regionen aufrichtete. So glaubte man auch jetzt trotz seiner Zurückhaltung zu wissen, daß er in der ansehnlichen Provinzstadt, wo diese Geschichte zu handeln beginnt, die besondere Gunst einer Stiftsdame erworben habe, die, obgleich nicht mehr ganz jung, als vollendete Schönheit galt. Nebenher wurde freilich auch behauptet, das Ganze bestehe darin, daß Burda sehr häufig unter den Fenstern des Stiftsgebäudes vorüberwandle und in der daranstoßenden Kirche jeden Sonntag die Messe höre; ein unschuldiges Vergnügen, das eigentlich jedermann geboten wäre. Wie dem aber mochte gewesen sein: die meisten von uns, von einem ähnlichen romantischen Hange beseelt, hielten an der Überzeugung fest, daß Burda infolge seiner Vorzüge ein Auserwählter sei, und fuhren fort, mit einer Art sehnsüchtiger Bewunderung nach ihm emporzublicken.

Indessen sollte doch einmal seinem Ansehen ein gelinder Stoß versetzt werden. Es war nämlich unter den jüngeren Offizieren die Gepflogenheit entstanden, schriftliche Meldungen und sonstige Eingaben mit absichtlicher Flüchtigkeit zu unterzeichnen (was genial aussehen sollte) oder dabei die Buchstaben so grillenhaft zu verschnörkeln, daß die betreffenden Namen in der Tat oft nicht zu entziffern waren. Unser Oberst, eine schwarzgallige, pedantische Natur, nahm somit die stets erwünschte Gelegenheit wahr, dem jungen Volk am Zeuge flicken zu können, und ließ die hervorragendsten Übeltäter, darunter auch meine Wenigkeit, vor sich bescheiden. Wir hatten schon vorher von der Sache Wind bekommen und waren nicht wenig erstaunt, auch Burda, dessen Unterschrift an kaligraphischer Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ, unter den Vorgeladenen zu erblicken. Nachdem uns der Oberst mit sarkastischem Behagen die corpora delicti vor Augen gehalten und mit näselnder Stimme jeden einzelnen gefragt hatte, wie er denn eigentlich heiße — und was dies und was jenes zu bedeuten habe, schloß er mit einem sehr scharfen Verweise, für die Zukunft exemplarische Strafen in Aussicht stellend. Dann wandte er sich in etwas gemäßigtem Tone an Burda: „Und auch Sie, Herr Leutnant, habe ich kommen lassen, um eine Frage an Sie zu richten. Seit wann sind Sie denn Graf geworden?“

Burda zuckte leicht zusammen. Dann erwiderte er, allmählich bis unter die Stirnhaare errötend, mit fester, fast herausfordernder Stimme: „Graf? In welcher Hinsicht meinen dies der Herr Oberst?“

Der Oberst trat einen Schritt zurück und kniff, wie es in Erregung seine Gewohnheit war, das rechte Auge zu. „In welcher Hinsicht? Mit Hinsicht auf Ihren letzten Wache-Rapport. Derselbe ist“ — er hielt ihm das Schriftstück entgegen — „mit G f Burda unterzeichnet. Dieses G f ist, wie ich aus den Unterschriften des Herrn Majors Grafen N... und des Herrn Hauptmanns Grafen K... entnehme, eine beliebte Abkürzung des Wortes Graf. Was haben Sie darauf zu erwidern?“

„Ich erlaube mir zu bemerken,“ sagte Burda in strammster Haltung, „daß dieses G f keineswegs das Wort Graf bedeuten soll. Es ist die Abkürzung meines Namens Gottfried.“

„Gottfried? Sie heißen ja Joseph!“

„Allerdings. Aber es dürfte dem Herrn Oberst bekannt sein, daß man bei der Taufe in der Regel den Namen des Vaters mit empfängt. Mein Vater führte den Namen Gottfried; somit heiße ich Joseph Gottfried.“

Der Oberst trat noch einen Schritt zurück und zwinkerte krampfhaft mit dem rechten Auge. „Dann muß ich Sie bitten, Ihren Taufschein aktenmäßig vorzulegen, damit die Regimentslisten, in welchen, soviel ich weiß, bloß der Name Joseph eingetragen erscheint, richtiggestellt werden können. Aber trotzdem werden Sie künftighin weniger zweideutige Abkürzungen zu wählen haben.“ Er machte eine kurze Verbeugung, und wir waren entlassen.

Als wir die Tür hinter uns hatten und nun insgesamt die Treppe hinabschritten, herrschte peinliches Schweigen. Das Komische des ganzen Auftrittes hätte eigentlich zu allgemeiner Heiterkeit angeregt; aber die Gegenwart Burdas, der die Sache sichtlich ernst nahm und überdies nicht ganz ohne Verlegenheit schien, drängte die Äußerung einer solchen Stimmung zurück. Wir verabschiedeten uns von ihm mit einigen oberflächlichen Worten, und auch in der nächsten Zeit blieb uns diese Befangenheit ihm gegenüber; es war, als hätte etwas Fremdes, Unerwartetes seine leuchtende Erscheinung getrübt.

Er selbst aber legte noch am selben Tage seinen Taufschein, der wirklich beide Namen enthielt, auf dienstlichem Wege vor und unterzeichnete von nun an mit augenfälliger Absichtlichkeit und ohne jede Abkürzung: Joseph Gottfried Burda.

II.

Dieser unliebsame Zwischenfall wurde übrigens wie alles, das keine bemerkenswerten Folgen nach sich zieht, um so eher wieder vergessen, als bald darauf ein Ereignis eintrat, welches die Gemüter in leicht begreifliche Aufregung versetzte. Das Regiment erhielt nämlich eines Tages ganz plötzlich den Befehl, in die Wiener Garnison einzurücken, was man damals als besondere Auszeichnung zu betrachten pflegte. Aber auch aus sonstigen Gründen wurde diese Anordnung von den Offizieren mit großer Freude begrüßt. Denn viele von uns waren gebürtige Wiener und konnten nunmehr ihre Angehörigen auf längere Zeit wiedersehen, während den übrigen Gelegenheit geboten wurde, das mehr oder minder fremde Leben der Hauptstadt kennen und genießen zu lernen. Nebenbei galt es, das Regiment in der kurzen Spanne Zeit, die hiezu noch vergönnt war, in den allerbesten Stand zu setzen, was jedem einzelnen rastlose Tätigkeit auferlegte — bis endlich der große Tag erschien, an welchem wir die Waggons bestiegen und, im Wiener Nordbahnhofe angelangt, mit klingendem Spiele der Kaserne entgegenzogen, die uns in einer der nächsten Vorstädte angewiesen war.

Wien selbst trug damals noch ganz seinen früheren Charakter zur Schau. Die alten Tore mit den unbeweglichen Brücken über dem Stadtgraben bestanden noch; die Kastanien- und Lindenalleen auf dem Glacis führten nach den Vorstädten, und wenn heutzutage die innere Stadt von der Ringstraße wie von einem blendenden Juwelengürtel umspannt erscheint, so glich sie damals, von den Ringmauern der Bastei eingeschlossen, einem Schatzkästlein, in welchem die meisten Kostbarkeiten zusammengedrängt lagen. Auch der öffentliche Verkehr war einfacher, gleichsam intimer, als jetzt. Die verschiedenen amtlichen Berufszweige gingen räumlich nicht allzuweit auseinander, ebenso die mannigfaltigen Objekte des Vergnügens und des Genusses — und so hatte sich denn auch jeder von uns bald mit den Verhältnissen vertraut gemacht und in seiner Weise eingelebt. Diejenigen, welche zur Bequemlichkeit neigten und außerdienstlichen Begegnungen mit hohen und höchsten Vorgesetzten gern aus dem Wege gingen, vermieden es nach Möglichkeit, die Straßen und Plätze der Stadt zu betreten und verbrachten ihre freie Zeit in der Nähe der Kaserne. Andere hingegen — zumeist ältere Hauptleute mit stark entwickelten gastronomischen Neigungen — liebten die Weinstuben und Restaurants aufzusuchen, die sich eines besonderen Rufes erfreuten, woselbst sie auch meistens bis tief in die Nacht hinein hängen blieben, um dann in heiterster Stimmung nach Hause zurückzukehren. Schließlich aber gab es einzelne, die kein höheres Vergnügen kannten, als, aufs sorgfältigste angetan, das Pflaster des Grabens und Kohlmarktes zu beschreiten und solche Orte aufzusuchen, wo sie, um zu sehen und gesehen zu werden, ohne besonderen Kostenaufwand mit der vornehmen Welt zusammentreffen konnten. Daß zu diesen wenigen auch Burda gehörte, versteht sich von selbst, und es war in der Tat bewunderungswürdig, wie vollendet er sich in dieser Hinsicht benahm. Wenn er so in nachlässiger Haltung vor dem weltberühmten Café Daum stand und die Vorübergehenden mit kühlen Blicken betrachtete, oder mit gemessenem Schritte seinen Rundgang auf der Bastei antrat, war er geradezu das Muster eines eleganten Offiziers. Niemand vermochte im Wintersalon des Volksgartens, während die Kapelle der Gebrüder Strauß ernste und heitere Weisen zu hören gab, mit vollendeterem Anstande Platz zu nehmen, und im Stehparterre der beiden Hoftheater wußte er stets einen Pfeiler zu erobern, an welchen gelehnt, er seine Blicke nach den Logen, das heißt nach den weiblichen Insassen schweifen ließ.

In dieser Zeit war ich Burda, der mich bis dahin nur wenig beachtete, näher getreten. Den Anlaß hierzu hatte eine ökonomische Frage gegeben. Es mangelte nämlich in den Kasernen an einer ausreichenden Zahl von Offizierswohnungen, infolgedessen mehrere von uns entsprechende Geldentschädigungen erhielten. Da war es denn nun Sitte, daß die Besitzer von sogenannten „Naturalquartieren“ einen oder auch mehrere Kameraden bei sich aufnahmen, damit jedem einzelnen die entsprechende Zinsquote zur Aufbesserung der schmal bemessenen Gage dienen könne. Auch Burda, der eine Wohnung in der Kaserne hatte, mußte daran denken, einen Mieter zu suchen — oder, wie dies in seiner Art lag, sich einen solchen zu erwählen. Daß die Wahl auf mich fiel, mochte in erster Linie wohl damit zusammenhängen, daß ich zu der Kompagnie versetzt worden war, bei welcher er selbst stand; aber ich hatte immerhin Grund, seine Aufforderung als Auszeichnung zu betrachten und sie um so lieber anzunehmen, als sich ein besonderer, mir sehr erwünschter Vorteil daran knüpfte. Denn ich hatte schon damals literarischen Neigungen nachgegeben und wünschte im Laufe des Tages einige ruhige, völlig ungestörte Stunden zu haben, aber wie wäre dies in einer kameradschaftlichen Wirtschaft, wo es in der Regel ziemlich wüst herging, zu erreichen gewesen! Burda jedoch, der die Rücksicht in Person war und überdies stets seine eigenen Wege ging, bot mir in dieser Hinsicht alle Sicherheit. Ich kündigte sofort in dem Privathause, wo ich mich bereits eingemietet hatte, und zog in seine Wohnung, welche eigentlich nur aus zwei Zimmern bestand; diese aber waren sehr geräumig, und jedes hatte seinen eigenen Eingang. Die Verbindungstür wurde abgesperrt, von beiden Seiten ein Kasten davorgerückt — und die Sache war in Ordnung gebracht.

Anfänglich hielten wir uns beide ziemlich fern voneinander; er aus gewohnter Zurückhaltung — ich aus Furcht, ihm lästig zu fallen; es war eben, als wohnte jeder für sich allein. Im übrigen befand sich Burda während des Tages nur selten zu Hause; war dies aber der Fall, so lag er gewöhnlich auf einer niederen Ottomane, die er aus zwei übereinander geschichteten Strohsäcken und einem Überwurf aus grell gemustertem Zitz höchst sinnreich hergestellt hatte, und las, was er sehr gerne tat, französische Romane. Fast niemals drang ein störender Laut zu mir herüber, und ich konnte deutlich nachfühlen, wie er beim Kommen und Gehen den Schall seiner Schritte sorglich abdämpfte. Nur seine häufigen Waschungen vernahm ich und bisweilen auch ein leises Geräusch, welches er dadurch hervorbrachte, daß er seine neueste Uniform stets eigenhändig bürstete; ein heikles, wichtiges Geschäft, das er selbst seinem außerordentlich geschulten Diener nicht anvertrauen mochte.

So trafen wir denn außer Dienst nicht allzuoft zusammen, am häufigsten noch im Burgtheater, das ich, begreiflicherweise, so oft es nur anging, besuchte, während Burda jeden zweiten Tag mit der Oper abwechselte. Fanden wir uns nach der Vorstellung zufällig im Foyer, so pflegten wir gemeinschaftlich nach Hause zu gehen, denn nach dem Theater zu soupieren, gestatteten unsere Mittel nicht. Hingegen lud er mich zuweilen in huldvoller Stimmung ein, bei ihm den Tee zu nehmen, was allerdings im eigentlichsten Wortsinne zu verstehen war, da in der Regel Rum und Sahne fehlten und höchstens etwas abgelegenes Weißbrot als Beigabe erschien.

Eines Tages hatte ich mich eben an den Schreibtisch gesetzt, um den zweiten Gesang eines größeren Gedichtes in Angriff zu nehmen, zu dem ich mich unter dem Eindruck von Ernst Schulzes „Bezauberter Rose“ hatte verleiten lassen, als ich an der Verbindungstür ein leises, immer eindringlicher werdendes Klopfen und zuletzt die Stimme Burdas vernahm: „Störe ich, wenn ich einen Augenblick hinüberkomme?“

Obgleich mir nun diese Unterbrechung nicht sehr gelegen kam, so war es doch selbstverständlich, daß ich entgegenrief: „O, nicht im geringsten! Es wird mich sehr freuen, dich bei mir zu sehen.“ Und damit eilte ich an den Eingang, um Burda zu empfangen, der auch alsbald, ein zusammengefaltetes Papier in der Hand, bei mir eintrat.

Nachdem ich ihn gebeten hatte, auf einem der beiden braun gestrichenen Stühle Platz zu nehmen, die einen großen Teil meiner Zimmereinrichtung bildeten, fragte ich, was ihn zu mir führe.

„Ich habe hier“, sagte er, „ein paar Verse niedergeschrieben, und da ich weiß, daß du dich mit Poesie beschäftigst, so wollte ich dich bitten, das Gedichtchen durchzusehen, ob sich nicht etwa Verstöße gegen das Metrum oder sonstige Fehler eingeschlichen haben. Willst du mir diese Gefälligkeit erweisen?“

„Mit größtem Vergnügen“, erwiderte ich, indem ich das Blatt entgegennahm. Es enthielt zehn bis fünfzehn Verse, die im ganzen ziemlich steif, aber vollständig korrekt waren und beiläufig mit folgenden Reimen schlossen:

„Soll mir der Stern der Hoffnung nicht erbleichen,

So gib, erhab’ner Engel, mir ein Zeichen!“

„Es ist nichts daran auszusetzen“, sagte ich, das Papier zurückgebend.

„Ich dachte es wohl“, entgegnete er ernst. „Aber ich wollte ganz sicher gehen.“

Jeden anderen würde ich möglicherweise jetzt gefragt haben, an wen eigentlich die Verse gerichtet seien; allein Burda gegenüber war das nicht zu wagen. Auch interessierte es mich nicht gerade übermäßig. Diesmal aber war es mir, als wollte er gefragt sein. Denn er blieb mit gekreuzten Beinen sitzen und blickte, die rechte Fußspitze hin und her bewegend, wie erwartungsvoll vor sich hin. Ich unterbrach endlich das Schweigen, indem ich, wenngleich noch immer etwas zaghaft, begann: „Und darf man vielleicht wissen — —?“

Er wandte rasch das Haupt und streckte mir die Hand entgegen: „Lieber Freund, du hast in der Zeit unseres Zusammenwohnens nicht bloß meine Zuneigung, sondern auch meine Achtung in hohem Grade erworben. Ich kann und darf dich daher auch vollständig in alles einweihen — umsomehr, als es mir, offen gestanden, ein Bedürfnis ist, diesmal einen Vertrauten zu haben. So höre denn: die Verse sind an die jüngste der Prinzessinnen L... gerichtet.“

Nun hatte ich allerdings nichts Geringes zu hören erwartet; dennoch erstarrte ich fast vor Erstaunen. Daß Burda seine Blicke so hoch erheben könne, überstieg all und jede Voraussetzung, wenn ich auch nicht umhin konnte, seinen sublimen Geschmack zu bewundern. Die Prinzessinnen L... gehörten zu den blendendsten Erscheinungen der aristokratischen Frauenwelt, welche damals an Schönheiten so auffallend reich war. Von mütterlicher Seite verwaist, dem Alter nach kaum um je ein Jahr voneinander verschieden, trugen sie alle drei mit ihren kühn und doch zart geschwungenen Nasen die ausgesprochenste Familienähnlichkeit zur Schau, und wenn sie, in der Regel gleich gekleidet, in der Loge saßen oder in den Prater fuhren, so mochte dieser Anblick wohl viele Herzen höher schlagen gemacht haben. Daß aber irgend ein Erdensohn, wenn er jenen Kreisen nicht angehörte, es wagen sollte, der Tochter eines Fürsten aus souveränem Geschlechte, welcher am Hofe eine der ersten Stellungen einnahm, in solcher Weise, mit solchen Erwartungen zu nahen, war unfaßbar. Ich blieb sprachlos.

Burda schien sich an meinem Erstaunen zu weiden. „Nun,“ sagte er endlich lächelnd, „siehst du darin etwas so ganz Unmögliches?“

Nun galt es wieder, ihn nicht zu verletzen. „O nein — durchaus nicht — — ich habe nur nachgedacht. Auf welche Art willst du denn der Prinzessin das Gedicht zukommen lassen?“

„Auf welche Art? Ganz einfach durch die Post.“

„Durch die Post?“

„Natürlich. Du weißt, daß ich mich ein wenig auf Kaligraphie verstehe. Ich bringe also die Verse ohne Unterschrift und ohne meine Hand zu verraten aufs zierlichste zu Papier. Auf der Adresse ahme ich eine Damenschrift nach, und um die Empfängerin sofort wissen zu lassen, von wem der Brief kommt, siegle ich mit feinem, blaßgelbem Lack — mit der Farbe unserer Aufschläge“, setzte Burda erklärend und bereits etwas ärgerlich hinzu, da er in meiner Miene noch immer keine verständnisvolle Zustimmung bemerken mochte.

„Das ist alles ganz gut“, warf ich jetzt ein. „Aber wie, wenn der Brief in unrechte Hände fällt?“

Burda sah mich mit mitleidsvoller Überlegenheit an. „In unrechte Hände? Glaubst du denn, daß man in fürstlichen Häusern den Töchtern die Briefe öffnet, wie dies wohl in bürgerlichen Kreisen von seiten mißtrauischer Väter und Mütter geschehen mag?“

„Vom Öffnen ist nicht die Rede. Aber der Brief kann in Gegenwart anderer Personen überbracht werden. Und wenn dann hinsichtlich seiner an die Empfängerin eine Frage gerichtet wird — was soll sie erwidern?“

Burda rückte ungeduldig auf dem Stuhl hin und her. „Lieber Freund,“ sagte er gereizt, „man sieht doch gleich, daß du keine Ahnung hast, was in der Aristokratie Sitte und Gepflogenheit ist. In solchen Familien hat jedermann seine eigenen Appartements, seine eigene Dienerschaft — und man empfängt eben seine Briefe für sich allein. Indessen hast du in gewissem Sinne recht“, fuhr er nach einer Pause einlenkend fort; „ich selbst verkenne ja das Bedenkliche meines Unternehmens nicht. Aber du wirst zugeben, daß meinerseits etwas gewagt werden muß; denn die Prinzessin kann doch nicht den ersten Schritt tun. Im übrigen habe ich alles wohl erwogen und reiflich überlegt. Die Sache steht einfach so: entweder erwartet man — und ich habe Gründe, dies aufs bestimmteste vorauszusetzen — von mir eine Kundgebung, dann begreifst du wohl, daß es mit dem Briefe keine Gefahr hat. Denn selbst angenommen, daß er der Gegenstand irgend einer Frage würde, so besitzt man gewiß auch den nötigen weiblichen Scharfsinn, um sich aus der Affäre zu ziehen. Oder: ich habe mich bis jetzt vollkommen getäuscht — nun, dann wird man die Verse einfach beiseite werfen — und alles ist aus.“

Diese ruhige Auseinandersetzung wirkte. Mir selbst kam jetzt das Ganze weniger befremdlich vor. Ich hätte freilich noch einwenden können, daß in dem Schritte, den er unternahm, etwas Verletzendes für die junge Dame selbst liege; aber ich unterdrückte diese Bemerkung und sagte bloß: „Ich sehe, du hast alle Umstände aufs genaueste in Betracht gezogen, und so kann ich dich nur bitten, mir zu verzeihen, daß ich mir gestattet habe — —“

„Du bist vollkommen entschuldigt“, sagte er herablassend, indem er sich erhob. „Es war ja deine Pflicht, mich auf mögliche Zwischenfälle aufmerksam zu machen — und ich danke dir dafür. Damit du jedoch siehst, wie grundlos deine Einwürfe waren, so fordere ich dich auf, Zeuge meines Erfolges zu sein.“ Er stand einen Augenblick nachsinnend. „Heute ist der Zwölfte — morgen sende ich das Gedicht ab — am Vierzehnten erhält es die Prinzessin — und am Fünfzehnten hat man die Loge im Burgtheater, denn es ist ein ungerader Tag. Ich ersuche dich also, am Fünfzehnten mit mir gemeinsam das Burgtheater zu besuchen und während der Vorstellung an meiner Seite zu bleiben. Das Weitere wirst du sehen.“ Damit reichte er mir die Hand und begab sich, von mir auf den Gang hinaus geleitet, in sein Zimmer.

Als ich wieder allein war, wirbelte es mir im Kopfe. Sollte es möglich sein! rief ich aus. Sollte die Prinzessin wirklich .... Warum nicht? Es waren ja doch schon ähnliche Fälle vorgekommen! Burdas Zuversicht hatte etwas Ansteckendes; sie schien sich jetzt auch mir mitteilen zu wollen. Aber nein, nein! Es ist ganz und gar undenkbar! sprach endlich die gesunde Vernunft und behielt das letzte Wort. Dabei vergaß ich freilich, daß ich vorhin selbst darangegangen war, in dem zweiten Gesange meiner Dichtung mit glühenden Farben ein geheimes Stelldichein zu schildern, welches zwischen einer Königstochter und einem Knappen (der sich allerdings am Schlusse als Königssohn würde entpuppt haben) stattfinden sollte.

III.

Der Tag, oder besser gesagt der Abend, an welchem Burda von dem „erhabenen Engel“ ein Zeichen erwartete, war da. Wir begaben uns also — und zwar ziemlich früh — in die noch dämmerhaften Räume des Burgtheaters, um uns einen guten, vollkommene Umschau gewährenden Platz zu sichern. Diese Vorsicht erwies sich übrigens als überflüssig. Denn man gab Minna von Barnhelm, welches Stück bei den meisten von uns in dem Rufe stand, langweilig zu sein, und obgleich sein zweiter Titel für das Militär sehr anziehend hätte klingen sollen, so blieb doch diesmal das Parterre, wo es sonst von Uniformen wimmelte, um so spärlicher besucht, als im Kärntnertor-Theater der „Prophet“ aufgeführt wurde, welche Oper damals mit Ander als Johann von Leyden noch immer eine sehr starke Zugkraft ausübte. Burda aber wollte in der Minna von Barnhelm ein besonders günstiges Vorzeichen erblicken; ja er warf sogar hin, daß man das Stück vielleicht auf ausdrücklichen Wunsch der Prinzessin angesetzt habe. Ich fand diese Voraussetzung ziemlich gewagt, was er auch zugab; indes blieb er dabei, es sei jedenfalls ein merkwürdiges Zusammentreffen der Umstände.

Inzwischen hatte sich der lichtspendende Kronleuchter von oben herabgesenkt; das Haus belebte sich, das Niederklappen der Sperrsitze wurde vernehmbar und mischte sich mit einzelnen Klagelauten der Instrumente, die man im Orchester zu stimmen begann. Endlich war die Ouvertüre in gewohntem Mißklange verhallt — und die Vorstellung begann.

Jetzt konnte man ganz deutlich wahrnehmen, wie spärlich das Theater überhaupt besucht war. Die Logen- und Sitzreihen wiesen klaffende Lücken auf, ein Beweis, daß die vornehme Welt das klassische Lustspiel ebenfalls nicht besonders zu schätzen wisse. Nur die Galerien erschienen stark besetzt. Auch die fürstlich L...sche Loge zeigte sich zu sichtlicher Bestürzung Burdas leer. Schon hatte sich die erste Szene zwischen Just und dem Wirt — von Laroche und Beckmann aufs köstlichste dargestellt — abgespielt; schon hatte Major Tellheim seinen Edelmut, Ludwig Löwe als Werner den unverwüstlichen Zauber seines Naturells zu entfalten begonnen, der Vorhang fiel — und noch immer gähnte die Loge wie ein dunkler Abgrund, in den die Hoffnungen Burdas zu versinken drohten. Da — als das Orchester eben mit einer jammernden Zwischenmusik anhob, konnte man in dem nicht allzu geräumigen Viereck ein leichtes Schimmern und Wehen bemerken; Stühle wurden gerückt — und die drei Schwestern setzten sich, während Burda vor Aufregung zitterte, an die Brüstung.

Der zweite Akt begann. Luise Neumann, als Franziska, schlug ihre schalkhaftesten und dabei innigsten Laute an, die Aktion verwickelte sich — und nun nahm das Stück einen immer lebhafteren Fortgang, bis es am Schlusse des dritten Aktes zu stürmischem Beifalle hinriß. Ich betrachtete Burda. Er hatte die ganze Zeit über regungslos an seinen Pfeiler gelehnt dagestanden. Eine stille, wonnige Verklärung war über seinem Antlitz ausgebreitet, und seine Augen schimmerten in feuchtem Glanze. Was nun die jungen Damen in der Loge betraf, so konnte ich durchaus nicht bemerken, daß man Burda irgendwelche Beachtung schenke. Die Prinzessinnen hatten anfänglich etwas zerstreut nach der Bühne geblickt; bald aber war ihre Aufmerksamkeit gefesselt worden, und jetzt, nachdem sich der Vorhang wieder herabgesenkt, sprachen sie leise miteinander. Dabei sahen sie wohl im Hause umher, und ihre Blicke schweiften auch über das Parterre; ob aber die Jüngste Burda besonders ins Auge gefaßt habe, ließ sich nicht ermitteln.

Dieser verließ jetzt seinen Standort und winkte mir mit den Augen, ihm in den kleinen, niederen Seitengang zu folgen, welcher als Verlängerung des Parterres benützt wurde und, obgleich man von dort aus kaum die Bühne sehen konnte, in der Regel ebenfalls überfüllt war. Heute aber zeigte er sich leer und vereinsamt, und Burda setzte sich auf die schmale, hartgepolsterte Bank, die an der Wand hinlief. Nachdem ich mich neben ihm niedergelassen hatte, flüsterte er mir zu: „Nun, hast du bemerkt?“

„Bemerkt? Was denn?“

„Daß sie ganz in Gelb gekleidet ist.“

„Das ist mir nicht aufgefallen.“

„Weil du nicht darauf geachtet hast. Tritt hinaus und überzeuge dich, daß sie unsere — das heißt meine Farbe trägt.“

Als ich mich nun wieder an meinen früheren Platz begab, hatte der vierte Akt bereits begonnen. Ich blickte nach der Loge — und in der Tat, es war so, wie Burda gesagt hatte. Das tief in den Schultern ausgeschnittene Kleid war von mattem Gelb; im dunklen Haar wiesen sich gelbe Rosen — und vor allem leuchtete mir ein großer Fächer von hellem Goldgelb in die Augen, den die Prinzessin nachlässig auf und nieder bewegte. Ich begriff nicht, wie ich dies alles hatte übersehen können, da es doch um so auffallender war, als die beiden älteren Schwestern heute anders, und zwar in zartes Blau gekleidet waren. Es sah wirklich wie Absicht aus.

Das Stück näherte sich dem Ende. Burda war inzwischen wieder an meiner Seite erschienen, und als jetzt der Vorhang fiel, raunte er mir zu: „Komm, wir wollen sie noch in den Wagen steigen sehen.“

Wir eilten in die Garderobe, nahmen unsere Mäntel und stellten uns in der Einfahrt auf. Das Haus leerte sich diesmal rasch, es dauerte daher nicht lange, so erschienen die Prinzessinnen, in weiße, mit Schwan besetzte Theatermäntel gehüllt. Ihr Vater, der gegen Ende der Vorstellung im Hintergrunde der Loge sichtbar geworden, folgte ihnen auf dem Fuße, während zwei Wagen vorfuhren. Man sonderte sich paarweise; der Fürst mit der jüngsten Tochter stieg in den ersten Wagen, die beiden anderen in den zweiten — und die schmucken Gefährte rollten von hinnen. Wir sahen ihnen noch eine Weile nach, und ich glaubte zu bemerken, daß sie, auf dem Michaelerplatz angelangt, sich trennten und jedes eine andere Richtung nahm.

Nun entfernten wir uns, und Burda schlug, ohne ein Wort zu sagen, den Heimweg ein, doch nicht wie gewöhnlich durch die Stadt, sondern über das verödete Glacis vor dem Burgtor. Es war im Dezember. Der Tag hatte sich frostig angelassen, jetzt aber war es milder geworden. Feiner weißer Nebel lag wie ein matt durchleuchteter Schleier über der Stadt; dabei fing es in weichen, dichten Flocken zu schneien an.

Da Burda in seinem Schweigen verharrte, so schritten wir eine Zeitlang stumm nebeneinander hin. Aber ich fühlte, daß er erwartete, ich würde das Gespräch eröffnen, und begann daher endlich: „Nun, hast du eine weitere Kundgebung erhalten?“

Er warf mir einen Blick von der Seite zu. „Eine weitere Kundgebung?“ erwiderte er scharf. „Genügt denn nicht diese eine, daß sie, wie schon erwähnt, meine Farbe trug? Hätte sie mir vielleicht noch Zeichen machen — oder vor dem Theater in die Arme fallen sollen?“

Ich sah, wie sehr ich ihn mit meiner Frage gereizt hatte. „Keineswegs,“ erwiderte ich, „ich meinte ja nur — — Und wenn du wirklich überzeugt bist, daß die Wahl der Farbe eine absichtliche war —“

„Überzeugt?“ rief er noch mehr aufgebracht. „Als ob da ein Zweifel sein könnte!“ Und sich gewaltsam mäßigend fuhr er fort: „Ich vergesse, lieber Freund, daß du das Recht hast, mich vor möglichen Selbsttäuschungen zu warnen. Aber wie soll ich dir meine Überzeugung beibringen? Das bleibt doch immer nur Sache des Gefühls.“

„Gewiß“, bekräftigte ich, um einem unersprießlichen Streite vorzubeugen. „Und dein Gefühl wird jedenfalls das richtige sein — wenn ich auch nicht absehe, was sich aus dem allen entwickeln soll.“

Er blieb stehen und blickte mir bei dem Schein einer nahen Gasflamme ernst ins Gesicht. „Entwickeln! Entwickeln!“ wiederholte er verächtlich. „Mich wundert nur, daß gerade du so fragen kannst. Du bist doch Poet — oder willst es wenigstens sein, und so solltest du auch begreifen, daß es Verhältnisse gibt, die keine weitere Entwicklung zulassen, weil sie an sich schon der Gipfel alles Glückes sind. Oder ist es nicht das höchste Glück, zu wissen, daß man die Gedanken, die Phantasie eines solchen Wesens beschäftigt? Daß man in einem solchen Herzen die ersten Empfindungen wachgerufen hat? Was kann, was darf ich mehr erwarten?“

Ich gestehe, daß ich mich beschämt fühlte. Das Zarte, Vergeistigte seiner Auffassung imponierte mir; es war, als hätte ich ihm ein Unrecht abzubitten. „Verehrter Freund,“ sagte ich mit aufrichtiger Wärme, „ich ersuche dich, vor allem zu glauben, daß ich mich sehr wohl in deinen Seelenzustand versetzen kann. Aber ich gestehe dir auch offen, daß ich dich, trotz deines idealen Sinnes, den ich stets bewundert, doch für einen Mann gehalten habe, dem ein solch traumhaftes Glück auf die Dauer nicht zu genügen vermag.“

Er sah mich eigentümlich an. „Vielleicht hast du recht“, erwiderte er nach einer Pause, indem er sich wieder in Bewegung setzte. „Und damit du siehst, wie weit mein Vertrauen zu dir geht, will ich dich auch noch in eine andere Angelegenheit einweihen. Sie ist zwar bis jetzt nicht viel mehr als ein Luftgebilde; sie kann aber im Laufe der Zeit festere Umrisse annehmen — und dann Aussichten auf Möglichkeiten eröffnen, die gegenwärtig ganz undenkbar sind. Wenn du bei mir eine Tasse Tee trinken willst, so werde ich dir alles darauf Bezügliche auseinandersetzen.“

Wir schritten nun rascher aus, und so waren wir bald zu Hause angelangt, wo uns der Diener Burdas zeremoniell die Mäntel abnahm. Dann servierte er auf einer blank gescheuerten, wie Silber aussehenden Zinnplatte den Tee, welchem heute, wie zu voraussichtlicher Feier des erfolgreichen Abends, etwas kalte Küche beigegeben war, schob auf einen Wink seines Herrn noch einige Kohlen in den Ofen und verschwand.

Nachdem wir den Tee genommen und Zigarren angezündet hatten, stellte Burda die Lampe auf eine Konsole, die neben der Ottomane stand, und lud mich mit einer Handbewegung ein, dort Platz zu nehmen. Hierauf schloß er ein versperrtes Schiebfach seines Schreibtisches auf und zog ein Pack vergilbter und brüchiger Papiere hervor, die er, indem er sich jetzt gleichfalls setzte, zwischen uns beiden niederlegte.

„Du entsinnst dich vielleicht noch“, begann er nach kurzem Schweigen, „jenes ärgerlichen Auftrittes beim Regimentsrapport, als wir noch in Brünn waren?“

Nun entsann ich mich dessen sehr wohl, wollte es aber nicht sofort merken lassen. „Ach ja,“ sagte ich nach einer Weile, „du meinst die Geschichte wegen der Unterschriften?“

„Allerdings. Und ich kann dir jetzt gestehen, daß der Oberst mir gegenüber nicht ganz im Unrechte war — denn ich hatte mit jenem G f in der Tat einen Doppelsinn verbunden.“ Er legte die rechte Hand auf die Papiere und fuhr fort: „Ich habe nämlich Grund anzunehmen, daß ich aus einem alten adeligen Geschlechte stamme. Und zwar aus einem Grafengeschlechte, das seinen Sitz in Böhmen hatte, nach der Schlacht am Weißen Berge jedoch, in welcher es an der Seite des sogenannten Winterkönigs gekämpft, von Ferdinand dem Zweiten seiner Güter entsetzt und gezwungen worden war, das Land zu verlassen. Gewissen Traditionen zufolge waren es zwei Brüder, welche dieses Los getroffen. Der eine von ihnen hat sich, wie man glaubt, nach Sachsen gewendet, wo noch heute ein adeliges Geschlecht meines Namens blüht. Der zweite blieb verschollen. Gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts aber soll ein direkter Nachkomme von ihm — allerdings als bloßer Bürgerlicher — wieder in Österreich eingewandert sein, der sich auch wirklich Burda geschrieben hat. Schon mein Großvater war auf die mutmaßliche Deszendenz unserer Familie von diesem Manne aufmerksam gemacht und ermuntert worden, Nachforschungen einzuleiten. Dies geschah, und die hier liegenden Schriftstücke sind das Resultat jener Bemühungen. Sie stellen auch den fraglichen Zusammenhang so ziemlich klar — allein über den Hauptpunkt: ob nämlich der erwähnte Einwanderer wirklich ein Nachkomme der verschollenen Grafen Burda gewesen ist, konnte leider nichts Bestimmtes ermittelt werden. Mein Großvater ließ also die Sache, welche mit nicht unbeträchtlichen Kosten verknüpft war, um so eher auf sich beruhen, als ja im besten Falle wohl der Grafentitel, keineswegs aber die Wiedererlangung der konfiszierten Güter erzielt werden konnte, welche in den Besitz anderer, zu jener Zeit treu gebliebener Adelsfamilien übergegangen waren. Mein Vater war nun schon gar nicht der Mann, eine solche Angelegenheit wieder aufzunehmen, und ich muß es als wahres Wunder betrachten, daß sich diese Papiere in seinem Nachlasse noch vorgefunden haben. Ich selbst legte sehr lange Zeit hindurch kein Gewicht darauf; erst nach und nach habe ich ihre Bedeutung kennen gelernt — und jetzt, da sie mir unter den dir bekannten Umständen unschätzbar geworden, ist mein Entschluß zur Reife gediehen. Schon morgen sende ich das Ganze an einen jungen Historiographen ab, den ich in Brünn kennen gelernt, und welcher gegenwärtig am dortigen Landesarchiv in Verwendung steht. Ich hatte ihm schon damals einige Andeutungen gemacht, infolge deren er sich bereit erklärte, mir mit Hilfe seiner gelehrten Verbindungen an die Hand zu gehen. Vor allem, meinte er, wäre es geboten, mit den von Burda in Sachsen Fühlung zu nehmen und ein Einverständnis zu erzielen. Dann könnte es vielleicht unseren gemeinschaftlichen Bestrebungen gelingen, durch einen Gnadenakt der betreffenden Souveräne für beide Linien den Grafentitel, der mir ja selbstverständlich vollkommen genügen würde, zu erreichen.“

Ich war diesen Auseinandersetzungen mit wachsendem Erstaunen gefolgt und wußte fürs erste nicht, was ich erwidern sollte. Einerseits lag die Sache nicht geradezu außerhalb all und jeder Möglichkeit; allein die Durchführung erschien mir mit Hinblick auf die damit verbundenen Schwierigkeiten ganz und gar illusorisch. Ich überlegte eben, wie ich dies in zartester Weise andeuten sollte, als mir Burda zuvorkam.

„Ich verkenne nicht,“ fuhr er fort, „welche fast unübersteiglichen Hindernisse sich in den Weg stellen. Denn ganz abgesehen davon, daß sich der erwähnte Hauptpunkt wohl niemals ganz ins klare wird setzen lassen, so ist es auch gewiß, daß man von seiten jener Familien, in deren Reihen die Grafen Burda neuerdings aufzutauchen hätten, alles anwenden wird, um solche, wenn auch berechtigte Eindringlinge fern zu halten. Und sie werden um so leichteres Spiel haben, als sich der betreffende Stammbaum leider nicht rein erhalten hat. Hingegen könnte freilich der Umstand, daß ich zu einigen, gegenwärtig sehr hervorragenden Adelsgeschlechtern — zum Beispiel mit den Y... und den Z.... — infolge von Ehebündnissen, die vor Jahrhunderten geschlossen wurden, sogar in verwandtschaftliche Beziehungen treten würde — gerade dieser Umstand, sage ich, könnte vielleicht dazu beitragen, daß man von seiten anderer hoher Persönlichkeiten, die du erraten wirst, fördernd in die Angelegenheit eingriffe und sie dem erfreulichsten Resultat zuführte.“

Es war erstaunlich, wie Burda sich alles und jedes zurechtlegte. Und in der Tat, wenn er sich hinsichtlich der Gefühle, die er der Prinzessin zumutete, nicht einer vollständigen Täuschung hingab, so erschienen seine Hoffnungen, so abenteuerlich sich diese ausnahmen, nicht ohne einen gewissen Haltpunkt. Ich hütete mich aber sehr, ihn darin zu bestärken, und sagte bloß: „Das wirft allerdings ein neues Licht auf die Sache, und wie immer auch der Erfolg sich gestalten möge, meiner besten Wünsche, meiner aufrichtigen Teilnahme kannst du gewiß sein.“

„Das bin ich,“ antwortete er, mir herzlich die Hand drückend, „so wie deines unverbrüchlichen Schweigens.“

Er war aufgestanden, um die Papiere wieder zu versorgen; ich aber, da es mittlerweile spät geworden, empfahl mich und ging auf mein Zimmer. Im Bette liegend, dachte ich unwillkürlich über alle diese Mitteilungen nach und verfolgte die Fäden, die sich hier zu einem so wunderlichen luftigen Gewebe ineinander schlangen. Als ich endlich einschlief, hatte ich verworrene Träume, in welchen die Gestalten Burdas und der Prinzessin aufs seltsamste mit jenen meines romantischen Gedichtes zusammenflossen, das ich übrigens seither nicht wieder aufgenommen hatte.

IV.

Weihnachten und Neujahr waren herangekommen. Ich hatte diese festliche Zeit fast ausschließlich im Kreise meiner nächsten Verwandten zugebracht, war daher mit Burda, der jetzt mehr als je seine eigenen Wege verfolgte, nur wenig zusammengetroffen. Erst der beginnende Karneval brachte uns einander wieder näher. Burda forderte mich nämlich eines Tages auf, mit ihm den Hofball zu besuchen, der demnächst stattfinden sollte, und an welchem jeder Offizier teilnehmen konnte. „Du kannst dir wohl denken,“ sagte er, „was mich dazu bestimmt. Die Prinzessin erscheint jedenfalls auch, und somit ist die erste, vorderhand einzig mögliche Gelegenheit zu persönlicher Annäherung geboten. Man wird es herbeizuführen wissen, daß ich vorgestellt werde — das Weitere findet sich dann. Im übrigen ist es jedenfalls interessant, ein solches Fest in Augenschein zu nehmen.“ Ich pflichtete bei, und wir trafen die nötigen Verabredungen.

Es war ein eisig kalter, dunkler Januarabend, als Burda und ich — wir hatten einen Fiaker genommen — in der Hofburg vorfuhren und die hell erleuchtete Treppe hinanstiegen. Der Eintrittssaal war noch ziemlich leer; nur diensttuende Hofchargen, einige höhere Militärs — darunter auch der Adjutant des Fürsten L..., ein noch sehr junger, etwas stutzerhaft aussehender Major — und mehrere Staatsbeamte, welche Ordensritter waren, standen in kleine Gruppen verteilt. Nach und nach aber bewegte es sich immer zahlreicher durch die hohen, weit geöffneten Flügeltüren herein. Es glänzte und flimmerte von gold- und silbergestickten Uniformen, von Ordensbändern und Sternen; die Großwürdenträger des Reiches erschienen, darunter ungarische und polnische Magnaten in reicher, malerischer Nationaltracht. Endlich die Damen: ein blendendes Gewoge von Spitzen, Samt und Seide, von Blumen und Federn, von Diamanten und Perlen. Entblößte Nacken und Arme schimmerten; stolze, ausdrucksvolle Frauenköpfe tauchten auf, helle und dunkle Augen leuchteten, rosige Lippen lächelten Grüße zu. All das bewegte und drängte sich mehr oder minder rasch dem großen Saal entgegen, der erwartungsvoll die Zuströmenden aufnahm.

Die Prinzessinnen L... waren noch nicht erschienen, und schon begann das Antlitz Burdas, mit dem ich mich nahe am Eingang hielt, sich zu verfinstern — als sie in Begleitung einer älteren Dame von auffallender Hoheit in Gestalt und Blick hereintraten. Heute alle drei in duftiges, mit kleinen Silberflittern übersäetes Weiß gekleidet, Maiglöckchen im Haar — ein entzückendes Bild jugendlicher Anmut und Frische. Diesmal konnte ich deutlich wahrnehmen, daß Burda sofort bemerkt wurde. Um die Lippen der beiden Älteren zuckte es eigentümlich, während die Jüngste — ich glaubte mich nicht zu täuschen — wie unmutig das Haupt abwandte und mit einer gewissen Hast dem Saale zustrebte.

Als nun auch wir ihn betraten, standen wir vor einer dichten Menge, die keinen Überblick gestattete, während der Schall der verworrenen Stimmen wie fernes Meeresbrausen an unser Ohr schlug. Plötzlich trat tiefe Stille ein, und die Massen teilten sich. Eine Tür hatte sich geöffnet, auf deren Schwelle der Zeremonienmeister erschien, das Nahen des Hofes ankündigend. Gleich darauf zeigte sich der jugendliche Monarch, der damals seine hohe Braut noch nicht heimgeführt hatte, eine Erzherzogin am Arm. Hinter ihnen die männlichen und weiblichen Familienmitglieder — dann der gesamte Hofstaat, mit dem Fürsten L... an der Spitze. Der Kaiser geleitete seine Dame nach der Balustrade, woselbst sie im Kreise der übrigen Platz nahm. Gleich darauf erhob sich der Taktierstab des Kapellmeisters — und der Ball begann.

Sofort vollzog sich eine Bewegung im Saale. Die älteren Herren verließen ihn oder zogen sich in entfernte Ecken zurück, während die Tanzlustigen, so gut es anging, in der Nähe der Damen blieben, welche längs der Wände zu sitzen kamen.

Ich selbst hatte mich von Burda zurückgezogen und war mit mehreren andern in eine offene Verbindungstür getreten; von dort aus konnte ich den ganzen Saal überblicken, wo der Tanz bereits begonnen hatte. Bald fiel mir auch unter den walzenden Paaren die Prinzessin ins Auge, die mit einem blutjungen Dragoneroffizier von kleiner, aber zierlicher Gestalt lustig dahinflog. Ich spähte nach Burda und fand ihn an einem Pfeiler stehen, den er auch hier, hart an einem Spiegel, zu behaupten gewußt hatte. Wie ich ihn so betrachtete, der, ein Bild starrer Erwartung, vor sich hinblickte, kam mir seine Erscheinung weit weniger vornehm und anziehend vor, als sonst; er wurde offenbar von der ganzen Umgebung in den Schatten gestellt. Auch fiel mir jetzt zum erstenmal auf, daß seine Gesichtszüge eigentlich unbedeutend waren und daß er eine sehr kleine, gedrückte Stirn hatte.

Während ich so meine Betrachtungen anstellte, fühlte ich mich leicht an der Schulter berührt. Ich wendete mich um — und stand dem Adjutanten des Fürsten gegenüber.

„Dürfte ich Sie bitten,“ sagte der Major sehr freundlich mit leiser Stimme, „mir einen Augenblick zu schenken, Herr Leutnant? Ich hätte ein paar Worte mit Ihnen zu sprechen.“ Er faßte mich zuvorkommend unter dem Arm und führte mich in ein kleineres Nebengemach, wo ein vereinsamtes Büfett stand. Dort lud er mich zum Sitzen ein und begann, indem er mir vertraulich näher rückte: „Vor allem möchte ich Sie fragen, wie der große, schlanke Offizier heißt, welcher im Saale an einem Spiegelpfeiler steht. Sie werden wohl wissen, wen ich meine, da Sie, wenn ich nicht irre, in seiner Gesellschaft hier erschienen sind.“

Ich war begreiflicherweise gleich anfangs sehr betreten gewesen; nun aber suchte ich mich zu fassen und nannte mit möglichster Unbefangenheit den Namen Burdas.

„Und darf ich mir erlauben, weiter zu fragen, ob Sie mit diesem Herrn näher bekannt sind — das heißt, ob Sie mit ihm auf vertrautem Fuße stehen?“

Ich erwiderte, daß Burda mein Freund sei.

„Das ist mir lieb“, sagte der Major, indem er seine Hand leicht auf die meine legte. „Denn Sie können Ihrem Freunde auch einen wahren Freundschaftsdienst erweisen. Wollen Sie das?“

Diese Worte klangen höchst einschmeichelnd; aber mir ahnte nichts Gutes. „Gewiß bin ich bereit — und wenn Sie mir erklären wollen — —“

Er lehnte sich zurück und hustete leicht. „Nun,“ begann er, „das Ganze ist von nicht allzu großer Bedeutung — aber immerhin eine delikate Angelegenheit. Ihrem Freunde hat es nämlich beliebt, an der jüngsten Tochter meines Chefs Wohlgefallen zu finden. Nun steht dies allerdings jedermann frei, besonders einem in jeder Hinsicht ausgezeichneten Offizier, wie dies Ihr Freund ohne Zweifel ist. Nur mit den Kundgebungen seines Wohlgefallens sollte er, in richtiger Erwägung der Umstände, etwas vorsichtiger sein. Daß er im Theater beständig nach der fürstlichen Loge blickt, möchte noch hingehen. Allein die Prinzessin kann seit einiger Zeit kaum mehr ans Fenster treten, ohne den Herrn Leutnant zu gewahren, der vor dem Palais auf und nieder schreitet; sie kann keinen Spaziergang unternehmen, ohne von ihm, wie von ihrem Schatten, gefolgt zu werden — ja selbst, wenn sie ausfährt, weiß es Ihr Freund so einzurichten, daß er beim Ein- und Aussteigen stets in der Nähe ist. Unlängst ist es sogar vorgekommen, daß, als der Wagen eine Zeitlang vor einem Juwelierladen hielt, eine Rose durch das offene Coupéfenster geworfen wurde. Im Anfang“, fuhr der Major mit ironischem Lächeln fort, „hat man die Sache nicht allzu übel aufgenommen. Sie wissen ja, junge Damen sind — wie soll ich nur sagen? — unter allen Umständen nicht ganz frei von einer gewissen Koketterie. Bald aber mokierte man sich — und jetzt, da bereits zum zweiten Male mit der Post anonyme Verse eingetroffen sind, in welchen die licentia poetica bis zum äußersten getrieben wurde — jetzt fängt man an, diese fortgesetzten Huldigungen unerträglich zu finden, und hat sich bemüßigt gesehen, den durchlauchtigsten Papa ins Vertrauen zu ziehen. Dieser hat wieder mich beauftragt, die Sache in unauffälligster, schonendster Weise beizulegen, und ich selbst glaube am besten zu tun, wenn ich Sie jetzt herzlich bitte, Ihren Freund auf das Unstatthafte seines Benehmens aufmerksam zu machen.“

Da hatte ich nun, was ich vorausgesehen, und befand mich in größter Verlegenheit. „Sie werden nicht verkennen, Herr Major,“ sagte ich nach einer Pause, „welch peinlichen Auftrag Sie mir da erteilen. Es fällt immer ein schiefes Licht auf denjenigen, der sich in fremde Angelegenheiten mischt, und oft wird gerade der wohlmeinendste Rat zur Beleidigung. Das aber habe ich meinem Freunde gegenüber zu befürchten, der in jeder Hinsicht von äußerster Empfindlichkeit ist. Da ich jedoch erkenne, daß ihm jedenfalls ein Wink gegeben werden muß, so werde ich es trotzdem versuchen, wenn ich auch — und ich bitte dies wohl zu beachten — für den Erfolg nicht einstehen kann.“

„Gewiß, das können Sie nicht“, sagte der Major, indem er aufstand. „Aber ich lege Ihnen die Sache noch einmal ans Herz; denn ich würde es aufrichtig bedauern, wenn ich gezwungen wäre, andere Wege einzuschlagen.“

Er hatte bei diesen Worten eine etwas strenge Miene angenommen und reichte mir die Hand zum Abschied.

Den unerquicklichsten Gedanken und Empfindungen überlassen, ging ich noch eine Weile auf dem glatten Fußgetäfel des stillen Raumes auf und nieder, in welchen die Tanzmusik, leicht gedämpft, herüberdrang. Da war denn der leuchtende Traum Burdas zerflossen und hatte einer höchst unangenehmen Wirklichkeit Platz gemacht! Was sollte ich nun tun? Wie dem Verblendeten die Augen öffnen, um ihn vor dem Fluch der Lächerlichkeit — und vielleicht vor noch Schlimmerem zu bewahren? Ich trat an das Büfett und trank ein Glas Limonade, ohne den Süßigkeiten Beachtung zu schenken, die vor mir in allen Formen und Farben aufgehäuft waren. Dann machte ich mich wieder auf den Weg nach dem Saale, wo eben eine Française zu Ende ging. Wie ich bemerken konnte, hatte die Prinzessin auch diese mit dem jungen Dragoneroffizier getanzt, dessen zartes, fast mädchenhaftes Gesicht sehr erhitzt aussah. Als sich jetzt die Reihen lösten und die Paare Arm in Arm nach rechts und links auseinanderbogen, verließ eine Schar von Zusehern den Saal, darunter auch Burda, der kreidebleich war und mich kaum erkannte, als ich jetzt auf ihn zuging.

„Ah, du bist’s!“ sagte er endlich. „Wo hast du denn gesteckt?“

„Ich war in einem Nebenzimmer, wo ich mich nach einigen Erfrischungen umgesehen hatte.“

„Und sonst — wie unterhältst du dich?“ fragte er zerstreut.

„So ziemlich. Und du?“

„O gut, ganz gut! Aber ich gehe jetzt.“

„Schon jetzt?“

„Ja; ich habe Kopfschmerzen — mir war den ganzen Tag nicht recht wohl — —“

„Nun, dann gehe ich gleich mit. Ich habe hier auch nichts mehr zu suchen.“

Ich konnte bemerken, daß ihm meine Begleitung sehr unangenehm war. Aber ich kehrte mich diesmal nicht daran. Er hatte sich offenbar in seinen Erwartungen getäuscht gesehen, war tief verstimmt — und so nahm ich mir vor, an seiner Seite zu bleiben und das Eisen zu schmieden, so lange es noch glühte.

Auf der Straße angelangt, schlug er den Kragen seines Mantels hinauf und eilte so rasch über den Josefsplatz, daß ich Mühe hatte, ihm zu folgen.

„Warum läufst du denn so?“ rief ich ihm zu.

„Du hast doch gehört, daß ich Kopfschmerzen habe,“ erwiderte er zornig, ohne mich anzusehen. „Ich will bald zu Hause sein.“

„Du bist übler Laune“, sagte ich. „Dir ist etwas Unangenehmes begegnet.“

„Mir? Wieso? Warum?“

„Ich weiß es“, erwiderte ich fest. „Man hat sich auf dem Balle nicht umsonst deinetwegen an mich gewendet.“

Er blieb wie versteinert stehen. „An dich? Meinetwegen? Was willst du damit sagen?“ fragte er mit bebender Stimme.

Und nun teilte ich ihm, während wir weiter schritten, das Gespräch mit dem Major mit. Um ihn fürs erste möglichst zu schonen, streifte ich den heikelsten Punkt, nämlich den Unwillen der Prinzessin, nur flüchtig und legte das Hauptgewicht auf den Fürsten und auf den Auftrag, den dieser seinem Adjutanten erteilt hatte.

Aber der Erfolg war ein ganz anderer, als ich vorausgesetzt. Bei jedem Worte, das ich sprach, schien er freier und leichter aufzuatmen; sein Antlitz erhellte sich — und plötzlich rief er mit triumphierendem Lachen: „Also das ist es? Das!

Ich sah ihn verwundert an.

„Also deswegen“, fuhr er fort, „hat sie mich heute wie absichtlich keines Blickes gewürdigt? Deshalb hat sie in einem fort mit diesem jungen Laffen, dem Prinzen A..., getanzt?! O, lieber Freund, ich könnte dich für deine Mitteilung umarmen!“ Und damit schritt er, sich froh in die Brust werfend, dahin.

„Aber lieber Freund, bedenke doch —“ sagte ich ernst.

„Nein! Nein! Kein Wort mehr, ich weiß genug. Es kann sein, daß ich mich in letzter Zeit etwas unvorsichtig benommen; vielleicht hat sich die Prinzessin selbst unklugerweise irgendwie verraten — und nun, da man merkt, wie es steht, will man mich ins Bockshorn jagen. O, ich kenne das!“

Ich war äußerst unzufrieden mit mir und verwünschte es, daß ich so rücksichtsvoll vorgegangen. Ich hätte alles geradezu heraussagen sollen; denn nun hatte ich ihn gewissermaßen selbst zu dieser irrigen Auffassung verleitet. Diesen Fehler suchte ich wieder gutzumachen, indem ich sagte: „Du bist im Irrtum und sollst daher rundweg erfahren, daß sich die Prinzessin bei ihrem Vater über dein Vorgehen beschwert hat.“

Er lachte laut auf. „Das ist die rechte Höhe! Verzeih, lieber Freund, du bist in der Tat ein höchst naiver Mensch. Begreifst du denn nicht, daß man jetzt vor allem trachten muß, mich ihr gegenüber zu entmutigen? Nein, nein, mein Teurer! Bemühe dich nicht! Wie gesagt: ich weiß genug. Das Weitere wird meine Sache sein. Aber nun fühle ich das Bedürfnis, allein zu bleiben. Du wirst mich entschuldigen. Adieu! Schlaf wohl!“ Und er ließ mich an der Ecke der Singerstraße, wo wir eben angelangt waren, stehen und bewegte sich raschen Ganges mit stolz erhobenem Haupte dem Stephansplatze zu.

Ich ging langsam nach Hause. Je länger ich über das Vorgefallene nachdachte, desto mehr kam ich zur Einsicht, daß ich ein solches Ergebnis hätte erwarten können. Er hatte sich in seine fixen Ideen dermaßen verrannt, daß nur der allerunsanfteste Zusammenstoß mit der Wirklichkeit ihn zur Besinnung bringen konnte. Mochte dieser Zusammenstoß erfolgen! Ich hatte das meinige getan, und Burda mußte sich die Folgen selbst zuschreiben, wenn er meine Ermahnungen in den Wind schlug. — —

*                    *
*

Seitdem waren kaum zwei Tage verstrichen, als er, der mir inzwischen sichtlich ausgewichen war, nach flüchtigem Pochen an die Tür in mein Zimmer stürzte. „Nun, was sagst du dazu?“ rief er, indem er ein kleines bedrucktes Blättchen vor mich hin auf den Tisch schnellte. „Lies!“

Es war ein Zeitungsausschnitt, der ein Inserat enthielt. Es lautete:

Tellheim.

Wir werden beobachtet. Äußerste Vorsicht geboten. Hoffe und vertraue! Unveränderlich

F.“

„Nun,“ drängte er, „verstehst du? Begreifst du?“

„Was soll ich denn verstehen?“ fragte ich, ihn zweifelhaft anblickend.

„Nun, so will ich denn deiner Fassungskraft zu Hilfe kommen. Tellheim — damit bin ich gemeint. Wir werden beobachtet — geht dir noch immer kein Licht auf? Äußerste Vorsicht geboten — werde ich mir nicht zweimal sagen lassen. Hoffe und vertraue! Unveränderlich F. — Fanny. Du weißt doch, daß die Prinzessin Fanny heißt?“

„Also du glaubst ...?“ rief ich, außer mir vor Erstaunen über diese neue Phase seines Wahnes. „Aus welcher Zeitung ist das?“

„Aus dem Fremdenblatt.“ Dieses Journal wurde damals in den weitesten Kreisen gelesen und war so ziemlich das erste, das sich mit derlei Einrückungen befaßte.

„Du setzest wirklich voraus, daß die Prinzessin sich an das Ankündigungsbureau des Fremdenblattes —“

„Warum nicht?“ unterbrach er mich rauh. „Es gibt doch vertraute Zofen, die man mit derlei beauftragen kann.“

„Je nun — in Romanen. Aber selbst angenommen, daß man sich einer solchen Vermittlerin bedient, so wäre es doch weit einfacher — und auch weit besser gewesen, wenn man dir geschrieben hätte.“

Er stutzte. „Vielleicht“, erwiderte er verwirrt. „Und sie würde mir auch gewiß geschrieben haben,“ setzte er, froh eine Ausflucht vor sich selbst zu finden, rasch hinzu, „wenn sie meinen Namen wüßte.“

„An deiner Stelle würde ich es sehr sonderbar finden, daß dies noch nicht der Fall ist. Es wäre doch sehr leicht gewesen, deinen Namen zu erfahren.“

„Allerdings“, bekräftigte er, ärgerlich darüber, daß ich ihn in diese Klemme gebracht. Aber schon zeigte er sich von einer plötzlichen Eingebung erleuchtet. „Und man wird ihn auch wissen. Aber Geschriebenes bleibt nun einmal Geschriebenes und kann sich unter Umständen zu einem gefährlichen, weil verräterischen Dokumente gestalten, während ein solches Inserat immer und ewig nur dem Eingeweihten verständlich bleibt. Ich sehe übrigens,“ fuhr er mit zusammengezogenen Brauen kühl und gemessen fort, „daß du dich, um mir nicht zustimmen zu müssen, gewaltsam gegen diese sprechende Tatsache verstockst. Ich finde dies, nachdem dich der Major ins Vertrauen gezogen, auch sehr begreiflich. Du kannst übrigens in dieser Hinsicht vollkommen beruhigt sein. Denn insoweit kennst du mich wohl, daß ich der Mann bin, der nunmehr, nach allem, was da vorgefallen, die äußerste Zurückhaltung beobachten wird. Daher auch diese ganze Angelegenheit zwischen uns beiden von heute an nicht mehr zur Sprache kommen soll.“ Er verbeugte sich sehr förmlich und ging aus dem Zimmer.

Mochte er gehen! Wenn er nunmehr vollkommene Zurückhaltung bewahrte, so war dies gut für ihn, erwünscht für diejenigen, die seinen Kundgebungen ausgesetzt gewesen. Der Zweck meiner Mission war erfüllt. Im übrigen konnte die Sache auf sich beruhen.

V.

Seit jenem Tage war zwischen mir und Burda eine Entfremdung eingetreten; wir trafen nur bei unvermeidlichen Anlässen zusammen und sprachen dann über gleichgültige Dinge. Dazu kam noch, daß ich zu einer dienstlichen Verwendung bestimmt wurde, die mich eine Zeitlang von Wien fernehielt, und so war bereits der Frühling im Anzug, als ich wieder dorthin zurückkehrte.

Nicht ohne Unbehagen hatte ich meinem ersten Zusammentreffen mit Burda entgegengesehen, und war daher nicht wenig erstaunt, als er mich bei dem Besuche, den ich ihm doch abstatten mußte, sehr herzlich empfing.

„Lieber Freund,“ sagte er mit einer gewissen Wehmut, indem er die Arme ausbreitete, „ich freue mich unendlich, dich wieder zu sehen. Offen gestanden, ich habe mich während deiner Abwesenheit sehr vereinsamt gefühlt. Allerdings“, fuhr er leicht errötend fort, „durch eigene Schuld. Wir hätten ja wenigstens in brieflichem Verkehr bleiben können, wenn ich nicht damals durch mein schroffes Benehmen — — Nun, Geschehenes läßt sich nicht ungeschehen machen, und ich kann dich nur bitten, zu vergeben und zu vergessen.“

Ich versicherte, daß dies längst der Fall sei.

„Ich weiß, ich weiß, du bist ein guter, vortrefflicher Mensch — der einzige, dem ich mich anvertrauen konnte — und noch anvertrauen kann. Daher habe ich auch dein Eintreffen mit Sehnsucht erwartet. Denn du bist jetzt in der Lage, mir einen außerordentlichen Freundschaftsdienst zu erweisen. Ich habe nämlich“, fuhr er etwas kleinlaut fort, „die Dame, die ich dir ja nicht erst zu nennen brauche, schon lange — schon sehr lange nicht mehr gesehen. Du kannst dir meine Bestürzung vorstellen, als sie aufhörte, im Theater zu erscheinen. Da sich aber endlich auch ihre Schwestern nicht mehr in der Loge zeigten, so schloß ich auf irgend einen besonderen Umstand — und hatte auch das Richtige getroffen. Denn wie ich durch einen günstigen Zufall — nachzuforschen wagte ich ja nicht — in Erfahrung gebracht, waren im fürstlichen Hause die Masern ausgebrochen, an welchen sämtliche Töchter daniederlagen. Nun aber sind die beiden älteren längst wieder gesund, und man erblickt sie nach wie vor im Theater — nur die jüngste bleibt unsichtbar. Meine Besorgnis ist also um so mehr zum äußersten gediehen, als ich bei der Vorsicht, die mir, wie du weißt, zur Pflicht gemacht wurde, für meine Person keinerlei Erkundigungen einziehen kann. Du aber hast hier in bürgerlichen Kreisen Freunde, Verwandte und Bekannte, und es dürfte nicht auffallen, wenn einer beim Portier Nachfrage hielte.“

Da dies leicht zu bewerkstelligen war, so sagte ich zu und konnte ihm auch schon binnen kurzem mitteilen, daß die Prinzessin noch immer an einem Folgeübel der Masern leide, aber baldiger Genesung entgegensehe, eine Nachricht, die Burda mit melancholischer Freude aufnahm.

Inzwischen war es wirklich Frühling geworden. Die Bäume auf dem Glacis hatten Knospen und Blätter getrieben, der Rasen schimmerte in zartem Grün, und die Feierlichkeiten, welche zu jener Zeit anläßlich der kaiserlichen Vermählung stattfanden, waren von herrlichstem Wetter begünstigt. Aber nebenher war auch die orientalische Frage wieder einmal eine brennende geworden, und schon hatten sich die diplomatischen Fäden jener europäischen Verwickelungen angesponnen, welche später mit dem Krimfeldzuge und durch die Einnahme von Sebastopol einen vorläufigen Abschluß finden sollten. Auch Österreich mußte inmitten der allgemeinen Rüstungen Stellung nehmen und schob Observationstruppen an die nördlichen und südöstlichen Grenzen des Reiches vor. Infolgedessen wurden einige Regimenter auf den Kriegsstand gesetzt, so auch unseres, indem es gleichzeitig Marschbereitschaft erhielt, um, wie der Befehl lautete, vorläufig in Böhmen Standquartiere zu nehmen.

Diese kriegerischen Aussichten wurden von den Offizieren mit begeistertem Jubel begrüßt, und auch Burda würde mit eingestimmt haben, wenn ihn nebstbei nicht der Gedanke betrübt und gequält hätte, daß er jetzt die Prinzessin kaum mehr würde sehen können — und daß er sie, wie er sich ausdrückte, in einer doppelt ungewissen und schmerzlichen Lage zurücklasse.

Der Tag des Abmarsches kam heran. Am Abend vorher bat mich Burda, noch einmal mit ihm ins Burgtheater zu gehen. „Du wirst sehen,“ sagte er, „sie kommt heute. Etwas in meinem Inneren deutet darauf hin. Sie wird unter allen Umständen erfahren haben, daß das Regiment morgen marschiert — und wird das möglichste daran setzen, mir wenigstens einen Scheideblick spenden zu können.“

Ich hatte mich schon gewöhnt, auf derlei Reden kein Gewicht mehr zu legen. Ich bestärkte ihn weder in seinen Voraussetzungen, noch entmutigte ich ihn; ich hörte mit einem gewissen teilnahmsvollen Schweigen zu, das er sich auslegen mochte, wie er wollte. Übrigens hatte er selbst seine frühere Empfindlichkeit und Reizbarkeit verloren; er war weich und hingebend geworden. Es war ihm offenbar nur mehr darum zu tun, jemanden zu haben, dem er seine Gedanken und Gefühle aussprechen konnte, unbekümmert, ob man zustimme oder nicht.

Es wurden drei kleine Stücke gegeben. Während des ersten blieb die Loge leer; bei Beginn des zweiten aber — ich traute kaum meinen Augen — erschien wirklich die Prinzessin. Und zwar ganz schwarz gekleidet — und allein. Das heißt, so gut wie allein. Denn die Dame, welche neben ihr Platz nahm, war ohne Zweifel ein Gesellschaftsfräulein oder ähnliches.

Burda stieß mich leicht an; denn sagen konnte er nichts in dem Gedränge, das uns umgab.

Ich blickte nach der Prinzessin. Sie sah auffallend bleich und angegriffen aus. In der Hand hielt sie einen kleinen Veilchenstrauß, welchen sie von Zeit zu Zeit, den Duft einatmend, nahe vor das Antlitz brachte.

Nachdem das Stück zu Ende gegangen war, erhob sie sich mit allen Zeichen der Ermüdung und verschwand samt ihrer Begleiterin.

Da jetzt in der Zwischenpause um uns her einige Bewegung entstand, flüsterte mir Burda zu: „Ich glaube, man ist fort. Wir wollen noch den Beginn des letzten Stückes abwarten, dann gehen wir auch.“

Wir schoben uns, um später keine Störung zu verursachen, näher dem Ausgange zu, und da die Loge wirklich leer blieb, entfernten wir uns schon nach den ersten Szenen, die nun auf der Bühne folgten.

Nachdem wir unsere Mäntel genommen hatten, blieb Burda im leeren Foyer stehen. „Nun, habe ich richtig geahnt?“

Ich wußte nicht, was ich erwidern sollte.

„Man sah, wie leidend sie noch immer ist“, fuhr er fort. „Welche Überwindung muß es ihr gekostet haben, das Theater zu besuchen. Und was sagst du dazu, daß sie in Trauer erschienen ist?“

„Das kann ein Zufall sein“, sagte ich, fast zornig gegen eine Annahme kämpfend, die, ich muß es gestehen, unwillkürlich in mir selbst aufgetaucht war. „Vielleicht ein entfernter Todesfall in der Familie — oder eine Hoftrauer, deren Ansage uns nicht mehr zugekommen ist.“

„Möglich“, warf er leicht hin, meiner Meinung sorgfältig ausweichend. „Aber was ist das?“ fuhr er fort, indem er mit der Hand seine linke Brustseite betastete. Dann knöpfte er rasch seinen Mantel auf und zog aus der inwendig angebrachten Tasche einen Veilchenstrauß hervor, den er anfänglich selbst mit ungläubiger Überraschung betrachtete. Endlich aber richtete er sich hoch empor und sagte, indem er mir die Blumen entgegenhielt, sehr ernst: „Lieber Freund, ich rede jetzt nichts mehr. Du hast, dessen bin ich sicher, diese Veilchen in der Hand der Prinzessin gesehen — und nun finde ich sie in meiner Brusttasche. Leb’ wohl! Ich darf dich nicht länger deinen Angehörigen, von welchen du wohl noch Abschied wirst nehmen wollen, entziehen und danke dir für deine Begleitung.“ Damit reichte er mir die Hand und ging.

Ich war betroffen und verwirrt. Sollten diese Veilchen wirklich ...? Doch nein! Es war ein Strauß wie jeder andere von den vielen hunderten, welche um diese Jahreszeit an allen Straßenecken feilgeboten wurden. Mußte es also gerade derjenige sein, den die Prinzessin ...

Dem will ich auf den Grund kommen, sagte ich zu mir selbst und kehrte nach einigen Schritten, die ich schon auf die Straße hinausgetan, wieder um, um mich in die Garderobe zu begeben. Der eine von den beiden Wärtern, ein schmächtiges, grauhaariges Männchen, das gewöhnlich die Offiziere zu bedienen pflegte, war eben auf seinem Stuhl sanft eingenickt. Bei meinem Erscheinen fuhr er empor.

Ich trat vertraulich auf ihn zu und fragte:

„Erinnern Sie sich des Offiziers, der gerade vorhin mit mir wegging?“

Der Alte sah mich immer noch etwas schlaftrunken an; dann rief er: „O gewiß! Wie sollt’ ich nicht? Der große Herr Leutnant, den kenn’ ich sehr gut.“

Ich hatte dies erwartet. Denn Burda, wenn auch im allgemeinen sehr haushälterisch, liebte es doch, sich solchen Leuten gegenüber äußerst freigebig zu erweisen.

„Nun also, dann können Sie mir vielleicht auch sagen, auf welche Art ein Veilchenbukett in die Manteltasche des Herrn Leutnant gekommen ist?“

„Veilchenbukett? In die Tasche des Herrn Leutnant!?“ rief der Alte und schlug fast die Hände über den Kopf zusammen. Dann wühlte er verzweifelt in den Militärmänteln, welche dicht übereinander an der Wand des schmalen Raumes hingen. „Richtig! Richtig!“ stöhnte er; „da hab’ ich eine schöne Konfusion gemacht!“

„Wieso?“

„Nun sehen Sie: das Bukett war von einer Dame im zweiten Parterre — nicht mehr jung — aber interessant, sehr interessant. Sie hatte mich gebeten, es einem Hauptmann vom Regiment Alexander — Sie kennen ihn vielleicht — den mit dem ungeheuren Schnurrbart — in die Tasche zu praktizieren. Nun hat er auch solche Aufschläge — wenn auch mehr orangegelb — aber so bei Nacht — und der Mantel des Herrn Leutnant hing gleich neben dem seinen — und da — —“ er vollendete nicht und machte nur bezeichnende Gebärden des Verwechselns.

„Nun, nun,“ sagte ich, „nehmen Sie die Sache nicht so tragisch! Es braucht ja weder der Hauptmann, noch die interessante Dame davon zu erfahren. Und sollte man Sie wirklich zur Rede stellen, so können Sie Ihr Versehen ruhig eingestehen; es war ja kein Verbrechen. Nehmen Sie dies zu einstweiligem Trost.“

Er empfing das Gereichte mit einem devoten Knix, zeigte aber nichtsdestoweniger immer noch große Unruhe.

Das also war herausgebracht. Aber wie stand es mit der schwarzen Kleidung? Gewiß ebenso, wie damals mit der gelben Toilette, die man offenbar ganz zufällig gewählt, da man sich in der Absicht, nach dem Theater mit dem Fürsten eine Gesellschaft zu besuchen, anders gekleidet hatte als die Schwestern. So dachte ich, als ich mich wieder auf der Straße befand. Da durchzuckte es mich. Die Prinzessin hatte das Burgtheater besucht — wie nun, wenn die beiden andern sich in der Oper befänden, wo eben italienische Stagione war und die Medori ihre Triumphe feierte? Da müßte sich zeigen, was es mit der Trauer auf sich habe!

Es war noch nicht allzuspät, und so eilte ich in das andere Theater hinüber. Man gab Verdis Ernani. Das Haus war überfüllt; die Türen des Parterres standen zu beiden Seiten offen, um auf dem Gange für diejenigen Raum zu schaffen, welche, um wenigstens zu hören, auf das Sehen verzichteten. Ich versuchte mich durchzudrängen, unbekümmert darum, daß meine Rücksichtslosigkeit Zeichen der Mißbilligung hervorrief. Indes konnte ich nicht weit gelangen. Die Bühne, sowie die rechte Seite des Theaters blieben mir durchaus verschlossen, nur die linke konnte ich ins Auge fassen. Dort aber, in einer kleinen Proszeniumsloge, saßen auch die zwei Prinzessinnen in Gesellschaft jener älteren Dame, die mit ihnen auf dem Hofball gewesen — und zwar alle schwarz gekleidet. Meine Vermutung hatte mich also nicht getäuscht: eine Familientrauer, wenn auch um kein nahes Mitglied, sonst würde man wohl das Theater gar nicht besucht haben. Ich war zufriedengestellt und entfernte mich, ohne auf den Todesgesang Ernanis zu achten, der jetzt hinter meinem Rücken stürmischen Applaus entfesselte.

Also auch hierüber befand ich mich nun im klaren und dachte nur noch, während ich meines Weges ging, darüber nach, was die Prinzessin ins Burgtheater geführt haben mochte? Ganz einfach der Umstand, daß für sie in jener Proszeniumsloge kein Platz gewesen. Oder noch wahrscheinlicher: sie wollte nach längerer Krankheit zum erstenmal wieder das Theater besuchen und hatte ein kleines, heiteres Stück, das sie vielleicht besonders gerne sah, einer lärmenden Oper vorgezogen. Der letzte Faden von Burdas Hirngespinst zerflatterte. Und dennoch konnte ich diesmal nicht über ihn lächeln. Vielmehr überkam mich eine tiefernste, fast traurige Stimmung. Mußte ich mir doch sagen, daß, von seinem Standpunkt aus betrachtet, in allen diesen Zufällen ein Schein der Absichtlichkeit lag; ich selbst war ja einen Augenblick wieder an meinen Überzeugungen irre geworden. Es sah fast aus, als hätte sich das Schicksal vorgesetzt, mit ihm ein grausames Spiel zu treiben. — —

Am folgenden Tage, morgens acht Uhr, marschierten wir ab. Als wir die Franzensbrücke überschritten hatten und uns dem Bahnhofe näherten, stauten sich am Ende der Jägerzeile einige Wagen, von der vorüberziehenden Truppe aufgehalten. Jetzt rollte auch ein Fiaker heran, der rasch seine Pferde zum Stehen brachte. So viel man bemerken konnte — auf einer Seite war der Vorhang zur Hälfte herabgelassen — saß in dem eleganten Coupé eine dunkel gekleidete Dame. Ich sah, wie Burda, der nicht weit vor mir in den Reihen dahinschritt, plötzlich zusammenzuckte, dann gegen alle Vorschrift heraustrat und sich gegen den Fiaker umwendete. Wie? Sollte er am Ende glauben, daß die Prinzessin hierher gefahren kam, um ihn noch einmal zu sehen? Gewiß, das war seine Meinung. Immerhin! Mochte er sich noch an dieser Täuschung erfreuen, es ist ohnehin die letzte. Aber es war anders beschlossen.

VI.

Das Regiment hatte die Kantonierungs-Stationen in Böhmen bezogen. Der Stab befand sich mit einem Bataillon in einer ansehnlichen Kreisstadt, alles übrige war in größeren oder kleineren Ortschaften verteilt. Die Kompagnie, bei welcher Burda — der mittlerweile zum Oberleutnant vorgerückt war — und ich standen, hatte einen Marktflecken in der Nähe einer Bahnstation zugewiesen erhalten. Die Gegend war nicht ohne Anmut. Wohlbebaute Felder, saftige Wiesen wechselten mit sanften, schön bewaldeten Höhen ab. Auch war ein großes, gut gehaltenes Wirtshaus vorhanden, wo wir beide — den Hauptmann hatte der Bürgermeister in Quartier genommen — ein ganz behagliches Unterkommen fanden. Am äußersten Ende des Fleckens führte, nach der Seite abzweigend, eine stattliche Lindenallee zu einem kleinen Schlosse empor, das ganz wie ein mittelalterliches Kastell aussah. Die Ringmauer und der runde, aus mächtigen Quadern aufgeführte Turm, der in einer weiten Plattform endigte, stammten gewiß aus jener Zeit und waren mit sichtlicher Sorgfalt wohl erhalten worden; auch alles später Hinzugebaute zeigte sich den Resten der Vergangenheit möglichst angepaßt. Dieses Schloß gehörte der reich begüterten gräflichen Familie M... und wurde früher nur bei herbstlichen Jagdausflügen benützt; jetzt aber war es von einem jungen Paare bewohnt. Ein jüngerer Sohn des Hauses hatte sich nämlich im Laufe des Winters vermählt und es einer Hochzeitsreise vorgezogen, mit seiner Gattin die Honigmonde in dieser ländlichen Zurückgezogenheit zu verbringen. Man erzählte allerlei von dem abgeschlossenen, menschenscheuen Leben der Neuvermählten. In der ersten Zeit habe man sie gar nicht zu Gesicht bekommen; erst jetzt, da besseres Wetter eingetreten, könne man sie hin und wieder zu Pferd oder zu Wagen sehen, jedoch immer vereint, wie unzertrennlich, und es wurde sogar behauptet, daß die junge Gräfin, amazonenhaft geschürzt, ihren Gatten auf jedem seiner Birschgänge begleite. An uns selbst waren die beiden, als eben eine Kompagnieübung stattfand, in einem leichten Jagdwagen, der mit vier kleinen, von der Gräfin selbst gelenkten Schecken bespannt war, vorübergefahren. Burda hatte bei dieser Gelegenheit die Bemerkung hingeworfen, daß es eigentlich der Anstand erfordere, im Schlosse eine Visite abzustatten — und zwar in corpore. Unser Hauptmann aber, eine etwas derbe Natur, hatte darauf erwidert, das würde so aussehen, als wolle man sich aufdrängen. Man dürfe sich um diese Aristokraten nicht eher kümmern, als bis sie selbst von den kaiserlichen Offizieren, die wir seien, Notiz genommen.

Auf Burda jedoch übte das Schloß immer stärkere Anziehungskraft aus. Er umschritt es bei jedem unserer gemeinsamen Spaziergänge in immer engeren Kreisen und liebte es, von einer nahen Anhöhe herab auf die geheimnisvollen Baumwipfel des Parkes zu blicken, der sich, nicht allzu ausgedehnt, dem Walde entgegenzog.

„Ach!“ rief er eines Abends, als eben die Sonne versank und ihr letztes Gold am Horizont aufflammen ließ, „ach, welch ein Glück, mit der Königin seines Herzens in so stolzer Abgeschiedenheit hausen zu können!“ Dann nach einer Pause und mit dem Arme einen Kreis in der Luft beschreibend: „Wer weiß, ob nicht einer meiner Vorfahren einst über diesen Boden geherrscht hat? Aber was nützt es mir?“ schloß er achselzuckend mit einem leichten Seufzer.

Ein Schweigen trat ein.

„Aber weißt du,“ sagte er plötzlich, indem er wieder das Schloß ins Auge faßte, „daß eines Tages die Prinzessin hierher kommen könnte?“

Ich sah ihn so überrascht an, daß es ihn, wäre er noch der frühere gewesen, tief würde verletzt haben. Aber nun achtete er kaum darauf und fuhr gewissermaßen im Selbstgespräch fort: „Wenn ich nicht irre, so sind die M... mit den L... irgendwie verschwägert. Und da wäre es denn auch — sobald man meinen Aufenthaltsort erfahren hat — nicht allzu schwer, einen Besuch ins Werk zu setzen. Jedenfalls leichter, als damals allein in der Loge zu erscheinen — und sich morgens darauf an der Nordbahn zu zeigen.“

Ich hatte mich inzwischen gefaßt und erinnert, daß ich über nichts mehr zu staunen habe.

„Je nun,“ sagte ich, „es ist immerhin möglich.“

Am folgenden Nachmittag saßen wir auf der Bank vor dem Wirtshause, rauchten unsere Tschibuke und blickten dabei, ziemlich gelangweilt, auf eine große, teichähnliche Pfütze, die sich auf dem Marktplatze ausbreitete, und an deren Rande sich eine Schar schneeweißer Gänse ruhig sonnte.

Plötzlich vernahm man das Geräusch nahender Wagen, und bald darauf kamen zwei Gefährte in Sicht. In dem ersten, einem geräumigen Landauer, saß das gräfliche Paar tief zurückgelehnt, während die leichte Kalesche, die knapp dahinter fuhr, sich leer zeigte. Man jagte so rasch vorbei, daß das harmlose Geflügel, wild aufgescheucht, mit lautem Kreischen und Schnattern in die Pfütze hinein flüchtete.

„Da wird jemand von der Bahn geholt“, sagte Burda, seine Uhr hervorziehend. „Es ist jetzt halb drei, in einer Viertelstunde kommt der Zug. Ich bin neugierig, wer da eintreffen wird.“

Wir blieben sitzen. Nach einer Weile vernahmen wir den fernen Signalpfiff, das Näherbrausen des Zuges — und es dauerte nicht lange, so kamen die beiden Wagen wieder zurückgefahren. Neben der Gräfin saß jetzt eine junge Dame, in welcher, obgleich sie das Antlitz mit einem blauen Reiseschleier verhüllt hatte, sofort die Prinzessin zu erkennen war. Der Graf nahm mit einer anderen Dame — derjenigen, welche damals mit in der Loge erschienen war — den Vordersitz ein. In der Kalesche hatte eine hübsche Zofe Platz genommen, die, von Koffern und Schachteln umgeben, mit lebhaften Augen ziemlich herausfordernd um sich blickte.

Burda hatte den ausgebrannten Tschibuk sinken lassen. Jetzt erhob er sich und ging, ohne ein Wort zu sagen, in sein Zimmer hinauf. Ich war darüber sehr froh, denn daß die Prinzessin nun in der Tat erschienen, hatte mich derart aus der Fassung gebracht, daß ich in Verlegenheit gewesen wäre, irgend eine Meinung zu äußern.

„Das ist denn doch höchst merkwürdig!“ sagte ich zu mir selbst, als ich jetzt allein war und mich anschickte, einer mir obliegenden dienstlichen Verrichtung nachzukommen. Dabei ging mir dieser neue Zufall — denn was anderes konnte es sein? — beständig im Kopfe herum. Die Sache bekam nunmehr, ganz objektiv betrachtet, ein eigentümliches Interesse, und ich war neugierig, was aus dieser unvermuteten Komplikation entstehen würde.

Als ich später wieder dem Wirtshause zuschritt, sah ich, wie eben ein wohlgenährter Lakai mit glattrasiertem Doppelkinn und einer leichten Mütze auf dem Kopfe sich näherte. Er kam offenbar aus dem Schlosse und trat jetzt in die Schankstube, deren Fenster offen standen, so daß ich vernehmen konnte, wie er von einigen Gästen, die drinnen beim Bier saßen, laut begrüßt wurde.

„Ah, Herr Georg!“ rief einer. „Lassen Sie sich auch wieder einmal sehen!“

Ich konnte nicht verstehen, was der also Empfangene erwiderte. Ich vernahm eigentlich nur ein hastiges Schlucken und Gurgeln, dann wurde ein Glas auf den Schenktisch gestoßen.

„Sie haben ja Besuch bekommen!“ hieß es weiter.

Nunmehr hörte ich, wie der Lakai sagte: „Freilich. Die Prinzessin L..., die beste Freundin unserer Gräfin. Schon vor sechs Wochen hätte sie kommen sollen, um dann später mit uns nach Italien zu reisen. Statt dessen ist sie krank geworden. Wer weiß, ob jetzt noch etwas aus der Reise wird. Ein Glück wär’s, denn es ist nicht mehr auszuhalten in dem Nest!“

Nach diesem für die Eingeborenen nicht sehr schmeichelhaften Ausspruch stürzte er, wie ich, ein wenig durchs Fenster blickend, bemerken konnte, ein zweites Glas hinunter und suchte nach kleiner Münze, um seine Zeche zu bezahlen.

„Sie wollen schon wieder fort!?“

„Ich muß zur Bahn laufen und telegraphieren lassen. Es ist eine Schachtel im Coupé vergessen worden. So geht’s, wenn man keine männliche Dienerschaft mitnimmt!“

Und ohne Gruß eilte er hinaus.

So also standen die Dinge. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, welche Genugtuung Burda beim Anblick der Prinzessin mußte empfunden haben, welche Hoffnungen und Erwartungen er nunmehr an ihren hiesigen Aufenthalt knüpfte ...

Aber diese Hoffnungen und Erwartungen, die der Zufall wachgerufen, sollten von diesem selbst sofort wieder vernichtet werden. Denn die unentschiedene, ratlose Haltung, welche die Regierung den fortschreitenden Ereignissen gegenüber noch immer bekundete, hatte einen beständigen Wechsel der militärischen Dispositionen zur Folge — und so bekam auch unser Regiment noch am selben Abend den Befehl, die Standquartiere sofort zu verlassen und nach Prag in Garnison abzurücken.

Burda, nachdem er diese Neuigkeit vernommen, lachte bitter auf.

„Fatales Geschick!“ rief er aus. „Jetzt, nachdem die Prinzessin auch diesen Effort unternommen — jetzt muß — — es ist wirklich unglaublich! Wie würde sich jetzt alles entwickelt haben! Wir hätten Einladungen nach dem Schlosse erhalten, sei es nun zu einer Jagd, zu einem Diner — oder was weiß ich! — Übrigens,“ setzte er nach einigem Nachsinnen hinzu, „Prag ist so übel nicht — und der Verlust nicht allzu groß; denn ich bin überzeugt, daß auch sie in einiger Zeit dort erscheinen wird.“

Dieser Behauptung zeigte ich mich doch noch nicht gewachsen; es war mir, als befände ich mich einem Wahnsinnigen gegenüber.

Er bemerkte nicht, wie ich zusammenzuckte, und fuhr fort: „Prag ist der Sitz des ganzen böhmischen Adels. Man macht also eben wieder irgend einen Besuch. Überdies wird es mir jetzt immer deutlicher, daß die Prinzessin bereits in Kenntnis von der Angelegenheit ist, die ich, wie du weißt, verfolge; sie würde sonst nicht so geradeaus vorgehen.“

Nach diesen Worten rief er seinen Burschen und befahl ihm, zu packen, welches Geschäft er mit verschränkten Armen gebieterisch überwachte.

Es war ein heller, taufrischer Maimorgen, als wir abzogen und Burda einen letzten Blick nach den Fenstern des Schlosses emporsendete, wo noch alles in tiefem Schlafe zu liegen schien.

VII.

Prag war zu jener Zeit ein sehr angenehmer Aufenthaltsort. Die nationalen Sonderbestrebungen waren noch nicht zu ausgesprochenen Konflikten gediehen; sie gärten und zuckten, dem unbefangenen Blicke verborgen, noch unter der Oberfläche, und wenn auch die Stadt, infolge des slawischen Grundelementes ihrer Bevölkerung, keine deutsche genannt werden konnte, so war sie doch im besten Sinne des Wortes international. Zwischen Wien und Dresden die Mitte haltend, wurde sie, zumal im Sommer, wo ein großer Zug nach den böhmischen Bädern stattfand, ob ihrer prachtvollen Lage und ihrer alten Baudenkmale von vielen Fremden besucht, wozu gute Hotels, ein sehr annehmbares Theater und sonstige Ressourcen wesentlich beitrugen. Kurz, man konnte in Prag wie in einer Großstadt leben, und doch waren alle Bedingungen einfacher und weniger kostspielig als anderswo.

Dieser Umstand kam Burda bei unserem Eintreffen sehr zustatten. Mit großer Befriedigung hatte er vernommen, daß die Offiziere nicht in der Kaserne untergebracht würden, daher es seine erste Sorge war, eine passende Wohnung zu suchen, die er auch bald gefunden hatte und welche er nunmehr allein bezog. Denn, sagte er zu mir, es ist jetzt vor allem geboten, ein anständiges „Home“ zu besitzen. Es könne sich mancherlei ereignen, und jedenfalls müsse er, wie die Dinge nun stünden, gewärtig sein, daß eines Tages irgend ein vertrauter Sendbote eintreffe, welchem gegenüber man sich in jeder Hinsicht „comme il faut“ zu erweisen habe. So trat er denn auch sofort mit einem Möbelverleiher in Verbindung, der ihn mit allem Nötigen versah; außerdem ließ er für seinen Burschen eine Livree anfertigen, welche der eines Leibjägers gleich kam.

Sich derart einrichtend, widerstrebte es ihm auch, seine Mahlzeiten in einer jener unscheinbaren Gastwirtschaften einzunehmen, auf welche wir anderen mehr oder minder angewiesen waren, und zog es vor, zwischen fünf und sechs Uhr im „Englischen Hof“ zu dinieren, was er sich insofern schon erlauben konnte, als er sodann auf ein Abendessen verzichtete. Dabei zog er sich mehr und mehr vom kameradschaftlichen Verkehre zurück, was zwar anfangs nicht besonders auffiel, da man von seiner Seite ein gewisses Sich-Abschließen von jeher gewohnt war. Nach und nach aber wurde man stutzig und fühlte sich umsomehr befremdet, als Burda nebstbei ein sehr hochmütiges Benehmen zu entfalten begann, was früher nicht seine Art war. Mich selbst behandelte er jetzt mit einer gewissen Herablassung, und ich empfand, daß er mich wie jeden anderen würde übersehen haben, wenn es ihm nicht ein Bedürfnis gewesen wäre, mich bei seinem Ideengange an der Seite zu behalten. Auch brauchte er jemanden, der für ihn, wenn er dienstlich verhindert war, ins Theater ging, um nachzusehen, ob die Prinzessin, deren Eintreffen er von Tag zu Tag erwartete, nicht in einer Loge auftauche.

Diese unerschütterliche Erwartung erfüllte sich selbstverständlich nicht; dafür aber geschah es, daß eine hochgestellte militärische Persönlichkeit, der Generaladjutant des Kaisers, in Prag eintraf und daselbst einen Tag verweilte. Es fügte sich, daß wir ihm, ohne noch von seiner Ankunft zu wissen, vor dem Hotel, in welchem er abgestiegen war, begegneten, wobei er unseren militärischen Gruß freundlichst erwiderte.

„Das war Graf G...!“ sagte Burda, als wir den General hinter uns hatten, ganz aufgeregt. „Was ihn wohl hierher geführt haben mag?“

„Wer kann das wissen? Vielleicht geht er nach Karlsbad; er leidet ja bekanntlich an der Leber.“

„Möglich. Aber hast du bemerkt, wie eindringlich er mich ins Auge gefaßt hat?“

„Das habe ich nicht wahrgenommen.“

„Aber ich“, sagte Burda kurz und verabschiedete sich, da wir eben bei der Gasse angelangt waren, in der er wohnte.

Am Abend besuchte der Generaladjutant das Theater, wo wir ihn mit dem Landeskommandierenden in dessen Loge sitzen sahen. Man gab die Oper Martha, die der Graf wohl oft genug gehört haben mochte. Er schenkte auch der Vorstellung nur wenig Aufmerksamkeit, sprach eifrig mit dem Kommandierenden und blickte dabei manchmal durch das Opernglas nach den Offizieren im Parterre; eine Art von Musterung, welche durchaus in der Natur der Sache lag.

Beim Nachhausegehen sagte Burda: „Gib acht, es scheint etwas im Zuge zu sein. Er ist offenbar nicht ohne besondere Absicht nach Prag gekommen. Und daß man Martha gegeben hat, ist ebenfalls sehr bezeichnend.“

„Wieso?“ fragte ich.

„Denke nur ein wenig über das Sujet nach, und du wirst dahinter gelangen.“

Nun ließ sich, wenn man auf die Hirngespinste Burdas einging, allerdings eine gewisse Ähnlichkeit seiner Lage mit der Lionels herausfinden — daß er aber in der Vorführung der Oper geheimnisvolle Absichtlichkeit vermutete, machte mir den beklemmendsten Eindruck: ich begann ernstlich für seinen Verstand zu fürchten. Dabei befand ich mich in der ratlosen Lage eines Menschen, der einen zweiten auf dem besten Wege sieht, irrsinnig zu werden, und doch niemanden davon in Kenntnis setzen darf. Denn wie hätte ich den Seelenzustand Burdas samt allen Einzelheiten, die ihn hervorgerufen, ohne die zwingendste Notwendigkeit preisgeben können? Ich überlegte schon, ob ich nicht diesen Anlaß benützen und ihm eindringliche Vorstellungen machen sollte, aber wir waren bereits in der Nähe seiner Wohnung angelangt und so trennten wir uns schweigend.

Zwei Wochen waren seitdem vergangen, als eines Tages mittels Regimentsbefehls verlautbart wurde, Seine Majestät habe mit allerhöchster Entschließung die Errichtung eines Adjutantenkorps angeordnet. Dies war dahin zu verstehen, daß sämtliche Offiziere, welche bei hohen Persönlichkeiten oder bei Generalaten in Verwendung standen, einen Körper für sich zu bilden haben und eine besondere Adjustierung erhalten sollten. Am Schlusse erging eine Aufforderung, sich zu melden, an diejenigen, welche, bei nachzuweisender Befähigung, die Absicht hätten, in dieses Korps zu treten.

„Nun?“ fragte Burda, mit welchem ich im Kompagniedienstzimmer gemeinschaftlich den Befehl gelesen hatte.

„Das kümmert mich wenig“, erwiderte ich. „Denn ich habe durchaus nicht die Absicht, mich zum Eintritt zu melden. Auch bin ich nicht in der Lage, mir ein Pferd zu halten.“

„Darum handelt es sich nicht“, entgegnete er scharf. „Ich frage dich, ob es dir nun klar ist, weshalb der Generaladjutant hier erschienen ist?“

Ich sah ihn an.

„Er ist gekommen,“ fuhr er im Tone vollster Überzeugung fort, „um Erkundigungen über meine Person einzuziehen, mich in Augenschein zu nehmen — und dann zu veranlassen, was nunmehr erfolgt ist. Man hat offenbar die Absicht, mich in unauffälliger Weise nach Wien und in die nächste Nähe hoher und höchster Persönlichkeiten zu bringen.“

„Wie?“ rief ich aus. „Du glaubst, daß man deiner Person wegen ein eigenes Korps ins Leben gerufen habe —“

„Nun, wenn auch nicht gerade das,“ erwiderte er, zum Glück noch das Ungeheuerliche seiner Voraussetzung fühlend, „aber die Aufforderung wurde ganz gewiß mit Hinsicht auf mich erlassen.“

„Wozu hätte es einer bedurft? Man könnte dich ja ohne weiteres sofort an eine solche Stelle berufen!“

„Allerdings. Aber ich habe dir schon gesagt, daß man jeden in die Augen fallenden Schritt vermeiden will, was auch der einzige Grund ist, der die Prinzessin — welche offenbar ihren Vater bereits gewonnen hat — von Prag fernhält. Denke dir nur, welches Aufsehen es erregen müßte, wenn man mich so Knall und Fall nach Wien beriefe.“

Das war zu viel! Ich konnte nicht länger an mich halten und beschwor ihn, sich keinen so weitgehenden Täuschungen hinzugeben, wobei ich mich freilich, um nicht das Kind mit dem Bade zu verschütten, bloß an den vorliegenden Fall hielt. Aber meine Vorstellungen blieben fruchtlos — ja noch mehr: er wurde mir ob meiner Einwürfe nicht einmal böse. Und schon am nächsten Tage, nachdem er sein Gesuch an den Mann gebracht, begab er sich zu dem hervorragendsten Militärschneider Prags und erkundigte sich, ob bereits ein Schema der Uniformierung für das neue Korps vorliege. Und als man ihm in der Tat ein solches zeigte, war es nur die Furcht, eine Indiskretion zu begehen, was ihn abhielt, sofort Maß nehmen und die betreffenden Kleidungsstücke herstellen zu lassen.

VIII.

Der Sommer neigte sich dem Ende zu, und die Herbstmanöver standen in Aussicht. Burda meinte, er würde diese wohl hier nicht mehr mitmachen, da bis dahin seine Einteilung in das neue Korps erfolgt sein müsse. Es wären ohnehin schon sechs Wochen seit dem Tage der Aufforderung verflossen, und er könne sich nur wundern, daß noch keine Entscheidung herabgelangt sei. Er zeigte sich daher äußerst betroffen, als nach einiger Zeit verlautbart wurde, daß der Oberleutnant von H..., welcher der Sohn eines Feldmarschall-Leutnants und der einzige Offizier des Regiments war, der sich außer Burda gemeldet hatte, in das Korps berufen worden sei, und zwar mit dienstlicher Verwendung beim Generalkommando in Lemberg. Aber er übertäubte diese Betroffenheit sofort vor sich selbst, indem er ausrief: „Nun ja, nach Lemberg! Mich hat man für Wien ins Auge gefaßt, und es wird sich dort bis jetzt keine offene Stelle ergeben haben.“

Aber noch am selben Tage wurde ihm, als wir gerade mit einigen anderen Offizieren im Kasernenhofe standen, von einer Ordonnanz ein Dienstschreiben überbracht, das er, beiseite tretend, hastig aufriß, erbleichend las und dann zu sich steckte.

Sobald wir allein waren, sagte er mit heftiger, aber tonloser Stimme: „Mein Gesuch ist abschlägig beschieden.“

Das war vorauszusehen gewesen. Denn es mochten im ganzen doch viele Gesuche eingereicht worden sein, und da hatten wohl wie gewöhnlich Nepotismus und Protektion den Ausschlag gegeben.

„Dahinter steckt eine Intrige!“ fuhr Burda fort.

„Eine Intrige?“

„Gewiß. Hatte ich doch gleich Unheil geahnt, als ich den Generaladjutanten in der Loge mit dem Kommandierenden verhandeln sah!“

„Wieso?“

„Ist der Kommandierende nicht ein Graf Z...? Und gehören die Z... nicht zu jenen Familien, welche, wie ich dir sagte, gewissermaßen in die Rechte der ehemaligen Grafen Burda getreten sind? Was Wunder also, daß man, da der Generaladjutant vertrauliche Mitteilungen gemacht haben wird, später alle möglichen Machinationen ins Werk gesetzt hat? Aber ich werde dem Generaladjutanten schreiben!“

„Um Gottes willen!“ rief ich aus. „Bedenke doch, was du tun willst! Wie kannst du denn nur mit völliger Gewißheit annehmen, daß sich auch alles so verhält, wie es dir erscheint? Hast du denn überhaupt hinsichtlich jener Angelegenheit schon etwas erfahren?“

„Nein, noch immer nicht. Und erst jetzt fällt es mir auf, daß bereits sieben Monate verstrichen sind, seit ich die Papiere nach Brünn gesendet habe. Ich werde sofort urgieren.“

„Das tu,“ sagte ich, froh, einen Weg zur Ablenkung gefunden zu haben. „Und versprich mir, daß du nichts unternimmst, bis du Antwort erhalten hast. Und wenn sich dann zeigt, daß dein Verdacht gegründet ist — —“

Er sann einen Augenblick nach.

„Du hast recht; ich muß meiner Sache vollkommen gewiß sein. Aber das sage ich dir, lange warte ich nicht. Ich werde auf sofortige Antwort dringen, und wenn diese nach Ablauf einer Woche nicht erfolgt ist, so schreibe ich dem Grafen G... — und möglicherweise auch dem Fürsten. Denn wer weiß, was man diesem alles über mich hinterbracht hat — und wie würde ich dann in ihren Augen erscheinen, wenn ich es an mir haften ließe.“

Damit ging er und überantwortete mich völliger Ratlosigkeit. Denn nunmehr schien es zum äußersten kommen zu wollen. Wenn er sich zu einem tollen Schritt hinreißen ließ — war er verloren!

Schon in einigen Tagen kam er zu mir in die Wohnung gestürzt.

„Da hast du den Beweis“, sagte er und hielt mir einen Brief entgegen. „Schon aus dem insolenten Tone dieses Schreibens wirst du erkennen, wie sehr ich berechtigt war, Verdacht zu schöpfen.“

Ich entfaltete den Brief und las ihn. Am Eingang entschuldigte sich der Schreiber, daß er zu seinem Bedauern nicht in der Lage sei, Günstiges berichten zu können. Vor allem hätten sich jene Anhaltspunkte, die er bei den „von Burda“ in Sachsen zu finden gehofft, durchaus hinfällig erwiesen. Denn diese angebliche „erste Linie“ leite ihren Stammbaum nicht allzu weit zurück — und zwar bis zu einem sicheren Daniel Burda, der zu Anfang dieses Jahrhunderts als kurfürstlicher Sattelknecht aufgeführt erscheine. Nun müsse dies allerdings eine Hofcharge gewesen sein; allein wie es sich herausgestellt habe, sei besagter Daniel Burda, der Sohn eines einfachen Posthalters auf dem platten Lande, erst infolge jener Eigenschaft in den Adelsstand erhoben worden. Und was nun die „zweite Linie“ beträfe, so wisse der Herr Oberleutnant am besten selbst, daß bereits das möglichste versucht worden sei, den allein maßgebenden Punkt aufzuhellen. Dies würde aber für alle Zeit um so schwieriger bleiben, als in Österreich, vornehmlich aber in Galizien, Böhmen und Mähren, eine ganz unübersehbare Anzahl von Personen existiere, welche den Namen „Burda“ führen und dabei in den untergeordnetsten Lebensstellungen sich befänden (Handwerker, Fuhrleute und dergleichen). Schreiber könne also nur mit bestem Wissen und Gewissen den Rat erteilen, diese ganz und gar in der Luft schwebende Angelegenheit endgültig fallen zu lassen.

„Dieser Mensch ist offenbar bestochen!“ schrie Burda, nachdem ich zu Ende gelesen hatte. „Aber ich werde das nicht so hinnehmen!“

„Was willst du denn tun?“

„Ich werde dem Kommandierenden eine Herausforderung zugehen lassen!“

„Bist du wahnsinnig?“ rief ich aus. „Oder fühlst du wenigstens nicht, daß dich ein solches Beginnen aller Welt gegenüber in den Verdacht des Wahnsinns bringen müßte? Und womit könntest du die Herausforderung begründen — angenommen selbst, daß dieser Brief von seiten des Kommandierenden inspiriert worden wäre? Wird er es zugestehen? Wird er überhaupt eine Herausforderung annehmen?“

„Er muß! Er ist Offizier wie ich und du!“

„Allerdings. Aber es ist dir doch bekannt, daß hohe Vorgesetzte derlei Zumutungen als schwere Subordinationsvergehen behandeln — und bestrafen lassen. Es könnte dir deine Charge kosten!“

„Oho!“ kreischte er. „Das möcht’ ich denn doch sehen! — Aber du kannst recht haben“, fuhr er nachdenklich fort. „Man darf ihm immerhin zumuten, daß er sich hinter seine Stellung verschanzt. Da muß man ihm denn indirekt zu Leibe gehen und sich an seinen Neffen halten.“

„An seinen Neffen?“

„Nun ja! Du kennst doch den knabenhaften Ulanenrittmeister mit dem Molkengesicht, dessen Schwadron seit einigen Wochen auf Feuerpikett hier ist?“

„Allerdings — vom Sehen —“

„Dann wirst du auch bemerkt haben, wie arrogant der Bursche ist. Er dankt kaum, wenn man ihn grüßt.“

„Ich glaube, du tust ihm unrecht“, erwiderte ich. „Ich halte ihn für einen ganz harmlosen Menschen. Seine Unart scheint mehr einer gewissen Verlegenheit zu entspringen.“

„Ach was!“ entgegnete Burda gereizt. „Ich weiß das besser. Und jetzt wird mir auch klar, weshalb man sich seit einiger Zeit im Englischen Hof am Kavalleristentische sehr sonderbar benimmt.“

Daran war etwas Wahres, und ich selbst hatte davon gehört. Denn im Regiment, woselbst man an Burda seit dessen Bestreben, in das Adjutantenkorps aufgenommen zu werden, eine immer schärfere Kritik übte, wurde teils mit Entrüstung, teils mit Schadenfreude behauptet, er sei auf dem besten Wege, sich öffentlich bloßzustellen. So hätten sich die Kavallerieoffiziere, welche im Englischen Hof sehr opulent zu dinieren pflegten, bereits über die Grandezza lustig gemacht, mit der er im Hotel erscheine und ein Kuvert zu mäßigem Preise samt einer kleinen Flasche Rotwein bestelle. Infolgedessen habe man ihm dort (natürlich ganz harmlos und ohne zu ahnen, welche besondere Anzüglichkeit damit verbunden war) auch den Stichelnamen „der verwunschene Prinz“ beigelegt.

Ich sagte daher jetzt nicht ohne Verlegenheit: „Das solltest du gar nicht beachten. Man weiß ja, daß die Herren ‚auf stolzen Rossen‘ uns bescheidene Fußgänger immer ein wenig von oben herab ansehen.“

„Nein, nein, das ist es nicht allein. Der Rittmeister hat offenbar durch seinen Onkel Wind bekommen — und bei Tisch allerlei über mich vorgebracht.“

„Das sind Einbildungen, lieber Freund.“

„Durchaus nicht. Ich weiß es jetzt bestimmt. Und du sollst dich selbst überzeugen; ich lade dich ein, heute mit mir zu speisen.“

Diese Einladung war mir natürlich sehr unerwünscht; da er aber darauf bestand, und ich überdies befürchten mußte, daß er sich in der Stimmung, in der er war, ohne meine Begleitung zu einem aufsehenerregenden Schritt könnte hinreißen lassen, so sagte ich schließlich zu.

Der Speisesaal im Hotel zum Englischen Hof wurde am späteren Nachmittag wenig besucht. Um ein Uhr mittags und sieben Uhr abends fand dort Wirtstafel statt, an welcher eine gemischte, zumeist aus Fremden bestehende Gesellschaft teilnahm, in den übrigen Stunden kamen nur selten Gäste. Regelmäßig aber zwischen vier und fünf Uhr speisten an einem langen, eigens für sie bereitgehaltenen Tische die Offiziere des Feuerpiketts samt anderen Kavalleristen, die sich in Prag aufhielten. Unter den letzteren befand sich auch ein reckenhafter Kürassierleutnant namens Schorff, welcher dem Generalstabe des Kommandierenden zugeteilt war, eigentlich jedoch nur bei gewissen Gelegenheiten als Galopin verwendet wurde, eine militärische Sinekure, die er sich, weiß Gott wie, mochte zu erobern gewußt haben. Man hieß ihn allgemein den „Amerikaner“, obgleich er in Deutschland geboren war; sein Vater aber sollte sich seinerzeit in den Minen Kaliforniens ein fabelhaftes Vermögen erworben haben. Andere behaupteten, dieser sei Spielpächter in Homburg gewesen. Gleichviel, der junge Baron Schorff — auch so wurde er, ohne es zu sein, genannt — erhielt von Hause wahre Unsummen Geldes, die er in auffallendster Weise verausgabte. Er hatte die schönsten und stärksten Reitpferde, einen prachtvollen Viererzug, hielt eine Loge im Theater, mehrere Mätressen und so weiter. Dabei war er ein Spieler und Raufbold ärgster Sorte, dem jedermann gern aus dem Wege ging; selbst die Frauen, die doch sonst von derlei Erscheinungen angezogen werden, wichen ihm mit einer Art von Entsetzen aus.

Es war etwas über fünf, als Burda und ich im Englischen Hof erschienen. Am Kavalleristentische hatte man bereits abgespeist; Kaffee und Likör wurden soeben serviert. Aber die Gesellschaft schien nicht Lust zu haben, ein fröhliches Gelage, das offenbar stattfand, deshalb abzubrechen. Man hatte noch Champagnergläser vor sich, welche von neuem gefüllt wurden. Dabei herrschte eine laute, ausgelassene Heiterkeit, dergestalt, daß unser Eintreten, sowie der Gruß, den wir darbrachten, nicht bemerkt — oder doch übersehen wurde.

Burda warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu. Dann näherte er sich dem Tische und rief: „Meine Herren, wir haben gegrüßt, und ich ersuche Sie, unseren Gruß in geziemender Weise zu erwidern.“

Die Gesellschaft hob die Köpfe und sah ihn überrascht an. Schorff aber, der mit dabei war, sprang auf, schnellte das Monokel, das er beständig im Auge trug, mit einem kunstvollen Ruck weit von sich und verbeugte sich in überaus grotesker Weise vor Burda, indem er in seiner rheinländischen Aussprache sagte: „Wir haben die Ehre, dem Herrn Oberleutnant unsere Reverenz zu machen.“

„Ich verbitte mir derlei Scherze, Herr Leutnant,“ entgegnete Burda mit absichtlicher Umgehung des kameradschaftlichen Du, „und mahne Sie an die Achtung, welche Sie Ihrem Vorgesetzten schuldig sind.“

„Was? Was ist das?“ rief Schorff, dessen breites, bartloses Gesicht sich purpurrot färbte, während er mit wieder eingeklemmtem Glase Burda herausfordernd ansah.

„Herr Rittmeister,“ sagte dieser, sich an den jungen Grafen Z... wendend, der obenan saß, „ich fordere Sie auf, Ihr Ansehen zu gebrauchen und dem Leutnant Schorff das Unziemliche seines Benehmens vorzuhalten.“

Der Rittmeister nahm eine säuerlich lächelnde Miene an und zupfte verlegen an den dünnen Härchen auf seiner Oberlippe. Schorff aber kehrte sich gegen ihn und sagte: „Haben Sie gehört, Graf? Sie sollen mir einen Verweis erteilen — aber sagen Sie lieber dem verwunschenen Prinzen, daß er sich in acht nehmen möge, ich könnte ihm sonst an die Hüfte greifen.“

Diese Worte erregten trotz der peinlichen Situation eine gewisse Heiterkeit; einige lachten sogar laut auf.

Burda war leichenfahl geworden.

„Das ist infam!“ kreischte er jetzt. „Sie benehmen sich samt und sonders wie Buben!“

Nun folgte eine unbeschreibliche Szene. Die Kavalleristen waren aufgesprungen, um sich auf Burda zu stürzen, der an seinen Säbel griff. Schorff langte mit verkehrter Hand nach einer Champagnerflasche, die im Eiskübel steckte — die ärgsten Tätlichkeiten, ein blutiges Gemetzel standen bevor.

Aber in diesem Augenblicke hatte ich auch die nötige Geistesgegenwart gefunden und trat dazwischen. „Meine Herren,“ rief ich, „ich bitte zu bedenken, wo wir uns befinden! Man wird bereits aufmerksam.“

Es war so. Ein Kellner, der eben hatte eintreten wollen, war mit offenem Munde in der Tür stehengeblieben. Hinter ihm erschien ein zweiter, ein dritter; auch vor den offenen Fenstern des ebenerdig gelegenen Saales hatten sich auf der Straße einige Neugierige angesammelt, um nach der Ursache des Lärmes zu forschen.

Das wirkte. Die Kavalleristen nahmen, wenn auch unwillig, ihre Plätze wieder ein.

„Jeder von uns weiß nunmehr, was zu geschehen hat,“ fuhr ich fort und legte eine Karte auf den Tisch. Burda, vor Aufregung am ganzen Leibe zitternd, tat desgleichen; hierauf ließen wir uns in einer entfernten Ecke des Saales nieder und befahlen unser Diner.

Drüben war finsteres Schweigen eingetreten, nur Schorff wollte sich noch immer nicht zufrieden geben und konnte in seinen wiederholten halblauten Wutausbrüchen nur mit Mühe beschwichtigt werden. Endlich erhob man sich und ging, ohne uns anzusehen.

„Das ist eine schöne Bescherung“, sagte ich nach einer Pause.

„Fürchtest du dich vielleicht?“ entgegnete Burda in scharfem Tone. Er war bereits vollkommen ruhig geworden, und eine eigentümliche Befriedigung leuchtete aus seinen grauen Augen.

„Ich fürchte für dich“, sagte ich ernst. „Du wirst dich nun mehrere Male hintereinander zu schlagen haben.“

„Je öfter, je besser! Das ist es gerade, was ich beabsichtigte!“

Ich konnte nicht umhin, ihn mit einiger Bewunderung anzublicken. Was er da sprach, war keineswegs Prahlerei. Es entsprang, das fühlte ich, wirklichem Mute, wenn auch vielleicht dem Mute des Don Quichotte, der es für sich allein mit ganzen Heeren aufnahm.

„Ja,“ fuhr Burda fort, indem er sich mit sehr gutem Appetit an das Gericht machte, das man uns eben vorgesetzt, „ja, es soll Aufsehen machen — es soll und wird eine cause célèbre werden!“

Ich verstand ihn. Er erwog, welchen Eindruck diese cause célèbre auf die Prinzessin machen würde — und da war er denn wieder glücklich auf dem alten Wege.

„Daran solltest du jetzt gar nicht denken“, warf ich ernüchtert ein. Und von einem plötzlichen Gedanken befallen, setzte ich hinzu: „Wer weiß übrigens, ob alles wirklich so kommt, wie wir voraussetzen.“

„Wieso? Wieso?“ fragte er hastig.

„Je nun, vielleicht beliebt es allen diesen Herren, sich hinter Schorff zu verschanzen — und ihn allein die ganze Sache austragen zu lassen.“

„Oho! Da habe ich auch ein Wort mitzusprechen!“

„Allerdings. Aber du wirst es nicht verhindern können, daß Schorff den Anfang macht.“

Er hob den Kopf und sah mich stirnrunzelnd an.

„Was willst du damit sagen?“

Ich schwieg, denn ich wagte nicht auszusprechen, daß Schorff ein sehr gefährlicher Gegner sei. „Je nun, er ist ein bekannter Raufbold,“ warf ich endlich leicht hin.

„Das mag er sein. Auch wir führen unsere Klinge. Fatal ist es allerdings, daß sich gerade dieser freche, aufgeblasene Plebejer hat vordrängen müssen. Aber wenn es nicht zu ändern ist, immerhin! Der Herr Rittmeister wird mir nicht entgehen.“

Wir waren beim Dessert angelangt, und nachdem wir den Kaffee genommen hatten, forderte mich Burda auf, mit ihm den Abend auf der Sophieninsel zuzubringen, wo heute vor einem gewählten Publikum Konzert im Freien stattfand.

IX.

Schon am nächsten Vormittage fand sich ein Hauptmann des Generalstabes in Begleitung eines Artillerieoffiziers in meiner Wohnung ein. Sie kämen, sagten die Herren, hinsichtlich des bedauerlichen Vorfalles, der gestern im Englischen Hof stattgefunden und welcher bereits zur Kenntnis der Militärbehörden gelangt sei. Man wünsche hohen Ortes, daß die Angelegenheit so rasch und einfach wie möglich beigelegt werde. Demnach wären sie infolge eines von seiten sämtlicher Beleidigten getroffenen Übereinkommens als Kartellträger des Herrn Leutnant Schorff ermächtigt, zu erklären, daß dieser im Namen aller übrigen die Sache zum Austrag bringen wolle.

Es kam also, wie ich es vorausgesehen, und obgleich sich bei ruhiger Betrachtung dieses Vorgehen auch wirklich als das vernünftigste erwies, so lag darin für Burda doch eine Art Geringschätzung, die ich wider Willen mitempfand.

„Ich glaube nicht, daß der Herr Oberleutnant Burda auf diese Proposition eingehen wird,“ sagte ich.

„Er wird sich doch nicht mit jedem einzelnen schlagen wollen?“ rief der Hauptmann, indem er, um seine Verwunderung auszudrücken, die Augen weit aufriß.

„Je nachdem.“

„Du mein Gott!“ erwiderte er, die Achsel zuckend. „Indes, das wird sich ja ergeben. Fürs erste müssen wir aber an unserem Auftrage um so mehr festhalten, als Leutnant Schorff doch jedenfalls der Hauptbeleidigte ist.“

Dagegen ließ sich nichts einwenden, und der Artillerist stellte zu dem Duell einen Fechtsaal zur Verfügung, welcher, wie er ankündigte, mit seiner Dienstwohnung auf dem Hradschin in Verbindung stehe und zu derlei Zwecken besonders geeignet sei. —

„Du hast ihnen sehr gut geantwortet“, sagte Burda, als ich ihm diese Unterredung mitteilte. „Ich danke dir. Was mich selbst betrifft, so werde ich die Sache jedenfalls zum äußersten treiben. Allerdings laufe ich dabei Gefahr, zum Krüppel gehauen zu werden. Aber ich vertraue meinem Stern.“

Pistolenduelle waren damals in der Armee nicht üblich; man schlug sich fast durchgehends mit Säbeln, eine Kampfweise, welche die Tötung des Gegners in der Regel zwar ausschloß, aber immerhin einen sehr bedauerlichen Ausgang herbeiführen konnte. Dies erwog man jetzt auch im Regiment, woselbst die üble Stimmung gegen Burda plötzlich in rege Teilnahme umgeschlagen war. Sein mannhaftes Auftreten gegen die Kavalleristen, das eine Art gemeinsamen Stolzes wachrief, imponierte den meisten, und es fehlte nicht an Zeichen der Anerkennung, die Burda mit ernster Zurückhaltung entgegennahm. Man wünschte aufrichtig, daß er den Strauß siegreich bestehe, wobei man sich freilich nicht verhehlte, wie schwer dies einem Schorff gegenüber sein möchte.

Am nächsten Morgen — es war an einem Sonntage — fuhr ich mit Burda nach dem Hradschin, wohin sich der zweite Sekundant mit dem Wundarzte schon früher auf den Weg gemacht hatte. Wir wurden von dem Artillerieoffizier empfangen und in ein geräumiges Zimmer geführt, an dessen Wänden Rapiere, Schläger, Masken und Plastrons hingen. In einer Ecke hatte man für alle Fälle ein niederes Feldbett aufgestellt; Eisbecken und Verbandzeug befanden sich in der Nähe. Der Hauptmann des Generalstabes war bereits anwesend; er prüfte, als wir eintraten, eben die beiden Duellsäbel, die auf einem Tische lagen. Auch ein zweiter Wundarzt war zugegen.

Es dauerte nicht lange, so hörte man den Viererzug Schorffs heranrollen, und bald darauf erschien dieser in aufrechter Haltung und mit kurzem Gruß in unserer Mitte. Dann reichte er seinen beiden Sekundanten die Hand und begann sich zu entkleiden.

Als er sein buntgestreiftes Wollhemd ablegte, staunte ich über die Kraft und Fülle seiner Muskeln, die in auffallender Entwickelung hervortraten. Mit seinem breiten Nacken und dem gedrungenen Halse, auf welchem ein verhältnismäßig kleiner Kopf saß, hatte er etwas vom farnesischen Herkules, während Burda, der nun gleichfalls den Oberkörper entblößte, mit seiner zarten weißen Haut, seinen geschmeidigen, etwas weichlichen Formen an die Büste des Antinous mahnte. Eigentümlich war es zu sehen, wie jetzt die Gegner einander gegenübertraten und den üblichen Gruß austauschten. In den Mienen und Gebärden Schorffs lag Impertinenz, in jenen Burdas ritterliche Herablassung.

Wir gaben das Zeichen — und der Kampf begann. Schorff, sein Glas im Auge, schien die Sache leicht zu nehmen; er glaubte offenbar, daß jeder seiner Hiebe, die er nur so obenhin führte, sofort sitzen müsse. Aber hierin irrte er. Burda verteidigte sich mit großer Ruhe und Sicherheit, die Schorff offenbar überraschte, aber auch reizte, und als er jetzt, vom Säbel seines Gegners gestreift, leicht am Ohre zu bluten begann, geriet er in Wut. Mit einem wahren Hagel von gewaltigen Streichen drang er auf Burda ein, so zwar, daß dieser Mühe hatte, standzuhalten und bereits schwer zu atmen begann. Jetzt markierte Schorff eine Prim, führte aber in der Tat eine Terz, welche so mächtig traf, daß sofort auf der Brust Burdas ein langer, bluttriefender Spalt zum Vorschein kam.

„Halt! Halt!“ schrien die Sekundanten und warfen sich dazwischen. Aber zu spät. Denn schon war ein gewaltiger Kopfhieb gefolgt. Burda taumelte, sein Säbel klirrte zu Boden — und gleich darauf folgte er selbst mit blutüberströmtem Antlitze nach.

„Das ist Mord!“ rief ich aus. Selbst der Hauptmann war ganz bleich geworden und stammelte: „Aber Schorff, was haben Sie getan?“

Dieser drehte sich auf den Hacken um und stieß durch die zusammengepreßten Zähne hervor: „Il l’a voulu!“ Dann wusch er eine geringe Blutspur von der Wange, kleidete sich an, grüßte und ging.

Inzwischen hatte man den Schwergetroffenen auf das Feldbett geschafft. Dort lag er bewußtlos und stöhnte leise, während man die Wunden untersuchte. Sie schienen derart gefährlich, daß beide Ärzte, die um Burda beschäftigt waren, den Kopf verloren und erklärten, es sei das Schlimmste zu befürchten, und sie könnten keine weitere Verantwortung auf sich nehmen. Der Herr Oberleutnant müsse sofort in das Militärspital gebracht werden. Der eine fuhr auch gleich mit dem Wagen, in welchem wir gekommen waren, dorthin voraus, um Vorbereitungen treffen zu lassen, während von seiten der Artillerie (in deren Kaserne wir uns befanden) eine Bahre samt Trägern beigestellt wurde.

Es war eine traurige Rückkehr, die wir jetzt, der öffentlichen Aufmerksamkeit möglichst ausweichend, nach der sonntäglich ruhigen Stadt antraten. Im Spitale hatte man ein kleines, abgesondertes Zimmer ermittelt, wohin man nun Burda brachte. Nach der ersten raschen Untersuchung erklärte der Chefarzt, mit der Brustwunde habe es nicht viel auf sich, aber die Schädeldecke sei schwer verletzt. Ob und wie tief der Hieb in das Gehirn eingedrungen, müsse noch genauer erforscht werden, jedenfalls stehe eine höchst gefährliche Entzündung in Aussicht. Dies teilte er auch dem Regimentsadjutanten mit, der im Auftrage des Obersten und in Begleitung anderer Offiziere erschienen war, um Erkundigungen einzuziehen. Auch von seiten der übrigen Garnison, in der sich die Kunde von dem unglücklichen Ausgange des Duells rasch verbreitet hatte, zeigte sich lebhafte Teilnahme. Der Doktor aber bat, man möge jetzt, um jedes Aufsehen zu vermeiden, Nachfragen und Besuche einstellen; es würden zur rechten Zeit Nachrichten übermittelt werden. Da ich zu bemerken glaubte, daß ihm auch meine Gegenwart nicht sehr erwünscht sei, entfernte ich mich gleichfalls, nachdem ich als besonderer Freund des Verwundeten die Erlaubnis erbeten hatte, gegen Abend wiederkommen zu dürfen.

Als ich am späten Nachmittag das schmale, längliche Gemach betrat, in welchem Burda lag, herrschte dort melancholisches Düster. Schon im Inspektionszimmer hatte ich erfahren, daß es schlecht stehe. Er habe zwar wiederholt die Augen aufgeschlagen und zu sprechen versucht, aber immer wieder sei er in Bewußtlosigkeit zurückgesunken. Nun sah ich ihn auf dem dürftigen Bette, Brust und Haupt mit Eiskompressen bedeckt, die Augen geschlossen. Ihm zur Seite befand sich ein Wärter, der durch mein Erscheinen aus jener stumpfsinnigen Langeweile aufgeschreckt wurde, die ein solcher Dienst mit sich zu bringen pflegt. Er machte mir Zeichen des Bedauerns, wechselte die Umschläge und sagte dann mit leiser Stimme, er wolle jetzt frisches Eis holen — und auch, mit meiner Erlaubnis, sein Abendbrot einnehmen, das eben jetzt zur Verteilung kommen werde.

Ich war froh, fürs erste ungestört zu sein, und hieß ihn gehen. Dann setzte ich mich in einiger Entfernung von dem Bette nieder und betrachtete meinen armen Freund, der in der Tat schon wie ein Sterbender, wie ein Toter aussah. Tiefer Schmerz überkam mich, und dazu gesellte sich etwas, wie ein Gefühl von Schuld. Hätte ich nicht verhindern können, daß es so weit gekommen? Hätte ich nicht schon längst alles anwenden sollen, um ihn, koste es, was es wolle, von seinen Täuschungen zurückzubringen? Aber hätt’ ich es, nach allem, was ich an ihm erfahren — mit ihm erlebt, auch wirklich vermocht? Wäre es überhaupt möglich gewesen, ihn von seinem Wahne zu heilen? Nein, es war nicht möglich! Es mußte alles so kommen, wie es kam: er war, wie jeder, dem unerbittlichen Schicksale seiner Natur verfallen. Und doch — trotz seiner Schwächen und Mängel, trotz seiner Irrtümer — welch ein vortrefflicher Mensch war er! Welche vornehme Seele! Welch tapferes Herz! Er hatte ein besseres Los verdient ...

Da schien es mir plötzlich, als rege er sich. Und in der Tat, es war so. Mit leichtem Stöhnen schlug er die Augen auf.

Ich trat leise an das Bett und beugte mich über ihn.

„Wer ist — wer ist da?“ hauchte er.

Ich hatte alle Mühe, mich zu erkennen zu geben.

„Ach du — du!“ brachte er mühsam hervor, während ein Strahl der Freude seine bleichen Züge umflog. „Ich glaube, ich bin verwundet“, fuhr er fort und machte einen schwachen Versuch, die Hand nach seinem Kopfe zu bewegen.

„Leider,“ erwiderte ich, „und zwar nicht ganz unerheblich. Indessen — —“

„Aber wo bin ich denn?“ fuhr er fort, die Augen mühsam hin und her bewegend. „Das ist ja nicht mein Zimmer —“

„Allerdings nicht; du bist — du bist im Spital — —“

„Im Spital!“ wollte er aufschreien, vermochte es aber nicht und ächzte nur: „Im Spital — im Spital — und wenn jetzt — —“ Er konnte nicht vollenden; sein Kinn sank zur Brust herab, und er verstummte.

Ich aber wußte, was er meinte. Mit der Besinnung war auch jener unselige Wahn wiedergekehrt. Er hatte sagen wollen: Und wenn jetzt die Prinzessin von meiner Verwundung erfährt — und hierher eilt —

„Wo sind meine Kleider?“ fragte er mit einem Mal hastig, meinen Gedankengang unterbrechend.

„Deine Kleider? Die werden wohl in jenem Schrank sein. — — Da sind sie.“

„Bitte — sieh in meinem Rocke nach — ob sich ein kleines Etui — darin findet —“

„Hier ist es!“

„Gib! Gib!“ drängte er.

Ich reichte es ihm. Er war aber nicht imstande, es zu öffnen, und ich mußte es für ihn tun. Ein vertrocknetes Veilchenbukett lag darin. Er nahm es in die bleiche, kraftlose Hand, senkte das Haupt und betrachtete es lange. Dann sagte er mit überraschend leichter und freier Stimme: „Lieber Freund — du hast mir sehr oft mehr oder weniger deutlich zu verstehen gegeben — daß ich in einer argen Täuschung befangen gewesen.“ Er seufzte tief auf. „Mein Gott! Wenn es sich wirklich so verhielte — wenn alles nur Traum — Einbildung —“

Er verstummte wieder und atmete unruhig.

Es war zu viel! Dieser Strahl von Erkenntnis, der in dieser bangen Stunde plötzlich in ihm aufleuchtete, war von erschütternder Wirkung. Ich mußte an mich halten, um nicht in Tränen auszubrechen.

„Nein! Nein!“ rief er jetzt, all seine Kraft zusammennehmend, „es kann nicht sein! Diese Veilchen — das mußt du selbst zugestehen — denn du weißt es — diese Veilchen sind von ihr!“

Wer wäre so grausam gewesen, es zu bestreiten?

„Ja, ja,“ sagte ich, „ich weiß es, sie sind von ihr.“

Er brachte mit letzter Anstrengung den Strauß vor das Antlitz und küßte ihn. „Er sollte mir ein Talisman sein — aber er hat mich nicht beschützt.“

Seine Hände sanken herab — er war wieder bewußtlos. Gleich darauf trat auch der Wärter ein; ich schickte ihn um den diensttuenden Arzt. Dieser, ein noch sehr junger Mann mit intelligentem, aber etwas barschem Gesichte, erschien sofort.

„Nun?“ fragte er mit einem Blick auf Burda.

„Er war zu sich gekommen“, sagte ich.

„Hat er mit Ihnen gesprochen?“

„Ja.“

„Vernünftig?“

„Ganz vernünftig“, erwiderte ich nicht ohne Verlegenheit.

„Und jetzt ist er wieder bewußtlos?“ Er trat an das Bett, langte nach dem Arme Burdas und fühlte den Puls. „Heftiges Fieber. Das ist der Anfang vom Ende. Übrigens, wer weiß — vielleicht —“

Dieses „Vielleicht“ bestätigte sich nicht. Noch in derselben Nacht verstärkte sich das Fieber, Delirien traten ein; am nächsten Tage folgten Paroxismen — und als ich das Krankenzimmer wieder betrat, war Burda eine Leiche. Bei den letzten traurigen Vorbereitungen, die man in meiner Anwesenheit traf, suchte ich überall nach dem Veilchenstrauße — doch umsonst: niemand wollte ihn gesehen haben. Man hatte ihn offenbar in den Kehricht geworfen.

Zum Schlusse machte sich der Zufall, der im Leben Burdas eine so große Rolle gespielt, noch einmal geltend. Fast am selben Tage, an welchem drei Ehrensalven über das Grab des Verblichenen hinwegdonnerten, war in den Zeitungen die Nachricht zu lesen, daß sich Prinzessin Fanny L... mit dem Prinzen A... verlobt habe.

Gegen Schorff aber kehrte sich jetzt allgemeiner Unmut, und man trachtete sogar eine ehrengerichtliche Untersuchung des Falles wider ihn durchzusetzen. Da jedoch der junge Graf Z... in die Angelegenheit mit verwickelt erschien, so wurde alles weitere niedergeschlagen und Schorff bloß nach Ungarn zu seinem Regiment versetzt. Einige Jahre später war er aus den Listen der Armee verschwunden. Was aus ihm geworden, habe ich nicht in Erfahrung gebracht.

Seligmann Hirsch.

Vorwort des Herausgebers.

Mit dem ersten Abdruck des Anfanges der vorigen Novelle sendet der Dichter am 10. September 1887 aus Schloß Oslavan bei Eibenschütz auch das Brouillon der unsrigen an die Fürstin Marie zu Hohenlohe, die er vorher im intimsten Kreise der Fürstin Salm zu Blansko vorgelesen hatte und für die er sich das strengste Geheimnis erbittet. Wenn er von dem Manuskript schreibt, daß es von Unschönheiten und Unrichtigkeiten, was Sprache und Ausdruck betreffe, wimmle, so läßt sich das wohl mit der im Nachlaß befindlichen Handschrift in Einklang bringen. Später hat der Dichter über die Entstehungszeit unserer Novelle, wie so oft, widersprechende Angaben gemacht. Nach seinem Bericht an Stefan Milow soll sie 1887/88 in Blansko entstanden, nach dem Bericht an Bettelheim 1886 bereits erschienen sein. Mir ist kein früherer Druck bekannt geworden, als der vom Herbst 1888 in den „Schicksalen“ (1889, Seite 127-193), für den die Vorlage die noch vorhandene Handschrift bildete, die schon durch die Paginierung als ein Mittelstück erkennbar ist und deren Text während des Druckes noch manche Abänderungen erfahren hat. In der zweibändigen Ausgabe der „Novellen aus Österreich“ 1897 (zweiter Band, Seite 83-127) ist die Chiffre G... in Graz aufgelöst, sonst aber nur wenig mehr geändert worden; die zweite Auflage der „Schicksale“ (o. J., 1897) beruht auf demselben Satz wie diese Ausgabe. In der zweiten Auflage der „Novellen aus Österreich“ 1904 (a. a. O.) ist überhaupt nur mehr die Orthographie und die Interpunktion modernisiert worden.

I.

Die Saison in dem kleinen Kurorte, wo ich auf Anraten des Arztes das „kalte Wasser“ gebraucht hatte, ging zu Ende. Die defekten Menschenexemplare, welche sich hoffnungs- und vertrauensselig hier zusammengefunden: ältere Standespersonen mit eingewurzelten Übeln, jüngere Lebemänner mit verdorbenen Säften, blutarme, an den Nerven leidende Damen — und endlich solche, die in dem anmutigen Tale bloß die Sommerfrische samt allerlei geselligen Zerstreuungen genießen wollten, waren nach und nach abgezogen. Selbst die letzten Kurgäste, die außer mir, der ziemlich spät eingetroffen war, noch am längsten ausgehalten: ein mürrischer Finanzrat, der von heftigen Kongestionen geplagt wurde und beständig ohne Kopfbedeckung, zu gewissen Stunden auch ohne Fußbekleidung umherging; eine etwas zweifelhafte Dame aus Wien, die mit einer höchst auffallenden Toilette die Reste einstmaliger Schönheit zur Schau trug; ein alter Geck und Bade-Habitué, der ihr den Hof machte — und last, not least ein interessanter, am Rückenmarke leidender Schöngeist, welcher in seinem Rollwägelchen der Gegenstand des allgemeinen weiblichen Mitleids gewesen war, mich aber durch unausgesetzte literarische Gespräche zur Verzweiflung gebracht hatte: auch diese vier Standhaften ergriffen jetzt infolge des plötzlich eingetretenen rauhen Herbstwetters, dem sich sogar ein tüchtiger Schneefall beigesellte, einhellig die Flucht — und ich blieb allein zurück. Zwar wurde mir nunmehr das Kurhaus sozusagen vor der Nase gesperrt, denn der ärztliche Leiter der Anstalt hatte schon längst alle Vorbereitungen getroffen, um seine winterliche Praxis in der Landeshauptstadt wieder aufzunehmen. Aber das kümmerte mich wenig. Ich hatte genug „Abreibungen“ und „Einpackungen“ genossen, infolge deren ich mich, um die Wahrheit zu bekennen, auch sehr wohl fühlte, und da mir die Gegend gefiel, so beschloß ich, noch einige Zeit zu verweilen, — ein Vorhaben, das von dem Besitzer des Gasthofes zu den „Drei Monarchen“, wo ich untergebracht war, mit großer Anerkennung begrüßt wurde; blieb ihm doch jetzt wenigstens ein Mensch erhalten, dem er die Rechnung nach dem üblichen Badetarif stellen konnte.

Zudem war, wie ich vorausgesehen, den verfrühten Vorboten des Winters das herrlichste Wetter, ein wahrer Nachsommer, gefolgt. Klar und blau spannte sich der Himmel aus, die Bergeshäupter schimmerten im milden Sonnenglanze, und linde Wärme breitete sich über Flur und Wald, welch letzterer in seinem bunten Schmuck an die Worte des Dichters erinnerte:

„Wie sanft den Wald die Lüfte streicheln,

Sein welkes Laub ihm abzuschmeicheln!“

Welch ein Genuß war es jetzt, in sicherer Einsamkeit zwischen den hohen Buchen und Fichten dahin zu wandeln! Wie lohnend, eine Anhöhe zu ersteigen, auf den malerisch gelegenen Ort hinab- und in die weite Gebirgsferne hineinzublicken, ohne durch Ausbrüche landläufigen Entzückens gestört zu werden! Wie angenehm, auf der Terrasse des Gasthofes zu frühstücken und statt nachbarlichen Tassen- und Löffelgeklappers samt obligatem Badeklatsch bloß das Rauschen des Flusses zu vernehmen, der sich unten silberhell durch grüne Triften schlängelte! Es war eben, als trete erst jetzt die ganze Landschaft in voller, ungetrübter Schönheit hervor. Selbst mein Zimmer, das mir früher wie die Abteilung eines Taubenschlages vorgekommen, heimelte mich, seit das Haus leer geworden, ganz wohnlich an. Um es recht bequem zu haben, mietete ich noch ein anstoßendes kleineres dazu — und so befand ich mich endlich wieder in dem behaglichen Zustande tätigen Alleinseins, der mir im Leben stets der erwünschteste gewesen ist.

Eines späten Nachmittags — ich pflegte um diese Zeit zu essen — saß ich, bei Kaffee und Zigarre angelangt, im Speisezimmer des Gasthofes und vertiefte mich in die Zeitungen, welche eben mit der Post eingetroffen waren. Die Hängelampe über dem Billard, das in der Mitte des Raumes stand, war bereits angezündet, und eine trauliche Stille herrschte, die nur hin und wieder unterbrochen wurde, wenn draußen in der Schankstube, wo einige harmlose Kleinbürger in ziemlich schweigsamer Geselligkeit beisammen saßen, ein frisches Glas begehrt und gefüllt wurde. Plötzlich waren von dort her Schritte eines Eintretenden zu vernehmen — und gleich darauf eine überlaute, schnarrende Stimme.

„Ha! Ha! Noch immer die alte Gesellschaft beisammen! Grüß Gott, Herr Schreinermeister! Und auch Sie, Herr Lederermeister! Willkommen, Herr Gamilschegg! (Das war der Krämer des Ortes.) Freut mich, Sie alle wieder zu sehen!“

Der Sprecher schien kein Gewicht darauf zu legen, daß diese Begrüßung offenbar sehr kleinlaut erwidert wurde, und fuhr fort:

„Auch die hübsche Cilli noch hier! (Das galt dem Schenkmädchen, welches nebenbei die Dienste einer Kellnerin verrichtete.) Also noch immer nicht verheiratet? Und auch an Kurmachern wird es mangeln, seit die Kurgäste fort sind. (Er belachte das Wortspiel sehr laut und selbstgefällig.) Am Ende werd’ ich alter Knabe doch noch aushelfen müssen! Oder sollte gar Ihre Frau Ursache zur Eifersucht haben, Herr Matzenoër? (Damit war der Hotelwirt gemeint, der eigentlich Matzenauer hieß; aber der Ankömmling schien den Diphthong au bisweilen wie o auszusprechen.) Ich will nicht hoffen! — Und wie sieht es denn da drinnen aus? Gewiß auch noch alles auf demselben Fleck!“

Schwere, schlurfende Tritte näherten sich der offenen Tür, die in das Speisezimmer führte, und die robuste, breitschulterige Gestalt eines Mannes zeigte sich, der auf der Schwelle stehen blieb und weit vor sich hin ausspuckte.

Er mochte ungefähr sechzig Jahre zählen. Sein fleischiges, gerötetes Gesicht, das buschige Brauen, stark entwickelte Backenknochen und eine plump geschwungene Nase aufwies, war von einem teilweise ergrauten Barte, einem sogenannten collier grec eingerahmt. Auf dem Kopfe saß ihm, schief und zerknüllt, eine phantastische Reisemütze; ein langer Überwurf mit Pelzkragen stand vorne offen und ließ abgetragene, nicht allzu reinlich gehaltene Unterkleider, aber auch eine große Busennadel aus Brillanten und eine massive goldene Uhrkette sehen. In der kurzfingerigen, mit Ringen überladenen Hand hielt er eine ungeheure Zigarrenspitze aus Bernstein, an welcher er pustend sog, die Füße steckten in weiten Stiefeln mit Tuchbesatz. Die ganze Erscheinung hatte etwas Groteskes und dabei Fremdartiges; der Mann sah aus wie ein Armenier oder Bulgare.

Er räusperte sich und spuckte noch einmal, dann trat er ein. Als er jetzt meiner ansichtig wurde — ich saß ziemlich abseits — stutzte er, grüßte jedoch nicht, obgleich er mich, während er langsam das Billard umschritt, mit einem lauernden Seitenblick im Auge behielt. Dann ließ er sich in einiger Entfernung von mir auf einen Stuhl nieder und starrte mich an. Diese Musterung wurde mir unangenehm; ich kehrte mich zur Seite.

Nunmehr erhob er sich wieder, langte ein illustriertes Journal herab, das im Halter an der Wand hing, und begann, nachdem er einen Nasenklemmer aufgesetzt, mit dem Rücken an das Billard gelehnt, die Bilder zu betrachten. Nach und nach vertiefte er sich auch in den Text. Er bewegte dabei nach Art mancher alten Leute die Lippen, gleichsam jedes Wort im stillen nachsprechend. Allmählich aber gab er auch ein Geräusch von sich. Zuerst war es ein dumpfes Gemurmel, dann ein vernehmbares Buchstabieren — endlich fing er, gewissermaßen in Fluß kommend, mit lauter Stimme zu lesen an. Erst jetzt erkannte ich an der eigentümlich singenden und gezogenen Aussprache den Juden. Seiner Redeweise mit anderen, die im ganzen etwas Weltläufiges hatte, konnte dies nicht entnommen werden; nun aber, da er sich selbst überlassen war, traten die spezifischen Merkmale hervor. Dabei hatte seine Stimme, obwohl sie eines gewissen sonoren Klanges nicht entbehrte, doch etwas so unangenehm Lautes und Eindringendes, daß es mir durch Mark und Bein ging und alle Nerven in Aufregung brachte. Ich konnte nicht länger an mich halten und rief: „Mein Herr, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie nicht allein sind!“

Er schrak zusammen und blickte mich mit offenem Munde an. Dann lüftete er mit demütiger Gebärde die Mütze und stammelte: „Entschuldigen Sie.“ Aber gleich darauf nahm er eine vornehme Haltung an und sagte herablassend: „Ist Ihnen vielleicht die Zeitung gefällig?“

„Danke. Ich habe das Blatt schon gelesen.“ Damit drehte ich ihm den Rücken.

Ich vernahm, wie er das Journal beiseite legte, ein paarmal, wie unschlüssig, am Billard hin und her ging — dann einen Seufzer ausstieß und behutsam aus dem Zimmer schlich, so zwar, daß es mich schon gereute, ihn derart angelassen zu haben.

Aber draußen in der Schankstube stimmte er sofort wieder seinen lautesten, jovialsten Ton an. „Nun, Herr Matzenoër, wie steht’s mit dem Abendessen? Gibt es Forellen?“

„Leider nicht, Herr von Hirsch. Wie sollte ich jetzt —“

„Verstehe! Verstehe! Keine Nachfrage in dieser Zeit! Keine Gäste! Aber ein Huhn wird mir die Frau Gemahlin doch einfangen können? Was?“

„Gewiß, Herr von Hirsch.“

„Also ein Huhn! Mit Salat! Es wird wohl auch eine Weile dauern — ich gehe indessen hinauf. Adieu, meine Herren! Auf Wiedersehen!“

Diese letzten Worte galten jedenfalls der Tischgesellschaft, die sich aber ganz schweigend verhielt.

Als er sich entfernt hatte, pochte ich an ein Glas, worauf sofort Herr Matzenauer erschien, der als echt ländlicher Hotelier seine Gäste, soweit es anging, selbst bediente.

„Sagen Sie mir doch, wer war denn das?“ rief ich ihm zu.

„Ein Herr Hirsch aus Wien“, erwiderte er mit seinem gewohnten, verschmitzt offenherzigen Lächeln. „Kennen Sie ihn nicht?“

„Den Teufel auch. Wer soll alle Hirsche kennen! Aber was macht er denn hier?“

„Er erwartet seinen Sohn, der gegenwärtig mit Familie in Italien ist. Sie wollen hier zusammentreffen, um dann gemeinschaftlich nach Wien zurückzureisen.“

„Und wann wird das sein?“

„Ja, das weiß ich nicht. Etwa in acht Tagen.“

„Wo haben Sie ihn denn untergebracht?“

„Auf Nummer 5.“

„Was? So nahe bei mir?“

„Es war ohnehin meine Absicht, ihn auf Nummer 12 zu geben; aber er wollte durchaus sein früheres Zimmer haben.“

„Sein früheres Zimmer?“

„Er ist ja ein alter Bekannter. Vor zwei Monaten hat er hier die Kur gebraucht; gerade als Sie eintrafen, zog er ab. Wo er sich inzwischen aufgehalten, ist mir nicht bekannt. Wahrscheinlich in Graz. Wenigstens ist er jetzt von dort gekommen. Aber entschuldigen Sie, ich muß nach der Küche sehen.“

Damit ging Herr Matzenauer lächelnd ab und ließ mich in recht übler Laune zurück. Denn dieser unvermutete Gast legte mir unter allen Umständen einen gewissen nachbarlichen Verkehr auf, der mich um so mehr aus meiner glücklichen Ruhe und Stimmung zu bringen drohte, als der neue Ankömmling eben kein besonders angenehmer Mann war. Endlich erhob ich mich und ging auf mein Zimmer. Dort zündete ich die Lampe an und nahm ein Buch zur Hand. Aber mit dem Lesen ging es nicht; meine Gedanken schweiften beständig zu diesem Herrn Hirsch hinüber, den ich auch ganz deutlich in seinem Zimmer rumoren hörte; wahrscheinlich packte er seine Koffer aus. Und dabei erkannte ich neuerdings, wie dünn die Wände waren und erinnerte mich, was ich schon früher unter den verschiedenartigen Geräuschen gelitten hatte, die von allen Seiten zu mir herübergedrungen waren. In gelinder Verzweiflung trat ich ans Fenster und blickte hinaus, um zu sehen, ob nicht wenigstens für heute ein abendlicher Spaziergang möglich sei. Pfadlose Dunkelheit lag über der Gegend; ich war also ein Gefangener. Da fiel mir ein, daß ich einige notwendige Briefe zu schreiben habe, ein Geschäft, das ich schon ungebührlich lange hinausgeschoben. Zu derlei kann man sich zwingen — und ich zwang mich. Als ich mich an den Schreibtisch setzte, verließ mein Nachbar das Zimmer und stapfte die Treppe hinunter. Nun hatte ich Luft — und bald war ich derart in meinen Gegenstand vertieft, daß ich mich erst wieder auf die Umstände besinnen mußte, als nach etwa zwei Stunden Herr Hirsch, von unserem Wirte geleitet, zurückkehrte.

„Also gute Nacht, Herr Matzenoër!“ rief er. „Eigentlich wär’ es die Pflicht der Cilli gewesen, mir heraufzuleuchten — aber Sie sind ein vorsichtiger Mann!“ Dabei gab er eine dröhnende Lachsalve von sich.

Herr Matzenauer empfahl sich. Herr Hirsch aber schritt im Zimmer auf und ab, wobei er polternd einige Gegenstände zurecht schob. Hierauf begann er eine Arie aus Norma zu pfeifen und in allen Tonarten zu singen. Endlich trat einige Ruhe ein, und ich glaubte zu erkennen, daß er anfing, sich zu entkleiden; wirklich fielen nach einer Weile seine schweren Stiefel mit dumpfem Schall zu Boden. Bald nachher folgte ein lautes, langgedehntes „Ah!“ des Behagens, ein Zeichen, daß er sich im Bett ausgestreckt habe. Rasch entschlossen, bereitete auch ich mich zur Nachtruhe, schlüpfte unter die Decke und blies das Licht aus. Schon lag ich in halbem Schlafe, als ich plötzlich durch ein entsetzliches Röcheln aufgeschreckt wurde; es war, als würde nebenan jemand erdrosselt. Sollte dem alten Mann etwas zugestoßen sein? — und schon wollte ich aus dem Bette springen. Aber meine Angst war grundlos. Denn ich hatte bald erkannt, daß jenes Röcheln nur das Präludium eines so kräftigen Schnarchens gewesen, wie ich es im Leben niemals vernommen. In allen Modulationen erklang es: bald wie der ruckweise, gleichmäßige Gang einer Sägemühle, bald in zitternden, gequetschten Gurgel- und Nasenlauten — bald mit so furchtbarem, langgezogenem Gerassel, als wollte es das stille, nachtschlafende Haus in seinen Grundfesten erschüttern.

II.

Am Morgen stand es bei mir fest: mit diesem Manne konnte ich nicht unter einem Dache bleiben. Die Frage war nur, was beginnen? Aber hatte ich mir denn nicht schon längst vorgenommen, einmal nach Graz zu fahren? Ich mußte mich ja mit manchem Notwendigen, vor allem mit gewissen Büchern, versorgen, die ich in jener Stadt aufzutreiben hoffte. Auch fiel mir jetzt ein, daß dort einer meiner Verwandten lebe, den aus solcher Nähe aufzusuchen, eigentlich meine Pflicht war. Ich konnte mich ja mehrere Tage, konnte mich eine Woche ferne halten — und bis dahin würde Herr Hirsch wohl abgereist oder doch wenigstens nicht lange mehr hier sein. Also nach Graz! Ich beeilte mich, diesen rettenden Gedanken mit Benützung des nächsten Bahnzuges zur Tat zu machen, kleidete mich, während mein Nachbar noch hörbare Schlummertöne von sich gab, rasch an und begab mich zum Frühstück hinunter, wobei ich meinen Entschluß Herrn Matzenauer ankündigte.

„Was?“ rief dieser betreten. „Sie wollen fort? Doch nicht etwa wegen des Herrn Hirsch?“

„Allerdings.“

„Das sollten Sie nicht. Lernen Sie ihn nur erst näher kennen. Er hat zwar seine Eigenheiten — ist aber ein ganz gemütlicher alter Mann.“

„Er schnarcht wie ein Bär.“

„Daran würden Sie sich bald gewöhnen. Auch könnten Sie ja ein anderes Zimmer nehmen.“

„Das ist mir zu umständlich“, sagte ich kurz abweisend.

„Nun, ich meinte ja nur. Sie begreifen, wie leid es mir tut, Sie zu verlieren; ich hatte gehofft, daß Sie über Neujahr bleiben würden. Wenn Sie übrigens wirklich wieder kommen — —“

„Gewiß komme ich wieder. Ich lasse ja meine Sachen zurück und nehme nur das Notwendigste mit. Ich hätte mich jedenfalls auf kurze Zeit nach Graz begeben, denn ich habe dort zu tun. Erwähnen Sie daher Herrn Hirsch gegenüber nichts; ich möchte nicht gerne jemanden verletzen.“

Nach einer halben Stunde fuhr ich mit Plaid und Handkoffer ab.

*                    *
*

Als ich wieder eintraf war meine erste Frage:

„Nun, ist er fort?“

„Noch immer nicht“, erwiderte Herr Matzenauer verlegen und überdies sichtlich verstimmt. „Er hat einen Brief von seinem Sohn erhalten, worin dieser mitteilt, daß er sich noch einige Tage in Venedig aufzuhalten gedenke.“

„Das war vorauszusehen!“ rief ich ärgerlich. „Aber was haben Sie denn? Sie machen ja ein ganz saueres Gesicht.“

Herr Matzenauer kratzte sich leicht am Hinterhaupte.

„Ich will Ihnen nur gestehen,“ sagte er, „daß es mir jetzt auch schon zu viel wird.“

„Wieso?“

„Nun sehen Sie: ich bin Hotelbesitzer, und als solcher muß ich auf Gewinn bedacht sein. Daher war mir auch das Erscheinen eines neuen Gastes sehr angenehm. Herr Hirsch ist ein reicher Mann — oder vielmehr sein Sohn ist es — und der Alte läßt viel aufgehen. Aber er macht auch die unglaublichsten Ansprüche. Alle erdenklichen Möbel will er in seinem Zimmer haben; kein Stuhl ist ihm weich, kein Bett lang und breit genug, fast täglich muß irgend ein Umtausch getroffen werden. Und jederzeit sollen Leckerbissen da sein. Die sind aber auf dem Lande — und nun gar für eine Person — schwer zu beschaffen; in erster Linie kosten sie Geld. Infolgedessen findet Herr Hirsch, der bei allem Wohlleben mit dem Kreuzer knickert, die Rechnung immer zu hoch beziffert. Meine Frau will schon gar nicht mehr für ihn kochen, weil ihm kaum eine Speise recht zubereitet ist; ich muß mich rein aufs Bitten verlegen.“

„Hm —“

„So anspruchsvoll war er doch im Sommer nicht. Freilich hatte er da eine gewisse Diät zu befolgen — auch mußte er sich der anderen Gäste wegen Zwang auferlegen; denn er hatte noch das Kurhaus in frischer Erinnerung.“

„Das Kurhaus?“

Herr Matzenauer errötete leicht.

„Ich hab’ es Ihnen früher verschwiegen — aber jetzt sollen Sie’s wissen. Er hatte sich bei der ganzen Badegesellschaft unleidlich gemacht. Jedermann wich ihm aus, besonders die Damen — und schließlich wollte man ihn nicht einmal mehr am Kurhaustische dulden. Da hat er sich zu mir geflüchtet, damit er doch etwas zu essen bekommt.“

„Sehen Sie wohl! Aber was hilft’s?“ fuhr ich resigniert fort. „Man muß Geduld haben. Er wird doch nicht ewig hier bleiben.“

„Das hoff’ ich auch. Wenn er mir nur nicht die paar Stammgäste aus der Schankstube vertreibt. Ich muß sie jetzt im Winter doppelt schätzen. Es sind stille, ernsthafte Leute, und seit die Abende länger geworden, machen sie gern unter sich eine Tarockpartie. Herr Hirsch aber, der sich zu Tod langweilt und überdies aufs Spiel versessen ist, wie der Teufel, möchte immer mithalten. Die anderen wollen jedoch durchaus nicht; man hat hier zu Lande noch immer eine gewisse Antipathie gegen die — Sie verstehen mich. Und überhaupt wollen sie mit keinem Fremden spielen. Das aber können sie ihm doch nicht verwehren, daß er sich zu ihnen setzt und dem Spiel zusieht. Und wenn er sich ruhig verhielte, möcht’ es immerhin sein. Aber er macht in einem fort Bemerkungen und Ausstellungen; dabei werden die Leute konfus und ärgern sich. Erst vorgestern sagte der Tischler, der nicht gerade der Feinste ist, zu mir: Sie, Herr Matzenauer, wenn Sie uns den alten Juden nicht vom Tisch halten, so wandern wir in die Sonne aus. — Denken Sie nur, in die elende Kneipe am untersten Ende des Platzes! Hierauf hab’ ich dem Hirsch die Sache sehr deutlich zu verstehen gegeben — aber am nächsten Tage saß er schon wieder dort. Am Ende kommt es noch zu einem Skandal.“

Mit diesem Ausruf schloß Herr Matzenauer seine Auseinandersetzungen und entfernte sich eilig, da draußen nach ihm verlangt wurde.

Ich aber blieb bei dem Glase Bier sitzen, das ich mir bei meiner Ankunft in das Speisezimmer hatte bringen lassen. Der Tag neigte sich dem Abend zu. Die letzten Strahlen der Novembersonne fielen schräg durch die Scheiben auf den Fußboden des Gemaches; im Ofen flackerte, der Jahreszeit angemessen, ein leichtes Feuerchen; aus der Schankstube herein tönte das Ticken der Schwarzwälderuhr — und hin und wieder ein Wort, ein Ausruf, welcher samt leisem Kartengeräusch anzeigte, daß die Winterstammgäste bereits mit einer nachdenklichen Tarockpartie begonnen hatten. Dies alles heimelte mich wieder ganz traulich an, und nur das Bewußtsein, daß Herr Hirsch noch immer im Hause sei, ließ kein volles Behagen in mir aufkommen.

Da vernahm ich, wie er draußen eintrat.

„Aha! Die Spielratten schon beisammen! Glück auf, Herr Gamilschegg! Sie haben gestern Pech gehabt. Aber Sie haben auch miserabel gespielt. Warten Sie, heute setz’ ich mich zu Ihnen. Da wird es gleich besser gehen!“

Der Ortskaufherr murmelte etwas, das ich nicht verstehen konnte. Herr Hirsch aber rückte sehr hörbar einen Stuhl heran, während das Spiel seinen Fortgang nahm. Und es dauerte nicht lange, so begann er Kritik zu üben.

„Aber warum denn eine Farbe, Herr Gamilschegg? Tarock hätten Sie bringen sollen. Also jetzt Tarock! Nicht so nieder — höher! höher!“

„Sie machen mich ja ganz irre, Herr von Hirsch — —“

„Nichts da! Nur fort so — Tarock und wieder Tarock!“

„Sie haben leicht raten, Herr Hirsch“, warf eine brummige Stimme ein, die offenbar dem Tischler angehörte. „Sie sehen ja in alle Karten!“

„Wie heißt sehen?“ rief Hirsch, bei dem sich im Eifer spezifische Anklänge geltend machten. „Nichts seh’ ich! Gar nichts! — So, Herr Gamilschegg! Und jetzt den Scüs drauf! Gewonnen! Was hab’ ich gesagt?“

Die Karten wurden gemischt und von neuem umgegeben. Aber Herr Gamilschegg schien wieder nicht zur Zufriedenheit seines Mentors zu spielen; denn dieser erschöpfte sich in Verweisen und Ratschlägen. Das dauerte noch eine Weile; endlich schien es den anderen zu viel zu werden. Karten wurden auf den Tisch geworfen, und gleich darauf erdröhnte die vorige Stimme: „Entweder Sie halten Ihr Maul — oder wir hören zu spielen auf!“

Einen Augenblick war es still. Auf solche Worte zeigte sich Herr Hirsch zweifelsohne nicht vorbereitet. Endlich stammelte er: „Seien Sie doch nicht so grob, Herr Schreinermeister.“

„Grob oder nicht. Wir brauchen niemand, der uns beständig dreinred’t!“

„Dreinreden? Ich rede ja gar nicht darein!“

„Gewiß, Sie stören das Spiel, Herr von Hirsch“, warf der Krämer sehr artig, gleichsam als Entschuldigung ein.

„Ich meinte es ja gut! Ich habe Ihnen helfen wollen — —“

„Das ist nicht notwendig!“ donnerte der Tischler. „Der Herr Gamilschegg weiß selbst, wie er zu spielen hat. Und kurz und gut: Schauen Sie, daß Sie weiter kommen, sonst zeigen wir Ihnen, wo die Tür ist.“

Auf diese Tathandlung wollte es der so roh Zurechtgewiesene jedenfalls nicht ankommen lassen, denn er erschien sofort im Speisezimmer, bleich, mit schlotternden Knien. Er wankte mühsam bis zu einem Stuhl, der in der Nähe des Fensters stand, sank darauf nieder und bedeckte sein Antlitz mit den beringten Händen.

„Gott, du Gerechter! Nirgends will man mich dulden — überall stößt man mich weg — was soll ich tun, was soll ich beginnen, ich armer, geschlagener Mann!“

Dieser halblaute Ausbruch eines tiefen, verzweiflungsvollen Schmerzes hatte etwas Ergreifendes. Ich war, um es offen zu bekennen, der dramatischen Szene, die sich nebenan abgespielt, nicht ganz ohne Schadenfreude gefolgt; nun aber schlug diese sofort in Mitleid um. Ich machte eine Bewegung.

Jetzt erst gewahrte er mich und sah mich lange mit steigender Aufmerksamkeit an; er wollte offenbar Erinnerungen sammeln, was ihm aber nicht zu gelingen schien. Endlich stand er auf, näherte sich mir und sagte ohne jegliches Zeichen der Beschämung oder Verlegenheit, nur im Tone einer vorwurfsvollen Anklage: „Haben Sie gehört, wie man mich da draußen behandelt hat?“

„Leider hab’ ich es hören müssen. Aber nehmen Sie die Sache nicht zu schwer. Sie hätten sich mit diesen Leuten gar nicht einlassen sollen.“

„Da haben Sie recht! Es ist gemeines Volk. Aber ich bin nun einmal ein vorurteilsloser Mann und kenne keine Standesunterschiede — obgleich ich allen Grund hätte, solche zu machen. Denn ich habe im Leben mit den höchsten Persönlichkeiten verkehrt — und erst unlängst bei einer Whistpartie assistiert, an welcher ein General und zwei Hofräte teilgenommen.“

„Desto vorsichtiger hätten Sie sein sollen.“

„Richtig! Ganz richtig! Vorsichtig hätte ich sein sollen! Leider, leider bin ich es nie gewesen! — Aber mit wem habe ich eigentlich die Ehre, zu sprechen?“ fuhr er fort, indem er plötzlich eine stolze Haltung annahm.

Ich nannte meinen Namen.

Er sah nachdenklich in die Luft und schüttelte dann den Kopf, um anzudeuten, daß er diesen Namen niemals gehört habe.

„Und sind Sie von hier?“

„Nein.“

„Und von wo, wenn ich fragen darf?“

„Aus Wien.“

„Aus Wien!“ rief er laut und breitete die Arme aus, als wollte er mich ans Herz drücken. „Aus Wien! Da kennen Sie gewiß meinen Sohn!“

„Ich habe nicht die Ehre.“

„Was? Sie kennen den Hirsch nicht? Den Ritter von Hirsch? Großhändler — Direktor der *Bank? — Aber Sie sind wohl nicht von der Geschäftswelt?“

„Nein, ich bin nicht von der Geschäftswelt.“

„Und was sonst, wenn ich mir erlauben darf?“

„Ich privatisiere.“ Diese Antwort hatte ich schon ganz anderen Leuten, als Herrn Hirsch, erteilt.

„Ah so! Ah so! Und was machen Sie denn hier?“

„Ein Landaufenthalt — —“

„Ein Landaufenthalt? Um diese Zeit? Bei beginnendem Winter? Seltsamer Geschmack! Wenn ich mit meinem Sohn, der gegenwärtig in Venedig ist, nicht hier ein Rendezvous hätte, würde mich dieses Nest nicht mehr zu Gesichte bekommen haben.“ Und dann ganz plötzlich: „Spielen Sie Karten?“

„Niemals!“

„Was? Ein Wiener — und nicht Karten spielen? Schämen Sie sich! Aber doch Billard? Wie?“

„Nun ja, hin und wieder — wenn sich’s gerade trifft — —“

„Schön! Da können wir uns gleich unterhalten!“ Und er rannte auf das Billard los.

Ich wollte Einwendungen erheben.

„Nein! Nein! Sie dürfen es mir nicht abschlagen! Sie müssen mit mir spielen!“ Und da ich immer noch keine rechte Bereitwilligkeit zeigte, fuhr er in flehendem Tone fort: „Ich bitte, spielen Sie mit mir!“

„In Gottes Namen! Fünf Partien.“

„Bravo! Fünf Partien! Aber wir müssen Licht haben — es wird schon ganz dunkel. Herr Matzenoër! Herr Matzenoër!“ Und als dieser in dienstfertiger Eile erschien: „Zünden Sie die Lampe an! Ich werde mit diesem Herrn Billard spielen!“ Er war offenbar in gehobenster Stimmung und hatte den unangenehmen Vorfall bereits vollständig vergessen.

Herr Matzenauer sah mich erstaunt an, machte Licht und begab sich in die Schankstube zurück, aus der sich die Gäste inzwischen entfernt zu haben schienen.

„So, nun können wir beginnen“, rief Herr Hirsch, einen Kugelstab aus der Lade ziehend. „Wählen Sie nur eine gute Queue — das ist die Hauptsache. Ich gebe Acquit. Und nun zeigen Sie, was Sie können.“

„Da werden Sie nicht viel sehen. Ich bin ganz aus der Übung.“

„Bescheidenheit! Pure Bescheidenheit! Ich bin überzeugt, daß Sie vortrefflich spielen. Aber an mir sollen Sie Ihren Meister finden.“

„Daran zweifle ich nicht“, erwiderte ich, den ersten Stoß vollführend.

„Ausgezeichnet! Sehen Sie, wie Sie es treffen! Aber geben Sie acht, nun komme ich!“

Damit legte sich Herr Hirsch mit der ganzen Wucht auf das Billard und zielte lange. Da er aber zu tief ansetzte und übermäßig stark zustieß, so sprang der Ball in die Höhe und über den Rand hinaus.

„Oho! Nicht geschmiert! Wo ist die Kreide? Wer schlecht schmiert, fährt schlecht!“ Er lachte laut über den abgedroschenen Witz.

Die Partie nahm ihren Fortgang. Herr Hirsch lobte mein Spiel überschwenglich, suchte mich aber stets durch prahlerisch angekündigte „Kunststöße“ zu überbieten. Da jedoch diese fast durchgehends mißlangen, so kam es, daß ich zuletzt Sieger blieb. Als ich jetzt die Queue aus der Hand legen wollte, gab dies mein Gegner nicht zu. Er könne sich nicht überwunden geben, sagte er, und es müßten noch fünf Partien gespielt werden. Ich machte gute Miene, da ich mich aber bereits entsetzlich langweilte und infolgedessen sehr unaufmerksam spielte, so gewann diesmal Herr Hirsch.

„Und jetzt die Meisterpartie!“ rief er.

„Was?“

„Gewiß! Nunmehr stehen wir gleich; eine letzte Partie muß den Ausschlag geben.“

Es kam mir nicht mehr darauf an, und um wirklich ein Ende zu machen, ließ ich ihn gewinnen.

„Sehen Sie,“ rief er strahlend vor Triumph, „ich hab’ es Ihnen vorausgesagt! — Aber nun wollen wir soupieren! Sie werden wohl auch zu Abend essen und mir erlauben, daß ich mich an Ihren Tisch setze.“

Ich konnte nichts dagegen haben und ließ es geschehen, daß er den Wirt herbeirief.

„Herr Matzenoër, ich werde mit diesem Herrn soupieren! Was Sie mir zu bringen haben, wissen Sie. Auch eine kleine Flasche Bordeaux!“

Da ich in Graz sehr früh zu Mittag gegessen hatte, bestellte auch ich etwas.

Als wir an dem frischgedeckten Tisch saßen, füllte Herr Hirsch sein Spitzglas und hob es, mir zutrinkend, empor.

„Auf unsere Bekanntschaft!“ sagte er mit Emphase. Plötzlich aber hielt er inne und blickte mich starr an. „Seltsam! Ich muß Sie doch schon irgendwo gesehen haben.“

„Gewiß“, erwiderte ich lächelnd. „Vor acht Tagen auf demselben Platze.“

Im Antlitz des Herrn Hirsch vollzog sich eine unbeschreibliche Veränderung; es ging sozusagen aus den Fugen. „Das waren Sie?“ stammelte er. Dann verstummte er, und seine Unterlippe sank herab. Mit einemmal aber lachte er laut auf, stemmte die Hände in die Seiten und rief: „Was haben Sie damals von mir gedacht?“

Ich zuckte ausweichend die Achseln.

„Nein, nein! Nur heraus damit! Sie haben sich gedacht: dieser Mann hat keine Lebensart.“

„Nun — wenn Sie selbst — —“

„Nicht wahr, ich hab’ es getroffen? O, ich weiß, ich weiß! Man glaubt das allgemein von mir. Aber ich sage Ihnen, ich habe Lebensart — ich muß Lebensart haben, denn ich bewege mich in Wien in der feinsten Gesellschaft. Auf dem Lande freilich, in der Fremde, laß ich mich gehen.“ Wie um diese Behauptung zu erhärten, fuhr er mit dem Messer in einen kleinen Berg von Kaviar, den man ihm auf einem Schüsselchen vorgesetzt hatte, und führte die Spitze zum Munde. „Ausgezeichnet! Echter Astrachan! Davon müssen Sie kosten! Ich habe ihn eigens für mich kommen lassen. Aber so versuchen Sie doch!“

Ich wollte ihn nicht verletzen und nahm ein bißchen von dem großkörnigen Roggen, der in der Tat vortrefflich war.

„Sie sind ein Feinschmecker“, sagte ich.

„Ja, das ist meine Schwäche — meine einzige Schwäche. Wenn Sie so lange leben, wie ich, werden Sie gleichfalls dahinter kommen, daß ein guter Bissen der reellste Genuß ist. Und ich kann’s vertragen. Meine Verdauung läßt nichts zu wünschen übrig. Für wie alt halten Sie mich?“

„Etwa sechzig —“

„Fehlgeschossen! Weit fehlgeschossen! Siebzig, sage ich Ihnen, siebzig! Zweiundsiebzig! Ja, man sieht es mir nicht an. Ein wenig Gicht in den Beinen — im übrigen bin ich vollkommen gesund und nehme es noch mit manchem Jungen auf. — Aber nun raten Sie, was ich mir nach dem Kaviar bestellt habe?“

„Nun, was denn?“

„Wildschwein! Köstliches Wildschwein, das ein benachbarter Förster in die Küche geliefert hat. Es ist jetzt gerade die Zeit. Sie sehen mich an? Sie lachen? Sie wundern sich, daß ich als Jude derlei esse.“

„Daran habe ich gar nicht gedacht.“

„Sie haben! Sie haben! Aber Sie sehen keinen Orthodoxen vor sich — obgleich ich in Galizien unter solchen aufgewachsen bin. Ich war seit jeher ein Freidenker, ein Aufgeklärter, und habe deswegen in früherer Zeit — jetzt ist es freilich ganz anders — manches Ärgernis erregt. Und nun gar bei meiner Frau! Die war — Gott lasse sie ruhen — in solchen Dingen von einer Strenge — eine wahre Chassidim! Etwas zu genießen, was gegen die Speisegesetze verstieß, erschien ihr als das größte Verbrechen. Seligmann, sagte sie oft zu mir, wenn ich in dieser Hinsicht gesündigt hatte, Seligmann — so heiße ich nämlich — du bist ein Abtrünniger! Und erst am Sabbat! Da hatt’ ich meine Not. Keine Pfeife durfte ich mir anzünden — damals rauchte man noch aus Pfeifen —, keinen Brief durfte ich schreiben — nicht einmal lesen. Aber dabei war sie eine prächtige Frau, wie man heutzutage keine mehr findet. Und von einer Schönheit! Geweint hab’ ich, geweint wie ein Kind, als man ihr am Hochzeitstag die tiefschwarzen Haare abschnitt. Welch ein Unsinn! Aber damals ging es nicht anders. Ja, das war eine Frau, meine Gittel!“ Er versank in sich und seine Augen wurden feucht.

Jetzt erschien der Eberbraten. Herr Hirsch blickte empor. „Nun? Sieht das nicht appetitlich aus? Nehmen Sie doch auch ein Stückchen!“ Und trotz meiner Einwendungen legte er mir eine Schnitte auf den Teller und fuhr, während er behaglich zu schmausen anfing, fort: „Es ist seltsam, wie sich manchmal die Dinge fügen. Ich habe eine eingefleischte Jüdin zur Frau gehabt, obgleich ich selbst, wie schon gesagt, niemals ein besonders guter Jude gewesen bin. Mein Sohn ist es viel mehr als ich — und sehen Sie, der hat wieder eine Frau, die sich ihres Judentums schämt. Sie stammt aus sehr feinem, vornehmem Hause — und gebildet ist sie — gebildet! Alle Sprachen spricht sie — und Bücher liest sie, von denen wir beide keine Ahnung haben. Aber sie ist auch eitel, sehr eitel! Alles, was in Wien irgendwie hervorragt, soll sich in ihrem Hause versammeln: Staatsmänner, Gelehrte, Künstler und Schriftsteller. Und die meisten kommen auch — obgleich man noch immer sehr gegen uns eingenommen ist — und diejenigen, die es nicht merken lassen wollen, sind es am meisten. Alle diese Leute erscheinen wohl im Salon, setzen sich auch nicht ungern an die Tafel — sobald sie aber wieder draußen sind, schütten sie sich schon auf der Treppe gegen die Juden aus. Ich weiß das. Und auch meine Schwiegertochter weiß es, obwohl sie es sich nicht eingestehen will. Daher fühlt sie sich im geheimen verstimmt, gedemütigt. Und mein Sohn liebt sie. Fabelhaft ist es, wie er sie liebt. Zehn Jahre sind sie schon verheiratet — und noch immer ist er so feurig, so voll Anbetung, wie am ersten Tage. Und sie ist nichts weniger als schön. Geist hat sie freilich — Geist und Energie. Sie wird es dahin bringen, daß sich mein Sohn taufen läßt — oder wenigstens die Kinder, damit sie nicht mehr als Hebräer in der Welt herumlaufen.“

„Und wäre Ihnen dies sehr unerwünscht?“

„Unerwünscht? Mir? Mein Gott, Sie wissen ja, daß ich kein Fanatiker bin, und schon vor Jahren hab’ ich es zum Entsetzen der Gemeinde ausgesprochen, daß uns allen schließlich nichts anderes übrig bleiben wird. — Und selbst wenn es mir nicht recht wäre, was könnt’ ich dagegen tun? Man muß seine Kinder gewähren lassen.“ Er seufzte und schob nachdenklich den Teller beiseite.

„Haben Sie mehrere Kinder?“ fragte ich nach einer Pause.

„Gehabt! Gehabt! Im ganzen waren es vier; zwei davon sind schon in früher Jugend gestorben. Nur dieser Sohn ist mir geblieben — und eine Tochter.“ Er schwieg eine Zeitlang, dann fragte er plötzlich: „Kennen Sie den König Lear von Shakespeare?“ (Er sprach Liar und Schikispir aus.)

„Ja — ich kenne das Stück.“

„Nun also, ich bin auch so ein König Liar! Doch nein,“ fuhr er mit hastiger Einschränkung fort, „Sie dürfen nicht glauben, daß meine Tochter eine Recha oder Gonowril ist — aber sie ist auch keine Ophelia. Ich will Ihnen die Sache erklären.“ Er lehnte sich weit zurück und fuhr nach einer Pause fort: „Wie Sie mich da vor sich sehen, bin ich ein armer Mann. Das heißt, wie man’s nimmt — ich habe, was ich brauche. Aber ich bin einst ein reicher, sehr reicher Mann gewesen. Und das zweimal. Das erstemal in Polen. Ich stand dort mit dem ganzen Adel in Verbindung, der meine Hilfe in Anspruch nahm, wenn er sich in Verlegenheit befand. Und da war ich zu gutmütig; ich konnte nichts abschlagen — und so verlor ich fast mein ganzes Vermögen. Mit dem Rest ging ich samt den Kindern — meine Frau war inzwischen gestorben — nach Wien. Sie können sich keinen Begriff machen, wie schwer es damals für unsereinen war, dort Fuß zu fassen. Aber es gelang mir. Ich knüpfte nach und nach Geschäftsverbindungen an — und wurde wieder der reiche Hirsch. Mit der Zeit war meine Sarah — das ist die Tochter — mannbar geworden. Eine Schönheit, sag’ ich Ihnen! Freilich ganz anders als die Mutter — aber eine Schönheit. Die heutigen Maler, die immer nur Weiber mit roten Haaren malen, würden sich um sie gerissen haben. Gefärbtes Haar kommt jetzt sehr häufig vor; aber das ihre war von Natur rotes Gold, und aufgelöst, fiel es wie eine Schleppe zu Boden. Nun besaß ich einen Geschäftsfreund, der hieß Mandel — ein sehr wohlhabender Mann, wohlhabender als ich. Der hatte einen Sohn, und dieser verliebte sich natürlich sofort in die Sarah. Eines Tages kommt der alte Mandel zu mir und sagt: ‚Hören Sie, Hirsch, geben Sie Ihre Tochter meinem Sohn. Ich werde ihm kaufen ein Gut in Ungarn — das war schon nach dem Jahre Achtundvierzig — und Ihre Sarah kann werden eine Schloßfrau.‘ Ich sagte nicht ja, ich sagte nicht nein. Die Partie war gut, sehr gut — aber der junge Mandel gefiel mir nicht. Er war mir zu unansehnlich, zu häßlich — mit Respekt zu melden, eine wahre Vogelscheuche. Ich rief mir also die Sarah und sagte: ‚Sarah, sagt’ ich, der junge Mandel hat um dich geworben. Ich rede dir nicht zu. Nimmst du ihn, so nimmst du ihn, wenn nicht, nicht.‘ Nun hatte ich erwartet, daß sie die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und aus dem Zimmer laufen würde. Aber nichts da! Sie erwiderte ganz ruhig: ‚Warum soll ich den jungen Mandel nicht nehmen, Vater? Ich nehm’ ihn.‘ Bald darauf war Hochzeit, eine glänzende Hochzeit. Ich aber drückte mich dabei in ein Nebenzimmer, denn ich schämte mich, daß meine Tochter einen solchen Untham zum Mann genommen, während die andern glaubten, ich hätte mich zurückgezogen, um im stillen Freudentränen zu vergießen wegen der reichen Heirat. Und so haben mich die Menschen niemals verstanden — niemals!“ Er riß bei diesen Worten mit heftiger Armbewegung eine Zigarrendose aus der Brusttasche und schickte sich zu rauchen an.

Nachdem er einige mächtige Wolken von sich geblasen, fuhr er fort: „Mit dieser Hochzeit begann wieder mein Unglück. Denn bald darauf erlitt ich Verluste — ungeheure Verluste. Die Börse! Die Börse! Was sollte ich beginnen? Ich war ein Bettler und schämte mich, auf die Straße zu gehen. Mein Sohn, der nun für sich selbst sorgen mußte, trat, obgleich er eben die Jura absolviert hatte, in ein Wollgeschäft — und ich, — nun, ich begab mich zu meiner Tochter nach Ungarn. Empfangen haben sie mich dort sehr anständig — sehr, das muß ich sagen. Aber es dauerte nicht lange, so nahm die Sache eine schiefe Wendung. Ich bin seit jeher ein tätiger Mann gewesen und kann nirgends so ganz müßig zusehen. Ich wollte daher meinem Schwiegersohne bei Verwaltung des Gutes an die Hand gehen; denn ich hatte in Polen allerlei Einblicke in die Landwirtschaft bekommen. Meine Tochter aber legte sich sofort ins Mittel. ‚Reden Sie doch‘ — damals sagten die Kinder noch Sie zu mir — ‚reden Sie doch dem Aladar‘ — eigentlich heißt er Aron — ‚nicht darein, lieber Vater; Sie sind ein Schlemihl.‘ Das tat mir weh — von meinem eigenen Fleisch und Blut. Aber recht hatte sie! Ich war ein Schlemihl. Also schwieg ich und kümmerte mich um nichts mehr. Doch was sollte ich den ganzen geschlagenen Tag in dem öden Schlosse auf der ungarischen Pußta? Ich suchte zuweilen ein nahe gelegenes Städtchen auf, wo sich die Landedelleute aus der Umgebung in einem Kaffeehause zusammenzufinden pflegten. Dort wurde, besonders an Markttagen, stark gespielt. Ich war nicht ganz ohne Mittel, denn mein Sohn verdiente bereits und schickte mir von Zeit zu Zeit, was er entbehren konnte — und so hielt ich mit. Aber das Unglück verfolgte mich nun einmal — ich verlor — bis ich endlich eine Spielschuld auf mir sitzen hatte. Nicht allzu hoch, aber zahlen konnt’ ich sie nicht und mußte mich, wenn auch ungern, in meiner Verlegenheit an Sarah wenden. Sie hatte zwar von mir eine ansehnliche Mitgift erhalten; aber ich wußte, daß sie seit jeher geizig war, sehr geizig. ‚Wozu brauchen Sie zu spielen, Vater? Diesmal will ich Ihnen das Geld geben, aber spielen dürfen Sie nicht mehr; Sie sind jetzt ein armer Mann.‘ Das war das Zweite. Aber recht hatte sie: ich war ein armer Mann. Rührte also keine Karte mehr an. Doch dabei blieb’s nicht. Es kam zum Vorschein, daß ich zu wählerisch im Essen und Trinken sei, und als ich eines Tages zufällig ein wenig hustete, hieß es: ‚Sie rauchen zu viel, Vater. Warum rauchen Sie so viel? Es wird Ihnen schaden.‘ Ich verstand den Wink — und der riß den Faden entzwei. Denn wer mir meine Zigarre nimmt, der nimmt mir mein Leben. Ich erwiderte nichts, obgleich mir das Herz zerspringen wollte; am nächsten Tage aber reiste ich ab und ließ Sarah mit ihrem Aladar allein. Denn Kinder haben sie nicht.“

Er war bei dieser Erzählung in Aufregung geraten und als er jetzt schwieg, atmete er heftig. Die geliebte Zigarre war ihm ausgegangen, aber er machte keinen Versuch, sie wieder anzuzünden, und blickte starr vor sich hin. „Fast könnte man sagen,“ fuhr er nach einer Weile mit tonloser Stimme fort, „auf diese Weise straft sie Gott. Denn auch meine Tochter ist eine echte Jüdin: sie kränkt sich, daß sie unfruchtbar geblieben.“

Ich wollte ihn ermuntern und sagte: „Dafür erleben Sie ja, wie es scheint, an ihrem Sohne um so größere Freude.“

Er sah betroffen empor. „An meinem Sohne? O ja! Gewiß! Mein Sohn ist ein edler Mensch — von dem kann ich haben, was ich will. Aber“ — er warf sich dabei in die Brust — „er ist mir auch Dank schuldig. Ich habe an seiner Erziehung nichts gespart und ihm sogar einen Hofmeister gehalten. Wie schon gesagt, er ist Jurist und hätte, wie mancher andere, in Staatsdienste treten — hätte Karriere machen können. Im vorigen Jahre wollte man ihn um jeden Preis in den Reichsrat wählen. Aber er hat es vorgezogen, ganz und gar Kaufmann zu bleiben. Und als solcher ist er einzig. Seine Kombinationen, seine Unternehmungen gehen ins Großartige. Er ist bereits Millionär.“

„Ich gratuliere. Und Sie leben bei ihm in Wien?“

„Natürlich! Natürlich! Das heißt, ich habe bei ihm gelebt. Aber da war wieder die Schwiegertochter der Stein des Anstoßes. Sie begreifen: die doppelte Eifersucht der Gattin und Mutter. Die Frau weiß, welche Stücke mein Sohn auf mich hält — und dann die Enkel! Ach, wenn Sie meine Enkel kennen würden!“ fuhr er mit aufleuchtenden Augen fort. „Ein Knabe und ein Mädchen. Wahre Engel! Besonders die Kleine, die Jenny — sieben Jahre ist sie alt. Reizend, sage ich Ihnen, reizend! Und ihren alten Großvater lieben sie abgöttisch! Da gab es denn immer Neid und Zwistigkeiten im Hause — so daß ich es endlich vorzog, für mich allein zu wohnen. Aber ganz in der Nähe, ganz in der Nähe; ich kann jeden Augenblick —“ Er brach plötzlich ab, als fehle es ihm an Atem, und rückte, in Gedanken versinkend, unruhig auf seinem Sitze hin und her.

Ich erwiderte nichts, und so trat längeres Schweigen ein. Er schien ganz und gar um seine mitteilsame Stimmung gebracht und beachtete mich kaum mehr. Sein Blick hatte etwas Erloschenes, Verglastes bekommen, seine Wangen waren eingesunken, seine Züge schlaff geworden — er sah mit einem Male wirklich sehr alt aus.

Jetzt stand er ganz unvermittelt auf und sagte: „Ich gehe zu Bett. Wohnen Sie auch hier?“ Und ohne meine Antwort abzuwarten oder gute Nacht zu sagen, hatte er sich entfernt.

Ich blieb nachdenklich sitzen. Ich hatte den Alten ohne Zweifel an einer sehr empfindlichen Stelle berührt, und bei einigem Nachsinnen konnte ich leicht herausbringen, wie das zusammenhing. Trotz seiner Unformen und Schwächen flößte er mir jetzt Teilnahme ein; denn ich empfand, daß er ein unglücklicher Mann war. Als nunmehr Herr Matzenauer erschien und mich, während er den Tisch abräumte, mit einiger Ironie fragte, wie ich mich mit Herrn Hirsch unterhalten habe, gab ich gar keine Antwort. Bald darauf in meinem Zimmer angelangt, hörte ich meinen Nachbar bereits schnarchen. Aber nicht so entsetzlich wie damals. Oder schien es mir nur so?

III.

Als ich am nächsten Tage von meinem gewohnten Morgenspaziergange nach Hause zurückkehrte, stand Herr Hirsch unten am Tore. Er sah wieder ganz frisch und munter aus und hatte einen von Neuheit funkelnden Zylinderhut unternehmend auf dem rechten Ohre sitzen; in der Hand hielt er eine kleine Reisetasche. Er schien mich kaum wiederzuerkennen und erwiderte meinen Gruß fast wie den eines Fremden.

„Nun, wie haben Sie geschlafen?“ fragte ich in meiner Betroffenheit.

„Vortrefflich!“ entgegnete er herablassend. „Und jetzt fahre ich nach M... Es ist zwar ein wenig frostig heute; aber das tut nichts. Kennen Sie den Ort?“

Ich verneinte.

„Ein ganz stattlicher Marktflecken, wo jeden Tag herrschaftliche Beamte zusammenkommen. Sie haben eine Art Kasino errichtet, und da geht es ganz lustig zu. Ich bin in diesem Sommer öfter dort gewesen und begreife gar nicht, daß ich diese Gesellschaft nicht schon längst wieder einmal aufgesucht habe, statt mich hier wie ein Mops zu langweilen. Kommen Sie vielleicht mit? Die Züge gehen ganz bequem; um zehn Uhr abends sind wir wieder zurück.“

Ich lehnte dankend ab.

„Nun dann Adieu!“ Er legte einen Finger an die Hutkrämpe und schlug den Weg nach dem Bahnhofe ein, der, außerhalb des Ortes liegend, mit einem kurzen Gange zu erreichen war.

So also benahm sich heute der Mann, der mir gestern sein ganzes Herz ausgeschüttet! Sein Entschluß aber, nach M... zu fahren, konnte mir nur angenehm sein. Denn trotz der Teilnahme, die ich für ihn zu hegen begonnen, hatte ich doch mit einem gewissen Bangen einer erneuten Einladung zum Billardspiel und sonstigen geselligen Anforderungen entgegengesehen.

Als er nachts zurückkehrte, saß ich in meinem Zimmer und las.

„Famos hab’ ich mich unterhalten — famos!“ rief er jemandem, wahrscheinlich Herrn Matzenauer, im Flur so laut zu, daß ich es bis herauf hörte. „Das sind ganz andere Leute, als die hiesigen. Gleich morgen fahre ich wieder hin!“

In der Tat war Herr Hirsch am nächsten Tage nicht zu sehen, auch nicht am nächstfolgenden — und am dritten blieb er sogar über Nacht weg.

„Herr Hirsch wird Ihnen ja ganz und gar untreu“, sagte ich beim Frühstück zu unserem Wirte.

„In Gottes Namen!“ entgegnete dieser ärgerlich. Es schien ihm doch nicht recht zu sein, daß der anspruchsvolle Gast sein Geld anderswohin trage. „Aber wissen Sie, was er in M... macht? Er spielt — und das ziemlich hoch. Denn dort ist eine richtige Bande beisammen. Der Verwalter und der sogenannte Forstmeister eines freiherrlichen Gutes, beide so verschuldet wie der Besitzer selbst, und ein verlotterter Winkelschreiber, der früher einmal in der Gegend Amtmann gewesen, die drei rupfen den alten Vogel, was das Zeug hält. Gestern mußte er von mir schon hundert Gulden borgen, und in der Hitze des Gefechts hat er sicherlich den Zug versäumt. Wenn er nur bis Mittag heimkommt. Es liegt oben ein Telegramm für ihn — wahrscheinlich von seinem Sohn.“

Wirklich traf Herr Hirsch um zwölf Uhr ein. „Ein Telegramm!? Ein Telegramm!?“ schrie er, während er die Treppe hinauf in sein Zimmer polterte. „Wo ist das Telegramm?“ Dann nach einer Pause: „Mein Sohn kommt! Mein Sohn! Also jetzt gilt’s, Herr Matzenoër! Machen Sie Ihrem Hotel Ehre! Das andere Zimmer ist doch, wie ich befohlen, in den letzten Tagen geheizt worden? Und dann einen Wagen! Einen Wagen auf sechs! Mein Sohn kommt zwar leider allein — nicht mit Familie, wie ich gehofft — aber zu Fuß kann er nicht gehen. Zu Fuß nicht! Und sagen Sie Ihrer Frau, daß sie sich zusammennehmen soll. Das Essen muß exquisit sein. Ein Diner! Ein Diner! Mein Sohn wird Appetit haben; denn ich weiß, daß er während der Fahrt nie etwas zu sich nimmt.“

Als er sich jetzt allein befand, rannte er bald in seinem, bald in dem für seinen Sohn bestimmten Nebenzimmer hin und her. Ich dachte, er würde vielleicht, erregt, wie er war, zu mir herüberkommen, um mich von dem großen Ereignisse in Kenntnis zu setzen. Aber es geschah nicht; er hatte mich offenbar bereits ganz vergessen.

Nun war ich aber denn doch ein wenig neugierig auf Herrn Hirsch junior, und da meine Essensstunde mit der betreffenden Bahnzeit zusammenfiel, so konnte ich voraussetzen, daß ich ihn im Speisezimmer würde sehen können.

Ich hatte auch eben mein Mahl beendet, als der Wagen angefahren kam und gleich darauf Vater und Sohn eintraten; der letztere eine distinguierte, aber keineswegs anspruchsvolle Erscheinung. Kleiner und viel zarter gebaut als sein Vater, wies er mit diesem überhaupt keinerlei Ähnlichkeit auf. Er hatte ein ausgesprochen jüdisches, scharf geschnittenes Profil; seine hohe und breite Stirn erschien infolge einer frühen Glatze noch ausdrucksvoller und bedeutender; die Augen blickten etwas müde durch eine feine Stahlbrille. Er nahm geräuschlos an dem Tische Platz, den Herr Matzenauer mit großer Sorgfalt gedeckt hatte und auf welchem vier Kerzen in einer silberplattierten Girandole brannten.

„Da siehst du das Speisezimmer!“ rief Herr Hirsch senior pathetisch. „Zwar nicht elegant, aber gemütlich. Laß dir nur gleich ein Glas Bier geben; ich weiß, du trinkst es gern. Es ist auch ganz ausgezeichnet — eigentlich das einzige Gute, das man hier haben kann. — Aber den Richard hättest du doch mitbringen können!“

„Ich habe dir schon gesagt, lieber Vater,“ erwiderte der andere mit gedämpfter Stimme, „daß beide Kinder stark erkältet sind. Man mußte also trachten, sie so rasch wie nur möglich nach Hause zu bringen.“

„Nun ja, nun ja — aber an der Bahn hätt’ ich sie doch sehen können.“

„Dann hätte man auch den langsamen Postzug benützen müssen — und das ist überhaupt unangenehm für Frauen und Kinder. Der Eilzug hält ja hier nur während der Badesaison.“

„Es ist wahr, es ist wahr — — Nun, ich werde ja die lieben Engel morgen in Wien ans Herz drücken!“

Der Sohn erwiderte nichts. Er schien nachdenklich und kostete zerstreut von dem Biere, das man ihm gebracht. Ich aber wollte nicht länger Zeuge dieses Familiengespräches sein, das der Alte in seiner gewohnten Ungebundenheit mit lautester Stimme führte, stand auf und entfernte mich.

Draußen war es mondhell. Ich ging, meine Zigarre zu Ende rauchend, eine Zeitlang auf dem verödeten Platze des Ortes auf und nieder; dann zog ich mich in mein Zimmer zurück.

Nach Ablauf einer Stunde kamen auch die beiden anderen die Treppe hinangestiegen und traten gleich von außen in das Gemach, welches für den Angekommenen in Bereitschaft stand. Dort begann nun eine Unterredung, die immer lebhafter wurde, so daß der Ton der Stimmen mehr und mehr zu mir herüberdrang. Plötzlich hörte ich den Alten ausrufen:

„Nach Venedig?! Was soll ich in Venedig?“ Er war dabei in sein Zimmer getreten und durchmaß es mit heftigen Schritten.

Sein Sohn, der offenbar keine Ahnung hatte, daß außer ihnen noch irgend jemand hier oben wohne, war ihm nachgefolgt und sagte jetzt begütigend: „Aber lieber Vater, du hast doch schon oft den Wunsch ausgesprochen, Venedig zu sehen.“

„Ja, mit euch! Mit euch wollt’ ich es sehen — mit euch wollte ich reisen. Aber allein! Was soll ich alter Mann allein in Venedig? Ich kann kein Wort Italienisch.“

„Das ist auch gar nicht notwendig. In dieser Familie wirst du dich wie zu Hause fühlen. Man wird in jeder Hinsicht für dich sorgen — und auf diese Art wirst du nach und nach ganz bequem das eigentümliche Leben der Stadt kennen lernen.“

„Ich will es aber nicht kennen lernen! Was kümmert mich das Leben von Venedig? Ich habe an meinem eigenen genug. Und bei diesen Schnorrern will ich schon gar nicht sein!“

„Es sind keine Schnorrer. Der Mann hat einen sehr ansehnlichen Posten bei einem dortigen Bankhause.“

„Durch wen aber hat er ihn erhalten? Durch dich! Durch dich! Ich sehe schon, unter Aufsicht soll ich stehen. Überwachen soll man jeden meiner Schritte!“

„Das bildest du dir ein.“

„Nichts bild’ ich mir ein! Nichts! Ihr verschwört euch hinter meinem Rücken! Ihr verbannt mich! O, ich weiß, ich weiß! Schon diesen Sommer sollte ich nicht bei euch in Hietzing zubringen — die Villa wäre doch groß genug — und so ist es geschehen, daß mir der Arzt eine Kaltwasserkur und längeren Aufenthalt im Gebirge verordnet hat. Mir fehlt gar nichts! Ich bin ganz gesund!“

„Gott sei Dank, daß du es bist, lieber Vater. Desto mehr wirst du in Venedig genießen können.“

„Wenn ich aber nicht will und nicht mag! Und wenn ich auch möchte, wie könnt’ ich’s — ferne von euch! Bernhard!“ fuhr er flehentlich fort, „lieber Bernhard, verstoße mich nicht! Ich weiß, der Vorschlag kommt nicht aus deinem Herzen, die Frau will mich weg haben!“

„Du irrst. Die Stellung, welche ich gegenwärtig anstrebe, die Verbindungen, die ich infolgedessen unterhalten muß — mit einem Wort, die Verhältnisse machen es durchaus notwendig, daß du diesen Winter nicht in Wien zubringst.“

„Ich werde auch nicht dort sein — für keinen Menschen werde ich dort sein! Einmieten will ich mich in irgend einer Vorstadt — kein Auge soll mich erblicken! Nur alle acht Tage laßt mich kommen auf eine Viertelstunde, daß ich dich sehen kann — und umarmen die Enkelchen!“

„Wie oft hast du das schon gesagt! Derlei unwürdige und unnatürliche Abmachungen wären ja auch gar nicht notwendig, wenn du nur ein wenig Vernunft annehmen wolltest. Aber darin liegt es. Wenn du nicht den ganzen Tag im Hause sein kannst, wenn du nicht zu jedem Diner, zu jeder Gesellschaft mitgeladen wirst, so fühlst du dich aufs tiefste gekränkt, machst uns die heftigsten Vorwürfe, die unerquicklichsten Szenen. Und dann — so weh es mir tut, es dir neuerdings sagen zu müssen —“

Er verstummte; denn ich hatte mich jetzt sehr nachdrucksvoll geräuspert. Die unfreiwillige Lauscherrolle, die ich spielte, war mir bereits höchst peinlich geworden. Man zog sich drüben sofort in das anstoßende Zimmer zurück und schloß die Verbindungstür.

Nun war es still. Aber nicht lange. Der Auftritt setzte sich drei Zimmer weit von mir fort. Allerdings verstand ich jetzt nicht mehr, was gesprochen wurde; aber die Stimme des Alten drang von Zeit zu Zeit an mein Ohr: bald klagend, bald drohend, bald flehend. Endlich ein dumpfer Aufschrei — dann trat vollständige Ruhe ein.

Bald darauf kam Herr Hirsch in sein Zimmer geschlichen und legte sich zu Bett. Aber das gewöhnliche Schnarchen erfolgte nicht. Ich hörte ihn seufzen, leise stöhnen — und, wie ich glaubte, auch leise weinen — bis ich einschlief.

*                    *
*

Am nächsten Morgen war der Angekommene bereits wieder abgereist. Sein Vater hatte ihn zur Bahn begleitet und kam jetzt im Wagen zurückgefahren. Er trat in das Speisezimmer, wo ich soeben gefrühstückt, und sah sehr bleich und angegriffen aus. Als er meiner ansichtig wurde, machte er eine Anstrengung, sich zu ermuntern, und schüttelte mit erkünstelter Lustigkeit seinen Hut aufs rechte Ohr. „Aha, Sie hier? Guten Morgen! Guten Morgen! Haben Sie meinen Sohn gesehen? Der ist schon wieder fort — denn er muß noch heute abend in Wien sein. Und wissen Sie, wohin ich zur Abwechslung gehe? Nach Venedig! Was sagen Sie! Nach Venedig! Es ist schon lange mein Wunsch gewesen — und mein Sohn hat es mir möglich gemacht, den Winter dort zuzubringen. Ich werde bei einer sehr feinen Familie wohnen und mir nichts entgehen lassen, was die wunderbare Stadt bietet. Ich freue mich schon auf die Gondelfahrten. Schade, daß ich nicht jünger bin — denn die Venezianerinnen sollen einzig sein!“ Er versuchte ein frivoles Gelächter aufzuschlagen, verstummte aber plötzlich; man sah, daß ihm das Weinen nahe war.

Ich wünschte ihm glückliche Reise und ließ ihn allein.

*                    *
*

Noch am selben Tage zog Herr Hirsch ohne weitere Verabschiedung von dannen. Ich aber verblieb, während nun der Winter mit aller Macht hereinbrach, in dem Gasthause zu den „Drei Monarchen“.

IV.

In den Sälen des Wiener Musikvereins fand ein großer Ball statt. Es war eines jener glänzenden Wohltätigkeitsfeste, wie sie jetzt infolge der steigenden Not — aber auch der zunehmenden Eitelkeit — immer häufiger veranstaltet werden. Seit einer Reihe von Jahren hatte ich an derlei Vergnügungen nicht mehr teilgenommen; hauptsächlich schon deshalb, weil ich oft und lange von Wien ferne gewesen. Heute aber hatte ich mich eingefunden, um wieder einmal die „große Welt“ auf mich wirken zu lassen und sie in ihren neuen und neuesten Erscheinungen zu beobachten. Diese letzteren waren in der vorwiegenden Mehrzahl, und so kam es, daß ich mich bald in dem bunten Gewühl, das die strahlenden Räume durchwogte, fremd und vereinsamt fühlte. Selbst ältere Bekannte hatten einige Mühe, sich meiner zu entsinnen, und reichten mir dann bloß mit einem flüchtigen: „Ah, Sie sind wieder da!“ im Vorübergehen die Hand.

Etwas nachhaltiger, wenn auch mit ähnlichen Worten, wurde ich von einem stattlich und vornehm aussehenden Herrn begrüßt, der, als ich mich jetzt eben in eine Ecke zurückziehen wollte, auf mich zugeschritten kam.

Dieser Mann war eine stadtbekannte Persönlichkeit und nahm in der Gesellschaft eine eigentümliche Stellung ein. Aus einer sehr angesehenen jüdischen Familie stammend, hatte er von seinen Vätern zwar Reichtum, jedoch nicht die Gabe ererbt, ihn zu vermehren oder auch nur zu bewahren. Früh auf Reisen gegangen, hatte er längere Zeit in Paris gelebt — und war dann später in Wien durch allerlei noble Passionen mit seinem Vermögen glücklich zu Rande gekommen. Da er aber fast mit der gesamten Geldaristokratie in verwandtschaftlichen und sonstigen Beziehungen stand, so konnte man ihn von jener Seite nicht fallen lassen und verschaffte dem Ärmsten allerlei geschäftliche Sinekuren, die ihm keine andere Verpflichtung auferlegten, als zu gewissen Terminen gewisse Dividenden einzustreichen. Infolgedessen konnte er mit einiger Einschränkung seinen bisherigen Gewohnheiten treu bleiben und war in der Lebewelt, männlichen sowohl, wie weiblichen, daher auch in Künstlerkreisen, ob seines beweglichen Geistes und schlagfertigen Witzes sehr beliebt; im übrigen aber wurde er nicht besonders geachtet. Da er dies, je länger, je tiefer empfand, so überkam ihn bei zunehmenden Jahren das Bedürfnis sich zu rächen, und zwar damit, daß er die ätzende Lauge seines Spottes über alles und jedes — und nicht am wenigsten über seine eigenen Stammesgenossen ausgoß. Kein eingefleischter Antisemit konnte gegen das jüdische Wesen ärger losziehen, als dies Herr X bei jeder Gelegenheit mit dem breitesten Behagen zu tun liebte.

„Also wo haben Sie denn wieder so lange gesteckt?“ fragte er. „Auf dem Lande? Sie werden noch ganz und gar verbauern. — Aber was sagen Sie zu der heutigen Crême der Gesellschaft? Zu unseren modernen Größen? Unseren modernen Schönheiten? Schwindel! Pofel! Glänzender Pofel — nichts weiter! Und finden Sie nicht das nationale Element (damit meinte er das jüdische) sehr in den Vordergrund gerückt? Ich möchte wetten, daß zwei Drittel der verehrten Anwesenden mosaischer Konfession sind — wie man sich in meiner Jugend euphemistisch auszudrücken pflegte. Und auch die Ball-Patronessen sind zur Hälfte Jüdinnen.“ Er wies dabei auf eine Gruppe von Damen, die nicht allzuweit von uns im Gespräche beisammen standen. „Betrachten Sie nur gefälligst diese Nasen! Diese runden Rücken! Die gute Baronin Hirtburg ist auch dabei. Zehn Jahre lang war es ihr kühnster Traum, mit der Fürstin M... als Patronesse zu figurieren — nun hat sie’s erreicht. Was ihr an Haltung abgeht, hat sie durch Schmuck ersetzt. Dort — die dicke Person meine ich, die eben mit der Fürstin spricht. Sieht sie nicht aus wie in Brillanten gefaßt?“

Ich blickte nach der bezeichneten Dame, die in der Tat eine geradezu fabelhafte Kleider- und Diamantenpracht entfaltet hatte.

„Auch ihr Gemahl ist, wie gewöhnlich, in der Nähe“, fuhr X mit einem Seitenblicke fort. „Ein höchst bemerkenswerter Mann. Man schätzt ihn bereits auf zwanzig Millionen. Und er kann’s noch weiter bringen, wenn sich die Herren Anarchisten nicht ins Mittel legen. Denn er ist ein außergewöhnlich feiner Kopf — eine Art Geschäftsgenie. Aber kein Lotos ohne Stengel. Das heißt, jeder Mensch hat seine besondere Dummheit. So auch er. Er liebt nämlich seine Frau bis zum Exzeß. Beachten Sie nur, wie er dasteht und in ihrem Anblick schwelgt. Wie ein Verzückter!“

Ich hatte mich nach der angegebenen Richtung hin gewendet und den Herrn ins Auge gefaßt. Je länger ich ihn betrachtete, desto bekannter kam er mir vor. „Wie haben Sie vorhin die Dame genannt? Baronin Hirtburg? Heißt denn jener Herr nicht Hirsch?“

Mein Cicerone lachte laut auf. „Man sieht, daß Sie weiß Gott wo leben. Hirsch hieß er — Hirtburg heißt er. Er hat sich diesen Namen mit dem Baronat erworben — oder sagen wir gekauft. Auch der Taufe war er schon nahe. Aber er würde sich damit um allen Kredit gebracht haben; denn Israel setzt gegenwärtig wieder mehr denn je seinen Stolz darein, dem Wasser auszuweichen.“

„Und wissen Sie vielleicht, was mit seinem Vater geschehen ist? Lebt er noch??“

„Der alte Seligmann? Haben Sie den gekannt?“

„Ganz oberflächlich. Ich bin vor Jahren irgendwo mit ihm zusammengetroffen.“

„Seien Sie froh, daß Sie ihn nicht näher kennen gelernt. Ein ganz unmögliches Individuum. Wissen Sie wirklich nicht, wie er geendet hat?“

„Nein.“

„Dann will ich’s Ihnen sagen. Selbst wenn Sie ihn nur einmal gesehen haben, werden Sie begreifen, daß man einen solchen Vater nicht im Hause haben kann. Das hätte sich übrigens in irgend einer Weise arrangieren lassen. Aber der alte Jobber, der selbst einmal ein ganz hübsches Vermögen besessen, konnte das Börsenspiel nicht lassen. Wie oft sein Sohn die Differenzen für ihn gezahlt haben mag, weiß ich nicht. Endlich aber wurde es diesem doch zu viel. Da griff denn der Herr Papa, um seine Leidenschaft befriedigen zu können, zu allerlei seltsamen Ressourcen — zuletzt verlegte er sich gar wieder auf unsaubere Wuchergeschäfte, mit welchen er einst seine Laufbahn begonnen hatte, und die ihn schließlich noch mit den Gerichten in Konflikt zu bringen drohten. Wie kompromittierend für das zukünftige freiherrliche Haus! Also mußte er um jeden Preis aus Wien entfernt werden. Man schickte ihn fürs erste in kleine Bäder — dann internierte man ihn in Venedig. Nun denken Sie sich den alten Hirsch in Venedig! Ein Rhinozeros in einem Aquarium! Aber Scherz beiseite. Der alte schwachsinnige Mann, der gleich allen Juden an seiner Familie hing, wie das Eiweiß am Dotter, ist darüber verrückt geworden, ohne daß es die Leute, die ihn in jeder Hinsicht überwachen sollten, gleich bemerkt hätten. Eines schönen Morgens, als er sich seiner Gewohnheit nach am Kinn eigenhändig den Bart abnahm, hat er das Messer um einen Zoll zu tief angesetzt und sich einen ganz kleinen Schnitt am Halse beigebracht. Und dieser Schnitt, sehen Sie, ist der wunde Fleck im Hause Hirtburg. Was sag’ ich Fleck! Ein Abgrund ist’s, den der Herr Baron gern mit ein paar Millionen ausfüllen möchte, wenn es ginge — denn er hat — auch das ist unbegreiflich! — seinen Vater außerordentlich geliebt. Aber sieh’ da: Hirtburg, der Jüngste!“ Er deutete mit den Augen nach einem jungen Manne, der eben auf den Baron zuschritt. „Was sagen Sie zu diesem Exemplar? Ist er nicht ganz sein Großvater in nuce? Seit Darwin kennt man die Sache. Ein solcher Sohn könnte mir gestohlen werden. Dafür aber ist die Tochter desto reizender. Geradezu bezaubernd. Woher sie’s hat, weiß ich nicht. Eine der wenigen jüdischen Schönheiten, die ich gelten lasse. Kommen Sie, ich werde sie Ihnen zeigen“, setzte er, sich auf den Fußspitzen erhebend, hinzu. „Wenn ich nicht irre, tanzt sie dort eben wieder mit einem jungen Diplomaten, einem Marquis der république française. Der scheint es auf ihre goldene Hand abgesehen zu haben.“

Er hatte mich unter dem Arme gefaßt, und wir drängten uns durch den Kreis von Zusehern, der sich um die Tanzenden gebildet.

„Sehen Sie dort die hohe, schlanke Gestalt mit den Teerosen auf dem Kleide? Nun, was sagen Sie? Ist das ein Wuchs? Sind das Bewegungen? Die Grazie selbst. Und dieses Profil! Diese Augen — diese Haare —“

„In der Tat, ein wunderbares Geschöpf!“

Voilà: die Enkelin von weiland Seligmann Hirsch.“

Die Troglodytin.

Vorwort des Herausgebers.

Die Novelle soll nach Saars Bericht an Stefan Milow 1887/88 in Blansko entstanden, nach dem Bericht an Bettelheim dagegen schon 1887 erschienen sein. Wenn diese letztere Angabe richtig ist, muß sie, wie die meisten übrigen, zuerst in einer Zeitschrift veröffentlicht worden sein. Ich kenne nur den ersten Abdruck in Buchform, in der dritten Novellensammlung „Schicksale“ 1889 (Seite 195-271). Für die zweibändige Ausgabe der „Novellen in Österreich“ 1897 (zweiter Band, Seite 129-178) kündigte Saar dem Verleger am 10. Januar 1897 an, daß eine kleine Änderung notwendig sei; sie befindet sich bei der Schilderung des Marktfleckens (Seite 123 unserer Ausgabe) die im ersten Druck so lautet: „... Marktflecken, der bereits städtische Aspirationen zu hegen begann. Das Gericht des Bezirkes und das Steueramt hatten dort ihren Sitz; desgleichen ein Advokat und ein Notar, welche, sowie einige andere wohlhabende Bürger, ganz stattliche Häuser bauen ließen; es entstand sogar eine nette, pompejanisch bemalte Villa, welche ihr Eigentümer an Sommergäste zu vermieten gedachte, denn die landschaftlichen Reize der Gegend erfreuten sich in der nahegelegenen Landeshauptstadt eines gewissen Rufes. Außerhalb ...“ In der zweiten Auflage der zweibändigen „Novellen aus Österreich“ 1904 (a. a. O.) ist neben diesen stilistischen Änderungen die Chiffre B... in Brünn aufgelöst worden. Auf diesem Text beruht dann der Abdruck in Reclams Universalbibliothek (1904, Nr. 4600, Seite 65-104), in welchem nur noch einige „welcher“ abgeschafft sind. Die zweite Auflage der „Schicksale“ (o. J. [1897]) beruht auch hier auf demselben Satz wie die Ausgabe der Novellen aus demselben Jahr.

„Ja, es ist eine Zeit her, daß ich die Geschichte erlebt,“ sagte der Forstmeister Pernett, indem er sich nachdenklich den angegrauten Bart strich, „und doch ergreift mich noch heute die Erinnerung daran ganz eigentümlich. Aber hören Sie:

I.

Man schrieb das Jahr 65, und ich befand mich als Adjunkt im Dienste des Grafen W.... auf einem seiner Güter in Mähren. Der Revierförster, dem ich zugeteilt wurde, war ein ausgezeichneter Forstmann, aber schon ziemlich bejahrt und überdies mit einem bösen Gichtleiden behaftet, daher fast der ganze eigentliche Dienst auf meinen Schultern lastete. Doch jung und kräftig, meinem Berufe leidenschaftlich ergeben, ließ ich es mich nicht verdrießen, zu leisten, was eben zu leisten war — und manchmal auch noch mehr. Ich kam also, außer bei dienstlichen Gängen nach der im Schlosse befindlichen Forstkanzlei, nur sehr selten aus dem Wald heraus, was ich übrigens gar nicht bedauerte. Denn ich war kein Wirtshausgeher, kein Freund des Kegelschiebens und sonstiger Unterhaltungen, auf welche in der Regel der Sinn junger Leute gerichtet ist. Eines aber entbehrte ich schwer: den Umgang mit angenehmen Frauenzimmern, zu denen ich, offen gestanden, Zeit meines Lebens große Neigung empfunden. Und gerade in dieser Hinsicht sah es im Forsthause sehr traurig aus. Die alten Leute hatten zwar zwei Töchter — ein Sohn war ihnen versagt geblieben —, aber die eine war schon verheiratet, als ich kam, und die andere folgte bald diesem Beispiele, indem sie die Frau eines fürstlichen Schloßgärtners in der Nachbarschaft wurde; ich blieb also in unserem Heim auf den Anblick der wohlbeleibten, schwerfälligen Försterin und einer alternden Magd beschränkt. Im übrigen freilich hatte ich nur allzuoft mit jungen Weibsleuten zu tun, die nicht ganz ungefährlicher Art waren. Die zahlreichen und ausgebreiteten herrschaftlichen Industrien hatten nämlich eine Arbeiterbevölkerung, gewissermaßen ein ländliches Proletariat geschaffen, das die Gegend in weitem Umkreise bewohnte und von der Hand in den Mund lebte; bäuerliche Ansassen gab es nur wenige. Die Weiber und Töchter dieser Leute verdingten sich denn auch als Tagelöhnerinnen bei der Feld- und Forstwirtschaft, und so kam es, daß ich oft eine Schar von Mädchen beim Aussetzen der Kulturen zu verwenden und zu beaufsichtigen hatte; außerdem erschienen sie an bestimmten Tagen im Walde, um Klaubholz zu sammeln. Sie hatten durchaus nichts Plumpes und Ungeschlachtes an sich, vielmehr waren die meisten schlanke, zierliche Gestalten mit wohlgeformten Händen und Füßen, und was man auch gegen die Gesichter einwenden konnte, schöne Augen hatten sie fast alle und wußten davon auch ausgiebigen Gebrauch zu machen. Dabei waren sie träg und nachlässig, naschhaft und diebisch — und auch sonst zu jedem Unfug aufgelegt. Weh’ dem, der sich mit einer von ihnen leichtfertig eingelassen hätte; er wäre unrettbar in die Verlotterung mit hineingezogen worden. Wie oft scherzte ich mit dem Wirtschaftsadjunkten, der ein junger Mann von gutem Hause und mancherlei Kenntnissen war, über unser gemeinsames Schicksal, das uns, während wir doch über mehr willfährige Sklavinnen hätten verfügen können als der Großtürke, zu einem trostlosen Zölibat verurteilte und uns obendrein noch zwang, dem verführerischen Völklein gegenüber grimmige und bärbeißige Mienen aufzusetzen, die freilich auch nicht besonders wirksam waren; sie hatten im besten Falle vorwurfsvoll schmachtende — in der Regel aber nur übermütig herausfordernde Blicke und spöttisches Gelächter hinter unserem Rücken zur Folge. Dennoch hielten wir uns wacker, und was mich selbst betraf, so kann ich heute noch sagen, daß ich mich von all den hübschen Teufelinnen vollkommen frei bewahrt habe. Einmal aber war doch die Versuchung auf ganz merkwürdige Art an mich herangetreten.

Der Ort, in dessen nächster Nähe sich das Schloß befand, war ein ausgedehnter, von einem Flusse durchströmter Marktflecken, dessen Einwohnerschaft aus ziemlich wohlhabenden Bürgern und Grundbesitzern bestand; auch das Gericht des Bezirkes hatte dort seinen Sitz. Außerhalb des Ortes, in gleicher Linie mit der nach den gräflichen Hütten- und Eisenwerken führenden Chaussee, lief eine langgestreckte Gasse hin, die aus gleichmäßig erbauten und mit kleinen Gärten versehenen Häusern bestand. Es war eine Arbeiterkolonie, die schon ein Vorfahr des Grafen nach englischem Muster ins Leben gerufen, und in welcher Sauberkeit und verhältnismäßiger Wohlstand herrschten, da die Inwohner, zumeist Maschinenschlosser und Modelltischler, gut bezahlte, intelligente Leute waren, deren Mehrzahl bereits anfing, sich mit allerlei sozialistischen Problemen zu beschäftigen. Im Rücken des Ortes selbst hingegen, an den zerklüfteten Ufern eines weitläufigen Baches, hatte eine andere Ansiedelung Platz gegriffen, die sich wüst und unfreundlich genug ausnahm. Denn dort hausten niedrige Löhner und Handlanger, die, mit ihren zahlreichen Familien in schlecht gemauerten Hütten bunt zusammengepfercht, ein von Not und Kümmernis bedrängtes Dasein fristeten. Unter ihnen befand sich auch ein heruntergekommener Mensch, namens Kratochwil. Er hatte einst bessere Tage gesehen und war vor einiger Zeit noch Eigentümer der Kaluppe gewesen, in welcher er jetzt mit seinem Weibe und fünf Kindern eine jämmerliche Räumlichkeit innehatte, ab und zu bei den Hochöfen und Ziegeleien beschäftigt. Da er aber infolge des Branntweintrinkens, dem er ergeben war, auch körperlich immer mehr verfiel, so konnte er kaum mehr zu irgend einer Arbeit verwendet werden und wurde schließlich, rückständiger Miete halber, eines Tages mit den Seinen erbarmungslos vor die Tür gesetzt. Noch gelang es den Leuten, die sich in ihrem Elend zu den unsaubersten Hantierungen herbeiließen, bei dem Abdecker des Ortes in einem notdürftig schützenden Verschlag unterzukriechen; sie hatten sich jedoch kaum dort eingenistet, als auch schon der Flecktyphus unter ihnen ausbrach und das Weib samt zwei Kindern in das Notspital der Gemeinde geschafft werden mußte. Die Kinder starben, die Mutter genas und kehrte zu den Ihren zurück, die nunmehr, da sie ihren Schlupfwinkel sofort hatten verlassen müssen, unter freiem Himmel kampierten. Da es Sommer war, so ging diese Lebensweise mit Zuhilfenahme von Betteln und allerlei Felddiebstählen eine Weile hin, als aber endlich die rauhe Jahreszeit hereinbrach, schienen die Obdachlosen dem völligen Untergange preisgegeben. Es wäre zwar Pflicht der Gemeinde gewesen, für die Leute, welche als Eingeborene nicht „abgeschoben“ werden konnten, in irgend einer Weise Sorge zu tragen, und wirklich kam auch die Sache im Rate zur Verhandlung. Da sich jedoch nicht absehen ließ, wie diesem von Gott verlassenen Menschenknäuel Hilfe zu bringen wäre, und es doch nicht anging, eine aus fünf Köpfen bestehende Familie schlankweg aus dem Gemeindesäckel zu ernähren, so kam man zu keinem Beschlusse und ließ einstweilen die Dinge ihren Lauf nehmen. Da fügte es der Zufall, daß die Landplage der wandernden Zigeuner auch wieder einmal über den Ort kam. Man mußte diesen Nomaden eine mehrtägige Lagerung außerhalb des Weichbildes gestatten und stellte ihnen eine versandete Hutweide am linken Ufer des Flusses zur Verfügung, wo auch alsbald eine Reihe löcheriger Zelte aufgeschlagen war. Nach ihrem Abzuge zeigte sich eine geräumige Erdvertiefung, welche die Bewohner eines weitläufigen Zeltes zu besserem Wetterschutz mochten gegraben haben; auch eine Anzahl brüchiger Zeltstangen war zurückgeblieben. Auf diese Überreste einer annähernd menschlichen Behausung stürzten sich die Kratochwil, die das braune Volk die ganze Zeit über mit scheeläugiger Neugierde umlauert hatten, wie Habichte und nahmen sofort davon Besitz. Die Schütte faulen Strohes, die sie samt einigen schlechten Lumpen in der Grube vorfanden, diente ihnen fürs erste zu willkommener Lagerstätte, und nachdem ihr stumpfer Sinn einmal angeregt war, ergab sich das Weitere von selbst. Mit Benutzung der Zeltstangen, mit zusammengerafftem alten Lattenwerk und frischem Tannenreisig wußten sie eine schützende Bedachung herzustellen, unter der sie sich, so gut es anging, häuslich einrichteten. Sie gruben die eine Hälfte des Geviertes noch um einiges tiefer und erlangten dadurch zwei Wohnräume, wo sie Moos und trockenes Laub aufschütteten. Sie sorgten für eine gesicherte Feuerstelle, sie legten eine unterirdische Vorratskammer an, in der sie erbeutete Lebensmittel verwahrten, und da man ihnen gestattet hatte, im Walde Holz zu sammeln, so war auch bald ein ganz stattlicher Vorrat an Brennmaterial in der Nähe des Einganges aufgeschichtet; ja, als der Frühling ins Land zog, versuchten sie sogar auf ihrem Territorium Kartoffeln und andere leicht wuchernde Gemüse zu pflanzen. Mit höhnischer Verwunderung blickte man nach dem seltsamen Anwesen, das sich, von zwei jungen Silberpappeln überragt, eigentlich ganz malerisch ausnahm. Einige Spaßvögel hießen es bereits „Villa Kratochwil“; der Wirtschaftsadjunkt aber hatte die Inwohner einmal gesprächsweise die Troglodyten genannt, und diese, wenn auch nicht ganz zutreffende Bezeichnung war ihnen seither im Munde vieler geblieben. Um ihr sonstiges Tun und Treiben kümmerte sich niemand. Die Kinder wuchsen selbstverständlich ohne Schulunterricht in äußerster Verwahrlosung heran. Der ältere Junge, ein blutleerer, lendenlahmer Gesell, schien noch die besten Anlagen zu besitzen, denn er wurde des Herumlungerns müde und verdingte sich als Knecht bei einem Fuhrmann, der allerdings selbst herabgekommen war und nur noch ein paar abgetriebene Mähren im Stall hatte. Die beiden Jüngsten aber, ein Mädchen und ein Knabe, zeigten seit ihrer frühesten Kindheit die schlimmsten Eigenschaften. Nicht allein, daß sie aufs Zudringlichste bettelten, sie stahlen auch wie die Elstern; besonders war das Mädchen in dieser Hinsicht berüchtigt und gefürchtet. Das kleine Ding wußte sich des Abends in die Häuser einzuschleichen, wo sie in irgend einem Versteck die Nacht zubrachte, um am frühen Morgen mit leicht erhaschter Beute zu entweichen. So wurde sie einmal sogar unter dem ehelichen Lager eines Gutsbeamten entdeckt, dingfest gemacht und dem Gerichte überantwortet. Da sie aber noch nicht in dem Alter gesetzlicher Verantwortlichkeit stand, mußte sie wieder frei und der häuslichen Züchtigung anheimgegeben werden. Was es mit der letzteren auf sich hatte, konnte man sich mit Hinblick auf die Eltern vorstellen, welche wohl in ihrer Sucht nach Branntwein wenigstens indirekt die Mitschuld der Anstiftung mochten getragen haben. Endlich aber war die Dirne doch schon mehr als halbwüchsig, als sie im Verein mit ihrem jüngeren Bruder bei Nacht in eine verrammelte Bodenkammer drang und dort allerlei entwendete. Sie wurde also wegen Einbruchsdiebstahls auf ein Jahr ins Zuchthaus gesteckt, während der Bursche mit einer leichten Gefängnisstrafe im Orte selbst davonkam.

In dieser Verfassung befand sich die Familie Kratochwil, deren bisherige Schicksale mir bloß vom Hörensagen bekannt waren, während meines ersten Dienstjahres, und auch ich konnte nicht umhin, ihrer freien Siedelung Aufmerksamkeit zu schenken, wenn ich daran vorüberkam, und das war bei meinen Dienstgängen, einer erwünschten Wegkürzung halber, meistens der Fall. Auch drängte sich bei der kleinen Nebenbrücke, die dort über den Fluß führte, stets der Bursche auf, der jeden anbettelte, von dem er möglicherweise noch eine Gabe zu erlangen hoffte. Er wies dabei den widerlich aussehenden Stumpf seiner rechten Hand vor, die er sich, als man ihn einmal zur Feldarbeit zwingen wollte, aus Ungeschick oder, wie behauptet wurde, vorsätzlich mit einer Sichel verstümmelt hatte. Im übrigen jedoch war er ein kräftiger, von Gesundheit strotzender Junge, dessen tadellosen Körperbau man bewundern mußte, wenn er, halb nackt, fischend oder krebsend im Wasser stand. Auch sein Gesicht war bei aller Rohheit nicht unschön, und seine lebhaften, olivengrünen Augen stachen eigentümlich von einer dichten Fülle kupferfarbener Haare ab, die senkrecht über seiner Stirn emporstanden. Zudem hatte er bei aller Frechheit etwas Gutmütiges und Drolliges, so daß man oft nicht umhin konnte, ihm wider bessere Einsicht kleine Münze oder einen Zigarrenstummel zuzuwerfen, an welchem er auch sofort unter tollen Freudensprüngen mit den wunderlichsten Grimassen zu saugen begann.

Eines Tages — es war im Mai, der sich nach einem rauhen, fast winterlichen April herrlich anließ — hatte ich wieder in der Forstkanzlei zu tun. Als ich mich der Brücke näherte, gewahrte ich unten, hart an der Uferböschung, eine weibliche Gestalt liegen, die sich im warmen Flußsande träg und behaglich sonnte. Sie war nur mit einem dünnen, farblosen Fähnchen bekleidet, das ihr, vielfach zerschlissen, kaum über die Kniee zu reichen schien. Das verwaschene bunte Kopftuch war in den Nacken hinabgesunken und ließ krauses dunkles Haar sehen; der Blick starrte gedankenlos gen Himmel. Da jetzt meine Schritte auf den Balken erdröhnten, wandte sie mir mechanisch das Haupt zu, unter welches sie beide Arme geschoben hatte, und sah mich mit großen, dunkelgrünen Augen an. Diese Augen und auch sonst eine gewisse Ähnlichkeit mit dem jungen Strolche brachten mich sofort zur Überzeugung, daß es die Kratochwilsche Tochter sei, die wohl in letzter Zeit aus der Strafanstalt zu den Ihren zurückgekehrt war.

Meine Geschäfte nahmen diesmal längere Zeit in Anspruch, so daß etwa zwei Stunden vergangen waren, als ich mich wieder auf den Heimweg machte. Das Mädchen lag noch immer regungslos auf derselben Stelle. Meiner ansichtig geworden, dehnte und reckte sie langsam die Glieder, hob sich gähnend mit halbem Leibe empor und folgte mir eindringlich mit den Augen.

Im Forsthause erzählte ich bei Tisch von meiner Begegnung. Der Förster, im Grunde des Herzens ein gutmütiger Mann, aber barsch und oft grausam in Worten, wenn ihm etwas wider den Strich ging, zeigte sich sehr aufgebracht. Er behauptete, das nichtsnutzige Ding würde im Zuchthause gewiß nur noch schlechter geworden sein, und dabei kam er auf die ganze Familie zu sprechen, die ihm seit jeher ein Dorn im Auge gewesen. ‚Dieses Gezücht‘, rief er aus, ‚verschändet den ganzen Ort. Es ist ein wahrer Skandal, daß sich die Gemeinde nicht endlich ins Mittel legt!‘

Und da saß er wieder einmal auf seinem Steckenpferde. Unter der Feudalherrschaft emporgekommen, war er ein Feind der autonomen Gemeinde, mit der es des öfteren Grenzstreitigkeiten gab, die auch den Wald berührten. Am meisten aber haßte er den Bürgermeister, weil dieser, ein wohlhabender Grundbesitzer, auch als das Haupt der slawischen Partei galt, die in ihrer natürlichen Mehrzahl nach und nach eine gewisse Machtstellung erlangt hatte. Der Förster jedoch, obgleich selbst von slawischer Abstammung, hielt sich infolge seiner ganzen Erziehung und seines langjährigen dienstlichen Verhältnisses leidenschaftlich zu den Deutschen des Ortes.

Mich selbst kümmerte dieser Zwiespalt damals noch wenig, und ich warf ein, daß die Gemeinde den Kratochwils gegenüber sich in einer sehr schwierigen Lage befände.

‚Ach was!‘ unterbrach er mich heftig. ‚Reden Sie diesem Volk nicht auch noch das Wort! Indolenz ist es, sträfliche Indolenz! Und obendrein ein Verbrechen, die Leute so dicht beisammen in ihrer verpesteten Erdhöhle zu belassen. Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn man die Lumpeneltern nicht zu Paaren treiben und die Kinder irgendwo zu redlichem Erwerb unterbringen könnte.‘

‚Um die Kinder ist es zu schade‘, bemerkte die Försterin. ‚Die beiden jüngsten sind mir immer als ganz hübsch aufgefallen; besonders das Mädchen.‘

‚Die kann’s noch weit bringen! Aber freilich, was kümmert das die Väter der Gemeinde? Hat doch der Herr Bürgermeister seinen einzigen Sohn aufwachsen lassen wie das liebe Vieh.‘

‚Der Junge soll ja seit jeher schwachsinnig gewesen sein‘, sagte die Frau, immer zum Begütigen bereit.

‚Mag sein; aber keineswegs derart, daß ihm ein ordentlicher Unterricht nicht hätte beikommen können. Der Vater war in der Lage gewesen, einen Lehrer zu halten, oder auch zwei, wenn es schon mit dem Knaben in der Schule nicht vorwärts ging. Er dachte wohl, es sei nicht notwendig. Denn trotz seines Geldes und seiner städtischen Kleidung ist und bleibt er ein Bauer, dessen ganze Weisheit darin besteht, das Kalb vor den Pflug zu spannen. Nun, das ist seine Sache. Was jedoch die Kratochwilschen betrifft, so bin ich überzeugt, daß dieses Gesindel über kurz oder lang irgend ein Unheil anrichtet.‘

Beim Abendessen kam der Alte wieder auf dieses Thema und gab infolgedessen zum Schlusse allerlei Schauergeschichten aus seinem Leben zum besten. Er erzählte von einem verzweifelten Kampfe, den er als junger Mann mit Wildschützen bestanden, von gelegten Waldbränden, von verfolgten Verbrechern, die sich in das Revier geflüchtet, und dergleichen mehr. Als wir zu Bette gegangen waren, konnte ich lange nicht einschlafen; dann aber träumte mir allerlei verworrenes und schreckhaftes Zeug, wobei die Troglodytenfamilie am Flusse in allen Gestalten die Hauptrollen spielte.

II.

Am nächsten Morgen hängte ich mein Gewehr über die Schulter, pfiff meinem Hunde und ging in den Wald. Denn es war einer der Tage, an welchen Klaubholz gesammelt wurde, und da hieß es, ein wachsames Auge haben. Kannten doch die Leute, so diese Vergünstigung genossen, keine Schonung dessen, was, wie sie meinten, eben der freien Natur angehörte. Sie zertraten aufs rücksichtsloseste die jungen Kulturpflanzen, brachen mit ihren Stangen, daran starke Haken befestigt waren, samt den dürren Zweigen auch gesunde nieder und legten nicht selten feine Schlingen ins Buschwerk, auf daß sich Hühner und junge Hasen verfängen. So durchstreifte ich denn jenen Teil des Reviers, der sich mehr gegen die Niederung hinzog; auf dem höher gelegenen, wo Rotwild wechselte, hatte es weniger Gefahr, denn die meisten vermieden in der Regel den beschwerlichen Aufstieg; auch waltete dort seines Amtes der oben wohnende Heger.

Es ging diesmal sehr lebhaft zu, da man die erste schöne Zeit benützte, um sich für länger hinaus zu versorgen; es wimmelte nur so von Weibern und halbwüchsigen Kindern. Indessen war die Sonne immer höher gestiegen, und der Forst begann allmählich wieder zu vereinsamen, als ich, bereits an die Heimkehr denkend, die Mutter Kratochwil gewahrte, wie sie eine ziemlich steile Lehne mühsam herunterhumpelte. Das ausgemergelte, hinfällige Weib hatte sich eine ungeheuere Last von Reisig und dürrem Laub auf den Rücken gebürdet; sie keuchte, und der Schweiß rann über ihr knochiges, bläulichrotes Gesicht, während ein paar Schritte hinter ihr die Tochter ganz frei und unbelastet hinabtänzelte, nur die dünne Brechstange gleichsam zum Spiel nach sich schleifend. Seht die Zuchthausprinzessin, dachte ich, indes mir die Alte mit heiserer Stimme einen demütigen Gruß zurief, seht die Troglodytin, sie läßt die Mutter sich zu Tode schleppen, ohne auch nur ein Zweiglein aufzunehmen! Dennoch konnte ich nicht umhin, der kräftig schlanken Gestalt nachzublicken, wie sie jetzt auf ebenem Boden trotz ihrer Lumpen wirklich wie eine Prinzessin einherschritt und sich dabei anmutig in den Hüften wiegte. Sie war ohne Gruß und Seitenblick an mir vorübergegangen; aber bei einer Pfadbiegung angelangt, blieb sie plötzlich stehen und blickte rasch mit einem flüchtigen Lächeln nach mir zurück. Ich ärgerte mich, daß sie nun bemerkt hatte, wie ich ihr nachstaunte, und ging geraden Weges nach Hause, wo ich aber von dieser neuerlichen Begegnung schwieg, um den Förster nicht wieder in Harnisch zu bringen.

Tags darauf hatte ich in der Baumschule zu tun, die, dem Waldrande schon ziemlich nahe, in einer anmutigen windgeschützten Schlucht lag. Als ich mich der Umfriedung näherte, sah ich unweit davon das Mädchen auf einem bemoosten Steine sitzen, als erwarte sie jemanden. Sie hatte im Schoße eine Menge von Vergißmeinnichten liegen, die sie am Rande eines hinter ihr vorüberrieselnden Baches gepflückt haben mochte, und auf welche sie jetzt errötend niederblickte. Eine eigentümliche Empfindung durchzuckte mich; aber ich ging, ohne sie anzusehen, an ihr vorüber und trat in die Baumschule. Während ich dort musterte und hantierte, blickte ich unwillkürlich zwischen den Latten durch und gewahrte, wie sie jetzt mit ungeschickten Fingern bemüht war, die kleinen blauen Blumen zum Strauß zu einen. Mir wurde immer seltsamer und peinlicher zu Mut, und um nicht wieder an ihr vorbeizukommen, zwängte ich mich nach der anderen Seite hin durch den an mehreren Stellen brüchig gewordenen Zaun und trachtete das Dickicht zu gewinnen, indem ich in einen schmalen Pfad einbog. Ich war noch nicht lange gegangen, als es in der Nähe raschelte und mein Hund leicht anschlug. Ich dachte, es wäre ein Reh, statt dessen aber brach das Mädchen hervor und huschte, während sie den Strauß fallen ließ, dicht an mir vorbei, sofort jenseits wieder verschwindend. Ich ließ die plump aussehende Gabe liegen und ging meines Weges. Nach einiger Zeit erschien sie wieder — und bald darauf ein drittes Mal. Diese zudringliche Verfolgung begann mich zu ärgern; rasch entschlossen, bog ich sofort nach rechts ab und schritt quer durchs Holz auf der kürzesten Linie dem Forsthause zu. Als ich mich der Schwelle näherte, hörte ich in der Entfernung hinter mir ein kurzes, helles Lachen erklingen, wie das einer Spottdrossel.

Am nächsten Tage traf sie mich wieder an — und auch an dem nächstfolgenden; sie mußte offenbar irgendwo auf der Lauer liegen, um zu erforschen, welche Richtung ich nahm, wenn ich das Haus verließ, sonst hätte sie nicht stets neben mir her sein können. Als ich am dritten Tage zurückkehrte, sagte der Förster: ‚Sie, Pernett, ist Ihnen nicht die junge Kratochwil begegnet? Ich habe die verdammte Dirne heute früh am Hause vorbeischleichen sehen wie eine Katze. Sie treibt sich gewiß im Revier herum.‘

Ich weiß nicht, was mich abhielt, die volle Wahrheit zu sagen, und erwiderte bloß, daß ich das Mädchen allerdings von weitem wahrgenommen.

‚Sie hätten sie anrufen und abschaffen sollen. Ich bitte mir aus, daß es das nächste Mal sofort geschieht. Und wenn sie Ihnen keine Folge leistet, so hetzen Sie den Hund auf sie — oder brennen ihr eins hinauf!‘

‚Ja, wenn das nur so ginge!‘ erwiderte ich mit gezwungenem Lachen.

‚Leider geht’s nicht. Und das weiß auch das Gesindel und nimmt sich daher alles und jedes heraus. Diese Kanaille aber darf um keinen Preis geduldet werden. Drohen Sie nur, daß man den Eltern das Klaubrecht entzieht, das wird schon wirken.‘

Ich fühlte mich während dieser Unterredung um so befangener, als ich mir bewußt war, bei der ersten Frage meines Vorgesetzten errötet zu sein. Aber er hatte recht: der Sache mußte ein Ende gemacht werden. Ich nahm mir also vor, das Mädchen bei der ersten Wiederbegegnung scharf anzulassen.

Am nächsten Morgen war trübes, regnerisches Wetter eingefallen, und ich dachte daher, daß sie sich heute wohl nicht zeigen würde; aber es dauerte nicht lange, so sah ich sie im nassen Gestrüpp einer abgeholzten Lehne auftauchen.

‚He! du!‘ rief ich sie an.

Sie stand still und blickte mir, unter dem triefenden Kopftuche über und über erglühend, entgegen.

‚Was streichst du denn da im Wald herum?‘ fuhr ich barsch fort, indem ich auf sie zutrat.

Sie schien eine andere Sprache erwartet zu haben, denn ihr Gesicht verfinsterte sich und ihre Augen nahmen einen bösen Ausdruck an. ‚Nun,‘ fragte sie mit rauher Stimme, ‚darf ich’s vielleicht nicht?‘

‚Nein!‘

‚Warum nicht? In den Wald kann jeder gehen.‘

‚Meinst du? Im Revier darf sich niemand aufhalten — und du am wenigsten.‘

‚Wer wird mich hindern?‘

‚Ich.‘

‚Ihr? Geht!‘ Sie sah mich dabei mit zusammengezogenen Brauen verächtlich — und doch mit ungläubiger Zärtlichkeit an.

Ich fühlte, wie mir dieser Blick ins Innere drang; dennoch nahm ich eine gleichgültige Miene an. ‚Was mich betrifft, so sollt’ es mich wenig kümmern, ob du da bist oder nicht; du wirst die Bäume nicht forttragen. Aber der Förster duldet’s nicht und hat mir befohlen, dich abzuschaffen.‘

‚Und wie wollt Ihr das anfangen?‘ fragte sie höhnisch.

Mein Stop hatte sich mittlerweile zwischen uns beide gestellt und fing jetzt an, sie vorsichtig zu beschnuppern.

‚Wollt Ihr mir vielleicht gar mit dem Hund zu Leibe?‘ fuhr sie lachend fort. ‚Der würd’ Euch nicht gehorchen.‘ Sie hatte bei diesen Worten einen Brocken schwarzen Brotes aus der Tasche gezogen, nach welchem Stop, gefräßig wie alle Jagdhunde, gierig schnappte und dann, nach mehr verlangend, wedelnd zu ihr emporsah. ‚Seht Ihr! Er ist klüger, als sein Herr; er nimmt, was man ihm gibt.‘

Ihre Unverschämtheit verdroß und empörte mich jetzt wirklich. ‚Weißt du,‘ sagte ich, ‚ich werde mich mit dir in kein Hin- und Herreden einlassen, und erkläre dir nur, daß ich dich nicht mehr hier treffen will. Gewalt kann ich allerdings nicht anwenden, aber es gibt noch andere Mittel, dir den Kopf zurechtzusetzen. Fürs erste dürfen deine Eltern nicht mehr Holz sammeln, wenn du mir noch einmal in den Weg kommst. Das merk’ dir!‘ Damit ließ ich sie, dem Hunde pfeifend, kurzweg im Gestrüpp stehen. Ich empfand deutlich, wie sie mir mit zornig funkelnden Augen nachblickte, und nach einer Weile vernahm ich ein wildes, weithin schallendes Hohngelächter.

Aber meine Worte, sowie mein ganzes Benehmen schienen doch die beabsichtigte Wirkung nicht verfehlt zu haben; denn das zudringliche Geschöpf blieb von diesem Tag an dem Walde fern; wenigstens bekam ich es nicht zu Gesicht. Aber seltsam: obgleich ich mit dem Erfolg zufrieden sein mußte und es auch wirklich war, so fehlte mir doch etwas bei meinen Gängen. Es war mir, als könnte ich noch immer nicht daran glauben, daß sie meinem Befehl gefolgt sei, und so oft ich es irgendwo in den Zweigen rascheln hörte, glaubte ich auch ihre Gestalt hervorbrechen zu sehen, gewissermaßen enttäuscht, wenn ich nun in der Tat irgend ein Getier erblickte.

Inzwischen war es vollends Sommer geworden und draußen auf den weitgedehnten, sonnenbeglänzten Feldern begann allmählich das Korn zu reifen. Um diese Zeit hatte ich mich einmal in der Frühe zu dem Heger hinauf begeben und mit ihm den oberen Teil des Reviers begangen; als ich mich zum Abstieg anschickte, war es bereits nahe an Mittag und die Hitze, schon am Morgen höchst empfindlich, hatte sich inzwischen bis zum Unerträglichen gesteigert. Aus dem Nadelholz rings herum drang eine betäubende Glut und schien jeden Laut zu ersticken; nicht einmal das Hämmern des Spechtes klang durch die Stille. Ich hatte meinen Rock ausgezogen und lechzte wie mein Hund, der mit heraushängender Zunge dicht hinter mir herschritt. Aber alle Bäche und Wasserrisse waren eingetrocknet, und die kurze Wegstunde, die ich noch bis zum Forsthause zurückzulegen hatte, schien mir gerade Zeit genug, um zu verdursten. Da fiel mir ein, daß ich mich in der Nähe eines Erdbruches befinden müsse, woselbst ich im vorigen Sommer während der größten Dürre eine Quelle angetroffen hatte, die mühselig zwischen Moos und Baumwurzeln hervorsickerte. Ihr spärliches Wassergeriesel sammelte sich in einem kleinen, von Zeit zu Zeit überfließenden Tümpel, wodurch der Ort selbst beständig feucht gehalten und der Wuchs hoher Ulmen begünstigt wurde, die in der Runde kühle, düstere Schatten verbreiteten. Ich trachtete sofort, die kürzeste Richtung zu gewinnen, indem ich mich ohne weiteres durchs Dickicht schlug. Bald empfand ich auch, wie mir ein erquickender Hauch entgegenwehte; jetzt vernahm ich schon deutlich, wie es in der Tiefe rieselte und plätscherte. Noch ein paar Schritte — und unter mir lag der klare, umschattete Tümpel. Aber gleichzeitig benahm es mir den Atem, und ich mußte mich taumelnd am nächsten Ast festhalten. Denn dem kleinen Bassin, an dessen Rand sich weibliche Kleidungsstücke verstreut zeigten, entstieg eben mit blinkendem Leibe das Mädchen. Stop war vorausgeeilt; sie schrak zusammen und wandte mir das Antlitz zu. Ihre erste Regung war, sich in instinktmäßiger Scham die Hände vor die Augen zu schlagen; sofort aber zuckte es eigentümlich um ihren Mund, und indem sie die erhobenen Arme sinken ließ, nahm sie die bekannte Venusstellung an, die sie nie im Leben vor Augen gehabt. Ich wendete mich ab und floh den Pfad zurück, den ich mir gebrochen. Wie ein Trunkener taumelte ich vorwärts; das Herz schlug mir bis an den Hals hinauf; Hitze und Trockenheit in der Kehle drohten mich zu ersticken, während mich mein Hund, der sich inzwischen satt getrunken, mit noch triefender Schnauze lustig umsprang.

Wie ich damals nach Hause gekommen, weiß ich heute nicht mehr; ich kann nur sagen, daß ich das Bild nicht vor den Augen wegbrachte, daß mich marternde Sehnsucht verzehrte, daß ich mit dem Entschlusse kämpfte, das Mädchen aufzusuchen — und was derlei Ausgeburten einer erhitzten Phantasie mehr waren. Vernunft und Ehrgefühl halfen mir freilich über all diese Erschütterungen hinweg; aber mir war und blieb in den nächsten Tagen elend zumut. Ich konnte nicht essen, nicht schlafen und schritt im Walde wie ein Schatten umher.

So mochte fast eine Woche vergangen sein, und ich mußte wieder einmal nach der Baumschule sehen, die ich seither vermieden hatte, obgleich mich eine geheimnisvolle Macht hinzuziehen schien. Schon aus einiger Entfernung konnte ich bemerken, daß das Mädchen, wie damals, in der Nähe des Zaunes saß. Ich fühlte einen heftigen Ruck am ganzen Körper, und unwillkürlich wendete ich mich zur Umkehr. Doch schon schämte ich mich auch dieser unwürdigen Feigheit und beschloß, der Gefahr, wenn es denn wirklich eine sein sollte, mutig zu begegnen; schritt also jetzt an der Sitzenden, ohne ihr einen Blick zu schenken, vorüber. Stop aber hielt an und wedelte ihr wie einer guten Bekannten entgegen. Sie lockte ihn an sich heran. Ich pfiff; doch da sie ihm den Kopf kraute, folgte er nicht gleich. Das ärgerte mich. ‚Laß den Hund in Ruhe!‘ herrschte ich ihr zu, mit einer halben Wendung stehen bleibend.

‚Kann ich dafür, daß er mich kennt?‘ antwortete sie ruhig, ohne aufzusehen. ‚Er weiß sich nicht zu verstellen, wie Ihr.‘

‚Was willst du damit sagen?‘ erwiderte ich barsch.

‚Warum tut Ihr, als sähet Ihr mich nicht?‘

‚Sei froh, wenn ich dich nicht sehe‘, sagte ich bedeutungsvoll.

‚Ach geht!‘ sagte sie, indem sie sich von dem Stein erhob und langsam auf mich zukam. ‚Ich habe ja doch Tag für Tag hier auf Euch gewartet.‘

‚Auf mich? Weshalb?‘

Sie erwiderte nichts, sah mich aber mit einem Blick an, der mir das Blut sieden machte — und mich doch gleichzeitig derart empörte, daß ich mit ungeheuchelter Entrüstung ausrief: ‚Du bist ein schamloses Ding! Schau, daß du fortkommst — und das sogleich!‘

Sie blickte mich halb erschreckt, halb ungläubig an, während ein blödes Lächeln um ihre roten, halb geöffneten Lippen spielte.

‚Hast du gehört? Hinweg! sag’ ich!‘ Damit trat ich, den Arm gebieterisch ausgestreckt, so drohend auf sie zu, daß Stop trotz seiner freundlichen Gesinnung bedenklich zu knurren anfing.

Sie bebte zusammen; gleich darauf aber kam ein tückischer, herausfordernder Trotz in ihrem Antlitz zum Vorschein; es war, als wollte sie sich zur Wehr setzen. Dann aber nahmen ihre Züge plötzlich den Ausdruck vollständiger Gleichgültigkeit an. ‚Nun ja; tut nicht so böse und schreit nicht. Ich gehe schon. Aber schenkt mir wenigstens etwas. Ich habe Hunger. Und seht, das Kleid geht schon ganz in Fetzen — auch habe ich keine Schuhe —‘

‚Du brauchst Schuhe — du Strauchdiebin!‘ rief ich hart.

Sie zuckte wieder zusammen; ihre Augen waren ganz dunkel geworden und blitzten vor Wut und Haß. ‚Warum heißt Ihr mich so?‘ rief sie mit geballten Fäusten. ‚Euch habe ich nichts gestohlen.‘ Dann ließ sie allmählich die Arme sinken und sagte vorwurfsvoll: ‚Ihr solltet mich nicht so nennen — gerade Ihr nicht.‘

Ich selbst hatte das Wort bereut, kaum daß ich es ausgestoßen. ‚Warum läßt du’s auch darauf ankommen‘, entgegnete ich milder. ‚Und wenn du Hunger hast, warum arbeitest du nicht?‘

‚Das geht nicht‘, erwiderte sie dumpf.

‚Weshalb nicht?‘

‚Es nimmt mich niemand.‘

‚Das ist nicht wahr. Hast du’s denn schon versucht?‘

Sie schüttelte das Haupt.

‚So tu’s!‘

Sie blickte nachdenklich vor sich hin. ‚Schenkt mir lieber etwas‘, sagte sie nach einer Weile.

‚Nein, ich schenke dir nichts! Das hieße nur deine Trägheit, deine schlimmen Neigungen unterstützen. Oder doch —‘ fuhr ich fort, von einem plötzlichen Gedanken überkommen ‚ja, ich will dir so viel schenken, daß du eine Zeitlang nicht zu hungern brauchst und dir ein paar Ellen Zeug an den Leib schaffen kannst; aber auch nur unter der einen Bedingung, daß du dich nach Arbeit umsiehst.‘

Sie schwieg und schien einen schweren inneren Kampf zu kämpfen. ‚Es nimmt mich niemand‘, wiederholte sie endlich. ‚Ihr wißt doch — —‘

‚Ich weiß. Aber gerade deswegen wird und muß man dich nehmen; denn es ist jedermanns Pflicht, dir zu einem ordentlichen Leben zu verhelfen. Im Wirtschaftshofe findest du ganz gewiß Aufnahme. Wenn du willst, werde ich mit dem Adjunkten sprechen.‘

‚Nehmt Ihr mich lieber‘, sagte sie, rasch aufblickend. ‚Ihr könnt mich ja auch im Walde brauchen.‘

‚Nein,‘ entgegnete ich verwirrt, ‚nein, dazu ist es jetzt schon zu spät; die Kulturen sind ausgesetzt, und was ich dir sonst noch zu tun geben könnte, würde nicht weit reichen. Aber bei der Wirtschaft geht es erst jetzt so recht an. In der nächsten Woche beginnt die zweite Rübenhacke, dann die Heumahd, späterhin ist der Schnitt — und endlich die Rübenernte. So hättest du Beschäftigung und Verdienst bis tief in den Herbst hinein. Willst du?‘

Ich sah, daß sie zu keinem Entschluß kommen konnte und wie verloren vor sich hinstarrte. Ich trat ihr näher und zog die Börse. ‚Schau,‘ sagte ich in mildem Tone, ‚du bist ein hübsches Mädchen; warum willst du nicht auch brav und rechtschaffen sein? Wie heißt du denn eigentlich?‘

‚Maruschka‘, sagte sie still.

‚Also, Maruschka, warum willst du nicht, wie all die anderen, dein tägliches Brot erwerben — für dich — und auch für deine Eltern, die nun einmal zur Arbeit nicht mehr taugen? Dein Beispiel würde den Bruder aneifern — und ihr könntet alle miteinander noch ehrsame Leute werden, statt in Elend und Schande zu verkommen. Denkst du denn gar nicht an deine Zukunft?‘

Ihre breiten, kräftigen Nasenflügel hatten während meiner Worte leise zu zittern begonnen; die Mundwinkel zogen sich schmerzlich herab — und jetzt brach sie in ein unaufhaltsames, lautes Weinen aus.

‚Siehst du?‘ fuhr ich fort, indem ich mit der Hand leicht über ihr sprödes Haar fuhr. ‚Nimm dir’s zu Herzen. Heute ist Freitag — übermorgen, Sonntags, in aller Frühe begib dich nach dem Hofe und melde dich zur Arbeit. Willst du?‘

‚Ich will‘, sagte sie schluchzend.

‚Nun also. Da nimm! Es ist so viel, als ich eben kann. Aber ich baue auf dein Versprechen. Und daß du mir nicht mehr in den Wald kommst! Hörst du?‘

Sie schüttelte unter Tränen das Haupt, zum Zeichen, daß sie nicht wiederkommen wolle.

‚Und nun leb’ wohl‘, sagte ich.

Sie hielt die Gabe in der fest geschlossenen Hand. Stumm, gehorsam, noch immer leise weinend, wandte sie sich und ging.

Mit freier, gehobener Brust atmete ich auf. Alle unlauteren, häßlichen Empfindungen waren in mir wie hinweggespült; ich hatte nur das frohe Gefühl, wohl gehandelt zu haben.

Ich erstieg die Anhöhe und wartete, bis Maruschka aus dem Walde in die sonnige Ebene hinaustrat. Sie blickte sich nicht um, sondern schritt mit gesenktem Haupte zwischen den leuchtenden Kornfeldern dahin. Endlich trocknete sie sich die Augen und begann dann langsam und vorsichtig die Banknote zu entfalten, die ich ihr in die Hand gedrückt.

III.

Gleich am Nachmittage suchte ich den Adjunkten auf. Er hörte mich einigermaßen verwundert an und fragte lächelnd, wie ich dazu käme, den Fürsprecher der jungen Troglodytin zu machen. Darauf war ich vorbereitet und konnte daher ohne jede Verlegenheit auseinandersetzen, daß sich das Mädchen zu großem Verdrusse der Försters tagelang im Revier umhergetrieben, daß ich ihr endlich ins Gewissen geredet und sie bestimmt habe, sich Sonntags im Wirtschaftshofe zu stellen und um Beschäftigung zu bitten. Und am Ende seien wir ja infolge unseres Amtes berufen, uns der Leute anzunehmen, da man sich von seiten der Ortsobrigkeit gar nicht um sie kümmere.

‚Gewiß,‘ antwortete er, ‚und an mir soll’s nicht liegen, wenn das verlotterte Ding etwa klagen sollte, daß man es rettungslos verkommen lasse. Auch kann ich ja eben jetzt nicht genug rührige Hände finden. Aber ich gestehe Ihnen offen, daß ich zu ihrem guten Willen kein rechtes Vertrauen zu fassen vermag. Und selbst wenn sie die redlichste Absicht hätte, so wird sie diese ihrer Natur gegenüber nicht durchsetzen können — gerade so wenig, wie ihre Eltern, die ja auch hin und wieder derlei Anwandlungen gehabt haben. Es sind nun einmal degenerierende Menschen, denen die Arbeitsscheu im Blute steckt. Ein paar Tage, höchstens eine Woche lang greifen sie zu; dann lassen sie plötzlich alles liegen und stehen und strecken sich wieder auf die faule Haut. Das scheint, wie gesagt, auf rein physischen Gesetzen zu beruhen, die selbst dem äußeren Zwange spotten. Wie es mit dem Bruder in dieser Hinsicht abgelaufen ist, wissen Sie ja; ich fürchte, die Schwester wird einen ähnlichen Ausgang nehmen. Aber wie gesagt, wenn sie kommt, ist sie angenommen. Einige von den Weibern und Mädchen, die im Grunde nicht um gar vieles besser sind, werden wohl die Nase rümpfen, wenn sie mit der abgestraften Diebin aufs Feld hinaus sollen, aber das gibt sich in wenigen Tagen und braucht uns nicht zu kümmern.‘

Montags, in aller Frühe, begann die Rübenhacke, und ich suchte einen erhöhten Punkt am Waldrande auf, um der Arbeit von weitem zuzusehen. Während der Nacht hatte es heftig gewittert; nun war die Luft durchsichtig klar, und ein kühler Wind strich von Norden her über die Felder, die sich zu beiden Seiten der Landstraße weithin ausdehnten. Wie Smaragd stachen die Rübenpflanzungen von dem gelblich wogenden Getreide ab, und die bunten Kopftücher der Arbeiterinnen, die sehr zahlreich in tief gebückter Haltung auf dem grünen Plan beschäftigt waren, flatterten wie seltsame große Blumen. Ich bemühte mich, Maruschka unter der zerstreuten Schar herauszufinden, aber es wollte mir nicht gelingen, und schon begann ich zu zweifeln, daß sie ihren Vorsatz ausgeführt — als ich sie plötzlich auftauchen sah, nunmehr deutlich erkennbar an den farblos dunklen Lumpen, die sie noch immer am Leibe trug; nur ein neues, feuerfarbenes Kopftuch hatte sie sich bis jetzt mit meinem Gelde zugelegt. Sie war also wirklich gekommen — sie arbeitete! Zufrieden blickte ich noch eine Weile auf das bunte Bild, dann ging ich meinen Geschäften nach.

Gegen Abend fühlte ich mich plötzlich unwohl. Ich mußte mich irgendwie erkältet haben, und als ich zu Bett ging, stellte sich Schüttelfrost samt einer starken Halsentzündung ein, die mich einige Tage im Hause fest hielt; währenddessen aber war die Arbeit auf den Rübenfeldern zu Ende geführt worden.

Hingegen folgte schon in der nächsten Zeit die Heuernte, und eine große, an den Ort grenzende Wiese wurde zuerst in Angriff genommen. Da ich an diesem Tage zufälligerweise im Schlosse zu tun hatte, wo eben zwei junge Grafen zur Bürsch angekommen waren, so konnte ich bei meiner Rückkehr das rüstige Treiben in der Nähe betrachten und trat endlich selbst hinein. Obgleich die Sonne noch nicht sehr hoch stand, herrschte doch schon die ganze drückende Schwüle des Juli. Der Schweiß der Arbeit floß in Strömen; dennoch war es eine Freude, zu sehen, wie die Leute, Männer und Weiber vereint, lustig die Sensen schwangen und die langhalmigen Gräser, in welchen sie bis an die Hüften standen, vor sich niederlegten. Auf dem bereits abgemähten Teil der Wiese wurde in großen Kreisen eine neue Maschine herumgefahren, welche bestimmt war, die duftigen Schwaden zu wenden und leicht auszubreiten. Dort konnte man auch den Adjunkten gewahren, der eifrig hin und her schritt, seinen Feldstock schwingend. Als er meiner ansichtig wurde, rief er schon von weitem: ‚Grüß Gott, Herr Waldkollege! Ihr kommt wohl, um nach meiner Schutzbefohlenen zu sehen? Aber die werdet Ihr hier nicht finden. Was ich vorhergesagt, ist eingetroffen. Zwei Tage lang hat sie bei den Rüben gearbeitet, dann verschwand sie. Wenn aber dennoch Euer Herz nach ihr verlangt,‘ fuhr er etwas ironisch fort, ‚so schaut nur dorthin!‘ Er wies dabei mit seinem Stocke nach einem hohen Mühlendamm, der sich am Rande der Wiese hinzog. Und wirklich: dort oben saß Maruschka am Fuße eines morschen Weidenstrunkes, der einzelne junge Triebe in der Sonne glänzen ließ. Sie selbst aber trug noch ihre alte Kleidung, und so zeichnete sich die ganze Gestalt finster und unerfreulich gegen den lichten Horizont und seine weiß schimmernden Wolken ab. Das feuerfarbene Tuch hatte sie auf den Knieen liegen, in ihrem Haar funkelte ein Büschel roter Mohnblumen. So blickte sie, die Arme aufgestemmt und das Kinn mit den Händen stützend, auf die emsige Schar zu ihren Füßen nieder.

‚Es ist freilich bequemer,‘ fuhr der Adjunkt fort, ‚sich die Sache aus der Vogelperspektive mit anzusehen. Dennoch begreift unsereiner gar nicht, wie der Dirne der Tag hingehen mag; das ewige Faulenzen und Vagieren muß doch auch seine Pein haben. Und was sie nur dabei denken mag? Denkt sie überhaupt an oder über etwas? Wer vermag sich in die Seele eines solchen Wesens zu versetzen? Ich habe mich schon öfter gefragt, was sie denn eigentlich abhalten mag, die Pfade des am nächsten liegenden und dabei bequemsten Lasters zu beschreiten; des Erfolges wäre sie ja sicher. Denn trotz ihrer Verwahrlosung, ihrer breiten Backenknochen und der etwas platten Nase ist sie doch eine Schönheit, eine echt slawische Schönheit. Hier im Orte könnte freilich ihr Weizen nicht blühen; aber sie brauchte ja nur eine Fußreise nach Brünn anzutreten, dort gibt es Seelenverkäuferinnen genug, die sie mit offenen Armen empfangen würden. Es kann also doch nur wieder die Macht der Trägheit sein, was sie an das gewohnte heimatliche Elend festbannt. Merkwürdig ist es übrigens, daß sich hier nicht wenigstens irgend ein verkommener Bursche an sie macht. Ich kann zwar für ihre Tugend nicht einstehen, aber gewiß ist, daß ich sie niemals mit irgend etwas Männlichem habe verkehren sehen; sie treibt sich immer mutterseelenallein umher. Wäre sie überhaupt fähig, zu lieben? Ja, das sind lauter Probleme, lieber Freund, und wenn man sich so in der Lage befände, wäre es ganz interessant, sie in andere Verhältnisse zu versetzen und zu beobachten, was dabei herauskäme, welche ungeahnten Eigenschaften sie vielleicht entwickeln würde — — Aber Teufel, was treibt denn die Maschine!?‘ rief er, plötzlich abbrechend. Diese schien ins Stocken geraten zu sein, und besorgt eilte er auf sie zu. Ich winkte ihm mit der Hand zum Abschied und ging.

Seine Worte hatten in mir einen Sturm heraufbeschworen, der alles gewaltsam Unterdrückte und vergessen Schlummernde wach rüttelte. Neuerdings tobte mein Blut und erzeugte die tollsten, ausschweifendsten Gedanken. Aber es gelang mir doch bald, wieder über mich selbst Herr zu werden — und um so mehr zu bleiben, als ich ja Maruschka nicht mehr sah. Dem Walde blieb sie fern, und ich selbst, um nicht an ihrem Heim vorüberkommen zu müssen, bequemte mich stets zu einem längeren Umweg durch den oberen Teil des Ortes. In der Eile hatte ich einmal den früher gewohnten Pfad eingeschlagen, und da stand sie gerade auf der Brücke. Sie hielt sich tief über das Geländer gebeugt und blickte in das Wasser hinunter. Vielleicht hatte sie mich kommen sehen und sich infolgedessen abgewendet; mir aber fiel auf, daß sie besser und sorgfältiger als sonst gekleidet erschien, und zwar in helle Farben; um den bräunlichen Hals trug sie eine dreifache Schnur bunter Glasperlen. Unwillkürlich fragte ich mich, wie sie zu dem allen gekommen sein möchte.

So vergingen mehrere Wochen, und die Jagdzeit rückte heran. Die Herrschaft war inzwischen vollzählig eingetroffen; auch zahlreiche Gäste erschienen. Da gab es denn gleich zum Anfang ein lustiges Geknalle auf den Stoppelfeldern, das den Hühnern und Hasen galt; nunmehr aber sollte im Walde der erste Trieb auf Rehe stattfinden. Ich mußte mich also tags vorher zu dem Heger hinaufbegeben, um mit ihm das Nötige zu verabreden, fand ihn aber nicht zu Hause. Sein junges Weib — er hatte, bereits ziemlich hoch betagt, eine zweite Ehe geschlossen — säugte eben auf der Schwelle ihr Kind und meinte, der Mann müsse noch in der Nähe sein, denn er wäre erst vor kurzem weggegangen. Sie bezeichnete mir die Richtung, die er mutmaßlich eingeschlagen, und so betrat ich den angegebenen Pfad, der in das ernste Düster hoher Tannen hineinführte. Eine Zeitlang blieb er eben, dann hob er sich, um plötzlich in eine muldenförmige Vertiefung abzufallen, die, von jungen Lärchen- und Fichtenschößlingen bestanden, im vollen Lichte der klaren Herbstsonne lag. Ich hielt einen Augenblick still, um zu sehen, ob sich nicht der Heger dort unten befinde — da gewahrte ich ein zärtliches Pärchen, das in trauter Umschlingung zwischen dem niederen Buschwerk ruhte. Die Überraschten — denn auch sie erblickten mich jetzt — fuhren auseinander und verbargen, indem sie sich rasch umwälzten, instinktmäßig die Gesichter im Grase. Aber ich hatte sie bereits erkannt: es waren Maruschka — und der Sohn des Bürgermeisters, ein bartloser, noch nicht zwanzigjähriger Bursche, der eigentlich hübsch zu nennen gewesen wäre, wenn nicht ein widerlicher Zug von Geistesschwäche und kindischer Weichheit sein Antlitz entstellt hätte.

Ich kehrte natürlich sofort um und schritt den Pfad wieder zurück. Aber es dauerte nicht lange, so kam mir jemand eilig nachgekeucht. Es war der Junge, ohne Kopfbedeckung, den Rock nur so um die Schultern geworfen. ‚Herr Adjunkt! Herr Adjunkt!‘ rief er noch aus der Entfernung mit flehender Stimme.

‚Was soll’s?‘ fragte ich, indem ich anhielt.

‚Ach, Herr Adjunkt,‘ stammelte er, sich mühsam des ungewohnten deutschen Idioms bedienend, ‚verraten Sie nichts! Sagen Sie niemandem, daß Sie mich hier oben mit der — mit der Maruschka gesehen haben.‘

‚Was kümmert das mich? Bin ich ein altes Weib?‘ versetzte ich barsch in seiner Muttersprache.

‚Ach, es wäre schrecklich, wenn man’s erführe‘, fuhr er weinerlich fort. ‚Mein Vater — und auch die Mutter wäre — —‘ Er machte Gebärden des Außersichseins.

‚Das glaub’ ich gern‘, bekräftigte ich. ‚Aber kommt ihr denn oft hier oben zusammen?‘ fuhr ich unwillkürlich fort und schämte mich vor mir selbst, daß ich bei dieser Frage ein zuckendes Weh am Herzen verspürte.

‚I freilich‘, grinste der Bursche, und sein Mund zog sich dabei bis zu den Ohren. ‚Alle Tage.‘

‚An derselben Stelle?‘

‚Einmal da, einmal dort.‘

‚Und wie könnt ihr dann glauben, daß euch niemand gewahr werden wird?‘

‚O, da herauf kommt ja kein Mensch. Höchstens Leute aus dem fürstlichen Revier herüber, und die kennen uns nicht.‘

‚Aber der Heger? Der müßte euch doch schon getroffen haben?‘

‚O, der Pan Heger,‘ lachte der Junge wieder, ‚der tut uns nichts. Der hält den Mund. Dem hab’ ich —‘ er machte eine bezeichnende Pantomime, daß er ihm Geld in die Hand gedrückt.

Und das bestärkte mich wieder in der üblen Meinung, die ich, sowie der Förster, von dem Manne hatte. Im Dienste zwar erschien er sehr brauchbar; er besaß Umsicht, Mut und Energie, seine sonstigen Eigenschaften aber flößten kein Zutrauen ein. Er trank gern und hatte schwere Familiensorgen auf dem Halse, da ihm noch drei Kinder aus erster Ehe anhingen. Niemals kam er mit seinem Gehalt aus, und der Graf, bei dem er eine Zeitlang in Privatdiensten gestanden und welcher für ihn eine besondere Vorliebe zeigte, mußte ihn fortwährend unterstützen. Ich ärgerte mich.

‚Auch Ihnen werd’ ich mich schon dankbar erweisen‘, fuhr der Bursche mit unterwürfiger Zutraulichkeit fort.

‚Was untersteht Ihr Euch!‘ brauste ich auf. ‚Ich habe nichts gesehen und nichts gehört. Was mich betrifft, könnt Ihr also vollständig beruhigt sein. Ich sag’ Euch das, damit, wenn die Sache heute oder morgen doch ruchbar wird, es nicht etwa heiße, ich hätte sie zutage gebracht‘. Damit ließ ich ihn stehen.

Den Heger traf ich nunmehr zu Hause. Es kam mich an, ihn zur Rede zu stellen; aber die ganze Sache war mir so widerlich, daß ich sie nicht noch einmal berühren wollte. Ich erteilte also bloß meine Befehle für die Jagd und ging dann meiner Wege.

IV.

Der Förster begab sich nur höchst selten in den Marktflecken; sein Leiden und die damit verbundene Griesgrämigkeit hinderten ihn daran. Mußte es aber doch hin und wieder aus zwingenden Gründen geschehen, so blieb er auch meistens gleich bis tief in die Nacht hinein unten hängen. Denn er pflegte alsdann das Honoratioren-Wirtshaus aufzusuchen, wo der seltene Gast mit großer Zuvorkommenheit empfangen wurde; das gute böhmische Bier und eine Tarockpartie taten das übrige, um den brummigen Alten auftauen zu lassen, der sich, einmal in Fluß gekommen, als sehr gemütlicher und lustiger Gesellschafter erwies.

Das war auch in dieser Zeit einmal der Fall gewesen. Ich saß noch mit der Försterin, die ihn stets mit einiger Ängstlichkeit erwartete, beim Lampenschein am Tische, als er nach Hause kam. Er sah sehr heiter aus, und während er sich’s bequem machte, sagte er: ‚Wißt ihr das Neuste? Der ganze Ort ist voll davon. Der Sohn des Bürgermeisters hat eine Liebschaft mit der jungen Kratochwil.‘

‚Was du nicht sagst!‘ rief die Försterin verwundert aus.

Ich aber wußte es ja, und zuckte daher nur die Achseln.

‚Eine schöne Bescherung für den Herrn Papa‘, fuhr der Alte fort. ‚Nun kann er leicht fluchen und wettern und dabei schwören, er wolle die ganze Familie ins Zuchthaus bringen. Daran hätte er früher denken sollen, jetzt ist es zu spät.‘

‚Nun, es wird ja nicht so arg sein‘, meinte die Frau.

‚Arg ist es, sehr arg. Der schwachköpfige Lali, der schon als Bub’ immer hinter den Weibsbildern her war und von ihnen beständig zum Narren gehalten wurde, ist endlich vor die rechte Schmiede gekommen. Das nichtsnutzige Mensch hat ihn natürlich gleich mit offenen Armen empfangen. Und nun er den Braten geschmeckt, heult und flennt er und droht, er werde sich umbringen, wenn man ihm die Maruschka nimmt.‘

‚Jesus Maria! Der Schlingel!‘ stieß die Försterin halblaut hervor, indem sie die Hände faltete.

‚Tun wird er’s freilich nicht, aber ihre liebe Not werden die Eltern mit ihm haben; der verzogene Bursch war ja seit jeher gewohnt, seinen Willen durchzusetzen. Jetzt lassen sie ihn freilich nicht mehr allein über die Straße, sonst aber achteten sie, trotz aller Affenliebe für den einzigen, nicht darauf, daß der Tagdieb unter dem Vorwande, nach den Feldern zu sehen, beständig vom Hause fern war. Man hätte sonst früher dahinter kommen müssen. Merkwürdig ist es überhaupt, daß auch sonst niemand darauf verfiel, obgleich man sich allgemein wunderte, daß die Maruschka ganz schmuck und sauber einherging und ihr Vater aus dem Rausch gar nicht mehr herauskam. Aber wissen Sie, Pernett,‘ fuhr der Förster fort, indem er mich streng anblickte, ‚wissen Sie, daß wir eigentlich in die Geschichte mit verwickelt sind? Denn raten Sie einmal, wo das saubere Liebespaar seine Zusammenkünfte gehalten? In unserem Revier — oben beim Heger, der ihnen den Unterschlupf im Walde verstattet. Wahrscheinlich hatte ihm der Junge eine Zeitlang Geld zugesteckt, schließlich aber mochte es dem alten Gauner vorteilhafter geschienen haben, das Geheimnis um eine runde Summe zu verraten. Miserabler Lump! Aber da es nun einmal geschehen ist, habe ich im Grunde doch meine Freude daran.‘

Wir waren noch nicht lange zur Ruhe gegangen, als plötzlich die Hunde in ein wütendes Gebell ausbrachen und die Hausklingel mehrmals hintereinander hastig gezogen wurde. Da ich noch nicht schlief, so war ich bald bei meinem Stubenfenster, das dem Tore zunächst lag, und blickte, einen Flügel öffnend, hinaus. Draußen im Dunkel standen zwei Männer. Es waren Arbeiter, die bei einem Neubau außerhalb des Ortes verwendet wurden und, wie sie sagten, in einem offenen Schuppen genächtigt hatten. Von dort aus hätten sie einen starken Feuerschein bemerkt, der aus dem oberen Teil des Waldes gegen den Himmel aufstieg. Sie wären gekommen, uns davon zu benachrichtigen und sich im Falle der Not zur Verfügung zu stellen.

Kaum hatte der Förster, im Bette halb aufgerichtet, diese Kunde vernommen, als er auch schon mit einem Satze auf dem Boden stand. ‚Ein Waldbrand?‘ schrie er, indem er mit ungewohnter Schnelligkeit in seine Kleider fuhr. ‚Ein Waldbrand? Aber wie ist denn das möglich?‘ setzte er, sich besinnend, hinzu. ‚Bei diesem feuchten Nebelwetter? Auch war die Nacht ganz windstill, als ich heimkehrte.‘

‚Das ist sie noch‘, entgegnete ich, neuerdings hinausblickend. ‚Meiner Meinung nach könnte höchstens das Hegerhaus brennen.‘

‚Sie haben recht; so wird es sein. Und dann hat auch die junge Kratochwil das Feuer gelegt, um sich an dem Manne zu rächen.‘

Mich selbst hatte dieser Gedanke sofort durchzuckt.

‚Eilen Sie nur gleich hinauf‘, fuhr der Förster fort, ‚und sehen Sie nach. Die Männer können Sie zur Vorsorge mitnehmen; ich folge Ihnen, sobald ich mich wärmer angekleidet habe.‘

‚Ich denke, Sie können sich’s ganz ersparen‘, sagte ich, mich rasch fertig machend. ‚Es kann keine besondere Gefahr dabei sein; das kleine Haus steht ja auf einer ausgedehnten Lichtung. Sie mögen übrigens in Bereitschaft bleiben, und wenn es not tut, sende ich nach Ihnen.‘

Dies leuchtete auch der Försterin ein, die schon die hohen Filzstiefel des Alten hervorgesucht hatte, und dieser stimmte zu, während ich mit den Männern abging. Wir hatten zwei Laternen mitgenommen und schlugen bei Nacht und Nebel gleich den kürzesten, wenn auch beschwerlichsten Weg ein. Es dauerte nicht lange, so verspürten wir bereits leichten Brandgeruch, der immer eindringlicher wurde, und als wir endlich auf die Lichtung hinaustraten, schimmerte uns die rötliche Glut verglimmender Balken, die um das Haus herumlagen, durch die Dunkelheit entgegen. Der Brand war also schon erloschen und keine weitere Gefahr mehr zu besorgen; auch der Schaden erwies sich als nicht sehr bedeutend. Bloß der Dachstuhl war herabgebrannt; die Mauern standen unversehrt; selbst ein kleiner, ganz in der Nähe befindlicher hölzerner Stall war von den Flammen verschont geblieben. Ich fragte die Hegerleute, welche eben beschäftigt waren, einige ins Freie geschaffte Habseligkeiten wieder einzuräumen, auf welche Art das Feuer ausgebrochen sei? Die Frau erwiderte darauf hastig und einigermaßen verwirrt, sie könne nur glauben, daß es böse Menschen gelegt hätten. Es gäbe einige Wilddiebe, die ihrem Manne schon längst Rache geschworen; auch wäre es immerhin möglich — sie blieb plötzlich in ihrer Rede stecken, da ihr der Heger, wie ich bemerkte, einen grimmigen Blick zuwarf. Die Erörterung war ihm offenbar unangenehm, und er sagte jetzt mit einem gewissen Trotz: ‚Wir können niemanden anklagen. Die Oktobernächte sind bereits empfindlich kalt, und da haben wir, der Kinder wegen, noch spät am Abend geheizt. Der Ofen aber ist alt und schadhaft — und der trägt wohl die Schuld an dem Brande. Übrigens war der Schrecken, den wir ausgestanden, das Ärgste; alles andere ist kaum der Rede wert. Dachsparren und Schindeln waren ohnehin schon morsch und verwittert, und hätten bald durch neue ersetzt werden müssen.‘

Diese Erklärung, sowie das ganze Benehmen der Leute erschien hinreichend, Maruschka in meinen Augen des Frevels zu entlasten, den ich ihr zugemutet; der Förster jedoch hielt bei meiner Rückkehr mit der ihm eigenen Verbissenheit an seinem Argwohn fest und meinte, der Heger habe wohl seine guten Gründe, die Schuld auf den Ofen zu schieben, damit die Rolle, welche er bei dem Liebeshandel gespielt, nicht weiter zur Sprache käme. Aber nicht bloß der Alte war überzeugt, daß das Mädchen den Brand gelegt: die Kunde verbreitete sich im Orte selbst wie ein Lauffeuer und wurde sofort zur unzweifelhaften Tatsache. Man sprach von nichts anderem und fragte sich entrüstet, wie es denn komme, daß die Verbrecherin noch immer frei und unbehelligt umhergehe. Infolgedessen fand sich auch das Gericht veranlaßt, von der Sache Akt zu nehmen und Maruschka einem strengen Verhöre zu unterziehen. Da diese aber ihre Schuld auf das entschiedenste in Abrede stellte und auch nicht der Schatten eines wirklichen Beweises gegen sie vorgebracht werden konnte, so mußte der Gerichtsleiter, der diesen Ausgang vorhergesehen, alles weitere auf sich beruhen lassen, zeigte sich aber, um die Gemüter zu beruhigen, gerne bereit, den Antrag zu unterstützen, den der Bürgermeister, nunmehr durch die Umstände begünstigt, an die Statthalterei zu richten fest entschlossen war, nämlich: die bereits wegen Einbruchs abgestrafte Marie Kratochwil, welche, in unverbesserlicher Arbeitsscheu verharrend, der öffentlichen Sittlichkeit sowohl, als auch der allgemeinen Sicherheit gefährlich erscheine, möge zur Abgabe in eine Korrektionsanstalt bestimmt werden. Und da nun der Ortsvorstand begreiflicherweise mit vollen Segeln ins Zeug ging, sich nach der Landeshauptstadt begab, um dort persönlich alle Hebel in Bewegung zu setzen, so langte auch bald der Bescheid herab, daß das Mädchen zu einjähriger Zwangsarbeit einzuliefern sei. Maruschka, bis dahin in Gewahrsam gehalten, wurde also eines Tages, ohne daß ich sie mehr zu Gesicht bekommen hätte, unter Gendarmeriebegleitung zur Bahn gebracht und nach Brünn befördert.

Die Frau des Bürgermeisters hatte sich inzwischen mit ihrem Sohne, der, nachdem er sich eine Zeitlang wie ein Wahnsinniger gebärdet, in apathische Schwermut versunken war, zu entfernt lebenden Verwandten begeben, hoffend, daß der Wechsel des Ortes und der Umgebung seinen heilsamen Einfluß auf den Gemütszustand des Burschen nicht verfehlen würde. Dieses Mittel schien aber nicht angeschlagen zu haben; denn man wunderte sich bei seiner Rückkehr, wie schlecht und verfallen er aussah, und wollte seitdem bemerken, daß er ein in sich gekehrtes, heimtückisches Lungerleben führe. Bald hieß es auch, er habe mit dem Bruder der Maruschka Freundschaft geschlossen, treibe sich in dessen Begleitung an entlegenen Orten umher, und beide seien schon des öfteren in einem verrufenen Wirtshause nächst der Landstraße gesehen worden. Ja man behauptete sogar, daß er bei einbrechender Dunkelheit die Familie in ihrer Höhle aufsuche, sie mit Branntwein regaliere und mittrinkend schwöre: er und Maruschka würden doch noch ein Paar werden. Zwar stehe ihm im Frühling die Rekrutierung bevor, aber es wäre ihm, trotz der Absicht seines Vaters, ihn loszukaufen, ganz recht, ein paar Jahre beim Militär zu dienen. Wenn er dann wieder zurückkehre, sei er majorenn und niemand mehr könne ihm etwas befehlen oder verbieten, selbst seine Eltern nicht, von denen er übrigens glaube, daß sie nicht allzulange am Leben bleiben dürften. So wenigstens erzählte man sich; ich aber gestehe, daß ich stets eine eigentümliche Empfindung hatte, wenn mir der Bursche hin und wieder begegnete, bleich, hohlwangig und mit blöden Augen vor sich hin wie ins Leere stierend.

V.

Das Jahr 66 war herangekommen, und sein Sommer brachte Sorge, Verwirrung und tiefes Leid. Heute sind mehr als zwei Dezennien darüber hingegangen, und die Einsicht, daß jene Ereignisse der Ausgangspunkt des großen Germanischen Reiches gewesen, hat uns alle mit dem Schicksal, das uns damals getroffen, ausgesöhnt, wenn sich auch seither die Deutschen in Österreich, durch den Nationalitätenhader von allen Seiten bedrängt, immer einsamer und verlassener fühlen. Aber ich gerate da in Reflexionen, die nicht zu meiner Geschichte gehören.

Der Krieg hatte auch unsere Provinz gestreift und der Ort vordringende preußische Truppen beherbergt. Als sie nach geschlossenen Friedensverhandlungen abgezogen waren, schien auch wieder die frühere Alltagsstimmung zurückgekehrt zu sein; die so folgenschweren Vorgänge hatten keine äußeren Spuren hinterlassen. Bald aber machte sich viel Schmerzliches geltend. Manche von den Einwohnern hatten ihre Söhne in den blutigen Schlachten verloren, oder sahen sie verstümmelt im elterlichen Hause eintreffen. Zu denen, welche Tote zu beweinen hatten, gehörte auch der Bürgermeister. Der Junge hatte seinen Willen durchgesetzt und sich assentieren lassen, oder vielmehr mochten die Eltern, welche von dem bevorstehenden Kriege keine Ahnung hatten, in einem kurzen Militärdienste ein willkommenes Heilmittel für ihren Sohn vermutet haben. Dieser war also in das einheimische Regiment getreten, wo er auch, dem Schutze eines bekannten Hauptmannes empfohlen, in der Tat einigermaßen aufzuleben schien; der Krieg aber brachte ihm ein rasches Ende. Er war zwar noch bei Königgrätz mit heiler Haut davongekommen, nach dem hastigen und verworrenen Rückzug über die Elbe jedoch wurde er vermißt, und seine Spur blieb für immer verloren; er mußte in den Fluten des Stromes sein Grab gefunden haben. Die beiden Alten lebten, ihrer reichen Habe unfroh, in öder Ergebung dahin und nahmen schließlich eine junge verwaiste Anverwandte an Kindesstatt ins Haus.

Auch in der Troglodytenfamilie hatte sich manches verändert. Der Vater, endlich dem Schicksale des Säufers erliegend, war eines Tages im delirium tremens verendet, und die Mutter hauste nunmehr am Flusse allein mit ihrem jüngsten Sohne. Dieser schien indes in sich gegangen zu sein und hatte wenigstens annäherungsweise einen Beruf ergriffen: er war Gänsehirt geworden. Und dieses Amtes waltete er mit überraschendem Eifer, erstaunlicher Umsicht und ungeahnter Redlichkeit. So kam es, daß ihm nach und nach fast die ganze Gemeinde ihr watschelndes Federvieh anvertraute, das man früher vor den würgerischen Griffen der Kratochwil nicht genug in acht hatte nehmen können. Eine unübersehbare Herde schnatterte nun auf der frisch besämten Hutweide und verlieh der Erdhütte, die sie umweidete, einen höchst idyllischen Charakter. Zwischendurch bewegte sich der mächtig aufgeschossene, rothaarige Junge und trieb mit einer langen, lustig geschwungenen Peitsche seine Schutzbefohlenen zu Paaren, jedes einzelne Stück aus der Schar dem Eigentümer nach heraus erkennend.

So ging das Jahr hin, und wohl nur wenigen kam es in den Sinn, daß die Zeit herannahe, um welche Maruschka aus der Zwangsanstalt würde entlassen werden. In mir selbst war fast jede Erinnerung an sie erloschen; hatte ich doch inzwischen ein schönes, sanftes Mädchen, die Tochter eines benachbarten Försters, kennen gelernt, die auch später meine Frau geworden ist. Ich war also in der Tat höchlich erstaunt, als ich die Zurückgekehrte an einem düsteren, stürmischen Novembertage auf der Brücke stehen sah. Sie lehnte mit dem Rücken am Geländer und blickte mir starr und ausdruckslos entgegen; endlich wendete sie sich langsam ab. Ich aber war erschrocken über die Veränderung, die in ihrem Äußeren vor sich gegangen. Die einst so kräftige, schlanke Gestalt hatte eine ungesunde, formlose Fülle entwickelt, und in dem fahlen, aufgedunsenen Gesicht lag jener unbeschreibliche Zug öden Stumpfsinns, der den meisten Sträflingen eigen ist. Von ihren Haaren war nichts zu sehen, ein schmutziges Kopftuch umhüllte das ganze Haupt bis tief in die Stirn hinein. Ein unsägliches Grauen wandelte mich an, als ich jetzt an ihr vorüberging, und später vermied ich es, auf demselben Wege zurückzukehren.

Es gibt Tage, an welchen alles zusammentrifft, um kein Behagen im Menschen aufkommen zu lassen. Ein solcher Tag war auch der heutige. Schon am frühen Morgen hatte es Zwist und Ärgernis mit den Holzschlägern im Walde gegeben; jetzt, nach der unerfreulichen Begegnung, mußte ich im Auftrage der Herrschaft zu Gericht, eines Treibers wegen, den man auf der Jagd angeschossen; im Forsthause lag der Alte mit seiner Gicht zu Bette, was auch die Försterin um ihre Laune brachte. Nach hastig eingenommenem Mittagessen mußte ich wieder zu den Holzschlägern hinaus, und am Abend stand mir der Abschluß der Forstrechnungen bevor, welches Geschäft ich stets so lange als möglich hinauszuschieben pflegte.

So hatte ich mich denn etwa gegen neun Uhr in meine Stube zurückgezogen, um meine Arbeit in Angriff zu nehmen. Aber ich war zerstreut, unruhig, und die verteufelten schwarzen Zahlen tanzten mir beim Lampenschein vor den Augen. Mein Hund schien sich gleichfalls nicht behaglich zu fühlen; er drehte sich wiederholt unter dem Tische um sich selbst herum und konnte doch keine bequeme Lage finden. Auch das störte mich; ich legte die Feder aus der Hand, brannte mir eine Pfeife an und ging eine Zeitlang auf und nieder. Ich dachte dabei an gar nichts, und doch fühlte ich mich von irgend etwas seltsam in Anspruch genommen. Aber die Zeit drängte, ich setzte mich wieder und indem ich mich gewaltsam zurechtrückte, begann ich zu addieren. Jetzt ging es, und mehr und mehr kam ich in die Arbeit hinein. Auch Stop hatte endlich Ruhe gefunden; er schlief.

Auf diese Art vergingen etwa zwei Stunden. Zuweilen hielt ich inne und lauschte unwillkürlich auf den Novembersturm, der den Wald durchbrauste. Stop schien ihn zu empfinden; er schauerte leicht und schlug hin und wieder im Traume kurz und leise an.

Da war es mir, als geselle sich dem Rauschen mit einem Male ein eigentümlicher Hall. Ich erhob mich und trat dicht an die Scheiben. Horch! War das nicht Glockengeläute? Ich öffnete leise einen Flügel. Jetzt ein eigentümlich langgezogener Ton. Das Feuerhorn! Feuer — Feuer im Ort! So rasch als möglich machte ich mich fertig und verließ, um niemand vorzeitig zu wecken, das Haus durch das niedrig gelegene Fenster; Stop folgte mir mit einem federleichten Satze. Nach einigen hastigen Schritten blickte ich zum Himmel empor; tief schwarz kam er über den Wipfeln der Fichten zum Vorschein, die das Haus nahe umstanden. Also rasch vorwärts, um Ausblick zu gewinnen! Immer deutlicher vernahm ich das dumpfe Glockengetön, während ein geheimnisvoller Weheruf mit dem Sturm zu gehen schien. Nun bräunte sich auch schon das Firmament, dann rötete es sich — und als ich jetzt den Waldrand erreicht hatte, lag der Ort vor mir, taghell beleuchtet von dem Flammengewoge eines brennenden Hauses. Wie ich mich sofort orientierte, war es das des Bürgermeisters; nahebei, nur durch ein anderes, niederes, aber langgestrecktes getrennt, ragte das Gerichtsgebäude, das größte des Ortes, von der prasselnden Lohe angestrahlt, fast blutrot empor. Zum Glück trieb die Windrichtung die Flammen nicht in den Flecken hinein, sondern nach rückwärts, dem freien Felde zu; auch war die Feuerwehr, die sich erst vor kurzem hier gebildet hatte, schon in voller Tätigkeit begriffen.

Eine Minute lang betrachtete ich das furchtbar prächtige Schauspiel, während unten, beim Geheul der angesammelten Menschen, die Spritzen über den Platz rasselten und ihre Wasserstrahlen in die züngelnden Flammen stäuben ließen. Dann überlegte ich, ob ich hinabeilen oder vorerst die gewiß noch ahnungslosen Försterleute in Kenntnis setzen sollte. Dabei machte ich unwillkürlich eine halbe Wendung und gewahrte hinter mir im Gestrüpp eine zusammengekauerte weibliche Gestalt, die ich früher nicht bemerkt hatte. Der Feuerschein umfunkelte ihr Antlitz, sowie die herben roten Früchte eines dürren wilden Rosenstrauches, an welchem sie unmittelbar saß. Es war Maruschka.

‚Du!?‘ rief ich aus, während eine plötzliche Gewißheit in mir aufstieg.

‚Ja, ich,‘ erwiderte sie ruhig.

‚Was tust du hier?‘

‚Ich sehe zu. Schon seit zwei Stunden wart’ ich, daß es anginge.‘

‚Du hast —!‘

‚Redet nur aus! Ich hab’ das Feuer gelegt.‘

‚Elende!‘ stieß ich hervor, indem ich mein Gewehr erhob, unwillkürlich versucht, mit dem Kolben auf ihr Haupt niederzuschmettern.

‚Oho!‘ schrie sie, indem sie rasch emporsprang. ‚Kommt Ihr mir so! Ich fürcht’ Euch nicht samt Eurer Flinte. Denn wenn Ihr mich nicht gleich niederschießt, könnt’ es Euch schlecht ergehen!‘ Sie sah mich wild drohend und dabei unsicher auf dem Boden fußend an. Aus der Tasche ihres Kleides blinkte der dünne Hals einer Flasche hervor; sie hatte offenbar Branntwein getrunken. ‚Aber was kümmert’s denn Euch?‘ fuhr sie, plötzlich einlenkend, fort; ‚Euch geschieht ja nichts, denn bis an den Wald kommt das Feuer nicht.‘

‚Wer spricht davon? Aber die Leute da unten!‘

‚Die Leute da unten? Ihrer wegen hab’ ich ja angezündet! Damals tat ich’s nicht, als sie mich anklagten. Jetzt sollen sie verbrennen, alle miteinander!‘

‚Ruchlose! Aber der Himmel selbst läßt deine Absicht zuschanden werden. Sieh nur, der Wind hat sich gelegt, und das Haus brennt schon schwächer.‘

Sie blickte mit weit aufgerissenen Augen vor sich hin und sah, daß ich recht hatte. Wie es oft bei heftigem Sturme zu geschehen pflegt, war in der Luft momentane Ruhe eingetreten, und es schien, als wäre man des Feuers bereits Herr geworden.

Sie krallte die Finger ineinander. ‚Nun, das Haus wenigstens ist hin!‘ keuchte sie krampfhaft.

‚Was tut’s? Der Bürgermeister läßt ein neues aufbauen. Und angenommen selbst, daß er schweren Schaden genommen, stand dir eine solche Rache zu? War er nicht ohnehin schon schwer genug bestraft für das Unrecht, das er dir, wie du wohl meinst, angetan? Er hat seinen Sohn verloren. Oder weißt du das nicht?‘

‚Wie sollt’ ich’s nicht wissen!‘ sagte sie verächtlich. ‚Aber was hab’ ich davon, daß er sich um seinen Jungen härmt? Was kümmert’s mich, daß der hin ist!‘

‚Du hast ihn doch gern gehabt!‘

‚Den? Der Aff’ war mir immer zuwider. Ich hab’ ihn genommen, weil er mir Geld gab — und weil Ihr mich nicht mochtet!‘

Im selben Augenblicke empfanden wir einen furchtbaren, heißen Windstoß, der uns beide ins Wanken brachte; die Stämme hinter uns ächzten und knarrten, und aus dem erstickenden Brande züngelten neue Flammen.

‚Ha! Ha!‘ rief sie mit gellendem Gelächter. ‚Seht Ihr, der Himmel meint es gut mit mir! Es brennt wieder — es brennt! Jetzt geht auch das Nachbarhaus an!‘ Sie jauchzte in wilder Freude auf, zog die Flasche hervor und trank gierig mit zurückgeneigtem Haupte und hoch erhobenem Arm. ‚Ja, jetzt werden sie braten — alle — alle — die mich ins Arbeitshaus gebracht. Oh, was hab’ ich dort ausgestanden! Ich will nicht arbeiten, ich mag nicht arbeiten, ich kann nicht arbeiten — und wer mich dazu zwingt, der ist mein Feind, den hass’ ich und den bring’ ich um!‘ Sie begann, eine branntweintrunkene Mänade, mich mit plumpen, häßlichen Sprüngen zu umtanzen.

Ich faßte sie rauh an und zwang sie still zu stehen. ‚Du kannst nicht arbeiten?‘ rief ich. ‚Nun wirst du’s erst recht müssen! Denn auf das hin‘ — ich wies nach dem Feuer — ‚bekommst du wenigstens zehn Jahre Zuchthaus. Und dort läßt man die Leute nicht feiern!‘

‚Zuchthaus!‘ rief sie mit tollem Gelächter. ‚Zuchthaus! Den möcht’ ich sehen, der mich ins Zuchthaus bringt!‘

‚Was? Glaubst du, man werde nicht sofort auf dich verfallen? Dich nicht vor Gericht stellen?‘

‚Wenn man mich hat!‘

‚Meinst du zu entkommen? Wo willst du denn hin?‘

Sie breitete die Arme weit auseinander, als wollte sie den unendlichen Raum bezeichnen.

‚Die Gendarmen werden dich überall finden!‘

‚Meint Ihr? Oder wollt Ihr mich gleich fassen? Tut’s! Ihr habt ja auch ein Gewehr!‘ Sie langte rasch darnach, und ich hatte alle Mühe, es ihr zu entringen. ‚Schießt mich nieder!‘ heulte sie plötzlich, ‚schießt mich nieder!‘ Sie warf sich zu Boden und wand sich mir zu Füßen. ‚Oder nein, küßt mich!‘ schrie sie, wieder rasch aufspringend. ‚Küßt mich! Meint Ihr, ich weiß nicht, daß ich Euch gefallen habe? Daß Ihr in mich verliebt wart? Ja, verliebt! Damals — erinnert Ihr Euch? Ihr habt Euch nur geschämt, sonst wäret Ihr mir nachgelaufen wie ein Hund, wäret mir um den Hals gefallen. Tut’s jetzt, da alles aus ist! Ihr müßt es tun!‘ Gleich einer wilden Katze sprang sie an mir hinauf und umklammerte mich, als wollte sie mich erwürgen, während ihre durstigen Lippen die meinen suchten. Stop, der erbost zu bellen angefangen, verbiß sich in ihr Kleid und zerrte daran; aber sie beachtete es nicht. ‚Komm’,‘ keuchte sie, ‚komm’ mit mir in den Wald hinein! Dort ist es Nacht — kein Mensch sieht uns — komm’! komm’!‘ Sie trachtete, mich in wütender Umklammerung mit sich fortzuziehen.

Ich machte alle Anstrengungen, mich loszumachen — es ging nicht; ich hätte zur äußersten Gewalt schreiten müssen. Und trotz allen Ekels und Abscheus, trotz der Furcht, die ich jetzt vor ihr empfand, fühlte ich doch eine plötzliche Wallung des Blutes, meine Sinne drohten sich zu verwirren; ich befand mich in einer entsetzlichen Lage ....

Doch da erschien die Rettung! Ein näher kommendes Rasseln ertönte; es war die kleine Feuerspritze eines auswärtigen Maierhofes, die dem bedrängten Orte zu Hilfe eilte. Um Zeit zu gewinnen, hatte sie einen breiten Feldweg eingeschlagen, der unten am Walde vorüberführte; sie kam jedoch, des stark ausgefahrenen Geleises wegen, nur langsam vorwärts. Die Bedienungsmannschaft war abgesessen und eilte neben dem holpernden Gefährt einher.

‚He, Leute!‘ rief ich mit aller Kraft. ‚Hieher, ihr Leute! Hier ist die Mordbrennerin! Faßt sie! Herauf ihr Leute!‘ Doch niemand kehrte sich daran; meine Rufe schienen unvernommen im Winde zu verhallen. Die Trunkene, Wahnwitzige aber schien zur Besinnung zu kommen und Bestürzung zu empfinden. Sie ließ in ihrer Umschlingung nach, und so konnte ich sie beiseite schleudern, die Hähne meines Gewehres spannen und rasch hintereinander beide Läufe in die Luft abfeuern. Das wirkte. Die Männer hielten an und blickten durch das Halbdunkel forschend empor. Maruschka, die Gefahr erkennend, wandte sich eilig zur Flucht und verschwand zwischen den Stämmen.

‚Laufe du nur!‘ rief ich ihr, zitternd vor Aufregung, nach. ‚Man kennt dich und wird dich zu finden wissen!‘

Aber man fand sie nicht. Alle Nachforschungen, die man unverweilt nach glücklich bewältigtem Brande im Revier sowohl als in der ganzen Gegend anstellte, hatten keinen Erfolg. Sie war und blieb verschwunden. Erst im Frühjahr, als der Schnee längst geschmolzen war, entdeckte man im Wald unter dem Geröll eines schmalen und tiefen Wasserrisses eine weibliche Leiche. Sie war bis zur Unkenntlichkeit entstellt; aber alle Anzeichen sprachen dafür, daß es die der Troglodytin gewesen. Mir selbst blieb der Anblick erspart, denn noch in demselben Winter war ich als Unterförster auf ein Gut versetzt worden, das ein Schwiegersohn des Grafen in Südsteiermark, nahe der kroatischen Grenze, besaß.“

Ginevra.

Vorwort des Herausgebers.

Auch in unserer Novelle hat Saar ältere Motive wieder aufgegriffen und fortgesponnen. Das Motiv des mit Liebesschuld beladenen Offiziers hatte er in der Umarbeitung von „Vae victis“ wieder fallen gelassen (Band VIII, Seite 9); und mit den Papieren zum „Haus Reichegg“ stimmt nicht bloß die Situation, die Teilnahme der Offiziere an dem Tanzvergnügen der Städter, sondern auch die Schilderung Ginevras überein. Die Handschrift unserer Novelle ist „Blansko, 4. März 1889“ datiert. Es ist eine Reinschrift, die aber noch so viele Korrekturen erfahren hat, daß sie stellenweise nur schwer leserlich geworden ist. Sie liegt zunächst dem ersten Abdruck in dem Wiener Jahrbuch „Dioskuren“ 1890 (XIX. Jahrgang, Seite 149-179) zugrunde, der freilich bei der Korrektur noch leise Abänderungen erfahren hat; auf den Dioskuren beruht aber auch noch der späte Abdruck in der Zeitschrift „Moderne Kunst“ (XVII. Jahrgang, 1902/3, Seite 262 ff., 294 ff., 305 ff., 314 ff.). Für eine neue Ausgabe hat der Dichter zunächst in einem Separatabdruck aus den Dioskuren Änderungen angebracht, sie aber dann doch wieder in die Handschrift eingetragen und diese zum zweiten Male dem Abdruck in der vierten Novellensammlung „Frauenbilder“ 1892 (Seite 1-82) zugrunde gelegt, wodurch die Korrekturen so zahlreich geworden sind, daß der Verleger wiederholt einzelne Stellen ins Reine schreiben mußte und sich bei dieser Gelegenheit auch für ein paar Änderungen im Wortgebrauch die Zustimmung des Dichters einholte. Trotzdem auch hier noch bei der Korrektur nachgeholfen worden war, genügte auch diese Fassung dem unermüdlich feilenden Dichter nicht. Er erbat sich am 3. April 1896 ein Exemplar der „Frauenbilder“ für eine etwa notwendige zweite Auflage und unterzog sie im März des folgenden Jahres eingehenden Verbesserungen, die dann der ersten zweibändigen Ausgabe der „Novellen aus Österreich“ 1897 (zweiter Band, Seite 179-232) zugute kamen und nicht mehr bloß die Form betrafen: denn die Mutter der Ginevra stammt nun nicht mehr aus Conegliano, sondern aus Bassano, und der Satz am Schlusse, nach welchem der Oberst zu der Polin immer noch in Beziehungen steht, ist erst hier eingefügt. In der zweiten Ausgabe dieser Sammlung (a. a. O.) ist dann neben geringen stilistischen Änderungen die Chiffre L... in Leitmeritz aufgelöst worden. Dem Abdruck in Reclams Universalbibliothek (Nr. 4600 [1904]) scheinen noch nicht zu Ende korrigierte Druckbogen dieser letzten Ausgabe zugrunde zu liegen; denn er stimmt an einigen wenigen Stellen noch mit der vorletzten überein.

Das Diner war vorüber und die kleine Tischgesellschaft begab sich in den Garten der Villa, um dort den Kaffee zu nehmen. Nachdem man sich auf einer Terrasse niedergelassen, die den Ausblick auf die umliegenden Höhen und einen Teil der Stadt eröffnete, sagte die Hausfrau: „Erzählen Sie uns doch endlich von dieser Ginevra, lieber Oberst. Versprochen haben Sie es längst. Jedenfalls muß sie etwas ganz Besonderes gewesen sein, da Sie noch immer mit einer Art Andacht ihrer gedenken. Lassen Sie sich daher nicht bitten. Wir sind ganz unter uns, und hoffentlich kommt kein unerwarteter Besuch, der Sie unterbrechen könnte.“

Der Oberst, ein hochgewachsener, schlanker Mann in bürgerlicher Kleidung, blickte nachdenklich auf die Glimmfläche der Zigarre nieder, die er sich soeben angezündet. „Nun denn,“ sagte er, „wenn Sie wollen, soll es geschehen, obgleich ich befürchten muß, ein recht unüberlegtes Versprechen gegeben zu haben. Denn was ich vorbringen kann, ist eigentlich doch nur eine veraltete Liebesgeschichte, welche, wenn sie heute gedruckt würde, vielleicht niemand mehr lesen möchte. Indes, wie gesagt, wenn Sie es wirklich wünschen, bin ich bereit. Ist es doch ein Genuß, wenn auch ein schmerzlicher, sich in die goldenen Tage der Jugend zurückzuversetzen.“

I.

„Ich war zwanzig Jahre alt und Fähnrich bei einem Regiment, das einen Teil der Friedensbesatzung von Theresienstadt bildete. Diese Festung mag — abgesehen von ihrer anmutigen Lage in einem der gesegnetsten Landstriche Böhmens — auch noch heute kein besonders erfreulicher Aufenthaltsort sein; damals aber — in den vierziger Jahren — konnte er wahrhaft trostlos genannt werden. Denn außer dem großen, mit zwei Baumreihen umpflanzten Hauptplatze, der fast durchgehends militärische Gebäude aufwies, gab es dort nur vier Gassen. Sie führten in den entsprechenden Windrichtungen nach den Toren und Wällen und bestanden zumeist aus kleinen, hüttenähnlichen Häusern, in denen sich Krämer und Handwerker, Bierwirte und Branntweinschänker angesiedelt hatten. Die Offiziere waren daher ganz und gar auf den kameradschaftlichen Verkehr angewiesen, und wir Jüngeren führten nicht eben das erbaulichste Dasein. In den Vormittagsstunden mehr oder minder dienstlich beschäftigt, verbrachten wir die übrige Zeit im Militärkasino am Billard und am Spieltische, oder begaben uns nach der jenseits der Elbe gelegenen Kreisstadt Leitmeritz, wo wir zum Mißvergnügen der ehrsamen Pfahlbürger in Kaffee- und Gastwirtschaften sehr anspruchsvoll auftraten, leichtfertige Liebeshändel anzuknüpfen suchten, und nach der Rückkehr in die Festung begaben sich manche noch in ein höchst zweifelhaftes Lokal, um dort halbe Nächte bei Punsch und Glühwein zu durchschwelgen.

Was nun mich selbst betraf, so machte ich dieses wüste, gedankenlose Treiben schon deshalb mit, weil man sich nicht ausschließen konnte. Zudem war ich jung, und nach der strengen Zucht, die ich früher in einem Kadettenhause erdulden mußte, hatten derlei Ausschreitungen für mich den Reiz der Neuheit. Mein Oheim, der mich, den früh Verwaisten, gewissermaßen an Sohnesstatt angenommen und einen ziemlich hohen und einflußreichen Posten beim damaligen Hofkriegsrate bekleidete, setzte mir eine ganz ansehnliche Geldzubuße aus; ich lebte also sorglos in den Tag hinein, wenn ich auch bisweilen, meiner Natur nach, von sentimentalen und hypochondrischen Anwandlungen nicht ganz frei blieb.

So kam es auch, daß ich eines Abends, im Karneval, einmal und nachdenklich in meiner öden Kasernenwohnung saß und mich höchst unglücklich fühlte, und zwar aus folgendem Grunde.

Der Festungskommandant, ein invalider General, erfreute sich einer Tochter, welche zwar weder besonders jung, noch besonders hübsch zu nennen war, aber schon vermöge ihrer Stellung Anreiz genug besaß, um einem Neuling, wie ich, den Kopf zu verdrehen. Sie war auffallend schlank gewachsen, hatte glänzend schwarze, stechende Augen, sehr weiße, leicht zwischen den Lippen hervorstehende Zähne, und wußte ihren etwas vergilbten Wangen durch zartes Auflegen von Rot künstliche Frische zu verleihen. Bei erfahrenen Kameraden galt sie als eine ausbündige Kokette, und man hatte mich gleich anfangs, halb im Scherz, halb im Ernst, vor ihr gewarnt. Dennoch verliebte ich mich in sie, und zwar anläßlich einer religiösen Feierlichkeit, der sie, halb verschleiert, an der Seite ihrer Mutter auf dem Oratorium der Garnisonskirche beiwohnte. Obgleich sie sehr andächtig in ihr Gebetbuch versunken schien, konnte ich doch bemerken, daß sie von Zeit zu Zeit nach mir hinblickte, anfänglich nur so von der Seite, dann aber mit Zuwendung des Antlitzes immer länger und eindringlicher. Ich glaubte dies um so mehr zu meinen Gunsten auslegen zu dürfen, als sie fortan stets hinter den Fensterscheiben erschien, wenn ich — und das geschah mehrmals des Tages — am Kommandantenhause vorüberging; ja einmal konnte ich sogar wahrnehmen, daß sie in der Mitte des Zimmers auf einen Stuhl gestiegen war, um mich von dort aus, wie sie wohl meinte, ungesehen beobachten zu können. Ich hatte daher keinen sehnlicheren Wunsch, als ihr endlich persönlich näher zu treten, und der offizielle Ball, den ihr Vater demnächst zu geben verpflichtet war, erschien mir als huldvollste Gelegenheit. Ich stellte mir bereits sehr lebhaft vor, wie auch sie diesem Abend sich entgegen freue, wie sie mich sofort an sich heranziehen, wie ich mit ihr im Tanze vereint dahinfliegen würde — und was dergleichen jugendliche Erwartungen mehr waren. Aber ich hatte, wie man zu sagen pflegt, die Rechnung vollständig ohne den Wirt gemacht. Denn zu dem Balle wurden auch auswärtige Gäste geladen, und unter diesen befanden sich neben höheren Standespersonen vom Zivil auch die Offiziere eines Chevauxlegers-Regiments, das auf dem platten Lande stationiert war. Da hatte ich nun den Schmerz, zu sehen, wie diese interessanten Ankömmlinge die Aufmerksamkeit der Tochter des Hauses derart auf sich lenkten, daß sie für mich keinen Blick, und als ich mich später vorstellen ließ, auch kein aufmunterndes Wort übrig hatte. In der Verwirrung darüber fand ich gar nicht den Mut, sie zum Tanze aufzufordern, und während die Grausame fast die ganze Zeit über von einem sehr aristokratisch aussehenden Rittmeister in Beschlag genommen wurde, fiel mir durch ein Verhängnis, wie es derlei Niederlagen stets zu begleiten pflegt, die schwindsüchtige Tochter eines Kreisrates zu, welche, da sie sonst niemand aufzufordern Lust bezeigte, mit ihren rötlich blonden Schmachtlocken gleich einer Klette an mir hing, bis ich mich endlich, sobald dies in anständiger Weise geschehen konnte, aus dem Staube machte und vom Balle verschwand.

So saß ich denn, in meiner Eigenliebe, oder wie ich mir damals einbildete, in meinen heiligsten Gefühlen gekränkt, zwischen den kahlen vier Wänden, während die Dämmerung längst hereingebrochen war und ich kaum mehr die Rauchwolken sah, die ich aus einer langen Pfeife mechanisch vor mich hinblies. Plötzlich vernahm ich hastige Tritte, die sich draußen auf dem Gange der Tür näherten; diese wurde polternd aufgestoßen, und auf der Schwelle erschien eine mantelumhüllte Gestalt, die sich schwarz in schwarz von der sie umgebenden Dunkelheit abhob.

‚Bist du hier?‘ rief eine kräftige, etwas schnarrende Stimme, an der ich sofort einen meiner näheren Freunde, den Leutnant Dorsner, erkannte. Und da ich mich jetzt bemerkbar machte, fuhr er eintretend fort: ‚Zum Teufel, was treibst du denn da im Finstern?‘

Ich legte die Pfeife weg und zündete eine Kerze an, bei deren zweifelhaftem Schein ich wahrnahm, daß Dorsner, der jetzt den Mantel auseinanderschlug, in eine schmucke, ganz neue Halbuniform gekleidet war und Lackstiefel an den Füßen hatte.

‚Ich gehe nach Leitmeritz hinüber‘, sagte er, meine Frage vorweg nehmend. ‚Es ist heute dort Ball auf der Schießstätte. Und du sollst mit mir kommen.‘

‚Wir sind ja gar nicht geladen.‘

‚Das tut nichts. Ich habe einer Dame versprochen, zu erscheinen, und so muß es geschehen.‘

Ich wußte, daß er in geheimnisvollen Beziehungen zu der hübschen Tochter eines wohlhabenden Lohgerbers stehe, die er auch später geheiratet hat.

‚Gut,‘ erwiderte ich; ‚aber wie willst du das anfangen?‘

‚Ganz einfach; ich gehe eben hin. Was bleibt den Herren „Ballausschüssen“ anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Aber deshalb siehst du auch ein, daß ich nicht ganz allein dort erscheinen kann. Ich hatte mich schon mit Heillinger verabredet; aber dieser ist im letzten Augenblicke verhindert worden. Also tu’ mir den Gefallen.‘

Aber ich war an diesem Abend zu derlei Unternehmungen ganz und gar nicht aufgelegt und wandte daher neuerdings ein: ‚Und wenn man erfährt, daß wir dort waren? Du weißt doch, wie sehr man höheren Orts dagegen ist, daß wir an derlei Unterhaltungen teilnehmen.‘

‚Unterhaltungen? An was für Unterhaltungen?‘ rief er ärgerlich. ‚Es kommen die anständigsten Bürgerfamilien von Leitmeritz zusammen. Und überdies: auf einen Verweis mehr oder weniger kommt es doch nicht an. Seit wann bist du denn so ängstlich geworden? Ich, als dein Vorgesetzter, befehle dir, mit mir zu gehen. Vorwärts! Marsch!‘

Noch immer konnte ich mich nicht entschließen und schützte Unwohlsein vor. Ich hätte mich auf dem Kommandanten-Balle erkältet.

‚Ach was! Flausen! Derlei Erkältungen tanzt man sich am besten gleich wieder aus dem Leibe. Und gib acht, was für Mädchen du da drüben in die Arme bekommen wirst. Ganz andere Geschöpfe, als diese dürren Gliederpuppen, wie sie gestern an uns herumbaumelten.‘

Ich sah, daß es kein Entrinnen gab, und da endlich doch auch der Gedanke einer möglichen Zerstreuung in mir auftauchte, so erklärte ich mich schließlich bereit und ging daran, mich umzukleiden, während Dorsner ebenfalls von Zeit zu Zeit vor den kleinen Wandspiegel trat und sein dichtes, von Natur gekräuseltes Haar unternehmend auflockerte.

Endlich war ich fertig, und wir traten, die Festung hinter uns lassend, den Marsch nach Leitmeritz an. Tagsüber war Tauwetter eingefallen; nun aber hatte der Boden, sehr zum Vorteil unserer Beschuhung, wieder angezogen. Trotz des Frostes war in der herben Luft etwas wie ein Vorhauch des Frühlings zu spüren, und so schritten wir behaglich in gleichmäßigem Takt den hell erleuchteten Saalfenstern entgegen, welche von der am Eingange der Stadt gelegenen Schießstätte durch feine weiße Nebel herüberstrahlten.

II.

Es kam, wie Dorsner vorhergesagt. Zwei Komiteemitglieder — ein älteres und ein junges — waren im Vestibül anwesend, als wir erschienen. Sie sahen uns sehr befremdet und mit gespreizter Zurückhaltung an; da aber Dorsner mit der ihm eigenen Liebenswürdigkeit auf sie zutrat und, sich tief verbeugend, fragte, ob es denn nicht möglich wäre, an dem schönen Feste teilzunehmen, so zuckte es geschmeichelt um ihre Nasenflügel, ein wohlwollendes Lächeln verbreitete sich über ihre Gesichter, und indem sie etwas von „besonderer Ehre“ murmelten, geleiteten sie uns zuvorkommend in den Saal, wo eben ein Tanz zu Ende ging und die Musik verstummte. Wir befanden uns also einem bunten Gewirr von sich auflösenden Paaren gegenüber und wurden anfänglich kaum bemerkt. Nachdem aber die verlassen gewesenen Sitzplätze wieder eingenommen waren, wendete sich uns nach und nach die allgemeine Aufmerksamkeit zu, die von männlicher Seite keine besonders wohlwollende zu sein schien, während der weibliche Teil eine gewisse angenehme Überraschung nur schwer verbergen konnte. Dorsner, indem er das unbärtige Komiteemitglied vertraulich unter dem Arm faßte, bat, ihn einigen jungen Damen vorstellen zu wollen; denn der Schalk vermied es, geradenwegs auf sein Ziel, die rosige Gerberstochter, loszugehen, welche sein Erscheinen sofort bemerkt hatte und nun, das Antlitz hinter dem ausgespannten Fächer verbergend, mit ihren wohlbeleibten Anverwandten an einem Tische des anstoßenden Speisezimmers saß; man konnte in dieses durch eine offene Flügeltür sowohl, wie auch durch einige hohe Fenster, die nach dem Saale gingen, bequem hineinblicken. Es dauerte nicht lange, so wurde das Zeichen zu einer Polka gegeben, welche Dorsner mit einer stämmigen Brünette eröffnete, die ihn, der von kleinem, zierlichem Wuchse war, fast um Haupteslänge überragte. Ich selbst hatte mich, hinter einer Reihe von Zuschauern, in eine Fenstervertiefung gestellt, wo ich nun mehr und mehr in meine frühere Verstimmung zurücksank. Denn die Gesellschaft, die ich hier vor Augen hatte, zog mich in ihrer spießbürgerlichen Behäbigkeit keineswegs an, und die zwar blühenden, aber plump und geschmacklos geputzten Mädchen und jungen Frauen erschienen mir so reizlos wie möglich. So beschloß ich denn, noch eine Weile in meinem halben Versteck auszuharren und dann unbemerkt zu verschwinden, da ich ja nunmehr meinen Freund, der sich jetzt im Tanze bereits zu seiner Holden gefunden hatte, getrost seinem Schicksal überlassen konnte. Plötzlich aber wurde meine Aufmerksamkeit gefesselt. In den Armen eines vierschrötigen, ungelenken Tänzers schwebte eine schlanke Gestalt anmutig vorüber. Ein einfaches, hellblaues Kleid reichte ihr, nach der Mode der damaligen Zeit, mit einer leichten Falbel bis an die Knöchel und ließ die zierlichen Füße sehen. Ihr Haar, von schimmerndem Aschblond, war aus der Stirn gestrichen, rückwärts zusammengeknotet und bloß mit einem weißen Sträußchen geschmückt; um den Hals war ein schmales schwarzes Samtband geschlungen, an dem ein kleines goldenes Kreuz hing. Ich ließ die gefälligen Wendungen dieser lieblichen Erscheinung nicht mehr aus den Augen, und als sie jetzt, wieder in meine Nähe gelangend, aufsah, begegneten sich unsere Blicke. Die Polka dauerte schon ziemlich lange; die meisten Paare hatten bereits untereinander abgewechselt, nur der Tänzer der schlanken Blondine schien dies nicht willens zu sein. Er tanzte unerschütterlich weiter, den Arm gleich einer Klammer um den zarten Leib des jungen Mädchens geschlungen, den Blick starr auf ihren Scheitel geheftet. Endlich schien es ihr zu viel zu werden. Mit dem Ausdruck von Mißmut im Antlitz machte sie sich gewaltsam los und sank aufatmend in einen nahen Stuhl. Es war mir, als blicke sie dabei nach mir hinüber, gleichsam erwartend, ich würde jetzt auffordernd an sie herantreten. Aber ein eigentümlich lähmendes Zögern überkam mich — und als ich mich endlich entschließen wollte, hatte sie schon ein anderer junger Mann in den Reigen gezogen, der übrigens sehr bald zu Ende ging. In dem verdrießlichen Gefühl meines ungeschickten Verhaltens vermied ich es jetzt, ihren Blicken zu begegnen; später gewahrte ich, wie sie am Arme ihres früheren Tänzers in das Speisezimmer trat. Dort nahmen beide an einem Tische Platz, an welchem eine vertrocknete alte Frau saß, eine mit kupferroten Bändern verzierte Haube auf dem Kopf; ein nicht mehr ganz junges, kränklich aussehendes Mädchen ihr zur Seite mußte, der Ähnlichkeit nach, die Tochter sein; auch konnte man immerhin den jungen Mann trotz seines breiten, wuchtigen Auftretens für den Sohn halten. Auch Dorsner war da drinnen zu erblicken; er verweilte bereits im besten Einvernehmen bei der Familie des Lohgerbers. Ich erwog nun, ob ich gehen oder bleiben solle, und drückte mich eine Zeitlang unschlüssig an den Wänden hin, als ich mit einem Mal rings herum eine auffallende Bewegung wahrnahm, deren Grund mir auch alsbald klar wurde. Ein kleiner, burlesk aussehender Mann, in eng anliegenden Beinkleidern, Schuhen und Strümpfen, das ergraute Haar nach vorne gestrichen und über der Stirn in eine hoch emporstehende Schraube gedreht, war in die Mitte des Saales getreten und kündigte jetzt mit laut kreischender Stimme an, daß nunmehr eine Française erfolgen würde. Dieser Tanz war damals noch keineswegs etwas Gewöhnliches, er galt vielmehr in kleinen Städten als ganz besondere Neuerung, in deren Schwierigkeit sich die wenigsten gefunden hatten. Daher trat auch, als der Alte mit einem abgenützten Klapphute, den er unter dem Arm hervorzog, dem Orchester das Zeichen zur Einleitung gab, nur eine geringe Anzahl von Paaren heran.

‚Was!?‘ rief der Sprecher, der sie sofort mit einem Blicke überzählt hatte, ‚was, nur neun Paare!? Sind wir denn in Krähwinkel? C’est une honte! Schämen Sie sich, meine Herrschaften! En avant! Ich bitte, herbei zu kommen!‘

Diese Worte ermunterten manche, die unschlüssig gewesen zu sein schienen; sie näherten sich befangen und zögernd.

‚Bravo! Nur immer herbei! Ich bin überzeugt, daß noch viele da sind, die ganz gut mittanzen könnten. Pas de gêne, mes dames! Keine Umstände, meine Damen! J’arrangerai tout! Es wird vortrefflich gehen. Nur Courage, meine Herren!‘

Diese Zurufe lockten noch einige heran, so daß nunmehr etwa zwanzig Paare Aufstellung genommen hatten. Nun aber zeigte es sich, daß ein vis-à-vis fehle.

‚Ein vis-à-vis!‘ schrie der Alte wieder. ‚Wir brauchen noch einen Herrn und eine Dame! Ein Königreich für ein vis-à-vis! Kommt wirklich niemand? Nun, ich werde schon irgendwo etwas Verborgenes ausfindig machen — vielleicht im Speisezimmer!‘ Und damit eilte er dorthin, trat auf die Schwelle und erblickte die schlanke Blondine, die mit dem Rücken gegen den Saal gekehrt saß, während ihre Tischnachbarn dem Forschenden unwillige Blicke zuwarfen. ‚Was?‘ rief er in seinem höchsten Fisteltone, ‚Fräulein —‘ er kreischte einen Namen, den ich nicht verstehen konnte — ‚was, die beste meiner ehemaligen Schülerinnen macht sich unsichtbar, wenn es an eine Quadrille geht?! Das muß ich mir ausbitten! Es scheint, meine Herrschaften,‘ wendete er sich an die übrigen, ‚es scheint, daß Sie die junge Dame hier zurückhalten!‘

‚Wir halten niemand zurück, Herr Tanzmeister,‘ erwiderte die alte Frau mit scharfer, beinerner Stimme. ‚Wenn das Fräulein tanzen will, so mag sie es immerhin.‘

Diese aber schien in großer Verlegenheit und im Kampfe mit sich selbst zu sein. Der Alte jedoch ließ ihr keine Zeit zu weiterer Überlegung. Er ergriff sie rasch beim Arm und zog die allerdings nur schwach Widerstrebende in den Saal hinaus. Dort fiel sein Blick sofort auf mich, denn ich war inzwischen dem Schauplatz dieser Szene näher getreten. ‚Und da haben Sie auch gleich einen vorzüglichen Tänzer!‘ rief er aus. ‚Ich habe es wohl bemerkt, wie halsstarrig der Herr Offizier vorhin meiner Aufforderung ausgewichen ist; jetzt aber, hoff’ ich, wird er sich nicht länger bedenken!‘ Und damit ließ er uns, seiner Sache sicher, voreinander stehen. Wir erröteten beide, verneigten uns gegenseitig und traten, nachdem ich ihr den Arm geboten, in die Reihe.

Noch hatten wir in unserer Befangenheit kein Wort gewechselt, als schon die Quadrille begann, bei welcher man in jener Zeit nicht bloß nachlässig hin und her schlenderte, sondern jeden Schritt aufs genaueste markierte. Und da war es eine Freude zu sehen, mit welcher Grazie sich meine Tänzerin bewegte. Die schmächtigen Arme an den Hüften hinabsenkend, schien sie damit ein leichtes Heben ihres Kleides andeuten zu wollen, während die schmalen Füßchen, in knappen Schuhen mit Kreuzbändern, nur so über den Boden hinschwebten. Mit vollendeter Anmut streckte sie mir, wenn wir uns nach kurzer Trennung wieder zusammenfanden, die Hand entgegen. Dabei lag ein fast feierlicher Ernst in ihren Zügen; man konnte bemerken, daß sie von ihrer Aufgabe, sich als fertige Tänzerin zu erweisen, erfüllt war, indes ich nun Gelegenheit hatte, in nächster Nähe jede Einzelheit ihrer jugendlichen Schönheit zu bewundern: die schimmernde Stirn, das etwas kurze, aber fein modellierte Näschen, die durchsichtig zarte Muschel des Ohres. Noch immer verhielten wir uns schweigend; erst als der Tanz bewegter wurde und trotz der schrillen Feldherrnstimme des Alten mehrfache Irrungen und Stockungen entstanden, fand ich Anlaß zu einigen scherzhaften Bemerkungen, die sie jedoch bloß mit einem reizenden Lächeln erwiderte.

Jetzt aber, als alles glücklich zu Ende war und die Paare Arm in Arm einen Rundgang durch den Saal antraten, begann ich mit der allerdings banalen, aber am nächsten liegenden Phrase: ‚Wahrhaftig, mein Fräulein, Sie tanzen wundervoll, und ich schätze mich glücklich, daß es mir vergönnt war, dies an Ihrer Seite zu erkennen.‘

Sie errötete ein wenig und sagte dann mit einer ganz eigentümlich tiefen und wohllautenden Stimme: ‚Nun ja, ich habe mir Mühe gegeben, die Quadrille ordentlich zu erlernen. Es ist auch gar nicht so schwer; man muß nur ein bißchen den Kopf zusammenhalten. Aber die meisten Mädchen sind so zerstreut und ziehen daher die einfachen Rundtänze vor.‘

‚Diese sind vielleicht auch in mancher Hinsicht angenehmer,‘ erwiderte ich, noch immer sehr unsicher in der Fortführung des Gespräches. ‚Aber ich habe bis jetzt verabsäumt, mich Ihnen vorzustellen.‘ Ich nannte meinen Namen.

Sie verneigte sich leicht und sagte dann: ‚Ich heiße Ginevra — Ginevra Maresch.‘

‚Ginevra? Dieser Name ist außerhalb Italiens ein seltener.‘

‚Ich bin auch eine Italienerin,‘ entgegnete sie lächelnd, — ‚das heißt, eine halbe. Meine Mutter ist aus Bassano im Venezianischen, wo sie mein Vater, als er noch Offizier war, kennen gelernt.‘

‚Ihr Vater war Militär?‘

‚Jawohl; aber er hat seine Charge niedergelegt, um meine Mutter heiraten zu können. Sie besaßen beide kein Vermögen. Es wurde dem Vater sehr schwer, eine andere Stellung zu finden, und so mußten sie sich lange gedulden. Endlich gelang es ihm, sich beim Steuerwesen unterzubringen. Vor drei Jahren ist er hier als Einnehmer gestorben,‘ setzte sie ernst hinzu.

‚Und Ihre Mutter?‘

‚Die lebt — dem Himmel sei Dank. Aber sie hat in diesem Winter eine schwere Krankheit, — eine Lungenentzündung, durchgemacht, von der sie sich nur sehr langsam wieder erholt. Dies hielt sie auch ab, mich auf den Ball zu begleiten.‘

‚Sind Sie mit Verwandten hier?‘

‚Nicht mit Verwandten. Es sind bloße Bekannte, die sich erboten, mich mitzunehmen. Aber ich hätte es vorziehen sollen, zu Hause zu bleiben.‘

‚Wieso?‘

‚Nun sehen Sie, diese Leute haben uns vor längerem einen nicht unbedeutenden Dienst erwiesen, für welchen wir ihnen auch sehr dankbar waren. Aber sie wollen uns immer eine gewisse Abhängigkeit fühlen lassen — besonders die alte Frau, die eine wohlhabende Witwe ist, und das verträgt sich schwer. Die Tochter wäre eigentlich ein ganz gutes Mädchen, es ließe sich mit ihr auskommen. Aber leider ist sie gar nicht hübsch, und das empfindet sie sehr schmerzlich — besonders bei solchen Gelegenheiten, wo sie kaum einer um eine Tour bittet. Da muß es ihr auch doppelt weh tun, wenn sie wahrnimmt, wie andere von allen Seiten bestürmt werden. Um ihr das Herz nicht noch schwerer zu machen, wollte ich mich eigentlich von der Quadrille zurückziehen, die sie überhaupt gar nicht tanzen kann — so wie ihr Bruder, der sie gewissermaßen aus Hochmut nicht lernen will. Hingegen scheint er zu wünschen, daß ich sonst mit keinem andern tanze, als mit ihm.‘

‚Und hat er ein Recht zu solchem Verlangen?‘

Sie erbleichte flüchtig. ‚O nein! Nicht das geringste! Aber er tut sich etwas auf seine Wohlhabenheit zugute. Ich mag ihn gar nicht leiden, und zeig’ es ihm auch, so weit es angeht. Aber er will es nicht verstehen, und nur die Rücksicht auf den erwähnten Umstand hat mich bis jetzt abgehalten, es ihm rund heraus zu sagen.‘

‚Das ist freilich unangenehm.‘

‚Sehr. Und ich sehe immer deutlicher ein, daß es für mich besser gewesen wäre, den Ball gar nicht zu besuchen. Aber es war mein erster, und dieser Verlockung vermag ein junges Mädchen nicht zu widerstehen.‘

‚Konnten Sie sich denn nicht jemand anderem anschließen?‘

‚Nein; wir haben uns im Laufe der letzten Jahre mehr und mehr zurückgezogen. Die Menschen hier hatten uns immer gewissermaßen als Fremde behandelt — und so sind wir es zuletzt geblieben.‘

Wir hatten während dieses Gespräches den Saal mehrmals umschritten und gar nicht bemerkt, daß sich die übrigen Paare allmählich verloren hatten, was uns jetzt zum Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit machen mußte. Nun aber begann das Orchester einen Walzer zu spielen, den man wahrscheinlich deshalb so bald folgen ließ, damit die von der Française Zurückgebliebenen entschädigt würden. Von den raschen Klängen durchzuckt, umfaßte ich sofort meine Begleiterin und zog sie in den beginnenden Wirbel hinein. Leicht, gleichsam körperlos, schwebte sie in meinen Armen dahin — und doch versetzte mich die Umschlingung in so wonniges Entzücken, daß ich es unwillkürlich ihrem anspruchsvollen Begleiter nachtat und sie nicht eher freigab, als bis der letzte Geigenstrich verklungen war. Tief Atem schöpfend, das losgegangene Haar aus der Stirn zurückschüttelnd, machte sie eine Verbeugung, blickte dann, wie sich besinnend, im Saale umher und eilte in das Speisezimmer.

Um mich drehte sich noch alles, und als ich mich jetzt mit hochklopfendem Herzen nach einem Stuhl umsah, trat Dorsner lächelnd an mich heran. ‚Nun,‘ sagte er, ‚dein Geschmack ist nicht übel. Aber es ist ein noch ganz blutjunges Ding — und dabei arm wie eine Kirchenmaus. Gib acht, daß du nicht hängen bleibst.‘

Ich verstand kaum, was er sagte, und wollte mich eben setzen — da gewahrte ich, wie Ginevra an der Schwelle des Speisezimmers erschien. Sie war ganz bleich und ihre blauen Augen hatten einen dunklen, metallischen Glanz angenommen. Ich näherte mich ihr; sie kam mir sofort entgegen.

‚Denken Sie,‘ begann sie mit zitternder Stimme, ‚was man mir angetan! Meine Begleiter sind fort und haben mich allein hier zurückgelassen.‘

Einen Augenblick schwieg ich betroffen. Dann aber sagte ich: ‚Nun, das wäre ja eigentlich das Schlimmste nicht.‘

‚Gewiß nicht, wenn ich jetzt ungescheut bleiben könnte. Und eigentlich könnt’ ich es auch,‘ fuhr sie fort, indem sie das Haupt erhob und frei und stolz um sich blickte, ‚das Gerede der Leute sollte mich wenig kümmern. Aber meiner Mutter wegen darf ich es nicht. Im übrigen ist es gut, daß es so gekommen. Diese Menschen haben nun selbst das Band zerrissen, das uns drückte. Ich will mich nur noch ein wenig abkühlen, dann gehe ich nach Hause.‘

‚Allein?‘

‚Warum nicht? Ich kenne den Weg, und der ist kurz. Wir wohnen gleich in der Nähe — außerhalb der Stadt.‘

‚Wie glücklich wäre ich, dürft’ ich Ihnen trotzdem meine Begleitung anbieten.‘

‚Das können Sie — wenn Sie meinetwegen den Ball verlassen wollen. Auch ist es ja, wie gesagt, nicht weit — in zehn Minuten sind Sie wieder da.‘

‚Ich werde nicht zurückkehren; denn was sollte ich hier noch, wenn Sie fort sind?‘

Jede andere würde nun, obgleich ich diese Worte in überzeugendem Tone gesprochen hatte, doch irgend eine spöttisch bezweifelnde Einwendung hingeworfen haben. Ginevra aber blickte nachdenklich zu Boden. ‚Wirklich?‘ fragte sie dann, indem sie langsam die Augen aufschlug und mich mit einem vollen Blick ansah.

‚Gewiß‘, bekräftigte ich.

Sie schwieg wieder. Dann sagte sie mit ihrer weichen, dunklen Stimme: ‚Das freut mich.‘

Inzwischen hatte sich der Saal fast gänzlich geleert; denn die Raststunde war herangekommen, und alles drängte und zwängte sich behufs Erquickung und Stärkung in den Nebenraum, diesen überfüllend. Ich konnte mich daher mit Ginevra ruhig niederlassen, und zwar unweit einer offenstehenden Nebentür, die zur Damengarderobe führte. Vor dieser, in einem ganz kleinen Zimmerchen, war eine äußerst primitive Konditorei eingerichtet; es gab allerlei Backwerk, Orangen und Fruchtsäfte; Eis war nicht zu haben.

‚Kann ich Ihnen irgend eine Erfrischung anbieten?‘ fragte ich.

‚Nein, ich danke. Oder doch — um ein Glas Wasser möchte ich bitten.‘

Ich trat zu der alten Frau, die mit verdrießlichem Gesicht bei der Ware saß, begehrte Wasser, und um doch etwas zu erstehen, ließ ich auch einige Orangen auf den Teller legen, den ich Ginevra überreichte.

‚Die Orangen sind schön‘, sagte sie. ‚Ich werde eine davon nehmen und sie der Mutter bringen.‘

Nachdem sie getrunken hatte, blieben wir noch eine Weile schweigend nebeneinander sitzen. ‚Nun aber bin ich bereit‘, sagte sie jetzt, indem sie sich erhob. ‚Erwarten Sie mich draußen am Eingang; ich nehme nur meine Sachen aus der Garderobe.‘ Ich eilte nach dem Vestibül, wo mein Mantel hing. Es dauerte nicht lange, so erschien sie, in einen ganz leichten Überwurf gehüllt, ums Haupt ein schwarzes Schleiertuch geschlagen, aus welchem ihr lichtes Antlitz wundervoll hervorschimmerte. Draußen bog sie gleich links ab und schlug einen schmalen Fußpfad ein. Ich wagte es nicht, ihr den Arm zu bieten, und hielt mich in ehrerbietiger Entfernung an ihrer Seite. Es war eine mondlose Nacht; aber die Sterne flimmerten, und man konnte die Landschaft deutlich wahrnehmen.

‚Sehen Sie die Reihe kleiner Häuser?‘ begann sie. ‚Dort wohne ich.‘

‚Das ist noch näher, als ich gedacht. Nur mehr ein paar Augenblicke — und Sie sind mir entschwunden. Vielleicht für immer.‘

Sie erwiderte nichts.

‚Soll ich Sie wirklich nicht mehr wiedersehen?‘

‚Ich werde die Mutter fragen,‘ sagte sie nach einer Pause.

‚Und wie werde ich den Bescheid erfahren?‘

Sie schien zu überlegen. ‚Kommen Sie morgen um vier Uhr nachmittags in jene Allee.‘ Sie deutete auf zwei Reihen kahler Bäume, die sich dunkel quer über die Felder gegen den Fluß hinzogen. ‚Es ist mein Lieblingsweg; besonders in dieser Jahreszeit, wo es hier herum noch ganz einsam ist. Wollen Sie?‘

‚Sie fragen? — —‘

‚Es dürfte morgen gutes Wetter sein,‘ fuhr sie, stillstehend, mit einem Blick nach dem Himmel fort; ‚auch schlechtes würde mich nicht abhalten. Jetzt aber bleiben Sie zurück. Gewahren Sie die erleuchteten Fenster? Meine gute Mutter wacht noch.‘ Sie reichte mir die Hand. ‚Also addio! Auf morgen!‘

Sie eilte nach vorwärts, den matten Lichtern entgegen. ‚Addio!‘ rief sie leise zurück. Dann klopfte sie leicht an eine Scheibe. Gleich darauf wurde die Haustür geöffnet und wieder geschlossen.

Ich aber stand noch eine Weile und spähte nach dem Schatten Ginevras, der sich auf den durchschimmerten Fenstervorhängen abzuzeichnen schien. Endlich trat ich den Heimweg an, die Brust voll seliger Empfindungen, in welchen jede Erinnerung an meine Festungscirce spurlos unterging.

III.

In welcher Aufregung ich am folgenden Tage der vierten Nachmittagsstunde entgegensah, läßt sich denken; ich zählte die Minuten und machte dabei die Wahrnehmung, wie endlos lang solch ein minimaler Zeitabschnitt unter Umständen erscheinen könne. Und wie das schon in ähnlichen Fällen zu gehen pflegt, stellten sich meiner fieberhaften Ungeduld noch in der letzten Stunde Hindernisse entgegen, ganz unvorhergesehene Dienstobliegenheiten, die mich fast um das Stelldichein gebracht hätten. Dennoch gelang es mir, knapp vor vier Uhr, abzukommen, und mich fast laufend auf den Weg zu machen.

Das Wetter hatte sich in der Tat sehr günstig angelassen. Die schönste Februarsonne strahlte vom blauen Himmel nieder und schuf einen wahren Frühlingstag, wenn auch die Landschaft noch ihre ganze winterliche Kahlheit aufwies.

Schon von weitem gewahrte ich die schlanke Gestalt Ginevras zwischen den bezeichneten Baumreihen auf und nieder wandeln. Auch sie nahm mich alsbald wahr und winkte mir mit dem Fächer, den sie statt eines Sonnenschirms mitgenommen und ausgespannt hatte, grüßend zu. Sie trug ihr Mäntelchen nur ganz leicht um die Schultern geworfen, und der schwarze Schleier umwehte lose ihr blondes Haupt.

‚Also sind Sie doch gekommen‘, sagte sie lächelnd, als ich endlich atemlos und erhitzt vor ihr stand. ‚Ich hatte schon angefangen, ein wenig zu zweifeln.‘

Ich wollte zu meiner Entschuldigung hastig die Gründe der Verspätung auseinandersetzen, aber sie unterbrach mich. ‚Das tut ja nichts. Sie sind jetzt da — und was mich betrifft, so hätte ich gewiß noch weit länger gewartet. Auch hab’ ich Ihnen eine gute Nachricht mitzuteilen: meine Mutter will Sie empfangen.‘

‚Welch ein Glück!‘ rief ich aus.

‚Ich hatte es vorausgesehen,‘ fuhr sie ruhig fort. ‚Denn ich kenne meine Mutter und weiß, daß sie mir keinen Wunsch abschlägt. Sie dürfen jedoch nicht glauben, daß ich ein verzogenes Kind bin. Die Gute erfüllt meine Wünsche, weil ich nur selten einen habe — oder doch wenigstens ausspreche. Geschieht dies aber, dann ist sie auch überzeugt, daß es ein sehnlicher und wohlüberlegter ist, auf welchem ich, wenn es not tut, bestehe. Als ich ihr von unserer Begegnung auf dem gestrigen Balle erzählte, sagte sie daher bloß: wenn du glaubst, daß er es redlich meint, so mag er kommen. — Und Sie meinen es doch redlich?‘ setzte sie hinzu, indem sie mir voll und tief in die Augen sah.

Ich gestehe, daß mich diese Frage einigermaßen betroffen machte. Denn ich empfand, daß jetzt etwas Ernstes, feierlich Bindendes an mich herangetreten war, darauf ich nicht vorbereitet gewesen. Aber schon hatte ich mich über die schmale Hand gebeugt, die sich mir vertrauensvoll entgegenstreckte, und sie mit stummer Beteuerung geküßt.

‚Ich habe nicht daran gezweifelt‘, sagte sie in festem Tone. ‚Die Offiziere stehen zwar, was uns Mädchen betrifft, in keinem besonderen Rufe. Aber ich glaube, es ist ein Vorurteil, das, wie manches andere, gedankenlos nachgesprochen wird. Hatte ich doch an meinem Vater den Beweis, daß gerade in Ihrem Stande die Ehre über alles geht. — Aber kommen Sie jetzt; meine Mutter erwartet Sie. Es ist zwar noch sehr schön hier außen; allein der Tag neigt sich doch schon dem Ende zu, und in der Dunkelheit sollen Sie unser Haus nicht betreten.‘

So schritten wir denn auf die kleinen Wohnstätten zu, die in der Entfernung vor uns lagen. Sie bildeten, von kunstlos umzäunten Gärtchen und winzigen Grundstücken unterbrochen, eine Art Vorort, der im freien Felde lag. Es wohnten sichtlich arme Leute hier; aber alles erschien wohlgehalten und reinlich. In den blanken Scheiben spiegelten sich die Strahlen der niedergehenden Sonne; hier und dort spielten Kinder friedlich vor den Türen.

Das Haus, dem mich jetzt Ginevra entgegenlenkte, war etwas ansehnlicher als die übrigen; zum Eingang führten mehrere Stufen empor. Als wir diese hinanstiegen, zeigte sich am nächsten Fenster das derb gerötete, neugierig blickende Antlitz einer bejahrten Frau, welche gleich darauf im Flur an uns vorüberkam und in einer Seitentür verschwand.

‚Das war unsere Hauswirtin,‘ sagte Ginevra; ‚die Witwe des Amtsdieners, der unter meinem Vater gestanden und sich dieses kleine Anwesen im Laufe der Jahre erwirtschaftet hatte. Sie selbst bewohnt eben nur eine Kammer; alles andere haben wir um ein Billiges gemietet.‘

Sie öffnete eine zweite Seitentür, durch welche wir in eine helle Küche traten, und von da in eine nicht ungeräumige Wohnstube, wo die Mutter Ginevras im Lehnstuhle saß, eine zarte, schmächtige Frau, die leidend aussah, aber nicht viel über vierzig Jahre zählen konnte. Eine leichte Röte flog über ihr Antlitz, als wir eintraten und sie mit einiger Mühe sich erhob.

‚Da ist er, Mamma,‘ sagte Ginevra. ‚Ich lasse dich mit ihm allein.‘ Sie legte rasch Fächer, Schleier und Mäntelchen ab und eilte wieder hinaus.

Ich näherte mich der blassen Frau, die sich wieder gesetzt hatte, und eine Pause gegenseitiger Verlegenheit trat ein.

Endlich begann ich: ‚Sie waren so gütig, mir zu gestatten — —‘

‚Es freut mich, Sie kennen zu lernen‘, erwiderte sie in ziemlich gebrochenem Deutsch. ‚Bitte, nehmen Sie Platz.‘

Ich zog einen Stuhl heran.

‚Ich weiß nicht,‘ fuhr sie nach einigem Zögern fort, ‚ob ich recht getan, Sie zu uns zu bitten; wohl die meisten Mütter würden Bedenken getragen haben. Aber meine Tochter hat mir alles mitgeteilt, was auf dem Balle vorgefallen, und so schien es mir doch am geratensten, einem Wiedersehen keine Hindernisse in den Weg zu legen. Ihre liebenswürdige Persönlichkeit‘ — sie sagte diese Schmeichelei mit einem leichten Senken des Hauptes und in jenem feinen, vornehm ausgleichenden Tone, wie er nur in Italien zu hören ist — ‚Ihre liebenswürdige Persönlichkeit scheint einen tiefen Eindruck hervorgebracht zu haben, und es würde vielleicht zu geheimen Zusammenkünften gekommen sein, die für ein junges Mädchen immer höchst peinlich sind. Ich selbst war, als ich die Bekanntschaft meines unvergeßlichen Gatten machte, durch die Verhältnisse im elterlichen Hause dazu gezwungen und weiß, was ich dabei gelitten habe. Denn trotz aller Liebe zu meinem Federigo empfand ich einen solchen Verkehr doch stets als Verrat an meinen Angehörigen.‘

Ich hatte, während sie so sprach, aufmerksam ihr Antlitz betrachtet, das von der Erinnerung belebt wurde. In der ganzen Erscheinung lag eigentlich nichts Südländisches, und wäre das Charakteristische der Aussprache und mancher Bewegungen nicht gewesen, man hätte sie kaum für eine Italienerin gehalten. Sanfte, weiche Züge, schlichtes kastanienbraunes Haar und ebensolche Augen; mit ihrer Tochter hatte sie nicht die geringste Ähnlichkeit.

Sie erriet meine Gedanken und sagte lächelnd: ‚Nicht wahr, Sie finden, daß mir Ginevra gar nicht ähnlich sieht? Sie ist ganz nach ihrem Vater geraten. Wenn Sie sich die Mühe nehmen und jenes Bild dort betrachten wollen, so werden Sie das erkennen.‘

Ich erhob mich und trat vor ein ziemlich verblaßtes Aquarell, das an einem Fensterpfeiler hing. Es war etwas steif, aber nicht ohne Empfindung ausgeführt und stellte einen beiläufig dreißigjährigen Mann in Offizierstracht der Jägertruppe vor. Aus dem überhohen Frackkragen ragte ein fein geschnittener, höchst ausdrucksvoller Kopf mit lichtblonden Haaren und blauen Augen. Je länger ich das Bild bei dem ungewissen Dämmerlichte des Abends betrachtete, desto deutlicher traten mir die Züge Ginevras daraus entgegen.

‚Und nicht bloß im Äußeren gleicht sie ihm,‘ fuhr die Frau auf meine laute Beistimmung fort; ‚auch in allem und jedem, was den Charakter betrifft, der bei ihr, obgleich sie erst vor kurzem sechzehn Jahre alt geworden, bereits zu großer Festigkeit entwickelt ist.‘

‚Ja, Ihre Tochter ist ein ganz einziges Geschöpf!‘ rief ich aus.

‚Nun, vielleicht sind wir beide bestochene Richter. Aber soviel glaube ich wohl selbst sagen zu dürfen: sie ist ein vortreffliches Mädchen und verdient glücklich zu werden.‘

‚Sie wird es auch gewiß!‘

‚Das steht in Gottes Hand.‘

Ein Schweigen trat ein, währenddessen man aus der Küche herein das Knistern des Herdfeuers, sowie leise Schritte und Hantierungen vernehmen konnte.

‚Ginevra bereitet den Kaffee‘, sagte Frau Maresch. ‚Sie muß ja überall mit angreifen. Eine Magd zu halten, sind wir nicht in der Lage; das Gröbste verrichtet die Frau, bei der wir wohnen. Die kleine Pension, die ich beziehe, reicht knapp zum Leben aus, und wären uns nicht vor einiger Zeit ein paar hundert Lire zugefallen, die mir ein Verwandter in Italien nachgelassen, wir würden vielleicht in Not — und was noch schlimmer, in Abhängigkeit von fremden Menschen geraten sein.‘

‚Sie haben gewiß noch mehrere Angehörige in Italien?‘ fragte ich.

‚Nein — wenigstens niemanden, der meinem Herzen nahe steht. Eltern und ein Bruder, den ich hatte, sind schon vor Jahren rasch nacheinander weggestorben. Man hatte meine Heirat nach langen Kämpfen widerwillig zugegeben und mich dann in der Fremde mehr und mehr aus den Augen verloren. Ich habe, wie Sie sich denken können, trotz meines ehelichen Glückes sehr an Heimweh gelitten. Endlich jedoch verlor sich auch das, und ich möchte jetzt eigentlich um keinen Preis mehr nach Italien zurück. Und auch nicht anderswohin. In Graz leben noch Verwandte meines Mannes, und diese haben mich wiederholt aufgefordert, mit Ginevra zu ihnen zu kommen. Aber wir ziehen es vor, unabhängig zu bleiben, so eingeschränkt wir leben müssen. Überdies sind wir, seit wir in diesem Hause wohnen, sehr zufrieden. Es ist zwar nicht viel mehr als eine Hütte, aber wir sind hier vollständig für uns, haben einen kleinen Garten — und mit ein paar Schritten ist man ganz im Freien. Ich sehne mich schon nach dem Frühling, wo ich dies alles so recht werde genießen können; es soll mich hoffentlich ganz wieder herstellen.‘

So führten wir das Gespräch weiter, wobei nun auch ich einiges über meine Lebensverhältnisse mit einfließen ließ, obgleich die feinfühlige Frau in dieser Hinsicht jede Frage vermied. Sie hörte mit bescheidener Aufmerksamkeit zu und sagte schließlich: ‚Ich sehe, daß Sie aus vornehmer Familie sind. Und Emil heißen Sie — Emilio. Ein schöner und mir wohlbekannter Name; mein armer Bruder hat ihn gleichfalls geführt.‘

In diesem Augenblick trat Ginevra ein, in der Hand eine kleine, grün lackierte Schirmlampe, wie sie damals gebräuchlich waren, und deren Schein das bereits stark verdunkelte Zimmer angenehm erhellte.

‚Du wirst dich wohl schon mit ihm ausgesprochen haben, Mutter,‘ sagte sie, die Leuchte niederstellend, ‚und ich kann den Kaffee bringen, der eigentlich längst fertig ist — und zu welchem Sie‘ — sie wandte sich mit einer Verbeugung an mich — ‚eingeladen sind, wofern Sie dieses Frauengetränk nicht verschmähen.‘

Und nun begann sie rasch, ihre Anstalten zu treffen. Sie schob den Tisch nahe an die Mutter heran und breitete ein frisches Tuch darüber. Dann brachte sie aus der Küche Kanne und Tassen, welch letztere sie sorgsam füllte und lächelnd kredenzte.

Nachdem das Vesperbrot eingenommen war, stand sie auf und zündete eine Kerze an. ‚Nun aber will ich Ihnen auch mein Gemach zeigen‘, rief sie. ‚Es ist zwar ein ganz winziges Stübchen, aber ich herrsche darin unumschränkt.‘

Sie öffnete eine Seitentür, die ich schon mehrmals ins Auge gefaßt hatte, und ließ mich, während sie voranleuchtete, eintreten. Der Raum war allerdings verschwindend klein, so zwar, daß man sich wunderte, wie das, was darin stand, dennoch hatte Platz finden können. In der Mittelwand zeigte sich ein Fenster; rechts und links davon waren zwei eingerahmte Tuschzeichnungen angebracht, welche südliche Landschaften darstellten. Knapp am Fenster ein mit Weißzeug überhäufter Nähtisch, nahe dabei ein anderes kleines Tischchen, auf dem zwischen einigen Blumentöpfen ein Vogelbauer stand. Die eine Seitenwand deckte ein Kasten, die andere ein Regal, das sich vollständig mit Büchern in verblaßten Einbänden ausgefüllt zeigte.

‚Nun, hab’ ich es mir nicht hübsch eingerichtet?‘ fragte Ginevra. ‚Wenn ich hier nähe, kann ich in unseren Garten blicken. Der ist freilich jetzt noch ganz kahl und wüst; dafür blühen meine Blumen am Fenster. Und das hier‘ — sie näherte sich mit dem Lichte dem Vogelbauer, in welchem ein Zeisig, den Kopf unter dem Flügel, bereits auf seinem Stängelchen schlief — ‚das ist mein piccino! Er zwitschert bei Tag ganz lustig. Und dort‘ — sie beleuchtete das Regal — ‚dort haben Sie den ganzen italienischen Parnaß: Dante, Ariosto, Tasso und so weiter. Er rührt von meinem Vater her, der seinen Stolz darein setzte, das Italienische zu verstehen, wie ein Eingeborner — oder eigentlich noch besser. Er las gar nichts anderes, und Gott weiß, wie oft er diese Bände mag vorgenommen haben. Er kannte kein anderes Vergnügen. In seinen jüngeren Jahren war er auch Zeichner; jene Landschaften dort sind von ihm in Neapel aufgenommen worden, denn er hat im Jahre Zwanzig die österreichische Intervention mitgemacht.‘

Ich hatte inzwischen einen der Bände herausgezogen und aufgeblättert.

‚Lesen vielleicht auch Sie italienisch?‘ forschte sie.

‚Ich sollte wohl; denn es wurde im Kadetteninstitute gelehrt. Aber ich habe es nicht weit gebracht.‘

‚Wir wollen miteinander lesen, dann wird es schon gehen. — Hast du gehört, Mamma,‘ rief sie ins Zimmer hinein, ‚daß ihm unsere Sprache nicht fremd ist?‘

Ho compreso; che piacere!‘ ließ sich die Mutter vernehmen.

‚Sie können sich übrigens denken,‘ fuhr Ginevra fort, ‚daß ich selbst das meiste von dem nicht kenne, was in den Büchern steht; es ist eine gar zu schwere Lektüre für ein junges Mädchen.‘

Wir waren bei diesen Worten wieder aus dem Stübchen getreten, und da ich wahrnahm, daß eine alte Standuhr im Zimmer bereits auf Acht wies, so hielt ich es für angemessen, mich jetzt zu verabschieden.

‚Auf Wiedersehen‘, sagte die Mutter. ‚Sia benedetta la sua intrata da noi.

Ich zog die Hand, die sie mir reichte, ehrerbietig an die Lippen und trat aus der Tür, von Ginevra mit dem Lichte begleitet. Draußen stellte sie es nieder und folgte mir in den Flur. Dort blieb sie stehen und breitete mit einer unaussprechlich schönen und edlen Bewegung die Arme aus.

‚Sie lieben mich also?‘ fragte sie mit einem innigen Blick.

Ich zog sie an mich, und unsere Lippen schlossen sich zu einem langen Kusse zusammen.“

IV.

„Und nun,“ fuhr der Oberst fort, „begann für mich eine selige Zeit. Ich suchte, so oft es nur anging, das kleine Haus auf, dessen Stille und Abgeschlossenheit den Reiz eines Verhältnisses erhöhte, das sich unter dem sanften Auge der Mutter immer inniger entfaltete — und dabei das reinste und lauterste blieb, das sich denken läßt. Denn bei aller Leidenschaftlichkeit, mit welcher mir Ginevra ihre junge Seele erschloß, erwies sie doch eine jungfräuliche Hoheit und Würde, die mich mit Ehrfurcht und heiliger Scheu erfüllte. Ich kam gewöhnlich in den frühen Nachmittagsstunden. Dann saß Ginevra am Nähtisch und ich neben ihr, plaudernd oder still in ihren Anblick versunken, und wenn die Lampe angezündet war, lasen wir, während die Mutter zuhörte, in den Büchern des Vaters: Sonette Petrarcas, leicht faßliche Gesänge aus der divina commedia, und hin und wieder ein Bruchstück von Meister Ludovicos phantastischem Gedicht. Aber nicht lange mehr duldete es uns in den Stubenräumen. Denn es war Frühling geworden und sonnige, warme Tage lockten uns vor das Haus. Die Mutter ließ sich ihren Lehnstuhl in das Gärtchen schaffen, wo bereits das erste Grün schimmerte und die Knospen dem Aufbrechen nahe waren. Dort weilte sie, während wir anderen in das Feld hinausschritten, nach den Lerchen empor spähten, die schmetternd von den Schollen aufstiegen, und Ginevra die ersten Veilchen sowie andere frühe Blumen zum Strauße pflückte, den sie mir beim Abschied mitgab. So lebten wir wie in einem schönen Traum dahin und ahnten nicht, daß die Tage des Glückes gezählt seien .....

Als ich einmal bei einbrechender Nacht nach Hause zurückkehrte, fand ich einen Brief meines Oheims vor, worin mir dieser mitteilte, daß es seinem Einflusse möglich geworden sei, meine Versetzung zu einem in Wien befindlichen Regimente zu erwirken. Und zwar mit gleichzeitiger Beförderung zum Leutnant; eine sprungweise Vorrückung, wie sie in jener Zeit durch die Gunst eines befreundeten Regimentsinhabers nicht allzu schwer zu erreichen war. Er hoffe daher, so schloß er, mich recht bald umarmen zu können. Unter anderen Umständen wäre diese Nachricht eine höchst erfreuliche gewesen; in diesem Augenblick aber fuhr sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel auf mich nieder. Was sollte mir jetzt eine Beförderung? Was eine Versetzung nach Wien und das Wiedersehen meines Oheims, wenn mich dies alles so rasch und plötzlich von der Geliebten wegriß!? Ich verbrachte eine schlaflose Nacht, und schon am nächsten Morgen wurde ich von der Angelegenheit auch dienstlich verständigt, mit dem Beisatze, daß ich binnen dreier Tage an meinen neuen Bestimmungsort abzugehen habe. Also nur drei Tage, drei kurze Tage waren mir noch vergönnt — und auch diese, wie ich bei näherer Überlegung erkannte, nur in den allerkleinsten Bruchteilen. Denn gerade bei meinem Scheiden aus dem Regiment war ich in dieser Spanne Zeit mehr als je an den kameradschaftlichen Verkehr gebunden, ganz abgesehen von den sonstigen Verpflichtungen, die mein so unerwarteter Abgang mir auferlegte. Ich konnte also höchstens noch einen vollen Abend für mich retten. Der heutige war schon von einer gemeinsamen Fechtübung in Anspruch genommen, welche allwöchentlich stattfand und mit einer Tafel im Kasino zu schließen pflegte. Drüben war man davon unterrichtet und erwartete mich daher nicht. Aber die Stunden, die knapp vor mir lagen, konnte ich erhaschen und machte mich sofort auf den Weg nach Leitmeritz. Es war ein schwerer Gang; mußte ich doch die Frauen von der so bald bevorstehenden Trennung in Kenntnis setzen!

Ich traf die Mutter allein zu Hause. Sie war in letzter Zeit etwas zu Kräften gelangt und schien eben beschäftigt, Verschiedenes im Zimmer zu ordnen.

‚Ah, Emilio!‘ rief sie überrascht, als sie mich eintreten sah. ‚Wie schön, daß Sie wieder einmal vormittags kommen und uns für den verlorenen Abend entschädigen. Ginevra besorgt eben ein paar kleine Einkäufe in der Stadt; sie wird jedoch gleich wieder zurück sein. Aber was haben Sie denn?‘ fuhr sie mit besorgten Blicken fort, da sie meine ernste und niedergeschlagene Miene wahrnahm. ‚Ist vielleicht etwas vorgefallen?‘

‚Allerdings, carissima madre‘ — ich pflegte sie stets so zu nennen — ‚allerdings ist etwas vorgefallen. Etwas ganz Unerwartetes, Trauriges — —‘ Und nun teilte ich ihr zögernd und mit aller Vorsicht mit, was nicht verschwiegen bleiben konnte.

Sie mußte sich setzen. ‚Mein Gott,‘ brachte sie mühsam hervor, ‚so rasch, so plötzlich! Und was wird Ginevra dazu sagen? Sie ist zwar ein starkes Mädchen — aber dennoch — — Ich glaube, da ist sie schon‘, setzte sie aufhorchend hinzu.

In der Tat waren draußen die leichten Schritte Ginevras zu vernehmen, und gleich darauf kam sie selbst ins Zimmer geeilt, das Antlitz von der Luft gerötet, ein Körbchen am Arm, das sie rasch beiseite stellte, um mir dann, wie gewöhnlich, an die Brust zu fliegen.

‚Da bist du ja!‘ rief sie. ‚Ich hab’ es gewußt! Den ganzen Weg über ist es mir im Geiste vorgegangen, daß ich dich beim Nachhausekommen hier treffen würde!‘

‚Mit deinen Ahnungen!‘ sagte die Mutter. ‚Wenn du wüßtest, was ihn hierher geführt —‘

Sie erblaßte leicht. ‚Was willst du damit sagen, Mamma?‘ fragte sie mit stockender Stimme, indem sie uns beide mit atemloser Spannung ansah.

Und nun erfuhr auch sie, was da kommen sollte.

Bei jedem Worte, das sie vernahm, wurde sie bleicher, ihre Arme sanken langsam an den Hüften hinab; so stand sie eine Weile wie erstarrt. Dann aber strich sie mit der Hand langsam über die Stirn und sagte: ‚Wir hätten darauf gefaßt sein können, daß dies früher oder später geschehen würde. Und da es nicht zu ändern ist, so wollen wir es mit Standhaftigkeit tragen. Wann mußt du schon fort?‘

‚In drei Tagen.‘

‚Das ist freilich bald, sehr bald. Aber gleichviel. Wien ist nicht aus der Welt, und du wirst mich dort wie hier lieben.‘

‚Nun, wer weiß,‘ warf die Mutter mit erzwungener Scherzhaftigkeit ein, ‚ob er uns in Wien nicht vergißt.‘

‚Wie kannst du nur so sprechen, madre‘, brauste sie auf. ‚Als ob du nicht aus deinem eigenen Leben wüßtest, daß selbst die größte Entfernung, die längste Trennung an Gefühlen, wie die unseren, nichts zu ändern vermögen! Im Gegenteil werden sie dadurch nur gefestigt. Nicht wahr?‘ — wandte sie sich an mich und schlang den Arm um meine Schultern — ‚nicht wahr, wir gehören einander an fürs Leben?‘

‚Für ewig!‘ erwiderte ich und küßte sie auf die Stirn. ‚Und sieh’,‘ fuhr ich, plötzlich von einem tröstlichen Gedanken überkommen, fort, ‚vielleicht reißt mich das Schicksal in bester Absicht von deiner Seite. Ich treffe in Wien mit meinem Oheim zusammen, der ein vielvermögender Mann ist. Er liebt mich wie einen Sohn und wird sich gewiß bestimmen lassen, irgend etwas für unsere Zukunft zu tun. Wir sind ja beide noch jung und können warten.‘

‚Ja,‘ erwiderte sie, ‚wir können und wollen warten.‘

Aber schon hatte mich die Empfindung überkommen, eine grundlose Hoffnung ausgesprochen zu haben. Gerade von meinem Oheim hatte ich, fürs erste wenigstens, gar nichts zu erwarten; vielmehr hatte ich die Überzeugung, daß er sich sofort feindselig gegen ein Verhältnis stellen würde, das ihm bei seinen ehrgeizigen Plänen hinsichtlich meiner militärischen Laufbahn durchaus nicht wünschenswert erscheinen konnte. Um dieses unangenehme Bewußtsein zu übertäuben, sagte ich rasch: ‚Und wie es auch sein möge, jedenfalls komme ich nach den Waffenübungen um einen Urlaub ein, den man mir nicht verweigern kann. Ich kehre also ganz gewiß im Spätherbst zurück und werde in der Festung bei einem Freunde oder hier in einem Gasthofe wohnen. Dann können wir uns einige Wochen für die Trennung schadlos halten.‘

‚Und uns um so inniger des Wiedersehens freuen‘, setzte sie hinzu, mir tief in die Augen blickend. ‚Aber heute bleibst du doch?‘

‚Du weißt, ich kann nicht; höchstens bis drei Uhr. Es wird uns überhaupt nur ein Abend mehr vergönnt sein — der morgige. Ich werde so früh wie möglich kommen — zum Abschied.‘

‚Zum Abschied‘, wiederholte sie still. ‚Aber heute kannst du wenigstens mit uns zu Mittag essen. Ich werde gleich das Nötige veranlassen.‘ Und sie erhob sich, um nach der Küche zu sehen, wo sich bereits die Hauswirtin am Herde zu schaffen machte.

‚Merkwürdiges Mädchen!‘ sagte die Mutter, als wir jetzt allein waren, mit feuchten Augen. ‚Diese Seelenstärke! Man würde es nicht für möglich halten. Ich selbst war bei gleichem Anlaß in Tränen aufgelöst und vermochte mich tagelang nicht zu fassen. Und sie! Sie ist wirklich ganz ihr Vater.‘

Später deckte Ginevra, bleich zwar, aber ruhig wie sonst, den Tisch, und wir setzten uns zum Mahle, von welchem unter einsilbigem Gespräch nur wenig berührt wurde. Auch später blieb es ganz still in der vertrauten Stube. Ich saß mit Ginevra Hand in Hand auf einem kleinen Sofa, der Mutter gegenüber, die eine Strickarbeit vorgenommen hatte und uns dabei von Zeit zu Zeit wehmütig betrachtete. Endlich war es drei Uhr und ich erhob mich.

‚Also morgen‘, sagte Ginevra, indem sie mir die Hand drückte.

‚Morgen — zum letztenmal!‘

Nicht zum letztenmal!‘ sprach sie kraftvoll.

Als ich aber jetzt der Mutter die Hand reichte und mich der Tür zuwandte, da brach in ihr der zurückgedämmte Schmerz mit elementarer Gewalt hervor. Laut aufweinend stürzte sie auf mich zu und umschloß mich mit den Armen.

So standen wir lange, während sie mich krampfhaft festhielt und mit ihren heißen Tränen benetzte; dann riß ich mich los.“

V.

Der Oberst hielt inne und blickte eine Zeitlang schweigend vor sich hin. „Ich möchte am liebsten meine Geschichte hier abbrechen,“ sagte er dann; „denn die Rolle, die ich nunmehr zu spielen beginne, ist nichts weniger als glänzend. Aber ich will mir die Buße auferlegen und im Kontext fortfahren.

Der Abschied war ein tief ergreifender gewesen. Ich hatte Ginevra beim Scheiden ein Ringlein mit blauem Stein gegeben, welch letzterer im Geschmack jener Zeit ein kleines Herz vorstellte. Sie selbst löste das goldene Kreuz, das sie beständig trug, vom Halse los und reichte es mir. ‚Nimm!‘ sagte sie. ‚Es ist ein Andenken meines Vaters; das einzige Schmuckstück, das ich von ihm habe. Schon seine Mutter hat es getragen. Trag’ es jetzt du als Erinnerung an mich, bis wir wieder vereint sind.‘

Ich kam mir damit wie gefeit vor und fühlte, wie siegreich das Bild Ginevras, deren im Trennungsschmerz zitternde Gestalt, deren bleiches, verweintes Antlitz ich während der Reise beständig vor Augen hatte, allen neuen Eindrücken standhalten würde. Es waren anfänglich nicht allzu viele. Denn fürs erste galt es, im Regiment, wo man den eben nicht erwünschten Einschub mit mißtrauischer Zurückhaltung empfangen hatte, festen Fuß zu fassen, was mir eine doppelt eifrige Diensteserfüllung zur Pflicht machte. Auch hatte ich in Wien keine Anverwandten außer meinem Onkel, und der war ein eingefleischter alter Hagestolz, welcher, trotz seiner hochgestellten Verbindungen, der sogenannten Gesellschaft mit barscher Rücksichtslosigkeit aus dem Wege ging. Seine Erholung war, allabendlich ein vielgerühmtes Gasthaus in der innern Stadt aufzusuchen, wo er sich im Kreise einiger Alters- und Gesinnungsgenossen nach des Tages Mühen und Sorgen behaglich auslebte. Da hatte er nun seine Freude daran, mich dort einzuführen und, so oft es anging, auf das köstlichste zu bewirten, wobei der Champagner nicht gespart wurde. So war meine freie Zeit fast ausschließlich von ihm in Anspruch genommen, höchstens, daß ich hin und wieder einmal das Theater besuchte. Dabei war und blieb aber meine größte Freude der Briefwechsel mit Ginevra. Wir schrieben einander regelmäßig alle acht Tage, was unter den damaligen Verhältnissen dem heutigen täglichen Schreiben gleichkam, und es läßt sich nicht sagen, mit welcher Aufregung ich jeden Brief Ginevras erbrach, mit welchem Entzücken ich ihn las — und wieder las .....

So waren mehr als drei Monate verstrichen, als der Adjutant des Bataillons, bei welchem ich stand, schwer erkrankte und ich beauftragt wurde, einstweilen seine Dienstgeschäfte zu übernehmen. Der kommandierende Major, ein Baron Dumont, stammte aus einer französischen Emigrantenfamilie und galt als höchst unfähiger Mann, dem allerdings eine gewisse Gutmütigkeit nachgerühmt wurde. Da er des deutschen Idioms niemals ganz mächtig geworden, hing er gar sehr von seinem Adjutanten ab, den er übrigens auch zu einer Art persönlichen Hofdienstes heranzuziehen liebte. Als schlechter Reiter sah er es gerne, wenn man seine schönen Pferde tummelte; bei Spaziergängen ließ er sich begleiten, und abends war man ein für allemal zum Tee gebeten, wogegen man sich freilich herbeilassen mußte, stundenlang mit ihm Pikett oder Ecarté zu spielen, das einzige Vergnügen, das er kannte. Er war mit einer polnischen Gräfin verheiratet, die zur Zeit meines Eintreffens beim Regiment auf einem Gute in der Nähe Lembergs sich befand, nunmehr aber eines Tages ganz plötzlich in Wien erschien. Beim ersten Anblick dieser Frau hatte ich eine eigentümliche Empfindung; ich wußte nicht, war es Schreck oder Wohlgefallen — vielleicht beides zusammen. Die Gräfin mochte ungefähr achtundzwanzig Jahre alt sein, und ihr Gesicht war bereits leicht verwittert; bei näherer Betrachtung jedoch zeigte sich ein reizendes Profil, und die blassen Lippen enthüllten im Lächeln zwei Reihen der köstlichsten Zähne. Von nicht allzu hohem Wuchse, zeichnete sie sich durch etwas langsame, aber ungemein graziöse Bewegungen aus; Hände und Füße waren die schönsten, die ich je gesehen. Ihr reiches Haar war von einem matten, glanzlosen Braun, und auch die grauen, von den Lidern halb verdeckten Augen hatten etwas Erloschenes, das plötzlich in ein überraschendes Aufleuchten übergehen konnte. Dazu die weiche, fremdländische Aussprache, die vornehme Ungezwungenheit einer vollendeten Weltdame — und man mußte sich sagen, daß man sich hier einer höchst verführerischen Erscheinung gegenüber befinde. Ihr Gatte schien sich durch ihre Anwesenheit etwas beengt zu fühlen, und es war ihm sichtlich recht, daß sie mich mit großer Liebenswürdigkeit aufforderte, meine Abendbesuche nach wie vor fortzusetzen. So spielten wir denn jetzt zu dreien Whist mit dem Strohmanne, und nach dem Tee plauderten wir, wobei die Hausfrau es liebte, sich in träger Behaglichkeit auf einer Chaiselongue auszustrecken und Zigaretten zu rauchen, was damals noch etwas ganz Unerhörtes war. Dieses Gehaben behielt sie auch bei, wenn zuweilen noch andere Herren geladen waren; sie liebte es dann, in solch ungezwungener Weise Cercle zu halten. Damen wurden niemals beigezogen; die Gräfin erklärte, sie sei noch nicht in der Verfassung, eigentliche gesellschaftliche Beziehungen aufzunehmen. Gegen mich erwies sie eine Art mütterlicher Vertraulichkeit, die sich oft zu allerlei unbefangenen kleinen Zärtlichkeiten steigerte. Sie strich mir, auch in Gegenwart ihres Gatten, das Haar zurecht, berührte, nach polnischer Sitte, schmeichelnd meine Schulter oder ließ im Gespräch ihre Hand wie unbewußt lange auf meiner ruhen, wobei mich stets heißer Schauer durchrieselte.

Es wäre nun an der Zeit gewesen, öfter das goldene Kreuzchen zu befühlen, das ich an mir trug. Nicht etwa, daß das Bild Ginevras durch den intimen Verkehr mit der schönen Frau getrübt oder gar verwischt worden wäre; nein, es leuchtete mir noch immer in voller Klarheit entgegen, aber aus viel weiterer Entfernung als früher, wo es mich sozusagen auf Schritt und Tritt begleitet hatte.

Eines Abends, als wir wieder beim Whist saßen und ich mir einige Fehler im Spiel hatte zu schulden kommen lassen, sagte die Gräfin: ‚Aber was treiben Sie denn, mon enfant? Sie leiden ja an einer unverantwortlichen Zerstreutheit. Sind Sie vielleicht gar verliebt?‘

‚Du stellst Gewissensfragen, Lodoiska‘, bemerkte ihr Gatte mit seinem stereotypen Lächeln.

‚Und wenn dem so wäre, Gräfin?‘ entgegnete ich halb im Ernst, halb im Scherz.

‚So würd’ ich es begreiflich finden‘, antwortete sie. ‚Denn die Liebe ist das Recht der Jugend. Und wo weilt der Gegenstand Ihrer Gefühle? Hier in Wien?‘

‚Keineswegs. Weit — sehr weit von hier entfernt.‘

Sie erwiderte nichts und steckte hastig ihre Karten ineinander. ‚Ist es ein junges Mädchen?‘ fragte sie nach einer Weile.

‚Das versteht sich wohl von selbst‘, sagte der Major.

‚Schön?‘ fuhr sie kurz fort.

‚Ungemein‘, warf ich hin, den angeschlagenen Ton festhaltend.

‚Brünett?‘

‚Blond.‘

Sie schwieg und wendete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Spiele zu. Als der Robber beendet war, stand sie auf und sagte, sie leide heute an Migräne und wolle sich deshalb zeitig zur Ruhe begeben. So brach auch ich früher als sonst auf, vom Major wie immer mit einem wohlwollenden Händedruck verabschiedet.

Von jenem Abend an beobachtete sie gegen mich eine gewisse Zurückhaltung. Sie nahm seltener am Spiele teil und zog sich währenddessen in den anstoßenden Salon zurück, wo sie auf dem Klavier phantasierte oder Stücke von Chopin spielte. Dann kam sie wieder herein und nahm ihre gewohnte Lage auf der Chaiselongue ein. Wenn ich nach ihr hinsah, konnte ich bemerken, daß ihr Blick mit einem ganz seltsamen Ausdruck auf mich gerichtet war.

Dies alles verfehlte nicht, mich in eine gewisse Unruhe zu versetzen, die auf den Briefwechsel mit der entfernten Geliebten nicht ohne Einfluß blieb. Es war mir, als hätte ich etwas zu verschweigen, geheim zu halten, und infolgedessen gerieten meine Briefe weniger rund und fließend als früher; sie wurden gezwungener, fragmentarischer. Ginevra aber schien nichts davon zu bemerken. Ihre Zeilen atmeten die gewohnte gleichmäßig ernste Leidenschaftlichkeit, die sich in Worten jeder Überschwenglichkeit enthielt, jedoch die reinsten und vollsten Herzenstöne anschlug. Und immer kam die stets wachsende Freude darüber zum Ausdruck, daß nun die Zeit näher und näher rücke, um welche ich auf Urlaub in Leitmeritz erscheinen würde.

Das aber war es, was meine Unruhe nur noch steigerte. Denn je reiflicher ich diese Angelegenheit erwog, desto deutlicher wurde mir, zu welch unüberlegtem Versprechen ich mich damals hatte hinreißen lassen. Wie konnte ich, nachdem ich mich kaum sechs Monate beim Regiment befand, schon um einen Urlaub nachsuchen — und das gerade jetzt, wo ich mich in einer besonderen dienstlichen Verwendung befand, deren Ende sich gar nicht absehen ließ; denn der Adjutant, obwohl schon auf dem Wege der Genesung, bedurfte noch einer längeren Erholung. Und ganz abgesehen von diesen so gewichtigen Bedenken: ich mußte mein Gesuch doch irgendwie begründen. Womit? Mit Familienangelegenheiten? Man wußte ja, daß mein Oheim in Wien lebte, und wie würde sich dieser, den ich jetzt ohnehin selten genug sah, zu meiner Absicht verhalten? Gewiß verweigernd, um so verweigernder, wenn ich ihn, wozu ich einen Augenblick schon entschlossen gewesen, in den ganzen Sachverhalt einweihte. Ich war also in der Tat ganz ratlos und wußte nicht, was ich beginnen sollte.

In dieser peinlichen Gemütslage begab ich mich an einem nebligen Oktoberabende, nachdem ich einen einsamen und gedankenvollen Rundgang um das Glacis gemacht, in die Wohnung des Majors, der ich nun schon drei Tage ferngeblieben war. Im Spielzimmer brannte bereits die Astrallampe; im Halbdunkel des Salons aber saß Gräfin Lodoiska am Flügel, dessen Töne mir schon beim Eintritt entgegengeklungen hatten.

Als sie jetzt mein Erscheinen gewahr wurde, rief sie mir, ohne sich zu unterbrechen, zu: ‚Kommen Sie nur da herein. Es ist mir draußen zu hell; die Lampe tut meinen Augen weh.‘ Dann erhob sie sich und trat mir, von dem Schein eines leichten Feuers, das im Ofen flackerte, phantastisch beleuchtet, entgegen. Sie trug ein einfaches, knapp anliegendes Tuchkleid, von dessen dunklem Blau sich ein weit ausgelegter weißer Halskragen und hohe Manschetten glänzend abhoben. Ihr volles Haar, auf welches sie scheinbar wenig Sorgfalt verwendete, umrahmte in losen Scheiteln ihr schimmerndes Antlitz.

‚Sie müssen heute mit mir allein vorlieb nehmen‘, begann sie in melancholischem Tone. ‚Dumont hat notgedrungen eine Einladung angenommen. Ich selbst ließ mich entschuldigen; denn ich bin so gar nicht gestimmt, in die Welt zu gehen.‘

Sie hatte sich bei diesen Worten auf einen Pouf niedergelassen, der in der Mitte des Salons stand, und lud mich mit einer Handbewegung ein, neben ihr Platz zu nehmen.

‚Ich bin seit einiger Zeit auch nicht in der besten Stimmung‘, sagte ich, mich setzend.

‚Ich habe es wohl bemerkt‘, erwiderte sie leise und nachdenklich. ‚Vertrauen Sie mir doch an, was Sie drückt.‘

Es wurde mir nicht leicht, darauf zu antworten. ‚Nun,‘ sagte ich endlich, ‚vielleicht entsinnen Sie sich noch meiner Erklärungen — oder eigentlich Andeutungen über eine Herzensangelegenheit — —‘

‚Jawohl; ich erinnere mich.‘

‚Ich hatte in dieser Hinsicht,‘ fuhr ich zögernd fort, ‚um einen Urlaub einkommen wollen, sehe aber, daß sich unübersteigliche Hindernisse in den Weg stellen —‘

‚Dann denken Sie nicht weiter daran,‘ warf sie leicht hin.

‚Ja, wenn das nur so ginge. Ich habe eine bestimmte Zusage gemacht — man erwartet mich — —‘

‚Nicht jede Erwartung kann erfüllt werden. Aber beichten Sie mir, mon enfant,‘ fuhr sie im alten vertraulichen Tone fort, indem sie meine Hand faßte, ‚wer ist denn eigentlich die junge Dame? Ist sie von guter Familie? Haben Sie ernste Absichten?‘

Es wurde mir wieder schwer, zu antworten. ‚Allerdings hege ich solche — obgleich —‘

‚Sich auch in dieser Hinsicht Schwierigkeiten entgegenstellen?‘ fügte sie rasch bei. ‚Ich verstehe. Es ist ein armes Mädchen, das Sie nicht sofort zur Ihrer Frau machen können. Aber sagen Sie: haben Sie ein bindendes Versprechen gegeben? Oder wäre‘, fuhr sie, mir höchst ausdrucksvoll in die Augen sehend, fort, ‚wäre das Verhältnis etwa schon so weit gediehen, daß Sie durchaus nicht mehr zurücktreten könnten?‘

Ich verstand, was sie meinte. ‚O nein!‘ rief ich; ‚das ist keineswegs der Fall.‘

‚Dann ist es ja ein wahres Glück, daß Sie hier zurückgehalten werden, lieber Freund! Bedenken Sie, wie gefährlich für Sie — und auch für Ihre Geliebte ein solches Wiedersehen wäre. Es könnte Ihnen dann wirklich die Verpflichtung erwachsen, das Mädchen zu heiraten. Und wie wollten Sie das anfangen? Sie wären vielleicht gezwungen, Ihre ganze Karriere aufzugeben, wie schon mancher vor Ihnen — zu ewiger Reue. Und das alles schon in Ihren Jahren! Nein, nein; schlagen Sie sich die Sache aus dem Sinn!‘

Ich vernahm schon eigentlich nicht mehr recht deutlich, was sie sprach. Denn sie war mir ganz nahe gerückt; ihr warmer Odem, ihr duftiges Haar streiften meine Wange. Ich fühlte, wie es sich wie ein schwerer, betäubender Schleier über mich legte. Ich erwiderte nichts und seufzte nur tief auf.

‚Armes Kind,‘ sagte sie, indem sie mir das Haar aus der Stirn strich, ‚armes Kind, lieben Sie sie denn wirklich so sehr?‘

Sie mochte in dem Blick, mit dem ich sie jetzt ansah, ein ganz anderes Geständnis lesen, und ein Ausdruck grausamen Triumphes überflog ihre Züge.

‚Sie werden alles vergessen, wenn Sie bei uns bleiben. Und Sie bleiben bei uns — nicht wahr?‘

Sie hielt mir die Hand hin, die ich ergriff und mit leidenschaftlichen Küssen bedeckte.

Sie ließ es lächelnd geschehen; dann drückte sie ihr Haupt fest an meine Schulter, und flüsterte: ‚Endlich!‘

Ich sank ihr zu Füßen.

VI.

Mehr als ein Jahr war seitdem verstrichen, ich selbst aber ganz in dem Taumel einer Leidenschaft untergegangen, die bereits anfing, mich mit all den Qualen zu erfüllen, welche ähnliche Beziehungen mit sich bringen. Ich hatte damals Ginevra ganz kurz mitgeteilt, daß es mir unmöglich sei, einen Urlaub anzutreten; die Gründe würde ich in meinem nächsten Briefe ausführlich auseinandersetzen. Das verschob ich aber von Tag zu Tag — um es schließlich zu unterlassen. Was hätte ich auch schreiben sollen? Zwei Briefe, die inzwischen von Ginevra eingetroffen waren — den Empfang des zweiten hatte ich auf einem Schein bestätigen müssen — fand ich gar nicht den Mut zu lesen, sondern schob sie unerbrochen in ein Fach meines Schreibtisches und legte das Kreuz dazu, auf daß es mich nicht länger an meine Treulosigkeit mahne. So gebärdete ich mich wie der Vogel Strauß, und da nun auch aus Leitmeritz keine weitere Kundgebung mehr eintraf, so hielt ich mit jenem Leichtsinn der Unreife, der einem in späteren Jahren ganz unfaßlich vorkommt, die Sache für wohl oder übel abgetan, und die Stimme des Gewissens sprach immer seltener und schwächer.

Da, an einem strahlend kalten Januartage, als ich eben im Begriffe war, an einer Schlittenpartie in den Prater teilzunehmen, welche Lodoiska, die dieses Vergnügen sehr liebte, vorgeschlagen hatte, wurde mir — ich trat gerade aus meiner Wohnungstür — ein Brief überbracht. Ein Blick auf die Adresse genügte, um mich erkennen zu lassen, daß er von der Mutter Ginevras war. Erschrocken schob ich ihn rasch in die Brusttasche meines Mantels, entschlossen, mir durch diese unerwartete Mahnung die Freude des Tages nicht verkümmern zu lassen. Als ich spät in der Nacht nach Hause kam und den Brief hervorlangen wollte, fand er sich nicht mehr vor; er mußte, da ich den Mantel inzwischen mehrmals abgelegt, der Tasche entglitten sein. Dieser Verlust berührte mich höchst peinlich. Wer konnte wissen, wem das Schreiben in die Hände gefallen war, und während der nächsten Tage hegte ich die Erwartung, daß es in irgend einer Weise an mich zurückgelangen würde. Aber das geschah nicht, und ich glaubte endlich einen Wink des Schicksals darin zu erkennen. War mir doch so die bittere Wahl erspart geblieben, ob ich den Brief hätte lesen sollen oder nicht; zudem konnte ich mir ja leicht vorstellen, was er enthalten haben mochte. Dennoch wurde durch diesen Zwischenfall mein Gewissen wieder in Aufruhr gebracht, und ich mußte, trotz aller Übertäubungsversuche, in einem fort an die blasse, hinfällige Frau denken, die mir in ihrem mütterlichen Schmerze geschrieben. Mit der Zeit freilich wurden auch diese Nachwirkungen schwächer und gingen endlich ganz vorüber.

So war es, seit ich Theresienstadt verlassen, zum zweiten Male Karneval geworden. Obgleich die Pariser Februarrevolution Europa in Bestürzung versetzt hatte, tanzte man in Wien doch sorglos auf einem Vulkan, dessen Ausbruch in allernächster Zeit bevorstand. Lodoiska, die keine Lust an Bällen zeigte, wollte gleichwohl eine Redoute besuchen, wo damals die Damen weniger durch ihre Toiletten, als vielmehr durch Geist und Witz zu glänzen suchten und sich den Herren gegenüber unter der Larve gerne die Zügel schießen ließen. Lodoiska, in einen rosenroten Domino gehüllt, machte von der Maskenfreiheit den ausgiebigsten Gebrauch und umschwärmte fortwährend einige junge Kavaliere, die sie zu kennen schien. Sie hatte nämlich im verflossenen Sommer ein Landhaus in Hietzing bezogen und war dort wieder mit den Kreisen in Berührung gekommen, denen sie angehörte. Dabei hatten sich für mich bereits mehrfache Anlässe zu beschämender Eifersucht ergeben, die ich um so peinlicher empfand, als ich mich auch sonst mehr und mehr durch ein Verhältnis entwürdigt fand, das der Major, nach Art gewisser Ehemänner, auffallend begünstigte.

Ich war also gegen Morgen höchst mißmutig von der Redoute nach Hause gekommen und hatte dann weit in den Tag hinein geschlafen. Als ich eben mit dem Ankleiden fertig war, erschien mein Diener und meldete, daß eine junge Dame in Trauer mich zu sprechen wünsche.

Wie ein Blitz durchzuckte es mich: Ginevra! Aber schon hatte ich auch diesen Gedanken mit der Annahme beschwichtigt, daß die Betreffende möglicherweise eine pauvre honteuse sein könne, wie solche nicht allzu selten die Offiziere in Anspruch zu nehmen pflegten. Ich sagte also meinem Diener, er möge die Dame nur ins Nebenzimmer treten lassen.

Als ich, dennoch bangen Herzens, die Tür öffnete, stand sie — stand wirklich Ginevra aufrecht in der Mitte des Zimmers, die Arme, wie es ihre Art war, an den Hüften hinabgesenkt, die Hände leicht ineinandergeschlossen. Sie war auffallend größer geworden, und ihre Formen zeigten sich erst jetzt vollständig entwickelt. Eine elfenbeinartige Blässe lag über ihrem Antlitz, und die Augen hatten den mir bekannten dunkel metallischen Glanz der Erregung. Ihr Haar schimmerte noch goldiger als früher unter dem schwarzen Krepphute hervor.

‚Verzeihen Sie,‘ begann sie mit einem leichten Senken des Hauptes, ‚daß ich Sie aufgesucht. Es würde nicht geschehen sein, wenn Sie den Brief meiner Mutter einer Antwort gewürdigt hätten.‘

‚Den Brief Ihrer Mutter —‘ stammelte ich in atemloser Verwirrung. Und mit einem Blick auf ihre schwarze Kleidung fuhr ich fort: ‚Ihre Mutter —‘

‚Ist vor zwei Monaten gestorben,‘ sagte sie ernst.

‚Mein Gott —‘ erwiderte ich tonlos.

‚An einem Rückfall in jene Krankheit, von der Sie ja wissen.‘

Es war, als wollte sie in diese Worte für mich eine Beruhigung legen.

‚Mein Gott —‘ wiederholte ich, während sich jetzt ihre Augen langsam mit Tränen füllten. ‚Aber ich bitte, setzen Sie sich doch —‘

Sie drückte ihr Tuch an die Wimpern und machte eine kurz ablehnende Bewegung. ‚Ich werde Sie nicht lange stören. Ich bin nur gekommen, um eine Bitte auszusprechen, die ich durch meine Mutter an Sie richten ließ. Ich ersuche Sie, mir das Kreuz zurückzustellen, das ich Ihnen gegeben. Sie kennen den Wert, den es für mich hat — und hoffentlich befindet es sich noch in Ihrem Besitz.‘

‚Gewiß, gewiß‘, entgegnete ich und wollte an meinen Schreibtisch treten. Aber unwillkürlich hielt ich inne. ‚Und Sie, Ginevra — was werden Sie jetzt — —‘

‚Ich folge dem Rufe von Verwandten, die in Graz leben; denn in Leitmeritz mag ich nun nicht länger bleiben. Aber ich werde niemandem zur Last fallen, sondern Unterricht im Italienischen erteilen, der in jener Stadt sehr gesucht sein soll.‘

Wie sie jetzt so vor mir stand, ungebrochen von allem, was da geschehen, in mädchenhafter Selbständigkeit, im Vollbewußtsein ihrer Hoheit und Würde, da überkam mich das ganze Gefühl meiner eigenen Erbärmlichkeit und drohte mich zu ersticken. Wie aus einem Sumpfe blickte ich zu ihr empor.

‚Ginevra,‘ rief ich, ‚Sie verachten mich — Sie müssen mich aufs tiefste verachten!‘

‚Ich verachte Sie nicht‘, entgegnete sie ruhig. ‚Was können Sie dafür, daß Sie mich nicht geliebt haben?‘

‚O! Nicht geliebt!‘

‚Nicht so, wie ich in törichter Zuversicht vorausgesetzt — nicht so, wie ich Sie geliebt. Wie sehr ich durch diese allmähliche Erkenntnis gelitten, werden Sie mir ohne weitere Versicherung glauben. Jetzt aber habe ich überwunden und sehe ein, daß es nicht anders kommen konnte. Daher hege ich auch keine Verachtung, keinen Groll gegen Sie; vielmehr bin und bleibe ich Ihnen dankbar für die erste schöne Täuschung meiner Jugend. Sie war trotz allem die glücklichste Zeit meines Lebens — und wird es wohl in meiner Erinnerung immer bleiben. Und so stelle ich Ihnen auch‘ — sie zog bei diesen Worten einen Handschuh halb ab — ‚den Ring, den Sie mir damals gaben, nicht zurück — wie ich es vielleicht sollte. Ich werde ihn tragen bis ans Ende meiner Tage.‘

In mir wogten die unaussprechlichsten Gefühle.

‚Ginevra!‘ rief ich leidenschaftlich und wollte, ihre Hand erfassend, vor ihr niederknieen.

Sie trat rasch einige Schritte zurück. ‚Was soll das?!‘ rief sie mit herber Stimme. ‚Es ziemt sich nicht zwischen uns.‘

‚Verzeihen Sie! Und doch, wenn Sie — wenn Sie vergessen könnten — —‘

Sie zog die Brauen zusammen. ‚Nun, nun, sprechen Sie weiter!‘

‚Es könnte noch alles gut werden‘, hatte ich sagen wollen. Aber ich brachte die Worte nicht mehr hervor. Denn ich empfand, wie hohl und nichtig eine solche Versicherung aus meinem Munde klingen müsse, und die unklare Vorstellung eines versöhnenden Ausgleiches, die sich meiner bemächtigt hatte, ging unter in dem Bewußtsein vollständiger Unkraft. Ich schwieg.

Sie betrachtete mich mit einem Blick des Mitleids. ‚Sehen Sie, Sie wissen selbst nicht, was Sie sagen sollen, und fühlen, daß wir für immer geschieden sind. Und nun bitte ich: das Kreuz.‘

Keiner Erwiderung fähig, ging ich an den Schreibtisch, suchte es hervor, und reichte es ihr. Sie nahm es und wickelte mit zitternder Hand die Papierhülle los. In ihrem Antlitz zuckte es schmerzlich, als jetzt ihr Blick auf das matt schimmernde Gold fiel. Ich sah, wie sie sich gewaltsam beherrschte, um nicht in Tränen auszubrechen. Ein Schüttern ging durch ihren ganzen Körper, sie mußte sich setzen. ‚Mein Gott! Mein Gott!‘ sagte sie still. Dann stützte sie die Stirn mit der Hand und begann leise zu weinen.

Ich wagte nicht zu atmen.

‚Es ist vorüber‘, sagte sie endlich, indem sie aufstand, und sich die Augen trocknete. ‚Leben Sie wohl!‘

Noch einmal war es mir, als sollte ich die Hand, die sie mir jetzt reichte, nicht wieder loslassen, sollte die herrliche Gestalt an mich ziehen, wie einst. Sie schien es zu fühlen, und rasch sich mir entreißend, schritt sie der Tür zu.

‚Ginevra!‘ stieß ich hervor und wollte sie zurückhalten. Aber sie winkte mir heftig abwehrend zu und verschwand. Ich sank auf den Stuhl, den sie eingenommen hatte, und blieb regungslos sitzen .....

Bald darauf folgten jene Märztage, deren stürmische Ereignisse auch mich über mich selbst hinausrissen. Freilich in einem anderen Sinne als diejenigen, die damals das Banner der Freiheit entfalteten. Wir waren eben Soldaten und erfüllten unsere Pflicht. Ich selbst stand noch bei den Truppen, die Wien belagerten. Dann kam der ungarische Feldzug mit seinen wechselvollen Geschicken und blutigen Schlachtfeldern — und als spätere Jahre über so Vieles den Schleier der Vergessenheit breiteten, war auch über meine jugendlichen Herzenskämpfe das Gras gewachsen.“

*                    *
*

„Und haben Sie nichts mehr von Ginevra gehört?“ fragte man nach einer Weile.

„Allerdings; ich war in der Lage, Erkundigungen einzuziehen. Sie lernte in Graz einen jungen Triestiner kennen, der sich im Laufe der Zeit eine sehr glänzende Stellung in Ägypten gemacht. Sie hat ihn geheiratet. Auch gesehen glaube ich sie zu haben — und zwar während der Wiener Weltausstellung in einem offenen Wagen vorüberfahren mit ihrem Mann und einer bereits erwachsenen Tochter. Es ist jedoch möglich, daß ich mich getäuscht.“

„Sie wird es wohl gewesen sein,“ sagte die Hausfrau nachdenklich. „Und so haben Sie wenigstens das Bewußtsein, daß sie glücklich geworden.“

„Daran habe ich nie gezweifelt. Denn sie war eine starke Natur; unglücklich sind allein die Schwachen.“

„Und die Polin?“ fragte eine andere Dame.

„Das wäre eine Geschichte für sich“, antwortete der Oberst, indem er aufstand und den Rest seiner Zigarre in den Aschenbecher warf. „Vielleicht erzähle ich sie Ihnen nächstens. Jetzt aber muß ich nach der Stadt zurück; ich werde erwartet.“ Er verabschiedete sich und ging.

Die anderen blickten ihm nach, bis seine hohe Gestalt im Abenddunkel zwischen den Bäumen verschwunden war. Dann wandte sich der Hausherr zu der Dame, welche nach der Polin gefragt hatte. „Sie sollen wissen, liebe Freundin, daß er zu jener Frau noch immer in Beziehungen steht. Sie ist zwar zehn Jahre älter als er — also bereits eine Greisin —, aber er konnte nicht mehr loskommen. Schade um ihn! Er hat sich seit jeher mit Weibern geschleppt, und da wird man, wie Goethe sagt, zuletzt abgewunden gleich Wocken.“

Geschichte eines Wienerkindes.

Vorwort des Herausgebers.

Die Novelle ist in den Jahren 1890/91 in Blansko und in Raitz entstanden, die Handschrift in Raitz am 15. März 1891 abgeschlossen. Sie ist eine Reinschrift mit so starken Korrekturen, daß der Text wiederholt fast unleserlich geworden ist und daher von dem Verleger nochmals abgeschrieben wurde. Sogar das „Wienerkind“ auf dem Titelblatt steht über einem unleserlich gemachten Wort und noch während des Druckes hat der Dichter nicht bloß zahlreiche kleinere Änderungen angebracht, sondern dem Manuskript eine Anweisung für drei größere Varianten nachfolgen lassen, die auch Berücksichtigung gefunden hat. Nachdem die Redaktion der Zeitschrift „Vom Fels zum Meer“ die Novelle im Mai 1891 unter sehr anerkennenden Worten als unpassend für ein Familienblatt zurückgeschickt hatte, scheint der erste Druck sogleich in Buchform, in der vierten Novellensammlung „Frauenbilder“ im Herbst des Jahres 1891 (1892, Seite 83-211) zustande gekommen zu sein. Hier hat die Novelle 10 Abschnitte; denn nach dem Diner in Hietzing wird der erzählende Dichter von der Frau von Ramberg (die in der Handschrift Frau von Nathan hieß) eingeladen, zu bleiben, und es folgt ein langes Gespräch mit der Heldin, in dem sie ihm mitteilt, daß sie mit Röber nicht verheiratet sei, und daß er sie nach vielfacher Untreue mit einer Summe Geldes loswerden wolle, daß sie ihn aber dennoch grenzenlos liebe und die Gewissensbisse, die sie im Gedanken an ihren Mann und an ihre Kinder empfinde, als Sühne für ihre blinde und unterwürfige Liebe hinnehme. Der Dichter, der unserer Novelle in einem Briefe an Necker auch den Vorwurf macht, daß ihm der epische Faden halb ausgegangen sei, war mit dieser Fassung nicht für immer zufrieden und schon am 3. April 1896 erbat er sich von dem Verleger ein Exemplar zu Verbesserungen für eine etwaige zweite Auflage, die dann der zweibändigen Ausgabe der „Novellen aus Österreich“ 1897 (zweiter Band, Seite 233-307) zugute kamen. Hier ist das letzte Gespräch des Dichters mit dem Wienerkind gestrichen, die Novelle hat daher nur mehr 9 Abschnitte, auch im einzelnen hat der Dichter überall nachgeholfen und aus dem Grafen X. einen Fürsten B... (Seite 270 unserer Ausgabe) gemacht. Schon am 31. Januar 1898 erbat er sich die Aushängebogen des letzten Druckes von neuem, und die zweite Ausgabe der Novellen 1904 (a. a. O.) brachte außer der Auflösung der durchsichtigen Chiffren D... in Döbling, N... in Nußdorf und Hotel V... in Hotel Viktoria einige neue stilistische Änderungen. Diese Ausgabe letzter Hand liegt auch dem Abdruck in Österreichs Illustrierter Zeitung (XV. Jahrgang, Heft 14 ff., 31. Dezember 1905, Seite 333 ff.) zugrunde, der sich aber willkürliche Kürzungen erlaubt.

I.

Im Frühling des Jahres 1870 fand in dem Wiener Vororte, wo ich damals meinen Wohnsitz genommen hatte, eine festliche Hochzeit statt. Fast der gesamten Einwohnerschaft waren zierlich gedruckte Anzeigen zugegangen, und wer nur irgend abkommen konnte, der fand sich auch am festgesetzten Tage zum feierlichen Trauungsakte in der geräumigen Pfarrkirche ein. Ich konnte gleichfalls nicht umhin, zu erscheinen, denn ich war mit dem Bräutigam persönlich bekannt, wenn auch nicht näher, als dies öftere Begegnungen an öffentlichen Orten mit sich zu bringen pflegen. Er war ein junger Mann in den ersten Dreißigern und so recht das Bild eines Wiener Bürgersohnes von älterem Schlage. Nicht allzu groß, dabei leicht zu körperlicher Überfülle neigend, hatte er ein hübsches, frisch gefärbtes Gesicht und äußerst gutmütige blaue Augen, die in beständiger Heiterkeit strahlten. Er kleidete sich nach neuestem Schnitte und hatte eine Vorliebe für bunte Halsbinden, nahm sich aber keineswegs geziert oder geckenhaft aus; vielmehr trat in seinem ganzen Wesen eine gefällige, etwas sorglose Natürlichkeit zu Tage. Sein Vater, ein wohlhabender Mann, hatte es aus kleinen Anfängen heraus zum Stadtzimmermeister gebracht und am Eingange des Ortes ein ansehnliches Familienhaus erbaut, an das sich ein großer Arbeitsplatz und weitläufige Holzlager schlossen, zu welchen Liegenschaften sich im Laufe der Zeit noch ausgedehnte Ziegeleien in der nächsten Umgebung gesellten. Als der alte Stadler starb, teilten sich zwei Söhne in den wohlgegründeten Besitz, so zwar, daß der ältere, welcher bereits verheiratet war, die Zimmermeisterei weiter betrieb, der Jüngere aber das Holzgeschäft und die Verwaltung der Ziegeleien übernahm, nebenher ein behagliches, jedoch keineswegs lockeres Junggesellenleben fortführend. Jetzt aber war er, wie sich zeigte, dessen überdrüssig geworden; im Stammhause war Raum genug für eine zweite Familie — und so hatte er eben nur die Braut zu wählen gehabt.

Die Kirche, durch deren gotische Bogenfenster das Licht eines sonnigen Maitages fiel, war überfüllt; wie natürlich, zeigte sich das weibliche Geschlecht vorwiegend vertreten und harrte mit Spannung auf das Erscheinen der Brautleute. Und als dieses jetzt endlich erfolgte und das junge Paar mit einem zahlreichen Anhange in die Kirche trat, da ging ein vernehmbares Murmeln der Bewunderung durch den stillen Raum, und aller Augen folgten der Braut, die in der Tat einen entzückenden Anblick darbot. Hohen Wuchses den Bräutigam etwas überragend, schritt sie an seinem Arm, bleich vor innerer Erregung, mit gesenktem Haupte dem Altare zu. Der wallende Schleier, der Myrtenschmuck im dunkelblonden Haar, das matte Weiß des Hochzeitskleides gaben der kräftig schlanken Gestalt etwas sanft Verklärtes, und als sie jetzt aufblickte, schimmerten ihre Augen hell wie Gold. Man war erstaunt und atmete kaum; so viele, so makellose Reize hatte man nicht zu sehen erwartet. Auch ich war überrascht — doppelt überrascht. Denn ich hatte das schöne Geschöpf, das jetzt in reifer Mädchenhaftigkeit vor den Altar trat, in fast noch knospender Entwicklung gekannt, und während nunmehr der Priester seine Anrede hielt, das Brautpaar mit klangvollen Stimmen die Jaworte sprach und die Ringe gewechselt wurden, erinnerte ich mich an folgendes.

Es war zu Anfang der Sechziger Jahre. Ich hatte den Soldatenrock noch nicht lange ausgezogen und mich mit meinen literarischen Hoffnungen und Entwürfen in einer stillen Vorstadtwohnung eingesponnen, die ich in der Regel während der ersten Nachmittagsstunden verließ, um in einer nahe gelegenen Gastwirtschaft mein Mahl einzunehmen. Auf dem Wege dahin mußte ich an einem stattlichen Hause vorüber, an einer jener Neubauten, wie sie damals allerorten emporwuchsen und hier der Hauptstraße der Vorstadt ein immer vornehmeres Aussehen verliehen. Es gehörte, wie ich später erfuhr, der Witwe eines Baumeisters, der die Herstellung auf eigene Rechnung in Angriff genommen hatte, inzwischen aber mit dem Tode abgegangen war. An einem Fenster des ersten Stockwerkes, in welchem die Eigentümerin wohnte, gewahrte ich nun öfter das reizende Profil eines Mädchens, das hinter einer Reihe wohlgepflegter Blumentöpfe saß. Die noch sehr jugendliche Schöne wendete natürlicherweise den Kopf bisweilen nach der Straße, und so kam es, daß sich eines Tages unsere Blicke begegneten, wobei mir ihre hellen Goldaugen besonders auffielen. Seitdem stellte sich zwischen uns eine Art stillen Einverständnisses her, so zwar, daß sie mich jetzt immer zu erwarten schien und sich, wenn sie mich kommen sah, hinter den Blumen erhob, mir auf diese Art auch den Anblick ihrer zarten Büste zuteil werden lassend. Obgleich ich nun keinerlei Absichten hegte, so spann ich doch den Faden des kleinen Romans in anmutigen Träumen fort, indem ich es gewissermaßen dem Schicksale überließ, ob es mich vielleicht ohne mein Zutun dem holden Geschöpfe näher bringen wolle. Es durchzuckte mich daher ein freudiger Schreck, als ich sie eines Tages, da ich gerade auf dem Heimwege begriffen war, sehr zierlich gekleidet aus dem Haustor treten und in die nächste, nur ein paar Schritte entfernte Seitengasse einbiegen sah. Im ersten Augenblick war ich wie eingewurzelt stehen geblieben; dann aber folgte ich ihr. Sie trug ein helles, blau gestreiftes Sommerkleid und ein braunes Strohhütchen, das mit künstlichen Feldblumen geschmückt war. Zum ersten Male hatte ich ihre hohe, schlanke Gestalt ganz vor Augen und konnte die harmonischen Gliederbewegungen, die kräftig ausschreitenden Füßchen und die dichte Fülle des Haares bewundern, das ihr, nach der Mode jener Zeit, halbgelöst, in einem feinen Seidennetze weit über den Nacken hinabhing. Sie mußte mich vorhin gleichfalls wahrgenommen haben, denn sie wendete öfter den Kopf zur Seite, wie um zu spähen, ob ich ihr gefolgt und in der Nähe sei.

Jetzt hatte sie die Gasse durchschritten, welche in eine breite, von Menschen und Fuhrwerken sehr belebte Straße mündete. Dort blieb sie einen Augenblick unschlüssig stehen, setzte dann behutsam auf den Fußspitzen über den Fahrweg, der erst vor kurzem bespritzt worden war, und ging jenseits, sich nach rechts wendend, noch ein Stück fort, um in eine jener stillen, nach dem Südbahnhof führenden Gassen einzubiegen, welche damals noch zum größten Teil von wipfelüberragten Gartenmauern gebildet wurden. Tat sie das, um mir Gelegenheit zu ungescheuter Annäherung zu bieten? Kaum konnte ich daran zweifeln, denn sie hatte ja jetzt mit einer raschen Wendung nach mir zurückgeblickt. Dennoch und obgleich ich nun ebenfalls die Gasse betrat, konnte ich einer gewissen mutlosen Befangenheit nicht Herr werden und hielt mich noch immer in einiger Entfernung. Endlich, da ich sah, daß sie langsamer zu gehen anfing, faßte ich ein Herz und war bald an ihrer Seite, indem ich mich, den Hut lüftend, in einem Gewirr von Worten verfing, wie man sie bei ähnlichen Anlässen zur Entschuldigung zu stammeln pflegt.

Sie blickte mich leicht von der Seite an und brach dann in ein klingendes Lachen aus.

„Entschuldigen Sie sich doch nicht gar so sehr“, sagte sie. „Wir sind ja alte Bekannte, denn Sie gehen täglich an unserem Hause vorüber. Aber wer sind Sie eigentlich?“ fuhr sie nach einer Pause fort, indem sie mich jetzt mit ihren hellen Augen eindringlich musterte.

Ich gestehe, daß mich nunmehr eine eigentümliche Verlegenheit überkam. Der Berufstitel „Schriftsteller“ diente zu jener Zeit noch nicht zu besonderer Empfehlung; man war weit eher geneigt, einige Mißachtung daran zu knüpfen. Überdies hatte ich noch keine öffentlichen Proben meiner Tätigkeit abgelegt, war daher gewissermaßen weder Fleisch noch Fisch. Dennoch mußte ich mich entschließen, mit einiger Beklemmung zu sagen: „Ich bin Schriftsteller“.

„So“, erwiderte sie gedehnt. „Und was schreiben Sie denn?“

Neue Verwirrung meinerseits. „Nun — Dramen — Novellen —“

Ich konnte bemerken, wie sich ihr Näschen, dessen feine Nüstern leicht geschwellt waren, ein wenig rümpfte.

„Also ein Dichter!“ sagte sie spöttisch. „Aber das tut nichts; Sie sehen gar nicht danach aus. Für heute übrigens“, setzte sie kurzweg hinzu, „müssen wir uns trennen. Bleiben Sie hier zurück; mein Weg führt mich nach einer ganz anderen Richtung, und begleiten dürfen Sie mich nicht. Wenn Sie aber wieder mit mir zusammentreffen wollen, so kommen Sie einmal zu Schwott. Sie wissen doch —?“

„O ja, ich weiß —“

„Nun also. Jeden Samstag, manchmal auch an Donnerstagen bin ich abends dort. Es ist sehr lustig. Und nun leben Sie wohl!“ Sie streckte mir die Hand entgegen, drückte die meine kurz und kräftig und eilte mit raschen Schritten den Weg zurück, auf dem sie gekommen war.

Ich jedoch blieb mit sehr niederdrückenden Empfindungen in der verödeten Gasse stehen. Schon das anfängliche Lachen und die ersten Worte des jungen Mädchens hatten mich befremdet; die ungezwungene, gleichsam überlegen leichtfertige Art und Weise, in der sie sich gab, hatte mich mehr und mehr enttäuscht und ernüchtert; — bei ihrer Aufforderung aber, zu „Schwott“ zu kommen, war ich vollends aus allen Himmeln gefallen.

Zu Schwott! Es war dies eine nach ihrem Besitzer benannte Tanzschule, die sich in einem alten, heute nicht mehr bestehenden Häuserkomplex der inneren Stadt befand. Sie wurde weit weniger des Unterrichtes wegen besucht, den man dort erteilte: ihre Hauptanziehungskraft waren die sogenannten „Gesamtübungen“, welche an drei Abenden der Woche stattfanden. Nicht bloß ein Teil der jeunesse dorée in all ihren Spielarten erschien dabei; es kamen auch ältere, ja selbst alte Lebemänner, die hier im Trüben zu fischen gedachten. Denn es war bekannt, daß man in den schwülen und überfüllten Räumen der Tanzschule neben interessanten, vielumworbenen Erscheinungen aus der feineren weiblichen Halbwelt auch den frischen Reizen von Beamten- und Bürgerstöchtern begegnete, die sich, wie man annehmen konnte, ohne Vorwissen ihrer Angehörigen hierher begaben, jugendlicher Vergnügungssucht — oder auch schlimmeren Antrieben folgend. Ich selbst war in früherer Zeit einmal dort gewesen und hatte es, wie meine Schöne gesagt, in der Tat sehr lustig gefunden. Aber auch sie war in diesem ruchlosen Gewirre zu treffen — sie, die mir hinter ihren Blumen als Bild der Jungfräulichkeit erschienen war! Ich fühlte, wie sich mir jetzt bei diesem Gedanken das Herz zusammenzog. Trotzdem wäre ich immerhin genug Realist gewesen, um ein Stelldichein von seiten eines so reizenden Geschöpfes unter allen Umständen willkommen zu heißen. Um aber mit einer jungen Dame, die zu „Schwott“ ging, in nähere Beziehung zu treten, dazu waren meine Verhältnisse in keiner Weise angetan. So kam ich denn, während ich langsamen Schrittes nach Hause ging, mehr und mehr zur Einsicht, daß der Sache ein für allemal ein Ende zu machen und jeder weitere Verkehr abzubrechen sei. Die Ausführung dieses Entschlusses wurde mir auch durch äußere Umstände erleichtert. Denn, nachdem ich eine Zeitlang vermieden hatte, mich in der Hauptstraße zu zeigen, mußte ich infolge einer Kündigung meine Wohnung räumen. Ich mietete mich hierauf in einem entlegeneren Teile der Vorstadt ein und sah die schöne Elise Schebesta — den Namen hatte ich später in Erfahrung gebracht — in der Tat nicht mehr. Einmal nur, als ich an einem nebligen Oktoberabende die innere Stadt durchschritt, glaubte ich beim Scheine der Gasflammen erkannt zu haben, daß sie an der Seite eines sehr vornehm aussehenden Herrn in einem Fiaker an mir vorübergefahren war.

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Und nun, nach einer Reihe von Jahren, stand sie, schöner denn je, mit schimmernder Myrte geschmückt am Altar .....

Die Zeremonie war zu Ende, und die Menge drängte aus der Kirche in den leuchtenden Tag hinaus, um die Teilnehmer der Hochzeit noch in die Wagen steigen zu sehen. Diese aber fuhren jetzt, während sich der Schleier der Braut in der wehenden Luft aufbauschte und leicht hin und her flatterte, dem Bürgerhause zu, das am Eingange des Ortes mit blumengeschmückter Pforte dem fröhlichen Einzug entgegen harrte.

II.

Die Neuvermählten mußten keine Hochzeitsreise angetreten haben — keine längere wenigstens, denn schon in nächster Zeit begegnete ich ihnen bei einem Spaziergange an dem stillen, den Vorort abgrenzenden Donaugelände. Es war ein milder, leicht bewölkter Abend, und die Ufer des Kanals, tagsüber durch anlangende Frachtschiffe und Holzflöße reich belebt, zeigten sich gänzlich verödet; nur ein geduldiger Angler saß an dem sanft dahin fließenden Wasser. Ich war um diese Zeit oft hier zu finden, denn ich liebte die stimmungsvolle Einsamkeit der Gegend, und auch die beiden hatten sie wohl aufgesucht, um sich ungestört im Freien ergehen zu können. Sie schritten Arm in Arm, dicht aneinandergeschmiegt das Ufer entlang und blickten gemeinsam nach einem Eisenbahnzuge, der eben jenseits, über eine frei ragende Brücke hinweg, ins Land hineinbrauste. Als ich an ihnen vorüberkam, mußte ich einen Gruß darbringen, wobei mich die Besorgnis anwandelte, daß mich die junge Frau vielleicht sofort wieder erkennen würde. Aber wiewohl sie mich, den Gruß mit ihrem Gatten erwidernd, rasch und aufmerksam betrachtete, so konnte ich doch ihrem Gesichtsausdruck nicht entnehmen, ob dies der Fall gewesen; wahrscheinlich hatte sie mich bereits vollständig aus dem Gedächtnisse verloren. Ich konnte später nicht umhin, stehen zu bleiben und dem Paare nachzublicken, bis es hinter einer hohen Baumgruppe, die, wie auf einem holländischen Landschaftsbilde, ein altes, einzeln stehendes Gebäude umdunkelte, verschwand. Trotz allem, was mir bekannt war, überkam mich jetzt ein wehmütiges Gefühl der Verlassenheit — ein fast an Neid streifendes Nachempfinden des Glückes, das ich da vor Augen gehabt. —

Und dieses Glück schien in ungetrübter Dauer vorhalten zu wollen, wenngleich die schöne Frau Stadler mit einem etwas herausfordernden Benehmen ziemlich gewagte Toiletten zur Schau trug, und ihr, wenn sie sich an gewissen Abenden der Woche mit ihrem Gatten in einem vielbesuchten Gasthause einfand, am Stammtische alles aufs lebhafteste den Hof machte. Da geschah es auch oft genug, daß sie noch in später Nachtstunde, von einem lauten, angeheiterten Männerschwarme umringt, in das nahe gelegene, menschenleere Kaffeehaus trat, wo man lärmend Platz nahm und bei dampfenden Punschgläsern den erregten Lebensgeistern vollends die Zügel schießen ließ. Dennoch verlautete nichts, was dem Rufe der Dame zu nahe getreten wäre; sie schien vielmehr neben diesem heiteren Lebensgenusse ihre Pflichten in jeder Hinsicht sehr gewissenhaft zu erfüllen. Sie war, das sah man, eine vortreffliche Hausfrau, besorgte alle Einkäufe selbst, zeigte sich jeden Sonn- und Feiertag in der Kirche, und als sie im zweiten Jahre ihrer Ehe Mutter geworden war, vollzog sich auch in ihrem Wesen ein sichtlicher Wandel. Sie kleidete sich weit einfacher, erschien immer seltener am Stammtische und war auf der Straße meistens nur, höchst aufmerksam und besorgt, hinter einem netten Korbwägelchen sichtbar, das von einer Magd geschoben wurde und in welchem ein rosiges Kindchen unter einem blauen Schleier schlummerte. Ja, wenn man späterhin die einst so lebendige und bewegliche Frau sah, wie sie mit zunehmender Leibesfülle und leicht schwellendem Doppelkinn an schönen Sommerabenden sich aus dem Fenster lehnte und mit einer Art von satter Zufriedenheit auf die belebte Straße hinabblickte, da machte sie so recht den Eindruck des Soliden und Altbürgerlichen. Dann war es mir auch immer, als hätte ich ihr etwas abzubitten, und ich kam zur Einsicht, wie töricht und ungerecht es sei, von Vergangenem stets auf das Zukünftige schließen zu wollen. Was lag daran, daß sie als Mädchen, wie es im Volksmunde heißt, ihr Leben genossen hatte? Wenn sie jetzt nur eine treue, sorgsame Gattin, eine liebende Mutter war — und ihren Mann beglückte. Und daß sie ihn beglückte, das erkannte man an seinen heiteren Mienen, seinen strahlenden Augen. Auch er hielt sich jetzt von Vergnügungen ziemlich fern und schien sich mit Vorliebe auf sein trauliches Heim zu beschränken, das nunmehr schon zwei heranwachsende Kinder belebten, ein Knabe und ein Mädchen, schön und blühend, wie aus einem Gemälde von Rubens herausgeschnitten.

Da begab es sich eines Winters, daß in dem Vororte eine Persönlichkeit sichtbar wurde, welche die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war dies ein hochgewachsener, noch ziemlich jugendlicher Mann von überaus vornehmem Äußeren, der im Hôtel garni Wohnung genommen und sich in das Meldebuch als Leo Röber, Fabrikdirektor, eingezeichnet hatte. Gleichwohl schien er ohne jegliche Beschäftigung zu sein und gehabte sich wie jemand, der in völliger Unabhängigkeit von seinen Renten lebt. Er machte, wenn auch im stillen, ziemlichen Aufwand, speiste im Kasino, das mit dem Hotel in Verbindung stand, an einem eigens für ihn bereit gehaltenen Tische, und bei Fahrten nach der Stadt bediente er sich, Omnibus und Pferdebahn verschmähend, stets eines Mietwagens. Nach und nach verlautete indes, daß die Fabrik, deren Direktor er sich nannte, erst im Entstehen begriffen, er selbst aber von einer Aktiengesellschaft beauftragt sei, in der Umgebung des Ortes den Anlageplatz zu ermitteln und Voranschläge zu entwerfen. Endlich schien er dies auch in Angriff nehmen zu wollen und trat mit einigen einheimischen Fachleuten — worunter die Gebrüder Stadler — in allerlei Unterhandlungen, ohne sich jedoch mit einem von ihnen näher und bestimmter einzulassen, wie er denn überhaupt jedem umgänglichen Verkehr mit sehr hochmütiger Zurückhaltung auswich. Auch bei den Bällen, welche im Laufe des Karnevals in dem großen Saale des Kasinos stattfanden, erschien er bloß als steifer Zuschauer, in tadellosem Frack, eine weiße Kamelie im Knopfloch. Ich selbst kümmerte mich um ihn begreiflicherweise sehr wenig, wenn ich auch bei zufälligen Begegnungen auf der Straße nicht umhin konnte, seine wirklich auffallend schöne und interessante Erscheinung mit Wohlgefallen zu betrachten. Und er war, wie alle unbeschäftigten Menschen, häufig genug auf der Straße anzutreffen. Vor allem liebte er es, in der Lindenallee auf und nieder zu schreiten, welche sich vom Eingang des Ortes bis zum Linienwalle erstreckte. Diese Allee, im Sommer schattig und duftig, jetzt aber kahl und durchsichtig, führte an dem freistehenden Stadlerschen Hause vorüber, von diesem durch die breite Fahrstraße getrennt; auf der anderen Seite dehnten sich, niedrig eingeplankt, weitläufige Felder aus. Als ich eines Tages — es war schon im März, und die Sonne schien hell und warm — mit der Pferdebahn aus der Stadt zurückkehrte, gewahrte ich ihn dort schon von weitem und glaubte zu bemerken, daß er im Gehen nach den Fenstern des Bürgerhauses emporspähte, dem wir uns jetzt beide näherten. Im Vorüberfahren folgte ich unwillkürlich seinem Blicke und sah, daß Frau Elise aufrecht dicht hinter den Scheiben stand. Wie ein Blitz durchzuckte es mich, daß hier ein Einverständnis obwalte. Aber tat ich den beiden nicht vielleicht unrecht? Konnte ich mich nicht täuschen? Eine Zeitlang dachte ich darüber nach; zuletzt aber sagte ich mir, daß mich ja die Sache ganz und gar nichts angehe, und ließ meine Vermutung um so mehr auf sich beruhen, als ich eben mit Vorbereitungen zu einer Reise nach Italien beschäftigt war, die ich bald darauf antrat.

III.

Meinem Wanderaufenthalte im Süden war ein ziemlich langer und seßhafter bei einem Freunde in Steiermark gefolgt, und so waren auch bis zu meiner Rückkehr beinahe zwei Jahre vergangen. Meine Wohnung hatte ich beibehalten, und als ich im Zwielicht eines frostigen Spätherbstabends ankam, fand ich in dem mir so lieb gewordenen Vororte vieles verändert. Gleich neben dem Stadlerschen Hause zeigten sich neue Bauten: arg verschnörkelte, aber doch höchst stattliche und geräumige Villen, zwischen denen sich der alte Bürgersitz, um einen sehr großen Teil seines freiliegenden Grundes beschnitten, recht eng und gedrückt ausnahm. Zudem wies er sich äußerlich sehr vernachlässigt; die Tünche war verwittert, die Fenster dunkelten wie erblindet. Im weiteren Verlauf der Straße überraschte mich eine Anzahl prunkvoll erleuchteter Kaufläden; auch war der Verkehr viel lebhafter, als es sonst um diese Stunde der Fall gewesen. Als ich am nächsten Morgen ausging, begegnete ich fast lauter unbekannten Gesichtern, ein Zeichen, daß viele neue Einwohner zugewachsen waren. Erhoben sich doch, wie ich jetzt sah, überall neue Häuser; selbst die Querstraße, die man nicht lange vor meiner Abreise durch eine weite Flucht verwüsteter Gärten abgesteckt hatte, war in zwei Reihen kleiner Paläste fast ausgebaut. Ich trat, um zu frühstücken, in das Kaffeehaus. Dort war alles beim Alten geblieben; nur die Fenster hatte man vergrößert und mit hellen Spiegelscheiben versehen. Im übrigen ebenfalls fremde Gäste, mit Ausnahme eines bejahrten Mannes, der eine Brille mit dunklen Gläsern auf der stark geröteten Nase trug. Er war mir von früher her als Gemeindesekretär bekannt, und ich wunderte mich, ihn während der Amtsstunden hier zu treffen. Als ich grüßend auf ihn zutrat, hatte er einige Mühe, mich zu erkennen, freute sich aber dann sehr des Wiedersehens und teilte mir mit, daß er vor zwei Monaten seine Pensionierung erhalten habe. Seines zunehmenden Augenleidens wegen. Damit stehe es jedoch, Gott sei Dank, noch immer nicht gar so schlimm; es wäre eben nur ein willkommener Vorwand für den neuen Herrn Bürgermeister gewesen, um ihn, den alt gedienten und verdienten Beamten, beiseite zu schieben. Der Mann wolle nun einmal alles von Grund auf umwandeln. „Ja,“ fuhr der Alte in wehmütigem Tone fort, „die schönen, gemütlichen Zeiten sind vorüber, und unser liebes Döbling nimmt eine andere Gestalt an. Schon heute ist es kaum mehr zu erkennen — geben Sie acht, in einigen Jahren wird es ganz und gar mit der Stadt zusammengewachsen sein. Hoffentlich erleb’ ich das nicht mehr.“

Ich suchte ihn zu trösten und erkundigte mich nach diesem und jenem, unter anderem auch nach den Stadlers.

„Die Stadlers? Wissen Sie denn nicht, daß der jüngere gestorben ist?“

„Gestorben?“

„Jawohl, — es war eine recht traurige Geschichte.“

„Wieso?“

„Sie haben also gar nichts davon gehört? Seine Frau ist ihm durchgebrannt. Mit diesem Herrn Röber, dem sogenannten Fabrikdirektor. An den müssen Sie sich ja noch erinnern. Eines schönen Morgens war sie fort, Mann und Kinder im Stiche lassend. Alle ihre Pretiosen hat sie mitgenommen und auch eine Summe Geldes, die allerdings insoferne ihr Eigentum war, als sie einige Mitgift ins Haus gebracht. Der arme gute Ferdl — Sie wissen ja, daß er Ferdinand geheißen hat — war ganz außer sich, dem Irrenhause nahe.“

„Er hat sie wohl sehr geliebt?“

„Und wie! Von Jahr zu Jahr mehr. Schön war sie, das muß man sagen. Er hatte sie auf einem kostümierten Bauernballe kennen gelernt, der hier im Kasino stattfand und zu dem sie aus der Stadt gekommen war — als Tirolerin. Er vernarrte sich sofort in sie und hat sie geheiratet, obgleich ihm mancher, der wußte, daß ihr Ruf nicht der beste sei, dringend davon abriet. Sonst aber erschien die Partie ganz passend. Das Fräulein Schebesta war aus guter Familie, eines Baumeisters Tochter und, wie gesagt, auch nicht ganz ohne Vermögen, obgleich auf dem Hause, das ihr nach dem Tode der Mutter zugefallen, genug Schulden hafteten. Und während ihrer Ehe hielt sie sich auch die längste Zeit ganz brav, wenn sie auch eine flotte Frau war. Aber da mußte der Lump mit seiner stolzen Haltung und dem interessanten Backenbart kommen — und aus war’s und geschehen. Indes, nachdem der erste Schmerz sich ein wenig gelegt hatte, suchte sich der verlassene Ehegatte so gut es ging zu fassen. Er hat seinen Kindern zuliebe alles aufgeboten, sein schweres Schicksal mit männlicher Kraft zu tragen — und es war ihm auch so ziemlich gelungen. Da, eines Tags — sechs Monate ist es jetzt her — steht er dort an jenem Billard und spielt wie gewöhnlich nach Tisch. Plötzlich fällt ihm die Queue aus der Hand, mit der andern fährt er nach der Stirn — und sinkt lautlos zu Boden. Der Schlag hatte ihn getroffen.“

„Und die Kinder?“ fragte ich nach einer Pause.

„Mit denen ist es auch eigentümlich gegangen. Selbstverständlich hat sie der Bruder zu sich genommen, dessen Frau ihm keine Nachkommenschaft geschenkt hat. Da wären sie auch ganz gut aufgehoben gewesen. Aber bald darauf erkrankten sie, fast gleichzeitig, am Scharlach. Als sie beinahe schon genesen waren, trat Diphtheritis hinzu — und beide starben in einer Nacht.“

„Das ist wirklich sehr traurig.“

„Na, vielleicht war’s zu ihrem Besten. Man soll keinen beklagen, wenn er einmal da unten in der Erde liegt. Wer weiß, was die zwei Kleinen noch alles hätten erleben müssen; jedenfalls aber blieb’s ihnen erspart, sich späterhin über ihre Mutter klar zu werden. Auch geht’s ja — im Vertrauen gesagt — schon seit Jahren mit den Stadlerschen abwärts. Der Krach im Jahre 73 hat auch auf die Brüder gewirkt; es hieß, daß sie nur mit Mühe den Konkurs abwehrten. Daher sind auch, als der Jüngere starb, sofort die Ziegeleien samt den Holzlagern verkauft worden; und auch der Johann treibt die Zimmermeisterei nur mehr recht notdürftig fort. Denn mit der Ausschließlichkeit, die den Vater emporgebracht, ist’s schon lange vorbei, und die Konkurrenz, die auf jedem Gebiete herrscht, hat den Sohn überflügelt. Sie werden das auch dem Hause anmerken, wenn Sie vorüberkommen. Früher blickte es einem so hell, so einladend entgegen; jetzt nimmt es sich neben den modernen Nachbarn ganz finster und trostlos aus. So ist der Lauf der Welt,“ schloß er seufzend: „das Neue floriert, und das Alte geht zu Grunde.“

Er war aufgestanden, nahm Hut und Überrock vom Nagel und schickte sich zum Fortgehen an.

„Und hat man nichts mehr von der Frau gehört?“ fragte ich.

„Nichts Gewisses. Anfangs hieß es, das Paar habe sich nach Pest gewendet. Dann wollte man erfahren haben, daß sie in Paris seien, während andere behaupteten, sie wären gar nicht über Wien hinausgekommen. Es ist auch jetzt ganz gleichgültig. Wer weiß, ob sie überhaupt noch beisammen sind. Derlei Dinge halten nicht.“

Er reichte mir die Hand und empfahl sich. Ich aber blieb sitzen und sah durch die neuen Spiegelscheiben auf die Straße hinaus, die in diesem Augenblick wenig belebt war. Ein scharfer Nordwind hatte sich erhoben und fegte welkes Laub von den Bäumen des Kaffeehausgartens über das Pflaster. „Ja,“ sagte ich still vor mich hin, „das ist der Lauf der Welt.“

Ein Trupp von Kindern, die nach beendeter Schulstunde, die Bücherränzel auf dem Rücken, lustig am Fenster vorbeitollten, weckte mich aus meinen Gedanken.

IV.

Seitdem war fast ein Jahr verstrichen, als eines Vormittags an meine Tür geklopft wurde und ein jüngerer Schriftsteller eintrat, der sich bei seinen Berufsgenossen keiner besonderen Beliebtheit erfreute. Nicht ohne Begabung schon sehr früh in die Literatur getreten, hatte er sich auf allen möglichen Gebieten versucht und betätigte sich, da der Erfolg seinen Erwartungen nicht entsprach, zuletzt fast nur mehr als Kritiker. In dieser Eigenschaft hielt er — gewissermaßen schon ein Vorläufer der heutigen „neuesten Schule“ — als leitenden Grundsatz die Behauptung aufrecht, daß alles bisher Geleistete veraltet sei und in unsere Zeit nicht mehr passe. Er selbst fühlte sich durchaus „modern“, sprach stets von einer Literatur der Zukunft und erwies sich infolgedessen gegen Anfänger sehr nachsichtsvoll und ermunternd, besonders wenn diese dem weiblichen Geschlecht angehörten. So stand er denn auch bei einigen Schriftstellerinnen und solchen, die es werden wollten, in großem Ansehen. Sie übersendeten ihm ihre Werke, zogen ihn zu Rate, wogegen er, wie behauptet wurde, stets die Gelegenheit wahrnahm, mit der einen oder der anderen dieser Damen, die er nach seinem Geschmacke fand, in intimere Beziehungen zu treten. Nebenher aber wollte es ihm nicht gelingen, sich eine feste und unbestrittene literarische Stellung zu schaffen, was ihn, eitel und selbstbewußt wie er war, immer mehr in einen schwarzgalligen Hochmut hineintrieb. Ich selbst hatte mich ihm bei irgend einer Gelegenheit gefällig erwiesen, und seitdem besuchte er mich öfter, als mir gerade erwünscht war. Denn trotz der Anerkennung, die er mir gegenüber gnädigst an den Tag legte, konnte er doch nicht umhin, beständig durchfließen zu lassen, wie sehr er sich mir und meinen Leistungen überlegen fühle.

„Obgleich Sie sich gar nicht um mich kümmern, muß ich Sie doch wieder einmal in Ihrer Einsiedelei aufsuchen“, sagte er jetzt, indem er mir die Hand reichte und sich seines abgegriffenen Hutes entledigte. Dann schüttelte er das lange, straffe Haar und blickte im Zimmer umher. „Mein Gott! wie kann man sich nur so vergraben! Eine schöne Aussicht haben Sie allerdings“, setzte er, ans Fenster tretend, hinzu. „Aber was nützt das alles? Dabei bleibt man doch nur ein Romantiker, ein elegischer Lorenz Kindlein. Heutzutage muß der Dichter mitten im Kampfe des Lebens stehen, muß ein scharfes Auge, ein stets bereites Ohr haben für die Zeichen und Forderungen der Zeit — sonst wird er mit Recht beiseite liegen gelassen.“

Da ich auf diese oft vernommenen Bemerkungen mit einem Schweigen antwortete, das er auslegen konnte, wie er mochte, fuhr er, nach mir zurückgewendet, in seinem Sermon fort: „Aber so seid Ihr nun einmal, Ihr Herren von der alten Schule! Ihr könnt Euere überlieferten Ideale nicht los werden. Da treffen es die Frauen wahrlich besser. Die haben den Mut, mit der Vergangenheit zu brechen, und besitzen den richtigen Instinkt für die Bedürfnisse der Gegenwart. Sehen Sie nur, was ich da wieder in die Hand bekommen!“

Er zog bei diesen Worten ein ziemlich umfangreiches Heft, das in der Mitte zusammengelegt war, aus der Tasche seines Überziehers und reichte es mir hin. Ich bog es auseinander und las den Titel: „Der Roman einer Frau, von Elsa Röber“.

Ich blickte sinnend auf.

Er bemerkte es nicht und warf sich in seinem Eifer auf den nächsten Stuhl. „Grandios, sage ich Ihnen! Der Griff einer Löwin! Da wird mit dem hergebrachten flauen Gefasel über die Heiligkeit der Ehe gründlich aufgeräumt und das Evangelium der freien Liebe höchst eindringlich gepredigt. Die betreffenden Stellen und Schilderungen sind um so schlagender, als sie von der Feder einer Frau herrühren. Ganz so, wie sie hier vorliegt,“ fuhr er nach einer Pause fort, „ist die Geschichte freilich nicht zu brauchen. Die Form ist sehr mangelhaft; auch steht die Verfasserin mit der Grammatik und hin und wieder mit der Orthographie noch auf ziemlich gespanntem Fuße. Aber mit der gehörigen Nachhilfe kann der Roman, wenn er erscheint, Furore machen.“

„Und ist Ihnen die Verfasserin persönlich bekannt?“ fragte ich aus meinen Gedanken heraus.

„Selbstverständlich. Nachdem ich das Manuskript, das sie mir durch zweite Hand übersenden ließ, geprüft hatte, habe ich mich auch sofort bei ihr eingeführt. Eine wunderschöne Frau! Im interessantesten Alter — so im Anfang der Dreißiger. Vielleicht ist sie Ihnen sogar nicht fremd; denn wenn ich nicht irre, hat sie während der Ehe, die sie da schildert, hier in Döbling gewohnt.“

„Und jetzt?“ fragte ich weiter, während immer bestimmtere Vermutungen in mir auftauchten.

„Jetzt? Jetzt lebt sie in der Stadt.“

„Allein?“

„Keineswegs. Mit ihrem Geliebten, den sie zwar ihren Mann nennt; aber ich glaube nicht, daß sie verheiratet sind. Er ist Agent — oder ähnliches; es scheint ihnen nicht am besten zu gehen.“ Er sah nach der Uhr. „Teufel, schon Zwölf! Da muß ich Sie verlassen. Ich soll zu Tisch nach Weinhaus hinüber, wo Verwandte von mir den Sommer zubringen. Habe die Gelegenheit benützt, zu Ihnen einen Abstecher zu machen. Wissen Sie was? Ich lasse das Manuskript hier. Sie erweisen mir einen Gefallen, wenn Sie es durchsehen. Ich bin zwar meiner Sache sicher; allein es wäre mir doch von großem Werte, auch Ihr Urteil zu vernehmen. Wenn es Ihnen recht ist, hol’ ich es gegen Abend bei Ihnen ab.“

Da meine Vermutungen inzwischen fast zur Gewißheit geworden waren, so interessierte mich jetzt das Ganze sehr lebhaft, und ich sagte ihm, daß er mich nach fünf Uhr ganz bestimmt zu Hause antreffen werde.

Kaum war er aus dem Zimmer getreten, als ich mich auch schon setzte und das Heft zur Hand nahm. Elsa Röber! Es konnte kein Zweifel sein! Röber hieß ja der Mann, um dessen willen Frau Stadler Heim und Familie verlassen hatte. Alles traf zu: sie war die Verfasserin!

Ich begann zu lesen. Es wurde mir nicht ganz leicht; denn die Schrift war ungleich und verworren, an manchen Stellen so flüchtig, daß ich einzelne Wörter kaum entziffern konnte. Dennoch, je mehr Blätter ich umwendete, je mehr mußte ich mich in gewissem Sinne mit der Ansicht des begeisterten Entdeckers einverstanden erklären. Nicht, daß mir die Arbeit so bedeutend wie ihm erschienen wäre. Sie erwies sich vielmehr als ganz schülerhafte Nachahmung einer Erzählung, die unter dem Titel „Die Geschiedene“ vor einigen Jahren erschienen war und von einem hochbegabten Autor herrührte, welcher als eigentlicher Eröffner dieser Richtung eine stark naturalistische Erotik in die neuere deutsche Literatur eingeführt hatte. Und die kurzen Gedichte, welche sich hin und wieder eingestreut fanden, riefen sofort die genialen Lieder der Ada Christen ins Gedächtnis. Trotzdem: neben vielem Platten und Gewöhnlichen — ergreifende Schilderungen; neben manchem Falschen und Verlogenen, neben Rohem und Verletzendem — Laute einer tiefen, eigentümlichen Empfindung, erschütternde Schreie des Schmerzes und der Lust, welche namentlich in unbefriedigten weiblichen Herzen mächtigen Widerhall hervorrufen mußten. —

Ich ließ das Heft sinken. Seltsam! So war denn diese einst so behäbige, jeder höheren geistigen Anregung fernstehende Frau, die, als echtes, genußfrohes Wienerkind herangewachsen, vor Jahren verächtlich das Näschen gerümpft hatte, als sie erfuhr, daß ich ein Dichter sei: zuletzt auch von dem schriftstellerischen Drange der Zeit erfaßt worden, und die Macht ihrer Schicksale hatte ihr die Feder in die Hand gedrückt!

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Gegen sechs trat der neue Frauenlob (diesen Namen hatte ich dem Erwarteten schon seit längerem so für mich im stillen beigelegt) wieder bei mir ein.

Sein erstes Wort war: „Haben Sie gelesen?“

„Gewiß“, bestätigte ich.

„Nun und was sagen Sie?“ drängte er.

„Ich bin Ihrer Meinung“, erwiderte ich ohne jede Einschränkung, da ich doch wußte, daß er keine einzige würde gelten lassen.

„Bravo!“ rief er, indem er stolz das Haupt erhob. Dann fügte er herablassend hinzu: „Welch ein Triumph für die Dichterin, daß auch Sie — —“

Ich überlegte einen Augenblick. Es konnte, wie gesagt, kein Zweifel mehr obwalten, aber ich wünschte die vollständigste Überzeugung. Aus dem Roman selbst konnte diese nicht unmittelbar gewonnen werden. Wie bei den meisten Anfängerarbeiten waren die Lokalfarben absichtlich verwischt, die Charaktere ziemlich allgemein gehalten, die Begebenheiten weit hergeholt. Ich sagte also: „Ich will Ihnen nur gestehen, daß ich die Verfasserin in der Tat zu kennen glaube. Das heißt, ganz oberflächlich — gewissermaßen bloß vom Sehen. Dennoch kann ich mich täuschen. Teilen Sie mir also Genaueres über sie mit — beschreiben Sie mir ihr Äußeres —“

„Wozu auch? Sehen Sie sich die Dame an, und es wird sich zeigen, ob Sie auf der richtigen Fährte waren.“

„Wie sollte das geschehen?“

„Ganz einfach. Man erwartet mich heute abend dort zum Tee — und ich nehme Sie mit. Das günstige Urteil, das Sie gefällt, wird die schöne Frau doppelt freuen, wenn sie es aus Ihrem eigenen Munde vernimmt.“

Ich gestehe, dieser Vorschlag hatte etwas Verlockendes. Es reizte mich, die Frau, deren Lebensgang ich so lange beobachtet hatte, in nunmehr ganz veränderten Verhältnissen wiederzusehen. Dennoch fühlte ich das Unstatthafte eines solchen Vorgehens, um so mehr, als ja meine Anerkennung keineswegs eine so rückhaltlose war, wie der selbstbewußte Protektor voraussetzte. Ich erwiderte daher: „Es wird doch wohl nicht angehen — so ganz ohne weiteres —“

„Welche Bedenklichkeiten, Verehrter! Sie können doch annehmen, daß Sie unter allen Umständen willkommen sein werden. Und dann offen gestanden, es kommt mir sehr erwünscht, wenn ich Sie dort einführen darf. Und zwar dieses Röber wegen, der trotz seiner fatalen Lebensstellung ein äußerst hochmütiger Geselle ist. Er schätzt die Begabung seiner Geliebten — oder seiner Frau nicht im geringsten; vielmehr bespöttelt er ihr Streben und betrachtet mich mit offen zur Schau getragenem Mißtrauen. Er glaubt jedenfalls, daß ich mit — Gott weiß welchen eigennützigen Absichten ins Zeug gehe. Wenn er aber sieht, daß ein Mann wie Sie — —“

„Ich wüßte nicht, warum gerade ich diesem Herrn Röber imponieren sollte“, erwiderte ich, die jetzt so plötzliche Hochschätzung abweisend. „Und dann noch eins. Es wäre doch eigentlich sehr unzart, wenn ich jener Frau so ganz ohne jegliche Vorbereitung entgegentreten würde. Denn so gut ich sie im Gedächtnis zu haben glaube, wird auch sie sich meiner Person erinnern und könnte dadurch höchst unliebsam an die Vergangenheit gemahnt werden.“

Er lachte laut auf. „Da irren Sie gewaltig, lieber Freund! Frau Elsa hat mit allem, was hinter ihr liegt, gründlich abgerechnet. Das sollte Ihnen doch schon der Roman beweisen; sie hat jetzt nur eines im Auge: daß dieser zur Geltung gelangt. Also machen Sie sich keine Skrupel und kommen Sie mit!“

Eine Zeitlang schwankte ich noch; dann aber gab die Neugierde den Ausschlag. Ich machte mich fertig und fuhr mit Frauenlob nach der Stadt.

V.

Der Stadtteil, in welchem Elsa Röber wohnte, war jenes alte, mehr oder minder licht- und luftlose Gassengewirre, das sich in der nächsten Nähe des Stephansdomes noch heute von allen Neuerungen fast unberührt erhalten hat. Die Mietzinse sind dort in den meisten Häusern billiger als anderswo, und so besteht auch ein großer Teil der Bewohner aus Leuten, die in beschränkten, öfter auch zweifelhaften Verhältnissen leben. In einer der engsten Gassen vor einem hohen, grau übertünchten Hause mit vorspringendem ersten Stockwerk angelangt, traten wir — es war im September — in eine dunkle, zugluftige Einfahrt. Dort lenkte mich mein Führer gleich links über ein paar Stufen nach einem schmalen, unbeleuchteten Seitengang, wo wir uns einer einzelnen Tür gegenüber befanden. Er zog die Klingel und, da drinnen alles still blieb, nach einer Weile ein zweites Mal. Endlich vernahm man ein Geräusch von leichten Schritten, die sich zögernd der Tür näherten; ein kleines Guckloch wurde geöffnet, und eine weibliche Stimme fragte in die Dunkelheit hinaus: „Wer ist da?“

„Ich bin es, Frau Elsa!“ rief Frauenlob eindringlich. „Machen Sie nur auf!“

Drinnen klang, während sich das Guckloch schloß, ein leichtes „Ah!“ Dann sehr vernehmlich: „Bitte nur noch einen Augenblick! Ich habe das Mädchen weggeschickt; ich muß erst den zweiten Schlüssel holen.“

Bald darauf drehte sich dieser im Schlosse, und eine nicht ganz deutlich werdende Gestalt ließ uns, indem sie die Tür öffnete, in das trübe Zwielicht einer nicht sehr geräumigen Küche treten.

„Ach, verzeihen Sie,“ sagte sie, indem sie den Schlüssel wieder umdrehte und abzog, „daß Sie sich so lange gedulden mußten. Ich hatte Sie so früh nicht erwartet. Aber — —“

Wie man bemerken konnte, verweilte jetzt ihr Blick befremdet und forschend auf mir.

„Ja, gnädige Frau, ich habe einen Besuch mitgebracht“, rief mein Begleiter feierlich. Dann vorstellend: „Mein hochverehrter Kollege, der berühmte —“ er nannte meinen Namen. „Er hat Ihren Roman gelesen und will Sie nun auch persönlich kennen.“

„O, ich bitte —“ erwiderte sie verwirrt. „Aber treten Sie doch ins Zimmer. Ich habe noch gar nicht Licht gemacht — ich werde gleich —“ Und indem sie sich jetzt mit einer Petroleumlampe zu schaffen machte, die in der Nähe des Herdes stand, traten wir in ein ziemlich weitläufiges, niedrig gewölbtes Gemach, wie solche in den Erdgeschossen alter Stadthäuser häufig anzutreffen sind. Da die Fenstervorhänge geschlossen waren, herrschte in dem Raume solche Dunkelheit, daß man die Einrichtungsstücke, außer einem runden Tische, der in der Mitte des Zimmers stand und auf welchem bereits Vorbereitungen zum Abendtee getroffen waren, kaum unterscheiden konnte.

Wir hielten uns, um nirgends anzustoßen, in der Nähe der Tür, und nun trat auch Frau Elsa herein, das Gesicht von der hellschimmernden Lampe beleuchtet, die sie vor sich her trug.

Wenn Frauenlob gesagt hatte, daß sie „wunderschön“ sei, so konnte man diesem Ausspruche jetzt ebenso wenig unbedingt beipflichten, wie der überschwenglichen Anerkennung des Romans. Daß sie sehr schön gewesen, das zeigte sich allerdings noch, und daß sie auch noch immer Anreiz auszuüben vermochte, mußte zugegeben werden. Allein welche Veränderungen waren da während der letzten drei Jahre vor sich gegangen! Sie war überraschend schlank, ja mager geworden, und zwar wies sie jene Magerkeit vorzeitig raschen Verfalles, welche Züge und Formen schlaff und verkümmert erscheinen läßt. Ihr vormals so ungemein üppiges Haar war auffallend gelichtet, und die hellen Goldaugen hatten sich zu einem scharfen Braun abgedunkelt. Trotzdem waren es noch immer anziehende Augen, die jetzt bei mangelnder Gesichtsfülle um so größer erschienen, als sie von sichtlich geschwärzten Wimpern hervorgehoben wurden. Aber sie waren auch von breiten, mißfarbigen Ringen umzogen, die als Zeichen körperlicher — vielleicht auch seelischer Erschöpfung gelten konnten. Sie trug ein einfaches, nicht ganz passendes Kleid aus Wollenstoff, und außer einer billigen, unechten Brosche in der Gegend des Halses keinerlei Schmuck. Ihre Hände waren gerötet und ließen trotz der peinlichen Sorgfalt, mit der sie offenbar gepflegt wurden, Spuren harter häuslicher Arbeit erkennen.

Sie hatte die Lampe auf den Tisch gestellt und betrachtete mich aufmerksam. „Darf ich noch einmal um den Namen dieses Herrn bitten; ich hab’ ihn vorhin nicht ganz —“

Frauenlob wiederholte ihn mit Emphase.

„Ach ja,“ sagte sie, indem sie sich auf ein kleines Sofa niederließ und uns gleichfalls zum Sitzen einlud — „ach ja, diesen Namen hab’ ich wohl schon gehört. Aber es ist mir, als sollt’ ich Sie auch persönlich kennen —“

Nun war der peinliche Augenblick gekommen, den ich vorausgesehen und trotz der Versicherungen Frauenlobs gefürchtet hatte. Ich erwiderte daher etwas kleinlaut: „Allerdings haben wir einander schon öfter gesehen — und zwar in Döbling, wo ich seit einer Reihe von Jahren wohne.“

„Ja, ja, gewiß — in Döbling“, entgegnete sie hastig, während ihre etwas gelbliche Gesichtsfarbe langsam in eine dunkle Röte überging. „Ich entsinne mich sehr genau. Und da kennen Sie ja gewiß auch meine ganze Geschichte und werden sich nicht wundern, mich in ganz anderen Verhältnissen —“

Ich hatte mich inzwischen gefaßt und trachtete so rasch wie möglich über dieses Thema hinwegzukommen, das sie allem Anscheine nach doch nicht so vollständig gleichgültig ließ, wie Frauenlob behauptet hatte.

„Ich wundere mich über gar nichts, gnädige Frau,“ sagte ich in bestimmtem und dabei sehr ehrerbietigem Tone; „höchstens über das eine, daß Sie unter die Schriftstellerinnen gegangen sind.“

„Mein Gott,“ sagte sie aufatmend mit einem Lächeln; „weiß ich doch selbst kaum, wie ich dazu gekommen bin. Ich hatte ja früher an so etwas gar nicht gedacht und auch sehr wenig gelesen. Im vorigen Jahre sind mir aber ganz zufällig ein paar Bücher in die Hand gekommen, die auf mich großen Eindruck gemacht haben. Aber auch da fiel es mir nicht ein, selbst zu schreiben; erst als mein — Mann für einige Zeit verreisen mußte und ich ganz allein blieb, erst da überkam es mich. Und zwar ganz plötzlich; — ohne vieles Nachdenken habe ich die Geschichte hingeschrieben.“

Das entsprach ganz meinen Voraussetzungen, und ich freute mich über das unbefangene Eingeständnis. Unwillkürlich fühlte ich mich versucht, auf unsere allererste Begegnung anzuspielen und so zu erfahren, ob sie sich meiner auch aus jener fernen Zeit noch erinnere. Wäre ich mit ihr allein gewesen, würde ich es jedenfalls getan haben, so aber hielt mich die Gegenwart meines Begleiters zurück, und ich schwieg.

„Ich legte auch anfangs gar kein Gewicht darauf,“ fuhr sie nach einer Pause fort; „es war mir eine bloße Zerstreuung — eine Herzenserleichterung gewesen. Später aber zeigte ich die Blätter einer Bekannten, und diese meinte, ich sollte sie zu verwerten trachten; es gäbe jetzt so viele Frauen, die mit derlei Geld erwerben. Sie bot mir ihre Vermittelung an — und Ihr — Freund hier —“ sie wies auf Frauenlob — „war so liebenswürdig, ein günstiges Urteil zu fällen.“

Dieser warf sich auf seinem Stuhle in die Brust. „Nur nach Verdienst, Frau Elsa“, sagte er.

„Also auch Sie meinen,“ sprach sie langsam, indem sie schüchtern ihren Blick auf mich richtete, „auch Sie meinen, daß die Sache —“

„Sie haben es doch gehört!“ unterbrach sie der andere, ungeduldig die langen Haare schüttelnd.

Ich befand mich nun wieder in einiger Verlegenheit.

„Ihre Leistung ist jedenfalls eine sehr interessante,“ hob ich gewissermaßen zögernd an, „und mit einigen Änderungen, die daran vorgenommen werden müssen —“

„Das werde ich alles besorgen!“ rief Frauenlob. „Auch die Herausgabe! Der Erfolg kann nicht ausbleiben, Frau Elsa, und wenn Sie sich fernerhin meiner Leitung anvertrauen, so ist Ihnen eine bedeutende Zukunft gewiß.“

Sie blickte zweifelnd vor sich hin. „Glauben Sie wirklich?“ fragte sie dann nachdenklich, mehr gegen mich gewendet. „Ich hätte da so vieles zu lernen. Und woher sollte ich die Zeit nehmen? Wir leben, wie Sie sehen, in beschränkten Verhältnissen — und mein Mann ist sehr verwöhnt; ich habe alle Hände voll zu tun, um unsere Häuslichkeit seinen Bedürfnissen gemäß einzurichten. Er würde es nicht besonders gerne sehen, wenn ich mich anderweitig beschäftigte“ —

„Danach haben Sie nicht zu fragen!“ sagte Frauenlob in scharfem, erzieherischem Tone. „Die Hörigkeit der Frau ist Gott sei Dank vorüber — und Sie müssen sich neben Ihrem — Gemahl eine selbständige Stellung schaffen.“

„Mein Gott, daran denk’ ich ja gar nicht“, erwiderte sie zerstreut; es war, als horche sie dabei aus dem Zimmer hinaus. „Und dann — er hat nun einmal eine Abneigung gegen schreibende Frauen.“

„Das müssen Sie ihm eben abgewöhnen — müssen ihn eines Besseren belehren!“

Sie erwiderte nichts und hatte offenbar die letzten Worte nur mehr mit halbem Ohr vernommen. Dann rief sie plötzlich: „Da kommt er!“

Draußen war heftig an der Klingel gerissen worden, und durch die Küche, wo sich schon früher die Anwesenheit einer Magd bemerkbar gemacht hatte, trat jetzt Röber ein. Er mußte seine hohe Gestalt unter der Tür um so mehr bücken, als er den Hut auf dem Kopfe behielt. Erst in der Mitte des Zimmers nahm er ihn zögernd ab, wobei sein Blick überrascht und befremdet auf mich gerichtet blieb.

Wir hatten uns erhoben.

„Der Herr Doktor hat uns einen angenehmen Besuch mitgebracht, Leo,“ sagte Elsa, und der Ton ihrer Stimme hatte dabei etwas flehend Unsicheres, „einen berühmten Schriftsteller. Vielleicht kennst du den Herrn vom Sehen.“

Er blickte mich unverwandt an und sagte, ohne eine Miene zu verziehen, mit einer leichten Verbeugung: „Habe nicht die Ehre“. Hierauf machte er eine halbe Wendung und fuhr, nach uns zurück sprechend, fort: „Die Herren werden schon entschuldigen. Ich bin seit heute morgen auf den Beinen und muß mir’s bequem machen.“ Er war bei diesen Worten auf eine Seitentür zugeschritten, öffnete sie und verschwand in einem kleinen Zimmer, das offenbar als Schlafgemach benützt wurde.

„Er ist wirklich sehr in Anspruch genommen“, bestätigte Elsa, die ihm, wie ihn bedauernd, nachgeblickt hatte. Dann begab sie sich mit einer kurzen Entschuldigung in die Küche, um, wie sie sagte, nach dem Tee zu sehen.

Ich spürte nun großes Verlangen, fortzugehen und sah meinen Begleiter fragend an. Dieser aber schien durchaus nicht gewillt, das Feld zu räumen; er lehnte sich vielmehr mit einer Art verbissenen Trotzes in den Stuhl zurück und streckte die Beine von sich.

Jetzt trat auch schon die Hausfrau wieder ein, in jeder Hand eine kalte Schüssel tragend. Die Magd folgte mit allerlei Zubehör. Dann wurde der kochende Teekessel gebracht; später folgte ein großer, mit Bier gefüllter Glaskrug.

Inzwischen war Röber gleichfalls zum Vorschein gekommen. Er hatte sich in einen langen, abgetragenen Schlafrock gehüllt, der Spuren früherer Eleganz aufwies; an den Füßen trug er bequeme Hausschuhe.

„Die Herren werden es nicht übel nehmen,“ begann er in herablassendem Tone, als verzeihe er uns, daß wir möglicherweise an seiner Bekleidung Anstoß nehmen könnten, „die Herren werden es nicht übel nehmen, daß ich so vor ihnen erscheine. Allein wie gesagt, ich fühle mich überangestrengt — und zudem leide ich schon einige Zeit an den Füßen.“

„Ach ja!“ fiel Elsa ein. „Und es will auch gar nicht besser werden. Hast du heute vielleicht wieder stärkere Schmerzen?“ forschte sie ängstlich.

„Nun, nicht gerade das. — Aber,“ fuhr er mit einer Wendung nach dem Tische fort, „ich sehe, es ist alles bereit. Die Herren sind unsere Gäste?“

„Gewiß werden sie uns das Vergnügen machen“, sagte Elsa einladend.

Was konnte ich tun? Um irgend eine stichhaltige Ausrede zu ersinnen, war es zu spät und somit der günstige Augenblick, mich zu entfernen, versäumt; ich mußte mich also mit an den Tisch setzen.

Elsa machte mit zuvorkommender Aufmerksamkeit die Wirtin, während Röber, einem sichtlichen Bedürfnisse folgend, sehr ungezwungen den Schüsseln zu Leibe ging. Erst jetzt konnte ich ihn mit voller Aufmerksamkeit betrachten. Auch in seinem Äußeren zeigte sich eine große Veränderung. War Elsa in den letzten Jahren körperlich verfallen, so hatte er hingegen verhältnismäßig zugenommen. Aber es war nicht die blühende Überfülle der Gesundheit und Kraft, sondern jene blasse und weichliche Aufgedunsenheit, welche so vielen Menschen anhaftet, die ein unregelmäßiges und dabei sorgenvolles Leben führen. Dies konnte man besonders in seinem Gesichte wahrnehmen, dessen Züge derart verquollen waren, daß die früher so ungemein schönen dunkelgrauen Augen kaum mehr zur Geltung gelangten. Er rasierte das Kinn nicht, sondern trug einen sehr kurz gehaltenen Vollbart, der ihm übel ließ und in welchem sich schon zahlreiche Silberfäden bemerkbar machten; auch zeigte sich über der Stirn stark zunehmende Kahlheit. Der ganze Mann sah in der Tat sehr verkommen aus.

Eben jetzt langte er eine Kartoffel auf seinen Teller und während er die noch leicht dampfende in vier Teile zerlegte und verkühlen ließ, eröffnete er, sichtlich in behaglicherer Stimmung, das Gespräch.

„Sie wollen also,“ begann er, sich gleichsam an uns beide wendend, mit ironischer Verziehung der Mundwinkel, „Sie wollen also meine El—sa—“ er sprach den Namen mit satirisch übertriebener Betonung aus — „à tout prix zur Dichterin machen?“

„Machen?“ rief Frauenlob mit scharfer Stimme. Er schien nur auf einen Angriff gewartet zu haben, und seine kleinen, grünlichen Augen blitzten kampflustig. „Machen? Wie sollte man das anstellen, wenn es nicht schon wäre?“

„Ich weiß,“ erwiderte der andere vornehm, indem er ein Kartoffelstück aufnahm: „poeta nascitur. Aber man kann auch jemanden in etwas heineinreden.“

„Was hätte man davon?“ entgegnete Frauenlob, geringschätzig das Haupt zurückwerfend.

„Ganz richtig, was hätte man davon? Wenn auch Elsa Begabung besitzt — woran ich übrigens gar nicht zweifeln will — so bleibt doch das Ganze eine höchst unnütze Sache.“

„Aber man kann doch damit verdienen, Leo“, warf Elsa schüchtern ein.

Röber lachte laut auf. „Verdienen? Mit der Schriftstellerei? Ha! Ha!“

„Erlauben Sie,“ schrie Frauenlob heftig, während ich dem Mann im stillen nicht unrecht gab, „das ist eine Behauptung, die nur beweist, wie sehr Sie in Ihren Anschauungen zurück sind. Es ist ja wahr, früher einmal mußten selbst die größten Geister darben; heutzutage jedoch kann man mit der Feder sehr viel erwerben.“

„Als Journalist vielleicht. Übrigens ist das viel oder wenig Ansichtssache. Wenn ich Summen in Betracht ziehen soll, so müssen es Hunderttausende sein.“

„Sie geben es nicht billig!“ lachte Frauenlob mit giftigem Hohne. Er hatte im Eifer eben das dritte Glas Bier hinuntergestürzt, und sein knochiges, breites Gesicht, das stets ungesund gerötet war, begann bläulich zu leuchten.

„Das ist meine Sache“, erwiderte Röber mit ruhigem Stolz, und zum ersten Male glänzten seine Augen wieder hell und groß auf. „Die Herren Poeten pflegen beständig von ihren Idealen zu sprechen; auch andere Leute haben welche. Das meine ist ein sehr großes Vermögen, ein Ideal, das so ziemlich jedes andere in sich schließt.“

„Aber auch um so mehr Ideal bleibt!“ rief der Gegner bissig.

„Je nach Umständen. Das kann Ihnen schon die große Anzahl bedeutender Kapitalisten zeigen, die es in der Welt gibt. — A propos, Lisi,“ fuhr er mit einem Blick auf die Hausfrau fort, „ich habe heute gute Nachrichten mitgebracht. Die Sache in Bulgarien scheint endlich in Fluß kommen zu wollen.“

„Wirklich! Wirklich!“ rief sie, überrascht und vor Freude errötend, aus der peinlichen Verlegenheit heraus, die sie bei diesem Wortwechsel begreiflicherweise überkommen hatte. „Wirklich?“ wiederholte sie jetzt, wie von einem unwillkürlichen Zweifel ergriffen, etwas kleinlaut und gedehnt.

Er hatte sich inzwischen den Mund gewischt und, ohne uns zum Rauchen aufzufordern, eine Zigarette angezündet.

„Ja, wirklich, mein Kind. Gut Ding braucht eben Weile, und ich begreife, daß es dir schon etwas zu lange dauert. Aber es sei dir vergeben. Und wenn alles so kommt, wie ich hoffe, dann kannst du zu deinem Vergnügen blaustrümpeln.“

„Es dürfte wohl beim Strümpfestopfen sein Bewenden haben“, sagte Frauenlob mit unerbittlicher Grobheit.

„Immer eine nützlichere Beschäftigung als Romane schreiben. Übrigens verspüre ich keine Lust, mich in eine weitere Behandlung dieses Gegenstandes einzulassen. Die Herren sind ja auch nicht zu mir, sondern zur — Dichterin gekommen. Ich darf die literarischen Konferenzen nicht länger stören.“ Er erhob sich mit gemachtem Gähnen, trat schwerfällig auf Elsa zu und küßte sie flüchtig auf die Stirn. „Gute Nacht, mein Kind.“

„Du willst dich wirklich schon zurückziehen?“ fragte sie. Man sah ihr die innere Ratlosigkeit an, in der sie sich befand.

„Gewiß, ich bin müde und schläfrig. Recht gute Nacht, meine Herren!“ Er verbeugte sich dabei nur vor mir und schritt nach dem Nebenzimmer; Elsa folgte ihm bis zur Tür.

Ich hatte genug, stand auf und suchte nach meinem Hute; Frauenlob, an seinem Ingrimm würgend, blieb sitzen.

„Sie wollen schon fort?“ fragte Elsa, zurückkehrend und in einem Tone, der bewies, welche Erleichterung ihr dies wäre.

„Allerdings“, entgegnete ich, nach der Uhr sehend. „Die Stunde ist vorgerückt, und Sie wissen, ich habe einen weiten Weg. Sie bleiben noch?“ wandte ich mich bedeutsam an meinen Begleiter.

Dieser sah unschlüssig vor sich hin, dann sprang er auf.

„Ich wollte allerdings noch einiges Wichtige mit Frau Elsa verhandeln, allein in solcher Stimmung — — In der Tat, gnädige Frau,“ — er trat vor sie hin — „es bedarf des ganzen Umfanges meiner Verehrung und Bewunderung für Sie — —“

„Ach mein Gott, lieber Doktor,“ unterbrach sie ihn, „Sie sollten Röber doch schon ein wenig kennen. Er ist nun einmal so — er hat den Kopf voller Sorgen, die ihn übellaunig machen — und da — — Allerdings hat er sich heute unverantwortlich benommen. Und ich muß doppelt bedauern — Ihretwegen —“ Sie sah mich dabei ausdrucksvoll und gleichsam um Nachsicht flehend an. „Was werden Sie von uns denken?“

„Besorgen Sie nichts, gnädige Frau“, erwiderte ich. „Ich bin nicht so leicht verletzt. Vielmehr habe ich Sie recht sehr um Verzeihung zu bitten. Denn gewiß war es mein so ganz unvorbereiteter Besuch, zu dem ich mich nie und nimmer hätte entschließen sollen, was zur unliebsamen Verstimmung dieses Abends wenigstens beigetragen hat.“

„O, glauben Sie das nicht“, sagte sie hastig. Dann, sich Frauenlobs besinnend, fuhr sie einlenkend fort: „Wie immer auch, überzeugt können Sie sein, daß es mir sehr angenehm war, Sie kennen gelernt — oder besser gesagt, wiedergesehen zu haben. Und ich würde Sie jedenfalls bitten, Ihren lieben Besuch zu erneuern, wenn ich das unter solchen Umständen noch wagen dürfte.“

„Je nun, man wird ja im Leben immer wieder zusammengeführt. Für heute nehmen Sie die Versicherung, daß ich, was mich selbst betrifft, den verunglückten Abend keineswegs bedauere.“

Ich drückte die Hand, die sie mir reichte. Dann geleitete sie uns in die Küche, wo sie die Magd weckte, die auf einem Stuhle eingeschlafen war und sich jetzt anschickte, uns durch den dunklen Flur nach dem bereits gesperrten Haustor zu leuchten.

„Ich komme morgen Nachmittag,“ sagte Frauenlob im Fortgehen; „hoffentlich finde ich Sie allein.“

Sie erwiderte nichts und rief uns nur mit gedämpfter Stimme „Gute Nacht“ nach.

Kaum auf die Gasse getreten, rief mein Begleiter, in welchem es noch immer zu kochen schien: „Der Unverschämte! Und Sie, mein Bester, haben mich mit keinem Worte unterstützt!“

„Was hätte ich sagen sollen? Ich begreife auch gar nicht, wie Sie sich so ereifern konnten. Dem Manne sind eben die neuen Beziehungen seiner Frau — oder Geliebten unangenehm. Er hat sich im ganzen doch nur wie ein Eifersüchtiger benommen.“

„Eifersüchtig? Er liebt sie gar nicht. Seine Eitelkeit ist verletzt, weil er sich mit einem Mal von einer Frau geistig überragt sieht, die er bis jetzt nur als eine willfährige Magd betrachtet hatte.“

„Möglich. Übrigens scheint er mir geistig durchaus nicht so tief stehend.“

„Ach was! Ein Hohlkopf ist er, der obendrein an Größenwahn leidet. Haben Sie gehört, wie er mit den Hunderttausenden herumwarf?“

„Je nun, er scheint sich mit weitgehenden geschäftlichen Spekulationen zu befassen. Und da wäre es ja in unserer Zeit des raschen Gelderwerbes immerhin denkbar, daß ihm irgend eine Kombination glückt.“

„Sagen Sie lieber irgend ein Schwindel. Der Mensch besitzt alle Anlagen, um früher oder später mit dem Strafgerichte Bekanntschaft zu machen.“

„Auch das ist nicht ausgeschlossen. Es walten hier überhaupt Verhältnisse ob, in welche man sich am besten gar nicht einmischt. Auch Sie, denk’ ich, sollten sich zurückziehen.“

„Zurückziehen? Ich? Nachdem ich schon so weit vorgedrungen? Nein, da kennen Sie mich schlecht, Verehrter! Dieser Frau müssen die Augen geöffnet, sie selbst auf die Bahn gebracht werden, die sie zu schreiten berufen ist. Ich interessiere mich sehr für sie — und zwar, wie ich Ihnen ganz offen bekennen will, nicht bloß für die Schriftstellerin.“

„Wenn das der Fall ist, dann stehen Ihre Aussichten nicht sehr günstig. Denn wenn Sie vielleicht auch recht haben, daß er sie nicht liebt: sie liebt ihn gewiß leidenschaftlich.“

„Nun ja! Das mag sein!“ rief er, ärgerlich über die Wahrheit, die mein Ausspruch enthielt. „Aber das kann sich auch ändern. Die Hauptsache ist, daß sie erkennt, an welchen Mann sie sich da gekettet hat. Daher muß man ihr eine literarische Stellung schaffen; ist ihr Ehrgeiz einmal geweckt, dann ergibt sich alles weitere von selbst.“

„Je nun, Sie sind Herr Ihrer Beschlüsse.“

Wir waren inzwischen auf der Freiung angelangt, wo die erleuchtete Uhr der Schottenkirche eine halbe Stunde vor Mitternacht wies.

„Werden Sie noch auf einen Tramwaywagen stoßen?“ fragte er kühl und offenbar verletzt durch meine zweifelhafte Zustimmung.

„Ich denke wohl, daß es noch nicht zu spät wäre. Aber ich ziehe es jedenfalls vor, zu Fuß zu gehen. Die Nacht ist hell und angenehm.“

„Nun, dann leben Sie wohl! Ich kehre um.“

Wir verabschiedeten uns ziemlich gemessen voneinander; dann trat ich beim Schein des Halbmondes, an welchem, querüber, ein regungsloser dunkler Wolkenstreif stand, den Heimweg an.

VI.

Der „Roman einer Frau“ war in der Tat erschienen. Frauenlob hatte dafür einen jungen, aufstrebenden Buchhändler gewonnen, der in pikanten Verlagsartikeln sein Heil zu finden hoffte und auch ein verhältnismäßig nicht unbedeutendes Honorar zahlte. Der Erfolg entsprach allerdings nicht ganz den ausschweifenden Erwartungen der beiden Herren; aber es war immerhin ein Erfolg, der fast ganz mit meinen Voraussetzungen zusammentraf. Von der maßgebenden Kritik anfänglich gar nicht beachtet, fand das Buch doch den Weg in das lesende Publikum und wurde vornehmlich von Frauen, die in offenkundiger oder verheimlichter Mißehe lebten, mit einer Art persönlicher Anteilnahme gepriesen. Infolgedessen drang es denn allmählich auch in literarische Kreise; man prüfte, fand, was ich gefunden, und hielt mit mehr oder minder einschränkender Anerkennung nicht zurück. So kam es, daß der Name der Verfasserin ein mehrfach genannter wurde, sie selbst aber hier und dort als interessante Erscheinung auf der Bildfläche der Öffentlichkeit auftauchte. Wie weit dies alles in ihr bisheriges Leben verändernd eingriff, blieb mir unbekannt. Denn in meinen eigenen Verhältnissen war inzwischen ein Umschwung eingetreten, welcher, seit längerem vorbereitet, mich zu dem Entschlusse bestimmt hatte, Wien zu verlassen und einen anderen Aufenthaltsort zu wählen; ich war abgereist, ohne Elsa Röber wieder gesehen zu haben. Frauenlob, der mich seit jenem Abend auffallend vernachlässigt hatte, war beim Abschiede sehr kühl und wortkarg, indem er das schweigende Selbstbewußtsein eines Mannes hervorkehrte, der in stolzer Zurückhaltung bloß die Tatsachen für sich sprechen läßt.

Ich würde also in meiner Abgeschiedenheit aller dieser Ereignisse und Zusammenhänge immer weniger gedacht haben, wenn mich nicht jetzt ab und zu die Zeitungen daran gemahnt hätten. Ich stieß auf Notizen über Elsa Röber, auf literarische, sowie auf solche, welche bloß Persönliches enthielten. So wurde sie auch in einer Schilderung des glänzenden Festes, das während des Karnevals in den Atelierräumen eines berühmten Malers stattgefunden, unter den Damen genannt, welche durch blendende Erscheinung und prachtvolles Kostüm besonders aufgefallen waren.

Da erhielt ich im Frühling von Frauenlob ganz unvermutet ein Buch zugesendet. Er war, wie sich zeigte, wieder einmal „schöpferisch“ tätig gewesen und hatte unter sehr verlockendem Titel einen Band Erzählungen herausgegeben, welche in der Tat bewiesen, daß es ihm weit weniger an Talent, als an Geschmack und innerer Reife gebrach. Eine dieser Erzählungen, und zwar die längste von allen, konnte sogar als gelungen bezeichnet werden, und ich war froh, ihm dies in warmen Worten mitteilen zu können. Mich bei dieser Gelegenheit nach Elsa zu erkundigen, unterließ ich nach einiger Überlegung, es gewissermaßen ihm selbst anheimstellend, ob er mir in dieser Hinsicht Nachricht geben wolle oder nicht. Ich empfing von ihm auch sofort ein längeres Schreiben, welches nebst seinem Danke für meine Anerkennung folgendes enthielt:

„Und nach Elsa Röber fragen Sie nicht? Das ist mir ein Beweis, daß Sie sich um diese Frau gar nicht mehr kümmern. Dennoch dürfte es Sie interessieren, zu erfahren, daß ich meine Beziehungen zu ihr abgebrochen habe. Und zwar vollständig und für immer. Denn sie ist infolge ihres literarischen Debüts mit Kreisen in Berührung gekommen, die mir durchaus nicht zusagen. Überdies hat sich merkwürdigerweise der Ausspruch, den Sie, wie Sie sich noch erinnern werden, einst über Röber getan, insofern bewahrheitet, als es diesem wirklich gelungen ist, die an jenem denkwürdigen Abend aufs Tapet gebrachte Angelegenheit in Fluß zu bringen. Er vermittelt jetzt, so heißt es, bedeutende Exporte nach allen Balkanländern, und Sie begreifen, daß er sich bereits auf den kleinen Krösus hinausspielt. Die enge Stadtwohnung ist aufgegeben, eine weitläufige in einem vornehmen Neubau bezogen worden. Kleine Diners finden dort statt, sowie größere Abendgesellschaften, an welchen neben einigen fragwürdigen Geschäftsexistenzen auch gewisse Schmarotzer teilnehmen, die den Ruhm der Hausfrau in die Welt posaunen. Dieses alles würde übrigens noch hingehen, wenn nicht auch sie angefangen hätte, sich (wie lächerlich!) auf die große und vornehme Dame hinauszuspielen — und sogar mir, dem sie in schlimmer und schlimmster Zeit ihren Erfolg (der ja auch ein pekuniärer war!) zu danken hatte, mit Herablassung und Geringschätzung zu begegnen. Da ich aber keineswegs der Mann bin, solches zu dulden, so habe ich ihr, nachdem sie mich einmal über eine Stunde hatte antichambrieren lassen, meine Meinung rund heraus gesagt und sie ihrem Schicksal überlassen. Dieses wird kein sehr freundliches sein; denn Leuten wie Röber gegenüber bleibt das Sprichwort aufrecht: Wie gewonnen, so zerronnen. Übrigens kann mir alles weitere um so gleichgültiger sein, als ich selbst neue Wege einzuschlagen gedenke. Hören und staunen Sie: auch ich verlasse Wien. Allerdings nicht, um mich, gleich Ihnen, in beschauliche Einsamkeit zurückzuziehen. Ich will mich vielmehr aus unseren stagnierenden, absterbenden Zuständen heraus so recht ins Volle und Aufstrebende stürzen — kurz: ich will trachten, in der Hauptstadt des Deutschen Reiches Boden zu gewinnen. Für einen Österreicher keine leichte Aufgabe, werden Sie sagen. Gewiß. Aber ich schrecke vor Schwierigkeiten nicht zurück. Man hat in Berlin einen sehr bezeichnenden Ausdruck erfunden: das Epitheton „schneidig“. Nun, einige „Schneidigkeit“ werden Sie mir, wie Sie mich kennen, wohl zugestehen müssen — und daraufhin will ich es wagen. Jedenfalls werde ich diesen Sommer daran setzen, die dortigen literarischen Verhältnisse eingehend zu studieren — und mich überhaupt umzutun. Gelingt es mir nicht, feste Anknüpfungspunkte zu finden — dann erübrigt mir freilich nichts anderes, als wieder zur alten Wiener Tretmühle zurückzukehren. Unter allen Umständen aber erhalten Sie aus der deutschen Metropole Nachricht von Ihrem usw.“

So also standen nunmehr die Dinge, deren Entwicklung ich bald wieder aus den Augen verlor. Denn immer seltener wurde jetzt in den Blättern, die mir zu Gesichte kamen, Elsa Röber erwähnt; es ließ sich erkennen, daß man über sie, die ihrem ersten kein zweites Werk hatte folgen lassen, bereits wieder zur Tagesordnung übergegangen war. Nur einmal noch, nach ziemlich geraumer Zeit, stieß mir eine Notiz auf: Frau Elsa Röber habe zur Errichtung eines Kinderasyls eine sehr namhafte Summe beigesteuert. Ich stutzte. Wollte sie vielleicht mit dieser Spende Gewissensregungen beschwichtigen und an fremden Kindern gutmachen, was sie einst an den eigenen verbrochen? Fast schien es mir so. Es konnte indessen auch bloße soziale Eitelkeit sein, was sie antrieb, als öffentliche Wohltäterin zu glänzen. Eines aber war damit bewiesen: daß sich Röber noch immer im Stadium des „Gewinnens“ befand.

Was Frauenlob betraf, so hatte er mir zwar von Berlin aus voll stolzer Zuversicht und weitgehender Erwartungen geschrieben, auch später unter Kreuzband ein paar Artikel zugesendet, die in dortigen Blättern erschienen waren; fernere Resultate jedoch ließen auf sich warten.

VII.

Ein Jahr später führten mich die Verhältnisse auf kurze Zeit wieder nach Wien. Es war im Frühsommer, und die helle Stadt schimmerte in vollem Blütenschmuck ihrer öffentlichen Anlagen. Dennoch hatten viele meiner Bekannten sich bereits aufs Land begeben. Einer von ihnen stellte mir in seiner verlassen stehenden Wohnung ein Zimmer zur Verfügung, welches ich eigentlich nur zum Schlafen benützte. Ich empfing niemanden, ging ziemlich unbeachtet meinen Geschäften nach und gab mich nebenher im stillen den Genüssen hin, welche Wien und seine nächste Umgebung in dieser schönen Jahreszeit darbieten.

So hatte ich mich auch an einem strahlenden Sonntagsmorgen zu einer Fahrt nach Schönbrunn entschlossen. Ich wollte da draußen, etwa im Jägerhause, frühstücken und hierauf wieder einmal den herrlichen Park nach allen Richtungen durchstreifen, wollte mich später auf eine Bank niederlassen, die sonnigen, rasenumsäumten Blumenbeete des Parterres, die weißen Marmorgruppen in den Nischen der Laubwände, das freundliche Schloß mit seinen grünen Jalousien vor Augen — und mich dabei in längst vergangene Zeiten, in alte teuere Erinnerungen zurückträumen ......

Das führte ich denn auch alles aus — und darüber war es Mittag geworden. Ich dachte nun bei „Dommayer“ zu essen, nachmittags aber bei Verwandten vorzusprechen, die in Penzig wohnten, und welche ich seit einer Reihe von Jahren nicht mehr aufgesucht hatte.

Während ich mich jetzt dem nach Hietzing führenden Ausgang des noch ziemlich menschenleeren Parkes näherte, kamen mir in der breiten Doppelallee zwei hohe, vornehm aussehende Frauengestalten entgegen. Die eine von ihnen schien mir sehr bekannt; unwillkürlich blickte ich sie forschend an — und sah, nun schon ganz in der Nähe, daß ich Elsa Röber vor mir hatte.

Auch sie war, wie ich bemerken konnte, auf mich aufmerksam geworden, und ungeheuchelte Freude des Wiedersehens malte sich jetzt in ihren Zügen.

„Ah, Sie sind in Wien!“ rief sie, stehenbleibend und mir die Hand entgegenstreckend, die ich mit einiger Verlegenheit ergriff. „Seit wann sind Sie denn hier? — Aber ich muß Sie bekannt machen“, fuhr sie mit einem Blick auf ihre Begleiterin fort, die mich stolz und zurückhaltend betrachtete. „Meine Freundin Frau von Ramberg — Herr —.“

Ich hatte inzwischen herausgefunden, daß mir auch diese Dame, welche eine Art Männerhut und einen leichten Halbschleier trug, nicht ganz fremd war; denn sie gehörte zu jenen Erscheinungen, mit welchen mich die weitläufigen gesellschaftlichen Beziehungen, die ich in früherer Zeit noch unterhielt, hier und dort flüchtig zusammengeführt. Sie war die Frau eines Konsulatsbeamten und mit diesem ziemlich weit in der Welt herumgekommen; seit sie aber von ihm getrennt lebte, hatte sie Wien zu ihrem ständigen Aufenthaltsorte gewählt, wo sie eine rege gemeinnützige Wirksamkeit zu entfalten suchte. Sie beschäftigte sich viel mit der Frauenfrage, war Mitglied mehrerer weiblichen Vereine; ja sie hatte sogar an der Klinik eines berühmten Chirurgen einen Pflegerinnenkurs durchgemacht, dessen Frucht eine kleine Broschüre über diesen Gegenstand war. Sie galt für geistig sehr bedeutend, aber auch für hochmütig und ränkesüchtig; die Männer behandelte sie mit kühler Herablassung und schloß sich mit Vorliebe an Frauen an.

Sie erwiderte nunmehr meine Verbeugung mit einem gemessenen Kopfnicken.

„Und bleiben Sie jetzt hier?“ fragte Elsa weiter.

„Keineswegs. Ich bin nur auf ganz kurze Zeit gekommen — gleichsam inkognito —“

„Das ist schade. Ich begreife übrigens, daß man es vorzieht, auf dem Lande zu leben. Die Ruhe ist so wohltuend. Auch wir wollen jetzt beständig in Hietzing wohnen, wo wir eine Villa gekauft haben. Wußten Sie vielleicht davon?“

„Nein.“

„Weil Sie sich auch gar nicht um so alte Bekannte kümmern! Aber kommen Sie doch ein wenig mit uns. Man hat mir Bewegung verordnet, und da laufe ich denn die Alleen hier ab.“

Ich konnte nicht umhin, mich anzuschließen und fand mich allmählich in die so unvermutete Situation. Hatte ich doch kaum mehr der Frau gedacht, die jetzt neben mir herschritt! Sie war schlank geblieben und sah bei näherer Betrachtung etwas gealtert aus; vor allem hatte ihr Teint und der Schmelz der Zähne bedeutend gelitten. Aber ihre Züge waren feiner, vergeistigter geworden, und ein schwermütiger, schmerzlicher Zug um Augen und Mund verschönte sie eigentümlich. Ein Morgenkleid aus rot gemustertem Foulard und ein großer weißer Spitzenhut vollendeten ihre tadellose Erscheinung. Ja, sie war in Haltung und Miene, in Wort und Gebärde wahrhaftig eine „Dame“ geworden. Der Wiener Dialekt, der ihr eigentlich niemals stark angehaftet und welchen sie im Verkehr mit Röber, der ein sehr reines Deutsch sprach, schon früher so ziemlich abgestreift hatte, war jetzt bis auf einige leichte und gemütliche Anklänge aus ihrer Rede verschwunden. Was nicht das Geld bewirkt! So dacht’ ich im stillen, während ich das kostbare Parfüm einatmete, das in einem feinen Hauche von ihr ausging.

„Wissen Sie,“ begann sie nach einigen schweigend zurückgelegten Schritten, „daß ich Ihnen schon schreiben wollte?“

„Mir? Gewiß in einer literarischen Angelegenheit?“

„O keineswegs!“ erwiderte sie rasch mit leichtem Erröten, „Sie erinnern sich doch — ich sagte Ihnen ja, daß ich eigentlich keinen Beruf zur Schriftstellerin in mir fühle.“

„Man muß es ihr glauben, da sie es behauptet“, warf Frau von Ramberg, halb zu mir gewendet, mit ihrer etwas dünnen und knöchernen Stimme ein. „Sie hat aber trotzdem einen neuen Roman zu schreiben begonnen.“

„Nun ja; ich bin jetzt wieder oft allein — und da muß ich doch die Zeit mit irgend etwas hinbringen. Aber es ist nur für mich; Sie wissen ja, es macht denen, die mir am nächsten stehen, keine Freude.“

„Daran würde ich mich in der Tat nicht kehren“, sagte die andere scharf.

„Ach lassen Sie das jetzt, liebe Euphemie“, erwiderte Elsa mit einem bittenden Blick. Und dann zu mir: „Aber sagen Sie doch, wohin wollten Sie eben? Was haben Sie für heute vor?“

„Ich wollte zu Dommayer —“

„Zu Dommayer? Essen Sie doch lieber mit uns!“

„Wie könnt ich — —“

„O ich verstehe. Sie haben noch jenen unseligen Abend im Gedächtnisse. Aber Sie werden heute alles anders finden — und auch ein paar Freunde von uns — eine ganz kleine Gesellschaft —“

„Die ich nicht kenne.“

„Der Architekt K.... und der Musiker H... werden Ihnen doch nicht fremd sein?“ sagte die Ramberg spitz, indem sie in die Luft sah.

„Und der junge Maler R... gewiß auch nicht“, setzte Elsa dringend hinzu. „Er tritt jetzt ganz in die Fußtapfen Lenbachs und Fritz Kaulbachs. — Und was den Hausherrn betrifft, so hatte er sich damals absichtlich so schroff benommen — und es auch gleich darauf bereut — Ihretwegen. Nur der Doktor war ihm äußerst verhaßt — und wie ich jetzt zugeben muß, nicht mit Unrecht.“

„Nun —“

„Ich weiß, was Sie sagen wollen. Er hat sich mit dem Roman sehr bemüht — hat mir, ich geb’ es gerne zu, in böser Zeit einen großen Dienst erwiesen. Und ich wäre ihm auch gewiß dankbar gewesen — aber er wollte sich sofort bezahlt machen.“

Sie erhob das Haupt und blickte wegwerfend zur Seite.

„Von wem ist die Rede?“ fragte Frau von Ramberg.

„Ach von —“ Elsa nannte den Namen.

„Das ist aber doch ein höchst geistvoller Mensch“, sagte die andere sehr bestimmt. „Wie ich höre, lebt er jetzt in Berlin?“

„Ich glaube“, warf ich leicht hin, da ich nicht recht wußte, was ich erwidern sollte.

„Also nicht wahr, Sie kommen?“ wandte sich jetzt Elsa wieder an mich. „Um drei Uhr. Hetzendorferstraße.“ Sie fügte die Nummer bei.

Aber ich trug durchaus kein Verlangen, dort zu speisen, und brachte meinen beabsichtigten Besuch in Penzig vor.

„Ach, den können Sie ja inzwischen abtun!“

„Nun ja, aber —“

„Kein aber! Bitte, kommen Sie! Ich hätte Ihnen so manches zu sagen —“

„Ich kann ja nach Tisch erscheinen.“

„Sie würden uns vielleicht nicht antreffen; denn wir fahren wahrscheinlich nach Tisch aus.“

„Nun, wenn dieser Herr gar so viele Umstände macht —“ sagte Frau von Ramberg und zog die Schultern in die Höhe.

„Nein, nein! Ich habe ihn nun einmal und lasse ihn nicht wieder los. Wer weiß, ob ich ihn sonst jemals wieder sehe, da er ja nicht hier bleibt — und auch ich schon in den nächsten Tagen abreise. — An die See — oder ins Gebirge“, setzte sie mit leiserer Stimme, zu mir gewendet, hinzu. „Ich bin sehr leidend — meine Nerven sind zerrüttet —“

Ich blickte sie an. In der Tat: der schmerzliche Zug in ihrem Antlitz trat jetzt schärfer hervor, und ihr Blick hatte etwas Erloschenes.

„Nun denn,“ sagte ich, unwillkürlich nachgebend, „ich werde erscheinen.“

„Schön!“ rief sie. „Und nun machen Sie Ihren Besuch!“

Ich verabschiedete mich von den Frauen und begab mich über den schwankenden Kettensteg nach Penzig. Dort traf ich, wie dies meistens in ähnlichen Fällen zu geschehen pflegt, niemanden von der Familie, die ich wieder sehen wollte, zu Hause. Man hatte vereint für den ganzen Tag einen weiteren Ausflug unternommen.

VIII.

So begab ich mich denn doch zu Dommayer und blieb dort bis hart an drei Uhr sitzen. Endlich betrat ich die Hetzendorfer Straße und dachte beim Anblick der neuen schimmernden Villen an die unscheinbare Reihe schlichter, kleiner Landhäuser, welche in früherer Zeit hier gestanden.

An Ort und Stelle angelangt, wurde ich von einem Livreediener in einen großen, ebenerdigen Salon geführt, wo der Hausherr mit sechs männlichen Gästen bereits anwesend war. Ich sah, daß Röber bei meinem Erscheinen leicht errötete, und er konnte seine Verlegenheit nicht ganz bemeistern, während er mir mit ausgesuchter Höflichkeit entgegenschritt.

„Elsa hat mir gesagt, daß wir heute das Vergnügen haben würden, Sie zu empfangen; ich freue mich außerordentlich. Die Damen werden wohl gleich erscheinen; darf ich Sie einstweilen mit diesen Herren bekannt machen?“

Der Architekt, ein behäbiger, jovialer Lebemann und infolge des feinen Kunstsinnes, den er als Hersteller geschmackvoller Interieurs bewährte, in den vornehmsten Kreisen gesucht und beliebt, war schon auf mich zugekommen und schüttelte mir die Hand, während der Musiker H..., ein ergrauter Apostel Richard Wagners, sich mit einem apathischen Kopfnicken begnügte. Der Maler, schlank und blond, der mir bloß dem Namen nach bekannt war, verneigte sich mit verbindlicher Schüchternheit wie ein junges Mädchen.

Ganz unbekannt waren mir: Herr Malinsky, Geschäftsfreund Röbers; eine hagere Gestalt mit fast kahl geschorenem Haupte, aber endlos nach rechts und links abstehendem Backenbarte. Sein Antlitz war schlaff und durchfurcht, sein Blick matt und doch durchdringend wie der eines Croupiers. Dann ein schmächtiger Jüngling mit nachlässiger, vornüber gebeugter Haltung, dünner Habichtsnase, ein rundes Stück Glas ins rechte Auge geklemmt. Er wurde mir als Baron Conimor vorgestellt und bemühte sich, verständnisinnig zu lächeln, als ihm mein Name genannt wurde. Dabei sah man ihm die Zuversicht an, daß der Nimbus kolossalen Reichtums, der den seinen umstrahlte, keineswegs verfehlen würde, die richtige Wirkung zu tun. Ganz zuletzt tauchte, gewissermaßen wie aus einem Versteck, ein kleiner dicker Mann mit Säbelbeinen, ungeheuerer Stirn und wulstigen Lippen über dem verschwindend kurzen Kinn auf: der Direktor des neuen Kinderasyles. Er verneigte sich linkisch und sah in seinem zwar ganz neuen, aber sehr schlecht sitzenden schwarzen Anzuge zwischen den in geschmackvolle Sommertracht gekleideten Anwesenden wie ein Leichenbitter aus. Den vornehmsten Eindruck machte Röber. Er war wieder ganz die stramme, tadellose Erscheinung von früher. Sein Scheitel war freilich gelichtet geblieben; aber dieser Mangel ließ die Stirn freier und schöner hervortreten, wie denn überhaupt seine Züge, wie sich nun zeigte, mit den Jahren an Bedeutung gewonnen hatten. „Was nicht das Geld vollbringt!“ dachte ich wieder still bei mir.

Jetzt öffnete sich die Tür, und die beiden Damen traten ein. Aller Augen blickten ihnen entgegen und leuchteten, mit Ausnahme der grauen und kalten Röbers, in Bewunderung für die Hausfrau auf.

Elsa sah nun auch wirklich überraschend schön aus, und man kam hier wieder einmal zur Einsicht, welche Rolle die Ankleidekunst im Leben einer verblühenden Frau spielt. Eine knappe, spitzenverbrämte Robe von gelblicher Farbe, herzförmig ausgeschnitten und in der linken Achselgegend mit blassen Rosen geschmückt, zeigte ihren Wuchs in harmonischer Schlankheit; die eben in Mode gekommene schlichte und glatte Haartracht, mit dem kleinen englischen Knoten im Nacken, ließ sie um so jugendlicher erscheinen, als der krankhafte Gesichtsausdruck in diesem Augenblicke gänzlich verschwunden war. Erst jetzt bemerkte ich, daß die Haare einen starken Schimmer ins Rote aufwiesen, der offenbar künstlich hergestellt war, wie man denn überall die verhüllende, nachbessernde und verschönende Hand wahrnehmen und verfolgen konnte. Dennoch lag über der ganzen Gestalt eine köstliche aromatische Frische, an der man ebenso wenig zweifeln mochte, wie an der Echtheit der Brillant-Boutons, die an den rosigen Ohren der schönen Frau gleich großen Tautropfen funkelten.

Als gerader Gegensatz erschien Frau von Ramberg, obgleich auch sie sich in den Gemächern der Hausfrau mit etwas Reispulver angefrischt und den spärlichen Brauenwuchs über den wasserblauen Augen sorgfältig nachgedunkelt hatte. Ihr Gesicht erwies sich nun ohne Schleier als nicht unhübsch: kleine, gekniffene Züge, denen ein bedeutungsvoller Ausdruck aufgezwungen war. Sie trug das fahlblonde Haar rund abgeschnitten und zu einer kunstvollen Kräuselfülle aufgebauscht, was ihr im Verein mit der stolzen Kopfhaltung und einem schwarz geränderten Kneifer, den sie nunmehr, weiß Gott warum, auf die Stumpfnase gesetzt hatte, fast das Aussehen eines jungen Mannes verlieh; auch der hagere, eckige und von einem übertrieben einfachen Kleide bis an das Kinn hinauf umschlossene Leib stimmte dazu. So hatte denn die ganze Erscheinung etwas Zwiespältiges, das leicht ein Lächeln hätte hervorrufen können, aber der scharfe, böse Zug um die schmalen, blutlosen Lippen der Dame mahnte zur Vorsicht.

Elsa, ein prachtvolles Bukett von Rosen und Hyazinthen in der Rechten, bot mir mit einem Blick der Befriedigung rasch die Linke zu flüchtigem Drucke. „Schön, daß Sie Wort gehalten haben!“ Dann begrüßte sie die Gesamtheit der übrigen Herren mit einer anmutigen Kopfbewegung und trat auf den Direktor zu. Dieser sagte unter zahllosen Bücklingen, er habe seinen Sonntag benützt, um der großherzigen Gönnerin vor der Badereise noch Kunde von ihren lieben Schützlingen zu bringen. Der Herr Gemahl sei so liebenswürdig gewesen und habe ihn aufgefordert, beim Diner zu bleiben.

„Sehr willkommen“, erwiderte Elsa, deren Züge einen innig ernsten, fast andächtigen Ausdruck angenommen hatten. „Hoffentlich gedeihen die Kleinen und sind zufrieden. Wir wollen bei Tisch weiter davon sprechen.“ Dann wandte sie sich, wie mir schien, mit etwas gezwungener Liebenswürdigkeit an Conimor. „Und Ihnen, Baron Sigi, muß ich sehr danken für das wundervolle Bukett — sowie für die anderen Blumen, die Sie mir neuerdings haben senden lassen. Es ist sehr lieb von Ihnen — aber was wird Ihr Papa sagen, wenn Sie die Treibhäuser derart plündern? Nicht wahr, Leo?“ Sie blickte nach Röber; dieser aber zuckte bloß die Achseln.

„Ach was, Papa!“ lachte Conimor gedehnt. „Der tut’s ja selbst — wenn auch mehr im geheimen.“

„Das muß wahr sein“, warf der Architekt ein, der als gutmütiger Spottvogel bekannt war. „Conimor Vater und Sohn ersticken die Frauen Wiens mit Blumen.“

„Nur die schönen, wenn ich bitten darf“, versetzte der Baron, Elsa, indem er den Kopf leicht hin und her wiegte, mit den Augen verschlingend. „Übrigens — unsere Gärten vertragen es. Sie wissen doch, daß wir zur Vergrößerung der Anlagen in Nußdorf wieder einige Joch Terrain erworben haben?“

„Und einen Gartendirektor aus England“, warf der Maler ein.

„Ja — aber auch der leistet nichts Besonderes, nichts Außergewöhnliches. Rosen — und immer wieder nur Rosen. Das wird am Ende langweilig. Soll einer einmal eine ganz neue Blume erfinden!“

„Das dürfte freilich schwer halten“, sagte der Architekt. „Aber bringen Sie selbst einmal Abwechselung in den Gegenstand. Geben Sie statt der Rosen andere Gewächse, zum Beispiel Passifloren.“

Conimor öffnete ein wenig den Mund und sah in die Luft. „Passifloren?“

„Gewiß“, fuhr der andere fort. „Und da ließe sich vielleicht eine ganze neue Spielart zuwege bringen; die können Sie dann Passiflora Conimor nennen.“

Passiflora Conimor“, wiederholte der Baron gedankenlos, denn er starrte wieder nach Elsa, die sich inzwischen von ihm entfernt hatte.

In diesem Augenblicke wurden die Türflügel des anstoßenden Speisezimmers geöffnet, und ein Diener in schwarzem Frack meldete, daß serviert sei.

Elsa schob leicht ihren Arm unter den meinen; Röber führte Frau von Ramberg, die mit dem Direktor ein Gespräch begonnen hatte, und wir ließen uns alle an dem Tische nieder, der mit kostbarer Einfachheit gedeckt war: schweres Linnen, schwere Kristallgläser, massives Silber. Keine Blumen (denn wie mir Elsa zuflüsterte, liebte Röber sie nicht auf der Tafel); nur eine alte getriebene Fruchtschüssel, in welcher, von großen Gartenerdbeeren umgeben, eine Ananas goldig erglänzte, hob sich farbig von dem funkelnden und schimmernden Weiß ab. Auch das Menu sprach für den Geschmack der Wirte: wenige Gänge, aber ausgesuchte, seltene Gerichte; Bordeaux und Champagner.

Elsa saß zwischen mir und dem Direktor. Dieser hatte gleich nach der Suppe seinen Bericht begonnen, den er, von teilnehmenden Fragen der Hausfrau des öfteren unterbrochen, mit einem salbungsvollen Sermon über den Segen der modernen Humanität schloß. Die Unterhaltung wurde nun allgemein. Conimor gab die neueste Turfanekdote zum besten. Man kannte sie aber schon und sie fand daher wenig Anklang. Die Künstler sprachen selbstverständlich von allerlei, das in ihr Fach schlug: der Maler von dem Bismarckbildnisse Lenbachs, der Architekt von einem verfallenen Schlößchen, das ein Graf X in Tirol gekauft habe und dessen Restaurierung demnächst in Angriff genommen werden sollte, der Musiker von der Aufführung des Parzival, die in Bayreuth bevorstand. Meine Tischnachbarin zur Linken, Frau von Ramberg, gab mir sehr eindringlich ihre Begeisterung für einen norwegischen Dichter zu hören, welcher eben damals mit seinen Dramen Aufsehen erregte, später aber durch Henrik Ibsen vollständig verdrängt wurde. Röber überwachte mit scharfen Blicken den Fortgang des Diners, während er mit dem neben ihm sitzenden Malinsky von Zeit zu Zeit einige vertrauliche Worte wechselte.

Nicht allzu lange dauerte es, so wurde die Tafel aufgehoben, und man begab sich, um den Kaffee zu nehmen, in den Salon, da einstimmig erklärt wurde, auf der Terrasse sei es noch zu heiß.

Nachdem der Direktor seine Tasse und ein Gläschen Chartreuse geleert hatte, bewegte er sich, eine der schweren Zigarren, die Röber seinen Gästen dargereicht, unangezündet zwischen den dicken Fingern, verlegen auf seinem Stuhle hin und her. Endlich erhob er sich und stammelte, man möge verzeihen, daß er sich leider entfernen müsse. Er habe eine Verabredung mit seiner Frau getroffen, die ihn in Schönbrunn erwarte.

Elsa reichte ihm sehr freundlich die Hand, die er untertänig an die wulstigen Lippen drückte. Wie schön, wie weiß war jetzt — ich hatte sie schon bei Tisch bewundert — diese Hand, an deren schlankem Goldfinger ein prachtvoller Saphir glänzte.

„Ich hoffe, vor meiner Abreise Ihre Zöglinge noch persönlich aufsuchen zu können; wenn nicht, so erhalten Sie jedenfalls das Bewußte zugesendet.“

Kaum war der Direktor, der sich in der Nähe der Tür noch einmal mit einem tiefen Knix umgewendet hatte, wobei er nach Weiberart an seine langen Rockschöße griff, verschwunden, als auch Röber sich erhob.

„Ich muß ebenfalls aufbrechen,“ sagte er, „und kann nur bedauern, die Gegenwart so angenehmer Gäste nicht länger genießen zu können.“

Man sah, wie Elsa erbleichend zusammenzuckte. „Wie?“ fragte sie mit gepreßter Stimme, „du willst fort? Du hast doch versprochen, den Abend hier zuzubringen — endlich einmal“, setzte sie leiser hinzu.

„Ja, ich habe es versprochen“, erwiderte er kalt. „Aber ich kann mein Versprechen nicht halten. Eine wichtige Angelegenheit zwingt mich, nach der Stadt zu fahren.“

„Heute? An einem Sonntag?“ fragte Frau von Ramberg spitz.

„Meine Angelegenheiten kennen keinen Sonntag, gnädige Frau.“ Dann wandte er sich zu Elsa. „Malinsky wird es dir bestätigen; er kommt mit mir.“

„Allerdings“, sagte dieser, indem er seine durchfurchte Stirn noch mehr in horizontale Falten legte. „Es geht nicht anders, Verehrte.“ Er erhob sich zum Abschied.

Elsa schien ihn gar nicht gehört zu haben.

„Geh’ nur, geh’!“ sagte sie, das Haupt zurückwerfend, heftig zu Röber. „Wir können auch ohne dich ausfahren.“

„Gewiß,“ erwiderte er mit einem harten Blicke; „du wirst mit Conimor fahren.“

„Nun, wenn du es durchaus willst —“ versetzte sie, nervös erbebend, und sah ihn mit weit geöffneten Augen an.

„Ja, ja!“ rief der Baron vergnügt, „wir fahren miteinander! Mein Fiaker hat heute ein ganz neues Zeug’l — famos!“

Elsa achtete nicht darauf. „Und wann kommst du zurück?“ fragte sie, schwer atmend.

„Das weiß ich nicht. Es dürfte spät werden, und da übernachte ich besser gleich in der Stadt.“

Nachdem er dies in eisigem Tone gesprochen hatte, verbeugte er sich nach rechts und links; dann trat er, wie sich besinnend, an mich heran und reichte mir mit einem Anfluge seines früheren Hochmutes die Hand. „Ich hoffe, Sie wohl noch ein andermal zu sehen.“

Als er sich mit Malinsky entfernt hatte, trat eine peinliche Stille ein. Man sah, in welcher Gemütsverfassung sich Elsa befand, und war in Verlegenheit, wie man darüber hinwegkommen sollte. Selbst der joviale Architekt wußte sich nicht zu helfen; er trommelte auf den Scheiben der Glastür, die auf die Terrasse führte, während Frau von Ramberg ihren sichtlichen Ärger hinter einem Zeitungsblatt verbarg, das sie zur Hand nahm. Der Maler aber näherte sich betrachtend den Bildern, die an den Wänden hingen; darunter auch eine arg verstrichene Farbenskizze von Makart, welche die Hausfrau in einem ungeheueren Rembrandthute vorstellte. Zuletzt vertiefte er sich sehr angelegentlich in einen ganz kleinen Pettenkofen, der in der Nähe eines Fensters angebracht war. Nur Conimor kam nicht aus dem Gleichgewichte. Er goß sich höchst munter ein zweites Glas Chartreuse ein und vertauschte seine Zigarre, die er in den Aschenbecher warf, mit einer zarten Papyros.

„Wie heiß es hier ist!“ rief Elsa plötzlich, indem sie ihren Fächer heftig auseinander schwirren ließ.

„Soll ich die Tür öffnen?“ fragte der Architekt.

„Bitte!“

Er tat es. Die Luft, die hereindrang, war allerdings noch von der Nachmittagssonne durchglüht; aber ihr würziger Hauch erquickte doch und verteilte sich wohltuend in dem rauchigen Raume.

Man atmete freier auf, und auch Elsa schien sich allmählich zu fassen.

„Lieber H...,“ sagte jetzt Frau von Ramberg herablassend zu dem Musiker, der inzwischen regungslos dagesessen hatte, „Sie haben bei Tisch von der neuesten Schöpfung Wagners gesprochen. Sie kennen sie gewiß schon — wenigstens zum Teil. Können Sie uns nichts daraus vorspielen?“

„Den Anfang, wenn Sie wollen“, erwiderte der Gefragte trocken.

„O ja! Wir bitten darum!“ rief Elsa aus ihren Gedanken heraus. „Nicht wahr?“ wendete sie sich fragend an mich; sie hatte sich offenbar erst jetzt wieder auf meine Anwesenheit besonnen.

Der Musiker erhob sich, trat an den Stutzflügel, der in der Nähe der Gartentür stand, und öffnete ihn, während alles Platz nahm.

Jetzt begann er zu spielen. In feierlichen, vibrierenden Schwingungen, sofort an die Eigenart ihres Urhebers mahnend, quollen die Töne auf.

Der Architekt, wie um gesammelter zuzuhören, schloß die Augen; der Maler drehte, etwas zerstreut, die Enden seines feinen blonden Schnurrbärtchens; Conimor, die Hände in den Hosentaschen, öffnete den Mund. Frau von Ramberg hatte sich neben Elsa gesetzt und lauschte mit zurückgeworfenem Haupte und übereinandergeschlagenen Beinen. Elsa blickte starr vor sich hin; von Zeit zu Zeit schien ein leichter Schauder durch ihren Körper zu gehen.

Das Spiel war zu Ende und tiefe Stille trat ein. Der Architekt fuhr empor; man merkte, daß er geschlummert hatte. Endlich sprach Frau von Ramberg: „Großartig! Erhaben!“

„Das eigentlichste Werk des Meisters, eine Offenbarung“, bekräftigte H.... barsch.

„Hm — ja“, sagte Conimor, indem er aufstand und näher trat. „Aber was Sie letzthin gespielt haben, hat mir noch viel besser gefallen. Sie wissen, das Stück da — aus Tristan und Isolde —“

„Isoldens Liebestod“, versetzte der Musiker kurz, ohne ihn anzusehen.

„Ach ja, Isoldens Liebestod!“ rief Elsa hastig. „Er ist wundervoll! Spielen Sie ihn doch!“

„Wird es Sie nicht zu sehr angreifen, meine Liebe?“ fragte die Ramberg mit gedämpfter Stimme. „Ich fürchte —“

„Ach nein, nein! Es tut nichts! Bitte, liebster H...!“

Dieser legte wieder die langen, vertrockneten Finger auf die Tasten, während sich Conimor auf ein kleines Tabouret niederließ, das zufällig ganz nahe hinter dem Fauteuil Elsas stand.

So trat denn neuerdings erwartungsvolles Schweigen ein, und bald darauf entwickelte sich aus glau ineinander zitternden Klangwellen heraus, in allmählichen, grausam wollüstigen, immer wieder in sich zurücksinkenden Steigerungen, der gewaltsamste Angriff auf die menschlichen Nerven, den die Tonkunst kennt. Die Wirkung war auch hier eine geradezu körperliche: Jeder fühlte sich in seiner Weise gepackt, überwältigt, gepeinigt, entzückt, aufgelöst. Selbst Frau von Ramberg konnte ihre Würde nicht behaupten; sie fing an, sich auf ihrem Sitze wie eine Schlange zu winden. Elsa lag weit zurückgelehnt in dem niederen Fauteuil, ohne zu merken, daß ihr Haar den Arm Conimors berührte, den dieser auf die Lehne gelegt hatte. Sie war bleich, und ein hastiges, gleichmäßiges Zucken erschütterte ihren Leib. Plötzlich stieß sie einen durchdringenden Schrei aus.

Alles sprang erschrocken auf; nur der Musiker blieb ruhig sitzen, die Finger auf den Tasten.

„Ich hab’ es ja gewußt!“ rief Frau von Ramberg, mehr erzürnt als besorgt, indem sie mit ihrer dürren Hand über die Stirn Elsas strich.

Diese sah aus wie eine Tote, ihr Blick war gebrochen. Dennoch erhob sie sich, mühsam nach Atem ringend, nahm den Arm der Dame und wankte, auf der andern Seite von Conimor unterstützt, aus dem Salon. Man hörte, wie sie draußen in ein krampfhaftes Weinen ausbrach.

„Schöne Bescherung!“ sagte der Architekt nach einer Pause. Dann sich zu H.... wendend: „Da haben Sie die Wirkungen der Wagnerschen Musik.“

„Was kann Wagner dafür, daß die Leute krank sind“, versetzte der andere phlegmatisch.

„Wie aber stünd’ es um ihn, wenn sie’s nicht wären?“

Sie sind jedenfalls gesund“, sagte H...., indem er aufstand und ihm mit einen leichten Schlag auf den wohlgenährten Leib versetzte. Dann sah er nach der Uhr. „Schon sechs. Ich muß nach Lainz hinüber. Adieu.“ Er verbeugte sich nachlässig und ging.

„Alter Musikbär!“ brummte der Architekt und folgte dem Maler und mir über die Terrasse in den Garten, wo wir ziemlich einsilbig das blumige Rondell des Vorplatzes umschritten. Draußen, hart am Gitter, im Schatten überhängender Zweige stand der Fiaker Conimors; in der Tat ein sehr „fesches Zeug“, dessen Lenker, auf dem Kutschbock ausgestreckt, den Schlaf des Gerechten schlief.

Jetzt kam der Baron zurück und gesellte sich zu uns. Wir sahen ihn fragend an.

„Ich weiß nichts“, sagte er, die Achseln zuckend. „Sie hat sich mit Frau von Ramberg auf ihr Zimmer begeben.“

Es dauerte nicht lange, so erschien diese auf der Terrasse und schritt uns, sichtlich erregt, mit wichtiger Miene entgegen.

„Die Frau des Hauses ist noch immer nicht wohl“, sagte sie.

„Doch nichts Gefährliches?“ forschte Conimor angelegentlich.

„Ich hoffe nicht. Jedenfalls aber kann sie sich heute nicht mehr zeigen. Die Herren wollen sich also in ihren weiteren Plänen für den Abend nicht stören lassen. Sie aber, Baron Sigi, fahren sofort nach der Stadt zu Doktor Breuer, auf daß er, wenn möglich, noch heute herauskommt.“

„Soll geschehen“, versetzte Conimor, näherte sich dem Gitter und rief den Kutscher an. Er mußte es noch zweimal tun, bis dieser emporschrak, schlaftrunken um sich blickte und, endlich die Sachlage begreifend, beim Tor der Villa vorfuhr.

„Und was tun wir?“ wandte sich der Architekt an den Maler.

Dieser blickte unschlüssig vor sich hin.

„Wenn die Herren wollen, nehme ich Sie mit“, sagte Conimor mit einer einladenden Armbewegung.

„Ja, haben wir denn alle drei Platz?“ fragte der umfangreiche Baukünstler mit einem Blick nach dem zierlichen Gefährt.

„Ach was, wir nehmen den Baron auf den Schoß!“ erklärte der Maler.

Die Herren stiegen ein.

Nachdem der Wagen fortgerollt war, sah mich Frau von Ramberg von der Seite an und fragte: „Sie kennen Elsa schon lange?“

„Allerdings — ziemlich lange.“

„Und auch, wie sie mir selbst gesagt hat, ihre früheren Verhältnisse. Da werden Sie sich wohl manches von dem erklären können, was Sie heute wahrgenommen.“ Sie erwartete, daß ich etwas darauf sagen würde. Da dies aber nicht geschah, fuhr sie fort: „Das ist die Folge, wenn man einem Manne alles opfert. Offen gestanden, habe ich Elsa, nachdem ich ihren Roman gelesen, für eine weitaus bedeutendere Frau gehalten. Sie ist doch nur eine beschränkte, weichmütige Wienernatur und brachte es nicht einmal dahin, daß Röber sie geheiratet hat. — Ich glaube, sie wollte Ihnen Eröffnungen machen und Ihren Rat erbitten“, setzte sie nach einer Pause hinzu, offenbar ärgerlich über mein andauerndes Schweigen, das ihr gewiß sehr einfältig erschien. „Aber da ist nicht zu raten und nicht zu helfen. Er liebt sie eben nicht mehr. Auch sonst ist die Arme sehr übel daran. Sie hat nämlich in letzter Zeit öfter derlei Anfälle, und die Ärzte verstehen ihren Zustand gar nicht, wenn sie ihr Bewegung verordnen. Ich halte das Ganze für den Beginn einer höchst traurigen Frauenkrankheit.“

Mit diesem kategorischen Ausspruch zog sie das Kinn zu kurzem Gruß an und entließ mich.

Ich aber trat in den lauen, dämmerigen Abend hinaus. Auf dem Hietzinger Platze wimmelte es von Menschen und Fuhrwerken aller Art, die bereits samt und sonders der Stadt zustrebten, während bei Dommayer lustige Musik erklang und immer neue Scharen von Besuchern den Schönbrunner Park verließen. Mitten in diesem bunten Gewoge schritt auch ich jetzt, meinen Gedanken nachhängend, dahin.

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*

Als ich mich im Laufe der nächsten Tage, meinen Besuch in Penzing erledigend, nach dem Befinden Elsas erkundigte, erhielt ich in der Villa den Bescheid, daß sie auf dringendes Anraten der Ärzte eine altbewährte Wasserheilanstalt aufgesucht habe.

IX.

Die Zeit meiner Abreise war herangerückt. Bevor ich meine Vaterstadt vielleicht auf lange wieder verließ, wollte ich noch eine stille Stunde der Gemäldegalerie im Belvedere weihen. Konnte es doch das letztemal sein, daß ich diese Kunstschätze an dem stimmungsvollen Orte sah, wo ich sie seit meiner Jugend zu betrachten und zu bewundern gewohnt war.

Die Ausführung dieses Vorhabens wurde durch mehrfache Umstände bis knapp vor dem Tage verzögert, den ich mir zur Reise festgesetzt hatte, und selbst da kam noch allerlei Störendes dazwischen, so daß es bereits zwei Uhr war, als ich mich, an den wohlbekannten Taxushecken und den steinernen Sphinxen vorübereilend, dem ehemaligen Sommerpalaste des Prinzen Eugen näherte. Das Wetter war dem Unternehmen nicht sehr günstig: ein düsterer, bedeckter Himmel, der sich hin und wieder aufhellte, um gleich wieder regendrohend sich zu verfinstern. So fehlte denn, als ich die weiten Säle betrat, der verklärende Sonnenschein, welcher, wenn auch in einzelnem zuweilen störend, die Gesamtheit der Bilder sofort dem Auge und Herzen näher bringt. Zudem waren unvermutet viele Besucher da; die Mehrzahl rote Bädeker in den Händen. Was mich aber am meisten störte, war die Unzahl von kopierenden Malern und Malerinnen. Sie saßen nur so in Reihen hintereinander, jeder und jede noch ein paar neugierige Zuseher im Rücken oder zur Seite. Ich konnte die richtige Stimmung nicht finden und ging zerstreuten Sinnes an den herrlichen Meisterwerken hin. Dieser leere, unbefriedigte Zustand wurde aber mit einem Mal zu einem grimmigen Mißbehagen, als ich im Rubenssaale mit einem Herrn zusammenstieß, dem ich, und besonders heute, lieber eine Meile weit aus dem Weg gegangen wäre. Es war ein sogenannter „Amateur“, ein sonst ganz unbeschäftigter, ziemlich wohlhabender Mann, der in allen Ateliers herumschnüffelte, auf jeder Auktion anzutreffen war und, wie sich von selbst versteht, eine kleine Privatgalerie samt einer wertvollen Antiquitätensammlung besaß. Sein selbstbewußtes Wesen, seine rechthaberischen, oft sehr schiefen Kunsturteile waren sprichwörtlich geworden, und die Maler behaupteten, er verstehe von Bildern so viel oder so wenig wie ein Schuhflicker. Das war nun freilich übertrieben; denn wiewohl er nach jeder Richtung hin Aussprüche tat, die von dünkelhafter Halbbildung strotzten, so konnte man doch nicht leugnen, daß er, wie alle solche Menschen, die Gabe besaß, an jeder Leistung sofort die schwachen Seiten herauszufinden. Und wie in der Kunst, so auch im Leben. Ein aufdringlicher Gesellschafter, wußte er sich in alle Kreise Eintritt zu verschaffen; man duldete ihn als eine Art notwendigen Übels und bespöttelte seine böse Zunge mehr, als man sie fürchtete, da er oft genug über ganz harmlose Persönlichkeiten die ungeheuerlichsten Dinge vorbrachte. Dennoch wußte er sehr genau, wo jeden einzelnen der Schuh drückte, und die verborgensten und verschwiegensten Verhältnisse waren für ihn nicht selten ein offenes Buch, in dem er mit Behagen las.

Ich wollte anfangs Miene machen, ihn nicht sofort zu erkennen, dann aber mich mit einer verbindlichen Gebärde schweigend an ihm vorbei drücken. Er jedoch tat sehr erfreut, faßte mich unter dem Arm, fragte mich, wie es mir gehe, wie lange ich schon in Wien sei — und so weiter. Meine neueste Dichtung habe er gelesen, sich aber leider mit dem Sujet nicht befreunden können; jedenfalls sollte ich mehr — viel mehr schreiben. Dann kam er auf die neuen Museen zu sprechen, welche er in der Hauptsache für ganz verfehlt erklärte — und schloß endlich damit, daß er hier Rafaels Madonna im Grünen en miniature kopieren lasse, und zwar von einem Aquarellisten, der in dieser Hinsicht eine ganz neue Methode erfunden habe. Er führte mich auch zu dem betreffenden Künstler, einem schon sehr bejahrten Herrn, der, eine eigentümlich konstruierte Brille auf der Nase, ruhig hinter seiner Tafel saß. Die fast vollendete Arbeit nahm sich in der Tat sehr schön und erfreulich aus; der Mäcen lobte sie auch, hielt jedoch mit wohlwollenden Ausstellungen keineswegs zurück. Ganz unerträglich jedoch benahm er sich einem jüngeren Maler gegenüber, welcher, wie sich herausstellte, Morettos Santa Justina im Auftrage des Münchener Grafen Schack kopierte. Nicht genug, daß er dicht hinter den emsig Arbeitenden trat und, bald das Original, bald die Kopie betrachtend, vor allen Anwesenden mißbilligend den Kopf schüttelte: er wies auch mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Fehler hin, welche seiner Meinung nach bei der Nachbildung begangen wurden, so daß der Künstler endlich sich unwillig halb erhob und den unberufenen Kritiker mit zornfunkelnden Augen herausfordernd ansah.

Ich hielt es nicht länger aus und wollte, mich empfehlend, die Galerie verlassen, die mir nun doch schon verleidet war.

„Warten Sie, ich gehe gleich mit Ihnen“, sagte er und hängte sich wieder an meinen Arm.

Er hatte unten einen Einspänner stehen und bot mir einen Platz an. Ich wollte ablehnen; aber er nötigte mich einzusteigen. „Fahren Sie wenigstens ein Stück Weges mit; warum wollen Sie denn die lange Heugasse zu Fuß zurücklegen?“

Als wir in dem engen Gefährt saßen, fragte er mich, wohin ich denn eigentlich wollte. Ich antwortete, daß ich jetzt essen gehen würde. Wohin? Er speise in der Stadt Frankfurt, ich solle mitkommen. Nein, das sei mir zu entlegen, ich wolle überhaupt nicht nach der Stadt. Wohin ich mich also begeben würde? Ich nannte ein in der Nähe befindliches Hotel, das mir gerade einfiel. „Hotel Viktoria? Schön, ich kann auch dort speisen und leiste Ihnen Gesellschaft.“ Er rief dem Kutscher zu, nach dem bezeichneten Orte zu fahren.

Da es inzwischen ein wenig geregnet hatte und sich der Tag überhaupt empfindlich kühl anließ, so vermieden wir, uns in den schönen Garten zu setzen, der das Hotel auszeichnet, und begaben uns in den Speisesaal, der, wie meistens um diese Stunde, ganz unbesucht war. Wir bestellten unser Essen, das ich meinerseits in der aufgezwungenen Gesellschaft mit verbissenem Ingrimm hinunterwürgte.

Man hatte uns schon den Kaffee gebracht, als plötzlich draußen im Garten ein auffallend vornehmes Paar erschien: ein Herr und eine Dame, in welch ersterem ich sofort Röber erkannte. Die beiden schienen unter sich uneins, ob sie im Freien bleiben oder den Saal aufsuchen sollten. Endlich gab die Dame kurzweg den Ausschlag, indem sie sich rasch an einem kleinen Tische niederließ, der, von einigen Oleanderstöcken umgeben, ziemlich geschützt in der Nähe der Saalfenster stand.

Mein Begleiter hatte die Ankömmlinge ebenfalls wahrgenommen und rief: „Oho! Wie kommen die daher? Gewiß nur, weil sie anderswo fürchten müßten, gesehen zu werden.“

„Kennen Sie die Leute?“ fragte ich hinausblickend. Wir saßen an der Rückwand des nicht sehr breiten Saales in einer Art Nische, wo man uns nicht leicht wahrnehmen konnte.

„Ob ich sie kenne!“ erwiderte er, sich behaglich zurücklehnend. „Das ist ja dieser Röber, der in letzter Zeit so viel Geld macht.“

„Ich glaube, ich bin einmal irgendwo flüchtig mit ihm zusammengetroffen. Und ist die Dame seine Frau?“

„Seine Geliebte. Die gewesene Frau eines Börsensensals, der sich ihretwegen erschossen hat. Eine Jüdin. Sie war einmal unvergleichlich schön, wie man noch jetzt bemerken kann.“

Ihre Schönheit war mir allerdings sofort aufgefallen, und gerade in diesem Augenblick zeigte sie mit einer Kopfwendung ihr ungemein interessantes Profil: edelste, orientalische Züge, fast blutlos bleich; aus dem kleinen weißen Kapotehütchen, das sie trug, drängte sich rückwärts, in kaum zu bändigender Fülle, ein Wust von glanzlosen dunkelschwarzen Haaren hervor.

„Eine höchst gefährliche Person“, fuhr mein Nachbar fort. „Herzlos, mit einem kalten, messerscharfen Verstande. Dabei bizarr, phantastisch, abenteuerlich. Eine unmögliche Zusammenstellung, werden Sie sagen — und doch ist es so.“

„Sie scheinen sehr genau unterrichtet zu sein.“

„Mein Gott, ich verkehre ja mit aller Welt und habe sie schon gekannt, da sie noch ein junges Mädchen war. Bereits damals zeigte sich, was sie werden würde: ein Irrlicht, das nicht zu haschen, ein Mühlstein, der nicht abzuschütteln ist. Sie hätte inzwischen schon einen Fürsten B... heiraten sollen, und nur durch die größten Geldopfer von seiten der Familie ist die Sache rückgängig geworden.“

„Sie besitzt also Vermögen?“

Er lachte laut auf. „Vermögen? Schulden! Denn es ist nicht anzunehmen, daß ihr neuer Verehrer diese vollständig gezahlt hat. Sie ist nämlich eine notorische Verschwenderin — und zwar in einer Art und Weise, die eigentlich schon ans Wahnwitzige streift. Das pflegt immer der Fall zu sein, wenn der semitische Geist einmal ins Gegenteil umschlägt. In ihrer Hand würden Millionen zerrinnen. Was sie jetzt Herrn Röber kosten mag, läßt sich gar nicht beurteilen.“

„Aber ist er denn selbst so ungewöhnlich reich,“ fragte ich, „daß er —“

„Reich! Er hat mit Lieferungen in die unteren Donauländer reichlichen Gewinn erzielt. Seit einiger Zeit operiert er mit einem gewissen Malinsky, einem wahren Gauner, an der Börse. Bis jetzt allerdings mit fabelhaftem Glücke. Wie lange es noch so fortgehen wird, ist die Frage. Er soll übrigens auch noch eine alte Geliebte in seiner Villa in Hietzing bei sich haben. Eine Art Schriftstellerin. — Wissen Sie davon nichts?“ fragte er plötzlich argwöhnisch.

„Nein“, erwiderte ich trocken und machte Anstalten, meine Zeche zu begleichen. Denn ich glaubte zu bemerken, daß man draußen, während zwei Kellner mit unterwürfiger Dienstbeflissenheit ein ausgesuchtes Diner zu servieren begannen, auf uns aufmerksam geworden war.

„Sie wollen schon gehen?“ fragte mein Begleiter.

„Ja; ich muß nach Hause. Ich habe noch allerlei zu ordnen und zu packen, denn ich reise morgen von hier ab.“

Ich hatte gefürchtet, er würde sich mir wieder anschließen, vielleicht gar in meiner Wohnung eine zweite Zigarre rauchen wollen. Aber er regte sich nicht und sah mich ganz gleichgültig an.

„So? Sie reisen morgen?“ sagte er gedehnt. „Nun, dann Gott befohlen! Ich bleibe noch ein wenig. Es macht mir Vergnügen, das Pärchen da draußen zu beobachten. Es sitzt sich hier wie in einer Loge.“

Wir reichten einander flüchtig die Hände, und ich entfernte mich, nachdem ich noch einen Blick auf Röber und seine neue Geliebte geworfen hatte, welche eben bemüht war, mit einem kurzen Messer, das sie in der beringten Hand hielt, eine Krebsschere zu öffnen.

Noch den ganzen Abend beschäftigte dieses unvermutete Zusammentreffen meine Gedanken, und als ich am nächsten Morgen, bei strömendem Regen, im Eisenbahnzuge durch die melancholischen Praterauen fuhr, da kam auch am Fuße des Kahlen- und Leopoldsberges für einen Augenblick der stattliche Vorort in Sicht, wo sich für die schöne Frau Stadler der Schicksalsknoten geschürzt hatte. „Wie wird es enden?“ dachte ich, während jetzt der Zug mit beschleunigtem Laufe und schrillem Pfeifen in die weite, trostlose Ebene hineindampfte.

*                    *
*

Es endete nur zu bald — und traurig. Was ich darüber zufällig und absichtlich in Erfahrung gebracht, kann hier in Kürze erzählt werden.

Das Glück war Röber nicht treu geblieben. Er verlor, verlor alles, was er gewonnen — und noch mehr. Aber er hatte, um sich aufrecht zu erhalten, in letzter Zeit auch nach anvertrauten Geldern gegriffen: drei namhafte Beträge waren sofort zu ersetzen, wofern er nicht den Gerichten verfallen wollte. Woher aber die nötige Summe nehmen? Elsa brachte sie zustande: sie ging — ob nun gezwungen, oder aus eigenem Antriebe — Conimor darum an. Und dieser erfüllte ihr Begehren. Er hatte gerade die Nacht zuvor im Wienerklub an einen hohen Aristokraten zweimal hunderttausend Gulden im Spiel verloren; was lag daran, wenn Papa noch ein Sümmchen darauf legte, das doch kaum zur Hälfte jenes Verlustes hinanreichte? Er konnte es ja wieder hereinbringen. Elsa erhielt also das Geld und gab es Röber. Dieser nahm es — und verschwand, ohne seine Verpflichtungen zu erfüllen. Mit ihm die neue Geliebte. Es mußte alles von langer Hand vorbereitet gewesen sein; denn sie waren spurlos entkommen. Wie man annahm, nach Amerika; und in der Tat liefen zwei Jahre später von dorther Briefe und Geldsendungen an die Verlusttragenden ein.

Was aber hätte die arme Verlassene damals tun sollen? Die Villa war mit Beschlag belegt worden; ihr selbst standen peinliche Vernehmungen — vielleicht noch Ärgeres bevor, da man anfänglich nicht umhin konnte, sie als die Mitwisserin jener sträflichen Vorgänge anzusehen. Sie nahm also zu dem Mittel ihre Zuflucht, das sie schon lange vorher zur Beschwichtigung körperlicher Schmerzen in Anwendung gebracht und welches sie jetzt rasch und mit einem Mal von allen Leiden befreien sollte. Sie vergiftete sich mit Morphin.

Und was würde Frauenlob gesagt haben, wenn er diesen vollwichtigen Triumph seiner Vorhersagungen noch erlebt hätte?! Aber er war vor Elsa zu Grabe gegangen. Ein Lungenübel, zu dem er seit jeher veranlagt gewesen, hatte sich in Berlin, wo er kümmerliche Tage fristete, rasch entwickelt und ihn dahingerafft, ehe ihm noch die viel gepriesene Heilkraft der Kochschen Lymphe eine trügerische Hoffnung hätte gewähren können.

Schloß Kostenitz.

Vorwort des Herausgebers.

Die noch nicht druckreifen Vorarbeiten zum „Schloß Kostenitz“ hat Saar für den Fall seines Ablebens der Fürstin Salm oder seinem Schwager Dr. Camill Lederer als Andenken vermacht, der letztere hat sie wiederum Herrn Hofrat Maresch gewidmet, in dessen Besitz sie sich gegenwärtig befinden. Wir erfahren aus ihnen, daß die Novelle, die ursprünglich „Schloß Reichegg“ und später „Baronin Clotilde“ betitelt werden sollte, mit der älteren: „Haus Reichegg“ nicht bloß inhaltlich verwandt, sondern wirklich mit ihr aus einer Wurzel entsprossen ist. Saar scheint einen ursprünglich für die frühere Novelle bestimmten Eingang unter älteren Papieren vorgefunden und an ihn angeknüpft zu haben. Im März 1890 hat er unsere Novelle in Kaltenleutgeben begonnen und dann in Raitz im Sommer und Herbst fortgesetzt, ohne viel über den Eingang hinaus zu kommen, der wieder in einem Dutzend nur wenig verschiedener Abschriften vorliegt. Der Held heißt hier noch Günthersdorff, der Graf Poiga-Reuhofen; bei dem Versteck zwischen den Türen (Seite 281) wird auf Latour namentlich angespielt und unter den Lieblingswerken der Baronin außer der „Amaranth“ von Redwitz besonders Hebbels „Herodes und Mariamne“ genannt. Vollendet wurde die Novelle in Raitz am 1. März 1892; sie erschien zuerst im Feuilleton des Abendblattes der Deutschen Zeitung vom 27. Juli bis 19. August 1892 in acht Abschnitten (Nr. 7391-7414) und schon wenige Monate später, im Oktober 1892, aber mit der Jahreszahl 1893, als Einzeldruck (600 Exemplare), „Karl von Thaler in alter Freundschaft zugeeignet“. Der Dichter, der die Novelle für eine seiner besten und für Österreich bedeutsamsten Arbeiten hielt, wollte vier Jahre später (im Herbst 1896) den fünften und siebenten Bogen umdrucken und bei Seite 123 des ersten Druckes einen Karton einlegen lassen, um „einige sehr kurze, aber höchst notwendige Verbesserungen anzubringen“. Als aber dann die zweibändige Ausgabe der „Novellen aus Österreich“ 1897 (zweiter Band, Seite 309-393) zustande kam, stellte er das von ihm bereits durchkorrigierte Exemplar für diese zur Verfügung. Es ist nun für den Dichter, von dem man das sagen könnte, was W. Schlegel von Calderon gesagt hat: daß aus seinen Händen nicht eine verwahrloste Zeile hervorgegangen sei, höchst charakteristisch, wie geringfügig die Änderungen sind, um derentwillen er die Kosten eines Umdruckes nicht scheute. S. 312 f. unserer Ausgabe redet der Graf die Baronin nur mehr einmal mit „Du“ an („Du liebst mich?“), kehrt aber gleich wieder zum „Sie“ zurück, und die Worte: „und da sie verzweiflungsvoll widerstrebte“ sind hinzugefügt. S. 325 sind die Worte: „Daher galt sie auch .... Interesse ein“, welche die Charakteristik der Baronin vervollständigen, an die Stelle der noch zum vorausgehenden Satze gehörigen Worte getreten: „daß sie fallen würde, ohne sich wieder erheben zu können.“ Der Karton aber sollte Seite 337 einzig und allein um der drei Worte willen: „aller Wahrscheinlichkeit nach“, eingelegt werden. In der zweiten Auflage der zweibändigen „Novellen aus Österreich“ 1904 (a. a. O.) hat die Novelle nur mehr ganz unbedeutende Veränderungen erfahren.

I.

In der Nähe eines Grenzgebirges, dessen westliche Ausläufer sich dicht bewaldet ins flache Land erstrecken, liegt auf mäßiger Höhe ein weit ausblickendes Schloß, das sich im Laufe der letzten Jahrzehnte nicht allzu freundlich von dem Hintergrunde dunkler Tannen abgehoben hatte. Denn die Mauern waren verwittert, die Fensterläden geschlossen, und um das schweigende Portal wehte der Hauch der Verödung. Unten aber dehnte sich die Ebene aus, damals wie heute, ein sonniges Bild regen, werktätigen Lebens. Hart am Fuße des Abhanges ein stattlicher Marktflecken, in dessen Umkreise der schwarze Diamant, die Steinkohle, geschürft und auf unübersehbaren Feldern, von nur schmalen Strichen Kornes eingerahmt, die gelb blühende Ölpflanze und die zuckerspendende Rübe gebaut wurden. Dazwischen, weithin zerstreut, einzelne Schachte und Fabrikgebäude, gegen deren geschwärzte Mauern und qualmende Schlote sich hier und dort ein hellschimmerndes Landhaus umso lieblicher ausnahm. Von dort herauf erklang tagsüber, bald lauter, bald gedämpfter, das Gepolter der Maschinen, das Brausen der Dampfkessel, der gellende Schall der Werkglocken — und verzitterte in den Wipfeln des Schloßparkes, wo auf dem verschlammenden, von Wasserrosen überdeckten Teiche ein einsamer Schwan die stillen Kreise zog. —

Im Frühling des Jahres 1849 jedoch hatte dieser verlassene Herrensitz einen noch ganz freundlichen Anblick dargeboten. Auch war gerade in jener Zeit eine Anzahl von Arbeitern erschienen, um das Schloß, welches von seinem damaligen Besitzer, dem Freiherrn von Günthersheim, bis jetzt nur im Sommer benützt worden war, zu dauerndem Aufenthalte instand zu setzen. Und bald konnte man auch in der Umgegend die Kunde vernehmen, daß der Freiherr des hohen Staatsamtes, das er bekleidete, enthoben worden sei und sich nunmehr mit seiner Gemahlin für immer hieher zurückzuziehen gedenke. In der Tat kam eines Abends — zu Anfang des Juni — auf der staubigen Landstraße ein mächtiger, mit Postpferden bespannter Reisewagen in Sicht, welchen in früherer Zeit schwarzbefrackte Honoratioren und weißgekleidete Mädchen mit Blumensträußen in den Händen würden erwartet haben, der aber jetzt, wo die verbrausten Stürme des Revolutionsjahres noch überall zerstörte und unklare Verhältnisse zurückgelassen hatten, bloß der Gegenstand einer halb flüchtigen, halb befangenen Neugier war. So geschah es, daß der Freiherr, als er mit seiner Gemahlin, einer noch jungen, leicht verschleierten Dame, unter dem Portal aus dem Wagen stieg, nur von seinem Verwalter und einigen Nebenbediensteten empfangen wurde. Später jedoch kam es in der Gaststube des Goldenen Löwen, wo sich die hervorragendsten Bürger und Ansassen des Ortes allabendlich einzufinden pflegten, zu einer lebhaften Debatte über die Frage, ob man dem Schloßherrn, wiewohl dieser nunmehr alle feudalen Hoheitsrechte eingebüßt habe, nicht doch eine Ovation hätte darbringen sollen. Denn es unterlag keinem Zweifel, daß er nur seinen liberalen Anschauungen, die er bekanntermaßen schon im Vormärz betätigt hatte, bei dem abermaligen Umschwung der Dinge zum Opfer gefallen sei. Und in dieser Hinsicht verdiene er jedenfalls die hochachtende Anerkennung, das verständnisvolle Bedauern aufgeklärter und nach wie vor freiheitlich gesinnter Männer. Eine direkte Kundgebung, das müsse man nachträglich erkennen, wäre allerdings bei dem reaktionären Drucke, der gegenwärtig selbst auf dem platten Lande geübt werde und sich durch verschärfte Polizeimaßregeln jeder Art bemerkbar mache, nicht wohl tunlich gewesen, keineswegs aber könne es verargt oder gar verwehrt werden, daß man von seiten der Bürgerschaft dem Gutsbesitzer, zu welchem man seit Jahren in einem weitverzweigten Pachtverhältnisse gestanden und noch stehe, einen Höflichkeitsbesuch abstatte. Dabei wäre man ja recht wohl imstande, die eigentliche Absicht sub rosa kundzugeben, und somit sei auch dann jede Versäumnis — wenn eine solche vorliege — wieder gut gemacht. Diese Anschauung, obgleich einige Ängstliche und Gleichgültige dagegen sprachen, wurde endlich mit Stimmenmehrheit zum Beschlusse erhoben, worauf man daran ging, die Mitglieder der beabsichtigten Deputation und deren Führer zu wählen.

Als dem Freiherrn am nächsten Vormittage das Erscheinen der Abgeordneten gemeldet wurde, war er eben beschäftigt, in seinem Arbeitszimmer — einem hochgelegenen Gemache mit weiter Fernsicht — einige notwendige Einrichtungen zu treffen, und schien von der ihm zugedachten Ehre keineswegs freudig überrascht zu sein, denn ein Schatten von Mißmut überflog sein Antlitz. Da es aber nicht anging, die Leute, welche sich draußen durch anspruchsvolles Räuspern und Scharren mit den Füßen bemerkbar machten, unter irgend einem Vorwande abzuweisen, so ließ er sie, indem er eine wohlwollende Miene annahm, ohne weiteres eintreten. Er ging ihnen einige Schritte entgegen, hörte die Rede des Sprechers, der ein kleiner, beleibter Mann war, in vorgebeugter Haltung an, errötete flüchtig bei einigen bedeutungsvollen Stellen und dankte schließlich mit etwas leiser, aber klarer und eindringlicher Stimme für die wohlwollenden Gesinnungen seiner Mitbürger. Sie zu rechtfertigen, vermöge er leider nicht mehr; überhaupt bleibe jetzt dem einzelnen sowohl wie der Gesamtheit nichts anderes übrig, als sich in schweigender Ergebung zu fassen. Hierauf reichte er dem Führer die Hand zum Abschied und geleitete die unter Bücklingen sich Entfernenden bis zur Tür. Allein geblieben, trat er langsam an ein Fenster und blickte gedankenvoll in den leuchtenden Tag hinaus. Der unvermutete, wenn auch an sich ganz bedeutungslose Zwischenfall hatte doch, indem er Erinnerungen weckte, lebhaft auf ihn gewirkt. Und wie da draußen am Horizont weiße, schimmernde Wolkenmassen emportauchten, so tauchte im Geiste des verabschiedeten Staatsmannes die Vergangenheit auf .....

Der Freiherr von Günthersheim war nicht von altem Adel. Sein Großvater, einem bürgerlichen Geschlechte entstammend, war unter der Regierung Maria Theresias mit bescheidenen Anfängen in Staatsdienste getreten und hatte sich im Verlauf der Jahre dem Kanzler Kaunitz derart verwendbar erwiesen, daß er während der Josephinischen Ära zu immer höheren Ämtern emporstieg. Sein Sohn betrat unter dem folgenden Herrscher die gleiche Laufbahn und wurde später ob seiner Verdienste zur Zeit der französischen Invasion vom Kaiser Franz in den Freiherrnstand erhoben, welcher Auszeichnung er durch den Erwerb einer Herrschaft in Böhmen, die er von einem tief verschuldeten Kavalier unter sehr günstigen Bedingungen übernahm, auch eine reale Grundlage zu verleihen wußte. Dem Enkel war somit vorweg eine glänzende Zukunft eröffnet. Ursprünglich zur diplomatischen Karriere bestimmt, wurde er als noch ganz junger Mann während des Wiener Kongresses in der Staatskanzlei verwendet, wo er durch seine Fähigkeiten und seine erstaunliche Arbeitskraft die Aufmerksamkeit Metternichs erregte. Der Fürst zog ihn nunmehr näher an sich heran, konnte ihn jedoch von der Richtigkeit des Regierungssystems, das jetzt in Österreich mehr und mehr Platz griff, nicht überzeugen; ihre Anschauungen gingen immer weiter auseinander, bis endlich der Freiherr, bereits selbst in höherem Amte, zu jenen Persönlichkeiten gehörte, die im Rate der Krone fortschrittliche Ideen entwickelten und neue Institutionen ins Leben zu rufen trachteten. So war er denn auch einer von denen, welche, trotz Rang und Würden, die so plötzlich ausgebrochene Märzrevolution als erlösenden und verheißungsvollen Umschwung begrüßten. In jener vielbewegten Zeit mit einer leitenden Machtstellung betraut, mußte er gleichwohl infolge der zunehmenden revolutionären Ausschreitungen Verfügungen erlassen, die ihn in den Augen der Volksführer freiheitsfeindlich erscheinen ließen und ihn eines Tags in die Lage brachten, sich vor einem erregten Pöbelschwarme, der sein Wohnhaus umwogte und drohend eindringen wollte, mit seiner fast zu Tode geängstigten jungen Frau in dem engen Zwischenraume einer Doppeltür verborgen zu halten. Dennoch harrte er auf seinem Posten aus und trachtete im Verein mit einigen Gleichgesinnten, den Kaiser, der sich inzwischen nach Innsbruck begeben hatte, zur Rückkehr nach Wien zu bestimmen, von welchem Schritte er Klärung der Verhältnisse und endliche Beruhigung erwartete. Als aber trotzdem die Greuel der Oktobertage folgten und der Hof nunmehr nach Olmütz zu fliehen gezwungen war, da konnte er zu seinem tiefen Schmerze nicht umhin, denjenigen beizustimmen, die schon in den ersten glorreichen Freiheitstagen das Verderben und den Zerfall der Monarchie erblickt hatten. Er selbst mußte jetzt — mit welchen Gefühlen! — die einziehenden Truppen Windisch-Grätz’ und des Banus als Retter und Erretter begrüßen, mußte erkennen, daß die Regierung keine anderen Maßregeln ergreifen konnte, als jene, die nun ein hochmütig zufahrender, gewaltsamer Staatsmann an die Hand gab und denen der Freiherr selbst zum Opfer gefallen war .....

Noch immer stand dieser in Gedanken am Fenster. Endlich machte er eine Handbewegung, als wollte er sagen: „Vorüber!“ Dann griff er nach seinem Hute und begab sich über die breite, von seinen Schritten leicht hallende Steintreppe in den Park hinab.

Still und sonnig lag das Parterre mit seinen bunten Blumenbeeten vor ihm ausgebreitet. Er durchschritt es und bog in einen breiten Baumgang ein, der, sanft ansteigend, immer tiefer in die Schatten einer künstlich geschaffenen romantischen Wildnis hineinführte. Ringsumher zeigten sich, in höchst mannigfaltiger Abwechslung, bemooste Felsenpartien, kleine Teiche und Wasserfälle, Grotten, Eremitagen, lauschige Bosketts mit eröffneten Fernsichten: alles schon zu Ende des vorigen Jahrhunderts angelegt und durch ein zierliches Labyrinth von auf- und abführenden Pfaden miteinander verbunden.

Jetzt hielt der Freiherr still. Er hatte eine freiere Hochfläche erreicht und stand vor einer großen Wiese, die sich, von Eichen und alten Buchen umsäumt, in leuchtender Einsamkeit ausdehnte. Am anderen Ende ragte, dicht vor einem kleinen Birkenwäldchen, ein sehr geräumiger, etwas verwittert aussehender Pavillon auf, das Tirolerhaus genannt. Ein hölzerner, gedeckter Gang umlief von außen das erste Stockwerk; die Tür im Erdgeschoß stand offen, und auf einer daneben angebrachten Bank saß die Gattin des Freiherrn, das Haupt durch einen breitrandigen Florentiner Strohhut gegen die Strahlen der Sonne geschützt. Ein aufgeschlagenes Buch lag in ihrem Schoße; sie selbst aber blickte träumerisch vor sich hin. So tief schien sie in sich versunken, daß sie den Nahenden lange nicht bemerkte, der nun quer über das schwellende Grün der Wiese auf sie zuschritt.

Endlich hatte sie sein Erscheinen wahrgenommen, erhob sich und ging ihm mit etwas langsamen, aber höchst geschmeidigen Gliederbewegungen entgegen. Ihr schlanker Wuchs, noch mehr aber ihre ganz ungewöhnliche Schönheit ließen sie um vieles jünger erscheinen, als sie in der Tat war. Erst bei näherer Betrachtung erkannte man die völlig ausgereifte Gestalt und jene etwas überschwellenden Formen, wie sie kinderlosen Frauen eigen zu sein pflegen.

Jetzt stand sie vor ihm und schlang die weißen Arme, die aus langgeschlitzten Hängeärmeln hervorschimmerten, leicht um seinen Hals.

„Du kommst spät“, sagte sie, ihre großen Augen, die blau wie Kornblumen waren, zu ihm aufschlagend. „Ich habe dich schon lange erwartet.“

Er erwiderte fürs erste nichts und blickte nur in dieses Antlitz, das bei aller rosigen Helle einen zart bräunlichen Hautton aufwies und von einem solchen Zauber war, daß man es, auch nur einmal gesehen, nie wieder vergessen konnte. Und er! Wie oft hatte er sich schon in den unergründlichen Reiz dieser weichen und doch mit feinster Bestimmtheit geschnittenen Züge versenkt! Wie oft den sanften Bug der Nase, den unbeschreiblichen Liebreiz der Lippenbildung bewundert — und wie wurde er stets aufs neue davon überrascht und entzückt! Endlich sagte er: „Ich bin zurückgehalten worden; es war eine Deputation bei mir.“

Sie ließ die Arme sinken. „Eine Deputation?“ fragte sie betroffen.

„Erschrick nicht“, entgegnete er, indem er zärtlich mit seiner schon etwas welken Hand über eine der dunklen Haarwellen strich, die zu beiden Seiten ihres Hutes hervorquollen. „Es ist von gar keiner Bedeutung. Man hat mir von seiten der Ortsgemeinde eine Huldigung dargebracht, von der ich allerdings lieber verschont geblieben wäre. Da sie aber jetzt, wie alles andere, bereits hinter mir liegt, so will ich sie gewissermaßen als Abschluß meines öffentlichen Wirkens betrachten — und nichts soll fürder unsern lieben Schloßfrieden stören.“

„So hoffe ich!“ sagte sie, sich an ihn schmiegend. „Und doch“, fuhr sie nachdenklich fort, „fürchte ich auch, daß dir dieser Frieden, diese Ruhe bald zur Last werden dürfte. Du bist so an Tätigkeit gewöhnt —“

„Ja,“ antwortete er, während er seinen Arm sanft um ihre Mitte legte und sie langsam nach der Bank zurück leitete, auf die sich nun beide niederließen, „ja, ich bin an Tätigkeit gewöhnt — aber ich bin auch erschöpft. Wer, wie ich, das Werk seines Lebens zusammenbrechen sah, der fühlt, daß er zu Ende ist und nicht etwa wieder von vorne anfangen — oder gar nach einer anderen Richtung hin wirksam sein kann. So ist man auch nur meinem eigenen Wunsche zuvorgekommen, als man mich, freilich ziemlich ungnädig, in den Ruhestand versetzte, und wenn mich heute noch ein bitteres Gefühl beschleicht, so ist es nur die Folge der Überzeugung, daß der Staat auf Bahnen zurückgeworfen wurde, die nie und nimmer zum Heile führen können. Wie unsicher, wie drohend erscheinen die Verhältnisse! Des Aufstandes in Ungarn ist man noch nicht Herr geworden, — Konflikte mit Deutschland hinsichtlich der Machtfrage scheinen sich vorzubereiten. Österreichs Zukunft ist es, was mich mit tiefer Sorge erfüllt. Könnte ich darüber beruhigt sein, so würde ich mich glücklich preisen, endlich mir selbst — und meinem geliebten Weibe leben zu können.“

Er hatte bei diesen Worten ihre Hand erfaßt, um sie an die Lippen zu führen; sie aber bot ihm den Mund zu einem vollen, langen Kusse.

So ungleich auch das Paar erscheinen mochte, der Austausch dieser ehelichen Zärtlichkeit hatte nichts Befremdliches. Denn der betagte Mann, der die blühende Frau umschlang, gehörte zu jenen seltenen Menschen, welche ohne Nachteil alt werden können. War auch sein Haar ergraut, sein Scheitel gelichtet: seine schlanke, vornehme Gestalt war aufrecht und beweglich geblieben, und der geistige Adel seiner Stirn, der klare Blick seiner Augen wurden durch den fein sinnlichen Zug, der die Lippen umspielte, keineswegs geschädigt, sondern nur noch eindringlicher hervorgehoben. War er doch, als er zu Anfang der Vierziger Jahre einem öffentlichen Verwaltungsamte vorstand, im Volksmunde stets der „schöne Präsident“ genannt worden. Und damals geschah es auch, daß er sich, nahezu ein Fünfziger, in die Tochter eines seiner ihm unterstehenden Räte beim ersten Anblick leidenschaftlich verliebt, daß er um sie geworben — und ein freudiges Jawort erhalten hatte. Er war viel zu klug, um nicht einzusehen, daß dabei sein Rang und seine Glücksgüter sehr bedeutend in die Wagschale gefallen waren; aber er hatte trotzdem die überzeugende Empfindung, daß er seine kaum zwanzigjährige Braut auch durch die Vorzüge seiner Persönlichkeit fesselte und ihr durch die unverbrauchte Kraft seines im Innersten jugendlich gebliebenen Wesens fast jene Liebe einflößte, die er selbst für sie empfand. Ja, er wurde beglückt — aber auch er beglückte. Daran konnte, durfte er nicht zweifeln im Laufe einer nunmehr fast zehnjährigen Ehe. Aber wird dieser beseligende Zustand Dauer haben können? Auch jetzt noch, da er nun in der Tat die Schwelle des Greisenalters beschritten hatte? Und später ....?

Diese Gedanken mochten es sein, die seine Stirn umwölkten und ihn mit gedämpfter Stimme sagen ließen: „Ja, ich werde hier glücklich sein, Klothilde. Aber auch du?“

Sie sah ihn überrascht an. „Ich!? Wie kannst du nur daran zweifeln? Du weißt doch, wie sehr ich unser schönes Kostenitz liebe. Und jetzt, da wir uns ganz hier einleben können — was stets das Ziel meiner geheimen Wünsche war — jetzt sollte ich nicht glücklich sein können?“

Er sah, daß sie ihn nicht verstand. „Ich meinte es auch nicht so“, sagte er leise. „Ich zweifelte nur, ob du dich auch ferner an meiner Seite hier glücklich fühlen wirst.“

Sie verfärbte sich leicht. „An deiner Seite?“ rief sie. „Wie kommst du zu dieser Frage, Alfons?“

Er senkte das Haupt. „Weil ich älter und älter werde — und du noch im vollen Zenith deines Lebens stehst.“

Nun hatte sie ihn begriffen. Sie sprang auf, legte die Hände auf seine Schultern und blickte ihm erschreckt und vorwurfsvoll ins Antlitz. „Alfons, was willst du damit sagen? Wer gibt dir ein Recht, so zu sprechen?“

„Meine innerste Empfindung“, antwortete er demütig, indem er ihre beiden Hände ergriff und sie sanft an die Lippen führte. „Verzeih’ mir, Klothilde! Es war gewiß töricht, daß ich dieser Empfindung Ausdruck gegeben — aber ich konnte nicht anders.“

Sie stand vor ihm und sah ihm tief in die Augen. „Mein Gott, ich fasse es nicht. Hast du denn etwas an mir wahrgenommen, das dich zu solchen Besorgnissen —“

„O nichts! Nichts!“ unterbrach er sie hastig. „Du bist ein Engel an Güte und Zärtlichkeit!“

„O dann,“ rief sie, „dann begreife ich nicht, wie du dich mit solchen Gedanken quälen kannst! Alfons!“ fuhr sie fort, indem sie jetzt, eh’ er es noch verhindern konnte, rasch an ihm niederglitt, knieend seine Hand ergriff und wiederholt an die Lippen drückte. „Alfons! Muß ich dir denn erst versichern, daß es kein glücklicheres Weib geben kann, als ich es bin? Fühlst du denn nicht, wie innig ich dir angehöre? Und nun gar hier, ferne von den verwirrenden Eindrücken der Welt, in die ich mich, das weißt du, nie — niemals habe finden können. O, hier kann sich ja unser beider Glück nur erhöhen, und wenn dir, wie gesagt, die Untätigkeit nicht zur Last wird, dann wird auch nichts den Himmel unserer Tage trüben!“

Der Hut war ihr in den Nacken gesunken, und ihr schönes Haupt kam ganz und voll zum Vorschein. Er streichelte mit Kosen die dunkle Haarfülle, die ihre zarte, schimmernde Stirn umfloß. „Kann es denn ein besseres Tun geben, als still in deiner Nähe zu atmen?“ sagte er lächelnd, während er sie mit sanfter Gewalt wieder auf die Bank emporzog. „Übrigens ganz und gar müßig werde ich trotzdem nicht sein. Denn ich habe vor, die Geschichte der Jahre zu schreiben, die ich im Staatsdienste zugebracht. Sie wird vielleicht einem späteren Geschlechte zugute kommen.“

„Das ist ja herrlich!“ rief Klothilde vergnügt aus. „Werde doch auch ich meine Beschäftigungen — oder Liebhabereien wieder aufnehmen, die mir so lange verwehrt und verkümmert waren. Schon habe ich meine eingetrockneten Aquarellfarben hervorgesucht — und gleich morgen gehe ich an die Landschaft, die ich bereits vor einem Jahre begonnen. Und wie will ich mich wieder auf meinem Klavier üben! Jeden Abend sollst du eine Sonate oder eine Symphonie zu hören bekommen.“

Er lächelte ihr mit stiller Beistimmung zu.

„Und wenn Tante Lotti kommt, dann sind wir auch nicht mehr so ganz allein. Dann haben wir einen guten Hausgeist, der sich um alles kümmern wird, was deine Frau vernachlässigt. Es ist dir doch recht,“ setzte sie nach einer Pause hinzu, „daß ich sie gebeten habe, unser beständiger Gast zu sein?“

„Gewiß. Die Ärmste verdient unsere ganze Teilnahme, und wir erfüllen nur eine Pflicht, wenn wir ihr nach all dem Unglück, das sie getroffen, bei uns ein Asyl anbieten.“

„Sie ist so gut!“ fuhr Klothilde fort. „Und dabei so umsichtig, so tüchtig! Wie bewundernswert hat sie nach dem frühen Tode ihres Mannes ihren Sohn erzogen. Und welche Seelenstärke hat sie bewiesen, als sie den hoffnungsvollen Jüngling in ihren Armen verbluten sah.“

„Ja, dieser Kampf an der Taborbrücke“, sagte der Freiherr nachdenklich, „war das Verhängnis der Revolution. Ich hatte den armen August gewarnt, aber er konnte — oder wollte nicht mehr zurück.“

Sie sah, daß sich die Stirn des Gatten umwölkte, und suchte seine Gedanken abzulenken. „Willst du dir nicht das Haus ansehen?“ fragte sie. „Ich habe mich darin schon wieder vollständig eingerichtet. Komm, ich werde dich führen!“

Sie stand auf, und er folgte ihr, indem er seinen Arm leicht unter den ihren schob. Sie traten in den kleinen Flur und stiegen die knarrende Holztreppe hinan, die nach einem nicht ungeräumigen, wenn auch niederen Gemach führte. Es war in ländlichem Geschmack mit Möbeln aus Naturholz eingerichtet; an den Wänden hingen, dunkel eingerahmt, und schon ziemlich verblaßt, Tiroler Gebirgsveduten; in der Mitte aber, über einer sauber geschnitzten, mit harten Kissen belegten Sitztruhe, prangte in sorgfältig koloriertem Steindruck das Bildnis Andreas Hofers. Die ganze Ausstattung rührte noch von der Mutter des früheren Schloßbesitzers her, die einige Jugendjahre in Tirol zugebracht und zur Erinnerung an diesen Aufenthalt das kleine Gebäude hatte herstellen und mit Vorliebe betreuen lassen. Sie pflegte, wie behauptet wurde, während ihrer letzten Lebensjahre fast die ganze Tageszeit hier zuzubringen, und ein anstoßendes Zimmerchen zeugte von ihren sonstigen Gewohnheiten und Liebhabereien. Dort war alles im zierlichen Stil des Empire eingerichtet. Vor einem winzigen Kanapee stand ein putziges Spieltischchen aus Ebenholz, an welchem die alte Dame Patience legte oder mit ihrer Vorleserin eine Partie L’Hombre machte. Ein kleines, brüchiges Spinett hatte seinen Platz dicht am Fenster; auf der anderen Seite befand sich eine offene Handbibliothek, die eine ganze Serie älterer Dichter, wie Klopstock, Uz, Hagedorn, Gellert, enthielt; alles in wohlerhaltenen altmodischen Einbänden von braunem Leder. Die Werke Jean Pauls fanden sich vor, samt einem Exemplar der ersten Ausgabe des Werther; auch einige Dramen Schillers und Tiedges Urania. Auf dem geräumigen Tische des Eintrittszimmers lagen ebenfalls Bücher, die sich durch frische und moderne Einbände als Lektüre der jetzigen Herrin zu erkennen gaben.

„Da siehst du nun alles beisammen,“ sagte Klothilde, nachdem sie eingetreten waren, „was ich außer dir zu meinem Glück brauche. Hier meine geliebten Bücher, vor allen mein Lenau“ — sie nahm den Band wie liebkosend auf — „und dort meine Staffelei. Selbst das Klimperkästchen da drinnen ist mir unschätzbar; denn ein paar Kleinigkeiten von Mozart lassen sich immerhin darauf spielen.“

Er stand jetzt vor der zierlichen Staffelei, an welcher die von Klothilde erwähnte Landschaft zu erblicken war. Sie stellte ein lauschiges, wipfelumschattetes Felsental vor; von der Höhe stäubte ein Wasserfall nieder. Im Vordergrunde fanden sich einige Frauengestalten in idealer Gewandung angedeutet.

„Daran erkennt man doch gleich die Schülerin Markos“, sagte der Freiherr, das Bild betrachtend.

Es war so. Klothilde hatte als ganz junges Mädchen von diesem Meister, der, wie in jenen Tagen viele seiner Kunstgenossen, zu solchem Nebenverdienst greifen mußte, Unterricht erhalten. Man konnte sie begabt nennen; aber über den Dilettantismus erhob sie sich nicht, wie denn überhaupt ihre ganze Bildung, den Zeitverhältnissen entsprechend, der Gründlichkeit entbehrte. Nur die zugänglichste Oberfläche des Wissens hatte sie in sich aufgenommen mit dem feinen Instinkte der damaligen Frauen, welche an geistiger Empfänglichkeit die Männer fast durchgehends überragten. So gingen denn die Kenntnisse Klothildens nicht sehr weit über das hinaus, was ihr durch die gleichzeitige schöne Literatur vermittelt wurde, und auch da war es eigentlich nur das schwermütig sentimentale Element, das sich in den Dichtungen Lenaus, oder das Zarte und Sinnige, wie es sich in den Studien Adalbert Stifters aussprach, was sie unmittelbar anzog; der tiefe Gehalt unserer Klassiker war ihr mehr oder minder verschlossen geblieben. Hingegen zeigte sie sich musikalisch ungemein stark veranlagt und auch umfassend ausgebildet. War doch in ihrem Vaterhause, mehr als heutzutage üblich, die Kammermusik gepflegt worden, und Klothilde selbst hatte stets am Klavier an diesen liebevollen Übungen teilgenommen. Vor allem waren es die unerschöpflichen Tonschätze Beethovens, an denen man sich immer wieder entzückte, und so besaß sie für diesen Meister nicht bloß die begeistertste Verehrung, sondern auch das tiefste Verständnis.

„Hier werde ich nun wieder meine Vormittage zubringen“, sagte sie jetzt. „Wie dankbar bin ich der guten Gräfin, deren Geist mich in diesen Räumen umschwebt, daß sie das reizende Häuschen entstehen ließ!“

„Nun, nun,“ erwiderte der Freiherr scherzhaft, indem er sich unter dem tapferen Sandwirte niederließ, „ich werde noch ganz eifersüchtig werden auf dieses Buen Retiro, welches überdies so einsam gelegen ist, daß du mir ganz leicht eines Tages geraubt werden kannst.“

„O ich fürchte mich nicht!“ lachte sie. „Du weißt, wie ängstlich ich bin; aber hier fühle ich mich so sicher, wie in deinen Armen.“

Sie hatte sich zu ihm gesetzt, und beide blickten nun schweigend durch eine offenstehende Flügeltür in das leuchtende Grün hinein, das draußen über dem Geländer des Ganges zum Vorschein kam. Eine Biene surrte ins Zimmer herein und umkreiste langsam einen Strauß von Wiesenblumen, der, offenbar von Klothilde gepflückt, in einer altmodischen Vase vor ihnen stand.

Plötzlich erklang in der Ferne der schrille Ton einer Glocke.

„Wie rasch die Zeit vergeht!“ rief Klothilde. „Man läutet schon zu Tisch.“

„Offen gestanden, mir nicht ganz unerwünscht“, sagte der Freiherr, indem er sich erhob. „Ich spüre bereits die Wirkungen der Landluft.“

So verließen sie denn das kleine Haus und schritten gemächlich, die schattigsten Laubgänge wählend, dem Schlosse zu.

„Wenn es dir recht ist,“ sagte Klothilde, indem sie sich zutraulich an seinen Arm hängte, „so machen wir nachmittags gleich unseren ersten Gang in den Wald. Wie lange schon haben wir ihn nicht mehr betreten! Willst du?“

„Gewiß,“ erwiderte er; „alles was du willst.“

Bald darauf betraten sie das Eßzimmer im Erdgeschosse. Es war ein kühler, weit gewölbter Raum, wo sich das Paar allerdings etwas vereinsamt ausnahm. Ein würdig aussehender Kammerdiener reichte mit zeremoniellem Ernst die Speisen dar.

Nachdem der Freiherr die gewohnte Siesta gehalten, brachen sie nach dem Walde auf, der hinter dem Schlosse lag. Ein kleines Hinterpförtchen in der Umfassungsmauer des Parkes, das der Freiherr aufschloß, führte zuerst auf ein Feld hinaus, wo die Ähren, von rotem Mohn durchleuchtet, bereits eine gelbliche Färbung angenommen hatten. Sie durchschritten es auf einem schmalen Pfade, dann traten sie in das duftige Bereich des Nadelholzes. Langsam bewegten sie sich im Anstiege fort, bis sie endlich eine Waldblöße erreicht hatten, wo eine alte, breitästige Föhre aufragte. Eine Ruhebank stand davor, und an dem rötlich grauen Stamm war ein Bild zu sehen: das schöne, leidvolle Antlitz einer mater dolorosa. Klothilde selbst hatte es vor einigen Jahren nach einem älteren Meister kopiert und an ihrem Lieblingsbaume angebracht. Trotz einer schützenden Überdachung hatten die Gouachefarben bereits gelitten und Klothilde nahm sich vor, nächstens ihren Malkasten mitzunehmen und den Schaden auszubessern.

Die Sonne stand schon tief, als sie wieder in das Schloß zurückkehrten. Nach einer kurzen Trennung fanden sie sich wieder im Salon zusammen. Draußen hatten sich die Fluren bereits in Dämmerung gehüllt, die der Schimmer des zunehmenden Mondes leicht durchbrach. Bald wurden die Lampen gebracht, und man nahm den Tee, worauf sich Klothilde am Klavier niederließ und die Mondscheinsonate zu spielen begann. Zauberhaft quollen die Töne unter ihren Händen auf und drangen durch die offene Altantür in die schweigende Landschaft hinaus, welche jetzt von dem sanften Silbergestirn immer leuchtender erhellt wurde. Und als dann später die beiden Gatten auf dem Altan standen und in die azurene Nacht emporblickten, da wölbte sich der Himmel mit seinen unzähligen Sternen wirklich über zwei glücklichen Menschen.

II.

Drei Wochen waren den Bewohnern des Schlosses auf solche Art in sanfter Gleichmäßigkeit dahingegangen. Der Sommer hatte sich inzwischen zu seiner eigentlichen Höhe erhoben, und der Duft der blühenden Linden schwamm weithin in der Luft. Der Freiherr verbrachte nunmehr die sonnedurchglühten Stunden des Tages in seinem nach Norden gelegenen Arbeitszimmer, wo er bereits allerlei Material zu seinen Denkwürdigkeiten aufgesammelt hatte; seine Gattin aber hielt sich dann in ihrem Sommerhause auf, wo sie eine Art geschäftigen Traumlebens führte. Sie saß an der kleinen Staffelei und strichelte zierlich an ihrer idealen Landschaft, und wenn es in den niederen Räumen allzu schwül wurde, so nahm sie eines ihrer Lieblingsbücher und ließ sich unter den schattenden Birkenwipfeln nieder, zuweilen mit sinnendem Aug’ dem Fluge der Schwalben folgend, die im Zick-Zack über die Wiese hinschossen, oder dem Rufe des Kuckucks, lauschend, der aus dem Walde herübertönte.

Eines Tages, als das Ehepaar eben abgespeist hatte, wurde vom Kammerdiener mit dem Kaffee ein versiegeltes Schreiben gebracht, das für den Freiherrn bestimmt war. Es enthielt die Mitteilung des Gemeindevorstehers, daß der Marktflecken Einquartierung zu erwarten habe. Und zwar den Stab und die erste Division eines Dragonerregiments, welchem der hiesige Landbezirk als Kantonierungsstation angewiesen sei. Dem Orte falle es natürlich nicht allzu schwer, die Offiziere und Mannschaften unterzubringen; hinsichtlich der Pferde jedoch gebe es große Schwierigkeiten, daher man den Freiherrn ersuchen müsse, die bekanntlich sehr ausgedehnten Stallräume des Schlosses zur Verfügung zu stellen. Man würde auf ungefähr dreißig Pferde rechnen. Selbstverständlich wären dann auch die betreffenden Reiter aufzunehmen, die jedoch in den Ställen selbst unterkommen könnten. Auch wäre man sehr dankbar, wenn Seine Exzellenz so liebenswürdig sein wollte, einen oder zwei der Herren Offiziere zu beherbergen, unter denen, wie man in Erfahrung gebracht, einige vom hohen Adel sich befänden. Man beabsichtige in dieser Hinsicht selbstverständlich keinen Zwang, bitte aber um möglichst raschen Bescheid, da die Truppe schon morgen hier einrücken werde.

Der Freiherr hatte das Schreiben mit zunehmendem Stirnrunzeln gelesen und zögerte jetzt, seiner Gemahlin den Inhalt bekannt zu geben. Da sie ihn aber doch erfahren mußte, so überreichte er ihr das Blatt, welches sie, nachdem sie es rasch überflogen, auf den Tisch sinken ließ. „Soldaten!“ rief sie aus, während nach und nach ein tiefes Erröten in ihrem Antlitz zum Vorschein kam.

„Ja, Soldaten!“ erwiderte er in erzwungen resolutem Tone. „Kriegsvolk und Landesplag’,“ setzte er bitter scherzhaft, Heine zitierend, hinzu. „Unser stiller Schloßhof wird morgen einem lärmenden Feldlager gleichen.“

„Und müssen wir uns denn dem Auftrage unterziehen?“ fragte sie, ihn angstvoll ansehend.

„Allerdings, mein Kind“, antwortete er nach kurzem Schweigen. „Wir haben unseren Teil der gemeinsamen Lasten ohne Widerrede zu tragen. Auch läßt sich nicht leugnen, daß unsere Stallungen leer stehen, da ja die ganze Feldwirtschaft verpachtet ist. Wir müssen also die Leute aufnehmen.“

„Und die Offiziere?“ fuhr sie zögernd fort. „Man hat uns in dieser Hinsicht zu nichts verpflichtet.“

„Gewiß. Aber wohl erwogen, können wir auch dieses Ersuchen nicht von der Hand weisen. Es würde illoyal — zum mindesten seltsam erscheinen. Angenehm kann es mir nicht sein, das begreifst du. Wären es noch Offiziere schlechthin, so würde sich die Sache auch einfacher gestalten; aber es sind, wie in dem Blatte zu lesen, auch welche vom Hochadel darunter, und man wird nicht ermangeln, uns gerade diese heraufzusenden. Das ist fatal. Du weißt, ich habe zur Aristokratie seit jeher, nicht bloß infolge meiner Anschauungen, sondern auch als Emporkömmling auf gespanntem Fuße gestanden, wenngleich es meine Stellung mit sich brachte, daß ich mit den Leuten, soweit es not tat, verkehren mußte. Aber da es nun nicht anders geht, so sollen sie in Gottes Namen kommen!“

„Und wo werden wir sie unterbringen?“

„Auch dafür wird sich Rat schaffen lassen. Steht doch der kleine Anbau des linken Flügels, in welchem sich früher das herrschaftliche Gerichts- und Rentamt befand, vollständig leer. Es enthält zwei ganz bequeme Wohnungen, die auch, wie ich glaube, zur Not eingerichtet sind; außerdem kann man einiges hinüberschaffen lassen. Und somit,“ fuhr der Freiherr fort, indem er aufstand und entschlossenen Schrittes auf und nieder ging, „somit ist die Angelegenheit erledigt. Zu einem gesellschaftlichen Verkehr sind wir nicht verpflichtet; auch pflegen die Herren, die gerne ungezwungen unter sich bleiben, einem solchen meistens selbst auszuweichen.“

Sie erwiderte nichts und blieb in unruhiges Nachdenken versunken.

Er trat auf sie zu und legte die Hand beruhigend auf ihren Scheitel. „Nimm diesen Zwischenfall nicht so tragisch, Klothilde“, sagte er. „Er wird vorübergehen wie vieles andere. Freilich,“ fuhr er mit einem leichten Seufzer fort, „es ist kein gutes Vorzeichen, daß der idyllische Zustand, in den hinein wir uns versetzt haben, so rasch gestört wurde. Die ereignislosen Tage, wie sie sich in früherer Zeit so behaglich abgewickelt haben, sind eben vorüber. Brennende politische Fragen, bedeutungsvolle soziale Probleme sind zu lösen, und die Geschichte der Staaten wird vielleicht bald eingreifende Veränderungen zu verzeichnen haben. Schon jetzt, scheint es, nehmen die Verhandlungen mit Preußen einen ernsteren Charakter an, und das für morgen erwartete Regiment dürfte nicht das einzige sein, das an die Grenze gezogen wird; ich glaube, daß man von unserer Seite eine militärische Demonstration beabsichtigt.“

Sie hatte ihm mit dem Ausdruck stiller Verzweiflung zugehört. „Aber was haben wir damit zu schaffen, Alfons?“ rief sie. „Das alles geht dich ja gar nichts mehr an!“

„Liebes Kind,“ erwiderte er mit sanftem Ernste, „den Wellenschlägen der Zeit kann sich auch der am fernsten Stehende nicht entziehen.“

Er hatte bei diesen Worten den Klingelzug ergriffen, der den Kammerdiener herbeirief. Dieser erhielt nun den Auftrag, den Verwalter in Kenntnis zu setzen, daß ihn der Freiherr sofort auf seinem Zimmer erwarte. Hierauf stiegen die beiden Gatten schweigend die Treppe nach dem ersten Stockwerke hinan. Im Vestibül trennten sie sich, wie gewöhnlich um diese Zeit, und jedes begab sich nun in seine Gemächer.

Als sich Klothilde in den ihren befand, sank sie in einen Fauteuil und überließ sich den wogenden Empfindungen, die sie bestürmten. Ja, auch in diesem reinen Herzen gab es Widersprüche; auch in dieser so ungemein glücklichen Ehe fand sich eine Untiefe, welche die junge Frau bis jetzt angstvoll vor sich selbst verheimlicht hatte und von der jetzt mit einem Mal der verhüllende Schleier weggerissen war!

So sehr Klothilde an ihrem Gatten hing, so sehr sie ihn verehrte und hochhielt: eine Seite seines Wesens gab es, über welche sie anders dachte, die sie anders empfand, als er. Das waren seine liberalen Grundsätze. Anfänglich hatte sie diese kaum begriffen und um so weniger Gewicht darauf gelegt, als ja auch der Freiherr keineswegs mit solcher Anforderung an seine junge Frau herangetreten war. Erst nach Ausbruch der Märzbewegung erhielt Klothilde deutliche Vorstellungen und Eindrücke, welche sie dem Gange der Ereignisse innerlich mehr und mehr entfremdeten. Die ersten jubelnden Umzüge mit Fahnen und Fackeln, die Uniformen der Nationalgarde, die wallenden Hutfedern der Studentenlegion schienen ihr wesenlose Maskerade, die sie oft im stillen belächelte. Doch sie verschwieg ihre Meinung, um den Gatten, der dies alles so hoch nahm, nicht zu verletzen, und um keinen Preis hätte sie gewagt, ihn etwa beeinflussen oder umstimmen zu wollen, selbst dann nicht, als sie später den furchtbaren Ernst jener Tage erkannte und schaudernd miterlebte. Aber so kam es auch, daß sie die siegreich einziehenden Truppen mit ganz anderen Empfindungen begrüßte als der Freiherr, und daß ihr Blick dankbar und mit stillem Wohlgefallen auf den kräftigen Gestalten, den wettergebräunten Zügen der Marssöhne ruhte, die jetzt alle Plätze und Straßen der Stadt so reich belebten. Wie oft wurde sie, die früher, gleich den meisten Mädchen und Frauen Wiens, vor jeder Uniform eine eigentümliche, oft verletzend sich kundgebende Scheu empfunden hatte, durch vernehmbares Säbelgeklirr ans Fenster gelockt, um sofort, tief errötend, vor den flammenden Blicken vorübergehender Offiziere wieder zurückzutreten. Und da hatte sie auch, zum erstenmal in ihrer Ehe, die Entdeckung gemacht, daß sie ein empfängliches Herz besitze, daß sie dieses Herz aufs strengste überwachen müsse. Sie fühlte, daß sie bereits auf dem Wege war, ihrem Gatten in Gedanken untreu zu werden, und deshalb hatte sie auch diesmal das Schloß und seine Abgeschiedenheit doppelt freudig begrüßt. Ja, hier in dieser seligen Stille, bei ihrer Staffelei, bei ihren Büchern, von hehren Tönen umrauscht, konnte ihr nichts Verwirrendes nahen, konnte sie niemals sich selbst, niemals ihrer Pflicht untreu werden! Und nun war die Gefahr plötzlich so nahe — so entsetzlich nahe gerückt!

Es benahm ihr den Atem. Sie stand auf und öffnete eines von den Fenstern, welche, um die Hitze des Tages abzuhalten, samt den Jalousien geschlossen waren. Es war zum Ersticken im Zimmer. Aber auch von draußen schlug ihr dumpfe Schwüle entgegen. Sie blickte hinaus. Kein Blatt regte sich, rings umher brütete es wie ein Gewitter.

Unruhig bewegte sie sich im Zimmer bald hierhin, bald dorthin, nahm ein Buch zur Hand und versuchte zu lesen; aber es gelang ihr nicht.

Gegen Abend trat der Freiherr bei ihr ein. Er hatte dem Verwalter die nötigen Aufträge erteilt, hatte nunmehr selbst nachgesehen und alles in Ordnung gefunden. „Du aber, armes Herz, scheinst dich noch immer nicht beruhigt zu haben“, schloß er seinen Bericht.

Sie erwiderte nichts, und schmiegte sich nur, wie Schutz suchend, an seine Brust.

„Nun, ich begreife es wohl“, fuhr er fort. „Ist mir doch selber recht peinlich zumute. Aber komm, gehen wir jetzt zum Tee. Und zur Feier des bevorstehenden Ereignisses kannst du uns dann die Eroica spielen!“

Er hatte dies, um sie aufzumuntern, in satirisch scherzhaftem Tone gesprochen; sie aber streckte abwehrend die Hände aus und rief: „Nein, nein, heute nicht!“

„Nun, freilich, sie würde ja gar nicht passen! Also etwas Lustiges! Etwa einen Marsch aus Vielka oder ein paar Lannersche Walzer.“

Trotz dieser Erheiterungsversuche blieb die Stimmung eine gedrückte, und als sich Klothilde später doch an den Flügel setzte, wurde sie schon bei den ersten Tönen, die sie anschlug, von rollendem Donner unterbrochen. Das Gewitter, welches in der Tat langsam und zögernd heraufgestiegen war, kündigte jetzt seine unmittelbare Nähe an. Ein Blitz zuckte durch die Nacht, während ein heftiger Windstoß die halb offen stehende Glastür weit aufriß.

Der Freiherr stand auf, um sie zu schließen. „Das erste Gewitter dieses Sommers“, sagte er hinausblickend. „Es droht recht arg zu werden.“

Wirklich folgte schon Blitz auf Blitz, die Landschaft taghell erleuchtend; immer näher, immer mächtiger erscholl der Donner, und ächzend warfen sich die dunklen Wipfel der Bäume im Sturm hin und her.

Klothilde war an die Seite ihres Gatten getreten und betrachtete mit ihm das furchtbar prächtige Schauspiel, bis sie sich endlich mit leichtem Beben geblendet abwandte.

„Komm,“ sagte er, „machen wir Nacht und lassen bei geschlossenen Läden die Elemente sich austoben.“

Ihre Schlafgemächer grenzten aneinander. Um das Schloß heulte der Sturm, rauschte der Regen, hallte der Donner — und so blieben sie noch lange wach.

III.

Dem nächtlichen Gewitter war kein heiterer Morgen gefolgt. Ein rauher Nordwind sauste noch immer durch die Wipfel und trieb am Himmel düstere Wolken vorüber, die sich in heftigen Güssen entluden. So ließ sich denn der Tag für die Erwachenden keineswegs freundlich an, und in schweigender Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, wurde das Frühstück eingenommen. Die Reiter, so hieß es, würden schon um zehn Uhr in den Ort einrücken, und diesem Augenblicke sah die Dienerschaft keineswegs so unfroh entgegen, wie die Herrschaft, denn mit den Soldaten kam ja Leben und Abwechslung in die öde Stille und Einsamkeit des Schlosses herauf. Besonders der weibliche Teil gab eine sehr auffallende Erregung kund. Schon als die Kammerzofe des morgens das Zimmer der Freifrau betrat, konnte diese wahrnehmen, daß sich das Mädchen viel zierlicher als sonst gekleidet hatte; aber auch in der Küche erschienen die Mägde in ihrer Weise herausgeputzt und liefen in unnützer Geschäftigkeit hin und her, während selbst die betagte wohlbeleibte Köchin eine frische Haube mit bunten Bändern aufgesetzt hatte. Nur der Kammerdiener bewahrte unerschütterlich seine vornehme Ruhe, und der Kutscher des Freiherrn, ein hagerer, ziemlich steifer Rosselenker, machte sogar ein etwas verdrießliches Gesicht, da ihm nunmehr eine bedenkliche Schmälerung seiner Hoheitsrechte im Stalle bevorzustehen schien.

So kam die zehnte Stunde allmählich näher. Der Himmel hatte sich inzwischen aufgeklärt, und die Gatten traten auf den Altan hinaus. Von dort hatte man ja die Landstraße in Sicht, die sich, soweit das Auge reichte, in mehrfachen Krümmungen durch die Fluren hinzog, und auf welcher nunmehr die Reiter heranrücken mußten. Und wirklich, dort in äußerster Ferne funkelte es mit einem Male wie Feuer auf. Das waren die Helme, welche die hervorbrechenden Sonnenstrahlen auffingen und widerspiegelten. Und schon kam die Truppe mit ihren weißen Mänteln zum Vorschein, gleich einer seltsamen, hell gleißenden Riesenschlange sich näher und näher windend. Schon konnte man die einzelnen Pferde, konnte die Offiziere von der Mannschaft unterscheiden, konnte die Standarte wahrnehmen, die in ihrem Überzuge von schwarzem Wachstuch in die Luft ragte. Und nun ein helles Trompetensignal. Kommandorufe ertönten; die Säbel fuhren blitzend aus den Scheiden — und in geschlossenen Reihen, unter langgezogenen Fanfaren zogen die Schwadronen in den Marktflecken, ein, von welchem aus bereits eine Menge Volks entgegengelaufen war.

„Da sind sie“, sagte der Freiherr, und trat mit Klothilde in den Salon zurück. „Es wird noch eine Weile dauern, bis wir unseren Teil zu Gesicht bekommen.“

„Wir wollen es abwarten“, entgegnete sie, den Schal, den sie über ihren Morgenanzug geworfen hatte, fröstelnd über der Brust zusammenziehend. Dann ging sie, um sich für den Tag anzukleiden.

Er aber setzte sich an ein Fenster und blickte erwartungsvoll hinaus.

Es zeigte sich lange nichts; nur der Regen fiel in Strömen auf die Pfade der Avenue. Die Dragoner hatten offenbar unten auf dem Marktplatze Aufstellung genommen, und die Bequartierung ging jetzt allmählich vor sich. Von Zeit zu Zeit drang ein Trompetensignal durch die Stille.

Nun aber wurden Hufschläge vernehmbar, und es dauerte nicht lange, so kam ein kleiner Trupp in raschem Trabe die Avenue heraufgeritten. Die Pferde über und über mit Kot bespritzt, triefend von Nässe. Voran ein Offizier auf einem schlankfüßigen Rappen, den Mantelkragen emporgestülpt, so daß unter dem Helm nur eine kühn geschwungene Nase und zwei dunkle Augen, die rasch und flüchtig nach den Schloßfenstern aufblickten, zum Vorschein kamen. Ein Reitknecht mit zwei in Decken gehüllten Handpferden folgte; ganz zuletzt kam ein leichter Fourgon nachgefahren.

Der Verwalter, der den Auftrag erhalten hatte, die Ankömmlinge zu empfangen, war ihnen schon entgegengeeilt und lenkte sie jetzt seitwärts um das Schloß herum nach dem Hofe, wo sich die Ställe und das Amtshaus befanden.

Nach einiger Zeit erschien er bei dem Freiherrn, der mittlerweile sein Zimmer aufgesucht hatte, mit der Meldung, daß alles aufs beste untergebracht sei. Nur ein Offizier sei gekommen, und zwar ein Rittmeister, dessen Leutnant krank in der letzten Station zurückgeblieben sei. Die betreffende Wohnung habe man dem Wachtmeister eingeräumt, der wahrscheinlich seine Stelle vertrete.

Als der Verwalter sich entfernt hatte, trat bald darauf der Kammerdiener ein und überreichte eine Karte. Der Freiherr nahm sie und las: „Rittmeister Graf Poiga-Reuhoff.“

Der Herr Graf, berichtete der Kammerdiener, habe durch seinen Reitknecht anfragen lassen, ob er noch im Laufe des Vormittags die Ehre haben könne, Seiner Exzellenz aufzuwarten, was der Freiherr in verbindlichster Weise bejahte. Hierauf begab er sich in das erste Stockwerk hinunter, um Klothilde in Kenntnis zu setzen. Sie befand sich in ihrem Ankleidezimmer, und er klopfte leise an die Tür. „Bist du allein?“ fragte er.

„Ja. Ich bin im nächsten Augenblick bereit —“

Er setzte sich, die Karte in der Hand, auf einen Stuhl.

Klothilde erschien bald. Sie sah etwas bleich, aber wundervoll aus in einem hochgeschlossenen Kleide aus braunem Foulard mit mattem Goldglanz. Eine durchsichtig weiße Halskrause hob den Schmelz ihres Antlitzes.

Der Freiherr betrachtete sie unwillkürlich mit Bewunderung, sagte jedoch nichts und überreichte ihr bloß die Karte.

Sie warf einen Blick darauf: „Ein Graf?“ sagte sie dann.

„Wie vorausgesehen. Wenn ich nicht irre, sind die Poiga in Böhmen — in der Nähe Prags begütert. Er will uns sofort einen Besuch machen.“

Uns? Muß ich dabei sein?“

„Gewiß. Man müßte sonst eine Ausrede ersinnen. Und wozu — da du ihn doch einmal wirst kennen lernen müssen.“

„Es ist wahr“, erwiderte sie gefaßt. „Wir sind eigentlich recht töricht. Ich habe inzwischen darüber nachgedacht und gefunden, daß wir allzuviel Gewicht auf diese Einquartierung legen.“

„Du hast recht,“ erwiderte er mit zustimmendem Lächeln, „wir benehmen uns, als hätten wir niemals im Leben mit Menschen verkehrt.“

Sie begaben sich in den Salon. Auf einem Tische lagen Zeitungen und Briefe, die mit der Post gekommen waren. Auch ein Brief an Klothilde fand sich vor, bei dessen Anblick sie ausrief: „Von Tante Lotti!“

Sie setzte sich und begann das ziemlich umfangreiche Schreiben zu lesen, während der Freiherr die Zeitungen durchblätterte.

Jetzt rief sie: „Wie schade! Lotti schreibt mir, daß sie vor halbem August nicht bei uns eintreffen kann; es sind wichtige Angelegenheiten, die sie bis dahin in Wien zurückhalten. Und gerade jetzt wäre sie uns von großem Nutzen!“

„Allerdings“, erwiderte der Freiherr. „Sie ist eine praktische Frau, die nicht viele Umstände macht.“

So ging die Zeit hin, und die Turmuhr holte gerade aus, die zwölfte Stunde zu schlagen, als vom Korridor herein Tritte und Sporengeklirr vernehmbar wurden.

„Man kommt“, sagte der Freiherr, indem er sich erhob und dem nunmehr Eintretenden, welchem der Kammerdiener die Tür geöffnet hatte, entgegenging.

Auch Klothilde stand auf und richtete die Augen scheu auf die hohe, männlich schlanke Gestalt, die der knapp anliegende weiße Uniformrock sehr vorteilhaft hervorhob.

„Gestatten Sie, Exzellenz,“ begann der Graf, indem er sich leicht verbeugte und die schöne Frau mit einem raschen Blick streifte, „gestatten Sie, daß ich mich persönlich vorstelle. Es hat sich nun einmal gefügt, daß wir in Ihren Burgfrieden einbrechen mußten, und es braucht wohl keiner Versicherung, daß ich selbst an dieser unliebsamen Störung keine Schuld trage.“

Der Freiherr erwiderte einige verbindliche Worte und bat den Grafen, Platz zu nehmen.

„O ich weiß,“ sagte dieser, während er sich in einem Fauteuil niederließ und Klothilde, die sich auf das Sofa gesetzt hatte, ganz und voll ins Auge faßte, „ich weiß und begreife sehr wohl, daß derlei Überfälle höchst lästig sind. Aber was will man tun? Man muß sie eben wohl oder übel hinnehmen. Sie dürften übrigens“, fuhr er, den Kopf hochmütig zurückwerfend, fort, „nicht allzuviel zu leiden haben. Meine Dragoner sind ehrliche Mährer, also im ganzen stille und zurückhaltende Leute, die mit ihren heimischen Mehlklößen vollständig zufrieden sind. Und was meine Person betrifft, so bitte ich, auf mich nicht die geringste Rücksicht zu nehmen. Ich habe nur sehr wenige Bedürfnisse und führe das Notwendigste, wenn es nur einigermaßen angeht, stets mit mir. Speisen werde ich unten an der Wirtstafel mit den Offizieren. Sie sehen also,“ schloß er, stolz ablehnend, „daß ich außer der höchst angenehmen Wohnung, die Sie mir zur Verfügung gestellt, auf Gastfreundschaft durchaus keinen Anspruch mache.“

Eine Pause trat ein, die der Freiherr mit der Frage unterbrach, woher das Regiment komme.

„Aus Italien, wo wir so ziemlich unnütz waren, da die Kavallerie in den sumpfigen Reisfeldern keine rechte Verwendung finden konnte. Nun, Papa Radetzky ist trotzdem mit den Italienern fertig geworden. Wir sollten hierauf mit anderen Truppen unter Haynau nach Ungarn marschieren. Unterwegs aber erhielt das Regiment Order, hierher zu rücken. Es bereitet sich wohl etwas gegen Preußen vor; der alte Hegemoniekitzel scheint sich dort wieder zu regen.“

„Der König von Preußen hat die deutsche Kaiserkrone abgelehnt“, sagte der Freiherr im Tone leiser Zurechtweisung.

„Weil sie ihm vom Frankfurter Parlament angeboten wurde“, entgegnete der Graf mit unterdrückter Heftigkeit. „Es wäre Unsinn gewesen, sie von solcher Seite anzunehmen. Die Schwäche Österreichs ist eine weit bessere Chance, und da Kossuth und Görgei noch immer obenauf sind, glaubt man auch damit rechnen zu können. Aber das russische Bündnis wird den Dingen eine ganz andere Wendung geben. Eure Exzellenz wissen doch bereits — —?“

„Ich habe von diesem Bündnisse in den Zeitungen gelesen“, sagte der Freiherr ruhig.

„Der Zar ist mächtig“, fuhr der Graf mit blitzenden Augen fort, „und es kann der Welt gar nicht schaden, wenn sie nach all dem tollen Freiheitsschwindel wieder einmal tüchtig die Knute zu spüren bekommt.“

Der Freiherr erwiderte nichts und suchte das Gespräch auf andere, näher liegende Dinge zu lenken, wobei nun auch Klothilde Gelegenheit fand, einige Worte mit einzuflechten. Aber der Graf erhob sich bald.

„Ich darf die Herrschaften nicht länger stören“, sagte er, sich beim Abschiede mit herablassender Förmlichkeit verbeugend. „Auch werde ich unten erwartet. Noch eines will ich sagen. Sollten sich wider Vermutungen meine Leute Unzukömmlichkeiten erlauben, so bitte ich, sich sofort an mich zu wenden. Für Störungen, welche mit der Handhabung des Dienstes verbunden sind, kann ich natürlich nur um Entschuldigung bitten, und die Schloßherrin“ — er wandte sich dabei an Klothilde — „wird es mir hoffentlich nicht allzu schwer anrechnen, wenn sie durch unvermeidliche Trompetensignale — oder durch das Wiehern und Stampfen der Pferde aus süßen Morgenträumen aufgeschreckt wird.“

Als er sich entfernt hatte, herrschte längeres Schweigen. Endlich sagte der Freiherr: „Hab’ ich es nicht vorhergesagt? Es ist wirklich ein Glück, daß wir uns um ihn nicht zu kümmern brauchen. — Wie findest du ihn?“ setzte er nach einer Weile, sie nicht ohne Besorgnis anblickend, hinzu.

Sie zuckte leicht die Achseln.

„Der richtige Aristokrat“, fuhr der Freiherr, mehr zu sich selbst sprechend, fort. „Welche Anschauungen! Aber er hat ja recht“, schloß er mit bitterem Lächeln. „Diesen Herren gehört jetzt wieder die Welt.“

IV.

Die Äußerung, welche der gräfliche Rittmeister über seine Leute getan, bewahrheitete sich. Sie enthielten sich, wie man sah, ohne besonderes Verbot alles überflüssigen Lärmens und gingen in meist wortloser, etwas melancholischer Gleichmäßigkeit ihren Verrichtungen nach. Waren diese abgetan, so streckten sie sich auf ihr Strohlager hin oder saßen rauchend auf den langen Bänken, die an der Stallmauer angebracht waren; manchmal gingen sie des Abends paarweise oder in Gruppen in den Ort hinunter, um aber in der Regel lange vor dem Erklingen der Retraite wieder heimzukehren. Selbst um das schöne Geschlecht im Schlosse kümmerten sie sich äußerst wenig, und die Mägde machten sich ganz unnütz öfter als sonst bei dem Auslaufbrunnen zu tun, der zwischen der Küche und dem Stalle sein Wasser versprudelte. Hin und wieder näherte sich wohl der eine oder der andere von den Reitern mit einem tschechischen Scherzworte, das aber die guten Wiener Kinder (selbst die Eingeborenen sprachen nur deutsch) nicht verstanden, oder half ihnen mit ungeschlachter Galanterie Eimer und Krüge aufnehmen; weiter aber kam es nicht, da man zu keinem Gedanken- und Gefühlsaustausche gelangen konnte. Nur der Wachtmeister, ein behäbiger, auf seinen struppigen, künstlich verlängerten Schnurrbart sehr stolzer Mann, schien in dieser Hinsicht unternehmender sein zu wollen. Er hatte es aber, wiewohl er bisweilen auch in der Küche herumschnüffelte und schäkerte, im Bewußtsein seiner Würde mehr auf das niedliche Kammerkätzchen abgesehen, das nun ebenfalls öfter, als gerade notwendig war, durch den Hof huschte. Diese Franziska jedoch (eigentlich wurde sie Fanny genannt) fand diesen Werner (zufällig führte der Wachtmeister in der Tat diesen Namen) keineswegs nach ihrem Geschmacke; auch sie strebte nach Höherem, und ein schmucker Leutnant wäre ihr gerade recht gewesen. Obzwar nun ein solcher fehlte — und der Herr Graf unnahbar schien, so hatte sie dennoch für den ältlichen Galan nur ein herablassendes Kopfnicken oder höchstens ein paar schnippische Worte in Bereitschaft.

So geschah es, daß schon in kürzester Zeit fast das frühere stille Leben im Schlosse herrschte und die Reiter, deren Erscheinen so viele Aufregung hervorgebracht hatte, kaum mehr beachtet wurden. Nur wenn sie die Pferde gesattelt aus dem Stalle zogen, aufsaßen und unter dem Kommando des Wachtmeisters, der mit einer langen Peitsche mitten in dem Rund des Hofes stand, Schule ritten, da gab es immerhin ein Schauspiel, dem man nicht ungern zusah, und welches bisweilen auch der Rittmeister vom Fenster seiner Wohnung aus, einen kurzen Tschibuk rauchend, beobachtete.

Eines Tages hatten sich der Freiherr und seine Gemahlin in einen galerieartigen Raum begeben in dessen Mitte ein Billard stand, um sich von dort aus, da die Fenster nach dem Hofe gingen, gleichfalls das Traben und Galoppieren mit anzusehen. Es gab diesmal einige besonders widerspenstige Pferde, und der Wachtmeister fand Gelegenheit, seine Peitsche eindringlich spielen zu lassen, wobei nicht selten die im Sattel wankenden Reiter mitgetroffen wurden.

Der Freiherr hatte sich bald wieder entfernt; Klothilde aber war noch am Fenster zurückgeblieben, und sah jetzt, wie sich die Leute zum Abritt anschickten. Inzwischen jedoch war ein prachtvolles, isabellfarbiges Pferd, leicht aufgezäumt, aus dem Stalle gezogen und vor das Wohnhaus des Rittmeisters gelenkt worden. Und gleich darauf trat dieser aus der Tür, in Mütze und Reitjacke, eine Gerte in der Hand.

Bei seinem Anblick trat Klothilde erschrocken vom Fenster zurück. Ihr erster Antrieb war, aus dem Zimmer zu fliehen; aber sie fühlte sich unwiderstehlich gefesselt. Mit leichtem Zittern trat sie hinter einen der schweren Halbvorhänge und blickte, so sich verborgen glaubend, wieder in den Hof hinab, während sich der Graf eben in den Sattel schwang. Es kostete ihm einige Mühe, denn das edle Tier war voll nervöser Unruhe. Es trat, aufgeregt schnaubend, beständig zur Seite und versuchte endlich mit den Vorderfüßen in die Luft zu steigen, von dem Stallknechte nur mit Anwendung aller Kraft niedergehalten. Endlich saß der Reiter oben und tätschelte liebkosend den glänzenden, mit einer langen, fast weißen Mähne gezierten Hals des Tieres, das ihn aber noch immer nicht auf sich dulden wollte. Es bäumte sich hoch auf, schüttelte den Kopf und war nicht nach vorwärts zu bewegen, vielmehr trat es jetzt, durch Schenkeldruck und stachelnde Sporen gepeinigt, einen Rückgang im Kreise an, so daß der Wachtmeister, der sich inzwischen genähert hatte, schon seine Peitsche entrollen wollte. Der Graf aber winkte unwillig ab und ließ dem Pferde seinen Willen. In dem Augenblick jedoch, als er in Gefahr kam, an die Mauer gedrückt zu werden, versetzte er ihm, nach rückwärts ausholend, solch wuchtige Gertenhiebe, daß es mit einem Male einige rasche Sätze nach vorwärts tat — und zwar quer über den Hof, in das Wiesenrondell hinein, das einen kleinen flachen Zierteich umgab. Dort aber riß er es — sich weit zurücklehnend — so mächtig herum, peitschte ihm derart die Flanke, daß es unwillkürlich in den gebahnten Weg einbog, wo es, am ganzen Leibe zitternd, stillestand. Nun neigte sich der Graf wieder schmeichelnd zu seinem Halse nieder und langte aus der Tasche eine Hand voll Zuckerstücke, die er mit vorgestrecktem Arm dem Pferde anbot. Dieses blähte die Nüstern und betastete mit den Lippen zurückhaltend die gebotene Süßigkeit, die es zuletzt doch mit wachsendem Behagen zwischen dem schäumenden Gebisse zermalmte. Nun erhielt es leichten Schenkeldruck und schmeichelnden Zuruf; noch widerstrebte es — aber allmählich setzte es sich in Gang, immer williger, immer freier, immer leichter, bis es zuletzt mit flüchtigen, weitausgreifenden Hufen, den Kopf anmutig auf und niederbewegend, in der Runde dahinflog.

Mit klopfendem Herzen und wachsender Erregung hatte Klothilde diesen Vorgängen zugesehen. Sei es nun, daß sie dabei unbewußt aus dem schützenden Verstecke getreten war, sei es, daß dieses sich überhaupt nicht genügend erwies, die junge Frau mußte von unten jedenfalls zu erblicken gewesen sein. Denn als jetzt der Graf im Bogen wieder an dem Schlosse vorbeikam, sah er rasch empor und brachte, sich im Sattel verneigend, mit eigentümlichem Lächeln einen zwar höchst ehrerbietigen — und doch nicht minder vertraulichen Gruß dar.

Ohne ihn zu erwidern, trat Klothilde erbleichend zurück und floh auf ihr Zimmer.

V.

Seitdem wagte sie es nicht mehr, an ein Fenster zu treten. Sie fürchtete, des Grafen ansichtig zu werden — fürchtete es um so mehr, als sie deutlich empfand, wie sehr sie dies eigentlich im Tiefsten ihrer Seele wünsche. Hatte sie sich doch schon früher im Geiste mehr mit ihm beschäftigt, als sie es vor sich selbst verantworten konnte. Seine hohe Gestalt, das dunkle Feuer seiner Augen, sein gebräuntes, stolzes Antlitz, von welchem das kurzgeschnittene blonde Haupthaar und der feine rötliche Schnurrbart eigentümlich abstachen, schwebte ihr in jeder einsamen Stunde vor und schlichen sich sogar nachts in ihre Träume. Wie oft hatte sie sich auf dem sträflichen Wunsch ertappt, unter irgend einem Vorwande das Zimmer ihrer Zofe zu betreten, weil sie zufällig wahrgenommen, daß man von dort aus das kleine Amtshaus im Auge habe, wo der Graf, ohne sich — so schien es — um irgend jemand zu kümmern, wie meilenweit vom Schlosse entfernt lebte. Aber jetzt, nachdem er sie so seltsam eindringlich, so rätselhaft vertraulich gegrüßt, hatte sie mit einem Male die Überzeugung, daß auch er sich im Geiste mit ihr beschäftigt habe, und fühlte sich nunmehr von den geheimnisvollen Fäden seiner Gedanken umsponnen.

So lebte sie in beständiger, vor ihrem Gatten verhehlter Unruhe dahin, die ihr um so qualvoller wurde, als ihr die Gelegenheit benommen war, ihre frühere Lebensweise wieder aufzunehmen. Denn die junge Frau trug jetzt eine seltsame Scheu, sich in den Park zu begeben; zudem herrschte noch immer unfreundliches, veränderliches Wetter, und durch die Wipfel wehte es feucht und kühl. Klothilde blieb daher auf ihre Zimmer angewiesen und unternahm nur zuweilen am Nachmittage, tief in einem halbgedeckten Wagen zurückgelehnt, mit ihrem Gatten eine kurze Spazierfahrt.

Als aber jetzt wieder der Himmel blau, die Tage hell und sonnig geworden waren und die leuchtende Glut des Juli über der Landschaft lag, da begann Klothilde eine unendliche Sehnsucht nach ihrem trauten Asyl zu empfinden. Sie glaubte zu fühlen, wie sich, wenn sie nur wieder einmal an ihrer Staffelei oder mit einem Buche unter den lispelnden Birkenwipfeln säße, alles Verwirrende und Beängstigende von ihr ablösen, wie ein tiefer, wunschloser Friede in ihre Seele einziehen würde. Auch die Gefahr, im Parke mit dem Grafen zusammenzutreffen, schien während des Vormittags ausgeschlossen. Denn der ritt ja, wie sie in Erfahrung gebracht, jetzt jeden Morgen mit seinen Dragonern fort, zu irgend welchen größeren Übungen die, ziemlich weit vom Marktflecken entfernt, auf freiem Felde, vorgenommen wurden. Dann blieb er auch gleich unten zu Tisch und kehrte erst in den späteren Nachmittagsstunden nach Hause zurück.

Sie setzte also eines Morgens nach dem Frühstück ihren Gartenhut auf. „Ich gehe heute in den Park“, sagte sie auf einen fragenden Blick ihres Gatten. „Zum erstenmal seit mehr als vierzehn Tagen. Du meinst doch auch, daß ich — —“ setzte sie zögernd hinzu, da sie zu bemerken glaubte, daß seine Stirn nicht ganz frei war.

„O gewiß, gewiß“, fiel er rasch ein. „Warum solltest du nicht? Es hat mich ohnehin gewundert, daß du so lange hier oben ausgehalten hast“, fügte er mit leichtem Scherze bei.

„Das Wetter war nicht sehr einladend. Außerdem begreifst du wohl —“

Er hatte sich erhoben und stand jetzt dicht neben ihr. „Ich begreife“, sagte er leise. „Aber das wäre doch zu viel. Geh’ nur, mein Kind“, fuhr er fort, indem er sie sanft auf die Stirn küßte. „Vielleicht suche ich dich später unten auf.“

Sie nahm ihren Sonnenschirm und schritt die Treppe hinab. Im Vorhause warf sie einen scheuen Blick nach dem Hofe. Dort war alles still, wie ausgestorben; denn die Dragoner waren weggeritten und noch nicht zurückgekehrt. Nur eine Stallwache lungerte träg auf einer Bank. Klothilde durchschritt jetzt einen schmalen Seitengang, öffnete eine kleine Pforte — und stand unmittelbar auf dem prangenden Parterre. Es war die Zeit des Nelkenflors, und weiße Falter flatterten über diesen würzigen Blumen, welche in allen Farbenschattierungen ihren heißen Duft ausatmeten. Sie bückte sich, um eine von hellem, brennendem Rot zu pflücken und steckte sie vor die Brust. Je tiefer sie jetzt in den Park hineinschritt, desto beschwingter fühlte sie sich. Mit Entzücken sog sie die warme und doch so erquickende Sommerluft ein, und strahlend glitt ihr Blick über das vertraute Grün der alten Baumgruppen. Nun hatte sie schon die Wiese, hatte das Tirolerhaus erreicht, dessen Tür sie mit rascher Hand aufschloß. Und jetzt betrat sie die lieben, dämmerigen Räume, in die, nachdem Türen und Fensterläden geöffnet waren, der helle Tag hereinflutete. Ja, da stand und lag noch alles so, wie sie es vor Wochen verlassen. Auf dem Tische die Bücher, dort die Staffelei mit der nahezu vollendeten Landschaft; selbst die Blumen in der Vase, die letzten, die sie unten auf der Wiese gepflückt, waren noch nicht vollständig verwelkt. Unwillkürlich breitete die junge Frau wie zur Begrüßung die Arme aus; dann fuhr sie mit beiden Händen leicht über die Brust hinab, als wollte sie damit alles Belastende und Unreine, das noch auf ihr lag, abstreifen. Hierauf ging sie daran, wie sie es stets gewohnt war, einige Ordnung zu schaffen. Sie reihte die Bücher aneinander, entfernte die Blumen aus der Vase, um sie später durch andere zu ersetzen, und begann mit einem leichten Tuche, das sie einem Schränklein entnommen, die feine Staubschicht wegzuwischen, die sich über einzelne Gegenstände gebreitet hatte. Bei dieser Beschäftigung überhörte sie ganz ein leises Trompetenklingen in der Ferne, welches anzeigte, daß die Reiter von ihren Übungen nach dem Marktflecken zurückkehrten.

Nun hatte sie bereits die Stühle zurechtgerückt und die Staffelei mit allem Nötigen instand gesetzt. Aber mit der Arbeit wieder beginnen konnte und mochte sie heute noch nicht. Sie wollte sich fürs erste ganz und voll den seligen Empfindungen hingeben, welche hier — o, sie hatte es vorausgesehen! — über sie gekommen waren. Ausgenießen wollte sie so recht den fühlbaren Beginn wonniger Befreiung und sich dabei hinüberträumen in das reine, ungetrübte Glück kommender Tage! So ging sie wieder langsam hinunter und ließ sich auf die Bank nieder, wo sie so gerne saß. Dort weilte sie jetzt, in ihr Innerstes versunken, während die Zeit mit unmerklichem Flügelschlage an ihr vorüberzog ...

Endlich sah sie nach der kleinen Uhr, die sie im Gürtel trug. Es war Mittag geworden. Sie aber hatte noch zwei volle Stunden vor sich, bis die Tischglocke sie rief; auch würde ja noch früher ihr Gatte erscheinen. Einstweilen konnte sie einen Rundgang um den Teich unternehmen, der in nächster Nähe oberhalb des Tirolerhauses lag. Klothilde liebte die ausgedehnte, von Schilf und Binsen durchsetzte Wasserfläche, an deren Ufern Erlen und hohe Ulmen tiefe, schwermütige Schatten verbreiteten. Kaum, daß sie dort sichtbar geworden, kamen sogleich zwei Schwäne herangeschwommen, denn sie waren gewohnt, daß ihnen die Schloßherrin hin und wieder Brot zuwarf. Heute aber war sie mit leeren Händen gekommen, und die silberweißen Vögel begleiteten fruchtlos ihre Schritte.

Nachdem Klothilde den Teich langsam umgangen hatte, lenkte sie halb unbewußt ihre Schritte einem Hügel zu, welcher, künstlich angelegt und von hohen Fichten bestanden, über die Umfassungsmauer des hier sein Ende erreichenden Parkes emporragte. Ein schmaler Pfad wand sich durch das Gehölz und führte nach dem Gipfel, der den Ausblick auf die gegenüberliegenden Wälder und Höhenzüge eröffnete und auf welchem jetzt Klothilde angelangt war. In demselben Augenblick jedoch prallte sie mit einem halb unterdrückten Aufschrei zurück. Denn auf einer bequemen Ruhebank, die dort oben angebracht war, saß der Graf, lässig zurückgelehnt, eine Zigarre rauchend. Jetzt erhob er sich und sagte lächelnd mit einer tiefen Verbeugung: „Sie erschrecken ja, gnädigste Chatelaine, als wäre ich eine Schlange, auf die Sie treten könnten.“

Alles Blut war aus ihrem Antlitz gewichen. Sie stand vor ihm in blasser Schönheit, sich mit der Rechten an einem Fichtenstamm haltend, denn es war ihr, als müßte sie umsinken.

„Ich kann nur bedauern,“ fuhr er, die Zigarre wegschleudernd, fort, „daß Ihnen mein Anblick solches Entsetzen eingeflößt hat. Aber fassen Sie sich doch!“ Er trat auf sie zu, wie um sie zu stützen.

Sie machte eine abwehrende Bewegung und sagte mit bebender Stimme: „Verzeihen Sie, ich war so gar nicht vorbereitet, daß jemand —“

„Hier sitzen könnte?“ erwiderte er mit leichter Ironie. „Fühlen Sie sich denn gar so sicher in dieser Einsamkeit? Früher mag dies wohl der Fall gewesen sein — aber jetzt kann es immerhin Leute geben, die Ihnen auflauern. Zum Beispiel ich. Ich habe es schon gestern getan — und heute gehe ich seit einer Stunde im Park umher.“

„Ich habe Sie nicht bemerkt.“

„Das weiß ich. Sie saßen so in Gedanken vertieft dort unten vor dem kleinen Hause. Auch habe ich mich ziemlich gedeckt gehalten und bin sehr leise aufgetreten. — Aber Sie wollten sich jetzt gewiß hier niederlassen?“ setzte er hinzu, indem er mit einer einladenden Handbewegung nach der Bank wies.

„O nein“, versetzte sie rasch. „Ich dachte nicht daran, hier zu verweilen — es war ein bloßer Zufall, daß ich — —“

„Der Zufall ist nichts anderes, als geheimnisvolle Notwendigkeit“, sagte er. „Ich wollte sie vorhin nicht stören; als ich aber, meinen Weg fortsetzend, diese Stelle entdeckt hatte, da dachte ich, wie schön es wäre, wenn Sie sich hier einfinden würden. Und so war es mein lebhafter Wunsch, der Sie, ohne daß Sie es gewollt, hieher geführt.“ Er hatte sich bei diesen Worten leicht zu ihr hingebeugt und sah sie mit seinen dunklen Augen eindringlich an.

Sie wußte nicht, was sie erwidern sollte, und fühlte nur, wie ihr eine heiße Glut ins Antlitz stieg.

„Ja,“ fuhr er fort, seine Stimme zu schmeichelndem Flüstern dämpfend, „ja, schöne Chatelaine, ich habe nicht bloß gestern und heute — ich habe stets an Sie gedacht, seit ich Sie zum erstenmal gesehen. Und schon damals hab’ ich erkannt, daß wir uns finden würden.“

Sie rang nach Atem. Da war es ja, da hatte er ausgesprochen, was sie geahnt, was sie gefürchtet! Und sie — o Gott! — sie stand da, ratlos, hilflos — und fand kein Wort der Entgegnung, der Zurechtweisung. Was konnte — was mußte er von ihr denken?

„Und nicht wahr?“ setzte er hinzu, „wir haben uns gefunden — werden uns wiederfinden —“

Er hatte bei diesen Worten mit seiner nervigen, aber feinen Hand, an der ein kostbarer Siegelring glänzte, ihre bebenden Finger erfaßt und einen Arm um ihren Leib gelegt. Sie wollte sich ihm entziehen, ihn zurückstoßen — aber sie vermochte es nicht. Ihre Kniee wankten, die Sinne drohten ihr zu vergehen.

„O, du liebst mich!“ lispelte er, indem er versuchte, ihren bleichen, abgewandten Mund zu küssen, „nicht wahr, du liebst mich?“ Und da sie verzweiflungsvoll widerstrebte, fuhr er fort: „Kommen Sie, lassen Sie uns hier bleiben an diesem trauten, verschwiegenen Ort!“ Er suchte sie mit Gewalt nach der Ruhebank zu lenken. „Hier stört uns niemand — —“

Diese Worte brachten sie zur Besinnung. Denn wie ein Blitz hatte sie dabei der Gedanke an ihren Gatten durchzuckt. Wenn er mittlerweile in den Park gekommen wäre — und sie nun suchte!

Sie machte eine gewaltsame Anstrengung, sich aus den Armen des Grafen loszumachen, der seine Lippen in ihr Haar gepreßt hatte; aber er umklammerte sie nur um so fester. Als er jedoch in ihren Zügen den Ausdruck der entsetzlichen Angst gewahrte, mit welcher sie von dem Hügel fortstrebte, fragte er betroffen: „Warum wollen Sie fliehen? — Wohin wollen Sie, Klothilde?“

Sie deutete in kraftloser Verstörung nach dem Tirolerhause hinunter.

„Dorthin?! Warum?“

„Ich erwarte —“ Mehr konnte sie nicht hervorbringen.

„Wen? Wen erwarten Sie?“ drängte er, ohne sie völlig loszulassen. Und da sie nicht mehr antwortete, setzte er hinzu: „Ihren Gatten?“

Sie ließ bejahend das Haupt sinken.

Nun gab er sie langsam frei. „Das ist freilich fatal“, sagte er mit unterdrücktem Ärger. „Er darf uns nicht beisammen finden. Am allerwenigsten hier. Aber ich komme morgen — komme jeden Tag wieder. Um dieselbe Stunde —“

Sie hörte ihn nicht mehr. Sie strich mit beiden Händen über ihr losgegangenes Haar und taumelte die Höhe hinunter.

Er aber blieb eine Weile aufrecht stehen und blickte verdrossen in die Gegend hinaus. Dann schüttelte er den Kopf und entfernte sich mit vorsichtigen Schritten.

VI.

Als jetzt Klothilde, ohne zu wissen wie, bei dem Tirolerhause angelangt war, sank sie auf die Bank neben der Tür und blickte starr und ausdruckslos vor sich hin. Was war denn vorgegangen?! Sie mußte sich erst darauf besinnen — und nun schlug sie, laut aufstöhnend, die Hände vor das Antlitz. „Mein Gott! Mein Gott!“ Was sie geahnt, wovor sie gezittert, war eingetroffen. Eingetroffen in dem Augenblick, wo sie sich bereits gerettet und geborgen glaubte! Vollzogen hatte es sich plötzlich, ohne Widerstand von ihrer Seite! Willenlos hatte sie in den Armen des Grafen gelegen — und nur mehr eines Haares Breite hatte sie von dem Abgrund getrennt, in den sie als Ehebrecherin unrettbar versunken wäre! Und war sie es denn eigentlich nicht schon? Ein anderer, als ihr Gatte, hatte sie verlangend an sich gezogen, hatte sie — sie schauderte auf — du genannt, hatte mit brennenden Lippen ihrem Scheitel ein Mal aufgedrückt. Wie sollte sie jetzt dem Freiherrn entgegentreten — entweiht, gebrandmarkt! Und nicht der begehrliche Mann mit den dunklen Augen war an dem allen schuld — nein, nur sie, sie ganz allein in ihrer entsetzlichen Schwäche und Hilflosigkeit! Jede andere Frau an ihrer Stelle und unter solchen Umständen würde den Versucher abgewiesen — ihn wenigstens zum Scheine zurückgestoßen haben! Und sie — sie hatte nicht einmal ein Wort der Zurechtweisung, geschweige denn ein gebieterisches der Abwehr gefunden. Und wenn er morgen wieder an sie herantrat, fehlte ihr gewiß wieder die Kraft! O, was für ein Weib war sie!? Welch ein verächtliches Geschöpf! Welch unerhört feige, erbärmliche Natur! Nicht wert, daß sie die Sonne beschien, deren goldige Lichter vor ihr auf der Wiese glänzten und funkelten!

Sie sprang auf und eilte in die Zimmer empor. Dort schloß sie rasch die nach dem äußeren Gang offene Tür, schloß alle Fensterläden. Nun war es dunkel um sie her; nur die Gegenstände, deren Anblick sie noch vor einer Stunde so glücklich gemacht, dämmerten in gespenstischen Umrissen auf. Auch das konnte sie nicht ertragen; sie sank auf den harten Sitz an der Wand und schloß die Augen. Nun war es finster und still wie im Grabe. O, läge sie darin!

Aber wurden jetzt nicht von unten herauf Tritte vernehmbar? Klangen sie nicht schon auf der Treppe? Das war ihr Gatte! Ihr Herz stand still — und doch nicht so still, wie sie es gewünscht hätte.

Der Freiherr hatte leicht an der Klinke gedrückt und fragte mit halber Stimme durch die Spalte herein: „Bist du hier, Klothilde?“

Sie regte sich nicht.

Nun hatte er die Tür ganz geöffnet und sah bei dem Lichtschein, der von draußen hineinfiel, wie sie lang ausgestreckt dasaß, totenbleich, mit zurückgesunkenem Haupte.

„Klothilde!“ rief er, erschrocken auf sie zueilend. „Was ist dir? Mein Gott, was ist geschehen —?“

Sie gab noch immer keinen Laut von sich.

Er befühlte ihre Stirn, faßte ihre kalte, leblose Hand. „Klothilde,“ wiederholte er, aufs äußerste beängstigt, „was ist dir?“

„Frage mich nicht“, erwiderte sie jetzt dumpf.

„Was soll das heißen?“ drängte er, indem er sich an ihrer Seite niederließ. „Sprich, rede — ich bitte dich!“

Sie schlug die Augen auf und starrte, ohne ihn anzusehen, wie ins Leere. „Ich bin verloren“, sagte sie.

„Verloren?!“ rief er aus. „Verloren —“ wiederholte er tonlos, während plötzlich eine entsetzliche, unfaßbare Vermutung in ihm aufdämmerte.

„Ja“, sagte sie.

Ihm war es, als läge er im Fieber und habe ein entsetzliches Traumgesicht. Aber nein: es war ja Wirklichkeit — etwas Entsetzliches mußte vorgefallen sein. Was immer auch: vor allem Klarheit, vollständige Gewißheit! Er sagte daher sanft: „Laß diese rätselhaften Aussprüche, Klothilde. Sage mir, was geschehen ist. Hörst du, Klothilde? Vertrau’ es mir an — mir, deinem Gatten, der dich liebt — so unsäglich liebt —“

Bei dem Ton dieser Stimme, bei der Berührung seiner Hand, die jetzt mit aufmunterndem Kosen über ihre Schläfe und Wange strich, überkam sie ein so gewaltiges Weh, daß ihr die Brust zerspringen wollte. Endlich brach sie in einen Strom von Tränen aus.

Er ließ sie weinen. Dann brachte er seinen Mund dicht an ihr Ohr und sagte weich und flüsternd: „Ich will dir zu Hilfe kommen. Sage mir: hängt dein verzweifelter Zustand mit — mit dem —“

Er vollendete nicht; denn ein rasches Aufschluchzen Klothildens sprach deutlich genug.

Und nun, da er die Gewißheit hatte, um was es sich handelte, begann er zu forschen, allmählich, mit äußerster Vorsicht und Zartheit. Aus den leisen, kaum andeutenden Fragen, die er an sie richtete, aus halben Worten, unterdrückten Gebärden, krampfhaftem Weinen erfuhr er, was sich zugetragen — und atmete auf.

„Armes Kind!“ sagte er nach einer Pause, „armes Kind! — Und weiß ich jetzt alles?“ setzte er leise hinzu.

Sie bejahte mit stummem Senken des Hauptes.

„Nun dann,“ fuhr er fort, die Hand auf ihren Scheitel legend, „dann sei ruhig. Denn es wird alles wieder gut werden.“

Sie fuhr mit halbem Leibe empor und blickte ihn mit schreckhaftem Erstaunen an. „Das ist nicht möglich“, sagte sie tonlos.

„Warum nicht? Liebst du ihn denn?“

„Nein!“ rief sie, die Arme vorstreckend. „Es war nur Schwäche — entsetzliche Schwäche.“

„Nun,“ erwiderte er, indem er sie jetzt mit sanfter Gewalt an sich zog, „wenn du ihn nicht liebst, wenn du fühlst, daß deine Zuneigung für mich die gleiche geblieben ist, dann ist ja auch alles wie früher.“

Sie sah ihn ausdruckslos an. „Es kann nicht wie früher sein. Denn du mußt mich jetzt verachten, aufs tiefste verachten.“

„Verachten?“ sagte er innig. „Nein, ich verachte dich nicht, ich liebe dich! Und daher ist es auch jetzt meine Pflicht, dich dir selber zurückzugeben.“ Er war bei diesen Worten aufgestanden und schritt, ernst vor sich hinblickend, in dem dämmerigen Raume auf und nieder.

Sie folgte ihm mit den Augen. Es war, als habe ein Hoffnungsstrahl in ihrem verstörten Antlitz aufgeleuchtet. Plötzlich aber fragte sie zitternd: „Was willst du tun?“

„Das ist meine Sache“, entgegnete er fest.

Sie sprang auf. Ein fürchterlicher Gedanke hatte sie durchzuckt. Es war offenbar: er trug sich mit einer Herausforderung an den Grafen! So pflegen ja die Männer mit der Ehre ihrer Frauen die eigene wieder herzustellen! Mein Gott! Er wollte mit seinem Leben für sie einstehen — für sie, die sich des Lebens nicht mehr wert fühlte!

„Nein,“ rief sie, „das darfst du nicht! Du darfst es nicht!“

Er sah sie befremdet an; denn er verstand nicht gleich, was sie sagen wollte. Erst der Ausdruck namenloser Angst, mit dem sie ihm jetzt flehend die Arme entgegenstreckte, brachte ihn darauf.

„Besorge nichts“, entgegnete er mit ruhigem Lächeln. „Ich kämpfte nicht mit solchen Waffen. — Aber fasse dich jetzt, Klothilde. Es ist hohe Zeit — wir müssen nach dem Schlosse zurück. In solchem Zustande darf dich niemand sehen.“

Sie fühlte, daß er recht habe und daß sie ihm schuldig sei, äußere Haltung zu bewahren. Instinktiv trat sie vor einen kleinen Spiegel, der an der Wand hing, ordnete ihre Haare, benetzte ihre verweinten Augen aus einem Glase, das halb mit Wasser gefüllt neben der Staffelei stand, und frischte ihr Antlitz auf.

Er war auf sie zugetreten. „Sei guten Mutes, Klothilde“, sagte er, indem er ihr den Arm bot. „Es wird bald alles wie ein böser Traum hinter uns liegen.“

Sie versuchte ein schwaches Lächeln; dann gingen sie.

VII.

Der Freiherr erschien heute allein zu Tisch. „Die Baronin ist unwohl“, bedeutete er dem Kammerdiener. Dieser schaffte sofort das aufgelegte zweite Gedeck beiseite, ohne sich irgendwelche Gedanken zu machen; denn es war ihm bekannt, daß die Herrin, wenn auch selten, dann aber um so heftiger an Migräne leide und sich in solchem Falle stets gänzlich zurückziehe.

Mit der äußeren Ruhe eines Weltmannes, der im Leben jede Art von Selbstbeherrschung erlernt und geübt hatte, nahm der Freiherr das Diner ein, wenn auch flüchtiger als sonst, was ja nicht auffallen konnte, da er ohne Gesellschaft speiste. Er atmete aber befreit auf, als endlich der Kammerdiener das Kaffeebrett mit der kleinen chinesischen Tasse und dem silbernen Kännchen vor ihm niedersetzte und hierauf verschwand. Nun konnte er sich, in den Stuhl zurückgelehnt, vollständig seinen Gedanken überlassen.

Was sich da zugetragen, hatte ihn nicht ganz unerwartet getroffen. Ein Vorgefühl davon hatte auf ihm mit dumpfem Drucke gelegen seit jenem Tage, an welchem er die Zuschrift des Gemeindevorstehers erhalten. Aber nach Art erfahrener Naturen wollte er nicht vorschnell an ungewiß drohende Dinge rühren, um nicht etwa ihren Gang zu beschleunigen; er vermied es später sogar, seine Gemahlin zu beobachten, auf daß er durch verfrühte Wahrnehmungen nicht aus dem Gleichgewicht gebracht werde. Da sich aber nun alles, immer noch überraschend genug, vollzogen hatte, erkannte er auch sofort sehr deutlich, wie klar und einfach die Sache lag — und Klothilde allein war es, die er dabei unmittelbar ins Auge faßte. Er selbst kam ja gar nicht in Betracht; er war ein alter Mann, den nur getroffen hatte, was ihn früher oder später einmal treffen mußte — und Graf Poiga-Reuhoff war eben ein gewohnheitsmäßiger Roué, gegen welchen er für seine Person nicht einmal Gereiztheit empfand, den er nur mit Hinblick auf den Seelenzustand Klothildens haßte. „Armes Weib!“ flüsterte er vor sich hin. „Welche Zukunft steht ihr bevor!“ Aber nicht die Zukunft galt es jetzt zu bedenken, nur die Gegenwart. Und über diese mußte sie unter allen Umständen hinweggebracht werden!

Als jetzt der Kammerdiener wieder eintrat, sagte er: „Ich möchte heute dem Herrn Rittmeister einen Besuch machen, da ich ihn das erste Mal nicht angetroffen und bloß eine Karte zurückgelassen habe. Erkundigen Sie sich, ob er zu Hause ist. Lassen Sie aber nichts von meiner Absicht verlauten; vielleicht besinne ich mich noch anders.“

Er erhielt bald die Meldung, der Graf befinde sich in seiner Wohnung. Nachdem er noch eine Weile sitzen geblieben, begab er sich auf sein Zimmer, um eine Änderung in seinem Anzuge vorzunehmen. Dann griff er nach seinem Hute und schritt langsam die Treppe hinunter.

Es schlug eben vier Uhr, als er quer über den Hof dem Amtshause zuschritt. Auf einer der Stallbänke sah er den Reitknecht des Grafen sitzen, träg hingelümmelt neben dem Wachtmeister, mit welchem er in einer Unterhaltung begriffen schien. Sobald der Wachtmeister des Schloßherrn ansichtig wurde, erhob er sich und salutierte; der Reitknecht aber, ein bartloser, in der Art solcher Leute hochmütiger Bursche, zögerte sichtlich; erst als der Freiherr gerade auf ihn zutrat, erhob er sich rasch und brachte den Stummel einer Virginiazigarre, den er mehr kaute als rauchte, aus dem Munde.

Der Freiherr sagte, er wünsche den Grafen zu sprechen; wie er gehört habe, sei dieser zu Hause.

„Ja,“ erwiderte der Bursche in schwer verständlichem Deutsch; „aber er schläft. Ich habe jedoch den Befehl, ihn um vier Uhr zu wecken. Es ist jetzt gerade Zeit,“ fuhr er mit einem Blick nach der Schloßuhr fort, „und ich werde den Herrn Baron anmelden.“

„Tun Sie das,“ versetzte der Freiherr, „ich werde einstweilen hier warten.“ Und er schlug die Richtung nach dem Rondell in der Mitte des Hofes ein, wo er den kleinen Teich zu umschreiten begann.

Es dauerte ziemlich lange, bis der andere mit der Nachricht zurückkam, der Herr Graf lasse bitten, einstweilen oben Platz zu nehmen, er werde gleich erscheinen.

Der Freiherr folgte nun dem Reitknechte, der offenbar auch die Verrichtungen eines Dieners besorgte, in das Eintrittszimmer, wo es ziemlich wüst aussah. Auf einem niederen Schranke gewahrte man, neben einer Anzahl von Gerten und Reitstöcken, die Mütze und die Handschuhe des Grafen; zwei Säbel, ein schwerer und ein leichter, lehnten in einer Ecke, und auf dem Tische vor dem Sofa lag bei den Resten eines Frühstücks, die jetzt der Bursche rasch entfernte, ein zur Hälfte gerauchter Tschibuk. Obgleich ein Fenster offen stand, war doch ein scharfer Geruch von türkischem Tabak im Gemach verbreitet, der sich dem Freiherrn, welcher selbst nicht rauchte, höchst unangenehm aufdrängte. Durch die geschlossene Tür des Nebenzimmers herein klang das zornige, ab und zu herrisch beschwichtigte Gekläff eines Hundes, der den Fremden witterte; dazwischen Schritte und Geräusche, welche verrieten, daß der Graf eben im raschen Ankleiden begriffen war.

Endlich öffnete sich die Tür, durch deren Spalt sofort ein gelber, affenartiger Pintscher laut aufbellend dem Freiherrn entgegenschoß; auf einen drohenden Ruf seines Herrn kroch er unter das Sofa, wo er leise nachknurrte.

„Ich muß sehr um Entschuldigung bitten, Exzellenz,“ sagte der Graf, indem er den erst halb eingeknöpften Uniformrock vollends schloß, „ich muß sehr um Entschuldigung bitten, daß ich Sie so lange habe warten lassen, aber ich war auf Ihren Besuch durchaus nicht vorbereitet — —.“ Seine Bewegungen waren hastig, unsicher und ließen Verlegenheit erkennen.

„Vielmehr muß ich Sie, Herr Graf, um Verzeihung bitten, daß ich zu so wenig geeigneter Stunde bei Ihnen erschienen bin —.“

„O, das hat gar nichts zu sagen“, unterbrach ihn der andere, während sich nun beide setzten. „Wir machen jetzt größere Übungen, die einigermaßen ermüdend sind — und da habe ich eine Stunde geschlafen —.“

„Nun, es war immerhin eine Störung — aber ich habe Ihnen eine dringende Mitteilung zu machen.“

„Eine dringende Mitteilung? Welcher Art, wenn ich fragen darf?“

„Dürfte ich mir vielleicht erlauben, jenes Fenster zu schließen?“ sagte der Freiherr nach einer kurzen Pause, indem er Miene machte, sich zu erheben.

„O, sehr gern!“ rief der Graf und sprang zuvorkommend auf. „Exzellenz fürchten wahrscheinlich die Zugluft?“

„Nein. Ich fürchte nur, daß meine Mitteilung Erörterungen nach sich ziehen könnte, welche besser im Hofe nicht gehört werden.“

Der Graf zuckte zusammen. Er konnte kaum mehr im Zweifel sein, um was es sich handeln würde; jetzt aber hatte er auch sofort die vollständigste Fassung gewonnen. „Exzellenz treffen sehr seltsame Vorkehrungen“, sagte er kurz.

„Sie dürften vielleicht nötig sein. Ich möchte Sie sogar bitten, im Vorhause nachzusehen, ob nicht jemand —“

Der Graf blitzte ihn mit seinen dunklen Augen zornig an. „Was soll das heißen? Ich bin von keinen Spionen umgeben und bitte Sie, zur Sache zu kommen.“

„Wie es Ihnen beliebt. Ich für meine Person pflege niemals sehr laut zu sprechen — und eigentlich handelt es sich ja nur um eine Bitte, die ich Ihnen vortragen werde. Wenn Sie ihr Gewährung schenken, so entfällt jede weitere Verhandlung von selbst.“

„Und was wäre das für eine Bitte?“ fragte der Graf, der sich wieder gesetzt hatte und nun die Arme über der Brust verschränkte.

„Daß Sie diese Behausung sobald, wie nur irgend möglich, verlassen möchten.“

„Herr Baron!“

„Bleiben Sie ruhig, Herr Graf“, sagte der Freiherr sanft. „Betrachten Sie es wirklich nur als Bitte.“ Es klang in der Tat ein flehender Ton durch diese Worte.

Der andere blickte mit zusammengezogenen Brauen vor sich hin. „Und aus welcher Veranlassung richten Sie diese Bitte an mich?“

„Aus Rücksicht für meine Frau.“

Eine dunkle Röte schoß in das Antlitz des Grafen. „Sie hat Ihnen gesagt?“ — fragte er halb verwundert, halb wegwerfend.

„Ja, sie hat es mir gesagt.“

„Nun also!“ versetzte der Graf nach kurzem Schweigen, indem er hochmütig den Kopf zurückbog. „Wenn Sie nicht gekommen sind, Rechenschaft von mir zu fordern, dann ist auch alles weitere höchst gleichgültig. Denn Sie begreifen doch, daß Ihre Frau Gemahlin fortan vor mir sicher ist — ganz sicher!“

Diese Worte trafen den Freiherrn wie Peitschenhiebe, aber er zuckte nicht einmal mit den Wimpern. „Das begreife ich sehr wohl“, sagte er ruhig. „So einfach jedoch liegen die Dinge nicht. Was da vorgefallen, hat meine Frau derart angegriffen, daß eine dauernde Seelenstörung zu befürchten ist.“

„Die Baronin scheint sehr schwache Nerven zu haben!“ rief der Graf höhnisch.

„Ohne Zweifel. Und deshalb sehen Sie auch ein, daß ich unter keiner Bedingung von Ihnen Genugtuung fordern darf. Ich habe vielmehr, was meine Person anbetrifft, gar kein Gewicht auf die Sache zu legen und nur zu trachten, daß meine Frau sich beruhige. Sie muß vergessen lernen — und dazu ist vor allem notwendig, daß Sie nicht mehr hier sind.“

„Eine höchst eigentümliche Auffassung!“

„Gewiß, diese Auffassung ist keine alltägliche. Aber wie Sie auch darüber denken mögen, eines werden Sie nach reiflicher Erwägung klar erkennen: daß Ihnen unter allen Umständen die Pflicht erwächst, das Geschehene möglichst ungeschehen zu machen.“

Der Graf war nachdenklich geworden. Die ruhig ernste, ergreifende Sprache des Freiherrn verfehlte offenbar nicht, Eindruck zu machen. Aber bald gewann seine Natur wieder die Oberhand.

„Nein! Nein!“ rief er, sich ungestüm vom Sessel erhebend. „Ich kann mich nicht so ohne weiteres fortweisen lassen!“

„Sie werden nicht fortgewiesen. Es ist Ihr freier Entschluß, eine Änderung herbeizuführen.“

„Aber wie soll ich es anstellen?“ rief der Bedrängte ärgerlich mit dem Fuße stampfend. „Kann ich denn so Knall und Fall — —? Was würde man unten — im Kreise der Kameraden dazu sagen? Es würde Aufsehen erregen — ja man könnte sogar mutmaßen —“

„Um Mutmaßungen kümmere ich mich nicht.“

„Und jedenfalls würde man einen anderen Offizier heraufsenden. Sie kämen da vielleicht nur aus dem Regen in die Traufe!“

Der Freiherr bewegte sich auf dem Sofa, aber er sagte mit eisiger Ruhe: „Das fürchte ich nicht. Wiederholungen ereignen sich nicht so rasch nacheinander.“

Der Graf sah ihn halb erstaunt, halb verächtlich an und erwiderte nichts mehr. Denn plötzlich wurden schwere, wuchtige Tritte vernehmbar, die unter Sporengeklirr die Treppe heraufkamen.

„Es ist jemand von meinen Leuten“, sagte er jetzt. Und da nun schon mit schüchterner Plumpheit an der Tür geklopft wurde: „Herein!“

Ein stattlicher Unteroffizier trat ins Zimmer, den Helm auf dem Kopfe, die Diensttasche umgehängt. Er nahm Stellung und salutierte automatisch. Dann zog er ein großes versiegeltes Schreiben hervor und überreichte es seinem Vorgesetzten, der es erbrach. Während des Lesens nahmen die Züge des Grafen einen eigentümlichen Ausdruck an.

„Es ist gut. Sagen Sie meinem Wachtmeister, daß er die Leute zum Befehl antreten lassen soll.“ Als er mit dem Freiherrn wieder allein war, wandte er sich an diesen. „Der Zufall ist Ihnen günstig, Herr Baron. Wissen Sie, was dieses Blatt enthält? Den Marschbefehl. Wir müssen sofort zur ungarischen Armee stoßen. Morgen mit dem frühesten verlassen wir das Schloß.“

Ohne ein Zeichen der Überraschung oder der Befriedigung erhob sich der Freiherr und sagte mit einer Verbeugung: „Dann ist unsere Unterredung zu Ende. Wäre das Blatt gestern eingetroffen, so wäre sie nicht notwendig geworden.“

Kaum hatte er sich zum Abgehen gewendet, als auch schon der Hund unter dem Sofa hervorschoß und sich mit wütendem Gebell an seine Fersen heftete. Ein Fußtritt seines Herrn ließ ihn schmerzlich aufheulen. „Verdammte Bestie!“ rief der Graf mit unterdrückter Stimme, während das Tier winselnd in einen Winkel flüchtete. Allein geblieben, schritt er mit sichtlich unangenehmen Gedanken und Empfindungen im Zimmer auf und nieder. „Ach was!“ sagte er endlich, schnippte mit den Fingern und schnallte seinen Säbel um.

*                    *
*

Währenddessen hatte Klothilde auf dem Ruhebett ihres durch geschlossene Jalousien verdüsterten Zimmers gelegen. „Ich muß dich nun für einige Zeit dir selbst überlassen“, hatte der Freiherr zu ihr gesagt, als er sich zu Tisch hinunter begab. „Vielleicht ist es dir erwünscht. Ängstige dich nicht, es wird alles gut werden.“

Aber kaum allein, empfand sie sofort wieder aufs tiefste, daß es nie und nimmer gut werden könne. Einen Augenblick zwar hatte sie bei den milden, zärtlichen Tröstungen ihres Gatten aufgeatmet; einen Augenblick war das Leben, sonnenhell wie früher, aus der dunklen Nacht der Verzweiflung, die sie umgab, aufgetaucht — jetzt aber versank es wieder. Sie fühlte, daß etwas in ihr gebrochen und vernichtet war, das nicht wieder hergestellt werden konnte. Ja, die klare Ruhe, der heitere Frieden ihrer Seele war verloren — verloren für immer. Was frommte es, daß ihr Gatte entschuldigte und verzieh, was sie sich selbst niemals würde verzeihen können? Der heutige Tag ließ sich in ihrem Gedächtnisse nicht auslöschen. Seit jeher hatte sie nur in ganz reiner Lebensluft zu atmen vermocht; die leiseste Trübung drohte sie zu ersticken. Schon von klein auf war sie so gewesen. Ein geringes Versehen, das sie sich zu schulden kommen ließ, ein noch so sanfter Tadel ihres Vaters — die Mutter hatte sie schon sehr früh durch den Tod verloren — oder von seiten ihrer Lehrer erfüllte sie mit solchen Gewissensbissen und Selbstvorwürfen, daß sie oft wochenlang aus kindlichem Gram und Kummer nicht herauskam. Mit welch ängstlicher Scheu war sie als Mädchen und später als Frau allem aus dem Wege gegangen, was sie in Gefahr und Versuchung hätte bringen können; eine innere Stimme sagte ihr, daß ihr die Kraft des Widerstandes fehle. Daher galt sie auch in der Gesellschaft für geistig beschränkt, und trotz ihrer Schönheit trat niemand näher an sie heran; denn ihre hilflose Zurückhaltung flößte weit eher Mitleid als Interesse ein. Darum liebte sie so die Stille und Zurückgezogenheit; da konnte sie ihr Wesen frei und furchtlos entfalten, da konnte sie gedeihen; — Verwickelungen und Konflikten, das fühlte sie, war sie nicht gewachsen — sie brachten ihr den Tod ...

Sie schauerte. Wie kalt war es im Zimmer trotz des heißen Sommertages! Sie breitete eine leichte Decke über sich und schloß die Augen. Und wie sie jetzt so dalag, überkam sie ein eigentümlicher Zustand. Es wurde ihr so weh zumute — und doch wieder so wohl. Gerade wie beim Beginn einer schweren Krankheit, wo die Welt in vagen Umrissen zu verdämmern beginnt — wo alles Nahe in immer weitere Ferne gerückt wird. Nur manchmal durchzuckte ein namenloser Schmerz ihre Brust. Denn da dachte sie ihres edlen Gatten, der glücklichen Jahre, die sie mit ihm verlebt hatte — dachte an den schönen stillen Park, an das Tirolerhaus — an ihre Landschaft — ihre geliebten Bücher ...

Sie zog die Decke höher hinauf. Ein seltsamer, dumpfer Druck, den sie schon in den letzten Tagen hin und wieder empfunden hatte, lastete jetzt schwer auf ihrer Stirn, und indem sie die Augen schloß, versank sie in einen lähmenden Halbschlaf, der sie mit verworrenen Traumgesichten umgaukelte. Es war nichts Ungeheuerliches, nichts eigentlich Beängstigendes. Die verschiedenartigsten Gestalten tauchten auf und verschwanden wieder oder gingen eine in die andere über. Sie sah ihren Vater, sah ihre Mutter, von der sie sich sonst kein recht deutliches Bild mehr machen konnte; sie sah sich selbst als ganz kleines Mädchen mit einem Geburtstagsstrauß in der Hand; ihren Gatten als ganz jungen Mann in einem grünen Frack mit gelben Knöpfen, wie er auf einer von Daffinger gemalten Miniatur dargestellt war; sah den Grafen auf einem Feuer sprühenden Pferde, ihr Kammermädchen mit dem Aussehen einer alten Magd in ihrem elterlichen Hause — einen langen Zug von Reitern auf schwarzen, seltsam beflorten Rossen ...

Jetzt schrak sie auf. Ihr Gatte, der über sie gebeugt stand, hatte sie sanft auf die Stirn geküßt. „Du hast geschlummert?“ fragte er leise.

„Ja — es scheint“, erwiderte sie, während ihr neuerdings die ganze Wucht ihres Elends fühlbar wurde.

Und nun teilte er ihr mit, was sich zugetragen. Er hatte gehofft, sie würde dabei immer leichter, immer freier aufatmen. Aber sie hauchte nur tonlos: „Mein Gott! Mein Gott! Dieser eine Tag!“

„Ja,“ sagte er erschüttert und zugleich beruhigend, „es ist traurig, daß alles menschliche Glück und Unglück zuletzt meistens nur von solchen Schickungen abhängt. Doch tröste dich: es ist jetzt alles vorbei.“

Sie ergriff die Hand, die er ihr reichte; aber das Herz lag ihr wie Eis in der Brust.

VIII.

Am folgenden Nachmittag saß der Freiherr am Schreibtisch und richtete folgenden Brief an Frau Charlotte Nespern in Wien:

„Ich schreibe Ihnen in größter Beängstigung, liebe Tante Lotti! Meine teure Klothilde, die sich schon gestern unwohl gefühlt, ist heute in den frühen Morgenstunden von einem Schüttelfroste befallen worden, in welchem ich sofort den Vorboten einer ernstlichen Erkrankung vermutete. Dennoch unterließ ich es, auf ihre Einsprache hin, nach einem Arzt zu schicken, denn der Anfall ging vorüber, und nur eine gewisse Abspannung war zurückgeblieben, die Klothilde bewog, im Bette zu bleiben, wo sie auch späterhin in einen, wie es schien, ruhigen und erquickenden Schlaf verfiel. Aber gegen Mittag erwachte sie unter erneuten Fiebererscheinungen — und nun zögerte ich keinen Augenblick, nach dem Doktor zu senden, der aber, wie das schon zu gehen pflegt, nicht anzutreffen war, da er sich zu einem Kranken außerhalb der Ortschaft begeben hatte. Es konnte nur der Auftrag hinterlassen werden, daß er nach seiner Rückkunft sogleich im Schlosse erscheine. Bis jetzt (vier Uhr) ist er noch nicht da — und ich fange bereits an, die Minuten zu zählen; denn das Fieber ist im Zunehmen begriffen, und die geliebte Kranke, obgleich sie nicht darüber klagt, scheint an den quälendsten Kopfschmerzen zu leiden. In dieser verzweifelten Gemütslage schließe ich meinen Brief mit der innigen Bitte, wenn es Ihnen die Umstände nicht ganz und gar unmöglich machen, so eilen Sie hierher und stehen in voraussichtlich schwerer Zeit bei Ihrer Sie zärtlich liebenden Nichte und Ihrem treu ergebenen

Günthersheim.“

Der Freiherr hatte das Schreiben hastig fertiggestellt und dann durch einen Diener eilends zur Post bringen lassen. Es gab damals noch keine Telegraphenverbindungen, auch keine Eisenbahnen, die von den Hauptlinien abzweigten, und so mußten wenigstens vier Tage verstreichen, eh’ die sehnlich Herbeigewünschte eintreffen konnte. Der besorgte Gatte begann den Zustand der völligen Verlassenheit, in welchem er sich jetzt mit der Kranken befand, aufs tiefste zu empfinden.

Nunmehr aber wurde das Erscheinen des Arztes gemeldet. Der Freiherr ging ihm rasch entgegen und führte ihn in das Zimmer, wo Klothilde lag, das Antlitz erhitzt, die Stirn mit einem kühlenden Umschlag bedeckt.

Der Doktor, ein hoher Fünfziger mit stark gerötetem pockennarbigen Gesicht, trat auf seinen Stock gestützt — denn er hatte ein lahmes Bein — mit einer plumpen Verbeugung an das Bett und betrachtete sie aufmerksam. Dann entfernte er den kalten Bausch und befühlte die Stirn. „Diese Umschläge nützen nichts — Eis! Eis!“ Er setzte sich auf einen Stuhl und prüfte den Puls der Kranken, an die er einige kurze Fragen richtete.

„Hm“ — machte er nach einer Pause. „Ich werde eine Kleinigkeit verschreiben.“ Damit erhob er sich und hinkte schwerfällig aus dem Zimmer.

Der Freiherr war ihm gefolgt und fragte jetzt ängstlich: „Nun, lieber Doktor — nun?“

„Cerebrales Fieber“, erwiderte dieser trocken, indem er sich nach Schreibzeug umsah.

„Ich bringe Ihnen sogleich das Nötige. — Aber sagen Sie: halten Sie den Zustand für sehr gefährlich?“

„Es kann eine Gehirnentzündung werden. Hat die Frau Baronin in letzter Zeit eine Aufregung durchgemacht?“

Trotz seiner Selbstbeherrschung und obgleich er auf die Frage vorbereitet gewesen, fühlte der Freiherr, wie er errötete. „Sie hat sich allerdings einen Vorfall sehr zu Herzen genommen, aber —“

„Hm, ja. Kinderlose Frauen in solchem Alter und —“ er warf einen eigentümlichen Blick auf den Freiherrn. „Übrigens wer weiß, wie die Dinge zusammenhängen. Exzellenz haben ja hier oben auch Einquartierung gehabt? Nicht wahr?“

Der Freiherr konnte eine Gebärde der Betroffenheit nicht unterdrücken. „Ja, gewiß —“

„Nun also. Ich kann Ihnen nur sagen, daß seit einigen Tagen im Orte Typhusfälle vorkommen. Vielleicht haben die Dragoner etwas eingeschleppt und nun als Andenken zurückgelassen.“

Um seine Erregung zu verbergen, trat der Freiherr ins Nebenzimmer und brachte ein kleines zierliches Tintenfaß samt Feder und Papier herein.

„So,“ sagte der Doktor, nachdem er rasch ein Rezept geschrieben, „das ist alles, was ich tun kann. Im übrigen: fortgesetzte Eisumschläge, kühlende Getränke. Unter allen Umständen aber möchte ich Ihnen raten, noch einen Arzt zu Rate zu ziehen. Ich übernehme in solchen Fällen nicht gern allein die Verantwortung. Denn ich gelte, obgleich ich mein Diplom in der Tasche habe“ — er schlug dabei an die Hüfte — „in den Augen vieler Leute doch nur als Landbader. Eine Kapazität aus Prag — oder gar aus Wien hierher zu bescheiden, ist es freilich zu spät.“

„Zu spät!“ rief der Freiherr angstvoll.

„Ja; denn die Krisis pflegt oft sehr rasch einzutreten.“

„Aber eine günstige Wendung ist doch möglich?“

„Möglich, ja. Schicken Sie daher gleich einen Wagen nach Trautenau — zu Doktor Lederer. Ein Schüler Oppolzers. Er ist zwar ein sonderbarer Heiliger und wird sich spreizen — schließlich aber kommen. Allerdings kann er vor zwölf Stunden kaum da sein“, fügte der Doktor nachdenklich hinzu.

„Sie beängstigen mich aufs äußerste!“

„Na! Na! Verlieren Exzellenz den Kopf nicht. Eines muß ich Ihnen noch sagen, damit Sie nicht etwa allzu sehr erschrecken: es werden voraussichtlich schon heute Delirien eintreten. Jedenfalls komme ich abends wieder. Guten Tag!“

Mit dieser gedankenlos gesprochenen Grußformel, die ihm bei jedesmaligem Kommen und Gehen zur Gewohnheit geworden, entfernte er sich und überließ den Freiherrn einer stummen Verzweiflung.

„Mein Gott! Mein Gott! Sollte es schon soweit — und keine Rettung mehr sein?“ flüsterte endlich der qualvoll Bedrückte und begab sich mit leisen Schritten in das Krankenzimmer zurück. Er beugte sich über Klothilde, die in unruhigem Schlummer zu liegen schien, und faßte leicht ihre Hand. Bei dieser Berührung schlug sie die Augen auf und sah ihn wie fremd an. Dann aber lächelte sie, und er fühlte, wie sich ihre Finger zu sanftem Drucke schlossen.

„Wie fühlst du dich?“ fragte er.

„O, nicht schlechter“, erwiderte sie mit matter Stimme. „Nur müde, sehr müde — ich möchte in einemfort schlafen.“

„Nun, schlafe, mein Kind, schlafe“, sagte der Freiherr zärtlich. „Aber wir werden Eisumschläge machen müssen.“

„Das wird mir wohl tun“, hauchte Klothilde, während sie schon die Lider geschlossen hatte.

Inzwischen war Eis gebracht worden und der Freiherr traf selbst die ersten Anstalten. Dann überließ er dem Kammermädchen die weitere Sorge, um jetzt die Absendung des Wagens nach Trautenau veranlassen zu können. Er tat es, wie er sich selbst eingestand, ohne tröstliche Erwartung. Denn mit jener ahnungsvoll düsteren Voraussicht, welche reifen und vielgeprüften Menschen eigen ist, zweifelte er bereits an einem glücklichen Ausgange. „Ich baue auf Ihre Umsicht,“ sprach er zu dem Kammerdiener, den er mit der Botschaft an den Arzt betraute, „und weiß, daß Sie nichts verabsäumen werden.“

Dann kehrte er zu der Kranken zurück, hieß das Mädchen einstweilen sich entfernen und nahm dicht an dem Bette Platz. Klothilde schlummerte. Aber sie bewegte Kopf und Arme hin und her; ihre weißen Finger schienen von dem blauen Atlas der Bettdecke Flocken auflesen zu wollen.

Langsam, bleischwer zogen die Stunden vorüber, während draußen die Sonne tiefer und tiefer sank und ihr letztes rötliches Gold durch die Spalten der Jalousien schimmern ließ.

Was war das plötzlich? Klothilde hatte die Lippen bewegt und unverständliche Worte gemurmelt. Er glaubte, sie gälten ihm, und neigte sein Haupt tief zu dem ihren hinab. Aber sie bemerkte es offenbar nicht.

„Willst du etwas, Klothilde?“ fragte er leise.

Keine Antwort; nur erneutes, stärkeres Gemurmel — unverständliche Worte.

Sein Herz erstarrte. Die beginnenden Delirien! sprach es in ihm.

Immer unruhiger wurde die Kranke; sie warf ächzend und stöhnend den Kopf hin und her, und schien dabei mit unsichtbaren Personen zu sprechen.

Wenn er nur verstehen könnte! Und jetzt waren ihm auch einige Worte deutlich ins Ohr gedrungen. Es waren französische Worte! Sie hatten sich beide im gegenseitigen Verkehr dieser Sprache nur selten bedient; ja Klothilde hegte eine Art Abneigung dagegen, denn sie hatte sie in ihrer Jugend äußerst schwer und mühsam erlernt und später nur sehr unvollkommen beherrscht. Und jetzt — in ihrer Krankheit — in der Bewußtlosigkeit ihres Geistes griff sie danach!

Le cheval! Le cheval!“ stieß sie jetzt, furchtbar aufschreiend, hervor und richtete sich mit halbem Leibe auf. Plötzlich aber sank sie wieder zurück, streckte sich lang aus und verblieb regungslos.

Der Freiherr nahm dies alles wahr im ungewissen Dunkel des Gemaches. „Klothilde!“ rief er entsetzt. „Klothilde!“

Sie blieb stumm.

„Mein Gott!“ ächzte der Freiherr. „Wenn nur Doktor —“

Aber der trat auch eben jetzt, so leise wie es ihm möglich war, durch die Tür, von dem ängstlich blickenden Mädchen gefolgt, welches das Licht einer Kerze mit vorgehaltener Hand dämpfte.

„O, Doktor, sehen Sie nur ...“

Dieser nahm dem Mädchen das Licht ab und ließ den vollen Schein auf Klothilde fallen. Sie lag noch immer ganz starr; ihr schönes Antlitz war verzerrt, die Mundwinkel herabgezogen.

„Mein Gott, Doktor, was ist das?“

Dieser schien selbst erschrocken; er hatte diesen Anblick offenbar nicht erwartet. „Trismus — Trismus“, sagte er endlich. „Ist Senfmehl im Hause? Rasch!“

Das Mädchen eilte fort.

Aber schon trat etwas ein, das den Freiherrn erschaudern machte. Ein plötzliches Schüttern ging durch den Körper seiner Frau; die Augen öffneten sich weit, die Finger krampften sich zusammen und mit zischenden Atemstößen schnellte die Kranke wiederholt im Bette empor.

„Konvulsivischer Anfall!“ rief der Doktor. „Ein so akuter Verlauf ist mir in meiner ganzen Praxis noch nicht vorgekommen. Sobald einige Beruhigung eintritt, werde ich sofort einen Veneneinschnitt applizieren. — Aber jetzt, Exzellenz, ist es Zeit, daß Sie nach dem Geistlichen schicken.“

Der Freiherr zuckte zusammen. Daran hatte er gar nicht gedacht. Dem Geiste seiner Zeit gemäß war er kein Ungläubiger; auf religiöse Gebräuche und Feierlichkeiten jedoch hatte er, sowie seine Gemahlin, die ihre stille Andacht am liebsten in der kleinen, im Erdgeschoß gelegenen Schloßkapelle verrichtete, seit jeher nur wenig Gewicht gelegt. Jetzt aber sollte Klothilde mit den Sterbesakramenten versehen werden, und die tiefernste Bedeutung des Augenblickes fiel ihm erschütternd auf die Seele.

Es traf sich, daß der Ortspfarrer, der durch einen Diener in Kenntnis gesetzt wurde, seit einigen Tagen selbst unwohl war und daher seinen Kooperator entsenden mußte; dieser erschien auch in kurzer Zeit.

Der Freiherr war ihm die Treppe hinunter entgegengegangen und befand sich einem ganz jungen Geistlichen gegenüber, der erst vor kurzem aus dem Alumnat getreten sein konnte. Eine schmächtige, hoch aufgeschossene Gestalt mit blonden Haaren und einem zarten, fast mädchenhaften Gesicht, das Befangenheit und Verlegenheit ausdrückte. Als ihm jetzt der Freiherr mit zitternder Stimme auseinandersetzte, wie so ganz unvorhergesehen und rasch der traurige Fall eingetreten — und daß die Kranke bewußtlos sei, erwiderte er, hoch errötend: „O, ich verstehe — ich verstehe — ich werde die heilige Handlung so rasch wie möglich vornehmen.“

Die Augen zu Boden gesenkt, betrat er das matt erhellte Zimmer und erhob den Blick erst, als er dicht vor der Kranken stand, bei welcher der Doktor inzwischen eine leichte Blutentziehung angewendet hatte. Mit bebender Stimme und bebender Hand nahm er, während die anderen in dem Hintergrunde des Zimmers knieten, die Zeremonie der letzten Ölung vor; er wagte dabei kaum das regungslose, bleiche junge Weib anzusehen, und es glich einer Flucht, als er nach einem kurzen Gebet das Zimmer verließ.

Der Freiherr war ihm nachgeeilt und ergriff draußen dankend seine Hand: „Gott schütze Sie!“ murmelte der Priester, hastig abwehrend, und entfernte sich mit dem Meßner, der jetzt im Hofe sein Glöckchen erklingen ließ.

Als der Freiherr zurückkehrte, fand er den Doktor am Bett, trübselig das Haupt gesenkt. Beide blickten nun schweigend auf Klothilde, aus deren schönem Antlitz die Verzerrung verschwunden war. Aber sie hatte die Augen geschlossen und atmete hastig und stoßweise.

„Doktor!?“ flehte leise der Freiherr.

Der andere schüttelte mutlos den Kopf. „Collapsus!“ sagte er leise.

„So muß ich mich auf das äußerste gefaßt machen?“

„Ich glaube. Was geschehen konnte, ist geschehen. Es wäre jetzt an der Natur, sich selbst zu helfen. Jedenfalls bleibe ich hier. Ich darf mich wohl ein wenig da drinnen auf das Sofa hinstrecken?“ Mit diesen Worten zog er sich in das anstoßende Zimmer zurück.

Der Freiherr jedoch kniete am Bett nieder. Bis zu dieser Minute war sein Auge trocken geblieben. Der furchtbare Krampf seines Innern hatte keine Lösung finden können. Jetzt aber machte er sich in Tränen Luft. Zuerst drängten sie sich einzeln, tropfenweise, zwischen den Wimpern hervor, aber immer strömender, immer heißer weinte sie der gebrochene Mann auf die geliebte Hand nieder, die er umfaßt hielt ...

„Doktor! Doktor!“

Dieser fuhr, aus dem kurzen Schlafe, in den er verfallen war, von dem Freiherrn wachgerüttelt, empor.

„Ein neuer Anfall! Ein neuer Anfall!“

„So, so,“ sagte der Doktor, sich etwas mühsam zurechtfindend, und folgte in das Krankenzimmer.

Der Anfall war heftig, aber kurz. Klothilde lag wieder ruhig da; sie schien jedoch kaum mehr zu atmen.

Und nun geschah etwas, das nur diejenigen kennen, welche an Sterbebetten gestanden haben.

Klothilde öffnete mit einemmal die Augen und richtete sich mit halbem Leibe empor. Ausdruckslos blickte sie um sich; dann kehrte sie ihr Antlitz langsam dem Gatten zu. Sah sie ihn? Sah sie ihn nicht? Wer konnte es sagen? Unverwandt, aber verglast blieben ihre Augen auf ihn gerichtet. Plötzlich lächelte sie; dann fiel sie in die Kissen zurück, seufzte tief auf — und ihr Kinn sank zur Brust hinab.

Der Freiherr von Günthersheim beugte sich über die Leiche.

IX.

Wie er den Rest der Nacht und den Morgen durchlebt, wie er den eingetroffenen zweiten Arzt empfangen, darüber konnte er später sich selbst keine Rechenschaft ablegen. Mit jener an Gedankenlosigkeit grenzenden Apathie des Schmerzes traf er und hieß er die Anstalten treffen, welche nunmehr zum Begräbnis notwendig erschienen. Er wurde dabei von dem wackeren Doktor unterstützt, der offenbar Mitleid mit dem vereinsamten Manne hatte; auch der Ortsvorsteher fand sich ein, um das Beileid der Gemeinde auszusprechen und sich dem Freiherrn zur Verfügung zu stellen. Und wie denn die Frauen bei ähnlichen Anlässen stets bemüht sind, eine warme und werktätige Teilnahme zu bezeigen, so hatten einige angesehene Einwohnerinnen nicht ermangelt, der weiblichen Dienerschaft, welche sichtlich den Kopf verloren hatte, bei den letzten Diensten, die der toten Herrin zu erweisen waren, an die Hand zu gehen.

Und so war auch die Stunde gekommen, wo Klothilde im Salon aufgebahrt lag, von hochragenden Wachslichtern umflackert. Man hatte sie in schwarze Seide gekleidet, ihr einen Kranz aus weißen Rosen um die Stirn und ein kleines goldenes Kruzifix in die gefalteten Hände gelegt. Der Freiherr war im Innersten gegen solche Zurschaustellung gewesen, aber er konnte und durfte sie den Menschen nicht entziehen, die jetzt voll scheuer Neugierde in Scharen heraufkamen, die schöne tote Schloßfrau zu bewundern und zu betrauern. Und währenddessen saß er im anstoßenden Gemach allein, ganz allein. Er hörte die vorsichtig gedämpften Schritte der Ab- und Zugehenden, hörte stilles Geflüster und unterdrücktes Weinen. Er aber konnte nicht weinen; wäre Tante Lotti hier gewesen, so wären mit ihren auch seine Tränen geflossen. Sie allein war es, die er entbehrte — aber sie konnte ja im besten Falle erst übermorgen eintreffen. Und so blieb sein heißes Auge trocken, blieb es die endlos lange Nacht hindurch, während welcher zwei arme Frauen an der Leiche beteten, blieb es, als er den letzten Kuß auf die Stirn seines Weibes drückte. Nur wie im Traum nahm er wahr, daß man jetzt den Sargdeckel über ihr schloß; wie im Traum sah er den Pfarrer mit zwei Kaplänen in weißen Chorhemden und goldgestickten Stolen eintreten, hörte die monotonen Gebete, die halb gesungenen, halb gesprochenen Responsorien, atmete den betäubenden Duft, der qualmend aus dem geschwungenen Weihrauchfasse drang. Und jetzt wurde der Sarg gehoben und fortgetragen. Hinter ihm folgten die Priester, hinter den Priestern er selbst. Dann die schwarzgekleidete Dienerschaft und endlich die Honoratioren des Ortes, die mit ihren Frauen dicht gedrängt den Sarg umstanden hatten. Und so ging es in langsamem Zuge die Avenue hinunter, hinunter durch den heißen, leuchtenden Sommertag, hinunter zur Ortskirche, wo die Tote bis auf weiteres in einem zum Schloßbesitz gehörenden Gruftgewölbe beigesetzt wurde. Erst als er sich wieder — ein Wagen, der nachgefahren war, hatte ihn zurückgebracht — allein im Schlosse befand, erwachte er. Und da brach auch sein Jammer hervor und erfüllte die einsamen Gemächer mit stöhnender Wehklage.

*                    *
*

Tante Lotti war gekommen. Er hatte sie stumm in seine Arme geschlossen und dann ein leise abwehrendes Zeichen mit der Hand gemacht. Daraus hatte sie entnommen, daß er nicht gefragt sein wollte — und sie fragte nicht. Wozu auch? Daß Klothilde gestorben war, das wußte sie, und sie fand sich in diese Tatsache, wie sich starke und vielgeprüfte Naturen in das Unabänderliche zu finden wissen. War sie doch nicht außer sich geraten, als man ihr den Sohn sterbend ins Haus gebracht. Sie hatte nicht, wie andere Mütter an ihrer Stelle getan haben würden, mit Gott und der Weltordnung gehadert, nicht die teuflische „Kamarilla“ und die entmenschte „Soldateska“ verflucht: nein, der Jüngling hatte sich im blauen Legionärrock, die Flinte auf der Schulter, zu voraussichtlichem Kampfe aufgemacht — konnte sie es wundernehmen, daß er mit durchschossener Brust vor ihr lag? Freilich, daß ihre Nichte in der vollsten Blüte des Lebens so plötzlich dahingerafft worden war, entzog sich jeder Voraussetzung. Aber wie viele Menschen erkranken und sterben nicht auf der weiten Erde? Auch die junge Frau hatte dieses Los getroffen. Tief schmerzlich für den armen Gatten; schmerzlich auch für sie, die auf das Kind des Bruders all die segnende Liebe übertragen wollte, welche sie dem eigenen nicht mehr weihen konnte. Als kluge und erfahrene Frau hatte sie gefühlt, wie notwendig gerade Klothilden, deren Ehe kinderlos geblieben, eine mütterliche Freundin sein mußte — um so notwendiger, je mehr ihr Gatte in den Jahren vorschritt. Aber sie hatte auch sofort das Bewußtsein, nunmehr für diesen leben und sorgen zu müssen. Sie war auf seinen Brief über Hals und Kopf von Wien abgereist und hatte dort manches höchst Wichtige unerledigt zurückgelassen. Dennoch wollte sie jetzt fürs erste hierbleiben und abwarten, bis sich der Trostlose einigermaßen gefaßt haben würde.

Und der Freiherr faßte sich auch allmählich. Das heißt, es wurde ihm nach und nach vollkommen klar und deutlich, was sich eigentlich zugetragen hatte. Sein geliebtes Weib war ihm weggestorben, einer Gehirnentzündung erlegen. Also einer Krankheit. Was aber hatte die Krankheit hervorgerufen? Aller Wahrscheinlichkeit nach jene Begegnung im Parke mit dem Grafen Poiga. Der also war ihr Mörder! Doch nein! Was hatte er denn getan? Nicht mehr und nicht weniger, als was jeder andere an seiner Stelle — was vielleicht der Freiherr selbst in seinen jüngeren Jahren — einer schönen Frau mit einem alternden Gatten gegenüber getan haben würde. Konnte der Graf die Folgen voraussehen — ja auch nur ahnen? Nein. Denn keine andere Frau hätte sich dieses Abenteuer so zu Herzen genommen. Er jedoch, ihr Gatte, hätte sie kennen und es wissen sollen. Und so war es auch seine Pflicht gewesen, sie vor solchen Fährlichkeiten zu bewahren, zu schützen. Aber die Schuld lag noch viel tiefer. Er hatte als Fünfzigjähriger ein junges Mädchen geheiratet, hatte ein aufblühendes Leben an sein verwelkendes gefesselt. Und doch — das Mädchen hatte ihn geliebt! Es hatte als Weib zehn Jahre lang mit inniger Neigung an ihm gehangen! Dennoch durfte er damals nicht um sie werben. Denn als reifer, überlegter Mann mußte er voraussehen, daß die Natur im Laufe der Zeit gegen diesen Bund Protest einlegen würde. Und er gestand sich jetzt, daß ihn solche Bedenken auch wirklich stark beunruhigt hatten, aber von seiner Selbstsucht, von seinem Verlangen nach dem köstlichen Besitz waren sie zum Schweigen gebracht worden. Ja, es war ein Verbrechen, daß er um sie geworben! Was aber wäre geschehen, wenn er es nicht getan? Sie würde einen anderen geheiratet haben. Sie wäre jetzt noch eine glückliche Gattin — vielleicht eine glückliche Mutter. Bei diesem Gedanken krampfte sich sein Herz zusammen. Worin jedoch lag die Bürgschaft, daß es sich, bei all den Zufälligkeiten, die das menschliche Wohl bedingen, bei all den Gefahren, die es bedrohen, wirklich so verhalten würde? Wer konnte behaupten, daß Klothilde unter anderen Verhältnissen glücklicher — ja auch nur so lange glücklich gewesen wäre, wie sie es mit ihm war. Hätte sie nicht schon in ihrem ersten Wochenbett sterben können? Er atmete freier auf. Ja, ein Menschenschicksal läßt sich in all seinen Möglichkeiten nicht berechnen, und wenn er an dem seines geliebten Weibes Schuld trug, so büßte er es jetzt durch ein vereinsamtes, qualvolles Dasein, dem der erlösende Tod — er fühlte es im Tiefsten seiner Seele — nicht so bald nahen würde ...

Dennoch ging er jetzt daran, alle notwendigen letztwilligen Anordnungen so rasch zu treffen, als sollte er morgen sterben. Fürs erste hinsichtlich seines Vermögens. Er war kein reicher Mann; ja ohne den bedeutenden Ruhegehalt, den er vom Staate bezog, hätte er sich sehr einschränken müssen. Die Ersparnisse welche die Günthersheim vor ihm zurückgelegt, waren von seinem Vater zum Ankauf des Gutes verwendet worden, das, weil man es nicht in eigener Verwaltung haben konnte oder mochte, nur geringe Erträgnisse abwarf. Er selbst hatte es bloß als Sommeraufenthalt geschätzt — und das Schloß sollte einst der Witwensitz seiner teuren Klothilde werden; denn daß er vor ihr zu Grabe gehen würde, unterlag keinem Zweifel. Nun war es freilich anders gekommen. Aber was sollte jetzt mit dem Gute geschehen? Es lebten zwar noch Anverwandte des Freiherrn, aber keiner, den er für würdig erachtete, daß er ihm den Besitz vererbe. Sie sollten alle, je nach ihren persönlichen Verhältnissen, durch Legate oder Jahresrenten befriedigt und versorgt werden — auch jene, die es nicht um ihn verdient hatten. Das Gut selbst aber, samt allen darauf haftenden Lasten und mit dem ausdrücklichen, in schmerzlicher Pietät für die Verblichene wurzelnden Vorbehalt: daß das Schloß auf die Dauer von fünfundzwanzig Jahren nicht als Wohnsitz benützt werden dürfe, sollte nach seinem Tode der Ortsgemeinde zufallen. Damit waren dieser die Mittel an die Hand gegeben, durch größere industrielle Unternehmungen und Errichtung gedeihlicher öffentlicher Anstalten den Marktflecken — wie es das ehrgeizige Streben der Einwohnerschaft war — im Laufe der Zeit zum Range einer Stadt zu erheben.

Nachdem der Freiherr diese Schenkung urkundlich besiegelt hatte, zog er die letzte Ruhestätte der Verewigten in Erwägung. Für jetzt war sie, wie es die Umstände erheischten, in die entlegene Gruft gebracht worden. Dort aber, bei den fremden Toten, durfte sie nicht bleiben. Ganz in seiner Nähe sollte sie ruhen, an dem Orte, den sie im Leben so sehr geliebt. Der Gedanke, ihr an der Stelle des Tirolerhauses ein kleines Mausoleum zu errichten, beschäftigte ihn. Aber ein solches Grabmal erschien ihm doch zu gesucht, zu aufdringlich — und so wendete er sich an das Landeskonsistorium mit dem Ersuchen, die Leiche seiner Gemahlin in der Schloßkapelle beisetzen zu dürfen, woselbst sie bis zu seinem eigenen Ableben zu verbleiben hätte. Dann aber sollten beide Leichen nach Wien überführt und dort auf dem Sankt Marxer Friedhofe in der Grabstätte seiner Eltern und Großeltern zur ewigen Ruhe bestattet werden.

Über diesen Entschlüssen und Anordnungen war allmählich der Herbst ins Land gezogen. Die Tage wurden kürzer und kürzer; Schwärme von Nebelkrähen hockten in den Wipfeln des Parkes, dessen Pfade sich mit abfallendem Laube bedeckten. Und die Novemberstürme fingen an, um das Schloß zu brausen, wo der Freiherr einsam hauste. Und doch nicht ganz einsam. Tante Lotti hatte inzwischen ihre Angelegenheiten in Wien geordnet und war zu ihm zurückgekehrt. Der harrenden Teilnahme dieser Vielgeprüften erschloß er endlich den ganzen Umfang, die ganze Bedeutung seines Schmerzes. Sie begriff — und verstand zu trösten. An ihrer Seite betrat er zum ersten Male wieder Klothildens Gemächer, die er bis jetzt, den überwältigenden Eindruck fürchtend, gemieden hatte. Und nun wurden ihm auch die verlassenen Räume mit all den Reliquien eines für immer dahingegangenen Daseins zu einem teuren Besitze, bei dem er jetzt öfter und öfter verweilte, in Erinnerung versunken und von sanfter Wehmut durchschauert.

Und als es nun wieder allmählich Frühling wurde, die weiße Schneedecke, die sich ringsum ausgebreitet hatte, wegschmolz — und in dem ergrünenden Rasen des Parkes Veilchen und Primeln zum Vorscheine kamen, da schlug der Freiherr eines Tages den Weg nach dem Tirolerhause ein. Mit zitternder Hand öffnete er Türen und Fenster und ließ die warme, sonnige Luft in die stillen, leicht nach Moder duftenden Räume dringen. Da befand sich alles noch an derselben Stelle, wie damals! Die Landschaft an der Staffelei — die Bücher, eines davon aufgeschlagen. Und dort stand auch das Glas, in welches Klothilde den Zipfel ihres Tuches getaucht hatte, um die Tränenspuren im Antlitz zu verwischen! Er verhüllte das seine mit den Händen. „Mein Gott! Mein Gott!“ Die Erinnerung an jene entsetzliche Stunde überfiel ihn mit ganzer Macht ...

Er wankte die Stufen hinab und ließ sich auf die Bank nieder, wo sie so gerne gesessen hatte. Vor ihm lag die Wiese in neuer Triebkraft; über ihm, in den schlanken Birkenzweigen, wiegte sich mit zartem Gezwitscher eine Meise; ein erster hellgelber Falter flatterte dicht an ihm vorüber. Befreiende Wehmut überkam ihn nach und nach; es war ihm, als säße Klothilde mit ihrem breitrandigen Strohhute an seiner Seite — und legte, wie sie es gewohnt war, ihre Hand in die seine .......

Und nun weilte er fast täglich dort. Schon blühte in sanften Farben der Akelei, den man auf Wunsch der Schloßfrau, die ihn so sehr liebte, gepflanzt hatte, und der so reich und üppig gedieh, daß im Mai alle Rasenhänge davon überdeckt waren. Und dann kam die Zeit der Rosen, die Zeit der Nelken — und endlich die der Georginen und Astern ...

So zog Jahr um Jahr dahin, und der Freiherr selbst begann ein Pflanzenleben zu führen — das stille Pflanzenleben des Alters. Seine Denkwürdigkeiten, die er begonnen hatte, waren fürs erste liegen geblieben. Als er sie später wieder aufnehmen wollte, erschienen ihm diese Aufzeichnungen nicht mehr wichtig genug, da sich inzwischen im Staate eine Neugestaltung der Dinge anzubahnen schien, wie sie einst seinem Geiste vorgeschwebt hatte. So ließ er denn die Papiere ruhen und begnügte sich mit dem Bewußtsein seines früheren Wollens. —

Als seit dem Tode Klothildens fast ein Dezennium verstrichen war, fühlte sich der Freiherr eines Abends unwohl. Es war in der ersten Frühlingszeit, die ihn wieder in den Park zu dem Tirolerhause geführt hatte. Er mochte sich während der Stunden, die er dort zubrachte, erkältet haben, der herbeigerufene Arzt stellte eine Lungenentzündung fest. Die Krankheit ging jedoch in normalem Verlaufe vorüber, und im Mai konnte sich Günthersheim, wenngleich noch sehr geschwächt, doch als genesen betrachten.

Mittlerweile hatte sich gegen das mit Frankreich verbündete Italien der Krieg vorbereitet, dessen rasche und folgenschwere Ereignisse der Freiherr, wie so viele Einsichtige, mit ahnungsvollen Befürchtungen verfolgte. Als er eines Vormittags in seinem Zimmer die Zeitungsberichte über die Schlacht bei Magenta las, fand er unter den gefallenen Offizieren einen Oberst Graf Poiga-Reuhoff verzeichnet. In diesem Augenblick entsank das Blatt seiner Hand.

Als nach einiger Zeit der Kammerdiener eintrat, sah er seinen Herrn mit gesenktem Haupte auf dem Sofa sitzen und glaubte, er schlafe. Sich leise nähernd, erkannte er, daß er tot war. Eine Lungenlähmung war plötzlich eingetreten.

X.

Die beiden Särge waren nach Wien gebracht worden. Auch Tante Lotti hatte sich dorthin begeben und laut testamentarischer Vollmacht mit sich genommen, was von intimerem Werte war; alles übrige wurde an Arme und Bedürftige verteilt, so daß nur, was gewissermaßen niet- und nagelfest war, im Schlosse zurückblieb. Dieses selbst aber wurde nunmehr an allen seinen Eingängen versperrt und die Schlüssel dem Gemeindevorstand überantwortet, der seinerseits einen verläßlichen Mann als Aufseher anstellte. Mit seiner Familie im Amtshause untergebracht, hatte dieser darüber zu wachen, daß nichts in Verfall gerate; wie denn auch zweimal des Jahres alle Räumlichkeiten geöffnet wurden, um die notwendige Lüftung und Reinigung vorzunehmen.

Inzwischen war die neue Aera wirklich angebrochen, und eine fröhliche Wahlbewegung ging durch das Land. Lang erhoffte Einrichtungen, erlösende Gesetze machten sich geltend, aber mit ihnen auch tiefere nationale Spaltungen, die fast in allen Teilen der Monarchie zutage traten. Es war ein freierer, aber auch unruhigerer Geist in die Zeit gekommen, deren Hauch von nun an das stille Schloß umwehte, während die Mauern allmählich eine düstere Färbung annahmen und auf den unbetretenen Gängen der Avenue sich langhalmiger Graswuchs entwickelte.

Plötzlich wurde es von feindlichen Truppen überschwemmt. Denn der Krieg des Jahres 1866 hatte sich in die Nähe gezogen, und die Kanonen donnerten in der Runde. Man hatte das weitläufige Gebäude einem preußischen General erschließen müssen, der dort sein Heerlager aufschlug.

Auch das ging vorüber, und es wurde wieder still auf der einsamen Höhe. Unten aber regte sich aufs neue der Gewerbefleiß friedlicher Hände — und der Marktflecken dehnte sich weiter und weiter aus. Ein stattliches Schulhaus, ein neues Rathaus in gotischem Rohbau erhoben sich — und als nun gar auf frisch gelegten Schienen die erste Lokomotive vorüberdampfte, da war auch das Ziel erreicht — und der Ort zum Range einer Stadt erhoben worden. Und schließlich waren auch die fünfundzwanzig Jahre abgelaufen, welche dem Schlosse neue Bewohner ferne gehalten hatten.

Mit demselben Tage aber, an dem diese Frist ihr Ende erreichte, waren auch schon ganze Scharen von Handwerkern erschienen, welche nunmehr daran gingen, das verlassene Gebäude nach jeder Richtung hin im modernsten Geschmacke aufzufrischen und einzurichten. Denn einer der bedeutendsten Industriellen des Landes, der sich im Laufe der Jahre ein erstaunliches Vermögen erworben, war bei einer Geschäftsreise von diesem, gewissermaßen in der Luft schwebenden Herrensitze in Kenntnis gesetzt worden und hatte sofort hinsichtlich des Erwerbes in der ganzen früheren Gutsausdehnung ein glänzendes Angebot getan. Die Väter der jungen Stadt gingen umso rascher auf den Verkauf ein, als damit alle weiteren Sorgen und Mühen der Verwaltung entfielen und das Gemeindevermögen um ein beträchtliches, zur Stunde flüssiges Kapital wuchs. Und so hielt denn, nachdem im Schlosse die zahlreichen, vordem sehr einfach gehaltenen Gemächer durchweg mit neuen Parkettböden, mit goldgemusterten Tapeten, mit Samt, Seide, Spitzen und stilvollen Möbeln ausgestattet, die Vorhalle und die Treppen mit Nischen und Statuen, mit kostbaren Teppichen und exotischen Gewächsen ausgeschmückt waren, an einem dunklen Septemberabend der neue Besitzer seinen Einzug — und zwar bei elektrischem Licht, dessen weißes Fanal die Avenue weithin erhellte.

Selbstverständlich waren auch bedeutende Eingriffe in den Park geschehen. War doch dieser im Laufe der Jahre mit seinem Unterholz derart ins Laub geschossen, daß eine förmliche Durchforstung Platz greifen mußte. Dabei fielen auch alle vermorschten Eremitagen, Tempelchen, Brückchen und Ruhebänke, die samt und sonders aus Birkenästen hergestellt waren; nur das Tirolerhaus an der großen Wiese hatte man als wunderliches Denk- und Wahrzeichen einer engbrüstigen und geschmacklosen Vergangenheit unberührt gelassen. Auch konnte man dort immerhin vor einem plötzlich niedergehenden Regen Schutz finden oder auch an kühlen Herbsttagen das Gouter einnehmen. Als man aber das letztere wirklich einmal ausführte, da zeigte sich, daß die Räumlichkeiten für die höchst zahlreiche Familie des neuen Schloßherrn samt allen Hofmeistern, Gouvernanten und Bonnen doch viel zu klein und unbequem waren. Die Damen konnten keinen rechten Platz zum Sitzen finden — und die Herren stießen mit den Hüten an die Decke. Öffnete man die Fenster, so drang empfindliche Zugluft herein, schloß man sie, so waren die Zimmerchen — denn auch die Damen rauchten Zigaretten — alsbald mit unerträglichem Tabaksqualm angefüllt. Und welche Bruthitze mochte in der schönen Jahreszeit hier innen herrschen! Man mied also das Haus im nächsten Sommer vollständig; nur die englische Gouvernante, eine ältliche Miß mit messingblonden Haarwickeln, suchte es je zuweilen an Sonntagen auf, um von keinem Menschen gestört in der Bibel lesen zu können. Und als im darauffolgenden Winter das Unerhörte geschah, verwegene Strolche nächtlicherweile einbrachen und alles Bewegliche wegschleppten, da kam man auch sofort zu dem Entschlusse, den alten „Kasten“ dem Erdboden gleich zu machen und an seiner Stelle ein geräumiges, den Anforderungen modernen Komforts entsprechendes Sommerhaus zu errichten. Wirklich entstand auch, wie hervorgezaubert, in kürzester Zeit ein ganz stattliches Gebäude im Schweizerstil, von dessen breiter, luftiger Terrasse man bequem auf einen weit abgesteckten Lawn Tennis-Platz niederblicken konnte, der einen guten Teil der Wiese einnahm. Dort bewegen sich, wenn — was häufig geschieht — das Schloß zahlreiche Gäste beherbergt, anmutig jugendliche Gestalten in vollem Eifer des körperbiegenden Spieles. Die Herren in Jockeimützen und farbigen Wollenhemden, die Damen, hochgeschürzt, in grell bunter Tracht — alle aber in gelben, mit Gummi besohlten, absatzlosen Schuhen. Und während unten bei fröhlichen Scherzen und schallendem Gelächter die Bälle hin und her oder über das Gitternetz fliegen, weilt oben auf der Terrasse eine Schar gesetzterer Männer und Frauen in anregendem Geplauder. Da wird alles berührt, alles gelobt oder getadelt, begriffen oder mißverstanden, was der Tag bringt: die neuesten Verordnungen der Regierung und die neuesten Moden; die Schwankungen der Kurse und die Differenzen zwischen diesem oder jenem Theaterdirektor und dieser oder jener Schauspielerin; die letzte sensationelle Ehescheidung, das letzte siegreiche Rennpferd, der Sozialismus, der Hypnotismus und die Erzeugnisse der naturalistischen Schule. So regt und betätigt sich geräuschvoll an dem Orte, wo Klothilde in tiefer Stille an der schwermütigen Glut Lenaus sich entzückte, an ihrer idealen Landschaft pinselte — und im Übergefühl der Schuld zusammenbrach, ein neues, bestimmteres, zuversichtliches Geschlecht mit anderen Empfindungen und Anschauungen, mit anderen Zielen und Hoffnungen — daher auch mit anderen Schicksalen. Aber auch dieses Geschlecht wird dereinst zu den vergangenen zählen — und wieder ein neues ausblicken nach den ungewissen, ewig wechselnden Fernen der Zukunft.

Druck von Hesse & Becker in Leipzig.

Anmerkungen zur Transkription

Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt. Im Original g e s p e r r t hervorgehobener Text wurde in einem anderen Schriftstil markiert. Textstellen, die im Original in Antiqua gesetzt sind, wurden in einer anderen Schriftart markiert.

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