The Project Gutenberg eBook of Der Erbe: Roman. Dritter Band

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Title: Der Erbe: Roman. Dritter Band

Author: Friedrich Gerstäcker

Release date: August 1, 2014 [eBook #46465]

Language: German

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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER ERBE: ROMAN. DRITTER BAND ***

Der Erbe.


Roman
von
Friedrich Gerstäcker.

Die Uebersetzung dieses Werkes in fremde Sprachen wird vorbehalten.

Dritter Band.


Jena,
Hermann Costenoble.
1867.

Inhaltsverzeichniß.

Seite
1. Neue Fäden 7
2. Die Haussuchung 34
3. Das Verhör 72
4. Das gnädige Fräulein 98
5. Rathlos und Rath Frühbach  126
6. Auf dem Criminalamt 161
7. Nach allen Seiten 189
8. Vor den Geschworenen 218
9. Der Erbe 250
10. Bruno 277
11. Eine Scheidung 305
12. Schluß 324

1.
Neue Fäden.

Staatsanwalt Witte ging in einem wahren Sturmschritte auf das Amt hinauf, denn er hatte in der That keinen Moment Zeit mehr zu versäumen. Er kam dort auch wirklich im letzten Augenblick an, war aber heute – und zwar ganz gegen seine sonstige Gewohnheit – so zerstreut, daß er sich ordentlich vor sich selber schämte und nur gewaltsam alle anderen Gedanken abschüttelte, bis er sein Geschäft beendet hatte.

Es war freilich nicht zu verwundern, denn die eben gemachte Entdeckung mit ihren nach allen Seiten hin auszweigenden Folgen wollte ihm nicht aus dem Kopf, und jemehr er darüber nachdachte, desto größere Schwierigkeiten schienen sich dem rechtmäßigen Erben in den Weg zu stellen.

Wer wußte um die Sache? Niemand als das schlaue Weib, die Heßberger, und jedenfalls ihr Mann, und von denen war kein Geständniß zu erwarten, während sich der alte Baron und besonders seine Schwester erst recht nicht so weit compromittiren würden, einen beabsichtigten Kindertausch der Erbschaft wegen zuzugeben. Die Frau Baumann stand mit ihrer Erzählung ganz allein, und wenn er auch jedes Wort davon glaubte, so würde Herr Bruno von Wendelsheim doch sicher sein Recht fest behauptet und die Erbschafts-Commission ihn dabei nur unterstützt haben. Es wäre, beim Himmel, am Ende gar ein zweiter Fall geworden, wie der mit dem Major und der Madame Müller aus Vollmers, und er konnte sich dabei als Staatsanwalt unsterblich blamiren.

Und der eigentliche Erbe von fast einer halben Million, zu welcher Summe das Capital durch die langjährigen Zinsen aufgelaufen war, saß indeß fest hinter Schloß und Riegel, auf Verdacht eines Mordes oder Raubanfalles hin, den er nie verübt hatte. Witte mußte wenigstens wissen, wie es mit dieser Sache stand, und ging deshalb, sobald er seine eigenen Geschäfte erledigt sah, zum Actuar Bessel, der die Leitung der Angelegenheit übernommen hatte.

Als er zu diesem in das kleine Zimmer trat, fand er ihn nicht allein, sondern den Rath Frühbach bei ihm, und dieser mußte ihm wahrscheinlich schon eine Anzahl merkwürdiger Geschichten aus Schwerin erzählt haben, denn Witte hörte gerade noch, als er die Thür öffnete, wie der Actuar sagte:

»Aber ich bitte Sie, mein lieber Herr Rath, daß Sie zur Sache kommen, denn ich bin wirklich beschäftigt.«

»Ja wohl, Herr Actuar, mit Vergnügen – ah, unser Staatsanwalt, der kann mir gleich seinen guten Rath in der Sache geben.«

»In welcher, wenn ich fragen darf?« sagte Witte, eben nicht besonders erbaut von dem Begegnen, denn er wußte aus Erfahrung, wie schwer es manchmal hielt, von dem gefährlichen Menschen wieder abzukommen, während Alles, was er vorbrachte, selten oder nie das geringste Interesse für irgend Jemanden haben konnte.

»Denken Sie nur,« fing der Rath an, »da kaufe ich mir neulich ein Stück Hosenzeug, und meine Frau soll es zum Schneider geben, zu welchem Zweck ich es hinaus in unsern Vorsaal lege; wie es aber die Henriette fortbringen will, ist es nicht mehr da – fort und gestohlen!«

»Und haben Sie Verdacht auf Jemand Bestimmtes?«

»Ja, hören Sie nur – es waren uns in der letzten Zeit schon verschiedene Sachen weggekommen: ein silberner Löffel, noch von meiner ersten Aussteuer her, dann ein neusilberner Serviettenring, den aber der Dieb wohl ebenfalls für Silber gehalten hatte, und verschiedene andere Kleinigkeiten; aber es gehen so viele Menschen bei uns aus und ein, daß ich eigentlich keinen bestimmten Verdacht fassen konnte.«

»Also wollen Sie hier blos die Anzeige machen, daß Ihnen ein Stück Hosenzeug gestohlen oder abhanden gekommen ist,« sagte der Actuar, der anfing ungeduldig zu werden.

»Bitte, hören Sie nur weiter,« fuhr Frühbach mit der größten Ruhe fort. »Das Hosenzeug hatte ein sehr leicht kennbares Muster, blau, grün und roth carrirt – meine Frau liebt die Farben besonders –, und ich mache mich also auf, um hieher auf die Polizei zu gehen und den Thatbestand anzuzeigen. Wie ich nun so die Kreuzstraße heruntergehe und immer noch an das gestohlene Hosenzeug denke, denn die Sache war mir sehr ärgerlich, sehe ich plötzlich einen Menschen vor mir hergehen, der genau dasselbe Zeug trägt.«

»Unter dem Arme?«

»Bitte um Verzeihung, an den Beinen; er hatte sich schon ein Paar Hosen – wie ich vermuthen mußte – davon machen lassen, und ich eilte nun, wie Sie sich wohl denken können, so rasch als möglich hinter ihm her.«

»Erkannten Sie denn den Mann? Wer ist es?«

»Ja, hören Sie nur weiter. Ich bin doch gewiß gut auf den Füßen, und ich erinnere mich, daß mir einmal in Schwerin....«

»Aber ich muß Sie wirklich bitten, bei der Sache zu bleiben; ich habe mit dem Herrn Staatsanwalt noch etwas Nothwendiges zu besprechen.«

»Nun, es fiel mir nur gerade ein. Also, wo war ich denn stehen geblieben? Ja, ganz recht, wie ich hinter dem Manne herlief, und als ob er's gewußt hätte – er hatte sich aber noch nicht ein einziges Mal nach mir umgedreht –, hob er die kurzen Beine und eilte, was er konnte, die Straße hinunter, ich immer hinter ihm her; ich sage Ihnen, ich habe transspirirt, der Rock klebt mir noch auf dem Leibe. Plötzlich bleibt er vor einem Schuhmacherladen stehen, und wie ich herankomme, wer ist es? Der Schuhmacher Heßberger.«

Der Staatsanwalt Witte, in aller Verzweiflung über die bodenlos langweilige Erzählung, war an das Fenster getreten, sah durch die Gitterstäbe nach dem düstern Hof hinunter und trommelte ungeduldig mit den Fingern an den Scheiben. Erst wie der Name Heßberger genannt wurde, drehte er sich wieder um; denn sonderbarer Weise hatte auch er gegen den nämlichen Menschen, den er seiner bigotten Heuchelei wegen nicht leiden konnte, einen Verdacht gefaßt. Jedes Mal wenigstens, wenn er gerade im Hause gewesen war, fehlte irgend etwas, und wenn es auch nur eine Kleinigkeit sein sollte, und daß der Schuster eine stille Leidenschaft für silberne Löffel hege, war ihm mehr als einmal in den Sinn gekommen.

»Und hat der Heßberger überhaupt Ihr Haus betreten?« fragte der Actuar.

»Oft; jede Woche fast einmal,« rief der Rath, »und kurz vorher, ehe das Zeug abhanden kam, war er bei uns gewesen.«

»Und haben Sie ihn zur Rede gestellt?«

»Ich werde mich hüten,« entgegnete Rath Frühbach mit einem Blick auf den Staatsanwalt; »daß er nachher wieder hingeht und mich verklagt, nicht wahr, und ich in die unangenehmsten Situationen komme? Alles schon da gewesen, und in Schwerin einmal....«

»Aber machten Sie denn nicht wenigstens einen Versuch, etwas von ihm zu erfahren? Redeten Sie ihn nicht an?«

»Nun, das können Sie sich doch wohl denken; aber ich versuchte der Sache von der andern Seite beizukommen. Ich bewunderte seine Hose und fragte, wo er das Zeug dazu gekauft habe.«

»Und da? – wurde er verlegen?«

»Gott bewahre! Er nannte mir einen Kaufmann, ganz in der Nähe, und erbot sich, mich hinzuführen«

»Sie gingen doch?«

»Gewiß ging ich mit ihm in den Laden. Dort berief sich der freche Mensch aber ganz keck auf das Zeug, das er da gekauft hätte, zeigte das Muster und verlangte von demselben für mich, und die Verkäufer im Laden schienen ihn zu kennen und brachten mir richtig den nämlichen Stoff.«

»Nun,« sagte der Actuar, »dann ist die Sache sehr einfach und er hat Ihnen das Hosenzeug nicht gestohlen, sondern es wirklich in dem Laden gekauft.«

»Bitte um Verzeihung,« sagte in diesem Augenblick der Staatsanwalt, der aber hinter Frühbach's Rücken dem Actuar zublinzte, daß er ihn solle gewähren lassen – »die Sache kann sich denn doch anders verhalten, und aufrichtig gesagt, glaube ich, daß Rath Frühbach dieses Mal auf der richtigen Fährte ist.«

»Aber es schien wirklich, als ob er das Zeug dort gekauft hätte,« meinte der Rath.

»Wie hieß der Kaufmann?«

»Tuchladen Magnus und Compagnie am unteren Markte.«

»Hm – das sind die nämlichen Leute, die noch gar nicht so lange einen sehr bedenklichen Concurs anzeigten.«

»Und Sie glauben wirklich....«

»Daß Sie durch einen höchst merkwürdigen Zufall den richtigen Mann getroffen haben, allerdings, und das macht ihrem Scharfblick Ehre, lieber Rath.«

»Mein bester Herr Staatsanwalt....«

»Ueberlassen Sie mir die Sache, um sie nach besten Kräften zu verfolgen, und ich verpfände Ihnen mein Ehrenwort, daß Sie Ihr Hosenzeug wiederbekommen sollen.«

»Aber er hat sie ja schon an....«

»Nun gut, dann wenigstens den Werth des Stoffes ersetzt erhalten. Ich glaube selber, daß dieser Heßberger ein nichtsnutziger Bursche ist, und hat er den Diebstahl wirklich verübt, so wollen wir ihm dieses Mal schon beikommen.«

»Und was habe ich dabei zu thun?«

»Gar nichts; sollte ich Sie noch brauchen, so schicke ich heute Abend zu Ihnen hinaus. Sind Sie zu Hause?«

»Gewiß; gegen Abend gehen wir ein wenig im Garten spazieren und um halb neun Uhr legen wir uns in's Bett.«

»Das ist früh; aber so spät schicke ich keinenfalls.«

»Und Sie meinen wirklich, Herr Staatsanwalt....«

»Daß Sie Ihr Hosenzeug ersetzt bekommen; ich habe es Ihnen garantirt.«

»Dann bin ich mit Allem einverstanden,« sagte Frühbach und streckte ihm die Hand entgegen. »Und jetzt will ich gleich nach Hause gehen und es meinem Frauchen sagen, daß ich den Dieb selber entdeckt habe – die wird sich freuen. Angenehmen Nachmittag, meine Herren!« Und vergnügt vor sich hin schmunzelnd verließ der Rath das Zimmer.

Der Actuar hatte, seit ihm Witte zugewinkt, kein Wort mehr in die Sache hineingesprochen, denn er konnte ja auch gar nicht wissen, welchen Zweck der Staatsanwalt dabei verfolge. Er schüttelte aber vor sich hin mit dem Kopf, denn wenn jener Heßberger wirklich einfach bewies, daß er das Zeug in jenem Laden gekauft habe – und das schien schon geschehen zu sein –, so war es doch gar nicht denkbar, in dieser Sache gegen ihn vorzugehen. Kaum hatte der Rath die Thür hinter sich in's Schloß gezogen, als er sich deshalb auch an Witte wandte und ihn fragte, was er in der unklaren Geschichte zu thun gedächte.

»Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Actuar,« erwiederte der Staatsanwalt: »daß der Heßberger das Hosenzeug gestohlen hat, glaube ich, nach der Bereitwilligkeit, mit welcher er den Rath in den Laden führte, selber nicht; aber meiner moralischen Ueberzeugung nach ist der Schuhmacher ein vollkommen nichtsnutziges Subject, bei dem ich schon lange auf eine Gelegenheit gewartet habe, um ihm einmal beizukommen, und die bietet sich jetzt in vortrefflicher Weise durch unsern Rath Frühbach; der soll mir die Kastanien aus dem Feuer holen.«

Der Actuar lachte. »Aber was wollen Sie thun?«

»Haussuchung bei Heßberger's halten, und zwar einfach auf Anklage Frühbach's hin. Findet sich dann nichts, so mag er den Rath immerhin wegen Ehrenbeleidigung oder sonst was verklagen.«

»Aber Sie können den armen Rath dadurch in schmähliche Verlegenheit bringen, und er wird es Ihnen wenig Dank wissen.«

»Bah,« sagte Witte, »ich habe ihm erst neulich aus einer ganz ähnlichen herausgeholfen, und da mag er denn Eins gegen das Andere abrechnen. Uebrigens muß ich Ihnen gestehen, Actuar, daß gegen diesen Heßberger in mir ein ganz eigener und schwerer Verdacht aufgestiegen ist. Ich habe nämlich heute Morgen das Protokoll durchgeblättert, das Sie beim alten Salomon aufgenommen haben und mir zuschickten. Seine Aussagen sind allerdings vollständig unbestimmt, seine Personalbeschreibung des Mörders würde auf tausend Menschen in der Stadt passen; aber etwas habe ich darin gefunden, das mich stutzig machte. Er erwähnt, daß der Mann, der schon ein paarmal bei ihm im Laden gewesen, sonderbare Ausdrücke beim Reden gebraucht. Das thun nun allerdings ebenfalls viele Leute, aber bei diesem Heßberger ist es mir besonders aufgefallen, und es wäre doch merkwürdig, wenn wir dadurch auf die richtige Spur kämen.«

»Aber Sie glauben doch nicht, daß der kleine Heßberger....«

»Man kann keinem Menschen in's Herz sehen; übrigens weil ich eben nichts Bestimmtes weiß, kam mir der Rath mit seiner Klage gerade recht.«

»Und Sie haben ihm den Erfolg schon garantirt....«

»Nichts weiter als den Ersatz seines Hosenzeugs,« sagte Witte, »das sich nicht so hoch belaufen wird, wenn der Schuhmacher Heßberger den nämlichen Stoff trägt. Das Schlimmste, das mir also passiren kann, ist, daß ich dem Rath seine Hosen bezahle. Aber was ich Sie fragen wollte, wie steht es mit dem jungen Baumann?«

Der Actuar zuckte mit den Achseln. »Der alte Salomon,« sagte er, »will allerdings nichts von ihm gesehen haben und behauptet, daß er vollkommen unschuldig wäre; aber ich kann mich noch nicht überzeugen, daß dessen Aussage allein maßgebend sein sollte, da es doch nicht wahrscheinlich ist, daß ein Mensch allein wagen sollte, etwas Derartiges zu unternehmen. Baumann kann möglicher Weise draußen an der Thür Wache gestanden haben.«

»Aber dann wird er doch wahrhaftig nicht selber an die Thür pochen und um Hülfe rufen!«

»Es ist noch immer nicht ganz sicher festgestellt, daß er das auch wirklich gethan hat, denn wir haben dafür nur seine eigene Aussage.«

»Und die Leute aus der Nachbarschaft? Sind sie denn nicht allein auf den Hülferuf herbeigekommen?«

»Allerdings; aber es kann auch Jemand anders gerufen haben.«

»Sie sind unverbesserlich, Actuar, und indessen erzählen sich die Leute in der Stadt, daß der junge Baumann am Freitag geköpft werden sollte.«

»Sie überschätzen die Eile unseres Gerichtsverfahrens,« sagte der Actuar trocken; »wenn er wirklich verurtheilt wäre, könnte das noch immer sechs Monate Zeit haben.«

»Und seine Familie – was muß die dabei empfinden?«

»Mein lieber Staatsanwalt,« sagte der Actuar erstaunt, »Sie wissen doch am besten, daß wir hier auf der Polizei keine Gefühlspolitik treiben, sondern unsern ruhigen Geschäftsgang gehen.«

»Nein, Actuar, Sie haben recht,« sagte Witte; »entschuldigen Sie, daß ich Ihnen Uebermenschliches zutraute!«

»Und wann wollen Sie die Haussuchung vornehmen?«

»Gleich heute Abend. Sie haben vielleicht die Güte, mir die Leute zu besorgen; bis wann sind Sie Abends hier?«

»Jedenfalls bis sieben Uhr; später ist es ungewiß, obgleich ich heute wahrscheinlich etwas länger aufgehalten werde.«

»Also auf Wiedersehen, Actuar!« sagte der Staatsanwalt und stieg, über seinen neuen Plan brütend, die Treppe hinunter.

Daß er den Rath Frühbach, wenn sie wirklich nichts Gravirendes beim Schuhmacher Heßberger fanden, in die Gefahr brachte, von dem Schuster wegen Ehrenkränkung verklagt und nachher auch vom Gericht verurtheilt zu werden, wußte er recht gut; aber das machte ihm nicht die geringste Sorge. Frühbach selber hatte das mehr als reichlich durch sein Benehmen bei der Wittwe Müller verdient, und wie die Sachen gegenwärtig standen, ärgerte er sich, daß er damals auf so albern gutmüthige Weise den Vermittler gespielt. Wie aber das Alles wunderbar zusammenhing! Der Major, welcher schon seit Jahrzehnten an der Erbschaftssache bohrte und die lange Zeit daneben getappt hatte, schien jetzt doch die, wenn auch indirecte, Ursache zu sein, daß die Frau Baumann das Geständniß abgelegt; denn die Angst hatte sie geplagt, daß die so lang verheimlichte Sache nun doch vor Gericht käme. Wenn der jetzt wüßte, wie Alles stände, in welche Aufregung würde er gerathen! Es war aber besser so, denn möglicher Weise hätte er mehr verdorben, als gut gemacht. Was konnte er auch in der Sache thun und welches Interesse hatte er dabei, da es seine Ansprüche nicht im geringsten unterstützte? Ein Erbe war jedenfalls da, ob der nun Bruno oder Friedrich hieß, und nur gegen die Nachfolge einer Tochter würde er seine vermeintlichen Rechte haben geltend machen können.

Mit den Gedanken schlenderte Witte die Straße hinab und bog fast unwillkürlich in die Seitenstraße ein, an welcher das Baumann'sche Haus lag. Er hatte der Frau versprochen, dort vorzukommen, und wollte sein Wort halten.

Welche traurige Veränderung war aber heute in dem sonst so thätigen Hause vorgegangen.

Als Baumann seine Frau vermißte, lief er, mit der Todesangst im Herzen, sie könne sich in der Aufregung ein Leid anthun, so rasch ihn seine Füße trugen, nach dem Fluß hinunter und fragte dort hin und her, ob Niemand ihr begegnet sei oder sie gesehen habe. Umsonst – dorthin konnte sie auch nicht gewandert sein, denn an der Brücke wurde gerade gearbeitet; eine Menge Menschen gingen dort ab und zu, und unbemerkt wäre sie keinesfalls vorüber gekommen. Aber wo war sie sonst? Karl mit dem Uebrigen sollte die Stadt absuchen, vielleicht begegnete er ihr, und Baumann machte sich indessen fortwährend die bittersten Vorwürfe, daß er sie in dem Zustand allein gelassen habe. Was wußte der derbe Schlossermeister aber auch von Ohnmachten und deren Folgen? Die waren in seiner Familie nie heimisch gewesen und er kannte sie kaum dem Namen nach.

Als er aber wieder nach Hause kam und Niemand dort etwas von ihr wußte, als selbst Karl endlich heimkehrte, ohne auch nur eine Spur von ihr gefunden zu haben, überlief es ihn ordentlich siedend heiß, und er wollte eben wieder fort, und jetzt zwar direct auf die Polizei, um dort die Anzeige zu machen und um Hülfe zu bitten, als seine Kathrine plötzlich in die Thür der Werkstätte trat und erstaunt die Verwirrung betrachtete, die in dem Raum herrschte.

»Kathrine, um Gottes willen, wo bist Du gewesen, Frau?« rief ihr der alte Meister in Jubel und Angst zugleich entgegen. »Wie haben wir uns um Dich gesorgt und in der ganzen Stadt nach Dir gesucht!«

»Nach mir?«

»Nun versteht sich; Du warst ja auf einmal wie von der Erde verschwunden und kein Mensch wollte Dich gesehen haben. Wo warst Du denn?«

»Meine Elise, mein kleines, liebes Herz!« rief die Mutter, als das Kind, welches ihre Stimme gehört hatte, jauchzend aus dem Zimmer heraus und auf sie zu flog. Sie kauerte sich neben ihm am Boden nieder und küßte ihm wieder und wieder das lockige Haupt. »Wo ich war, Vater?«

»Ja, Mutter, Du hast uns große Sorge gemacht. Als ich mit dem Arzt kam, warst Du fort.«

»Mit dem Arzt?«

»Nun natürlich – Du lagst ja wie todt, und ich wußte mir nicht zu helfen.«

»Guter Gottfried,« sagte die Frau weich, »so viel Angst hast Du meinetwegen ausgestanden, und ich...«

»Aber wo bist Du nur gewesen, daß Dir Niemand von uns begegnet ist?«

»Komm' mit hinein in die Stube, Gottfried, Du sollst Alles wissen, ich habe Dir viel, sehr viel zu sagen; aber Niemand weiter darf es hören, als Du...«

»Ich begreife Dich gar nicht,« sagte der Mann kopfschüttelnd, »seit ein paar Tagen bist Du ganz wie verwandelt.« – Die Frau antwortete ihm nicht darauf.

»Weshalb ist die Else nicht in der Schule?«

»Aber wir haben ja heute Mittwoch, Mama,« lachte das Kind, das sich rasch wieder beruhigt hatte; »weißt Du denn das nicht?«

»Ja so, Du hast recht; nun gut, Else, dann geh' einen Augenblick in das Gärtchen, Kind, und sieh zu, ob Du für Mutter noch ein Veilchen finden kannst. Du darfst auch in dem Sande spielen, den der Mann gestern gebracht hat, und baue Dir wieder solch' einen kleinen Hof darin, wie gestern Abend.«

»Ei, das ist prächtig!« rief die Kleine jubelnd aus und sprang hinaus, um von der willkommenen Erlaubniß Gebrauch zu machen.

Baumann aber betrachtete indessen kopfschüttelnd seine Frau, denn so ernst und feierlich war sie ihm noch nie in seinem Leben vorgekommen. Es mußte etwas ganz Ungewöhnliches sein, daß sie so ergriffen hatte.

Aber die Frau ließ ihn auch nicht lange mehr auf die Erklärung ihres sonderbaren Wesens warten. Sie folgte dem Kinde mit den Augen, so lange sie es sehen konnte; kaum aber war es durch die in den Hof führende Thür verschwunden, als sie den Mann an der Hand ergriff und mit sich in das kleine Zimmer neben der Werkstatt führte.

Dort schüttete sie ihm ihr ganzes Herz aus; dort sagte sie ihm Alles, Alles, was sie dem Staatsanwalt gebeichtet, nur noch ausführlicher, noch klarer, noch mehr auf ihre eigenen Gefühle eingehend, aber nichts verschweigend oder mildernd, voll so, wie sie das Gewicht ihres Vergehens die langen Jahre niedergedrückt. Dort hing sie schluchzend an seinem Halse, dort lag sie vor ihm auf den Knieen und preßte ihr Haupt an seine Brust.

Und Baumann saß vor ihr, bleich und starr, als ob er aus Stein gehauen wäre, beide Hände fest geballt auf die Lehne des Stuhles, und nur das Zucken in seinem Antlitz, die kalten Schweißtropfen auf seiner Stirn zeugten davon, daß er lebe. Er erwiederte ihr auch kein Wort, keine Liebkosung; er richtete keine Frage an sie, beantwortete keine. Wie in einem Starrkrampf hielt ihn das Furchtbare, das er eben vernommen, gefangen, und als die Frau endlich still weinend aus dem Zimmer schlich, folgte er ihr nicht einmal mit dem Blick, sondern hielt das Auge fest und unbeweglich, wie er die ganze Zeit gesessen, auf die Stubenecke geheftet.

So fand ihn Witte, als er fast zwei Stunden später das Haus betrat, nach dem Meister fragte und in die Stube gewiesen wurde; und er allein konnte sich denken, was vorgegangen war, was den sonst so starken, energischen Mann so vollständig gebrochen, so vernichtet haben mochte.

»Baumann,« sagte deshalb der Staatsanwalt freundlich, indem er die Thür wieder hinter sich zudrückte, dann auf ihn zuging und ihm die Hand auf die Schulter legte, »Ihre Frau war heute bei mir und hat mir Alles gestanden; ich begreife, daß Sie die Nachricht erschüttern mußte – es ist schlimm, aber doch nicht so schlimm, um gleich zu verzweifeln. Es kann noch Alles gut werden – die Sache ist in redlichen Händen; was ich für Sie thun kann, soll geschehen. Sie dürfen sich darauf verlassen.«

Der Mann antwortete ihm nicht, regte sich nicht oder gab auch nur das geringste Zeichen, daß er gehört hätte, es habe Jemand mit ihm gesprochen oder sei Jemand bei ihm. Witte betrachtete ihn kopfschüttelnd. Er hatte es nicht für möglich gehalten, daß der rauhe Handwerker so furchtbar von der Entdeckung ergriffen werden konnte, und doch saß er jetzt vor ihm wie ein Bild des starren, unbeweglichen Schmerzes, regungslos, nur mit schwer athmender Brust und zuckenden Lippen.

»Baumann,« begann Witte von Neuem mit freundlicher Stimme, »nehmen Sie sich die Sache nicht so zu Herzen. Ihre Frau hat gefehlt, ja, aber sie hat es aus freilich verkehrter Liebe zu ihrem Kind, und dann auch noch mehr überredet, als aus freiem Willen gethan. Jenes nichtsnutzige Geschöpf, die Heßberger, hat sie dazu getrieben. Und bedenken Sie, was sie die langen Jahre dafür an Angst und Reue über das Geschehene ausgestanden! Es liegt ja auch vielleicht den Gesetzen gegenüber noch nicht einmal ein Verbrechen vor, da sie es selber eingestanden, ehe ihr eigener Sohn den Nutzen der Täuschung ernten konnte. Wer weiß, ob ihr nur irgend eine Strafe auferlegt wird, wenn wir den Beweis führen können, daß sie in ihrem damaligen hülflosen Zustande wohl mehr gezwungen, als aus freiem, selbstständigem Willen, die Hand zu der Täuschung geboten hat. Wenn wir der Sache auf den Grund sehen, finden wir vielleicht noch Manches, das die That nicht so schwarz erscheinen läßt, als sie Ihnen vielleicht im ersten Augenblicke vorkam.«

Baumann rührte sich nicht. Wie er bisher gesessen, saß er noch, und eben so starr hing sein Blick an der Stubenecke, als vorher. Der Staatsanwalt kam wirklich in Verlegenheit, denn er war nicht einmal fest überzeugt, daß der Schlossermeister nur gehört, was er zu ihm gesagt.

»Lieber Baumann,« bat er endlich, »hören Sie mich nicht? Ich bin hieher gekommen, um Sie zu beruhigen; Sie sollen wissen, daß Sie noch einen Freund in der Stadt haben.«

Dem alten Schlossermeister tropften die großen, schweren Thränen aus den Augen, und als Witte jetzt seine Hand faßte, fühlte er den kräftigen Druck des Mannes.

»Was muß die Welt von mir denken,« hauchte er endlich mit vollkommen lautloser Stimme, »was muß die Welt von mir denken! Und wenn sie mich in's Zuchthaus stecken, hab' ich es nicht verdient?«

»Aber lieber, bester Baumann,« rief der Staatsanwalt, froh, nur erst einmal ein Lebenszeichen von ihm zu hören, denn das frühere starre Schweigen hatte ihn wirklich geängstigt – »was machen Sie sich für tolle, nutzlos tolle Gedanken! Glauben Sie, daß irgend ein Mensch in der Stadt Ihnen auch nur einen Gran von Schuld beimessen wird?«

»Und meine Frau, mit der ich die langen, langen Jahre glücklich gelebt – die ich auf den Händen getragen und geliebt und verehrt – Alles, Alles vorbei – Alles vorbei! Was hab' ich denn gethan, daß ich so hart gestraft werden mußte?«

»Es ist noch nicht vorbei, Baumann,« suchte ihn der Staatsanwalt zu trösten, »es ist noch lange nicht vorbei, und danken Sie Gott, daß Ihre Frau sich noch in der letzten Stunde ein Herz gefaßt hat, um ihr Vergehen zu bekennen und es dadurch wieder, so weit es wenigstens in ihren Kräften stand, gut zu machen. Wer kann sagen, wie sich noch Alles zum Besten gestaltet? Ihr ganzes bisheriges Leben muß auch für sie sprechen und sie entschuldigen oder dem Richter doch wenigstens beweisen, daß er es, so weit es nämlich Ihre Frau betrifft, mit keinem Verbrechen zu thun hat. Hoffen Sie das Beste, und meine Hülfe, mein Beistand sind Ihnen dabei gewiß.«

»Ich danke Ihnen, Herr Staatsanwalt,« sagte Baumann, indem er sich mit der breiten, hornigen Hand über die Stirn fuhr – es war die erste Bewegung, die er machte – »ich danke Ihnen von Herzen! Ich fühle, daß Sie es gut mit mir meinen – aber es hilft Ihnen nichts. Vor den Gerichten könnten Sie die Frau vielleicht frei bringen, vor meinem eigenen Gewissen nicht. Sie hat es gethan, und wenn sie es nicht gethan hat, sie hat geduldet, daß es geschah, und mir, ihrem Manne, dem sie gelobt, kein Geheimniß vor ihm zu haben, die langen, endlosen Jahre das Furchtbare verschwiegen, daß sie ihm sein eigenes Kind verkauft!«

»Aber, Meister Baumann!«

»Verkauft – ich habe kein anderes Wort dafür,« sagte der Mann tonlos; »sie hat es verkauft, weil sie den Stand verachtete, in dem sie lebte und großgezogen war, weil sie etwas Besonderes, etwas Vornehmes aus ihrem Kinde machen wollte, und deshalb nur, deshalb allein wurde dem Vater die falsche Brut untergeschoben und dessen Herz von dem eigenen Sohne abgewandt!«

Der Staatsanwalt war selber in Verlegenheit, was er dem Mann darauf erwiedern sollte. Er hatte nur zu sehr recht, und er fühlte auch, daß ein Trost jetzt nach dem ersten Schmerz am unrechten Platz sein und vielleicht mehr schaden als nützen würde.

Eine lange Weile schwiegen Beide; endlich sagte Witte wieder: »Ueberdenken Sie sich die Sache diese Nacht; wir haben Zeit genug dazu, denn vor der Hand darf doch Niemand weiter darum wissen.«

»Was?« rief Baumann, ordentlich erschreckt emporfahrend, »und mir muthen Sie zu, das selber als Geheimniß zu bewahren, was...«

»Verstehen Sie mich nicht falsch,« unterbrach ihn der Staatsanwalt rasch; »nur auf vernünftige Weise müssen wir vorgehen, um das wieder gut zu machen, was gefehlt ist, und das kann nicht in der ersten Hitze und Aufregung geschehen, oder wir verderben, was wir bessern wollten. Kommen Sie morgen früh zu mir, so früh Sie wollen; ich stehe schon um sechs Uhr auf und arbeite. Dann besprechen wir Alles mit kaltem Blut; vorher aber geben Sie mir Ihr Wort, daß Sie mit keinem Menschen weiter darüber reden wollen.«

»Mit keinem Menschen weiter?«

»Nein. Glauben Sie mir, ich rathe Ihnen zum Besten und bin selber ein alter Mann; ich werde von Ihnen nichts verlangen, was ich nicht mit gutem Gewissen verantworten kann. Morgen früh kommen Sie zu mir, und ich glaube bestimmt, daß wir einen Weg finden, um ehrlich und rechtschaffen das von Ihrer Seele zu nehmen, was Sie jetzt zu Boden drückt. Sind Sie damit einverstanden?«

Der Schlossermeister zögerte einen Augenblick mit der Antwort; endlich sagte er leise: »Gut, ich will Ihnen folgen, Herr Staatsanwalt; ich weiß, Sie meinen es ehrlich, und werden dafür sorgen, daß dem rechtmäßigen Erben nicht ein Groschen seines Rechts verkümmert wird. So weit ich selber mit meinem kleinen Vermögen ausreiche, etwa geschehenen Schaden zu decken, stelle ich mich Ihnen zur Verfügung – bis zu dem letzten Ziegel meines Daches. So weit bin ich erbötig, Alles gut zu machen, was fremde Leute betrifft. In meinem eigenen Hause werde ich selber Rechnung halten.«

»Sie werden nicht zu hart mit Ihrer armen Frau sein, Baumann.«

»Ich werde thun, was ich vor Gott und meinem Gewissen verantworten kann,« sagte der Mann ernst; »sorgen Sie sich deshalb nicht – und damit haben die Gerichte auch nichts zu thun – oder doch nur wenig,« setzte er leise und kaum hörbar hinzu.

»Also auf morgen früh!«

»Ich werde kommen – verlassen Sie sich darauf!« Und still und brütend sank er wieder in seinen Stuhl zurück.

Witte aber, der jetzt wohl einsah, daß heute mit dem Mann doch nichts mehr zu reden, und es das Beste sei, ihn sich selber zu überlassen, verließ langsam das Haus und schritt seiner eigenen Wohnung wieder zu.

2.
Die Haussuchung.

Zu Hause angekommen, überholte Witte auf der Treppe die Frau Räthin Frühbach, die im Begriff stand, seiner Frau einen Besuch zu machen. Sie war im höchsten Staat und strotzte von Seide, Sammetmanchester und unechten Spitzen.

»Ach, Frau Räthin,« sagte der Staatsanwalt nach der ersten Begrüßung, indem er eben in sein Zimmer abbiegen wollte, »kommen Sie von Hause, und können Sie mir sagen, ob Ihr Herr Gemahl dort ist?«

»Ach nein, Herr Staatsanwalt, das weiß ich wirklich nicht,« erwiederte die Dame; »ich habe noch einige Wege in der Stadt besorgt und bin dann gleich hieher gegangen. Aber mein Männi kommt um diese Zeit immer nach Hause – Sie finden ihn sicher.«

Männi nannte sie den Fleischklumpen, und der Staatsanwalt schüttelte den Kopf, erwiederte aber nichts, machte ihr eine halbe Verbeugung und trat in sein Schreibzimmer, um inzwischen eingelaufene Geschäfte zu erledigen.

Er wunderte sich allerdings im Stillen, die Frau Räthin hier zu sehen, denn sie kam sehr selten zu ihnen, und da er dem Dienstmädchen unterwegs begegnet war, das eine Düte mit Backwerk, das stete Zeichen einer Kaffee-Visite, trug, so mußte seine Frau auch auf den Besuch vorbereitet sein. Aber andere, wichtigere Dinge zogen ihm durch den Kopf, um sich lange mit solchen Nebensachen zu beschäftigen, und er hatte sie auch bald vergessen.

Sonderbarer Weise war aber von der Frau Staatsanwalt wirklich die Frau Räthin heute, und zwar ganz allein, zum Kaffee geladen worden, und das noch dazu einer wichtigen Besprechung und Unterredung wegen. Man wußte nämlich ziemlich genau in der Stadt, daß die Frau Räthin, vielleicht aus Mangel einer besseren oder andern Beschäftigung, sehr geschickt im Kartenlegen sei, und die Frau Staatsanwalt war zu dem Entschluß gekommen (von dem aber ihr Mann natürlich keine Silbe erfahren durfte), die geheimnißvollen Blätter mit Hülfe einer »Wissenden« zu befragen, da ihr die Polizei das gestohlene Silbergeschirr doch nicht wiederschaffen konnte. Auch andere Dinge lagen ihr auf dem Herzen, über welche sie gern Auskunft gehabt hätte: aber das Silber ging unter allen Umständen vor.

Der Staatsanwalt wäre allerdings sehr böse geworden, wenn er von diesem Treiben etwas geahnt hätte; denn er haßte nichts mehr als solchen »Unsinn«, wie er es nannte, nämlich zu glauben, daß irgend ein altes Weib – Witte brauchte manchmal Kraftausdrücke, wenn er ärgerlich wurde –, mit irgendwelchen Hülfsmitteln auch immer, die Zukunft vorhersagen oder Verborgenes ergründen könne. Ob die dahin eingeschlagenen Wege nun in Bleigießen, Kaffeesatz, Kartenlegen oder irgend einem andern albernen Vorwand bestanden, blieb sich gleich; ja, er verachtete sogar das Tisch- und Geisterklopfen, wenn er es auch in seinem eigenen Hause eine Zeit lang dulden mußte, bis es die Damen selber satt bekamen und die armen Tische wieder ihren ruhigen und bestimmten Eckplatz erhielten, wo sie hingehörten. Uebrigens war nicht die geringste Gefahr vorhanden, daß er sie stören oder überraschen könne; denn wenn seine Frau Kaffeegesellschaft hatte, dachte er gar nicht daran, ihrem Zimmer auch nur nahe zu kommen. Er war nicht gern genirt und ging dann immer ruhig seinen eigenen Geschäften nach. Die Damen konnten deshalb ganz ungestört ihren geheimnißvollen Versuchen obliegen, und gingen denn auch mit gutem Willen an die Arbeit.

Ottilie betheiligte sich übrigens nicht daran. Sie hatte anfangs ganz still und lautlos am Fenster gesessen und sich mit einer Stickerei beschäftigt; endlich stand sie auf und ging in ihr eigenes Zimmer, wo sie den übrigen Theil des Abends blieb. Sie glaubte merkwürdiger Weise nicht an Kartenlegen, und die Frau Räthin war ihr außerdem keine angenehme Persönlichkeit, weil sie das ewige Schimpfen und Klagen über Dienstboten und die Nachbarsleute, in dem sich jene Dame am liebsten erging, nicht leiden konnte.

Solche Zu- oder Abneigungen sind aber gewöhnlich gegenseitig, und so mochte denn auch die Frau Räthin das »schnippische Ding« nicht leiden, wie sie es gewöhnlich in anderen Kaffeegesellschaften nannte. Sie fragte allerdings die Frau Staatsanwalt, als Ottilie das Zimmer verließ, ob »das liebe Kind« vielleicht nicht wohl sei, aber erwähnte sie nachher nicht weiter, und die Kartenprocedur hatte ihren ungestörten Fortgang.

Merkwürdiger Weise wollte es aber heute Abend gar nicht so besonders damit gehen. Die Karten fielen, wie die Frau Räthin bemerkte, so ungünstig und verkehrt, und es war ihr immer bald einmal eine Treff-Sieben, bald eine Carro-Zwei im Wege, daß sie sich selber nicht hindurchfand und endlich erklärte, so gänzlich mißglückt sei es ihr noch nie und es müsse irgend ein Hinderniß in der »Umgebung« liegen, das man vielleicht beseitigen könnte, wenn man eben wüßte, was es wäre. So erzählte sie der Frau Staatsanwalt, sie habe einmal bei sich zu Hause die Karten legen wollen und ebenso wie heute nichts zuwege gebracht; alle Versuche, obgleich immer und immer wiederholt, seien mißglückt, und sie wäre schon im Begriff gewesen, die Sache aufzugeben, als das Mädchen zufällig einen auf dem Tisch stehenden Blumentopf in das andere Zimmer getragen hätte, und von dem Augenblicke an war es, als ob ein Bann von den Karten genommen sei. Sie fielen ordentlich wie ein Buch, in dem man ganz bequem lesen konnte.

Alle möglichen Versuche wurden deshalb jetzt auch hier gemacht: die Blumen sämmtlich entfernt, die Stühle herumgedreht, der Tisch selbst ward anders gestellt; aber es half nichts: die Kartenblätter wollten keine Vernunft annehmen, als die Frau Räthin endlich der Sache müde und zu einem verzweifelten Entschluß kam.

»Hören Sie, Frau Staatsanwalt,« sagte sie – es war indessen auch dunkel geworden, und das Mädchen hatte eben die Lampe hereingebracht – »ich wollte Ihnen schon lange einen Vorschlag machen, aber ich habe mich immer nicht getraut. Ich wüßte Jemanden, der uns aus der Noth helfen könnte.«

»Und wer ist das?« fragte die Frau Staatsanwalt.

»Die Heßberger, des Schusters Frau – die versteht das aus dem Grunde, und mir – das versichere ich Ihnen – hat sie schon merkwürdige Dinge prophezeit.«

»Und ist es eingetroffen?«

»Auf's Haar, sage ich Ihnen, auf's Tittelchen. Nein, einmal – das war zu merkwürdig – da fehlte mir ein silberner Theelöffel und ich ging zu ihr, und blos aus den Karten sagte sie mir, daß ich morgen früh mit Tagesanbruch in meinen Holzstall unten im Hof gehen sollte, dort würde ich ihn finden – und wahrhaftig, wie ich am andern Morgen hinuntergehe, liegt er mitten drin, und wie er dahin gekommen ist, weiß ich bis auf den heutigen Tag noch nicht!«

»Das ist in der That sonderbar....«

»Und ehe mein Männi neulich krank wurde, wo er sich so heftig übergeben mußte, hat sie mir fast die Stunde vorhergesagt und mir auch gleich eine Medicin mitgegeben, die ich ihm vorher heimlich in den Wein schütten mußte, damit es ihm nichts weiter schadete, und ich sage Ihnen, nach zwei oder drei Stunden war er wieder gesund wie ein Fisch und eben so naß, denn ich hatte ihn tüchtig schwitzen lassen.«

»Ja, wenn wir die Frau nur einmal auf eine halbe Stunde hier hätten!« sagte Frau Witte. »Aber ich darf es nicht wagen, denn wenn es nachher durch einen Zufall mein Mann erführe, so könnte ich sicher sein, daß er ein volles Jahr darüber zankte und raisonnirte.«

»Sie geht auch nicht zu den Leuten in's Haus,« bemerkte die Frau Räthin, »eben der häufigen Störungen wegen, denen sie dort durch irgend einen fremdartigen Gegenstand ausgesetzt ist. Wenn wir aber nun einmal zu ihr gingen – bei ihr ist Alles darauf eingerichtet, und kein Mensch brauchte ein Wort davon zu erfahren.«

»Um Gottes willen,« rief die Frau Staatsanwalt, schon von dem Gedanken erschreckt, »nachher möchte ich meinen Mann sehen!«

»Und was braucht der davon zu wissen?« sagte Madame Frühbach. »Ich bin oft und oft schon dort gewesen, es ist ein ganz anständiges Haus, und in einer Stunde wäre die ganze Sache abgemacht.«

»Und wenn sie nachher darüber spricht und es weiter erzählt?«

»Da kennen Sie die Heßberger schlecht,« sagte die Frau Räthin; »eher ließe sie sich todtschlagen. Die ist berühmt wegen ihrer Verschwiegenheit, und das ja auch nur zu ihrem eigenen Vortheile; denn sie weiß recht gut, daß sie ihre ganze Kundschaft verlieren würde, wenn sie nur ein einziges Mal plauderte.«

»Aber, liebe Frau Räthin, ich kann doch nicht meiner Schustersfrau einen Besuch abstatten?«

»Aber das ist ja doch kein Besuch, Frau Staatsanwalt; der Schuhmacher Heßberger arbeitet ja auch für uns, und ich bin ebenfalls hingegangen. Und dann braucht sie noch gar nicht einmal zu wissen, wer Sie sind – Sie nehmen einen dichten Schleier vor und setzen Ihre Kapuze auf. Sehr viele Damen kommen dort tief verschleiert hin – Damen aus den allerhöchsten Ständen, das kann ich Ihnen versichern. Ich habe selber schon einmal die Frau Präsidentin dort getroffen, aber das ganz unter uns, denn ich that natürlich gar nicht, als ob ich Sie erkannte; aber Sie wissen wohl, sie hinkt ein bischen, hat wenigstens so einen krummen Gang, und dann müßte ich auch blind sein, denn wir haben ja eine und dieselbe Putzmacherin, und ich erfahre immer Alles, was sie sich machen läßt.«

Das Mädchen kam herein, um das Kaffeegeschirr hinauszutragen.

»Ist mein Mann zu Hause?«

»Nein, Frau Staatsanwalt; er ist vor etwa einer halben Stunde fortgegangen, und hat gesagt, Sie möchten heute Abend nicht auf ihn mit dem Thee warten, da er etwas Wichtiges zu thun habe.«

Die Frau Räthin warf ihrer Freundin einen triumphirenden Blick zu, denn das hätte gar nicht besser passen können. Die Frau Staatsanwalt war aber noch lange nicht mit sich einig, denn der Schritt schien ihr zu gewagt, wenn sie auch selber nur zu gern gegangen wäre. Wie viel und wie oft hatte sie schon von der Schustersfrau gehört, die unter den Damen der Stadt allerdings einen Ruf besaß; wie oft gewünscht, sie einmal selber auf die Probe zu stellen, aber es trotzdem immer unterlassen – und jetzt auf einmal bot sich die Gelegenheit und schien auch in der That Alles zusammenzutreffen, um ihr den Versuch zu erleichtern! Sie zögerte freilich noch immer, aber die Frau Räthin hatte einmal, wie sie sagte, »ihr Herz daran gesetzt,« und sie ließ nicht nach mit Bitten und Zureden, bis sich die Frau Staatsanwalt endlich entschloß, ihr zu willfahren und sie zu begleiten. Die Frau Räthin versprach ihr auch, die Sache einzuleiten, indem sie zuerst für sich selber nach dem abhanden gekommenen Hosenstoff fragte – da sie ihren Mann noch nicht wieder gesprochen hatte, konnte sie natürlich keine Ahnung haben, welche Entdeckung er indeß gemacht und welchen Verdacht er hege.

So denn, während der Staatsanwalt oben auf dem Gericht war und eine unmittelbare Haussuchung bei dem Schuhmacher Heßberger, auf die Anklage eines Diebstahls hin, betrieb, rüsteten sich die beiden Damen, um der Frau des nämlichen Mannes einen geheimen Besuch abzustatten, und verließen auch, ohne selbst Ottilien ein Wort davon zu sagen, bald darauf das Haus. Nur das hinterließ die Frau Staatsanwalt bei dem Dienstmädchen, daß es ihrem Mann, wenn er nach Hause kommen und nach ihr fragen sollte, nur ausrichten möchte, sie wäre »einen Sprung« mit der Frau Räthin gegangen und würde bald wiederkommen. Abzuholen brauche er sie nicht. – –

Im Heßberger'schen Hause ging es an dem Abend und genau in der nämlichen Zeit, in welcher die beiden Damen das Witte'sche Haus verließen, etwas unruhig zu, denn Heßberger hatte seinen einen Lehrjungen auf frischer That ertappt, wie er ihm an die Privatflasche gegangen war, um so heimlich als unverschämt daraus zu kosten. Er machte auch nicht viele Umstände mit ihm: in übler Laune war er außerdem, und seinen Knieriemen nehmend, griff er dem armen Jungen mit der linken Hand in das struppige Haar und bearbeitete ihm mit dem schweren Riemen den Rücken nach Herzenslust. Er hörte auch wirklich erst auf, als er den rechten Arm nicht mehr rühren konnte, schickte den Jungen dann mit einem lästerlichen Fluch an seine Arbeit und setzte sich selber auf seinen Schemel hinter die Glaskugel, wo er, wie um seine ruhige Fassung wieder zu erlangen, fast unmittelbar danach in eines seiner gellenden geistlichen Lieder ausbrach und, mit dem Buche neben sich, um manchmal nach dem Text zu sehen, einen Vers nach dem andern abschrie.

Er mochte etwa bei dem sechsten angekommen sein, und der Junge saß noch immer still weinend bei seiner Arbeit und wischte sich nur manchmal die dicken Thränen mit dem Aermel von Augen und Nase ab, als es draußen anpochte. Der eine Junge öffnete, um zu sehen, wer da sei. Es waren zwei Damen – die eine dicht verschleiert –, die nach der Frau Heßberger fragten, und da das zu häufig vorkam, um nur die geringste Aufmerksamkeit zu erregen, so wies sie der Bursche, indem er einfach mit der Hand nach der Thür der Wohnstube deutete, um dort hinüber zu gehen, und setzte sich augenblicklich wieder auf seinen Schemel nieder. Die Jungen hatten strenge Ordre, nicht einmal den Kopf nach einem solchen Besuch zu wenden, und Heßberger selber that gar nicht, als ob er existire. Er unterbrach seinen Vers nicht einmal und schrie so ruhig fort, als ob er draußen auf einer Haide und meilenweit von irgend einer menschlichen Wohnung gesessen hätte.

Desto förmlicher wurde der Besuch dagegen drinnen bei der Frau Heßberger selber empfangen, die, als die Damen das Zimmer betraten, bei einer sehr hübschen Lampe an ihrem Tisch saß und in einer aufgeschlagenen Bibel las.

»Frau Räthin,« sagte sie mit einer nicht ungeschickten Verneigung, »es ist mir eine große Ehre, Sie bei mir zu sehen. Wollen Sie nicht ablegen, und dürfte ich die fremde Dame nicht vielleicht ebenfalls bitten, Platz zu nehmen? Es geht bei mir freilich ein wenig eng zu – lieber Gott, wir haben in unserer beschränkten Wohnung nicht viel Raum, und die Miethen sind in den letzten Jahren so gesteigert, daß man gar nicht daran denken kann, eine größere zu nehmen!«

Frau Staatsanwalt Witte fühlte sich anfangs unter ihrem Schleier etwas unbehaglich: da aber die Schustersfrau nicht die geringste Notiz von ihr zu nehmen schien, ja, sie wohl absichtlich kaum flüchtig ansah, so faßte sie nach und nach mehr Muth, nahm den angebotenen Stuhl an und beschloß nun, fest vermummt wie sie außerdem war, nur den stillen Beobachter zu machen. Die Zwischenzeit aber, in der sich die Räthin noch mit der Frau unterhielt, benutzte sie, um sich das Zimmer selber ein wenig genauer anzusehen – neugierig war sie lange genug darauf gewesen.

Hatte sie übrigens irgend etwas Absonderliches darin erwartet, so fand sie sich getäuscht. Das Zimmer glich tausend anderen Wohnungen des Handwerkerstandes auf ein Haar und war, wenn auch sehr sauber und nett gehalten, doch einfach, mit Erlenholz-Möbeln ausgestattet. Nur ein paar hochlehnige und ledergepolsterte Stühle aus geschnitztem dunkelbraunen Wallnußholz schienen nicht hinein zu gehören und auch wirklich nur für »vornehmen Besuch« bestimmt zu sein. An der Wand hingen in schwarzen Holzrahmen ein paar schreckliche Oelgemälde, jedenfalls Familienbilder, die aber nicht die entfernteste Aehnlichkeit mit irgend einem bekannten Gesicht zeigten, dann noch ein paar Silhouetten, und auf der Commode standen einige Tassen mit Goldrand, die wohl kaum je im Gebrauch gewesen, ein paar blaue Glasvasen mit Schilfblüthen und einige kleine, buntbemalte Gypsfiguren; aber schneeweiße Gardinen hingen vor den Fenstern, und die beiden, ebenfalls im Zimmer stehenden Betten des Ehepaares waren mit reinlichen Ueberhängseln von buntem Kattun verhüllt.

Frau Heßberger brauchte keine lange Zeit zu ihren Vorbereitungen. Sie wußte genau, was Damen, die sie zu dieser Zeit besuchten, von ihr wollten, und versäumte nie, ihnen zu Willen zu sein. Fand sie ja doch auch ihren reichlichen Nutzen dabei, da sie für ihre Bemühungen nie unter einem Thaler bekam, sich aber auch wohl einzelner Fälle erinnerte, wo ihr beim Abschied deren fünf in die Hand gedrückt wurden, und wahrlich mit leichter Mühe, wenn auch nicht ganz ohne Scharfsinn, war das Geld verdient!

Sie ging jetzt zu einem kleinen Seitenschrank, um von dort ihre Karten vorzuholen. Hatte sie aber vorher, als sie sich beobachtet wußte, die verschleierte Dame kaum angesehen, so haftete ihr Blick jetzt, hinter dem Rücken des Besuches, um so viel forschender auf der Verhüllten, und nichts an deren Anzug, nicht das kleinste, unbedeutendste Band entging ihr. Ein spöttisches Lächeln zuckte auch um ihre Lippen, als sie den Schrank endlich öffnete, hatte sie die Fremde etwa doch erkannt? Aber es war nichts davon zu bemerken, als sie wieder zum Tisch trat und jetzt vor allen Dingen die Bibel und dann auch eben so die Lampe entfernte. Sie legte die Karten nur bei dem Scheine von Lichtern, von denen sie zwei entzündete und auf den Tisch stellte. Dann nahm sie selber auf einem hohen Rohrsessel ohne Lehne Platz, und das Spiel geschäftsmäßig mischend, sagte sie freundlich:

»Nun, Frau Räthin – bitte, heben Sie erst einmal ab – so – nun sagen Sie mir gefälligst, mit was ich Ihnen dienen kann und was Sie zu wissen wünschen.«

Die Frau Räthin überlegte sich die Sache erst einen Augenblick; dann erzählte sie der Frau von dem abhanden gekommenen Stück Hosenzeug, beschrieb genau, wo es gelegen hatte und wie es ausgesehen habe, und bat sie dann, die Karten einmal zu fragen, wer es mitgenommen, und ob und wie man es wohl wiederbekommen könne.

Die Frau hatte bei der Erzählung wieder langsam gemischt und ließ noch einmal abheben. Dann legte sie die Karten aus und betrachtete sich nun, den gebogenen Zeigefinger an den Lippen, die bunten Blätter wie in tiefem Nachdenken. Endlich sagte sie sinnend: »Ja, meine liebe Frau Räthin, das Zeug ist wirklich gestohlen, so viel ist richtig, und nicht etwa verlegt oder in eine falsche Schublade gekommen – da läuft der Bursche noch, der es mitgenommen hat – der Carro-Bube zwischen zwei Dreien – ein hagerer, aufgeschossener junger Mensch. Er hat es auch nicht aus Armuth genommen, denn die über ihm liegende Zehn bedeutet Geld; aber wo er jetzt ist, wird schwer heraus zu bekommen sein. Warten Sie einmal, da geht Ihr Mann hinter dem Treff-Buben – er hat auf irgend Jemanden einen falschen Verdacht – der ist es nicht, der hat's nicht genommen, der ist ehrlich – seh'n Sie, wie das Aß neben ihm steht – aber die Carro zieht sich hier herüber, und hier ist die Treff-Sieben und Fünf. Wenn sich Ihr Mann morgen Abend an die katholische Kirche stellt – um fünf Uhr, aber mit dem Glockenschlag –, dann wird der Dieb dort vorüberkommen.«

»Das wäre in der That merkwürdig!« sagte die Frau Räthin. »Also morgen Nachmittag um fünf Uhr?«

»Aber mit dem Glockenschlag, nicht früher, noch später, sonst verpaßt er ihn; er muß genau aufmerken.«

»Nun, da bin ich doch wirklich neugierig,« sagte die Frau Räthin kopfschüttelnd, »und da hätte sich mein Mann auch die Anzeige auf der Polizei ersparen können.«

»Die hilft ihm nichts, die hilft ihm nichts,« erwiederte die Frau, immer noch in die Karten sehend. »Die Polizei ist da ganz oben, weit von dem Carro-Buben entfernt, und kommt ihm gar nicht in den Weg. Die findet ihn nicht – aber Ihr Mann wird ihn finden; doch er muß auch das Herz haben, ihn anzufassen.«

»Das wird er schon,« nickte die Frau Räthin; »der fürchtet sich vor Niemandem, und wenn er erst einmal heftig wird, kennt er sich selber nicht mehr.«

»Und was war es noch, was Sie fragen wollten?«

»Ach, liebe Madame Heßberger,« sagte die Frau Räthin, »zuerst möchte ich Sie bitten, meiner Freundin eine Frage zu beantworten.«

»Von Herzen gern.«

»Sie ist nicht von hier,« fuhr die Dame fort, »sondern erst heute aus der Residenz angekommen, und hat dort so viel von Ihrer Kunst reden hören, daß sie vor Neugierde brennt, Sie kennen zu lernen.«

»In der That?« lächelte die Frau, ohne den Blick aber von der Sprechenden zu wenden. »Und ist ihr auch etwas gestohlen worden?«

»Ja – über das möchte sie ebenfalls nachher Ihren Rath hören; vorher wünscht sie aber Ihre Kunst recht auf die Probe zu stellen und den Namen ihres künftigen Schwiegersohnes zu erfahren.«

»Das ist freilich viel verlangt,« sagte die Kartenschlägerin kopfschüttelnd, »denn wirkliche Namen nennen die Karten nicht; sie deuten nur Personen an, daß man sich danach ihre Beschreibung oder vielmehr ihr Aussehen zusammenstellen kann. Außerdem wird es sehr schwer sein, einem ganz Fremden solch eine Sache vorherzusagen. Die Dame muß mir jedenfalls vorher erlauben, einmal die Linien ihrer linken Hand zu betrachten; ein kleines Hülfsmittel muß ich haben, ich kann sonst nicht für den Erfolg einstehen.«

Die verschleierte Frau Staatsanwalt zog schweigend ihren linken Handschuh ab und reichte der Frau Heßberger die Hand, und diese schien aufmerksam mehrere Minuten lang die Linien derselben zu betrachten. Aber sie sagte kein Wort dabei, sondern nickte nur langsam mit dem Kopf, und die Karten wieder aufgreifend, ersuchte sie die verschleierte Dame, abzuheben – aber mit der rechten, und zwar der vollen Hand, nicht nur mit zwei oder drei Fingern, und ohne Handschuh. Das geschah auch, und auf das sorgfältigste und genaueste legte sie dann die Blätter aus. Aber sie kam nicht so rasch damit zu Stande, als bei der vorigen Antwort. Bedeutend und wie in tiefem Nachsinnen schüttelte sie den Kopf; endlich sagte sie:

»Die Dame muß aus einer sehr vornehmen Familie sein, denn Alles deutet darauf hinaus. Hier steht ein armer Werber – er hat rechts und links nichts als Zweier und Dreier –, aber die Coeur-Dame geht weiter. Da endlich laufen die Pfade von dem Coeur-König mit ihr zusammen – das trifft sich selten, daß Jemand seine erste Liebe bekommt – der ist reich und vornehm, und hier...« Sie horchte hoch auf, denn draußen entstand ein ungewöhnlicher Lärm. Ihr Mann hatte auch aufgehört zu singen; aber sie hörte eine tiefe Stimme, die sie nicht kannte und die wie befehlend sprach.

»Um Gottes willen,« flüsterte die Frau Staatsanwalt der Räthin zu, »ich glaube, da kommt noch mehr Besuch, und ich möchte hier nicht gern gesehen werden – daß sie nur Niemanden hereinläßt!«

Die Frau Heßberger war aufgestanden und horchte nach der Thür der Werkstätte hinüber, nach der zu ihr einziger Ausgang lag. Was in aller Welt ging da drinnen vor? – Sie sollte nicht lange in Zweifel bleiben.

»Du, Thomas, stellst Dich an die Treppe,« sagte die Baßstimme wieder, »und läßt Niemanden hinunter oder herauf. Ist Ihre Frau zu Hause, Heßberger?«

Sie hörte die Antwort ihres Mannes nicht, aber sie mußte bejahend ausgefallen sein.

»Nun gut,« fuhr der Baß fort, als noch eine andere Männerstimme zu ihm gesprochen, »Niemanden hinunter oder herauf ohne meine Erlaubniß. Einer von Euch bleibt bei dem Schuhmacher und läßt ihn nicht aus den Augen. Gehören die Leute hier alle in's Haus?«

»Nein, Herr Geheimer Commissar,« hörte sie jetzt Heßberger sagen. »Nur zwei von den Jungen schlafen hier, die beiden anderen sind auf der Arbeit.«

»Gut, die mögen sich anziehen und ihrer Wege gehen; wir haben nichts weiter mit ihnen zu thun. Die zwei Jungen bleiben da.«

Die Frau Heßberger schritt nach der Thür.

»Thun Sie mir den einzigen Gefallen, Frau Heßberger,« sagte die Frau Räthin rasch, »und schließen Sie die Thür zu, bis die Leute wieder fort sind, oder wenn das nicht geht, lassen Sie uns hinten hinaus; wir kommen lieber morgen Abend wieder.«

»Ich habe nur den einen Ausgang,« sagte die Frau; »aber gedulden Sie sich einen Augenblick – ich will nur sehen, was da vorgeht – die ganze Sache scheint ein Mißverständniß zu sein, und mein Holzkopf von Mann weiß sich nie zu helfen.«

Damit verließ sie die Stube und trat in die Werkstätte; die Frau Staatsanwalt aber, die aufgestanden war, sank in ihren Stuhl zurück und stöhnte: »O Du barmherziger Gott, das war die Stimme meines Mannes! Er ist mit Polizei gekommen, um mich abzuholen!«

»Aber, beste Frau Staatsanwalt,« bat die Frau Räthin, die viel ruhiger bei der Sache blieb, »das ist ja gar nicht möglich! der Zufall kann ihn hiehergeführt haben, wenn ich auch nicht begreife, wie; aber er wird auch wieder fortgehen, und wir warten es hier ruhig ab.«

»Horchen Sie nur – sie kommen hieher!« – Sie hatte recht.

»Thut mir leid, Frau Heßberger, Sie stören zu müssen, kann Ihnen aber nicht helfen – muß meine Pflicht thun,« sagte der Baß wieder. »Ich ersuche Sie vor allen Dingen, Ihre sämmtlichen Zimmer und Kammern aufzuschließen.«

»Aber auf wessen Befehl?« rief jetzt die Frau Heßberger, empört über eine derartige Behandlung. »Wer darf friedlichen Bürgern bei Nacht und Nebel in das Haus fallen und ihre Wohnung durchsuchen?«

»Die Polizei darf Alles, Frau Heßberger,« sagte der Mann ruhig, »und wenn Ihnen nachher Unrecht geschehen ist, so steht es Ihnen frei, Ihre Klage anzubringen. Für jetzt haben Sie weiter nichts zu thun, als Folge zu leisten.«

»Aber wessen sind wir denn angeklagt? Das darf man doch erfahren, um sich vertheidigen zu können.«

»Jawohl, gewiß,« sagte der Commissar wieder; »der Herr Rath Frühbach hat eine Klage gegen Sie anhängig gemacht und eine Haussuchung beantragt, weil er behauptet, daß ihm von dem Schuhmacher Heßberger Zeug zu einem Beinkleide und verschiedene Silbersachen gestohlen seien.«

»Was, der Herr Rath Frühbach hat das behauptet?« schrie die Frau, während die Frau Räthin hinter der Thür vor Schreck fast in die Kniee zu brechen drohte. »Der schlechte, nichtsnutzige Mensch will ehrliche Leute zu Dieben machen, und indessen kommt seine Frau hier zu mir und thut scheinheilig und freundlich, als ob sie von Gott und der Welt nichts wüßte?«

»So? Die Frau Räthin Frühbach ist bei Ihnen?« sagte Staatsanwalt Witte, der in diesem Augenblick vortrat. »Da bedauere ich allerdings, daß wir so zur unrechten Zeit gestört haben – aber jetzt kann's nichts mehr helfen. Herr Commissar, bitte, thun Sie Ihre Schuldigkeit!«

»Jawohl, Herr Staatsanwalt,« rief die Frau mit einem tiefen, spöttischen Knix, indem sie die Thür zu ihrem Zimmer aufriß, »dann seien Sie nur so gut und heben Sie das ganze Nest aus und können dann Ihre Frau Gemahlin auch gleich mitnehmen! Weiter werden Sie aber wohl nichts finden – bedauere sehr, daß sich die Herren umsonst bemüht haben!«

»Alle Teufel!« murmelte der Staatsanwalt vor sich hin. »Aber das ist ja gar nicht möglich!«

»Belieben Sie vielleicht gefälligst näher zu treten?« sagte die Frau höhnisch. »Eine verschleierte Dame aus der Residenz, die zu wissen wünscht, wer ihr Schwiegersohn wird! Bitte, Herr Commissar, geniren Sie sich nicht, thun Sie, als ob Sie zu Hause wären! Aber da will ich doch die ganze Welt fragen,« setzte sie boshaft hinzu, »ob das ein Betragen von anständigen, ehrbaren Frauen ist, hier in der Nacht zu mir zu kommen und sich an meinen Tisch zu setzen, während ihre beiden Männer gegen mich ein Complot anstiften und mit Polizei in's Haus rücken!«

»Meine Damen,« sagte der Commissar, aber jetzt wirklich selber in Verlegenheit, »es thut mir leid, so zur unrechten Zeit gekommen zu sein. Uebrigens habe ich nicht den geringsten Auftrag, Sie hier zurückzuhalten, und stelle Ihnen deshalb frei, den Platz zu verlassen, wann es Ihnen beliebt.«

»Herr Commissar,« sagte die Frau Räthin, »wir werden von ihrer Güte Gebrauch machen.« Und ohne den Blick rechts oder links zu wenden, erfaßte sie den Arm ihrer Begleiterin und eilte mit dieser, so rasch sie über das in der Werkstätte umhergestreute Leisten- und Lederwerk hinwegkommen konnten, der Treppe zu. Dorthin begleitete sie aber noch der Commissar, gab dem dort stationirten Polizeidiener, der schon vortreten wollte, Befehl, die Damen durchzulassen, und kehrte dann in die Stube zurück, um seine vorgeschriebene Haussuchung zu beginnen.

Heßberger selber zeigte sich dabei außerordentlich demüthig, aber doch auch störrisch; er meinte, es solle dem Herrn Rath Frühbach theuer zu stehen kommen, ihn auf solche Weise verdächtigt zu haben, noch dazu, da er ihn heute Mittag selber in den Laden geführt hätte, wo das Hosenzeug zu verkaufen wäre, auf das sich, wie er jetzt vermuthen müsse, seine Nachfragen bezogen hätten. Dort aber könne ihm Jeder bezeugen, daß er den Stoff da gekauft und gleich bezahlt habe, und er wolle doch einmal sehen, ob er sich auf diese Weise als ehrlicher Mann brauche beschimpfen zu lassen.

Die Frau Heßberger selber, die ihren ersten Zorn hinuntergekämpft, benahm sich jetzt vollkommen vornehm gegen den Commissar und dachte gar nicht daran, ihn im geringsten zu unterstützen. Da wären die Schlüssel, sagte sie, zu allen ihren Schränken und Laden; nun möge er selber, wenn es ihm Freude mache, nachsehen, ob er dort irgend etwas von des Herrn Frühbach Sachen fände. Sie selber aber rühre keine Hand und sei auch nicht dazu verpflichtet, bitte sich aber aus, daß Alles wieder so ordentlich gelegt würde, wie man es gefunden.

Dem Commissar gefiel das nicht; die Leute betrugen sich nicht wie ertappte Verbrecher, sondern handelten genau so, als ob sie in ihrem guten Recht wären, und der Staatsanwalt besonders befand sich nichts weniger als behaglich. Er wußte recht gut, welche Verantwortung er übernommen, und zum ersten Mal stieg der Wunsch in ihm auf, die ganze fatale Angelegenheit gar nicht berührt zu haben. Aber was half es! Die Haussuchung hatte durch das polizeiliche Besehen der Wohnung factisch begonnen und mußte nun auch durchgesetzt werden. Und wer konnte denn überhaupt wissen, ob sie nicht doch etwas fanden, was sie in der Ausführung entschuldigte und rechtfertigte!

Zuerst wurde die Werkstätte untersucht, aber nur leichthin, denn hier war auch kein möglicher Platz, wo etwas hätte versteckt werden können, den Ofen vielleicht ausgenommen; dann kam das Zimmer der Frau, was schon mehr Schwierigkeiten bot. Aber trotz genauer Durchsuchung der sämmtlichen Schränke und Commoden fand sich auch nicht das geringste Verdächtige, eben so wenig in der Küche.

Der kleine Holzverschlag war fast leer und konnte mit einer Laterne leicht abgeleuchtet werden; er enthielt nichts, als einst weiß gewesene schmutzige Kalkwände mit vielleicht einem Korb Holz darin. Einen Keller hatten die Heßbergers gar nicht, eben so wenig Bodenraum; nur noch ein dunkles Käfterchen, in dem vielleicht zwei Scheffel Steinkohlen lagen. Auch das wurde durchsucht und der Bestand zum großen Theile bei Seite geschaufelt; aber auch dort fand sich nichts, und der Commissar sah den Staatsanwalt an und zuckte die Achseln.

Staatsanwalt Witte befand sich in Verlegenheit. Die Sache war ihm entsetzlich fatal, und noch fataler, daß sich Frau Heßberger auf einen ihrer Lehnstühle gesetzt und ihn mit höhnischen Blicken betrachtete. Aber was ließ sich thun! Daß Heßbergers jetzt den Rath Frühbach wegen falscher Anklage vor Gericht belangen würden, verstand sich von selbst, und er hatte eine heftige Scene mit dem Rath zu gewärtigen; aber das ließ sich eben nicht ändern. Keinesfalls wollte er sich dem Hohn der Schustersfrau hier länger aussetzen; der Commissar mochte sehen, wie er mit der allein fertig wurde.

»Schön,« sagte er, »wenn nichts zu finden ist, brechen Sie die Verhandlung ab!« Und ohne sich länger aufzuhalten oder das also gekränkte Ehepaar weiter zu grüßen, schritt er durch die Werkstätte der Treppe zu.

Dort an der Thür saß der Lehrjunge, den der Meister vorher so geprügelt hatte; er schien sich die ganze Untersuchung schadenfroh betrachtet zu haben und eben so wenig zufrieden zu sein, daß man nichts gefunden, wie der Staatsanwalt selbst. Als Witte aber an ihm vorüberging, zupfte er ihn plötzlich am Rock und flüsterte: »Kohlenkammer – Meister geht immer hinein!« und drehte sich dann scharf ab in die Werkstätte, wo er sich in einem Winkel niederkauerte. Witte hatte auch die letzten Worte kaum oder vielleicht gar nicht verstanden, aber das Wort »Kohlenkammer« war ihm nicht entgangen, und mit einer letzten Hoffnung, seine Ehre als Ankläger noch zu retten, drehte er sich scharf auf dem Absatz herum, ging auf den Polizeimann zu und sagte: »Herr Commissar, ich wünsche die nochmalige Durchsuchung der Kohlenkammer, ehe wir das Haus verlassen.«

»Aber, lieber Herr Staatsanwalt,« sagte der Mann, »wir haben fast die ganzen Kohlen bei Seite geschaufelt.«

»Wir werden es mit dem Rest eben so machen,« sagte Witte, der sich an diese letzte Hoffnung klammerte.

»Meinetwegen – wie Sie es wünschen; ich bin Ihnen gern gefällig,« erwiederte der Mann. »Aber ich fürchte, wir versäumen nur unsere schöne Zeit – wo ist die Laterne?«

»Hier, Herr Commissar.«

»Gut – schaufelt noch einmal den letzten Kohlenrest bei Seite; es könnte doch möglich sein, daß noch etwas darunter wäre.«

Die Leute gingen willig an die Arbeit, denn es war ihnen selber nicht recht, daß sie unverrichteter Sache wieder abziehen sollten – ist doch das ganze Polizeileben auch nur eine Art von Jagd, und ohne Beute scheut sich ein jeder Jäger heimzukehren. Aber selbst diese letzte Mühe schien vergeblich; denn mit jeder Schaufel voll Kohlen, die bei Seite geworfen wurde, stellte sich mehr und mehr heraus, daß der kleine Vorrath nichts heimlich Verborgenes mehr verdecken könne; ihre ganze Mühe war vergebens gewesen. Aber der Staatsanwalt beruhigte sich noch immer nicht. Er nahm selber die Laterne und leuchtete an den Wänden herum, und als er dort keine Möglichkeit eines Verstecks sah, auf der kohlengeschwärzten Diele.

Heßberger stand an der Thür und sah ihm zu.

»Aber, verehrtester Herr Geheimer Staatsanwalt,« sagte er, »glauben Sie denn wirklich, was der böse Herr Geheime Rath über uns gesagt hat? Habe ich Sie nicht immer bedient, wie sich's gehört und gebührt, und halten Sie mich wirklich für einen so corrumführten Menschen, um den Zorn Gottes auf mich zu laden?«

»Herr Commissar,« sagte Witte, der in der Diele, aber von Kohlenstaub fast verdeckt, ein kleines Stück blanken Eisens bemerkt hatte. Es war kaum sichtbar; nur dadurch, daß das Licht der Laterne einmal darauf fiel, blitzte es ein wenig, und Witte's Auge haftete daran. Was der Schuhmacher sagte, hörte er gar nicht. – »Bitte, kommen Sie einmal hieher.«

»Jawohl, Herr Staatsanwalt; was wünschen Sie?«

»Sie haben mehr Praxis in derlei Dingen – was ist das da auf dem Boden?«

»Das hier?« sagte der Commissar, indem er sich dazu niederbog. »Hm, das sieht beinahe aus wie der Riegel an einer Thür, und ich weiß eigentlich nicht, was das hier auf dem Boden bezweckt.«

»Haben Sie kein Instrument bei sich, um es einmal zu versuchen?«

»Vielleicht finden wir etwas in der Werkstätte. Heh, Heßberger, was ist das hier für ein Eisen?«

»Kann ich nicht sagen, Herr Geheimer Commissar,« erwiederte der Schuster; aber dem Staatsanwalte entging nicht die Verlegenheit des Mannes. – »Hat vielleicht früher hier einmal ein Schrank gestanden. So lange ich hier wohne, habe ich die Kammer immer nur zu Kohlen benutzt. Wahrscheinlich sind die Dielen damit zusammengefügt. Das Haus ist sehr schlecht gebaut, es trocknet Alles zusammen, wenn es nicht genagelt und geschraubt wird.«

»Geben Sie mir einmal irgend ein Instrument her,« sagte der Staatsanwalt, der indeß den Kohlenstaub mit den Händen von der Stelle weggewischt hatte – »und wenn es ein krummgebogener Nagel ist. Ich gehe nicht fort, bis ich den Platz hier untersucht habe.«

»Wenn Sie erlauben,« sagte der Schuhmacher, »werde ich Ihnen gleich etwas holen; ich habe da unten noch etwas Werkzeug stehen.« Und ohne eine Antwort abzuwarten, sprang er nach der Treppe.

»Halt,« sagte der dort stationirte Polizeidiener, »kein Mensch durch!«

»Aber ich will gerade für den Herrn Geheimen Staatsanwalt....«

»Laßt ihn nicht durch!« rief Witte. »Er soll herkommen – wir kriegen das Ding schon auf – nur irgend etwas her, um damit zu heben!«

Der eine Polizeidiener hatte sich die Stelle jetzt ebenfalls angesehen und brachte rasch einen der Haken herbei, mit denen die Leisten aus den Stiefeln gezogen werden. »Können Sie das vielleicht gebrauchen, Herr Staatsanwalt?«

»Wie dazu gemacht!« rief Witte vergnügt, indem er den Haken in die Oeffnung brachte und daran hob. Er brauchte aber gar nicht etwa stark zu ziehen, denn das von den Kohlen befreite Brett gab außerordentlich leicht nach und zeigte jetzt an seinem unteren Ende sogar ein Charnier, mit dessen Hülfe sich eine ordentliche Klappe bildete. Wie er aber den Deckel hob, entstand draußen an der Treppe ein Lärm – der Schuster hatte mit Gewalt hinunterbrechen wollen, und der Polizeidiener wäre beinahe von ihm die Treppe hinabgeworfen worden. Auf seinen Hülferuf sprang aber einer der Kameraden hinzu, und wenige Minuten später hatten sie den wüthend um sich schlagenden Schuhmacher überwältigt und fest gepackt, und der Commissar, der nun allerdings vermuthen mußte, daß der Bursche ein böses Gewissen habe, befahl, ihm die Hände auf dem Rücken zusammen zu schnüren.

»Hallo, Commissar,« rief Witte jubelnd aus, »kommen Sie einmal hieher und sehen Sie, was wir da haben! Hol's der Teufel, das ist ein ganzes Nest von Sachen, und Sie werden ein paar Stunden Arbeit bekommen, um die alle zu protokolliren!«

Die Frau Heßberger hatte in ihrer Stube auf dem Lehnstuhl gesessen und wollte jetzt aufstehen – aber sie konnte nicht; wie in einander gebrochen sank sie zurück und war so weiß geworden wie ihre Gardinen.

Witte indessen, den Kohlenstaub und die Arbeit nicht achtend, sprang fast jubelnd in die kleine Höhlung hinein, und die Gegenstände von dort herauf gegen das Licht werfend, rief er: »Da, sehen Sie – Heiland der Welt, was sich der Schuft hier für eine ordentliche Schatzkammer von Waaren angelegt hat – silberne Löffel in Masse – bei Gott, da ist der Deckel zu meiner Zuckerdose und hier die Schalen – Seidenzeug, Meerschaumköpfe, alte, kostbare Goldsachen – sehen Sie nur den Reichthum!«

»Herr Staatsanwalt,« schrie da der Commissar erschreckt, »dabei sind Sachen, die dem alten Salomon gehört haben!«

Der Staatsanwalt richtete sich empor; er war in dem Moment der Aufregung todtenbleich geworden.

»Dem alten Salomon! – Also wirklich?«

»Ich habe sie selber in seinem Laden gesehen.«

»Verwahren Sie den Menschen gut!« rief Witte, aus dem Loch herausspringend. »Lassen Sie ihn um Gottes willen nicht fort!«

»Der ist gut genug verwahrt,« sagte der Commissar, »und keine Gefahr, daß er uns entspringt.«

»Und die Frau?«

»Auf die werden wir noch besonders Acht geben. Haben Sie keine Angst; das Pärchen ist sicher.«

»Schön,« sagte Witte; »dann haben Sie die Güte und schicken die beiden Leute vor allen Dingen in Gewahrsam, damit sie Ihnen hier nicht mehr im Wege sind, und packen dann den Waarenvorrath zusammen und lassen ihn auf das Criminalamt schaffen, damit er dort geordnet und registrirt wird. Haben Sie Leute genug?«

»Ich denke, wir werden mit der Gesellschaft fertig werden,« sagte der Commissar. »Herr Staatsanwalt, ich glaube, wir haben heute Abend einen guten Fang gemacht.«

»Ich denke es auch, Herr Commissar; aber kommt da nicht Jemand?«

Es fiel, allem Anscheine nach, irgend wer die etwas dunkle Treppe herauf, denn es polterte furchtbar, und man hörte ein paar halbverbissene Flüche; dann wurden wieder Schritte hörbar, und zuletzt zeigte sich in dem Lichte der von dem einen Polizeidiener emporgehaltenen Laterne eine menschliche Gestalt.

»Halt! Werda?« rief sie der Mann militärisch an.

»Gut Freund – ich bin's,« antwortete eine fremde Stimme. »Ist Herr Staatsanwalt Witte hier?«

»Hier bin ich. Wer ist da?«

»Mein lieber Staatsanwalt,« sagte Rath Frühbach – denn als solcher stellte sich der späte Besuch heraus –, indem er die letzten Stufen emporklomm, »nehmen Sie mir das nicht übel: ich habe Ihnen die Betreibung der Angelegenheit überlassen, aber doch nicht zu dem Zweck, um mich in Teufels Küche zu bringen. Ich protestire gegen jedes weitere Verfahren, in so fern es die brave Heßberger'sche Familie betrifft, und überlasse Ihnen alle und jede Verantwortung für das Geschehene.«

»Aber, bester Herr Rath!« lachte Witte.

»Bitte,« sagte Rath Frühbach, »das ist kein Spaß: ich lag schon im Bett und im ersten Schweiß, als meine Frau nach Hause kam und mir mittheilte, daß Sie hier im Heßberger'schen Familienkreise auf meine Veranlassung mit Polizei wirthschafteten und Haussuchung hielten. Ich sage Ihnen, wie ich war, fuhr ich aus dem Bette und in meine Kleider, und ich kann den Tod davon haben, denn nichts auf der Welt ist schlimmer als eine unterbrochene Transspiration....«

»Und Sie protestiren wirklich, Herr Rath?«

»Allerdings, soweit es den Ihnen gegebenen Auftrag betrifft. Ich ziehe meine Klage vollständig zurück.«

»Dann bedauere ich, daß Sie zu spät kommen,« lachte Witte, »denn wir haben das ganze Nest schon ausgehoben und einen wahren Schatz von gestohlenen Sachen gefunden.«

»Von gestohlenen Sachen?« rief Frühbach erstaunt.

»Ueberzeugen Sie sich selber – genug Silber, um eine fürstliche Tafel auszustatten.«

»Nun, sehen Sie wohl, daß ich recht hatte?« bemerkte Rath Frühbach, indem er auf die oberste Stufe trat und das Terrain mit seinen Blicken überflog (der gebundene Heßberger stand dicht neben ihm). »Habe ich es Ihnen nicht immer gesagt, daß der Heßberger ein ganz durchtriebener Bursche ist? Aber Sie wollten es mir nie glauben! Und was wird jetzt?«

»Jetzt schaffen wir die Gefangenen auf die Polizei,« sagte der Commissar, »und morgen früh ersuche ich Sie, mit Ihrer Frau Gemahlin auf das Amt zu kommen, um die aufgefundenen Gegenstände in Augenschein zu nehmen und zu erklären, ob etwas darunter Ihr Eigenthum ist. Auf Ihre Veranlassung wurde die Haussuchung vorgenommen, und es versteht sich von selbst, daß Sie zuerst über die Gegenstände, die wir Ihnen vorlegen müssen, vernommen werden.«

»Und haben Sie das Hosenzeug gefunden?«

»Das allerdings noch nicht, aber es kann noch Manches in dem unteren und sehr geschickt angebrachten Versteck liegen. Also versäumen Sie Ihre Zeit nicht – morgen etwa zwischen zehn und elf Uhr, wenn ich bitten darf.«

3.
Das Verhör.

Das Versteck der gestohlenen Sachen war wirklich außerordentlich schlau angelegt und die Klappe so genau gearbeitet, daß sie, noch dazu mit dem Kohlenstaub überzogen, nur bei einer vollkommen gründlichen Untersuchung entdeckt werden konnte. Selbst das Blitzen des Eisens im Lichte schien Heßberger vorgesehen und abgewendet zu haben, denn dasselbe war mit schwarzer Farbe überstrichen, diese aber durch den mehrfachen Gebrauch des zum Heben benutzten Hakens an einigen Stellen abgescheuert worden, was denn einzig und allein zur Entdeckung führte.

Heßberger, der zuerst einen verzweifelten Versuch gemacht hatte, zu entkommen, saß jetzt wie völlig in einander gebrochen am Boden; er hatte nicht mehr Kraft genug in den Knieen, um aufrecht zu stehen. Seine Frau dagegen behauptete nach wie vor ihre starre Ruhe und Unschuld. Finster blickte sie auf die vor ihr ausgebreiteten Waaren und Kostbarkeiten, die nach und nach aus dem Gefach herausgearbeitet wurden und von denen einzelne Stücke schon sehr lange dort unten gelegen haben mußten, denn sie waren wie mit einer Staubkruste überzogen; aber sie leugnete, auch nur das Geringste davon zu wissen. Sie sei, wie sie behauptete, eine ehrliche Frau, die sich mit ihrer »Kunst«, mit ihrer Arbeit nähre, aber noch nie daran gedacht habe, zu einem unehrlichen Erwerb zu greifen. Sei das wirklich von ihrem Mann geschehen, so wisse sie nichts davon, oder sie hätte es nie geduldet; er müsse es heimlich gethan haben, wie er die Gegenstände ja auch, ihr selbst verborgen, heimlich versteckt und weggebracht habe.

Dem Polizei-Commissar lag übrigens gar nichts daran, hier ein langes Verhör anzustellen, und wie sie das Fach ordentlich ausgeräumt und Alles, selbst das Letzte, heraufbefördert hatten, ertheilte er Befehl, das gestohlene Gut fortzuschaffen und die beiden Eheleute ebenfalls in sicheres Gewahrsam zu bringen. Er schärfte aber den Polizeidienern ganz besonders ein, sie getrennt zu halten und unter keiner Bedingung zu gestatten, daß sie auch nur Ein Wort mit einander wechselten.

Unten im Hause war es indessen auch unruhig geworden, denn es konnte den tiefer wohnenden Miethsleuten kein Geheimniß bleiben, daß in der oberen Etage etwas Außerordentliches vorgehe. Schon der Kampf des Schuhmachers an der Treppe, als er seinen Durchgang erzwingen wollte, hatte sie alarmirt und auf den Vorsaal gelockt; allerdings staunten sie auch nicht wenig, als sie den kleinen, »frommen« Schuhmacher in solcher Begleitung die Treppe hinabsteigen sahen. Heßberger selber beeilte sich aber, ihnen aus dem Weg zu kommen, und wenige Stunden später lag das Quartier da oben, da man die beiden Lehrjungen ebenfalls für die Nacht wo anders unterbrachte und die Thüren versiegelte, öde, dunkel und verlassen.

Witte indessen, mit dem gehabten Erfolge, der allerdings über Erwarten reich und wichtig ausgefallen war, sehr zufrieden, schritt seiner eigenen Wohnung zu. Dabei überkam ihn aber doch ein etwas unbehagliches Gefühl, denn es war ihm entsetzlich fatal, seine eigene Frau in der Gesellschaft überrascht zu haben. Und was die Frau Staatsanwalt nun wohl dazu sagen würde? – Sie sagte aber heute Abend gar nichts, denn sie ließ sich vor ihrem Mann nicht mehr blicken, und er selber unterstützte sie darin. Morgen, bei kaltem Blute, besprach sich die Sache weit besser, oder sie wurde auch vielleicht total ignorirt; er wenigstens war fest entschlossen, nicht wieder davon anzufangen.

Uebrigens sah er sich auch an dem Tag so beschäftigt – oder machte sich vielleicht absichtlich so viel zu thun –, daß er selbst zum Mittagessen nicht nach Hause kam und absagen ließ, und während seiner Geschäftsstunden störte ihn die Frau schon überdies nicht oder suchte ihn auf.

Am Morgen, zur bestimmten Zeit, kam aber der alte Baumann zu ihm, und mit diesem hatte er eine lange und ernste Unterredung. Baumann nämlich wollte gleich hinauf auf's Gericht und selber Anzeige von dem Betrug seiner Frau machen. Den Vorfall bei Heßbergers wußte er auch schon, und er erklärte bestimmt, mit der ganzen Familie fortan zu brechen. Witte hatte die größte Mühe, ihm das auszureden, und es gelang ihm wirklich nur dadurch, daß er den Schlossermeister darauf aufmerksam machte, die Verhaftung seiner Frau würde durch den Stadtklatsch nicht etwa mit einer andern Angelegenheit, sondern augenblicklich mit dem Diebstahl in Verbindung gebracht werden, und das mußten sie jetzt zu vermeiden suchen.

»Also wollen Sie mich zu dem Hehler einer solchen Sünde machen?«

»Nein, lieber Baumann,« erwiederte Witte, »ich weiß, daß Sie ein rechtlicher Mann sind, und Sie trauen mir hoffentlich das Nämliche zu. Ich würde Ihnen also zu nichts rathen, was nicht Sie, was nicht ich vor meinem Gewissen verantworten könnte; Sie sind von jeder Verantwortung frei. Ihre Frau sowohl als Sie jetzt haben mir, dem Staatsanwalt, die Erklärung abgegeben und mich aufgefordert, die Rechte des wirklichen Erben vor Gericht zu vertreten; überlassen Sie mir also auch, den Zeitpunkt zu wählen, den ich dazu für den richtigen halte. Außerdem haben wir jetzt die beiden Leute, deren Zeugniß allein den Ausschlag geben kann, ganz unerwarteter Weise hinter Schloß und Riegel bekommen, und die Sache ist uns dadurch um ein Wesentliches erleichtert worden. Aber beantworten Sie mir eine Frage: hat Ihr Fritz je mit seinem vermeintlichen Onkel, dem Schuhmacher Heßberger, einen näheren Verkehr gehalten?«

»Nie,« sagte der alte Mann; »sie konnten sich gegenseitig nicht leiden, und ich glaube sogar nicht, daß sie seit Jahren ein Wort mit einander gesprochen haben.«

»Das dachte ich mir. Aber wissen Sie, daß unter den gestern bei Heßberger gefundenen Sachen werthvolle Gegenstände aus Salomon's Laden sind?«

»Großer Gott, sollte denn der schuftige Schuhmacher auch das auf dem Gewissen haben?«

»Aller Wahrscheinlichkeit nach; aber das wollen wir bald herausbekommen, denn Salomon, obgleich er den Namen des Diebes nicht weiß, kennt ihn von Angesicht gut genug, und wenn er....«

»Aber der alte Salomon ist ja todt!«

»Denkt gar nicht daran,« lachte Witte – »wieder frisch und gesund, nur noch ein bischen schwach auf den Füßen. Wir glaubten durch das Gerücht seines Todes den Mörder sicher zu machen; aber Heßberger, wenn er es wirklich gewesen, war uns zu schlau, und hätte ihn nicht der wunderlichste Zufall dem Gerichte in die Hände gespielt, so würde kein Mensch geahnt haben, daß er mit dem Verbrechen in Verbindung stände.«

»Aber werden sie jetzt nicht erst recht glauben, daß der Fritz mit seinem Onkel unter Einer Decke gesteckt habe, und müssen wir deshalb nicht gerade beweisen, daß er gar nicht sein Onkel ist?«

»Das Erste habe ich auch gefürchtet, das Zweite wäre aber kein Beweis für ihn, denn er konnte bis jetzt nichts davon wissen. Nein, überlassen Sie mir getrost die Sache, Baumann, und Sie können sich versichert halten, daß Sie nicht allein kein Vorwurf trifft und treffen kann, sondern daß ich auch so rasch als irgend möglich damit vorschreite.«

Baumann war aufgestanden; aber er zögerte, er hatte allem Anschein nach noch etwas auf dem Herzen.

»Drückt Sie noch etwas, Baumann?«

»Ja, Herr Staatsanwalt; eine Bitte...«

»Und was ist es?«

»Ich wollte Sie ersuchen,« sagte der Mann, »die – Scheidungsklage mit meiner Frau einzuleiten. Ich glaube, daß Sie das zu besorgen haben.«

»Baumann!«

»Wir haben sechsundzwanzig Jahre glücklich mit einander gelebt,« fuhr der Schlossermeister fort, »so glücklich,« setzte er leise hinzu, »daß ich bis jetzt glaubte, nur der Tod könne und werde uns auseinander nehmen. Das ist vorbei. Nach dem, was sie mir angethan, daß sie mein, daß sie ihr eigenes Kind verkaufte, kann ich nicht länger mit ihr leben – es muß sein!«

»Ueberlegen Sie sich die Sache noch, Baumann,« sagte Witte herzlich; »das hat Zeit – übereilen Sie nichts. Sie sind jetzt im ersten Schmerz und Zorn.«

»Es ist nichts mehr zu überlegen, Herr Staatsanwalt,« beharrte der alte Mann; »was ich gesagt habe, hab' ich gesagt, und dabei bleibt es. Kein Mensch in der Welt wird mich davon abbringen können, wenn ich mit mir selber erst einmal im Reinen bin, daß es geschehen muß!«

»Aber Ihre Frau ist sonst so brav und gut – Sie haben nie eine Klage wider sie gehabt!«

»Nie,« sagte der Mann feierlich, »nie ist selbst nur ein böses Wort zwischen uns gefallen, und Gott mag ihr, das bitte ich recht von Herzen, den Fehltritt vergeben – ich kann es nicht! Grund genug ist doch zu einer Scheidungsklage?«

Witte sah, daß er mit dem alten, störrischen Manne jetzt doch nichts ausrichten konnte. »Ich glaube, ja,« sagte er endlich nach einigem Zögern, »und wenn Sie es nicht anders wollen, so läßt es sich wohl durchsetzen.«

»Und wann darf ich wieder vorfragen?«

»Ich komme selber zu Ihnen, Baumann. Ich will jetzt auf das Criminalamt, um bei der Untersuchung der gestohlenen Gegenstände gegenwärtig zu sein. Heute nimmt uns das vollständig in Anspruch, und wir müssen vor allen Dingen sehen, daß wir den armen Teufel, den Fritz, aus seiner unbequemen Lage befreien.«

»Der arme Junge,« sagte Baumann seufzend, »wie ist dem seine ganze Jugend gestohlen worden!«

»Darüber möchten Sie ihn doch erst einmal selber fragen,« meinte der Staatsanwalt, »und ich zweifle sehr, ob er – nach Allem, was ich wenigstens über das Leben auf Schloß Wendelsheim gehört habe – mit dem Lieutenant tauschen würde.«

Der alte Baumann seufzte tief auf. Er war bis dahin schlicht und ehrlich, immer geradeaus durch das Leben gegangen und hatte in der That gar keinen andern Weg für möglich gehalten. Jetzt fand er sich plötzlich in lauter krummen und fremdartigen Gängen – mit eigentlich zwei Söhnen und keinem –, verwickelt und verworren, in Lug und Trug hineingebracht, und sah dabei keinen Ausweg, wieder heraus und auf freien Boden zu kommen. Aber er mußte eben stillhalten, es ließ sich mit seinen arbeitsharten Fäusten, mit seinem schlichten Menschenverstand nichts in der Sache thun; das erforderte feine Hände und einen spitzen Kopf, und schon von dem Bewußtsein niedergedrückt, reichte er dem Staatsanwalt nur noch die Hand und kehrte nach Hause zurück.

Witte eilte auf das Criminalamt, und dort erwartete ihn allerdings heute eine so interessante als lohnende Beschäftigung, nämlich die Besichtigung der gestohlenen Waaren, zu der man aber auch den alten Salomon brauchte. Jetzt lag auch nichts mehr daran, das Gerücht seines Todes im Publikum verbreitet zu halten, da man den wirklichen Dieb schon in Händen zu haben glaubte, und als auch der Polizeiarzt versicherte, Salomon könne ohne die geringste Gefahr für sich selber auf's Amt kommen, und sich sogar erbot ihn abzuholen, so wurde eine Droschke beordert, und der mitfahrende Doctor dirigirte sie der Judengasse zu.

Salomon hätte übrigens kaum mehr der Droschke bedurft, so rasch hatte er sich, wie nur die erste Betäubung von ihm gewichen, wieder erholt. Die beiden Wunden verlangten allerdings noch Pflege, aber es stellte sich auch bald heraus, daß die Schläge, obgleich mit voller Kraft und jedenfalls in der Absicht, zu tödten, geführt, doch beide mehr seitwärts abgeglitten waren und den Schädel nicht zersprengt hatten, und danach konnte die Heilung bald erfolgen.

Dem Alten ließ es auch selber keine Ruhe, und schon am zweiten Tage drängte er, in seinem Laden nachzusehen, wie weit er an seinem Eigenthum geschädigt worden. Aber Rebekka erlaubte es nicht. Er sollte sich noch nicht aufregen, wenn er den Verlust vielleicht größer fand, als er erwartet hatte. Am dritten Abend aber mußte sie ihm willfahren, und nach Dunkelwerden, damit ihn nicht etwa Jemand aus den Hinterfenstern der Nachbarhäuser bemerke, stieg er in Begleitung der Tochter hinunter und nahm eine genaue Revision vor.

Der erlittene Diebstahl stellte sich aber demnach gar nicht so beträchtlich heraus, denn mit Ausnahme eines Pakets von Kassenscheinen, das mehrere Hundert Thaler betrug, fehlten ihm nur noch einige, allerdings ziemlich werthvolle Silbersachen und eine goldene, mit Diamanten besetzte Schnupftabaksdose. Der Dieb war, wie man ja wußte, mitten in seiner Arbeit gestört worden, und hatte so eilig fliehen müssen, um selbst den Sack mit Silberthalern, der sich noch an der Thür gefunden, im Stich zu lassen.

Am vierten Morgen nach der That saß der alte Mann oben beim Frühstück, als er draußen laute Stimmen hörte. In der Nachbarschaft herrschte nämlich nicht geringe Aufregung unter seinen Glaubensgenossen, daß die Beerdigung des lange Todtgeglaubten noch nicht stattfand und auch keiner der sonst üblichen Gebräuche befolgt wurde. Die abenteuerlichsten Gerüchte durchliefen dabei das Viertel, und eins der am stärksten verbreiteten war, der Salomon wäre vor seinem Tode heimlich mit der ganzen Familie zum Christenthum übergetreten und deshalb eben so heimlich in der letzten Nacht auf einem christlichen Gottesacker beerdigt worden.

Indessen war aber auch ein naher Verwandter von ihm, der in Berlin wohnte und von dem Raubmord dort in den Zeitungen gelesen hatte, eingetroffen und an dem nämlichen Morgen, trotzdem er seinen Namen angab, nicht eingelassen worden. Die alte Magd hatte ihn abgewiesen, weil sie natürlich nicht wagte, einem von der Polizei gegebenen Befehl zuwider zu handeln. Der alte Salomon wurde aber böse, als er es erfuhr.

Gott der Gerechte, der Simon Levy abgewiesen von seiner Thür, seiner einzigen Schwester einziges Kind, der die lange Reise gemacht hatte nur seinetwegen!

Aber der Herr Actuar hatte so streng befohlen.

»Der Herr Actuar soll befehlen, wo er will,« sagte der alte Mann, »aber nicht im eigenen Hause vom Salomon und in seiner Familie, so lange der Salomon lebt und gesund ist; und wenn er todt wäre, hätte er erst recht nichts zu befehlen, denn dann ist die Frau vom Salomon da, wo das Alles besorgt, was zu befehlen ist.«

Der Simon Levy hatte sich aber ohnedies nicht so rasch abweisen lassen, denn noch war er kaum zweihundert Schritt vom Hause entfernt und immer mit sich selber im Zorn sprechend und vor sich hin gesticulirend fortgegangen, als er auch plötzlich, auf dem Absatz herumfahrend, Kehrt machte und jetzt fest entschlossen schien, das Haus von seiner Mutter Bruder nicht eher zu verlassen, bis er wenigstens seine Tante gesehen und gesprochen und von ihr die Bestätigung dessen gehört hatte, was die Leute in der Judengasse erzählten. Nachher wollte er den Staub von seinen Füßen schütteln und nach Berlin zurückfahren auf der Eisenbahn.

Wie er zum zweiten Mal in den Hof kam, begegnete er wieder der alten Magd, die gerade ausgeschickt worden, um ihn aufzusuchen. Sie hatte aber strengen Befehl bekommen, dem Simon Levy nicht zu sagen, daß der Salomon noch lebe und gesund sei, sondern sie sollte ihn nur zu der Frau bestellen und ihn dann in das Zimmer führen, wo Salomon noch immer bei seinem Frühstück saß. Die Alte kam auch der Ordre genau nach.

»Herr Levy,« sagte sie, »ist mir lieb, daß ich Sie treffe; sparen Sie mir doch einen langen Weg für meine kurzen Beine.«

»Ist die Madame Salomon zu Hause?«

»Ist sie,« nickte die alte Magd, »und sitzt oben in der Stube und wartet auf den Herrn Levy, und die Fräulein Rebekka auch.«

»Und wozu hast Du mir vorgeschmust, ich dürfe nicht hinauf?« sagte der kleine Mann ärgerlich. »Bin ich ein Landstreicher, daß ich werde fortgewiesen von der Thür von meine nächsten Verwandten?«

»Als Sie wollen näher treten, wird Ihnen die Madame Salomon erklären; in der großen Betrübniß darf man's verzeihen, und man soll keinen Zorn bringen in ein Haus der Trauer.«

»Soll ich leben und gesund bleiben,« sagte Levy, »ob's nicht eine schreckliche Geschichte ist! Aber, Rachel,« setzte er leise und scheu hinzu, »bist Du auch geworden eine christliche Dienstmagd?«

Die Alte schmunzelte still vor sich hin, denn sie wußte gut genug, was sich die Leute in der Nachbarschaft erzählten; aber sie beantwortete die Frage nicht, sondern seufzte nur tief auf und eilte dann rasch die Treppe hinan, um den Besuch zu melden. Der Simon Levy folgte ihr langsamer. Er war auf die Tante böse gewesen; jetzt beschlich ihn ein Gefühl der Trauer und Bekümmerniß, und mit gebücktem Haupt klopfte er an und öffnete auf den feierlich gegebenen Anruf langsam die Thür.

»Gott der Gerechte, Simon, was schneidst Du für ein Gesicht!« sagte schmunzelnd der alte Salomon, der, mit einem Glase alten Portweins in der Hand, noch am Tisch bei seinem Frühstück saß. »Als Du kommst zu sein bei der Leichenfeierlichkeit, wirst Du erst essen einen Bissen Brot und trinken ein Glas Wein.«

»Will ich nicht gesund auf meine Füße stehen!« rief Levy, fast sprachlos vor Staunen und Ueberraschung; »ist das Sitte bei die Christen, daß der, wo begraben werden soll, erst mit frühstückt?«

Der alte Salomon lachte, daß ihm die Thränen an den Backen herunterliefen, und jetzt kamen auch seine Frau und Rebekka hinzu, und im Anfang konnte wirklich Niemand sein eigenes Wort verstehen, so rief Alles durch einander und wollte fragen oder erzählen, bis denn der Neffe endlich erfuhr, wie Alles gegangen und weshalb der alte Salomon beinahe vier Tage lang den Todten gespielt hatte.

Noch während sie aber mit einander plauderten und der Simon Levy eine ganze Menge Portwein trank, nur um den Schreck hinunter zu spülen, den er, wie er sagte, von der »Erscheinung« seines alten Onkels gehabt, fuhr der Wagen des Arztes vor; und der Doctor, der gleich selber heraufkam und in großer Eile zu sein schien, sich aber augenblicklich mit an den Tisch setzte und alten Portwein trank, berichtete indessen von dem Fange, den die Polizei gestern Abend gemacht, und wie man die Gewißheit habe, daß der Schuhmacher Heßberger, wenn nicht der Hauptthäter, doch jedenfalls ein Genosse jenes Menschen sei, der an dem Abend den Mordanfall auf Salomon gemacht. Jetzt sei es deshalb auch nicht mehr nöthig, der Nachbarschaft die Wahrheit vorzuenthalten, und Salomon möge deshalb mit ihm in die Droschke steigen und auf die Polizei fahren, um die aufgebrachten Sachen selber zu besichtigen. Nachher solle ihm der Gefangene vorgeführt werden, damit er bestimmen möge, ob er in ihm den Räuber wiedererkenne.

Salomon war mit Allem einverstanden und mußte sich nur vorher ankleiden, und jetzt ließ sich auch Simon Levy nicht mehr halten, um zuerst die Neuigkeit von Salomon's Auferstehung in die Nachbarschaft zu tragen.

Und das gab einen Lärm im Viertel! Aus allen Häusern kamen sie herausgestürzt, um die Wundermähr zu besprechen; die schmutzigsten Spelunken spieen ihre Bewohner aus, und Toiletten kamen zum Vorschein, wie sie bisher nur von »Nacht und Grauen« bedeckt gewesen, und auch nur wirklich durch ein solches Ereigniß in das Sonnenlicht getrieben werden konnten. Vor Salomon's Hofthor sammelte sich aber der Schwarm von Israel's Nachkommenschaft: Männer, Weiber und Kinder, Alles bunt durch einander; denn dort mußte er in den Wagen steigen und also auch herauskommen. Salomon war auch wirklich unter seinen Glaubensgenossen, besonders bei den ärmeren Klassen, allgemein beliebt, und kein Haus gab es da, wo er nicht, sowie Frau und Tochter, schon Wohlthaten und Trost gespendet und manche Thräne getrocknet hatten. Die Freude, den guten alten Mann nicht todt, sondern lebend und gesund zu wissen, war deshalb allgemein.

Endlich nahte der entscheidende Moment; das Hofthor wurde geöffnet, und Salomon, in seinem gewöhnlichen braunen Rock, das Käppchen auf, wie er immer ging, trat heraus. In demselben Augenblick aber entstand auch ein Lärm, ein Geheul und Geschrei, Jubeln und Hurrahrufen, daß aus den benachbarten Straßen die Menschen herbeigestürzt kamen, weil sie glaubten, im Judenviertel sei eine Revolution ausgebrochen. Die Jungen warfen dazu ihre schmierigen Mützen in die Höhe, die Frauen schwenkten in Ermangelung von Taschentüchern ihre Halstücher, die Kinder schrieen, die Hunde bellten, und es war in der That eine nicht zu beschreibende Scene. Salomon wurde auch wirklich ganz gerührt davon; die Thränen standen dem alten Mann in den Augen, und er winkte nur immer, während sich der Arzt die Ohren zuhielt, nach rechts und links mit der Hand hinüber, und eilte dabei, was er konnte, in den Wagen, nur um fortzukommen. Aber das half ihm nicht einmal, denn der jugendliche Schwarm folgte ihm, so weit seine Grenze reichte, mit Jubeln und Hurrahschreien, und zog sich nur erst zurück, als die Droschke in eine der Hauptstraßen der Stadt einbog, wohin sich die kleine Bande nicht getraute.

Auf der Polizei erwartete ihn schon der Polizei-Director, der sich selber von dem Thatbestand überzeugen wollte, da der Fall wirklich Aufsehen im Lande gemacht hatte. War doch seit langer Zeit kein so frecher Raubanfall in ganz Alburg vorgekommen und gerade dieser Ort von schlechtem Gesindel bis jetzt verhältnißmäßig sehr wenig heimgesucht worden! Die Sachen hatte man auch alle oben im Criminalamt auf einer langen Tafel ordentlich ausgelegt, und es fiel dem alten Mann nicht schwer, das darunter zu bezeichnen, was ihm gehört hatte und ihm an jenem Abend geraubt worden, denn seit der Zeit war ja sein Laden fest verschlossen gewesen. Auch die Summe der Banknoten gab er an, die ihm gestohlen worden, und man hatte allerdings in einer silbernen Zuckerdose eine Partie Banknoten, einen Theil derselben aber auch an Heßberger's Körper gefunden, bei dem sich, als er visitirt wurde, ergab, daß er einen breiten Gurt von wasserdichtem Zeug um den Leib trug.

Die Hauptsache blieb noch übrig, und zwar eine Confrontation mit dem Verbrecher, der jetzt herbeordert wurde, während Salomon so lange in ein Nebenzimmer treten mußte. Das erste Verhör sollte in Gegenwart des gestohlenen Gutes stattfinden, und man wollte versuchen, ob man vielleicht ein offenes Geständniß von dem Verbrecher erhalten könne.

Darin hatte man sich aber in Heßberger geirrt; denn mit einer ganzen Nacht Zeit, um über Alles gehörig nachzudenken, schien er zu dem Entschluß gekommen zu sein, Alles zu leugnen; es war das letzte verzweifelte Mittel, um einen Urtheilsspruch von sich abzuwenden – er wußte wenigstens kein anderes.

Actuar Bessel führte heute das Protokoll, während einer der Justizräthe das Verhör leiten sollte. Der Polizei-Director war nur als stummer Zeuge im Zimmer geblieben.

Heßberger wurde vorgeführt; er sah ziemlich blaß aus, und die Hausjacke, die er angehabt, als man ihn gefangen fortführte, war ihm bei dem gestrigen Kampf an der Treppe zerrissen, so daß das eine Schulterblatt herunterhing. Schmutzig und scheu, aber doch mit einer Art von kriechender Höflichkeit trat er in den Saal, und die kleinen grauen Augen flogen blitzschnell durch den inneren Raum und streiften nur flüchtig über die ausgestellten Gegenstände, die er jedenfalls genau genug kannte, aber doch nicht zu beachten schien.

Die gewöhnlichen Fragen wurden ihm jetzt vorgelegt: nach Namen und Alter, wie lange er schon in Alburg wohne, lauter Dinge, welche die Polizei genau so gut wußte, wie er selber – und ob er schon jemals vor Gericht gestanden. Das Letztere verneinte er auf das entschiedenste, und wollte noch eben hinzusetzen, daß er ein ganz unbescholtener Bürger wäre, als ihm der Untersuchungsrichter das Wort abschnitt und ihn fragte, wie er zu den Sachen gekommen wäre, die dort auf dem Tische ausgebreitet lägen.

»Herr Geheimer Justizrath,« sagte der Mann, indem er jetzt zu dem Tisch trat und die Gegenstände dem Anschein nach aufmerksam betrachtete, »es thut mir leid, darüber keine Wissenschaft zu besitzen; ich habe das Logis jetzt lange Jahre, aber nie geglaubt, daß in meinem Kohlenkeller ein solcher Schatz begraben läge, oder ich würde gewiß nicht versäumt haben, dem Herrn Geheimen Polizei-Director davon die gebührende Anzeige zu machen.«

»Ihr leugnet also, daß Ihr etwas von dem Erwerb dieser sämmtlichen Gegenstände wißt und die Eigenthümer, denen sie früher gehört haben, kennt?«

»Aber, mein bester Herr Geheimer Justizrath...«

»Ja oder Nein?«

»Bitte mich zu paddoniren, ich habe die Frage nicht verstanden,« sagte der Mann ruhig.

Der Justizrath biß sich auf die Lippe. »Ich frage Euch, ob Ihr wißt, woher die Sachen stammen, oder ob Ihr es nicht wißt.«

Staatsanwalt Witte trat in diesem Augenblick in's Zimmer und ging auf den Justizrath zu, dem er etwas in's Ohr flüsterte.

Heßberger warf ihm einen scheuen Blick zu und sagte dann entschieden: »Nein!«

»Herr Staatsanwalt,« fragte der Justizrath, »ist Ihnen nicht auch in der letzten Zeit Silberzeug weggekommen? Ich dächte, Sie hätten die Anzeige gemacht. Wollen Sie einmal gefälligst dort auf dem Tisch nachsehen, ob Sie da vielleicht einige der Ihnen gehörenden Sachen finden?«

»Sie haben da eine ganze Collection,« lachte Witte, indem er der Aufforderung Folge leistete; »aber ich fand schon gestern Abend an Ort und Stelle einige alte Bekannte unter den Silbersachen – da hier die Löffel gehören mir, ebenso dieser Deckel, und diese Zuckerzange kommt mir ebenfalls so vor, als ob ich sie früher schon in der Hand gehabt; aber zu der möchte ich nicht schwören – meine Frau wird sie jedenfalls besser kennen.«

»Und wann waren Sie noch im Besitz dieser Sachen?«

»Vor einigen Wochen.«

»Und wer glaubt Ihr wohl, Heßberger, daß Euch da die Sachen in dieser Zeit in die Kohlenkammer getragen hat, wenn Ihr selbst nichts davon wißt?«

»Thut mir leid, Herr Geheimer Justizrath, Ihnen darüber keine genügende Auskunft geben zu können,« sagte Heßberger verstockt; »vielleicht einer von meinen Lehrjungen – es ist nichtsnutzige Bande, und der eine besonders ein ganz concaver Mensch.«

»Dann leugnet Ihr auch vielleicht, daß Ihr vor drei Abenden, oder vielmehr an jenem Abend, an welchem der alte Salomon überfallen und erschlagen wurde, in der Judengasse waret?«

»So viel ich mich erinnere,« sagte Heßberger, »bin ich an jenem Abend gar nicht ausgewesen; es wäre aber möglich, daß ich eine oder die andere Besorgniß irgendwo gehabt hätte.«

»So? Ihr seid aber bestimmt dort gesehen worden, und ich kann Euch einen Zeugen stellen, der sogar mit Euch gesprochen und Euch gemahnt hat, ihm seine Stiefel bald zu schicken – den Kürschnermeister Peters.«

»Ach Gott, ja, Herr Geheimer Justizrath,« sagte Heßberger, »es könnte doch am Ende sein – wer denkt aber an solche Kleinigkeiten! In der Nähe der Judengasse ist allerdings eine Apotheke, wohin ich manchmal gehe und mir etwas gegen meine Beschwer hole. Ich habe immer solche Concessionen nach dem Unterleib.«

»Und Ihr habt des alten Salomon Haus an dem Abend nicht betreten? Besinnt Euch wohl!«

»Da brauche ich mich nicht zu besinnen,« sagte der Schuhmacher mit einem frommen Blick nach oben. »Ich sehe wohl, daß Sie mich in einem schrecklichen Verdacht haben; aber wollte Gott, der alte Salomon lebte noch, so würde er selber auftreten und bezeugen, daß er mich nie und nimmer in seinem Laden, ja nicht einmal in seinem ganzen Leben gesehen hat!«

Der Justizrath hatte dem Staatsanwalt, der wieder neben ihm stand, leise etwas gesagt, und dieser ging jetzt nach der nahen Thür, die er öffnete. Im nächsten Augenblick stand der alte Salomon selber in der Thür. Die Wirkung aber, die der Anblick des Todtgeglaubten auf den Verbrecher ausübte, war so zauberschnell als furchtbar. Ob er nun dachte, daß er eine Erscheinung vor sich sähe, oder ob ihn das Bewußtsein zu Boden warf, mit diesem Zeugen gegen sich doch rettungslos verloren zu sein, mit einem jähen Aufschrei brach er in die Kniee, die Arme gegen das Furchtbare ausstreckend, winselte er: »Gnade, Gnade!« und stürzte dann mit dem Gesicht auf den Boden nieder.

»Bei dem Gott meiner Väter,« sagte der alte Salomon feierlich, »das ist der Mann, der mich an jenem Abend überfallen und geschlagen hat; das ist der Mann, der schon vorher in meinem Laden war und mich verleiten wollte, Silberzeug von ihm zu kaufen!«

Als er schwieg, herrschte lautlose Stille in dem weiten Raum, so ergreifend, so tief erschütternd war der Moment, und Aller Augen hafteten schweigend und erwartungsvoll an dem Elenden, der gebrochen, zerknirscht am Boden lag.

Witte ging endlich zu ihm, um ihn aufzuheben; aber er rührte sich nicht. Er war keineswegs ohnmächtig geworden, denn seine ganze Stellung verrieth das; aber er scheute sich, das Auge wieder zu erheben, um nicht noch einmal den entsetzlichen Anblick zu haben.

Der Justizrath klingelte, und als einer der Sicherheitsdiener in das Zimmer trat, sagte er ruhig: »Schaffen Sie den Mann in seine Zelle; aber daß Niemand zu ihm gelassen wird, ausgenommen er verlangt den Geistlichen.«

»Heßberger,« sagte der Mann, indem er ihn an der Schulter rüttelte, »Heßberger, steht auf, Ihr sollt mitkommen; hört Ihr nicht?«

Der Schuhmacher hob sich langsam auf die Kniee, aber er nahm den Blick nicht vom Boden. Er stand auf, blieb aber wie in einander gebrochen, und als er sich der Thür zuwandte, mußte ihn der Polizeidiener unterstützen, daß er nicht wieder zusammenknickte und zu Boden fiel.

4.
Das gnädige Fräulein.

Draußen im Schlosse Wendelsheim war es ein trostloses, ödes Leben, denn mit dem Hinscheiden des jungen Barons Benno schien es fast, als ob dem alten Platz auch der letzte freundliche Lichtblick genommen sei, der ihn bis dahin doch wenigstens auf Momente erhellte. Benno mochte wohl immer krank, recht krank gewesen sein; aber sein mildes, liebreiches Wesen, das er auch dem niedrigsten Tagelöhner gegenüber bewahrte, hatte doch Allen wohlgethan, die mit ihm in Berührung kamen, und flackerte sein junges Leben zu Zeiten – wo die Krankheit auf Tage, ja auf Wochen oft gänzlich zu weichen schien – wieder einmal auf, dann belebte er durch seine kindliche Heiterkeit den ganzen Platz und glättete selbst – was sonst unmöglich schien – für kurze Zeit die Stirn der harten, stolzen und herzlosen Tante.

Jetzt war auch er dahingegangen, und hinten im Park, neben der kleinen Capelle, wo das Erbbegräbniß derer von Wendelsheim stand, beigesetzt worden. Aber mit ihm schied der letzte freundliche Stern des alten, öden Herrenhauses. Die Tante zeigte sich unnahbarer als je, und der alte Baron ging die nächsten Tage nach der Beerdigung wie in einem wilden, wüsten Traum umher. Wenn ihn der Verwalter nach irgend einem die Wirthschaft betreffenden Gegenstand fragte, winkte er ihn rasch und hastig mit der Hand fort, und stundenlang konnte er allein draußen im Park auf und ab gehen, mit den Händen in der Luft herumfechten und laut und heftig dazu mit sich selber sprechen. Aber Niemand durfte dann in seine Nähe kommen, selbst nicht Kathinka, gegen die er sich noch am freundlichsten oder wenigstens am stillsten zeigte; denn er duldete, daß sie ihm das Essen auf sein Zimmer brachte, ihm den Stuhl nachher zum Fenster rückte und den Kaffee auf den kleinen Tisch daneben stellte. Aber er sprach auch nicht mit ihr. Nur manchmal war es, als ob er sich zu ihr wenden, sie um etwas fragen wolle; aber er seufzte dann immer tief auf, schüttelte den Kopf und versank wieder in sein altes Brüten. – Die Tante durfte sein Zimmer gar nicht betreten und kam auch von selber nicht, schien aber jede Gelegenheit abzulauern, wo sie über das arme Mädchen herfallen und sie auszanken konnte, und sagte ihr dabei oft die härtesten, grausamsten Sachen.

Bruno war bis jetzt jeden Tag herausgekommen, um nach dem Vater zu sehen, dessen Zustand ihn in der That besorgt machte; aber der alte Baron verkehrte auch nicht mit ihm. Er nickte ihm wohl zu, wenn er in's Zimmer trat, und duldete es, daß der Sohn seine Hand nahm und drückte; aber dann war es auch jedesmal, als ob er danach zusammenschaudere, und das Gesicht in den Händen bergend, stöhnte er wohl: »Mein Sohn, mein Sohn!« und sank bleich und vor sich niederstarrend in den Lehnstuhl zurück.

Bruno suchte ihn zu trösten; er hatte nie geglaubt, daß der Verlust des Knaben den Vater so furchtbar ergreifen würde. So natürlich es auch dabei schien, daß er in dem andern Sohn Ersatz für den verlorenen suchen solle, so wenig wandte er sich dem zu, und wenn er ihn auch nicht von sich stieß, so duldete er doch nur gewissermaßen seine Gegenwart, und schien befriedigt, wenn er ihn wieder verließ.

Mit der Tante verkehrte Bruno gar nicht: er grüßte sie, wenn er sie im Hause traf, aber er suchte sie nie auf, und doch schien gerade sie seit Benno's Tode freundlicher gegen ihn geworden zu sein, als sie es je gewesen. Sie sorgte sogar, woran sie früher nie gedacht, Morgens, wenn er kam, für sein Frühstück und schickte die Knechte von der Arbeit fort, um nach seinem Pferd zu sehen.

Die Leute im Schlosse lachten darüber, denn die Ursache lag auf der Hand. Der alte Baron war so auffallend geistesschwach geworden, daß er der Leitung des ganzen Anwesens nicht einmal mehr vorstehen konnte, und der junge Baron bekam jetzt in wenigen Wochen die große Erbschaft ausgezahlt, wo er denn doch von selber Herr des Ganzen wurde. Ihre Macht hatte dann aufgehört, wenn sie sich nicht selber gut mit ihm stellte, und sie wunderten sich nur, daß sie nicht schon lange gegen ihn eingelenkt und ihn sich zum Freund gewonnen hatte. Sie kannten den Charakter ihres verbissenen, keiner Zuneigung fähigen Wesens noch viel zu wenig, sie wußten nicht, welche furchtbare Gewalt sie sich selbst diesem Wenigen gegenüber, zu dem sie sich zwang, anthun mußte. Bruno nahm aber selbst das Wenige dankbar an; sie hatten ihn im Schlosse wahrlich nicht verwöhnt, und durch den Tod des Bruders ohnedies weich gestimmt, sehnte sich sein Herz nach einem freundlichen Wort und Blick.

Allerdings hatte er heute noch Manches mit dem Vater besprechen und ihm zugleich mittheilen wollen, daß er den ersuchten Abschied, und zwar als Hauptmann, erhalten habe; aber es war mit dem alten Mann nicht zu sprechen, und sowie er nur davon beginnen wollte, winkte er schon mit der Hand; er wollte nicht gestört sein und malte nur in einem fort mit einem Bleistift wunderliche Zeichen auf ein Stück Papier.

Bruno hoffte allerdings, daß sich diese geistige Schwäche, wenn nur der erste Schmerz überwunden wäre, geben würde, sah aber auch, daß er vor der Hand auf jede ernste Besprechung mit ihm verzichten müsse. Er ließ also sein Pferd satteln und wollte eben zurück nach der Stadt reiten, als Kathinka zu ihm trat und mit leiser, zitternder Stimme sagte: »Ach, Herr Baron, erlauben Sie mir eine Frage....«

»Ja, Kathinka,« sagte der Officier freundlich; »was ist es?«

»Es gehen hier so böse Gerüchte im Schloß,« fuhr das junge Mädchen schüchtern fort – »und die Tante hat es nur bestätigt –, daß nämlich der junge Herr Baumann, der immer so gut mit Ihrem seligen Bruder war und ihn so lieb hatte, einen Mord begangen habe und jetzt im Gefängniß sein Urtheil erwarte – ist das wahr? – Die Tante,« fuhr sie scheu fort, als Bruno noch schwieg und sie nur aufmerksam betrachtete, »meint sogar, er sei ein recht böser, heuchlerischer Mensch, der jetzt seine verdiente Strafe erleiden würde.«

Bruno hatte sie wirklich staunend angesehen, denn das junge, scheue, gedrückte Wesen des Mädchens hatte ihn, wenn er wirklich einmal herauskam, sie eigentlich nie beachten lassen. Sie war auch meist immer auswärts beschäftigt gewesen, und traf er sie einmal, als sein Bruder noch lebte, in dessen Krankenzimmer, so verließ sie dasselbe gewöhnlich immer, sobald er es betrat. Jetzt stand sie vor ihm, die großen, bittenden Augen in Angst und Mitleiden fragend zu ihm erhoben, die Wangen leicht erröthend, als sie dem überraschten Blick des jungen Herrn begegnete. Wie schön sie war – und welche trübe Jugend verbrachte sie hier in den öden Mauern des alten Schlosses!

»Ist das wahr, Herr Baron?« fragte das junge Mädchen noch einmal und schlug den Blick jetzt scheu zu Boden.

»Nein, Kathinka,« sagte Bruno herzlich, »das ist nicht wahr. Fritz Baumann ist allerdings durch zufällige Umstände in den Verdacht gekommen, bei jener dunkeln That betheiligt gewesen zu sein, aber der wirkliche Mörder jetzt entdeckt, und wie ich noch heute Morgen hörte, so hat er ein volles Geständniß über seine That abgelegt, nach dem Baumann entweder schon freigelassen ist oder jedenfalls in der allernächsten Zeit freigelassen wird. Er hat mit der Sache nicht allein nichts zu thun gehabt, sondern sogar, aller Wahrscheinlichkeit nach, durch sein plötzliches Erscheinen den Dieb verjagt und verhindert, den alten Mann völlig umzubringen.«

»Gott sei Dank!« flüsterte Kathinka leise. »Es würde mir recht weh gethan haben, so Böses von ihm zu glauben – auch Ihnen dank' ich für das gute Wort!«

Bruno wollte noch etwas erwiedern, aber der Tante keifende Stimme rief sie fort, und wie ein gescheuchtes Reh floh sie über den Hof hinüber nach dem Schlosse zu.

Bruno stieg seufzend in den Sattel und ritt langsam zum Thor hinaus. Wozu nur das ewige Schelten und Keifen – wozu der ewige, unausgesetzte Unfriede daheim, der Jedem das Haus zu einer Hölle machte?

Dicht vor dem Thor, und noch mit seinen trüben Gedanken beschäftigt, begegnete er dem Staatsanwalt Witte, der eben in das Schloß wollte. Der Staatsanwalt fuhr in einem Einspänner und ließ halten, so daß Bruno sah, er wünsche ihn zu sprechen. Er zügelte deshalb sein Pferd ein und ritt an das kleine Fuhrwerk heran.

»Ach, lieber Baron,« sagte Witte nach der ersten Begrüßung, und es kam Bruno fast vor, als ob der sonst so ruhige und seiner Sache stets sichere Mann in einer Art von Verlegenheit sei – »ist Ihr Herr Vater wohl zu Hause und könnte ich ihn sprechen?«

»Mein Vater ist allerdings zu Hause,« seufzte Bruno, dessen Gedanken rasch wieder abgeleitet wurden, »aber ich glaube kaum, daß Sie ihn sprechen, wenigstens keinesfalls etwas mit ihm besprechen können, wenn Sie zu dem Zweck herausgekommen sind.«

»Ist er krank?«

»Nein; er befindet sich körperlich wohl, aber geistig so niedergedrückt, daß er an nichts Antheil nimmt und besonders auf keine Frage antwortet. Ich fürchte, der Tod meines Bruders hat ihn so angegriffen, und er wird einer langen Zeit der Ruhe bedürfen, bis er sich wieder vollständig erholt. Ich würde Sie jedenfalls dringend bitten, nicht über Geschäfte mit ihm zu reden.«

»Hm, das thut mir ja herzlich leid – Gemüthsbewegung also,« sagte Witte sinnend – »aber Ihre Fräulein Tante ist zu sprechen?«

»Wenn sie erledigen kann, was Sie abzumachen haben – gewiß. Sie ist daheim; sie verläßt in der That das Schloß selten oder nie.«

»Doch nicht auch etwa von Gemüthsbewegung afficirt?« fragte Witte, denn der Charakter der Dame war in Alburg gut genug bekannt.

Bruno lächelte. »Von keiner wenigstens, die sie untauglich zu Geschäften machte. Sehen Sie, wie Sie mit ihr fertig werden – à propos! haben Sie etwas Näheres über Fritz Baumann's Freilassung gehört?«

»Ich komme gerade daher: sie ist eben erfolgt. Der alte Salomon hat selber so dringend für ihn gebeten und so entschieden verneint, daß auch nur die Möglichkeit eines Einverständnisses mit seinem Onkel sei, daß, nach Heßberger's vollem Geständniß, das Gericht ihn wohl freigeben mußte.«

»Das freut mich – dann bitte, sagen Sie es doch Kathinka, dem jungen Mädchen, das Sie im Hause finden – meines verstorbenen Bruders Krankenpflegerin. Sie kennen sie ja wohl – es wird sie freuen.«

»Allerdings; ich werde es ausrichten.« Und dem jungen Mann freundlich zunickend, gab er seinem Pferd die Peitsche und fuhr in das Schloß hinein, wo er aber eine Zeit lang warten und knallen mußte, bis Jemand kam, der ihn der Sorge für das Thier enthob.

»Zieht das Pferd einen Augenblick in den Stall, lieber Freund,« sagte er zu dem Mann, »ich habe etwas mit dem gnädigen Fräulein zu reden. Was ist denn das für ein furchtbarer Skandal da oben?«

»Was wird's sein,« sagte der Mann mürrisch, »das tägliche Elend – sie hat's wieder mit dem armen Ding, der Mamsell. Vorher war sie um den Finger zu wickeln, sie fraß ordentlich aus der Hand – jetzt, nun der Baron fort ist, scheint der Teufel wieder loszugehen!«

»Mit wem hat sie's?«

»Mit der Fräulein Kathinka, die ihr thut, was sie ihr an den Augen absehen kann – nun wird's aber bald ein Ende haben, sie hat ihr eben angekündigt, daß sie heute über acht Tage das Schloß verlassen soll – das arme junge Blut! Nun muß sie zu fremden Menschen dienen gehen, denn sie hat nichts, als was sie auf dem Leibe trägt – aber immer noch lieber bei fremden Menschen, als bei dem Drachen!«

Der Staatsanwalt hatte den geschwätzigen Mann ruhig reden lassen und nur dabei nach dem Schloß hinüber gehorcht, von dem noch immer die keifende Stimme der Alten herübertönte. »Und sollte es gar nicht möglich sein, den Drachen zahm zu machen?« sagte er nach einer Weile, indeß der Mann das Pferd noch ausschirrte. »Was meint Ihr?«

»Den?« rief der Mann und sah den Staatsanwalt verwundert an. »Und wenn der Teufel selber aus der Hölle käme und eine ganze Compagnie kleiner Teufel mitbrächte, von der müßt' er die Finger lassen und machen, daß er wieder in seinen Pfuhl käme! Die zeigt's ihm!«

»Na, versuchen kann man's ja immer,« lachte Witte, »den Hals wird sie Einem doch nicht gleich umdrehen.«

»Hören Sie,« sagte der Mann ernsthaft, »wenn Sie auf so einen Versuch aus sind, dann möchte ich das Pferd lieber gleich wieder einschirren und den Wagen umdrehen und vor's Thor fahren, damit Sie nachher gleich hineinspringen und auskneifen können. Sie ist heute gerade in der Laune.«

»Nun, es muß nicht gleich sein,« lächelte Witte; »aber wunderlichere Dinge sind schon in der Welt passirt. Gebt nur unterdessen dem Pferd ein Maul voll Heu, sonst beißt es Euch die Krippe zu Schanden; es hat sich das so angewöhnt.« Und damit legte er seine Peitsche in den Wagen und ging langsam dem Portal des Schlosses zu, wo er noch immer die zankende Stimme des gnädigen, oder vielmehr sehr ungnädigen Fräuleins hörte. Er ließ sich aber nicht dadurch abschrecken, und während ihm der Knecht ganz verwundert nachschaute – denn von ihnen kam ihr bei solcher Gelegenheit Niemand freiwillig in die Nähe –, betrat er das Schloß selber und stieg die Treppe hinauf.

Auf der halben Treppe kam aber Kathinka schon dem Staatsanwalt bleich und mit rothgeweinten Augen entgegen und erschrak sichtlich, als sie einen Fremden erblickte. Sie schämte sich jedenfalls, so von ihm gesehen zu werden, und stand einen Moment unschlüssig, als wenn sie nicht wisse, ob sie an ihm vorbeieilen oder die Treppe wieder hinaufflüchten solle. Witte ließ ihr aber keine Zeit, weder das eine noch das andere auszuführen.

»Mein liebes Fräulein,« sagte er, »laufen Sie nicht vor mir davon – ich bin ein alter Mann und kenne die Verhältnisse hier im Hause gut genug – wo kann ich denn wohl Fräulein von Wendelsheim antreffen, denn ich höre merkwürdiger Weise ihre Stimme nicht mehr oben?«

»Sie wird in ihrer Stube sein,« sagte Kathinka, sich scheu und hastig die Thränen abtrocknend. »Sie entschuldigen mich wohl...«

»Den Augenblick – nur noch einen Auftrag habe ich an Sie auszurichten.«

»Für mich?«

»Der junge Baron gab ihn mir draußen; er erfuhr von mir, daß der Mechanikus Baumann freigesprochen und seiner Haft entlassen ist, und bat mich, Ihnen das zu sagen.«

»Ich danke Ihnen,« flüsterte Kathinka, ließ sich aber jetzt nicht länger halten, sondern eilte, so rasch sie konnte, die Treppe hinab.

Witte sah ihr kopfschüttelnd nach; aber andere Dinge gingen ihm auch im Kopf herum, und die Treppe hinansteigend, traf er oben ein Dienstmädchen, das Fenster putzte. »Können Sie mir sagen, liebes Kind, wo ich das gnädige Fräulein von Wendelsheim treffe?« fragte er dieses.

»Jawoll,« sagte das Mädchen, »gleich da drin ist sie.«

»Schön,« erwiederte Witte, indem er seine Brieftasche vorholte und eine Karte herausnahm, die er dem Mädchen hinhielt. »Möchten Sie dann wohl so gut sein und diese Karte zu dem gnädigen Fräulein hineintragen und ihr sagen, der Herr, dessen Name darauf stehe, sei hier draußen und wünsche mit ihr zu sprechen?«

»Jawoll,« entgegnete das Mädchen wieder, aber ohne die Hand nach der Karte auszustrecken, »das möchten Sie woll, nicht wahr? Ne, einmal gemacht und nicht wieder. Wenn Sie mit ihr sprechen wollen, gehn Sie selber hinein – ich aber nich.«

Witte lachte. »Das gnädige Fräulein,« sagte er, »scheint sich hier sehr in Respect gesetzt zu haben – beißt sie?«

»Ne, aber sie kratzt,« sagte die Magd.

»In der That? Nun, dann werd' ich mein Glück auf eigene Hand versuchen!« Und damit schob er Karte und Brieftasche wieder zurück, ging dann auf die bezeichnete Thür zu und klopfte herzhaft an.

Ein scharfes, zorniges »Herein!« wurde fast augenblicklich gerufen, und der Staatsanwalt, der nur noch sah, daß das Mädchen ihr Fensterputzen unterbrochen hatte und neugierig hinübersah, um wahrscheinlich Zeuge des Empfanges zu sein, trat auf die Schwelle und sagte:

»Mein gnädiges Fräulein, ich konnte Niemanden finden, der mich anmelden wollte – Sie entschuldigen, daß ich Sie störe...«

»Was wollen Sie?« lautete die kurze, barsche Gegenfrage.

»Nur Sie sprechen – ich bin der Staatsanwalt Witte,« sagte dieser, indem er die Thür wieder hinter sich zuzog.

»Und was wollen Sie von mir

»Um Ihnen das zu sagen, bin ich ganz besonders von Alburg herausgekommen,« erwiederte der Staatsanwalt, stellte seinen Hut auf die nächste Commode und zog sich die Handschuhe aus, die er hineinwarf.

»Aber woher wissen Sie,« fragte Fräulein von Wendelsheim, empört über die Freiheit, die sich der Fremde nahm, »daß ich überhaupt jetzt Zeit und Lust habe, Sie anzuhören?«

»Mein gnädiges Fräulein,« sagte aber Witte trocken, »die Sache ist viel zu wichtig, um lange vorher mit Worten um eine Form zu streiten. Ihres eigenen Selbst wegen müssen Sie mich anhören, um sich einen Weg vor das Gericht zu ersparen.«

»Mir?« rief die Dame empört. »Habe ich etwas mit den Gerichten zu thun?«

»Bitte, nehmen Sie Platz,« erwiederte Witte, der fest entschlossen schien, sich nicht einschüchtern zu lassen, indem er sich selber einen Stuhl zum Tisch rückte. »Wir werden nicht sogleich fertig sein; ich komme in der Erbschafts-Angelegenheit – oder vielmehr in der Sache der Erbfolge.«

»Und weshalb gehen Sie da nicht zu meinem Bruder?«

»Ihr Herr Bruder ist, wie mir der junge Baron vorhin sagte, geistig so abgespannt, daß er mir augenblicklich nichts helfen kann, denn was ich jetzt mit Ihnen zu reden habe, erfordert einen klaren und ungetrübten Verstand. Wir können doch nicht behorcht werden?«

Fräulein von Wendelsheim sah ihn staunend an; der Mann trat aber so entschieden und bestimmt auf und machte so entsetzlich wenig Umstände mit ihr – er mußte einen wichtigen Grund dafür haben, oder er war einer der unverschämtesten Menschen, die ihr im ganzen Leben vorgekommen.

»Nein,« sagte sie, ihn staunend betrachtend, »rechts und links sind unbewohnte Zimmer.«

»Das Mädchen auf dem Vorsaal wird horchen.«

»Das wagt keine von meinen Dienstboten – aber ich wüßte auch nicht, welches Geheimniß wir Beide mit einander zu besprechen hätten.«

»Haben Sie gar kein Geheimniß, mein gnädiges Fräulein?« sagte der Staatsanwalt und sah sie dabei starr an. »Bitte, besinnen Sie sich.«

»Und wenn ich es hätte,« sagte finster die Dame, »wer gäbe Ihnen ein Recht, danach zu fragen?«

»Gut,« fuhr Witte ruhig fort, »dann setzen Sie einmal den Fall, daß ich Mitwisser desselben geworden wäre.«

Fräulein von Wendelsheim faßte fast krampfhaft die Lehne des Stuhls, neben dem sie stand, und Witte täuschte sich wohl nicht, wenn er zu bemerken glaubte, daß sie erbleichte, als ihr Blick dem fest auf sie gehefteten Auge des Juristen begegnete. Aber Fräulein von Wendelsheim hatte keine schwachen Nerven, und während schon im nächsten Moment ein trotziges, verächtliches Lächeln um ihre Lippen spielte, sagte sie scharf: »Sie haben eine merkwürdige Art und Weise, sich bei einer Dame einzuführen; da Sie aber einmal da sind und mein Bruder in der That nicht wohl ist, so reden Sie. Doch muß ich Sie bitten, sich kurz zu fassen, denn ich habe weder Lust noch Zeit zu einer langen Unterredung. Also was ist es?«

Witte machte eine leise Verbeugung, und während sie sich selbst auf das ihm gegenüberstehende Sopha setzte, sagte er: »Ich werde mich sehr kurz fassen. Die Sache bedarf auch keiner weiteren Vorrede. Sie wissen, daß heute über vierzehn Tage die Erbschaft für den männlichen Leibeserben der Familie Wendelsheim fällig ist und an dem Tage mit den zu dem Capital geschlagenen Zinsen, einige unbedeutende Verwaltungskosten abgerechnet, ausgezahlt werden wird.«

»Sind Sie deshalb gekommen, um mir das zu sagen?« fragte das gnädige Fräulein kalt.

»Ich sage, Sie wissen das,« fuhr Witte ruhig fort; »aber der eigenthümliche Fall besteht dabei, daß Sie nicht wissen, wer der wirkliche Erbe des Wendelsheim'schen Vermögens ist.«

»Mein Herr!« fuhr die Dame von ihrem Sitz empor.

»Bitte, behalten Sie Platz, mein gnädiges Fräulein,« sagte Witte trocken; »ich bin noch lange nicht fertig, und Sie mögen Ihr Erstaunen für einen späteren Punkt meiner Relation aufsparen.«

»Wenn ich erstaunt bin,« sagte Fräulein von Wendelsheim mit einer Stimme, die genau so klang wie der grollende Donner vor Ausbruch eines Sturmes, »so war es nur über Ihre Unverschämtheit!«

»Bitte, mein gnädiges Fräulein,« sagte Witte, »soll ich Sie vielleicht daran erinnern, daß das Kind der Baronin von Wendelsheim unmittelbar nach der Geburt mit einem andern vertauscht wurde?«

Die Dame stand dem Staatsanwalt gegenüber; ihre ganze Gestalt zitterte, ob vor Aufregung und Schreck, oder verhaltener Wuth, ließ sich freilich kaum bestimmen; aber gewaltsam faßte sie sich – sie mußte erst hören, was der Mann noch zu sagen hatte – und nur mit vor Zorn bebender Stimme zischte sie: »Das faule Märchen, das damals im Mund des Volks war, aber als erbärmliche Lüge verstummen mußte!«

»Man hatte keine Beweise,« sagte Witte, »und die Sache schlief die langen Jahre. Das Wunderbare aber dabei ist, daß selbst Sie den wahren Thatbestand nicht kannten. Ja, mein gnädiges Fräulein, wenn Sie auch noch so höhnisch lächeln, ich bestehe doch auf meiner Behauptung. Sie glaubten nämlich damals, daß die Baronin von Wendelsheim eine Tochter geboren habe, die wenige Tage oder Wochen später gestorben sei; die Thatsache aber ist, daß sie einen Sohn geboren hat, der bis zu dieser Stunde noch lebt und wohl und gesund ist, und jenes nichtswürdige Weib, die Heßberger, nur den Tausch vollbrachte und Ihnen einen andern Knaben unterschob, um sich den reichen, in Aussicht gestellten Gewinn nicht entgehen zu lassen.«

Die Wirkung, welche diese Worte auf das Fräulein von Wendelsheim machten, war merkwürdig. Ihr Gesicht nahm eine fast erdfahle Färbung an, die Augen traten ihr aus den Höhlen, ihre Lippen öffneten sich, und den magern rechten Arm, der wie in Fieberfrost hin und wieder flog, vorstreckend, stand sie so für einen Augenblick dem Staatsanwalt gegenüber. Endlich stammelte sie: »Eine Lüge – eine schändliche – teuflisch erfundene Lüge!«

»Mein gnädiges Fräulein,« sagte Witte, »ich bin nicht besonders empfindlich und verzeihe Ihnen in der jetzigen Aufregung gern ein hartes Wort, aber Sie werden auch einsehen, daß Sie dadurch Ihre Sache nur verschlechtern, nie verbessern können. Erlauben Sie mir deshalb, Ihnen einfach zu sagen, weshalb ich hergekommen bin, und seien Sie versichert, daß ich Ihnen nichts mittheile, was ich nicht durch lebende Zeugen beweisen kann. Ich verlange von Ihnen vor der Hand kein Eingeständniß des Geschehenen, und bitte Sie nur, die Thatsache im Gedächtnisse zu behalten, daß der Familie Wendelsheim ein wirklicher, leiblicher Erbe lebt und der bisherige Baron, Bruno von Wendelsheim genannt, ein untergeschobenes Kind ist. Ich kenne Sie dabei als Frau von klarem, ruhigem und sehr scharfem Verstand , und bin einzig und allein deshalb hier herausgefahren, um mit dem Baron und Ihnen – oder unter den jetzigen Umständen mit Ihnen allein – zu überlegen, wie und auf welche Art der wirkliche Erbe am besten wieder in seine Rechte einzusetzen und der vermeintliche auf irgend eine zu arrangirende Art zu entschädigen sei, ohne dabei Ihren Namen zu compromittiren. Ich muß Ihnen dabei gestehen, daß ich selber um einen Ausweg verlegen bin; aber ich möchte, wenn es irgend möglicher Weise anginge, den Eclat von Ihrem Hause abwenden. Sie sehen daraus, daß ich nicht als Feind, sondern als Freund zu Ihnen komme.«

Witte hatte sich in der Frau vollständig verrechnet. Er war ihr mit der festen Ueberzeugung gegenübergetreten, daß er sie mit den nach einander aufgehäuften Thatsachen jedenfalls zerschmettern und augenblicklich zu einem Bekenntniß ihrer Schuld bringen würde, wenn er sie eben um gar nichts fragte, sondern ihr im Gegentheil zeige, daß er schon Alles wisse. An wen anders konnte sie sich dann nachher um Hülfe anklammern, wenn er selber ihr die Hand dazu bot? Aber er hatte in seiner Berechnung einen Factor zur Geltung gebracht, der in dem Nervensystem des gnädigen Fräuleins gar nicht existirte: das Gewissen – und darum stimmte das Facit nicht.

In den Zügen des Fräuleins war schon, während er noch sprach, eine auffallende Veränderung vorgegangen; das erst vor Schreck und Ueberraschung weitgeöffnete Auge hatte sich wieder zusammengezogen, der Mund geschlossen; aber die rechte Hand blieb noch wie krampfhaft geballt, und erst als er geendet, sagte sie, aber jetzt mit ruhiger, wie spöttischer Stimme: »Und war das Alles, was mir der Herr Staatsanwalt mitzutheilen hatte?«

Witte erschrak; er glaubte schon Grund gefaßt zu haben, und fühlte jetzt, daß ihm der Boden wieder unter den Füßen wegging. »Nein, mein gnädiges Fräulein,« sagte er rasch, »denn Sie scheinen noch immer an meinen Worten zu zweifeln; aber Sie wissen vielleicht nicht, daß das Heßberger'sche Ehepaar hinter Schloß und Riegel sitzt und...«

»Wollen Sie etwa behaupten,« fuhr die Dame auf, »daß jenes Weib etwas gegen mich aussagt? Aber,« setzte sie plötzlich kalt und höhnisch hinzu, »wie ich eben so gut weiß, daß das unmöglich ist, so sehe ich auch an Ihrem Gesicht, daß es nicht geschehen ist! Sie selber spielen dabei jedoch eine klägliche Rolle, Herr Staatsanwalt, wie Sie wohl einsehen werden, und fallen mit Ihrem Versuche, einer Familie ein Geheimniß aufdrängen zu wollen, in der gar keins besteht, sehr traurig ab – ich glaube, Ihr Geschäft ist jetzt hier erledigt.«

»Und verlangen Sie nicht einmal den Namen des rechtmäßigen Erben, ihres eigenen Neffen, zu wissen?« sagte Witte, wirklich ganz durch diese starre Ruhe außer Fassung gebracht.

»Es wird sich gleich bleiben,« erwiederte Fräulein von Wendelsheim, selbst nicht einmal die Schwäche der Neugierde verrathend, »ob Sie beabsichtigten, uns einen Schuster oder Schneider unterzuschieben. Ich will nichts weiter von der Sache hören und ersuche Sie jetzt ganz ernstlich, mich zu verlassen.«

»Auch noch hinausgeworfen für meinen guten Willen – versteht sich!« lachte Witte bitter vor sich hin, indem er von seinem Stuhl aufstand und seinen Hut nahm. »Aber, mein gnädiges Fräulein, Sie haben sich jetzt auch die Folgen selber zuzuschreiben – ich hatte gehofft, die Sache...«

»Da mich Ihre Hoffnungen nicht im mindesten interessiren, Herr Staatsanwalt,« sagte die Dame, »so ersuche ich Sie, das Gespräch draußen fortzusetzen – ich habe Ihr Geschwätz jetzt satt.«

»Sehr schön, mein gnädiges Fräulein!« rief Witte, dem das denn doch zu arg wurde, indem er sich aber vorsichtiger Weise nach der Thür zurückzog, denn der in diesem weiblichen Unhold schlummernde Drache schien sich zu regen. »Von meinem Geschwätz sollen Sie nicht länger belästigt werden, aber vielleicht gefällt Ihnen dann eine Vorladung vor Gericht besser, die...«

Die Dame fuhr mit so zornsprühenden Augen auf ihn ein, daß er es für das Beste hielt, das Zimmer zu verlassen; denn er hielt sie in ihrem jetzigen Zustand, gereizt und zum Aeußersten getrieben, auch zu Allem fähig. Er mochte aber dabei die Thür wohl etwas rascher auf- und wieder zugemacht haben, als das in der gewöhnlichen gesellschaftlichen Form die Sitte erheischt, und als er draußen aufblickte, sah er durch den einen Fensterflügel durch, den sie in der Hand hielt und gerade abputzte, in das vergnügt grinsende Gesicht der Magd, die etwas Anderes gar nicht erwartet zu haben schien.

»Na, war's hübsch?« flüsterte das boshafte Geschöpf auch noch, als er, ohne sie weiter zu beachten, an ihr vorüberschreiten wollte; aber er hielt es natürlich nicht der Mühe werth, ihr eine Antwort zu geben, und eilte, so rasch er konnte, die Treppe hinunter und auf den Stall zu, wo er sich augenblicklich sein Pferd wieder einschirren ließ. Der Knecht schien sich zu gern in ein Gespräch mit ihm einlassen zu wollen, um zu erfahren, wie es oben abgelaufen. Witte fühlte sich aber nicht in der Stimmung, drückte ihm ein gutes Trinkgeld in die Hand, setzte sich auf und fuhr in einem scharfen Trab zum Thor hinaus. Er war auch dabei sehr unzufrieden mit sich selber, denn er hatte bei dem ganzen verunglückten Versuch, die Sache durch einen entscheidenden Schritt zu erledigen, nicht allein nichts erreicht, sondern vielleicht eher Schaden angerichtet, und gar nicht zu seiner besondern Erbauung fiel ihm in dem nächsten Augenblick der Major und Rath Frühbach ein, die etwa in ähnlicher Weise von Vollmers abgezogen waren. Jene handelten freilich nur auf einen Verdacht, er selber aber auf die Gewißheit der Thatsachen hin; doch was halfen ihm die, so lange es ihm an Beweisen dafür fehlte, und mit denen sah er sich vollständig auf den Sand gesetzt.

Heßberger, total gebrochen und eingeschüchtert, hatte allerdings Alles, was man von ihm wollte, gestanden, die Heßberger selber aber, bei welcher er dann, aber auch noch ganz privatim, den Versuch gemacht, um eine Zustimmung von ihr zu erhalten, kalt und höhnisch erwiedert, sie wisse von nichts, und als er ihr endlich das Zeugniß ihres Mannes vorhielt, geantwortet, dann erledige sich die Sache von selber. Möglich, daß die verstorbene Frau Baronin die Absicht gehabt habe, einen solchen Tausch zu machen, falls ihr eine Tochter geboren würde – sie könne es nicht sagen und die Frau auch nicht mehr fragen, denn sie wäre todt; dann hätte sich das aber auch natürlich durch die Geburt eines Sohnes unnöthig gezeigt und jede Mutter ihr eigenes Kind erzogen.

Dabei blieb sie, und dagegen würde selbst Heßberger's Zeugniß nichts geholfen haben. Durch diesen konnte allerdings der Versuch eines Betrugs constatirt werden, aber nie die Ausführung desselben und der wirkliche Tausch. Die Kinder waren ihm im Dunkeln überliefert worden, und er selber hätte nie im Leben beschwören können, ob er dasselbe Kind oder ein anderes dafür zurückgetragen.

Aber jetzt half es nichts mehr; er war schon zu weit gegangen, um noch zurück zu können. Auf der einen Seite drängte ihn der alte Baumann selber, die Sache zum Abschluß zu bringen, auf der andern war er jetzt der Gefahr ausgesetzt, daß dieses entsetzliche Fräulein von Wendelsheim sogar eine ähnliche Klage gegen ihn richtete, wie die Frau Müller gegen den Major. Bis zu diesem Augenblick hatte er Alles allein auf eigene Faust und im Stillen betrieben, nun ging das nicht länger; er mußte selber die Anzeige beim Gericht machen. Ueberdies war auch der Termin der Erbschafts-Auszahlung so nahe herangerückt, daß er sich hätte die größte Verantwortung zuziehen können, wenn er eine derartige ihm gemachte Anzeige über denselben hinaus verheimlichte. Er durfte eben nicht länger zögern und das Ganze auf die eigenen Schultern nehmen, und mit dem Entschluß wurde er auch wieder ruhiger und selbstzufriedener. Sein Pferd fühlte die Peitsche, und der leichte Wagen rollte rasch der Stadt entgegen.

5.
Rathlos und Rath Frühbach.

In den letzten Tagen hatte ein so wunderliches Verhältniß im Baumann'schen Hause geherrscht, daß selbst der Gesell und die Lehrlinge darauf aufmerksam geworden waren und den Kopf darüber schüttelten. Sonst war nichts als Friede und Freundlichkeit in der Familie, und wenn der alte Schlossermeister mit seinem jüngsten Kind, seinem kleinen Liebling, manchmal nach Feierabend spielte, lachte er oft so herzlich über dessen kindischen Frohsinn, daß die Leute auf der Straße stehen blieben und unwillkürlich mitlachen mußten, wenn sie auch keine Ahnung hatten, was da drinnen so Lustiges vorging. Jetzt war das anders, viel anders geworden. Der alte Baumann stand den ganzen Tag bis Abends spät am Amboß und hämmerte auf das Eisen ein oder feilte an seiner Arbeit; wenn er sich aber noch vor wenigen Tagen ein lustig Lied dazu gepfiffen oder gesungen, so verrichtete er jetzt sein Tagewerk stumm und mit düster zusammengezogenen Brauen, und kein Wort wurde in der Werkstätte gesprochen, das sich nicht auf die Arbeit bezog und nothwendig gesprochen werden mußte.

Und welche Veränderung konnte erst mit der Meisterin vorgegangen sein? Sie war nicht krank, denn sie schaffte den ganzen Tag in der Küche und verrichtete alle ihre Besorgungen pünktlich, wie zuvor; aber sie kam gar nicht mehr vorn in die Stube, außer wenn sie Morgens rein machte und Mittags zum Essen, und selbst dann hatte sie einen andern Platz am Tische, als früher, nicht mehr neben dem Meister, sondern zwischen ihrer kleinen Else und dem Gesellen; und keine Frage that der Meister an sie, keine Silbe wurde überhaupt bei Tische gesprochen.

Den Leuten war das natürlich unheimlich, aber keiner von ihnen, selbst Karl nicht, der Sohn vom Hause, wagte nach der Ursache zu fragen. Meister und Meisterin mußten sich mitsammen gezankt haben, wenn das auch eigentlich nie vorfiel und Keiner von Allen etwas gehört haben wollte; das aber blieb die einzige Erklärung, die sie darüber wußten, und war das der Fall, dann versöhnten sie sich auch wieder und das alte Verhältniß wurde hergestellt – daß es nur so viele Tage dauerte!

Das Essen war vorüber; der Meister stand wieder draußen bei seiner Arbeit und die Frau wusch das Geschirr auf, als ein Polizeidiener in die Werkstätte kam und nach der Frau Baumann fragte.

»Was soll sie?« sagte der Schlossermeister, der todtenbleich geworden war, indem er den Hammer auf dem Amboß ruhen ließ.

»Ich habe hier eine Vorladung für sie auf heute Nachmittag vier Uhr.«

»Schön; legen Sie das Papier nur dahin, es soll ausgerichtet werden.«

»Nein; ich muß es ihr selber geben.«

»Dann gehen Sie in die Küche,« sagte der alte Mann düster, drehte sich ab und schob das Eisen in den Feuerherd, dessen Gluth, durch den Blasebalg angefacht, emporloderte.

Die Leute in der Werkstätte sahen ihm verwundert nach. Sie begriffen nicht, was die Meisterin mit der Polizei zu thun haben könnte. Der Meister wußte es, aber er sagte kein Wort; er sah nicht auf, als der Polizeibeamte seine Pflicht erfüllt hatte und die Werkstätte wieder verließ; er ging nicht zu seiner Frau, um mit der zu sprechen. Er hätte sich nicht weniger darum bekümmern können, und wenn die Bestellung im Nachbarhause abgegeben wäre.

Da warf Karl plötzlich seine Feile hin, rief: »Der Fritz!« und sprang der Thür zu, durch deren kleines, angelaufenes Glasfenster er den Bruder erkannt hatte. Und die kleine Else hatte im Zimmer den Ruf gehört und kam herausgesprungen, und wie er die Thür öffnete, klammerte sie sich an ihn, ließ sich von ihm emporheben und herzte und küßte ihn.

Und das war jetzt ein Fragen und Jauchzen zwischen den jungen Leuten, daß der Fritz wieder frei war und kein Verdacht der nichtswürdigen That mehr auf ihm lastete; und die Kleine hatte nur immer ihre Aermchen um seinen Nacken geschlagen und weinte und lachte: die bösen Männer dürften ihren Fritz nun nicht wieder in's Gefängniß stecken, und er solle bei ihr bleiben und nie wieder von ihr fortgehen.

Auch der Vater hatte seine Arbeit bei Seite gelassen und ihm die Hand entgegengestreckt, die er derb schüttelte und drückte.

»Aber wo ist die Mutter?« rief Fritz. »Weshalb kommt sie nicht? Geh' hin, Elschen, und ruf' sie; sag' ihr, der Fritz sei wiedergekommen.«

»Bleib', Else,« sagte der Vater; »sie ist in der Küche – geh' dann zu ihr.«

Fritz sah den Vater verwundert an und dann den Bruder. Karl machte ihm aber hinter dessen Rücken ein Zeichen, das er zwar nicht verstand, aber doch daraus ersah, es müsse etwas vorgefallen sein, und er thäte besser, für den Augenblick nicht weiter nachzuforschen. Wie er aber nur in der Werkstätte dem Vater und den Uebrigen flüchtig erzählt hatte, wie es da oben gewesen und er heute Morgen freigelassen sei, ja, eigentlich schon vor drei Stunden hätte hier sein müssen und nur durch ein Versehen des albernen Schließers noch zurückgehalten wäre, da griff er sein Schwesterchen wieder auf und sprang hinüber in die Küche zur Mutter, um diese zu begrüßen.

Es dauerte lange, bis er wieder zurückkam, und jetzt ohne die kleine Else, und als er in die Werkstatt kam, ging er auf den Vater zu und sagte: »Vater, was ist denn eigentlich hier im Hause vorgegangen? Ihr seht mir Alle so sonderbar aus, so fremd. Mir ist, als ob ich jahrelang entfernt gewesen wäre und nicht nur kaum eine Woche oder etwas mehr. Was habt Ihr nur? Wie ich in die Küche kam, fiel mir die Mutter um den Hals und weinte, als ob ihr das Herz brechen müßte, wollte sich auch gar nicht mehr beruhigen, und jetzt hat sie die kleine Else auf dem Schoß und küßt das Kind in Einem fort und drückt es an sich.«

»Komm einmal mit herein, Fritz,« sagte der Vater ernst; »ich habe ein Wort mit Dir zu reden.«

»Mit mir, Vater? Ist etwas vorgefallen?«

»Ja, und etwas, das Dir nicht länger ein Geheimniß bleiben darf, eigentlich hätte nie ein Geheimniß bleiben sollen.«

»Aber willst Du nicht erst einmal zur Mutter gehen?«

»Nachher, mein Junge; zuerst komm einmal mit mir in's Zimmer hinüber, denn mir – hat's beinahe das Herz abgedrückt die letzten Tage, und es ist Zeit, daß ich's los werde – ich halt's nicht mehr länger aus.«

»Ich begreife Dich nicht, Vater.«

»Du wirst's bald begreifen lernen,« nickte der Alte still vor sich hin; »komm nur mit, daß wir die Sache abmachen, denn ich muß wieder an die Arbeit. Und Du, Karl, geh' einmal zur alten Bertram hinüber und frage sie, ob sie Zeit hätte, ein paar Tage hier zu uns herüber zu kommen und uns in der Wirthschaft zu helfen.«

»Ist die Mutter krank geworden, Vater?« rief Karl rasch.

»Nein,« sagte der Schlossermeister; »aber laß es auch lieber sein, ich will nachher selber zu ihr gehen – komm, Fritz!« Und ihm voranschreitend, ging er in die Stube hinein, setzte sich dort in den alten Lehnstuhl und winkte dem Sohn, auf einem andern Sessel Platz zu nehmen.

Karl schüttelte mit dem Kopf; er konnte sich gar nicht denken, was »der Alte« heute hatte und wie tief und langsam er da drinnen sprach, und dann sein Bruder – wie heftig. Die Worte freilich ließen sich hier draußen nicht verstehen; aber etwas Besonderes mußte es sein. Und weshalb erfuhr er nichts davon? Gehörte er nicht zur Familie?

Die Mutter wußte, was die beiden Männer mitsammen sprachen. Draußen in der Küche saß sie niedergekauert an der Thür, die in die Stube führte und deren Schwelle sie nicht mehr zu überschreiten wagte, das Gesicht in den Händen geborgen, und zwischen den dünnen Fingern quollen die heißen, brennenden Thränen vor. So saß sie, bis die Zeit kam, in der sie auf das Amt gefordert war; sie wußte, daß sie von dort nicht wiederkehren würde. Sie war aufgestanden und hatte ein kleines Bündel Wäsche zusammengeschnürt, das Nothwendigste nur, das sie brauchte, und das unter dem Arm, trat sie endlich in die Werkstätte – sie vermied die Stube –, um ihren schweren Weg anzutreten. Aber Fritz hatte sie durch das kleine Fenster in der Wohnstube gesehen, und mit wenigen Sätzen war er draußen bei ihr.

»Mutter!« rief er und schlang seine Arme um ihren Nacken.

»Und Du nennst mich Mutter?« sagte die Frau erstaunt und sah ihn mit den großen, thränengefüllten Augen an.

»Meine liebe, liebe Mutter!« Und fest und herzlich drückte er sie an sich; sie aber, während sie ihr Haupt einen Moment an seine Schulter lehnte, sagte leise:

»Ich danke Dir, Fritz, ich danke Dir aus tiefstem Herzen; jetzt werd' ich hingehen und für Dich sprechen – verlaß Dich darauf, Dir soll Dein Recht werden!«

»Und Du, Mutter...?«

»Sorge Dich nicht um mich, ich habe es nicht verdient. Leb' wohl!« Und ihn noch einmal auf die Stirn küssend, machte sie sich von ihm los. Fast unwillkürlich wandte sie sich dabei dem Mann zu, um auch Abschied von ihm zu nehmen; aber der Schlossermeister hatte die Arme auf die Brust gekreuzt und schaute finster zur Seite – es war keine Spur von Versöhnung in seinen harten Zügen zu erkennen.

»Leb' wohl, Gottfried,« sagte sie leise und streckte ihm die Hand entgegen.

»Leb' wohl!« sagte Baumann, ohne sie anzusehen, drehte sich ab und schritt wieder in die Stube zurück.

Seine Frau wagte nicht ihm dahin zu folgen. Karl war vorgesprungen und wollte jetzt wissen, was sie habe, weshalb sie Abschied nähme. Sie küßte ihm das rußige, ehrliche Gesicht, hob noch einmal die kleine Else auf, die sich an sie hing und nicht von ihr lassen wollte, riß sich los und eilte mit raschen Schritten auf die Straße hinaus und dem Polizeigebäude zu, in dessen düsterem Thore sie verschwand. – –

Der Staatsanwalt Witte befand sich an dem Tag in einer sehr unbehaglichen Stimmung, denn er hatte etwas unternommen, von dem er noch nicht recht klar sah, wie er es ausführen sollte. Wenn er sich auch bewußt war, nur seine Pflicht dabei zu thun, und ihn gesetzlich – der Fall mochte entschieden werden, wie er wollte – nicht die geringste Verantwortlichkeit treffen konnte, so täuschte er sich auch nicht einen Moment über das Aufsehen, das derselbe, besonders in den höheren Schichten der Gesellschaft, erwecken würde, und er wußte dabei recht gut, daß Alles für ihn nur von dem Erfolg dabei abhänge, denn nach dem Erfolg allein urtheilt die Welt. Fiel er mit seiner Klage durch, so konnte er sich erstlich darauf verlassen, daß Fräulein von Wendelsheim Himmel und Erde in Bewegung setzen würde, um sich an denen zu rächen, die es gewagt hatten, ihr entgegenzutreten. Aber das nicht allein: es mußte ihm auch wesentlich in seinem Rufe als Staatsanwalt schaden, zu einer dann als Schwindelei hingestellten Geschichte die Hand geboten zu haben, und dagegen half ihm nicht einmal der gute Name, den er bis jetzt als redlicher Mann in der Stadt hatte. Er kannte die Welt dafür viel zu genau.

Aber es ließ sich nicht mehr ändern; der Stein rollte, und durch seinen heutigen Besuch bei Fräulein von Wendelsheim hatte er überdies dem Faß den Boden ausgestoßen. Jetzt kämpfte er so gut für sich selber, als für die Rechte des wirklichen und leiblichen Wendelsheim'schen Erben, und wußte überdies die gute Sache auf seiner Seite – freilich noch immer nicht genug gegen zwei böse Weiber, so lange diese einig waren. Wenn man sie nur hätte entzweien können – aber wie?

Einer seiner Schreiber steckte den Kopf in die Thür und meldete einen Besuch.

»Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß ich für Niemanden heute zu sprechen bin?« fragte Witte scharf.

»Es ist der junge Baumann; er behauptet, er müßte Sie sprechen, und zwar in einer wichtigen Angelegenheit.«

»Der junge Baumann, hm – lassen Sie ihn hereinkommen. Der kann mir nachdenken helfen,« brummte er halblaut vor sich hin.

Fritz trat ein; er sah erschöpft und bleich aus. »Herr Staatsanwalt,« sagte er, »nach meinem letzten Hiersein hatte ich geglaubt, Ihre Schwelle nicht wieder betreten zu dürfen; aber die Verhältnisse zwingen mich dazu.«

»Lieber junger Freund,« sagte Witte, »Sie sind mir stets angenehm gewesen und werden es bleiben, wie sich auch immer die späteren Verhältnisse gestalten; Frauen haben allerdings ihren eigenen Kopf, aber – reden wir nicht davon. Was führt Sie zu mir?«

»Mein Vater hat mir Alles gesagt....«

»Ich dachte es mir, und es ist vielleicht besser so, einmal mußten Sie es doch erfahren.«

»Aber die Mutter ist auf's Amt gefordert und nicht wieder zurückgekehrt; sie werden doch um Gottes willen die arme Frau nicht gefangen halten?«

»Mein lieber Herr Baumann – erlauben Sie, daß ich Sie jetzt noch bei Ihrem alten Namen nenne –, das läßt sich nicht ändern,« sagte Witte achselzuckend; »die Gerechtigkeit muß ihren Lauf und in dem Laufe ihre Form haben. Aber seien Sie versichert, daß sie sich nicht in unfreundlichen Händen befindet. Ich war selber oben, als sie ankam und verhört wurde; sie legte ein offenes, reumüthiges Geständniß ihres ganzen Vergehens ab, aber so ohne jede Beschönigung für sich selbst, so nur von dem Einen Gedanken durchdrungen, Alles wieder gut zu machen, daß sie sich den Polizei-Director selber schon ganz gewonnen hat. Ich habe auch mit diesem gesprochen; jede Erleichterung, die ihr die Hausordnung des Gefängnisses verstattet, wird ihr werden. Aber in Freiheit kann sie nicht wieder gesetzt werden, bis Alles auf die eine oder andere Art erledigt ist.«

»Meine arme Mutter....!«

»Sie nennen sie Ihre Mutter?«

»Und ist sie es mir nicht gewesen die vielen, vielen Jahre lang? Hat sie nicht mit treuer Liebe für mich gesorgt und nie, nie, so lange ich denken kann, ein rauhes oder hartes Wort für mich gehabt?«

»Ich hoffe, es wird noch Alles gut gehen,« sagte Witte.

»Und glauben Sie wirklich, daß sie wahr gesprochen?« fuhr Fritz bewegt fort, »daß nicht irgend eine fixe Idee sie erfaßt hat, in der sie jetzt Sachen behauptet, die gar nicht existiren?«

»Ich glaube jedes Wort, das sie gesprochen hat,« sagte Witte ruhig und bestimmt.

»Aber das Alles klingt so fabelhaft, so wild, so unmöglich; ich bin gar nicht im Stande, mich hineinzudenken.«

»Das wäre gerade kein Wunder,« nickte Witte, »denn ähnliche Dinge kommen sonst auch eigentlich nur in Feenmärchen vor, wo arme Hirten plötzlich Prinzen werden und dann die übliche Königstochter heirathen. Uebrigens gebe ich Ihnen mein Wort, junger Freund, daß kein Mensch in der Welt so tolle, wahnsinnige Dinge erfinden kann, als wirklich existiren und zu Tage kommen. Besonders jeder Rechtsanwalt wird Ihnen das bestätigen, denn was der Welt sonst häufig verborgen bleibt, müssen sie mit allen Verwickelungen und Einzelheiten stets erfahren.«

»Und wenn es wirklich so wäre, wer, glauben Sie, daß die größte Schuld an jener Täuschung trägt? Doch nicht die Mutter?«

»Nein, sicher nicht; jedenfalls jenes bösartige Weibsstück, die Schustersfrau, und Ihre Fräulein Tante.«

»Meine Tante?« sagte Fritz, tief aufseufzend. »Die Natur scheint wirklich nicht glücklich mit der Wahl meiner Tanten zu sein, denn wenn ich mir zwischen beiden, der bisherigen und der zukünftigen, eine auszusuchen hätte, ich wüßte nicht, welche ich nehmen sollte.«

»Ich würde für Beide danken,« sagte Witte trocken; »aber Eine ist Ihnen sicher. Doch wir vergeuden unsere Zeit. Was führt Sie zu mir?«

»Weiter nichts, als die Bestätigung aus Ihrem Mund zu hören, daß nicht vielleicht nur ein irrer Wahn, eine Einbildung meine Mutter zu dem Geständniß getrieben hat, und wenn das nicht der Fall wäre, mit Ihnen zu berathen, wie wir ihr helfen, wie sie retten können.«

»Da ist vor der Hand gar nichts zu thun,« sagte der Staatsanwalt, »als dem Gesetz eben seinen Lauf zu lassen; von ihrer Untersuchungshaft kann sie kein Mensch, und wenn es der Justizminister wäre, befreien.«

»Doch was soll jetzt geschehen?«

»Ja, das ist eben die Frage,« nickte Witte still vor sich hin, »und ich gäbe selber viel Geld darum, wenn ich sie richtig beantworten könnte. Geschehen kann sehr viel; aber daß das Richtige zuerst geschieht, das ist der Hauptpunkt, und der Teufel weiß, was das Richtige ist – ich nicht?«

»Sie glauben nicht, daß meiner Mutter Zeugniß allein genügt?«

»Gott bewahre – kein Gedanke daran! Die Erbschafts-Commission würde sich nie davon bestimmen lassen, denn eine solche Behauptung könnte am Ende jede Mutter aufstellen, um ihrem Kind eine Erbschaft von nahezu einer halben Million zuzuwenden.«

»Und der arme Bruno von Wendelsheim...«

»Der arme Bruno von Wendelsheim?« meinte Witte. »Sagen Sie lieber: die armen Leute, die dem armen Bruno von Wendelsheim auf seine Erbschaft hin die vielen Tausende geborgt haben!«

»Er wird sie bezahlen.«

»Er denkt gar nicht daran, denn seinen »guten Willen« kann er nicht wechseln lassen. Ich bin fest überzeugt, daß er über dreißigtausend Thaler Schulden hat – wenn das reicht.«

»Das wäre allerdings viel, aber er wird sie doch bezahlen,« sagte Baumann bestimmt – »er oder ich, wer nun die Erbschaft antritt.«

»Wollten Sie das wirklich?«

»Würden Sie nicht das Nämliche an meiner Stelle thun? Denn war er mehr schuldig an dem Tausch, als ich selber? Aber welchen nächsten Schritt beabsichtigen Sie – darf ich ihn wissen?«

Der Staatsanwalt war aufgestanden und ein paarmal in seiner kleinen Stube auf und ab gegangen.

»Ich war heute in Wendelsheim,« sagte er, »und kam gerade zur rechten Zeit, um einem heftigen Auftritt Ihrer Fräulein Tante mit dem jungen Mädchen da draußen – wie heißt sie doch gleich?«

»Mit Kathinka?«

»Ja, mit Kathinka beizuwohnen. Dann hatte ich eine Unterredung mit der Dame selbst; ich wollte sie zu einem Geständniß bringen, aber es mißlang gründlich.«

»Die Baronin von Wendelsheim hat also nie um den Tausch gewußt?«

»Es scheint nicht so; aller Vermuthung nach hat Fräulein von Wendelsheim die Kleinigkeit, jedenfalls unter Mitwissen Ihres Vaters, besorgt.«

»Sie leugnete?«

»Sie ließ sich nicht einmal herbei, zu leugnen, denn damit hätte sie sich auf der Defensive halten müssen, sondern sie ging augenblicklich, wie ein tapferer Feldherr, zur Offensive über, und ich gebe Ihnen mein Wort, sie leistete darin Außerordentliches. Von der Dame ist auch nie ein Geständniß zu gewärtigen; eher verräth der Stuhl da, wo der Baum gestanden hat, aus dem er einst geschnitten wurde.«

»Und wäre es denn nicht möglich, die ganze Sache zurückzuziehen? O, Gott ist mein Zeuge, ich verlange den Reichthum nicht, und ehe so großes Elend über so viele Menschen kommt....«

»Das ist zu spät, mein junger Freund,« sagte Witte, »und zwar nicht allein der Gerichte, sondern vorzüglich Ihres eigenen Vaters – des Schlossermeisters, wollte ich sagen – wegen; denn dessen Schädel ist härter als das Eisen, das er schmiedet. Aber es ginge auch überhaupt nicht, die Sache ist schon zu weit gediehen; wir könnten nicht mehr zurück, selbst wenn wir wollten. Aber wir wollen auch nicht,« setzte er hartnäckig hinzu, »und es ist eine Art von Zweikampf daraus geworden, den ich schon ehrenhalber mit Ihrer Fräulein Tante auszufechten habe.«

»Und meine arme Mutter?«

»Sorgen Sie sich nicht um sie. Ihre Pflegemutter hat allerdings gefehlt und wird dafür gestraft werden müssen; aber stellt sich die Untersuchung so heraus, wie ich vermuthe, so wird die Strafe nicht überhart ausfallen. Nicht so günstig möchte freilich das Urtheil für den Baron lauten, der mit voller, ruhiger Ueberlegung dabei gehandelt haben muß und nur von der noch schlaueren Schustersfrau überlistet wurde.«

»So wäre Benno mein Bruder gewesen!« seufzte Fritz. »Und o, wie lieb hab' ich den Knaben gehabt, ohne es zu wissen, wie manche lange Stunde an seinem Bett gesessen und ihm in die guten, klugen Augen gesehen! Jenes arme Mädchen aber, das jetzt von dem gnädigen Fräulein so hart behandelt wird, war seine treue Pflegerin, und Benno hing mit solcher Liebe an ihr!«

Witte stand am Fenster und trommelte an den Scheiben. »Es ist eine ganz verfluchte Geschichte,« sagte er endlich, »und es wird uns nichts übrig bleiben, als den Stier bei den Hörnern zu fassen, wie man so zu sagen pflegt, und der Stier ist dieses Mal kein Anderer, als die gnädige Tante.«

»Ich habe kein Mitleiden mit ihr,« sagte Fritz.

»Ja, es ist nur das Schlimme, daß sie das auch gar nicht verlangt. Sie zeigt die Zähne, und wenn wir die Sache, wie sie jetzt steht, vor die Geschworenen bringen, deren Sitzungen in nächster Zeit beginnen, so ist es undenkbar, daß sie sich hindurchfinden.«

»Aber wäre es nicht möglich, weitere Zeugen aufzutreiben?«

»Nein; das Frauenzimmer, das damals der Frau Heßberger hülfreiche Hand geleistet hat und dessen Aussage jetzt allerdings von der größten Wichtigkeit wäre, ist, wie ich von Ihrer Mutter, der Frau Baumann, gehört habe, leider in der Zeit gestorben. Lieber Gott, es sind vierundzwanzig Jahre her, und die erst später hinzugerufene Amme des jungen Barons – die Geschichte kenn' ich genau – weiß von nichts und kann von nichts wissen, denn als sie eintraf, war die ganze Sache abgemacht.«

»Kennt der Lieutenant von Wendelsheim schon die Gefahr, die seinen Ansprüchen droht – seine wirklichen Eltern?«

»Nein – wird ihm auch eine angenehme Ueberraschung sein; aber wie bis jetzt Alles liegt, schwebt er noch nicht einmal in übergroßer Gefahr, sie zu verlieren, denn ich fürchte fast, wir fallen durch.«

»Und dann wird die Mutter wieder freigegeben?«

»Ich glaube nicht, daß dann eine Veranlassung sein kann, sie länger festzuhalten; denn daß eine Täuschung beabsichtigt wurde, sind wir im Stande zu beweisen, und wenn die übrigen Theilnehmer derselben frei ausgehen, kann die Frau Baumann allein nicht dafür gestraft werden.«

»So mag es denn gehen, wie Gott will,« sagte Fritz Baumann; »läge es in meiner Hand, durch Verzichtleisten auf die Erbschaft die Mutter zu befreien, mit Freude thät' ich es den Augenblick und gäbe Ihnen dazu jede Vollmacht; ist es aber nicht möglich, dann freilich muß ich dem Schicksal seinen Lauf lassen, und hoffe nur, mit Allem nichts zu thun zu haben, bis es vorüber ist.«

»Auch selbst das kann ich Ihnen nicht versprechen,« sagte Witte; »der einzige, wenn auch schwache Beweis, den wir vielleicht haben, liegt in der Familienähnlichkeit der verschiedenen betheiligten Personen, und vor den Geschworenen kann der allerdings wichtig werden. Dann müssen Sie aber sowohl als Lieutenant von Wendelsheim vor den Schranken erscheinen.«

Fritz Baumann seufzte tief auf. »Ich kann's nicht ändern!« und dem Staatsanwalt die Hand reichend, verließ er langsam das Zimmer.

Wie er die Thür hinter sich zudrückte, kam die Frau Staatsanwalt in einem schwerseidenen Kleide über den Vorsaal gerauscht, gerade auf die Thür des Arbeitszimmers zu.

»Ist mein Mann zu Hause?« wollte sie den Fremden fragen, als sie ihn plötzlich erkannte und, bei den ersten Worten kurz abbrechend, ihn mit einem so hochmüthigen, verächtlichen Blick über die eine Schulter ansah, daß Fritz kaum ein Lächeln unterdrücken konnte. Es hat immer etwas Komisches, wenn eine Dame künstlich vornehm aussehen will, denn die wirklich vornehme Dame ist in ihren ganzen Bewegungen stets einfach und natürlich und denkt gar nicht daran, den Kopf so weit zurückzuwerfen.

Frau Staatsanwalt Witte rauschte aber stolz, wie ein Schwan auf stiller Fluth, und majestätisch an dem jungen Mann vorüber und tauchte in das Büreauzimmer ein, wo die sitzenden Schreiber von ihren Stühlen emporfuhren und die stehenden sich bückten.

»Mein Mann in seinem Zimmer?« fragte sie.

Der Eine deutete mit seiner Feder in achtungsvoll bejahender Antwort nach der nächsten Thür, und die Dame, Sand, Papierschnitzeln, gebrauchte Stahlfedern und was sonst noch auf der Erde lag, hinter sich drein kehrend, verschwand in ihres Gatten Zimmer.

»Was wollte der Mensch wieder bei Dir?« war hier die erste Frage, die sie that.

»Welcher Mensch, mein Kind?«

»Der Herr Baumann, wenn Dir das besser klingt.«

»Ah, der junge Baumann; er hatte Einiges mit mir zu besprechen.«

»Und wagt der noch, nach dem, was vorgefallen, unser Haus zu betreten?«

»Liebes Kind,« sagte der Staatsanwalt, der seit der letzten Ueberraschung bei Heßbergers angefangen hatte sich zu emancipiren, und dem das hochmüthige Wesen der Gattin, dem eigenen schlichten Charakter gegenüber, höchst fatal war – »wenn Du bei seiner Tante einen Besuch machst, wird er mir den doch erwiedern dürfen!«

»Witte,« rief die Frau mehr empört als erschreckt, »Du weißt, daß ich dazu nur durch die Räthin Frühbach verleitet wurde; es ist niedrig und unwürdig von Dir, mir das vorzuwerfen!«

»Was wünschest Du, mein Schatz? Ich bin gerade im Begriff, auszugehen.«

»Ich wollte Dich in etwas um Rath fragen,« sagte die Frau, rasch abbrechend, denn ihre Gedanken liefen allerdings in dem Augenblick auch auf Anderes hinaus. »Der junge Baron von Weldern – Du kennst ja den alten Baron von Weldern mit dem reizenden Rittergut am Vorberge – hat uns heute Morgen seinen Besuch gemacht, und ich wollte Dich fragen, ob Du es nicht vielleicht für passend hieltest, wenn wir ihn für morgen Abend zu einer Tasse Thee bäten! ich hatte mir gedacht....«

»Ich will Dir etwas sagen, mein liebes Kind,« unterbrach sie der Staatsanwalt, »und ich bitte, Dich für die Zukunft danach zu richten: ich verbiete Dir also hiermit auf das strengste, von heute ab weder zu Thee, noch Kaffee, Mittag- oder Abendessen je wieder einen Adeligen, einen Baron oder Grafen, oder welchen Titel die Herren sonst führen mögen, einzuladen!«

»Aber, Witte!« rief die Frau und schlug vor Erstaunen die Hände zusammen.

»Du hast mich doch verstanden?«

»Du bist wohl wahnsinnig geworden?« rief seine zärtliche Gattin.

»Ich war noch nie so voll bei Verstande, als in diesem Augenblick,« entgegnete der Staatsanwalt und griff nach seinem Hut, denn er wünschte diese Scene doch so viel als möglich abzukürzen.

»Aber unsere Stellung im Leben....«

»Ist eine höchst ehrenvolle,« erwiederte Witte, »so lange wir uns auf dem Boden derselben bewegen, und – es werden uns nachher solche Demüthigungen erspart werden, wie wir sie jetzt erfahren müssen.«

»Welche Demüthigung?« fragte die Frau erstaunt.

»Das ist eine kleine Ueberraschung, liebes Herz,« sagte Witte, »die Dir noch vorbehalten bleibt; Du magst Dich aber immer darauf gefaßt machen. Du nimmst es mir nicht übel, daß ich Dich verlasse, ich habe dringende Geschäfte.«

»Aber ich werde doch als Frau vom Hause einladen dürfen, wen es mir beliebt?« rief die Frau, empört über diese rücksichtslose und ganz ungewohnte Behandlung.

»Doch nicht, mein Schatz,« sagte Witte, der heute gerade in der Stimmung war, seinen einmal geäußerten Willen durchzusetzen, »oder Du könntest in die unangenehme Lage kommen, daß weder ich noch Ottilie bei Deiner Festlichkeit erschienen; und ich weiß, daß Du zu verständig bist, Dir eine solche Blamage öffentlich aufzuladen!« Und damit griff er seinen Stock aus der Ecke auf und schritt mit den Worten: »Ich gehe auf die Polizei!« durch seine Schreibstube hin und die Treppe hinunter, seine auf's äußerste empörte Frau heute sich selber überlassend.

Unten in der Straße sah er nach der Uhr – es war noch zu früh; er hatte noch über eine halbe Stunde Zeit, ehe er den Polizei-Director sprechen konnte, denn die auf heute anberaumte Sitzung war, wie er recht gut wußte, noch nicht aus. Aber er zog es doch vor, seine Zeit lieber auf der Straße abzuwarten, als nach der letzten Erklärung die Scene mit seiner Frau zu verlängern. Er konnte ja indessen eine kleine Promenade durch die Anlagen der Stadt machen; in jetziger Tageszeit fand er wenig oder gar keine Menschen dort, und vielleicht kam er dabei auf einen guten Gedanken, die Sache, die ihm jetzt vor allen anderen am Herzen lag, in der richtigen Weise anzugreifen und zu beenden. Aber es fiel ihm nichts ein; welche Mittel er auch ersann, überall traten ihm mit eiserner Stirn die beiden Frauen – die Heßberger und das gnädige Fräulein – entgegen, und er sah keinen Ausweg aus diesem Labyrinth.

»Ah, mein lieber Staatsanwalt!« hörte er da eine Stimme, fühlte, wie sich zu gleicher Zeit ein Arm in den seinigen schob, und als er sich etwas überrascht danach umdrehte, erkannte er das dicke, gutmüthige Gesicht des Raths Frühbach, der ihm freundlich über seine Brille zunickte.

»Ah, mein lieber Rath!«

»Auch auf einem Spaziergang, lieber Freund? Ja, das ist auch meine einzige Arznei, schon meiner Verdauung wegen. Ich sage Ihnen, wenn ich mich Nachmittags recht in eine gesunde Transspiration gelaufen habe, befinde ich mich Abends noch einmal so wohl. Aber was ich gleich sagen wollte, wissen Sie nichts davon, was ist denn das für eine Geschichte? Als ich vorhin an der Polizei vorüber ging, sagte mir der eine Polizeidiener, dessen Frau einen kleinen Obstgarten hat und uns immer Obst und etwas Gemüse bringt – ich bin dadurch mit dem Mann bekannt geworden, und Sie wissen, die Polizei muß man sich immer zu Freunden halten –, daß sie eben die Baumann, die Schlossersfrau und die Schwester der Heßberger, eingesperrt und auf Numero Sicher gebracht hätten.«

»Der Polizeidiener hätte auch etwas Gescheidteres thun können, als aus der Schule zu schwatzen,« sagte Witte.

»Aber mir, bester Freund,« sagte Frühbach, »mir kann er es doch sagen; er weiß ja recht gut, daß ich mit keinem Menschen darüber rede. Jedenfalls steht das mit der Diebesgeschichte in Verbindung und die beiden Schwestern haben gemeinschaftlich gearbeitet. Das war doch ein Glück, Staatsanwalt, wie? daß ich damals gleich auf einer Haussuchung bestand und Ihnen die Vollmacht ausstellte? Wir wären der Bande sonst im Leben nicht auf die Spur gekommen.«

»Allerdings nicht, lieber Rath, allerdings nicht,« sagte Witte, der sich indessen nur auf einen Ausweg besann, um von seinem lästigen Begleiter loszukommen, denn er schwatzte nicht allein jede Unterhaltung, sondern auch die Gedanken selber todt.

»Da fällt mir dabei eine ganz ähnliche Geschichte aus Schwerin ein,« fuhr der Rath fort, der jetzt mit geblähten Segeln in seinem Elemente schwamm und noch einmal so breit und aufgedunsen zu werden schien. »Da hatten wir auch ein Dienstmädchen, eine ganz brave, ordentliche Person, wie wir glaubten, und deren Schwester kam manchmal auf Besuch zu ihr; aber es fehlte uns immer etwas, bald ein Löffel, bald eine Serviette, bald auch einmal etwas schmutzige Wäsche – meine Seele dachte aber nicht an das Mädchen oder ihre Schwester, denn es waren gar so ordentliche Personen. Mein Frauchen aber, das darin außerordentlich scharf ist – ich sage Ihnen, Staatsanwalt, die Frau würde zu einem Untersuchungsrichter passen, so genau kommt sie der Sache immer auf den Grund, und die Heßbergers hat sie schon lange in Verdacht gehabt – was wollte ich denn gleich sagen – ja, meine Frau sagte eines Tages zu mir: Du, Männi, sagt sie, der Pauline trau' ich nicht, mit der ist's nicht richtig! Nun denke ich schon 'was Anderes und sage: Ih bewahre, liebes Kind, die Pauline muß ja schon wenigstens sechsundvierzig Jahr alt sein! Aber meine Frau sagt: Ih, Gott bewahre, das mein' ich gar nicht, ich meine wegen der silbernen Löffel! Ja so! sag' ich, und nun fällt mir auch so Manches ein, das mir verdächtig vorkommen konnte. Zuerst wollte die Pauline eine kleine Erbschaft gemacht haben, und ich traute der Sache nicht, aber wir konnten ihr auch nicht beweisen, daß es nicht wahr wäre.«

»Hm,« sagte Witte und sah den Rath an.

»Und dann,« fuhr dieser fort, »steckte sie immer mit ihrer Schwester so durch. Nun hatte die Pauline eine böse Eigenschaft, das wußte ich: sie horchte. Wenn ich mich manchmal mit meiner Frau vertraulich unterhielt und von Dem und Jenem sprach, dann hatte sie immer das Ohr am Schlüsselloch. Damit dachte ich sie denn auch zu fangen, daß sie sich einmal selber verrathen sollte; und wie ihre Schwester wiederkam, rief ich sie herein, ich hätte ihr 'was zu sagen, und fragte sie dann nach einer Pauline Weber, die gar nicht existirte, und sagte ihr, daß uns die Pauline früher so bestohlen hätte, und fing nun an, etwas lauter auf die Pauline zu schimpfen, was das für ein schlechtes Frauenzimmer wäre und uns silberne Löffel und Servietten und Wäsche und was sonst noch weggenommen hätte. Auf einmal geht die Thür auf, und die Pauline stürzt herein, und ich denke, sie soll mich und meine Frau in Stücke reißen, so wüthend war sie. Wir konnten sie auch wirklich kaum beruhigen, daß wir gar nicht sie, sondern eine ganz andere Pauline gemeint hätten, denn sie drohte in Einem fort mit der Polizei. Aber es war auch ein Glück, daß ich nichts weiter gesagt hatte, denn wie sich später herausstellte, war sie's auch gar nicht gewesen, sondern eine Aufwärterin, die wir manchmal im Hause hatten und die bei einer andern Dieberei erwischt wurde und Alles eingestand.«

»Sonderbar, sonderbar,« sagte Witte und schüttelte in Einem fort mit dem Kopf, »man sollte es nicht für möglich halten....«

»Nicht wahr?« sagte Rath Frühbach, nicht wenig durch die Anerkennung geschmeichelt. »Ja, es passiren wirklich wunderbare Sachen auf der Welt; aber man muß nur einen Blick dafür haben. Ich sage Ihnen, da begegnete ich eines Tages dem Regierungs-Präsidenten Hesse, einem alten Freunde von mir, auf dem Markte....«

»Sie entschuldigen mich gewiß, lieber Rath, ich muß hier abbiegen,« unterbrach ihn Witte, dem eine Fluth von Gedanken durch den Kopf schoß.

»Das macht nichts,« sagte Rath Frühbach freundlich, »ich habe gar nichts zu versäumen; ich begleite Sie. Also der Präsident....«

»Aber ich biege hier gleich in das nächste Haus ab; ich habe dort Jemanden in einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen. Sie erzählen mir die Geschichte ein ander Mal, wie?«

»Gewiß, mit dem größten Vergnügen,« sagte Frühbach; »sie ist übrigens gar nicht lang, und wenn Sie....«

»Hier ist das Haus – ich danke Ihnen, lieber Rath. Auf Wiedersehen!« Und damit ging Witte in ein vollkommen fremdes Haus, in dem er keine Menschenseele kannte, und stieg dort, nur in dem Gefühl, den sonst nicht abzuschüttelnden Rath los zu werden, und ganz in Gedanken eine Treppe nach der andern hinauf, bis er sich plötzlich unter dem Dache vor einer schmalen, mit einem Vorhängeschloß versehenen Bodenthür fand und nun nicht weiter konnte.

»Herr Du mein Gott,« sagte er hier, ordentlich erstaunt, »wo bin ich hingerathen? Die verdammten Treppen! Aber hieher ist er mir doch nicht gefolgt – jetzt kann ich nur machen, daß ich wieder hinunter komme.«

Ganz unbemerkt sollte das aber nicht geschehen; denn die Treppe war steil und unbequem zu gehen, er hatte dabei etwas Geräusch nicht vermeiden können. Wie er in der dritten Etage wieder ankam, öffnete sich eine Thür, und eine Frau fragte, den Kopf herausstreckend: »Zu wem wollen Sie?«

Witte mochte nicht sagen, daß er nur auf gut Glück hier hinaufgelaufen sei, und nach dem ersten besten Namen, der ihm einfiel, fragte er: »Können Sie mir nicht sagen, liebe Frau, ob hier der Schneider Müller wohnt?«

»Ja wohl, der wohnt hier,« nickte die Frau, die Thür jetzt aufmachend; »bitte, wollen Sie nicht näher treten?«

»Das ist Pech!« brummte Witte leise vor sich hin und las jetzt wirklich zu seiner Ueberraschung auf einem an der Thür angehefteten Schilde die zierlich geschriebenen Worte: »Karl Müller, Schneidermeister.« Es half aber nichts, nach der Frage mußte er hineingehen und wußte auch in der ersten Verlegenheit wirklich nicht, was er anders thun sollte. Er hätte aber kein Advocat sein müssen, wenn er um irgend einen Ausweg verlegen gewesen wäre, und kaum betrat er deshalb auch die kleine, entsetzlich dumpfige Werkstätte, wo ein bleich genug aussehender junger Mann mit zwei Lehrjungen arbeitete, als er auf diesen zuging und sagte: »Ach, mein lieber Herr Müller, ich bin der Staatsanwalt Witte und suche einen Schneider Müller mit dem Vornamen Chrysostomus, kann ihn aber im ganzen Adreßkalender nicht finden. Wären Sie vielleicht im Stande, mir Aufklärung zugeben und zu sagen, wo ich ihn treffen kann?«

Der arme Schneider, dessen Gesicht sich ordentlich aufgeklärt hatte, als er, wie er glaubte, einen neuen Kunden eintreten sah, schien etwas niedergeschlagen, erwiederte aber doch, er bedauere, nicht dienen zu können. Er selber sei noch nicht so sehr lange hier ansässig und kenne keinen Chrysostomus Müller.

Witte sah sich in der Stube um; sie war unendlich sauber gehalten, aber auch unendlich ärmlich und enthielt kaum das Nothdürftigste von Möbeln. Neben dem Meister lag auch sein Vesperbrot, und in der That nicht mehr, als um was er wahrscheinlich täglich bat, sein »täglich Brot«, eine harte Kruste, ohne Butter oder andere Zuthat. Witte war schon im Begriff zu gehen, als er noch auf der Schwelle stehen blieb und sagte: »Ich bin mit dem Meister, der meine Kleider macht, nicht recht zufrieden und möchte gern einmal wechseln; haben Sie Zeit, so kommen Sie morgen früh um acht Uhr zu mir, aber nicht später, um mir Maß zu nehmen. Wenn Sie ordentlich arbeiten, bekommen Sie nicht allein einen guten Kunden, sondern ich werde Sie auch noch weiter empfehlen – hier haben Sie meine Karte.« – Und mit dem Bewußtsein, ein gutes Werk gethan zu haben, stieg er die Treppe wieder hinab.

Er hatte den Schneider aber schon vergessen, ehe er nur das Haus verließ, denn andere Dinge gingen ihm jetzt im Kopf herum: die Erbschaft der Frau Heßberger! Daß er daran auch noch gar nicht gedacht! Da war ein Anhaltspunkt, denn er zweifelte keinen Augenblick, daß die Heßberger darüber, wo sie das Geld damals erhoben, keine genügende Auskunft würde geben können, und dann nun – wenn er ein Mittel fand, die Heßberger zum Reden zu bringen – des Raths Erzählung, wenn sie auch, wie alle seine Geschichten, einfach im Sande verlief, hatte eine wahre Fülle von Ideen in ihm wachgerufen, und er brauchte Zeit, um die zu verarbeiten.

Vor allen Dingen mußte er noch eine Besprechung mit der Frau Baumann haben, und raschen Schrittes eilte er jetzt auf das Polizeigebäude zu.

6.
Auf dem Criminalamt.

Witte hatte an dem Abend eine lange Besprechung mit dem die Untersuchung führenden Justizrath und erfuhr darin Manches, was er zur Ausführung seines immer erst flüchtig und noch unklar entworfenen Plans gebrauchen konnte.

So hatte sich bei einer genaueren Nachforschung über die gestohlenen und bei Heßberger gefundenen Gegenstände ergeben, daß viele Sachen von Stellen herrührten, in welche Heßberger selber nie einen Fuß gesetzt, wo aber seine Frau desto häufiger ein- und ausgegangen war, und es stellte sich dadurch als ganz bestimmt heraus, das sie ebenfalls nicht allein die Hehlerin gemacht, sondern auch einen Theil der Kostbarkeiten selber entwendet haben mußte. Vieles war allerdings schon verkauft worden, und da der Schuhmacher ein umfangreiches Geständniß abgelegt, so kam man auch dadurch hinter einige gewerbsmäßige Hehler-Spelunken, die aufgehoben wurden. Alles hatte er aber doch nicht untergebracht und jedenfalls auf eine spätere, gelegene Zeit aufgespart. So fand sich auch unter dem gestohlenen Gut noch verschiedenes Silberzeug, welches das Wendelsheim'sche Wappen trug und ebenfalls nur von der Frau gestohlen sein konnte, und auf dieses basirte Witte einige Hoffnung, um das gnädige und allerdings leicht irritirbare Fräulein gegen die Frau aufzubringen; aber stärkere Mittel mußten freilich noch mitwirken.

Der Untersuchungsrichter gab übrigens seine Zustimmung zu Allem, drängte aber, rasch vorwärts zu gehen, um keiner der Parteien lange Zeit zur Ueberlegung zu gestatten, denn dadurch würde oft, wie er behauptete, ein nie wieder einzubringender Vortheil aus der Hand gegeben. Witte sträubte sich allerdings dagegen; er war seiner Sache viel zu wenig sicher, um nicht fürchten zu müssen, durch zu große Eile das Ganze zu überstürzen, und ging der erste Anlauf verloren, so konnten sie sich nur als geschlagen betrachten. Der Untersuchungsrichter, ein alter, sehr tüchtiger Criminalist, bestand aber auf seinem Willen, und das gnädige Fräulein von Wendelsheim wurde deshalb zu dem Zweck durch einen expressen Boten auf morgen früh halb zwölf Uhr auf das Criminalamt beschieden – ein weiterer Grund der Vorladung war natürlich nicht dabei bemerkt, der Gensdarme aber, der die Vorladung zu befördern hatte, angewiesen worden, sich zugleich eine Liste von ihr über auf Wendelsheim vermißte Silbersachen oder sonstige Gegenstände zu erbitten.

Von der Frau Baumann, die der Staatsanwalt sehr still und niedergedrückt antraf, wollte er jetzt erfragen, welchen Platz ihre Schwester damals angegeben habe, um die vermeintliche Erbschaft zu erheben. Daß beide Schwestern die Zeit ihrer Abwesenheit nur in einer nicht sehr entfernten kleinen Stadt zugebracht, hatte sie ihm schon erzählt. Die Frau Baumann erinnerte sich auch, daß Berlin genannt gewesen, was der Schlossermeister ebenfalls bestätigte, denn er hatte in jener Zeit fest geglaubt, die beiden Schwestern wären dorthin gereist, aber, mit nicht dem geringsten Verdacht einer Täuschung, nicht weiter danach gefragt.

Am nächsten Morgen um acht Uhr kam der von ihm bestellte Schneider Müller, um ihm Maß zu nehmen. Er hatte schon gar nicht mehr an den Mann gedacht, der sich aber mit dem Glockenschlag einstellte. Witte schickte dann in den nächsten Laden hinüber, um sich einige Stücke Tuch herüber bringen zu lassen, und bis die eintrafen, unterhielt er sich mit dem Manne. Müller war ein geborener Mecklenburger, seine Mutter stammte aus Alburg, und nach des Vaters Tode hatte sie das Heimweh bekommen und sich hieher zurückgezogen, wo er sich dann mit der neuen Gewerbefreiheit eine Werkstatt gründete. Aber das Geschäft ging noch schlecht – er hätte gern geheirathet, um seiner alten Mutter die Sorge für die Wirthschaft abzunehmen – aber es ging nicht, er mußte es auf spätere Zeiten verschieben und sich erst etwas verdienen, ehe er daran denken konnte, denn ein »reiches« Mädchen – das heißt Eine, die an zwei- bis dreihundert Thaler im Vermögen hatte – nahm ihn ja doch nicht.

Es war die alte Geschichte, das Ankämpfen eines fleißigen, braven Mannes gegen den täglichen Bedarf. Indessen kam das Tuch, wurde bestimmt und überliefert, und der junge Schneidermeister versprach die Kleider auf den angegebenen Tag pünktlich abzuliefern. Witte wußte, daß er Wort halten würde, und wenn er hätte Tag und Nacht arbeiten sollen.

So rückte die Zeit heran, wo er auf das Criminalamt mußte. Das Verhör der Heßberger war auf zehn Uhr festgesetzt, und etwa eine Viertelstunde vor dem bestimmten Termin fand er sich oben ein. Bald darauf wurde die Frau vorgeführt, aber auf ihr ganzes Wesen schien die bisherige Haft nicht den geringsten Eindruck gemacht zu haben. Sie sah finster und verschlossen aus wie immer, und mit zusammengekniffenen Augen blickte sie die drei Männer, den Untersuchungsrichter, den Protokollanten und Witte, der seitwärts an einem Fenster stand, tückisch, aber auch verächtlich an, als ob sie sich bewußt sei, daß diese, trotz aller Kreuzfragen, nichts aus ihr herausbringen sollten, als was sie selber Willens sei, ihnen zu sagen. Wer hätte sie zwingen können! Der Untersuchungsrichter überraschte sie da einigermaßen, indem er begann:

»Heßberger, Ihr seid heute eigentlich zu keinem richtigen Verhör herbeschieden, sondern nur um Auskunft über verschiedene, minder wichtige Dinge in Hinsicht auf den verübten Diebstahl zu geben.«

Die Frau schwieg und schaute störrisch vor sich nieder; sie erwartete das Weitere.

»Was die verschiedenen, bei Euch aufgefundenen Silbersachen betrifft,« fuhr der Untersuchungsrichter fort, »so wißt Ihr, daß bei sehr vielen der Beweis Eurer eigenen Thätigkeit geliefert ist. Alles hat sich aber nicht gefunden, besonders einige Stücke, bei denen den früheren Eigenthümern viel daran liegt, sie wieder zu bekommen. Euer Mann versichert, daß nichts von Euch selber eingeschmolzen sei, und wir haben keinen Grund, daran zu zweifeln; jedenfalls ist aber, wie der Beweis vorliegt, ein Theil des gestohlenen Gutes von Euch verkauft worden und Einiges davon auch wirklich wieder gefunden, Anderes natürlich verschwunden. Nun hat sich bei den Gegenständen auch ein Theil derselben als Eigenthum der Familie Wendelsheim herausgestellt. Das scheint aber nur der kleinste Theil dessen zu sein, was Ihr dort bei Seite gebracht habt, und es ist uns von derselben die Weisung zugegangen, auch nach einem sehr schweren silbernen Teller mit dem Familienwappen zu forschen, den Ihr bei Eurem letzten Besuche dort mitgenommen haben müßt, denn er ist seit der Zeit verschwunden.«

»Und wer sagt das?« fragte die Frau finster.

»Das kann Euch einerlei sein,« fuhr der Untersuchungsrichter fort; »ich sage es, und das ist genug.«

»Stellt mir den Baron gegenüber,« sagte die Alte trotzig, »und laßt ihn mich nach einem gestohlenen Stück fragen, und ich werde ihm Antwort geben – Niemandem weiter.«

»Der Baron,« sagte der Untersuchungsrichter, »ist schwer krank, körperlich nicht sowohl als geistig; er bekümmert sich um gar nichts mehr, und das gnädige Fräulein von Wendelsheim hat jetzt im Schlosse die alleinige Leitung der Geschäfte.«

»Das gnädige Fräulein von Wendelsheim hat mich nach einem gestohlenen Teller fragen lassen?« rief die Frau, wild und zornig emporfahrend.

»Ich habe Euch schon einmal gesagt, daß Euch das einerlei sein kann, wer danach fragen läßt,« entgegnete der Inquirent; »ich frage Euch jetzt danach, und mir habt Ihr zu antworten.«

»Ich weiß von keinem Teller,« sagte die Frau störrisch, »habe nie einen in dem gottvergessenen Hause, das ich wollte, ich hätte es nie im Leben betreten, gesehen.«

»Ihr seid eine hartgesottene Person,« sagte der Inquirent; »die Herrschaft da draußen ist so freundlich und liebevoll gewesen, und aus Dankbarkeit dafür stehlt Ihr derselben das Silber und die Wäsche selbst aus dem Kasten heraus.«

»Wer hat behauptet, daß ich ihnen Wäsche aus dem Kasten genommen habe?« rief die Frau mit blitzenden Augen. »Und liebevoll behandeln? – Wenn ich wüßte, daß das böse Geschöpf...« – Sie biß sich auf die Lippen und schwieg.

»Was wolltet Ihr sagen?«

»Nichts – ich weiß von nichts.«

»Gut, dann hat hier der Herr Staatsanwalt Witte nur noch eine Frage an Euch zu richten, die Ihr ihm hoffentlich besser beantworten werdet, als mir die meinigen.«

»Der Staatsanwalt Witte?« sagte die Frau spöttisch. »Ich denke, der weiß Alles! Was hat denn der da noch zu fragen

»Ich will Euch 'was sagen, Heßberger,« erwiederte Witte, »ich weiß auch mehr, als Euch vielleicht lieb und zuträglich ist, und was ich Euch fragen will, hat, wie Ihr gleich hören werdet, mit nichts etwas zu thun, was ich nicht wüßte – es ist nur wegen einer von Euren Lügen. Ich möchte deshalb hören, wie der Platz heißt, wo Ihr damals die Erbschaft für Euch und Eure Schwester erhoben habt – Ihr wißt doch, welche ich meine – und wo die Papiere sind, die Euch darüber ausgestellt wurden.«

»Ich habe keine Papiere,« knurrte die Frau; »es ist drei- oder vierundzwanzig Jahre darüber hingegangen.«

»Das wäre möglich, daß die in der Zeit verloren gegangen wären,« nickte Witte; »aber den Namen der Stadt werdet Ihr doch wohl noch wissen, wo Ihr das Geld bekommen habt?«

Die Frau schwieg und sah finster vor sich nieder.

»Es hilft Euch nichts, Heßberger,« sagte Witte kopfschüttelnd. »Woher Ihr das Geld wirklich bekommen habt, wollt Ihr nicht gestehen – es ist auch nicht nöthig, wir haben es schon erfahren; aber die Frau ist jetzt todt, der Mann geistesschwach geworden und also von dem Arm des Gesetzes nicht zu erreichen. Von der Familie Wendelsheim hat Niemand weiter mit der schmutzigen Geschichte zu thun gehabt, denn das gnädige Fräulein ist dazu eine viel zu achtbare Dame; also seid Ihr die, an die wir uns allein halten können. Gebt mir nur blos einen Platz an, wo Ihr die Erbschaft wollt erhoben haben, ich schreibe dann gleich hin, und Ihr wißt selber recht gut, daß in acht oder vierzehn Tagen die Antwort eintrifft: es wäre kein Wort von der ganzen Geschichte wahr. Aber Ihr habt damit Euren Zweck erreicht und das Urtheil noch um ein paar Wochen hinausgeschoben. Uebrigens hilft Euch das nicht einmal etwas, denn für die von Euch verübten Diebstähle und die Hehlerschaft des Uebrigen kommt Ihr schon vorher in's Zuchthaus. Also wo war Eure Erbschaft her?«

Die Frau hatte den Sprechenden mit ihren großen, lichtblauen Augen starr angesehen und war anscheinend dem, was er sagte, mit der gespanntesten Aufmerksamkeit gefolgt. Sie beantwortete aber die Frage nicht gleich, sondern fragte im Gegentheil zurück:

»Der Baron von Wendelsheim ist geisteskrank?«

»Die Wendelsheim'sche Familie, habe ich Euch schon gesagt, hat mit der Sache, den rechtmäßigen Erben ausgenommen, weiter gar nichts zu thun – laßt die nur,« sagte Witte; »sie soll auch gar nicht belästigt werden – Eure Schwester hat uns Alles ausführlich eingestanden – beantwortet mir also meine Frage...«

»Und was weiß meine Schwester davon?« knurrte die Frau.

»Wo also wollt Ihr die Erbschaft erhoben haben?«

»Sie glauben es mir doch nicht...«

»Nein, darauf kommt auch nichts an; es ist nur, daß der Form genügt wird, und die muß beachtet werden.«

»Ich kann mich jetzt nicht darauf besinnen.«

»Gut, ich will Euch nicht drängen,« sagte Witte, nach seiner Uhr sehend; »es sind jetzt gerade zehn Minuten über zehn Uhr – ich gebe Euch eine halbe Stunde Zeit. Ueberlegt Euch indessen, was Ihr mir sagen wollt; bis dahin aber muß ich eine Antwort haben, oder das Gericht nimmt an, daß Ihr dieselbe verweigert, und das ist dann, wie Ihr recht wohl wißt, eben so gut wie ein stummes Eingeständniß, daß Ihr den Ort nicht nennen könnt, weil er nicht existirt. – Sie erlauben wohl, daß die Frau die kurze Zeit in dem Nebenzimmer bleibt, damit wir sie nachher gleich wieder bei der Hand haben?«

»Jawohl,« nickte der Untersuchungsrichter; »die anstoßende Stube ist leer, sie kann dort warten.« – Er klingelte, und als einer der Leute eintrat, gab er Ordre, daß die Frau da nebenan einen Augenblick eintreten solle, bis sie wieder in ihre Zelle geführt würde. Noch ehe sie aber das Zimmer verlassen hatte, fragte er den Polizeidiener: »Ist das gnädige Fräulein von Wendelsheim erschienen, um ihr Silberzeug wieder in Empfang zu nehmen?«

»Jawohl, Herr Justizrath,« erwiederte der Mann, »sie ist eben vorgefahren.«

»Schön. So ersuchen Sie die Dame, einen Augenblick zu warten – oder es ist auch nicht nöthig,« setzte er hinzu. »Führen Sie nur die Frau ab; ich werde selber gehen.«

Die Heßberger war stehen geblieben, als sie den Namen hörte; jetzt biß sie die Zähne fest zusammen und folgte dem Manne.

»So,« sagte sie, als sie in's andere Zimmer trat, »und ist das etwa Gerechtigkeit? Das Frauenzimmer, weil sie hochadelig und vornehm ist, wird ersucht einzutreten, und fährt in ihrem Wagen vor, und mich behandelt man wie einen Hund, der aus einem Kasten in den andern geführt wird!«

»Wenn die gestohlen oder sonst ein Verbrechen begangen hätte, wie Ihr,« brummte der Mann, »so würde sie gerade so behandelt, und jetzt haltet's Maul und setzt Euch da auf den Stuhl hin, bis Ihr wieder gerufen werdet!« Und damit ging er wieder hinaus, schloß von außen die Thür, welche auf den Vorsaal führte, und ließ die Gefangene, mit Gift und bitterer Galle im Herzen, allein zurück.

Und hatte dieser Staatsanwalt, den sie haßte – haßte wie nur ein Weib hassen kann, nicht recht, wenn er sagte, daß sie doch für das Zuchthaus reif sei, mochte geschehen, was da wolle? Daß sie sich an den Diebstählen betheiligt, war nicht mehr abzuleugnen – die gefundenen Gegenstände zeugten klar genug gegen sie –, und was dann? Sie wurde eingesperrt und mußte Wolle spinnen, und wenn sie endlich wieder frei kam, wiesen die Kinder mit Fingern auf sie und schrieen: »Die – die kommt aus dem Zuchthaus, die hat gestohlen!« Und das Fräulein von Wendelsheim indessen fuhr in ihrer Kutsche vornehm an die Polizei heran, und die Leute, welche sie mit Verachtung behandelten, machten ihr eine Verbeugung. – Und für wen hatte sie Alles gethan? Für sich allein, für die lumpigen paar Tausend Thaler etwa? Und zeigte sich ihr jetzt auch nur Einer von Allen als Freund? Ihre eigene Schwester verrieth sie – der Schlosserssohn, den sie zum Baron gemacht, kannte er sie etwa nur, wenn er ihr in der Straße begegnete – und das gnädige Fräulein...? – Sie versank in dumpfes, grimmiges Brüten und hielt dabei die dünne Unterlippe fest und unerbittlich zwischen ihren Zähnen eingeklemmt. Draußen war Alles ruhig, sie hörte keinen Ton eine lange Zeit. Jetzt wurde eine Thür geöffnet und gleich darauf eine Stimme laut, deren scharfen Ausdruck sie nur zu gut kannte – es war die des Fräuleins von Wendelsheim – und war die besser, als sie? Ja, abgewälzt hatte sie Alles von sich und auf die arme, selige Baronin geschoben, die eher ihr eigenes Leben als ihr Kind geopfert hätte – und der Baron verrückt geworden? – Sie schauderte zusammen, wenn sie sich die Möglichkeit dachte, denn das sah aus wie Gottes Strafgericht. – Und hier der öde Raum, die vergitterten Fenster, die Verachtung, mit der sie von allen Menschen behandelt wurde! Die Brust wurde ihr so eng, sie konnte kaum Athem holen und sprang wieder von dem Stuhl empor. Jetzt plötzlich horchte sie hoch auf – draußen hörte sie ihren Namen nennen, und wie ein Schatten glitt sie nach der Thür, an die sie ihr Ohr preßte.

Das gnädige Fräulein war außerordentlich pünktlich und eigentlich noch acht Minuten vor ihrer Zeit, aber auch mit schlecht verbissenem Ingrimm eingetroffen, weil man gewagt hatte, ihr die Einladung auf das Criminalamt auf einem der gewöhnlichen gedruckten Bogen, wie für gemeine Verbrecher, zu senden. Der mußte denn natürlich den Leuten auf dem Hofe in die Hände fallen, und schon darüber erbost, konnte sich ihre Laune durch das lange Warten natürlich nicht verbessern.

»Was will man von mir?« fragte sie einen alten Polizeidiener, der auf einem hohen Sessel an einem Stehpult saß und eine Liste vor sich hatte.

Der Mann zuckte nur die Achseln, deutete auf die eine Thür und meinte, sie würde es da drin schon erfahren.

»Und weshalb werde ich nicht vorgelassen?«

»'s ist noch Jemand drin,« sagte der Polizeibeamte, ohne sie anzusehen. »Hier geht Alles nach der Reihe. Wenn Sie dran kommen sollen, wird geklingelt.«

Jetzt wurde die Thür aufgemacht und der Actuar rief heraus: »Fräulein von Wendelsheim in Nr. 17!«

»Was?« schrie das gnädige Fräulein, in jähem Schreck emporfahrend, und wurde in dem Moment todtenbleich. »Man will mich doch nicht einkerkern?«

»Ne,« lachte der alte Polizeidiener gutmüthig, »noch nicht – die Nummer 17 ist nicht gemeint, die Thür da gerade vor, da sollen Sie hineingehen.« Und er deutete dabei mit der Hand auf die bezeichnete Nummer.

Das gnädige Fräulein holte tief Athem – die ganze Umgebung hatte doch einen unheimlichen Eindruck auf sie gemacht; sie war dadurch so ganz aus ihrer früheren Sphäre herausgerissen – es fürchtete sie hier Niemand, und selbst die untersten Diener behandelten sie mit einer Gleichgültigkeit, die sie empörte, die ihr aber auch imponirte.

Sie schritt auf das ihr angegebene Zimmer zu und öffnete die Thür – es war ein großer, geräumiger, öder Saal mit einem grün beschlagenen, langen Tisch in der Mitte von vielen Stühlen. Er diente jedenfalls zu gewissen Zeiten als Sitzungszimmer. Auf dem Tisch aber lagen die von dem Heßberger'schen Ehepaare gestohlenen Gegenstände ausgebreitet, und durch die andere Thür trat jetzt der Untersuchungsrichter mit dem ihn begleitenden Witte herein.

»Mein gnädiges Fräulein,« sagte der Justizrath, ohne es der Mühe werth zu halten, sich zu entschuldigen, daß er sie so lange im Vorzimmer hatte warten lassen, »es hat sich herausgestellt, daß Sie durch die Ihnen sehr wohl bekannte Heßberger ebenfalls nicht unbeträchtlich bestohlen sind. Es haben sich da besonders verschiedene Silbersachen gefunden, die noch das Wappen Ihrer Familie tragen. Wollen Sie einmal gefälligst nachsehen, ob Sie das Alles als das Eigenthum Ihres Herrn Bruders erkennen?«

Fräulein von Wendelsheim, deren Miene sich sehr verfinstert hatte, als sie den Staatsanwalt erkannte, wollte schon fragen, weshalb man ihr nicht eben so gut die Sachen hätte hinausschicken können, anstatt sie selber hieher zu bemühen; der alte Justizrath sah aber so ernst und würdig aus und schien sich dabei hier so in seinem vollen Recht zu fühlen, daß sie die Frage wieder verbiß und der Aufforderung Folge leistete. Sie erkannte und bestätigte auch bald die nach Schloß Wendelsheim gehörenden Sachen und äußerte dabei, sie hätte der Person, der Heßberger, wohl zugetraut, solche schlechte Handlungen begehen zu können.

»Und doch haben Sie sich mit der Person so nahe einlassen können, mein gnädiges Fräulein,« sagte der Justizrath kalt. »Bitte, treten Sie hier in das andere Zimmer; die Sachen sollen Ihnen später, wenn die Untersuchung geschlossen ist, verabfolgt werden.« Damit ging er ihr voran zur andern Thür, wo Witte schon, die Hand auf der Klinke, stand.

»Mit der Person nahe eingelassen?« sagte Fräulein von Wendelsheim und maß den alten Herrn mit ihrem Blick von oben bis unten. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Mein gnädiges Fräulein,« erwiederte der Justizrath, »die Sache ist kein Geheimniß mehr. Jene Frau Baumann, die ihren Sohn damals hergegeben, hat Alles bekannt und ein reumüthiges Geständniß abgelegt...«

»Die Frau Baumann?« rief das gnädige Fräulein und wechselte in jähem Schreck die Farbe. »Welche Baumann?«

»Die Schlossersfrau – und das ist sonst eine vollkommen unbescholtene Person...«

»Aber das nicht allein, mein gnädiges Fräulein,« sagte jetzt Witte, der einen letzten, verzweifelten Versuch machte, die Dame zum Reden zu bringen, »auch die gefangene Heßberger hat Alles eingestanden und erklärt, daß sie nur mit Ihnen und Ihrer Hülfe den Tausch bewerkstelligt hätte. Sie werden sich dagegen jedenfalls zu verantworten haben.«

»Die Heßberger?« rief Fräulein von Wendelsheim in ausbrechender Wuth, und Witte öffnete rasch die Thür, während sie der Justizrath durch ein Zeichen bat, dort hinein zu treten. »Und so eine schlechte Person, so eine ganz gemeine Diebin durfte sich das unterstehen, und das Gericht legt auf das Gewicht, was so ein Geschöpf sagt? Hören Sie, was die Leute draußen auf dem Land über das Weib sprechen: da ist auch keine Schlechtigkeit auf der Erde, die der nicht zur Last gelegt wird, und mir, der Schwester des Barons von Wendelsheim, wollen Sie...«

Sie kam nicht weiter; in dem Moment wurde die gegenüberliegende Thür aufgerissen und wie eine Furie stürzte die Heßberger heraus.

»Was?« schrie sie, »das adelige Weibsbild will hier über mich herziehen und meine Sünden aufzählen? Und ich soll schweigen und das Maul halten und mich einsperren und schlecht behandeln lassen, nur daß sie großbrodig in ihrer Kutsche fahren und die Schandgosche über andere Leute aufreißen kann? Ei, zum Henker, dann kann ich auch reden, und nun ist's doch einerlei und die Geschichte hier aus.«

Fräulein von Wendelsheim erschrak. Sie war schlau genug, im Augenblick die ihr gelegte Falle zu sehen, und wie sie sich einen Moment unbemerkt glaubte – denn die Blicke der Beamten hingen an dem gereizten Weibe –, blinzelte sie ihr rasch mit den Augen zu. Aber das war gefehlt; sie machte das Uebel dadurch nur wo möglich noch schlimmer, denn die Heßberger, der das nicht entging, tobte nun erst recht heraus:

»Ja, jetzt haben Sie gut blinzeln, nicht wahr – nun die Heßberger da ist und auf einmal Alles gehört hat? Mir brauchen Sie aber nicht mehr zuzuwinken und heimliche Zeichen zu geben – mir nicht, das ist vorbei, und jetzt hören Sie hier auch die ganze Geschichte: der Fritz Baumann ist der Sohn vom Baron und der Bruno der Junge vom Schlosser – die da hat sie vertauscht und die ganze Sache abgekartet, weil sie glaubte, daß es ein Mädchen wäre. Der alte Baron wollte erst nicht – die Frau, die selige Baronin, hat nie ein Wort davon erfahren. Alles, was die Baumann gesagt hat, ist wahr, und wenn Ihr mir nicht glaubt, dann lebt hier in der Stadt noch Jemand, der es bezeugen kann – die Frau, die damals als Wartefrau bei der Baronin diente....«

»Aber die ist ja todt, denk' ich?« rief Witte rasch.

»Weil ich's der Baumann gesagt habe, hat die's geglaubt. Nein, sie lebt hier in der Stadt; damals zog sie nach Mecklenburg und heirathete einen Schneider, jetzt ist der Mann gestorben und sie mit ihrem Sohne zurückgekommen. Wo sie gerade wohnen, weiß ich nicht, aber sie werden zu finden sein. Und nun steckt die da auch ein, am liebsten zu mir in das nämliche Loch, daß ich doch wenigstens die paar Tage, die ich noch auf der Welt bin, eine Freude habe.«

Witte triumphirte im Stillen über die gelungene List, aber ihn schauderte auch zugleich, wenn er die Megäre ansah, die mit den fliegenden, grauen Haaren und den weit aufgerissenen, ordentlich unheimlich lichten Augen eher einer von Macbeth's Hexen als einem menschlichen Wesen glich. Starr vor Grimm und Entsetzen aber stand ihr das gnädige Fräulein gegenüber – vor Grimm über ihre eigene Machtlosigkeit, vor Entsetzen über die ihr in die Zähne geschleuderte Anklage, der zu begegnen sie im ersten Augenblick weder Worte noch Gedanken fand.

Der Einzige in der That im ganzen Zimmer, der sein kaltes Blut bewahrt zu haben schien, war der Actuar, der an seinem Tische mit ordentlich fliegender Feder stenographisch die Worte nachschrieb, welche über die Lippen des rasenden Weibes sprudelten. Der Anblick gab aber auch das Fräulein von Wendelsheim sich selber wieder, und mit einem höhnischen Blick auf den Schreibenden sagte sie:

»Nun, Frau Heßberger, Sie haben wenigstens den Herren hier den Gefallen gethan und Alles gesagt, was Sie wußten oder zu wissen glaubten, und demnach hat allerdings, wie es scheint, auf dem Schlosse ein Betrug stattgefunden oder finden sollen – ich weiß es nicht; nur daß ich damit nicht in Verbindung stand, hoffe ich zu beweisen. Für jetzt ersuche ich die Herren, mir zu sagen, ob ich zu einem Verhör oder nur dazu vorgefordert gewesen bin, um die Frau da zum Reden zu bringen.«

»Mein gnädiges Fräulein,« sagte der Justizrath trocken, »da noch keine wirkliche Anklage gegen Sie formulirt ist, glaube ich, daß wir Sie heute entlassen können. Die eine Frage beantworten Sie mir nur: Sie haben gehört, was jene, allerdings wenig glaubwürdige Frau über Sie gesagt hat – in wie weit ist das begründet?«

»So weit es mich betrifft, eine faule, erbärmliche Lüge,« sagte die Dame stolz.

»So leugnen Sie jedes Mitwissen an dem Vergehen ab?«

»Jedes.«

»Aber Sie bezweifeln das Vergehen selber nicht?«

»Ich bezweifle es allerdings, weil ich es nicht für möglich halte.«

»Sehr schön. Sie werden Ihre Vorladung erhalten, wenn Sie hier wieder zu erscheinen haben.«

»Und die darf gehen und ich werde eingesperrt?« rief die Heßberger. »Und wissen Sie, was die ihrem Bruder gestohlen hat, seit sie ihm draußen die Wirthschaft führt – jedes Jahr mehr, als ich und mein Mann unser ganzes Leben zusammengebracht haben!«

»Schaffen Sie die Frau wieder in ihre Zelle, Schultze,« sagte der Justizrath zu dem Polizeidiener, der schon in die Thür getreten war, als die Heßberger in ihr erstes Toben ausbrach.

»Und das ist Gerechtigkeit!« hohnlachte das Weib. »Verdreht und gewendet, wie man's gerade braucht, gelogen und betrogen, nur nicht für das vornehme Pack, dem man nicht zu nahe treten darf!«

»Schaffen Sie das Weib hinaus!«

»Komm, Heßberger!« rief der Polizeidiener, sie am Arm ergreifend.

»Faßt mich nicht an!« schrie sie aber auf, indem sie sich wieder von ihm losriß. »Ich gehe schon von selber, mag den Spectakel auch gar nicht länger mit ansehen – pfui!« rief sie, vor dem Justizrath und Witte ausspuckend, und schritt dann mit raschen, zornigen Schritten aus der Thür.

Fräulein von Wendelsheim wartete noch einen Augenblick. Sie horchte nach außen zu, um wahrscheinlich erst die Schustersfrau aus dem Vorsaal zu lassen, ehe sie ihr selber dahin folgte. Wie draußen Alles ruhig war, sagte sie: »Dann werde ich mich jetzt entfernen und das Weitere ruhig abwarten.«

»Verziehen Sie noch einen Augenblick,« sagte der Justizrath, der indessen mit Witte heimlich geflüstert hatte. »Ihr Bruder scheint geisteskrank zu sein, nicht wahr?«

»Er hat wenigstens die letzten Tage viel phantasirt und ist völlig theilnahmlos; aber ich hoffe, daß sich das in der nächsten Zeit geben wird.«

»Dann werden Sie mir erlauben,« sagte der Justizrath, »Sie durch einen von unseren Beamten begleiten zu lassen, dem Sie auf Schloß Wendelsheim, bis die Untersuchung geschlossen ist und die Geschworenen ihren Entscheid abgegeben haben, sämmtliche Schlüssel überliefern, wie er auch die Verwaltung des Gutes bis zu der Zeit unter sich behält.«

»Herr Justizrath!« rief Fräulein von Wendelsheim emporfahrend.

»Mein gnädiges Fräulein,« sagte dieser kalt, »Sie selber stehen unter einer schweren Anklage, und ich wäre vielleicht berechtigt, Sie gar nicht wieder fortzulassen. In der Voraussetzung aber, daß Sie zu jeder, Ihnen bestimmten Zeit vor Gericht erscheinen, will ich davon absehen. Die Verwaltung des Schlosses dagegen wird, entweder bis der alte Baron wieder hergestellt oder der wirkliche Erbe unzweifelhaft festgestellt ist, der von mir mitgegebene Beamte übernehmen. Assessor Schuster wird das besorgen und Actuar Bessel mag ihn begleiten, um gemeinschaftlich Alles, die Wohnungsräume ausgenommen, unter Siegel zu legen.«

»Sie verlangen doch nicht, daß ich unter Polizeibedeckung nach Hause fahren soll?«

»Nein, die beiden Herren werden vor Ihnen her fahren und Sie mit Ihrem Kutscher ihnen folgen. Es versteht sich, daß indessen auf dem Schlosse Alles unverändert im Status quo bleibt, Niemand entlassen, Niemand Fremdes zugemiethet und nichts verkauft oder verborgt wird. Herr Staatsanwalt Witte, Sie thäten mir einen besondern Gefallen, wenn Sie, als Vertreter der Regierung, die Herren heute Abend begleiteten und der Ausführung selber beiwohnten.«

Fräulein von Wendelsheim war todtenblaß geworden; sie wollte sprechen, aber sie konnte nicht. Es wurde hier auch Alles so geschäftsmäßig betrieben – was hätte es ihr geholfen! War es dabei das Bewußtsein ihrer Schuld, das sie mit niederdrückte? Sie wagte aber kein Wort der Widerrede, und nur die Lippen zusammengepreßt, daß sie weiß aussahen, wankte sie aus dem Zimmer und auf den Vorsaal hinaus.

»Wissen Sie, Justizrath, was das Merkwürdigste bei der Geschichte ist,« sagte Witte, der die letzten Minuten im Zimmer auf und ab gegangen war und sich vor innerlichem Vergnügen die Hände gerieben hatte, indem er vor dem Angeredeten stehen blieb – »daß ich eben jenen Schneider Müller und seine Mutter, von der die Heßberger vorhin sprach, gestern Abend zufällig aufgefunden habe, ohne Ahnung natürlich, daß sie dieser Angelegenheit so nahe standen.«

»Aber wie?«

»Rath Frühbach, der langweiligste Mensch seines Jahrhunderts, hat mich aus Verzweiflung in ein fremdes Haus hinaufgejagt – doch die Geschichte erzähle ich Ihnen ein andermal – kurz, der Müller arbeitet jetzt für mich.«

»Und wissen Sie bestimmt, daß es der rechte ist? Der Name Müller.«

»Gar kein Zweifel, und jetzt wollen wir der Sache schon auf den Grund kommen, verlassen Sie sich auf mich – aber nun bitte, eilen Sie auch unsere Abfahrt, denn dem gnädigen Fräulein wird sonst die Zeit zu lang.«

Der Justizrath war ein Mann von wenig Worten, aber ziemlich rasch im Handeln. In sehr kurzer Zeit war Alles geordnet, und hinter dem gemietheten Fiaker fuhr, sehr zum Erstaunen des herrschaftlichen Kutschers, die Carrosse des Fräuleins von Wendelsheim her, das sich, wie sie nur das Schloß erreichten, augenblicklich auf ihr Zimmer verfügte und sich dort einriegeln wollte. Die Erlaubniß wurde ihr aber nicht gleich. Vor allen Dingen versiegelte Assessor Schuster, der nichts halb that, sämmtliche Papiere der Gnädigen selber, so wüthend und aufgebracht sie sich darüber auch zeigte. Er hatte dazu allerdings keinen besondern Auftrag, that es aber auf Witte's Rath, weil sie nicht wissen konnten, wie sie vielleicht einmal später gebraucht werden und von Werth sein könnten. Dann mußte sie ihm sämmtliche Schlüssel übergeben. Silber und Wäsche, wie alles Derartige, so weit es nicht zum täglichen Bedarf diente, wurde versiegelt, über das Andere ein flüchtiges Inventar aufgenommen, und Nachts um zwölf Uhr erst verließ Witte das Schloß wieder, um nach Hause zurückzukehren.

Der alte Baron wurde gar nicht belästigt; er erfuhr auch nichts oder sah nichts von der Veränderung im Schlosse. Oben im Zimmer saß er an seinem Tisch, auf den ihm der Diener, als es dunkel wurde, die Lampe stellte; er hatte sich aus seiner Bibliothek ein paar Bücher genommen und beschäftigte sich jetzt damit, einzelne Seiten aus den Bänden zu reißen und die Blätter zu verschiedenen komischen Figuren mit einer Schere auszuschneiden. Er besaß darin wirklich eine Gewandtheit, und es war auch in der That das Einzige, was er in seinem ganzen Leben gelernt hatte.

7.
Nach allen Seiten.

Am nächsten Morgen war Witte in voller Thätigkeit; denn jetzt wußte er sich der Erreichung seines Zieles gewiß, und es galt nur noch, die verschiedenen Fäden fest in die Hand zu nehmen. Vor allen Dingen ging er zum Untersuchungsrichter, um diesem mitzutheilen, daß er für jene frühere Wartefrau völlige Straflosigkeit vom Justiz-Ministerium erbitten wolle, vorausgesetzt nämlich, daß sie Alles, was sie über die verwickelte Sache wußte, aufrichtig gestand. Er glaubte auch, er würde den Herrn noch im Bette finden und herausklopfen müssen; der war aber schon auf und fertig angezogen und kam ihm gleich mit den Worten entgegen:

»Wissen Sie das Neueste, Staatsanwalt? Eben bekomme ich die Meldung, daß sich die Heßberger diese Nacht in ihrem Gefängnisse erdrosselt hat – eine verfluchte Geschichte!«

»Bah,« sagte Witte, den die Todesnachricht ungemein ruhig ließ, »die kann jetzt abkommen, denn was wir brauchen, haben wir von ihr; ja, im Gegentheil bekommt das von ihr abgelegte Geständniß durch ihren freiwilligen Tod nur um so größeres Gewicht.«

»Und was führt Sie so früh zu mir?«

Witte theilte ihm seine Absicht mit, und der Justizrath erklärte ebenfalls, daß er keinen Augenblick zweifle, die Bitte werde zugestanden, noch dazu, da jene Person, während sie im Stande war ein wichtiges Zeugniß abzulegen, jedenfalls eine sehr untergeordnete Rolle bei dem Betrug gespielt hatte.

Noch während sie zusammen sprachen, kam ein reitender Bote von Schloß Wendelsheim mit einer Anfrage an den Justizrath. Fräulein von Wendelsheim bestand nämlich darauf, einen Besuch in der Stadt zu machen, und fragte an, ob der Justizrath ihr die Erlaubniß dazu geben wolle.

Der Justizrath schrieb einfach unter den Brief selber: »Fräulein von Wendelsheim hat Hausarrest!« und sandte den Boten wieder damit zum Schlosse.

Witte kehrte langsam nach Hause zurück; in der Sache war allerdings nichts zu thun, bis die Rückantwort vom Justiz-Ministerium eintraf; es schien aber dabei kaum möglich, daß die wirkliche Thatsache, von der schon so viele Leute unterrichtet waren, länger ein Geheimniß bleiben konnte. Ein unbehagliches Gefühl überkam ihn dabei, wenn er an den bisherigen Baron, den Lieutenant von Wendelsheim, dachte, der, als eigentliche Hauptperson des Ganzen, noch wahrscheinlich keine Ahnung von dem über ihn hereinbrechenden Unheil hatte. Einmal faßte er wohl den Entschluß, ihn rufen zu lassen und ihm Alles mitzutheilen; aber wer von uns macht sich gern muthwillig zum Träger einer bösen oder schmerzlichen Nachricht? Und Witte besaß zu viel Zartgefühl, noch aus manchem andern Grunde, um eine solche Enthüllung freiwillig auf sich zu nehmen. Er that deshalb auch, was man gewöhnlich in einem solchen Fall thut: er verschob die Ausführung seines Vorhabens auf den Nachmittag oder vielleicht auf morgen früh, wie es sich gerade passen würde, denn zu versäumen war ja doch nichts dabei.

Zu Hause fand er auch so viel zu thun, daß er kaum zur Besinnung kam, und sein Mittagessen beseitigte er rasch, denn seine Frau sprach bei Tische kein Wort; sie spielte noch die Beleidigte des neulich erlassenen Verbots der Adeligen wegen, und selbst Ottilie war kleinlaut und hatte rothe Ränder um die Augen. Witte aber that, als merke er das gar nicht, verzehrte seine Mahlzeit, trank, wie gewöhnlich, seine Flasche Wein dazu und ging dann wieder in sein Arbeitszimmer hinüber.

Die Schreiber waren noch nicht von ihrer Eßstunde zurückgekehrt, als es plötzlich anklopfte und auf sein »Herein!« Lieutenant von Wendelsheim, aber in Civil – denn er hatte seinen Abschied schon erhalten – zu ihm in's Zimmer trat.

»Stör' ich Sie, Herr Staatsanwalt?«

»Mich? Gewiß nicht,« sagte der alte Herr, aber fast erschrocken, denn Bruno von Wendelsheim sah so bleich aus wie die Wand. »Bitte, treten Sie näher, lieber Baron – hier herein, wenn Sie so gut sein wollen; meine Leute kommen bald zurück und haben da ihre Plätze. Mit was kann ich Ihnen dienen?«

»Herr Staatsanwalt,« sagte Bruno, der der Einladung Folge leistete, »ich kenne Sie als einen Ehrenmann....«

»Lieber Herr Baron, aber wollen Sie denn nicht Platz nehmen?«

Wendelsheim wehrte mit einer dankenden Bewegung der Hand ab und fuhr fort: »Ich komme deshalb, um eine Frage an Sie zu richten, Mann zu Mann.«

»Wenn ich im Stande bin, sie Ihnen zu beantworten,« sagte Witte und wünschte sich in dem Augenblick zehn oder zwanzig Meilen fort von da.

»Niemand weiter in der ganzen Stadt so gut als Sie,« sagte der junge Mann, »denn wie mir versichert ist, haben Sie die Leitung der ganzen Affaire in der Hand. So sagen Sie mir denn: in wie weit ist das Gerücht begründet, daß bei meiner Geburt ein Kindertausch mit der Frau eines hiesigen Handwerkers stattgefunden hat und ich demnach nicht der leibliche Sohn des alten Baron von Wendelsheim, sondern der des Schlossers Baumann wäre?«

»Alle Teufel,« rief Witte überrascht, »und wo haben Sie das schon gehört?«

»Beantworten Sie mir erst die Frage, Herr Staatsanwalt.«

»Wenn Sie mich drängen,« sagte Witte achselzuckend, »so muß ich Ihnen allerdings, was Sie mich eben gefragt haben, bestätigen. Aber woher Sie....«

»Und ich bin nicht das, als was ich erzogen worden, der Erbe des Hauses von Wendelsheim, sondern eines Schlossers Sohn?«

»Mein lieber, junger Freund,« sagte Witte verlegen, denn es that ihm weh, das dem armen jungen Manne so mit nackten dürren Worten zu bestätigen, »vor allen Dingen ist ja noch kein Urtheilsspruch in der Sache gefällt, und nur der allerdings gegründete Verdacht....«

»Aber ich frage Sie ja nicht nach einem Urtheilsspruch,« sagte Bruno bewegt; »Ihre Meinung, nach eigener, fester Ueberzeugung, will ich nur wissen, und glauben Sie um Gottes willen nicht,« setzte er rasch hinzu, »daß Sie mich dadurch etwa schlimmer kränken, als wenn Sie mir die Wahrheit vorenthalten. Muß ich es denn nicht wissen, wenn etwas Derartiges im Werke ist, und denken Sie etwa, daß fremde Menschen zartfühlender in ihrer Enthüllung sein werden – oder gewesen sind?«

»Sie haben recht,« sagte Witte entschlossen, »und nun bitte, erzählen Sie mir, was Sie gehört haben, und ich gebe Ihnen mein Wort, daß Sie dann die reine Wahrheit von mir hören sollen.«

Bruno erzählte jetzt, aber Alles so ausführlich, daß Witte eigentlich gar nichts mehr hinzuzusetzen fand. Er wußte in der That Alles, und der Staatsanwalt konnte ihm nur bestätigen, daß die Sache allerdings bis jetzt so stehe, ein wirklicher Entscheid aber erst durch das Geschworenengericht stattfinden würde, dessen nächste Sitzung in etwa acht oder neun Tagen fiel.

»Aber nun,« fuhr er fort, »bitte ich Sie auch dringend, mir zu sagen, durch wen Sie das Alles erfahren haben, denn ich gebe Ihnen die Versicherung, daß ich es nicht begreife.«

»Ich begreife nur nicht, daß ich es nicht schon früher gehört habe,« sagte Bruno, »denn meine Quelle ist wahrlich nicht geheimnißvoller Art. Ich erfuhr es heute Morgen durch Rath Frühbach.«

»Durch Rath Frühbach?« rief Witte, den Kopf schüttelnd. »Dann brauchen wir auch allerdings kein Geheimniß mehr daraus zu machen, denn wenn der Herr es weiß, ist es schlimmer, als ob es in der Zeitung gestanden hätte. Aber lieber junger Freund,« fuhr er fort, als er sah, daß Bruno zum Fenster getreten war und die glühend heiße Stirn gegen die Scheibe preßte, »nehmen Sie sich um Gottes willen die Sache nicht so zu Herzen. Erstlich ist das Ganze noch gar nicht entschieden. Eine feste Behauptung: es sei so oder so, steht noch Keinem von uns zu, und im allerschlimmsten Falle – ei, zum Wetter auch, im Unglück bewährt sich erst der Mann, im Glück können wir Alle oben schwimmen, und Sie sind jung und kräftig und haben die Welt noch vor sich – sehen mir auch wahrhaftig nicht aus, als ob Sie so leicht verzagen würden.«

Bruno schwieg; er stand am Fenster und sah über die Gärten und Hintergebäude der Nachbarhäuser hinaus, aber in Alledem kein festes, bestimmtes Bild. Das Ganze flimmerte und flatterte ihm vor den Augen. All' die Luftschlösser, die er sich seit seiner Jugend gebaut und in bunten Farben aufgethürmt, stürzten polternd zusammen, und Alles, was ihm im dunkeln Hintergrund blieb und sich zu fester Form gestaltete, war – eine Schlosserwerkstatt und das von den Bälgen aufgewühlte Feuer. Er hörte auch nicht, was der Staatsanwalt sprach – wenigstens nur mit halbem Ohr –, in seinem Innern trug er eine vergeudete Jugend zu Grabe, und schwarz und düster nur lag die Zukunft vor ihm da.

Rebekka – sein schöner Traum – er war stolz darauf gewesen, ihretwegen allen Vorurtheilen Trotz zu bieten und sie zu sich emporzuheben – und wie anders stand jetzt der arme Schlosserssohn dem reichen Juden, dem er noch dazu ohne Aussicht auf Hülfe bös verschuldet war, gegenüber! Es war doch ein schwerer Schlag, so mit einem Male Alles zu verlieren, was man bis dahin fest und sicher sein geglaubt – Familie, Namen, Eltern, Vermögen, Braut, Heimath, und dafür nichts zu bekommen, nichts, als die Berechtigung, in eine Familie einzutreten, die ihn als Säugling vor die Thür gesetzt.

Witte war in peinlicher Verlegenheit. Der arme junge Mann, der so unverschuldet das Alles mußte über sich ergehen lassen, that ihm wirklich leid, aber er fühlte auch, daß er ihn gerade dadurch, wenn er ihm Mitleid zeige, am tiefsten verwunden könne. Und Trost einsprechen? Da fiel ihm selber nichts ein, was er ihm hätte sagen können.

Draußen kamen die Schreiber vom Essen zurück und nahmen ihre Plätze wieder ein. Das Geräusch weckte Bruno aus seinen Träumen; er sah sich scheu um und sagte endlich:

»Entschuldigen Sie mein wunderliches Wesen, Herr Staatsanwalt, ich fühle, ich werde Ihnen lästig; aber es ist noch Alles so neu, so fremd für mich, ich muß mich erst hinein gewöhnen, wie in diese neuen Kleider, die ich trage.«

»Lästig? Aber lieber, bester junger Freund, glauben Sie das um Gottes willen nicht!«

»Und was rathen Sie mir, jetzt zu thun? Was kann ich thun?«

»Vor der Hand nichts auf der Welt, als die Entscheidung ruhig abwarten. Weiß übrigens Rath Frühbach um die Sache, so wird sie auch heute Nachmittag in allen Kaffeegesellschaften besprochen, und wenn Sie dann meinem Rath folgen wollen, so machen Sie indessen eine kleine Reise nach der Residenz oder in die Berge, oder wohin Sie wollen. Lassen Sie mich nur wissen, wo Sie sind, damit ich Ihnen rechtzeitig schreiben kann, wann Sie hier eintreffen müssen, um vielleicht auch Ihre eigenen Rechte zu wahren. Niemand kann vorher sagen, wie sich Alles gestaltet.«

»Ich glaube, es ist das Beste, was ich thun kann,« sagte Bruno nach kurzem Zögern; »ich wäre jetzt auch nicht im Stande, Jemanden zu sehen oder zu sprechen. Ich muß erst selber Zeit haben, mich zu sammeln und das Weitere zu überlegen.«

»Aber Sie vergessen nicht, mir zu schreiben?«

»Sie sollen augenblicklich Nachricht erhalten, sobald ich nur erst selber weiß, wo ich mich die Zeit über aufhalten werde. Wahrscheinlich auf dem Wald; ich kenne dort oben einen alten Förster und gehe vielleicht mit ihm auf die Jagd. Auch die Einsamkeit wird mir wohl thun, ich bedarf jetzt derselben.«

Witte drückte ihm herzlich die Hand.

»Und nun leben Sie wohl bis dahin. Wenn Sie mich wiedersehen, hoffe ich, daß ich gefaßter und vernünftiger sein werde, als heute. Es ist mir nur noch Alles zu fremd, zu neu.« – Er erwiederte den Druck der Hand und verließ das Zimmer, wollte auch augenblicklich die Treppe hinabeilen, als er der Frau Staatsanwalt in den Weg lief, die gerade aus der Küche kam.

»Ach, mein lieber Herr Baron,« sagte sie freundlich, »Sie kommen wohl gerade von meinem Manne? Geschäftssachen – immer Geschäftssachen. Ja, wenn man bald ein so großes Vermögen übernimmt, giebt es allerdings viel zu thun. Aber wollen Sie nicht einen Augenblick näher treten?«

»Sie sind unendlich gütig, gnädige Frau,« stammelte Bruno verlegen; »aber – ich bin gerade in großer Eile – die Post...«

»Ja, dann freilich will ich Sie nicht aufhalten.«

»Bitte, empfehlen Sie mich Ihrer Fräulein Tochter!«

Die Frau neigte huldreich das Haupt, und Bruno war froh, als er sich gleich darauf wieder auf offener Straße und in frischer Luft fand.

Witte hatte selber keine Ruhe; es gab noch so Manches für ihn zu besorgen, daß es ihn nicht in seinen vier Wänden ließ. Durch die rasche Verbreitung des Gerüchts, deren Ursprung er sich immer noch nicht zu erklären wußte, war er auch in seinen Schritten mit der Schneiderswittwe gedrängt, damit sie nicht erst von anderer Seite aufmerksam gemacht und eingeschüchtert wurde. Er beschloß deshalb, augenblicklich zu ihr zu gehen und ihr Alles zu sagen; denn daß das Justiz-Ministerium eine zustimmende Antwort geben würde, verstand sich eigentlich von selbst.

Im Anfang fand er die Frau allerdings scheu und zurückhaltend. Sie schützte Gedächtnißschwäche vor; die Sache sei so lange her und sie habe in der Zeit so viel durchgemacht, daß sie sich auf Einzelheiten aus jenen Jahren gar nicht mehr erinnern könne. Witte sagte ihr darauf, es würde auch kein Mensch in sie dringen, aber sie möge sich in der Zeit besinnen. Komme das Schreiben zurück, das sie jeder Strafe oder Verantwortung über Vergangenes entbinde, dann versprach er ihr nur, falls sie getreu und wahr Alles berichten wolle, was sie noch wisse, eine namhafte Summe, mit der ihr Sohn hier, oder wo er wolle, ein Geschäft eröffnen könne. Außerdem dürfe sie sich versichert halten, daß er zu ihr stehen werde und sie seiner Protection gewiß sei. Komme ihre Freisprechung von jeder Verantwortung aber nicht, dann brauche sie ja kein Wort zu sagen und nur dabei zu bleiben, daß sie sich auf nichts mehr besinne, und es könne ihr eben so wenig etwas geschehen.

Nachdem er die Frau solcher Art, so gut es gehen wollte, beruhigt und auch ihren Sohn überzeugt hatte, daß er wirklich keinen Hinterhalt habe, sondern es ehrlich meine, schlenderte er, in Gedanken die Vorfälle der letzten Tage noch einmal recapitulirend, langsam um die Promenade herum; er hatte für den Moment kein bestimmtes Ziel und wollte nur allein mit sich selber sein.

»Ah, mein lieber Staatsanwalt,« sagte da plötzlich die bekannte Stimme des überall und nirgend herumfahrenden Frühbach, »so pensiv? Wissen Sie schon die Neuigkeit?«

»Ach, mein lieber Rath!« sagte Witte, ordentlich emporfahrend, denn er hatte sich eben in Gedanken ganz allein mit dieser nämlichen Persönlichkeit beschäftigt. »Wo kommen Sie auf einmal her?«

»Lieber Gott,« sagte der Rath, »ich bin ja das geplagteste Menschenkind auf der Welt, denn ich muß lediglich meiner Verdauung wegen den halben Tag auf den Füßen sein und spazieren laufen! Ihr gesunden Menschen wißt gar nicht, wie gut Ihr daran seid – aber haben Sie schon die Neuigkeit gehört?«

»Welche Neuigkeit, lieber Rath?«

»Nun, daß der Baron von Wendelsheim gar nicht der Baron von Wendelsheim ist, sondern der Sohn vom Schlosser Baumann, und umgekehrt; die ganze Stadt ist ja voll davon.«

»Die ganze Stadt?« rief Witte wirklich in Erstaunen. »Aber durch wen, um des Himmels willen, kann nur die ganze Stadt das erfahren haben?«

»Durch mich, Freundchen,« lächelte der Rath, indem er den Staatsanwalt scherzhaft mit dem einen Finger auf die Rippen stieß, »durch mich; ich bringe Alles heraus, sage ich Ihnen, Alles, die Polizei mag es geheim halten, wie sie will – ich hab's.«

»Das ist in der That merkwürdig,« sagte Witte; »aber ich begreife nur nicht, wie? denn so viel ich davon gehört habe, ist die Sache noch nicht einmal bei den Gerichten genau bekannt.«

»Sehen Sie wohl, und ich weiß sie doch,« schmunzelte Frühbach.

»Und können Sie mir Ihre Quelle nicht mittheilen?« fragte Witte. »Ich versichere Ihnen, ich gäbe manchmal etwas darum, so rasch berichtet zu sein, und auf ein kleines Opfer sollte es mir dabei nicht ankommen.«

»Ich werde Ihnen den Mann recommandiren,« sagte Rath Frühbach gutmüthig – »ein paar Cigarren manchmal, ein Glas Bier oder Wein, wie es trifft, und ein bischen Freundlichkeit, das ist die Hauptsache. Man muß mit den Leuten thun, als wenn man ihres Gleichen wäre; das schmeichelt ihnen, und ich sage Ihnen, sie sind dann um den Finger zu wickeln.«

»Und wer ist der Biedermann, der Ihnen so vortreffliche Dienste leistet?«

»Mein alter Polizeidiener,« lachte Frühbach, »ich habe Ihnen ja schon von ihm erzählt, der Schultze; Christian heißt er mit Vornamen – ein famoser Kerl, und so gefällig. Die Polizei muß man sich überdies zu Freunden halten.«

»Also Christian Schultze? Danke Ihnen,« sagte Witte, »den Namen werde ich mir merken. Es ist allerdings sehr angenehm, Jemanden auf der Polizei zu haben, der an den Thüren horcht und die Sachen dann weiter erzählt.«

»Und wie sollte man's anders erzählen?« lächelte Frühbach. »Die Herren vom Gericht selber erzählen nichts, denn die haben – ich bitte tausendmal um Entschuldigung!« unterbrach er sich selber, denn in dem Augenblick klang es gerade, als ob ein Stück Baumwollenzeug von einander gerissen würde, und Rath Frühbach fand sich mit seinem breiten linken Fuße voll und schwer auf der Schleppe einer fremden Dame, die würdig vorüberrauschen wollte. Jetzt ging es nicht mehr – der ganze hintere Theil des Kleides hing herunter, und Frühbach, in aller Verlegenheit, rief: »Ach Gott, das thut mir doch unendlich leid! Aber bitte, warten Sie einen Augenblick, meine Frau steckt mir doch immer Stecknadeln in den Rock – wenn – einmal – unterwegs – wo sind sie denn nur....«

Die Dame schleuderte ihm einen Blick zu, der ihn rettungslos zu Boden geschmettert haben müßte, wenn er die Gewalt besessen hätte, die sie hineinlegte; dann wandte sie sich kurz ab und drehte um, wahrscheinlich um irgend ein bekanntes Haus aufzusuchen und den Schaden wieder auszubessern.

»Das ist eine verzweifelte Geschichte mit den jetzigen Damenmoden, lieber Staatsanwalt,« sagte Frühbach, als er, noch einen verlegenen Blick hinter seinem Opfer her werfend, neben Witte hin und jetzt zwar in die Stadt hinein schritt; »ich sage Ihnen, man weiß gar nicht mehr, wo man hintreten soll, und eine Treppe hinter einer Dame hinunter zu gehen, ist, wenn man in Rufsnähe bleiben und sie nicht aus dem Gesicht verlieren will, rein unmöglich.«

»Ja,« lachte Witte, der sich über den kleinen Zwischenfall sehr amüsirt hatte, »aber machen Sie einmal etwas dagegen; da hilft alles Reden nicht. Die Mode sieht sehr elegant an den Stellen aus, worauf sie berechnet ist: im Salon oder in der eigenen Equipage; auf der Straße aber fegen die feinsten Damen ebenso wohl allen Staub wie jeden Schmutz und Unrath zusammen, der in ihrem Wege liegt. Und nicht einmal die feinsten,« fuhr er fort; »sehen Sie die Dame da vor uns. Mit einer schweren, spitzenbesetzten Sammetmantille trägt sie, wie es scheint, einen Marktkorb unter derselben, und wie sieht sie dabei um die Füße herum aus – wie schlumpig.«

»Alle Teufel,« sagte der Rath, der sich seine Brille etwas in die Höhe geschoben hatte, um die bezeichnete Dame besser betrachten zu können, »das ist ja meine Frau!«

Der Staatsanwalt biß sich auf die Lippe; aber das Unglück war geschehen, und wenn man etwas Derartiges verbessern will, macht man es eher noch schlimmer. Er opferte deshalb lieber seine eigene Gattin und sagte: »Sie machen es alle so, die meinige ebenfalls.« – Es war ein großes Glück für den Staatsanwalt, daß sich seine Frau nicht in Hörweite befand.

»Aber, Frauchen, wo kommst Du denn her?« sagte der Rath zärtlich, als sie die Dame überholten, und Witte hielt den Moment für günstig, sich seitab zu drücken. Frühbach ließ aber seinen Arm nicht los.

»Vom Markt, Männi,« erwiederte die Dame in der Sammetmantille. »Und wohin willst Du? Kommst Du nicht mit nach Hause?«

»Ich wollte nur einmal zum Major hinausgehen und mit ihm über die bewußte Sache sprechen.«

»Ah, Herr Staatsanwalt,« sagte die Dame, eine Verbeugung nach einer ganz verkehrten Seite hin machend, »sehr angenehm!« Sie suchte dabei den Marktkorb zu verheimlichen, aber es ging nicht. »Hat Ihnen Männi schon erzählt?«

»Ja,« nickte Witte; »ich war auf's äußerste erstaunt.«

»Und Sie wußten von gar nichts? Merkwürdig! Weiß es denn Ihre Frau Gemahlin schon? Ich werde gleich nach Tische einmal zu ihr gehen. Aber mit dem Essen könnte es heute spät werden, Männi – lieber Gott, man trifft unterwegs so viele Bekannte; aber ich biege hier ab.« Und sich wieder wenigstens drei Strich aus der Linie verbeugend, nickte sie ihrem Manne zärtlich zu und – fegte weiter.

Witte hatte sich erst von dem Rath losmachen wollen; da er aber den Major als sein Ziel nannte, besann er sich eines Besseren. Er hatte doch für den Augenblick nichts Wichtiges vor und wollte sich das Vergnügen nicht entgehen lassen, Zeuge von der Ueberraschung des Majors zu sein. Frühbach sollte wenigstens den Genuß nicht allein haben. Mit der Voraussicht ließ er sich selber unterwegs Mittheilungen aus der Schweriner Chronik machen.

Im Hause des Majors sah es übrigens, als sie dasselbe erreichten, wahrhaft trostlos aus. Der alte Major selber saß in seinem Lehnstuhl, das eine Bein lang ausgestreckt und dick mit Tüchern verbunden und in eine wollene Decke eingeschnürt – Frau von Bleßheim lag, ihren Kopf unter Kreuzband, mit geschlossenen Augen auf dem Sopha und tastete nur manchmal nach einer riesigen Schale mit Kamillenthee, die vor ihr auf einem zum Sopha gerückten Stuhl stand und mit ihrem unangenehmen Duft das ganze Zimmer erfüllte.

Aber auch die Liese hatte wieder Zahnschmerzen und winselte und erklärte, sie hielt's nun nimmer aus, und der Christian kam gerade mit einer großen Flasche Medicin, die er aus der Apotheke geholt, in's Zimmer gekrochen und kündete dem Major an, er müsse sich in's Bett legen, denn er hätte hinten am Kreuz eine große Beule, und die würde jetzt wohl aufgehen oder der ganze Knochen mit herauskommen.

»Gott soll mich bewahren, Major,« rief der Staatsanwalt, als er einen Blick in der Krankenstube umher geworfen hatte, »in Ihrem Lazareth sieht's ja schlimmer aus, als je! Wie, um des Himmels willen, halten Sie's nur aus?«

»Ich halt's auch nicht mehr aus,« stöhnte der Major, »jetzt ist's vorbei und am Ende. Hier am Bein kommt's mir immer weiter herauf, und so wie's in den Leib tritt, dann thut der Mensch noch ein paar Schnapper, und nachher ist Schicht – dann geht der lange Urlaub an.«

»Aber Sie sehen wohl aus – nicht wahr, Rath?«

»Vortrefflich,« bestätigte dieser – »ordentlich rothe Backen.«

»O Du mein Jesus,« stöhnte der Kranke, »das auch noch – ich kann kein Glied mehr rühren! Der Lump, der Christian, jammert in Einem fort über sein Kreuz mit einer Beule dran – wollte Gott, ich hätte nur eine Beule, damit das Elend da einmal an die Luft käme; aber so sitzt's innerlich und frißt sich immer weiter hinein.«

»Versündigen Sie sich nicht,« sagte Christian feierlich, »so 'ne Beule, wie ich habe, soll sich wahrhaftig kein Christenmensch wünschen – ich wünschte sie wenigstens meinem ärgsten Feinde nicht – und das Stechen, o Du mein blutiger Heiland, ich wollte, ich wäre todt!«

»Von mir red't Keiner was,« winselte die Liese, »und wenn's mir auch die Kinnbacken aus einander reißt. Ja wohl, das ist ja nur die alte Liese, und so lange die nur herumkriecht und ihre Arbeit thut, mag's sie in den Zähnen reißen, so viel wie's will – wer schiert sich drum?« – Und damit ging sie hinaus und schlug die Thür hinter sich zu, daß die Fenster klirrten.

Aber den Rath Frühbach litt's nicht länger; das Geheimniß drückte ihm fast die Seele ab.

»Haben Sie's schon gehört, Major?« rief er, »die Wendelsheim'sche Geschichte ist zum Ausbruch gekommen?«

»Was für eine Wendelsheim'sche Geschichte?« stöhnte dieser. »Ich weiß von nichts. Was soll ich hier hören? Mir erzählt kein Deubel 'was.«

»Aber deshalb sind wir Beide ja gerade zu Ihnen herausgekommen!« rief der Rath.

»Wegen der Wendelsheim'schen Geschichte? Hat sich das alte – o mein Bein! – hat sich das alte Frauenzimmer noch nicht beruhigt? Daß sie der Henker hole! Und auf der Fahrt damals, Rath, habe ich mir meinen letzten Rest geholt. Die Erkältung ist mir in dasselbe Bein geschlagen, mit dem ich damals an dem offenen Leder saß – und Ihr verfluchter Aepfelwein!« Er biß die Zähne zusammen und schlug mit der Faust auf die eine Lehne seines Stuhles.

»Ob sich die noch nicht beruhigt hat?« lachte der Rath. »Na, ich denke, die wird beruhigt werden. Hatte ich denn nicht etwa Recht und ist es jetzt anders gekommen, als ich es mir die ganze Zeit gedacht?«

»Hol' Sie der Teufel, Rath!« rief der Major, vor innerlichem Schmerz die Zähne zusammenbeißend und ein jämmerliches Gesicht ziehend. »Ich liege hier so schon auf der Folter, und Sie kommen nun auch noch, um mich zu langweilen. Ich verstehe kein Wort von Allem, was Sie sagen.«

»Sie verstehen nicht, was ich sage? Die Wendelsheim'sche Geschichte ist zum Ausbruch gekommen, sag' ich, der Kindertausch constatirt und festgestellt. Das Fräulein von Wendelsheim steckt mit drin und war gestern schon deshalb im Verhör, und die Frau Müller ebenfalls. Polizei auf dem Schlosse draußen, bis der richtige Erbe ermittelt ist – der Lieutenant von Wendelsheim abgesetzt – die ganze Stadt in Aufruhr...«

»Hurrah!« schrie plötzlich der Major, von seinem Stuhl emporspringend und Gicht, Umschläge, Beine, Rücken, Kreuz und wie die Schlachtfelder seiner verschiedenen Krankheiten alle hießen, ganz vergessend, »hurrah, hurrah, hurrah hoch!«

»Und der Baron von Wendelsheim ist verrückt geworden,« sagte der Rath.

»Und noch einmal hurrah!« schrie der Major, daß Frau von Bleßheim von ihrem Sopha emporfuhr und die Liese den verbundenen Kopf erschreckt wieder in die Thür hereinsteckte und rief: »Na um des Erlösers willen, was ist denn nu los?«

»Liese,« rief der Major, der einen allerdings nicht recht glückenden Versuch machte, auf dem einen Bein zu stehen und das andere, kranke, emporzuheben, »kommen Sie 'mal herein.«

»Was soll ich denn?«

»Was hab' ich Ihr versprochen, wenn die Wendelsheim'sche Lumperei an den Tag kommt und die ihr Recht kriegen, denen es gebührt?«

»Fünf Thaler, Herr Major; aber die stehen im Schornstein,« knurrte die alte Magd. »Wenn ich das Alles kriegen sollte, was Sie mir schon versprochen haben!«

»Hier sind sie, Liese,« rief der Major und schleppte sein linkes Bein dem Tische zu, in dessen Schieblade er seine Brieftasche liegen hatte; »da – da sind die fünf Thaler, und noch einmal hurrah!«

»Und ich kriege wieder gar nichts!« ächzte Christian.

»Ihr sollt auch einen haben, alter Schwede – damit geht in die Apotheke und laßt Euch Euer erbärmliches Kreuz einreiben. Und hier, reißt mir einmal den alten wollenen Fetzen herunter und gebt mir die Tuchstiefel her, und meinen Rock, Liese, und die Mütze.«

»Aber wohin willst Du denn nur, um alle Heiligen,« wimmerte Frau von Bleßheim. »Was hast Du nur vor?«

»Auf's Amt, natürlich,« rief der Major, »die Erbschaft augenblicklich mit Beschlag belegen! Witte ist ja deshalb nur herausgekommen. Nicht wahr, Staatsanwalt, Sie gehen mit?«

»Wenn Sie es wünschen, warum nicht?« erwiederte dieser, der sich im Stillen nicht wenig über den sehr nutzlosen Jubel des Majors gefreut hatte. »Aber ich glaube, Sie können sich den Weg sparen.«

»Nein,« sagte der Major entschieden, indem er sich wieder auf seinen Stuhl setzte und die Decke abzuschälen anfing – »muß selber dabei sein – halte ich für meine Pflicht, so lange ich nur noch kriechen kann.«

»Aber was wollen Sie oben?«

»Sie haben es ja eben gehört. Protest einlegen, daß die Erbschaft nicht an die Wendelsheim'sche Familie ausgezahlt wird, nicht einen Groschen sollen sie jetzt kriegen, nicht einen rothen Heller!«

»Aber bester Major, wie wollen Sie das hindern?«

»Wie ich das hindern will? Lautet die Erbschafts-Clausel nicht, daß nur in dem Fall männlicher Nachkommenschaft – ehelicher, versteht sich – das Vermögen an diese Familie ausgezahlt werden soll? Wenn aber jetzt bewiesen wird, daß der Sohn gar nicht der Sohn des Barons ist – und habe ich es Ihnen nicht immer und immer gesagt, Staatsanwalt? – wenn ein Kindertausch stattgefunden hat, an und für sich schon ein Verbrechen, so ist die Gesellschaft futsch! Meinen Stiefel, Christian!«

»Ja, lieber Major,« sagte der Staatsanwalt, »da das vertauschte Kind aber ebenfalls ein Sohn ist, so geht doch sicherlich die Erbschaft auf diesen über.«

»Ein Sohn?« schrie der Major und blieb vor Schrecken halb in seinem Stiefel stecken.

»Aber das ist ja gar nicht möglich,« rief Frühbach, »die Frau Müller hat ja nur eine Tochter!«

»Die Frau Müller,« sagte der Staatsanwalt, »hat mit der Sache gar nichts zu thun; sie ist vollkommen unbetheiligt dabei und jene Frau Müller eine ganz andere. Ihr Polizeidiener hat da nicht richtig aufgepaßt. Die Heßberger hat die beiden Söhne, den der Schlossersfrau Baumann und den der Baronin, ausgetauscht und den Baron glauben machen, es sei ein Mädchen gewesen, um den Lohn zu bekommen. Das ist die ganze Geschichte.«

»Aber ein Schlosserssohn,« sagte Rath Frühbach ganz verwirrt, »kann unmöglich Baron werden und eine halbe Million erben!«

»Und warum nicht? Eben so gut, wie schon mancher Baron Schlosser geworden ist; gehen Sie nur einmal hinüber nach Amerika.«

»O Gott, mein Bein!« stöhnte der Major und sank mit dem halb angezogenen Stiefel wieder in seinen Stuhl zurück. »Christian, Esel, so zieht mir doch den verdammten Stiefel ab; Ihr seht ja, daß ich es vor Schmerzen kaum aushalten kann – ah, wie das brennt!«

»Aber ich begreife gar nicht,« bemerkte Rath Frühbach, der Witte verwundert ansah – »ich glaubte, Sie wüßten noch gar nichts von der ganzen Sache, und jetzt...«

»Weiß ich mehr davon, als Ihr Christian Schultze, wie?« lachte Witte. »Ja, lieber Major, beruhigen Sie sich. Allerdings hatten Sie mit Ihrem Verdacht, daß in der Familie Wendelsheim falsches Spiel getrieben wäre, vollkommen recht; der einzige Fehler war nur, daß dieser Verdacht – und sehr natürlicher Weise – nach einem ausgetauschten Mädchen suchte. Sie wissen ja, wie wir damals selbst bei Baumanns nachgeforscht haben, aber wer dachte an so etwas?«

»O, mein Bein!« stöhnte der Major; »Christian, das zieht hier – wickelt mir doch die Decke um. Liese, die fünf Thaler hat Sie auf der Straße gefunden – o Gott, die Schmerzen!«

Frau von Bleßheim lag schon wieder ausgestreckt auf dem Sopha, und nur die Liese schien ihre Zahnschmerzen vergessen oder wenigstens für den Augenblick bei Seite geschoben zu haben, denn sie betrachtete sich immer verstohlen die fünf Thaler, die wahrscheinlich nicht so häufig in diesem Hause des Jammers abfallen mochten.

Witte hatte aber jetzt seinen Zweck erreicht, und der Rath Frühbach saß ebenfalls wie auf Kohlen, da er sich von seiner Neuigkeit einen ganz andern Erfolg versprochen. Ehe er sich aber nur so weit entschließen konnte, ob er gehen oder bleiben sollte, hatte Witte seinen Hut aufgegriffen, dem Major – der ihm aber gar nicht antwortete – einen kurzen Gruß zugerufen und war auch gleich darauf im Freien draußen, wo er tüchtig ausschritt.

Frühbach mußte es doch ebenfalls für das Beste gehalten haben, sich zu entfernen; als er aber auf die Straße trat, sah er den Staatsanwalt schon in weiter Ferne und mußte den Versuch aufgeben, ihn einzuholen und sich noch weiter mit ihm auszusprechen, denn auf sein Rufen drehte sich der Davoneilende gar nicht um.

8.
Vor den Geschworenen.

Am nächsten Morgen überraschte der Polizeidiener Christian Schultze den Rath Frühbach noch im Bett und jammerte und klagte, daß er aus dem Dienst gejagt wäre, und zwar nur seinetwegen. Er verlangte auch Schadenersatz, bekam aber natürlich nichts, brachte jedoch den Rath in eine unbeschreibliche Aufregung und verdarb ihm das ganze Frühstück.

Witte war indessen ungemein thätig, und als nach zwei Tagen ein Rescript des Justizministeriums eintraf, wonach der Frau Müller, als keiner Hauptschuldigen bei dem Betruge, völlige Straflosigkeit zugesichert wurde, falls sie frei und wahr Alles bekennen wolle, was sie über den Fall wisse, so stand auch nach dieser Seite nichts mehr im Wege.

Eine Scene hatte er allerdings noch im eigenen Hause, als seine Frau den wahren Thatbestand erfuhr; Ottilie wurde ohnmächtig, und die Frau Staatsanwalt würde ebenfalls Krämpfe bekommen haben, wenn das Mädchen nicht gleich bei der Hand gewesen wäre. Witte selber bekam aber dadurch Oberwasser. Seine Frau war nie so kleinlaut gewesen, als nach der Zeit; er konnte sie jetzt um den Finger wickeln und fühlte sich überzeugt, daß es eine heilsame Lehre für sie sein würde.

Indessen rückte der Tag heran, an welchem der Fall vor die Geschworenen gebracht werden sollte; denn Witte hatte sein Möglichstes gethan, um jede Schwierigkeit zu beseitigen, damit der Termin der Erbschafts-Auszahlung nicht versäumt wurde, was nachher nur noch wieder Umstände gemacht hätte. Von Bruno erhielt er ebenfalls einen Brief und schrieb ihm umgehend Tag und Stunde, in welcher er hier eintreffen müsse, und wie der Morgen endlich herannahte, läßt es sich denken, daß die Bevölkerung von Alburg einen lebhaften Antheil an der Sache nahm. Schon stundenlang vorher drängte sich das Publikum vor der Thür des Sitzungssaales, und die Polizei hatte nicht geringe Schwierigkeit, um nur einigermaßen Ordnung in die Masse zu bringen und Unglücksfälle zu verhüten.

Die Tribünen waren natürlich überfüllt; was an Menschen in den Saal hineinging, preßte hinzu, und selbst hochstehende Damen wurden trotz ihrer Crinolinen zu einem Minimum zusammengedrückt. Es war aber auch in der That ein Fall, der in alle Schichten der Bevölkerung eingriff, und der ärmste Handwerker nahm nicht minder Theil daran als die »Crême« der Gesellschaft, denn er war eben so viel bei dem Erfolge betheiligt und freute sich dazu schon im voraus auf den Entscheid der Richter, während die haute volée dadurch daß solche »Schwächen« der höheren Stände vor die Oeffentlichkeit gebracht wurden, einen noch größeren Widerwillen gegen das überhaupt zu liberale Institut der Geschworenengerichte faßte. Aber hingehen mußten sie trotzdem; sie hätten nicht um die Welt, die Untersuchung versäumen mögen!

Und wie lange dauerten ihnen die Vorbereitungen, bis die Geschworenen gewählt waren und ihre Plätze eingenommen hatten und der Richter die Verhandlung mit einer kurzen Einleitung eröffnete! Dann erst trat Staatsanwalt Witte als Kläger auf und beschuldigte in kurzer, aber kerniger Rede den Baron von Wendelsheim und dessen Schwester, Fräulein Aurelia von Wendelsheim, mit Hülfe der damaligen Hebamme, der bekannten Frau Heßberger, zwischen der Frau des Schlossers Baumann und der Frau Baronin die Kinder vertauscht zu haben. Er legte dabei klar das Motiv der ersten Anregung dazu vor: die Furcht des Barons, keinen männlichen Erben zu bekommen und dadurch der Erbschaft verlustig zu gehen, während er sich, da er wußte, daß seine Gemahlin nie ihre Einwilligung dazu geben würde, der Hülfe seiner Schwester versicherte, ja, möglicherweise von dieser erst dazu getrieben wurde. Daß die Heßberger nachher, als sie sich durch die unerwartete Geburt eines Sohnes der Gefahr ausgesetzt sah, den versprochenen, bedeutenden Lohn zu verlieren, nicht allein die Mutter des Kindes, sondern nun auch den Vater und dessen Schwester betrog, indem sie die Thatsache, daß es ein Sohn sei, verheimlichte und sie in dem Glauben bestärkte, es sei wirklich ein Mädchen gewesen, war leicht zu erklären.

Die Heßberger täuschte dann auch später nochmals den Baron, indem sie ihn durch irgend einen gleichgültigen Todtenschein eines weiblichen Kindes glauben machte, seine Tochter sei gestorben. Dadurch vermied sie jede, sonst doch mögliche Nachforschung des Vaters. Der Todtenschein hatte sich unter den Papieren des Fräuleins von Wendelsheim gefunden und Witte nach genauer Untersuchung herausbekommen, daß jenes Kind auf einem entfernten Dorfe von völlig unbescholtenen Eltern geboren und auch dort kurze Zeit danach verblichen sei. Bei dessen Geburt waren die Schwiegermutter und zwei Verwandte zugegen gewesen, und das Kind, vom ersten Moment an kränkelnd, von dem dortigen Wundarzte behandelt und die ganze Zeit, bis zu seinem Tod, nicht aus den Augen gelassen worden.

Ruchbar sei die That durch die Frau Baumann selber geworden, die, von Gewissensbissen gepeinigt und in der Angst, den damals auf falschen Verdacht hin gefänglich eingezogenen Erben an seinem Leben geschädigt zu sehen, ein offenes Bekenntniß abgelegt habe. Es gehe daraus hervor, daß sie selber nur höchst ungern und halb von ihrer Schwester gezwungen, fast unmittelbar nach der Geburt ihres Kindes, jedenfalls innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden, ihren Sohn in der Hoffnung hergegeben habe, ihn und die Familie, in die er eingeführt wurde, glücklich zu machen. Als ihr ein Sohn, aber nicht der ihrige, dafür zurückgebracht wurde, gerieth sie außer sich; es war jedoch zu spät. Die Heßberger drängte in sie, und sie schwieg – schwieg bis jetzt.

Daß die Heßberger die Hauptschuldige sei, habe sie nicht allein auf dem Criminalamt, nach dem dort aufgenommenen Protokoll, was nachher verlesen werden solle, selber erklärt, sondern auch durch ihren Selbstmord, weil sie die Strafe fürchtete, erhärtet. Gleich schuldig mit ihr sei wohl der Vater des Kindes, der Baron von Wendelsheim, aber von Gott selber außer den Bereich menschlicher Strafe gebracht, da sein Geist wandere und völlige Besinnung ihm, nach dem Ausspruche der Aerzte kaum je wieder zurückkehren würde.

Daß die Frau Baronin selber nichts von dem Tausche der Kinder gewußt, stehe fest; desto stärkerer Verdacht, ja, fast die Gewißheit der That ruhe aber dagegen auf jenem Fräulein von Wendelsheim, die, in der Furcht, den alten Glanz des Hauses erlöschen zu sehen und selber ohne hinreichende Mittel, das Zusammenbrechen desselben zu verhindern, zu diesem Verbrechen ihre Zuflucht genommen habe, um es abzuwenden. Sie allein sei auch strafbar, da sich die Hauptschuldige der Strafe entzogen; denn sie, als hochstehende, gebildete Frau wußte genau, was sie that, und handelte dabei mit vollem Vorbedacht. Die Geschworenen ersuche er daher, die Rechte des wirklichen Erben, des bisher von dem Schlosser Baumann unter dem Namen Friedrich erzogenen Sohnes, zu prüfen, und er hoffe, der Gerichtshof werde dann jener Dame die härteste Strafe zuerkennen, die das Gesetz überhaupt in diesem Falle gestatte.

Witte hatte außerordentlich ruhig gesprochen, und die einzelnen Thatsachen, die übrigens schon seit den letzten Tagen im Publikum ziemlich genau bekannt waren, nun so klar und deutlich als möglich vorgelegt. Er wollte jedenfalls erst den Advocaten des Gegenparts veranlassen, dagegen aufzutreten. Das Publikum selber achtete aber nur wenig auf seine Rede, denn Aller Blicke hingen an den beiden Angeklagten, der Schlossersfrau und dem gnädigen Fräulein, die ihren Platz auf der Seite der Verklagten hatten, und ein größerer Unterschied wäre zwischen zwei weiblichen Wesen kaum denkbar gewesen, als die Beiden zeigten.

Die Frau Baumann, in ein blaues, einfaches Kattunröckchen gekleidet, eine schneeweiße Haube auf, das milde, gute Gesicht bleich und eingefallen, die Augen niedergeschlagen in Scham und Angst, saß auf der Bank, während neben ihr, hoch aufgerichtet und stolz, aber bis auf's Innerste über den Schimpf empört, der ihr hier angethan, in Putz und Schmuck von Sammet und Seide strotzend und aus den bös blickenden Augen giftige Blitze nach allen Seiten, besonders aber auf den Staatsanwalt Witte schleudernd, das gnädige Fräulein stand. In dem Zuschauerraume, wo besonders eine Gruppe von Handwerkern beisammen standen, flüsterten die Leute auch schon miteinander, und manche Bemerkung wurde laut: »Das ist die Rechte, das ist ein böser Drachen; seht nur, wie hoch sie die Nase trägt; sie schämt sich gar nicht – und wie sie die Leute daheim behandelt – ein Hund hat's besser, als ihre Dienstboten!«

»Pst! Pst!« flüsterten indessen wieder Andere, denn jetzt begann der von dem gnädigen Fräulein angenommene Advocat nicht allein seine Clientin zu vertheidigen, sondern die ganze Klage als einen aus der Luft gegriffenen Verdacht anzufechten. Das gnädige Fräulein schilderte er dabei wie eine Heilige, die, während sie noch nie einem Menschen Ursache zur Klage gegeben, hier auf eine unwürdige Weise angegriffen und verdächtigt würde. Aus der Selbstanklage der Frau Baumann geht allerdings hervor, daß eine Täuschung in der Familie beabsichtigt gewesen sein könne, obgleich auch selbst darüber jetzt, nach dem Tode jener Heßberger, der Beweis fehle. Es sei die Unwahrscheinlichkeit aber auf das Höchste gesteigert, wenn man annehmen wolle, daß zwei Knaben gegen einander ausgewechselt wären. Ein Resultat würde die Sache nicht weiter gehabt haben, als daß sich zwei Mütter von ihren Kindern trennten, und die Anklage mache der Phantasie seines geehrten Vorredners allerdings viel Ehre, aber an dem gesunden Verstand der Geschworenen würde sie machtlos abprallen.

Als er das gnädige Fräulein so außerordentlich lobte, wurden von mehreren Seiten höhnische Rufe laut, als: »Hoho! Jawohl, so sieht sie auch aus!« – Die Beamten stellten aber augenblicklich die Ruhe wieder her, und als er endlich damit schloß, indem er nur noch in einer längeren Phrase das Motiv der Frau Baumann hervorhob, jetzt, durch eine solche Erklärung, ihrem eigenen Sohn die reiche Erbschaft zuzuwenden, bat er die Geschworenen, den Fall ruhig zu überlegen, und sie würden dann selber zu der Ueberzeugung gelangen, daß die ganze Klage – als zu absurd zur Verhandlung – zurückgewiesen werden müsse.

Staatsanwalt Witte ließ jetzt den gefangenen Heßberger als Zeugen vorrufen, und ein traurigeres Bild menschlicher Erniedrigung konnte es kaum geben, als der Verbrecher zeigte. Die kurze Zeit seiner Haft hatte ihn bleich und hohlwangig gemacht; die Augen starrten wild und fast blödsinnig umher, und eingeschüchtert durch die vielen Menschen, kroch er ordentlich zusammen unter der Last seiner Sünde, seines Jammers. Er machte auch als Zeuge keinen besondern günstigen Eindruck auf die Geschworenen; trotzdem mußte er gehört werden, und von dem Vorsitzenden befragt, legte er denn auch ein unumwundenes Geständniß ab. Er verheimlichte oder beschönigte nichts. Er erzählte, daß er den neugeborenen Sohn der Baumann, warm in wollene Tücher eingeschlagen, in das zu dem Zweck geheizte Gartenzimmer des Parks getragen, bis seine Frau ihm durch ein in ein bestimmtes Fenster gestelltes Licht ein Zeichen gegeben habe. Dann sei er zu dem Schlosse gegangen, wo er sein Weib mit dem fremden Kinde getroffen hatte. Sie nahm ihm das, was er gebracht, dort ab, gab ihm das andere und flüsterte ihm dabei zu, er solle nur ihrer Schwester sagen, er brächte ihr Kind wieder mit, der Tausch sei nicht nöthig gewesen. Aber seine Schwägerin habe gleich gesehen, daß es ein fremdes Kind sei, und geweint und geschrieen, und er hätte sie kaum beruhigen können.

Der Advocat des Gegenparts fragte jetzt den Schuhmacher, ob er beschwören könne, daß er nicht wieder dasselbe Kind zurückgetragen, was er mitgenommen, und woher er wissen wolle, daß es ein anderes gewesen sei, noch dazu, da ihm seine Frau selber gesagt hätte, es wäre das nämliche.

Heßberger, der jetzt im Reden etwas mehr Muth faßte, erwiederte, wenn seine Frau nicht die Kinder austauschen wollte, so würde sie das dem Baron gehörige nicht aus dem Wochenzimmer auf die kalte Treppe hinuntergetragen haben. Ueberdies hätte er deutlich genug gefühlt, wie ihm das getragene weggenommen und ein anderes dafür gegeben sei; das zweite sei auch leichter gewesen, als das erste.

Der Advocat des gnädigen Fräuleins, dem der ungünstige Eindruck nicht entgehen konnte, welchen Heßbergers ganze Erscheinung auf die Geschworenen gemacht, benutzte den augenblicklich, um die Aussage des Zeugen zu verdächtigen. Er war außerdem, wie alle Welt wußte, ein Dieb und Einbrecher, und sein Zeugniß verlor dadurch jedenfalls an Werth. Die dagegen von seiner Seite aufgerufene Zeugin Frau Barbara Müller aus Vollmers, als Amme des Kindes, trat desto respectabler auf, denn sie machte gleich von vorn herein den Eindruck einer achtbaren, durchaus rechtlichen Frau, und Alles, was sie über die Wendelsheim'sche Familie sagte, zu der sie fast unmittelbar nach der Geburt des Kindes als Amme gerufen, klang außerordentlich lobenswerth. Auch über die »Tante« äußerte sie sich; sie sei wohl ein bischen »scharf und knapp« gewesen, aber sonst ganz gut, und was das alberne Gewäsch von einem Umtausch der Kinder betreffe, so wisse sie wohl, woher das komme, und die Gesellschaft sei auch schon bei ihr gewesen; aber sie sollten nur wiederkommen, sie wolle ihnen heimleuchten.

»Ich ersuche den Vorsitzenden,« sagte Witte, »die Frau zu fragen, zu welcher Stunde sie auf Schloß Wendelsheim eingetroffen ist.«

Die Antwort lautete: »Morgens halb sieben Uhr.«

»Gut,« sagte Witte, »dann habe ich nur zu bemerken, daß die von Heßberger angegebene Zeit des Tausches zwischen zwölf und ein Uhr in der Nacht fällt.«

Andere Zeugen wurden jetzt noch herbeigerufen. Einer, der Gärtner, hatte, wie er aussagte, Heßberger im Garten gesehen und wollte das Schreien eines Kindes gehört haben; aber ganz sicher fühle er sich darin nicht. Andere hatten nur darüber reden und die Vermuthung aussprechen hören, daß nicht Alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Weitere, schlagende Beweise wurden aber nicht vorgebracht. Der Advocat für das gnädige Fräulein schien sich schon auf die Schlußrede vorzubereiten, indem er den frevelhaften Uebermuth des Gegenparts hervorhob, auf solch nichtige Beweisgründe hin ein altes, edles Haus mit Koth zu besudeln, und dazu auch noch den Zeitpunkt zu benutzen, wo der Träger desselben, der alte Baron, durch den Tod seines zweiten Sohnes unnatürlich aufgeregt, gerade augenblicklich von einem Kopfleiden befallen sei und nicht selber hier erscheinen könne, um seine Rechte zu vertheidigen.

Das gnädige Fräulein triumphirte. Recht wie höhnisch flog ihr Blick über die Versammlung, als Witte ganz ruhig bat, ihm zu gestatten, noch eine Zeugin vorzuführen. Die kleine Frau Müller, die Mutter des Schneiders Müller, kam dann herein; sie sah sehr nett und sauber, aber auch sehr ärmlich aus und schien im Anfang schüchtern; aber das gab sich bald, denn für sie war dieser Proceß zum wahren Heil geworden.

Bis jetzt hatten die früheren Vorgänge in der Wendelsheim'schen Familie noch immer mit drückender Schwere auf ihr gelastet und ihr manche unruhige Stunde bereitet. Von heute an sollte das aufhören; sie brauchte kein Geheimniß mehr vor den Menschen zu haben und dann auch keine Strafe dafür zu fürchten, wenn sie nur Alles wahr und offen ausgesagt, was sie wußte.

Von dieser Zeugin schien der gegnerische Rechtsanwalt aber gar nichts erfahren zu haben, denn Witte hatte ihr Erscheinen sehr geheim gehalten. Auch Fräulein von Wendelsheim sah die kleine Frau überrascht an, denn sie kannte sie nicht wieder und konnte sich nicht besinnen, sie je gesehen zu haben – was wußte die von der Sache?

Die Frage richtete jetzt der Vorsitzende an sie, und anfangs mit leiser, kaum hörbarer Stimme, so daß sie aufgefordert werden mußte, lauter zu sprechen, sagte sie jetzt:

»Ach, ich war ja zu jener Zeit schon ein paar Tage vorher von der Heßberger der gnädigen Frau Baronin als Wartefrau recommandirt! Kennen Sie mich denn nicht mehr, gnädiges Fräulein? Ich bin ja die Lisbeth, und Sie waren immer so gut und freundlich gegen mich!«

Jetzt erkannte sie das gnädige Fräulein wirklich; aber die Ueberraschung war keine freudige, denn sie wechselte die Farbe und winkte dann ihren Advocaten heran, dem sie einige Worte zuflüsterte. Noch mächtiger wirkte aber ihr Erscheinen auf die Schlossersfrau, die erst nur ziemlich theilnahmlos zu ihr aufgesehen hatte, bei Nennung des Namens aber emporzuckte und mit gefalteten Händen flüsterte: »O mein Gott, die Todten stehen auf!«

»Und Sie müssen mich ja auch noch kennen, Frau Baumann,« nickte ihr die kleine Frau zu, »wenn wir uns auch die langen, langen Jahre hindurch nicht gesehen haben, denn die Heßberger wollte nicht, als ich hieher zurückkam, daß ich zu Ihnen ging. Es schien ihr selber nicht recht; sie hatte geglaubt, ich wäre nach Amerika gezogen.«

»Und was wissen Sie von der Sache, in welcher die Familie Wendelsheim angeklagt ist, das erstgeborene Kind mit einem andern vertauscht zu haben? Können Sie etwas Näheres darüber angeben?«

»Ach, es wird schon so sein,« seufzte die kleine Frau, »und manchmal und manchmal hab' ich gewünscht, ich wäre gar nicht dabei gewesen, denn recht war's nicht....«

»Ich möchte den Gerichtshof ersuchen,« sagte der Rechtsanwalt des gnädigen Fräuleins, »die Identität dieser auf einmal herzugerufenen Frau erst untersuchen zu lassen, ehe sie die Geschworenen durch irgend eine Erzählung beeinflußt. Es scheint sie kein Mensch hier zu kennen, und da ich....«

»Jawohl, jawohl,« rief es von mehreren Seiten, »das ist die Frau Müller, die in Mecklenburg war!« – Die Ruhe mußte erst wieder hergestellt werden, und dann wurde Fräulein von Wendelsheim gefragt, ob sie die Person kenne. Sie verneinte es. Die Frau Baumann dagegen bestätigte, daß sie eine entfernte Verwandte von ihnen sei und zu jener Zeit als Wartefrau auf dem Schloß Wendelsheim gedient habe. Der Gärtner vom Schloß befand sich ebenfalls als Zeuge im Saal und erkannte sie jetzt auch wieder; auch eine Frau unter den Zuschauern, die sie selber bezeichnete. Außerdem brachte sie aber auch jetzt ihr altes Dienstbuch zum Vorschein, aus dem sich deutlich genug ergab, daß sie nicht allein die richtige Person sei, sondern auch gerade in jener Zeit im Schlosse thätig gewesen wäre.

Ihr Zeugniß war schlagend. Die Heßberger hatte das Kind gleich unmittelbar nach der Geburt gewaschen, eingewickelt und aus dem Zimmer getragen, während sie selber an der Waschbütte stehen bleiben und in dem Wasser plätschern mußte, als ob das Kind noch darin sei. Die Frau Baronin hatte mit geschlossenen Augen im Bett gelegen, und nur das gnädige Fräulein war noch in der Stube und stand meist immer neben dem Bette.

Ob sie glaube, daß das gnädige Fräulein das Wegtragen des Kindes gesehen habe?

Sie wüßte nicht gut, wie es anders möglich sei; das gnädige Fräulein wäre allerdings nicht zu ihr an die Waschbütte gekommen und habe nicht nachgesehen, es sei auch etwas dunkel in der Ecke gewesen; aber sie habe doch das Weggehen der Heßberger bemerkt, und in der Zeit dürfe eine Hebamme nicht aus dem Zimmer.

Der Advocat des gnädigen Fräuleins wollte jetzt die Frage an die Schneiderswittwe gestellt haben, ob sie beschwören könne, daß Fräulein von Wendelsheim gewußt, was die Heßberger beabsichtigt.

Schwören konnte sie nicht; man könne keinem Menschen in's Herz sehen. Sie hätte allerdings viel mit der Heßberger gesprochen und sei oft nach der Thür gelaufen, und sie hätte indessen in dem Wasser geplätschert, als ob das Kind gewaschen würde. Endlich sei die Heßberger wieder hereingekommen.

Ob das gnädige Fräulein mit ihr geflüstert habe, als sie in die Thür getreten sei?

Das könne sie doch nicht so genau sagen; so viele Jahre wären darüber verflossen, und sie möchte Niemandem Unrecht thun, denn das gnädige Fräulein sei immer so gut mit ihr gewesen.

Und brachte die Heßberger das Kind zurück?

Das nicht, was sie mitgenommen hatte, sagte die Frau kopfschüttelnd; ein viel stärkeres mit einem weit größeren Kopfe, und halb erfroren sei's gewesen vor Kälte und Nässe; aber sie hätten es gleich in das warme Wasser gesteckt, und da habe es sich bald erholt. Dann erst sei es zu der Frau Baronin in's Bett gekommen, die es geherzt und geküßt hätte, und der Baron wäre dann gerufen worden, und ein ungeheures Gejubel im Hause über die Geburt eines Knaben losgegangen. Die Leute hätten alle Wein bekommen, mitten in der Nacht, und sie und die Heßberger auch. In der Nacht habe der Baron denn auch noch einen Wagen geschickt, um die Amme abzuholen, welche gegen Morgen eintraf und das Kind überliefert bekam, und sie selber sei nachher noch vier Wochen als Wartefrau der Baronin im Schlosse geblieben.

Ob sie gewußt habe, daß der, wie sie meinte, untergeschobene Knabe das Kind der Frau Baumann sei?

Ganz bestimmt gewußt eigentlich nicht, aber vermuthet hätte sie es, nach Aeußerungen, welche die Heßberger darüber gethan, aber auch nie danach fragen mögen, weil sie Angst gehabt, daß es herauskommen und sie auch straffällig werden könne.

Der gegnerische Advocat suchte sie ein paarmal durch Kreuzfragen irre zu machen; aber sie blieb fest bei ihrer einfachen Erzählung und widersprach sich nicht ein einziges Mal.

Witte bat jetzt, das Protokoll zu verlesen, das der Actuar niedergeschrieben und dem noch ein Nachtrag beigefügt war. In ihrer Zelle war die Heßberger nämlich noch einmal befragt worden, den Ort anzugeben, wo sie die Erbschaft erhoben haben wollte, und hatte dann erklärt, sie sollten sie kein solches dummes Zeug fragen, sie wüßten nun die ganze Geschichte. Das Geld habe sie von dem Baron für sich und ihre Schwester bekommen.

»Jetzt aber,« fuhr dann Witte unter dem Eindruck dieser Enthüllung fort, »muß ich um die Erlaubniß bitten, die betreffende Familie den Geschworenen vorzuführen. Leider war der alte Baron von Wendelsheim selber nicht im Stande, hier zu erscheinen: sein trauriges Leiden verhindert ihn daran, und Krankheit wie Gewissensbisse haben den sonst so kräftigen Mann gebrochen; aber ich glaube, es ist wenigstens nöthig, daß Sie mit eigenen Augen bestätigt sehen, was Sie hier eben gehört haben.«

Er erhielt die Erlaubniß, und wenige Minuten später, während jetzt eine so lautlose Stille im Saal herrschte, daß man das Athmen der Einzelnen hören konnte, öffnete sich die Thür, und der alte Schlosser Baumann, begleitet von seinen drei Söhnen, mit ihnen aber der bisherige Baron Bruno von Wendelsheim, traten in den Saal und nahmen den Platz vor den Geschworenen ein.

Der alte Baumann war blaß, hatte aber die Zähne fest zusammengebissen, und zu seiner Rechten und Linken standen Bruno und Fritz, während Witte Karl, den zweiten Sohn, neben Bruno stellte – der letztere natürlich jetzt in Civil und in einen dunklen, einfachen Rock geknöpft.

Bruno hatte keinen Blutstropfen in den Wangen, aber er ertrug den für ihn furchtbaren Moment wie ein Mann; er war fest und ruhig, und sein Auge haftete ernst, aber nicht herausfordernd auf den Geschworenen. Bemerkbar war aber der Eindruck, den sein Erscheinen neben der Familie auf die Mutter selber machte. Mit weit geöffneten Augen und getrennten Lippen, beide Hände wie krampfhaft auf dem eigenen Herzen gefaltet, saß sie da, und ihr Blick hing fast mit Stolz, aber doch auch mit furchtbarem Schmerz an dem Antlitz des Sohnes.

Bei dem Erscheinen der Familie herrschte anfangs, wie schon gesagt, eine wahrhaft unheimliche Stille in dem großen Saal; aber das dauerte nicht lange, denn bald erhob sich ein scheues, kaum hörbares Flüstern, das aber stärker und stärker wurde, und selbst der Vorsitzende bog sich zu dem neben ihm sitzenden Justizrath nieder und sagte ihm einige leise Worte, wobei dieser mit dem Kopf nickte. Die Bewegung hatte aber ihren Grund in der fast auffallenden Aehnlichkeit Bruno's mit dem nur um zwei Jahre jüngeren Karl, und die Beiden standen da, unverkennbar als zwei Brüder, als zwei Schößlinge von demselben Stock, neben einander. Bruno mochte um eine Kleinigkeit größer sein, und sein Gesicht zeigte etwas mehr Intelligenz, aber die Züge waren bis in das Kleinste hinab unverkennbar die nämlichen, während das Antlitz von Fritz einen ganz entschieden andern Charakter trug.

Fritz war braun von Haar, ja, fast zu Schwarz hinneigend, mit dunklen Augen, Bruno, wie alle Söhne des Schlossermeisters, blond, mit blauen Augen, und dabei etwas, wenn auch nur wenig abgestumpfter Nase, während Fritz' Profil viel mehr Aehnlichkeit mit dem des Fräuleins von Wendelsheim verrieth.

Da erhob sich die Mutter von ihrem Sitz – ihre Kniee zitterten, und sie mußte sich fast gewaltsam aufrecht halten. Ehe aber nur weiter ein Wort gesprochen werden konnte, trat sie vor und begann erst leise, dann aber mit immer festerer Stimme: »Ich weiß nicht, ob ich hier reden darf, aber ich kann jetzt nicht länger schweigen. Jener böse Mann hat gesagt, ich habe die Lüge nur ersonnen, um meinem Kinde, meinem Sohn eine große Erbschaft zuzuwenden – o, wenn er in mein Herz sehen könnte! Jahr nach Jahr habe ich gejammert um das Kind und mich gegrämt und abgehärmt, aber immer im Stillen, immer allein, denn es war keine Seele, der ich mich vertrauen durfte. Ich hätte ihm auch ferner entsagt, denn die Sünde war einmal geschehen, und ich fürchtete mich mit dem Geständniß dessen, was ich gethan, vor meinen braven Mann hinzutreten, bis endlich die Angst dazu kam, daß der Knabe, der durch meine Schuld seinen Eltern entführt war, zu Unglück oder Tod kommen könnte, weil man seinen wahren Stand nicht kannte. Da litt mich's nicht länger – die Sehnsucht nach dem eigenen Kinde preßte mir dabei fast das Herz ab – ich begegnete ihm auf der Straße, und er kannte mich nicht und ging kalt vorüber, wo ich ihm hätte an die Brust fallen und weinen mögen – o, nur einmal weinen! Wie ich es je wieder gut machen soll, welches Herzeleid ich ihm in dieser Stunde angethan, ich weiß es nicht – ich verstehe auch Vieles von dem nicht, was andere Leute hier gesagt haben, aber das – das ist mein Kind – das hier!« stammelte sie und näherte sich Bruno, der ihr in unbeschreiblicher Aufregung gegenüberstand – »das mein Sohn, den ich nicht an mein Herz drücken durfte, seit ihn mir die Schwester an jenem entsetzlichen Abend aus den Armen riß – das hier – das...« Sie vermochte nicht mehr, sie konnte sich nicht länger halten, und Alles vergessend, was sie hier umgab, Richter, Geschworene, Kläger, Zuschauer, umfaßte sie krampfhaft den Sohn, sank an ihm nieder, umklammerte seine Kniee und schluchzte laut.

Da aber konnte sich auch Bruno nicht länger halten. Er erkannte in der Frau dieselbe, die ihn so oft und schüchtern auf der Straße gegrüßt, während er gleichgültig an ihr vorbeigeeilt; er vermuthete in ihr dieselbe, die ihm oft mit rührender Sorge kleine Geldsummen gesandt, welche sie sich am Munde abgedarbt, und die Frau fassend und emporhebend, drückte er sie mit den Worten: »Mutter – meine Mutter!« an sein Herz.

Kaum ein Auge in der ganzen Versammlung blieb bei dieser Scene thränenleer – das gnädige Fräulein von Wendelsheim, ihr Sachwalter und der alte Schlosser Baumann ausgenommen. Stumm und starr stand er neben der Gruppe, mit keinem andern Bewußtsein, als dem der Schande und Scham, sich an diesem Ort zu finden.

Die Verhandlung war durch diesen Zwischenfall fast gestört worden, und der Sachwalter des Fräuleins protestirte dagegen; er fühlte und sah, welchen Todesstoß es all' seinen Aussichten auf Erfolg versetzte. Witte verzichtete übrigens von jetzt ab auf das Wort; er wußte recht gut, daß er die Wirkung dieses Moments selbst durch das Beste, was er sagen mochte, nur hätte abschwächen können, und der Advocat des Gegenparts versuchte nun die undankbare Arbeit, in einer längeren Rede nicht allein die vorgebrachten Zeugen zu verdächtigen, sondern auch die Aehnlichkeit zwischen den Geschwistern abzustreiten. Schon dadurch, daß er sie leugnete, bekannte er stillschweigend, daß er sie ebenfalls bemerkt.

Der Präsident des Gerichtshofes gab jetzt einen kurzen Ueberblick über die Verhandlung und richtete seine Mahnung besonders an die Geschworenen, auf ihren geleisteten Eid hin sorgfältig zu prüfen, welche Ansprüche sie für die allein geltenden hielten, wer nach ihrer wirklichen und festen Ueberzeugung der Erbe von Wendelsheim, und wer in Folge der Verhandlung, sobald ein Betrug festgestellt worden, als strafbar dabei betrachtet werden müsse. Er führte dabei die einzelnen Angeklagten auf und formulirte das ihnen zur Last gelegte Vergehen, auf das sie nun allein ihr Schuldig oder Nichtschuldig zu antworten.

Die Geschworenen zogen sich zurück, und wieder lief das Flüstern durch den Saal, denn Alles wollte nun dem Nachbar seine eigene Meinung mittheilen oder dessen Ansicht hören, und mit ihrem Urtheile waren die Leute auch rasch genug fertig. Das gnädige Fräulein, welches noch dort so stolz und hochmüthig als je stand, mußte in's Zuchthaus, denn sie hatte die ganze Geschichte angezettelt und betrieben, und die Frau des Schlossers Baumann wurde freigesprochen, weil sie Alles ehrlich bekannt und den Betrug aufgedeckt habe. Der Fritz Baumann wurde dann ein vornehmer Herr und der Lieutenant ein Schlosser...

Die Geschworenen! tönte es plötzlich durch den Saal. Sie waren nur ausnahmsweise kurze Zeit weggeblieben, und es schien deshalb, daß fast gar keine Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen geherrscht habe (die einzige in der That über Fräulein von Wendelsheim). Der Vormann theilte das von ihnen gefällte Verdict mit; es lautet etwa:

Daß zwischen ihnen kein Zweifel bestehe; es habe allerdings ein Betrug durch den heimlichen Umtausch der Kinder stattgefunden, und zwar so, daß der von dem Schlosser Baumann erzogene Sohn Friedrich der Erbe des Wendelsheim'schen Namens und zugleich aller damit verbundenen Vortheile und Nachtheile sei, während der bis dahin unter dem Namen Bruno von Wendelsheim gekannte Herr unfehlbar der wirkliche Sohn des Schlossers Baumann wäre.

Die genannte Frau desselben, Katharina, sei ferner schuldig der Wissenschaft und Beihülfe des Betrugs in der nämlichen Angelegenheit; aber die Geschworenen empföhlen sie warm der milden Beurtheilung des hohen Gerichtshofes.

Der Schuhmacher Heßberger schuldig, in jeder Hinsicht das Verbrechen befördert zu haben.

Die Frau Lisbeth Müller schuldig, jene, eines gewaltsamen Todes verstorbene Frau Heßberger wissentlich, wenn auch nur als untergeordnete Dienerin, unterstützt zu haben.

Fräulein Aurelia von Wendelsheim nichtschuldig, da die Beweise über ihre wirkliche Betheiligung oder Mitwissenschaft an dem Betrug zu unreichend seien.

Wieder erhob sich das Flüstern, aber diesmal drohend und unwirsch, denn die allgemeine Stimme war gegen das gnädige Fräulein, und man hatte einen entschieden andern Ausspruch erwartet. Aber die Ruhe stellte sich augenblicklich von selber wieder her, als sich der Vorsitzende erhob, um nach dem von den Geschworenen gesprochenen Verdicte den eigentlichen Urtheilsspruch zu verkünden. Derselbe trug den Gefühlen der Menge Rechnung.

Frau Baumann wurde des Betrugs, ihr Kind gegen das einer andern Frau heimlich, ohne Wissen der Mutter und um dem eigenen Sohne eine große Erbschaft zu sichern, vertauscht zu haben, als überführt erklärt, aber unter mildernden Umständen, da sie erstens ihr Verbrechen reumüthig selbst gestanden, und dann auch, aus übergroßer Liebe für ihr erstes Kind, und zwar innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden, so gehandelt habe, wo das Gesetz selber das Verbrechen des Kindesmordes gelinder beurtheilt und richtet, als wenn es später verübt wäre. Die über sie verhängte Strafe erkenne das Gericht, nach den betreffenden Paragraphen, in mildester Form zu sechsmonatlicher Gefängnißhaft.

Der Schuhmacher Heßberger, als überführt erklärt, den Betrug seiner Frau, mit Aussicht auf Gewinn, wissentlich und böswillig gefördert und unterstützt zu haben, zu drei Jahren Arbeitshaus, ohne indessen einer andern gegen ihn eingeleiteten criminellen Untersuchung dadurch vorgreifen zu wollen.

Frau Lisbeth Müller sei zwar auch für schuldig erklärt; das hohe Justizministerium habe ihr aber schon im Voraus, unter der Bedingung, daß sie Alles reumüthig und der Wahrheit gemäß bekenne, im Falle ihrer Verurtheilung die Strafe gnädig erlassen.

Fräulein Aurelia von Wendelsheim könne eben so wohl den Gerichtshof straflos verlassen; die polizeiliche Aufsicht auf Schloß Wendelsheim werde aber so lange fortbestehen, bis der rechtmäßige Erbe, Herr Friedrich von Wendelsheim, die Besitzung – was ihm von jetzt an jeden Augenblick freistehe – übernehme.

Fräulein von Wendelsheim schien nur auf den Moment gewartet zu haben. Mit Sammet und Seide rauschte sie aus der Umfriedigung hinaus, denn nicht mit Unrecht wünschte sie den Saal früher als die übrigen Zuschauer zu verlassen, weil ihr die Stimmung derselben gegen ihre Person wohl kein Geheimniß geblieben sein konnte. Aber so ganz unbemerkt und unbegrüßt sollte sie sich doch nicht entfernen, denn Aller Augen hafteten in diesem Augenblicke auf ihr, und kaum näherte sie sich der Thür, an der ein paar Polizeidiener Wache hielten, als auch wie auf gemeinsame Verabredung ein allgemeines Zischen, Pfeifen und Stöhnen losbrach – ja, ein paar der rohesten Burschen, mit zufällig einem Apfel in der Tasche, um vielleicht den Hunger in einer zu langen Sitzung zu stillen, opferten ihr Frühstück, und ein Glück für sie, daß sie nicht mehr weit zu gehen hatte, denn kleine Dreierbrötchen, Endchen Wurst und jene Früchte fingen schon an um sie hernieder zu hageln.

Kreidebleich vor Wuth, gewann sie endlich die Thür und rauschte hinaus, um sich unten in den ihrer harrenden Wagen zu werfen und, fast außer sich vor Gift und Galle, nach Schloß Wendelsheim zurückzufahren.

Aber die Verhandlung war noch nicht ganz geschlossen, denn die Verurtheilte mußte erst erklären, ob sie sich der Strafe unterwerfen wolle, und es hatte einige Mühe, die Ruhe wieder herzustellen. Katharina Baumann aber, die jetzt wieder auf ihre Bank zurückgewankt war und dort still weinend saß, dankte dem Richter für sein mildes Urtheil; sie hätte ein weit strengeres erwartet – und vielleicht verdient.

Da trat Fritz Baumann, der jetzige Friedrich von Wendelsheim, vor. Er hatte bis dahin, die Brust von widerstreitenden Gefühlen bewegt, still und fast regungslos an seinem Platze gestanden. Jetzt schilderte er mit glühenden Worten die Liebe und Sorgfalt, mit der jene Frau, die er bis dahin für seine Mutter gehalten, seine Jugend überwacht und für ihn gesorgt und ihn geliebt habe wie ihr eigenes Kind. – »Hier steht ihr wirklicher Sohn,« fuhr er dabei bewegt fort – »laßt ihn frei bekennen, ob er in seiner Heimath, in seiner Familie solche Liebe fand, ob Alles an ihn gewandt wurde, um ihn zu einem braven, tüchtigen Mann heranzureifen! Ich hatte eine Jugend, so froh und glücklich, wie sie ein Mensch nur haben kann – ich lernte dabei arbeiten, um mir frei und unabhängig von irgend wem meinen Lebensweg zu bahnen, und das dank' ich nur diesem wackern Mann da – dieser braven Frau – dem besten Vater, der besten Mutter, die es geben kann! Und wenn deshalb meine Bitten etwas über Sie vermögen – o, so erwirken Sie Gnade für die arme Frau!«

Ein beifälliges Gemurmel lief durch den noch immer dicht gedrängten Raum, und selbst der Vorsitzende nickte ihm freundlich zu. Vor der Hand war aber natürlich in der Sache weiter nichts zu thun, denn die Gnadenbewilligung lag allein in einer höheren Hand.

Fritz wollte sich jetzt noch einmal an seinen Vater wenden; als er sich aber nach ihm umdrehte, konnte er ihn nirgends mehr bemerken. Er hatte mit seinen Söhnen, ohne Abschiedswort an ihn oder die Frau selber, den Saal verlassen und war still und düster nach Hause zurückgekehrt, Bruno ihm aber nicht gefolgt. Das Entsetzliche hatte ihn ja zu rasch erreicht, um sich so gleich und plötzlich hinein zu finden – er stand und zögerte und schien seine Umgebung fast vergessen zu haben.

Fritz ging auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. Er nahm sie; aber dann sich abwendend, flüsterte er: »Nur jetzt nicht, nur jetzt nicht – ich kann nicht reden, nicht denken!« und eilte rasch aus dem Saal.

9.
Der Erbe.

Welche Sensation das Resultat dieses Geschworenengerichts in Alburg machte, läßt sich denken; es wurde fast von nichts weiter gesprochen, und Fräulein von Wendelsheim mußte über sich das Schwerste ergehen lassen, was Bierbänke oder Kaffeetische überhaupt zu leisten im Stande sind. Es wäre für sie auch in der That nicht gerathen gewesen, sich in der nächsten Zeit wieder in Alburg zu zeigen, denn keine Polizei oder Gensdarmerie hätte sie vor Beleidigungen, ja, vielleicht persönlichen Angriffen schützen können. Allerdings brach sich bei der gebildeten Klasse bald die Ueberzeugung Bahn, daß die Geschworenen ihr Verdict kaum anders abgeben konnten, als sie es gethan; denn allerdings war durch keine einzige Aussage, als die der damals zur Wuth getriebenen Heßberger, die Schuld der Dame entschieden festgestellt. Aber Niemand zweifelte trotzdem daran, während der Handwerkerstand auf das bestimmteste behauptete, der »adelige Drachen« sei nur deshalb ungerupft davon gekommen, weil sie ein »von« vor ihrem Namen hätte und in einem großen Schlosse wohne.

Wer sich am allerwenigsten um das Ganze kümmerte und doch eigentlich das größte Interesse daran hatte, war der Erbe selber. An demselben Nachmittage verbrachte er allerdings noch wohl zwei Stunden mit dem Staatsanwalt in eifriger Unterhaltung und bei verschlossenen Thüren, erhielt auch von diesem noch an demselben Abend ein Paket Papiere ausgehändigt, mit denen er dann, den Nachtzug benutzend, in die Residenz fuhr. Er hatte aber Niemanden weiter gesprochen, keinen Besuch gemacht oder empfangen und auch in der That mit keinem Menschen sonst verkehrt.

Indessen war der Tag der Erbschaftszahlung herangerückt, und es schien fast, als ob die Herren der Commission nicht übel Lust hätten, die Auszahlung zu verzögern und den Urtheilsspruch der Geschworenen anzufechten; der Sachwalter des gnädigen Fräuleins hatte sich wenigstens die größte Mühe gegeben, um dahin zu wirken. Aber sie mochten doch wohl am Ende einsehen, daß sie nicht durchdringen würden; die Beweise waren zu klar geliefert worden, und nur auf die Vollmacht hin, die Witte in Händen hielt, weigerten sie sich, die Summe auszuzahlen. Eine Clausel des Testaments lautete, daß es der Erbe selber in Empfang nehmen müsse, was sie als »persönlich« interpretirten.

Das verzögerte die Auszahlung aber nur um einen Tag, denn am nächsten Morgen kehrte Fritz schon zurück, und zwar selig über den Erfolg seiner Reise.

Auch in der Residenz war seine Sache eifrig besprochen worden, und es hatte dadurch – da sich selbst die königliche Familie dafür interessirte – wenig Schwierigkeit für ihn, eine Audienz beim Könige zu erlangen, um dort persönlich das Gnadengesuch für seine Pflegemutter zu befürworten. Der Königin selber, die zugegen war, standen dabei die Thränen in den Augen, und als er sich endlich verabschiedete, wurde ihm die freundliche Versicherung, er solle nur ruhig zurück auf seine Besitzung reisen, seine Bitte werde Erhörung finden.

Der Telegraph beförderte auch schon vor seinem Wiedereintreffen in Alburg den Gnadenerlaß Sr. Majestät an das Criminalgericht daselbst. Seine Pflegemutter wurde an demselben Tage freigelassen, an welchem er die Stadt betrat.

Jetzt hatte er freilich genug mit sich selber und seinen Geschäften zu thun, um an etwas Anderes denken zu können. Das Capital mußte erhoben werden, und zugleich erschien eine Ankündigung des Staatsanwalts Witte, daß Alle, welche eine Forderung an die Familie Wendelsheim hätten oder zu haben glaubten, sich bei ihm in seiner Wohnung melden und die Rechnungen einreichen sollten – und wahrlich, er bekam dadurch Arbeit. An dem Tage wurde ihm bald das Haus gestürmt, weil die meisten Gläubiger schon gefürchtet oder vielmehr gar nicht erwartet hatten, daß der neue Erbe die Schulden für den Eingeschobenen bezahlen werde.

Fritz selber befaßte sich nicht damit; er bat Witte, der die Annahme und das Eintragen der Rechnungen einem seiner Schreiber übertrug, mit ihm nach Wendelsheim hinaus zu fahren, denn er fürchtete sich ordentlich davor, das alte Schloß, das von jetzt ab sein Eigenthum sein sollte, allein zu betreten. Witte war dabei ein praktischer Mann, der ihm den besten und vernünftigsten Rath über die künftige Verwaltung geben konnte.

Er hatte auch geglaubt, seinen Einzug ganz still und unbeachtet halten zu können, und sich vorgenommen, einfach in einem Miethwagen hinaus zu fahren und beim Verwalter abzusteigen, mit dem er das Meiste ja bereden mußte. Witte war indessen anderer Ansicht gewesen, und ohne ihm etwas davon zu sagen, schickte er Morgens in aller Frühe einen reitenden Boten nach Wendelsheim, der den Leuten im Schlosse das Eintreffen ihres neuen jungen Herrn melden mußte; denn er hielt es für nicht in der Ordnung, daß derselbe unbemerkt und unbeachtet wie ein Handlungsreisender das Schloß seiner Väter, aus dem er so lange unschuldig verbannt gewesen, betrete.

Der Bote brachte einen wahren Aufruhr im alten Schloß hervor, denn der Zustand dort war auf die Länge der Zeit unerträglich geworden, und Alles jubelte ja dem neuen Gebieter, den sie bei seinen seltenen Besuchen und seiner freundlichen Theilnahme für den verstorbenen jungen Herrn immer lieb gehabt, aus vollem Herzen ein Willkommen entgegen. Das ganze Dorf wurde auch augenblicklich aufgeboten, um Blumen und Büsche zu pflücken und Kränze zu winden; die Leute legten alle ihren Sonntagsstaat an, und selbst der Schulmeister ließ sich die ganze Dorfschule noch einmal frisch überwaschen und den letzten Choral repetiren, den sie neulich mitsammen durchgegangen, denn etwas Neues in der Geschwindigkeit zu lernen, wäre unmöglich gewesen. Vorposten wurden dazu mit Stangen und Tüchern daran auf die nächste Höhe beordert, um die erste nahende Extrapost, deren Postillon einen weißen Federbusch – nach Anordnung Witte's als Gala – trug, gleich durch Schwenken der Tücher anzumelden.

Der Verwalter machte außerdem den kühnen Vorschlag, ein paar alte Böller, die noch im Wagenschuppen standen, vorzuholen, zu laden und abzuschießen, wenn die Extrapost in das Thor einfahren würde. Es stellte sich nur die einzige Schwierigkeit heraus, daß kein Pulver da und die Zeit zu kurz war, um deshalb noch einmal in die Stadt zu schicken. Der alte Baron hatte allerdings, wie man recht gut wußte, Pulver oben in seinem Gewehrschrank; aber den konnte man natürlich nicht darum ersuchen, denn er ließ Niemanden vor und gab auch auf gar keine Frage oder Bitte Antwort. Der Böllergruß mußte deshalb unterbleiben.

Und jetzt war Alles fertig; weißgekleidete Jungfrauen konnten allerdings nur zwei im Dorfe aufgetrieben werden. Es fehlte nämlich an rein gewaschenen weißen Kleidern, zwei ausgenommen, die rasch geplättet werden konnten, und mit den Zweien mußte man sich denn auch begnügen, um sie zum Blumenstreuen zu verwenden. Es sieht immer besser aus, wenn das eine weißgekleidete Jungfrau verrichtet, und der Schulmeister besonders hielt es für unerläßlich.

Die Leute standen dabei in größter Spannung auf dem Hof. Die Extrapost hatte um eilf Uhr eintreffen sollen, und jetzt war es schon halb Zwölf und noch keine Spur davon zu sehen, selbst nicht von der Höhe aus. Halt! dort hob sich eine Fahnenstange, das verabredete Zeichen, daß ein Wagen in Sicht kam, wenn man ihn auch noch nicht genau unterscheiden konnte. Alles drängte gespannt dem Thor zu – jetzt ging die zweite in die Höhe – Hurrah, das sind sie! Und nun ging es an ein wahres Durcheinander, um Jeden in der Geschwindigkeit auf seinen richtigen Platz zu bringen.

Sogar ein paar Instrumente hatte man im Dorf aufgetrieben, Leute, die manchmal, um Musik zu machen, auf die Jahrmärkte zogen: eine Trompete, eine Posaune, eine Clarinette und eine Geige, und mit denen war schon unten vor dem Wirthshaus ein Tusch einexercirt worden. Unglücklicherweise hatte aber der Trompeter beim Heraufkommen sein Mundstück verloren – die alte Schraube hielt nicht fest – und die ganze Zeit in Todesangst danach gesucht. Er fand es nicht wieder, es mußte irgendwo in das Gras gefallen sein, und Posaune und Clarinette mit der Violine sollten jetzt den Tusch allein spielen.

Jetzt kam der Wagen in Sicht, voraus, was sie laufen konnten, die beiden Jungen mit den Fahnenstangen, und wie der Wagen jetzt auf ein Zeichen des Verwalters im Schritt in das Thor hineinfuhr, scheuten die Pferde, denn die Posaune platzte, da ihr die Trompete fehlte, zu früh los und die Clarinette setzte falsch ein, während die Violine mit ihrem Tusch und ihrer feinen, piependen Stimme ordentlich durchging und schon fix und fertig damit war, ehe die Posaune nur wieder ihr altes Messing eingeholt hatte.

Aber mit donnerndem Jubel brach jetzt das Hurrahgeschrei der Dorf- und Schloßbewohner aus, ein Hurrah, das aus voller Kehle und volleren Herzen laut und jubelnd herausgestoßen wurde; und die Mädchen warfen ihre Blumen den Pferden vor die Hufe, die Frauen schwenkten ihre Tücher, die Männer ihre Mützen und Hüte, und die Luft bebte ordentlich von den Jubelrufen.

Fritz saß im Wagen, die Thränen liefen ihm an den Wangen nieder – er konnte kaum danken und winken vor innerer Bewegung; aber Witte besorgte das für ihn. Er schwenkte seinen Hut nach allen Seiten, sein ganzes Gesicht strahlte vor Freude, denn nicht mit Unrecht betrachtete er dies Alles als sein eigentliches Werk; und als der Choral jetzt begann und die Schuljungen vor Angst und Rührung nicht singen konnten und der Schulmeister, aus Furcht, daß sie sich blamiren würden, allein hinausbrüllte, und dann der Trompeter plötzlich jubelnd mit dem endlich gefundenen Mundstücke zurückkam und nun den Tusch, freilich etwas verspätet, mitten in den Choral hinein schmetterte, wollte er sich rein ausschütten vor Lachen.

Der Verwalter hatte sich vorgenommen gehabt, dem jungen Herrn, wenn er aus dem Wagen stieg, eine Rede zu halten; aber es war ihm gegangen, wie dem Trompeter mit seinem Instrument, er hatte das Hauptende davon: den Anfang, verloren und blieb stecken, ehe er nur begann. So war denn wohl alles Einstudirte vergessen, aber was ihm im Herzen und auf der Zunge lag, doch nicht, und wie der junge Mann aus dem Wagen sprang, streckte er ihm die breite Hand entgegen und sagte: »Gott sei Dank, daß Sie da sind, daß Sie's sind, Gott segne Sie und Ihren Eingang!« Und das war die beste Rede, die er hätte halten können.

Fritz war froh, als er sich dem Lärm und Jubel da draußen in dem stillen Stübchen des Verwalters entziehen konnte. Er wollte noch nicht in's Schloß hinaufgehen, er mochte seiner Tante nicht begegnen, bis Alles geordnet und besprochen war.

Der Beamte, der bis jetzt die Controle im Schlosse gehabt, kam hieher und übergab ihm die Schlüssel, und bald hatte er sich mit dem alten Verwalter über die nächst zu nehmenden Schritte in der Bewirthschaftung des Gutes vereinigt oder vielmehr Alles gut geheißen, was der Alte, mit der Führung überhaupt betraut, bis dahin unternommen. Ueberall nöthige Verbesserungen konnten natürlich erst in ruhigerer Zeit vorgenommen werden; der Verwalter bekam aber unbeschränkte Vollmacht, Alles anzuordnen und vorzubereiten, was er für dringend nöthig halte, damit nicht so viel Zeit versäumt würde, denn in den letzten Jahren war ja fast das Ganze in Verfall gerathen.

Gern hätte Fritz seinen Vater gesehen; aber der Verwalter rieth ihm dringend ab, auch nur den Versuch zu machen, da sich der Zustand des alten Barons in den letzten Tagen sehr verschlimmert haben sollte. Kathinka und der Arzt waren die einzigen, die zu ihm durften; das Mädchen, dem das Reinmachen der Zimmer oblag, mußte sich Morgens nur hineinstehlen und mehrmals selbst flüchten, wenn er es nur gewahrte. Fremde Menschen duldete er gar nicht um sich. Der Arzt hatte eines Tages, da er selbst verhindert war zu kommen, seinen Famulus zu ihm gesandt; auf den aber stürzte er augenblicklich los, so daß er sich gar nicht schnell genug aus dem Zimmer retten konnte. Seit der Zeit war es auch ernstlich besprochen worden, ob man ihn nicht einer Anstalt übergeben müsse, um bei einem einmal plötzlich ausbrechenden Wuthanfall Unglück zu vermeiden.

Und wo war Kathinka, daß er sie noch nicht gesehen, denn im Hofe konnte sie nicht gewesen sein? Der Verwalter wußte es nicht; sie hatte vorhin, als die Extrapost einfuhr, oben an einem der Fenster gestanden, wahrscheinlich befand sie sich noch oben.

Indessen kam die Meldung, daß für den jungen neuen Herrn das Frühstück oben aufgetragen sei; aber Fritz hatte vorher noch eine andere Pflicht zu erfüllen: er mußte das Grab seines armen Benno, seines Bruders, besuchen, und bat deshalb den Staatsanwalt, alles noch Nöthige unter der Zeit mit dem Verwalter zu besprechen. Er wollte dort draußen ungestört und allein sein.

Er kannte ja auch den Weg dahin gut genug! oft und oft war er in früheren Zeiten, manchmal mit seinem kranken Bruder, manchmal allein, durch den Park gewandert, mit keiner Ahnung damals freilich, daß er auf seinem eigenen Besitzthum stehe. Eigenthümliche Gefühle durchzogen ihm deshalb auch heute die Brust, als er das Laub der alten Bäume wieder über sich rauschen hörte und die grotesk verschnittenen Taxushecken sah, die den Gemüsegarten auf der einen Seite einfriedigten. Wie wunderbar war das Alles gekommen, wie unbegreiflich, ungeahnt, und so rasch dabei, daß er noch immer wie in einem Traum dahinschritt und in dem Traum doch wieder das jubelnde Willkommen hörte, das ihm seine künftigen Untergebenen zugerufen, doch wieder die glücklichen, freundlichen Gesichter sah, die ihm von allen Seiten entgegen lachten.

Die Augen auf den Boden geheftet, nur mit den Bildern beschäftigt, durchwanderte er den langen, etwas gewundenen Gang, der zu dem Erbbegräbniß der von Wendelsheim führte, bis er den offenen Platz erreichte, der die stille, freundliche Ruhestätte umgab.

Die kleine Capelle, in der das Todtenamt gehalten wurde, stand rechts, und dicht daran geschmiegt lagen die Gräber, nicht in dumpfer Gruft, sondern in der Mutter Erde, unter grünem Rasen und schattigen Trauer-Eschen und Weiden – und dort drüben?

Sein Fuß zögerte – an dem letzten, noch mit Blumen reich geschmückten Grabe kniete eine weibliche Gestalt und betete; es war Kathinka, er erkannte sie im Augenblick. Sie konnte ihn auch nicht gehört haben, denn sie veränderte ihre Stellung nicht im geringsten, und er blieb stehen, um sie nicht zu stören. Aber sein Auge haftete fest auf ihr, und unwillkürlich faltete er die Hände und schämte sich dabei der Thränen nicht, die ihm die Wangen netzten; aber es waren nicht allein Thränen der Trauer um den so früh geschiedenen Bruder – es waren auch Thränen des Glücks. Jetzt erhob sie sich; sie hatte ihre Andacht wohl beendet und wollte zu dem Schlosse zurückkehren, als sie den Fremden auf dem freien Platz bemerkte und erschreckt zusammenzuckte. Aber sie mußte ihn erkannt haben, denn scheu wich sie ihm aus, grüßte ehrfurchtsvoll und wollte den andern Weg einschlagen, der an dem Gitter des Parks hinlief.

»Kathinka,« sagte Fritz herzlich, »bin ich Ihnen so fremd geworden, daß Sie mir nicht einmal mehr, wie sonst, die Hand zum Gruß bieten?«

»Ich weiß nicht, Herr Baron,« sagte das junge Mädchen ängstlich und wurde dabei purpurroth; »ich wußte nicht, daß Sie so bald hieher kommen würden, und war nur hier, um – Abschied zu nehmen.«

»Abschied, Kathinka?«

»Ja; das gnädige Fräulein hatte mir schon vor einiger Zeit befohlen, das Schloß zu verlassen; aber ich durfte nicht fort. Der fremde Herr, der in den letzten Tagen den Befehl hier führte, litt es nicht; Niemand durfte den Platz verlassen, wie er sagte, bis der rechtmäßige Besitzer eingetroffen sei, der dann selber zu bestimmen haben würde.«

»Und Sie haben noch einmal an meines armen Benno Grab gebetet?«

»Er war der einzige Freund, den ich auf der Welt hatte,« sagte das junge Mädchen weich; »ich durfte den Platz nicht verlassen, ohne wenigstens von ihm Abschied zu nehmen.«

»Und gehen Sie gern, Kathinka?«

Das junge Mädchen schwieg; ein eigenes, wehes Gefühl preßte ihr das Herz zusammen, und sie brauchte Minuten, um sich zu sammeln. Endlich sagte sie leise: »So lange der – so lange Ihr Bruder lebte, würde ich mich schwer vom Schlosse Wendelsheim getrennt haben; jetzt bedarf man meiner nicht mehr, und – das gnädige Fräulein sieht auch meine Gegenwart nicht gern.«

»Aber wohin wollen Sie sich wenden?«

»Ich – weiß es noch nicht; ich – habe Aussicht, als Lehrerin in ein Institut zu treten.«

»Unter fremden Menschen?«

»Unter fremden Menschen?« wiederholte Kathinka wehmüthig. »Ich war die Fremdeste im Schlosse von Allen. Aber Sie entschuldigen mich wohl, Herr Baron; ich möchte meine Sachen packen, und glaube doch nicht, daß meiner Abreise noch etwas im Wege steht.«

»Herr Baron?« wiederholte Fritz unwillkürlich leise; »wie sonderbar, wie unnatürlich das klingt!«

»Aber es ist doch Ihr Titel!«

»Und glauben Sie, Kathinka, daß mich der Titel freuen würde, wenn ich dadurch alte Freunde verlieren sollte?«

»Sie werden keine alten Freunde dadurch verlieren, Herr Baron, aber viele neue wohl dadurch gewinnen.«

»Aber Sie habe ich doch dadurch verloren, Kathinka,« sagte Fritz herzlich; »Sie waren sonst so einfach unbefangen, so gut mit mir und sind jetzt auf einmal so entsetzlich kalt und höflich geworden.«

»Waren Sie nicht Benno's treuester Freund?«

»Also nur Benno's wegen?«

»Herr Baron!« sagte das arme Mädchen, und wieder schoß ihr das Blut in Strömen in Wangen und Schläfe.

»Ich hatte mich so darauf gefreut, Sie wieder hier zu finden,« fuhr Fritz herzlich fort, »mit Ihnen mich der Zeiten zu erinnern, wo Benno noch lebte; jetzt, da ich komme, wollen Sie das Schloß verlassen.«

»Ich muß, Herr Baron.«

»Aber selbst wenn mein gnädiges Fräulein Tante gar nicht mehr den Oberbefehl hier hätte – ein Zustand, der sehr wahrscheinlich ist –, würden Sie dann immer noch fort wollen?«

»Ja, Herr Baron – ich würde doch gehen.«

»Dann haben Sie einen andern Grund.«

Kathinka schwieg; sie war jetzt eben so bleich geworden, als sie vorher roth gewesen.

»Und darf ich ihn nicht wissen?«

Noch immer stand das junge Mädchen und sah still und lautlos zur Erde nieder.

Da trat Fritz ihr näher, nahm ihre Hand und sagte leise: »Kathinka, ich kenne Ihr ganzes Leben, ich weiß, was Sie hier in dem alten Schloß ausgehalten, weiß, mit wie himmlischer Geduld Sie Alles ertragen haben nur des Bruders wegen, und lebte Benno noch, nie, nie hätte er gestattet, daß Sie Schloß Wendelsheim verlassen dürften. Ich bin sein Erbe, nicht allein der Erbe seines Gutes, nein, auch seiner Liebe – gehen Sie nicht fort. Sie haben Schloß Wendelsheim als eine Hölle gesehen, machen Sie es selber zu einem Himmel.«

»Herr Baron!« rief Kathinka, bestürzt zu ihm aufsehend.

»Erschrecken Sie nicht darüber, Kathinka,« rief Fritz, sie mit seinem linken Arme umfassend – »werden Sie mein Weib – ich war Ihnen gut vom ersten Augenblick an, wo ich Sie gesehen, und suchte doch das Glück an anderer Stätte, wo ich es wahrscheinlich nie gefunden hätte. Jetzt bin ich zurückgekehrt...«

»Um Gottes willen,« rief Kathinka beinahe außer sich, »Ihren Scherz können Sie ja doch an Benno's Grab nicht mit einer armen Waise treiben – und Ernst? Es ist ja nicht möglich, nicht denkbar!«

»Werden Sie mein Weib, Kathinka,« bat Fritz noch einmal und sah ihr so treu, so liebend in die Augen, daß ihr schwindelte. »Einen heiligeren Platz für Ihr Jawort, als des Bruders Grab, finden wir nicht auf der weiten Welt, und daß sein Geist mit Jubel unsern Bund segnet – glauben Sie es nicht?«

»Aber es ist – es ist ja doch nicht möglich!«

»Bist Du mir gut, Kathinka?« drängte Fritz, indem er sie fester an sich preßte; »o, sage nur das eine Wörtchen: Ja!«

»Gut?« rief das junge Mädchen, und während sie ihr Haupt an seiner Brust barg, machte ein Thränenstrom ihrem gepreßten Herzen Luft. Fritz aber, ohne sie loszulassen, in Glück und Seligkeit, führte sie zu dem Grabe des Bruders, und dort, sich fest umschlingend, beteten Beide still und heiß.

»Und nun komm,« sagte Fritz endlich, sie mit sich vom Boden hebend; »mir bleibt noch viel daheim im Schloß zu thun, denn von heute ab hab' ich es übernommen. Du wirst so lange, bis unser Bund gesegnet werden kann, zu der alten Verwalterin hinüberziehen, und daß Dich die Tante nicht mehr kränkt, dafür laß mich sorgen. Aber eine Frage beantworte mir noch, Kathinka, ehe wir den Park verlassen: Weshalb wolltest Du doch das Schloß meiden, auch wenn die Tante da nicht mehr zu befehlen hätte?«

Kathinka war wieder blutroth geworden; sie richtete sich von der Brust des Geliebten, der sie noch immer umschlungen hielt, auf und sah ihm in die Augen.

»Und darf ich es wissen?«

Und wieder barg sie ihr Haupt an seiner Schulter und flüsterte: »Weil ich elend geworden wäre, wenn ich Dich in den Armen einer andern Gattin gesehen hätte!«

»Mein Lieb, mein süßes, herziges Lieb! Und so warst Du mir schon lange gut?«

»O, von ganzem Herzen und von ganzer Seele!« rief die Jungfrau und umschlang zum ersten Male den Geliebten mit beiden Armen.

Es waren selige Augenblicke des Glückes, in denen die beiden Liebenden langsam durch den schattigen Park zurück dem alten Schlosse zuwanderten, und erst als sie in Sicht des unmittelbar daran stoßenden offenen Platzes kamen, wand sich Kathinka von ihm los, warf noch einmal die Arme um seinen Nacken, begegnete seinem heißen Kuß, und floh dann scheu seitab durch die Büsche, um den Hof von einer andern Seite zu erreichen.

Als Fritz ihn betrat, kam ihm Witte entgegen und sagte ihm, das gnädige Fräulein habe schon zum dritten Mal nach ihm geschickt und erwarte ihn beim Frühstück.

»Welches gnädige Fräulein?« fragte Fritz zerstreut.

»Welches?« lachte der Staatsanwalt; »nun, Ihre Fräulein Tante. Wenn die aber die Honneurs macht, will ich lieber nicht mit hinüber gehen, um ihr den Appetit nicht zu verderben.«

»Ich fürchte, lieber Staatsanwalt,« nickte Fritz, »ich werde ihn ihr selber verderben müssen; aber kommen Sie, denn ich habe nachher noch etwas sehr Wichtiges vor, bei dem ich gern wünschte, daß Sie Zeuge wären.«

Beide Männer schritten jetzt dem Portal des Schlosses zu, wo sie oben den alten Verwalter trafen, der, mit ein paar Flaschen Wein beladen, aus dem Keller stieg.

»Haben Sie keinen Champagner unten, Wunting?«

»Ja gewiß, Herr Baron.«

»Schön, der darf heute nicht fehlen; aber bringen Sie ihn selber in's Zimmer und frühstücken Sie mit uns. A propos, wo steckt denn Fräulein Kathinka?«

»Wie ich in den Keller ging, stieg sie die Treppe hinauf; ich glaube, sie wird in ihrem Zimmer sein.«

»Dann schicken Sie Jemanden hinauf, ich ließe sie bitten, in das Frühstückszimmer zu kommen. Es sind doch Gedecke genug aufgelegt?«

»Ja, mein bester Herr Baron,« sagte der Verwalter etwas verlegen, »das ließe sich wohl gleich besorgen, aber – die Sache hat einen Haken. Sie – kennen die Hausordnung auf Schloß Wendelsheim noch nicht. Das gnädige Fräulein ißt weder mit mir, noch mit der Kathinka an einem Tisch, und als das der alte Herr Baron einmal einführen wollte, hat es einen Hauptspectakel gegeben. Ich möchte doch nicht die Ursache sein, daß es gleich am ersten Tage zu Zank und Unfrieden käme – der wird so nicht ausbleiben,« setzte er leise hinzu.

»Haben Sie keine Furcht, Wunting,« nickte ihm Fritz zu, »mein gnädiges Fräulein Tante soll, was das Frühstück betrifft, nicht in ihren Gefühlen verletzt und auch kein Zank und Unfrieden hervorgerufen werden. Erfüllen Sie nur meine Bitte und besorgen mir Alles nach der angegebenen Art; das Andere überlassen Sie mir.«

Damit stieg er langsam, Witte unter den Arm fassend, die Treppe hinauf, betrat aber das ihm bezeichnete Frühstückszimmer noch nicht, sondern zuerst den großen Saal, von dessen Balcon aus er den ganzen Hof und einen großen Theil des Parkes übersehen konnte. Und das Alles war jetzt sein – sein Eigenthum, sein Erbe von Eltern her, die er nie gekannt, oder, wenn gekannt, nur scheu und fremd betrachtet, an deren Herzen er nie gelegen, nie ein freundliches Wort nur von ihnen vernommen hatte. Es war ihm recht weich und weh zu Sinn – und doch auch wieder so wohl, so glücklich, daß er hätte weinen mögen, aber zugleich aufjubeln vor Lust und Seligkeit.

Witte betrachtete sich indeß die Bilder an den Wänden und das ganze alte, außerordentlich reiche, aber verwitterte und verblichene Ameublement, das genau so aussah, als ob es einer Ritterfamilie gehört und ein paar Jahrhunderte unbenutzt hinter verschlossenen Thüren und verhangenen Fenstern gestanden habe, bis der Verwalter sie hier aufsuchte und meldete, es sei Alles bereit, Fräulein Kathinka fürchte sich aber, in das Zimmer zu gehen, bis der Herr Baron mitkäme.

Ein leichtes Lächeln flog über das Antlitz des jungen Mannes und er sagte freundlich: »So kommen Sie, Staatsanwalt, kommen Sie, lieber Wunting, denn ich muß Ihnen gestehen, daß ich hungrig geworden bin, und der Champagner darf ebenfalls nicht kalt werden.«

Und damit eilte er leichten Schrittes hinaus über den Gang, auf dem Kathinka harrend am Fenster stand. Aber er redete sie nicht an, nur einen lächelnden Wink gab er ihr, und betrat jetzt, von den Uebrigen gefolgt, das Frühstückszimmer, in dem ihn seine Tante, in eine schwerseidene, violettblaue Robe gekleidet, stehend erwartete. Wie sie ihn sah, ging sie auf ihn zu, streckte ihm die Hand entgegen und sagte:

»Erlaube mir, Fritz, Dich auf Schloß Wendelsheim willkommen zu heißen! Ein wunderliches Geschick hat Dich so lange davon fern gehalten, und jetzt – nun, nimmst Du meine Hand nicht?« rief sie, ihn erstaunt ansehend. »Ist das Dein erster Gruß auf unserem alten Stammsitz?«

»Mein gnädiges Fräulein,« sagte Fritz kalt und fest, »was Sie thun konnten, um sich diesen »ersten Gruß« zu ersparen, haben Sie redlich gethan. Gott hat es anders gewollt, und ich bin in die Mauern, aus denen ich heimlich und in einen Mantel gewickelt in stürmischer Nacht nicht verbannt, nein, verstoßen wurde, bei hellem Sonnenschein zurückgekehrt; aber nicht mehr als Kind, sondern als Mann und Herr – von jetzt ab keine Gemeinschaft mehr zwischen Ihnen und mir!«

»Fritz,« rief das gnädige Fräulein erschreckt, denn bis zu diesem Augenblick hatte sie noch gehofft, ihre Autorität im Schlosse nicht ganz zu verlieren, »und glaubst auch Du jenen faulen Zungen, die mich verdächtigten?«

»Die Stimme des Volkes gegen Sie ist Ihnen bekannt,« sagte Fritz ruhig, »Sie haben sie wenigstens bei Ihrem Austritt aus dem Saal der Geschworenen erfahren. Ich theile dessen Glauben, daß Sie gerade die Hauptschuldige des Verbrechens waren. Aber wie dem auch sei, ich will nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Dieses Schloß, das Sie die langen Jahre zu einem Fegefeuer Ihrer Untergebenen machten...«

»Herr Baron!« rief das gnädige Fräulein, emporfahrend.

»Soll Ihnen nicht verschlossen werden. Bleiben Sie, wenn Sie es wünschen, hier wohnen, und ich werde Ihnen in dem neuen Flügel Ihre Zimmer herrichten lassen. Im Schlosse selber wirthschafte ich aber von diesem Augenblicke an mit meiner Hausfrau als unumschränkter Herr, und meine Hausfrau,« fuhr er fort, sich nach dem schüchtern zur Seite stehenden Mädchen umdrehend und ihre Hand ergreifend, »wird Kathinka werden.«

»Kathinka?« rief Fräulein von Wendelsheim entsetzt, während der alte Verwalter mit einem dankbaren Blick nach oben seine Hände faltete und Staatsanwalt Witte leise vor sich hin mit dem Kopf nickte.

»Ich weiß, daß Sie ein nicht unbedeutendes Vermögen haben,« setzte Fritz hinzu, »hinlänglich wenigstens, um bequem davon leben zu können; sollten Sie deshalb vorziehen, Schloß Wendelsheim zu verlassen, so steht Ihnen nichts im Wege, ja, ich erlaube mir sogar, Ihnen noch einen jährlichen Zuschuß von tausend Thalern anzubieten. Bleiben Sie aber hier, so verbiete ich Ihnen hiermit auf das strengste, unsern Theil des Schlosses je zu betreten, oder...«

»Genug, genug, Herr Baron von Wendelsheim,« unterbrach ihn die Dame, in zornigem Grimm emporfahrend, »übergenug, um mir zu beweisen, daß Sie Ihrer Erziehung Ehre machen! Schloß Wendelsheim hat bis jetzt seinen alten Namen in Schmuck und Stolz bewahrt; ich will nicht Zeuge sein, wie er in den Staub getreten wird!«

Und sich rasch abwendend, eilte sie nach der Thür, durch die sie in Hast verschwand.

»Ich hätte nie geglaubt,« sagte Witte trocken, »daß ich noch in meinen alten Jahren ein solches Vergnügen empfinden würde, einen Drachen fliegen zu sehen; Fräulein von Wendelsheim's beste Seite ist aber entschieden ihr Rücktheil. Und das Ihre Braut, Baron?«

»Meine liebe, süße Braut!« rief Fritz, das tief erröthende Mädchen an sich ziehend. »Es ist rascher gekommen, als ich eigentlich glaubte; aber sie wollte uns hier entfliehen, und da wußte ich kein besseres Mittel, um sie zu halten, als sie zu bitten, mein braves Weib zu werden.«

»Und tausend Gottes Segen über Sie Beide,« rief der alte Verwalter jubelnd, »denn jetzt geht eine neue Sonne über Wendelsheim auf!«

10.
Bruno.

Staatsanwalt Witte hatte auf den nächsten Morgen Bruno Baumann bitten lassen, zu ihm zu kommen und einiges Geschäftliche mit ihm zu regeln. Es war nöthig, daß er die verschiedenen eingelaufenen Rechnungen wenigstens durchsah, um so viel als möglich eine Uebervortheilung von Seiten der Gläubiger zu vermeiden.

Bruno kam zur bestimmten Zeit und sah in Witte's Hinterstübchen die eingelaufenen Papiere durch, die sich allerdings auf eine ziemlich bedeutende Summe beliefen, aber dennoch die Ziffer noch lange nicht erreichten, die der Staatsanwalt erwartet oder vielmehr gefürchtet hatte.

Bruno war natürlich in einer sehr gedrückten Stimmung, aber doch ernst und gefaßt, und Witte wirklich von der Resignation gerührt, mit der er Alles über sich ergehen ließ.

»Mein lieber junger Freund,« sagte er auch endlich, als sich jener mit einem kaum unterdrückten Seufzer von seinem Stuhl erhob und die Papiere zurückschob, »lassen Sie den Kopf nicht sinken. Es hat Sie allerdings in der Täuschung aller Ihrer Erwartungen ein harter Schlag getroffen, aber er ist doch nicht so schlimm, als Sie vielleicht jetzt glauben mögen. Daß Friedrich von Wendelsheim alle die Schulden bezahlt, welche sein Vater oder Sie auf den Namen gemacht haben, ist eine Sache, die sich von selbst versteht; denn wäre er an Ihrer Stelle gewesen, so hätte er ebenfalls Schulden machen müssen und – mit einer andern Erziehung – möglicher Weise noch ganz anders gewirthschaftet. Er fühlt aber auch, daß Sie, und noch dazu ganz unverschuldeter Weise, in einem Alter in das Leben hinausgeworfen werden, wo man nicht mehr anfangen kann zu lernen, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und hat mich deshalb gestern beauftragt, Ihnen ein Capital von dreißigtausend Thalern auszahlen zu lassen, das Sie also jeder Sorge für Ihre künftige Existenz überhebt und Sie vollkommen frei und unabhängig in die Welt stellt. Sie können jeden Augenblick darüber verfügen.«

Bruno war feuerroth bei dem Anerbieten geworden, und er bedurfte einiger Zeit, ehe er etwas erwiedern konnte. Endlich sagte er leise: »Herr Staatsanwalt, der Erbe von Wendelsheim ist ein Ehrenmann, und sagen Sie ihm für sein großmüthiges Anerbieten meinen herzlichsten Dank – wie ich auch Ihnen für die freundliche und zarte Weise danke, mit der Sie es mir mitgetheilt – aber ich kann es nicht annehmen.«

»Den Henker auch,« rief Witte ordentlich erschreckt, »dreißigtausend Thaler wirft man doch bei Gott nicht mit einer Handbewegung aus dem Fenster!«

»Hören Sie mich ruhig an,« sagte Bruno. »Dafür schon, daß er die Schulden bezahlt, die ich, ohne es zu wissen, auf einen fremden Namen gemacht, bin ich ihm dankbar, und nehme das mit Freuden an, weil ich weiß, daß ich an seiner Stelle ebenso gehandelt hätte. Ich muß es auch – nicht meinetwegen, sondern der armen Leute wegen, die ihr Vertrauen auf den alten Namen nicht so theuer bezahlen dürfen. Dadurch zahlt er es theilweise für sich selber ab – weiter darf es nicht gehen. Ich kann kein Almosen von einem Fremden nehmen.«

»Das sind die unglückseligen, überspannten Vorurtheile von Ehre, die Ihnen noch aus Ihrem früheren Stande ankleben!« rief der Staatsanwalt.

»Wollte Gott,« sagte Bruno, »jener Stand hätte keine schlimmeren Vorurtheile, wie Sie es nennen, als das innige Gefühl für seine Ehre – es wäre dann Manches besser.«

»Aber Sie sagen, Sie hätten, was die Rechnungen betrifft, das Nämliche an seiner Stelle gethan – hätten Sie nicht ebenso in Betreff einer Summe gehandelt, die dem unschuldig Ausgestoßenen wenigstens den Schmerz der Abhängigkeit erspart?«

»Ich glaube, ja,« sagte Bruno nach einigem Zögern. »Ich glaube, ich würde ihm ein ähnliches Anerbieten gemacht haben; aber ich bin eben so fest überzeugt, daß er es aus den nämlichen Gründen zurückgewiesen hätte, als die sind, welche mich jetzt dazu bestimmen.«

»Aber lieber, bester Herr...«

»Lassen Sie uns enden. Ich trage das drückende Gefühl, ihm zu Dank verpflichtet zu sein, schon jetzt mit mir fort, wenn er es auch selber gesucht hat auf freundliche Art zu mildern, indem er Sie zum Vermittler machte. Ich werde morgen die Stadt verlassen, um nie mehr hieher zurückzukehren, und nur noch zwei schwere Wege stehen mir bevor.«

»Haben Sie Ihre Eltern noch nicht besucht?«

»Nein, ich bin jetzt im Begriff dorthin zu gehen – erlauben Sie vielleicht, daß ich mich vorher bei Ihrer Familie verabschiede, die mir immer so viel Freundlichkeit bewiesen?«

»Hm – ja – gewiß!« rief Witte rasch, und dann die Thür öffnend, rief er hinaus: »Gehe einmal einer von Ihnen hinüber zu meiner Frau und sage ihr, der Herr Lieutenant Bau–, der Herr Lieutenant von Wendelsheim wünsche ihr seine Aufwartung – seinen Abschiedsbesuch zu machen!«

»Es paßt Alles nicht mehr, lieber Staatsanwalt,« lächelte Bruno wehmüthig, als er die Thür wieder schloß, »weder der Lieutenant, noch der Name. Ich bin der schlichte Bruno Baumann geworden, und wenn mir der Name auch noch eben so unbequem ist, wie mir die ungewohnten Civilkleider sitzen, so werde ich mich doch mit der Zeit hineinfinden müssen.«

»Ich kann mir's denken,« nickte der Staatsanwalt, horchte aber doch dabei unruhig nach der Thür – er hatte so eine Ahnung. Jetzt hörte er Jemanden kommen, und der junge Schreiber steckte gleich darauf den Kopf in's Zimmer und sagte:

»Frau Staatsanwalt läßt unendlich bedauern: sie hat Kopfschmerzen, und Fräulein Ottilie sind noch nicht angekleidet.«

Der Staatsanwalt nickte still vor sich hin – genau so, wie er erwartet. Bruno sah ihn an und seufzte:

»Die Damen haben recht,« sagte er; »ich hätte mir die Abweisung ersparen können. Aber Sie dürfen es mir nicht so übel nehmen, lieber Herr – man findet sich ja nicht so rasch in die neuen Verhältnisse.«

Witte war aufgestanden und lief einmal durch's Zimmer; jetzt blieb er vor Bruno stehen, streckte ihm die Hand entgegen und sagte herzlich:

»Wir bleiben Freunde – was auch kommen möge, und wenn Sie je im Leben Rath oder Hülfe brauchen, Baumann, so kommen Sie zu mir, und – Sie sollen Ihren Mann an mir finden....«

»Staatsanwalt Witte zu Hause?« hörten sie draußen eine Stimme – es war Fritz, der im nächsten Augenblick in der Thür stand. Als er Bruno bemerkte, streckte er ihm herzlich die Hand entgegen: »Ich habe mich lange danach gesehnt, Sie zu treffen, Bruno.«

»Auch ich freue mich,« sagte Bruno zurückhaltend, »um Ihnen meinen Dank für das – Geschehene auszusprechen, Herr Baron....«

»Herr Baron,« rief Fritz unwillig – »und das von Ihnen? Eben so gut wie es mir unmöglich ist, Sie mit dem Namen zu nennen, den ich so lange getragen habe, so wenig dürfen Sie sich dabei Gewalt anthun! Wir sind Leidensgefährten, alte, langjährige Leidensgefährten, die sich zum ersten Male im Leben in jener stürmischen Nacht im Parke von Wendelsheim begegneten und, selber willenlos, in fremde Bahnen geworfen wurden. Wie feindlich auch damals die Welt gegen uns auftrat – wir selber müssen Freunde bleiben, und dazu biete ich Ihnen die Hand. Aber dann auch kein Baron mehr, sondern Fritz und Bruno und ein herzliches Du, wie es solchen Unglücksbrüdern ziemt.«

Bruno preßte die ihm gereichte Hand herzlich, und der Staatsanwalt rief: »Aber er will das Geld nicht nehmen...«

»Kein Wort mehr darüber,« bat aber Bruno – »alles Andere nehme ich an, vor Allem am liebsten Deinen Brudergruß, Fritz, und damit Du siehst, daß ich auf Deine Liebe zähle, trete ich gleich vor Dich mit einer Bitte...«

»O wie gern wenn ich sie erfüllen kann!«

»Begleite mich zu den Eltern – ich war noch nicht dort und fürchte den ersten Schritt in meines Vaters Haus.«

»Armer Bruno,« sagte Fritz mit tiefem Gefühl – »so komm; wir wollen gehen, und unterwegs erzählst Du mir Deine Pläne für Dein künftiges Leben – ich Dir die meinigen.«

Die Straße hinab gingen die beiden jungen Leute Arm in Arm, und wer ihnen unterwegs begegnete und sie erkannte, blieb stehen und sah ihnen nach; und Bruno erzählte dem neu gewonnenen Freund, daß er beabsichtige, morgen nach Hamburg und von da nach Amerika zu gehen, um dort ein neues Leben zu beginnen, und Fritz dagegen sagte ihm von der Veränderung auf Schloß Wendelsheim, dem trostlosen Zustand des Vaters, der Bestrafung der Tante und seiner glücklichen Liebe, bis sie die alte Werkstätte Baumann's erreichten und unwillkürlich an der Schwelle stehen blieben.

»Wie manche glückliche Stunde habe ich hier verlebt,« sagte Fritz weich, »und darin, Bruno, bist Du weit glücklicher als ich, denn Du findest brave, wackere Eltern, deren Liebe ich Dir die langen Jahre gestohlen – o wenn Du mir nur verstatten wolltest, das im kleinsten Theile wieder gut zu machen!«

»Laß es sein, Fritz,« sagte Bruno trübe; »es war uns Beiden nicht verstattet, am Herzen der eigenen Mutter zu ruhen – aber es ist vorbei. Dir war es zum Heil – mir, dem es zum Glücke gereichen sollte, wurde es zum Verderben. Also vorwärts – es hilft nichts mehr, zurückzuschauen.«

In der Schlosserwerkstatt gingen die Hämmer fleißig, wie in alter Zeit; aber es wurde nicht dabei gepfiffen und gesungen wie in alter Zeit. Ein trüber Geist lag auf dem alten Hause. Nicht das Unglück – das würde diese Herzen einander nicht entfremdet haben –, nein, die Sünde war hindurch geschritten und hatte ihre dunkeln Spuren hinterlassen. Ein böser Geist war eingezogen – das Mißtrauen, und das Unglück hatte sich in einer Stätte unter Thränen und Seufzern behaglich eingerichtet, wo sonst nur das Glück, wenn auch mit harter Arbeit, seinen Wohnsitz aufgeschlagen.

Der alte Baumann stand am Amboß wie gewöhnlich und formte mit kundiger und geschickter Hand seine Arbeit; neben ihm arbeitete Karl mit den Lehrlingen, und als Fritz zuerst in der Thür erschien, warf Karl seinen Hammer hin, sprang auf ihn zu und reichte ihm treuherzig die rußige Hand. Auch dem Vater zuckte es einmal im Arme, als ob er ein Gleiches thun wolle. Da bemerkte er den eigenen Sohn, der hinter dem Pflegesohn die Schwelle betrat, und er schlug in dem Augenblick auf die dünne, rothglühende Stange, die er in der Zange hielt, mit solcher Gewalt ein, daß er sie zu Fasern breit aus einander schmetterte.

Fritz ging auf ihn zu: »Vater, hast Du keinen Gruß für Deine Söhne?«

»Meine Söhne, Herr Baron?« sagte der alte Mann. »Ich hatte einen, aber...«

Er kam nicht weiter. Fritz hing an seinem Halse und küßte ihn. »Hab' ich das verdient,« rief er dabei, »daß Du mich Baron nennst?«

»Nein, zum Teufel, nein!« rief der alte Mann, den Hammer zu Boden schleudernd und den Pflegesohn umarmend. »Sei mir nicht böse, Fritz, es – fuhr mir nur so heraus, und ich – meinte den – Andern,« setzte er scheu hinzu.

»Und hat er es verdient, Vater?« sagte Fritz vorwurfsvoll. »Haben sie ihm da draußen in dem öden Schloß nicht seine ganze Jugend gestohlen? Und wo er Alles verloren, willst Du ihm selbst das vorenthalten, was ihm allein noch gehört – das Herz des Vaters und der Mutter?«

»Und der Mutter,« sagte der Alte düster – »die ihn verkauft hat – wohl bekomm' die Liebe...«

»Vater, reich' ihm Deine Hand; er ist gut und brav geblieben trotz alledem, und wir Beide sind Brüder geworden. Wolltest Du Dich von ihm lossagen? – Hast Du selbst ein Recht dazu?«

»Vater!« sagte Bruno leise und streckte ihm die Hand entgegen.

»Du hast recht, Fritz,« sagte der alte Mann, sich zornig mit dem oberen, aufgekrämpten Theile des Aermels die Stirn wischend; »Scham, Schande und Zorn haben mich ungerecht gegen Dich – gegen ihn gemacht. Komm, Unglückssohn,« fuhr er fort, ihm die Arme entgegenstreckend – »komm, sei mir nicht böse und vergiß den Empfang – Du bist ja unschuldig, und Gott mag es denen verzeihen, die so sündhaft, so schmählich sündhaft an Dir gehandelt haben!«

»Mein Vater!« rief Bruno, und beide Männer hielten sich in heißer Umarmung fest umschlossen.

»Und das ist Karl?« sagte Bruno, als er sich endlich wieder aus seinem Arme wand und dem derben Burschen die Hand entgegenstreckte.

»Ja, Bruno,« sagte dieser treuherzig, »und will auch einen Kuß haben – schwarz bist Du nun doch einmal auf der einen Seite. 's ist auch hübsch von Dir, daß Dich der Titel nicht stolz gemacht hat, und wir wollen schon gute Brüderschaft halten.«

»Und wo ist die Mutter?«

Die Brauen des Schlossermeisters zogen sich wieder finster zusammen, und nur mit dem Daumen über die Schulter deutend, sagte er: »Dort hinten – in der Küche.«

»Und darf ich zu ihr?«

»Ich führe Dich hin, Bruno!« rief Fritz, seine Hand ergreifend und ihn mit sich fortziehend.

Und dort draußen saß sie verlassen und allein, verbannt aus den Räumen, in denen sie sonst mit sorgender Hand gewirthschaftet, und nun, als ihr Sohn, um den sie das Alles verschuldet und geduldet, zu ihr trat und sie mit dem süßen, kaum gekannten Namen Mutter! rief, da flog sie empor, da schlang sie die Arme um seinen Nacken und preßte ihn an sich, als ob sie ihn nie im Leben wieder lassen wolle.

Fritz hatte sich zurückgezogen, um dieses erste Begegnen nicht zu stören, und schritt zurück zum Vater. – »Vater, zürnst Du der Mutter noch?«

»Nein,« sagte der Mann finster; »weshalb auch – ich habe nichts mehr mit ihr zu thun.«

»Nichts mit ihr zu thun?«

»Nein – nicht mehr – in nächster Woche werden wir geschieden.«

»Vater!« rief Fritz erschreckt, »um Gottes willen nein – das darf ja nicht sein! Hat denn die arme Mutter nicht schon so viel ertragen?«

»Viel ertragen?« sagte der Mann finster. »Sie hat erst angefangen, und mir indeß mein ganzes Leben vergiftet – Du weißt, wie glücklich wir zusammen gelebt haben,« fuhr er bewegt fort, »wie nie ein böses Wort unter uns gefallen. Ich habe die Frau auf Händen getragen, immer und immer, und nie glauben wollen, daß es eine bessere Ehe auf Erden geben könne, als die unsere. Das ist jetzt Alles vorbei; denn nicht allein, daß sie mich einmal betrogen hat – das hätte ich ihr vielleicht verziehen –, aber sie hat den Betrug beinahe ein Menschenalter durch fortgeführt. Jedes freundliche Lächeln, das ich von ihr in der langen Zeit gesehen, war gelogen – jeder Kuß, jeder Händedruck ein Betrug, und wie das mein Herz mit Gift und Galle überfüllt hat, da es endlich einmal zu einem Ausbruch kam und kommen mußte, kann ich Dir nicht sagen. Ich habe mir selber über das Gefühl Vorwürfe gemacht,« fuhr er rasch fort, als er sah, daß Fritz etwas entgegnen wollte; »ich weiß, daß es nicht christlich ist; ich habe mit selber gesagt, sie ist Dir die langen Jahre eine treue Gattin, Deinen Kindern eine gute Mutter gewesen, und der eine Fehltritt war schlimm, aber der liebe Gott wird ihr schließlich verzeihen, so thu' Du es auch – es ging nicht. Ich weiß, daß ich mich selber damit unglücklich mache, mein ganzes Leben lang, aber ich kann's nicht ändern. Ich habe es nicht verdient, aber ich muß es tragen, und – werd's auch mit der Zeit tragen lernen.«

»Und der Mutter willst Du die Kinder, den Kindern die Mutter nehmen?«

»Sie hat das Nämliche gethan,« sagte der alte Mann finster; »sie mag jetzt büßen, was sie damals verbrach. Rede mir nichts weiter davon, Fritz – Du kennst mich zur Genüge und weißt, daß Widerspruch mich nur eher in meinen Vorsätzen befestigt, aber nie im Leben davon abbringen kann. Da sieh,« fuhr er fort, indem er die Thür des kleinen Wohnzimmers neben der Werkstätte aufstieß – »da haus' ich jetzt, das ist meine Heimath, wenn ich des Abends von der Arbeit so müde bin, daß ich die Knochen nicht mehr rühren kann – da steht jetzt mein Bett, und dort schlaf' ich allein – wie ein alter Junggeselle, der ich wieder geworden bin.«

»Und die Mutter?«

»Hat das Schlafzimmer neben der Küche, wo sie mit der Else ist, bis – die Scheidung einmal geregelt ist. Es dauert immer so lange, ehe man's fertig bringt, und der Staatsanwalt Witte wollte erst gar nicht dran. Jetzt hat er mir versprochen, es zu beeilen. Er weiß auch am besten mit allen Wegen und Formen, die man bei solchen Sachen zu beobachten hat, Bescheid und hat mir zugestehen müssen, daß dieser Fall hinreichenden Grund zur Scheidung gäbe.«

»Und was werden die Leute in Alburg sagen?«

»Gerade damit die nichts sagen können, laß ich mich scheiden,« trotzte der Alte. »Glaubst Du denn, daß auch nur ein Dienstmädchen durch die Stadt liefe, das nicht stehen bliebe und uns nachsähe, wenn ich wieder mit Deiner – Pflegemutter ausginge? Nein, wahrhaftig nicht – wir wären das Gespött und der Klatsch der ganzen Stadt, und so lange ich das noch vermeiden kann, werde ich mich ihm gewiß nicht muthwillig aussetzen. Aber, was ich Dich fragen wollte, Fritz: was gedenkt der – Herr Lieutenant jetzt zu thun?«

»Vater!«

»Gut – der Bruno also, wenn Dir das besser klingt. Was hat er gelernt, womit er sich hier sein Brot verdienen würde? Denn daß er bei mir als Lehrling in die Werkstatt eintreten möchte – was das Natürlichste wäre –, kann ich mir doch nicht denken.«

»Er will nach Amerika, Vater.«

»Nach Amerika?« sagte der Alte, still vor sich hin mit dem Kopf nickend. »Der Gedanke ist nicht so unrecht, und ich – ich wollte, ich wäre auch drüben, denn hier in Deutschland werde ich doch nicht mehr froh. Hol's der Teufel,« setzte er hinzu, indem er seinen Hammer wieder aufgriff und eine neue Eisenstange in's Feuer schob, »ich wollte, ich wäre todt und läg' draußen unter dem kühlen Rasen, um nur einmal eine Weile ausschlafen zu können von all' dem Grübeln und Denken, das Einem die Stirn bald auseinander reißt! Aber da kommt der Bruno wieder – nimm ihn mit fort, Fritz – mir ist jetzt so wunderlich zu Muthe – ich muß meinen Ingrimm erst eine Weile an dem Eisen auslassen, nachher wird's besser – nimm ihn mit fort.«

Fritz kannte den Vater zu gut, um nicht zu wissen, daß er recht hatte. In solcher Zeit war es am besten, ihn allein zu lassen; sein ruhiger Verstand und sein gutes Herz arbeiteten sich dann vielleicht wieder an die Oberfläche; wurde aber von außen gestört, so loderte der heimlich genährte Aerger auch oft lichterloh empor, und man verdarb jedenfalls weit mehr, als man nützte. Sobald Bruno deshalb die Werkstatt wieder betrat, nahm er ihn unter den Arm und führte ihn der Thür zu.

»Wir kommen wieder, Vater!« rief er dem Alten zu, »Bruno hat noch Einiges zu besorgen, und ich auch – auf Wiedersehen – Adieu, Karl!« Ein Wink für Bruno, und dieser folgte ihm vor die Thür, wo ihm Fritz die Ursache ihres raschen Abschieds mit wenigen Worten erklärte. »Und wo willst Du jetzt hin?«

»Den schwersten Gang von allen thun,« sagte Bruno leise. »Aber frage mich nicht, wenigstens nicht jetzt – morgen sollst Du Alles wissen, morgen seh' ich Dich auch noch, um Abschied von Dir zu nehmen. Du kommst doch in die Stadt? Ich möchte Wendelsheim nicht wieder betreten...«

»Gewiß – und Du willst wirklich fort?«

»Ich muß. Glaubst Du, daß ich es hier ertragen könnte, zu leben, wo ich jede Stunde einem früheren Kameraden begegnen und dann die kalten oder gar höhnischen Blicke ansehen müßte? Nein – nur über dem Meer drüben giebt es noch eine Heilung für mich. Und jetzt lebe wohl, denn den Weg, den ich heute zu gehen habe, muß ich allein gehen.«

Er hatte sich von dem Arm des jungen Mannes losgemacht und schritt langsam und schweren Herzens die Straße nieder. Aber es mußte sein, und er sich jetzt, wie er von Stand und Reichthum losgerissen worden, auch noch von dem Letzten losreißen, was ihm geblieben – von seiner Liebe.

Seine Bahn war schnurstracks dem Hause Salomon's zu, das er jetzt seit Wochen, seit er das Furchtbare erfahren, nicht mehr betreten. Er mußte noch einmal dorthin, um Abschied zu nehmen, um Rebekka ihr Wort zurückzugeben. Ja, einmal hatte er mit Stolz geglaubt, die Geliebte zu sich emporheben, sie mit Rang und Glanz umgeben zu können und keck dabei den Vorurtheilen seines Standes zu trotzen – das war vorbei. Er, der arme, pfenniglose Wanderer, der Sohn eines armen Handwerkers, konnte nicht mehr um die Tochter des reichen Juden freien, ja, Salomon selber würde sich geweigert haben, sie ihm zu geben und sein Kind mit ihm in die Fremde hinausziehen zu lassen. Also vorwärts! Mit seinem Entschluß war er im Reinen, und jetzt galt es ja nur, dem Schweren noch das Schwerste beizufügen; dann war Alles überstanden.

Wie in einem Traum schritt er aber heute durch die Judengasse, wie in einem wüsten, bösen Traum; er hob die Augen nicht vom Boden, und nur das Summen, Schreien und Toben, das Lachen und Kreischen der Kinder hörte er, als er hindurchschritt, wie aus weiter Ferne.

Jetzt hatte er Salomon's Laden erreicht und sah zu seinem Erstaunen den Alten emsig beschäftigt, einen Theil seiner Sachen zu ordnen, einen andern einzupacken, und viele Kisten standen schon theils zugenagelt, theils noch offen in dem Raum umher. Der alte Mann war auch nicht allein; seit jenem Mordanfall hatte er den dunkeln Laden nie wieder allein betreten und immer zwei Leute bei sich, damit, wenn er Einen fortschicken mußte, wenigstens Einer bei ihm blieb. Diese halfen ihm jetzt auch beim Packen. Kaum aber hörte er einen fremden Schritt und erkannte, sich danach umdrehend, Bruno, als er, erschreckt emporfahrend, ausrief:

»Gott der Gerechte, der Herr Baron! Ist er doch endlich gekommen, und wie ist mir geworden die Zeit so lang in der langen Weile!«

»Lieber Salomon....«

»Warten Sie einen Augenblick, Herr Baron – Ihr Beiden,« wandte er sich dann an die Arbeiter, »hört für heute auf; werden wir doch nicht fertig in einem Tag oder in einer Woche. Macht mir den Laden zu vorn und zieht mir den Schlüssel hübsch ab – und das Hofthor auch; wir werden gleich hinaufgehen, Herr Baron, kann Ihnen dann auch Ihre Quittung geben über Alles. Vor einer Stunde war der Mann hier, hat mir das ganze Geld gebracht, Capital und Zinsen, bei Heller und Pfennig. Ein nobler Herr, ein sehr nobler Herr, der Herr Staatsanwalt Witte – hätte aber wahrhaftig eine solche Eile nicht gehabt. Ich konnte warten, und würde auch mit Geduld gewartet haben – noch so lang.«

»Ihr wißt Alles, was vorgegangen ist, Salomon?«

»Soll ich nicht wissen, was die ganze Stadt weiß,« sagte der alte Mann; »die Kinder sprechen davon auf der Straße und die Mädchen am Brunnen. Es war ein trauriger Fall für die Frau Mutter. Soll ich leben – ich begreif's nicht – sind jetzt auf einmal in die Verwandtschaft gekommen – Ihr Herr Onkel hat mir den Hieb über den Kopf gegeben....«

»Lassen wir das, Salomon,« sagte Bruno mit einem schweren Seufzer, denn es war ihm furchtbar, das Entsetzliche gerade in diesem Augenblick noch einmal durchzuleben. »Ich freue mich, daß das Geld von dem jetzigen Erben so gewissenhaft ausgezahlt ist – ich selber wäre es nicht im Stand gewesen.«

»Ein Kunststück,« sagte der alte Mann, »wenn man eine halbe Million so mit Einem Schlag verliert – vor dem Mund weg.«

»Das also drückt mich wenigstens nicht mehr,« fuhr Bruno fort, »und nur noch Eins bleibt mir zu thun übrig, Salomon – Euch erstlich für alles Liebe und Gute zu danken, was Ihr mir gethan, und dann – Abschied zu nehmen von Euch und Eurer Familie – von Rebekka.«

»Abschied – wie haißt?« sagte der alte Mann, der aber in vortrefflicher Stimmung zu sein schien. »Sie wollen doch nicht fort von Alburg, Herr Baron?«

»Und weshalb nennt Ihr mich noch immer Baron?«

»Gott der Gerechte, wenn ich Ihnen jetzt auf einmal sagte, ich heiße nicht Salomon, ich heiße Isaak – würden Sie nicht immer zu mir sagen: Wie geht's, Salomon? und nicht: Wie geht's, Isaak? – Es liegt einmal auf der Zunge, und wenn man spricht, fährt's heraus.«

»Aber ich bin kein Baron mehr und – bin es nie gewesen.«

»Wenn das das größte Unglück wäre, was Sie betroffen hat, man könnt's ertragen. Aber wo wollen Sie hin, daß Sie kommen, um Abschied zu nehmen?«

»Nach Amerika, Salomon,« sagte Bruno entschlossen. »Ich bin jetzt arm, habe nichts mehr, und muß mir nun selber eine Existenz zu gründen suchen. Früher wäre ich stolz darauf gewesen, Rebekka die Meine nennen zu können – jetzt bin ich hergekommen, um ihr das mir gegebene Wort zurückzubringen; ich darf ihr Schicksal nicht an das eines Heimathlosen binden. So laßt mich noch einmal zu ihr hinaufgehen – es ist das letzte Mal –, noch einmal ihr in das gute Auge schauen und ihre Hand drücken, dann bin ich frei und – werde Euch nicht mehr lästig fallen.«

»Was das für a Red' ist,« sagte der alte Mann, »lästig fallen! Der Herr Baron – wollt' ich sagen: Herr Baumann – wissen recht gut, daß Sie uns nicht lästig gefallen sind. Aber wir wollen hinaufgehen; der Laden ist zu – muß nur einmal nachsehen, ob das nichtsnutzige Volk seine Schuldigkeit gethan. So, Alles in Ordnung; jetzt werd' ich hier zuschließen, und nun kommen Sie, Herr Baron – wollt ich sagen: Herr Baumann –, daß wir noch einmal zur Rebekka gehen, ehe Sie reisen nach Amerika – Gott soll's behüten, Amerika – und das viele salzige Wasser dazwischen – das wird eine Reise werden!«

Bruno erinnerte sich gar nicht, den alten Mann je so gesprächig gesehen zu haben, wie heute; aber das eigene Herz war ihm zu schwer, um viel darauf zu achten. Wie schwer wurden ihm die Füße, als er jetzt die Treppe hinaufstieg, die er sonst so oft mit wenigen Sätzen überflogen – fast so schwer als damals, da er Rebekka bitten wollte, sein Ehrenwort einzulösen, und doch die Bitte dann nicht über die Lippen brachte. Heute mußte er reden, hier half kein Zögern mehr, denn die Würfel waren gefallen, und Salomon schien ja auch seine Reise nach Amerika ganz in der Ordnung zu finden. Was blieb einem armen, aus seiner Carrière gerissenen Menschen überhaupt anders übrig, als das Vaterland zu meiden und in einer neuen Welt ein neues Leben zu beginnen!

Jetzt waren sie oben. Salomon öffnete mit seinem kleinen Schlüssel die äußere Saalthür, schloß sie dann wieder und hing die Kette vor. Dann aber lachte er und rief: »Rebekkche, Rebekkche! Wir haben ihn gefangen – hier ist er!«

Drinnen in der Stube ertönte ein Freudenschrei, die Thür flog auf und Rebekka weinend, jauchzend in Bruno's Arme.

»So,« rief der alte Mann, »das wird ein ordentlicher Abschied, fangen gleich damit an! Soll ich leben und gesund sein, wenn ich's mir nicht gedacht habe!«

Und jubelnd zog das junge, blühende Mädchen den Geliebten in die Stube hinein, und an seinem Halse weinte und lachte sie, daß er so lange, so ewig lange fortgeblieben, und dankte ihm, daß er jetzt wiedergekehrt wäre und die Sorge von ihrer Seele genommen hätte. Bruno wollte sprechen, aber er kam gar nicht zu Worte. Mit ihren Küssen erstickte sie das Schwere, das er zu sagen hatte, und doch nur schwerer wurde es ja gerade durch dieses Zögern, durch diese Liebkosungen, die ihm das Glück, das er im Begriff war, von sich zu stoßen, nur wieder mit all' seinem unwiderstehlichen Zauber um die Seele flochten.

Der Vater und die Mutter standen dabei. Da streckte Bruno endlich die Hand nach ihm aus und bat den alten Mann: »Sprecht Ihr mit ihr, Salomon – ich kann es ja nicht! Ihr wißt Alles – o, bitte, sagt ihr, was mich hergeführt!«

»Gut,« nickte Salomon vergnügt, »werd' ich sprechen, und nun, Rebekkche, wirst Du zuhören, was Dir der Herr Baron – wollt' ich sagen: der Herr Baumann – mitzutheilen hat. Als er aber ist gekommen, um Abschied zu nehmen, weil er nach Amerika will, muß er gerathen sein in ein falsches Haus, denn da wir auch nach Amerika gehen und die Reise also zusammen machen, braucht man nicht zu nehmen Abschied – es ist kein Verstand darin....«

»Aber, Salomon....«

»Außerdem will er zurückgeben dem Rebekkche ihr Wort, was sie ihm hat gegeben als Baron – wie haißt? Hat sie ihn dabei genannt Baron oder Bruno, bei seinem Vornamen? Nun, den Bruno hat er doch behalten, muß er nicht auch behalten das Wort?«

»Aber, Salomon....«

»Und als er ist nicht mehr Erbe von eine halbe Million – mit Abzug der Kosten –, ist er auch nicht mehr Baron, und die Sache wird sich heben. Dem Baron hatte ich mein Jawort gegeben – ja, aber mit wie schwerem Herzen – der Himmel weiß es, denn ich sah nichts als Unglück darin für mein Kind – Demüthigung und Thränen und Zank in der Familie, wo soll sein einig und Ein Herz und Eine Seele! Jetzt hat er abgeschüttelt den Baron, und nun ist er der einfache Bruno Baumann, der Sohn von'm braven Mann, dem Schlosser Baumann, und als das Rebekkche an ihm hängt mit ihrem ganzen Herzen und sich zu Tode härmen würde, wenn sie ihn sollt' verlieren, und als er bewiesen hat, daß er ist ein braver Mann wie sein Vater, der alte Schlosser Baumann, und kein Baron – Soll ich leben, mir geht der Odem aus – so wollen wir machen kurzen Proceß und sagen: der Gott unserer Väter segne den Bund Eurer Herzen – seid glücklich und macht uns alte Leute auch glücklich in Eurem Glück!«

»Aber, Salomon,« rief Bruno, betäubt von der auf ihn einstürmenden Seligkeit, »ich bin arm, blutarm, und nicht im Stande, eine Frau zu ernähren!«

»Wie haißt?« sagte Salomon. »Sie sind jung und geschickt und ein Meister auf dem Instrument – Amerika ist ein freies Land – glauben Sie, daß sich in einem freien Land ein junger, geschickter Mensch nicht durchbringen kann mit seiner Frau? Und sollt' es wo fehlen, hat der alte Salomon nicht Geld genug und nur ein einziges Kind, was er will glücklich machen, wenn's in seinen Kräften steht?«

»Und Ihr wollt Alle fort?«

»Alle,« sagte der alte Mann jetzt plötzlich ernst; »es ist kein Boden hier für uns, und seit dem letzten Raubanfall hab' ich das Vertrauen zu der Stadt verloren, in der ich heimisch war. Ich kann den Laden nicht mehr betreten ohne Furcht und Grauen, ich sehe immer den kleinen Mann hereinkommen, und seine häßlichen, stechenden Augen. Wir gehen mit dem nächsten Schiff. Viel von meinen Sachen hab' ich schon hier verkauft – Manches billig, Manches theuer – viel nehm' ich mit. Als es ist ein neues Land, brauchen sie Antiquitäten; der alte Salomon kommt nicht zu kurz. Sie aber, Herr Baron – wollt' ich sagen: Herr Baumann –, Sie meinen jetzt, Sie wollen dem Rebekkche ihr Wort zurückgeben, und ich soll mein Kind mit nach Amerika nehmen und soll sehen, wie es sich abhärmt und grämt und weint, blos weil Sie nicht mehr sind Baron – hat sie das um Sie verdient?«

»Rebekka,« rief Bruno in jauchzender Seligkeit, »ist es wahr, Mädchen? Du stößt den armen, schlichten Sohn eines Handwerkers nicht zurück? Du willst Dein Geschick an das seine ketten?«

»Dein bin ich, Bruno!« rief das schöne Mädchen, in Glück und Liebe erglühend und ihn fest umschlingend. »Dein für immer, Dein in Freud' und Leid – bis in den Tod!«

»Rebekka – meine Rebekka!«

»Gott der Gerechte, was ein Abschied!« sagte Salomon.

11.
Eine Scheidung.

Drei Tage waren nach den oben beschriebenen Vorgängen verflossen, als der Schlossermeister Baumann eines Morgens zu dem Staatsanwalt Witte kam und ihn dringend bat, die Scheidung mit seiner Frau zu betreiben, da er willens sei, Alburg zu verlassen, und nicht mit dem Gefühl fortgehen möge, noch eine Frau da zu haben. Er hätte mit seiner Frau, wie er sagte, gesprochen, und sie füge sich in Alles; nur an Einem Punkt hänge es, an dem jüngsten Kinde, das noch nicht ganz sieben Jahre alt sei und das die Mutter nicht hergeben wolle. Mit dem siebenten Jahre, das wisse er wohl, gehöre es sein; aber er könne und wolle nicht so lange warten und bäte deshalb den Staatsanwalt, das zu vermitteln.

»Sie sind ein alter Starrkopf, Baumann,« sagte Witte ernst. »Hat die arme Frau nicht schon genug ertragen und ausgestanden und wollten Sie Ihr auch noch den letzten Schmerz hinzufügen?«

»Ich kann das Kind nicht zurücklassen, Herr Staatsanwalt,« sagte der Schlossermeister, »es ist meine ganze Seele; und die Mutter – es wird nicht so schlimm sein, als sie jetzt es denkt. Hat sie sich von dem ersten Kinde, an dem jede Mutter mit ihrem ganzen, vollen Herzen hängt und lieber den letzten Blutstropfen hergäbe, ehe sie es missen möchte, trennen können, so wird es ihr bei dem letzten auch nicht so schwer werden. Sie soll auch keine Noth leiden; ich lasse ihr das Haus und Alles, was ich an Vermögen habe, nur die Reisekosten abgerechnet. Ich will mit meinen Jungen nach Amerika; der Bruno geht auch mit und heirathet des alten Salomon Tochter. Mir ist's auch recht, denn ich kenne den alten Salomon als eine treue, ehrliche Seele, die mehr christliches Gefühl für ihre Mitmenschen hat, als mancher Christ. Von dem, was ihr bleibt, kann sie also recht gut leben, wenn sie das Kind nicht mit zu versorgen hat, und deshalb wär' es nur vernünftig, daß sie sich fügte.«

»Also sie weigert sich, das Kind herauszugeben?«

»Sie weigert sich gerade nicht,« sagte der Mann finster, »aber sie weint und jammert den ganzen Tag, daß ich ihr doch nur das Eine lassen möchte, wenn ich ihr alles Andere wegnehme, und zwingen möcht' ich sie gerade nicht, kann aber auch das Kind nicht missen.«

»Und was soll ich dabei thun?«

»Ihr zureden, Herr Staatsanwalt,« sagte der Schlossermeister. »Ich kann nicht reden – entweder werde ich zornig oder weichmäulig, und das paßt Beides nicht. Sie verstehen das aber besser, es ist ja auch Ihr Amt und Geschäft. Sie können ihr die Sache aus einander setzen und ihr klar machen, daß die Kinder zum Vater gehören; mir glaubt sie's nicht und bringt dann so hochstylige Redensarten hinein, daß ich gar nicht weiß, was ich ihr darauf erwiedern soll – und das paßt mir nicht.«

»Gut,« sagte Witte, »dann bringen Sie Ihre Frau mit her. Sie wollen doch nur, was recht ist, nicht wahr?«

»Gott soll mich behüten, daß ich je 'was Anderes wollte!«

»Schön, dann hoffe ich Alles in Ordnung zu bringen. Ihre Frau ist ja auch vernünftig und sonst gut und brav.«

»Das ist sie,« nickte der Schlosser, »und war es mir die langen Jahre hindurch, bis auf den Einen Tag, die Eine Stunde, die unser Aller Glück zerstört und zum Fenster hinausgeworfen hat.«

»Und doch wollen Sie sich von ihr scheiden lassen?«

»Ich habe es einmal gesagt, und jetzt muß es sein – es geht nicht anders!«

»Gut. Des Menschen Wille ist sein Himmelreich, und meine Pflicht wohl, Ihnen abzurathen, aber zwingen kann ich Sie nicht; also bringen Sie mir die Frau. Aber noch Eins, auch das kleine Mädchen muß dabei sein, damit gleich Alles abgemacht wird.«

»Das Kind – die Else?«

»Gewiß.«

»Lieber wär's mir, sie hörte gerade nicht, was wir mitsammen verhandeln.«

»Schämen Sie sich vor dem Kinde?«

»Schämen? Zum Teufel, nein; ich brauche mich vor keinem Menschen zu schämen, am wenigsten vor meinem eigenen Kind!«

»Nun gut, dann bleibt es dabei. Wann wollen Sie kommen?«

»Je eher die Geschichte abgemacht ist, desto besser,« sagte der Mann, »denn ich halt's so nicht mehr lange aus, und selbst der Karl fängt mir an zu flennen – da muß ein Ende dran. Ich hol' sie auf dem Fleck, wenn's Ihnen recht ist.«

»Mir ist's recht, Baumann, ich werde zu Hause sein. Also sonst haben Sie sich über Alles mit ihr vereinigt?«

»Ueber Alles; es war auch nicht schwer. Sie hat kein Wort dazu gesagt und war mit Allem einverstanden. Es liegt auch nicht in ihrer Natur, zu widersprechen.«

»Schön, dann holen Sie Ihre Frau und das Kind; ich hoffe, daß wir rasch damit in Ordnung kommen.«

»Gott gebe es!« flüsterte der Mann und schritt starr und eisern aus der Thür hinaus und seiner eigenen Wohnung zu.

Witte ging indessen in seine eigene Wohnung hinüber, um dort ein wenig zu frühstücken. Als er das Zimmer seiner Frau betrat, stand diese am Fenster und sah auf die Straße hinaus.

»War nicht eben der alte Baumann bei Dir?«

»Ja, mein Schatz.«

»Was wollte er denn?«

»Sich scheiden lassen von seiner Frau,« lautete die kurze Antwort.

»Von seiner Frau – wegen der Geschichte?«

»Allerdings.«

»Da hat er recht,« sagte die Frau Staatsanwalt mit Emphase, »das verdient sie nicht besser!«

»So?« sagte Witte und blickte Ottilie, die mit einer Arbeit beschäftigt am Fenster saß, scharf an. Das Mädchen sah abgehärmt und niedergeschlagen aus; aber desto mehr blühte dafür die Mutter und hatte sich mit Bändern, Schleifen und Locken ordentlich herausgeputzt. »So?« wiederholte Witte noch einmal. »Und was hat die Frau denn eigentlich gethan, wenn ich fragen darf?«

»Was sie gethan hat?« rief im höchsten Erstaunen und sich rasch nach ihm umwendend die Frau Staatsanwalt. »Nun, das nehme mir aber kein Mensch übel – und das fragst Du mich? Weiß nicht die ganze Stadt, daß sie ihr eigenes Kind hergegeben hat, um es vornehm und adelig zu machen, und hätte sie für eine solche Unnatürlichkeit nicht eigentlich das Zuchthaus verdient?«

»Und was hast Du gethan, Therese?« sagte Witte, indem er ihr recht ernst und fast wehmüthig in's Auge sah. »Hast Du Dein Kind nicht auch hergeben wollen, um es recht vornehm und adelig zu machen?«

»Aber Witte!«

»Hast Du ihr nicht schon seit Jahren mit Deinen albernen Reden, wie vornehm sie sei und was weiß ich Alles, und was für eine gute Partie sie einmal machen müßte, das Ohr und Herz vergiftet, daß ich, wenn ich beschwichtigen und dämpfen wollte, nur immer hinter dem Rücken ausgelacht und verspottet wurde? Dein Vergehen war allerdings nicht criminalrechtlicher Art; Du thatest nur, was tausend andere, unvernünftige Mütter ebenfalls thun – Du pflanztest einen Span von dem Sparren, den Du selber im Kopfe trägst, in Deiner Tochter Herz, und jetzt hast Du die erste Strafe dafür – und sie auch; aber ich fürchte fast, die Lection wird noch nicht scharf genug gewesen sein.«

»Du phantasirst wohl heute Morgen?« sagte seine Frau, den Kopf verächtlich zurückwerfend.

»Die Phantasie ist dann ziemlich realistisch. Fritz Baumann, ein braver, tüchtiger und anständiger Mann, der Ottilie liebte, wurde mit Hohn und Verachtung abgewiesen, weil sich die Frau Mutter einbildete, der Erbe von Wendelsheim bewerbe sich um sie. Die Sache hat sich jetzt gewandt; aus dem Fritz Baumann ist der Erbe von Wendelsheim geworden und....«

»Wenn sie den haben wollte,« sagte die Frau Staatsanwalt, »könnte sie ihn noch alle Tage kriegen.«

»Und hat sich neulich,« fuhr Witte ruhig fort, »mit jener armen Waise auf dem Schlosse, Kathinka von Stromsee, verlobt.«

»Verlobt?«

»Allerdings, während der frühere Lieutenant von Wendelsheim, jetzt Bruno Baumann, die wunderschöne Tochter des alten Salomon heirathet und mit ihm und den Seinigen nach Amerika geht.«

»Nun, und was interessirt das uns?« fragte die Mutter.

»Sieh Deine Tochter an und frage sie, ob es sie interessirt,« sagte Witte finster. »Mit bescheidenen Ansprüchen ist es vielleicht möglich, daß sie noch ein treues Herz, wie es ihr Fritz Baumann brachte, findet, um ihr Schicksal zu theilen, aber mit Deinem jetzigen Wahnsinn nicht; und wer die Schuld daran trägt, wenn sie einmal allein und freudlos durch's Leben gehen muß, das warst Du mit genau demselben Hochmuth, der jene arme Frau zum Kindertausch trieb.«

»Du bist unausstehlich heute, Witte!«

Der Staatsanwalt seufzte recht aus tiefster Brust und sagte kein Wort weiter. Eher hätte sich seine Frau, das wußte er gut genug, die Zunge abgebissen, ehe sie eingestand, daß sie Unrecht gehabt; aber möglich ja doch, daß die Warnung Wurzel in dem Herzen der Tochter schlug. Er konnte nichts weiter dabei thun und ging wieder in sein Arbeitszimmer hinüber, um dort die Familie Baumann zu erwarten.

Baumann war auch schon unterwegs. Er selber ging voran, die Frau hinter ihm her und hatte fast krampfhaft das Handgelenk der Kleinen mit ihren dünnen Fingern umschlossen. Sie trug ein einfach dunkelblaues Kattunkleid ohne Crinoline, ein weißes Tuch um den Hals und eine weiße Haube auf und ging mit niedergeschlagenen Augen den ganzen Weg. Sie wußte ja recht gut, daß sie von allen Menschen angesehen wurde, wußte auch, weshalb, und Scham und Schmerz drückten sie fast zu Boden nieder.

Jetzt hatten sie das Haus des Staatsanwalts erreicht, ohne unterwegs auch nur Eine Silbe mit einander zu sprechen. Der Mann ging vorauf, langsam und finster, die Frau folgte ihm mit dem Kinde; aber sie hatte es auf und in den Arm genommen und bedeckte es hinter dem Rücken des Gatten mit ihren Küssen – es waren vielleicht die letzten, die sie ihm ja im Leben gab. An der Thür klopfte er an und trat ein; die Frau schritt hinter ihm her, als ob sie zur Richtbank geführt würde.

»So, Herr Staatsanwalt,« sagte Baumann, als sie durch die Schreiberstube hindurch das hintere Zimmer betreten hatten, »hier ist die Frau, und die Else haben wir auch mitgebracht; und nun seien Sie so gut und reden Sie mit ihr, daß wir mit der Geschichte zu Stande kommen – ich habe das ewige Hin- und Herzerren satt.«

Der Mann sah mürrisch aus, die Frau still und ergeben in Alles, was man über sie verfügen würde.

»Nun, liebe Frau,« begann Witte – »bitte, nehmen Sie sich den Stuhl, denn Sie scheinen müde zu sein und wir werden vielleicht nicht sogleich fertig –, die Hauptsache ist, ob Sie in die Trennung von Ihrem Mann gewilligt haben, denn ich glaube, daß in diesem Fall das Gericht das von Ihnen verübte Vergehen als hinlänglichen Scheidungsgrund ansehen würde.«

»Ja,« sagte die Frau leise, ohne die Augen vom Boden zu nehmen, »mein Mann hat seit dem Unglückstag einen Haß auf mich geworfen, und er würde nie wieder glücklich mit mir leben können. Ich will nicht an seinem Unglück schuld sein; er ist gut und brav und muß für die Kinder sorgen.«

»Sie sind also auch mit dem zufrieden, was er Ihnen, wenn er fort geht, zu Ihrem Lebensunterhalt läßt?«

»Ich brauche es nicht Alles – ich werde sehr eingeschränkt leben – ich brauche für mich nur sehr wenig und gehe auch jedenfalls, wenn mich Jemand aufnehmen will, wieder in Dienst – vielleicht als Warte- oder Krankenfrau.«

Witte sah Baumann an; der Mann stand aufgerichtet, die Brauen fest zusammengezogen, die Zähne auf einander gebissen, und starrte finster vor sich nieder.

»Also scheint ja so weit Alles geregelt,« meinte der Staatsanwalt, »und die Sache wird keine großen Schwierigkeiten haben. Nur sagt mir Ihr Mann, daß Sie ihm das jüngste Kind – die Kleine da ist's, nicht wahr?«

»Ja, Herr Staatsanwalt,« flüsterte die Frau, aber so leise, daß er die Worte kaum verstand.

»Daß Sie ihm also das Kind nicht überlassen wollen, und das Gesetz spricht dem Vater dasselbe allerdings erst im siebenten Jahre zu. Glauben Sie aber nicht, daß es für das Kind selber besser ist, wenn es unter der starken Leitung des Mannes erzogen wird?«

»O Du lieber Gott,« seufzte die Frau, »es ist noch so jung; es bedarf noch so der Pflege der Mutter und hängt so mit ganzer Seele an mir...!«

»Und an mir auch,« sagte Baumann düster; »nicht wahr, Else, Du hast Deinen Vater lieb?«

»O, so lieb!« flüsterte die Kleine, die bis jetzt scheu den Worten gelauscht hatte und wohl gar noch nicht recht verstand, um was es sich hier eigentlich handle.

»Wäre es denn da nicht besser, Baumann,« sagte Witte, »daß Sie wenigstens das halbe Jahr noch hier in Deutschland blieben? Das Kind ist dann so viel älter und es könnte nachher gar keine weitere Uneinigkeit stattfinden.«

»Es geht nicht, Herr Staatsanwalt,« sagte der Schlossermeister, »es geht wahrhaftig nicht! Mir brennt der Boden hier unter den Füßen, denn kein Mensch hat mir je im Leben etwas nachsagen können; ich habe meine Pflicht und Schuldigkeit gethan wie ein Mann, und keine Seele übervortheilt und geschädigt, und trotzdem jetzt, wo ich mich irgendwo sehen lasse, bleiben die Leute stehen, deuten mit Fingern auf mich und sagen: Da, das ist der Schlosser, dessen Frau die Kinder vertauscht hat, und sein Sohn ist der Baron von Wendelsheim! – Das ertrag' ich nicht länger; es frißt mir das Herz ab, und ich komme mir immer so vor, als ob ich am Pranger stände.«

Die Frau hatte ihr Gesicht in den Händen geborgen und weinte still, und Else schmiegte sich furchtsam an sie.

»Aber Ihre Frau hat auch viel, recht viel ausgestanden die langen Jahre hindurch,« sagte Witte, »und eigentlich Strafe genug für ihr Vergehen erlitten. Wenn sie nun auch das letzte Kind hergeben soll...«

»Und wollen Sie, daß ich die Strafe dafür erleide?« beharrte der Mann. »Das Kind ist mein ganzes Leben; wenn ich den ganzen Tag schwer und hart gearbeitet habe, ist es meine einzige Erholung, daß ich die Kleine auf den Schooß nehme und mir von ihr vorplaudern lasse. Wenn ich das entbehren müßte, würd' ich verrückt – und die Else selbst, sie freut sich den ganzen Tag auf die Zeit.«

»Ja, liebe Frau,« sagte Witte, »wenn das Kind so an dem Vater hängt, würde ich Ihnen selber rathen, es ihm zu überlassen. Sie sind ja dann auch jeder Sorge für dasselbe überhoben, und ich weiß außerdem gar nicht, wie Sie es sich hier einrichten wollten, wenn Sie wieder in Dienst gehen, denn Sie müßten doch die Kleine in der Zeit sich selber überlassen.«

»Sie braucht nicht in Dienst zu gehen,« sagte finster der Mann, »sie hat so viel, daß sie davon, mit ein bischen Arbeit nebenbei, leben kann; und ich möchte auch nicht, daß sie wieder in Dienst ginge. Es paßt nicht, und sie – würde sich auch nicht glücklich darin fühlen.«

»Glücklich,« seufzte die Frau leise.

»Ja, Leutchen, damit kommen wir nicht zum Ziel,« sagte der Staatsanwalt, dem die arme Frau von Herzen leid that, der aber auch den Schlossermeister viel zu genau kannte, um ihm direct zu widersprechen; er hätte dadurch jedenfalls viel mehr verdorben, als gut gemacht. »Auf die Weise können wir noch eine Stunde hin und her reden und bleiben auf demselben Fleck. Ich will Euch deshalb einen Vorschlag machen. Das Kind, so jung es ist, hat doch auch eine Stimme; Sie, Baumann, behaupten, daß es mit voller Liebe an Ihnen hängt, ebenso die Mutter. Die Mutter hätte das Recht, die Kleine noch etwa ein halbes Jahr bei sich zu behalten, dann müßte sie es doch dem Vater übergeben, und wie schnell vergeht ein halbes Jahr. Wenn Ihr also meinem Rath folgen wollt, so laßt das Kind selber entscheiden, bei wem es bleiben will, bei dem Vater oder der Mutter, und der andere Theil fügt sich dann geduldig in das nicht zu Aendernde. Sind Sie damit einverstanden, Frau Baumann?«

»Ich habe kein Recht mehr, mitzusprechen,« sagte die Frau leise und mit von Thränen fast erstickter Stimme; »ich darf auch vielleicht diese letzte Hoffnung nicht einmal annehmen. Ich habe meinem Mann ein so großes und schweres Herzeleid angethan, daß ich ihm kein weiteres zufügen darf. Wenn sein Herz so an dem Kinde hängt, daß er glaubt, er wird unglücklich, wenn er es missen soll – so mag er es nehmen – jetzt nehmen – heute noch. Ich habe jede Strafe verdient und will mich geduldig fügen.«

»Nein,« rief der Mann barsch, aber mit fest auf einander gebissenen Zähnen – die Worte kamen ihm auch dabei sehr schwer aus der Kehle –, »der Staatsanwalt hat recht – so will ich das Kind nicht. Die Else soll selber entscheiden, mit wem sie gehen will – mit mir oder mit der Mutter, und wenn sie dann...« Er schluckte ein paarmal heftig und schwieg; endlich fuhr er fort: »So machen Sie's fertig, Staatsanwalt, ich halt's nicht mehr länger aus!«

»Gut; also komm einmal her, mein liebes Kind. Siehst Du, Dein Vater und Deine Mutter, die jetzt so lange zusammen gelebt und Dich beide so lieb haben, wollen sich nun trennen. Der Vater wird fort von hier ziehen und die Mutter dableiben. Sie möchten Dich beide gern haben, aber das geht doch nicht; also sollst Du jetzt sagen, ob Du, wenn beide von einander gehen, mit dem Vater ziehen oder bei der Mutter bleiben willst. Verstehst Du, was ich sage?«

»Ja,« flüsterte die Kleine, die halb erschreckt, aber die großen, klugen Augen weit geöffnet zugehört und dabei bald den Vater, bald die Mutter angesehen hatte, als ob sie zwischen beiden wähle.

»Also bei wem willst Du bleiben, mein Herz?«

»Bei Beiden,« sagte die Kleine, während ihr volle Thränen in die Augen traten, indem sie zum Vater sprang und seine Hand ergriff; »Du darfst nicht fortgehen, Vater, oder Du mußt die Mutter mitnehmen. Ich will bei Euch Beiden bleiben und Euch immer recht, recht lieb haben und recht gut und brav sein, und dann wirst Du auch wieder lachen und die Mutter nicht mehr so viel weinen.«

»Baumann,« sagte Witte, dem selber die Thränen in die Augen traten, »hört Ihr das Kind? Hört Ihr, was es sagt? Eure Frau ist Euch sechsundzwanzig lange Jahre eine gute, treue Gattin gewesen; sie hat den einen Fehltritt begangen, ja, aber auch furchtbar dafür gebüßt. Der Gerichtshof hat ihr Vergehen nicht für so entsetzlich strafbar gefunden, der König selbst, in Betracht dessen, was sie sonst gelitten und welche Reue sie gezeigt, ihr die ganze Strafe geschenkt, und denen allen war sie nur eine fremde Frau! Wollt Ihr härter und unerbittlicher sein, als selbst der Richter und der König? Seht die Frau an – dreht Eure Augen nicht ab, denn Euer Herz zieht Euch doch hin –, seht sie an, wie der Gram und Kummer sie gebrochen hat, und für ihr ganzes Leben wollt Ihr die Frau dem Jammer, der Reue überlassen?«

»Geh' nicht von der Mutter, Vater,« bat Else und hing sich an seinen Arm; »Du würdest nie wieder lachen und froh sein können und die arme Mutter immer, immer weinen!«

Der Mann drehte den Kopf noch nicht; er sah nur starr und wie mit gläsernen Augen auf sein Kind nieder, auf seine kleine Else. »Geh' nicht von der Mutter, Vater!« bat sie – und jetzt drehte er das Antlitz ihr zu – ihr, die er die langen, langen Jahre geliebt und im Herzen getragen und die ihn so glücklich gemacht hatte, daß er sich gar kein Leben ohne sie denken konnte. Und als sein Auge sie traf, als er die in Demuth und Schmerz gebeugte Frau vor sich kauern sah, mit keinem Wort des Widerspruchs, keinem Gedanken, als sich nur seinem ausgesprochenen Willen zu fügen, da brach plötzlich das Eis.

»Katharina,« sagte er, und das Wort rang sich ihm ordentlich von seiner Brust los – »wollen wir – bei einander aushalten?«

»Gottfried!« rief die Frau, ihrem Glück kaum trauend und die gefalteten Hände zu ihm erhebend.

»Die Else hat recht,« fuhr Baumann fort, »es geht nicht; wir haben Beide schwer getragen, aber jetzt – Alles vergessen und vergeben!«

»Gottfried,« schrie die Frau, emporspringend, »Du wolltest...«

»Bei Dir aushalten in Freud' und Leid, wie ich es Dir einst zugeschworen. Nach Amerika geh' ich, das ist bestimmt – aber Du gehst mit, und die Kinder alle mit einander, und der alte Gott – wird dort weiter helfen!«

Die Frau hing an seinem Halse, sie schluchzte und jauchzte, und die Schreiber drin in der Nebenstube unterbrachen ihre Arbeit und horchten nach den fremdartigen Tönen in der sonst so stillen und geschäftsmäßigen Stube hinüber; und als nachher die Schlossersleute heraus kamen, Arm in Arm, und der Mann das Kind trug, und der alte Staatsanwalt hinter ihnen die Augen selber voller Thränen hatte, da wußten sie erst recht nicht, was sie aus der Sache machen sollten.

12.
Schluß.

Draußen im Schlosse Wendelsheim waren dem jungen Herrn der Besitzung die wenigen Tage wie in einem glücklichen Traum verflossen, und während eine Unzahl von Handwerkern in den alten Räumen wirthschaftete, um sie neu und wohnlich wieder herzurichten, damit Fritz sein liebes Bräutchen bald heimführen könne als züchtige Hausfrau, schien auch ein ganz anderes Leben mit den Arbeitern eingekehrt. Das summte und brummte nur so den ganzen Tag von lustigen Liedern und Lachen und Scherzen, wo früher Einer dem Andern scheu ausgewichen war und seine Arbeit gethan hatte, nicht als eine freudige Beschäftigung, sondern wie nur, um sie los zu sein. Aber Grund genug dazu war auch vorhanden, denn das gnädige Fräulein, die steinerne Tante, hatte den Platz geräumt und war, wüthend über die erlittene Beschimpfung, wüthend über den Neffen, über Kathinka, über die ganze Welt, schon am nächsten Tage abgefahren mit Sack und Pack, und das allerdings konnte ihre Laune dabei nicht verbessern, daß die Leute und Arbeiter vom Hofe, als sie endlich in den Wagen stieg, in lauten Jubel und ein nicht enden wollendes Hurrah ausbrachen, mit dem sie aus dem Schlosse begleitet wurde. Aber sie hatte es sich auch freilich selber zuzuschreiben, denn sie ließ keinen Freund zurück, da Keiner im ganzen Schlosse war – von ihrem eigenen Neffen bis zu dem letzten Kuhjungen herunter –, der nicht die Stunde gesegnet hätte, wo sie dem Platz den Rücken kehrte.

Wohin sie ging? Niemand kümmerte sich darum, da man wußte, daß sie hier nie wieder einziehen würde.

Aber eine andere Sorge lag den Leuten und besonders dem jungen Herrn auf dem Herzen, und das war die Sorge um den Baron selber, dessen Zustand sich mit jedem Tag verschlimmerte, und in völlige Wuthausbrüche überzugehen schien. Seit zwei Tagen hatte er schon Niemanden mehr in sein Zimmer gelassen; das Essen war ihm, mit Lebensgefahr für den Bringenden, in die Stube hineingeschoben worden, und die Voraussicht, daß noch Alles ein übles Ende nehmen könne, steigerte sich so, um Fritz zu veranlassen, selber in die Stadt zu fahren und einen Arzt mit ein paar Wärtern der dortigen Irrenanstalt, die mit solchen Kranken umzugehen wissen, herauszuholen; aber er kam trotzdem zu spät.

Als er in den Hof einfuhr, hörten sie plötzlich eine dumpfe Explosion und sahen gleich darauf aus den zertrümmerten Fenstern der Stube des alten Herrn dichte, weiße Rauchwolken hervorquellen. Alles stürzte natürlich hinauf, die Spritze wurde augenblicklich in Gang gesetzt und Wasser von allen Seiten herbeigeschleppt, um einem möglichen Brand zu begegnen. Als sie seine von innen verriegelte Thür einschlugen, bedurfte es dabei einer geraumen Zeit, ehe sie nur in das Gemach selber vordringen konnten, denn Pulverdampf drang in dicken, gelblich-weißen Schwaden so dicht wie eine Mauer heraus, und nicht das Geringste war in dem ganzen Raum zu erkennen. Durch das Oeffnen der Thür aber und mit den zersplitterten Fenstern bildete sich ein Zug, der nach einiger Zeit Luft gab, und wie sich der Rauch endlich verzog, fanden sie unter brennenden Trümmern und unter einem Theil der eingestürzten Zimmerdecke den Leichnam des alten, unglücklichen Mannes, der hier und auf solche Weise den Tod gefunden.

Erklärt war die Sache leicht. Der Baron hatte, wie man recht gut wußte, in seinem Gewehrschrank Pulver liegen, aus dem er sich, wenn er früher manchmal auf die Jagd ging, selber seine Patronen machte. Wie viel es gewesen, ließ sich nicht bestimmen, und daß er absichtlich Feuer dazu gebracht, war kaum anzunehmen. Wahrscheinlich hatte er in einem von seinen Anfällen die Idee gefaßt, frische Patronen zu machen – wie sich dann das Pulver entzündet, wer konnte es sagen! Aber der ganze Gewehrschrank war aus einander gesprengt und ein Theil der Waffen durch den Luftdruck an die entgegengesetzte Wand des Zimmers geschleudert, wo sie verbogen oder zertrümmert lagen.

Einzelne Möbel brannten auch, aber des Feuers wurde man bald Herr und der Leichnam dann in einen andern Theil des Schlosses getragen und dort auf sein letztes Bett gelegt.

Schloß Wendelsheim war jetzt zu einem Hause der Trauer geworden, wenn auch Fritz selber keinen so tiefen Schmerz über den Tod eines Vaters fühlen konnte, den er eigentlich kaum gekannt und der ihn nie geliebt, nie Liebe von ihm verlangt hatte. Aber Freude und Jubel war zugleich in die ärmliche Wohnung des Schlossers Baumann eingezogen – Glück und Seligkeit in die Herzen und ein heiteres Lachen und ein frohes Singen durch alle Räume. Selbst dem alten, starren Schlossermeister schien eine wahre Last von der Seele genommen zu sein, die er sich freilich selber aufgebürdet und mit seinem Trotzkopf auch vielleicht das lange Leben durchgeschleppt hätte bis zum Grabe. Jetzt war das vorbei, und was ihn dabei heiter und froh machte: daß nicht er das Glück wieder hatte einkehren lassen in sein Haus, oder seine Frau – das Alles wäre ihm fort und fort ein drückendes Gefühl geblieben – nein, daß es sein Kind gewesen, seine kleine Else, und er ließ die Kleine fast nicht mehr aus den Armen.

Indessen wurden jetzt aber alle Vorbereitungen zur baldigen Abreise scharf betrieben. Der Entschluß, nach Amerika auszuwandern, stand felsenfest bei ihm, und hier in Alburg hätte ja auch Alles die Erinnerung an das Ueberstandene fast stündlich wieder wachgerufen. Ueber den Verkauf seines Hauses trat er augenblicklich mit einem Nachbar, der ihm schon lange darauf ein Gebot gethan, in Unterhandlung. Das beste Werkzeug wurde eingepackt, um es mitzunehmen – denn drüben wollten sie genau wieder so beginnen, wie sie hier aufgehört –, Amboße und alles zu Schwere natürlich hier verkauft, und in kaum acht Tagen konnte schon mit der Fortschaffung der Effecten begonnen werden.

Auch Salomon hatte nicht gesäumt seine Abreise zu betreiben, und die beiden Familien waren entschlossen, nicht allein die Reise zusammen zu machen, sondern sich auch in Amerika gemeinschaftlich einen passenden Platz auszusuchen und dort eine Niederlassung zu gründen.

In diese selbe Zeit fiel die Bestätigung von Heßberger's Urtheil. Er hatte sich an die Gnade des Königs gewandt, aber ohne Erfolg. Er war zu zwanzigjähriger Zuchthausstrafe verurtheilt und wurde an dem nämlichen Tag in die Strafanstalt abgeliefert, als die Auswanderer die Stadt verließen.

Fritz kam jetzt fast alle Tage in die Stadt, um seine Pflegeeltern, über deren neu gewonnenes Glück er selige Freude fühlte, noch recht oft zu sehen, und hatte auch den Vater dringend gebeten, eine nicht unbedeutende Summe von ihm anzunehmen, um damit sein Fortkommen in dem fremden Welttheil zu sichern; aber der alte, starrköpfige Mann wollte nicht. So lange er seine Fäuste und seine Jungen hätte, meinte er, so lange sei er auch selber Manns genug, sich durch die Welt zu bringen; würde er einmal alt und schwach – was aber wohl noch eine Weile dauern könne – und sollte er es nothwendig brauchen, na, dann wollte er an Fritz schreiben und es ihn wissen lassen, eher nicht.

Es war nichts mit ihm anzufangen.

Die Hochzeit des jungen Erben von Wendelsheim mußte übrigens, durch den Todesfall des alten Barons aufgehalten, natürlich noch eine Weile hinausgeschoben werden, sonst hätte Fritz die Eltern auch gar nicht früher fortgelassen. So aber beschloß er, wenigstens sie bis Hamburg, als den Ort der Einschiffung, zu begleiten.

Morgens war das sämmtliche Passagiergut, da man die Frachtgüter lange vorausgeschickt, aufgegeben worden, und die Reisenden hatten schon ihre Plätze im Coupé genommen. Witte, der sie bis dahin begleitet, um noch einen letzten Abschied von ihnen zu nehmen, stand draußen auf dem Perron am Wagenfenster, als Rath Frühbach, den linken Arm wie gewöhnlich auf dem Rücken, langsam angeschlendert kam und, durch den davor stehenden Staatsanwalt aufmerksam gemacht, zu seinem Erstaunen die ganze Gesellschaft erkannte.

»Alle Wetter,« rief er überrascht aus, »ich habe es schon in der Stadt an verschiedenen Orten gehört, aber immer nicht glauben wollen! Also soll es wirklich nach Amerika gehen?«

»Nach Amerika, lieber Rath!« rief Bruno, der selig neben seiner Braut im Wagen saß, da der alte Salomon bestimmt hatte, der vielen Schwierigkeiten wegen, die ihnen hier in Deutschland bei einer solchen Trauung gemacht würden, dieselbe aufzuschieben, bis sie New-York erreichten. – »Nach Amerika – und wenn Sie etwas dahin zu bestellen hätten....«

»Hm,« sagte der Rath, »da fällt mir eine Geschichte ein. In Schwerin....«

In dem Moment pfiff die Locomotive. »Wagen frei, meine Herren!« rief der Schaffner. »Es geht fort!« Die Wagen thaten einen Ruck, setzten sich in Bewegung, und fort brauste der kleine Schnellzug, seinem Ziel, der fernen Hansestadt entgegen.

In Hamburg angekommen, sahen sie sich, wie das gewöhnlich geht, noch genöthigt, einige Tage auf die Abfahrt des als »segelfertig« angekündigten Schiffes zu warten, und das konnte Baumann doch nicht verhindern, daß ihnen Fritz nämlich statt der genommenen Zwischendeck-Billets bequeme Kajütenplätze ausmachte. Aber er hatte dabei auch außerordentlich viel und geheimnißvoll mit dem alten Salomon, den er selber schon von früher als einen braven und rechtlichen Mann kannte, zu verhandeln und zu besprechen und war oft stundenlang mit ihm abwesend. Was es aber gewesen, erfuhr Niemand, selbst nicht, als das Schiff endlich seine Abfahrt signalisirte und die Passagiere an Bord mußten.

Der Abschied war herzlich. Fritz hatte noch nicht vergessen, die alten Baumanns als seine wirklichen Eltern zu betrachten, und die kleine Else trug er selber in's Boot und von dort in seinem Arm an Bord hinauf. Jetzt noch ein Händedruck, noch ein Kuß – dann blähten die Segel aus – Tücher winkten nach, und fort mit einer günstigen Brise glitt das Schiff, das glückliche Menschen einer neuen Heimath entgegenführte. – –


Ein volles Jahr war vergangen, aber Fritz, längst mit der Geliebten vereinigt und im Besitz alles dessen, was einen Menschen wirklich glücklich machen kann, hatte noch immer nichts von seinen Lieben in Amerika gehört und sehnte sich doch so nach einem Brief.

Von Salomon erhielt er allerdings einmal, nach kaum sechs Monaten, ein paar geschäftliche Zeilen, die ihm anzeigten, daß sie glücklich da drüben gelandet wären und ihre neue Heimath bezogen hätten, daß es auch Allen gut ging, er aber weiter nichts schreiben wolle, da es ihm der alte Baumann verboten. Der nämlich habe selber die Absicht, ihm einen langen Brief zu schicken, und dem möge er deshalb nicht vorgreifen.

Aber der versprochene Brief kam nicht, und Monat nach Monat verging, so daß Fritz schon anfing sich zu sorgen. Da brachte der Postbote eines Tages den ersehnten, und das war wirklich ein Brief.

Auf grobes Schreibpapier geschrieben, reichlich vier Bogen davon zusammengefaltet und mit einer Unzahl von Siegeln beklebt, wog er in das Unglaubliche und kostete ein Heidenporto. Fritz aber jubelte laut auf, als er ihn erhielt. Das waren die starren, ehrlichen Züge seines alten Pflegevaters, und mit wenigen Sätzen sprang er hinauf in das Zimmer seiner kleinen Frau, um mit dieser das Schriftstück gemeinschaftlich zu genießen.

Beide lachten auch hell auf, als sie den Brief öffneten und die Buchstaben sahen, die wie durch einander geworfenes Werkzeug auf dem Papier umher lagen; aber Fritz traten doch die Thränen in die Augen, denn in den rauhen Zügen sah er das Bild des braven, wackern Mannes wieder, so klar und deutlich, als ob er vor ihm stände.

Kathinka würde freilich lange gebraucht haben, bis sie die wunderlich zusammengestellten Zeichen entziffert hätte; Fritz aber, der seines Vaters Handschrift schon von früher kannte, fand sich leicht hinein, und wie er nur einmal die ersten Zeilen bewältigt, las er die Hieroglyphen frisch vom Blatte weg. Der Brief lautete:

»Mein lieber Fritz! Eigentlich habe ich mir schon seit sechs Monaten jeden Tag vorgenommen, an Dich zu schreiben, aber es kam immer 'was dazwischen, und dann geht es mit Schreiben hier in Amerika gar nicht so leicht wie daheim, denn die Dinte trocknet Einem immer ein, und wenn man nachher Wasser dazu gießt, ist nichts drin.

»Aber ich muß Dir vor allen Dingen danken für Deine Liebe und Güte! Böser Junge, hatte ich Dir nicht gesagt, daß wir uns hier unser Fortkommen selber gründen wollten? Und was machst Du nun für Streiche? Wie wir herkommen, reise ich mit dem alten Salomon, der ein ganz tüchtiger Kerl ist, und mit Bruno in's Land hinein, um uns etwas auszusuchen. In Indiana fanden wir eine prachtvolle Farm mit einem herrlichen, großen Backsteinhause, fünfzig Acker urbar gemachtem und ich weiß gar nicht wie viel Holzland und Prairie, mit Vieh und Pferden und Allem, was dazu gehört; aber wir übernachteten da blos, um einen Nachbarplatz anzusehen, denn ich konnte natürlich nicht daran denken, eine solche Farm zu kaufen; mein Capital hätte nicht einmal für das Haus allein ausgereicht, das groß genug ist für drei Familien, und noch dazu eine kleine Stadt ganz dicht dabei, als ob sie dazu gehörte. Daran gränzte aber ein kleines Häuschen mit ein paar Acker Feld, das noch beinahe mit zur Stadt gehörte, und der alte Salomon beredet mich richtig, das kleine Nest zu kaufen; er wolle dann dicht daneben in die Stadt ziehen, damit wir hübsch bei einander wohnten. Das thu' ich denn endlich, obgleich mir das kleine Nest nicht besonders gefiel; aber es war doch ein Obdach, und wir verzehrten doch nicht so viel Geld, als in der Stadt, und ich bekam vielleicht auch aus der Stadt heraus, wo gar kein Schlosser war, Arbeit. Wir reisen also zurück und holen die Frauen und Kinder ab, und nur Salomon blieb selber dort, um Alles herzurichten. Aber denke Dir, wie wir zurückkommen und in das kleine Haus ziehen wollen, will sich der alte Jude vor lauter Vergnügen todtlachen und behauptet, daß das große Haus mit allem Feld und Vieh und weiß Gott, was sonst noch, mein gehöre! Ich wollt's erst gar nicht glauben, und wie er mir sagte, daß er es in Deinem Auftrage für mich gekauft hätte, wollt' ich fuchsteufelwild werden – aber es war gar so hübsch und herrlich da und die Frauen und Kinder so glücklich und selig in dem Gedanken, und geheult haben sie vor Rührung und Dir tausend und tausendmal für Deine treue Liebe gedankt! Da überlegte ich mir denn endlich die Sache. Es ist ja doch Dein Junge, wenn er's auch nicht wirklich ist – Du hast ihn auf den Armen großgezogen und die Mutter hat sich um ihn gesorgt und geängstigt – er hat's auch, es thut ihm nicht weh, und von ihm kann ich's nehmen. Und da sitzen wir jetzt – die glücklichsten Menschen, die es auf der Welt geben kann – und das größte Glück, daß ich die Mutter mitgenommen habe, sonst hätt' ich's hier im Lande nicht ausgehalten, und Du solltest nur sehen, wie sie wirthschaftet und schafft, und wie heiter und glücklich sie geworden ist!

»Ich habe mir jetzt eine kleine Werkstatt eine Strecke vom Hause ab gebaut, damit sie drinnen das arge Klopfen nicht hören, denn Arbeit giebt's heidenmäßig viel, und ich werde manchmal mit dem Karl gar nicht fertig. Der Franz ist noch als Gesell in New-York geblieben; er soll erst 'was Tüchtiges lernen und dann auch zu uns herkommen, und Bruno, der mit seiner jungen Frau und dem alten Salomon'schen Paare bei uns im Hause wohnt, bis sein eigenes fertig ist, was er für sich baut, führt uns die ganze Feldwirthschaft und hat sich tüchtig hineingefunden.

»Wenn wir Dich nur noch hier hätten, so wäre Alles gut; aber wenn es irgend angeht, so mußt Du uns einmal besuchen.

»Und jetzt lebe wohl! Wir sind Alle gesund und wohl, und Bruno ist ganz selig mit seiner jungen, hübschen Frau, die ein ganz braves, fleißiges Weibchen ist – und der alte Salomon reist im Lande umher und handelt; das können die Art Leute nun einmal nicht lassen.

»Karl will auch nächstens heirathen – eine Nachbarstochter – meinetwegen – wir haben's Alle nicht besser gemacht.

»Aber nun leb' noch einmal wohl – hab' nochmals tausend Dank, mein braver Fritz, für Deine Liebe! Grüße Deine liebe Frau und den Herrn Witte schön von mir und sage ihm, auch ihm wären wir Alle recht von Herzen dankbar. Und nun habe ich noch zahllose Grüße und Küsse von Allen zu bestellen; sie wollten selber noch etwas mit in den Brief schreiben, aber ich habe Niemanden hineingucken lassen, denn er sieht ein bischen wild aus und es sind viele Klexe drin – die Feder ist mir immer zu dünn und zu leicht zum Halten.

»Gott segne Dich, mein guter Fritz, und Dein braves Weib!

Dein treuer Vater

Gottfried Baumann

Ende.

Druck von G. Pätz in Naumburg a. S.

Hinweise zur Transkription

Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt.

Der Halbtitel wurde entfernt.

Ein an den vorderen Buchdeckel angeklebter Zettel mit Verlagswerbung wurde nicht in den Text aufgenommen.

Abschnitte, die abweichend in Antiqua gesetzt wurden, sind in der Transkription in kursiver Schrift dargestellt.

Fehlende und falsch gesetzte Anführungszeichen wurden stillschweigend korrigiert.

Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, mit folgenden Ausnahmen:

Seite 51:
"Räthiu" geändert in "Räthin"
(»Das wird er schon,« nickte die Frau Räthin)

Seite 67:
"daß" geändert in "das"
(Hol's der Teufel, das ist ein ganzes Nest von Sachen)

Seite 113:
"vielmher" geändert in "vielmehr"
(oder vielmehr in der Sache der Erbfolge)

Seite 147:
"stestenden" geändert in "stehenden"
(emporfuhren und die stehenden sich bückten)

Seite 167:
"das" geändert in "daß"
(habe Euch schon einmal gesagt, daß Euch das einerlei sein)

Seite 168:
"erwiderte" vereinheitlicht zu "erwiederte"
(»Ich will Euch 'was sagen, Heßberger,« erwiederte Witte)

Seite 185:
"," eingefügt
(sagte dieser kalt, »Sie selber stehen)

Seite 215:
"Frübach" geändert in "Frühbach"
(»Aber ein Schlosserssohn,« sagte Rath Frühbach ganz verwirrt)

Seite 229:
"denn" geändert in "den"
(sie machte gleich von vorn herein den Eindruck)

Seite 332:
"das" geändert in "daß"
(konnte Baumann doch nicht verhindern, daß ihnen Fritz)