The Project Gutenberg eBook of Moriz: ein kleiner Roman

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Title: Moriz: ein kleiner Roman

Author: Friedrich Schulz

Release date: January 15, 2015 [eBook #47977]

Language: German

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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK MORIZ: EIN KLEINER ROMAN ***

Moriz,
ein kleiner Roman

von
Friedrich Schulz

dritte verbesserte Ausgabe

Weimar 1892
in der Hoffmannischen
Buchhandlung

An
den Herrn Hauptmann
von Blankenburg
in Leipzig

Ohne Ihnen persönlich bekannt zu seyn, Hochwohlgebohrner Herr, ohne ein anderes Recht zu einer Annäherung an Sie zu haben, als dasjenige, welches Lernbegierde und Dankbarkeit dem Schüler an seinen Lehrer gewähren können, wage ich es, Ihnen dies kleine Werk zu widmen, das seine Existenz und das Gute, was es vielleicht haben könnte, ganz allein Ihrem vortreflichen Versuch über den Roman verdankt, und das ganz vollkommen hätte werden müssen, wenn es in seines Urhebers Kräften gestanden hätte, die Vorschriften, welche jener Codex der Romanendichtung mit so viel Scharfsinn, Deutlichkeit und Eleganz entwickelt, in ihrem ganzen Umfange zu befolgen.

Vielleicht bin ich bey einem zweyten Versuch in dieser Dichtungsart, die eine der schwersten ist, und doch eine der leichtesten scheinen muß, so glücklich, mich Ihren Regeln noch näher anzuschließen; und meine Bemühungen hierin werden desto ernstlicher seyn, je fester ich überzeugt bin, daß jedes Ihrer Gesetze, dessen Geist ich zu fassen und mir eigen zu machen vermag, eine Stuffe sey, auf welcher meine Arbeit zur Klarheit, Natur und Vollkommenheit emporsteigen werde.

Ich verharre mit unumschränkter Achtung

Ew. Hochwohlgebornen

Weimar, den 3. April 1787.

ergebenster
Friedrich Schulz.

Moriz.
Erstes Buch.

Erstes Kapitel.
Mysterien.

»Er darf es noch nicht wissen, Martha,« sagte mein Papa zu seiner Haushälterin: »Du weißt, daß der Junge, so klein er ist, schon einen gewaltigen Nagel im Kopfe hat. Er gehorcht mir jetzt schon nicht mehr, wie er sollte, was würde daraus werden, wenn er erführe, daß ich nicht sein Vater bin? Laß Du nur noch einige Jahre hingehen. Es wird sich schon eine Gelegenheit finden, wo wir's ihm mit Manier beybringen können. Und vielleicht stirbt der Alte bald, dann erfährt er's auf einmal. Er hört's doch wohl nicht?« setzte er leise hinzu: »Geh hin, und sieh einmal zu, ob er noch schläft!«

Martha kam und sahe zu, ob ich noch schliefe. Ich hatte mich auf Papa's Bette hingestreckt. Mein rechter Arm trug den Kopf und der linke lag unbeweglich auf dem Deckbette. Meine Augen waren fest zu, der Mund halb offen, und der Athem flog mit Geräusch durch Mund und Nase aus und ein. Ich machte den Schlafenden so natürlich, daß Martha sogleich zum Papa zurückging und ihm versicherte: ich schliefe wie eine Ratze.

»Nun, es ist gut,« sagte Papa: »wenn ich zurückkomme, wollen wir weiter davon sprechen. Jetzt laß mir mein Pferd satteln, ich will fort!«

Martha ging und Papa zog sich an.

Mir war es sehr unangenehm, daß diese Unterredung, die mir so merkwürdig vorkam, aber höchst dunkel und geheimnißvoll war, so plötzlich abgebrochen wurde. Ich war so boshaft, zu wünschen, daß Papa's Brauner auf der Stelle lahm werden möchte, damit Papa gezwungen würde, zu Hause zu bleiben, und das Gespräch da wieder anzufangen, wo er es abgebrochen hatte. Aber mein Wünschen half nichts! Martha kam zurück und meldete, der Braune wäre gesattelt. Papa nahm seine Reitgerte, umarmte Marthen und gab ihr einen Abschiedskuß, daß die Stube wiederhallte. »Adje, Martchen!« rief er und ging zur Thür hinaus.

Martha trat ans Fenster, machte es auf, sah meinem Papa eine Weile nach, schlug darauf das Fenster zu, und kam langsam und auf den Zehen zu mir vor das Bette. Ich schlief immer noch so fest als vorher.

Zweytes Kapitel.
Martha: ein Monolog.

»Morizchen, Morizchen,« rief sie leise und tippte mit ihrem eißkalten Finger mir auf den linken Backen: »schläfst du noch?«

Ich schlief dicht und fest.

»I, du lieber Goldjunge! (Sie bückte sich zu mir herunter und drückte ihre Lippen sanft auf die meinigen) Ach, wie warm die Lippen des kleinen Schlingels sind! – Noch einmal (sie küßte mich von neuem) Noch einmal! und – noch einmal!«

Ich schlief dicht und fest.

»Und, die kleinen rothen Bäckchen,« rief sie wie entzückt, »die kleinen rothen Bäckchen, so voll, so fest!«

Sie rückte leise einen Stuhl vors Bette, setzte sich darauf, und legte ihren rechten Backen auf meinen linken. Mein Backen brannte wie Feuer, und erhitzte nach und nach den ihrigen, der anfangs sehr kalt war. So blieb sie eine Weile liegen, ohne einen Laut von sich zu geben.

Mir ward diese Lage in die Länge beschwerlich, und ich war einigemal im Begrif, zu erwachen; aber die Besorgniß, daß ich ein plötzliches Erwachen nicht natürlich und unverdächtig würde machen können, hielt mir die Augen zu. Nach einigen Minuten richtete sie sich auf und krabbelte mir sanft und leise um Hals und Kinn.

»Alles so fein, so fleischigt, so glatt!« sagte sie mit leiser zitternder Stimme: »Ich möchte den Jungen aufessen vor Liebe! – Wenn ich meinen alten Ernst dagegen ansehe, der hat eine Haut wie Elefantenleder. Aber hier? Wie fein, wie glatt die Stirn ist? Wie prall und rund die Backen! Der alte Ernst hat hundert Millionen Runzeln vor dem Kopfe, und seine Backen sind so dick, so aufgedunsen und kirschbraun! Und das kleine Mäulchen hier – so frisch, so roth, so klein! – Warum kann ichs denn so lange ansehen?«

Sie bückte sich von neuem zu mir herunter, und gab mir einen Kuß. Diese kleinen Späße gefielen mir, und ich schlief mit jeder Minute fester ein.

»Der alte Ernst,« fuhr sie fort: »hat ein Maul wie ein Thorweg, und riecht immer nach Taback, daß mir möchte schlimm werden. Laß einmal sehen, Morizchen (sie bückte sich so weit herunter, daß ihre Lippen die meinigen berührten) nein, du riechst nicht nach Taback. – Ach! (sie schnupperte, als wenn man den Geruch einer Sache unterscheiden will) Ach, Schelm, warte, ich will dich kriegen. Du bist mir über den Malagga gewesen! (sie schnupperte wieder) Ja, der pure klare Wein! Warte, Schelm, warte!«

Ich fühlte, daß mir über und über warm ward. Ich war wirklich über ihrem Malagga gewesen.

»Darum war dir auch der Kopf so schwer,« fuhr sie fort: »darum warst du so schläfrig, so müde! – Ha, ha, Vogel, komme ich so darhinter? Aber warte, ich will ihn schon besser verstecken!«

Es ward mir immer wärmer und wärmer, und plötzlich stieg mir die Hitze ins Gesicht. Ich schlug die Augen auf und drehete mich um. Martha trat hurtig ein paar Schritte zurück und sagte ganz gleichgültig: »Nun, Moriz, hast du ausgeschlafen?«

Ja, Mamsell! sagte ich und sprang aus dem Bette. Ich hatte nicht das Herz, ihr ins Gesicht zu sehen, und in drey Sprüngen war ich an der Thür, riß sie auf und fort. Sie rief hinterdrein, aber ich fürchtete eine Untersuchung über den Wein und kam nicht.

Drittes Kapitel.
Ernst – erste Schilderey.

Als ich im Freyen war, kam mir das geheimnißvolle Gespräch zwischen Papa und Marthen ins Gedächtniß zurück. Aber ich nahm es auf die leichte Achsel und überredete mich, daß es nicht mir gegolten habe, ob ich gleich deutlich genug gehört hatte, daß es auf keinen andern, als auf mich gehen konnte. »Wenn auch Papa nicht mein Vater ist, dachte ich, schadet nichts! Ich habe Essen und Trinken; Papa ist mir gut, Martha auch; und erfahren soll ichs ja mit der Zeit, wer mein Vater ist. Mag's seyn, wer's will! Heissa!«

Und hiermit drehete ich mich dreymal auf dem Absatz herum und suchte meine Spielkameraden.

Meinen Lesern ist es gleichgültig, ob ich Ball, oder sonst etwas gespielt habe; aber nicht so gleichgültig ist es ihnen, wer Papa und seine Wirthschafterin Martha wohl gewesen seyn möchten.

Mein Papa hieß Ernst. Es war ein kurzer, dicker Mann. Sein Gesicht glühete beständig wie ein Kohlfeuer. Er trug gewöhnlich eine Perücke von altfränkischem Stutze, die von der Scheitel bis auf die Schultern herab mit breitgedrückten Pferdehaarlocken übersäet war. Wenn er Gala machte, so zierte er sie mit einem Haarbeutel, der wenigstens achtzehn Quadratzoll lang und breit war; wenn er aber ausritt oder mit Marthen spazieren ging, so wackelte ein kleines, fingerlanges Zöpfchen auf dem breiten Rücken, das sich immer einige Zoll hob, wenn er sich bückte. Ein paar kleine graue Augen hatten sich unter dicken, buschigten Augenbraunen verkrochen, und warfen aus ihrem Verstecke ziemlich muntre Blicke über die vorstehenden Backen herüber. Wenn ihn Martha küßte, weg waren die Augen! Denn sie hatte die Gewohnheit, ihn dabey zärtlich unter das Kinn zu fassen, und da alles, was bey minder genährten Leuten Muskel ist, bey ihm aufgedunsenes, weiches Milchfleisch war, so schob sich dies hinauf und vergrub seine Augen. Seine Nase war klein, in der Mitte etwas eingedrückt, und über und über mit kleinen hochrothen Hügelchen bestreut, deren Spitzen, wenn er des Morgens aufstand, ins Blaue schattirten, sich aber, sobald er seine erste Flasche Malagga getrunken hatte, in weisse und hellrothe Tippchen verwandelten. Ein dünner, röthlicher Bart zog sich von den Ohren über Mund und Kinn, und einen Theil des kurzen Halses herüber. Er barbierte sich selbst, nicht aus Knauserey, sondern weil er in seiner Jugend die Ehre gehabt hatte, dem Kammerpräsidenten von Lemberg in aller Unterthänigkeit den Bart zu nehmen und sich dieses Geschäftes zu Höchstdesselben Zufriedenheit zu entledigen. Darum bildete er sich auch viel darauf ein, und wenn er jemand unumschränkt liebgewinnen sollte, so mußte er, außer dem Talente, daß er eine gute Hand schrieb, auch die Fähigkeit besitzen, sich selbst den Bart zu scheeren.

Sein Hals war, wie gesagt, ungemein kurz. Wenn er zu Hause war, so schlug er eine schmale, weisse Binde um selbigen; wenn er aber in die Kirche ging, oder nach der Stadt ritt, so zierte er ihn mit einer langen, blaugestärkten Halsschärpe, welche Martha sehr zierlich in Falten zu legen wußte. Unter dem Kinne ward sie leicht zugeschlungen, und die beyden Enden, die mit feinen Spitzen besetzt waren, flatterten auf der Brust.

Sein Leibrock war von blauem Plüsch, unter welchem er bald hellrothe, bald schwarze manchesterne Beinkleider und Weste trug. Er war nach einer uralten Mode geschnitten, hatte eine sehr kurze, aber erschrecklich breite Taille, ellenlange Aufschläge, und war über und über, hinten und vorne, von oben herab bis unten aus, mit langen, blinden Knopflöchern ausstaffirt. Die Weste reichte ihm bis auf die Kniee, und deckte mit ihren Flügeln die kurzen Beinkleider, auf welchen sich Falte an Falte drängte. Die Beingürtel daran waren entsetzlich lang und steif. Er zog sie durch eine schmale silberne Schnalle und steckte sie nicht unter, sondern ließ die Enden steif hintenweg stehen. Dazu trug er schwarzwollene Strümpfe, die er wie Kamaschen aufschlug. Seine Schuhe waren von Rauchleder und vorne aufgestülpt; die Riemen derselben waren überaus schmal und durch ein paar Schnallen gezogen, die von eben der Form, und nur ein wenig größer waren, als die Beingürtelschnallen.

Seine Füße waren hölzern und dünne und trugen mit Mühe einen Bauch, den zwey lange Männer kaum umspannt haben würden.

Bis hieher das leibliche Konterfey meines Papa, nun das geistige.

Sein erstes und vorzüglichstes geistiges Talent war: daß er eine Hand schrieb, wie in Kupfer gestochen. Dieser Fähigkeit hatte er alles, was er war und besaß, zu verdanken. Durch sie ward er Kammerdiener des Präsidenten von Lemberg; durch sie in der Folge Kammerkoncipist, und nicht lange darauf erster Kammersekretair, und als solcher kam er durch mancherley erlaubte Wege, immer die Feder in der Hand, zu einem Vermögen, wovon er sich ein Guth, fünf und zwanzig tausend Thaler an Werth, kaufen konnte, und noch übrig behielt. Aber er war auch nicht undankbar gegen die Feder, die ihn zum Manne gemacht hatte. Auf seinem Petschaft, das wohl anderthalb Zoll im Durchmesser hatte, lag eine Hand, die eine lange buschigte Feder hielt; über dieselbe ging die Sonne auf und warf ihre Strahlen auf sie herunter; rund um das Petschaft standen die Worte aus der Bibel:[1] Aus Machir sind Regenten kommen und von Sebulon sind Regierer worden durch die Schreibfeder.

[1]: Buch der Könige, Kap. 5, v. 14.

Leute, die nicht so gut schrieben, aber studiert hatten, machten ihn zwar dieses Wappens wegen, bey jeder Gelegenheit lächerlich, blieben aber doch nur Koncipisten, die sich mit höchstens zwey hundert Thalern jährlich durch die Welt schleppen mußten.

Der Neid bekam meinem Papa. Er ward von Tage zu Tage dicker und fetter und seine Zufriedenheit nahm mit jeder Flasche Wein, die mit Mißgunst eingesegnet war, wundersam zu.

Ueberhaupt war der Wein das Oel, welches seiner Verstandeslampe Nahrung gab. Wenn er des Morgens aufstand, so klagte er gewöhnlich, daß ihm der Kopf ausserordentlich leer sey, und das war für Marthen der Wink, in den Keller zu laufen und eine Flasche Malagga zu holen. Wenn er das erste Glas in die Hand nahm, zitterte er zum Erstaunen; beym zweyten nur halb so; beym dritten fast gar nicht, und das vierte zog er so fest und rasch zu Munde, daß auch nicht ein Tröpfchen auf die Erde fiel. Alsdann setzte Martha die Flasche weg und brachte Kaffee und Pfeife. Nun war er auf einmal wieder der muntre, beredte, tiefdenkende und witzige Papa, der gestern Abend zu Bette ging, und nun ließ er sich von mir erzählen, was ich gehört, gesehen und gelernt hatte. Wenn dies geschehen war, bestellte er das Mittagessen und dann mußte ich mein Schreibebuch hernehmen und schreiben. Vor allen meine bitterste, mühseligste Stunde! Bey dem ersten falschen Strich, den ich machte, schüttelte er den Kopf; beym zweyten legte er seine Pfeife hin, nahm die Feder und sagte: so mußt du es machen! Beym dritten stieß er mich ganz sanft mit der Nase auf die Vorschrift und sagte gelassen: Morizchen, sieh doch nur, wie es da gemacht ist! Beym vierten rief er: Sudeley und kein Ende! und dabey vergrub er mich in Tabacksdampf. Beym fünften: Junge, ich bitte dich, sieh auf die Vorschrift! und beym sechsten und letzten sprang er hitzig auf, zeigte nach der Thür und sagte: Moriz, aus dir wird nimmermehr 'was!

Das waren dann tröstliche Worte für mich! Ich ging und erholte mich bey meinen Spielkameraden.

Wenn ich fort war, hatte Mamsell Martha Audienz. Er besprach sich mit ihr über die vorigen Zeiten; über den Bestand des Weinkellers, der Räucherkammer etc. etc. ersann und schuf neue leckerhafte Gerichte; erzählte, wie er bey dem Präsidenten von Lemberg in Gnaden gestanden und noch stände; von diesem kam das Gespräch auf mich; auf meinen Leichtsinn und auf meine geringe Lust zum schreiben. Wenn mir dann die gute Martha in diesem Punkte das Wort reden wollte; so sprang er hurtig auf, zog seine goldene Uhr heraus, zeigte ihr sein Petschaft und sagte: Lies, lies, lies! – Dies war die letzte Instanz. Wenn sie ihn nicht böse machen wollte, so durfte sie von der Minute an kein Wort zu meiner Vertheidigung mehr sagen.

Sodann entfernte sich Martha und bestellte die Küche. Er nahm unterdessen die Zeitungen, und alle erdenkliche politische Blätter, die stoßweise auf seinem Tische lagen; las und überdachte; prophezeite und warnte, und ward bedenklich und schrieb andre Gesetze und Hülfsmittel vor, die er diesem oder jenem Staate als sehr heilsam dringendst anempfahl. Dabey hielt er sich so lange auf, bis seine Flasche rein ausgeleert war, und dann ging er zum Pastor und unterhielt sich mit ihm, bis ich ihn zu Tische rief.

Er aß wenig, aber gut. Wir beteten jedesmal alle drey zugleich und laut, selbst wenn wir Fremde hatten. Ein junger Accessist hatte sich einmal unterfangen, über den seltsamen Zusammenklang unsrer Stimmen zu lächeln – er bat ihn nie wieder zu Tische und konnte ihn von dem Augenblick an nicht mehr leiden.

Nach Tische legte er sich auf das Kanapee und schlief bis um zwey Uhr. Mit dem Schlage mußte ihn Martha wecken und mit Kaffee und Pfeife zur Stelle seyn. Während er schmauchte und trank, ward sein Pferd gesattelt, und sobald er fertig war, ritt er nach der Stadt. Hier wandte er eine Stunde an, um die Arbeiten seines Substituten durchzusehen, und sobald dies geschehen war, ritt er in den goldenen Hecht, wo sie den besten Wein hatten. Da blieb er bis gegen Abend; man half ihm aufs Pferd, und es schritt mit ihm langsam und wohlbedächtig zu Hause. Die Leute, die ihn tagtäglich vorbeyreiten sahen, nannten ihn nur immer Silen, und sein Pferd, Silen's Eselein. Zu Hause stieg, oder sank, oder fiel er, je nachdem ihm der Wein geschmeckt hatte, seiner Martha in die Arme, die ihn auszog und zu Bette brachte.

So lebte er einen wie alle Tage, Sommer und Winter hindurch, nur mit dem kleinen Unterschiede, daß er in der strengern Jahrszeit in einer Kutsche nach der Stadt fuhr.

Viertes Kapitel.
Martha – zweyte Schilderey.

Martha war eine Jungfer von wenigstens acht und vierzig Sommern. Ihren Familiennamen habe ich nie erfahren, denn so lange ich sie kannte, hatte ich sie nie anders, als Mamsell Martha nennen hören. Es war eine lange, hagre Gestalt, von einem so dünnen, geschmeidigen Wuchse, daß sie einer Spinne um ein Haar ähnlich war, wenn sie, ihrer Gewohnheit nach, drey Röcke über einander gezogen hatte. Wenn sie neben Papa herging, so gab es den seltsamsten, lächerlichsten Kontrast: Er, roth, gemästet, vierschrötig und satt – Sie, blaß wie der Tod, dürr wie eine Schindel, dünne wie ein Windspiel, schnurgrade, wie auf Drath gezogen. Papa hing in seinen Kleidern, und sie war in die ihrigen mit Gewalt hineingepreßt.

So unähnlich sich ihr Aeußeres war, so ähnlich ihr Inneres. Sie sprach eben so gern von vergangenen Zeiten, wie er, trank eben so gern Wein, war eben die sorglose, unschuldige Haut, sie aß, wenn sie hungerte, trank, wenn sie dürstete, schlief gern und plauderte gern.

Ihr Lieblingsthema war das Kapitel vom Heirathen. Dies hatte sie, trotz ihrer Jungfrauschaft, so überdacht, geprüft und von allen Seiten beleuchtet, daß sie vier und zwanzig Stunden in einem Zuge davon schwatzen, und, soviel ich damals davon verstand, nicht uneben schwatzen konnte. Den Eingang dazu machte gewöhnlich eine genaue Schilderung aller der Freyer, die sich um sie beworben hatten. Jeder derselben hatte seinen Hauptfehler. Der eine war zu arm, der andre zu reich; der eine zu groß, der andre zu klein; dieser zu dick, jener zu dünne; jener zu höflich, dieser zu grob gewesen; ein andrer hatte ihr vor der Hochzeit Dinge zugemuthet, die sie nicht nannte, ohne sich vorher dreymal zu räuspern; ein andrer hatte sich nicht undeutlich vermerken lassen, er würde ihr im Ehebette nicht sehr beschwerlich fallen; und mit Einem war es schon bis zur Verlobung gekommen, aber, o Jammer! ein altes Weib, das ihn gerne für sich weggekapert hätte, that ihm 'was an, und er starb! Nie sprach sie von ihm, ohne die bittersten Thränen zu vergießen, wobey sie sich in einen Strom von Verwünschungen auf die alte neidische Hexe ergoß. Bey seinem Grabe hatte sie gelobt, nie zu heirathen, und sie hat dies feyerliche Gelübde unverbrüchlich gehalten, denn er war der letzte, der sich um sie bewarb.

Uebrigens war es die gutherzigste Seele unter der Sonne. Was sie meinem Papa und mir an den Augen absehen konnte, that sie mit unermüdeter Willigkeit. Wenn er unbaß war, wurden ihre Augen nicht trocken, und wenn ich zu einer Näscherey Appetit zeigte, so ruhete sie nicht eher, bis sie mir dieselbe verschafft hatte, und wenn es mir dann recht wohl schmeckte, so hielt sie sich für ihre Mühe hundertfach belohnt.

Sie war in allen erdenklichen Wirthschaftskünsten ausgelernt. Sie kochte gut, buck vortrefliches Brod, machte köstlichen Kaffee und noch köstlichere Schokolate. Wenn mein Papa ein neues leckeres Gericht ergrübelt hatte, so stand es in kurzer Zeit schmackhaft und appetitlich vor ihm. Niemand verstand besser, glühenden Wein zu machen, niemand herrlichere Torten. Kein Koch in der ganzen Christenheit spickte einen Hasen fertiger, künstlicher und geschmackvoller, und keiner wußte ihm seine neun Felle, so sauber, so behutsam abzuziehen – kurz, sie war die Krone aller Köche und Köchinnen, die auf Erden lebten und je leben werden.

Ihre hauptsächlichsten Geschäfte waren Küche und Wäsche, und nächst diesen lag ihr die große Pflicht ob, meinem Papa das Bette zu machen. Wie die Küssen unter ihren Händen aufschwollen! Wie geschmackvoll sie das weisse, glänzende, feine Bettuch in Falten, gleich breit, gleich abgemessen zu legen wußte! – Bis über die Ohren plumpte dann mein guter Papa in die Flaumfedern, und er pflegte sein Bette immer das irdische Paradies zu nennen.

Auf ihr eignes Bette wandte sie nicht so viel Fleiß. Woher das kam? Ich habe es mir immer aus dem Umstande erklärt, daß es manchmal acht Tage dastand, ohne eine Spur, daß jemand darin gelegen hätte.

Bey allen diesen belobten Gaben hatte Mamsell Martha ein paar kleine unbedeutende Fehler, die sich um so eher entschuldigen lassen, da sie beyde Naturfehler waren: sie putzte sich manchmal zu lange, und konnte die Buchstaben k. r. sch. und g. nicht aussprechen.

»Mohizchen,« sagte sie immer des Abends zu mir: »wilt du nicht zu Bette ehn?«

Fünftes Kapitel.
Moriz – dritte Schilderey.

Ich war um die Zeit ein Junge von dreyzehn Jahren. So lange ich denken konnte, hatte ich mich unter den Augen meines Papa und Marthens befunden, und wußte nicht anders, als daß ich Papa's Sohn sey, meine Mutter aber in früher Kindheit verloren habe. Munter und lustig, wie man in diesen Jahren immer ist, war ich im höchsten Grade, und vielleicht manchmal zu lustig; denn alle Augenblicke lief Klage über mich ein. Bald traf ich mit der Schleuder so gut und geschickt in die Fenster unsers Nachbars, daß ihm die Scheiben auf die Nase sprangen; bald kletterte ich in seinen Garten und machte mich über seine Blumen, Aepfel, Birnen und Kirschen; bald hatte ich Pastors Wilhelmchen links und rechts geohrfeigt, und bald unsern Kantor einen Saufaus geheissen.

Alles das blieb freylich nicht verschwiegen, aber doch kam es selten bis vor meinen Papa. Niemand konnte zu ihm, wenn er sich nicht vorher bey Marthen gemeldet hatte, und diese war mir zu gut, als daß sie solche Hiobsbothen hätte vor ihn lassen sollen. Sie machte den Schaden entweder mit guten Worten, oder mit einem Glase Wein, oder mit Geld wieder gut, und ich trug höchstens ein: Fi häme dich, Mohizchen! davon.

Aber dies war der geradeste Weg, mich zum wildesten, unbändigsten Jungen zu machen. Alle vier Wochen brauchte ich ein Paar neue Schuh, und wenn neue Stiefeln an meine Füße kamen, so wadete ich in allen Pfützen umher, um herauszubringen, ob sie Wasser hielten. Wenn ich Beinkleider bekam, (sie waren gewöhnlich von Plüsch und schrieben sich aus Papa's Kleiderschrank her) so war es mir tödlich zuwider, daß sie so rauch waren, und ich rutschte und kroch so lange im Grase herum, bis sie kahl wurden und sich grün färbten. Ueberdies hatte ich einen unsäglichen Abscheu gegen alles, was weiß war. Wenn ich des Morgens ein Paar weisse baumwollene Strümpfe anziehen mußte, so konnte ich die Zeit nicht erwarten, bis ich damit zum Hause hinaus kam; dann ging es schnurstracks auf einen ziemlich breiten Graben zu, an welchem ich mich im Springen übte. Ich sprang so lange herüber und hinüber, bis ich hineinplumpte, und dann war es um die weissen Strümpfe gethan.

Kein Gebüsch war mir zu dicke, kein Baum zu hoch. Ich kroch und kletterte so lange, bis man Morizen stückweise auf den Hecken und Aesten hangen sah.

Mit allen Jungen aus der Nachbarschaft balgte ich mich herum, sagte aber kein Wort, wenn sie mich weidlich zerprügelt hatten, sondern trug mein Kreutz geduldig; aber, wenn ich den Sieg davontrug, so mußt' es alle Welt wissen. Je größer der Junge war, desto lieber schlug ich mich mit ihm. Die Kleinen konnten mich necken wie sie wollten, ich war zu stolz, um sie dafür abzubläuen.

Mein beständiger Gefährte war ein großer englischer Hund. Weil ich mit ihm aufgewachsen war, so hatte ich seine Freundschaft in dem Grade, daß sich niemand unterstehen durfte, mich anzugreifen, wenn er nicht mit zerrissenem Rocke nach Hause gehen wollte. Balgte ich mich mit einem meiner Spielkameraden und lachte dazu, so blieb er ruhig, entfuhr mir aber ein Laut, der weinerlich klang; so nahm er meinen Gegner beym Rockzipfel, oder war er groß, bey der Wade, und zerrte ihn unter Brummen und Murren einige Schritte rückwärts. Bis in mein zwölftes Jahr ritt ich auf ihm, aber nach der Zeit wurde ich ihm zu schwer, und wenn ich ihm einen Ritt zumuthen wollte, legte er sich nieder, und schlug mit allen Vieren um sich, aber nicht grimmig, sondern mit freundlichen Manieren. Von dieser Zeit an ging ich zu Fuße.

Um mein Wissen stand es damals nicht sonderlich. Ich konnte ein bischen lateinisch decliniren, ein bischen rechnen und ein paar Worte französisch. Mit der Feder wußte ich noch am besten umzuspringen, und das war, nach dem, was ich oben gesagt habe, kein Wunder. Mit dem Katechismus stand es so so! Das Vaterunser und die gewöhnlichen Tischgebete, konnte ich, wenn ich nicht gerade recht hungrig war, ohne Anstoß; aber die fünf Hauptstücke und was dazu gehört, konnte ich nicht so gut. Mamsell Martha nahm sich zwar dann und wann die Mühe, mich darin zu examiniren, aber was half es, da es blos auf mich ankam, ob ich mich wollte examiniren lassen oder nicht.

Dicht an unser Guth stieß ein andres, das einem Edelmanne gehörte, der als Husaren-Oberster seinen Abschied genommen hatte. Er hatte drey Kinder, zwey Töchter und einen Sohn, für die er einen Hofmeister hielt. Weil er mich meiner Munterkeit wegen lieb gewonnen hatte, so erlaubte er mir, die Stunden zu besuchen, die der Hofmeister seinen Kindern gab, räumte mir auch sonst noch vielerley Freyheiten ein, die mir ein andrer schon darum, weil ich schlechtweg Ernst hieß, nicht eingeräumt haben würde.

Der junge Herr, sein Sohn, war ein Pinsel, aber die beyden Fräulein waren desto munterer. Er war der ewige Gegenstand unsres Spottes und unsrer Neckereyen, lernte aber in einer Stunde mehr, als wir andre zusammen genommen, in acht Tagen. Dafür war er der Liebling unsres Hofmeisters: eine Ehre, um die wir nicht eine taube Nuß gaben. Sein Vater glaubte, daß meine natürliche Wildheit, seine Träumerseele ein wenig aufheitern sollte, und sah mir deshalb bey vielen Gelegenheiten durch die Finger; aber er blieb in seinem Seelenschlafe, und ging immer und ewig langsam, wenn wir andre uns ausser Athem liefen.

In den Stunden lernte ich, was ich wollte und konnte, und es war mir so wenig Ernst, als den beyden wilden Mädchen. Ich konnte sie nicht ohne Lachen ansehen, und sie mich nicht. Der Hofmeister durfte auch nicht viel sagen, denn die eine war das Schooßkind der Mama, die andre des Papa, und ich der Liebling beyder, und der Liebhaber von Malchen. So hing eins an dem andern wie Kletten, und der künftige Stammhalter der Familie durfte nicht mucksen.

So jung ich damals auch war, so viel Ehrgeitz hatte ich. Aber war es anders möglich? Papa und Martha trugen mich auf den Händen; Fräulein Malchen nannte mich beständig: lieber Moriz! Fräulein Louischen: Wildfang! Ihre Mama: kleiner Flachskopf! Der Papa: sappermentscher Springinsfeld. Dieses, und der Umstand, daß die ganze junge Mannschaft in unsrer Gegend, Respekt vor mir hatte, spornte meinen Ehrgeitz, und machte mich dreist und ausgelassen.

Zudem hatte man mich öfter, als es gut war, hören lassen: ich sey ein hübscher Junge. Dies schmeichelte mir nicht wenig, hatte aber den Nachtheil, daß ich früher anfing, mich bemerkbar zu machen, als andre Kinder. Sonderbar genug waren zuweilen die Mittel, wodurch ich diesen Endzweck erreichte. Wenn Fremde bey meinem Papa oder auf dem Schlosse waren, und sie bemerkten mich nicht auf dem ersten Blick, so packte ich den ersten den besten vorübergehenden Jungen oder Hund an und suchte Händel mit ihm; oder ich sprang über breite Graben und fiel hinein; oder kletterte auf Bäume, und warf die darunter weggingen, mit Aepfeln oder Birnen – wenn man mich nur bemerkte, das war mir genug.

Es war natürlich, daß ich über dem Ehrgeitz, bemerkt zu werden, selbst bemerkte. Daher kam es, daß der allgemeine, unverdringliche Trieb der Natur sich sehr früh in mir regte. Aber konnte dies ausbleiben, da ich so oft sehen mußte, daß Papa Marthen küßte; da mich die beyden wilden Fräulein täglich hundertmal beym Kopfe nahmen und abherzten, und da mir ihre Mama, statt der Hand, jedesmal den Mund reichte, wenn ich auf das Schloß kam?

Sechstes Kapitel.
Die Geschichte geht zurück.

Ich war hoch erfreut, daß ich einer genauern Untersuchung über den Wein glücklich entgangen war, denn ich kam nicht auf die erlaubteste Art dazu. Martha hatte in ihrer Kammer ein Schränkchen, worein sie ihren Wein verschloß. Der Dunstkreis um dasselbe war unendlich süß, und auch einen größern und ältern würde die Neubegierde geplagt haben, zu wissen, was darin verborgen wäre. Ich besah es hinten und vorne, faßte es oben und unten an, rückte und schob, aber es war und blieb zu. Meine Neugier, oder genauer gesagt, mein Appetit auf den süßen Wein, ward mit jedem Hindernisse größer. Ich wußte, daß Martha ein Schlüsselchen dazu hatte, und daß sie es nicht immer bey sich trug, sondern es zu verstecken pflegte, wenn sie es gebraucht hatte. Ich rückte einen Stuhl herzu, suchte auf allen Gesimsen und Schränken, fand aber nichts. Trostlos, die Hände in einander geschlagen, den Hut auf einem Ohre, stellte ich mich mitten in die Stube und sah mit herzlicher Sehnsucht nach dem Schränkchen. Unter diesen Bewegungen blickte ich von ungefähr seitwärts, und auf einmal fiel mir einer von Marthens Unterröcken in die Augen. Ich springe hin, durchsuche die erste Tasche, finde nichts; rasch zur andern, hineingefahren, umgewandt, und siehe da! aus der einen Ecke fällt mir das Schlüsselchen entgegen. Ich sprang ellenhoch, nahm es, probirt' es, und es schloß den Schrank glücklich. Ohne mich zu bedenken, griff ich nach der ersten der besten Flasche – gluck! gluck! ging es, in Ermangelung eines Glases.

Der Wein ward mit jedem Schlucke süßer, und ich hätte mich sicher zu Boden genippt, wenn mir nicht noch zu rechter Zeit eingefallen wäre, daß Martha ein paar erschreckliche Augen machen würde, wenn sie eine von ihren Flaschen leer fände.

Jeder Dummkopf ist ein Genie, wenn er Wein getrunken hat, und jedes Genie kann in eben dem Fall ein Dummkopf werden. Mir wenigstens ging es jetzt so. Ich war sonst nicht der dümmste Junge, aber diesmal betrug ich mich unbeschreiblich albern; denn ich fing von ganzem Herzen an zu weinen, als ich die Flasche gegen den Tag hielt und fand, daß sie fast zur Hälfte leer war. Eine Thräne jagte die andre. Ich machte mir sonst sehr wenig aus einem Verweise, und diesmal stand mir gewiß kein außerordentlicher bevor, aber der Umstand, daß ich dies Verbrechen so heimlich und so diebisch begangen hatte, schlug mich völlig darnieder.

In der Angst hatte ich einen Einfall, der mir in meiner damaligen Bestürzung sehr glücklich schien, aber im Grunde nicht der glücklichste war: ich füllte die halbleere Flasche aus den übrigen wieder an, setzte sie an Ort und Stelle, und war nun fest überzeugt, daß Martha, um den Abgang zu bemerken, ein wenig allwissend seyn müßte; denn ich hatte längst vergessen, daß ich die andern Flaschen, um die eine anzufüllen, bis auf die Hälfte ihrer Hälse ausgeleert hatte.

Wie ruhig ich den kleinen Schlüssel wieder in Marthens Tasche steckte! Wie unbesorgt ich die Kammer verließ, um frische Luft zu schöpfen! Mit welcher Zuversicht ich Marthen ins Gesicht sah, als sie aus der Stadt zurückkam! Unmöglich, unmöglich kann sie etwas merken! rief ich laut und fiel längelang auf eine Rasenbank, die vor unserm Hause angebracht war. Martha kam dazu, und wollte wissen, was mir fehlte? Ich bin müde! sagte ich. Sie nahm mich bey dem Arm und führte mich zu Papa's Bette.

Ich schlief bald ein, und erwachte gerade, als jene dunkle Unterredung, die mich betraf, zu Ende ging. Und nun wäre der Leser wieder an dem Orte, von wo ich ihn wegführte, um ihm drey Schildereyen zu zeigen.

Siebentes Kapitel.
Die Geschichte rückt fort.

Mit drey Sprüngen war ich auf dem Schlosse. Ich suchte Fräulein Malchen, und fand sie im Garten, wo sie Blumen pflückte und Kränze flocht. Ich stahl mich ganz leise hinzu. Sie hatte sich ins Gras gesetzt, pflückte alles, so weit sie mit der Hand erreichen konnte, um sich weg, und war so ämsig damit beschäftigt, daß ich mich ihr bis auf ein paar Schritte unbemerkt nähern konnte. Anfangs war ich Willens, ihr von hinten die Augen zuzuhalten, und sie rathen zu lassen, wer es wäre, aber ich hörte, daß sie etwas für sich sprach, und das wollte ich gerne wissen. Ich horchte und vernahm folgendes:

»Es ist bald um drey und er kömmt nicht! Wenn es drey geschlagen hat, muß ich in die Schule, und dann können wir nicht noch vorher ein bischen spielen. Wenn er nur wüßte, daß ich allein hier bin, er käme gewiß. Er spielt doch lieber mit mir, als mit Louisen. Wenn er dummes Zeug macht, und ich sage: lieber Moriz, laß doch das bleiben! so läßt ers; aber wenn es Louise haben will, thut ers nicht!«

Mir fing das Herz an zu schlagen, und ich weiß nicht, wie es kam, ich wünschte weit weg zu seyn, um nichts zu hören, und doch blieb ich.

»Den großen Kranz soll er haben,« fuhr sie fort: »aber wenn er ihn gleich zerreißt, werde ich böse und flechte ihm in meinem Leben keinen wieder. Er wird ihn aber wohl nicht zerreißen. Wenn wir zum Magister müssen, so kann er ihn so lange hinlegen, bis die Stunden aus sind, dann kann er ihn auf den Kopf setzen, und mit zu Hause nehmen.«

Ich fing merklich an zu zittern, und setzte den Fuß zurück, um zu gehen, blieb aber doch.

»Aber – – Herr Gott!« fuhr sie fort und legte den Zeigefinger der rechten Hand auf den Mund: »Ich muß den Kranz lieber zerreißen! Wenn ich ihm 'was schenke, will er mir immer ein Mäulchen dafür geben, und Mama sagt, davon bekäme ich einen langen, schwarzen Bart! Aber es ist doch so hübsch! Mama kriegt ja auch keinen schwarzen Bart, wenn sie der Papa küßt, und Papa hat doch einen rechten scharfen, schwarzen Bart! Er reibt Louisen immer die Backen damit, wenn sie wild ist. Aber Moriz hat doch keinen scharfen Bart. Er hat mir auch schon oft ein Küßchen gegeben, wenn Mama nicht da war, und ich habe doch keinen gekriegt!«

Es war mir, als wenn ich lachen sollte, konnte aber vor Angst und Zittern nicht dazu kommen. Mein sehnlichster Wunsch war, unvermerkt fortzuschleichen, und doch machte ich keine Anstalt dazu.

»Eins – zwey – drey – Viertel auf drey, und er kömmt nicht!« fuhr sie fort: »Das ist doch recht schlecht! Was wär' es denn mehr, wenn er einmal eine halbe Stunde früher vom Hause wegginge? Heute ist es gerade so hübsch! Louise ist nicht da, Fritze auch nicht, wir könnten recht hübsch mit einander spielen. Ach! (sie streute die Blumen umher) ich bin böse!«

Meine Angst stieg auf den höchsten Grad. Alle mein Leichtsinn, meine Dreistigkeit war fort. Ich stand da, wie ein armer Sünder. Und was hatte ich zu fürchten? Jetzt weiß ich wohl, weß Geistes Kind diese Erscheinung war, aber damals noch nicht. Wenn es Louise gewesen wäre, so wäre ich hervorgesprungen und hätte sie ausgelacht; aber bey Malchen fiel mir dies nicht ein. Jeden Augenblick fürchtete ich, daß sie aufspringen, mich sehen und erschrecken würde; aber es geschah nicht, sondern sie nahm ihre Blumen wieder zusammen und flocht an ihrem Kranze fleißig fort, indem sie zuweilen nickte, wenn sie eine Blume nach Wunsch angelegt hatte. Ich zog mich mit möglichster Behutsamkeit zurück, und als ich ungefähr hundert Schritte von ihr war, fing ich auf einmal an zu springen und zu jauchzen, und lief auf sie zu.

Achtes Kapitel.
Schon Heuchlerin?

Sie erschrack, sprang auf und kam mir entgegen. Ihre kleinen Wangen wurden über und über roth.

»Kömmst Du schon Moriz? Ist es denn schon um drey?«

Noch nicht, aber es wird bald schlagen!

»Hast Du nach der Uhr gesehen, oder hast Du es schlagen hören?«

Nein!

»Nun, woher weißt Du es denn?«

I, i, i, – es muß wohl noch nicht geschlagen haben. – Wir wollen noch ein bischen spielen, eh es drey schlägt. Nicht wahr, Malchen?

»Wir allein?«

Warum nicht?

»Wenn Louise, oder mein Bruder da wäre – Aber so – was wollen wir denn beyde allein anfangen?«

Ein bischen abjagen!

»Nein, ich habe heute keine rechte Lust zu laufen!«

Klettern!

»Vollends nicht! Weißt Du 'was, wir wollen uns hier ins Gras setzen und Blumen pflücken. Aber Du magst nicht gerne sitzen!«

Sehn Sie? (ich setzte mich rasch nieder)

»Au! (ich sprang eben so rasch wieder auf) O, weh!«

Was denn, was denn?

»Du hast Dich auf meinen Kranz gesetzt. Ich habe mir so viel Mühe damit gegeben! Nun hast Du ihn zu Schanden gedrückt!«

Liebes, liebes Malchen, ich hab' es nicht gerne gethan!

»Ja, man müßte Dich nicht kennen!« (sie sah böse aus)

Wahrhaftig nicht, liebes Malchen! Soll ich schwören? (sie wandte sich lächelnd um, ich nahm sie bey der Hand) Sind Sie noch böse?

»Ja!«

Aber Sie lachen doch!

»Wer? Ich? (sie stellte sich ernsthaft) Das Lachen ist mir nicht so nahe!«

Sie platzte auf einmal in ein helles Gelächter aus, und ich stimmte mit ein, und wälzte mich im Grase umher. Sie setzte sich.

»Louise würde sich recht über den Kranz gefreuet haben,« sagte sie, »wenn Du ihn nicht verdorben hättest. Nun darf ich ihn ihr nicht einmal anbieten. Sieh hier – hier fehlt eine Blume – da hat er eine zerknickt – die hier, hängt nur noch – Ach! ich will auch in meinem Leben nichts mehr machen, wenn ich weiß, daß Du nicht weit bist!«

Liebes, liebes Malchen, nicht mehr thun!

»Ja, dann denkt er, damit ists ausgemacht!«

Flechten Sie der Louise einen andern und geben –

Ich machte mit Augen und Händen eine Bewegung, daß sie ihn mir geben sollte.

»Ey, ja doch! Nein, nein!«

Bitte, bitte recht schön!

»Nichts!«

Ich fühlte eine kleine Regung von Unwillen in mir aufsteigen, denn ich hatte doch deutlich gehört, daß der Kranz für mich geflochten war.

Wollen Sie nicht?

»Nein!«

Nun, so lassen Sie's bleiben!

»Das will ich auch!«

Ich pflücke mir selbst Blumen und flechte mir einen.

»Du kannst es doch nicht so hübsch, wie ich!«

Spaß!

»Aber solche hübsche Blumen wie diese, wirst Du doch nicht finden!«

Hm! wo diese gestanden haben, stehen mehr!

Ich entfernte mich einige Schritte von ihr, setzte mich nieder und pflückte, was mir unter die Hände kam. Sie sah ein paarmal verstohlen nach mir her und besserte immerfort an dem zerdrückten Kranze. Nach einer kleinen Pause sagte sie zu mir:

»Steht nicht da bey Dir ein Tausendschönchen?«

So erbittert ich war, so rasch und willig drehete ich mich um, und sah nach einem Tausendschönchen. Ich fand eins, pflückt' es und bracht' es ihr, ohne eine Sylbe zu sagen.

»Ich danke Dir, Moriz! Siehst Du, hier fehlt es!«

So?

Ich ging stillschweigend fort und setzte mich wieder an meinen alten Platz. Sie machte sich sehr viel mit dem Kranze zu schaffen; im Grunde besserte sie aber nichts daran, konnte auch nichts daran bessern, denn er war nicht im mindesten beschädigt. Nach einer kleinen Weile fing sie wieder an:

»Ach, Morizchen, nur noch eins!«

Ich stand brummend auf, und pflückt' es. Das Morizchen that mir unendlich sanft, aber mein Verdruß ließ nicht zu, daß ich es mir eingestund.

Da ist es, Malchen.

In dem Augenblicke schlug es drey. Sie sprang auf, faßte mit ihrer Linken meine Rechte, und mit ihrer Rechten setzte sie mir in vollem Laufe, den Kranz auf den Kopf. So jagten wir völlig versöhnt auf das Schloß zu.

Neuntes Kapitel.
Das Liebespfand.

Wir rauschten in die Stube hinein, wo wir den Magister Fink, den jungen Herrn, und Fräulein Louisen schon antrafen.

»Man gehe hübsch sachte auf ein andermal,« sagte der Magister, »man könnte fallen. Ueberhaupt aber schickt es sich nicht, wenn man in ein Zimmer gleichsam hereinbrauset, um so weniger, da ich diese Stunde unserer allerheiligsten Religion gewidmet habe. Man nehme die Katechismos!«

Wir setzten uns lachend zu den Andern und thaten, als wenn wir von der Strafpredigt nichts hörten.

»Monsieur Ernst, wo hat man seinen Katechismum?«

Ich hab' ihn vergessen!

»Proh Deum, über die unerhörte negligentiam

Ich kann ja mit in Malchens Buch sehen!

»Man mache sich keine Hoffnung! – Aber – was erblicke ich! – einen Kranz? Man nehme hurtig den Kranz vom Kopfe, man würde nur die Andern in ihrem Fleiße stören!«

Bitte, Herr Magister!

»Man bitte hin und bitte her – man wird nichts damit ausrichten. Man nehme hurtig den Kranz vom Kopfe!«

Ich will recht stille seyn, liebster Herr Magister!

»Nun ist man der liebste Herr Magister! Man mache sich keine Hoffnung, ihn mit Schmeicheleyen auf seine Seite zu bringen.«

Liebster, bester Herr Magister!

»Nun, wird es bald? Ich sehe wohl, man muß nicht anstehen, ihm den Kranz mit eignen Händen herunter zu reißen!«

Ich sprang auf und lief zur Thür.

»O, Herr Magister,« riefen Malchen und Louise zugleich, »lassen Sie ihm doch den Kranz!«

Man halte das Maul! sagte Fink zornig.

Malchen und Louise hielten sich mit beyden Händen den Mund zu.

Bey dem Lärmen kann man auch gar nichts lernen! brummte der junge Herr, machte sein Buch zu und schob es von sich. Als Fink sahe, daß sein Liebling böse wurde, stieg sein Zorn auf den äußersten Grad. Er lief auf mich zu, aber ich war in einem Sprunge zur Thür hinaus. Malchen that einen lauten Schrey, als er seine Hand ausstreckte, um mich zu packen.

»Verstockter Bösewicht!« rief er hinter mir her und machte die Thüre zu.

Mir war nicht am besten zu Muthe. Ganz fort zu gehen, und dem Magister für heute nicht wieder zu nahe zu kommen, dazu hatte ich nicht Herz genug. Meinen Kranz abzulegen, und dadurch dem ganzen Streit ein Ende zu machen, fiel mir nicht ein, denn er kam von einer Hand, für die ich durch Feuer und Wasser gelaufen wäre.

So stand ich eine Weile auf dem Saale, unschlüßig, ob ich umkehren sollte, oder nicht. Wenn die Geschichte mit Marthens Weinschränkchen nicht vorgefallen wäre, so würde ich den geradesten Weg nach Hause genommen haben; aber eine Untersuchung über die verstohlne Näscherey fürchtete ich eben so sehr, als den Zorn des Magisters.

Ich näherte mich der Thür einigemal und streckte die Hand aus, um sie aufzumachen, aber der fürchterliche Gedanke: Fink könne an derselben stehen, und mir, so wie ich den Kopf herein steckte, den Kranz herunter reißen – jagte mich immer wieder zurück. Endlich wagt' ich es, aber mit Vorsicht. Ich nahm den Kranz herunter, hielt ihn in der linken Hand und mit der rechten machte ich die Thür auf. Als ich den Magister am Ende des Zimmers auf seinem Stuhle sitzen sah, kam ich dreist herein und zog mich hinten herum gerade zu Malchen. Der Kranz saß wie vorher auf dem Kopfe.

Des Magisters Hitze schien sich abgekühlt zu haben. Er examinirte Louischen im Katechismus, und that, als ob er mich nicht sähe. Aber einige gierige Blicke, die er von Zeit zu Zeit auf meinen Kranz schießen ließ, machten mich mißtrauisch. Bey der kleinsten Bewegung von seiner Seite, fuhr ich zusammen, und dabey legte ich meine rechte Hand jedesmal auf den Kopf, um den Kranz zu schützen, wenn er etwa einen Hauptsturm auf denselben wagen sollte. Blut und Leben hätte ich seiner Vertheidigung aufgeopfert, und Malchen hätte nicht einmal nöthig gehabt mir ins Ohr zu sagen: Laß ihn dir nicht nehmen!

Es vergingen wohl zehn Minuten, ohne daß von feindlicher Seite etwas unternommen wurde. Ich hielt mich am Ende schon für sicher, und gab deswegen nicht mehr so fleißig auf den Magister Achtung. Plötzlich sprang er auf, und fuhr mit seinem langen Arm nach meinem Kopfe; meine Hände fanden sich zur Vertheidigung ein; ich bog den Kopf weit zurück, aber doch nicht weit genug, als daß er den Kranz nicht hätte erreichen können. Ich schrie was ich konnte, aber er ließ sich nicht irre machen. Endlich riß ich mich los und er behielt ein Stück des Kranzes in Händen. Mit rasendem Grimme sprang ich zur Thür, machte sie weit auf, sah mich erst um, ob auch jemand in der Nähe wäre, der mich halten und dem Magister ausliefern könnte; als ich aber niemand bemerkte, stellte ich mich, roth wie ein Truthahn, in die Thür, und rief mit einer fürchterlichen Anstrengung: Alter Schlingel! und nun über Hals, über Kopf die Treppe hinunter, und zum Hause hinaus.

Zehntes Kapitel.
Furcht und Unruhe gebären einen sehr kecken Entschluß.

Als ich im Freyen war, und sich meine Hitze gelegt hatte, stieg eine peinvolle Besorgniß in mir auf. Ich konnte leicht vermuthen, daß der Magister »den alten Schlingel« nicht auf sich sitzen lassen, und daß er zum gnädigen Herrn und von da zu meinem Papa gehen und mich verklagen würde. Bey dem erstern würde es die Folge haben, daß er mir von stundan das Haus verböthe, unter dem Vorwande, daß ich seine Kinder mit meiner Gottlosigkeit ansteckte; und bey dem letztern die, daß ich nach Befinden wohl gar die Ruthe davon trüge. Es wäre mir nicht halb so bange gewesen, wenn ich an Marthen eine gnädige Schutzheilige gehabt hätte, aber bey ihr, besorgte ich, durch die Unternehmung auf das Weinschränkchen, alles verdorben zu haben, und dieser Gedanke machte mich muthlos. Ich warf mich, in einer Verzweiflung, die so stark war, als sie in jenen Jahren seyn kann, nicht weit vom Schlosse nieder, und wälzte mich voll einer Angst, die am Ende in helle Thränentropfen ausbrach, Kopf oben, Kopf unten im Grase herum.

Mein erster Gedanke war, in alle Welt zu gehen. Vom Schlosse gejagt zu werden und die Ruthe zu bekommen, waren ein paar Umstände, die mich in einem Zuge bis zum Vorgebirge der guten Hoffnung würden gehetzt haben, und die um so heftiger auf mich wirkten, da es ganz ausser Zweifel war, daß sie Malchen zu Ohren kommen würden. Hätt' ich in meinem Leben wieder die Augen zu ihr aufschlagen können, wenn ich mich wie ein ABC-Schütz hätte hinlegen müssen, um mir den St** mit der Ruthe malen zu lassen?

Wenn die Angst erst den kleinen Finger hat, nimmt sie bald die ganze Hand.

Besorgnisse, die mich in meinem gewöhnlichen Zustande nicht angefochten haben würden, waren mir jetzt unsäglich quälend. Ich stellte mir unter allen argen Gerichten, die über mich ergehen würden, gerade das allerärgste vor, und wenn sich auch mein sonstiger Leichtsinn von Zeit zu Zeit einmal rührte, war er doch nicht fähig, die ängstlichen Grillen zu verjagen. Ruthe und Malchen, waren zwey Begriffe, die sich durchaus nicht vertrugen, und die allein schon fähig gewesen wären, meinen Entschluß, in alle Welt zu gehen, mit jeder Minute fester zu machen; aber es kam noch ein dritter hinzu, der mir vollends keinen andern Weg übrig ließ.

Mein Papa hatte jährlich drey- oder viermal einen Besuch, auf welchen unser ganzes Haus, wie auf eine frohe Erscheinung vom Himmel, wartete. Ein Neffe des Präsidenten von Lemberg, der als Legationsrath in D** stand, kam jährlich einigemal zu seinem Onkel, und da er meinen Papa als einen alten vertrauten Freund in der Nähe hatte, so machte er ihm bey der Gelegenheit jedesmal seinen Besuch. Wenn er in die Stube trat, war ich der erste, der in seine Arme lief. Er umschloß mich dann mit allem Feuer einer väterlichen Zärtlichkeit, nannte mich seinen guten Moriz, oder auch (was mir unendlich süßer klang) seinen lieben Sohn. Er unterhielt sich mit meinem Papa nicht halb soviel, als mit mir. Ich mußte ihm erzählen, was ich seit seinem letzten Besuche gelernt, gethan und geschwärmt hatte, und ob ich artig oder unartig, folgsam oder ungehorsam gewesen? Bey diesem letztern Artikel wurden auch Papa und Martha vernommen, und sie verschwiegen ihm nichts. Manche Dinge, die für den Papa bis dahin ein Geheimniß geblieben waren, kamen dann an den Tag; denn Martha schien es sich zu einer strengen Regel gemacht zu haben, meinem Papa alles, aber dem Legationsrath nichts zu verbergen, was ich Böses oder Gutes die Zeit über vorgenommen hatte. Woher es kam, daß sie diesem Manne keine einzige meiner großen und kleinen Sünden verschwieg, konnte ich mir aus keinem andern Umstand erklären, als daß sie, so lange er bey uns war, (und das dauerte zuweilen vier bis fünf Tage) täglich eine oder zwey Stunden geheime Konferenz mit ihm hielt, und wenn er abreisete, jedesmal einen neuen Anzug oder ein paar Louisd'or, auch öfters beydes zugleich bekam. Durch dieses Mittel hatte er sie, wie es mir schien, so auf seine Seite gezogen, daß sie ihre ganze sonstige Nachsicht gegen mich vergaß und alles haarklein beichtete, was sie von mir wußte.

Eine Hauptregel, die er mir bey seiner Ankunft und Abreise jedesmal dringend ans Herz legte und anpries, war diese:

Hab' Ehrfurcht und Gehorsam gegen deinen Vater und Lehrer, und mache dir niemand, auch den Geringsten nicht, zum Feinde.

Verstoßungen gegen diesen Grundsatz ahndete er sehr scharf, nicht mit harten Ausdrücken, sondern mit Ton und Worten einer zärtlichen Rührung, die lieber weinen als schelten möchte.

Nun denke man sich, was ein Blick auf diesen Mann und diesen Grundsatz für eine Zerstöhrung in meinem Herzen anrichten mußte. Papa hatte schon seit acht Tagen gesagt, daß der Legationsrath ehestens kommen würde. »Vielleicht ist er schon da!« sagte mein beklommenes Herz: »Wenn du nach Hause kömmst, läuft er dir mit offnen Armen entgegen, drückt dich an seine Brust, nennt dich seinen lieben Sohn, und mitten unter diesen Ergießungen der Zärtlichkeit, tritt der Magister in die Stube, und erzählt, wie gottlos du ihn behandelt hast!«

»Nein, du kannst nicht nach Hause gehen!« war der erste und nächste Gedanke, der aus jenem entsprang, und sich meiner mit solcher Gewalt bemächtigte, daß ich aufsprang und ein paar hundert Schritt in größ'ter Eile fortlief. Aber, so rüstig ich auch vorwärts jagte, holten mich doch zwey Gedanken ein, die mich anfangs fest, wie angenagelt hielten, und bald nachher mich auf das Schloß und von da auf unser Gut zurückschoben. Der eine war: willst du fortlaufen, ohne Malchen etwas davon zu sagen? und der andre: du mußt deinen guten Phylax mitnehmen, damit dir unterweges niemand etwas zu Leide thun kann.

Ich ging einigemal verstohlen um das Schloß herum, und hoffte Malchen zu sehen, aber vergebens. Ich ward zehnmal ungeduldig und wieder geduldig, eh' es mir einfiel, daß ich sie vor Endigung der Schule nicht würde zu sehen bekommen. Also entschloß ich mich, unterdessen meinen Phylax zu holen. Nicht ohne Furcht, der Martha in die Augen zu fallen, stahl ich mich auf unsern Hof, und fand meinen künftigen Reisegefährten in seiner Hütte schlafend. Ich nahm ihn beym Ohr und er riß die Augen und seinen großen Rachen gähnend auf. Als er sahe, daß ich es war, machte er beydes wieder zu, und steckte den Kopf unter, um wieder einzuschlafen. »Nein, nein, komm!« sagte ich voller Ungeduld und zupfte ihn beym Ohre. Nun stand er auf und ging mit.

Ich kam glücklich ohne bemerkt zu werden vom Hofe herunter. Es war mir unbeschreiblich weh um das Herz, als ich noch einmal nach dem Hause meines Papa zurücksah; aber diese aufsteigende Wehmuth änderte meinen Entschluß nicht. Ich ging gerade nach dem Schlosse und versteckte mich in dem Baumgarten, wo wir gewöhnlich zu spielen pflegten, wenn wir der Zucht des Magisters entgangen waren.

Eilftes Kapitel.
Die Gewalt des Naturtriebes.

»Der arme Moriz!« sagte Malchen, als sie in den Garten trat: »Es wird ihm übel gehn! Aber ich bin an allem Schuld!« Sie nahm die Schürze vor die Augen.

Er wird sich schon durchbeißen! sagte Louischen.

»Ja, durchbeißen!« brummte der Junker: »Er wird seinen Theil schon kriegen! Der Herr Magister will es dem Papa sagen!«

Ach, der dumme Magister auch! sagte Malchen.

»Ey warte, das sag' ich ihm wieder!« unterbrach sie ihr Bruder.

Sags, sags, sags! riefen die beyden Mädchen, und fuhren auf ihn zu, eine nahm ihn bey der linken, die andre bey der rechten Hand, und so sprangen sie mit ihm zum Garten hinaus, und warfen ihm die Thür hinter dem Rücken zu.

Nun bekam ich Muth. Bis jetzt hatte ich mich nicht hervorgewagt, weil ich besorgte, der Junker möchte sich davon stehlen und den Magister rufen. Aber von den beyden Mädchen hatte ich nichts zu fürchten.

Als sie mich sahen, kamen sie gesprungen und nahmen mich bey der Hand.

»Du hast wieder 'was Schönes gemacht!« sagte Louise.

»Du armer Moriz,« sagte Malchen schluchzend: »wenn sie dir 'was thun wollen, so schieb die Schuld auf mich!«

Auf Sie? fiel ich hitzig ein. Warum?

»Ich habe dir doch den Kranz aufgesetzt!«

Der Magister wird's dem Papa sagen! fuhr Louise fort.

»Glaub' es nicht, Moriz,« unterbrach sie Malchen: »sie will dir nur bange machen. Er wird wohl nicht hingehen.«

Bey diesen Worten blinkte sie mit den Augen auf Louisen. Diese verstand den Wink und verschluckte die Betheurung, daß er ganz gewiß zum Papa gehen würde. Ich bemerkte dies und wurde um nichts ruhiger.

So fest ich mir vorgenommen hatte, Malchen nur mit zwey Worten zu sagen: ich will fort! so wenig fähig war ich dazu. Der Vorsatz lag mir centnerschwer auf dem Herzen! Alle Augenblicke wollt' ich ihn herabwälzen, aber, wenn es dazu kam, fehlten mir Worte und Muth.

Ich schlenderte stumm und unentschlossen neben den beyden Mädchen her, und je fester ich mir vornahm, mein Herz auszuschütten, desto schwerer ward es mir. Zuletzt glaubte ich, meine Unschlüßigkeit rühre von Louischens Gegenwart her; aber auch daran lag es nicht, denn sie entfernte sich bald nachher, um zu horchen, ob es Papa schon wüßte, und doch blieb ich so unruhig und unentschlossen, als vorher, wurde es sogar mit jeder Sekunde immer mehr und mehr. Ich bekümmerte mich wenig darum, ob Louischen eine freudige oder fürchterliche Nachricht zurückbringen würde, und Malchen, wie es schien, eben so wenig. Wir waren beyde gleichtief mit uns beschäftigt. Sie, mit ihrem mitleidigen Herzen und mit ihren Augen, die in Thränen schwammen, und ich zunächst mit dem Entschlusse, ihr meine Flucht zu entdecken.

Wir kamen unvermerkt aus dem Garten und gingen Hand in Hand auf ein kleines Gebüsche zu, das an denselben stieß. In der Mitte war ein Rasenplatz; hier setzte sich Malchen nieder und ich mich zu ihr. Sie schlug ihren rechten Arm fest um meinen Nacken, ich meinen linken eben so fest um den ihrigen.

Ich weiß nicht, was für eine wunderseltsame Empfindung sich meiner bemächtigte. Ich dachte weder an Magister, noch Papa, noch Marthen. Alles, was mir heute begegnet war, kam mir wie ein Traum vor, dessen Figuren mit jedem Blick auf Malchens rothe Wangen, sich weiter und weiter entfernten. Ich war meiner Zunge nicht mächtig, sie eben so wenig. Ich umschloß sie mit jedem Athemzuge inniger, sie mich, und so sanken wir in das blumigte Gras zurück. Ich sah nicht, und hörte nicht, und eine Thräne nach der andern lief mir über die Backen. Die Empfindungen, die mir dieselben erpreßten, waren nicht traurig, nicht bitter: sie waren so himmlisch, so unaussprechlich süß! Mein Mund begegnete dem ihrigen, Lippe heftete sich auf Lippe fest und innig: es war ein ewiger Kuß!

Malchens Herz pochte dem meinigen durch die Schnürbrust fühlbar entgegen, und ihre Augen fielen langsam zu. Die meinigen blieben halb offen, und ließen nur einen schwachen Schimmer herein. Vor meinen Ohren flüsterte ein leises Lispeln und Schwirren, wie wenn man im Begriff ist einzuschlummern. Manchmal war mirs, als wenn sich ein kältlicher Schauer auf meiner Scheitel entspönne; er floß hinab bis zum Herzen, von da schoß er brennend zurück zum Kopfe, und von da, wie ein Feuerstrom, durch die innersten meiner Nerven und Fibern. Ich zitterte, Malchen noch stärker. Dann und wann machte sie eine kleine Bewegung, sich aufzuraffen; aber während des Entschlusses erstarb die Hand, die mich sanft auf die Seite schieben sollte.

Ich weiß nicht, wie lange wir in dieser Lage geblieben seyn würden. Ich ward ihrer nicht überdrüßig, und Malchen, wie es schien, eben so wenig. O! sie wurde mit jedem Augenblick entzückender! Ewig und ewig hätte ich so liegen bleiben mögen, aber –

Zwölftes Kapitel.
Die Reise geht fort.

Urplötzlich rief eine bekannte Stimme: »Wollt ihr auseinander!« – Wir erschracken heftig, sprangen aber nicht auf – »Junge,« rief es von neuem: »willst du die Hand da weg thun!« und in eben demselben Augenblicke brannte eine kräftige Maulschelle auf meinem Backen.

Und wenn ich sterben soll, so weiß ich diese Stunde noch nicht, wo meine Hand gelegen hat. Ich war ausser mir in jenen Augenblicken; ich wußte nicht, daß ich Hände hatte, ich wußte nicht einmal, daß ich lebte.

Wir sprangen beyde mit gleichen Füßen auf, rieben uns die Augen, und vor uns stand – Malchens Mama. Ich wollte ausreißen, aber sie erhaschte mich beym Fittig und zog mir über den andern Backen noch so eine Schelle.

»Gottloser Junge,« rief sie dabey, »auf ein andermal steck die Hand da wieder hin!«

Ich stand mit offnen Munde da, und zitterte am ganzen Leibe. Malchen hatte keinen Athem und drehete an ihrer Schürze.

»Wo du dich wieder hier sehen lässest« – rief ihre Mama und wollte von neuem auf mich los; aber mein Phylax stand neben mir und wies ihr seine großen Zähne.

Sie zog sich zurück, ergriff Malchen beym Arm und puffte sie zum Garten hinaus. »Du sollst deinen Lohn auch bekommen!« rief sie drohend zurück, und verschwand.

Ich stand wie versteinert. Das war für mich ein Tag der Angst und des Schreckens! Was für Verbrechen ich heute eins auf das andre häufte! Und da sollte ich Muth genug gehabt haben, nach Hause zurückzugehen?

Komm Phylax, sagte ich zu meinem Gefährten, und die Thränen liefen mir über die Backen: hieher kommen wir nicht wieder! – Du armes Malchen! Nun hab' ich dirs doch nicht sagen können!

Ich drückte den Hut tief in die Augen und ging. Phylax watschelte hinter mir her.

Moriz.
Zweytes Buch.

Erstes Kapitel.
Nachwehen.

Sobald ich drey oder vierhundert Schritt vom Schlosse entfernt war und glauben konnte, daß mich von daher niemand mehr beobachtete, setzte ich mich in Galopp. Dörfer und Menschen vermied ich mit vieler Behutsamkeit, weil ich in jedem Dorfe einen Spion vermuthete, der mir auflauren, und in jedem Menschen einen Nachsetzer sah, der mich einholen und zu meinem Papa zurückbringen würde. Selbst wenn ein Hund kam, um meinen Phylax anzuschnautzen, oder um ihm, wenn er von höflichern Manieren war, nach Hundesart sein Kompliment zu machen, hatte ich Angst, denn ich hielt ihn für einen Spürer; und wenn er dann zu seinem Herrn zurücklief, so war dies ein Bewegungsgrund für mich, noch ärger zu laufen als er, weil ich keinen Augenblick zweifelte, daß er nur darum zurückliefe, um seinem Herrn, auf seine Art zu verstehen zu geben, er habe den Flüchtling aufgespürt.

In dieser Angst und Eile vergaß ich, daß es Nacht werden, und eine Zeit kommen würde, wo mir Kraft, Athem und Muth ausgehen müßten. Nicht eher dachte ich an diese fürchterlichen Hindernisse meiner Flucht, als bis sie hereinbrachen. Auf einmal stutzt' ich, und kaum konnte ich vor Herzensbeklemmung und Mattigkeit den Fuß vorwärts setzen. Es schien, als wenn mich alle Schrecknisse, die mir bis jetzt nur immer noch im Rücken gewesen waren, nun auf einmal eingeholt hätten.

Leiden der Seele und des Körpers bemächtigten sich meiner, und ich weiß nicht, welche von beyden mich am grausamsten quälten. Ich setzte mich am Eingange eines Gebüsches nieder, und Phylax legte sich stöhnend an meine Seite, indem er seinen Kopf auf meinem Schenkel ruhen ließ.

»Was wird Malchen sagen, wenn sie hört, daß man nicht weiß, wo ich bin!« Dieser traurige Gedanke ergriff mich jetzt: »Und ach, ihre Mama war so böse, als sie uns überraschte! Sie wird es ihrem Papa sagen, und der nimmt die Hetzpeitsche und prügelt« –

Ein kalter Schauer lief mir bey diesem Gedanken durch alle Glieder. Ich wollte aufspringen und fiel wie ohnmächtig zurück.

»O, meine Füße, meine Füße!« winselte ich dann wieder: »Ach, was soll ich anfangen? Ich muß liegen bleiben! Ich kann nicht gehen, nicht stehen! Ach, wenn Papa und Martha wüßten, wie elend und krank ich hier liege, sie würden« –

Wieder ein unerträglicher Gedanke! Ich wollte von neuem aufspringen und fiel von neuem zurück.

»Wenn sie es wüßten, sie holten mich gewiß zurück – und ich ginge auch gern« –

In dem Augenblick hörte ich das Gerassel eines Wagens. Ich sprang auf und wäre darauf gestorben, daß es Papa's Kutsche sey. Ob ich gleich keinen Blick zurück gewagt hatte, glaubte ich doch Marthen, den Papa und den Magister leibhaftig in derselben erblickt zu haben.

Jetzt fühlte ich keine Mattigkeit mehr. Ich brach über Hals über Kopf in das Gebüsche, fand einen Fußsteig, lief ihn eine gute halbe Stunde endlang und es dauerte keine kleine Zeit, ehe die Vernunft meiner Furcht bewies, daß eine Kutsche den schmalen Fußsteig, der von beyden Seiten mit Gebüsch überwachsen war, unmöglich befahren könne.

Ich ging noch eine Weile auf dem Wege fort, und er ward nach und nach immer lichter und geräumiger. Auf einmal hörte ich Trompeten und Pauken. Es war ein lustiger Klang, der meine Bekümmerniß zum Theil vertrieb. Unschlüßig, ob ich dem Schalle nachgehen, oder die Nacht im Gebüsche zubringen sollte, setzte ich mich nieder. Beyde Wege schienen mir gefährlich. Suchte ich den Ort auf, wo die Musik war, so konnte sich zum Unglück ein Bekannter daselbst finden und mich anhalten; und blieb ich im Gebüsche – wer gab mir Brot, wenn mich hungerte? Wasser, wenn mich dürstete? Wer ein Obdach, wenn es regnete? – Mein Magen meldete sich ungestüm und meine Zunge lechzte nach einem Trunke.

Zweytes Kapitel.
Eine Erscheinung.

Ich saß unter einem Eichbaum, und ein Wiesenplan, hundert Schritt lang und breit, mit Bäumen und Gebüsch umkränzt, breitete sich vor mir aus. Mein Auge schwamm in Thränen. Es war alles still; nur ein kleiner leiser Abendwind, bewegte die äußersten Spitzen der Bäume und rauschte in den Blättern der Gebüsche. Der Mond lächelte rein und heiter herab und spiegelte sein sanftes Antlitz in Millionen Regentropfen, die von einem Spatregen an den Grashalmen zurückgeblieben waren und an den Spitzen derselben flimmernd zitterten. Die ganze Wiese war ein sanftwallender, bebender Silberstrom, auf welchem (so schien es meinem nassen, zitternden Blicke) ungeheure Gestalten, bald Riesen, bald Felsen, bald mächtige Thiere umherwandelten, so wie der Wind die umstehenden großen Eichen bewegte und ihren Schatten hin und her trieb.

Mir ward unbeschreiblich bange, und mein ganzes Wesen schmolz in eine beklemmende Wehmuth zusammen, die sich in großen Thränen über meine Backen ergoß. Endlich legte ich mich nieder und drückte die Augen fest zu. Mein rechter Arm diente mir zum Kopfküssen und der linke ruhete auf meinem Phylax, der sich dicht neben mir niedergelegt hatte.

Ich verlor mich bald. Alles, was mir heute begegnet war, schwamm ununterscheidbar und wie in Dämmerung meiner Seele vorüber. Nur dann und wann fuhr ein fürchterlicher Gedanke, schnell wie ein Blitzstrahl, durch mein Inneres, und es war mir dann immer, als wenn ich einen lebhaften Stich durch die linke Seite fühlte. Ich fuhr mit der Hand nach dem Orte, wo ich zu leiden wähnte, und darüber wiegte mich von neuem eine Art von betäubendem Schlummer in ruhige Vergessenheit ein.

Wau! Wau! schallte es auf einmal, und ich fuhr bebend aus meinen Träumereyen auf. Was mir zuerst in die Augen fiel, war die Gestalt eines Frauenzimmers, die einige Schritte von mir stand, und über das Bellen meines Hundes erschrocken schien. Ich wußte nicht, was ich zu dieser Erscheinung sagen, ob ich laufen oder bleiben sollte – denn sie hatte Marthens Größe.

Als sie sah, daß ich nicht minder erschrocken war, als sie, und da mein Phylax näher kam, und mit dem Schwanze wedelte, (gegen Frauenzimmer, Kinder und kleine Hunde war er sehr höflich) faßte sie Herz und trat zu mir.

Ich hatte nicht den Muth, sie anzusehen, und doch hätt' es nur eines halben Blickes bedurft, um mich zu überzeugen, daß es nicht Martha war, die mich bey der Hand nahm.

»Wer bist du, Kleiner,« sagte sie, »wie kömmst Du in der späten Nacht hieher?«

Wenn es Martha wäre – so schloß ich nun erst – würde sie wohl nicht diese Frage an mich thun. Und nun drehete ich mich um und sah ihr ziemlich herzhaft ins Gesicht. Ihre sanfte Mine schloß mein ganzes Herz für sie auf, und schon schwebte ein pünktliches Bekenntniß auf meinen Lippen, als sie fortfuhr und mich fragte, ob ich mich verirrt hätte? Ja! sagte ich, und nun war an kein Geständniß mehr zu denken, da sie mir selbst den Mittelweg zwischen Wahrheit und Lügen eröfnet hatte. Ich betrachtete sie aufmerksam von der Seite – und mit eins! glaubte ich Malchens Mama vor mir zu sehen, denn ihr Haar war mit einem Rosenbande umwunden, gerade so, wie ihn jene trug als sie uns im Gebüsche überraschte.

Mir ward wieder bange, und meine Blicke wurden schüchterner, als vorher.

Sie nahm mich von neuem bey der Hand, und zog mich halb wider meinen Willen mit fort. Ich faßte Muth und sah sie noch einigemal herzhaft von der Seite an, bis ich mich endlich fest überzeugte, es sey nicht Malchens Mama, sondern ein Frauenzimmer, die ich nicht kannte, so wenig, als sie mich.

Wir kamen der Musik, die ich vorhin gehört hatte, immer näher, und ich ward immer unschlüßiger, ob ich mich losreißen, und ins Gebüsche zurückkriechen, oder mit meiner Begleiterin nach Hause gehen sollte. Diese hatte an mir zu ziehen und zuzureden, daß ich mich nicht scheuen, sondern dreist mitgehen sollte: Essen, Trinken, Nachtlager, einen Bothen, der mich nach Hause brächte, alles sollt' ich haben. Die erstern Punkte gefielen mir ausserordentlich, aber nicht im mindesten der letztere.

Nach einigen Minuten standen wir vor einem Hause, dessen erster Stock um und um erleuchtet war. Es gab da Musik, Tanz und ein großes Getümmel von Zuschauern. Schon hatten wir den Fuß auf die Treppe gesetzt, als eine starke Stimme, wie im Zorn und Unmuth, herunter rief: Kar'line! Kar'line! Wo hat dich denn –

Drittes Kapitel.
Wie Moriz empfangen wird.

Hier, hier bin ich schon! rief meine Begleiterin ängstlich, und sprang hurtig die Treppe hinauf. Kaum nahm sie sich Zeit, mir in aller Hast zu sagen: ich sollte nur nachkommen und mich so lange an die Thür des Saales stellen, bis sie mich abholte.

»Nachtgespenst!« rief die rauhe Stimme droben: »Bist du schon wieder auf dem Hofe oder im Busche umhergespukt?«

Liebster Papa, sagte Karoline, ich wollte nur ein wenig frische Luft schöpfen.

So viel konnte ich nur von ihrer sanften Stimme hören. Ich hatte das gute Mädchen jetzt tausendmal mehr liebgewonnen, da sie so hart angefahren wurde.

»Landjägers Sohn,« fuhr ihr Vater fort: »hat schon vor einer Stunde mit dir tanzen wollen, und du – aber, ich will dir noch das Buschkriechen abgewöhnen, oder nicht dein Vater heißen.«

Diese Unfreundlichkeit flößte mir wenig Vertrauen zu dem Vater, aber desto mehr zu der Tochter, ein. Ich stieg zitternd die übrigen Stufen hinan und stellte mich in die Thür des Saales.

Jetzt erst fühlte ich, was ich vorher so deutlich nicht bemerkt hatte: daß mich gewaltig hungerte. Auf einem Seitentische standen Braten, Butterschnitte, Wein und Gebackenes. Gegen Einen Blick, den ich auf meine sanfte Begleiterin warf, die am äußersten Ende des Saals tanzte, warf ich Zehn auf die Lebensmittel, die mir so nahe standen; und ich war mehr als einmal willens, den ersten den besten um ein paar Bissen anzusprechen. Aber Furchtsamkeit oder Stolz, oder beydes zusammen, drückte von Zeit zu Zeit meinen aufsteigenden Appetit nieder.

Mein Phylax war nicht so bettelstolz. Kaum witterte er Braten, so ging er der Spur nach. Er hatte nicht einmal nöthig, sich auf die Hinterfüße zu stellen, um eine ganze Schöpsenkeule mit einem Ruck vom Tische zu holen. Der Tisch krachte, die Gläser klirrten und die Weinflaschen stürzten eine über die andre und kollerten Schlag auf Schlag vom Tisch herunter, während eine Fluth von Wein den ganzen Saal überströmte.

Ich hatte einen tödtlichen Schreck, aber Phylax legte sich gelassen unter dem nächsten Tische nieder und schmauste still und dummdreist von seiner Keule.

Alles, was im Saale war, stürzte herzu.

»Hagel! Wer hat das gekonnt?« rief die Stimme, die ich schon dreymal mit Entsetzen gehört hatte. Ein kleines Mädchen, das bey mir stand, zeigte mit dem Finger auf meinen Phylax. Er nahm ein Licht, beleuchtete den Hund und rief mit schallendem Gelächter: »Ey! prosit die Mahlzeit!« – Nerr–r–r – machte Phylax, indem er ihn ansah und ihm die Zähne wies. – »Nu, nu!« fuhr der Mann fort, »nur nicht so böse! Ich will dir deine Keule nicht nehmen. – Karline, Gottlob, Friedrich! Andern Braten, andern Wein her!«

Mir fiel ein schwerer Stein vom Herzen, aber bald drückte mich die Frage: wem in aller Welt gehört denn das Vieh? zehnmal schwerer.

Karoline war über dem Lärm auch herzugekommen und stand bey mir. Ihr Vater trat näher. »Der Hund gehört mir!« rief ich etwas zu vorlaut und zitterte am ganzen Leibe dabey. »So?« sagte der Vater und nahm mich dabey schärfer aufs Korn: »Ich kenne dich und deinen Hund nicht. Wer bist du? Wo kömmst du her?«

Karoline nahm für mich das Wort, und erzählte, wo und wie sie mich gefunden hätte. »Ich will wissen,« fuhr er sie an, »wie er heißt!« und mit den Worten nahm er mich beym Fittig und zog mich ans Licht – »Ich heiße Ernst, Ernst!« rief ich ängstlich. – »Ist das dein Vorname, oder heißt dein Vater so?« – Mein Vater heißt so! – »Bist du ein Sohn von dem dicken Ernst?« – Ja! sagt' ich. – »Da, Pursche!« rief er und schleuderte mich unfreundlich zur Thür hinaus: »Geh, wo du hergekommen bist!«

Karoline that einen lauten Schrey, aber ihr Vater – brüllte, denn Phylax hatte ihn bey der Wade. Dieser hatte trotz seinem Appetit den Braten verlassen, um mir zu Hülfe zu kommen. Er schützte mich vor einer gewaltsamern Behandlung und ließ den groben Mann nicht eher los, bis ich die Treppe hinunter war.

Als dieser sahe, daß mich Phylax so kräftig in Schutz nahm, wagt' er es nicht, mich zu verfolgen, sondern blieb oben an der Treppe stehen, schimpfte auf meinen Papa und erzählte, was ihm dieser Alles zu Leide gethan hätte.

»Und der Bastart,« so schloß er: »Es weiß ja doch kein Mensch, wo der alte dicke Esel den Jungen her hat, er hat sich ja immer mit M** beholfen – Das H**kind, kann hieher kommen, um mich in meiner Freude zu stöhren; kann seinen Hund über meinen Braten schicken, daß er alles um und um reißt, und mich selber am Ende bey der Wade packt – Wart', Junge, nun will ich dich hetzen!«

Auf einmal kam er die Treppe herunter gestürmt, pfiff auf dem Finger und schrie: Spitz, Sultan, Diane, faß, faß! Plötzlich stürzten drey Hunde herzu; aber Phylax warf einen hierhin, den andern dorthin, und deckte mir den Rücken. So kam ich unversehrt vom Hofe.

Viertes Kapitel.
Findet er nun ein Obdach?

Ich wußte nicht, ob ich weinen, oder mich erboßen sollte. Bald trocknete ich mir die Thränen ab, bald bückte ich mich, mit festaufeinandergebissenen Zähnen, und suchte Steine, um dem Barbaren die Fenster einzuwerfen. Aber allmählig legten sich Wehmuth und Ungestüm, und der Gedanke: was ich nun beginnen, wohin ich mich wenden, und wo ich Nachtlager und Brot hernehmen sollte? drückte eins wie das andre, völlig nieder.

Als ich einige Schritte in tiefen Gedanken fortgegangen war, begegnete mir ein Mann. Ich faßte Muth und bat ihn, mich mit nach Hause zu nehmen, ich wüßte nicht, wo ich über Nacht bleiben sollte; aber er entschuldigte sich damit, daß er selbst nur ein Knecht sey, nichts Eignes besitze, und selbst im Pferdestalle schlafen müsse. »Ich will ja auch gern im Pferdestall schlafen,« rief ich, und hängte mich ängstlich an seinen Arm, um seinen raschen Schritt aufzuhalten: »Nehm' Er mich nur mit!« – Junge! erwiederte er halb unwillig: Ich kann Dich nicht mitnehmen! Wer weiß denn, was an Dir ist? Da (indem er auf ein dabeystehendes Haus zeigte) da ist die Schenke. Geh!

Ich ließ ihn langsam los und ging unter bittern Thränen auf das Haus zu. Ein Mann stand in der Thür und sah mich freundlich an; aber ich konnte vor Schluchzen mein Anliegen nicht herausbringen.

»Was weinst Du, Kind?« sagte der Mann, indem er sich zu mir herunter bückte und mir die Hand von den Augen nahm: »Wo kömmst Du her? Wem gehörst Du an?«

Ich konnte noch nicht reden. Er nahm mich bey der Hand und führte mich in die Stube.

»Nu, was bringt er da 'mal wieder geschleppt?« fing eine Weibsperson an, die in einer Ecke am Tische saß und bey einer düstern Lampe Strümpfe ausbesserte: »Und das große L** von Hund? Willst du 'naus!«

Frau, sagte der gütige Mann, der Hund gehört dem kleinen Jungen hier!

»Ey was! Ich will von dem Jungen und seinem Hunde nichts wissen! Fort aus dem Hause, alle beyde!«

Sag' mir nur, wo das arme Kind über Nacht bleiben soll? Denk' doch christlich!

»Christlich? Christlich? (Sie trat, beyde Arme in die Seite gestämmt, vor ihn, sprang darauf fort und suchte nach Knittel und Peitsche.) Ist das christlich, wenn ich mir selbst im Lichte steh, und solch Gesindel beherberge, wie der lumpigte Bediente vorhin, und füttre sie, und noch obendrein Hunde? Warte, großes L**, wenn ich nur erst die Peitsche habe, ich will dich und deinen« –

Sie fand einen Dornknittel und ging auf Phylaxen los. Als dieser sah, daß es ihr Ernst war, sprang er auf (er hatte sichs, so wie er herein kam, bequem gemacht, und mitten in der Stube alle Viere von sich gestreckt) und wies ihr mit schrecklichem Knurren die Zähne. Sie prallte erschrocken, und vor Zorn ausser Athem, zurück.

»Du E – du E–sel, hab' ich dich darum aus dem Stall gezogen, gekleidet und geschuhet, daß du große Hunde auf mich hetzest, und liederliche Bengel herbringst, die ihren Eltern entlaufen sind.«

Frau, sagte der Mann gelassen und setzte sie sanft auf einen Schemmel: du bist ausser dir! Erhole dich! Laß uns nur erst hören, wie das Kind hieher kömmt und wem es angehört. Er ist nicht von schlechten Eltern. Sieh 'mal die weiße Haut –

»Ich mag nichts sehen!« rief sie und drehete das Gesicht rasch nach dem Ofen.

Während dieses Wortwechsels stand ich stumm und zitternd da und fing endlich an zu beichten. Daß ich dem Papa entlaufen sey, sagte ich nicht, daß mich aber der Mann, dessen Tochter Karoline hieße (so beschrieb ich ihm jenen unfreundlichen Mann) zur Thür hinausgeworfen, und mit Hunden vom Hofe gehetzt habe, das gestand ich, um sie zum Mitleid zu bewegen.

Aber kaum hörte das Weib diesen letzten Umstand, so sprang sie wüthender als vorher auf, warf alles um und um, und wollte ihrem Manne zu Leibe.

Wie ich hörte, so hatte sie die Schenke von Karolinens Vater in Pacht, und fürchtete, er möchte sie verjagen, wenn er erführe, daß sie mich beherbergt hätte. Sie rechnete ihrem Manne alles vor, was Jener für sie gethan hätte, und drang hiermit und mit wiederholten Drohungen, sich morgen des Tages von ihm scheiden zu lassen, so lange und nachdrücklich in ihn, bis er mich bey der Hand nahm und zum Hause hinaus führte.

»Sey nur still, Kleiner!« sagte er, als ich laut zu weinen anfing: »Du sollst doch über Nacht hier schlafen. Halt dich nur so lange in der Nähe auf, bis sie zu Bette ist, da will ich dich holen!«

Ich ging um das Haus herum und setzte mich unter bittern Thränen hinter einem Zaune nieder. Nach einer halben Stunde ungefähr kam er zurück, nahm mich bey der Hand und führte mich durch eine Hinterthür über den Hof auf seinen Heuboden. Hier verließ er mich, und brachte mir nicht lange nachher ein Butterbrot und ein Kopfküssen, doch mit dem Bescheid, daß ich mich morgen in aller Frühe, wenn seine Frau noch schliefe, auf den Weg machen müßte.

Fünftes Kapitel.
Schrecken und Graus.

Unter Seufzen und Stöhnen fing ich an mein Butterbrot zu bearbeiten. Phylax bekam nichts davon, weil er Braten gegessen hatte. Je länger ich aß, desto weiter flohen von mir Besorgniß und Furcht, und als ich es rein aufgezehrt hatte (es war nicht klein) wickelte ich mich in mein Küssen, um einzuschlafen.

Auf einmal hörte ich nicht weit von mir ein starkes, zischendes Athemholen. Ich fuhr erschrocken zusammen, erholte mich aber bald wieder, weil ich wußte, daß die Eulen zur Nachtzeit auf Heuböden und in Scheunen auf Raub ausgehen, und öfters darüber einzuschlafen pflegen. Eben wollte ich mich fester in mein Küssen vergraben, und auf nichts mehr horchen und hören, als ich eine Stimme vernahm, halb laut, halb leise, halb ängstlich. Ich horchte, obgleich ich nicht horchen wollte.

Halsabschneiden – flüsterte diese schreckliche Stimme – Halsumdrehen!Pack ihn! Pack ihn! fügte sie etwas stärker hinzu. Messer her! Mein Messer her! rief sie laut und vernehmlich.

Ich fuhr auf, durch und durch in Todesschweiß gebadet. Angstvoll und bebend sah ich mich nach der Thür um, und als ich vor mir ein lichteres Fleckchen bemerkte, sprang ich auf und wollte dahin.

Indem ich forttappte, raschelte es vor mir im Heu, und Phylax stand neben mir und schnupperte. Ich wußte nicht, ob ich vorwärts gehen, oder umkehren sollte. Endlich faßte ich Muth und wollte zur Thür. Ich streckte meinen Fuß aus, trat behutsam zu und fühlte, daß ich nicht auf Heu träte. Die Angst ließ mich nicht untersuchen, was es war, und als ich fester auftrat, um den linken Fuß nachzuholen – Jesus! was ist das? schrye eine menschliche Stimme, und in dem Augenblick stolperte und fiel ich. Dabey stämmten sich zwey Hände gegen meine Brust und stießen mich gewaltsam von sich.

Halsabschneiden, pack' ihn und Messer her! Diese drey fürchterlichen Ideen raubten mir Sinne und Bewußtseyn. Aber in eben dem Augenblicke rief die Stimme: Gnade! Gnade! und ich kam wieder soweit zu mir selbst, daß ich bemerkte, wie sich Phylax mit dem vermeynten Mörder herumbalgte. Nun stellte sich ein nothgedrungener Muth bey mir ein, ich drückte die Augen fest zu und rief herzhaft: Wer da? – »Gnade, Barmherzigkeit!« rief die Stimme von neuem: »Der Hund zerreißt mich!« Ich lockte meinen Phylax, und er kam aufs Wort zu mir. Nun beschloß ich, den Mörder förmlich zu vernehmen, um zu sehen, ob gütlich mit ihm auszukommen sey, wo nicht, so war Phylax immer noch da!

Es kam etwas auf allen Vieren näher gekrochen und bat nur immer, den großen Hund nicht loszulassen. Nach und nach richtete es sich auf. Des Mörders demüthige Stimme machte mir Muth, und auch er erholte sich, als er hörte, daß ich Phylaxen von Zeit zu Zeit das Murren verboth.

Allmählig öfneten wir uns wechselsweise das Verständniß. Es war ein herrenloser Bedienter, der kurz vor mir auf den Heuboden gekrochen war, und sich niedergelegt hatte. Was er von Halsabschneiden und Messern gesprochen hatte, war nicht sein Ernst, sondern ein fürchterlicher Traum gewesen. Ich faßte ein großes Vertrauen zu ihm (welches er wohl hauptsächlich meiner Freude zuzuschreiben hatte, daß er kein Mörder war) und erzählte ihm meine Geschichte der Länge nach. Anfangs rieth er mir, zu meinem Papa umzukehren; als er aber meinen Widerwillen sah, schlug er mir vor, mit ihm zu gehen, ich sollte Brot und Unterkommen finden. Ich versprach es ihm, und darauf legten wir uns nieder und schliefen ein.

Sechstes Kapitel.
Sie wandern.

Kaum war ich recht eingeschlafen, als ich die Stimme des gutherzigen Wirths hörte. Er rüttelte mich, und als ich die Hände auseinander schlug, um mich noch einmal von ganzem Herzen zu dehnen, steckte er mir in die rechte Hand ein dickes Butterbrot, und in die linke einen Kupferdreyer. »Nun komm, mein Sohn,« sagte er dabey: »ehe meine Frau aufsteht. Sag mir aber erst, wo du zu Hause bist, mein Junge soll dich hinbringen.« – Ich gehe den Weg, unterbrach ihn der Bediente und ersparte mir dadurch ein Geständniß, das mir auf der Zunge schwebte: er hat mir gesagt, wo seine Eltern wohnen. Ich denke ein kleines Trinkgeld von ihnen zu erhalten.

Ich konnte es dem Wirth ansehen, daß er gerne gewußt hätte, wer meine Eltern wären; aber in dem Augenblick hörte er die Stimme seiner Frau, die mit Toben und Schelten die Mägde weckte. Er sagte uns nur noch in Eil, wir sollten durch den Garten gehn, und uns nicht sehen lassen, sonst hätte er in vierzehn Tagen keine ruhige Stunde.

Er stieg vom Boden hinunter, wir folgten ihm bald nachher und kamen unbemerkt ins freye Feld.

Darauf theilte ich mein Butterbrot in drey ziemlich gleiche Theile. Wir bissen alle drey mit gleichem Appetit hinein, und dies gab meinem Reisegefährten Anlaß, mich zu fragen: wovon ich denn so lange leben wollte, bis ich irgendwo Unterkommen fände? Ich sah ihn mit großen Augen an und verrieth dadurch, daß ich daran noch nicht gedacht hatte. »Von der Luft können wir nicht leben,« fuhr er fort, »und wenn du kein Geld hast, mußt du umkehren!«

Das fiel mir wie ein Stein aufs Herz. Ich stand still und hätte lieber geweint. Aber ich erinnerte mich an meinen Kupferdreyer! Ich hatte ihn in der flachen Hand liegen und je öfter und länger ich ihn ansah, desto lebhafter fühlte ich meinen Muth heranwachsen. Mein Gefährte beobachtete mein Mienenspiel und fieng an herzlich zu lachen.

»Ich merke schon,« sagte er, »du verläßest dich auf deinen Kupferdreyer; aber du mußt wissen, daß wir nur noch eine halbe Meile haben, so sind wir im Sächsischen, wo ihn die Leute nicht umsonst nehmen. (er faßte mich bey der rechten Schulter und schüttelte mich) Was meynst du dazu, Kundmann?«

Mir ward es trocken im Munde und beklommen ums Herz. Ich reichte ihm den Dreyer hin, und wollte ihm zu verstehen geben, er sollte etwas dafür einkaufen, damit wir im Sächsischen zu zehren hätten. Er nahm ihn, lief auf ein Haus zu, das am Eingange eines Dorfes stand, und stellte sich, während ich herzu kam, in die Thür, mit einem Gläschen in der Hand. »Willst du?« sagte er. Ich schauderte zusammen, als ich sah, daß es Brantwein war. – »Kannst du keinen trinken?« – Ich schüttelte betrübt den Kopf, und mit Einem Stoße warf er meinen Kupferdreyer mit allen den Hoffnungen, die ich auf ihn gebauet hatte, die Kehle hinunter.

Da stand ich!

Er gab dem Wirthe das Glas zurück, nahm mich bey der Hand und zog mich mit fort.

Die feurige Lobrede, die er hierauf dem Brantwein hielt, gefiel mir nicht im mindesten, denn mein Dreyer schwebte mir noch viel zu lebhaft im Gemüthe. Doch gab ich mich endlich zufrieden, weil ich nun Anspruch auf seinen Beutel zu haben glaubte, da ich ihm mein Letztes zum Besten gegeben hatte.

Es ward hoher Mittag und ich fühlte großen Hunger. Es konnte nicht fehlen, daß ich jetzt lebhaft an Papa's Tafel zurück dachte, und daß mit dieser Vorstellung eine lange Reihe andrer in mir rege wurden. Aber so unangenehm sie auch waren, brachten sie mir doch den Nutzen, daß ich, so lange sie lebhaft blieben, Hunger und Durst vergaß.

»Hier mußt du betteln!« sagte mein Gefährte am Eingang eines Dorfes zu mir, und riß mich dadurch aus meinen Betrachtungen. Ich sah ihn mit großen Augen an, aber er versicherte, es sey sein völliger Ernst.

»Dich wird so gut hungern als mich,« fuhr er fort: »und dir geben die Leute eher einen Zehrpfennig als mir. Faß' nur Muth, mein Söhnchen, und thu' mir den Gefallen, es soll dein Schade nicht seyn. Du darfst nur sagen: Dein Vater sey ein alter lahmer Soldat. Er liege vor dem Dorfe und habe nichts zu essen!«

Ein gutes Wort konnte mir den Rock vom Leibe ziehen.

Ich ging in das Dorf. Die kleinern Häuser ließ ich und sah mich nach den größern um. Ich trat in eins der letztern und bat einen Mann, der mir entgegen kam, um einen Zehrpfennig. Dabey erzählte ich den Roman von meinem Vater, dem lahmen Soldaten. Er sah mich an, schüttelte den Kopf, ging in die Stube und brachte eine Weibsperson mit heraus.

»Freylich ist ers,« sagte diese halblaut, »es trift alles ein, wie ihn der Mann beschrieb. Wir wollen ihn bey uns behalten.«

Mir lief es kalt durch alle Glieder, denn ich hatte genug gehört, um mich zu überzeugen, daß ein Nachsetzer in der Nähe sey. Ich dachte auch wohl ans Davonlaufen, aber die Leute standen mir zu nahe und ließen nicht ab, mich auszuforschen.

Unterdessen trat mein Phylax, der sich herabgelassen hatte, mit andern Hunden vor dem Hause zu spielen, in die Thüre.

»Siehst du,« sagte die Frau und stieß den Mann an: »da ist der Hund auch! Er ist es ganz gewiß. – Willst du nicht ein bischen in die Stube kommen, Kleiner?« fuhr sie zu mir fort: »Du sollst 'was zu Essen haben. Wenn der Bothe zurückkömmt,« sagte sie leise zu ihrem Manne, »kann er ihn mitnehmen!«

Ich war in der tödtlichsten Unruhe und zitterte am ganzen Leibe. Als mich die Frau bey der Hand nahm, um mich in die Stube zu führen, riß ich mich los, und machte linksum, aber der Mann faßte mich beym Rockzipfel und hielt mich. Ich that einen lauten Schrey und – war auf einmal erlöst, denn Phylax hatte den Wirth bey der Wade.

Und nun aus allen Kräften zum Dorfe hinaus! Phylax in kurzem Galopp hinterdrein.

Mein Gefährte stand vor dem Dorfe, und lief mir, als er mich so dahersprengen sah, eilig entgegen. Kaum hatte ich Athem genug, ihm gebrochen zu sagen, man hätte mich aufhalten und zu Hause bringen wollen. Er meynte, ich hätte nicht nöthig, so erschrecklich zu laufen, aber ich meynte, ich hätte es höchst nöthig. Wollt' er also wohl oder übel, so mußte er mir, trotz seinem Hunger, nachrennen, so lange es meiner Angst beliebte.

Siebentes Kapitel.
Moriz löset Fesseln.

Wir liefen auf lauter Abwegen. Mein Gefährte ward es am ersten überdrüßig. Er versicherte mich, indem er außer Athem neben mir her trabte, ich hätte nichts mehr zu fürchten: wir wären im Sächsischen, wo uns niemand etwas zu befehlen hätte, und wenn der Vater selbst käme, um seinen Sohn zu holen, und dieser wollte nicht, so könnte und würde ihn niemand zwingen. Als er mir diese Versicherung noch einigemal wiederholt hatte, legte sich meine Angst und ich ging langsamer.

Ich kann bis diese Stunde keinen befriedigenden Grund angeben, warum dieser Mensch so viel Geduld mit mir hatte. Er konnte mich ja nur laufen lassen und sich nicht weiter um mich bekümmern. Oder glaubte er, desto leichter einen Dienst zu bekommen, wenn er mich mitnahm, die Aufmerksamkeit eines Herrn auf mich zog, und mich nur mit dem Beding ihm überließ, wenn er selbst in Dienste genommen würde? Wenigstens sagte er immer unterweges: wenn wir in eine große Stadt kämen, und es fände sich eine Herrschaft für mich, so sollte ich nicht in ihre Dienste gehen, wenn sie nicht auch ihn haben wollte. Er steifte sich, wie es scheint, auf die Mode der Jokay's.

Sey es, wie es wolle, genug er ging in das erste Dorf, worauf wir stießen, bettelte Brot und andere Lebensmittel und muthete mir auch in der Folge nicht wieder zu, daß ich betteln sollte. Wie es schien, so fürchtete er eben so sehr, mich zu verlieren, als mir vor der Rückkehr zu meinem Papa bange war.

So waren wir vier Tage fortgewandert, als wir uns auf einem Berge befanden, von welchem wir eine Stadt, die ungefähr eine halbe Meile von uns lag, in ihrer ganzen Größe sehen konnten. Als ich meinen Begleiter fragte, wie sie hieße, war es D**. Ich erschrack und bat ihn, nicht hineinzugehen, und erzählte ihm, daß sich eben der Legationsrath daselbst befände, der meinen Papa immer besuchte, und daß er mich zurückschicken würde, wenn er mich zu sehen bekäme. Aber er benahm mir fast alle Furcht durch die Versicherung, D** sey so groß, daß sich die Leute, die auf Einer Straße, ja sogar, die in Einem Hause wohnten, öfters nicht kennten.

Darauf verließ er mich, um in einem Dorfe, das an der einen Seite des Berges lag, zu betteln. Meinen Phylax, der sich während unsrer Reise an ihn, als den Proviantmeister gewöhnt hatte, nahm er mit und sagte: wenn er seinen Umgang gehalten hätte, wollte er mich abholen.

Ich setzte mich nicht weit von dem Dorfe nieder und erwartete seine Zurückkunft. Er blieb länger aus, als gewöhnlich, und ich gerieth in Unruhe. Schon war ich eine Strecke auf das Dorf zugelaufen, als er mir entgegen kam und alle Taschen voll Lebensmittel hatte. Aber meinen Phylax sah ich nicht.

Wo ist mein Hund? rief ich ihm von weitem zu. Er schüttelte den Kopf. Wo ist mein Hund? fragte ich noch einmal ängstlicher.

Er stellte sich zornig und trostlos. Ich drang in ihn und erfuhr: mein armer Phylax sey von einem Jäger erschossen worden, weil er keinen Knittel am Halse getragen hätte. Diese Hiobspost machte mich stumm und sprachlos. Anfangs brach mein Schmerz in Thränen, aber bald darauf in Wuth aus. Ich steckte mir alle Taschen voll Steine, lief wie rasend in das Dorf, und es war ein Glück, daß mir kein grüngekleideter Mann in den Wurf kam, ich hätte ihm sonst alle meine Kiesel an den Kopf geschleudert.

Ich durchlief das ganze Dorf und fragte jeden, der mir begegnete, ob er nicht einen Jäger gesehen hätte? aber niemand konnte mir Nachricht geben. Langsam und mit hellen Thränentropfen auf den Backen, kehrte ich um. Auf einmal hörte ich ein Winseln, das mir bekannt vorkam. Ich ging dem Schalle nach, trat in einen Bauerhof und siehe da! meinen Phylax an der Kette. Ich sah und hörte nicht vor Freude, und Phylax sprang, so weit es ihm die Kette erlaubte, rund herum. Ich entschloß mich kurz, und wollte nichts Geringeres, als die Kette entzwey reißen. Schon dreymal hatte ich alle meine Kräfte vergebens angestrengt, als ich erst zu bemerken anfing, daß es geradehin unmöglich sey. Aber noch sank mein Muth nicht. Ich nahm einen von den Kieseln, die ich zu Mord und Todschlag zu mir gesteckt hatte, und pochte unter Thränen der Bosheit und Ungeduld an der Kette – aber sie war von Eisen!

Junge, was machst du? hörte ich auf einmal eine Stimme hinter mir: Ich habe den Hund gekauft!

Wie David ehedem vor Goliath mag gestanden haben, so stand ich jetzt vor dem Bauer, in jeder Hand einen Stein, ohne einen Laut hervorbringen zu können. – »Hitzige Blitzkröte!« rief der Bauer und schleuderte mich auf einen Düngerhaufen, der hinter mir lag.

Mir sank aller Muth. Ich hatte nicht Tollkühnheit genug, mich einem großen, breitschultrigen Manne zu widersetzen, der mich zu Brey gedrückt hätte, mithin war für mich kein andrer Weg als Güte. Ich weinte und bat ihn, mir meinen Hund wieder zu geben. Der Schlingel hat ihn mir gestohlen! Der Hund gehört mir! rief ich eines Rufens. – »Wenn du mir mein Geld wiedergiebst,« sagte der Bauer lächelnd, »sonst nicht!« – Lieber Gott! wo soll ichs denn hernehmen? erwiederte ich schluchzend, und bat von neuem, er möchte mir ihn so wiedergeben. Er ließ sich noch ein paarmal bitten, und machte sodann meinen Phylax los. Wie der sprang! Wie ich sprang! Ohne dem Bauer zu danken, sprengte ich vom Hofe hinunter und zum Dorfe hinaus, im bittersten Zorn auf meinen Gefährten. Dieser saß noch auf dem Flecke, wo ich ihn gelassen hatte und erwartete mich ganz ruhig. Als ich nicht weit mehr von ihm war, fing ich an zu schimpfen und ihn mit meinen Steinen zu ängstigen. Sie fielen so hageldicht, daß er seine ganze Gelenkigkeit zusammen nehmen mußte, um ihnen auszuweichen. Als ich mich verschossen hatte, lief er auf mich zu, und umklammerte mich so fest, daß ich mich nicht regen konnte.

Närrischer Junge! rief er und ließ mich plötzlich los, denn Phylax fuhr ihm schnarchend nach dem Rockschooße: Du hast ja den Hund wieder und wir haben obendrein noch auf drey Tage zu leben. Dabey zeigte er mir, was er für das Geld alles eingekauft hatte. Mein Hunger trug viel zu meiner gänzlichen Besänftigung bey. Wir versöhnten uns und gingen auf D** zu.

Achtes Kapitel.
Moriz in Gefahr.

Wir gingen um die Stadt herum und traten eine halbe Stunde von derselben in einen Gasthof. Für etwas Großes schien uns der Wirth nicht zu halten, denn er fragte uns mit solcher Zudringlichkeit aus, daß er in wenig Minuten soviel von mir wußte, als mein Gefährte. Hierauf erkundigte er sich nach unsern Pässen und gab durch den Ton, womit er dies that, deutlich genug zu verstehen, daß er uns nicht aufnehmen würde, wenn wir nicht Schwarz auf Weiß darthun könnten, daß wir weder Diebe noch Landstreicher wären.

Mein Gefährte suchte in allen Taschen, und als er nichts fand, fing er an, auf seine Unachtsamkeit zu fluchen. Das Ende davon war, daß er keinen Paß hatte. »So geht, wo ihr hergekommen seyd,« sagte der Wirth zu ihm, »ich will mir eurentwegen keine Strafe zuziehen!« – Mein Gefährte bat ihn nur um eine einzige Nacht, erhielt aber nichts, als Nachricht, wo er einen Logiszettel bekommen könnte, wenn er seine Umstände, Vorhaben und Handthierung anzeigte.

Unterdessen erwartete ich mit Furcht und Zittern meinen Bescheid. »Du kannst hier bleiben,« sagte er zu mir, »du bist weder Dieb noch Spitzbube, wenigstens siehst du nicht so aus.«

Mein Gefährte ging, und wenn er mir nicht den boshaften Streich mit meinem Phylax gespielt hätte, so wäre ich mit ihm gegangen. Wenigstens ließ er es an Bitten und Vorstellungen nicht fehlen, und trieb es so lange, bis ihm der Wirth (der sich meiner annehmen zu wollen schien) ernstlich die Thüre wies.

Als er fort war, nahm mich der Wirth noch einmal in die Presse. Ich hatte mich schon bey dem ersten Verhöre verlauten lassen, daß ich mit aus Furcht vor dem Legationsrath, meinem Papa entlaufen sey; jetzt erkundigte er sich noch einmal und genauer nach diesem Manne. Ich gab ihm so viel Umstände von ihm an, als ich konnte, und nicht lange darauf zog er sich an und ging fort.

Weil ich von der Reise ermüdet war, legte ich mich auf eine Bank nieder, die am Ofen stand. Ich war noch im Einschlummern, als der Wirth mit einem Menschen in die Stube trat, der eine Livree trug, die mir mehr als zu bekannt war. Der Bediente trat näher und sagte leise: Ist er das? – »Ja!« – Nun, fuhr er fort, mein Herr wird gleich nachkommen, und ihn abholen.

Meine Angst, als ich damals auf dem Heuboden meinen Gefährten von Halsabschneiden schwatzen hörte, kann nicht größer gewesen seyn, als die ich jetzt empfand. Bey jedem kleinen Geräusche fuhr ich zusammen und glaubte die Stimme des Legationsraths zu hören. Ich sah und fand keinen Ausweg, der mich diesmal aus der Klemme führen konnte. Entlaufen? war nicht möglich. Nicht mitgehen, wenn er käme, um mich abzuholen? eben so wenig. Ich war um ein Haar in dem Zustand eines zum Rade Verurtheilten, der im Troge daliegt, und dem Stoße, der ihm die Brust zerschmettern soll, nicht ausweichen kann, weil er an Hals und Fuß gebunden ist. Ich drückte die Augen fest zu, und konnte nichts thun, als den Ausgang erwarten.

Der Wirth und Bediente sprachen noch einige Worte heimlich und gingen zur Stube hinaus. Ich sprang auf und bemerkte durch ein Fenster, das auf den Hof ging, beyde auf demselben. Mein Entschluß war bald gefaßt. Ich sprang zur Thür hinaus, durch das Haus auf die Straße, ging erst einige Schritte langsam und lief darauf im Sprunge davon! Vor mir sah ich Weinberge und ein Dickigt von kurzen Sandweiden, an welchen die Elbe hinströmte. Hier glaubte ich mich eine Zeitlang verkriechen zu können. Aber die Weinberge waren mit Mauern eingeschlossen, und der Boden des Sandhegers, worauf die Weiden standen, war schwammig und naß. In einen dicken Tannenwald, der mir zur Linken auf einer Anhöhe lag, wagte ich mich nicht, weil ich gehört hatte, daß es in Sachsen wilde Schweine gebe. Es blieb mir also nichts übrig, als ein schmaler Weg zwischen der Elbe und den Weinbergen. Ich verfolgte ihn, kam an ein Dorf, lief hindurch, fand eine Fähre an der Elbe, die eben im Begriff war, nach dem andern Ufer abzufahren, sprang hinein, fuhr mit hinüber, sprang wieder heraus, ohne mich um das Fährgeld zu bekümmern; von neuem ein Dorf, von neuem hindurch, und endlich sank ich hinter demselben unter einzelnen Tannen ohnmächtig nieder.

Neuntes Kapitel.
Hypochondrie.

Ich hatte kaum fünf Minuten unter den Bäumen gesessen, als ich ein Geräusch neben mir hörte. Ich blickte auf, und vor mir stand ein Mann, der mich mit stieren Blicken unverwandt ansahe. Sein Kopf hing weit über den Rumpf heraus, und überhaupt beschrieb seine ganze Figur ein S. Ein kleines, dreyspitziges Hütchen deckte die halbe Scheitel und die ganze Stirn, und ruhete auf einer Nase, die über den Mund herüberhing. Sein Kinn saß sehr hoch und berührte die äusserste Spitze der Nase. Ein rundes Stutzperückchen stand eine gute Hand breit vom Nacken ab und rundherum sah ein dünnes greises Haar hervor. Ein gelbblasses eingefallenes Gesicht, auf welchem eine tiefe Falte an der andern lag, bewies, daß Alter und Krankheit seine Gesundheit untergraben hatten. Er trug einen kahlen schwarzen Rock, der ihm bis in die Kniekehlen reichte und von oben bis unten fest zugeknöpft war. Seine Kniescheiben schienen durch Gicht oder Abzehrung unbeweglich geworden zu seyn, denn Schenkel und Füße beschrieben so ziemlich einen Triangel.

»Wes Landes?« hub er an.

Ich wußte nicht, was ich antworten sollte.

»Aus Judäa, oder aus Samaria?« fuhr er fort.

Ich sah ihn mit großen Augen an und sein starrer Blick machte mir allmählig Angst. Auf einmal schien es, als ob er aus einem tiefen Schlaf erwachte. Seine Miene heiterte sich etwas auf; er nahm mich bey der Hand und fragte mich mit einer sanften Stimme: »Kind, du fürchtest dich vor mir? Ich bin ein armer elender Mann, ich thue dir nichts. Ach! ich kann dir nichts thun! Sieh hier diese dürre verwelkte Hand; sie kann kaum dies leichte Stöckchen heben. Befürchte nichts, Kind! Nein, du hast nichts zu befürchten!«

Mit diesen Worten setzte er sich zu mir und nahm mich von neuem sanft bey der Hand.

»Ich bin sehr lange krank gewesen, liebes Kind,« fuhr er fort, »heute bin ich zum erstenmal wieder ausgegangen. Ich habe an der Hypochondrie laborirt. Ein schreckliches Malum, mein Kind, ein sehr schreckliches Malum! Kennst du es?«

Ich sah ihn befremdet an, und schüttelte den Kopf.

»Du kennst es nicht? (fuhr er wie in Hitze fort) Wenn du still und trübsinnig, mit krummen Rücken und mit zur Erde geschlagenem Blick, über Stock und Stein, durch Sümpfe, Moore und Bäche, durch Sandpfützen und Wälder hinschleichst; mit jedem altem Weibe, das dir begegnet, zusammen läufst; wenn sie zur rechten ausweicht, rechts springst; wenn sie zur linken ausweicht, links springst; und wieder rechts und wieder links und dich abarbeitest, um ihr nicht vor den Kopf zu rennen; wenn mitten unter diesem Bestreben, von ihr loszukommen, dem alten Weibe plötzlich ein spitziger Schnabel ans Maul wächst, womit sie dir in die Brust pickt, die Haut abschält und endlich zwischen die obern Rippen hindurchfährt und dir am Herzen zu nagen anfängt; wenn dirs dann grün und gelb und feuerfarb und himmelblau und rabenschwarz vor Augen wird; wenn sich alle diese Farben zusammen mischen und in Kugeln, oder Schlangengewinden, oder Meereswogen vor deinem Auge umherrollen; wenn es dicke Nacht in allen deinen Sinnen wird; Gewitterwolken sich über dein Haupt zusammen ziehen und Sturm tobt, und tausend Donner brüllen, und Blitz auf Blitz dir zischend durch das Gehirn fährt; wenn mitten in diesem schrecklichen Gewirr eine eherne, glühende Pfanne aus dem Boden heraufsteigt, Teufelslarven, Schlangen, Löwen und Riesen um sie her tanzen, Feuer anlegen und es anschüren, daß die Lohe himmelan sprüht; wenn dich dann eine der schrecklichsten Gestalten beym linken Fuß packt, und dich in die glühende Pfanne schleudert, daß das siedende Oel rauschend, zischend und raschelnd über dich zusammen schlägt und aufschäumt; wenn du in dem Augenblicke, da du glaubst, daß sich Feuerströme in deine innersten Fibern hineinfressen werden, urplötzlich auf eine blühende Wiese entrückt wirst, wo Nachtigallen dein Ohr letzen; wo Wohlgerüche und kühlende Balsamdüfte eine herzerhebende Linderung durch dein ganzes Wesen gießen; wo Mädchen in Engelsgestalt, in weissem luftigen Gewande vor deinem trunknen Blick einher schweben; wenn du rasch aufspringst, voll Sehnsucht, eine dieser Huldgöttinnen zu umarmen; wenn sie flieht, du sie einholst, sie fest umschlossen hältst, deinen Mund fest auf den ihrigen drückst; wenn dein Herz an ihrem Busen pocht; wenn du mit matten, in Liebe schwimmendem Auge aufblickst, um das Mädchen zu sehen, das Himmel und Erde vor deinem Blicke schwinden machte – und plötzlich eine ungeheure von Gift geschwollene schuppigte Schlange, statt ihrer, fest in die Arme schließest, die ihren schrecklichen Rachen aufreißt und Pesthauch auf dich her bläst – wenn du solche Erscheinungen hast, dann bist du hypochondrisch!«

Er schwieg und holte Athem.

Es war eine schreckliche Schilderung, die das Feuer und der bald bebende, bald rauschende, bald ängstliche und weinerliche Ton und das lebhafte Gebährdenspiel, womit er sie hersagte, mir im äußersten Grade fürchterlich machte.

Jetzt bin ich von diesem Uebel befreyt, setzte er hinzu, und, wie ich hoffe, auf immer. Ich muß mir nur fleißig Bewegung machen, und oft in Gesellschaft gehen. Das ist das beste Mittel darwider!

Ich erholte mich nach und nach von meiner Aengstlichkeit und sprach einige Worte mit ihm. Er ließ auch am Ende sein Lieblingsthema, seine Krankheitsgeschichte fahren, fragte nach meinen Eltern, wie ich hiehergekommen etc. etc. und da ich Zurückhaltung bey ihm nicht nöthig zu haben glaubte, oder weil einem Offenherzigkeit in der Jugend so natürlich ist, so entdeckte ich ihm alles, und schloß mit dem Wunsche: wenn ich nur wüßte, wo ich diese Nacht bleiben sollte!

Du gehst mit mir! sagte er, und wollte aufstehen, fiel aber kraftlos zurück. Ich sprang auf und half ihm auf die Füße. Wir setzten uns in Bewegung, aber mir war immer, als ob ich etwas vergessen hätte. Ich sah mich um, und wie ward mir! mein Phylax war nicht da. Ohne meinem Begleiter ein Wort zu sagen, ohne selbst eine lebhafte Idee zu haben von dem, was ich thun oder lassen sollte, um meinen Hund zu finden, flog ich davon. Alle funfzig Schritte stand ich still und rief Phylax! und wenn er dann nicht erschien, so lief ich unter Geschrey der Ungeduld weiter. Endlich fiel mir ein, daß er im Gasthofe zurückgeblieben seyn müsse. Nun stutzte ich und ging bald vor- bald rückwärts, bis ich mich endlich, aber mit unsäglicher Mühe und Beklemmung entschloß, Phylaxen zu lassen, wo er wäre, und mich nicht der Gefahr einer Auslieferung auszusetzen. Ueberdies hatte ich das festeste Vertrauen auf seine Spürkunst, und überzeugte mich endlich, weil ich mußte und es wünschte, daß er mich ganz gewiß wiederfinden würde.

Der Alte erwartete mich und fragte nach der Ursach meines plötzlichen Entlaufens. Der besorgliche Mann hatte geglaubt, seine Gesichtsbildung sey mir auf einmal so fürchterlich geworden, und ob ich ihm gleich meinen Verlust sehr deutlich erklärte, fragte er mich in der Folge doch noch einigemal: ob er denn etwas fürchterliches im Gesichte habe?

Wir kamen an das Ufer der Elbe, und als wir ein paar hundert Schritt an demselben hingegangen waren, ward mein Begleiter auf einmal unruhig.

»Nicht wahr, Kind,« hub er an, und sah starr in den Strom: »man hat Beyspiele, daß reißende Ströme plötzlich angeschwollen sind, und Land und Leute verschlungen haben?«

Ich hatte nichts davon gehört.

»Ja, Kind,« fuhr er mit zunehmender Bangigkeit fort: »es ist dir sehr oft geschehen! Es kömmt von Wolkenbrüchen, mein Sohn, von starken Wolkenbrüchen! (er sah starr gen Himmel) Sieh einmal die Wolke, Kind! Eine dicke, schwarze Wolke, so schwer, so langsam zieht sie da herauf! Wenn nur nicht – (er beschleunigte seine Schritte) Kind, siehst du nicht die schwarze, dicke Wolke da? – Sie enthält lauter Wasser, lauter Wasser!«

Es war ein kleines, unbedeutendes Wölkchen, weder schwarz, noch schwer, noch dicke.

»Hörst du es nicht rauschen?« fuhr er fort, und sah sich angstvoll nach der Elbe um: »Sie tritt über – sie bricht aus – lauf, lauf, lauf!«

Und mit den Worten fing er an zu laufen, als ob ihm der Strom schon auf den Fersen wäre. Rette dich! rette dich! rief er eines Rufens, und lief dabey, nach seiner Art, vogelschnell feldein. Ich nahm mir mehr Zeit, denn die Elbe blieb, wo sie war. Ob er sich gleich nicht umsah, versicherte er mir doch immerfort, der Strom wäre uns sehr nahe. Ich sprach aus allen Kräften dagegen, aber er lief immer schneller, und als ich sah, daß mit Vorstellungen nichts auszurichten war, lief ich zur Gesellschaft mit.

Ich weiß nicht, wo der schwächliche Mann die Kräfte dazu hernahm. Er ließ nicht eher nach, als bis wir an die P** Vorstadt kamen. Hier setzte er sich ohnmächtig auf einen Eckstein nieder und sagte: wenn wir nicht so ausserordentlich gelaufen wären, hätte uns der reißende Strom verschlungen. Ich konnte nicht umhin, über den sonderbaren alten Mann zu lächeln.

Zehntes Kapitel.
Trost des Evangeliums.

Er ging mit mir durch lauter entlegene Straßen, die fast immer an der Stadtmauer fortführten, und schien den Anblick der Menschen eben so sehr zu fliehen, als ich: und das war mir recht, denn ich war in großer Besorgniß, der Legationsrath möchte mir begegnen. Wir kamen endlich an ein gewölbtes finstres Thor, das auf eine Brücke führte. Ueber diese gingen wir und geriethen in eine schmale, dunkle Gasse; am Ende derselben stand ein altes, baufälliges Haus, in welches er mich führte. Es fuhr mir eine Art von Schauder durch alle Glieder, doch beruhigte mich der Gedanke etwas, daß hieher wohl schwerlich Nachsetzer kommen würden. Wir stiegen im Hofe eine verfallene Treppe hinan und krochen durch eine niedrige Thür, in eine enge räuchrige Stube, die an Möbeln nichts, als ein Pult, einen uralten Lehnstuhl und zwey kleinere Rohrstühle, die durchgesessen und wackligt waren, aufzuweisen hatte. Er setzte sich nieder und fing noch einmal von dem Wolkenbruche und dem dadurch verursachten Austreten der Elbe an. Mich ließ er wenig zu Worte kommen, als ich ihm noch einmal versichern wollte, sein Schrecken sey ungegründet gewesen.

Es fing an, mich sehr zu hungern, und doch sah ich nicht, daß er Anstalt machte, mir etwas anzubieten. Endlich sagt' ich ihm dreist heraus, woran ich litte. Sogleich griff er in seine Tasche und holte unter einer Menge Brodkrümchen zwey Dreyer heraus. »An dem Thore, wo wir hereingekommen sind,« sagte er, »wohnt ein Bäcker, geh und hole für dies Geld!«

Ich sprang fort, fand das Thor glücklich wieder und den Bäcker an demselben. Ich nahm Semmel für mein Geld, und war schon wieder auf dem Wege zu meinem alten Wirth, als mich jemand von hinten bey der Schulter faßte. Ich sah mich unter Schrecken und Zagen um, und erblickte – meinen Reisegefährten. Er wunderte sich nicht weniger als ich, daß wir uns in diesem entlegenen Theile der Stadt wiederfanden. Ich erzählte ihm, daß mich der Legationsrath verfolgen ließe, daß ich aber ein sicheres Versteck bey einem alten wunderbaren Manne gefunden habe. Er war begierig, den Mann und seine Wohnung zu sehen, und ich nahm ihn mit. Unterwegs erzählte er mir, daß er bey dem Amtmann der F** Stadt gewesen, und sich einen Logiszettel geholt habe, damit wolle er zu dem Wirthshause zurückgehen, aus welchem ich entlaufen sey. Er kam nicht weiter, als an das Haus, wo mein Alter wohnte, und nahm plötzlich Abschied. »Es sey genug,« sagte er, »daß er wisse, wo ich mich befände, er würde eher wieder da seyn, als ichs vermuthete!« – Ich band ihm noch meinen Phylax aufs Gewissen und bat ihn, mir denselben den folgenden Morgen zu bringen. Er versprach es, und ging mit einer bedenklichen Mine fort, die mir mehr hätte auffallen sollen.

Als ich zu meinem Alten in die Stube trat, reichte er mir die Bibel. »Lies mir dies Evangelium,« sagte er, »zu meiner Beruhigung und Trost!« Ich sah ihn befremdet an und biß in meine Semmel, um anzudeuten, daß mich hungere. Aber er verstand mich nicht, er nahm mir aus der einen Hand die Semmel und legte sie neben mir hin, und in die andre steckte er mir die Bibel. Ich las, indem ich von Zeit zu Zeit, wenn er weg sah, in die Semmel biß und sie behutsam wieder hinlegte: Lasset die Kindlein zu mir kommen etc. etc. etc.

Alle Züge des alten Mannes wurden lebendig und heiter. Siehst du, Kind, rief er schluchzend, in dem Evangelio steckt ein Trost, auf welchen sichs besser schläft, als auf gewonnene Schlachten. Daß ich dich mitgenommen habe, daß ich dir Essen und Nachtlager gebe, diese uneigennützige Bereitwilligkeit, dir zu dienen, verschafft mir den süssen Trost, der in dem Evangelio allen denen versprochen wird, die Kinder lieb haben. Und nun schlaf wohl! Ich mag nicht essen, nicht trinken. Ich will die himmlischen Empfindungen, die mich jetzt beseelen, nicht unterbrechen. Schlaf wohl!

Bey diesen Worten öffnete er eine Seitenthür, die in eine finstre Kammer führte, warf sich in vollem Zeuge aufs Bette und schnarchte bald darauf von ganzem Herzen.

Nun war ich allein und meinen Betrachtungen überlassen. Diese peinigten mich nicht sehr, denn meine Semmel beschäftigte mich ziemlich lange; und sobald diese gegessen war, fand sich die Schläfrigkeit ein, welche die Verdauung ankündigt, und hielt alle traurige oder fürchterliche Vorstellungen so gut von mir ab, daß ich nach einigen Minuten auf dem Lehnstuhle meines Wirthes ruhig einschlief.

Eilftes Kapitel.
Wie man nach der Bastille abgeholt wurde.

Plötzlich schreckte mich ein starkes Poltern auf, und in meiner Schlaftrunkenheit kam es mir vor, als ob das ganze Haus über mich zusammen stürzte. Die Finsterniß vermehrte mein Schrecken. Eben war ich im Begriffe, meinen alten Wirth zu rufen, als meine Angst in Todesfurcht überging: denn es traten drey Männer, in große blaue Mäntel verhüllt, deren einer eine Laterne trug, stillschweigend in die Stube und schritten auf mich zu; der eine nahm mich bey den Schultern, der andre bey den Füßen, und so schleppten sie mich die Treppe hinunter, alles, ohne einen Laut von sich zu geben. Ich wollte schreyen und konnte nicht. Erst unten auf dem Hofe bekam ich Kräfte, aus voller Kehle einen Schrey zu thun. Sogleich hörte ich des Alten Stimme. Ich bat ihn, mir zu helfen, mich zu retten, man wollte mich umbringen! Aber die drey furchtbaren Männer ließen sich durch mein Geschrey nicht irre machen. Sie trugen mich durch das Haus, und als Wirth und Wirthin erschienen, um zu sehen, was es gäbe, sagte ihnen der Mann mit der Laterne einige Worte, worauf sie sich beruhigten und in ihre Stube zurückgingen.

Man legte mich in eine Kutsche, die um und um zugemacht war. Die beyden großen Männer setzten sich, dicht in ihre Mäntel gehüllt, zu mir, und sagten zu dem mit der Laterne, wenn der Alte käme, sollt' er ihn zurückhalten. Und nun ging es fort!

Ich saß in stummer Betäubung zwischen ihnen, und wenn ich unter Zittern und Beben fragte: was ich begangen hätte? und, wohin sie mich denn brächten? riefen sie: Halt's Maul! oder: wie die Arbeit, so der Lohn!

Alle Schrecken, die ich von dem Augenblick an, wo mir Malchens Mama die Schelle gab, bis zu den fürchterlichen Begebenheiten auf dem Heuboden und im Wirthshause, empfunden hatte, waren nichts gegen diesen. Ich erbebte durch alle Glieder und schnappte schluchsend nach Luft.

Endlich hielt der Wagen still und man trug mich heraus, wie man mich hinein getragen hatte. Eine alte Frau öfnete eine Seitenthür. Man legte mich auf ein Bette und einer der Blaumäntel sagte mit einer fürchterlichen Baßstimme zu mir: Morgen siehst du mich wieder! Darauf verschlossen sie die Thür und ließen mich allein.

Bald wollte ich schreyen, daß die halbe Stadt mich hörte, bald aufspringen und mit Händen und Füßen an die Thüre donnern; aber zu beydem fehlte mir Kraft und Muth. Besorgniß und Angst nahmen ihre alte Stelle wieder ein und brachen sich in einen Thränenguß, der rund umher, wo mein Kopf lag, das Bette benetzte. Doch erlagen sie bald nachher einem Schlafe, der zwar von fürchterlichen Träumen unterbrochen ward, aber doch bis gegen Morgen dauerte.

Bald nach meinem Erwachen erschien der Blaumantel, setzte Thee und Semmel hin, ging wieder, ohne ein Wort zu reden, und schloß die Thür hinter sich zu. Ich hoffte jeden Augenblick, daß man die Fensterladen öffnen sollte; aber vergebens. Ich trank meinen Thee, und ließ große Thränen in die Schaale tröpfeln. Endlich ging meine Furcht in starre Hartherzigkeit über, die alles, sey es auch das Aergste, was man über mich verhängen würde, ausdauren wollte.

Nach ein paar Stunden erschien der Blaumantel wieder, und brachte noch einen Mann mit. Dieser sollte mir das Maas zu Rock, Weste und Beinkleider nehmen, meynte aber: bey der Finsterniß könne er nicht sehen. »Seht, wie Ihrs macht,« sagte der Blaumantel zu ihm, »so ein Bösewicht muß weder Tages- noch Talglicht sehen!« Sie lachten über dieses witzige Wortspiel von ganzem Herzen, aber mir war es nicht möglich. Doch weiß ich nicht, wie es kam, meine Bangigkeit nahm dadurch um einen großen Theil ab.

Der Schneider versicherte noch einmal, daß er im Finstern nicht sehen könne, und nun lief der Blaumantel und holte Licht. Jetzt riß sich wiederum ein großes Stück Furcht von meinem Herzen los, denn ich sah mich in einem Zimmer, das mit Tapeten ausgeschlagen, und mit großen Spiegeln und mit prächtig eingefaßten Gemälden geziert war. Nun that das gar keine Wirkung, was sie von der neuesten Mode im Zuchthause zu W** sprachen, und von dem harten Willkommen, der daselbst den Züchtlingen gegeben würde; denn ich konnte an den Fingern abzählen, daß man einen Züchtling nicht in ein so prächtiges Zimmer sperren und mit Thee und köstlicher Mundsemmel bewirthen würde.

Als der Schneider fertig war, ging er mit dem Kerkermeister fort und versprach in wenig Tagen des Züchtlings Kleider zu liefern, die eine Seite grau, die andere gelb, wie sie im Zuchthause zu W** Mode wären. Wenn mir diese letzte Aeusserung hätte Furcht machen können, so wäre sie fünf Minuten darauf völlig erstickt worden; denn der Blaumantel brachte mir ein Mittagsessen von solcher Schmackhaftigkeit, daß ich glaubte, es sey aus Marthens Küche gestohlen. Es war eines meiner Lieblingsgerichte.

Den Abend geschah ein Gleiches. Ich schlief viel ruhiger, als die vorige Nacht, und der Thee schmeckte mir den folgenden Morgen auch weit besser, als Tages vorher. Eben so das Mittag- und Abend-Essen. Ich vergaß, daß ich ein Gefangener war und in der Finsterniß leben mußte, und bemengte mich endlich auch nicht mehr mit überschrecklichen Vermuthungen über das, was mir bevorstand.

Am dritten Abend öfnete sich die Thür –

Zwölftes Kapitel.
Aufklärung.

Und es trat herein der Schneider, im Gefolge des Blaumantels, der ein Licht trug. Jener warf sein Bündel auf den Tisch, nahm mich herzu, und zog mich bis aufs Hemde aus. Ich zitterte in banger Erwartung. Er probirte mir Rock, Weste und Beinkleider an, fand sie nach seinem Geschmacke, zierlich geschnitten und fein gearbeitet, wünschte mir Glück dazu und ging ab.

Ihm folgte ein Bedienter, der mich wieder auszog, mir einen Pudermantel überhing, frisirte und puderte, ein weißes Hemde, seidene Strümpfe, neue Schuhe (die ein wenig zu weit waren) mir anzog, einen Federhut aufsetzte, und das neue Kleid wieder anziehen half.

Ich staunte und stutzte mich an, aber er ließ mir nicht Zeit, meiner Verwunderung nachzuhängen, sondern nahm mich bey der Hand, führte mich eine Treppe hinan, hustete – plötzlich flog eine Doppelthür auf, und ich stand in einem großen, prächtig erleuchtetem Saale, in dessen Hintergrunde ich ein Gewimmel von Herren und Damen sahe, die alle ihre Blicke auf mich richteten.

Ich stand wie versteinert. Es war mir als sähe ich in einen Guckkasten. Ich wußte nicht, ob ich stehen bleiben, oder vorrücken, ob ich lachen oder weinen sollte.

»Tritt näher, gottloser Schelm!« rief eine Stimme, und wer konnt' es anders seyn als Papa? Ich trat näher, und er kam mir entgegen. – Bester Papa, rief ich schluchsend und nahm seine Hand – »Ich bin dein Papa gewesen!« unterbrach er mich und führte mich zu einem Herrn, der mit einer Dame auf der Seite stand und mir den Rücken zukehrte. Er drehete sich um – und es war der Legationsrath. – »Mein Sohn!« rief er – »Mein bester Sohn! komm an meine Brust!« – Er schloß mich zärtlich in seine Arme. Ich weinte laut. – »Moriz,« rief eine weibliche Stimme von der andern Seite: »Mein guter Sohn!« – Die Dame umschloß mich, hob mich auf und drückte mich an ihre Brust. Papa Ernst gab sich alle Mühe, zu lachen, aber er konnte vor Thränen nicht dazu kommen. »Ich bin dein Papa gewesen,« sagte er: »hier (auf den Legationsrath zeigend) das ist dein Papa, und hier (er winkte auf die Dame) das ist deine Mama!« – »Und ihr hast du es zu danken,« sagte mein Vater, »daß du drey Tage früher aus deinem Gefängniß bist erlös't worden!« – Ich wollte ihr die Hand küssen, aber sie zog mich sanft zu sich und drückte mich an ihr Herz. »Moriz,« sagte Papa Ernst, und hob die rechte Hand auf, »einem solchen Vater und einer solchen Mutter hast du entlaufen wollen!«

Ich war ausser mir vor Angst und Freude. Die Umstehenden lächelten gerührt.

Erhole dich, Kind, sagte meine Mutter, und führte mich zu einer Seitenthür: wir wollen ein wenig abtreten, du sollst mir erzählen, wie es dir auf deiner Reise ergangen ist.

Sie öfnete die Thür.

»Da ist er, da ist er!« rief ein Mädchen und hüpfte mir entgegen. Ich sah sie an, und siehe da, Fräulein Louise! »Du reisender Handwerkspursche!« rief sie und riß mich in die Mitte des Zimmers. Ihre Eltern kamen herzu und umarmten mich. Der Oberste besonders drückte mich an seine Brust mit einer Kraft, daß mir der Rest von Athem hätte ausbleiben mögen, den ich bey allen den frohen und unerwarteten Erscheinungen noch übrig behalten hatte. Malchen stand von ferne am Fenster und malte auf den Scheiben. »Nun, Malchen,« rief ihr Vater, »willst du nicht näher?« – Sie kam ganz langsam herbey, und als ich sie bey der Hand nahm, sah sie nach Osten und ich nach Westen. »Freut ihr euch nicht?« sagte der alte Lehmniz. Ich weinte mit Malchen in die Wette.

»Ach, habt euch nicht so närrisch, Kinder!« sagte der Oberste: »Pfui, Springinsfeld, wer wollte weinen! Das schickt sich nicht für einen Kerl, wie du bist!« Mit den Worten schob er uns in den großen Saal zurück. Mein Vater kam mir entgegen und sagte: du hast nun alle alte Bekannte gesehen, nun muß ich dir noch zwey vorstellen. Er führte mich in die Küche, und Martha trat mir entgegen. Sie konnte vor Schluchsen kaum reden, umarmte und küßte mich und stotterte die Versicherung dabey, dies sey der erste und letzte Kuß, den sie nach Absterben ihres ewiggeliebten letzten Bräutigams einer Mannsperson gegeben habe.

Unterdessen öfnete mein Vater eine Seitenthür und heraussprang – Phylax. Ich riß mich von Marthen los und ihm entgegen. Er that ganz spröde, ging um mich herum, beschnupperte mich, und schien mich in meinem neuen Anzuge nicht zu kennen. Als ich ihn aber anredete, tanzte und hüpfte er, was er konnte, und trieb seine Höflichkeit so weit, daß er nach meinem Haarbeutel sprang und ihn um ein Haar zwischen seine großen Zähne genommen hätte.

Mein Vater verließ uns, vermuthlich, damit ich mich ein wenig erholen sollte, und weil es sich für Marthen am besten schickte, mir über das, was vorging, Auskunft zu geben. In weniger als fünf Minuten erfuhr ich nun: daß mein Vater und Mutter heute öffentlich Hochzeit machten, nachdem mein Großvater, der sich bis daher ihrer Verbindung widersetzt, gestorben sey, und meine Mutter als Meisterin ihres Willens zurückgelassen habe. Papa Ernst sey nur mein Pflegepapa gewesen, und sie (wie sie mir deutlich zu verstehen gab) meine Pflegemama. Der gnädige Herr (Malchens Papa) sey mit der ganzen Familie (Fink und den jungen Herrn ausgenommen, die den Tag vor der Abreise plötzlich krank geworden) und mit Papa und ihr in zwey Reisewagen abgeholt worden. Man sey mir schon am zweyten Tage meiner Flucht auf der Spur gewesen, habe mich aber nicht finden können, bis endlich der Gastwirth vor der Stadt meinem Vater die Nachricht gebracht hätte, daß ich mich in seinem Hause befände. Weil ich ihm und dem Bedienten aber unter den Händen entwischt sey, wäre man meinetwegen von neuem in Sorge gewesen, bis endlich mein Reisegefährte selbst gekommen wäre und meinen Aufenthalt angezeigt habe. Zur Strafe für meinen Leichtsinn, habe man mich so erschreckt, und so lange eingesperrt, u. s. w. Mein alter Wirth sey ein verrückter Kandidat der Theologie, der unter dem Namen Magister Stapps in D** bekannt sey. Mein Vater habe ihn neu gekleidet und ihm Geld gegeben, mit der Sicherung einer jährlichen Pension von funfzig Thalern. Den Bedienten, meinen Reisegefährten, habe er in seine Dienste genommen, und Phylax sey diesem aus dem Gasthofe hieher gefolgt.

Jetzt kam mein Vater und führte mich in den großen Saal zurück. Wie glücklich ich mich fühlte! Aber es dauerte lange, ehe ich mich völlig überzeugen konnte, daß diese ganze Begebenheit kein Traum sey.

Moriz.
Drittes Buch.

Erstes Kapitel.
Moriz wird Page.

Ich hatte nicht lange das Glück, unter den Augen meiner Eltern erzogen zu werden. Mein Vater ging nach vier Jahren als Gesandter nach Frankreich und nahm meine Mutter mit. Mich ließen sie zurück.

Acht Tage vor ihrer Abreise kündigten sie mir an, wozu sie mich bestimmt hätten. »Du sollst ein paar Jahre Page bleiben,« sagte mein Vater, »und sodann Soldat werden. Jenes ist deiner Gemüthsart nicht ganz angemessen, das weiß ich, aber ich wünschte, deinen Hitzkopf eben dadurch zu bändigen. Nur bitte ich dich, lieber Sohn (bey diesen Worten umarmte er mich zärtlich) vertausche dein Feuer nicht mit Sklavensinn. Du wirst bald sehen, was ich damit sagen will, und dein eignes Gefühl, hoffe ich, soll dich davor bewahren. Mache mir die große Freude, dich als Mann wieder zu finden, wenn ich zurück komme!«

Was hätte ich nicht alles versprochen, an dem klopfenden Herzen eines Vaters und unter den zärtlichen Liebkosungen einer Mutter! Sie reiseten ab und ich sah der Kutsche mit herzlicher Wehmuth nach. Man gab mir Pagen-Uniform, und ich zog sie an, aber mit dem festen Entschluß, mein Feuer nicht mit Sklavensinn zu vertauschen. Ich hatte jetzt freylich noch keine deutliche Vorstellung von dem Verstande dieses Wortes; aber mein Vater hatte mir ja versichert, mein eigenes Gefühl würde es mir sagen, und diesen Zeitpunkt erwartete ich mit Verlangen.

Zweytes Kapitel.
Sklavensinn.

Ich kam unter eine Gesellschaft von jungen Leuten, funfzehn an der Zahl. Wenn der Instruktor nicht zugegen war, sprangen sie auf Tische und Bänke. Jeder hatte, so lange die Lektion dauerte, seinen kleinen Plan zu irgend einem Schelmstück ausgebrütet, und so bald sie den Nacken frey hatten, ging es Kopf oben Kopf unten. Aus allen ihren Mienen und Gebährden sprach Verachtung unserer Aufseher, und doch zitterten sie, wenn einer von ihnen erschien, und Die vorher die meiste Geringschätzigkeit geäußert hatten, waren dann die geschmeidigsten und höflichsten.

Dies Betragen gefiel mir nicht. Ich machte manchen kleinen Schwärmer mit, fühlte aber nicht, daß ich meine Vorgesetzten, aus Furcht entdeckt und bestraft zu werden, verachtete. Dies hatte aber für mich die Folge, daß ich fast immer der letzte war, der sich zurückzog, wenn wir einen unbesonnenen Streich gemacht hatten, und daß man sich in solchen Fällen jedesmal an mich hielt und mich für das Volk büßen ließ.

»Auf meine Ehre!« sagten dann immer die Knaben, wenn ich die Strafe hätte leiden müssen: »Auf meine Ehre, ich erschösse den Kerl, wenn er es mir so machte!«

Für diesen Vorschlag hatte ich gar keinen Sinn, und ich begriff nicht, wie ich gegen einen Mann Tücke nähren könnte, der mich mit Fug und Recht bestraft hatte.

Es war natürlich, daß ich bey dieser Gesinnung der ganzen Gesellschaft junger, heimlicher Teufel, furchtbar werden mußte. Wenn mich einer beleidigte, so brannte im Nu die Strafe auf seinem Backen, statt daß die übrigen die Beleidigung in sich verschlossen und auf heimliche Rache dachten. Denn wenn sie sich auf der Stelle rächten, so mußten sie befürchten, daß der Geschlagene unsern Aufsehern seine Klagen vorbrächte; und dann hätten sie das große Unglück gehabt, Vorwürfe oder Strafe leiden müssen, oder wohl gar als unruhige Köpfe öffentlich entdeckt zu werden, da sie es doch heimlich seyn wollten. Lieber unterdrückten sie ihren Verdruß und bezahlten dem Beleidiger bey einer andern Gelegenheit durch die dritte Hand mit zehnfachem Wucher, und hätten Wochen und Monate darüber hingehen sollen.

Von dem allen that ich gerade das Gegentheil, aber dies hatte für mich den Schaden, daß ich bey unsern Vorgesetzten in den Ruf des unbändigsten, starrsinnigsten und streitsüchtigsten aller Pagen kam.

Diese Leute waren wenig besser, als ihre Untergebenen. Sie schienen gar nicht zu wissen, daß es Charaktere giebt, oder geben müsse, die offen und geradezu handeln; mithin hielten sie das an mir für störrische Bosheit, was helle, unversteckte Gutherzigkeit war.

Hatte einer von meinen Mitpagen einen boshaften Streich gemacht, der die schärfste Züchtigung verdiente, so hingen die übrigen an einander wie Kletten, wenn es zur Untersuchung kam. Fragte man mich aber, und ich wußte es, so gestand ich die Wahrheit, wurde aber auch der Martyrer derselben. Denn der, der von mir angegeben wurde, war unschuldig, wie die Sonne; aber ich war der Thäter, ich hatte ihn aus Bosheit angegeben, um die verdiente Strafe von mir auf ihn zu wälzen.

An meinen Lehrern lag es also nicht, wenn ich in kurzer Zeit nicht eben so verdorben ward, als die übrigen. Sie bothen mir, wie man sieht, hülfreiche Hände zu dieser Metamorphose.

Mein Vater hatte gesagt, ich würde fühlen, was er unter dem Worte Sklavensinn verstanden hätte. Jetzt glaubte ich ihm auf der Fährte zu seyn, und dies hielt mich ab, die Gesinnung meiner Mitpagen anzunehmen.

Die tiefen Verbeugungen, die sie zu machen pflegten, gefielen mir eben so wenig. Der Tanzmeister hatte seine Noth mit mir. Er predigte und predigte, und reckte und dehnte mich, aber meine Verbeugungen hielten das Mittel, und er war in Verzweiflung, daß er keinen Anstand hineinbringen konnte. Einmal äusserte er die Vermuthung, mein Rücken müsse wohl von Eisen seyn. Sogleich setzte ich einen Stuhl mitten in den Saal, legte mich rücklings über denselben hin, und nahm in dieser Stellung ein Stück Geld mit dem Munde von der Erde auf. Als dies geschehen war, setzte ich den Stuhl stillschweigend weg und sah den bestürzten Tanzmeister an. Er zuckte die Achseln und sagte zu einem unsrer Aufseher: er hat unerhörte Geschmeidigkeit, aber will mir nicht den Gefallen thun, und sie zum Guten anwenden. Dies zog mir von neuem Vorwürfe und Drohungen zu; aber ich achtete sie nicht, weil ich meinem Vater die Freude machen wollte, mich als Mann wieder zu finden. Ich glaubte ihn nun völlig verstanden zu haben.

Drittes Kapitel.
Moriz wird über die Achsel angesehen.

Als ich ungefähr ein halbes Jahr Page war, wurde eine neue Hofdame vorgestellt. Ich sah sie im Vorzimmer und sie würdigte mich einiger Blicke, die eine mir ganz fremde Wirkung auf mich thaten, und deren Wesen ich mir nicht erklären konnte. Sie starrte einigemal auf mich her, daß meine Blicke unwillkührlich zu Boden sanken. Ich fühlte eine Art von beklemmendem Zittern, und zugleich stieg es mir warm vom Herzen bis zur Scheitel herauf, und meine Haare krisselten auf derselben gerade so, als wenn man zu Winterszeiten den bloßen Kopf der Luft aussetzt.

Diese Empfindung war mir unerträglich. Ich wandte der Frau den Rücken zu und fühlte Verachtung gegen sie, ohne mir einen Grund davon angeben zu können.

So oft ich mich umsah, begegneten mir ihre Blicke und ich hatte jedesmal dieselbe Empfindung. Zwey andre Damen bemerkten die Aufmerksamkeit, womit sie mich ansah, und sagten ihr lachend etwas ins Ohr. »O,« erwiederte sie ganz laut: »mir fällt nur seine blutrothe, bäurische Farbe auf und seine ausgestopfte Figur! Wie lange ist er Page?«

Hu! wie mir das ans Herz schoß! Es konnte niemand gelten, als mir, denn ich war gerade der einzige Page im Vorzimmer. Aber hier konnte meine Wuth nicht ausbrechen. Nie erinnere ich mich, in so einem fürchterlichen und so völlig unerträglichen Zustande gewesen zu seyn.

Verachtung war mir von jeher die tödtlichste Beleidigung gewesen, und jetzt ward ich von einer Frau verachtet, die ich verachtete, die ich nie beleidigt hatte. Dabey sah ich keinen Weg vor mir, mich an ihr zu rächen, und mußte den Trost entbehren, der den andern Pagen bey einer solchen Gelegenheit nicht entgangen wäre. Diese hätten sich in Geduld gefaßt und ihren Verdruß mit süßen Aussichten auf eine schleichende, stille Rache niedergedrückt. Es fehlte wenig, so hätte ich ihnen diese Gemüthsart beneidet.

Man wollte die Dame gern ehren, und gab ihr einen Pagen zum Dienst. Wie froh war ich, daß es mich nicht traf!

Viertes Kapitel.
Das Zucken in den Muskeln des rechten Armes.

Aber man denke sich meinen Unmuth, als mir der Hausmarschall den folgenden Tag ankündigte: ich sey zum Dienste der neuen Hofdame bestimmt, und müsse sogleich den Pagen Neuberg ablösen. Ich wäre lieber durch Feuer gelaufen, aber hier galt keine Widerrede. »Seyn Sie hübsch gelehrig!« sagte der Marschall zu mir, als er sich entfernte.

Ich verstand nicht, was er damit sagen wollte und ging murrend auf meinen Posten. Der Page Neuberg kam mir entgegen und schien etwas gegen mich auf dem Herzen zu haben.

»Sie dreymal glücklicher Mensch!« hub er endlich mit sichtbarer Bosheit an: »Gräfin Waller hat Sie ausdrücklich verlangt!«

Ich sah ihn ernsthaft an und sogleich sprang er auf einen andern Ton über.

»Ich habe den Korb, lieber Lemberg!« fuhr er fort: »Sie haben mich ausgestochen. Sie sagte zum Marschall: schicken Sie mir doch den Pagen mit den runden – ja, ich glaube, sie sagte mit den – runden Backen und dabey beschrieb sie ihm Ihre Person sehr genau – ha, hum! – der Marschall hatte Einwendungen und meynte – – Aber ich konnte nicht recht hören, was er sagte. »O,« erwiederte sie, »das hab' ich bemerkt. Er ist noch sehr – hier entfiel mir wieder das Wort, daß sie brauchte – aber eben darum will ich mir ein eigenes Verdienst daraus machen – ihn – ab – ja, ja! ihn abzuhobeln! Seine Mutter ist meine Freundin.«

Als er das Wort abhobeln aussprach, that er einen Satz, der ihn drey Schritte von mir entfernte. Es war der boshafteste, aber furchtsamste Gauch unter allen Pagen. Nun verstand ich, was der Marschall hatte sagen wollen, fühlte aber nicht, daß sich Empfindungen der Dankbarkeit gegen meine großmüthige Lehrerin in meinem Herzen regten.

»Ist der Page da?« rief die Gräfin zur Thür heraus, und ich trat mit einem kurzen: Was befehlen Sie? ins Zimmer.

»Ach, der kleine Runde!«

Das Wort rund war mir unbeschreiblich verhaßt geworden, von dem Augenblicke an, wo es Neuberg mit einem bedeutenden Accent von meinen Backen brauchte.

»Sind Sie nicht ein Lemberg?«

Zu Befehl, gnädige Gräfin!

»Lange keine Briefe aus Frankreich?«

Vorgestern!

»O, Ihre Mama ist meine Herzensfreundin! Wie gefällt es ihr, wie lebt sie in Paris?«

Davon hat mein Vater nichts geschrieben!

In dem Moment sprang sie auf mich zu, nahm mich bey der Hand, zog mich rasch und ängstlich ans Fenster und rief: Lemberg, Sie sind ein Schläger, das werde ich Ihrer Mama schreiben!

Ich sah sie mit großen Augen an.

»Hier! (sie fuhr mit zwey Fingern sanft über meinen linken Backen) hier ist eine große Narbe! Mit wem haben Sie sich geschlagen?«

Narbe? Geschlagen?

»Ja, ja! Nur näher, junger Herr!«

Sie zog mich näher ans Fenster, blinzelte, strich mir noch einmal mit den zwey Fingern über den Backen, brach in ein erzwungenes Lachen aus und sagte am Ende: sie hätte einen Schatten auf meinem Backen für eine Narbe angesehen, und mich für einen Schläger – beydes sey nicht wahr.

Wenn man sich erinnern will, was ihre Anmerkung im Vorzimmer von meinen blutrothen, bäurischen Backen damals für eine Wirkung auf mich that, und wie sehr mein Verdruß durch Neubergs Aeusserung von runden Backen vermehrt worden war; so wird man schließen können, mit was für einer Mine ich diese neue Bemerkung über meine Backen aufnahm. Ich hielt das alles für klaren, bittern Spott und mehr als einmal fühlte ich ein Zucken in den Muskeln des rechten Armes, das meine Hand unwillkührlich zu ballen pflegte, wenn ich meinen Beleidiger ansah. Sobald meine Mitpagen dieses Zucken bemerkten, hüteten sie sich wohl, mir zu nahe zu kommen, denn es folgte gewöhnlich ein kräftiger Faustschlag darauf.

Die Gräfin wußte dies nicht, und ein Glück für sie, daß in eben dem Augenblicke, wo ich die Fassung verlor, der Hausmarschall ins Zimmer trat.

Fünftes Kapitel.
Ich will ihr Kammermädgen rufen!

Ich entfernte mich und kaum war die Thür hinter mir zu, so hörte ich ein starkes Gelächter. Dies konnte vielleicht gar keinen Bezug auf mich haben, aber ich glaubte mit Händen zu greifen, daß es mir gölte. Es fuhr mir kalt durch alle Adern, das Athmen ward mir unendlich schwer, und meine Brust war wie mit starken Ketten zusammengeschnürt.

Nach einer halben Stunde entfernte sich der Marschall, und die Gräfin ließ mich rufen. Ich trat herein und fand sie nachläßig auf eine Ottomanne hingegossen. Ihre damalige Figur und Stellung werde ich nie vergessen, und ich glaube, daß mir der Anblick des Todesengels in den letzten Sekunden meines Lebens nicht widriger seyn wird.

Man denke sich eine Frau von vierzig bis fünf und vierzig Jahren, von Thee, Punsch, Wein, Schocolate, von Liebe und Neid und langer Weile zusammen gedörrt; mit einer kurzen Taille und einem schmalen Körper, der in einen Reifrock eingerammelt schien; mit dünnen Armen und knöchernen Händen, die sich wie ausgesprützte Skelette ausnahmen; über Gesicht und Arme eine dünne, gelbliche Haut gezogen, unter welcher sich hier und da, matte, schlaffe Adern hervor drängten; und dazu endlich ein Gesicht, so spitzig, so eingefallen, daß man den leibhaften Tod vor sich zu sehen glaubte. Das einzige, was noch einige Funken Leben verrieth, war ihr Auge. Ein Feuer brannte darin, das ihre ganze Lebenskraft aufzusaugen und in ein paar kleine graue Sterne zusammen zu drängen schien.

Diese Figur lag auf der Ottomanne, als ich herein trat. Ich erschrack und stand wie verstürzt, als sie einen von jenen Blicken, die mir damals im Vorzimmer ein Grausen durch alle Glieder gejagt hatten, starr auf mich heftete.

Befehlen die gnädige Gräfin etwas? stotterte ich und sah auf den Boden.

»Muß man denn immer befehlen? Kommen Sie näher, Lemberg, erzählen Sie mir etwas von Ihrer Mutter.«

Ich weiß nichts!

»Nun, so erzählen Sie 'was anders. Setzen Sie sich hieher! Ihr jungen Herren habt doch sonst immer den Kopf voller Schwänke. Wie viel Mädchen haben Sie in Ihrer Schreibtafel? (sie nahm mich beym Rockschooße) Ich will sie sehen!«

Ich führe keine Schreibtafel!

»Ihre kurzen Antworten sind unausstehlich, Lemberg, ich will längere!«

Befehlen Sie sonst etwas, gnädige –

»Nichts, nichts befehle ich! Sie sollen mir 'was erzählen. Ich habe Langeweile!«

So will ich ihr Kammermädchen rufen –

Mit diesen Worten drehete ich mich schnell um und sprang zum Zimmer hinaus. Sie rief, aber ich hörte nicht, sondern sandte ihr das Kammermädchen. Es ward mir unendlich wohl ums Herz, als ich sie im Rücken hatte, aber was half die unbedeutende Frist? Wenn es ihr einfiel, mußte ich doch wiederkommen.

Sechstes Kapitel.
Drey sonderbare Maulschellen.

Es war natürlich, daß mir mein Verdruß über diese unerträgliche Lage hundert Plane vorlegte, wie ich mich aus derselben ziehen sollte. Wäre ich dem ersten Ausbruche meines wilden Zorns gefolgt, so hätte ich die Gräfin erschossen und mich mit; oder ich hätte meinem rechten Arm den Willen gelassen, der armen Frau den Kopf eingeschlagen und mich auf flüchtigen Fuß gesetzt; oder ich hätte öffentlich erklärt, daß ich nicht länger Page bleiben wollte, wenn man mir nicht einen andern Posten gäbe.

Aber alle diese Wege hatten ihre Unbequemlichkeiten, und ich sah keinen andern vor mir, als mich eine Weile krank zu stellen, um dadurch zu bewirken, daß man der Gräfin einen andern Pagen gäbe. Aber das Betteliegen war mir lästig. Lange Weile und besonders Schaam vor mir selbst, machten mich nach drey Tagen wieder gesund. Die Gräfin hatte zwar einen andern Pagen bekommen, aber so bald es hieß, ich sey wieder hergestellt, forderte sie mich zurück. Ich ging im bittersten Unmuth zu ihr und fühlte, daß mein Abscheu die letzten drey Tage nicht abgenommen hatte.

Es war des Morgens gegen eilf Uhr, als sie mich rufen ließ. Sie lag fast in eben der Stellung auf der Ottomanne, als vor drey Tagen, und dies that eben die widrige Wirkung auf mich wie damals. Ihr platter Busen zeigte sich in seinem ganzen Lichte, und auf ihren Backenbeinen lag ein heller Karmin, der gegen ihre natürliche Farbe einen häßlichen Absatz machte.

»Sie können nicht sehr krank gewesen seyn,« hub sie an: »oder Sie haben einen guten Arzt gehabt.«

Beydes!

»Was wars denn eigentlich? Hatten Sie Kopfschmerz, Beklemmung, Unverdaulichkeit?«

Nichts von allem!

»Oder Herzbeklemmung?«

Nein!

»Hatten Sie sich nicht in Acht genommen? Viel Wein oder Punsch getrunken?«

Meines Wissens nicht!

Meine kurzen Antworten schienen sie aus aller Fassung zu bringen. Um sich dafür zu rächen, schob sie mit einer ganz gleichgültigen Bewegung und wie von ungefähr den Busenflor noch um zwey Finger breit zurück. Das machte mir wirklich Todesangst.

»Sie scheinen mir immer so mürrisch, Lemberg. Oder ist es Melancholie, Unzufriedenheit mit Ihrer Lage?«

Das letztre!

»O, sagen Sie mir, entdecken Sie sich mir! Was ich thun kann – Ich bin es Ihrer Mutter schuldig, daß ich mich Ihrer annehme. Stehen Sie nicht so mißtrauisch von der Seite, kommen Sie her, setzen Sie sich, entdecken Sie sich mir, ich verspreche Ihnen meinen ganzen Einfluß.« –

Ich nahm ihr Anerbieten nicht an, und blieb verstockt stehen. Wenn ich minder wider sie eingenommen gewesen wäre, so hätte ich wohl sehen können, daß ihr Betragen nicht Spott war; aber sie hatte es sich selbst zuzuschreiben, daß mir ihre geringschätzige Aeusserung im Vorzimmer so gegenwärtig blieb. Genug, ihr ganzes Benehmen däuchte mir boshafter Spott, und in meinem Herzen kochte eine Wuth, die ich nicht länger zurückhalten konnte. Ich zitterte an allen Gliedern, und in meinem Gesichte brannte ein Feuer, das mir die Adern zu sprengen drohte.

Sie erklärte dieses Phänomen zu ihrem Vortheil, und jetzt sehe ich wohl, daß sie sich schwerlich so viel an ihrem Busen zu schaffen gemacht haben würde, wenn sie mir hätte ins Herz sehen können.

Plötzlich sprang sie mit einem Angstgeschrey auf und rief: eine Spinne, eine Spinne, Lemberg, ums Himmelswillen, hier! hier! Ich beschwöre Sie –

Ein schöner Anblick!

Ich will ihr Kammermädchen rufen! sagte ich mit Verdruß und Kälte, und wollte aus dem Zimmer, aber sie hielt mich.

»Nicht doch, Lemberg! Es war wohl nur Einbildung! Bleiben Sie! Sehn Sie nichts?«

Ein halber Blick auf die schreckliche Aussicht setzte mich in unbeschreibliche Verwirrung. Ich sah nicht hin, versicherte aber doch, es kröche keine Spinne an ihrem Halse.

»Aber hier – hier kribbelts doch!«

Ich sehe nichts!

»Das ist kein Wunder, Sie sehen auf die Dielen. Gefühlloser Mensch, wie können Sie beym Schreck einer Dame so gleichgültig seyn? Kommen Sie her und bitten mirs ab, oder ich kneipe Sie in Ihre kleinen, runden Backen.«

Kaum hatte sie Backen ausgesagt, so stürzte meine ganze kochende, so lange zurückgehaltene Wuth, in meinen rechten Arm, und der that seine Pflicht. Ich gab ihr eine Maulschelle, daß sie mit offenem Munde vor mir stand, und stumm und starr wie ein Pagode nickte. Aber sie hatte Geistesgegenwart – sie gab mir zwey Schellen so rasch und hitzig zurück, daß ich die erste noch nicht fühlte, als mir die zweyte schon auf dem Backen brannte.

Da standen wir und stutzten uns an, wie zwey Hähne, die einander gewachsen sind.

Siebentes Kapitel.
Weltklugheit und Menschenkenntniß.

So standen wir gegen einander über fünf Minuten. Alle ihre Glieder zitterten vor Bosheit und ihr Mund lachte.

»Wir sind quitt,« sagte sie endlich: »und ich bin noch mit Einer Schelle im Vortheil. Aber dafür bin ich auch nur ein armes schwaches Weib und Sie – ein Halbgott!«

Auf einmal war nun mein Erstaunen so groß, als vorhin meine Wuth. Ich hatte vermuthet, daß sie Himmel und Hölle bewegen, die Beleidigung anzeigen und nicht eher ruhen würde, bis sie mir ewiges Gefängniß ausgewirkt hätte. Ueberraschend und unerklärbar war mir also ihr Benehmen.

»Wenn Sie zu dem ersten Schritte Mann genug waren« fuhr sie fort: »so sind Sie's auch zum zweyten – Kein Mensch darf erfahren, was unter uns vorgefallen ist! Versprechen Sie mir das?«

Ich stand von der Seite und hatte kurzen Athem. Sie nahm mit Ungeduld meine Rechte und drückte sie mit beyden Händen.

»Versprechen Sie mir das?«

Ich machte immer noch dieselbe Pantomime. Sie schüttelte mich.

»Ob Sie mir das versprechen, Lemberg?«

Ich sah an die Decke. Meine Hitze war merklich verflogen.

Sie schlug beyde Hände vor die Brust, als wenn sie außer Athem wäre, und sank wie ohnmächtig auf den nächsten Stuhl. Ich machte Miene, aus dem Zimmer zu gehen – plötzlich waren alle ihre Kräfte wieder da, und sie hielt mich mit einer Stärke, die ich einer Frau von ihrer Schwächlichkeit nicht zugetrauet hätte.

»Lemberg,« rief sie mit schwacher Stimme, die ihr aber große Anstrengung kostete: »Lemberg, seyn Sie nur halb so großmüthig als ich!«

Dies Wort hielt mich und schlug mich beynahe zu Boden. Nur halb so großmüthig, als dies – Weib?

»Was wollen Sie von mir, gnädige Frau?«

Diese Frage heiterte alle ihre Mienen und Blicke auf, und sie schien alles Verdrusses, aller Unruhe zu vergessen.

Freylich muß mein Blick, nach den Bewegungen zu schließen, die ich bey den Worten, »nur halb so großmüthig« empfand, von jenem ganz verschieden gewesen seyn, mit welchem ich die rechte Hand wider sie aufhob. So weit ich mich kenne, mußte sie tiefe Beschämung und Demüthigung in demselben bemerkt haben.

Sie konnte auch von nun an mit mir machen, was sie wollte. Sie zog mich zu sich auf die Ottomane und ich blieb gelassen sitzen; sie drückte mir die Hand und ich ließ es geschehen, ohne sie wegzuziehen. Als sie mich so weit hatte, glaubte sie mich auch nach der Ursache meines wüthenden Betragens fragen zu können. Ich gestand, daß sie mich zuerst im Vorzimmer beleidigt habe; erzählte, was ich von dem Pagen Neuberg hatte hören müssen und beschrieb ihr Zug vor Zug alle die Grade, die mein innerer Verdruß durchstiegen war, um endlich zum Ausbruche zu stürzen – und das alles mit einer feurigen Beredtsamkeit.

Sie schien wie aus einem Traume zu erwachen, und im Nu sprang sie auf, führte mich zur Thür, stieß mich ziemlich unsanft hinaus und sagte: »Merken Sie sichs, Lemberg, ich habe nur Eine Maulschelle – SieZwey!« – Knall flog die Thür hinter mir zu.

Ich verstand, was sie damit sagen wollte, und mein Blut ward von neuem rührig. Aber die Thür war hinter mir abgeschlossen.

Achtes Kapitel.
Malchen und – Gräfin Waller.

Gewiß ist es, daß sie mich nun durch und durch kannte. Bey minderem Scharfsinn hätte sie mich höflichst zur Thüre geführt, und mich vielleicht mit Thränen gebeten, niemand zu sagen, was unter uns vorgefallen sey; aber sie stieß mich zur Thür hinaus und erreichte eben diesen Zweck.

Man hätte mich mit Pferden zerreißen können, und das Geheimniß wäre nicht über meine Zunge gekommen.

Ich konnte in der Nacht, die auf diesen Tag folgte, nicht schlafen. Zwey Bilder beschäftigten meine Phantasie, die man sich nicht ungleichartiger denken kann – Malchen und Gräfin Waller!

Es war mir unerklärbar, wie mir in der jetzigen Stimmung meines Geistes und Herzens Malchen so auf einmal vor Augen treten konnte. Ich hatte sie in drey Jahren nicht gesehen; das Andenken an sie, machte mir, außer einigen schnell vorübergehenden frohen Empfindungen, nicht die mindeste Unruhe, und ihr Bild schien von Zeit zu Zeit völlig aus meinem Gedächtnisse verschwunden zu seyn. Aber diese Nacht kam es zurück, mit hellen, kräftigen Farben ausgemalt, in einem Glanze, der mein geistiges Auge blendete. Ich umarmte dies süße Kind meiner Phantasie, drückte es, in Entzücken verlohren, an mein klopfendes Herz, und wenn ich dann recht zusahe, so hielt ich – die Gräfin Waller in meine Arme geschlossen.

Meine eigne, und meiner Leser Delikatesse, erlaubt es mir nicht, einer Erscheinung deutlicher zu erwähnen, die mich diese Nacht überraschte. Alles, was ich davon sagen kann, ist, daß sie viel Aehnliches mit der Scene im Gebüsche hatte, wo uns Malchens Mama überraschte, und daß sie, wie ich jetzt wohl einsehe, der Schlüssel zu den Phantasieen ist, die mich diese Nacht beschäftigten.

Einem Beobachter, der mit festem Tritt und unverrücktem Blicke der Natur folgt, der den zarten Verkettungen, dem fast unsichtbaren Gewebe, den allerfeinsten Fäden, die nur eine allmächtige Hand zwischen Geist und Fleisch ziehen konnte, nachzuspüren Beruf und Geduld hat, dem wird diese Erscheinung, und ihre Ursach kein Räthsel seyn, und der wird mich verstanden haben.

Ich überließ mich dem Entzücken, Malchen in so verklärter Gestalt wieder zu sehen, obgleich sie mir noch lieber gewesen wäre, wenn die verhaßte Waller nicht neben ihr gestanden hätte. Ich wußte nicht, daß der Wunsch, das Bild dieser Frau vor meinen Blicken zu entfernen, nicht erfüllt werden konnte, ohne daß ich zugleich sie aus dem Gesichte verlöre. So fest hatte die Zauberin Natur diese Antipoden zusammengekettet!

Als ich erwachte, war mein erster Gedanke – Malchen. Wenn ich ein Buch aufschlug, war der Anfangsbuchstabe jedes Wortes ein M. Jedes Mädchen, das mir begegnete, hatte Aehnlichkeit mit ihr. Einigemal glaubte ich sie von ferne zu sehen, flog ihr entgegen, war getäuscht. Wenn ich hätte nachdenken wollen, so würde mir eingefallen seyn, daß sie sich schwerlich in einem Anzuge würde sehen lassen, den sie vor vier Jahren trug, als ich sie nach meiner Wanderung bey meinen Eltern wiedersah. Wirklich lief ich jeder Mädchengestalt nach, die so gekleidet war, als Malchen damals, und konnte mich dann wundern, daß es nicht Malchen war, da sie doch dieselbe Farbe trug.

Neuntes Kapitel.
Liebe, und einige ihrer Wirkungen.

Mein Dienst bey der Gräfin däuchte mir nicht mehr so lästig, als vorher. Ich muß gestehen, daß ich sogar mit einer Art von Ungeduld den Augenblick erwartete, wo sie mich würde rufen lassen. Ich fühlte ein unwiderstehliches Sehnen, und immer war es mir, als wenn ich durch sie Nachrichten von Malchen erhalten würde. Sonderbar! – Sie rief mich endlich.

Verdruß und Unwillen lagen sichtbar auf ihrer Stirne. Ich machte ihr eine Verbeugung die ich schwerlich noch vor jemand so tief gemacht hatte. Sie gab mir mit weggewandtem Gesicht und in einem herrischen Ton einige Aufträge, und setzte kein Wort mehr hinzu, als sie sagen mußte, um mir ihren Willen zu erklären. Die Reihe war nun an ihr, böse zu seyn, bis jetzt hatte ich dies Vorrecht gehabt.

Dieses Betragen hatte genau die Wirkung, die sie dadurch erreichen wollte. Ich entledigte mich ihrer Aufträge mit großem Eifer, und war dabey so dienstfertig, so gefällig, daß ich ihr heute ein ganz andrer Mensch scheinen mußte. Sie sah mich einigemal mit forschendem Blick an und schien meine Veränderung mit innerlicher Selbstzufriedenheit zu bemerken. Aus einigen ihrer Mienen zu schließen, mußte sie es als eine unausbleibliche Folge ihrer Maßregeln ansehen.

Als ich zurückkam, um ihr zu melden, daß ich ihre Aufträge genau besorgt habe, sagte sie: Ihre Dienstfertigkeit verdient meinen Dank, und ich weiß, daß ich Ihnen keinen größern geben kann, als wenn ich Ihnen hiermit erkläre, daß ich den Marschall um einen andern Pagen gebeten habe.

Ich sah sie an und ging stillschweigend zur Thür hinaus. Wie lächerlich! Ich hätte es nun lieber gesehen, wenn ich ihr Page hätte bleiben können.

Der jetzige Zustand meines Herzens schien keiner feindseligen Empfindung Raum zu lassen. In gewissen Augenblicken schämte ich mich sogar recht herzlich, die Gräfin so bäurisch behandelt zu haben, und einigemal war ich wirklich im Begrif zu ihr zu gehen, und sie um Verzeihung zu bitten. Je öfter ich mir Malchens Bild vor mein geistiges Auge zurückholte, desto gefälliger war das Licht, in welchem ich die Gräfin erblickte. Immer noch konnte ich an keine von beyden denken, ohne zugleich die andre vor mir zu sehen. Es schien, als ob die himmlische Glorie, in welcher ich Malchen die vorige Nacht erblickte, auch der Gräfin einen Glanz mitgetheilt hätte, der mir Auge und Herz für sie aufschloß.

Endlich verschwand auch jeder Schatten von der Beleidigung, die ich so kräftig erwiedert hatte; ich fing an, ihre Großmuth zu bewundern, und zu bedauren, daß mir keine Gelegenheit blieb, das Geschehene wieder gut zu machen.

Zehntes Kapitel.
Wahnsinn der Liebe.

»Wenn ich sie nur sehen könnte, nur sehen, nur sehen!« Dies war mein erster und eifrigster Wunsch, wenn ich an Malchen dachte. Alles, was mir auf der Welt das liebste war, hätte ich um die Erfüllung desselben gegeben!

Anfangs blieb es nur beym Wünschen und ich behielt die Hände im Schooße; denn ich hatte die Grille, sie müßte nicht weit seyn, sie müßte mir nächstens einmal begegnen. Acht Tage hielt ich mich mit dieser Einbildung hin; endlich ward ich thätig, beschloß an Papa Ernst zu schreiben und Nachricht von ihr einzuholen. Ich that es und zwar – im Postskript des Briefes, den ich ausdrücklich ihrentwegen schrieb. Ich hängte diese Worte an: Auch möchte ich wohl wissen, wie sich Herr und Frau von Lehmnitz befinden.

Das nenne ich doch eine Erkundigung! Aber es war mir nicht möglich, das Wort Malchen unter vier Augen zu nennen, vielweniger ihren Namen mit allen seinen Buchstaben schwarz auf weiß zu schreiben. Wie glücklich mußte Papa im Rathen seyn, wenn er mir auf meine Frage eine befriedigende Antwort hätte ertheilen sollen! Und doch hoffte ich mit so großer Unruhe auf seinen Brief, als ob er durchaus keinen andern Inhalt, als Nachricht von Malchen haben könnte.

Was für ein Unterschied! Meine ältern Mitpagen sagten öffentlich: ich bin in dieses oder jenes Mädchen zum sterben verliebt; sie heißt so und so; wohnt da und da; heute hab' ich eine Zusammenkunft; aber ich, ich wagt' es nicht, mich nur entfernt nach einem Mädchen zu erkundigen, das mir Ruhe und Verstand geraubt hatte; ich frage nach ihren Eltern und erwarte fest, daß die Antwort auf diese Frage sie betreffen soll und muß.

Deßhalb erstaunte ich auch gar nicht, als Papa's Brief ankam und von Anfang bis zu Ende von – Malchen handelte. Ich erfuhr, daß sie nach L** in Pension gethan sey, und zwar erst vor einigen Tagen; dabey beschrieb mir Papa alles, selbst die Straße, wo die Französin wohnte, die sie in Kost genommen hätte.

Ein Glück für mich, daß in diesen Tagen keine andre merkwürdige Begebenheit in Papa's Gegend vorgefallen war; er würde mir sonst eben so gut diese beschrieben haben, und ich wäre in Verzweiflung gewesen, wenn ich nichts von Malchen in seiner Antwort gefunden hätte.

Uebrigens war Papa immer noch der alte. Er schrieb mir alle Debatten, die vorher zwischen Herrn und Frau von Lehmnitz vorgefallen waren, ehe sie sich entschlossen hätten, Malchen nach L** zu schicken; gab mir einen Auszug des ganzen Briefwechsels zwischen ihnen und der Französin zu L**; wußte, wieviel jährlich für Malchen bezahlt wurde; was sie für Wäsche mitgenommen hatte; in welcher Stunde und in welcher Kutsche sie abgefahren war; wie die Französin hieß und in welcher Straße sie wohnte. Der Geist der Kleinigkeit und Geschäftslosigkeit lebte und webte in diesem Briefe.

Aber wie angenehm war mir diese Umständlichkeit! Ich las den Brief zehn, zwanzigmal mit pochendem Herzen, aber nicht ohne ein Gefühl von Besorgniß, Papa möchte aus dem Postskript geschlossen haben, ich sey in Malchen verliebt. Der scharfsinnige, feine Papa! Wie könnte er sonst einen ganzen Brief mit lauter Nachrichten von Malchen füllen?

Ich verschloß den Brief sorgfältig in meinen Koffer, und kaufte mir ausdrücklich ein Vorlegeschloß, damit mir ihn niemand nehmen und daraus sehen könnte, daß ein gewisses Malchen nach L** in Pension gethan sey.

Nun hatte ich also Nachricht von Malchen, aber gab mir das meine Ruhe wieder? »Sehen, sehen muß ich sie!« rief es nun ungestümer in meinem Herzen, und je größer die Unmöglichkeit vor meinen Augen heranwuchs, desto brennender ward mein Verlangen, sie zu übersteigen. Die Vernunft erlag endlich der Schwärmerey.

L** war freylich volle dreyzehn Meilen entfernt; es fehlte mir freylich an einem Vorwande, der mir auf einige Tage Urlaub verschaffen konnte; auch wußte ich weder Weg noch Steg, noch fühlte ich Muth genug, mich bey der Französin aufzuführen; aber das waren kleine Berge, die meine Einbildungskraft nur den kleinsten Sprung kosteten. Genug, ich wollte sie sehen, das war fest beschlossen, und mit eins! waren alle Hindernisse aus dem Wege.

Ich rannte zu einem Pferdeverleiher, borgte mir ein Pferd, setzte mich auf, und nun ohne Urlaub zum Thor hinaus. Es war Abends gegen fünf Uhr, als mich diese Raserey ergriff, und um Mitternacht hatte ich schon die Hälfte des Weges zurückgelegt. In M** miethete ich mir einen Kerl, der des Weges kundig war, und auch die Straße in L** wußte, in welcher die Französin wohnte. Dreymal stürzte ich, dreymal fiel mein Gaul kraftlos unter mir zu Boden. Ich hatte fünf Beulen vor der Stirn, und mein Gesicht war von Hecken und Gesträuchen zerfleischt. Mein Begleiter bat mich flehentlich, Tagesanbruch zu erwarten, aber ich machte ihm Muth, bald mit Geld, bald mit der Hetzpeitsche. Diese fand ich nicht so wirksam als jenes.

Morgens um sechs Uhr, hatte ich nur noch eine Stunde von L**. Jetzt kam mein Verstand etwas zurück, denn ich hatte doch so viel Ueberlegung, daß Malchen noch nicht aufgestanden seyn würde, wenn ich unter ihrem Fenster hingaloppirte. Ich ließ den Pferden Futter geben, und zählte mit heißer Ungeduld jede Minute, bis es sieben schlug. Kaum ausgebrummt, auf und davon! Mein Begleiter versicherte zwar, die Pferde hätten noch nicht halb abgefressen; aber was kümmerte mich das!

Wir kamen nach L**. »Nur den nächsten Weg nach der H** Straße!« sagte ich zu meinem Gefährten; aber ohne so lange zu warten, bis er mir denselben zeigte. In wenig Minuten sah ich mich an dem entgegengesetzten Thore. Mein Begleiter versicherte, wir müßten umkehren, sonst ritten wir zu dem einen Thore hinein und zu dem andern wieder heraus. Ich fuhr ihn für diese Nachricht an, aber er entschuldigte sich mit dem Kompliment: er habe geglaubt, ich könne nicht wohl hören. Er habe immer gerufen, aber ich sey meines Weges fortgeritten.

Ich mußte also umkehren; aber nun achtete ich besser auf seine Anweisung. »Hier ist die H** Straße!« rief er endlich, und mein Herz pochte hoch auf. Ich gab meinem Pferde die Spornen, und ließ es springen, um die Leute ans Fenster zu locken. Als ich beynah am Ende der Straße war, sah ich ein Frauenzimmer in einem Erker. »Sie ists! Sie ists!« sagte mir mein Herz. Ich war freylich noch volle funfzig Schritte von ihr, aber sie war es leibhaftig! Meine Blicke waren aus der Ferne starr auf sie geheftet, sobald ich ihr aber auf zwanzig Schritte näher war, schlug ich die Augen nieder, gab meinem Pferde die Spornen und sprengte davon.

Nun war also mein heißester Wunsch erfüllt! Nun hatte ich Malchen gesehen!

Ich kann mich des Lächelns nicht erwehren, wenn ich an mein damaliges Benehmen denke. Beynahe den Hals gebrochen, beynah ein Pferd todt gejagt, um Malchen zu sehen, ich glaube sie von weitem im Erker zu erblicken, und als ich näher komme, sehe ich nicht hin! Lächerlich, sehr lächerlich!

Und doch, wer war glücklicher als ich? Was mein körperliches Auge nicht gesehen hatte, ersetzte mein geistiges. Nicht der kleinste Zug war mir an Malchen entgangen. Ich hatte sogar bemerkt, daß sie mir zulächelte, daß sie mir winkte, daß sie über die Sprünge meines Pferdes ängstlich schien – was hatte ich nicht alles – o Wunder, Wunder! – mit zur Erde gesenkten Augen gesehen!

Wenn ich hätte nachdenken können oder wollen, so würde dieser optische Betrug bald in sein Nichts zerflossen seyn. Denn das Bild von Malchen, welches mir meine Phantasie vorführte, war immer noch gerade so gekleidet, als damals, wo ich sie nach meiner Wanderung wiedersah.

Aber ich hatte Malchen gesehen, darauf wäre ich gestorben, und das machte mich zum glücklichsten Sterblichen.

Eilftes Kapitel.
Zwey Verhöre.

Als ich nach D** zurückkam, fand ich alles in Aufruhr. Man hatte geglaubt, ich sey durchgegangen, hatte schon Koncepte zu Briefen an meine Eltern ausgearbeitet und dem Pferdeverleiher sein Pferd bezahlt – auf einmal erschien ich. Mein erster Gang war in den Pagenhof, mein zweyter in Arrest. Man sagte mir, Gräfin Waller habe sich am angelegentlichsten nach mir erkundigt.

Ich hatte das alles vorhergesehen und war darauf gefaßt. Man hätte mir keinen größern Gefallen thun können, als wenn man mich zu einem ewigen Gefängniß verurtheilt hätte; denn an Malchen hatte ich eine sehr angenehme Gesellschaft.

Die drey Tage, die ich im Arrest zubrachte, verflogen wie drey Stunden, und ich wäre lieber nicht herausgegangen. Ich ward verhört, und wußte nicht, was ich sagen sollte. Man hielt dies für einen neuen Beweis, daß ich der allerverstockteste, hartsinnigste Page sey, ließ mich gehen und drohete.

Aber ich hatte noch ein zweytes Verhör auszustehen, das mir schwerer ward. Gräfin Waller ließ mich zu sich kommen; aber sie wußte schon mehr, als ich ihr sagen konnte.

Man hatte, sobald man mich vermißte, meinen Koffer erbrochen, um zu sehen, ob man nicht einen Beleg zu meiner Entweichung finden könnte. Man fand aber nichts als Wäsche und den Brief von Papa Ernsten. Dieser ward zwar gelesen, aber man blieb so klug, als vorher.

Die Gräfin sprach mit dem Pagen Neuberg von mir, und dieser erzählte, daß man meinen Koffer erbrochen, aber nichts gefunden habe, als Wäsche und einen gleichgültigen Brief. Er habe zwar bemerkt, daß ich einige Tage her öfters vor meinem Koffer gewesen wäre, auch einen Brief gelesen, und ihn jedesmal sorgfältig verschlossen habe; aber das könne unmöglich der gedachte Brief gewesen seyn.

Die Gräfin war aber doch neugierig, diesen Brief zu sehen; der Marschall gab ihr denselben; sie las ihn und schöpfte Verdacht. Aber das konnte sie nur, die einzige unter Millionen, die mit ganz andern Augen sah, als gewöhnliche kalte Zuschauer. Sie erkundigte sich näher, erfuhr, daß ich, so lange die Vermählung meiner Eltern geheim geblieben wäre, auf dem Guthe des alten Ernst sey erzogen worden, und daß ein Herr von Lehmnitz in der Gegend wohne, von dessen Tochter eben die Rede im Briefe sey. Auf einmal schien ihr ein helles Licht aufzugehen; sie grübelte glücklich weiter, gerieth aber doch in so fern auf einen Abweg, daß sie glaubte, Papa Ernst sey der Vertraute meiner Liebe, sonst würde er nicht soviel von Malchen geschrieben haben. Sie setzte voraus, er sey ein alter, erfahrner Weltkenner, und wisse, wie angenehm auch die unbedeutendsten Umstände dem Liebhaber sind, wenn sie die Dame seines Herzens betreffen.

»Wie gefällts Ihnen in L**?« war ihre erste Frage, als ich zu ihr ins Zimmer trat.

Ich stutzte und erstaunte und sagte endlich befremdet: In L**?

»Ja, ja, in L**! Sind Sie denn anderswo gewesen?«

Ich war in der peinlichsten Verwirrung. Mein hervorstechendstes Gefühl war eine Art von verschämter Besorgniß.

Ich bin nicht in L** gewesen!

»Armer Mensch! Ihre eignen Augen strafen Sie Lügen! Genug, Sie sind in L** gewesen, das weiß ich, und wenn Sie's auch niemand gestanden haben. – Soll ich rathen, bey wem?«

Bey diesen Worten war mir, als wenn man mir einen Eimer siedendes Wasser über den Leib stürzte.

»Was macht Malchen Lehmnitz? Freute sie sich nicht über ihren Ritter? Hier (sie zeigte auf meine Stirn) die Stöße und Risse müssen ihr unendlich angenehm gewesen seyn – nicht, Lemberg?«

Ich glaubte in den Boden zu sinken.

»Wie scheu, wie schüchtern der Mensch ist! Warum reden Sie nicht? Sie sehen ja, daß ich alles weiß. Oder soll ich Ihnen ein förmliches Geständniß ersparen? Nun gut! Hören Sie also, was Sie selbst nicht zu wissen scheinen wollen: Sie sind in die Lehmnitz verliebt, und sind nach L** geritten, um sie zu sehen. Getroffen?«

Ich machte eine Bewegung, als wenn ich den Kopf schütteln wollte und doch nicht könnte.

»Nun, ich sehe wohl, Lemberg, Sie sind noch nicht völlig mit mir ausgesöhnt, sonst würden Sie mir doch eine Sylbe gönnen. Ich muß also meinen hohen Begriff von Ihnen ein wenig herunterstimmen. Indessen ist es mir nicht leid, daß ich mich als Freundin Ihrer Mutter für Sie verwandt habe. Daß Sie der Kassation entgangen sind, danken Sie mir. Hier ist Ihr Brief. Ich habe Ihnen weiter nichts zu sagen, als daß ich es weiß, daß Sie in L** gewesen sind, und sonst niemand!«

Ohne eine Sylbe, selbst ohne einen Laut von mir zu geben, entfernte ich mich aus dem Zimmer.

Zwölftes Kapitel.
Ein Seelengemählde.

Ich wußte nicht eigentlich, wie ich mich bey dem Betragen der Gräfin nehmen sollte. Weil ich es aber schon gewohnt war, sie nicht mehr für so boshaft zu halten, als sonst, so fing ich nach und nach an, alles, was sie sagte und that, so gut ich konnte, von der besten Seite anzusehen. Jene Nacht, wo sie mir mit Malchen Hand in Hand erschien, und das Gefühl, mich für ihre Verachtung hinlänglich gerächt zu haben, hatten ganz unmerklich in meinem Herzen zu ihrem Vortheile gearbeitet. Daß ich eine Maulschelle mehr bekommen hatte, als sie, fiel mir nicht ein; und wenn ich ja einmal daran dachte, so erweckten die Umstände und die Art, womit sie mir das Kapital verzinset zurückgab, ich weiß selbst nicht, was für eine sonderbare Empfindung in mir, die mir mehr lächerlich als kränkend war. Aber mehr als alles andre zog mich das Geheimniß von Malchen an sie, theils, weil ich fürchtete, sie möchte es verrathen, theils, weil ich mich der seltsamen Grille nicht erwehren konnte, sie sey eine Freundin von Malchen, und habe von ihr Nachricht erhalten, daß sie mich in L** gesehen.

Ich weiß nicht, wo man in gewissen Stunden Wahrscheinlichkeiten hernimmt, die einem unmögliche Dinge, als möglich, so klar und deutlich vorstellen können, daß man auf Hirngespinnste Schlösser bauet. Ein solcher unbegreiflicher Spuk war wohl die vorhin erwähnte Grille, die ich nach und nach so künstlich ausspann und erweiterte, daß ich mich endlich fest überzeugte: Die Gräfin könne es wohl bey Malchen so weit bringen, daß –

Ja, nun stand ich wieder! Was sollte sie mir denn bey Malchen auswirken? Das wußte ich nicht, hatte auch keine deutliche Idee davon. Nichts als Wünsche, ewige Wünsche, und wenn ich mich dann fragte: was wünschest du dir denn? so stutzte ich wohl eine Weile, aber die wohlthätige Einbildungskraft nahm sich meiner an, und versetzte Berge.

Wenn ich mir einen Begriff von dem Zustand eines Menschen machen will, der seinen ganzen Verstand verloren hat, so denke ich mir einen Liebhaber, wie ich damals war. So ganz Kind, so ganz aller edlern Kräfte beraubt, so ganz unthätig in mich selbst verschlossen, ohne Plan, ohne Kraft und Muth, mir einen vorzuzeichnen, so aller Gewalt über mich selbst beraubt, so lebendigtodt – mag ich nie wieder seyn. Wenn ich die Liebe auf dem Fuß betrieben hätte, wie meine größern Mitpagen, so wäre ich vor diesen Zufällen sehr sicher gewesen.

Uebrigens war es gar keine Frage, ob mich Malchen liebte? Wie war es möglich, daß mir einfallen konnte, sie hat mich vergessen? Freylich hatte sie mich in vier Jahren nicht gesehen, aber was hinderte das? Sie war in andre Verbindungen und Verhältnisse gekommen; sie hatte gewiß andre Mannspersonen kennen gelernt, die ihr in der Nähe waren, und die sie leicht einem Menschen vorziehen konnte, mit dem sie zwar als Kind gespielt, von dem sie aber seit langer Zeit keine Nachricht hatte – So natürlich mir diese Betrachtungen hätten seyn sollen, beunruhigten sie mich doch keinen Augenblick, oder, genauer gesagt, ich hatte nicht einmal die entfernteste Ahndung davon. Und wie konnte ich auch, da sie mich in L** gesehen, und mir zugewinkt und zugelächelt hatte?

Es fehlte mir ohnehin sehr an Kenntniß des Weltlaufes (das mußte die Gräfin auf den ersten Blick gesehn haben, sonst hätte sich eine Frau von ihrer Feinheit wohl schwerlich solch eine platte Liebeserklärung zu Schulden kommen lassen) aber jetzt war auch das wenige, was ich mir abstrahirt hatte, völlig aus meinem Gedächtnisse verschwunden. Ich schob phantasierte Aussichten und Bilder den wirklichen unter, lebte und webte in einer Welt, die ich mir selbst erschaffen hatte, und verlor diejenige aus den Augen, auf welcher ich mit meinen leiblichen Füßen ging und stund.

Dreyzehntes Kapitel.
Moriz wird Soldat.

Alles, was ich in diesem Zeitpunkte der Vergessenheit meiner selbst sagte und that, war handgreiflicher Unsinn, womit ich mich und meine Leser verschonen muß. Ich war mürrisch, in mich selbst verloren, that und sagte alles verkehrt, war nachläßig und verdrossen in meinen Geschäften, und wünschte ihrer ganz entledigt zu seyn, doch ohne zu wissen, was ich für einen andern Stand ergreifen sollte. Meine Vorgesetzten bemerkten dies, und da sie mich schon lange aus einem falschen Gesichtspunkt ansahen, so war es natürlich, daß ich immer tiefer und tiefer in ihrer Gunst und Achtung fallen mußte. Es kam endlich so weit, daß sie höhern Orts erklärten, ich wäre zum Pagen völlig untauglich. Man würde mich auf der Stelle fortgeschickt haben, wenn man mich nicht aus Achtung für meinen Vater geduldet hätte. Indessen ward in der Stille daran gearbeitet, mir eine andre Stelle anzuweisen.

Nach einigen Tagen ließ mich die Gräfin rufen, und ich flog zu ihr, weil mir träumte, sie würde mir eine angenehme Nachricht von Malchen mitzutheilen haben.

»Wie leben Sie, Lemberg? Immer noch so mißmuthig? Wenn Sie sich nur entdeckten, vielleicht gäbe es Mittel dagegen!«

Ich zuckte die Achseln und hatte viel auf dem Herzen.

»Ist es Mißvergnügen über Ihre Lage, oder verliebte Besorgniß?«

Das erstre, gnädige Gräfin!

»Ist Ihnen das Pagenleben zuwider? Wünschen Sie sich einen andern Stand? Entdecken Sie sich, ich weiß Mittel, Sie zu beruhigen!«

Diese letzten Worte brachten mein Blut in Bewegung. Ich glaubte, aus denselben sicher schließen zu dürfen, daß sie Nachrichten von Malchen hätte, die sie im Begriff stände, mir mitzutheilen. So schief diese Vorstellung war, so schief fiel auch meine Antwort aus.

»Ihr Betragen ist unausstehlich, Lemberg! Sie scheinen selbst nicht zu wissen, was Sie wollen, und es ist nöthig, daß Andre für Sie denken und handeln!«

Bey diesen Worten fuhr sie ganz von ungefähr in die Tasche, und ich hörte Papier rauschen. Was konnte dies anders seyn, als ein Brief von Malchen? Ich erwartete unter Zittern und Ungeduld den Augenblick, wo sie die Hand herausziehen würde. Es geschah, aber da kam kein Brief von Malchen! Wie bitter war ich getäuscht! Meine ganze Fassung war dahin.

»Wollen Sie Soldat werden?«

Sehr gern!

»Kavallerist, oder Infanterist?«

Jetzt blieb ich stumm, und kann man rathen, weshalb? Auf einmal schoß mir der Gedanke durch die Seele, daß ein Infanterieregiment in den Vorstädten von L** stände. Was auf diesen für ein andrer folgte, wird man auf den ersten Blick sehen. Stumm war ich und blieb ich. Die Gräfin sah mich mit spähenden Blicken an.

»Infanterist? Nicht, Lemberg?«

Wenn die gnädige Gräfin befehlen!

Sie lachte hell auf.

»Also Infanterist! Ich dächte aber, Sie schickten sich besser zum Kavalleristen. Was meynen Sie?«

Nein – ich – würde –

»Sie haben sich aber schon als ein wahrer Ritter gezeigt! Wissen Sie wohl noch, durch Ihre Reise nach L**!«

Ich war wie verstürzt, und die scharfen Blicke der Gräfin machten mir Höllenpein.

»Doch, wie Sie wollen! Unter welches Regiment möchten Sie wohl?«

Gleichviel, unter welches! stotterte ich.

Ich mußte bey dieser Antwort eine erschreckliche Blöße geben, denn sie ward mit großem Gelächter aufgenommen.

»Unter das zu L** meynen Sie doch? Nicht, Lemberg?«

Nein – gnä – gnädige Gräfin –

»Also nicht nach L**. Ich glaube selbst, daß Ihnen der Ort zuwider seyn muß, weil er Sie in Arrest gebracht hat.«

Sie sagte dies mit einer studierten Ernsthaftigkeit, die mir durch Mark und Bein ging.

»Aber Sie wären doch der erstaunlichen Ritte überhoben, wenn Sie unter das Regiment nach L** gingen?«

Jedes Wort war mir ein zweyschneidiges Schwerdt. Ich siedete und kochte, fühlte aber nicht das mindeste Zucken in den Muskeln des rechten Armes. Wie theuer mußte ich die Schelle bezahlen!

»Ich habe schon gesagt, Lemberg, daß Sie selbst nicht wissen, was Sie wollen, ich muß mich schon Ihrer annehmen. Kommen Sie morgen wieder, und holen Sie sich Bescheid!«

Ich drehete mich stillschweigend um und ging. Sie rief mich zurück.

»Noch eins muß ich Ihnen sagen! Sie gelten bey Hofe für einen Anverwandten von mir, merken Sie sich das! Es hat gute Gründe, die Ihnen in die Augen fallen werden. Nun gehen Sie!«

Das Betragen der Gräfin blieb mir von Anfang bis zu Ende unbegreiflich, und das war kein Wunder, da ich sie aus einem ganz falschen Gesichtspunkt ansah, den Umstand ungerechnet, daß mein Kopf und Herz in einer Lage waren, die mir durchaus nicht erlaubte, das zu erforschen, was um mich vorging. Ich wußte ja nicht einmal, wie mir eigentlich war.

Den folgenden Tag bekam ich das Patent zu einer Fähndrichsstelle unter dem Regimente zu L** und ich war wie vom Himmel gefallen.

Sogleich rannte ich zu der Gräfin, um ihr zu danken, denn es war gewiß, daß sie das alles bewirkt hatte. Aber weshalb interessierte sie sich so für mich? Um ihrer Freundin Malchen einen Gefallen damit zu erweisen.

Diese seltsame Grille verließ mich nicht. Wie würde die Gräfin gelacht haben, wenn sie derselben auf die Spur gekommen wäre.

»Ich konnte es nicht anders machen,« hub sie mit verbißnem Lachen an: »Sie mußten nach L**. Es fehlte gerade ein Fähndrich. Wenn es Ihnen aber da nicht gefällt, so schreiben Sie es mir, ich will sorgen, daß Sie mit der Zeit an ein anderes Regiment vertauscht werden!«

Es schien, als ob ich dazu verurtheilt gewesen wäre, unter ihren Augen den Stummen zu spielen. Ich hatte mir vorgesetzt, ihr soviel zu sagen, aber konnt' ich es? Drey Worte und ein Blick von ihr machten mich zum Kinde.

Beym Abschiede sagte sie zu mir: es bleibt dabey, Sie sind mein Vetter. Oder mögen Sie nicht aus meiner Verwandtschaft seyn?

»Welch ein Glück für mich, wenn ichs wäre!« sagte ich, und man bewundere meinen erstaunlichen Muth.

Endlich einmal ein Wort, das sich hören läßt! erwiederte sie: Schade, daß es so sehr spät kömmt! Augenblicklich machte sie die Thür hinter mir zu.

Den folgenden Tag ging ich zum Regiment ab. Habe ich wohl nöthig, die Bewegungen zu schildern, die mich ergriffen, als ich die Thürme von L** erblickte?

Vierzehntes Kapitel.
Schüchternheit wahrer Liebe.

Man wird es mir auf mein Wort glauben, daß ich die H** Straße sehr gut zu finden wußte. Drey bis viermal stahl ich mich täglich unter dem Erker weg, in welchem ich Malchen damals gesehen haben wollte; aber es dauerte gegen drey Wochen, eh ich das Glück hatte, sie abermals zu sehen. Und als ich sie endlich sah – man denke sich mein Staunen – da war es in dem Fenster eines Hauses, das ich bis jetzt keines Blickes gewürdigt hatte; es stand an dem andern Ende und auf der andern Seite der Straße. Diese seltsame Erscheinung erklärte ich mir am natürlichsten dadurch, daß die Französin eine andre Wohnung bezogen haben müßte. Denn es war unumstößlich gewiß, daß ich Malchen damals an dem andern Ende und auf der entgegengesetzten Seite der Straße, im Erker gesehen hatte. –

So viel ich auch auf dreyßig Schritte unterscheiden konnte, war Malchen, seitdem ich sie nicht gesehen hatte, ein volles, frisches, ausgewachsenes Mädchen geworden. Das war sonderbar! Als ich sie damals im Erker erblickte, war sie noch genau so groß, als sie immer gewesen war, da ich noch mit ihr spielte. Aber in den vier Wochen war sie erstaunlich gewachsen.

Auch diesmal betrug ich mich sehr albern. So lange ich weit genug von ihr entfernt war, sah ich starren Blicks nach ihr hin, als ich mich aber nahe unter ihrem Fenster befand, sah ich vor mich auf die Erde und beschleunigte meine Schritte. Ein Anderer hätte ihr wenigstens ein Kompliment gemacht.

Ich weiß nicht, wie lange ich dies Spiel getrieben haben würde, wenn nicht mein Muth durch einen Zufall gewachsen wäre. Einmal kam ich die Straße herunter und sah Malchen wieder im Fenster. Sie hatte ihr Gesicht nach der andern Seite gewandt und sah mich nicht. Ich hatte also das süße Vergnügen, ihren Haarputz von hinten zu sehen. Meine Blicke waren fest auf sie geheftet, und ließen nicht eher ab, als bis ich dicht unter ihrem Fenster war – plötzlich drehete sie den Kopf, sah mich an, fuhr zurück und machte das Fenster zu.

Ihr Blick fuhr wie ein elektrischer Schlag durch mein ganzes Wesen. Alles tanzte vor meinen Augen, meine Füße waren mir zu leicht, und mit jedem Schritte glaubt' ich in eine Grube zu treten.

Es dauerte eine gute halbe Stunde, eh ich zu mir selbst kam, und nun war mein erster Gedanke, durch die H** Straße zurück zu gehen. Am Eingange derselben ward ich auf einmal unschlüssig und ich hätte gewiß einen andern Weg genommen, wenn sich nicht gerade einer meiner Kameraden zu mir gefunden hätte.

»Aha, Lemberg,« sagte er, »haben Sie das Terrain von L** so studirt?«

Wie so?

»Sie gehen doch durch die H** Straße um die Krone von L** zu sehen?«

Mir fing unwillkürlich das Herz an zu pochen, und ich muß roth geworden seyn.

»Habe ichs getroffen? Armer Lemberg! Sie sind nicht der einzige, dem's unterm Küraß schlägt, wenn er das Haus da (er zeigte mit dem Stocke auf das Haus, wo ich Malchen gesehen hatte) ansieht. Es war eine Zeit, wo ich selbst solch ein Narr war. Kommen Sie! Sehen können Sie den Engel, aber das ist auch alles!«

Ich fühlte eine höchst unangenehme innerliche Bewegung, jener ähnlich, die der große Blumist in Holland hatte, als ihm ein Fremder versicherte, er habe eben die Blume, die er nur auf dem ganzen Erdboden allein zu besitzen glaubte, schon bey einem deutschen Gärtner gesehen.

Mein Begleiter zog mich halb wider meinen Willen fort, und ein Glück für mich, daß Malchen nicht gerade aus dem Fenster sah, ich wäre sonst unter ihren Augen umgekehrt, und hätte dem Offizier die lächerlichste Blöße gegeben. Wir kamen näher, ich wagte einen Blick, sie stand am Fenster, begegnete mir mit ihren Augen, und, sollte man es denken! ich war bäurisch genug, einige Schritte vorbeyzugehen, ehe es mir einfiel, den Hut zu ziehen. Ich that es endlich, aber ohne hinter mich zu sehen, und sie war so nachsichtsvoll, das Fenster aufzureißen und mir zu danken. Mein Begleiter versicherte mich, sie habe gerufen: wie kommen Sie hieher, Herr von Lemberg? Ich hatte nichts gehört, glaubte es ihm auch nicht.

Mein Kamerad erkundigte sich, woher unsere Bekanntschaft rührte, und ich erzählte ihm, in einer Art von Verzückung, daß ich sie schon lange kennte und mit ihr erzogen wäre.

»Sie sind zu beneiden, Lemberg!« sagte er: »Aber warum besuchen Sie das schöne Mädchen nicht? Oder ist es schon geschehen?«

Ich versetzte ganz gleichgültig, daß ich ihr bey Gelegenheit meine Aufwartung machen würde.

»Bey Gelegenheit? Auf der Stelle sollten Sie es thun! Sie hat, auf meine Ehre, gerufen!«

Mit diesen Worten verließ er mich.

Von diesem Tage an besuchte ich die H** Straße mit leichterm Herzen, und hatte sogar den Muth, Malchen von der Seite anzusehen, wenn ich sie grüßte. Aber hinauf zu gehen und mit ihr zu sprechen? Es hätte eines Riesenarmes bedurft, um mich in das Haus zu schieben.

Funfzehntes Kapitel.
Eine Hiobspost.

Dies Unwesen trieb ich gegen vier Wochen, ohne mich nur einen Schritt näher an sie zu wagen, und doch war ich unbeschreiblich glücklich.

»Wissen Sie wohl, Lemberg« – sagte der vorhin erwähnte Officier auf der Wachparade zu mir: »aber, was sollten Sie's nicht wissen! Fräulein von Lehmniz ist Braut!«

Ein Donnerschlag! Ich versicherte ihm mit zitternder Stimme: das wüßte ich nicht.

»Freylich muß ihr ein reicher Graf lieber seyn, als ein Fähndrich,« fuhr er fort: »aber lassen Sie sich kein graues Haar darüber wachsen. Sie sind nicht der erste, dem es so geht!«

Ich stieß mit meinem Rohre große Löcher in den Sand.

»Kennen Sie den Bräutigam?«

Ich schüttelte mit aufeinander gebissenen Zähnen den Kopf.

»Graf Waller!«

Wild und wüthend fuhr ich auf.

»Sehen Sie, da steht er, der dumme, ausgetrocknete, süße Narr! Nur ein paar Schritte näher, so können Sie ihn riechen!«

Ich warf den Kopf herum, mit einer Bewegung, die meinem Gesellschafter sehr lächerlich seyn mußte.

»So sehen Sie ihn doch nur wenigstens an. Sie müssen sich doch an seinen Anblick gewöhnen. Er bleibt mit seiner Braut in L**.«

Ich war wie auf der Folter, faßte aber doch endlich Muth und sah den Grafen an. Er stand mit einem Offizier Hand in Hand.

»Wie kann man sich aber mit solch einem elenden Menschen abgeben?« sagte ich, mit der ganzen Wuth, die sich mir aufs Herz geworfen hatte: »Ein Soldat, und solch ein Windbeutel! Dem Lieutenant Rahm kann ich nie wieder gut werden, weil er ein vertrauter Freund von ihm ist!«

Bravo, bravo! rief mein Gesellschafter lachend: Sie werden beredt! Immer geben Sie von sich, was Sie auf dem Herzen haben, das wird Ihnen gute Dienste thun. – Wissen Sie, wie man hier die beyden Leute nennt? Damon und Pythias. Solch eine Freundschaft ist unerhört! Sie wohnen auf Einer Stube, schlafen in Einem Bette, halten sich Ein Mädchen, kurz, einer ist des andern Schatten. Das ist bekannt, und Sie haben sie gewiß selbst mehr als hundertmal gesehn!

»Kann seyn, aber es ist mir nicht aufgefallen!«

Und nun fällts Ihnen so stark auf, daß Sie kochen? Ich sehe, wo es Ihnen fehlt, lieber Lemberg, aber ich sage Ihnen, die Lehmniz straft sich selbst. Vielleicht ist sie auch von ihren Eltern – dazu – gezwungen worden. – Aber, mein Gott, das müssen Sie ja alles wissen?

»Ich weiß nichts!«

Nun, so begreife ich Sie nicht. Sie müssen mir sagen, wie Sie mit ihr stehen. Gleich auf der Stelle, ich lasse nicht nach.

Ich war also gezwungen zu beichten. Ich erzählte ihm, daß ich zwar mit ihr erzogen wäre; daß ich sie aber in vier Jahren nicht gesehen habe: kurz, gestand ihm alles, was man weiß.

Nun denn, nahm er das Wort, denn haben Sie auch keine Ansprüche auf sie, und es ist Ihre eigne Schuld, wenn sie einem Andern die Hand giebt. Sonderbarer Mensch! Wie können Sie vermuthen, daß es einem Mädchen genug seyn wird, wenn Sie sich täglich zwey- oder dreymal unter ihrem Fenster wegstehlen, und sie höchstens grüßen? Wie kann sie glauben daß Sie etwas für sie empfinden, wenn Sie nicht zu ihr kommen, da Ihnen der Zutritt unverwehrt ist? Lieber, lieber Lemberg, sich selbst haben Sie es zuzuschreiben, wenn Sie unglücklich sind. Nun ist es zu spät. In acht Tagen ist Hochzeit! Muth gefaßt und vergessen – weiter ist kein Weg übrig!

Sechzehntes Kapitel.
Ein Quiproquo.

Es wäre vergeblich, den damaligen Zustand meines Herzens zu schildern. Ich erinnere mich, acht Tage hindurch keinen einzigen hellen und dauernden Gedanken gehabt zu haben. Eine Menge von Bildern schwebte meiner Phantasie vorüber, alle mit Blut und Mord gezeichnet; aber meine Raserey kam nicht zum Ausbruch, so gewaltsam auch der Stoß war, den sie die letzten Tage vor Malchens Hochzeit erhielt. Gräfin Waller kam aus D** und ließ mich freundlichst zur Hochzeit bitten. Herr und Frau von Lehmniz kamen und verkündigten mir die Vermählung ihrer Tochter unter Jubel und Freude. Fräulein Louise wollte mich zu ihrem Tänzer in Beschlag nehmen. Graf von Waller erschien mit seinem Busenfreunde Rahm und freuete sich, meine Bekanntschaft zu machen – Unerträglich, unerträglich! Ich wußte nicht, wo ich war! Ich kannte mich selbst nicht!

Die ganze Stadt war voll von dieser Vermählung. »Ja,« hieß es, »er ist freylich Graf, soll auch sehr reich seyn – aber« – den Nachsatz sagte sich der Bürger ins Ohr, und der Soldat lachte und sagte öffentlich: Armer Graf, wie wirds in der Brautnacht aussehen?

Indessen ging die Hochzeit vor sich. Ich blieb im Bette und mußte das Fieber haben. Je dichter ich mich in meine Küssen verhüllte, desto lebhafter wurden mir die Bilder von Malchen und dem Grafen Waller. Ich nahm mir fest vor, in vier Wochen nicht aus dem Bette aufzustehen, aber wie sehr fiel mir schon ein halber Tag zur Last! Gegen Abend vermehrte sich meine Unruhe. Ich wollte dies thun, wollte das thun, und that nichts. Endlich beschloß ich, mich zu verkleiden, und mich unter die Zuschauer zu mischen, um – ja, wenn ich auch gewußt hätte, was ich da thun wollte. Ich nahm die Uniform meines Kerls, zog sie an und hin. Alles war um und um erleuchtet, alles zeigte Glanz und Freude. Das Souper war in einem Gartenhause, ausserhalb der Stadt, welches der Graf seiner neuen Gemahlin gemiethet hatte, und der Garten, der dazu gehörte, war aufs prächtigste erleuchtet. Aber eben der Glanz und die Fröhlichkeit sagten mir nicht zu. Ich ging zurück, wie ich gekommen war, und beschloß, mich tief in mein Bette zu vergraben. Ich zog mich aus – plötzlich ward ich wieder anderes Sinnes. So kämpfte ich zwischen Wollen und Nichtwollen bis gegen zwey Uhr in der Nacht. Endlich widerstand ich nicht länger. Ich warf einen großen Mantel, wie sie damals allgemein getragen wurden, über den Schlafrock, und ging nach dem Gartenhause zurück.

Alles war still; die Gesellschaft schien auseinander gegangen zu seyn und die Lampen im Garten waren meist erloschen. Die schauerliche Dunkelheit hielt mich. Ich ging dreymal um das Haus, die Augen in düsterer Verzweifelung auf ein Zimmer geheftet, wo ein dürftiges Licht zu brennen schien. Auf einmal erlosch auch dieses, und die Ideen, die mir dieser Umstand erweckte, raubten mir Verstand und Bewußtseyn.

Und indem ich zum viertenmal so dicht im Mantel verhüllt, um das Haus schlich, öfnete sich die Thür. Es kam eine Mannsperson hinter mir her gesprungen und hielt mich. »Nun ists Zeit, Rahm, flüsterte sie, mach' alles, wie wirs verabredet haben!«

Ich stutzte und erstarrte. Der Mann führte mich mit zitternder Hand zum Hause, und ich folgte, ohne einen Laut von mir geben zu können. »Wo – wo, will das hinaus?« dachte ich und fühlte einen erschütternden Frost in allen Gliedern.

Wir stiegen mit äußerster Behutsamkeit die Hälfte einer Treppe hinan. Hier nahm mir der Graf den Mantel ab und sagte: die erste Thüre rechts, du kannst nicht fehlen! Er schien eben so sehr aus aller Fassung zu seyn als ich, und schob mich die Treppe hinauf. Ich verhielt mich ganz leidend; auch nicht der kleinste Laut kam über meine Lippen.

Aber wie ward mir, als ich die Treppe vollends hinantappte, da plötzlich eine Thür aufging, ein sanfter, warmer Hauch mich anwehete, eine weiche glühende Hand meine Rechte ergriff und mich nach sich zog! Ich wäre mitgegangen und wenn sich die Hölle mit allen ihren Schrecknissen vor mir aufgethan hätte!

Moriz.
Viertes Buch.

Erstes Kapitel.
Extasen.

Sie drückte mich an ihren wallenden Busen und sprach mit dem ganzen Zauber der weiblichen Lippe, wenn sie von Mitleid überfließt, zu mir: ist Ihnen wieder wohl, lieber Graf?

Der süße Ton ihrer Stimme durchdrang mein Innerstes, und ein heftiges Zittern, das mich wie Fieberschauer erschütterte, war die Folge dieser Anrede.

Und hätte ich auch reden wollen, ich hätte es nicht gekonnt. Alle meine Empfindungen blieben nur halb empfunden, so Schlag auf Schlag durchkreutzte eine die andre, unterdrückte sie, und war von einer andern unterdrückt. Es war ein Zustand der Betäubung, wo ich vor lauter Gefühlen nichts fühlte, wo keines derselben dauernd genug war und Gewalt genug hatte, das eiserne Band meiner Zunge zu lösen.

»Sie antworten mir nicht?« sagte sie im Tone der Aengstlichkeit – »Ich will – ach! – ich muß rufen!«

Das Wort rufen erweckte mich wie aus einem tiefen Schlafe. Das Bewußtseyn meiner ganzen jetzigen Lage flog meiner Seele vorüber und schnell folgte die That dem Gedanken: ich umschloß sie mit dem ganzen gewaltigen Feuer der Liebe.

Und indem ich sie an mein lautpochendes Herz drückte, fühlte ich, wie ihr rechter Arm, der um meinen Nacken lag, drey- viermal zuckte, als wenn man plötzlich erschrickt, und daß dieser Arm in der nächsten Sekunde darauf, sanft auf meiner Schulter liegen blieb.

Sie sagte noch ein paar Worte, die ich nicht verstand, ließ mich rasch los und that einen kurzen Schritt zurück. Nur ihre Linke hatte ich noch, und diese drückte ich an mein Herz, als ob ich sie in meine Brust hätte hineindrücken wollen.

»Ums Himmelswillen, sind Sies, oder« –

Die Worte erstarben ihr auf den Lippen. Das »oder« war der Hauch eines sanften Flüsterns, welches die Stelle des Lautes einnimmt, in dem Momente, wo die Seele fühlt, daß die Zunge im Begrif ist entweder unschickliche oder beleidigende Dinge zu sagen: sie verwandelt mit der Schnelligkeit eines Blitzstrahls den Hauch, der einen lauten Ton geben sollte, in jenes Flüstern, das kaum hörbar über die Lippen säuselt.

In dem Augenblicke, wo ihre Seele den ersten Gedanken mit dem zweyten verdrung, trat sie mir auch wieder näher, drückte sie auch meine Hand wieder feuriger. Ich umschloß sie von neuem, sie mich – und so in eins, so innig verschlungen, brennende Wange an brennende Wange fest geheftet, beyde nur einen Herzschlag fühlend, beyde fast eins – sanken wir, in unnennbare Wonne aufgelöst, zurück. Ohne Bewußtseyn, lebendigtodt, und doch voll Kraft, fühllos, und doch bis aufs innerste Mark bewegt, brannte und fror ich, starb und erwacht' ich wechselsweise, bis endlich meine ganze Lebenskraft in einen Hauch zusammen schoß, und sich in einen Seufzer auflöste, der kaum stark genug war, den süßen Namen Malchen über meine bebende Lippen zu drängen. Mein Kopf glitt langsam von ihrem Busen herab, und ihre Rechte schob mich mit einem sanften Druck auf die Seite.

Zweytes Kapitel.
Muth und Stärke.

Plötzlich sprang die Thür auf und Rahm stürzte mit Wallern herein. Malchen drückte das halb geschlossene Auge ganz zu, und blieb ohne Bewegung auf dem Bette liegen. Aber ich stand vor ihr, beyde Arme fest an den Leib gedrückt, alle ihre Muskeln so straff angespannt, als ich Eichbäume hätte entwurzeln wollen. Mein starrer Blick schoß von Waller auf Rahm, von Rahm auf Waller, und nur zuweilen von der Seite auf Malchen, die ich hülflos liegen ließ, mit dem wilden Gedanken, der Kampf zwischen uns dreyen werde sie zeitig genug aufschrecken.

Rahm trat ein paar Schritte näher, hob das Licht auf, das er in der Hand hielt, und sah mir ins Gesicht. Stumm und sprachlos vor Erstaunen und Wuth, setzte er das Licht auf den Tisch und hielt sich mit beyden Händen fest an demselben. Der Tisch zitterte und krachte, bald stärker, bald schwächer, so wie ein innerer gewaltiger Sturm Rahmen ergriff und erschütterte.

Waller ging todtenblaß und auf den Zehen um ihn herum. Bey jedem Schritte, den er that, knickten die Gelenke des Fußes, worauf er trat, hörbar. »O, mein armes Weib!« sagte er endlich, indem er den Kopf furchtsam nach dem Bette hinstreckte und sich mit beyden Händen fest an Rahmen hielt. Je näher sein Kopf auf mich zu kam, desto weiter rückte ihm meine festgeballte Faust entgegen. »Eher soll sie ewig schlafen, als durch dich erweckt werden!« dies war der einzige helle Gedanke, dessen ich mich während dieser wechselseitigen Pantomime erinnere.

Mit dem einen Auge hütete ich den Grafen, mit dem andern seinen Freund. Bey der kleinsten Bewegung, die dieser machte, spannten sich meine Muskeln unwillkührlich straffer an, und auf meine Füße trat ich so fest, als wollte ich mich in den Boden tief hineinpflanzen, um unerschütterlich zu stehen, wenn man mich angriffe.

Ich weiß nicht, wie lange wir in dieser stummen Stellung blieben. Malchen regte sich endlich wieder, hüllte sich aber in eben dem Augenblicke mit einem: Ach Gott, was wird das werden! ins Kopfküssen. Ich konnte nur einen kleinen, flüchtigen Seitenblick auf sie, von Rahmen abmüßigen, aber durch alle meine Glieder schoß eine betäubende Hitze, die aus der Besorgniß entstand, sie möchte sich noch einmal regen und rufen; ich fühlte, daß mich der klagende Ton ihrer Stimme rührte, und auf einige Momente muthlos machte, darum wünschte ich, sie nicht mehr zu hören.

»O, helfen Sie doch!« rief der Graf, und sein Zittern erschütterte Rahmen, an den er sich immer noch fest hielt, und der Tisch, auf welchen sich dieser mit beyden flachen Händen gestützt hatte, zitterte und krachte. Rahm sah eine Zeitlang stumm vor sich hin, sodann schlug er die Augen auf und sah sich im Zimmer um, als ob er etwas suchte. Meine Blicke folgten den seinigen überall hin; wo sie ruhten, ruheten die meinigen; wandte er sie aber auf Malchen, so stellte ich mich ihnen entgegen – auch sehen sollte er mein Malchen nicht, auch nicht sehen! – Und angreifen? darauf stand Tod und Verderben.

Endlich verweilte sein Blick in der einen Ecke des Zimmers ein paar Augenblicke, und ich bemerkte, daß dort ein Degen stand. Sollte ich ihm zuvorkommen, und den Degen für mich nehmen? – Nein, durchaus nein! Denn unterdessen hätte sich der Graf dem Bette nähern können. Ich stand immer noch, wie in den Boden gewurzelt. Rahm riß sich von Wallern los, sprang nach dem Degen und faßte ihn, und plötzlich sah ich um mich und über mich, wie wenn der Boden unter mir einstürzte, und ich nun noch, um nicht zu versinken, mit verzweifelnder Aengstlichkeit nach etwas suchte, woran ich mich halten könnte. Die Schnelligkeit, womit ich dies that, leidet keine Vergleichung, und eben so wenig die gewaltsame Bewegung, die mich während dieser unsäglich kurzen Momente ergriff. Aber indem ich so nach Rettung um mich blickte, bemerkte ich ein Pistol neben mir über dem Bette. Sehen, fassen und spannen war eins!

»Sie ist geladen, um Gottes willen!« rief der Graf, indem er von weitem seine Hände nach mir ausstreckte, und dann schnell auf Rahmen zusprang, um ihm den Degen zu entwinden.

Er ist geschliffen, ich beschwöre dich, Rahm! sagte er zu diesem, und ward von ihm ungestüm zurückgestoßen. Aber er stellte sich von neuem zwischen uns, den Rücken nach mir gekehrt, und beyde Hände gegen Rahmen ausgebreitet. Dieser sah mit blitzendem Auge und zuckender Lippe über Wallers rechte Schulter, und über die linke schoß die Spitze seines Degens auf mich her; aber ich streckte ihm mein Pistol über die rechte Schulter des Grafen entgegen.

Da standen wir! Er stach nicht zu, und konnte nicht zustechen, ich schoß nicht, obgleich ich schießen konnte. Hatten sie doch mein Malchen noch nicht berührt! Nur darauf stand Tod und Verderben.

Von beyden Seiten kein Wort, kein Laut – nur das Geräusch des Athems, der aus drey gefesselten Busen gewaltsam hervorbrach, nur das Zittern der Diele auf welcher wir standen!

In dem Augenblicke regte sich Malchen von neuem, und es erfolgte der vorige Ausruf. Ihre Stimme schien uns alle Drey gleichstark zu erschüttern; mir wollten die Sehnen des rechten Armes erschlaffen; ich fühlte, daß ich schwächer ward, und stärkte, in unsäglicher Anstrengung, um Muth zu behalten, Muth mit Muth. Unausbleiblich war hier Ohnmacht oder Raserey! Es ward letztre, und nun drang ich, in wilder Wuth, mit der Linken alles vor mir her wegstoßend, und die drohende Rechte aufgehoben, auf meine Gegner, packte den Grafen im Nacken, und hob und stürzte ihn über Rahmen hin. Beyde fielen. Rahm ließ den Degen fallen, ich mein Pistol, ich ergriff mit der Linken den Grafen, und mit der Rechten seinen Freund, und zerrte und schleppte sie nach der Thür, stieß mit dem Fuße wider dieselbe, sie sprang auf, und nun warf ich mich, mit Löwenstärke im Arme, und mit Tigerwuth im Herzen, auf beyde, und drängte sie zur Thür hinaus. Der Graf kollerte ein paar Stufen die Treppe hinab, und Rahm blieb wie ausser sich vor der Thüre liegen, die ich im Triumph zuschlug und verriegelte.

Nun ging ich, so kalt, als wäre nichts geschehen, putzte das Licht, setzte mich zu Malchen aufs Bette, und dabey war mir immer, als wenn ich lachen sollte.

So wird allerhöchste Glut zur Kälte, und allerhöchste Kälte zur Glut!

Aber dieser Zustand dauerte nicht zwey Minuten. Meine Glieder waren wie vom Rade zerschmettert, ich fühlte sie nicht, und konnte sie nicht regen, und meine Augen sanken zu, während ein kalter Schauer durch meine Adern fuhr, und meine Sinnen betäubte und gleichsam vernichtete.

Drittes Kapitel.
Geständnisse ohne Worte.

Ich weiß nicht, wie lange ich in diesem Zustande blieb. Als ich die Augen aufschlug, erblickte ich Malchen mit dem Lichte in der Hand vor mir.

»Gott! er lebt wieder!« rief sie mit einer Stimme, deren unendlich rührende Modulation ich noch zu hören glaube. Sie sank halbohnmächtig in einen Lehnstuhl, und ich sprang auf und flog zu ihr. Ich nahm ihre Hand, und drückte meine Lippen fest auf die ihrigen. Sie kam wieder zu sich.

O, der erste Blick, der aus ihrem halbgeöfneten Auge langsam auf mich fiel – nie und nimmer werde ich ihn vergessen! Ein Meer von Wonne strömte aus ihm in mein erwärmtes Herz, unwillkührlich sank ich vor ihr auf die Kniee, und noch jetzt schäme ich mich dieser Stellung nicht. Das weibliche Auge, welchem die himmlische Güte entströmen konnte, verdiente Anbetung vom Manne. Sie legte ihre rechte Hand sanft auf meine Schulter und mit der linken hob sie mich auf. »O, ziehn Sie mich aus dieser Unruhe, Lemberg,« sagte sie, indem sie meine Hand ergriff und sie langsam an ihr Herz drückte: »oder ich sterbe unter Ihren Händen!«

Ich fühlte mich wie verjüngt und verklärt. Der Nebel der alle meine Geisteskräfte bis daher verhüllt hatte, schwand auf einmal, und ich sah mit geläutertem Auge auf das, was geschehen war, und geschehen würde. Ich zitterte nicht mehr, wenn ich Malchen ansah, sondern eine bescheidene Vertraulichkeit trat an die Stelle der Furcht, die mich sonst bey ihrem Andenken oder ihrem Anblicke befiel. Und sie selbst schien mich nicht zu fürchten, ihre Blicke verriethen nichts, als diejenige Unruhe, die aus hochgespannter Neugier entsteht, und zwey oder drey derselben sagten mir noch einmal das Verlangen, das sie mir vorhin schon mit Worten zu erkennen gegeben hatte.

Nun stand ich nicht länger an, sie zu befriedigen. Ich erzählte ihr mit einer feurigen Beredtsamkeit die Geschichte dieses Abends: wie ich voll Verzweiflung ums Haus gelaufen, wie mich der Graf gerufen und geheimnißvoll in ihr Zimmer geführt habe; wie ich empfindungs- und gedankenlos in ihre Arme gesunken sey. –

»O, ich wußte, daß es der Graf nicht war!« sagte sie und schien in eben dem Augenblick über dies Geständniß herzlich zu erschrecken. Sie wandte ihren Blick von mir, legte die linke Hand vor die Augen und der helle Inkarnat der Unschuld glühete auf ihren Wangen.

»Sie wußten – Sie wußten es?« rief ich: »O, wie konnten Sie das wissen?« Ich drang in sie, aber sie schwieg. Es entstand eine lange Pause, die aber nicht ängstlich war, denn ich hielt Malchen fest umschlossen. Ihr rechter Arm ruhete auf meiner linken Schulter, so daß ihre Finger dicht über meiner Herzgrube lagen, und ihr linker Arm, drückte meinen rechten, den ich um sie geschlungen hatte, fest an ihr Herz. Ihr Haupt ließ sie, um ihre Lippen vor den meinigen zu schützen, lächelnd auf die linke Schulter zurücksinken.

Ach, in dieser Stellung hätte ich sterben wollen! Ein sanftes Feuer durchfloß meine Adern, brannte auf meinen Wangen, glühete auf meinen Lippen, und o! in meinem Herzen lebte die sanftere Freude, die auf den ersten wilden Erguß des Entzückens zu folgen pflegt, und Bilder, unendlich schöner als Alles, was je eine feurige Einbildungskraft, die in Aether und Sonnenstrahl lebt und webt, gesehn und erfunden hat, wallten im Gewande der sanftern Morgenröthe meinem geistigen Auge vorüber. Himmel und Erde entschwanden meinem verklärten Blicke, und nichts als mich und Malchen, sah ich in dem gränzenlosen All, das sich mir zu Liebe in sein herrlichstes Feyergewand gekleidet hatte.

In Malchens Auge glänzte ein ganzer Himmel voll Wonne, in einen einzigen, reinen Kristalltropfen aufgelöst, der bebend und flimmernd über die glühende Wange herab rollte.

Viertes Kapitel.
Erläuterungen.

Unter diesen himmlischen Träumen würden wir noch Stunden zugebracht haben, wenn uns nicht ein Geräusch aufgeschreckt hätte. Ich sprang auf und lehnte mich gegen die Thür, mit einer Kraft, als wenn ich dem Stoße eines Riesen zu widerstehen gehabt hätte. Aber das Geräusch ließ nach, und ich hörte, daß man in halblautem Wortwechsel die Treppe hinunter ging. Es waren die beyden Freunde, die sich wieder aufgerafft hatten. »Morgen früh, soll sich alles aufklären,« sagte der Graf: »Ich beschwöre dich, warte so lange, sonst ziehen wir das ganze Haus herbey!«

»O, wir sind sicher bis morgen früh« – rief ich und hüpfte zu Malchen: »Lustig, gutes Malchen, lustig!«

Ich that drey hohe Sprünge und sie lachte dazu.

»Wie wir uns so vergessen können!« sagte sie erröthend: »Ich glaube, wenn wir beyde morgen sterben sollten, wir dächten nicht daran! Aber, lieber Lemberg, wenn Sie sich entfernten, es wäre wohl besser!«

Ich erinnere mich in meinem Leben nicht so erschrocken zu seyn, als bey diesen Worten. Der helle Angstschweiß stand mir vor der Stirn, und wenn zehn Degenspitzen auf mich eingedrungen wären, um mich aus dem Zimmer zu vertreiben, so hätten sie meinen Muth nicht so niederschlagen können.

Vielleicht las sie in meinen Blicken, wie tödtlich sie mich erschreckt hatte, denn sie drang nicht weiter in mich und sagte nicht nein, als ich ihr versicherte: daß ich sie ewig nicht aus meinen Augen lassen würde. Mit Tagesanbruch sollte ihr Vater die ganze Geschichte erfahren, und dann über uns alle Recht sprechen; dann sollte er entscheiden, ob seine Tochter die Gattin eines Menschen bleiben könnte, der so wenig Gefühl für Ehre und Schande besäße, und dann – Aber ich hatte nicht Herz genug, ihr zu sagen, was dann geschehen sollte. Aber sie errieth es ohne meine Worte, das zeigte ihr heiteres Auge, welches sie langsam von meiner Hand auf die Erde gleiten ließ.

Wir gingen Arm in Arm in herzlicher Vertraulichkeit im Zimmer auf und ab, und ihre Zunge schien sich auf einmal zu lösen:

»O, wenn Sie wüßten, lieber Moriz – ach! ich muß Sie so nennen, denn dieser Name setzt mich in die glücklichsten Zeiten meines Lebens zurück – wenn Sie wüßten, wie man mich überrascht hat! – Vor drey Wochen erfuhr ich zuerst, daß ich an den Grafen verheyrathet werden sollte, und seit gestern bin ichs schon« –

Gewesen! Gewesen! unterbrach ich sie hitzig: Sie sollen sehen, Sie sollen sehen!

»Die erste Nachricht, von dem Unglücke, das mir bevorstand, bekam ich von meiner Mutter. Es war ein Brief von der Gräfin Waller an meinen Vater eingelaufen, worin sie anfangs die Verdienste und das Alter seiner Familie gehörig anerkannte, und gleich darauf mit dem Verlangen ihres Neffen hinterdrein kam. Er sollte mich in L** gesehen, und vom ersten Anblick an nichts sehnlicher gewünscht haben, als sich mit mir zu verbinden. Er sey Graf, reich, und einziger Erbe einer Tante, die einen Abgott aus ihm machte.«

»Sie wissen, wie offen das gute Herz meines Vaters gegen Schmeicheleyen ist, besonders wenn sie von dem Alter seiner Familie und seinen Kindern hergenommen sind. Ohne sich lange zu bedenken, ohne mich zu fragen, schreibt er mit der nächsten Post zurück, er wäre nicht abgeneigt, nur wünschte er seinen Schwiegersohn zu sehen. Dieser kommt in wenig Tagen an, und vollendet den Eindruck, den der Brief der Gräfin gemacht hatte.«

»Eh ichs mir versehe, kömmt mein Vater mit dem Grafen hieher und stellt mir ihn gleich bey der ersten Anrede als meinen künftigen Gemahl vor. Ich glaubte in den Boden zu sinken! Ach, mein Herz war schon zu voll, um noch eine größere Last zu tragen! Ich hatte Sie öfters unter unserm Fenster hingehen sehen, Ihr Anblick nach so langer Zeit hatte alle die Freuden von neuem in meinem Herzen aufgeweckt.« – –

»O, Lemberg (sie senkte ihr Haupt zärtlich auf meine Schulter) und Sie sahen nicht einmal zu mir herauf! Ach, und ich hätte Sie so gern gesprochen, hätte mich so gern unsrer frohen kleinen Spiele erinnert!«

»Anfangs glaubte ich, Sie wüßten es nicht, daß ich mich in L** befände. Unwiderstehlich ward am Ende mein Verlangen, Ihnen dies zu erkennen zu geben. Als Sie wieder einmal vorbeygingen (es war noch ein Offizier bey Ihnen) riß ich, wie ausser mir, das Fenster auf, und rief Ihnen nach: Wie kommen Sie hieher, Herr von Lemberg? Und kaum sahen Sie sich um, kaum grüßten Sie mich aus der Entfernung, und umsonst hatte ich die Augen der Vorübergehenden auf mich gezogen!«

Malchen zerdrückte ihre Thränen im Auge, aber mir liefen sie hell über die Backen. Ich suchte Worte, und fand keine, die mich hätten entschuldigen können.

»Von der Zeit an fühlte ich eine Art von Erbitterung auf Sie, aber sie machte mich unruhiger, als vorher meine Neugier. Sonst war ich stündlich am Fenster, um Ihnen zu zeigen, wie nahe ich Ihnen sey, jetzt eben so oft, um Ihnen zu zeigen, daß ich – böse auf Sie sey. Aber Beydes machten Sie mir unmöglich, denn Sie gönnten mir nicht einen einzigen vollen Blick, und schielten von der Seite, als ob Sie sich vor mir fürchteten.«

»In dieser Stimmung meines Herzens überraschte mich mein Vater. Alles redete und drang in mich, und zeigte mir das Glück, das ich mit dem Grafen machen würde. Alles, von der Gouvernante an bis zur jüngsten Pensionaire, pries mich glücklich: die eine, daß ich einen Grafen heyrathen, die andre, daß ich nun bald ein recht prächtiges Brautkleid anziehen würde. Eine Herzens Freundin von mir, die einen B** Grafen, ebenfalls ohne ihr Herz, geheyrathet hatte, wirkte durch ihr Beyspiel auch auf mich – So von allen Seiten bestürmt und überrascht, so ganz vergessen von dem, den ich unter allen meinen Jugendfreunden gerade zuletzt vergessen hätte« –

O, ich hatte Sie nicht vergessen! rief ich, und eine Thräne nach der andern tröpfelte auf ihre Hand, die ich fest an meine Brust drückte. –

»Ihm, diesem (sie zeigte lächelnd auf mich) zum Trotz, gab ich dem Grafen das Jawort, und bin – unglücklich!«

Fünftes Kapitel.
Fortsetzung.

Glücklich, glücklich! rief ich, und mein argloses Herz, aus welchem dieser Ausruf hervordrang, pochte vor Freude, ihr dies versichern zu können. Denn sie gab mir ja deutlich zu verstehen, daß sie mich liebte, und daß ihr ganzes Glück davon abhienge, des Grafen los zu werden, und dafür mich – – und mich konnte sie ja haben!

Ich muß lächeln, wenn ich mich dieser kleinen Züge der unerkünstelten Unschuld erinnere. Man muß uns unsre damalige Unerfahrenheit zu Gute halten, denn, genau gerechnet, waren wir ja beyde noch Kinder. Aber gewiß ist es, daß uns diese Treuherzigkeit in jenen Augenblicken unbeschreiblich glücklich machte.

»Wenn ich nur auf der Stelle einen Boten gehabt hätte, (fuhr Malchen fort) so hätte ich Ihnen in Triumph verkündigen lassen, daß ich nun einen Grafen heyrathen würde. Wären Sie gerade durch unsre Straße gegangen, so hätte ich alles angewandt, es Ihnen zu verstehen zu geben: so eifrig war ich darauf bedacht, Ihnen zu zeigen, wie wenig ich mir nun aus Ihnen machte. Aber es gelang mir nicht. Doch gab ich noch nicht alle Hoffnung auf, weil mir der Hochzeittag noch bevorstand, wo Sie mir gewiß nicht ausweichen konnten. Daß Sie so oft, und durch so mancherley Bekannte und Unbekannte zur Hochzeit gebeten wurden, haben Sie mir zu danken. Ich wollte Sie durchaus sehen, um Ihnen zu zeigen, daß ich nun mit einem Grafen vermählt würde, da Sie« –

Malchen sah von der Seite, und nickte drey oder viermal mit dem Kopfe, wie Kinder nicken, die sich entzweyt haben, um einander zu sagen: ich kann doch spielen ohne dich!

»Aber es hieß, Sie wären krank und würden nicht kommen. Auf einmal verschwand alle meine Heiterkeit, und eine tödtliche Unruhe trat an ihre Stelle. Zuweilen war es mir ganz dunkel zu Muthe, als ob die ganze heutige Feyerlichkeit nur angestellt wäre um Sie zu kränken; und als Sie wirklich nicht kamen, hatte ich ein sehr sonderbares Gefühl, das mich überredete, nun würde auch aus der ganzen Heyrath nichts werden. Aber welch ein unbeschreiblicher Schreck, als der Priester ins Zimmer trat! Noch zwey bis dreymal sah ich mich ängstlich nach Ihnen um, und als ich Sie nicht bemerkte – o, Moriz, ich hätte laut aufschreyen und aus dem Zimmer laufen mögen! Gesicht und Gehör verließen mich, vor meinen Augen ward alles schwarz, und, sobald ich das unglückliche Ja ausgesprochen hatte, ward ich ohnmächtig!«

»Man ermunterte mich zwar, aber ich kam den ganzen Tag nicht zu mir selbst. Hundertmal war ich im Begriff meinen Bräutigam »lieber Moriz« zu nennen, hundertmal erstarb das Wort auf meiner Zunge. Noch nie hatte ich so oft und so lebhaft an Sie gedacht, als heute, wo es Verbrechen geworden war, an Sie zu denken. Aber ich konnte – ich konnte mein Herz nicht bändigen, das Sie ungestüm von mir forderte. Sie schwebten mir vor Augen, und meine Blicke hingen an Ihrem Bilde. Meine Mutter machte mir Vorwürfe, daß ich an dem glücklichsten Tage meines Lebens so still und traurig wäre, und meinen Bräutigam ängstigte. Aber – der zeigte eben so wenig aufrichtige Freude, als ich, und die Gesellschaft machte sich auf seine Kosten lustig.«

»O, wie oft suchte Sie mein nasses Auge unter den Zuschauern und Gästen! Verschwunden war jede unfreundliche Empfindung gegen Sie. Nun wünschte ich Sie zu sehen, um – Ihnen mein Unglück zu klagen, nicht, um über Sie zu triumphiren. Und wenn ich mich dann so ganz in mich und meinen Kummer verlor, so war mirs immer, als ob mir jemand ins Ohr raunte: Du sollst ihn sehen! Sehnsuchtsvoll irrte dann mein Auge von neuem umher, um Sie unter der Menge zu entdecken, aber vergebens, immer vergebens!«

»Das Andenken an die kommende Nacht schlug mich vollends zu Boden. Mein Vater eilte fast angelegentlicher, als es der Wohlstand erlaubte, die Gesellschaft zum Aufbruche zu bewegen. Ich bat ihn, so oft es sich unvermerkt thun ließ, nicht so zu eilen, aber er lachte über meine Verlegenheit. Alles verlor sich nach und nach, und endlich sah ich mich nur noch mit meiner Mutter und der Gräfin in dem weiten Zimmer allein. O, das Herz hätte mir springen mögen, als sie mich bey der Hand nahmen und hieher führten. Ich weinte und schluchzte laut, und alle ihre Tröstungen, so wenig als ihre Scherze, vermochten etwas über mich. Ich bat nur um einen einzigen Tag Aufschub, aber sie waren unerbittlich, und ließen mich endlich allein.«

»Mein voriger Zustand war nichts gegen den, in welchen ich nun gerieth. Nun war alle Hoffnung verschwunden! Mögliche Umstände konnten mich nicht retten, mein armes Herz hing sich also an unmögliche, um doch nicht ganz der Verzweiflung zu erliegen. Ich schwärmte wie im hitzigen Fieber, und – o, lieber, lieber Moriz, was gesteh ich Ihnen nicht alles – Sie hatten den größ'ten Antheil an diesen Schwärmereyen. Ich vergaß über Ihnen den Grafen!«

»Aber ich hatte diesen letzten kleinen Trost nicht lange. Er erschien selbst und kam auf mich zu. Er war in der sichtbarsten Verlegenheit, und die Hand, womit er mich angriff, zitterte gewaltsamer, als die meinige. Auf seiner Stirn lag finstrer Mißmuth (so kam es mir vor) und seine Lippen, die er auf meine Hand drückte, waren eißkalt. Er klagte über Hitze und wüthendes Kopfweh, schwieg eine Zeitlang ganz, stammelte wieder ein paar Worte, und that endlich die Lichter bis auf ein Nachtlämpchen aus. Mit jedem erloschenen Lichtstrahl, erstarb ein Strahl meiner Hoffnung, und sie erlosch am Ende fast ganz, und flackerte nur noch zuweilen matt und bebend auf, wie das Lämpchen, das neben mir auf dem Tische stand. Und o! als er auch dies auslöschte, und um und um dicke Finsterniß im Zimmer lag – hin war meine Hoffnung, hin Gefühl und Bewußtseyn!«

»Ich erinnere mich nur noch ganz dunkel, daß der Graf nun angelegentlicher über Kopfschmerz klagte, und daß er endlich aus dem Zimmer ging, unter dem Vorwande, ein Flakon zu holen. Da war ich allein, in dem finstern, einsamen, todten Zimmer! Ich hörte nichts mehr, als das ängstliche Pochen meines eignen Herzens. Jetzt wünschte ich lebhaft, daß der Graf zurückkommen möchte. Ich tappte nach der Thür, fand sie, und machte sie leise auf, ich hörte jemand auf der Treppe, er kam näher, ich reichte ihm meine Hand – o, welch ein Unterschied! Aber ich hatte nicht Muth, mir denselben zu gestehen.«

»Statt der vorigen kalten, erwärmte jetzt eine feurige Hand die meinige, ein anderer Athemzug, ein festerer Tritt, ein Druck, der feuriger war, als des Grafen feurigste Umarmung – alles das hörte, fühlte ich – aber meine Brust war wie in Ketten geklemmt, ich hatte nicht Athem genug zu rufen, nicht Muth genug, zu zweifeln, nicht Kraft genug, mich loszuwinden. Ein dunkles, ahndendes Gefühl beschäftigte und erfüllte mein Herz, arbeitete und pochte in demselben, meine Augen sahen nichts, aber meine Hand leistete mir ihre Dienste – es war der Graf nicht, der mich in seine Arme schloß, er konnte es nicht seyn – »Und wer wäre es sonst?« lispelte es leise in meiner Seele, aber ich bekämpfte diesen Einwurf mit einem unüberzeugbaren, störrischen »er ist es nicht!« – Ach und er war es auch nicht! Moriz – Moriz – war es! das wußt' ich, das wußt' ich! Aber ich weiß nicht, woher ichs wußte!«

Mit diesen Worten warf sich Malchen in meine Arme und weg! über Erde und Himmel hinweg schwebten wir beyde!

Sechstes Kapitel.
Gräfin Waller erscheint, um – zu verschwinden.

Unter diesen Ergießungen wechselseitiger Zärtlichkeit brach der Tag an, und mit demselben ging ein neues Licht in meiner Seele auf. Denn bis daher hatte ich nur wenig, und gleichsam wider Willen an Vergangenheit und Zukunft gedacht. Jetzt machte ich mich auf große Begebenheiten gefaßt, und bestrebte mich, ihnen mit Unerschrockenheit zu begegnen. Aber Malchen war ausser sich vor ängstlicher Erwartung, und mein Muth schien ihre Angst zu vermehren, weil sie nicht Kräfte genug hatte, sich demselben anzuschließen.

Es pochte an der Thür und eine Stimme rief: Machen Sie auf, Herr von Lemberg! Malchen fuhr zusammen, aber ich sprang, den Degen in der Hand, nach der Thür, machte sie auf, und Gräfin Waller trat herein.

Sie machte die Miene eines Kaufmanns, der seinen Freunden lachend ankündigt, daß ihm eine kleine Spekulation, mit einem nicht nennenswerthen Verlust von funfzig tausend Thalern verunglückt sey. – »Guten Morgen, Frau mit drey Männern,« rief sie, indem sie auf Malchen zu hüpfte und vor Lachen ersticken wollte: »Hierdurch werden Sie (sie gab ihr ein zusammengelegtes Papier) hierdurch werden Sie zwey davon los: einen Grafen und ein Premier-Lieutenant, und nun wird Ihnen von selbst zufallen (indem sie sich nach der Thür zog, das Gesicht von mir abgewandt und die rechte Hand in der Lage, womit man Schellen auffängt) der Fähndrich!« – Husch! war sie zur Thür hinaus und mit schallendem Gelächter die Treppe hinunter. Nach einigen Minuten rollte ihr Wagen unter unserm Fenster hinweg und wir verloren sie bald aus den Augen.

Siebentes Kapitel.
Es ist ja richtig!

Die Schrift war an den Obersten von Lehmniz, Malchens Vater überschrieben. Ich erboth mich, ihm dieselbe auf der Stelle auszuhändigen, denn ihr Inhalt ging mich (wie ich aus den Worten der Gräfin schloß) viel zu nahe an, als daß ich hätte ruhig dabey bleiben können. Aber Malchen wollte lieber, daß ich seine Ankunft erwarten sollte, denn sie fürchtete immer noch, von dem Grafen überrascht zu werden. Der Oberste kam endlich mit seiner Gemahlin.

»Nein,« sagte er, als er in die Thüre trat: »so ganz richtig ist es diese Nacht nicht zugegangen. Ich bin ein paarmal über dem Gepolter aufgewacht. Nu, wir wollen jetzt sehn!«

Er erstarrte, als ich ihm so auf einmal in die Augen fiel! »Was Henker und Hagel!« rief er, indem er mich wild beym Arme nahm und ans Fenster zog: »Fähndrich Springinsfeld in einer Nachtjacke bey meiner Tochter? Ich bitt' euch um Gottes willen, sprecht, sprecht!«

Frau von Lehmniz stand ohne Bewegung von der Seite, und sah uns mit starren Augen an. Malchen konnte eben so wenig sprechen als ich. Stillschweigend reichte ich dem Alten die Schrift der Gräfin. Er riß sie ungestüm auf und einige Stücke Papier fielen ihm entgegen. Ich hob sie auf, setzte sie zusammen, und sahe, daß es ein zerrißner Ehekontrakt war.

»Verwünschte Pfote,« rief der Alte: »verwünschte Pfote!« und alle seine Glieder zitterten. »Lies Jettchen, lies!« Er gab seiner Gemahlin die Schrift, und sie las:

»Es sind diese Nacht in der Brautkammer Dinge vorgefallen, die sich mit Menschenzungen nicht aussprechen lassen« –

»Ha, Fähndrich!« rief Malchens Vater, und packte mich vor der Brust. Malchen that einen lauten Schrey, und Frau von Lehmniz suchte mich von ihm loszumachen. Ich hätte mich nicht gewehrt, und wenn er mich erdrosselt hätte!

Mein Gott! sagte Frau von Lehmniz – laß ihn doch nur los, bis ich alles gelesen habe!

»Nein,« rief er, »nein!« und dabey packte er mich noch grimmiger an, und schüttelte mich, daß mir die Zähne klapperten. Frau von Lehmniz las weiter:

»Mein Neffe hat zuweilen Anfälle von Unsinn und Verrückung, das hat er diese Nacht gezeigt. Ihre Tochter und der Fähndrich werden Ihnen erzählen« –

In dem Augenblicke nahm er Malchen bey der Hand und schüttelte sie eben so wie mich: »erzählt, erzählt!« rief er dabey wie ausser Athem. Hätte er Malchen noch einmal so geschüttelt, so wär' ich dazwischen gesprungen, aber er schien sich etwas zu mäßigen, und ich fing an zu erzählen. Während meiner Erzählung ward die Hand, womit er mich fest hielt, immer lockerer, und endlich ließ er mich ganz los und behielt nur noch Malchens Hand, die er hitzig hin und herschleuderte. Zuweilen fragte er: ist das alles wahr, meine Tochter? Malchen nickte dann jedesmal mit dem Kopfe, und blickte dabey ihre Mutter ängstlich von der Seite an.

Während meiner Erzählung trat Fräulein Louise ins Zimmer. »Was will sie hier?« fuhr er sie an, und Louise machte die Thür unter allen Merkmalen des höchsten Erstaunens langsam wieder zu.

Als ich meine Erzählung geendigt hatte, sprang er auf, ging nachdenkend im Zimmer auf und ab – plötzlich ergriff er das Pistol und fuhr zur Thür hinaus. Ich stürzte hinterdrein. Er rannte die Treppen hinunter und rief eines Rufens: Wo ist er? Wo ist er? der –

Aber kein Graf zu hören und zu sehen! Fräulein Louise sprang herzu, und sagte: er ist fort! »Warum,« schrie der Alte und griff nach ihrem Arm, »warum hast du ihn fort gelassen?« Das arme Mädchen zitterte und bebte und fiel mir halbohnmächtig entgegen. Ihr Vater ließ sie los, und blieb einige Augenblicke unbeweglich auf einem Flecke stehen. Auf einmal nahm er mich bey der Hand, schüttelte sie und sagte: bey den Haaren, hast du sie aus der Kammer geschleppt? – Ja, sagte ich, und die Treppe hinunter geworfen! Es schien, als ob er sich nach dieser Frage und Antwort ein wenig beruhigte. Er sah Louisen, die sich mit dem Kopfe gegen einen Pfeiler gelehnt hatte, an, und nahm sie bey der Hand. »Komm nur mit herauf Louischen,« sagte er sanft zu ihr, »daß du selbst siehst, daß du selbst hörst« – Er ward von neuem hitzig, aber nicht in dem Grade als vorher.

Wir gingen hinauf und fanden Malchen und ihre Mutter in Thränen. »Lies weiter!« sagte der Oberste und warf sich in einen Lehnstuhl, daß er laut krachte.

»alles erzählen!«

»Mein Gott, das hast du ja schon gelesen! sagte er zur Frau von Lehmniz und sie las weiter:

»Ihre Tochter wird mit einem Fähndrich, der seine gesunde fünf Sinne hat, besser fahren, als mit einem Grafen, der nicht richtig im Kopfe ist; deswegen erfolgt hierbey der Ehekontrakt zerrissen zurück und die Ehescheidung soll binnen hier und vier Wochen auf Ihrem Guthe seyn. Uebrigens würden Sie wohl thun, wenn Sie die ganze Sache schlafen ließen, und nicht durch einen unüberlegten Schritt uns alle, besonders aber Ihre arme Tochter, zum Gelächter machten. Ich habe mich deshalb entfernt, und Sie thun wohl, wenn Sie meinem Beyspiele folgen und sich nicht den Fingerzeigen der Welt aussetzen. Von meinem Neffen sage ich mich hiermit ein für allemal los, und Sie würden sehr ungerecht seyn, wenn Sie mich wollten büßen lassen, was er verbrochen hat. Wenn er Ihnen einmal in die Hände fallen sollte, (woran ich aber zweifle, denn er ist vor einer Stunde fort geritten und niemand weiß wohin) so werden Sie schon so mit ihm verfahren, (das traue ich Ihrem bekannten Gefühle für Ehre zu) daß er sich in Zukunft hüten wird, sich eine Gemahlin für einen Andern zu nehmen. Leben Sie wohl, und halten Sie die ganze Sache so geheim als möglich – das verlangt Ihre eigne und Ihrer Tochter Ehre.«

»Den Kopf spalt' ich ihm!« rief der Oberste: »darauf kann er rechnen! Und wäre das Weib nicht ein Weib – seht, Kinder! – Aber was meynst du, Jettchen – fuhr er zu seiner Gemahlin fort – der Blitzjunge hat die beyden Kerls bey den Haaren zur Thür herausgeschleppt? Hättest du ihm das wohl angesehen?«

Ja, das hat er gethan! rief Malchen und ihre Augen funkelten vor Freude. Frau von Lehmniz und Louischen sahen mich verwundert an. In den Mienen und Bewegungen der letztern zeigte sich eine aufs höchste gespannte Neugier; aber zum Unglück waren wir alle zu sehr vertieft, als daß wir auch die kleinste ihrer Fragen hätten beantworten können.

Aber, was soll nun werden? sagte Frau von Lehmniz.

»O, ich wollte, daß du mit deinen Fragen« – sagte der Alte: »Der Kopf ist mir ja so verrückt, daß ich noch nicht 'mal weiß, was geschehen ist, viel weniger, was geschehen soll. – Beym T** du kannst mir ja doch eine Viertelstunde Bedenkzeit gönnen!«

Wir wollen den Papa allein lassen! sagte Fräulein Louise – komm Malchen, du sollst mir erz–

»Durchaus nicht! Ihr sollt alle hier bleiben!« rief der Oberste. Louischen trat trostlos zurück.

»Noch eins, Jettchen« – sagte er zu Frau von Lehmniz: »examinire 'mal die da (auf Malchen zeigend) ob nicht – Henker! Du verstehst mich ja! Geh doch! Du weißt, als es noch kleine Krabben waren –«

Frau von Lehmniz nahm Malchen bey der Hand und führte sie zum Zimmer hinaus. Louischen wollte hinterdrein, aber die Thür ward ihr vor der Nase zugedrückt. Sie ging ans Fenster und die hellen Thränen schossen ihr über die Backen.

Mich nahm der Alte beyseite und sagte halblaut, halbleise: »Springinsfeld, hat der Teufel sein Spiel gehabt?«

Mir schoß mein ganzes Blut ins Gesicht und ich bebte ärger als ein Missethäter.

»Ja, Junge? Nicke nur, oder schüttle, wenn du es nicht sagen kannst!« Ich konnte weder nicken noch schütteln. Nicken wollt' ich nicht, und schütteln konnt' ich nicht, mithin stand mein Kopf wie eingerammelt.

Du sollst es ja nicht sagen! Nicke, oder schüttle doch nur! Du schüttelst nicht? Mithin ist es richtig! Nicht? – Du schüttelst nicht? – Es ist richtig, es ist richtig! rief er auf einmal und ließ mich los – Jettchen, komm 'rein, es ist richtig!

Frau von Lehmniz erschien mit Malchen. Er nahm die Hand der letztern und legte sie in die meinige. »Sieh, Jettchen,« sagte er zu Frau von Lehmniz und ein paar große Thränen stiegen ihm aus den Augenwinkeln: »Sieh nur – diese Kinder sollen sich heyrathen!«

»Heyrathen?« schrie Fräulein Louise und sprang mitten unter uns.

»Es ist ja richtig!« rief ihr Vater: »Kinder, es ist ja richtig! Was kann es anders werden? (er wandte sich zu seiner Gemahlin) Hast du's nicht auch richtig befunden?«

Malchen zerdrehete die Zipfel ihres Halstuches, ich sah an die Decke, und Fräulein Louise guckte andächtiglich durchs Fenster.

Achtes Kapitel.
Aussichten zu Mord und Todschlag.

Nach einigen Minuten trat ein Offizier ins Zimmer, und foderte mich im Namen des Premier-Lieutenants Rahm auf Schuß oder Stich. Die drey Frauenzimmer erschraken von ganzem Herzen, aber der alte Husar hatte eine innerliche Freude. »Ich sekundire ihm,« rief er – »Aber sagen Sie dem Herrn von Rahm zurück: brave Kerls schlügen sich auf den Hieb! Um Neun Uhr kann er ins *** kommen, da soll er uns finden; und wenn ihm der (er zeigte auf mich) nicht genug giebt, so kriegt ers von mir – denn sehen Sie (auf Malchen zeigend) das Mädchen ist meine Tochter! Sagen Sie ihm das wieder!«

Bey den letztern Worten fingen die drey Weiber laut an zu schreien.

»Hast du es vergessen,« sagte er zur Frau von Lehmniz: – »Daß ich mich mit drey Oestreichern 'rumgehauen habe? – Und du (zu Malchen) daß der diese Nacht die beyden Kerls bey den Haaren zur Stube 'rausgeschleppt hat? – Also! – Und nun gebt mir keinen Laut von euch, daß ichs höre?«

Darauf schickte er seinen Jäger fort, der meine Uniform und Degen holen mußte. Während der Zeit nahm er mich beym Arm, und ging mit mir im Zimmer auf und ab. Zugleich horchte er, ob eine von den Damen wimmerte, und hörte er einen Seufzer, so drückte er jedesmal meinen Arm fest an sich, um mich aufmerksam darauf zu machen.

Als meine Uniform kam, half er sie mir anziehen. Seine Uhr legte er auf den Tisch, und wenn eine Viertelstunde vorbey war, sagte er es jedesmal. Endlich schlug es drey Viertel auf Neun, und es wurden zwey Pferde vorgeführt. Nun konnten die ernstlichsten Drohungen die Weiber nicht mehr zurückhalten. Sie hingen sich wechselsweise an mich und an den Vater, aber er sagte ihnen statt alles Trostes: Die Ehre ruft! Habt euch nicht so närrisch, Kinder! – Für Malchen behielt er seinen kräftigsten Trostspruch bis zuletzt auf, denn erst unten an der Treppe sagte er zu ihr: er soll dir ein paar Finger mitbringen zum Brautgeschenk; freuest du dich nicht darauf, Töchterchen? – Aber Töchterchen wurde ohnmächtig! Ohne sich weiter um sie zu bekümmern, nahm er mich bey der Hand und sagte: Närrchen, es war ja nicht mein Ernst!

Neuntes Kapitel.
Nur zwey Finger! und die ganze Geschichte ist aus.

»Springinsfeld,« sagte er unterwegs zu mir: »es wäre doch so übel nicht, wenn Du ihm ein paar Finger kürzer machtest! Warum streckt er sie nach verbotener Frucht aus. Sieh (er zeigte mir mit seinem Hirschfänger eine Bewegung) wenn du, eh er sichs versieht, mit dem Degen von der Seite herumfährst, so sind die Finger, die am Griffe liegen bloß, und du kannst sie ihm mit einem Hieb abnehmen. Dann ist die ganze Geschichte aus, und ihr seyd wieder gute Freunde!«

Ich mußte dem alten wunderlichen Manne versprechen, mein Möglichstes zu thun, um ihm zwey Finger abzunehmen, und wir kamen in ** an. Rahm erschien mit seinem Sekundanten kurz nach uns.

Rahms Anblick brachte mich aus aller Fassung. Alle Ideen der vorigen Nacht wurden in meinem Kopfe von neuem rege, und ich griff eben so rasch nach meinem Degen, als ich vor einigen Stunden nach dem Pistol griff. Ich zog und legte mich in Positur.

Rahm ließ mich nicht lange warten. Sein Degen pfiff auf mich ein, und Schlag auf Schlag fiel hier und da!

»Was ich dir gesagt habe, Fähndrich!« sagte der alte Husar, der mir zur Seite stand – »das Brautgeschenk!«

Aber ich hatte es mit keinem Neulinge zu thun! Rahms Streiche fielen so rasch, so hageldicht, so gewaltig, daß solch ein frischer Arm dazu gehörte, als der meinige war, wenn er nicht am Degengriff erstarren sollte.

Keiner von uns gab einen Laut, aber der Alte machte bey jedem Ausfall ein Feldgeschrey mit seinem »Was ich dir gesagt habe, Fähndrich!«

Wir thaten drey Gänge, und von beyden Seiten kein Tropfen Blut. »Brave Jungen, brave Jungen!« sagte der Alte während der Pause – »Aber was ich dir gesagt habe!«

Zum viertenmal stürzten wir auf einander, und Rahm schien seine ganze Wuth und Stärke zusammenzunehmen. Hitziger als vorher drang er auf mich ein, und mit jedem Hiebe stieg seine Erbitterung. Seine Streiche wurden immer gewaltiger, aber seine Paraden immer sorgloser und unordentlicher, und als er endlich einen wüthenden Kopfhieb auf mich führte, that ich einen Seitenschritt, und hieb ihm über den Arm, daß sein Degen sank und ein Strom von Blut an demselben herunterschoß.

»Victoria!« schrie der alte Husar, und sprang zwischen uns – »Alles gut, alles vergessen! Nun vertragt euch!«

Rahm reichte mir mit weggewandtem Gesichte seine linke Hand, und als mich der Alte zum Versöhnungskuß schob, drehete er den Kopf, und ließ mich sein Ohr küssen.

»Pfui« – sagte der Oberste, indem er sein Schnupftuch herauszog, und es Rahmen fest um seine Wunde wickelte – »Blut macht gut! Ihr sollt und müßt euch vertragen!« Darauf drehete er mir Rahms Mund entgegen. Rahm lächelte, und umschloß mich mit seiner linken recht herzlich. Der alte Lehmniz that einen Luftsprung. Wir halfen dem Lieutenant auf sein Pferd, und er war im Begriff mit seinem Sekundanten, ohne uns, davon zu reiten, aber der Oberste sprengte hinterdrein, und sagte: »Rahm, Ihr hättet eure Schuldigkeit nicht halb gethan, wenn Ihr nicht mit mir rittet, und euch nicht noch mit meiner Tochter vertrüget. Denn seht nur, das arme Mädchen habt Ihr am meisten beleidigt!«

Mir wurde warm bey diesen Worten.

»O, ersparen Sie mir diese Demüthigung,« erwiederte Rahm – »zu allem andern steh ich zu Befehl!«

»Nun gut, bey einer andern Gelegenheit! Aber sagt mir nur, warum hat der Windbeutel nicht zu meiner Tochter ins Bette gewollt? Sie ist doch, beym T**! nicht häßlich!«

Schön wie ein Engel! sagte Rahm, und bey mir stieg eine Art von Verdruß auf, daß er sich unterfing, dies zu sagen: Aber heute verlangen Sie keine weitläuftige Erzählung von mir. Waller heyrathete nicht Ihre Tochter, sondern Ihr Geld. Sein Vermögen war durch die Lüfte, das hätten Sie bey der geringsten Nachforschung erfahren können. Seine Tante spürte Sie auf, bey einer Geschichte, die Lembergen betraf, und sie konnte nicht besser wählen, denn Sie sind der gutherzigste Mann von der Welt. Aber Waller hatte auf seiner Reise nach Paris mit seinem Vermögen – Alles verloren. Ich sollte das ersetzen, und er wollte das Geld nehmen! Dies sey Ihnen für heute genug. Wenn ich geheilt bin, erlauben Sie mir wohl einen Besuch auf Ihrem Guth?

»O, Du kömmst mit zur Hochzeit!« – erwiederte der Oberste: »Aber, das sag' ich dir: Hand von der Braut! Nun reit' in Gottes Namen, und laß dich verbinden!«

Er gab seinem Ungar die Spornen, und wir sprengten davon. Zu Hause empfingen sie uns mit lautem Freudengeschrey. Malchen musterte mich von oben bis unten, und eine sanfte Freude leuchtete aus ihren Augen, als sie mich so ganz unversehrt wiedersah. Unterdessen ließ ihr Vater anspannen, die Kutsche fuhr vor, und die ganze Familie stieg ein. Ich begleitete sie bis vor das ** Thor, wo mich der Oberste umkehren hieß. Malchen streckte mir ihr weißes Händchen aus der Kutsche her, und ihr Vater rief: »In vier Wochen, Springinsfeld! Sobald die alte Schlange in D** die Scheidung schickt, schreibe ichs dir: dann sitz' auf und komm!«

Moriz.
Fünftes Buch.

Erstes Kapitel.
Liebe und Subordination.

Während der vier Wochen hatte Malchen fleißig an mich geschrieben, und ich eben so fleißig an sie. Dieser ganze Zeitraum war für mich eine unendliche Kette von Freuden, die nur glückliche Liebe, welche mit allem, was die Hoffnung Entzückendes hat, genährt wird, so rein und lauter, so abwechselnd und ewig neu über ein zärtliches Herz ausschütten kann. Ich brannte vor Ungeduld, Malchen zu sehen, ich zählte anfangs jeden Tag, dann jede Stunde und endlich jede Minute. Diese däuchten mir jetzt einzeln länger, als anfangs der ganze Zeitraum von vier Wochen.

Endlich kam der Brief, der mir Nachricht gab, daß die Ehescheidung ausgewirkt und schon auf dem Gute des Obersten sey.

»Nun komm, Moriz,« schrieb mir Malchen, »flieg in meine Arme. Meine Augen sollen die ersten seyn, die Dich sehen, meine Arme die ersten, die Dich umschließen, meine Lippen die ersten, die auf den deinigen haften. Dein Athem soll mich zuerst anwehen, Dein Herz zuerst an dem meinigen pochen. Darum steige nicht vor dem Schlosse ab, wenn Du kömmst, sondern an der Gartenthür; sie soll offen stehen, und ich bin an derselben. Hand in Hand fliegen wir dann auf das Zimmer meines Vaters, und dann zu meiner Mutter, und dann überall hin. Ich schlafe nicht, bis ich Dich sehe, und werde nicht schlafen können, wenn ich Dich gesehen habe. Uebermorgen zwischen vier und sechs Uhr mußt Du bey mir seyn, und bist Du es nicht, so bist Du todt, oder Du liebst mich nicht mehr.«

Diese Zeilen gossen Feuer in meine Adern. Zu Fuße hätte ich fortlaufen mögen, wenn ich bedachte, daß mein Pferd erst gesattelt werden müßte. Ohne Urlaub wäre ich davon gesprengt, wenn mich nicht meine Kameraden gehalten hätten. Ich muß halb von Sinnen gewesen seyn.

»Zwischen vier und sechs Uhr muß ich da seyn!« sagte ich zu meinem General, als ich ihn um Urlaub bat, und glaubte ihm dadurch den allerkräftigsten Bewegungsgrund zur Erfüllung meiner Bitte angegeben zu haben.

»Es wird wohl etwas später werden, mein lieber Lemberg!« sagte der alte Krieger lächelnd, denn er wußte, wo es mir fehlte.

»Nicht eine Minute später,« sagte ich, »sie hält mich sonst entweder für untreu oder für todt!«

»Recht soldatische Bewegungsgründe, haben Sie zu Ihrer Reise, mein lieber Lemberg!« erwiederte er: »sie leuchten mir ein, und deßhalb sollen Sie morgen früh um neun Uhr den Urlaub haben!«

Ich erstarrte. Morgen früh um neun Uhr! Da hätte ich in sieben Stunden sechszehn Meilen reiten müssen. Unmöglich! Kaum hatte ich dies ausgerechnet, so drehete ich mich um, mit dem festen Entschluß, ohne Erlaubniß davon zu jagen.

»Sprudelkopf,« rief er ernsthaft: »ich weiß, was du willst! – Ein Soldat muß lieben und gehorchen können. Hier ist dein Urlaub auf sechs Monat, schon geschrieben, aber du bekömmst ihn nicht eher als morgen früh um sechs Uhr. Nun steht es bey dir, zu bleiben oder zu reiten.«

Ich ging stillschweigend nach der Thür.

»Sag' zu meinem Johann,« rief er mir nach: »daß er sogleich aufsitzt, und auf jeder Station Pferde in meinem Namen bestellt. Ihrer kannst du dich bedienen. Sorge nun, daß deine Liebe soviel von ihren Rechten nachläßt, als die Subordination von den ihrigen. Reise glücklich!«

Er ging. Ich sah ihm stumm und verstürzt nach, und das helle Wasser stand mir in den Augen.

Zweytes Kapitel.
Er kömmt und – sieht!

Welch eine Nacht hatte ich zuzubringen! Meine Liebe kämpfte unabläßig mit meiner Pflicht, besiegte sie, und ward von ihr besiegt. Meine Freunde thaten alles, um mich aufzuheitern, aber ich ward erst froh, als es sechs Uhr war. Der Adjutant brachte mir den Urlaub, und ich sprang auf mein Pferd, das schon seit zwey Stunden gesattelt vor meinem Quartiere gestanden hatte.

Armer Rappe! riefen meine Kameraden, und ich sprengte davon. Der Boden zitterte unter mir, und meine Haare und die Mähne meines Rosses sausten. Mein Geist war bey Malchen, und mein Körper sechszehn Meilen von ihr. Mein armes Pferd mußt' es entgelten, wenn jener durch irgend einen Zufall auf einige Minuten zu diesem zurückgerufen wurde.

Auf jeder Station schrieb man sich meinen und des Generals Namen sorgfältig auf, und versprach, Nachricht zu geben, ob die Pferde, die ich geritten, mit dem Leben davon kommen würden. Auf der letzten mußte ich mir das Pferd geradezu kaufen, weil der Postmeister dasjenige, was mich zu ihm gebracht hatte, vor seinem Hause umfallen sah.

Es war drey Viertel auf vier, als ich den Schloßthurm von Lehmniz erblickte. Beynah hätte ich vergessen, was mir Malchen so dringend aufgegeben hatte: durch den Garten mich dem Schlosse zu nähern.

Ein paar tausend Schritte von der Gartenmauer erhob sich ein kleiner Hügel, von dem ich alles übersehen konnte. Ich glaubte auf einer Terrasse mitten im Garten ein Frauenzimmer zu erblicken. Sie schien eilig die Terrasse herabzusteigen, als sie mich dahersprengen sahe. »Wer kann es anders seyn als Malchen,« rief ich laut: »sie eilt von der Terrasse, und mir entgegen!«

In wenig Minuten war ich an der Gartenthür; ich sprang vom Pferde, und band es an den ersten den besten Baum. Ich trat in den Garten; kein Malchen war da. »Und sie wollte doch an der Gartenthür seyn!« murmelte ich. – Ich ging die Allee hinan, die zur erwähnten Terrasse führte – kein Malchen zu sehen! – »Wenn sie auf der Terrasse war, konnte sie hundertmal herab zur Gartenthür und zurückgelaufen seyn, ehe ich den Garten erreichte« – murmelte ich wieder, und ich fühlte auf einmal die Kopfschmerzen, die mir die Luft und das Stoßen des Pferdes verursacht hatten. Als ich Malchen noch an der Gartenthür zu finden hoffte, fühlte ich sie nicht. Ich näherte mich der Terrasse. An dem Fuße derselben war ein chinesisches Gartenhäuschen, durch ein Seitenfenster sah ich hinein, und o! was sahe ich!

Malchen saß – mit einer Mannsperson in blauer Uniform auf einem Kanapee. Er hatte seinen linken Arm fest um sie geschlungen, sie ihren rechten um ihn. Sein Kopf ruhte an ihrer Brust, sie sahe schmachtend zu ihm hinab, er schmachtend zu ihr hinauf. Zuweilen schielten beyde, wie es mich dünkte, lächelnd nach dem Fenster, das vor ihnen war. Die Mannsperson kam mir sehr jung und sehr bekannt vor, aber ich hatte nicht Zeit, es zu untersuchen.

Die Bewegungen, die in dem unsäglich kurzen Momente, wo ich dies sah, gleichsam mörderisch mich ergriffen, mag keine Feder beschreiben, kein Pinsel malen, keine Zunge aussprechen. – Meinen Degen ziehen, in das Haus stürzen, der Mannsperson, die mir lachend entgegen sprang, und dadurch meine Wuth vermehrte, den Degen in die Seite stoßen, Malchen, die sich mir schreiend um den Hals warf, weit von mir wegschleudern, aus dem Lusthause in den Garten, durch die Allee zur Gartenthür hinausrennen, auf mein Pferd springen, und in gestrecktem Laufe davon eilen – alle diese gewaltsame Handlungen waren das Werk von zwey Minuten, deren schreckliche Qualen alles, was je ein menschliches Herz Grausames erduldet, was je die Einbildungskraft eines Menschenquälers Schmerzliches erdacht und erfunden hat, weit und weit übertrafen.

»Vier Pferde todt geritten,« sagte ich kalt und bitter: »um sie – in den Armen eines Andern zu sehen!« –

Diese Worte wiederholte ich einmal über das andre, indem ich jedesmal den Kopf langsam dazu schüttelte. Endlich erlag meine Seele dem Schmerze, meine Zunge ward stumm, mein Ohr taub, und mein starres Auge sahe nichts mehr als den Kopf meines Pferdes, das mich, wohin es wollte, im Sprunge forttrug.

Drittes Kapitel.
Ein Nachtstück.

Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, ehe meine Seele sich wieder so weit ermannte, daß sie einzelne Lichtstrahlen durch das Chaos von Empfindungen, die mein Herz zu sprengen drohten, zu werfen Gewalt genug hatte. Gewiß ist es, daß der Abend schon weit vorgerückt war, als mir die ersten Thränen, in die sich mein wilder Schmerz auflöste, über die Wangen herabrollten.

Ich wußte nicht, wohin mein Pferd mich getragen hatte, und dachte nicht eher daran, als bis mich ein gewaltiger Riß queer über das Gesicht, aufmerksam darauf machte. Ich befand mich in einem dicken Gebüsche, durch welches sich mein Pferd einen Weg bahnte, wahrscheinlich weil ich es von Zeit zu Zeit, ohne es zu wissen, gespornt hatte. Ich sprang ab. Jetzt fühlte ich erst, wie die körperlichen und geistigen Beschwerlichkeiten des Tages mich angegriffen hatten. Ich konnte mich nicht auf den Füßen erhalten, und meine Kniee sanken unwillkührlich unter mir zusammen. Mein Pferd blieb in einiger Entfernung von mir stehen, und stillte seinen Hunger mit den Blättern der umstehenden jungen Stauden.

Ich legte mich nieder. Auf meine Linke stemmte ich den Kopf, und mit der Rechten riß ich große Büschel Gras aus, und schleuderte sie weit von mir. Kein Seufzer, kein Laut kam über meine Lippen. Mein stummer Schmerz vergrub sich tief in mein Inneres, und da keine lindernde Tropfen über meine Wangen mehr flossen, mußte er in jenen ungestümen Bewegungen meiner rechten Hand sich ankündigen.

Malchen in den Armen eines Andern! Dieses Bild schwebte mir immerfort vor Augen, und peinigte mich am grausamsten. Zuweilen wurde es zwar von dem Bilde des Gestochenen verdrungen, aber dieses war mir bey weitem nicht so peinlich als jenes.

Unterdessen brach die Nacht ein. Mit ihr erhob sich ein Sturm, der in den Aesten und Wipfeln der umstehenden großen Eichen brauste, und sie bis auf die Wurzeln erschütterte. Um und neben mir rauschten und pfiffen die Blätter des Gebüsches, und große Regentropfen fielen mir einzeln auf Gesicht und Hände. Mein Pferd scharrte mit den Füßen, und wieherte vor Hunger und Kälte, während eine dicke Finsterniß alles was mich umgab in ihren schwarzen Schooß vergrub, und die ganze lebendige Schöpfung meiner Seele ähnlich zu machen schien.

Diese Empörung der Natur sagte der Empörung meines Herzens zu. Ich wickelte mich fest in meinen Oberrock, verbarg die Hände im Busen, das Gesicht unter meinem Schnupftuche, und dem Winde wandte ich gleichsam wie im Trotze den Rücken zu. So ganz in mich selbst versunken und verschlossen, sah ich den Bildern, die mir meine Einbildungskraft vorführte, mit Muth und Standhaftigkeit ins Gesicht, und endlich schien meine Seele ihrer gewohnt zu werden. Dies war Betäubung, aber eine sehr wohlthätige Betäubung, denn sie ließ Betrachtungen über die Zukunft in meiner Seele Raum.

Die Treulose je wiederzusehen, war ein Gedanke, vor dem ich zurückbebte, und doch schwebte sie immerfort vor mir. In meine Garnison zurückzukehren und mich von meinen Bekannten mit großen Augen ansehen, auch wohl aufziehen zu lassen, war ein zweyter, der mich um die Welt gejagt haben würde; und doch fühlte ich ein Verlangen, ihnen zu sagen, wie ich meinen Nebenbuhler bestraft hätte. Aber die Art, wie ich mich dabey benommen hatte, empörte mein Gefühl für Ehre, und machte mich schaamroth. Ich hatte ihn unversehens überfallen, und konnte fürchten, als Meuchelmörder verachtet und bestraft zu werden.

So vereinigten sich endlich Unwillen auf die Ungetreue, gekränkter Stolz, Furcht vor Verachtung, Schaam vor mir selbst, und endlich Angst des Mörders, um den Entschluß, nie wieder in meine Garnison zurückzukehren, in mir zur Reife zu bringen. Ich wollte bey einer andern Macht unter einem andern Namen Dienste nehmen, sollte es auch nur als Gemeiner seyn, um mich dadurch auf immer den Nachforschungen meiner Freunde zu entziehen.

Kaum war dieser Entschluß gefaßt, so sprang ich auf, um ihn auszuführen. – Aber, wo war ich? Auf welchem Wege war ich in dieses Gebüsche gekommen? Wie sollte ich mich herausfinden? Ich nahm mein Pferd her, setzte den Fuß in den Steigbügel, um davon zu reiten, und setzte ihn wieder auf die Erde, um den Tag zu erwarten. Mitten unter diesen Bewegungen hörte ich einen Hund bellen, der, nach dem Schalle zu urtheilen, nicht weit von mir seyn konnte. Ich arbeitete mich nach der Seite, wo der Schall herzukommen schien, durch das Gebüsch und zog mein Pferd hinter mir her. Das Gebell des Hundes kam mir immer näher, und endlich gelangte ich auf einen lichten Platz, an dessen einem Ende ein dürftiges Licht durch Gebüsche schimmerte.

Wäre es mir auch nur von weitem wahrscheinlich gewesen, ohne fremde Hülfe aus dem Walde zu kommen, so hätte ich mich dem Lichte gewiß nicht genähert, weil ich mir einbildete, man würde alles, was mir begegnet war, auf meinem Gesichte lesen können; und wirklich ging ich auch nicht eher auf das Licht zu, als bis ich, nach verschiedenen Seiten hin, einen Weg aus dem Walde gesucht, aber nicht gefunden hatte.

Viertes Kapitel.
Der alte Hans.

Ich pochte mit zitternder Hand an den Fensterladen. »Wer ist da?« rief eine männliche Stimme. »Ein Reisender, der sich verirrt hat!« antwortete ich. »Will gleich aufmachen!« rief der Mann, und ich konnte es hören, wie er aus dem Bette sprang. »Um Gottes willen! ließ sich eine weibliche Stimme vernehmen: mache nicht auf, Mann, wer weiß, wer es ist; es können wohl mehr seyn als einer. Sie schlagen uns todt, noch ehe wir um Hülfe schreien können!«

Der Verdacht des Weibes machte, daß mir alle Glieder zitterten. Sie hielt mich für einen Mörder, das griff mir ans Herz. Hätte ich mich nicht für einen gehalten, würde ich nicht gezittert haben. Es fehlte wenig, so hätte ich mich von neuem in das Dickigt zurückbegeben.

Der Mann schien sich zu bedenken. Endlich sagte er: ich will meine Büchse nehmen, und in Gottes Namen aufmachen! »Und ich nehme die andere!« sagte die weibliche. – »Und ich des Vaters Hirschfänger!« eine dritte Stimme, die ich einem Knaben zuschrieb.

Die Thüre ging auf, und ein langer Mann, der in der rechten Hand ein Gewehr und in der linken eine Leuchte hielt, trat heraus. Hinter ihm stand eine halbangezogene Frauensperson, welcher die Haare wild um den Kopf hingen, und neben ihr ein Knabe, der in der rechten Hand einen bloßen Hirschfänger hatte, und mit der linken sich fest an dem Vater hielt.

Der Mann wiederholte seine Frage, und ich trat näher und gab ihm die vorige Antwort. Mein Pferd, dessen Zaum ich in meiner linken Hand hielt, streckte seinen Kopf über meine rechte Schulter, und gab den Laut von sich, den die Pferde hören lassen, wenn man ihnen zu fressen bringt, oder wenn sie nach einer Tagereise eine bekannte Herberge vor sich sehen.

Der Mann machte einen langen Hals, und leuchtete das Pferd an. – »Ey, alter Hans,« sagte er, und richtete, ohne sich um mich zu bekümmern, seine Worte an mein Pferd: »wie kömmst du hieher?« – Dieses sagte er mit einer Freude, als wenn er einen alten Freund, den er lange für todt gehalten, unverhofft wiedergefunden hätte. »Ach, unser Hans, Mutter!« rief der Knabe, und sprang hervor. »Wer hätte das gedacht?« sagte die Mutter, und trat auch zu meinem Pferde hin. Ich mochte sagen und fragen, was ich wollte, man hörte mich nicht. Ihre Furcht vor Räubern und Mördern schien völlig verschwunden zu seyn: wie konnten sie auch etwas Böses von einem Menschen erwarten, der sich als den Besitzer ihres alten geliebten Hansen ankündigte?

Der alte Hans war immer das dritte Wort, während ich von einer brennenden Ungeduld gefoltert wurde. Endlich ließ ich dem Knaben den Zügel, und er führte das Pferd in das Haus. Die Mutter nahm dem Vater die Laterne aus der Hand und leuchtete dem Buben. Ich folgte dem Vater in die Stube.

»Ja,« sagte er, »wenn Sie meinen Hans nicht gehabt hätten, würden Sie nimmermehr nach meinem Hause gekommen seyn. Ich habe ihn erst vor acht Tagen an den Postmeister zu G* verkauft. – Bleiben Sie nur diese Nacht bey mir, morgen in aller Frühe bringe ich Sie aus dem Walde!«

Ich ließ es mir nothgedrungen gefallen, und nachdem ich ihm über seinen Hans mit drey Worten Auskunft gegeben hatte, erfuhr ich, daß ich mich in dem A* Gebiethe ohnweit W*, mithin sechs Meilen von Lehmniz und sieben Meilen von L* befände.

Der Alte ward sehr gesprächig, aber ich hörte wenig von allem was er sagte. Wie konnte ich es auch bey dem Sturme von Empfindungen, der in meiner Brust tobte? Ich stämmte mein Haupt auf beyde Hände, sah starr vor mich hin, und antwortete ihm endlich gar nicht mehr.

»Der junge Herr ist verdrüßlich,« sagte er zu Frau und Sohn, als sie zurückkamen, und mir erzählen wollten, daß sie den alten Hans in den Stall geführt und ihm zu fressen gegeben hätten: »Laßt ihn in Ruhe! – Doch setz' ihm zu Essen her,« fuhr er zur Frau fort, »wenn er etwa hungrig ist, und dann geh mit dem Jungen schlafen. Ich lege mich nicht mehr nieder, es ist bald zwey Uhr.«

Die Frau brachte Milch, Butter und Brod und entfernte sich mit dem Knaben. Der Alte näherte sich mir und sagte: »Junger Herr, hier ist zu essen, wenn Sie essen wollen, und dort mein Bette, wenn Sie schlafen wollen!« – Ich sah ihn gerührt an und reichte ihm stillschweigend meine Hand. Aber ich hatte weder Eßlust noch Schlaflust.

Sobald der Tag anbrach, setzte ich mich in Bewegung. Meinen Wirth fand ich bey meinem Pferde. Er hatte ihm zu Fressen gegeben, und war im Begriff, es zu striegeln. Ohne ihm ein Wort zu sagen, nahm ich Sattel und Zaum. Er wand mir beydes aus den Händen und sagte: ich sollte ihm die Freude lassen, seinen alten Hans zum letztenmale zu satteln. Diese Freude ließ ich ihm gern. Voller Ungeduld ging ich auf den Hof, denn er fing von neuem an zu bitten, daß ich doch noch ein Stündchen länger warten möchte. Man weiß schon, um wessentwillen er bat.

Endlich nach langem Zaudern führte er ihn aus dem Stall, und ich sprang in den Sattel, ohne zu bedenken, daß ich nicht durch die niedrige Hausthür würde reiten können. Ich mußte also wieder absteigen, und das Pferd durch das Haus führen. Vor der Thür sprang ich von neuem auf, und ritt davon. »He,« rief mir der Alte nach, »wissen Sie denn den Weg?« – Er schüttelte bedenklich den Kopf, und schien gar nicht mit sich einig werden zu können, was er aus mir machen und wie er sich mein Betragen erklären sollte.

Welch eine Pein für mich, daß ich meinem Wegweiser zu gefallen langsam reiten, länger als eine Stunde langsam reiten mußte. Die hellen Tropfen standen mir vor der Stirn, und tausendmal fragte ich ihn: kann ich den Weg nun allein finden? Endlich sagte er ja, und schon hatte ich die Füße aufgehoben, um meinem Pferde die Spornen zu geben, als es mir erst einfiel, dem guten Alten zu danken. Ich griff in meinen Beutel und reichte ihm, was mir in die Hand fiel. Er wollte nichts nehmen und ich brannte vor Eifer, es ihm zu geben, weil ich – fort mußte. Als er mir endlich zu viel Umstände machte, warf ich eine ganze Hand voll Silbergeld hitzig über ihn her, und sprengte davon. Er rief mir nach: »da heißts wohl recht, es schneyet Geld!« – Ich sah mich nicht nach ihm um – – »Adje Hans!« rief er noch stärker. – Mir hatte er keine glückliche Reise gewünscht.

Fünftes Kapitel.
Funken unter der Asche.

Nach einer Stunde sah ich mich glücklich im Freyen. Ich erkundigte mich bey dem ersten Bauer, der mir begegnete, nach dem Wege, der nach W* führte. Ich erfuhr, daß ich die Landstraße nur verfolgen dürfe, um gerade auf die Stadt zu stoßen. Aber es war meine Absicht, um sie herum und nicht hinein zu reiten.

Mein Entschluß war nun gefaßt: ich wollte gerade nach B* und mich dort zu K* Diensten anwerben lassen. Es war mir gleich, wozu man mich machen wollte, zum Kavalleristen oder Infanteristen, zum Kaporal oder zum Gemeinen – wenn ich nur meinen Bekannten und Freunden verborgen blieb.

Gegen Abend befand ich mich nicht weit von D*. Ich war fast in einem Zuge fortgeritten, und hatte mir kaum Zeit genommen, des Mittags mein Pferd füttern zu lassen und selbst einige Bissen zu mir zu nehmen. Ich war Willens, noch diese Nacht wenigstens bis zur B* Gränze zu reiten, aber ein unwiderstehlicher Schlaf überfiel mich, während ich in einer Dorfschenke am Tische saß und meinen Gedanken nachhing. Als ich am andern Morgen erwachte, fand ich mich noch in eben der Stellung, in welcher ich den Abend vorher eingeschlafen war. Es herrschte eine Stille in meiner Seele, die mich überzeugte, ich sey ganz ruhig und habe von den gewaltsamen Empfindungen, die mich bisher Tag und Nacht umhertrieben, nun nichts mehr zu fürchten.

Ich setzte meine Reise fort, und in einer halben Stunde hatte ich D* vor mir. Auf lauter Abwegen, über Sand und Wiesen und Aecker, ritt' ich um diese Stadt, und ließ mich an eben der Stelle, und vielleicht noch auf eben derselben Fähre über die Elbe setzen, die mich als Knabe überfuhr, nachdem ich dem Bedienten meines Vaters aus dem Wirthshause unter den Händen entlaufen war.

Binnen drey Stunden war ich an der B* Gränze. Jetzt fiel es mir erst ein, daß ich in meinem Anzuge wohl nicht in B* hineingelassen werden dürfte. Unter meinem grünen Oberrocke trug ich die ganze S* Uniform, an meinem Degen das S* Porte-Epee und um meinen Hut S* Kordons. Alles mußte ich ablegen, weil ich mich durch keinen Paß verwahren konnte.

Ich ritt in den Wald, der vor mir lag, und stieg in einem dicken Gebüsche vom Pferde. Zuerst schnitt ich die Kordons von meinem Hute, sodann zog ich meine Uniform aus und legte endlich meinen Degen ab. Mein Herz war unbeschreiblich beklemmt, und wenn ich die vor mir liegenden Kleidungsstücke ansah, stiegen mir unwillkürlich die Thränen in die Augen. Ich trug endlich das Ganze zu einer Fuchshöhle, die in der Nähe war, steckt' es hinein und vergrub es unter Reisern, Sand und Steinen. Mit gefalteten Händen, den nassen Blick auf die Stelle geheftet, wo ich meinen vorigen Stand begraben hatte, stand ich da, und brach endlich schluchzend in die Worte aus: so ist denn alle Hoffnung zur Rückkehr verschwunden? –

Ich erschrak vor mir selbst. Ich weinte, daß ich nicht mehr zurückkehren konnte, und schnitt mir selbst alle Hoffnung zur Rückkehr ab. Ich war Tag und Nacht geritten, um ihrem Bilde zu entfliehen, und nie war es mir näher, als jetzt. Ich verabscheuete sie, als ich sie sah, und liebte sie, als ich dreyßig Meilen von ihr war!

O Liebe, du bist der Phönix, der sich selbst verbrennt, um auf neuen Fittigen emporzuschweben. Du bist der Vogel, von dem man sagt, daß er seine Jungen mit eignem Blute nähre. Du bist das Bild der Natur, die ewig sich selbst entblättert und ewig neue Knospen treibt. Dein Schmerz ist Wollust, deine Wollust ist Schmerz. Du siehest mit verschloßnen Augen, und mit offnen bist du blind. Du bist nur selten Du selbst; unter tausend Gestalten quälst oder beglückest du das Herz, in welchem du wohnest; du bist Hoffnung und Verzweiflung; du bist Honig und Wermuth, Ruhe und Unruhe, Leben und Tod; du bist das alles auf einmal, und vereinigest das alles, sobald du willst, in einem Blick, in einem Seufzer, oder in einer Thräne.

Sechstes Kapitel.
Moriz wird Jäger.

Alle die gewaltsamen Empfindungen, die von dem Augenblick an, wo ich Malchen in eines Andern Armen gesehen hatte, in meiner Seele stürmten, bekamen jetzt neue Nahrung, und durchliefen, wie damals, alle die Grade von Eifersucht, Wuth, Unwillen und Schmerz, bis sie endlich, wie damals und durch eben dieselben Gegengründe verdrängt, in den festen Entschluß zusammen flossen: die Treulose nie wieder zu sehen, und deßhalb nie in jene Gegenden zurückzukehren.

Ich sprang auf mein Pferd und ritt weiter, aber doch langsamer als ich seit zwey Tagen zu reiten gewohnt war.

»Reiten wir Einen Weg?« hörte ich eine Stimme hinter mir.

Ich sah mich um, und erblickte einen Herrn auf einem stolzen Engländer. Ihm folgte ein Reitknecht zu Pferde, dem zwey Büchsen über der Schulter hingen.

Vielleicht! erwiederte ich: Ich reite nach B*.

»Der Herr ist schon d'rin!« sagte er lächelnd. Ich muß über und über roth geworden seyn.

»Der Herr ist ein Jäger?«

Ja, sagte ich in aller Eil, um seinen Fragen auszuweichen.

»Und sucht Dienste?« fuhr er fort.

Ja! sagte ich noch einmal eben so eilig, und der Gedanke, mich für einen Jäger auszugeben, gefiel mir. Mein grüner Oberrock hatte ihn wohl zunächst auf diese Frage gebracht.

»Aber wie kömmt der Herr hieher?«

Ich weiß nicht genau, was ich ihm in der ersten Angst erzählte, aber das weiß ich, daß kein Zug aus meiner wahren Geschichte darin war. Ich machte mich zu einem Land-Jägers Sohn aus dem P*. Ich wäre ausgetreten, sagte ich, um der Muskete zu entgehen, womit man mir gedrohet habe. Da meine Flucht heimlich geschehen, hätte ich mich weder mit Pässen noch mit Attestaten zu meinem künftigen Fortkommen versehen können, also würde mir doch wohl am Ende nichts übrig bleiben, als die Muskete.

Die Angst ist eine vortrefliche Lügnerin. Zu jeder andern Zeit hätte ich stundenlang auf einen solchen Roman sinnen können, und doch wohl nicht soviel Wahrscheinlichkeit hineingebracht. Mir ward es ganz leicht ums Herz, als ich ihn glücklich verwickelt und entwickelt hatte.

Der Herr nahm mich einigemal scharf aufs Korn. Mein Gesicht und überhaupt mein ganzes Aeussere schien ihm zu gefallen. Er ritt eine Weile stillschweigend neben mir und sagte endlich: Mein Sohn, es wäre schade um dich, wenn du wider Willen Soldat werden solltest. Willst du bey mir als Jäger bleiben?

»Aber ich bin erst zwey Jahre bey der Jägerey gewesen!« sagte ich mit derjenigen bewundernswürdigen Geistesgegenwart, die ich nun schon seit fünf Minuten an mir gewohnt war.

Daran liegt nichts, erwiederte er, mein alter Tobias wird dir alles sagen und zeigen, was du noch nicht weißt. Versprichst du treu und fleißig zu seyn?

Ja, sagte ich und reichte ihm meine Hand. Er lächelte, und ich fühlte mein Gesicht glühen, darüber, daß ich meine Rolle vergessen hatte. Ich, ein angenommener Jäger, reiche meinem Gebieter die Hand! Ich glühete noch stärker, als er zu mir sagte: Nun, so reite hinter mir, und glühete am allerstärksten, als mich der Reitknecht, mit dem Titel: Herr Kamerad, beehrte, und mir die Hand reichte.

Ein Glück für mich, daß mein Herr in diesen Augenblicken weiter keine Fragen, meine Geschichte betreffend, an mich that, ich würde sonst alles schlecht gemacht haben, was ich vorhin gut gemacht hatte. In weniger als einer Stunde kamen wir auf dem Schlosse des Grafen an. Daß er ein Graf sey, sagte mir mein – Kamerad.

Siebentes Kapitel.
Morizens Lage.

Ich war einsam, in mir selbst verschlossen und stumm. Der Graf fragte mich täglich, ob ich von Natur so wäre, und ich bejahete es. Die übrige männliche und weibliche Dienerschaft sah mich mit großen Augen an und steckte den Kopf über mich zusammen. Alle ihre Blicke waren unaufhörlich beschäftigt, um den Wunderjäger zu ergründen, der bey höchstens achtzehn Jahren nicht spielte, nicht trank, fast gar nicht sprach, sich weder auf dem Schlosse noch in dem nahgelegenen Dorfe ein Mädchen suchte; von dem der alte Tobias (des gnädigen Herrn rechte Hand) sagte: er sey ein braver Pursch; den der Graf immer als Muster der Treue und des Fleißes den Uebrigen vorstellte; an dem die gnädige Frau eine feine Haut und edle Miene bemerkt haben wollte; von dem die Gouvernante gesagt hatte, er schiene sogar »monde« zu besitzen; von dem endlich die Vertraute der gnädigen Frau, ihre Kammerjungfer, die noch keine Mannsperson hatte leiden können, sich nicht undeutlich verlauten ließ, daß er ihr nicht übel gefiele, und daß sie, wenn sie sich je entschließen könnte, zu heyrathen, allenfalls seine Frau zu heißen sich nicht schämen würde.

Dieses gab mir eine Ueberlegenheit im Hause, die mir bey meinem Hange zur Einsamkeit lästig ward. Alles drängte sich zu mir, um mich zu unterhalten, und mich, wie man sagte, aufzuheitern; alles fragte mich bey seinen kleinen Angelegenheiten um Rath; die Gouvernante selbst ließ sich herab, mit mir Französisch zu sprechen, als ich es bey einer gewissen Gelegenheit verrathen hatte, daß ich diese Sprache verstände; und die Kammerjungfer sogar, wirbelte sich, wenn sie ein neues Kleidungsstück angezogen hatte, so lange vor meinen Augen herum, bis sie geradezu oder durch Umschweife von mir herausgebracht hatte, daß sie gut und mit Geschmack gewählt habe. Alle diese Erscheinungen stiegen dem alten Jäger Tobias, der ein großer Denker war, zu Kopfe, und er pflegte immer zu mir zu sagen: Wilhelm, wenn du nicht ein Jägerssohn bist, so mußt du wenigstens ein Fürstenkind seyn.

Ich lächelte zu solchen Aeußerungen und schwieg.

Achtes Kapitel.
Der Graf und sein Haus.

Der Graf war ein Mann von ungefähr funfzig Jahren: ein wilder Jäger, was er aus einem wilden Soldaten geworden war; hitzig, aber immer bereit, was er in der Hitze gethan hatte, wieder gut zu machen; ohne modische Bildung und Lektüre, aber reich an praktischen Regeln des Lebens, wie er sie für die individuelle Lage seiner physischen und moralischen Umstände brauchte; rechthaberisch bis zur Unziemlichkeit in Sachen, die er zu verstehen sich einbildete, und fast auf eine kindische Art gelehrig, wenn man ihm etwas vortrug, daß er noch nicht wußte, und was er brauchen zu können glaubte; im eigentlichsten Verstande Herr in seinem Hause, und bis zur unleidlichsten Hartnäckigkeit eigensinnig in dem System der häuslichen Angelegenheiten. Seine Gemahlin hatte er geheyrathet, um den Familienstamm aufrecht zu halten, und weiter bekümmerte er sich nicht um ihre Beschäftigungen und ihren Zeitvertreib.

Die Gräfin war noch sehr jung, und, als ich in das Haus kam, erst zwey Monate mit dem Grafen verheyrathet. Dieses ungleiche Alter, noch mehr aber die Art des Grafen, mußten nothwendig eine seltsame Gattung von Ehe hervorbringen. Er schwärmte ganze Tage auf Feldern und in Wäldern umher; sie saß ganze Tage in ihrem Zimmer, und vertrieb sich die Zeit, so gut sie konnte, mit weiblichen Arbeiten, mit Büchern, und mit zwey Fräulein aus der Verwandschaft des Grafen. Zuweilen, aber doch nur höchstens einmal die Woche, hatte sie Besuche von Frauenzimmern, die sich aber immer entfernten, so bald der Graf in seine Mauern einzog. Selten machte sie Gegenbesuche, weil es der Graf nicht gerne sah, daß sie abwesend war. »Aber wie kann solch eine junge Dame das einförmige Leben aushalten?« fragte ich einmal den alten Tobias – – »Das macht,« erwiederte er, »weil sie der Herr aus einer Pension zu L* geradezu weggeheyrathet und sie zur Gräfin gemacht hat, weil er ihr giebt, was sie wünscht, weil er kein anderes Frauenzimmer ansieht, und weil er regelmäßig alle Abende mit ihr zu Bette geht.«

Der alte Tobias war, wie man sieht, ein alter Schalk.

Die beyden erwähnten Fräulein waren noch jung, und standen unter dem Scepter einer Gouvernante, die in ihren besten Jahren war, und wiederum von einem Piaristen geleitet und geführt wurde. Dieser unterrichtete die beyden Fräulein im Christenthum und die Gouvernante in der deutschen Sprache. Der alte Tobias nahm vor dem Mönch den Hut nicht ab, und räusperte sich immer, wenn er die Gouvernante sahe. Ich fragte ihn nach der Ursach dieses Betragens, und er gab mir zu verstehen, daß er einmal in der großen Laube dazu gekommen wäre, als der Pater der Gouvernante – keine Kollegia über die deutsche Sprache gelesen hätte. Es wäre gerade in der Brunstzeit gewesen – setzte er in aller Unschuld hinzu.

Er wüßte wohl noch mehr von diesen beyden Leuten, fuhr er fort, aber er wartete nur auf eine Gelegenheit, wo er ihnen noch näher auf die Fährte kommen könnte. Sodann sollte der Herr alles erfahren.

Uebrigens zerfiel das ganze gräfliche Haus in zwey Hauptparteyen. An der Spitze der einen stand der Graf mit der ganzen männlichen, und an der Spitze der andern, die Gräfin mit der ganzen weiblichen Dienerschaft. Der Mönch wußte es mit beyden sehr geschickt zu halten.

Neuntes Kapitel.
Rückfälle.

Als ich ungefähr vierzehn Tage in dem Hause des Grafen gewesen war, kam der Briefbote aus der nächsten Stadt mit einem Brief an die Gräfin. Da er meiner zuerst ansichtig ward, so überreicht' er ihn mir, daß ich ihn der Gräfin aushändigen sollte.

Ich blickte von ungefähr auf die Adresse – und o! wie ward mir! Ich glaubte Malchens Hand in derselben zu erkennen. Wie ein Wirbelwind plötzlich einen stillen See empört, und seine Gewässer zu hohen schäumenden Wellen aufregt – so drang diese Vorstellung in mein Herz, das ich seit einigen Tagen, vielleicht aus bloßer Eigenliebe, für ganz beruhigt gehalten. Der Funke, der tief im Innersten versteckt gelegen hatte, schlug in helle Flammen auf.

Ich zitterte, und ließ den Brief dreymal fallen, und hob ihn eben so oft wieder auf. Ich las die Aufschrift, und las sie immer wieder, zergliederte jeden Strich, jeden Buchstaben, jeden Federzug, und zermarterte meine Augen so lange, bis der ganze Brief in eine schwärzlichgraue Masse zusammenfloß, die mich keinen Buchstaben mehr erkennen ließ.

Der Briefbote, der vermuthlich nicht ohne Befremdung mein seltsames Betragen angesehen haben mochte, brachte mich dadurch ein wenig zu mir selbst, daß er in mich drang, den Brief abzugeben, er habe nicht Zeit zu warten.

Ich erinnerte mich, daß ich die Gräfin vor einigen Minuten im Garten gesehen hatte. Wie ausser mir lief ich hinein, fand sie, überreichte ihr den Brief und sagte: Hier ist ein Brief von Ma–

Ich erschrack tödtlich, während ich noch im Begriff war, die andere Hälfte des Wortes Malchen auszusprechen.

Von wem? sagte die Gräfin. Sie sah mich zum Glück nicht an, sondern las die Aufschrift.

Von der nächsten Stadt! stammelte ich, und drehete mich eilig um. Als ich einige Schritte von ihr war, rief sie mich zurück. Ich stand zitternd von der Seite.

»Wilhelm,« sagte sie: »ich muß Sie schon sonst irgendwo gesehn haben, eh' Sie in unser Haus gekommen sind.«

Mir lief es kalt über den Rücken.

»Ich wüßte nicht wo!« stotterte ich, und wollte fort.

Etwa in L*? sagte sie.

»Nein, nein,« rief ich, »nein, nein!« und lief beynah im Sprunge davon, indem ich die Bewegung mit der linken Hand machte, die man zu machen pflegt, wenn man etwas verneint, das man bejahen sollte. Ich glaubte ihr dadurch recht geschickt bewiesen zu haben, daß ich nie in L* gewesen wäre.

Alles vereinigte sich, um mich in die tödtlichste Unruhe zu setzen. Zwey volle Stunden hatte ich zu kämpfen, eh' ich mich bereden konnte, meine Phantasie habe mir mit der Adresse einen Streich gespielt, und die Gräfin müsse irgend einen andern für mich angesehn haben. Aber, daß sie mich gerade in L* gesehn haben wollte! Diesen Einwurf widerlegte ich damit, daß ich mich nicht erinnerte, sie in L* gesehn zu haben. Man bewundere die unumstößliche Beweiskraft dieses Arguments. Daß der Brief nicht von Malchen gewesen, bewies ich mir damit, daß ich ihr Wappen sogleich müßte gekannt haben. Ich hatte es längst vergessen, daß ich während der Hitze und Anstrengung, womit ich die Buchstaben der Aufschrift untersuchte, gar nicht daran gedacht, das Siegel zu untersuchen.

Am Abende dieses Tages saß ich mit dem alten Tobias auf dem Schloßhofe unter der Linde. Er sprach nicht viel, und ich noch weniger. Eh' ich mirs versah, stand das Kammermädchen der Gräfin vor uns, und suchte uns Rede anzugewinnen. Der alte Tobias duldete sie, weil sie ein kluges Mädchen war, weil sie ihm immer den grauen Bart krauete, und weil er sahe, daß ich mir ihr Geschwätz zuweilen hatte gefallen lassen. Sie brüstete sich nicht wenig, wenn sie bey mir saß, weil sie die einzige vom weiblichen Gesinde war, die ich nicht zurückschreckte. Alle ihre Gespräche liefen am Ende auf Liebe und Heyrathen hinaus, und zwar blos darum, weil sie sich, nach ihrem Geständniß, weder zum Lieben noch zum Heyrathen versucht fühlte.

Diesen Abend unterhielt sie mich über das Kapitel der Untreue und der Unerklärbarkeit der Männer, und führte ein Beyspiel davon an, welches das Maaß meiner Unruhe voll machte.

»Die Gräfin hätte heute einen Brief bekommen,« sagte sie: »von einer Freundin, mit welcher sie zu L* in Pension gewesen wäre.« –

Bey diesen Worten regten sich alle meine Haare auf der Scheitel.

»Die Gräfin hätte ihr zwar den Brief von Anfang bis zu Ende lesen lassen,« fuhr sie fort, »aber er wäre so lang gewesen, daß sie nicht alles hätte behalten können. Genug, ihre Freundin habe einen Herrn sehr lange und von ganzem Herzen geliebt, und habe geglaubt, auch von ihm geliebt zu seyn; aber ein paar Tage vorher, da die Hochzeit hätte vor sich gehen sollen, wär' er gekommen, habe sie unversehens überfallen, und ihre Schwester mit dem Degen gestochen, doch ohne ihr Schaden zu thun, wäre sodann davon geritten und niemand wisse, wohin!«

Ich bekam wieder Athem bey den Worten »ihre Schwester gestochen« denn ich wußte sehr genau, daß ich eine Mannsperson gestochen hatte; aber ruhig machte mich dieser Gedanke nicht, weil die übrigen Umstände gar zuviel Aehnliches mit meiner Geschichte hatten. Die Freundin der Gräfin war zu L* in Pension gewesen – das paßte auf Malchen – ihr Liebhaber hatte sie kurz vor der Hochzeit überfallen – das paßte auf mich – war davon geritten und niemand wüßte wohin – ich war auch davon geritten, und vermuthlich wußte niemand, wohin. Ich that noch hundert schüchterne Fragen nach dem Namen der Freundin, nach dem Orte, wo die Begebenheit vorgefallen, und wie der Liebhaber geheißen habe; aber sie wußte keine zu beantworten, und gestand endlich, vermuthlich weil sie sich vergaß, daß sie den Brief nicht selbst gelesen, sondern nur dazu gekommen wäre, als die Gräfin den Inhalt desselben der Gouvernante erzählt habe. Wenn mir aber daran gelegen wäre, so wollte sie die Gräfin befragen und ich sollte alles erfahren.

Was für Ursachen sich heute eine auf die andre häuften, um mich in die schrecklichste Unruhe zu versetzen! Bald war mir der erwähnte Brief so gewiß von Malchen, daß ich aufsprang, und noch diesen Abend davon wollte; bald dünkte es mich so unwahrscheinlich, daß ich laut über meine Aengstlichkeit lachte. So ward ich die ganze Nacht hindurch zwischen Ja und Nein hin und her geworfen, bis ich endlich, aber nicht eher, als da die Sonne aufging, mit festem Muth auf dem Nein beharrete. So lange es Nacht blieb, und ich nur mit den Augen der Phantasie sehen konnte, war es mir nicht möglich gewesen, mich von dem ängstlichen Ja loszuwinden.

Zehntes Kapitel.
Der Graf verreiset.

Es geschah, daß der Graf in Familienangelegenheiten nach W* ging. Die Gräfin hätte diese Reise, wie ich hörte, gerne mit ihm gethan, aber er fürchtete, daß sie ihm in W* auf mancherley Art zur Last fallen möchte. Besuche geben und nehmen, sich anziehen, sich zur Schau stellen, war seine Sache nicht; und das wäre unvermeidlich gewesen, wenn er seine junge Gemahlin der Familie hätte aufführen wollen. Er ließ sie also zurück. Mich hätte er gerne mitgenommen, wenn es möglich gewesen wäre, den eisgrauen Schildknappen Tobias von seiner Seite zu entfernen.

Um mit Glanz in W* zu erscheinen, nahm er alle männliche Bediente mit, und niemand blieb im Hause, als die Gräfin, ihre Kammerjungfer, die Gouvernante, die beyden Fräulein und ich. Der Piarist blieb jetzt halbe Tage hindurch auf dem Schlosse, um, wie er sagte, den Frauenzimmern die Zeit zu vertreiben; und er war auch wirklich sehr wohl bey ihnen gelitten, denn er konnte – krähen wie ein Hahn, bellen wie ein Hund, und miauen wie eine Katze.

Der alte Tobias sagte mir, als er mit dem Grafen abreiste, ich sollte ein wachsames Auge auf den Pfaffen und auf die Französin haben, er trauete beyden nur so weit als er sie sähe.

Sie selbst mochten es auch wohl wissen, daß sie an dem alten Tobias einen unbestechlichen Argus hatten. Beyde waren um so höflicher und gefälliger gegen ihn, je mehr sie sich vor ihm fürchteten. Sobald er also den Rücken gewandt hatte, glaubten sie freyes Feld zu haben. Sie gingen stundenlang im Garten spazieren, und waren immerfort in sehr geheimnißvollen und ernsthaften Gesprächen begriffen.

Drey Tage nach der Abreise des Grafen befand ich mich im Garten und verpflanzte unter der Aufsicht des Gärtners einige junge Bäume. Der Piarist erschien mit der Gouvernante und den beyden Fräulein, doch mußten letztere immer eine Strecke voraus gehen. Als sie nicht weit mehr von uns entfernt waren, zog der Piarist in der Hitze des Gesprächs das Schnupftuch heraus, und mit demselben etwas Glänzendes, das ich für einen Schlüssel hielt. Ich sprang hin und hob es auf, aber es war kein Schlüssel, sondern ein Dietrich. Ich lief ihm nach und reichte ihm das verdächtige Werkzeug. Die Gouvernante ward todtenblaß und sah den Pater an. »Er gehört nicht mir!« sagte er, und gab mir den Dietrich mit der gleichgültigsten Miene von der Welt zurück. »Ich hab' ihn aber mit dem Schnupftuche herausziehn sehen!« sagte ich. – »Sie sind nicht gescheut, Wilhelm!« sagte die Gouvernante mit zuckenden Lippen, und zog den Piaristen fort. Ich dachte sehr lebhaft an den alten Tobias, und steckte den Dietrich ein.

Eilftes Kapitel.
Moriz ist unruhig.

Während der Abwesenheit des Grafen suchte ich mich so gut zu beschäftigen und zu zerstreuen als ich konnte. Ich war zuweilen ganze Tage hindurch auf der Jagd; legte mich, wenn ich meine Pflicht als Jäger gethan hatte, auf die Oekonomie; fischte, und half unserm Gärtner bey seinen Arbeiten; las auch zuweilen französische Bücher, die mir die Gouvernante aus der kleinen Bibliothek der Gräfin verschaffte, nicht etwa verstohlnerweise, sondern mit der völligen Bewilligung der Gräfin, die oft gesagt hatte, mein Fleiß, mein Eifer, und meine stille Aufführung verdienten, daß man mich von dem übrigen Gesinde unterschiede; auch hätte ich so etwas in meinem Aeussern, wodurch es ihr unmöglich gemacht würde, mich, wie die übrigen Bedienten, mit Er oder Ihr anzureden.

Ueberhaupt schien die Gräfin nicht weniger als die Uebrigen neugierig zu seyn, was es wohl eigentlich für eine Bewandniß mit mir haben möchte. So oft sie mich sah, nahm sie mich scharf aufs Korn, und sagte entweder zu mir, oder zu jedem andern, der gerade bey ihr war: Es ist gewiß, daß ich den Jäger Wilhelm schon sonst irgendwo gesehen habe. Sie verließ mich dann jedesmal mit einer nachdenklichen Miene.

Man kann leicht glauben, daß ich bey solchen Aeußerungen nicht ruhig blieb. Mehr als einmal war ich fest entschlossen, die Dienste des Grafen zu verlassen. Aber heimlich wollt' ich es nicht, und öffentlich konnte ichs nicht, weil ich keinen Grund dazu anzugeben wußte.

O, ich hatte noch eine Ursache, warum ichs nicht that. Man wird sie errathen, und über mich lachen. Eben die Ursache, die mich in der einen Minute forttrieb, hielt mich in der andern. Ich zitterte, wenn mich die Gräfin so aufmerksam ansah, und glaubte doch, es müßte nicht wenig interessant seyn, von ihr erkannt zu werden. Ich suchte mich auf die schicklichste Art zu entfernen, wenn sie in den Garten kam, und mir und dem Gärtner zusah; und brannte vor Begierde, im Garten zu seyn, wenn ich wußte, daß sie darin war. Ich erschrak vor dem Gedanken, sie möchte mit Malchen in Briefwechsel stehen, und hätte dem feind werden können, der mich völlig überzeugt hätte, sie stände gewiß nicht mit ihr in Briefwechsel. Ich Thor, ich unbegreiflicher Thor! – Aber, werfe den ersten Stein auf mich, wer da will. Vor dem, der geliebt hat, und dem, der das menschliche Herz kennt, bin ich sehr sicher!

Zwölftes Kapitel.
Hülfe! Hülfe! Hülfe!

Am Abend des zehnten Tages nach der Abreise des Grafen, ließ mich meine Phantasie, die durch ein neues Examen von Seiten der Gräfin aufgeregt worden war, nicht einschlafen. Es war ein unfreundliches Wetter draussen. Sturm, Regen und Schlossen brausten und rasselten auf Dächern und an den Fenstern. Der Wetterhahn auf dem Schloßthurm schwirrte, und die Hunde heulten in ihren Zwingern. Ich verhüllte mich fest in meine Küssen, und wartete ängstlich auf den Schlaf, aber meine Einbildungskraft, die sich mit dem Brausen des Windes vereinigte, entfernte ihn immer weiter und weiter von mir.

Voll Ungeduld richtete ich mich endlich im Bette auf. Im Nu kam es mir vor, als ob ein Lichtstrahl plötzlich in meine Kammer fiele, und eben so plötzlich wieder verschwände. Meine Kammer war unten im Hause, gerade der Treppe gegenüber, die in den ersten Stock zur Wohnung der Herrschaft führte. Hinter mir war die Thüre, durch die man auf einigen Stufen in den Garten hinab kommen konnte. Diese Thür mußte offen seyn, denn ich glaubte deutlich zu hören, wie sie vom Winde hin und her geworfen wurde, und doch wußte ich sehr genau, daß ich sie, eh' ich mich niederlegte, fest zugemacht hatte.

Ich stand auf, um sie zuzumachen. Während ich meinen Oberrock umwarf, fiel abermals ein Lichtstrahl durch das Fenster, welches in meiner Kammerthür angebracht war. Ich sah hindurch und sah nichts. Voll Befremden darüber, doch ohne mir etwas Besonderes dabey zu denken, suche ich nach dem Drücker, finde ihn, drücke und drücke – meine Thüre war und blieb fest zu. Ich erinnerte mich zwar nicht, sie abgeschlossen zu haben, nahm aber doch den Schlüssel um aufzuschließen. – Meine Thür war nicht zugeschlossen gewesen, ging aber auch nicht auf.

Indem ich mich noch zermarterte, um sie zu öffnen, hörte ich auf einmal ein durchdringendes Jesus Maria! – Weinend vor Ungeduld, lehnte ich mich mit meiner ganzen vereinigten Kraft gegen die Thür, und krach! sprang sie aus den Angeln und stürzte mit großem Geräusch auf den Boden, der mit Steinen gepflastert war. Ich stürmte die Treppe hinan, und hörte die Stimme des Kammermädchens, die Hülfe! Hülfe! Hülfe! schrie. Ich eilte in das Zimmer der Gräfin, welches weit offen stand, und sah Lichtstrahlen aus ihrem Schlafzimmer in dieses größere fallen. Ein dumpfes Stöhnen kam mir aus jenem entgegen.

Ich sprang hinein, und erblickte eine Weibsperson, die sich über das Bette der Gräfin geworfen hatte und mit beyden Händen beschäftigt war, sie unter Küssen zu begraben; eine Mannsperson, die vor einem geöffneten Seitenschranke stand und mit beyden Händen im Gelde wühlte; auf dem Seitentisch eine kleine brennende Diebslaterne.

Ich ergriff die Weibsperson, um sie wegzuschleudern, sie schrie, und in dem Augenblick fühlte ich einen Stich durch die rechte Seite. Meine Arme erschlafften, und ich sank ohne Bewußtseyn zu Boden.

Moriz.
Sechstes Buch.

Erstes Kapitel.
Neue Wunden.

Als ich zu mir selbst kam, sah ich mich noch im Schlafzimmer der Gräfin auf einem Kanape, das ihrem Bette gegenüber stand. Mir zur Seiten erblickte ich die beyden jungen Fräulein, welche Todesangst auf dem Gesichte trugen. Die eine hatte ein Wachslicht in der Hand, die andre ein Glas voll Wasser, womit sie mir das Gesicht besprengte. – »Er lebt noch!« rief die letztre, als ich die Augen öffnete. Die Gräfin richtete sich im Bette auf.

Guter Wilhelm! rief sie mit schwacher Stimme, und streckte die rechte Hand nach mir aus. – Ich wollte aufspringen, um sie zu ergreifen, und sank kraftlos zurück.

Ihr schönes Auge, welches fest an mir haftete, schwamm in Thränen. »O, kommen sie noch nicht?« rief sie, voll Angst und Ungeduld, als sie einen Blick auf das Blut warf, womit das Kanape über und über bedeckt war. – »Geh, lauf,« fuhr sie zum ältesten Fräulein fort: »sieh, ob sie kommen!«

Das Fräulein sah sie mit der allerhöchsten Angst im Blicke an, und wagte es nicht, den Fuß aus dem Zimmer zu setzen. »So geht beyde!« fuhr die Gräfin fort. Sie schlossen sich fest an einander, und gingen langsam in das Vorzimmer. Die eine zog Muth aus der Furchtsamkeit der andern. Sie nahmen das Licht mit, und das Schlafzimmer wurde nur noch von dem matten Schein der Nachtlampe, die nahe bey dem Bette der Gräfin stand, dürftig erleuchtet.

Immer noch war ihr Auge mit dem Ausdrucke des innigsten Mitleids auf mich gerichtet. Ihr Haupt hatte sie auf die linke Hand gestemmt, und die rechte, in welcher sie ein Schnupftuch hielt, ruhte auf dem Deckbette. Ihr blondes Haar floß in reizender Unordnung über Schultern und Brust herab, und überwebte gleichsam stellenweise den Umriß des vollen Busens, der, durch Schrecken, Todesfurcht und Nothwehr aus seinen Schranken gedrängt, langsam stieg und sank.

Verloren in dem Anschauen der Schönheit, die sich hier meinem Blicke so überraschend entschleyerte, fühlte ich keinen Schmerz, wußte ich von keiner Wunde, von keiner Entkräftung mehr. Meine ganze Seele lebte in meinem Auge, und in dem ihrigen flimmerten die hellen Perlen, in welche sich das Mitleid auflöst, wenn die Zunge dem gerührten Herzen nicht folgen kann. Immerfort begegneten sich unsre Blicke, und immerfort sanken sie zu Boden, als wenn wir wechselsweise vor einander erschräken.

»O, wenn sie mir doch noch einmal die Hand reichte!« Dieser Wunsch ward nach einigen Augenblicken der herrschende in meiner Seele. Ich hütete alle ihre Bewegungen, und als sie einmal die rechte Hand aufhob, glaubte ich ihn erfüllt, sprang auf und that einen raschen Schritt nach dem Bette. Sie fuhr erschrocken zusammen, zog den Arm unter die Decke, und hüllte sich völlig ein. Ich taumelte nach dem Kanape zurück, warf den Blick seitwärts, und – dachte an meine Wunde, und fühlte meinen Schmerz und meine Entkräftung von neuem.

Die beyden Fräulein kamen zurück und brachten die Nachricht, daß sie eine Laterne von weitem gesehen hätten: es würde wohl der Gärtner mit der Jungfer und dem Chirurgus seyn. »Dem Himmel sey gedankt!« rief die Gräfin freudig: »Nun, wird sich der arme Wilhelm nicht verbluten!«

Mein ganzes Herz bewegte sich bey diesen Worten. Für jedes hätte ich willig einen neuen Stich erdulden wollen. Ich bestrebte mich, ihr zu sagen, wie sehr mich ihre Theilnehmung rührte, aber die Zunge versagte mir ihren Dienst; ich sprach mit Blicken, und sie schien mich zu verstehen.

Bald nachher kamen der Gärtner, der Chirurgus und das Kammermädchen. Man führte mich in meine Kammer, untersuchte meine Wunde und verband sie. Der Chirurgus fand sie nicht gefährlich und nannte sie eine Kleinigkeit, was nicht alle Wundärzte in ähnlichen Fällen zu thun pflegen.

Zweytes Kapitel.
Moriz in letzten Zügen.

Ich wollte den Gärtner, dem es von der Gräfin ausdrücklich aufgetragen war, bey mir zu wachen, mehr als einmal fortschicken, aber er ging nicht. Wie lästig war mir seine Sorgfalt und Theilnehmung! Ich fühlte ja keinen Schmerz, ich wußte ja von keiner Wunde, mir war so leicht und wohl, wie mir nie gewesen war! – O, ich hatte aus den Augen der Gräfin eine Stärkung gesogen, welche die feinsten meiner Fibern innig durchdrang, und wie der Balsam der Unsterblichkeit, mein ganzes Wesen zu einem neuen Leben stärkte und auffrischte.

Immer noch saß ich ihrem Bette gegenüber auf dem Kanape; immer noch lispelte ihre melodische Stimme: Armer Wilhelm! vor meinem Ohre; immer noch sah ich die runde Hand, auf die sich ihr Haupt, wie auf eine Säule von Elfenbein gesenkt hatte; immer noch die sanften Wogen des blühenden Busens, der, hie und da vom seidenen Haar überflossen, bey der schwachen Dämmerung des Nachtlichts, den Schneehügeln Nordens sich verglich, um deren Häupter feine, monderhellte Silberwölkchen leise weben und schimmern.

Und wenn mir auch Malchen getreu geblieben wäre, so hätte ich doch in diesen Augenblicken nicht an sie gedacht.

Je tiefer ich mich in meine Küssen verhüllte, desto lebhafter wurden jene Bilder, desto fruchtbarer ward meine Phantasie (denn mein Verstand feyerte) an abentheuerlichen Entwürfen, wodurch ich mir das Glück verschaffen wollte, der Gräfin – noch einmal so gegenüber zu sitzen. Es ist sonderbar, aber sehr natürlich, daß die kühnsten meiner Wünsche gerade nur auf diesen Umstand sich einschränkten, der ihnen die Entstehung gegeben hatte.

Am andern Morgen erschien die Kammerjungfer der Gräfin, und erkundigte sich im Namen ihrer Gebieterin nach meinem Befinden. Ich stellte mich Wunder wie stark, und sagte mit einer Stimme, die nichts weniger als einen kränklichen Ton hatte: mir ist wohl, mir fehlt nichts, ich werde sogleich aufstehen! Ich zitterte bey dem Gedanken, daß sie an meinem Wohlbefinden zweifeln möchte.

»Aber die Gräfin ist herzlich krank,« sagte sie, »und wird wohl unter drey Tagen das Bette nicht verlassen dürfen!«

Drey Tage? Drey Tage? rief ich erschrocken, denn ich hatte Rechnung darauf gemacht, sie heute noch zu sehen; und deßhalb befand ich mich vorhin so wohl, deßhalb fehlte mir nichts, und deßhalb wollte ich sogleich aufstehen! Jetzt glaubte ich mich weit übler zu befinden, als zwey volle Minuten vorher, und ich sagte zu der Kammerjungfer, daß es auch bey mir leicht drey Tage dauern könnte, eh' ich meine Kräfte wieder erlangte.

»Und die Gräfin glaubt,« unterbrach sie mich mit nassen Augen: »daß Sie in drey Tagen nicht mehr leben werden.«

Was? rief ich, indem ich mich schnell im Bette aufrichtete – Was? – Nicht mehr leben? Bin ich nicht frisch und gesund?

Ich wollte aus dem Bette springen, aber der Gärtner hielt mich zurück.

»Ach,« fuhr sie fort, »wenn die Kranken nicht wissen, wie krank sie sind, so ist es ein Zeichen, daß sie in den letzten Zügen liegen!«

Sie weinte und schluchzte ganz erbärmlich, und ich – ich hätte verzweifeln mögen über ihre Albernheit!

In dem Augenblicke trat der Wundarzt herein. Er untersuchte meinen Puls, prophezeiete, daß ein Wundfieber unterwegs sey, und rieth mir, mich aller Gemüthsbewegungen zu enthalten. Darauf ging er mit der Kammerjungfer zur Gräfin. Ich flüsterte ihm ins Ohr: er sollte der Gräfin sagen, ich wäre gesund wie ein Fisch, und bat ihn zugleich noch heimlicher und leiser, mir Nachricht zu bringen, was sie dazu gesagt hätte.

Drittes Kapitel.
Er sieht sie.

Mit dem dritten Tage fand ich mich völlig gesund. Der Arzt mochte sagen, was er wollte, ich blieb nicht im Bette. Das Wetter ward gegen Mittag so schön, daß er mir erlauben mußte, einen Spatziergang im Garten zu machen. Es hieß, die Gräfin werde heute auch das erstemal wieder ihr Zimmer verlassen, und in den Garten kommen. In eben dem Augenblicke, wo ich diese Nachricht erhielt, griff mir der Arzt von ungefähr an den Puls, und versicherte, mein Blut wäre sehr in Wallung. Ich fühlte es wohl, versicherte ihm aber das Gegentheil.

Ich ging mit ihm in den Garten, und in weniger als zehn Minuten sahen wir die Gräfin mit der Kammerjungfer die große Allee herabkommen, uns entgegen. »Es schickt sich wohl nicht,« sagte mein ängstlicher Führer: »daß wir in eben der Allee spatzieren gehen, wo die gnädige Herrschaft geht, wir wollen umkehren.«

Er wälzte mir durch diesen Vorschlag einen Stein vom Herzen. Mir war gerade so zu Muthe, als damals, wo ich auf meinem großen Ritterzuge nach L** Malchen mit verschlossenen Augen am Fenster zu sehen glaubte. Wir kehrten um, gingen aber sehr langsam, woran jedoch mein Begleiter nicht schuld war.

In wenig Augenblicken hörte ich die Stimme der Gräfin nahe hinter mir. Sie sprach stärker, als gewöhnlich – »Vermuthlich,« dachte ich bey mir selbst: »damit ichs hören soll!« – Aber ich hatte nicht den Muth, mich umzusehen.

»Warum laufen Sie vor mir, mein lieber Doktor?« rief sie meinem Begleiter zu, und es that mir weh, daß sie nicht mir zurief.

Wir standen still, und sie trat näher.

»Was macht Ihr Patient?«

Er antwortete, ich schwieg unzufrieden.

»Wird ihm die Bewegung nicht schaden?«

Ich hoffe nicht! sagte er.

Auch nicht eines Blickes würdigt sie mich! sagte ich bey mir selbst, und meine Unzufriedenheit stieg –

»Sehn Ihr' Gnaden wohl, wie blaß der arme Wilhelm aussieht?« sagte die Kammerjungfer.

Ich glühete über und über bey dieser Bemerkung, und die Gräfin, die mich nur mit einem halben Blicke von der Seite ansah, glühete wo möglich noch stärker.

»Ja,« sagte sie, »recht blaß, recht sehr blaß!« Sie drehete sich um, und that, als ob ihr ein Staubkörnchen ins Auge gefahren wäre.

»Hast du es ihm schon erzählt?« fuhr sie nach einer Pause zur Kammerjungfer fort.

Ich? sagte diese: Nein! Ihr' Gnaden wollten es ihm ja selbst erzählen.

Die Gräfin ward von neuem roth, wandte das Gesicht weg, und sagte stammelnd: es kann ein andermal geschehen! Ich habe jetzt – er wird jetzt – er darf wohl nicht lange in der freyen Luft seyn, Herr Doktor?

»So lange die gnädige Gräfin befehlen« – rief ich eilig, weil ich glaubte, der Arzt würde mir mit einem bedenklichen Achselzucken zuvorkommen. Ich war nicht wenig mit mir zufrieden, daß ich diese Worte glücklich herausgebracht hatte.

»Also kurz,« nahm die Gräfin das Wort: »man hat die Gouvernante und den Pater Benedikt auf der Gränze ertappt, und beyde nach P** geliefert. Ich erwarte in einigen Tagen nähere Nachricht. Gewiß ist es, daß sie ihrer Strafe nun nicht entgehen werden. – Aber,« fuhr sie mit weggewandtem Gesichte fort: »dadurch werden die Schmerzen des armen Wilhelms nicht gelindert!«

»Ich habe keine Schmerzen!« rief ich mit aufwallender Freude.

»Weinen möchte ich über solche Großmuth!« sagte sie zur Kammerjungfer, und legte die rechte Hand vor die Augen: »Gute Besserung, mein lieber Wilhelm,« rief sie nach einer Pause, indem sie den linken Fuß fortsetzte, und mit der rechten Hand auf mich winkte.

Ich sprang wie ausser mir hin, und ergriff diese Hand, und legte sie an mein Herz, und drückte sie, und küßte sie, und – o, ich weiß nicht mehr, was ich in diesen Augenblicken alles that!

Auf ihren Wangen brannte Bestürzung und holde Schaam. Sie riß sich mit Mühe von mir los, und verschwand in eine Seitenallee. Ich sah ihr mit starren Blicken nach, und als ich sie aus den Augen verloren hatte, sagte ich zu meinem Begleiter, der mich seinerseits auch starr ansah: mir ist nicht wohl! – Das glaub' ich gern! erwiederte er, und führte mich aus dem Garten.

Viertes Kapitel.
Mißverständnisse.

Die Gräfin ließ sich fast stündlich nach meinem Befinden erkundigen, und das Kammermädchen versicherte mir, daß sie trostlos sey, wenn sie an die Schmerzen dächte, die ich ihrentwegen erdulden müßte; daß sie ihren ganzen Verstand beschäftigte, um eine Belohnung zu ersinnen, die dem Dienst entspräche, den ich ihr geleistet; daß ich selbst verlangen möchte, was ich nur wollte, so sollt' ich es haben, und wär' es ihr auch das liebste und theuerste auf der Welt: dieses ließ sie mir durch ihre Vertraute versichern, und wenn ich sie denn selbst sah, und eben dies von ihr selbst wiederholt zu hören vermuthete: so war eine kalte Frage nach meinem Befinden, die sie noch dazu nur immer mit weggewandtem Gesichte an mich that, das einzige, was sie meinem dürstenden Herzen darzubieten pflegte.

»Ich wüßte wohl, was ich mir von ihr zur Belohnung ausbitten wollte,« sagte das Kammermädchen bey einer Gelegenheit zu mir –

Ich verlange nichts! sagte ich.

»Einen Kuß, mein lieber Wilhelm, wenn ich an Ihrer Stelle wäre!« – Sie sah mich dabey mit einem bedeutenden Lächeln an, welches mir mein ganzes Blut ins Gesicht trieb. – »Errathen?« fuhr sie fort, indem sie zur Thür hinaus ging: »Sie bekommen ihn gewiß, wenn Sie ihn verlangen!«

Ich muß ein höchst albernes Gesicht gemacht haben, denn es kam in diesen Augenblicken auf nichts Geringeres an, als die höchste Verlegenheit, die höchste Freude und die süßeste Hoffnung unter einer gleichgültigen Miene zu verbergen.

Was soll ich es läugnen! Meine Eigenliebe wollte, trotz dem kalten Betragen der Gräfin, irgend etwas in ihren Blicken gelesen haben, das nichts weniger als Kaltsinn wäre. Alle die kleinen Züge, Winke und Bewegungen; das ganze Spiel ihrer Augen, ihrer Lippen und selbst ihrer Finger; den Ton ihrer Stimme, bis auf den unmerklichsten Accent, den sie auf das kleinste ihrer Worte legte – musterte und erklärte mir diese Zauberin, die das ganze menschliche Geschlecht mit sichtbaren oder unsichtbaren Fäden umspinnt, und es tanzen läßt, wie der Puppenspieler seine Puppen.

Ich glaubte also im Grunde meines Herzens, daß mir die Gräfin durch jene Aeußerung ihrer Vertrauten einen Wink hätte geben wollen, in Zukunft nicht mehr so übertrieben scheu und furchtsam zu seyn; aber ich hatte doch nicht Muth genug, diese Ueberzeugung durch mein Betragen kundbar werden zu lassen. Indessen war ich fest entschlossen, bey der ersten Gelegenheit, wo die Gräfin von Belohnung sprechen würde, Herz zu fassen, und statt alles übrigen, einen Kuß von ihr zu verlangen. Wie selig mich dieser Vorsatz machte, den ich im Geiste schon ausgeführt sah, kann man sich ohne Mühe denken.

Gegen Abend bat mich die Kammerjungfer, ein wenig mit ihr auf ihr Zimmer zu kommen. Ich that es gern und willig, ob ich gleich sonst alle Einladungen dieser Art mit Hartnäckigkeit von mir gewiesen hatte. Aber was für eine Aussicht öffnete sich mir, wenn ich es diesmal ihr nicht abschlug! Das Zimmer der Gräfin stieß an das ihrige – wie leicht konnte sie ihr nicht irgend einen Auftrag zu machen haben – sie mußte mich sehen, und gewiß mit mir sprechen – ich hätte dann Gelegenheit, das von ihr zu fodern, was sie mir durch ihre Vertraute hatte – anbieten lassen – und vielleicht geschah diese Einladung wiederum auf ihr ausdrückliches Verlangen.

Diese Gedanken jagten mich gleichsam zu dem Zimmer der Kammerjungfer. Es mußte der Bübin sehr leicht werden, diese ungewöhnliche Bereitwilligkeit auszudeuten.

Kaum fünf Minuten vorbey, so ging die Thür auf, und in derselben stand die Gräfin. Ich sprang auf.

»Laßt euch nicht stören, Kinder!« sagte sie mit einer überaus gnädigen Miene: »Ihr seyd überdies so still, daß man euch kaum hört! – Wilhelmen ist heute wieder wohl?« fuhr sie zu mir fort.

Recht wohl! erwiederte ich, und in diesen Augenblicken fühlte ich mich auch wirklich recht wohl.

»O, es ist ihm ja nie weh gewesen!« schnatterte die Kammerjungfer dazwischen. Die Gräfin schien flüchtig zu erröthen, aber ich brannte über und über.

»Er verlangt auch nicht einmal ein kleines Schmerzengeld!« fuhr sie fort.

Ich war wie mit heissem Wasser begossen, und zitterte an Händen und Füßen.

»Ich habe ihm eins in Vorschlag gebracht,« fuhr sie fort und hustete auf eine schelmische Art, indem sie mich scharf ins Auge faßte und mich bey der Hand nahm –

»Soll ichs sagen, Wilhelm?«

Vorher dürstete ich nach einer Gelegenheit, der Gräfin mein Anliegen vorzutragen, und jetzt, als ich sie in Händen hatte, war ich halbtodt!

»Er will weiter nichts, als« – sie führte mich zur Gräfin, und deutete mit dem Zeigefinger der linken Hand auf ihre Lippen und auf die meinigen –

»O,« rief die Gräfin wie aufgebracht: »meine Einwilligung habt ihr! Wenn der Herr zurückkömmt, will ich es ihm vortragen. Wenn das alles ist, was Wilhelm verlangt, das soll ihm gewährt werden« –

Ich fuhr nach ihrer Hand, denn ich bildete mir ein, sie hätte die Pantomime der Kammerjungfer gerade so verstanden, wie ich –

»Ja, ja,« rief sie noch hitziger als vorher, und zog die Hand zurück: »ja, ja! Ihr sollt – Mann und Frau werden, auf mein Ehrenwort.« – Sie schlüpfte in ihr Zimmer, und ich wußte nicht, ob ich im Himmel oder auf Erden war. Die Kammerjungfer wollte sich halbtodt lachen.

»Mann und Frau!« rief ich, wie aus einem Traum erwachend: »Wir beyde Mann und Frau?«

Nicht anders, mein lieber Wilhelm! sagte sie lachend, und wollte mich bey der Hand nehmen. Ich schleuderte sie unsanft von mir.

»Ich bin nicht in Sie verliebt,« rief ich so laut, daß mich die Gräfin wohl hören konnte: »ich bin nicht in Sie verliebt! Ich mag Sie nicht heyrathen! Ich mag keine Frau! Das ist ein Mißverstand« –

Unter diesen Worten lief ich lärmend aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Aber kaum war ich unten, so fuhr mir der Irrthum der Gräfin von neuem wilder als vorher durch den Kopf; ich stürmte die Treppe hinan, rannte, schier ohne Bewußtseyn, durch das Zimmer der Kammerjungfer, machte das Zimmer der Gräfin weit auf, und rief hinein: Nein, gnädige Gräfin, ich bin nicht in Lisetten verliebt! schlug die Thür zu, und stürzte wie vorher die Treppe hinunter.

Wie bitter war ich getäuscht! Ich glaubte eines Kusses von ihren Rosenlippen schon so gewiß zu seyn, und statt desselben soll ich bekommen – eine Frau?

Fünftes Kapitel.
Welch eine Heldenthat!

Was wollte ich nicht alles thun, um der Gräfin zu beweisen, daß es mir nie eingefallen wäre, mich in ihr Kammermädchen zu verlieben, vielweniger sie von ihr zur Frau zu begehren. Halbverrückt machte mich dieses Mißverständniß. Aber ich bekam auch dadurch Muth, alles zu wagen. Meine Liebe und meine Ehre wirkten hier vereint, und diese ersteigen den Himmel, wenn sie wollen.

Am Abende dieses Tages, dem schönsten in der Natur, saß ich, trübsinnig und in Gedanken verloren, in dem kleinen Lustgehölze, das an den Garten stieß, unter Bäumen, deren Zweige, vom leisen Abendwinde bewegt, sanft über meinem Haupte zitterten. Vor mir wallte ein großer Teich, den der aufgehende Mond in fließendes Silber verwandelte, und neben mir rauschte ein kleiner Bach in gekräuselten Wellen dem Wasserbehälter zu. Bald sah ich mit starren Blicken in den spiegelhellen Teich, und beschäftigte mich mit den kleinen Wölkchen, die dem Monde vorüberschwebten; bald blickte ich in das Gewimmel der kleinen Krystallwellen, die sich rauschend in tausend Brillanten zerschlugen, über einander hüpften, von neuem sich sammleten, und von neuem auseinander rauschten.

Ich sah das alles, sah es aber nur. Eine süße Wehmuth bemächtigte sich meines Herzens, und meine Phantasie hing an dem Bilde der Gräfin, das sich mir immer noch in eben dem Lichte zeigte, worin es den ersten gewaltigen Eindruck auf mich gemacht hatte.

Was würde ich ihr nicht alles sagen, wenn ich sie jetzt sehen sollte! rief ich, und in dem Augenblick hörte ich ein kleines Geräusch hinter mir. Ich sah mich um, und vor mir stand – die Gräfin. Fort war mein Muth, meine schönen Phantasien mit ihm!

Sie setzte den Fuß erschrocken zurück. Mit Zittern erwartete ich ihr erstes Wort. Ihre Verwirrung schien der meinigen nichts nachzugeben.

Ist Lisette hier? sagte sie endlich mit zitternder Stimme.

Was sollte die hier? versetzte ich hastig.

Ich dachte! fuhr sie gleichgültig fort.

Jetzt Muth gefaßt, sagte ich bey mir selbst, oder nimmer.

»Die gnädige Gräfin glauben wohl immer noch, daß ich in Lisetten verliebt sey?«

Sie lächelte bey diesen Worten, die ich mit Mühe hervorbrachte.

»Nein,« sagte sie, »nach Ihrer heutigen lauten Erklärung glaub' ichs nicht mehr. Sie dachten gewiß, man wollte Sie zwingen. Sie waren außer sich!«

Kein Wunder, sagte ich, solch ein Mißverstand!

»Lisette hat mir aus dem Traum geholfen!« erwiederte sie. Sie wollte lachen, aber es schien ihr sauer zu werden. Auch kam es mir vor, als ob sie immer noch eben so sehr verlegen wäre, als ich selbst.

»Lisette hat alles gesagt?« rief ich, und trat näher, und ergriff sie, als sie den Fuß fortsetzen wollte, bey der Hand. Sie wandte ihr Gesicht sorgsam auf die Seite, gleichsam als ob ich schon im Begriff wäre, mir das bewußte Schmerzengeld von ihren Lippen auszahlen zu lassen. Dies sehen, sie umfassen, und ihr den feurigsten Kuß mit Heftigkeit auf die Wange drücken, war das Werk eines Augenblicks, während dessen ich drey Himmel vor mir aufgethan zu sehen glaubte.

Sie entriß sich, der schönsten Verwirrung voll, meinen Armen, und rief mir, indem sie sich eilig entfernte, die Worte zu: ein Glück für Sie, daß Sie mir das Leben gerettet haben!

Welch eine Heldenthat! Triumphirend ging ich in meine Kammer, aber ich schlief diese Nacht nicht weniger unruhig, als die vorhergehenden.

Sechstes Kapitel.
Der Graf kömmt zurück.

Ich konnte es nicht gewiß wissen, ob die Gräfin bey allen diesen Auftritten mit ihrer Vertrauten aus Einer Karte spielte oder nicht. Bey der vorletzten Scene, als die Gräfin mich so schmerzlich mißverstand, schien Lisette uns beyde zum Besten zu haben, aber die Begebenheit des vorigen Abends konnte ich nicht für bloßen Zufall halten: denn die Gräfin ging sonst, selbst bey hellem Tage, nicht allein im Garten spatzieren, noch weniger des Abends. Auch glaubt' ich aus gewissen kleinen geheimnißvollen Aeußerungen der Kammerjungfer schließen zu können, daß sie von meiner heldenmüthigen Unternehmung auf die Lippen der Gräfin etwas müsse gewußt haben. Auf jedem Fall benahmen sich beyde sehr meisterhaft: die Gräfin als eine Frau von Erziehung und Gefühl für Ehre und weibliche Würde; und ihre Vertraute, als ein Mädchen voll Schlauigkeit und Erfahrung, verbunden mit einer unumschränkten Ergebenheit für ihre Gebieterin.

Man glaube nicht, daß ich diese Bemerkung auf der Stelle habe machen können. Kopf und Herz standen mir ja damals in lichten Flammen.

Nach jedem Kampfe wuchs meine Liebe mächtiger heran. Ich suchte die Gräfin, und floh sie, wenn ich sie gefunden hatte; ich zitterte, wenn ich mit ihr sprechen sollte, und zitterte, wenn ich schweigen sollte. O, die Erfüllung des ersten Wunsches war die Mutter von Millionen andern geworden! Seit jenem Kuß brannte ein Feuer in meinen Adern, das meine ganze Lebenskraft aufzulösen und auszutrocknen drohete.

In diesem Zustande war ich, als der Graf zurückkam. Er trug mich fast auf den Händen, und bot mir Belohnungen an, deren Größe und Umfang mich beschämten. Aber was konnte er mir anbieten, das nicht schon tausendfach von der Belohnung überwogen ward, die ich mir selbst genommen hatte? Der alte Tobias sagte: ich könnte wenigstens den Titel eines Leibjägers dafür verlangen.

Die Zurückkunft des Grafen machte, daß ich die Gräfin nicht mehr so oft sehen und sprechen konnte, als vorher. Sie war durch ihren Gemahl gebunden, und ich durch den alten Tobias. Wenn auch beyde oft ganze Tage auf der Jagd waren, so blieben doch immer die übrigen Bedienten im Hause. Meine Wunde ward auch zusehends besser, und meine Jägerspflicht wartete auf mich.

Aber das war noch nicht alles. Lisette sagte mir, daß eine Busenfreundin der Gräfin unterwegs sey, die den ganzen Sommer, und auch wohl – je nachdem es wäre – setzte sie geheimnißvoll hinzu – den Herbst bey ihr zubringen würde. Da sie sich sehr lange und immer als die besten Freundinnen in L* gekannt hätten, so würden sie wohl unzertrennlich seyn. Es hätte eine besondere Bewandniß mit dieser Dame – fuhr sie erröthend fort – die sie mir aber nicht sagen könnte. – Es würde auch zu R** (der nächsten Stadt) ein Zimmer für sie gemiethet, weil es dort (sie that die Hand vor die Augen) einen geschickten – Geburtshelfer gebe.

Ich hörte wenig auf alles, was sie mir sagte, weil ich mehr mit dem Hinderniß meiner Liebe selbst, als mit den Umständen beschäftigt war, die es veranlaßten. Von allen Seiten war also meine Leidenschaft eingeengt, und sie ward gewaltiger dadurch. Sie drohete Durchbruch, wie ein verhaltner Strom.

Seit drey Tagen, so lange der Graf zurück war, hatte ich sie nicht gesprochen. Was für Plane machte ich nicht während dieser drey Tage! Ich ging täglich hundertmal in den Garten, und machte mir, mit dem Grabscheit oder Gärtnermesser, unter ihrem Fenster etwas zu schaffen. Aber dadurch erhielt ich nichts, als daß ich sie zuweilen am Fenster sah. – »Ehedem, als ich ihr noch nicht das Leben gerettet hatte,« sagte ich oft, in gewissen Anwandlungen von Unwillen, bey mir selbst: »sprach sie zuweilen aus dem Fenster zu mir, und jetzt kehrt sie mir den Rücken zu, wenn sie mich erblickt!« –

Ich glaube, daß ich damals diesen Umstand ganz falsch deutete.

Am Morgen des vierten Tages, als der Herr auf der Jagd war, und der alte Tobias den Vogelsteller machte, sah ich, daß Lisette das Frühstück der Gräfin in den Garten trug. Ich flugs hinterdrein, band einen Strauß von Blumen, um einen Vorwand zu haben, und erwartete sodann die Gräfin.

Sie erschien bald, und ich näherte mich der Laube, wo das Frühstück auf sie wartete. Lisette hüpfte mir entgegen, und sagte, sie wolle hinaus, dem alten Tobias entgegen, welcher der Gräfin eine Amsel zu bringen versprochen hätte.

Ich zeigte ihr den Strauß, und fragte sie, ob sie ihn der Gräfin einhändigen wollte. »Ich sollte es selbst thun!« sagte sie und flog davon. Ich wäre auch in Verzweiflung gewesen, wenn sie sich dazu erboten hätte.

Mit schwankenden Knieen trat ich in die Laube, die rund herum dicht überwachsen war. Sie saß im Hintergrunde derselben. Ich trat hinzu und überreichte ihr die Blumen, ohne einen Laut hervorbringen zu können.

Für mich, mein lieber Wilhelm? sagte sie.

»Für Sie, gnädigste Gräfin! Ich habe sie selbst gezogen!«

Sie müssen das ganze Beet geplündert haben, so viel sind es!

»Auch nicht eine einzige, die schön war, ist stehen geblieben!«

Es folgte eine Pause. Ich weiß nicht, wer von uns beyden in der größten Verlegenheit war. Um die ihrige zu verbergen, zog sie den Duft meiner Blumen ohne Aufhören in sich. Ich bestrebte mich zu sprechen, und über diesem Bestreben ward ich stummer und stummer.

»Sie pflegen immer viel, sehr viel zu geben, Wilhelm!« hub sie endlich, in Bezug meiner letzten Worte, wieder an.

O, immer zu wenig, rief ich, immer zu wenig! –

»Auch Todesgefahr nennen Sie wenig?«

Sie lächelte mit nassen Blicken auf mich her.

Auch Todesgefahr, rief ich, auch Todesgefahr, wenn ich ein Leben dadurch retten kann, das mehr werth ist, als Millionen andre!

»Guter, guter Wilhelm!« rief sie, und ich – stürzte ihr zu Füßen. Mein Auge suchte das ihrige und fand es, meine Seele folgte meinen Blicken, und ich sog aus den ihrigen ihre Seele. Dies war der Augenblick, wo Herz und Herz einander entgegen flogen, wo innig und innig verschwistert und verschlungen, beyde dem Körper sich entschwangen; wo Auge und Lippe, wo Finger und Arm, wo jeder Nerve, jede Fiber und jeder Pulsschlag: ich liebe dich! ich liebe dich! zu sagen sich bestrebte, und nur die Zunge allein schwieg. – O Sprache, arme Sprache, woher nimmst du Worte für diesen Augenblick? der uns in ein Elysium hinüber zauberte, in welchem tausend neue Elysien mit ihren Freuden vor unserm verklärten Auge in himmlischer Schönheit sich entwickelten!

Plötzlich hörte ich einen lauten Seufzer, und in eben dem Nu flatterte ein Vogel zur Laube herein, der mit seinen Flügeln die Decke derselben rauschend schlug. Ich sprang auf, und sah den alten Tobias vor mir. Die Gräfin sank ohnmächtig zurück.

Siebentes Kapitel.
Freundschaft und Pflicht.

Lieber Tobias, rief ich, und die Worte erstarben mir auf der Zunge.

Er drehete sich um, und sagte: »Ich bin dein lieber Tobias nicht mehr, und du bist mein lieber Wilhelm nicht mehr.« – Ich wollte ihn halten, aber er riß sich von mir los.

»Sieh nur,« rief ich und zeigte auf die Gräfin, »hilf doch!«

Hilf Du selbst! sagte er unwillig, und ging mit schnellen Schritten aus der Laube.

Ich sprang, zwischen Schrecken und Angst und Liebe und Mitleid getheilt, zur Gräfin zurück, und schüttete ein ganzes Glas Wasser, das beym Schokolate stand, ihr über das Gesicht! Sie schlug die Augen auf!

»Gott, was soll aus mir werden!« rief sie: »Er sagt es dem Herrn!«

In dem Augenblick trat Lisette in die Laube.

»Hier! hier!« sagt' ich, indem ich auf die Gräfin zeigte, »Hülfe!« – Es fehlte mir an Athem und Worten und das gewaltsame Klopfen meines Herzens drohete mir die Brust zu sprengen. Ich eilte dem alten Tobias nach. Er war todtenblaß, und die Augen standen ihm voll Wasser. Ich nahm ihn bey der Hand –

»O, wenn du doch ein Schurke wärst, Wilhelm,« sagte er, und die Thränen rollten ihm in den grauen Bart: »mit Freuden wollte ich meine Pflicht thun!«

Er stand still, faltete beyde Hände fest in einander, und sah mit starren Blicken zur Erde.

»Ja,« rief er nach einigen Augenblicken: »Ja, er muß es wissen, ich kann es nicht verschweigen!« –

»Tobias,« rief ich und umschloß ihn, und drückte ihn an mein Herz, »lieber Tobias!« –

Er machte sich sanft von mir los, und ein heftiges Schluchzen ließ ihn nicht zu Worten kommen.

»Und wenn du ein Wilddieb wärst,« sagte er endlich: »so wollte ich dir durch die Finger sehen.« –

Er schluchzte von neuem heftiger.

»Aber ein Ehrendieb,« fuhr er fort, »ein Ehrendieb meines Herrn, meines Grafen – Nein, ich kann dich nicht mehr ansehen. Geh mir aus den Augen!«

»Lieber Tobias,« rief ich: »wenn du auch mich nicht schonen willst, so schone doch wenigstens die arme Gräfin!«

Er stutzte einen Augenblick. Ich benetzte seine rechte Hand mit meinen Thränen, während er mit der linken die seinigen abwischte.

»Ach Gott,« rief er, indem er den Kopf langsam und entkräftet auf die linke Schulter sinken ließ: »ich kann es ja nicht verschweigen, ich darf es ja nicht verschweigen!«

»Fodere was du willst,« rief ich, »von der Gräfin und von mir: du sollst es haben. Lege mir irgend etwas auf, das ich für dich thun soll, ich ruhe nicht, bis ich es gethan habe. Willst du dich glücklich machen, deine ganze Familie glücklich machen, so rede, ich bringe dir die ganze Schatulle der Gräfin!«

»Wie,« rief er, und der Zorn gab seinen Augen neues Leben: »du willst mir meine Pflicht abkaufen?«

Er schob mich unsanft von sich.

»Hättest du mir doch lieber ein Messer ins Herz gestoßen, Wilhelm, als das gesagt!« – setzte er sanfter hinzu. –

Wir waren während der Zeit bis vor seine Kammer gekommen. Er trat hinein, und ich wollte ihm folgen, aber er drückte die Thür vor mir zu und schloß sie ab.

Achtes Kapitel.
Moriz läuft Sturm.

Ich durfte nicht laut vor seiner Kammer seyn, um das übrige Gesinde nicht herbey zu ziehen. Mit stillem verhaltnen Schmerz lief ich in den Garten zurück. Ich traf die Gräfin und Lisetten noch in der Laube. Lisette lag vor der Gräfin auf den Knieen, als ich hineintrat, und ich hörte nur noch die Worte: »O Gott, warum mußte ich den alten Spürhund fehlgehen! Er geht oben herein, während ich unten Wache halte!« Sie sprang auf, als sie mich sah, und die Gräfin erröthete mitten unter der Angst.

»Er wird uns verrathen!« rief ich: »Es ist keine Rettung!«

Die Gräfin ward von neuem ohnmächtig. Ich ging mit großen Schritten in der Laube auf und ab. Schrecken, Angst und Verzweiflung uns rettungslos zu sehen, raubten mir Bewußtseyn und Verstand.

Mitten unter dieser Verwirrung, trat ein Wachtelhund, des Grafen Liebling, in den Eingang der Laube, witterte und rannte davon. Beweis genug, daß der Graf in der Nähe sey. Die Gräfin sprang auf und wußte nichts von Ohnmacht, Lisettens Thränenquell versiegte, und ich – fühlte mich ganz leicht. Hier ward Schrecken von Schrecken übermeistert, und die Betäubung, die nun folgte, dauerte lange genug, um uns dem Grafen entkommen zu lassen, ohne daß wir ihm aufgefallen wären. Er sprach zwey Worte mit der Gräfin, und ließ sie gehen, und als er mich um meine Verrichtung in der Laube befragte, sagte ich frisch und rund: Tobias hätte eine Amsel fliegen lassen, die hätte ich wiederfangen wollen, aber sie wäre fort.

Er ging, und ließ mich stehen. Sogleich eilte ich zur Kammer des alten Tobias zurück. Weil niemand in der Nähe war, so sah ich durch das Schlüsselloch. Er ging, beyde Hände fest in einander geschlungen, jammernd auf und ab, und fuhr sich zuweilen mit der verwandten Hand über die Augen. Ich pochte leise an die Thür.

»Wer ist da?« rief er mit schwacher Stimme.

»Ich bins, lieber Tobias!« rief ich kläglich.

Er antwortete nicht, machte aber auch nicht auf. Ich pochte noch einmal und stärker, aber kein Gehör; ich nahm die Faust, die Thür blieb zu – Und nun geh' es drunter und drüber! rief ich in rasender Wuth, und fing an, die Thür mit den Fäusten, mit den Knieen, mit den Schultern, und endlich gar mit dem Kopfe zu bearbeiten, daß sie donnerte und krachte.

In wenig Augenblicken stand das ganze Hausgesinde in einem halben Zirkel um mich herum, und Knecht und Magd, und Jungfer und Diener bezeigten mir ihr Staunen, und ihre Neugier, jedes nach seiner Art. – Ich glaubte der Himmel fiele über mich zusammen.

Ich durchbrach das Getümmel, und suchte das Freye, aber der Haufen zog hinter mir her. Ich bat die Verständigsten darunter, kein Aufsehen zu machen, sie sollten alles erfahren: der Haufen folgte. Ich drohete, den ersten, der mir zu nahe käme, mit Gewalt zurückzuführen: der Zug blieb mir auf den Fersen. Ich stieß einige ziemlich unsanft zurück: diese blieben hinten, die hintersten drangen vor, und die Gesellschaft folgte mir in schönster Ordnung auf dem Fuße. Als ich mich so von allen Seiten umzingelt und umlagert sah, blieb mir nichts übrig, als mich durchzuschlagen, und dies gelang mir so gut, daß ich meine Kammer erreichte, und Zeit genug behielt, sie hinter mir abzuschließen. In eben dem Augenblick riefen ein paar Stimmen: der Herr kömmt! Ich warf mich ohne Athem und aller Sinne beraubt auf mein Bette, drückte die Augen fest zu, und bestrebte mich, auch das letzte Fünkchen von Bewußtseyn, das noch in meinem Kopfe glimmte, in bitterer Verzweiflung zu ersticken.

Ich weiß nicht, wie lange ich in diesem Zustande blieb. Die Stimme des alten Tobias erweckte mich endlich. Ich öfnete ihm meine Kammer. Er nahm mich stillschweigend und mit abgewandtem Gesichte bey der Hand, führte mich über den Schloßhof, durch ein altes verfallenes Nebengebäude, schloß eine eiserne Thür auf, schob mich hinein und legte das Schloß wieder davor.

Neuntes Kapitel.
Moriz schüttelt den alten Tobias.

Nun hatte ich Zeit und Gelegenheit genug, über das, was geschehen war und geschehen würde, reiflich nachzudenken. Es war gewiß, daß Tobias dem Herrn die ganze Begebenheit entdeckt hatte. Aber mein Schicksal lag mir nicht so schwer auf dem Herzen, als das Schicksal der Gräfin. Ich zitterte für sie, wenn ich an die hitzige Gemüthsart des Grafen dachte; doch ward ich wieder durch den Umstand getröstet, daß er sich gegen mich nichts weniger als jachzornig benommen hatte. Jeder andre wäre thätlich mit mir verfahren, aber er, läßt mich blos einsperren, und noch dazu durch einen Andern. Was auf diesen Verhaft folgen würde, wußte ich freylich noch nicht.

Ich befand mich in einem runden Thurme, der vor Alters eine Warte gewesen zu seyn schien, jetzt aber als ein Gefängniß für ungehorsame Bauern gebraucht wurde. Eine schmale Wendeltreppe führte hinab in ein finsteres Gewölbe, und eine andre hinauf in eine Art von Stube, die durch drey oder vier stark vergitterte Löcher ihr Licht erhielt. Ich saß eine Zeit lang auf der untersten Stuffe der Treppe, die hinan führte, und war in tiefen und traurigen Betrachtungen versunken. Die Finsterniß, die rund um mich herrschte, machte die Bilder, die meine Phantasie sich schuf, um so heller und heller; auch wurden sie um so mannichfaltiger und zahlreicher, je verwickelter und verwirrter mein Schicksal mich dünkte, und je weiter sich die Hoffnung eines guten Ausgangs von meinem Herzen entfernte. Man kann leicht denken, daß auch Malchen in diesen Augenblicken mir erschienen seyn müsse: mein Bestreben, dies Bild, das mir doppelt peinlich war, vor meinen Augen zu entfernen, ging jedesmal in eine förmliche Herzensangst über.

Endlich stieg ich die Treppe hinan. Ich fand in dem obern Behältnisse nichts, als eine steinerne Bank und einen steinernen Tisch. Dieser handfeste Hausrath erweckte in mir eine Besorgniß, die mich mit jeder Minute heftiger peinigte. – »Wer wehrt es dem Grafen, rief ich trostlos aus, mich Zeitlebens in diesem undurchbrechlichen Kerker eingesperrt zu halten? Er ist Herr über sein Gesinde, und kann den Verbrecher nach Willkür strafen! – Wenn ich auch rufe, wer hört mich? Wer es hört, kann mich nicht retten! Die großen Schlösser an der eisernen Thür widerstehen der Axt, und die dicken Quadern und starken Gitter dem Brecheisen!«

Während ich so sprach und dachte, hatte ich doch die Stärke meines Armes an den Gittern versucht.

Es war schon finster in meinem Kerker, als ich ein Gerassel an der eisernen Thür und die Stimme des alten Tobias hörte. Ich stieg hinab, und er reichte mir durch die Klappe, die in der Thür angebracht war, Brot und Wasser herein. Ich darf dir nichts besseres geben, sagte er gerührt, er hat es so befohlen!

»Aber was soll aus mir werden, Tobias?« rief ich, als ich meine karge Aetzung neben mir nieder gesetzt hatte.

Gott weiß es! sagte er, indem er den Kopf auf die Seite drehte.

»Und die Gräfin? Ich bitte dich – was ist ihr geschehen?«

Nichts! Er ist diesen Nachmittag lange mit ihr spatzieren gegangen, er war sehr freundlich mit ihr, und sie lachte einigemal laut auf.

»Lachte?« rief ich mit Bitterkeit.

Ja, ich begreif' es auch nicht, wie sie lachen kann und wie er lachen kann. Er hat mich wohl zehnmal gefragt: »also nur auf den Knieen lag er vor ihr?« – Ja, Gnädiger Herr, sagte ich. – »Alter Narr,« sagte er darauf, »so lange man auf den Knieen liegt, hat es nichts zu sagen. – Indessen laß ihn sitzen bey Brot und Wasser!« – Aber wie lange, gnädiger Herr? – »So lange ich will!« sagte er und kehrte mir den Rücken zu. O, lieber Wilhelm, diese kurze Antwort that mir sehr weh.

»Und mir thuts weh,« rief ich in rasender Wuth, »daß ich – daß ich dich nicht habe – daß ich dich nicht den Berg hinabstürzen kann – du alter verwünschter Zeitungsträger!«

Ich fuhr bey diesen Worten mit dem Arm plötzlich durch die Klappe, packte ihn bey der Schulter, und schüttelte ihn gewaltig.

»Weiß man es dir nun Dank?« fuhr ich fort, indem ich ihn bey jeder der folgenden Fragen aus allen Kräften zusammenrüttelte: »Hast du mich nicht muthwillig in dies Loch gebracht? Habe ich dich nicht fast auf den Knieen gebeten, du solltest mich nicht verrathen? Und doch (hier schüttelte ich ihn am allergewaltigsten) und doch gehst du hin und giebst mich an?«

Mein Gott, rief er, ich wußte ja nicht, daß das Knieen nichts auf sich habe!

Ich ließ ihn endlich los, und er schlich sich kopfhängend davon. In dem Augenblicke dauerte er mich wieder.

Zehntes Kapitel.
Noch ein Besuch.

Als ich mich bückte, um meine Gefangenkost aufzuheben, fand ich weder Wasser noch Brot. Ich hatte in der Hitze die Wasserflasche zertreten, und das Brot hinter mir die Treppe, die in das unterirrdische Gefängniß führte, mit dem Fuß hinabgestoßen. Kaum war ich dieses Unglücks gewiß, als ich die Klappe in der Thür aufriß, und ein paarmal Tobias! Tobias! mit solcher Anstrengung herausbrüllte, daß das Echo ein zehnfaches Tobias, Tobias, von den umliegenden Felsen eben so gewaltig zurückgab.

Jesus, ich sterbe! ließ sich in eben dem Augenblick eine Stimme hören – Ach, ach, ach!

Ich sah hinaus, und erblickte eine weibliche Gestalt, die vor Schrecken zu Boden gesunken zu seyn schien. Mit der linken Hand hielt sie sich die Brust, wie wenn man ausser Athem ist, und mit der rechten bedeckte sie beyde Augen.

Wer ist da? rief ich. Ein paar Dutzend O und Ach waren die Antwort.

Ums Himmels willen, wer ist denn da? rief ich von neuem. Aber die O und Ach nahmen kein Ende. Endlich hörte ich, nach einem dritten Zuruf, ein klägliches: Ach lieber Wilhelm! und nun erkannte ich – Lisetten.

»Was bringt Sie mir?« sagte ich wildes Herzens: »Kommt Sie auch, um zu lachen, wie Ihre Frau?«

Nur stille, erwiederte sie, daß uns niemand hört! Ich habe mich unvermerkt hinter dem alten Tobias hergeschlichen und so lange versteckt gehalten bis er weg war. Als Sie so abscheulich schrien, bin ich –

»Ich bitte Sie um alles in der Welt mach' Sie's kurz! – Ists wahr, daß die Gräfin gelacht hat?« –

Freylich hat sie das, und warum sollte sie nicht? Sie hat für den Grafen einen so herrlichen Roman ersonnen, und er hat ihn so treuherzig für wahr gehalten, daß wohl der Ernsthafteste hätte lachen müssen. Sie sind zu einem blöden Schäfer gemacht worden, der schon beym Gedanken an seine Geliebte auf die Kniee fällt. Sie hätten sich in die Gräfin verliebt (so erzählte sie die Geschichte) ohne daß sie etwas dafür gekonnt, und gerade damals, als Tobias in der Laube dazu gekommen sey, hätten Sie ihr knieend einen Blumenstrauß überreicht, und das Uebermaaß Ihrer Liebe hätte Ihnen das Herz abstoßen wollen. Sie würde die ganze Geschichte dem Grafen selbst erzählt haben (setzte sie hinzu) wenn sie nicht auf eine Gelegenheit gewartet hätte, wo er sich mit eignen Augen von Ihrer demuthsvollen Liebe hätte überzeugen können. Ich that, während der ganzen Erzählung, als ob ich vor Lachen außer mir sey, und flochte gelegentlich noch eine Menge närrischer Anmerkungen ein, die ich über Ihre verliebte Raserey gemacht haben wollte, da Sie mich zur Vertrauten Ihrer Qualen gebraucht hätten. Genug, wir brachten den Grafen so weit, daß er lachte, und damit hatten wir gewonnen. Am Ende machte er aber doch die Anmerkung, es schicke sich, so lächerlich auch die Geschichte sey, dennoch für eine Gräfin sehr schlecht, einen armen Pinsel zum Narren zu machen; und wenn sie ihm eher einen Wink davon gegeben hätte, so würde er's ihr untersagt haben. Sie wären ein ehrlicher Kerl, der ihr noch dazu das Leben gerettet hätte, und hätten es nicht verdient, daß man sich lustig über Sie machte.

»Bey Gott!« rief ich auf einmal, aus der Tiefe meines Herzens: »das hab' ich auch nicht verdient!«

Seltsamer Mensch, sagte Lisette, haben Sie denn vergessen, daß das alles nur im Spaße gesagt war? Im Herzen dachte die Gräfin ganz anders.

Diese Worte brachten mich wieder zu mir selbst. Ihre Erzählung und das ewige Lachen über mich, hatten meine Empfindlichkeit rege gemacht, und allmählig hatte sich der Gedanke in meinem Kopfe entsponnen: ob mich die Gräfin nicht wirklich zum Besten gehabt? Daß sie so sprechen mußte, um sich und mich zu retten, hatte ich ganz vergessen.

»Und was beschloß der Graf über mich?« fuhr ich fort.

Er verlöre an Ihnen einen treuen Kerl, sagte er, denn er sehe sich genöthigt, Sie wegzuschicken. Leuten Ihres Standes sey es wohl erlaubt, mit eigener Lebensgefahr Gräfinnen das Leben zu retten, aber sich in sie zu verlieben, müßten sie sich nicht einfallen lassen. Deßhalb wollte er Ihnen, um Ihres eigenen Besten willen, mit einem kleinen Denkzettel den Abschied geben.

»Denkzettel, Denkzettel!« rief ich: »Mit was für einem Denkzettel? Ließ er sich nicht d'rüber aus, was für ein Denkzettel das seyn sollte?«

Diese Worte sagte ich mit einer Heftigkeit, die meinen Thurm wiederhallen machte.

Ich weiß nicht, wie er es meynte!

»Machte er keine Bewegung mit den Augen, oder mit der Hand, woraus du hättest schließen können, wie er das meynte? Ich bitte dich, sahest du gar nichts?« –

Nun, was wird es seyn? Er hob die rechte Hand in die Höhe und ließ sie wieder sinken.

»Himmel und Hölle,« schrie ich: »so wie man die Hetzpeitsche oder den Prügel schwingt! – Es ist sein Tod, wenn er sich thätlich an mir vergreift – sein und mein Tod, das schwöre ich ihm!«

Dafür lassen Sie uns sorgen! Es wird Ihnen nichts geschehen! Morgen kömmt eine Freundin der Gräfin an, für die er sich ihres Schicksals wegen besonders interessirt, und die er schon lange wieder zu sehen gewünscht hat: da bitten wir ihn während der ersten Freude, daß er Sie los läßt, und die Fremde muß mit uns bitten, so kann er nicht widerstehen!

Ich hörte ihre Reden wie im Traum an; denn ich hatte während derselben schon einen Plan ersonnen, wie ich den Schimpf nach den Gesetzen der Ehre abwaschen wollte, wenn er mich prügelte, oder prügeln ließe. Ich wollte hingehen, die Fuchshöhle aufsuchen, worein ich Uniform und Degen vergraben hatte, und mich ihm als Soldat und Kavalier, den bloßen Degen in der Hand, vor die Augen pflanzen! Da sollte er erstaunen, da sollte er sich wundern, was aus seinem Jäger geworden wäre! Dieser Gedanke gefiel mir so, daß ich heimlich und ohne es selbst zu billigen, endlich sogar wünschte, es möchte dem Grafen gefallen, mich mit einem thätlichen Denkzettel fortzuschicken.

»Aber wenn ich nun fort muß?« sagte ich kläglich.

Diese Worte waren die Quelle zu einem Thränenstrom von Seiten Lisettens. Jedes Wort, das sie sagte, flog mir mit einem Schluchzer entgegen, und da sie am Ende keinen artikulirten Laut mehr hervor bringen konnte, so floß ihre ganze Tonleiter in eine seltsame Geheulsprache zusammen, die eben so schwer zu beschreiben als unangenehm anzuhören ist.

Mir war es sehr leid, daß ich zu dieser sonderbaren aber gut gemeynten Musik den Ton angegeben hatte. Um sie zu beruhigen, stellte ich mich auch beruhigt, und ich tröstete sie, da ich von ihr, nach jener traurigen Aeußerung, Trost erwartet hatte. Die Gräfin lag mir tiefer im Herzen, als ich es mir je gestanden hatte, doch bey weitem nicht mehr so tief, als drey Stunden vorher, wo ich noch nicht wußte, daß sie, während ich in einem finstern Kerker, von aller Welt verlassen jammerte, so herzlich hätte lachen können. Man wird über mich lachen nach diesem Geständniß, ich weiß es wohl, aber ich weiß auch, daß man in diesem Falle nicht mich, sondern die Natur ausspottet.

Auch auf Lisetten fiel ein Theil meines Unmuths, weil ich mich, sobald ich mich ihrer gewöhnlichen guten Laune und Verschmitztheit erinnerte, des Gedankens nicht erwehren konnte, daß sie und ihre Frau mich wirklich zum Besten gehabt hätten. Ich wurde jeden Augenblick stiller und zurückhaltender, und als mich Lisette um die Ursache davon fragte, antwortete ich: mich plagten Hunger und Durst zugleich, weil ich meine Gefangenkost die finstere Treppe hinab gestoßen hätte.

Sie flog davon, kam aber eben so hurtig zurück, und trippelte unentschlossen und ohne die Ursach ihrer plötzlichen Zurückkunft angeben zu können, vor meinen Augen herum. Endlich kam es heraus, daß sie sich fürchte, den dunklen Gang durchs alte Schloß zurückzugehen. Ich wußte nicht, ob ich lachen, oder mich erzürnen sollte. Es hatte allen Anschein, daß ich diese Nacht hungrig und durstig würde zubringen müssen. Auch sie hätte am Fuße meines Thurms, von der frischen Nachtluft durchdrungen, ein trauriges Lager gehabt. Ich stellte ihr dies vor, und vermochte sie, ein paarmal von neuem anzusetzen, aber sie kam jedesmal ausser Athem zurück. Sie weinte endlich über ihre Furchtsamkeit, ward aber um nichts beherzter dadurch. Je weniger ich Hoffnung behielt, meine Eßlust zu befriedigen, desto stärker ward diese; je öfter Lisette versuchte ihre Furcht zu überwinden, desto furchtsamer ward sie. Wir waren beyde in der allerbedaurenswürdigsten Lage!

Da es aber keine Verlegenheit giebt, aus welcher sich nicht ein Weiberkopf gut – oder schlecht zu ziehen wüßte, so blieb auch Lisette in der gegenwärtigen nicht stecken. Sie bannte den Geist der Furchtsamkeit mit einem – o Wunder! – mit einem Zwirnfaden.

Ich mußte meine Hand zur Klappe herausstecken. Nachdem sie mir solche herzlich gedrückt hatte, band sie mir einen Faden an den Daum, behielt den Knäuel in der Hand, und so unternahm sie das große Wagstück, durch den finstern Gang des alten Schlosses zurückzugehen. – »Ich sollte nicht vergessen zuweilen zu zupfen,« sagte sie, als sie ihre Reise antrat: »damit sie sicher wäre, daß der Faden nicht zerrissen sey!« – Wahrhaftig, diese Anstalten mußten ihren Muth anfrischen! Mit einem bekannten herzhaften Menschen, der in einem Thurm zwischen drey Ellen dicken Quadern eingesperrt ist, durch einen Zwirnfaden auf zwey bis dreyhundert Schritte zusammenzuhangen, und durch sein Zupfen jede Minute erfahren zu können, daß – der Faden noch an seinem Daum befestigt ist: dies war ein Umstand, der alle Furcht vor Gespenstern und Kobolden, eben so gewiß von ihr entfernt halten mußte, als es ausser allem Streit ist, daß Amulette und Lukaszettel (die seit einiger Zeit unverdienter Weise einen übeln Geruch angezogen haben) mehr als Einen gefährlich Kranken vom Tode errettet haben.

Sie kam in kurzer Zeit, mit einer zweyten Aegide in Gestalt einer Blendlaterne gegen die Furcht bewaffnet zurück, und brachte mir allerley Gebacknes, das ihr die Gräfin selbst für mich gegeben hatte. Die Gräfin ließ mir sagen, ich sollte mich nur bis morgen ruhig verhalten, und meiner Loslassung wegen ausser Sorgen seyn. Wirklich bemengte ich mich jetzt nicht mehr so sehr mit bangen Erwartungen über den Ausgang meines Verhafts. Der Graf sah den Vorfall in der Laube von einer lächerlichen Seite an, und schickte er mich mit einem Denkzettel fort, so wußte ich, daß nicht weit von hier in einer Fuchshöhle die Werkzeuge meiner Rache zu finden waren.

Aber die Beruhigung, die mir dieser Gedanke verschaffte, war von kurzer Dauer. Lisette, die es sich, während ich aß, sehr angelegen seyn ließ, mich zu unterhalten, erzählte mir, als eine seltsame Mordgeschichte, daß der Graf diesen Nachmittag in einer – Fuchshöhle, auf die ihn seine Diane aufmerksam gemacht, eine vollständige S** Offiziers-Uniform mit Degen und Kordons gefunden habe, die noch ganz neu wäre und vor kurzem erst dort vergraben seyn müßte. Ihr Besitzer wäre vermuthlich im Walde angefallen und erschlagen worden. Um durch den Verkauf seiner Uniform nicht verrathen zu werden, hätten die Räuber sie wohl in jene Höhle vergraben.

Mir verging Hören und Sehen bey dieser Geschichte. Die gefundne Uniform war die meinige, was noch dadurch ausser allem Streit gesetzt ward, daß Lisette, die sie selbst gesehen haben wollte, mir versicherte, sie habe einen rothen Kragen und rothe Aufschläge gehabt. – »Weil sie den Erdgeruch angezogen hätte,« setzte sie hinzu, »so habe sie der alte Tobias unter der Linde aufgehangen, damit sie austrocknen sollte. Unter dem Stichblatte des Degens hätten Buchstaben gestanden, die vermuthlich den Namen des Erschlagenen andeuteten. Der alte Tobias habe sie aufmerksam betrachtet, und zum Herrn gesagt: er habe diese Buchstaben schon sonst irgendwo gesehen, wo sie ihm aufgefallen wären, aber da sein alter Kopf schwach sey, so erinnere er sich nicht mehr, wo?«

Dieser letzte Umstand brachte mich vollends aus aller Fassung. Unter dem Stichblatte meines Degens waren die Anfangsbuchstaben meines Namens eingegraben; auf dem Knopfe meines Rohrs, das ich nicht mit verscharrt hatte, standen sie auch; dies hatte der alte Tobias gesehen, und daher war ihm der Namenzug bekannt. Ich war so gut, als verrathen, wenn ihm mein Rohr unter die Augen kam, oder wenn er sich auch nur daran erinnerte.

Um Lisetten meine Bestürzung nicht zu verrathen, gab ich Müdigkeit vor, und bat sie, mich zu verlassen. Sie wünschte mir unter Seufzern und Thränen, die um so häufiger wurden, da sie sich an mein hartes Lager erinnerte, eine herzliche gute Nacht, und entfernte sich.

Eilftes Kapitel.
Moriz ein Mörder.

Aber, ich würde keine gute Nacht gehabt haben, und wenn ein Lager von Flaum und Ederdunen auf mich gewartet hätte. Tausend ängstliche Gedanken fuhren mir durch den Kopf, und hielten den Schlaf weit von mir entfernt. Was sollte aus mir werden, wenn man mich als den Besitzer der gefundenen Uniform, und zugleich als S** Offizier, der Ausreisser war, entdeckte, fest hielt, und an mein Regiment zurücklieferte, oder mir wohl gar als einem Spion, der die nahgelegene neue Festung hätte aufnehmen und verrathen wollen, den schimpflichsten Proceß machte? Daß auch der Graf nach dieser Entdeckung das Knieen vor seiner Gemahlin ernsthafter, als vorher, da er mich für einen gewöhnlichen Jäger hielt, aufnehmen müßte, und daß die Folgen davon für mich und seine Gemahlin um so schrecklicher seyn würden, da er wohl wissen konnte, daß mein Regiment in L**, also an eben dem Orte stand, wo sie in Pension gewesen war, und er mithin leicht glauben dürfte, meine Verkleidung als Jäger sey ausdrücklich unter uns abgekartet gewesen, um ihn zu entehren: daß alle diese Umstände, so bald jene Entdeckung ins Klare gesetzt war, wie Blitz und Schlag über mich hereinbrechen müßten, fand ich so natürlich, so unumgänglich gewiß, daß ich in eine Raserey darüber verfiel, die durch das Bewußtseyn meiner undurchbrechlichen Verwahrung, bis zum höchsten Grade wilder Verzweiflung getrieben wurde. Diese Nacht werde ich nie vergessen. Aber auf sie folgten noch zwey schrecklichere Morgenstunden.

Ich hatte, als es lichte ward, ganz unwillkürlich eines der Papiere in die Hand genommen, worein das Kuchenwerk, das mir Lisette gebracht, gewickelt gewesen war. Lange hatte ich es in den Händen zerdrückt und wieder entfaltet, je nachdem mich der Schauer der Verzweiflung zusammenschüttelte, oder mich auf eine Zeitlang wieder verließ. Auf einmal fiel mir der Name Amalia von Lehmniz in die Augen. Ein gewaltsamer Schlag fuhr mir durch alle Glieder. Ich hatte nicht erst Muth genug zu lesen, was in diesem Briefe stand, so wenig es auch war. Nur diese fünf Zeilen waren es:

»Morgen in der Frühe, meine Liebe, drücke ich Dich an mein Herz. Nicht eher werde ich Dich verlassen, bis mein Schmerz geheilt ist, sey es durch Deine Freundschaft, oder durch den Tod.«

O, das war zuviel für ein menschliches Herz! Ich schlug ohne Bewußtseyn zu Boden. Wie wesenlose Schatten schwebten Malchen, und ihre Schwester als Mannsperson verkleidet, mit einem Stich durch die linke Seite, mir vorüber. Ich strebte nach diesen geliebten Schatten, ich rang, ich weinte nach ihnen, aber ach! mich schloß ein dunkler Kerker ein, und sie schwanden und zerflatterten in Luft.

Dieser Traum, den ich wachend träumte, war ein unordentliches Gemählde der Gedanken-Trümmer, die während dieser schrecklichen Augenblicke durch ihr Gedränge meinen Verstand zerrütteten, und meinen Körper zu Boden warfen.

Was für ein Licht ging mir durch diese fünf Zeilen auf! Malchen war also doch die Freundin, die jenen Brief, dessen Aufschrift mich damals so erschreckte, an die Gräfin geschrieben hatte! Mein Nebenbuhler, dessen Anblick mir damals den Verstand raubte, und nach welchem ich stach, war also ihre Schwester! Ein Scherz, den ich mißverstand, hatte ihr einen Schmerz verursacht, dessen Linderung sie nur vom Tode hoffte. Ich hatte, während sie verlassen trauerte, einer neuen Liebe in meinem Herzen Raum gegeben und die Arme, die durch meine Uebereilung unglücklich wurde, gänzlich vergessen! Jetzt kömmt sie, vom Kummer verzehrt, als Märtyrin ihrer Liebe hieher, und findet mich in einem schimpflichen Gefängniß, das mir eine Untreue zuzog, die ich mit eben der Freundin, von deren Theilnehmung sie Heilung ihres Schmerzes erwartete, an ihr begangen hatte! Ich wußte nun, daß sie kam, daß sie vielleicht schon da war – ich wollte zu ihr fliegen und um Leben oder Tod bey ihr bitten, und konnte nicht – und konnte nicht, weil eiserne Thüren und eiserne Stäbe, und dicke Quadern mir den Ausgang zu ihr versperrten! – O, dies war zuviel, zuviel für ein menschliches Herz!

Wie lange dieser grausame Zustand dauerte, weiß ich nicht. Ein gewaltsames Rütteln brachte mich zu mir selbst. Ich fand meine Hände mit starken Stricken gebunden, und um mich sah ich vier Männer beschäftigt, die mich aufzuheben und fortzuschaffen versuchten. Der alte Tobias war an ihrer Spitze. Die ersten Worte, die ich vernahm, waren seine Worte: »Er war sonst ein Riese,« sagte er, »jetzt hat ihn das böse Gewissen so schwach wie ein Kind gemacht! – Aber wer sollte unter seinem Gesichte einen Räuber und Mörder gesucht haben?«

Wo bin ich? rief ich: Bist du es, Tobias? Kein Laut zur Antwort! Sie hoben mich stillschweigend auf und trugen mich die Treppe hinunter, und ich ließ es geschehen, ohne eine deutliche Vorstellung, oder vielmehr, ohne Kraft zu haben, mir eine Vorstellung von dem was vorging zu machen. Unter der Thür richteten sie mich auf. Nur mit Mühe trugen mich meine Füße.

Sie führten mich auf das Schloß in einen großen Saal, wo man Gericht zu halten pflegte. Ich sah auf demselben ein dickes Gewimmel von Leuten, deren starre Blicke, sobald ich erschien, sich fest auf mich hefteten. Auf der Tafel sah ich meine Uniform, meinen Degen, mein Rohr und eins meiner Schnupftücher liegen. Ich fuhr bey diesem Anblick zusammen, und das Volk brach in lautes Gemurmel aus. Man erwartete nur noch den Grafen.

Dieser erschien endlich und hatte zwey Frauenzimmer und eine Mannsperson hinter sich, die in der Thür des Seitenkabinets stehen blieben. Die Bedienten trennten das Gedränge, damit mich, wie sie sagten, die Herrschaft sehen könnte. In eben dem Augenblick, wo das Getümmel aus einander fuhr, hörte ich ein Geschrey: »Gott, es ist nicht sein Mörder! Er ist es selbst!« – Und zu mir her flog ein Frauenzimmer, flog mein Malchen, und umarmte mich, und drückte mich an ihr Herz, und weinte sprachlos an meiner Brust; und ich Armer, ich konnte sie nicht umschließen, ich konnte sie nicht an mein Herz drücken, weil meine Hände gebunden waren!

Der alte Tobias war der erste, der herzusprang, und unter Freudenthränen meine Bande löste! Und nun hatte ich Malchen, nun hatte Malchen mich wieder! Wir sagten uns Worte, die wie Feuerfunken in unsre Herzen fuhren, und unser ganzes Wesen zur wildesten Freude entflammten! »O Moriz! O Malchen! Ich habe dich wieder! Du bist wieder mein!« – Diese Worte waren die Losung unsers Entzückens. Wir schlungen einen Knoten, den die Ewigkeit selbst nicht wieder auflösen sollte!

Zwölftes Kapitel.
Plötzliche Abreise.

Während der Ergießungen unserer Freude hatten sich die Zuschauer allmählig vom Saale verloren, und wir sahen, als wir ein wenig zu uns selbst kamen, niemand mehr, als den alten Tobias, dem das Vergnügen aus den Augen lachte. Er sagte uns: der Graf, die Gräfin und der junge Herr (Malchens Bruder) wären in ein Seitenzimmer gegangen, um – uns nicht zu stören. Wir sprangen Hand in Hand zu ihnen, ich hing dem Grafen am Halse, Malchen der Gräfin. »Kein Wort vom Vergangenen, Herr von Lemberg!« sagte der Graf mit einer Ernsthaftigkeit, die merkbar auf den Vorfall in der Laube Bezug hatte: »Ich bin Ihr Freund, nehmen Sie meine Hand d'rauf.« – Ich drückte sie an mein Herz. Der Gräfin konnte ich nicht ins Gesicht sehen, und sie mir eben so wenig. Sie versuchte, mir ihre Freude über die glückliche Entwicklung meiner Geschichte zu bezeigen, und stotterte – Komplimente. Ich versuchte, ihr für ihre Theilnehmung zu danken, und stotterte auch Komplimente. Wir waren in dem gezwungensten Verhältnisse gegen einander, das um so peinlicher war, da Malchen zwischen uns stand, und in unsern Augen Entzücken und Freundschaft suchte, aber nicht fand. Malchens Bruder, der bey allen diesen Ereignissen den kalten Zuschauer spielte, that endlich den Vorschlag, daß wir uns heute um niemand als um uns selbst bekümmern sollten, weil wir doch wohl für niemand, als für uns selbst Auge und Ohr hätten. Sie verließen uns hierauf und wir waren wieder allein.

Wieviel wollten wir uns nicht sagen, und wie wenig sagten wir uns! Ich machte Malchen einen sehr unordentlichen Bericht, von dem was mir seit unserer Trennung begegnet war; ich gestand ihr sogar, daß ich mich beynahe in die Gräfin verliebt hätte. Sie gerieth in eine sichtbare Bewegung bey diesem Geständniß, und that mir gleich darauf den Vorschlag, daß wir heute noch nach Lehmnitz zurück wollten, um – unserm Vater, der vor Unruhe und Gram verginge, endlich wieder eine frohe Stunde zu machen. Ich schlug ein, und damit sie diesen Entschluß noch mehr in mir befestigte, sagte sie, daß sie mir ihre Geschichte nicht eher erzählen würde, als bis wir im Wagen säßen.

Sogleich suchten wir den Grafen, die Gräfin, und den jungen Lehmnitz auf, und thaten ihnen unsern Vorsatz kund. Sie fanden ihn zwar sehr übereilt, setzten ihm aber keine starken Gründe entgegen. Malchens Bruder erklärte, daß er nicht mitreisen, sondern binnen einigen Tagen, wenn er des Grafen Wildbahn erst recht genossen hätte, mit Muße nachkommen würde.

Kaum zwey Stunden nahmen wir uns zur Erholung Zeit. Es ward mir ganz leicht ums Herz, als man uns Nachricht brachte, Pferde und Wagen wären bereit. Malchen und die Gräfin zerdrückten und zerküßten sich beym Abschiede mit – trockenen Augen, und ich stand mit dem Grafen Hand in Hand, und sprach mit ihm sehr ernsthaft von – dem guten Wege, den wir zu unserer Reise haben würden. Endlich küßte ich der Gräfin mit einer tiefen Verbeugung die Hand, welches sie eben so höflich erwiederte. Lisette machte es ihrer Frau eben so geschickt nach, aber der alte Tobias ließ seinem Vergnügen freyen Lauf, und nannte mich im Ausbruche desselben Herr von Wilhelm und dutzte mich dabey.

Vier Rappen flogen mit uns bis zur nächsten Station. In wenig Minuten war das Schloß hinter uns verschwunden. Ich umarmte Malchen, und Malchen umarmte mich, mit einer Inbrunst, als ob wir uns heute zum zweytenmal wiederfänden, und nun fing sie an zu erzählen:

Dreyzehntes Kapitel.
Malchen erzählt.

»Ein unschuldiger Scherz, Moriz, hätte dich mir also beynahe auf ewig entrissen! Meine Schwester war der junge Mensch in blauer Uniform, nach welchem du stachest, den du erstochen hättest, wenn dein Ungestüm dich einen gewissen Stoß hätte thun lassen. Du sprengtest davon, ohne auf unser Geschrey zu hören. Von der Terrasse herab, sahen wir dich noch einige Augenblicke und dann verschwandest du hinter Gebüschen und Bergen.«

»Ich sank, als dich mein Auge verlor, ohnmächtig zurück, und meine Schwester, die mehr von Unwillen, als von Schmerz durchdrungen war, rannte ins Schloß, um Hülfe zu holen, und meinem Vater die Begebenheit zu entdecken!«

»Dieser setzte sich mit drey von unsern Leuten zu Pferde und sprengte dir nach. Gegen Abend kam er zurück, ohne eine Spur von dir gefunden zu haben. Sein Zorn auf uns beyde zerschmolz, da er ihn auf uns herab gedonnert hatte, in Zärtlichkeit und Schmerz; denn wir waren beyde so schwach, daß man uns zu Bette bringen mußte.«

»O Moriz, die Nacht, die auf diesen Tag folgte! Wer könnte mir für ihre Qualen je Ersatz geben, als du, der du sie über mich ergehen ließest! O Moriz (ihr Haupt senkte sich sanft auf meine Schulter) wirst du mir diesen Ersatz je verweigern können?«

Ich drückte sie mit nassen Augen sprachlos an meine Brust.

»Ein, zwey Monate vergingen, und wir hörten nichts von dir. Mein Vater war selbst in deiner Garnison und erkundigte sich mit vieler Behutsamkeit nach dir. Er ließ seine Bestürzung nicht merken, als er fand, daß man auch hier keine Nachrichten von dir hatte. Immer bestand er darauf, daß du zu viel auf Ehre hieltest, als daß du über deinen Urlaub ausbleiben, und dich, wie er sagte, austrommeln lassen würdest. Auch ich baute auf diesen Grund. Worauf hätte auch mein armes Herz sonst noch bauen sollen? Nur so lange kann dein Schmerz noch dauern, sagte ich mir immer, als sein Urlaub! Kömmt er zurück, so kann er bald aus seinem Irrthum gerissen werden, und dann ist er wieder dein!«

»Unterdessen – unterdessen – fand – meine Mutter für gut, mich auf jedem Fall, von Hause zu entfernen, weil ich – weil es – und damit man nicht« –

Sie verbarg ihre glühenden Wangen an meiner Brust.

»Niemand war mit meinem Herzen so vertraut, als die Gräfin. Ich entdeckte ihr meine Bekümmernisse, und ihr nächster Brief war eine förmliche Einladung, zu ihr zu kommen und so lange bey ihr zu bleiben, als es mir beliebte. Es war mir, als ob dieser Brief mir neues Leben gäbe. Mein Entschluß war bald gefaßt und meine Eltern billigten ihn. Ich flog, von meinem Bruder begleitet, zu meiner Freundin; ich konnte die Zeit nicht erwarten, wo ich sie wieder sehen würde; ich schrieb ihr fast von jeder Station einen Brief, den ich als den Herold meiner Ankunft jedesmal voranschickte.« –

O, rief ich, solch einen Brief hab' ich diesen Morgen gelesen! Er hat mir zwey Stunden gemacht, die deine schreckliche Nacht, für die du Ersatz foderst, weit aufwiegen! Sie lächelte und fuhr fort:

»Je näher ich dem Orte meiner Bestimmung kam, desto leichter ward es mir ums Herz. Ich weidete mich an dem Gedanken, eine zärtlich geliebte Freundin, nach langer Trennung wieder an mein Herz zu schließen, und bey ihr Trost und Linderung meines Schmerzes zu finden. Wir kamen endlich an, und fuhren in das Schloß. Was mir zuerst in die Augen fiel, war eine weiße Uniform mit rothen Aufschlägen, die unter einer Linde hing. Du trugst eine solche Uniform, und ich konnte die Zeit nicht erwarten, sie näher zu betrachten. Ich sprang aus dem Wagen, lief hinzu und war wie vom Donner gerührt, als ich in einem Schnupftuche, das darneben hing, deinen Namen erblickte. »Woher ist diese Uniform und dieses Schnupftuch?« rief ich mit aufwallender Freude, denn ich glaubte, daß du nicht weit wärest. – Ich habe es im Walde vergraben gefunden! sagte der alte Jäger – und ich sank in seine Arme. »Er ist ermordet!« schrie ich: »Moriz ist ermordet! O, ich Unglückliche! Wo, wo sind seine Mörder?«

»Der Graf und die Gräfin eilten herzu, und fragten erschrocken nach der Ursach meiner Klagen. Aber ich redete irre, und mußte es meinem Bruder überlassen, ihnen die Geschichte meiner Verzweiflung zu erzählen. Sie suchten alles hervor um mich zu trösten, aber meine Trostlosigkeit stieg dadurch. »Moriz ermordet!« rief ich: »Moriz ermordet!« Und was für eine Idee hätte ich Arme ausser dieser noch haben sollen!«

»Unterdessen kam der alte Jäger gelaufen und rief, der Mörder ist entdeckt! Zugleich zeigte er ein Rohr vor, das ich auf den ersten Blick für das deinige erkannte, und das er bey einem Jäger gefunden haben wollte, der sich im Schloßthurm eingesperrt befände. »Ich will zu ihm,« schrie ich, »ich will von ihm selbst hören, wo Moriz geblieben ist!« Man brachte mich aber durch Vorstellungen und durch das Versprechen, daß der Mörder unter meinen Augen förmlich vernommen werden sollte, von diesem Gedanken ab.«

»Es geschah. Ich brannte vor Ungeduld, den Unmenschen zu sehen, der meinen Moriz umgebracht haben könnte! Ich kam und sah und erkannte in dem Mörder meines Moriz, meinen Moriz selbst! Ich hatte ihn wieder, auf ewig hatte ich ihn wieder!«

Neue Umarmungen, neues Entzücken!

So schwanden Meilen und Stationen, so rollten wir durch Städte und Dörfer ohne Rast und Schlaf. Lehmnitz war der Mittelpunkt unsres Glückes, und diesen wollten wir ohne Verzug erreichen. Wir kamen endlich an, sprangen aus dem Wagen, liefen ins Schloß, rissen die Thüren auf und warfen sie zu, und stürmten das Zimmer unsres Vaters, wo wir unsre Mutter und Schwester auch fanden. Schrecken und Erstaunen erregte in ihnen unser unerwartete Anblick. Stumme Umarmungen und Freudenthränen empfingen uns, und ein frohes Willkommen stammelte uns jede Lippe.

»Zum Pastor, zum Pastor!« rief der alte Oberst, »daß Springinsfeld nicht noch einmal davon rennt! Junge, Junge!« setzte er mit nassen Augen hinzu, indem er mich an sein Herz drückte: »Du hast mir viel Leid gemacht, aber auch viel Freude!«

Hinweise zur Transkription

Zwei ganzseitige Illustrationen wurden im Rahmen der Transkription vom Buchanfang zu den passenden Textstellen auf den Seiten 88 und 361 verschoben.

Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt, die Titelseite in Kursivschrift.

Hervorhebungen sind im Original durch die Schriftart "Schwabacher" gekennzeichnet, in der Transkription als Kursivschrift. Dazu gehören auch die Kapitelüberschriften. Im Originalbuch sind teilweise Eigennamen (zum Beispiel "Martha", "Phylax") in Schwabacher gesetzt, ohne eine Hervorhebung zu kennzeichnen; dies wurde in der Transkription nicht wiedergegeben.

Textstellen in Antiqua-Schrift wurden in der Transkription in Grotesk-Schrift gekennzeichnet.

Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, einschließlich uneinheitlicher Schreibweisen wie beispielsweise "ausser"/"außer", "Begrif"/"Begriff", "erschracken"/"erschraken", "Kanape"/"Kanapee", "Lehmnitz"/"Lehmniz", "Miene"/"Mine", "Officier"/"Offizier", "öffnen"/"öfnen", "Ottomane"/"Ottomanne", "schluchsend"/"schluchzend", "schreien"/"schreyen", "so bald"/"sobald", "spatzieren"/"spazieren", "weisse"/"weiße", "unwillkührlich"/"unwillkürlich", "Verwandschaft"/"Verwandtschaft",

mit folgenden Ausnahmen,

Seite 4:
"nnd" geändert in "und"
(Mein rechter Arm trug den Kopf und der linke lag unbeweglich)

Seite 10:
"wol" geändert in "wohl"
(seine Wirthschafterin Martha wohl gewesen seyn)

Seite 23:
"verschaft" geändert in "verschafft"
(so ruhete sie nicht eher, bis sie mir dieselbe verschafft hatte)

Seite 36:
"ch" geändert in "ich"
(sagte ich. Sie nahm mich bey dem Arm und führte mich)

Seite 40:
"«" eingefügt
(ich bin böse!«)

Seite 43:
"»" und "«" eingefügt
(»Louise würde sich recht über den Kranz gefreuet haben,« sagte sie)

Seite 43:
"»" eingefügt
(sagte sie, »wenn Du ihn nicht verdorben hättest)

Seite 81:
"«" verschoben
(»Landjägers Sohn,« fuhr ihr Vater fort:)

Seite 81:
"»" und "«" eingefügt
(»hat schon vor einer Stunde [...] oder nicht dein Vater heißen.«)

Seite 84:
"«" eingefügt
(Wer bist du? Wo kömmst du her?«)

Seite 89:
"viere" geändert in "Viere"
(in der Stube alle Viere von sich gestreckt)

Seite 97:
"«" und "»" eingefügt
(wir nicht leben,« fuhr er fort, »und wenn du kein Geld hast)

Seite 99:
"Gefährt" geändert in "Gefährte"
(»Hier mußt du betteln!« sagte mein Gefährte am Eingang eines Dorfes)

Seite 140:
"eine" geändert in "ein"
(und ihn um ein Haar zwischen seine großen Zähne)

Seite 156:
"ihre" geändert in "Ihre"
(O, Ihre Mama ist meine Herzensfreundin!)

Seite 168:
"»" eingefügt
(»Versprechen Sie mir das?«)

Seite 175:
"sichbar" geändert in "sichtbar"
(Verdruß und Unwillen lagen sichtbar auf ihrer Stirne)

Seite 179:
"daß" geändert in "das"
(nach einem Mädchen zu erkundigen, das mir Ruhe und Verstand geraubt)

Seite 187:
"daß" geändert in "das"
(noch ein zweytes Verhör auszustehen, das mir schwerer ward)

Seite 190:
"eigne" geändert in "eignen"
(Ihre eignen Augen strafen Sie Lügen!)

Seite 198:
"«" eingefügt
(»Wollen Sie Soldat werden?«)

Seite 206:
"«" und "»" eingefügt
(Lemberg,« sagte er, »haben Sie das Terrain)

Seite 211:
"ihnen" geändert in "Ihnen"
(das wird Ihnen gute Dienste thun)

Seite 211:
"Frenndschaft" geändert in "Freundschaft"
(Solch eine Freundschaft ist unerhört)

Seite 216:
"," geändert in "."
(ward ich wieder anderes Sinnes. So kämpfte ich)

Seite 222:
"i r" geändert in "ihr"
(fühlte ich, wie ihr rechter Arm)

Seite 227:
"sie" geändert in "Sie"
(O, helfen Sie doch!)

Seite 240:
"ihr" geändert in "Ihr"
(Ihr Anblick nach so langer Zeit)

Seite 242:
"sie" geändert in "Sie"
(Aber Beydes machten Sie mir unmöglich)

Seite 245:
"würklich" geändert in "wirklich"
(und als Sie wirklich nicht kamen)

Seite 246:
"daß" geändert in "das"
(mein Herz nicht bändigen, das Sie ungestüm von mir forderte)

Seite 257:
"höchstens" geändert in "höchsten"
(unter allen Merkmalen des höchsten Erstaunens)

Seite 259:
"daß" geändert in "das"
(Mein Gott, das hast du ja schon gelesen!)

Seite 261:
"!" geändert in "."
(Aber, was soll nun werden? sagte Frau von Lehmniz.)

Seite 262:
"«" eingefügt
(Du weißt, als es noch kleine Krabben waren –«)

Seite 268:
"»" eingefügt
(»das Brautgeschenk!«)

Seite 270:
"»" eingefügt
(»Rahm, Ihr hättet eure Schuldigkeit nicht halb gethan)

Seite 270:
"ihr" geändert in "Ihr"
(das arme Mädchen habt Ihr am meisten beleidigt!)

Seite 280:
"«" eingefügt
(»Wer kann es anders seyn als Malchen,« rief ich laut)

Seite 320:
"daß" geändert in "das"
(etwas Glänzendes, das ich für einen Schlüssel hielt)

Seite 347:
"Pantomine" geändert in "Pantomime"
(sie hätte die Pantomime der Kammerjungfer gerade so verstanden)

Seite 358:
"sie" geändert in "Sie"
(Für Sie, gnädigste Gräfin!)

Seite 364:
"«" eingefügt
(ich bringe dir die ganze Schatulle der Gräfin!«)

Seite 371:
"»" eingefügt
(»Wer wehrt es dem Grafen)

Seite 378:
"ihrer" geändert in "Ihrer"
(mich zur Vertrauten Ihrer Qualen gebraucht)

Seite 381:
"Fuchshöle" geändert in "Fuchshöhle"
(Ich wollte hingehen, die Fuchshöhle aufsuchen)

Seite 388:
"«" eingefügt
(so erinnere er sich nicht mehr, wo?«)

Seite 391:
"dich" geändert in "Dich"
(Nicht eher werde ich Dich verlassen)