The Project Gutenberg eBook of Legenden und Geschichten

This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook.

Title: Legenden und Geschichten

Author: Aleksei Remizov

Translator: Arthur Luther

Release date: March 17, 2012 [eBook #39175]

Language: German

Credits: Produced by Jens Sadowski

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK LEGENDEN UND GESCHICHTEN ***

Alexej Remisow

Legenden
und Geschichten

 

 

 

 

 

 

Leipzig
Kurt Wolff Verlag

Verlagslogo

 

Bücherei „Der jüngste Tag“ Band 60/61
Gedruckt bei Dietsch & Brückner · Weimar

 

 

 

 

 

Berechtigte Übertragung von Arthur Luther

 

 

Anmerkungen zur Transkription finden sich am Ende des Buches.

 

 

 

Inhalt

Legenden

Adams Schwur

Die Geburt Christi

Die Leiden der heiligen Jungfrau

Die Leiden des Heilandes

Geschichten

Der Hofjuwelier

Maka

Die Krawatte

 

 

 

Legenden

Als ich meine Tage in der Lehre bei einem weisen Greise verbrachte, zündete ich einst in der Nacht in tiefer Seelenverwirrung eine Kerze an und schlug ein Buch auf, das der Greis, mein Meister, in meiner Stube liegen gelassen hatte. Ich wandte die vergilbten, mit Unzialschrift bedeckten Blätter um und begann zu lesen.

Und die Sterne gingen mit dem nächtlichen Dunkel, der Morgen graute, ich aber las und las und hatte nicht gehört, daß man drüben von der Erlöserkirche längst schon zur Frühmesse geläutet hatte.

Und der weise Greis, mein Meister, gab mir seinen Segen, daß ich Euch aus jenem wunderbaren, mit Unzialschrift geschriebenen Buche einige Gleichnisse, Geschichten und Sagen erzähle.

Adams Schwur

1.

Geht und glaubt nicht, daß ihr je zurückkommen könntet! Und flucht eurem Gotte nicht. Euer Zorn würde machtlos sein und auf euch zurückfallen.“

Und das feurige Schwert in der Hand des Cherubs flammte auf.

Die Pforte des Paradieses fiel zu.

Verzweifelt warfen sich Adam und Eva nieder und weinten. Sieben Tage weinten sie, ohne die Augen aufzuschlagen, ohne sich vom Boden zu erheben.

Und sie vernahmen die Stimme Gottes:

„Ich breite meine Gnade über euch aus. Die Stunde der Verheißung wird kommen, und ich werde euch das Paradies wiedergeben.“

Sie hoben die Augen auf, aber sie sahen Gott nicht wie früher.

An der Pforte des Paradieses stand der Cherub, grimmig, mit dem flammenden Schwert.

Und sie baten den Cherub, ihnen zu sagen, wann Gott kommen und ihnen das Paradies wiedergeben werde.

„Fünftausend fünfhundert und acht Jahre werden vergehn,“ sprach der Cherub, „und Gott wird euch befreien. Jetzt aber geht, sage ich euch, und wagt nicht zurückzukommen. Und flucht eurem Gotte nicht. Denn euer Zorn würde machtlos sein und auf euch zurückfallen.“

Und sie gingen demütig, um nie mehr zurückzukommen.

Und die Schlange kroch ihnen nach.

Sie aber erkannten die Schlange nicht.

Denn die Schlange war schöner gewesen als alle Tiere, und jetzt kroch sie auf dem Bauche; sie hatte reden können, und nun war sie stumm. Sie konnte Adam und Eva nur vorwurfsvoll ansehen.

Trübe Tage wechselten mit bangen Nächten. Das Leben war schwer.

Die unfruchtbare, von Gott verfluchte Erde war eine Wüste. In der Behausung der ersten Menschen war es eng und finster. Wilde Tiere bedrohten sie. Sehnsucht, Angst, Müdigkeit . . .

„O weh, du mein schönes Paradies!“ weinte Adam und weinte Eva.

Sie konnten das Leben im Paradies nicht vergessen, immer wieder dachten sie daran, und dann gingen sie bis zur Mauer des Paradiesgartens, knieten nieder und weinten.

Und die Schlange war mit ihnen.

Sie war schöner gewesen als alle Tiere, und alle Kreatur hatte sich an ihrem Anblick gefreut, — und nun kroch sie auf dem Bauche und spie Gift aus, und alles floh vor ihr.

„O weh, du mein schönes Paradies!“ weinte Adam und weinte Eva.

Aber keiner hörte sie, keiner gab ihnen Antwort.

An der Pforte des Paradieses stand der Cherub, grimmig, mit flammendem Schwert.

Und verzweifelnd gingen sie zurück zu ihrem verhaßten Felsen in die finstere Höhle.

Und die Schlange kroch ihnen nach.

Als das erste Jahr zu Ende ging, gebar Eva dem Adam einen Sohn, den Kain.

Er war der Erste, der auf der Erde geboren war, schön wie die Schlange und schrecklich. Auf seinem Haupte wanden sich sieben giftige Schlangenköpfe.

Eva war bitter geplagt. Müde und schwach, mußte sie alle nähren — den Sohn und die Schlangenköpfe, die wie ein Kranz seine Stirn umgaben.

Und Adam konnte seinem Weibe nicht helfen, konnte ihre Schmerzen nicht lindern.

Die Schlange aber, die mit ihnen in der Höhle wohnte, war stumm und sah sie nur vorwurfsvoll an.

Und die Erde war voll Weh und Leid.

Trostlose Tage wechselten mit trostlosen Nächten.

Da kam Satan und sprach zu Adam:

„Was gibst du mir, wenn ich Eva helfe?“

„Alles, was du willst,“ erwiderte Adam, der zu allem bereit war, wenn nur Evas Schmerzen gelindert würden und er nicht mehr den Sohn mit dem greulichen lebendigen Schlangenkranze ums Haupt zu sehen brauchte.

„Schwöre mir,“ sprach Satan, „daß du und deine ganze Nachkommenschaft mir gehören sollen!“

Und er ergriff einen weißen Stein und reichte ihn dem Adam.

Und Adam schwur.

Und Adam schrieb den Schwur mit seinem Blut hin, daß er dem Satan angehören wolle, er und alle seine Nachkommen bis auf den letzten.

Und alsbald fielen die sieben Schlangenköpfe von Kains Haupte ab.

Da freute sich Eva und Adam freute sich mit ihr.

Und es war dies die erste Freude auf der Erde.

Satan aber nahm den roten Stein mit dem Versprechen und die sieben Schlangenköpfe und ging von der Höhle nach dem Fluß Jordan. Und dort, am Jordan, unter einem Felsen, wählte er einen versteckten Platz und legte den Stein dahin und befahl den sieben Schlangenhäuptern, ihn zu hüten.

Und als Adam starb, kam seine Seele zu Satan. Dann starb Eva, und auch ihre Seele kam zu Satan. Und alle, die nach Adam und Eva starben, folgten ihnen in das Reich Satans, in die Hölle, wie Adam es geschworen hatte.

2.

Die Tage und Jahre gingen, wie Gott es bestimmt hatte.

Die Menschen wurden geboren und breiteten sich über die Erde aus; sie hofften und verzweifelten, bangten und freuten sich ihres Lebens, verlangten nach Macht, nach Reichtum, nach Ruhm, liebten und haßten, halfen einander und töteten einander.

Und der rote Stein lag immer noch am Jordan unter dem Felsen, und die Schlangen hüteten ihn. Und das Reich Satans ward größer mit jedem Jahr, jedem Tag, jeder Stunde, denn immer mehr Söhne Adams kamen hinein.

Und Satan freute sich seiner wachsenden Macht und Größe.

Die Tage und Stunden gingen hin, wie Gott sie festgesetzt hatte. Sie blieben sich immer gleich, heute war wie gestern, und jede Stunde war ein stiller, geheimer Gottesdienst.

Die erste Nachtstunde brach an — die Stunde, da die Dämonen sich vor Gott beugen. Und die Dämonen schadeten dem Menschen nicht, das Böse ruhte, wurde nicht größer, nicht geringer.

Die zweite Stunde kam — die Stunde der Fische. Und es erhob sich der Ozean mit seinem ganzen Reich, und die tiefsten Tiefen des Meeres beugten sich vor dem Herrn. Es kam die dritte Stunde — die Stunde der höllischen Abgründe.

Es kam die vierte Stunde — die Stunde, da die Seraphim den Herrn preisen, und das Rauschen ihrer Flügel füllte die himmlischen Tempel mit süßer Musik.

Es kam die fünfte Stunde — die Stunde der Wasser über dem Himmel.

Es kam die Mitternacht — die sechste Stunde der Nacht —, und es zogen sich die Wolken zusammen und erfüllten die Welt mit einem großen, heiligen Schauer.

Es kam die siebente Stunde — die Stunde der Ruhe für alles Lebende.

Es kam die achte Stunde — und die Erde freute sich des Taus, der auf Saaten und Gräser niederging.

Es kam die neunte Stunde — die Stunde des Dienens für die Engel, die vor dem Throne der ewigen Allmacht stehen.

Es kam die zehnte Stunde — die Stunde des Gebets, und die Himmelstore gingen auf, und die Gebete traten vor Gott, und Gott war gnädig zu den Menschen, und die Seraphim schlugen mit den Flügeln, und Musik tönte durch den Himmelsraum, und unten auf der Erde krähte der Hahn.

Es kam die elfte Stunde — und die Sonne ging auf und brachte der Welt Freude und Licht und Wärme.

Und es kam die zwölfte, die letzte Stunde — die Stunde der Hoffnung und des Schweigens der Engelchöre vor dem Throne Gottes.

Aber der rote Stein lag am Jordan unter dem Felsen. Und die Schlangen hüteten ihn. Und das Reich Satans ward größer mit jedem Jahr, jedem Tag, jeder Stunde, denn immer mehr Söhne Adams kamen hinein.

Und Satan freute sich seiner wachsenden Macht und Größe.

Das währte so fünftausend fünfhundert und acht Jahre.

Nun kam die Stunde, die verheißen war, Christus kam auf die Erde, der Sohn Gottes.

Niemand wußte von ihm, niemand dachte an ihn. Wie bisher aßen und tranken die Menschen, freiten und ließen sich freien, stritten und versöhnten sich, töteten sich selbst aus Liebe und töteten andere aus Haß. Ebenso wie bisher ging die Sonne auf und grünten die Bäume im Frühling. Ebenso wie früher gingen nachts die geheimen Stunden hin.

Einzig Johannes der Täufer harrte des Heilandes am Jordan.

Und als die Zeit erfüllt war, kam Christus aus der Wüste an den Jordan zu Johannes. Und Johannes erkannte den Heiland.

Und Christus trat unter den Felsen auf den roten Stein und ward von Johannes getauft.

Und das Wasser ward unter den Füßen Christi zu Feuer. Das Feuer verbrannte die Schlangenköpfe, das Feuer zerfraß den roten Stein.

Der Heilige Geist stieg auf den Gottessohn herab, und es ward eine Stimme vom Himmel gehört:

„Siehe, das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“

3.

In Zorn geriet Satan, als er den gespaltenen, vom Feuer zerfressenen roten Stein und die sieben toten Schlangenhäupter sah.

Er sammelte die schwarzen Stücke des roten Steins und fügte sie mit höllischer Kunst zusammen, und den neuen schwarzen Stein trug er hinab in sein Reich, die Hölle.

Noch war die Zeit nicht erfüllt, drei Jahre sollte Christus noch auf Erden wandeln. Noch drei Jahre mußten Adam und Eva in banger Sehnsucht harren.

Und Satan gab sich kühnen Träumen hin.

Er hatte den schwarzen Stein in der Hölle versteckt und wartete auf die letzte Stunde des Gottessohnes, um dann seine ganze Kraft zusammenzunehmen, den Unüberwindlichen zu besiegen, ihn zu zerreißen, ihn zu verspotten in seiner Kreuzesnot und dann seine schwarze Finsternis über die ganze Welt zu breiten.

Und groß war in der Hölle die Freude des von seinem Wahn betörten Herrschers am Vorabend seiner Schmach und seiner Vernichtung.

Die Geburt Christi

1.

In der Nacht, da Christus geboren werden sollte, befand sich die Gottesmutter mit dem heiligen Joseph auf dem Wege nach der Stadt Bethlehem.

Und unterwegs geschah etwas Seltsames mit der heiligen Jungfrau: sie lachte und weinte zu gleicher Zeit. Joseph hielt sein Rößlein an. Der Alte dachte: „Ist der Maria nicht wohl, oder hat sie Angst vor den Wölfen bekommen?“ Denn Wölfe gibt es viel in der Gegend.

Die Gottesmutter aber sprach zu ihm:

„Ich sehe zwei Männer, Großväterchen: der eine lacht, und mit dem freue ich mich, denn ihm steht ein großes Glück bevor. Der andre aber weint, und mit dem traure ich, denn ihn erwartet ein großer Schmerz.“

Der Alte verstand die Worte der Gottesmutter nicht, aber er merkte sie sich wohl. Sie verhießen der Erde zugleich eine große Freude und ein bitteres Weh.

Die Gottesmutter war auf dem Wege nach Bethlehem. Sie mußten beide zur Schätzung. Es sollten alle Bewohner des Landes geschätzt werden, und in welcher Stadt einer angeschrieben war, in die mußte er sich begeben.

Es war Winterszeit. Und ein sehr schneereicher Winter. Bergehoch lag der Schnee überall. Mit großer Anstrengung kam das Pferdchen vorwärts. Joseph hätte sich die beschwerliche weite Reise gern geschenkt, doch er wagte es nicht, ungehorsam zu sein. Es war ein strenger Befehl vom König ausgegangen, daß ein jeder sich nach seiner Stadt zu begeben habe.

Joseph war ein ganz alter Mann. In jungen Jahren war er ein Zimmermann gewesen, aber jetzt gehorchte ihm das Beil längst nicht mehr. Der Alte hatte geglaubt, sie würden vor Abend in der Stadt sein, doch sie waren vom Wege abgekommen. Und so überraschte die Nacht sie im freien Felde.

Es war eine helle, sternklare Nacht und bitter kalt.

Die Gottesmutter stieg nicht vom Schlitten herab, — es fror sie zu sehr. Der Alte ging neben dem Pferde und trieb es ab und zu an.

So kamen sie langsam vorwärts.

Und die Gottesmutter fühlte, daß ihre Stunde gekommen war.

Was war zu tun? Wie sollte sie hier nachts auf freiem Felde bleiben?

Da, Gott sei Dank, zeigte sich abseits vom Wege, am Waldrand, eine Erdhütte.

Der Alte band das Pferd an. Sie traten in die Hütte ein. In der Hütte aber standen ein Pferd und ein Öchslein. Sonst war keine lebende Seele zu sehn. Ganz in der Ferne hüteten Hirten ihre Schafe.

Aber die Zeit drängt und Hilfe tut not.

Die heilige Jungfrau bittet den Joseph, eine Wehmutter zu holen. Wo aber wäre hier draußen im Felde eine Wehmutter zu finden?

Der Alte ging traurig die Landstraße weiter und wußte doch gar nicht, wo er eine Wehmutter suchen sollte.

Und als Christus geboren ward, da ward es hell in der Erdhütte.

So hell, als wenn die Sonne aufgegangen wäre.

Die Gottesmutter nahm den Sohn auf ihren Arm, hob ihn empor und legte ihn auf das Stroh in der Krippe, wie in eine Wiege.

Das Pferd und das Öchslein sahen das Kind und kamen näher heran. Sie erkannten den Heiland und bliesen ihn an, um ihn mit ihres Atems Hauch zu wärmen. Und der Knabe streckte spielend die Ärmchen nach ihnen aus und streichelte sie.

Die Tiere aber fuhren fort, ihn mit ihrem Atem zu wärmen.

Und er segnete sie, — segnete das mühevolle Dasein des Rosses und des Ochsen.

Joseph geht über das Feld, er wankt und stolpert, seine Augen sehen nichts mehr, seine Füße versagen ihm den Dienst, — er ist eben schon sehr alt. Er fängt an zu rufen. Aber wer wird ihm nachts im Feld Antwort geben?

Nur die Sterne flimmern, — und so hell, als sängen sie über der Erde.

Und da sieht Joseph eine alte Frau ihm entgegenlaufen. In atemloser Hast klettert sie über die gewaltigen Schneehaufen. Joseph ruft sie an. Da bleibt sie stehn und verschnauft.

Sie war aus der Stadt Bethlehem und hieß Solomonida. Sie hatte ihren kleinen Enkel, den Peter, den unartigen Bub, eben zu Bett gelegt und wollte sich nun selbst zur Ruhe begeben — man wird müde, wenn man den ganzen Tag gearbeitet hat — da war’s ihr, als riefe sie jemand.

„Geh ins Feld hinaus, Solomonida, man braucht deinen Beistand,“ hörte sie eine Stimme. „Und da kam so eine Angst über mich, daß ich aufsprang und hinauslief, so schnell ich konnte.“

Da freute sich Joseph und führte die Alte nach der Erdhütte.

Die beiden Alten liefen in größter Hast. In der Hütte aber war es hell, als wäre drinnen die Sonne aufgegangen.

Und die Alten sahen das Kind und erkannten den Heiland und wagten nicht näher heranzutreten. Das Kind aber winkte ihnen aus der Krippe mit der Hand und segnete sie.

Es segnete die alte Wehmutter Solomonida und den alten Zimmermann Joseph, der die heilige Jungfrau bei sich aufgenommen hatte, segnete ihr schweres, arbeitsvolles Leben.

Draußen hüteten Hirten ihre Schafe vor den Wölfen. Denn Wölfe gibt es viel in der Gegend. Den Hirten ward es bange in der Nacht, und um ihre Angst zu vertreiben, erzählten sie sich schauerliche Geschichten.

Da standen die Schafe auf und gingen zum Eisloch trinken. Aber sie tranken nicht, sondern blieben dicht gedrängt rund um das Loch stehen und hoben die Köpfe in die Höhe. Und so standen sie unbeweglich da.

Dergleichen war den Hirten noch nie vorgekommen. Was bedeutete das? Waren sie starr vor Schreck, weil Wölfe in der Nähe lungerten?

Die Hirten traten näher heran. Und wie sie zum Himmel emporschauten, da zeigte sich ihnen ein Engel und sprach:

„Was steht ihr da, ihr Hirten? Christus, der Heiland, ist geboren! Geht schnell nach der Erdhütte. In der Hütte, in der Krippe liegt der Heiland.“

Und es zeigten sich unzählige Engel. So viele Engel, wie Sterne am Himmel sind.

„Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ sangen die Engel um jenen geschart, der den Hirten die Geburt des Heilands verkündigt hatte.

Und der ganze Himmel war in kreisender, wirbelnder Bewegung.

Die Schafe aber standen am Eisloch, die Köpfe emporgereckt und starrten in die Höhe.

Da nahmen die Hirten jeder ein Lämmlein und liefen nach der Erdhütte. Und die Hunde liefen ihnen nach.

In der Hütte aber war es hell, als wäre drin die Sonne aufgegangen.

Da sahen die Hirten das Kind, Christus, den Heiland, wie der Engel es ihnen verkündet hatte. Und sie legten ihre Lämmer vor ihm nieder und neigten sich bis zur Erde. Das Kind sah sie an und berührte auch die Lämmer. Es segnete die Hirten, segnete ihr schweres, arbeitsreiches Leben.

Und die Hirten gingen zurück zu ihrer Herde. Und ihre Hunde liefen hinter ihnen her.

Und die Hirten sangen, wie sie es von den Engeln gehört hatten: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“

Da kamen ihnen Wölfe entgegen. Aber die Wölfe hatten die Schafe nicht angerührt, — ein Engel hütete ihre Schafe! Die Wölfe gingen nach der Erdhütte und wichen den Hirten aus!

Auch die wilden Tiere hatten erkannt, daß der Heiland der Welt geboren war.

Weit drüben aber, hinter Feuer und Rauch, hinter Wäldern und breiten Strömen, hinter dem faulen Sumpf am Eismeer, am Ozean, wo der Wind die blauen Eiszacken bis zum Himmel emportreibt, in dem kalten, düstern Land der Zauberer dröhnte und klirrte mitten in der Nacht das Tamburin. Und drei weise lappländische Zauberer und Könige sahen am Himmel den Stern Christi. Sie erkannten ihn wohl, denn ihr Lebenlang hatten die Weisen seiner geharrt und den Tag seines Erscheinens auszurechnen versucht. Und sie nahmen ihre Geschenke und gingen ohne Knechte und ohne Renntiere dem Sterne mit dem Schweif nach.

Und der Stern Christi führte die Zauberer in die Stadt Jerusalem.

2.

Viel Volks war zur Schätzung nach Bethlehem gekommen, doch viel mehr noch nach Jerusalem. Das Stadttor blieb die ganze Nacht offen. Und in den Straßen war ein Lärm, wie zur Messe.

Am frühen Morgen nach der Geburt des Heilandes zeigten sich zwei Wanderer auf der Straße von Bethlehem nach Jerusalem. Es waren keine gewöhnlichen Wanderer: es waren ein Rößlein und ein Öchslein.

Sie gingen ohne Treiber, geradewegs nach Jerusalem. Und als sie in die Stadt gekommen waren, liefen sie unbeirrt durch Lärm und Gedränge die Gassen entlang. Sie atmeten, wie sie in der Nacht geatmet hatten, als sie mit ihrem Hauch das Christkind in der kalten Erdhütte wärmten.

Ein Lümmel warf einen Stein nach ihnen, doch der Stein glitt an ihnen ab wie eine Feder: sie spürten seine Berührung nicht und zuckten nicht einmal zusammen.

Das Rößlein und das Öchslein gingen schnaufend die Gassen entlang. Ihre Augen waren wie Menschenaugen, hell und klar. Und wenn sie hätten reden können, so hätten sie gesagt — sie brachten ja die Kunde von der Geburt des Heilandes — so hätten sie gesagt, daß in dieser Nacht der Herr Christus geboren sei, der Erlöser, daß sie ihn gesehen hätten und daß er sie gesegnet hätte.

Kinder, Pilger und Narren neigten sich vor dem Roß und dem Ochsen, wo sie ihnen begegneten.

Nachdem sie die ganze Stadt durchschritten hatten, verschwanden die beiden jenseits der Stadtgrenze.

Und sie gingen weiter die Landstraße entlang, wie sie auch heute noch gehen und immer weiter gehen werden, bis das Ende aller Tage gekommen ist. Und in der letzten Stunde werden sie reden . . . sie werden reden, die Stummen, das gesegnete Rößlein und der Ochse.

Am Abend desselben Tages erschienen in Jerusalem die Hirten von Bethlehem, vier Hirten.

Sie gingen durch die von Menschen erfüllten Gassen, aber es war, als sähen und hörten sie nichts von dem, was rundum geschah. Sie machten auf den Plätzen halt und stimmten einen seltsamen, unverständlichen Gesang an.

Sie sangen das Lied der Engel:

„Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“

Und Kinder und Pilger und Narren drängten sich, wie Schafe, an sie heran und starrten zum Himmel empor und fielen plötzlich mit wildem Geschrei und Gelächter mit ein:

„Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“

Und der ganze lärmende Marktplatz geriet gleich dem stillen Sternenhimmel in wirbelnde Bewegung.

Nachts verschwanden die Hirten jenseits der Stadtgrenze.

Sie gingen weiter, dem Rößlein und dem Öchslein nach, wie sie auch heute noch gehen und das Lied der Engel singen, und wie sie gehen und singen werden, bis das Ende aller Tage gekommen ist. Und in der letzten Stunde wird man ihnen lauschen, den gesegneten Hirten von Bethlehem.

Rößlein und Öchslein waren verschwunden, die Hirten wurden nicht mehr gesehn, und die Nacht war vorüber.

Mit dem Morgengrauen des folgenden Tages aber zeigte sich in Jerusalem eine alte Frau. Sie ging durch die Gassen, und keiner konnte verstehen, wovon sie sprach und was ihre Gebärden bedeuteten. Sie tat, als wiege sie ein Kind und als spräche sie ihm freundlich zu und scherze mit ihm — und dann fiel sie plötzlich auf die Knie und fing an zu weinen, doch nicht vor Schmerz, sondern vor Freude.

Das war die alte Solomonida, die erzählte von der Geburt des Heilandes und zeigte, wie sie das Kind auf ihre zitternden, abgearbeiteten Arme genommen, wie sie es geherzt und geschaukelt hatte, — sie, die schon so vielen Kindern zur Welt geholfen hatte.

Kinder, Pilger und Narren liefen der Alten nach, und wenn sie weinend auf die Knie fiel, wiederholten sie weinend ihre unverständlichen Worte.

Und die dunkle Straße geriet gleich den Sternen am stillen Himmel in wirbelnde, kreisende Bewegung.

Als sie alle Gassen durchschritten hatte, verschwand Solomonida jenseits der Stadtgrenze.

Und sie ging weiter die Landstraße entlang, wie sie heut noch geht und von dem Christkind erzählt und vor Freude weint, und wie sie gehen wird und weinen, bis das Ende aller Tage gekommen ist. Und in der letzten Stunde wird man sie verstehen, die gesegnete Greisin Solomonida.

Und eine bange Spannung legte sich über die königliche Stadt, das große Jerusalem.

Drüben aber vom Eismeere her, vom Ozean, wo der Wind die blauen Eiszacken bis zum Himmel emportreibt, durch Sümpfe und Ströme, durch Wälder, durch Feuer und Rauch schritten die drei lappländischen Zauberer und Könige dem Sterne Christi nach.

Ihre königlichen Gewänder waren beschmutzt und zerschlissen, die Fetzen hingen ihnen, wie Bettlern, von den Schultern herab, und nur die Königskronen strahlten wie Sterne.

Am dritten Tage brachte der Stern die Könige nach Jerusalem. Der Stern erhob sich über die Königsstadt und verschwand.

Und als die drei Zauberer in den Gassen Jerusalems erschienen und zu fragen begannen, wo Christus, der König geboren sei, dessen Stern sie gesehen hätten, da geriet die Königsstadt in große Aufregung.

„Wo ist Christus, der Heiland der Welt, geboren?“ fragten die Zauberer die Leute auf der Gasse. „Wo ist der König geboren?“

„Wir haben keinen König außer Herodes,“ antwortete man ihnen, „und wir kennen keinen andern König außer Herodes und seinem Sohn Archelaos.“

Aber nicht nach Archelaos, dem Sohne des Herodes, nicht nach dem König Herodes fragten die weisen Könige, sondern nach Christus, dem Könige, der alle Könige besiegen und alle Reiche der Erde erobern würde, nach Christus, dem Könige, dem Weltheiland, fragten die weisen Könige und Zauberer.

Dicht hinter ihnen, wie sie selbst dem Sterne nachgegangen waren, gingen Kinder, Pilger und Narren. Und wenn die Könige nach Christus, dem Weltheiland, fragten, dann erstarrten jene in banger Erwartung.

Aber es ward ihnen keine Antwort.

Von Gasse zu Gasse, von Haus zu Haus, von Mund zu Mund ging die Kunde von den lappländischen Königen und Zauberern und von dem Stern, der sie geführt hatte, und von der Geburt des Königs Christus, — des Königs, der alle Könige überwinden würde. Und am Abend drang die Nachricht auch über die hohen, unübersteigbaren Mauern des Königspalastes.

Und das Gemüt des Königs Herodes ward verwirrt.

Herodes ließ die fremden Könige zu sich rufen.

Man brachte die fremden Könige vor Herodes.

Herodes kam ihnen entgegen.

Als sie den Herodes erblickten, fragten die Zauberer den König, wie sie an dem Tage alle Leute gefragt hatten, nach dem neugeborenen König.

„Wo ist der König geboren?“

„Ich bin der König!“ antwortete Herodes den Zauberern. Er war klein und mager, mit einem kleinen Kopf auf einem kurzen, unverhältnismäßig dicken Halse, er kniff die Augen ängstlich zusammen und sprach mit unerwartet lauter und tiefer Stimme.

Und dieses Unerwartete betrog und verblüffte die Leute.

Aber die lappländischen Könige ließen sich nicht verblüffen. Die lappländischen Könige waren Herr über die Winde, konnten den Sturm entfesseln, konnten die Inseln im Meere von ihrem Platz rücken, konnten alles Lebende in Stein verwandeln, drangen in alles Verborgene, wußten durch ihre geheimen Künste, was auf Erden und im Meere geschah, selbst in fernen Ländern bei fremden Völkern.

Die lappländischen Könige kannten keine Furcht.

Die Weisen hatten ihr ganzes Leben auf den Stern Christi gewartet, und nun hatte der Stern Christi sich ihnen gezeigt.

Die lappländischen Könige kannten keine Furcht.

Ohne sich an die Wege und Straßen zu halten, waren sie dem Stern mit dem Schweif gefolgt: Tag und Nacht sahen sie nichts als den Stern und fühlten keine Ermattung und keinen Hunger. In drei Tagen legten sie eine Strecke zurück, zu der man sonst ein Jahr braucht.

„Wo ist Christus, der König, geboren?“ fragten die Zauberer den Herodes abermals.

Herodes hielt eine Schale in der Hand. Er erhob die Schale nach königlichem Brauch zu Ehren der ruhmreichen lappländischen Könige.

Und über dem königlichen Palast stieg der Stern auf und blieb im Fenster gegenüber den Zauberern stehen und ließ ihre Kronen wie tausend Sterne flimmern und blitzen.

Und die Sterne sahen aus den Augen der Zauberer.

„Wo ist Christus, der König, geboren?“ fragten die Zauberer zum drittenmal. „Er wird alle Könige besiegen und alle Länder, alle Reiche erobern.“

Und die Schale entfiel den Händen des Herodes.

„Geht, ihr Könige,“ sagte Herodes und zitterte am ganzen Leibe, „geht und erkundigt euch nach dem Christkind und kommt nach Jerusalem zurück. Ich will als erster hingehen und ihm huldigen.“

Die Zauberer versprachen nach Jerusalem zurückzukommen und dem Könige vom Christkind zu berichten, und verließen den Palast.

Und die Zauberer sahen den Stern Christi und freuten sich seiner.

Und der Stern führte sie aus der Königsstadt Jerusalem nach der Stadt Christi Bethlehem.

3.

Der Stern Christi ging den Zauberern voraus, und eilig folgten sie ihm nach.

Die Menge, die ihnen nachgelaufen war, blieb bald weit zurück. Auch die Kundschafter des Königs konnten nicht mit ihnen Schritt halten.

Wenn der Stern sich im Kreise bewegte, folgten die Zauberer ihm. Wenn er von der Landstraße in den Wald einbog, folgten sie ihm.

Und so gingen die drei Könige bald die Straße entlang, bald über das Feld, bald durch den Wald.

Es wurde Nacht, und der Frost ward stärker.

Sternklare Nächte sind immer kalt.

Der Schnee knirschte unter den Füßen der Wanderer. Nun hatte der Stern den Fluß überschritten und blieb am Waldrande stehn und senkte sich langsam über der Erdhütte nieder.

Und es war hell in der Erdhütte, als wäre die Sonne drin aufgegangen.

Und die Zauberer sahen das Kind und reichten ihm ihre Gaben: Gold und einen knöchernen Stab und eine Kutja.* Und sie neigten sich vor dem Kinde.

Das Christkind schaute die Gaben lange an — das Gold, den Stab und die Kutja. Dann segnete es die Zauberer, — segnete das schwere, arbeitsreiche Leben der Könige, die dem Sterne Christi entgegengesehen hatten.

Und die enge Erdhütte war voller Sterne.

Und die Engel sangen:

„Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.“

Und der Glanz der Sterne blendete die Zauberer.

Da trat aus dem Reigen der Engel ein strenger Engel und löste die Zauberer von dem Schwur, den sie dem Herodes geleistet hatten, und befahl ihnen, nicht mehr nach Jerusalem zurückzugehen.

* Speise aus Reis und Honig, die in Rußland am Weihnachtsabend gegessen wird.

„Geht nicht zum Herodes, ihr Zauberer,“ sprach der strenge Engel, „geht einen andern Weg: der König hat Böses im Sinn, der König will das Kind töten.“

Und der strenge Engel verschwand im Reigen der Engel.

Und die Zauberer erwachten wie aus einem Traume.

Die heilige Jungfrau hielt ihr Kindlein auf dem Arme und machte sich zur Reise bereit. Joseph war am Schlitten beschäftigt und sprach mit dem Pferde. Als er die Muttergottes mit dem Kinde in den Schlitten gesetzt hatte, winkte der Alte mit seinem Fausthandschuh.

Und das Pferdchen lief die Straße ins Zigeunerland hinab, die der Engel dem Joseph gewiesen hatte, die Straße nach Ägypten.

Der Stern schwebte ganz niedrig vor ihnen her und beleuchtete dem Christkinde den weiten Weg nach Ägyptenland.

Die Engel sangen:

„Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“

Und der ganze Himmel war in wirbelnder Bewegung.

Die Zauberer aber zogen mit Sturmeseile durch Feuer und Rauch, durch Wälder und Sümpfe und Ströme, an der Königsstadt vorbei, vorbei an dem König Herodes, zu dem Eismeer, dem Ozean, in ihr Lappland, in das kalte, finstre Land der Zauberer.

Und dort, in ihrem öden Zauberland, malten sie den Stern Christi auf ihr geheimnisvolles, zauberhaftes Tamburin, und dann stiegen sie mit den blauen Eiszacken empor und schwammen über das Eismeer, über den Ozean, leise und still von der Erde zum ewigen Leben, zur ewigen Ruhe hinüber. — — —

Wilde Aufregung herrschte in Jerusalem, in der großen Königsstadt. Nachdem er die Zauberer entlassen hatte, stellte Herodes sich ans Fenster und schaute auf die Straße hinaus, blickte dem Leuchten der goldenen Kronen der lappländischen Könige nach. Wie Sterne strahlten sie in der Abenddämmerung auf der Straße nach Bethlehem.

Und der König zitterte am ganzen Leibe.

„Die Zauberer werden das Christkind finden, sie werden nach Jerusalem zurückkehren, werden von dem Kinde erzählen, und ich, der König, werde als erster hingehn, dem Kinde zu huldigen!“ Und ohne den Hals zu wenden, am ganzen Leibe zitternd, fing Herodes plötzlich an, mit unerwartet tiefer Stimme laut zu lachen . . . „Ich werde als erster dem Kinde huldigen! . . . Noch ehe der Tag graut, wird er nicht mehr am Leben sein, der König Christus, der alle Könige überwinden soll, alle Länder, alle Reiche erobern!“

„Ich bin der König!“ wiederholte Herodes zitternd und lachend.

Den ganzen Abend blickte der König den Zauberern nach, in die Fensternische gedrückt, und zitterte und lachte.

Die Nacht brach an.

Die Zauberer kamen nicht zurück.

Die Kundschafter des Königs meldeten, daß die Zauberer aus Bethlehem verschwunden wären.

Nein, sie waren nicht verschwunden. Sie hatten den König betrogen. Die Zauberer trieben ihren Spott mit König Herodes.

Der König hatte niemand und nichts mehr zu erwarten.

„Christus lebt! Er wird alle Könige überwinden, wird den König Herodes besiegen, wird alle Reiche erobern, wird dem König Herodes sein Reich nehmen!“

Der König geriet in Wut. Er stampfte mit den Füßen und schrie und weinte wie ein Kind, vor Zorn, Hilflosigkeit und Angst.

Und der König Herodes befahl seinem Heer, nach Bethlehem zu gehen und dort alle Kinder zu töten, alle Knaben unter zwei Jahren.

Trommelwirbel, Trompetengeschmetter mitten in der Nacht in der Königsstadt Jerusalem.

Auf den Plätzen drängt sich das Volk. Entsetzt rennen die Leute hin und her, wie bei einem Brande.

Mit klingendem Spiel zogen die Soldaten aus nach Bethlehem, den Blutbefehl des Königs zu erfüllen.

Die Nacht war sternklar und grimmig kalt.

Der Schnee knirschte unter den Schritten der Marschierenden.

Um Mitternacht hatten die Soldaten Bethlehem erreicht und zogen mit klingendem Spiel in die Stadt ein.

Und das blutige Werk nahm seinen Anfang.

Die Kinder ahnten nichts. Sie wußten nichts von Königen, — weder von Herodes, noch von seinem Sohn Archelaos. Sie kannten keinerlei Eide, keinerlei Gebote. Sie konnten kaum sprechen. Sie redeten ihre eigene Sprache und sahen die Welt auf ihre Weise, mit ihren Augen. Sie lächelten, wie nur Kinder lächeln. Sie weinten, lachten, spielten.

Und es war auf Erden keine Nacht so grauenvoll, und ist keine grauenvoller und wird nie eine grauenvoller sein, als jene Nacht in Bethlehem nach der Geburt des Heilandes.

Die Soldaten stürmten in die Häuser und rissen die Kinder von der Brust der Mutter und erwürgten sie, andere warfen sie aus ihren Wiegen und zerstampften die Schlaftrunkenen mit ihren Stiefeln.

Die Kinder erwachten von dem Lärm: sie begriffen nichts und boten selber ihre Hälse den Säbeln der Soldaten.

Und sie wurden gleich ohne weiteres abgeschlachtet.

Man schleppte die Kinder wie junge Katzen auf die Straße hinaus und ließ sie von Pferden zertreten, man hängte sie auf, man erstach sie mit Lanzen, man riß sie in Stücke, man ersäufte sie im Eisloch, man begoß sie mit siedendem Wasser, wie Ratten, man warf sie ins Feuer.

Die mächtigen Schneehaufen schmolzen von dem heißen Kinderblut und bedeckten die Erde mit einer Eiskruste.

Die Sterne flammten noch einmal blutigrot auf und erloschen.

Und die Soldaten kümmerten sich nicht mehr darum, wie alt die Kinder waren und ob es Knaben oder Mädchen waren.

Anläßlich der Schätzung hatte jemand unter den Kindern im Armenviertel von Bethlehem das Gerücht ausgesprengt, man werde nachts kommen und die Kinder aufschreiben, die zur Sonnenwendfeier geladen und beschenkt werden sollten.

Die größeren Kinder schliefen in dieser Nacht nicht: sie warteten. Und als die Soldaten kamen, da stürzten die Kinder ihnen entgegen, denn sie dachten, nun käme man, sie anzuschreiben zur Bescherung.

Peter, der Enkel der alten Solomonida, hatte die ganze Nacht gewartet und war endlich auf dem verlassenen Bett der Großmutter eingeschlafen. Und im Schlaf hörte er draußen Lärm, wachte auf, dachte: „Jetzt kommen sie!“ — und lief auf die Straße hinaus.

Peter rief den Soldaten zu:

„Vergeßt mich nicht!“ Tränen erstickten seine Stimme: er war noch nie bei einer Bescherung gewesen.

Ein Soldat packte ihn:

„Nein, nein, wir vergessen dich nicht!“ Und er schnitt ihm mit dem Messer den Hals durch, wie einem jungen Huhn.

Trommelwirbel, Trompetenschmettern, Musik konnten das Wehgeschrei der Mütter und das Ächzen und Weinen der Kinder nicht übertönen.

Ein steinernes Herz muß beim Weinen eines Kindes erbeben!

Bis zum Morgengrauen währte das Gemetzel in Bethlehem und den Vorstädten. Vierzehntausend Kinder wurden in Bethlehem geschlachtet.

Nachdem sie des Königs Befehl erfüllt hatten, müde von der blutigen Nacht, verließen die Soldaten die Stadt und gingen nach Jerusalem zurück. Das Blut troff von ihren Händen und ihren Waffen auf die Straße, die das Pferd und der Ochse, die Hirten und die alte Solomonida gegangen waren.

Die Musik dröhnte und trieb die blutbefleckten Füße zu schnellerm Schritt an.

Und das Geschrei und Geheul und die Flüche der wahnsinnigen Mütter eilten den Abziehenden nach.

Und weit über das Weichbild Bethlehems hinaus hörte man Weinen und Flüche auf allen Straßen.

Ein steinernes Herz muß erbeben beim Wehklagen einer verzweifelten Mutter!

Das Pferdchen schnaubte. Joseph stieg vom Schlitten herunter und horchte. Die Erde selbst schien dem Alten zu schreien.

Und Joseph gedachte der Worte der Gottesmutter und verstand sie, die der Erde eine große Freude und einen bittern Schmerz verheißen hatten.

„Ich sehe zwei Männer, Großväterchen: der eine Mann lacht, und ich freue mich mit ihm, — ihm wird ein großes Glück zuteil werden. Der andre aber weint, und ich traure mit ihm, denn ihm wird großes Leid widerfahren.“

König Herodes aber, der die ganze lange Nacht schlaflos in Unruhe verbracht hatte, ging, als der weiße Tag gekommen war, in seinem öden Palast umher und kniff die ängstlichen Augen zusammen und lachte plötzlich laut auf, vor Freude, daß er das Christkind aus der Welt geschafft hatte . . .

Die Leiden der heiligen Jungfrau

1.

Als sie den Purpur von seinen Schultern gerissen und ihn in seinem ärmlichen Gewand auf die Gasse geführt hatten, als er unter dem Geschrei und Pfeifen der erregten Menge nach der Schädelstätte getrieben ward, — da wußte alle Kreatur davon: es wußte es der Wald, wo der Dornstrauch stand; es wußte es das Meer, wo der Schwamm wuchs; es wußten es die Tiere und der Weingarten, die Berge und das Feuer, das die Nägel und den Speer geschmiedet hatte. Nur die heilige Jungfrau wußte es nicht.

Das ganze jüdische Volk verlangte nach seinem Blut:

„Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“

Das reine Blut des Heilands tropfte in den Straßenstaub, während er in der Dornenkrone unter der Last des schweren Kreuzes vorwärtsschritt; — schon stand die Sonne feuerrot über Jerusalem und verkündete einen heißen blutigen Tag — — wie viel hatte sich ereignet! — — und die heilige Jungfrau wußte nichts.

Die heilige Jungfrau schlief.

Die ganze Nacht hatte sie kein Auge zugetan, und erst gegen Morgen war sie am Fenster sitzend eingeschlafen.

2.

In der Hölle ging es hoch her. Ihre Bewohner gebärdeten sich wie toll.

Wie ein Blitz hatte die Kunde eingeschlagen, daß das Licht und die Sonne, die Krone und der Ruhm der Welt, der eingeborene Sohn Gottes, der Menschensohn gefangen genommen sei und nach Golgatha geführt werde.

Und die rasende Hölle donnerte, wie eine dräuende unbarmherzige Gewitterwolke; die Hölle brüllte, wie ein gereizter Löwe; die Hölle brummte, wie ein tollgewordener Stier; die Hölle stöhnte, wie das weite Meer bei Unwetter; die Hölle glühte, wie ein verwundetes Herz.

Mit dem Reiche Christi, das ewig sein sollte, war es zu Ende!

Und die finstern Teufel heulten und schwangen sich vor Freude in wildem, rasendem Tanz.

Der Teufel, der nur ein Hühnerbein hatte, der böse Knecht der Schlange, hüpfte auf dem einen Hühnerbein bis zu den höchsten Türmen empor, die den Eingang in den finsteren Wohnort der finstern, stolzen, unglücklichen Dämonen, in das Reich der ewigen Qualen, schützten. Und die boshaften Ratgeber der Schlange, die nur Knorpeln statt Knochen haben, kletterten in tollem Spiel einer auf den andern und bliesen und pfauchten, daß der giftige Dunst und Staub, der ihren Mäulern entquoll, durch die Mauern der Hölle bis auf die Erde drang. Und inmitten des wüsten Gewirbels leuchtete wie ein Smaragd das grüne Auge Satans.

Die wächserne Brücke der Prüfungen zwischen Paradies und Hölle und die Brücke der Toten, die über den brausenden Pechstrom führt, brach zusammen. Und die unersättliche höllische Flamme leckte an den Säulen des Himmels.

Mit dem Reiche Christi, das ewig sein sollte, war es zu Ende.

3.

Entsetzen packte die Engel und Erzengel, die Seraphim und Cherubim. Alle himmlischen Heerscharen gerieten in Bewegung.

Hilflos schlossen die Engel ihre unsterblichen Augen.

Wer wird zur heiligen Jungfrau gehn, wer soll ihr die traurige Kunde bringen, wer soll ihr den unerschütterlichen Willen des allwaltenden Gottes mitteilen, der von Ewigkeit den Tod seines Sohnes beschlossen hat?

Der Heilige Geist, der Tröster der Mühseligen und Beladenen, konnte ihnen keinen Trost geben.

Der Herr sprach:

„Du, Gabriel, warst der Bote der Freude. So sei denn heute der Bote des Leids.“

Und Gabriel antwortete:

„Wie soll ich, der ich die große Freude von der Fleischwerdung des Wortes verkündigte, nun seine Kreuzesmarter verkündigen?“

Und der Herr sprach:

„Du, Michael, du Führer der himmlischen Heerscharen, der du im Namen des Allmächtigen mit deinem Speer deinen großem Bruder Lucifer trafst, du Sieger, gehe hin und bring ihr die Kunde. Du wirst als Kriegsmann den Schmerz leichter tragen.“

Und Michael antwortete:

„Mein Arm hat den Stolzen geschlagen; ich bin stark im Kampf gegen Gewalt und Macht, aber nicht gegen Demut und Leid.“

Da sprach der Herr:

„Du, Rafael, der du deine Hand hilfreich aller Kreatur entgegenstreckst, du Fürsprecher vor dem Antlitz des Allgegenwärtigen, — gehe hin und hilf dem ewigen Willen, daß die Marter des Wortes kund werde der, die das Wort geboren hat.“

Und Rafael antwortete:

„Ich bin das Werkzeug der Liebe Gottes, ich bin der Trost der Leidenden, — soll ich der größten aller Frauen Schmerz bereiten?“

In Angst und Schmerz bebten und rauschten die weißen Flügel. Tränen traten in die sonnenklaren Augen.

Hätte doch lieber der Herr seinen Engeln, den sanften, zornigen oder gnädigen, befohlen, die Seele der heiligen, ewigen Jungfrau aus der Gefangenschaft des Leibes zu befreien!

Der Heilige Geist, der Tröster der Mühseligen und Beladenen, konnte ihnen keinen Trost geben.

4.

Ein kleines Vöglein war hoch zu den Wolken empor geflogen. Ein Hänfling war’s, der seinen Durst aus einem frischen Waldquell gestillt hatte. Er vernahm, was die Engel redeten, und flog eilig wieder zur Erde hinab, zum Hause, in dem die Mutter des Heilands wohnte.

Er setzte sich aufs Fenster und zwitscherte traurig, den sonnenbeschienenen Hals hin und her drehend.

Da schlug die heilige Jungfrau die Augen auf.

Sie erhob sich und fiel gleich wieder auf die Bank zurück.

Ein Augenpaar, weiß vor Verzweiflung, ohne Lider, blickte sie aus dunkeln Höhlen an: Judas Ischarioth, einer der zwölf Jünger Christi, der den Meister verraten hatte, stand vor dem Fenster.

Traurig zwitscherte der Hänfling, das graue, einfältige Vöglein.

Und ein Schauer überlief die heilige Jungfrau, ihr Herz ahnte, was geschehen sollte. Sie sprang auf und stürzte zur Tür.

„Maria,“ trat ihr an der Schwelle ein anderer Jünger entgegen, der Liebling des Meisters, Johannes, „Maria, wo ist dein Sohn, wo ist unser Herr und Meister?“

Und die Straße entlang, am Hause vorbei, an den Fenstern vorbei, ging der Zug, der den Heiland zur Schädelstätte geleitete.

Freiwillig ging er in den Kreuzestod . . .

Wer hilft einer Mutter, die ihren Sohn verloren hat? Wer beschützt sie, wer hütet sie in der finstern Nacht? Zu wem soll sie gehen?

Erschreckt durch das Lärmen, Pfeifen und Schreien, war das Vöglein davon geflogen. Der bittre Schmerz preßte dem Johannes die Lippen zusammen. Wer wird sie trösten?

Allein war die heilige Jungfrau geblieben, allein, wie das Gras, das Rosseshufe zerstampft haben.

Halb von Sinnen warf sie sich auf den Boden. Und dann sprang sie wieder auf. Sie stöhnte. Ihr Haar löste sich, vor den Augen flimmerte es, ein Schwindel packte sie. Sie lief auf die Gasse hinaus.

Und als sie ihren Sohn sah, zerriß sie ihren Schleier.

Bittre Tränen brannten ihre Augen. Ihr Herz blutete, es suchte einen Ausweg und fand keinen. Und sie schlug sich an die Brust, zerkratzte ihre Wangen, raufte ihr Haar.

Barhäuptig, leise vor sich hin murmelnd, schwankenden Schritts ging die heilige Jungfrau hinter ihrem Sohn her.

„Wehe mir vor allen Müttern! Wehe mir vor allen irdischen Kreaturen I“

Das schwere Kreuz drückte seine Schultern. Seine Knie knickten unter den Schlägen zusammen. Mit jedem Schritt beugte er sich tiefer und tiefer zur Erde nieder.

Und die Last ward ihm zu schwer, und er fiel hin.

Der kräftige Simon von Kyrene, der hinter dem Heiland in der Menge ging, trat vor, nahm das Kreuz auf seine Schulter und trug es.

Die Menge pfiff. Steine flogen. Ein Wind erhob sich, wirbelte Staub auf, blies ihn den Leuten in die Augen, daß sie kaum sehen konnten.

„Freue dich, König der Juden!“ spotteten sie des Gepeinigten und trieben ihn mit Stößen vorwärts.

Und nicht Tränen — Blut rann seine Wangen hinab. Kein heiles Fleckchen war mehr an seinem Leibe.

Wer hilft einer Mutter, die ihren Sohn verlor? Wer beschützt sie, wer hütet sie in der finstern Nacht?

Man sagt zu ihr: „Geh nach Hause!“

Wer aber zeigt ihr jetzt ihr Haus? Wer stillt, wer bändigt ihren Schmerz, wer gibt Antwort auf die Seufzer ihres Herzens?

Barhäuptig, leise vor sich hin murmelnd, schwankenden Schritts ging die heilige Jungfrau hinter ihrem Sohne her.

„Wehe mir vor allen Müttern! Wehe mir vor allen irdischen Kreaturen!“

5.

Als sie ihn ans Kreuz geschlagen hatten, strömte das Blut aus seinen Wunden.

Und der Boden unter dem Kreuz wurde rot.

Trostlos stand die heilige Jungfrau unter dem Kreuz und neben ihr Johannes, des Meisters Lieblingsjünger.

Schwer litt der Heiland. Sie sah es und konnte ihm nicht helfen.

Er bat zu trinken. Sein Herz verging in bittrer Pein.

Und sie konnte ihn nicht tränken, denn sie wagte nicht von dem Kreuze fortzugehn. Sie fürchtete, er könnte in ihrer Abwesenheit sterben.

Und der Himmel verfinsterte sich.

Gewitterwolken türmten und ballten sich am Himmel. Eine tiefschwarze Wolke hing über der Stadt. Und Funken sprühten über der Stadt, als brenne oben in den Wolken ein mächtiger Feuerherd.

Das Gesicht des Heilands am Kreuz verzerrte sich. Es war ganz bleich.

Die Haare klebten an der Stirn.

Und seine Stimme ertönte vom Kreuze:

„Mein Gott, warum hast du mich verlassen!“

Und das Blut rann über sein Antlitz und verschloß ihm den Mund.

Und sein Haupt senkte sich auf die Brust.

Und am andern Ende der Stadt Jerusalem, im Garten der Magdalena, hing an seinem Ledergürtel bis tief zur Erde herab Judas, der den Herrn verraten hatte. Die verzweifelten weißen Augen ohne Lider blickten aus ihren dunkeln Höhlen auf die schwere Erde und sein Mund war voll Erde.

Das Herz der unglücklichen Mutter ward entzweigerissen. Es schmolz, wie rote Kohlen, es glühte und brannte.

Schon schwebte ein Rabe über dem Kreuz.

Wie schmelzendes Pech glänzten die Rabenfedern, wie helle Wachskerzen brannten die starren Rabenaugen. Dumpf und traurig sprach die heilige Jungfrau:

„War es denn eine Unglücksnacht, in der du geboren wardst, du mein Herr und mein Sohn, Jesus?! Du Unsterblicher, der die Toten auferweckte! Und nun sehe ich, daß der unerbittliche Tod auch dich rauben will! Du konntest ihm nicht entgehn! O mein geliebter Sohn, o mein Jesus, um wen mußt du leiden, für wen nimmst du den Tod auf dich? An das Holz sind deine Hände geschlagen, deine Zunge ist stumm!“

Jesus hob sein heiliges Haupt und sprach zu seiner Mutter:

„Weine nicht um mich, Maria, meine Mutter, habe Geduld. Die Seele verläßt den Leib, ich will meinen Geist dem Vater befehlen. Ich gebe dir den Johannes an meiner Statt, sei du ihm Mutter, er wird dein Sohn sein.“

Bitter sprach die heilige Jungfrau:

„Kann ich den Schöpfer für das Geschöpf hingeben? Wo gehst du hin? Und wie soll ich leben ohne dich? Wem lässest du mich? Nimm mich mit! Laß auch mich sterben! Ich leide bittre Pein! Mein Herz bricht.“

Und einer weißen Birke gleich beugte sich die heilige Jungfrau auf die Steine vor dem Kreuz hernieder und bat und flehte um den Tod.

Sie mochte die Menschen nicht sehn, mochte das Licht nicht schauen, sie wollte sich nicht wieder erheben.

Entzweigerissen war das Herz der unglücklichen Mutter. Es schmolz wie rote Kohlen, es glühte und brannte.

6.

Drei Stunden waren vergangen, seit man ihn grausam ans Kreuz geschlagen zu ewigem, bösem Gedächtnis und Unheil des jüdischen Volkes.

Drei Stunden hing er, der die Erde geschaffen, über seiner von Ewigkeit freien Erde.

Alle Schmerzensschreie, alle Seufzer, die je auf Erden laut geworden, oder die bis zum jüngsten Tage noch lautwerden sollen, alles Leid, alle Qualen der vom Schicksal Verfolgten drängten sich um das Kreuz und erfüllten sein Herz, brannten es und marterten es mit den furchtbarsten Plagen.

Und er schrie zum Vater und es ward Nacht vor seinen Augen.

Und Finsternis senkte sich auf die Erde herab.

Das Licht erlosch. Die Sonne erstarrte, in Finsternis gehüllt. Die Sterne blitzten auf, zitternd, wie Smaragde, und erloschen. Der Mond verbarg sich in einer Wolke, auch er ward bleich. Und die Erde erbebte. Flüsse und Seen traten aus ihren Ufern. Das Gras auf den Feldern ging in hohen Wellen. Aus dem rauschenden Schilf flogen erschreckte Wildgänse und Schwäne empor. Die Wälder brausten. Die Bäume bogen sich zur Erde. Blätter fielen von den Zweigen. Das trockne Unterholz brach.

Wie ein verglimmendes Holzscheit im Feld lag die heilige Mutter Gottes unter dem Kreuz.

Und das Grauen ging über die Erde.

Die Toten vom Friedhof gingen nach der Stadt. Die Toten mengten sich an den Kreuzwegen unter die Lebenden.

Kalt wehte die Luft.

Es fror.

Und in der Finsternis flog etwas umher, brummte und zischte. Und immer heftiger wehte der Wind. Es dröhnte und hämmerte, als ob irgendwo Eisen geschmiedet würde. Es weinte und seufzte, als ob ein Mensch getötet würde. Feurige Pfeile flogen den Himmel entlang und verschwanden wieder. Und es war, als peitschte eine unsichtbare gewaltige Geißel die zitternde Luft.

Und von einem Ende zum andern erbebte der Tempel. Der Vorhang vor dem Allerheiligsten riß mitten entzwei. Die Steine bröckelten ab. Und alle Kreatur stöhnte auf.

Tiere, Vögel, Felder, Wälder, Sümpfe, Gräser, Blumen, Sträucher, Bäume, Wasser und Steine, — alle Kreatur stöhnte, und die heilige Mutter Gottes weinte:

„Herr, vergib ihnen, sie wußten nicht, was sie taten!“

Die Leiden des Heilandes

1.

Auf Golgatha, über dem Grabe Adams, richtete man den Baum der Erkenntnis auf und der Schädel des ersten Menschen ward zur Stütze des Kreuzes, an dem der Menschensohn hing.

Der Baum der Erkenntnis, den einst Satan gepflanzt, da Gott den Garten des Paradieses schuf, dessen Frucht den Menschen die Augen öffnete über Gut und Böse, dessen Zweig die tote Stirn Adams bekränzte, — er ward jetzt zum Baum des Heils, zum Kreuz des Erlösers.

Man schlug ihn mit Händen und Füßen an das Kreuz mit eisernen Nägeln, man kleidete ihn in ein grünes Hemd aus grünen Nesseln, man gürtete ihn mit Weißdorn, band ihn mit Hopfen und Binsen, durchstach seine Seite mit einem Speer, stieß ihm Weidenruten unter die Nägel und legte ihm eine Dornenkrone auf das Haupt.

Wo die Nägel eingeschlagen wurden, da floß das Blut. Wo man ihn gürtete, da floß Schweiß. Wo die Krone sein Haupt berührte, da flossen blutige Tränen aus seinen Augen.

Die am Kreuze vorübergingen, schüttelten die Köpfe und spotteten.

„Der du den Tempel zerbrichst und in drei Tagen wieder aufbaust! Hilf dir selber! Wenn du der Sohn Gottes bist, so steig herab vom Kreuz!“

„Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht helfen! Wenn du der König von Israel bist, so steig herab vom Kreuz, dann wollen wir an dich glauben!“

„Er hat auf Gott gehofft, so mag Gott ihm helfen, wenn Gott ihn lieb hat! Hat er nicht gesagt: Ich bin Gottes Sohn!?“

„Freue dich, König der Juden!“

Unzählige Scharen von Dämonen und dunkeln Teufeln kamen von Mittag und Mitternacht, von Ost und West nach der Schädelstätte geflogen, zum gekreuzigten Christus.

Wie weißer Schnee schmolz der weiße Mond, und Tränen verdunkelten das lichte Antlitz der Sonne, bis es sich endlich ganz verbarg.

Und es war Finsternis auf der ganzen Erde von der sechsten bis zur neunten Stunde.

Aus blutunterlaufenen Augen sahen die Dämonen in das gemarterte Antlitz des Erlösers, mächtige Pergamente rollten sie vor ihm auf, — da waren alle Sünden der Menschen vom ersten Tage bis zum letzten verzeichnet. Und kein Ende nahmen die Rollen, kein Ende die Sünden der Menschen.

Und alle diese Sünden wollte er auf sich nehmen.

Und es kamen von allen Enden, da sie von den schweren, blutigen Sünden hörten, schreckliche, erbarmungslose Engel: ihre Gesichter waren wutverzerrt, die Zähne ragten weit aus dem Munde heraus, die Augen waren wie Sterne, und ihr Atem war flammendes Feuer. Das waren die Engel, die nach den Seelen der Sünder kommen, um sie ins Reich der ewigen Qual zu führen. Unendlich war die Zahl dieser Engel, denn nicht zu zählen war die Menge der Sünden, — aller Sünden vom Anfang der Welt bis zu ihrem Ende.

Kein Ende nahmen die Sünden der Menschen.

Und alle diese Sünden wollte er auf sich nehmen.

Die Schächer, die rechts und links vom Heiland an ihren Kreuzen hingen, konnten die Qual nicht länger ertragen, und weil sie auf keine Rettung mehr hofften, machten sie sich in Schmähreden Luft und schalten den Gottessohn einen Betrüger.

Am Fuße des Kreuzes aber, vor dem mit Christi Blut besprengten Haupt Adams, klirrten schon die Folterwerkzeuge: Schwerter, Messer, Sägen, Sicheln, Pfeile, Äxte. Die furchtbaren, unbarmherzigen Engel rissen die Glieder des gemarterten Leibes auseinander, hackten die Beine ab, dann die Arme, machten sie wieder lebendig, um sie von neuem ans Kreuz zu nageln, rissen das festgeklebte geronnene Blut von den Wunden und leckten die blutigen Schwären mit salzigen Zungen.

Die Dämonen rollten die schwarzen Pergamente zusammen. Und einer von ihnen, ein Teufel mit Gänsefüßen und einem Schweinsleib ohne Borsten, kletterte am Kreuzesstamm hinauf bis dicht vor das Antlitz Christi und hielt ihm eine große Schale hin, gefüllt mit Bitternis bis zum Rand.

Und Christus trank die Schale leer bis auf den letzten Tropfen und schrie: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“

Da erhob sich auf den Ruf des Verlassenen, der der Welt Sünde auf sich genommen hatte, von seinem Wolkenthron im Norden um die neunte Stunde Satan, der Fürst der Finsternis. Und sein schwarzmähniges Roß trug ihn, wie ein Falke, wie der Sturm, wie der Donner, wie der Blitz, zum Kreuz des Gottessohnes.

Auf flogen die Winde, wie Adler, hoch wirbelten sie den Staub auf den Straßen empor. Die Berge erbebten. Aufgewühlt wurden die Tiefen der Erde. Gewaltig wogte und brauste das Meer. Weit aus ihren Ufern traten die Ströme. Und in der Glut der Höllenflamme rollte der Himmel sich zusammen, wie ein Pergamentblatt. Und die Erde wallte und brannte, wie Eisen im Schmelzkessel.

„Freue dich, König der Juden!“ sprach Satan und trat vor das Kreuz hin.

Satan stand vor dem Kreuz und sah Christus an, und vom Kreuz, die schweren Lider mühsam hebend, blickte Christus auf Satan.

So blickten sie sich an, wie König und Sklave, wie Bruder und Feind, wie König und König, wie Bruder und Bruder, wie Feind und Feind, wie der Retter und der Verlassene. Und alle Kreatur sank nieder in bebendem Entsetzen in dieser Stunde des Grauens.

Und mit schnellen Schritten kam vom blauen Meer, aus unbekanntem Land, über weite Felder, über grünes Gras, über verwehende Spuren, über wogende Saaten ein schöner Jüngling — der sanfte Tod.

Ohne viel zu fragen, schob er das Eisengitter auseinander. Festen Schrittes stieg er den Hügel von Golgatha hinauf und trat vor den Gekreuzigten.

Leise nahm er das Haupt Christi in seine Arme.

Und Christus neigte das Haupt und verschied.

2.

Abends kam zu Pilatus ein reicher Mann aus Arimathia, namens Joseph, und mit ihm Nikodemus, die beide heimliche Jünger Christi gewesen waren, und baten Pilatus, er möge ihnen den Leib Christi überlassen.

Und Pilatus gestattete es ihnen.

Sie nahmen den Leichnam Christi und hüllten ihn in reine, wohlriechende Tücher, und legten ihn im Garten in ein neues Grab. Dann wälzten sie einen Stein vor des Grabes Tür und gingen von dannen.

Und als die letzten Menschenschritte verklungen waren und die Kriegsknechte, die den Schächern die Knie gebrochen hatten, Golgatha verlassen hatten, und die Toten, die aus ihren Gräbern auferstanden waren, sich in den Straßen der Stadt verloren hatten, um die schlaflose Nacht mit Grauen zu erfüllen — da erhob sich ein wilder Lärm, Geschrei, Gestampf, Geheul, als wäre die ganze Welt toll geworden. Und der Garten, da der Leib Christi bestattet war, ward zum höllischen Abgrund, denn Satan selbst, der Fürst der Finsternis, hielt sich hier auf mit all seinen Heerscharen.

Mit höllischen Künsten blendete Satan die Augen der Menschen und aller Lebewesen, hüllte die Seelen in die Nacht des Wahnsinns, senkte sie in einen teuflischen Zauberschlaf, und der finstere Teufelszauber hielt die Welt zwei Tage und zwei Nächte gefangen und betörte sie mit grauenhaften höllischen Gesichten und Versuchungen.

Die Teufel stürzten sich auf den Leichnam Christi, rissen die Tücher herunter, zerteilten den reinen heiligen Leib: das Fleisch gaben sie der Erde, das Blut dem Feuer, die Knochen dem Stein, den Atem dem Wind, die Augen den Blumen, die Adern dem Gras, die Gedanken den Wolken, den Schweiß dem Tau, die Tränen dem salzigen Meer.

Es wogte und brauste das Meer von bösen Geistern. Wild wirbelten die Dämonen durcheinander, stießen sich, schrien, spotteten, grinsten und fluchten. Aus allen Tiefen waren sie emporgestiegen, liefen sie, hüpften sie, krochen sie, wälzten sie sich heran — schmutzig und übelriechend, krummbeinig und bucklig, dickbäuchig und spindeldürr. Und sie traten den Leichnam des Heilands mit den Füßen, zerrten ihn hin und her, beschmutzten und schändeten ihn . . .

Und um Mitternacht tat sich der Himmel auf und über der Erde stieg eine strahlende Sonne empor, wie die Welt sie noch nie gesehn hatte.

Die Dämonen zerrten den Leib Christi aus dem neuen Grabe und hüllten ihn in köstliche königliche Gewänder und trugen ihn auf den höchsten Berg und setzten ihn auf einen Königsthron.

Und vor den Thron stellte sich Satan hin und zeigte den Völkern der Erde — allen, die schon gelebt hatten, und allen, die noch kommen sollten — den Leichnam im königlichen Purpur und verkündete mit lauter Stimme:

„Sehet, das ist euer König!“

Und von der Höhe des Thrones blickten auf die wogende Menge von Köpfen, auf die flehend ausgestreckten Arme die großen bleiernen Augen des entseelten, verunstalteten Leichnams. Und im grellen Licht des plötzlich aufgegangenen Tages glaubte man sehen zu können, wie unter dem königlichen Gewand die starren Glieder auseinanderzufallen begannen.

Verzweiflung lastete über dem Weltall. Und das Maß der ganzen Erde schien nicht größer als vier Schritte — so lang, wie ein Grab sein muß.

Von Land zu Land, von Reich zu Reich, über Felder und Wiesen, durch Städte und Dörfer, mitten durch die unermeßlichen Menschenmengen aller Zeiten und Völker und Länder, jagte ein Wagen, von wilden Rossen gezogen, und in dem Wagen saß ein zähnefletschendes Gerippe mit einer Dornenkrone auf dem kahlen Schädel.

„Sehet, das ist euer König!“ sagte Satan und zeigte den Menschen das grauenhafte, zähnefletschende Gerippe.

Und dunkel wurden die lichten Gewänder der Völker. Das Lachen ward zum Weinen. Die Menschen fielen hin und starben, einer neben dem andern, der Bruder in den Armen des Bruders, das Kind auf dem Schoße der Mutter, die Mutter an der Brust der Tochter.

Von dem Geschrei und den Seufzern bog sich die Erde, spalteten sich die unfruchtbaren Steine, taten sich gewaltige Abgründe auf, und weinten das Meer und die Ströme und alle Tiefen der Unterwelt.

Da zeigte sich hoch über der strahlenden Sonne am Himmel als letzte Verheißung ein Kreuz und an dem Kreuz hing festgenagelt ein entstellter Leichnam.

„Sehet, das ist euer König!“ verkündete Satan stolz von seinem Wolkenwagen herab, und er blies das Kreuz an.

Und das Kreuz und der Leichnam wurden zu Staub.

Und die reine Luft der Erde ward vom Qualm aufgesogen, die Quellen vertrockneten, die Bäume verloren ihre Blätter, die Sonne erlosch und der giftige Hauch aus Satans Munde zerfraß die Rinde der Erde.

So wütete Satan zwei Tage und zwei Nächte lang und säte Aufruhr in die Herzen, flößte ihnen das Gift des Wahnsinns ein, erfüllte sie mit Angst und Verzweiflung.

3.

Grausame, undurchdringliche Finsternis hüllte die Stadt in banges Schweigen.

Die Toten irrten in den Straßen umher, klopften an die Türen. Und wie in den Tagen des schwarzen Todes wagten die Menschen nicht, ihre Häuser zu verlassen. In den menschenleeren Gassen tauchten Reiter auf: ihre Gesichter konnte man nicht sehen und auch ihre Pferde nicht, man hörte nur die Hufe aufs Pflaster schlagen.

Und durch die schwarze Einsamkeit ertönte von der verödeten Schädelstätte her das Wehklagen der Gottesmutter.

Marias Herz bebt in bangem Entsetzen, ihr Kopf geht in die Runde, ihre Zunge redet irre. Und sie ist nicht imstande, die Augen aufzuschlagen.

„Steh auf, mein Sohn, erwache, hebe deine Augen auf, sag ein Wort! Fest schläfst du, tief ist dein Schlaf, nie wirst du erwachen! Ich trage Leid um dich! Meine Seele ist betrübt! Du hast dein Herz verhärtet, daß es dem Stein gleich ward, und nirgends sehe ich dich mehr! Steh auf, mein Sohn, erwache, nimm mich zu dir! Ich trage Leid um dich! Meine Seele ist tief betrübt!“

Und neben der Mutter Gottes stand auf dem Hügel von Golgatha, das Haupt an den Kreuzesstamm gelehnt, ein schöner Jüngling.

Und bis zum Morgengrauen des dritten Tages, da mit der auferstandenen Sonne der Engel des Herrn kommen sollte und den Stein von des Grabes Tür wälzen, bis zum lichten Ostermorgen ging er nicht fort von dem lebenspendenden Kreuz, der Unersättliche, der schöne Jüngling, der sanfte Tod.

Der Tod Christi ist das ewige Leben, die Gewähr des Heils.

Herr, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst!

Geschichten

Der Hofjuwelier

1.

Sie wissen selber nicht, was sie wollen!“ sprach der einsame alte Juwelier, der hundert Jahre auf Erden gelebt und in seinem Herzen Generationen zu Grabe getragen hatte.

Zusammengekrümmt, ein richtiger Zwerg, ewig scherzend und spottend, schien er suchend um die Menschenherzen herum zu gehen und mit seinen langen dünnen Fingern nach den verborgenen warmen Lebensquellen zu graben. Er öffnete sie leicht und gewandt, wie seine mit Perlen und seltenen Steinen gefüllten Kassetten, und er schaute mit durchdringendem Blick in die Seele der Worte und Gedanken hinein, die tief im innersten Herzen versteckt saßen.

Tag und Nacht saß er über seinen Steinen; er wusch sie, streute sie auf Sammet- und Seidendecken aus und hielt sie gegen die Lumpen, die ihm als Kleidung dienten. Und seine sonst so winzigen Äuglein wurden dann groß wie Teller.

In dem Flimmern der winzigsten Schleifflächen seiner Edelsteine las er die Geheimnisse von Jahrhunderten. Und eines nach dem andern traten die Verbrechen und Schandtaten vergangener Zeiten vor ihn hin, stellten sich in Reih und Glied, und er spielte mit ihnen wie mit Bleisoldaten.

Und es gab keine Einzelverbrechen mehr, es war nur eine einzige große Schandtat, und die nistete in allen Zeitaltern, an allen Enden des menschlichen Lebens.

Aus allen Zeiten und allen Ländern kamen die kostbaren Juwelen zu dem Alten in seine elende, von Schimmel und Motten zerfressene Werkstatt, die sich in einer Kellerwohnung an der belebtesten Straße der Hauptstadt verbarg.

Seit langem schon träumte der Alte davon, hinauszuziehen in die Berge und sich dort einen festen Turm zu bauen, um von dessen Höhe ungefährdet und unbemerkt die Welt zu beobachten.

Aber diesem Traum sollte keine Erfüllung werden.

Und doch war es eine bewegte Zeit und vieles wäre von der Bergeshöhe aus dem Turmfenster zu sehen gewesen.

Nicht eine einzelne Stadt, nicht ein einzelnes Dorf, — das ganze Land von Meer zu Meer war von einem wahnsinnigen Wunsche beherrscht.

Alle Sehnsüchte, Triebe und Wünsche eines schweren, trüben, qualvollen Alltags verflochten sich ineinander und wuchsen zu einer grausigen Geißel aus, und orkangleich schwang sich diese Geißel, schwer und blind, von Meer zu Meer, auf alles Schreien und Rufen mit dem einen wilden Schrei antwortend:

„Freiheit!“

„Wißt ihr denn, was Freiheit ist?“ fragte augenzwinkernd der einsame alte Juwelier, der hundert Jahre gelebt und in seinem Herzen Generationen zu Grabe getragen hatte.

Ein Menschenleben galt nichts mehr. Man spie es aus und trat mit dem Fuße darauf.

Man tötete die Menschen wie Flöhe. Man lauerte ihnen auf, fing sie und vernichtete sie sofort, wie man ein Ungeziefer auf dem Fingernagel zerdrückt.

Aus Barmherzigkeit trieb man die Verurteilten vom Schafott ins Gefängnis. Gnade war es, wenn man einem das Leben schenkte, damit er es in ewiger Kerkerhaft vollende.

Nie bisher war der Mensch so mißtrauisch gegen seinen Nächsten gewesen. Wenn zwei Freunde sich begegneten und einer dem andern die Rechte drückte, fühlte die Linke schon ängstlich nach dem Messer in der Tasche.

In dunkeln Winkeln, in muffigen Löchern lauerte der Verrat.

Und die letzten Stützen, die tiefsten Grundlagen des Lebens wurden unterwühlt.

Sprengstoffe wurden in ungeheuren Mengen angefertigt. Keine andere Ware ließ sich so leicht absetzen wie diese. Tagaus, tagein wurde sie in Massen verkauft und gekauft, wie in früheren Zeiten Streichhölzer.

In dunkeln Winkeln, in muffigen Löchern erwürgte und erstach der Freund den Freund.

Die blutgetränkten Straßen wurden überall neu gepflastert. Die glühende Sonne sog die blutigen Dünste aus dem Boden, und der berauschende, betäubende Blutgeruch erfüllte die ganze Luft.

Friedliche Gassen, vom Rausch gepackt, gerieten in Raserei und zerfleischten in tobender Wut Frauen und Kinder. Das Blut klebte an den Hufen der Pferde, und auch die Pferde wurden toll.

Draußen aber vor der Stadt auf den Feldern wogten rote Ähren, und es reifte ein blutgedüngtes Korn, das die Menschen vergiftete.

Hier und da tauchten Tote in den Straßen auf. Sie redeten ihre Bekannten an, mischten sich in das Alltagstreiben, als wären sie noch lebendig.

Die Lebenden aber verließen ihre Häuser, als wenn sie schon tot wären, und begaben sich nach den Friedhöfen und suchten Unterkunft im Reich der Toten, richteten sich in Grüften und Särgen häuslich ein.

Propheten verkündeten ein neues Reich und handelten schamlos mit ihrer Sehergabe.

Die Gläubigen aber verloren den Verstand und töteten sich und warfen der Welt ihr letztes bitteres Wort ins Gesicht:

„Es gibt keine Wahrheit auf Erden!“

Und die erbarmungslose, wahnsinnige Geißel schwang sich empor, blind und schwer, und flog sturmgleich von Meer zu Meer, und donnernd dröhnte ihr grausiger Schrei:

„Freiheit!“

„Wißt ihr denn, was Freiheit ist?“ fragte augenzwinkernd der einsame alte Juwelier, der hundert Jahre gelebt hatte und in seinem Herzen unzählige Generationen zu Grabe getragen hatte.

2.

Am Vorabend jenes großen Tages, der die neue Freiheit zu bringen und die ganze Welt umzugestalten versprach, wurde der alte Juwelier in aller Frühe geweckt, in eine schwarze, wappengeschmückte Kutsche gesetzt, wie sie nur den hohen Würdenträgern des Staates zustand, und unter militärischer Bewachung nach dem königlichen Schlosse gebracht.

Durch die zugezogenen Vorhänge vor den Wagenfenstern fühlte der Alte das Bohren von hundert und aberhundert haßgeschärften Blicken. Es war ihm, als würde von diesen stechenden Blicken das Glas glühend heiß, als klirrte und surrte etwas unter den Rädern, was den Wagen in Stücke zu reißen drohte.

Da in den letzten Tagen von den allmächtigen Günstlingen des Herrschers, in deren Gewalt Städte und Provinzen, Leben und Tod des Volkes waren, zahllose Schandtaten begangen waren, so wurden derartige vornehme Geleitzüge stets von bösen Blicken verfolgt, und nicht immer nahm die Fahrt ein gutes Ende.

Aber der Juwelier war ein schlichter Mann. Ihm hatte niemand das Recht zu strafen und zu begnadigen verliehen; ihm war nur der Befehl geworden, die goldene Krone zu putzen, in der nach der Sitte des Landes die Könige vor das Volk traten, wenn sie, was selten genug geschah, dem Volke Regierungsbeschlüsse von außerordentlicher Wichtigkeit zu verkündigen hatten.

Wem anders als ihm, dem alten erfahrenen Manne, der es so gut verstand, seine scharfe Zunge im Zaum zu halten, konnte man die furchtbare, durch ihren Glanz blendende Krone anvertrauen?

Scherzend und kichernd stieg der Juwelier die goldene Schloßtreppe empor, schloß sich in dem Saal ein, den man ihm angewiesen, und machte sich an die Arbeit.

Hier bot sich eine seltene Gelegenheit, Dinge zu sehen, die der Alte bisher höchstens hatte ahnen können.

So manchen Wunders Zeuge war er gewesen, mehr als einmal hatte das rasende Volk seine angestammten Herrscher gleich Taschendieben und Einbrechern davongejagt, aber immer war in solchen Fällen eine neue Krone für einen neuen Herrscher aufgetaucht, und der Alte wurde gerufen, sie in Stand zu setzen und zu flicken. Noch nie aber war aus den verstaubten Speichern des königlichen Schlosses ein so wunderbares Kunstwerk in seine Hände gekommen, von dem man kaum glauben konnte, daß es von Menschen geschaffen sei.

Wahrlich, der morgende große Tag barg Unerhörtes in seinem Schoße.

Mit größter Sorgfalt, zitternd, wie über einem Heiligtum, dem jeden Augenblick der eifersüchtige böse Feind etwas antun kann, nahm er die Steine aus der goldenen, mit Schmutz- und Lehmflecken bedeckten Krone, und, kaum sichtbar in dem Riesensaale, die dürren Schultern in ein zerfetztes wollenes Umschlagtuch gehüllt, wie es die Weiber tragen, fuhr er mit den langen dünnen Fingern über die Juwelen.

Er spielte mit dem Schatze — mit den märchenhaften Achaten, mit leuchtend blauen und blutroten und schwarzen Steinen, mit Frühling atmenden Türkisen; er drehte sie hin und her, er warf sie hin, er sog ihren Duft ein, als wären sie lebende Gewächse, er legte sie auf die gewandte Schlangenzunge, ließ sie über seine feinfühlende Handfläche rollen, stellte sie in Reihen auf, häufte sie aufeinander und bebte wollüstig im grünen, roten, blauen und schwarzen Schimmer.

Unzählige Menschengesichter tauchten vor ihm auf, unzählige Hände reckten sich nach ihm, Scharen von Menschen aller Art gingen nacheinander an ihm vorüber, sie füllten den ganzen Saal, sie bedeckten alle Wände von oben bis unten, und hoch unter der Sternenkuppel des Saales hingen sie und schwankten hin und her, ohne Arme, ohne Beine, und aus allen Ecken und Winkeln starrten ihn staunende Augen an . . .

Dem Alten verging der Atem, er ließ die Steine fallen. Sie klebten an seinen Lumpen, rollten über die Teppiche, den Brokat, den Marmor, und es war, als ob sie tönten wie dumpfe Glocken.

Dieser Glanz und diese dumpfen Töne ließen ihn die Augen weit aufreißen. Die winzigen Äuglein wurden groß wie Teller.

Er sah zugleich den ersten und den letzten Tag des menschlichen Daseins.

Er putzte die Steine in größter Hast, legte sie in der verschiedensten Weise zusammen, bis er die Verbindung gefunden hatte, die ihm für die Königskrone die schönste dünkte.

Er hatte sie erkannt, die alte Königskrone, die keine Gewalt auf Erden anzutasten wagt, die den Menschen unwiderstehlich zu sich lockt und Leichen auf Leichen häuft.

In der Dämmerung, als die Kronleuchter aufflammten und der Alte sich von seinem Platze erhob und, die Krone auf dem Kopfe, einem König gleich, mitten in den Saal trat, da strömte die Krone einen solchen Glanz aus, daß die unerschütterlichen Wände des Palastes erbebten.

So würde auch die morgende Freiheit, die die Welt von Grund aus umgestalten sollte, gleich am ersten Tage an diesem Glanz zugrunde gehen; zusammenknicken würden die Sklavenknie, und nur ganz im geheimen würde die dunkle Rache schwören, den Thron zu zerschmettern und die leuchtenden Steine der unzerstörbaren Königskrone über die Erde zu verstreuen.

„Sie wissen selber nicht, was sie wollen!“

Der Alte ging die goldene Treppe hinab, durch die Reihen dienernder Hofleute, begleitet von einem schmeichlerischen Lächeln, hinter dem sich schamlose Roheit verbarg und das bange Zittern kleinlicher Sklavenseelen.

3.

Mitternacht war längst vorüber. Der neue Tag der Freiheit erwachte.

Der Freiheitstrieb, der so wahnwitzig, so schmerzvoll vorwärts gedrängt hatte, war stumpf geworden, und die wildrasende Geißel, blind und schwer, flog nicht mehr, schlug nicht mehr. Der Wunsch, von dem königlichen Versprechen betäubt, trieb die Menge auf die Straßen hinaus, drängte sie auf den Märkten zusammen, schmiedete alt und jung aneinander.

Und mit mißtrauisch schielenden Blicken gingen die tausendmal betrogenen Massen, finster, eng aneinandergedrängt, vorwärts, ohne zu wissen wohin, dumpfe Verzweiflung im Herzen.

Der Alte saß in seinem Keller, die dürren Schultern in sein wollenes zerfetztes Umschlagtuch wickelnd, und sah vor sich hin, und seine winzigen Äuglein wurden groß wie Teller.

Und in seinen entsetzten Augen glühte das Grauen, Angst und Hohn.

Am Kellerfenster aber zogen Tausende von Füßen vorüber, unsicher, wie trunken, trunken von Verzweiflung.

Und der Alte rieb sich die Hände und krümmte sich, wie ein Gepfählter, beim Gedanken an die heute geschenkte Freiheit.

Und er, der einmal aus der Tiefe der menschlichen Lebensmöglichkeiten das ganze Leben hervorgeholt hatte, der einmal dem ersten und dem letzten Tage ins Auge geschaut hatte, — er lachte und warf Spott- und Scherzworte in die freie Menge.

Und über der freien Stadt und dem freien Lande stieg die freie Morgendämmerung auf, und immer röter flammte ihr Schein, um blutig und wehvoll einem Zeitalter den Abschied zu geben . . .

Maka

1.

Sascha ist im April drei Jahre alt geworden. Seit drei Jahren ist sie die Herrin des alten berühmten Schlosses von Sadory und des ganzen Olenowschen Landes mit der weiten Steppe, den Feldern, Wiesen und Wäldern bis zu Großmutters Kirschgarten in Gajewo, den Sascha auch zu ihrem Besitz zählt.

Drei Jahre brennt nun nach langer Zeit wieder Licht in dem einen Schloßturm, und tagsüber hallt der Garten wider von einer hellen Kinderstimme; abends aber guckt aus dem Turmfenster ein Mädchenköpfchen unter einer roten, goldgestickten Mütze heraus. Und alle, Groß und Klein, die Großmutter Euphrosyne Iwanowna, und der Onkel Andrej, und Tante Wera und Tante Lena, und die Wärterin Halka und das ganze Gesinde mit der Haushälterin Nadeshda, der Kuhmagd Fedoßja, der alten Zofe Polja und den jungen Tagelöhnerinnen Marja, Warwara, Fima und Katharina, und der Kutscher David und der Nachtwächter Taras und der Landmesser Becker, und der Gutsnachbar Bruch und dessen Tochter Manja und ihr Lehrer, der Student Michail Petrowitsch, und der Pfarrer, Vater Eutychios nebst dem ganzen Klerus, und der alte Jagdhund Kadoschka und die beiden Hofhunde Butzik und Mischka und das kleine Hündchen Dranka und endlich die Ziege Maschka, — mit einem Wort alle Bewohner des Schlosses und alle Nachbarn meilenweit herum bis zur Eisenbahn haben das Mädelchen als ihre Königin anerkannt und fügen sich demütig ihren Launen.

Einzig und allein die Tante Tatjana Afanasjewna, die in ihrem Stolz und Eigensinn keinen Willen über dem ihren gelten läßt außer dem Gottes und des Zaren, widersetzte sich lange Zeit, zuletzt aber gab auch sie nach, und zu Weihnachten hat sie Sascha einen goldenen alten Löffel geschenkt.

Und Sascha hütete dieses Spielzeug mit aller Sorgfalt. Sie verwahrte es ganz hinten in ihrem roten Schränkchen, wo es von dem kahlköpfigen Trommelhasen und zwei vom letzten Christbaum übrig gebliebenen goldenen Nüssen treulich bewacht wurde. Und Sascha sorgte für ihren kostbaren Schatz, so gut sie irgend konnte: sie badete den Löffel in ihrer kleinen Wanne zusammen mit den zwei glatten Steinen, dem schwarzen und weißen; und mit dem Kamel, dem grünen Aufziehfrosch, dem Radfahrer, dem Brummkreisel und den drei Puppen: der Katja mit dem Loch im Kopf, der armlosen Alexejewna, und der am heißesten geliebten Wera, die aus Lappen genäht war und überhaupt keinen Kopf mehr besaß, — warf sie den Löffel zum Fenster hinaus, damit die Ziege Maschka auch ein bißchen mit all den schönen Sachen spielen könne, wie sie auch Tantens klirrende Schlüssel zu den vielen, mit allerlei köstlichen Dingen vollgestopften Kisten und Truhen immer hinauswarf, damit sie sich draußen am schönen grünen Grase satt essen und etwas frische Luft schnappen.

In Saschas rotem Schränkchen gibt es unzählige kostbare Dinge. Von oben bis unten ist er vollgepfropft.

Wenn man Sascha fragt: „Wie liebst du?“ drückt sie gleich irgendeinen Teddy-Bären an ihr Herz oder den Springhasen, der keine Ohren mehr und nur noch zwei Beine hat, und sagt:

„So lieb ich!“

Jeden Tag wird das Schloß belagert: alle wollen die Königin von Olenowo sehen.

Und Sascha begrüßt alle gleich freundlich, spricht mit allen und schenkt denen, die sich ihrer besondern Huld erfreuen, den ganzen Inhalt ihres roten Schrankes. Später aber nimmt sie alles wieder zurück.

So ist nun einmal der Wille dieses weißen Mädelchens in der roten, goldgestickten Mütze, der Königin von Olenowo.

Sascha ist hübsch rundlich und ihre Backen sind dick und die Lippen auch, und über den Lippen guckt das Näschen frech in die Höhe. Wenn man’s sieht, kommt einen die Lust unwiderstehlich an, mal daran zu zupfen. Aber zugleich ist einem doch bang: so klein und weich ist das Stuppsnäschen. Sascha sagt: „Sie ist buttrig.“ Und wenn man sie an der Nase faßt, dann kneift sie die Augen zusammen und verzieht den Mund, und sieht aus wie ein kleines wildes Tier, ein Tierchen mit blauen, schlauen Äuglein.

Saschas Haare aber sind für ihr Alter zwar nicht zu kurz und nicht zu dünn, sie wachsen ganz ordentlich, wie sie wachsen sollen, aber einen Zopf kann man aus ihnen doch noch nicht flechten, — es sei denn einen ganz winzigen, wie ein Schwänzchen.

Sascha hatte sich angewöhnt, sich die Härchen auszuzupfen.

Und so oft schon war der Mohr gekommen, ganz schwarz, mit gefletschten Zähnen und hatte nach den ausgerissenen Haaren gefragt. Aber Sascha hatte gar keine Angst vor dem Mohren, im Gegenteil, sie machte ihn zum ersten Mann in ihrem Hofstaat und hörte natürlich nicht auf, sich die Härchen auszuzupfen, sondern tat es nach wie vor jeden Tag.

Der eine Finger war dran schuld, der Daumen an der linken Hand, — der hieß auch der Zupfer.

Und so ging es immer weiter, bis Sascha schließlich eine ganz kahle Stelle auf ihrem Kopf hatte. Da mußte Tante Lena auf den Rat desselben Mohren Sascha ganz kurz scheren. Und nun war Sascha ganz kahl mit winzigen Haferstoppeln auf dem runden Kopf. Aber es half alles nichts: auch diese Stoppeln wußte sie noch festzukriegen, als wären es ganz lange Haare: immer wieder rückte der Zupfer an und riß auch die kürzesten Härchen heraus.

Sascha hat ganz kleine Hände, wie Mama und Großmama, und Nägel wie Perlen, und da ist nun wieder ein Unglück: der Daumen an der rechten Hand ist auch ungezogen: immer muß er in Saschas Mund stecken, und Sascha saugt an ihm, wie ein Bär. Man versuchte es ihr durch allerlei Kunstgriffe abzugewöhnen, bestrich den Finger mit Senf und mit Chinin. Aber es half alles nichts: Sascha leckt den Finger ab, spuckt aus, und dann ist der Daumen gleich wieder im Mund.

Man holte den Mohren, glaubte, er würde sie zur Raison bringen, — aber es kam ganz anders. Es erwies sich, daß der Mohr auch lutschte und zwar mit Hochgenuß, denn — so erklärte Sascha — „der Daumen schmeckt noch viel schöner als Schokolade.“

Was war da zu machen? Nichts war zu machen. Es blieb nichts übrig, als die Indianer zu holen. Diese Indianer überfallen jene Buben und Mädel, die allein in den Garten schleichen und dort Erdbeeren mit Milch essen. Und solange die Indianer drohten, lutschte Sascha nicht am Fingerlein. Aber es verging einige Zeit, die Indianer verschwanden, es tauchte irgendein Zauberer auf, oder der Ägypter oder der Grüne Kater aus dem Theater, die Gefahr war vorüber — und Sascha machte sich von neuem an ihren Finger. Der Zupfer und der Lutscher sind eine wahre Plage. Und wie lustig Sascha ist, — so ganz ohne jeden Grund, bloß weil sie nicht anders kann. Und wenn sie lächelt, dann gibt ein dunkles Leberfleckchen über der Oberlippe dem Lächeln etwas ganz besonders Liebliches. Man möchte es immer nur anschauen und küssen, dieses Fleckchen, das an heißen Tagen immer etwas feucht ist.

„Sascha, ich fresse dich auf!“

„Was?“

„Ich fresse dich auf, weil . . . was soll ich denn mit mir anfangen, du bist so.“

„Makig?“ — und der kleine Mund mit den spitzen Zähnchen lächelt wieder.

„Grad so ein Leberfleckchen“, sagte Tatjana Afanasjewna und sah ihre schelmisch lächelnde Urgroßnichte scharf an, „hatte die Großtante Elisabeth Michailowna. Die verstorbene Gräfin Lydia Petrowna aber legte an dieser Stelle eine Mouche auf, — das bedeutete Leichtsinn. So ist sie auch gestorben.“

Von den Mouches redete die Tante sehr oft und immer mit großer Rührung. Sascha aber wollte dann sofort eine Mouche haben und beruhigte sich nicht eher, als bis man ihr eine lebendige Fliege gefangen hatte.

„Ganz die Mutter,“ sagte die Tante und erging sich weiterhin für sich allein in köstlichen Erinnerungen an ferne schöne Zeiten, die den jetzigen so gar nicht glichen.

Du magst die ganze Welt nach einem zweiten Mädel absuchen, das ebenso eigensinnig wäre, — du findest keins.

Was Sascha haben will, das setzt sie alles durch.

Und auch eine so wilde Hummel findest du nirgends mehr. Wenn es mal über sie kommt, dann gibt es kein Halten. Dann läuft sie die Hände waschen, und ehe man ihrer habhaft geworden ist, ist sie bis an die Schultern pitschenaß. Dann maust sie dem Onkel Andrej den Tabak und macht sich ans Zigarrettendrehen, — und natürlich ist in wenigen Augenblicken der ganze Tabak auf dem Boden verstreut.

Sascha geht gern in die Kirche zur Messe. Kaum hört sie die Glocken läuten, so hat sie keine Ruhe mehr. Sie wird von Mama begleitet. Oder von Tante Lena. Im Winter geht sie seltener, im Sommer öfter. Im Sommer bringt sie auch Blumen für Großvater auf den Friedhof.

Alle wissen, daß Sascha und der Pfarrer gute Freunde sind. Der Pfarrer, Vater Eutychios, schickt ihr oft eine Hostie, und zu Pfingsten bekam sie Blumen vom Altar. Als dann der Pfarrer am ersten Weihnachtstage mit dem Kreuz ins Haus kam, sang Sascha ihm den ganzen Weihnachtschoral vor und sprach alle Worte richtig aus.

Wenn Sascha das Abendmahl bekommen soll, passiert allemal was: entweder fängt sie irgend etwas zu erzählen an, und zwar so laut, daß man es in der ganzen Kirche hört, oder sie verlangt, daß der Priester zuallererst zu ihr komme, oder sie singt, aber nicht was vorgeschrieben ist, sondern was ihr gerade einfällt.

Singen tut Sascha überhaupt sehr gerne. Sie liebt es auch, wenn andere singen.

Und so singt das ganze Schloß von früh bis spät. Großmutter Euphrosyne Iwanowna muß singen, und Tante Wera und Tante Lena und Mama.

Wer aber wirklich sehr schön und sehr gerne singt, das ist der Onkel Andrej. Früher brauchte er bloß den Mund aufzutun, dann geriet alles in die größte Aufregung und bat flehentlich, er solle lieber nicht singen. Jetzt aber hat sich alles geändert, jetzt muß er singen was das Zeug hält, denn Sascha findet es sehr schön und will immer mehr haben.

Wie geht es aber erst zu Weihnachten her, wenn im Schloß der Christbaum angezündet wird und im Ofen das Stroh knistert und draußen der Wind heult und den weißen Schnee in dichten Massen gegen die Fenster treibt!

Dann hallt das alte Schloß von wehmütigen Koljadkas* wider. Schon fünfundzwanzig Jahre ist es her, daß der Vater Eutychios das Koljadkasingen streng verboten hat, aber insgeheim wird immer noch gesungen. Und der langgedehnte Refrain, der noch wehmütiger klingt, als das Lied selbst, verschmilzt in eins mit dem Sturmwind draußen:

„Heiliger Abend . . .“

Sascha setzt sich zu den Mägden und hockt unbeweglich da, ganz Spannung. Und es ist, als verstünde sie alles und sähe alles: wie die Muttergottes in der Schenke den Sohn in Windeln wickelt, und wie Christus gekreuzigt wird, und wie das falkenschnelle Roß Abschied nimmt . . .

„Heiliger Abend . . .“

* Volkstümliche Weihnachtgesänge, z. T. noch an heidnische Sonnwendgebräuche anknüpfend.

„Noch!“ verlangt die Königin und läßt die Sängerinnen nicht einmal zu Atem kommen.

Die Mägde sind schon ganz heiser geschrien, aber Saschas strenges „Noch“ und abermals „Noch“ hört nicht auf.

Auf die Koljadka folgt der Kasatschok. Fedorka tanzt famos. Und sie tanzt bis zum Umfallen, bis Sascha sich die Pfötchen wund geklatscht hat.

Zur Bescherung kommen auch die Nachbarskinder, die Bruchs, denn außer der Manja gibt’s da noch gute zehn Stück. Sascha macht mit ihnen, was sie will: sie läßt sie singen und tanzen und singt und tanzt selber mit, dann gibt sie ihnen ihre Geschenke und schickt sie nach Hause.

Zu Sylvester spricht Sascha den Segen.

„Heiliger Sylvester, liebster, bester, mach uns stark, gib uns Butter und Quark. Ist die Suppe weg, so gib uns Speck, gib uns Mehl und Honigseim, das tragen wir alles heim!“

So klingt es vom frühen Morgen bis zum Abend.

Am Neujahrstage aber, wenn Sascha „sät“, wird ebenso oft der Neujahrssegen wiederholt:

„Herr Gott im Himmel, segne die Saat, daß dein Volk was zu essen hat! Frohes Fest, glückliches Neujahr!“

Zu Weihnachten geht’s munter zu, — es ist eine „makige“ Zeit.

Die Großmutter spielt im langen Winter viel mit Sascha. Morgens fahren sie die Puppen im Saal spazieren und geraten bald ins Eßzimmer, bald ins Schlafzimmer, bald ins Kabinett, bald in die Bibliothek, denn es sieht im Saal immer so nach Regen aus. Und jedesmal werden die Fahrgäste ausgeladen und dann wieder in den Wagen gesetzt. Und dann muß das Essen für die Puppen bereitet werden und sie müssen alle abgefüttert werden. Die Puppen tanzen, gehen in die Schule, werden krank, laufen davon. Und überall muß man aufpassen, immer muß man zusehen, daß die Puppen zufrieden sind.

Kaum ist es draußen ein bißchen wärmer geworden und der Schnee im Garten beginnt sich grau zu färben, so bittet Sascha schon um Erlaubnis, auf der Heuwiese spazieren gehn zu dürfen, und dann träumt sie vom Sommer, wo — so meint Sascha — auch Großmutter ganz jung sein und im Garten herumhüpfen wird.

Mit Tante Lena spielt Sascha oft Heuernte: Tante muß sich auf den Fußboden setzen und ist der Heuschober, und Sascha läuft um sie herum und harkt das Heu zusammen.

Aber nun nehmen die Tage wirklich zu und die Sonne wärmt schon tüchtig. Und tagtäglich versichert Sascha, die Puppen wären draußen gewesen und hätten gesagt, es sei schon ganz trocken, und der Wind habe versprochen, ganz still zu sein und der Regen desgleichen.

Der Schnee schwindet immer mehr, nur noch hier und da sieht man ein weißes Fleckchen, an den gelben Narzissen zeigen sich schon große Knospen.

Und Sascha geht im Garten umher und erzählt lange Geschichten vom vorigen Sommer, wie Mama baden ging, und wo sie mit Lena gespielt hat, und wie sie den Krug in den Brunnen fallen ließen.

„Wenn der Schnee ganz weg ist,“ sagt Sascha, „holen wir ihn wieder, wir binden einen Lappen an einen Stock und holen ihn raus.“

So wartet man sehnsüchtig und ungeduldig auf den Frühling, auf die warme Zeit.

Und der Frühling zieht in Olenowka ein, mit Pflug und Egge, rote Blumen im Haar, strahlend und lachend, und bringt das Osterfest mit.

2.

Alte Leute und kleine Kinder — der Unterschied ist wahrhaftig nicht groß. Die zwei gehören zusammen — Sascha und Tante Tatjana Afanasjewna.

Immer wieder verschwindet Tantens Krückstock, ohne den sie kaum gehen kann. Tante will hinaus an die frische Luft — der Stock ist weg, als hätte die Erde ihn verschluckt.

Überall sucht man ihn, und Sascha sucht mit! Und nicht einmal lächeln tut sie dabei, der Schelm!

Tante weiß sich aber schon zu rächen: Saschas Spielsachen fangen an zu verschwinden.

Die Tante ist gern allein. In der Schummerstunde setzt sie sich in einen Winkel im Bildersaal, der schwarzäugigen Somowschen Kokette mit Löckchen und Bändchen gegenüber, und macht sich an ihr Geduldspiel: Ziegen und Schafe. Die hölzernen Ziegenböcke klappern im Takt, aus dem Rahmen lächelt die Kokette und die Tante lächelt auch, — wieviel lustige Bälle hat sie mitgemacht, und was gab es dazumal für Kavaliere, was für Walzer . . .

Wenn das Spiel der Tante überdrüssig wird, legt sie es fort und holt ein anderes heraus — den Bären als Schmied. Und der Bär schmiedet ihr die alte goldene Zeit neu.

Dann denkt die Tante nicht daran, daß sie doch bald ins Grab muß. Nein, sie ist sechzehn Jahre alt, vielleicht auch noch viel, viel jünger.

Sascha steht morgens ganz früh auf mit Großmama und der Tante. Nur das Zimmermädchen Polja steht noch früher auf.

Jeden Morgen begibt sich die Tante in den Saal, um vor dem wundertätigen Marienbild von Sadorino zu beten. Mit der linken Faust macht die Tante eine „Feige“, den bösen Geist abzuwehren, und die Faust fest an den Rücken gepreßt, fängt sie zu beten an. Sascha, noch nicht ganz angekleidet, nur in Strümpfen und Leibchen, kommt vom Turme auch in den Saal hinunter gelaufen um zu beten, bekreuzigt sich ungeschickt, beugt sich nieder und hascht mit der linken Hand nach Tantens zitternder Feige.

Mit Angst und Beben, ihr Gebet vergessend, sieht die Tante sich um: daß ihr Schutzengel nur nicht davonfliegt!

Und oft scheint es ihr, als flöge der Engel davon. Dann wird’s ein böser Tag, alle kränken die Tante, Tante kriegt ihren geliebten Nabel nicht.

Tante kennt nämlich kein schöneres Essen, als gekochten Hühnernabel. Und Sascha denkt ganz wie Tante. Mit dem Hühnernabel kann man viel erreichen: man kann Sascha dazu bringen, daß sie auch Suppe und Fleisch ißt und nicht bloß Milch ohne Brot; man kann sie dazu bringen, daß sie sich umkleiden läßt, ihr Frätzchen wäscht, — obgleich es dann mit dem Waschen nicht immer sein Bewenden hat: es kommt vor, daß Sascha verlangt, alle sollten sich waschen, und ohne jeden Grund. Aber ein Tag ist eben nicht wie der andere, und das Wichtigste ist doch, daß man Sascha mit diesem Nabel zwingen kann, nicht im Regen spazieren zu gehen.

Tante holt den Nabel von Saschas Teller weg und so geschickt, daß man sie gar nicht dabei ertappen kann. Eben war noch alles in schönster Ordnung, — und mit einemmal ist von dem Nabel nur eine harte Sehne geblieben.

„Man muß es auf einen andern Teller legen,“ sagt Tante Wera streng.

Aber Tante Tatjana Afanasjewna schaut ganz unschuldig drein. Sie hat den Nabel schon aufgegessen.

Mit dem Mittagessen hat man überhaupt sein Kreuz. Zu Mittag geht immer etwas schief.

Sascha wird auf das hohe Klappstühlchen gesetzt, man bindet ihr die Serviette um. Tante Lena fängt an, endlose Geschichten zu erzählen. Der Inhalt dieser Geschichten ist dem Alltagsleben entnommen, er ist ganz einfach und mit so klaren Details, wie man sie höchstens im Traum sieht. Da wird etwa erzählt, wie Manja Bruch in die Stadt ins Töchterpensionat kam. Manja, Onkel Andrej, der Nachbar Bruch, der Landmesser Becker müssen in jeder Geschichte vorkommen. Und nur wenn solche Geschichten erzählt werden, ißt Sascha ordentlich. Gott bewahre, wenn Tante Lena stecken bleibt oder auf eine der Zwischenfragen keine Antwort weiß! Warum? wo? wieviel? wann? Oder wenn sie auf das unaufhörliche: und dann? und weiter? nicht sofort einfällt. Dann gibt es ein Geschrei und Tränenströme, denen gegenüber selbst Manja, die im Sommer regelmäßig zur ersten Speise erscheint, ganz hilflos ist, und die kein Nabel, kein Pfefferkuchen stillen kann. Manchmal kommt es auch so: man setzt sich zu Tisch, und Sascha ist nicht da. Man hat sie eben noch gesehen, aber nun ist sie mit einemmal verschwunden, wie weggeblasen. Und alles macht sich auf die Suche. Man läuft durch den ganzen Garten, guckt in die Scheune, in Pferde- und Kuhstall, und wenn alle schon ganz außer Atem sind, kommt sie plötzlich aus dem Ofen herausgekrochen, schwarz, wie ein Mohrenkind, und lacht so, daß selbst ein Toter im Sarge mitlachen müßte, und die Lebendigen vor Lachen sterben möchten.

Auch in der Küche muß man sich vorsehen. Da wird der Teig ausgerollt, damit man die Brote in den Ofen schieben kann; alle Vorsichtsmaßregeln sind ergriffen; die Haushälterin Nadeshda hat die Tür verriegelt und eine Bank vorgeschoben, Halka singt Kosaken- und Zigeunerlieder. Was kann man noch mehr tun? Aber durch irgendeine Ritze ist Sascha doch durchgeschlüpft, und sie muß durchaus ein Brötchen mit ihren kleinen Pfoten formen. Und dann klatscht der Teig auf den Boden und wälzt sich im Staub und Schmutz, — und das soll nun gebacken werden!

Nur der Hund Kadoschka hat was davon — o dieser Kadoschka! Er läßt sich nicht anrühren, nicht aus dem Zimmer jagen. Kadoschka kriegt zuguterletzt alles.

Sadory war von je durch seine Gastfreundlichkeit berühmt. Seit aber Sascha da ist, ist dieser Ruf noch gewachsen. Nicht nur Kadoschka, — jeden, der ihr in den Weg kommt, muß sie füttern und tränken, ob er will oder nicht. Sie stopft es ihm einfach mit Gewalt hinein: iß und trink, bis du platzest. Und da hilft kein Weigern und Sträuben.

Sascha will alles selbst mit ihren eigenen Händen tun. Sie hat einen eigenen kleinen Besen aus Steppengras, damit fegt sie jeden Morgen die Stube. Der Besen macht mehr Staub, als daß er den Staub wegschaffte, — aber wieviel Mühe macht sich Sascha dabei! Unter jedes Bett kriecht sie, vor jedem Sofa bückt sie sich mindestens zehnmal.

Ordnung muß eben sein.

Nach dem Essen spielt Sascha mit Manja „Stöckchen gib acht!“, Versteck und Kuchenbacken.

„Stöckchen gib acht!“ wird so gespielt: man holt sich irgendwo aus einem alten Lattenzaun ein Stöckchen, stellt es senkrecht auf den Zeigefinger, sagt: „Stöckchen gib acht! Wieviel Stunden sind’s noch bis Mitternacht?“ und zählt dann, bis das Stöckchen vom Finger heruntergefallen ist. Bei welcher Zahl das geschieht, so viel Stunden sind’s noch bis Mitternacht.

Sascha bringt es immer zu sehr hohen Zahlen, denn sie zählt auf ihre besondere Art. Eins, zwei, drei, zehn, zwanzig, zehn, hundert. Außerdem mogelt Sascha: mit dem Daumen, dem Lutscher, stützt sie das Stöckchen heimlich.

Wie man Versteck spielt, weiß jeder. Verstecken kann man sich überall: im Kuhstall und in Drankas Hundehütte, — aber nur nicht lauern! Sascha versteckt sich hinter der Tür. Das ist ganz einfach, aber man kommt nicht so leicht drauf.

Das alles sind friedliche Spiele, aber beim Kuchenbacken gibt es oft Mißverständnisse. Sascha läßt die Möglichkeit nicht gelten, daß irgend jemand außer ihr etwa einen Baumkuchen aus Sand formen könnte. Und wenn Manja Bruch ihr ein Pralinee aus Sand überreicht, dann hätte sie’s lieber nicht getan!

Wird das Spiel draußen langweilig, geht man ins Zimmer. Dort „liest“ Sascha, das heißt, Tante Lena liest ihr vor. Aber Sascha weiß schon eine Menge auswendig und sie hört so zu, als wäre sie selbst der Struwwelpeter und der Hans-Guckindieluft und das schlaue Häschen. Und was sie für Gesichter dazu schneidet! Wo sie die nur alle her hat! Diesen Sommer hat Mama ihr eine Fibel geschenkt mit einem Mohr, einem Indianer und einem Ägypter. Und die Fibel ist jetzt Saschas Lieblingsbuch.

Bilder besehen macht Sascha immer Spaß. Sämtliche Jahrgänge der „Niwa“ sind schon durchgeschmökert. Jedes Bild wird in Zusammenhang mit dem Leben auf dem Schlosse gebracht, und wenn das garnicht angeht, so werden neue Geschichten geschaffen, die sich ebenfalls auf dem Schlosse abgespielt haben, und bloß nicht im Gedächtnis der Schloßbewohner haften geblieben sind.

Und immer muß Sascha fragen. Und wenn sie auch alle Fragen selbst auf ihre Weise beantwortet, so überschüttet sie doch jeden, der in ihre Nähe kommt, mit Fragen ohne Zahl. Wenn ein Lied gesungen wird, ein Märchen erzählt, oder überhaupt nur von irgendetwas gesprochen, dann kann man auf die Fragen gefaßt sein:

„Warum ist Herbst? Warum muß man essen? Warum muß man gesund sein? Warum muß man beten?“

Und das nimmt kein Ende.

Sascha kennt die russischen Dichter. Sie zeigt Puschkins Bild und nennt ihn Putzekin. Lermontow kann sie auch richtig zeigen, aber seinen Namen vermag sie nicht auszusprechen.

Wenn das Lesen und Bilderbesehen und Fragen erledigt ist, setzt sich Sascha an Tantens Klavier, läßt sich Noten aufs Pult legen und fängt an zu spielen. Die Notenblätter müssen umgewendet werden, die Hefte gewechselt, sonst wird Sascha sehr böse.

Sie wird überhaupt sehr leicht böse, sie ist grimmiger als der alte Landmesser Becker, den die Leute im Dorfe den Feuerspeier nennen.

So geht der Tag hin, man merkt es gar nicht, wie. Der Abend kommt heran. Nun geht man noch spazieren. Tante Lena, Manja und Sascha spazieren ins Feld hinaus.

Im Schlosse wird es still. Tante und Großmama spielen Schwarzen Peter, im Garten oder in der Küche wird Fruchtsaft gekocht, dafür sorgt Tante Wera.

Und gerade, wenn den Fliegen der süße Schaum über dem Kessel am schönsten schmeckt, wird es im Schlosse wieder laut und lebendig. Vom Felde bringt man Blumen, Kränze und eine Unmenge Geschichten: irgend jemand hat man sicher unterwegs getroffen, — natürlich nur von jenen Leuten, die bloß Sascha und dem Mohren, ihrem getreuen und ergebenen Kavalier, bekannt sind und nur von ihnen gesehen werden.

Wenn die Sonne sinkt, wird es für Sascha Zeit, zu Bett zu gehen.

Bei dieser Gelegenheit wird sie von den unglaublichsten Krankheiten heimgesucht. Am häufigsten tut ihr der Fuß weh. Sascha hinkt dann. Eine Zeitlang war man ganz unruhig, aber weder der Student Michail Petrowitsch, noch der Doktor Korotok konnten etwas Gefährliches entdecken. Wenn jemand der Fuß wehtat, so allenfalls nur der Großmama, die immer ihr Reißen bekommt, wenn das Wetter sich ändern will.

Ehe Sascha zu Bett geht, müssen alle Puppen zur Ruhe gebracht werden. Wenn sie fertig sind, kommt die Reihe an Sascha.

Vor dem Schlaf, auf dem Töpfchen, erzählt Sascha mit schläfrigen Lippen der Tante Lena, was sie Neues erfahren und gelernt hat, und wen sie heute gesehen und allerlei vom Sandmann und wie die Hunde bellen.

Wenn es am Tage gewittert hat, erzählt Sascha vom Donner; wenn es regnete, so berichtet sie Dinge vom Regen, die ein Erwachsener nur schwer versteht, — Tante Lena nicht ausgenommen, obgleich sie an Saschas Geschichten gewöhnt ist, mit ihr in einem Zimmer schläft und sie fast nie allein läßt.

„Der Donner wohnt über dem Himmel,“ berichtet Sascha, „wo auch die Wolken sind. Der Regen wohnt auf dem Dach. Da wohnen auch die Vöglein.“

Sascha schläft ein, und auch die Großmutter Euphrosyne Iwanowna schläft und die Ziege Maschka, damit Sascha morgen früh wieder frische Milch hat.

Nur die Tante Tatjana Afanasjewna schläft nicht. Die Tante legt Karten aus. Sie hat ihre besonderen Karten, die lügen nie. Da gibt es im Spiel eine Amazone und einen Spanier, auf die kommt es vor allem an. Die Karten werden in vier Reihen zu je neun ausgelegt. Und wie traurig kann die Arme sein, wenn plötzlich irgendein Astrolog oder die Sphinx oder die Kanone nicht da sind — alles Saschas böse Streiche.

Aus dem Wächterhäuschen kommt der Nachtwächter Taras mit seiner Klapper. Und Butzik und Mischka und Dranka bellen bald laut auf, bald sind sie mäuschenstill, bald heulen sie dreistimmig, daß es weit widerhallt.

Tags schläft der Sandmann, aber nachts wird er lebendig. Abends steht er von seinem Lager auf, und wenn es ganz dunkel geworden ist, kommt er ins Schloß. Er geht geradewegs die Treppe hinauf in Saschas Turm, und selten kommt er allein. Der Sandmann erzählt Märchen oder er nimmt Sascha an der Hand und führt sie aus dem Turm hinaus ins Feld spazieren, im Winter über das weiße Gras, im Sommer über rote Blumen. Der Sandmann kann gerade so, wie Mama, aus Malven Damen machen. Er reißt eine rosa Blüte ab, dreht sie um, bindet die Staubfäden mit einem Grashalm zusammen — und die Dame im Reifrock ist fertig.

Einmal gingen Sascha und der Sandmann über das Feld nach den Tatarengräbern — so nennt man in Olenowka die Hünengräber — und da kam ihnen der Wolf entgegen.

„Nehmt mich mit,“ sagte er, „ich will auch spazieren gehn.“

„Gut.“

Und so gingen sie. Alles war in bester Ordnung. Der Wolf kannte die ganze Gegend ausgezeichnet und führte sie zu den schönsten Plätzchen. Aber auf einmal verlor der Wolf seinen Schwanz. Und da wurde er ganz betrübt. Ohne Schwanz fühlt man sich ganz scheußlich, und nun schrie Sascha jede Nacht aus Furcht, sie könnte auch ihr Schwänzchen verlieren.

Tante Lena hörte das Geschrei und dachte, Sascha hätte Magenweh, und man schob die Schuld auf die Ziege und ihre zu süße Milch. Der Student Michail Petrowitsch erschien wieder, der Doktor Korotok untersuchte Sascha, beide verordneten eine Mixtur, alle zwei Stunden einen Eßlöffel voll. Sascha nahm die Mixtur und schrie nachts doch.

Gott sei Dank, daß die Boitschicha da war, sonst hätten sie das Mädel ganz zugrunde gerichtet.

Die Boitschicha ist ein ur-uraltes Weibchen im Dorf. Ihre Hütte ist dicht beim Schloß. Man erzählte, sie sei eine Hexe, die heilen und verzaubern könne. An sie wandte man sich.

„Der Wolf hat sie erschreckt,“ sagte die Alte. „Das läßt sich wieder gutmachen.“

Die Boitschicha kam in aller Frühe ins Schloß, als der Ofen eben angeheizt war. Die Hexe murmelte allerlei vor sich hin, trug Sascha durch das Zimmer, strich mit ihren erdigen, harten Fingern über die rosige Brust und den Rücken, dann nahm sie ein Büschel Bandgras und ließ den Schrecken sich ans Gras hängen. Das Gras aber warf sie sofort ins Feuer. Das Gras verbrannte — und alles war wieder gut. Wenn Sascha auch nur ein einziges Mal in der Nacht geschrien hätte. Wahrscheinlich war dem Wolf sein Schwanz wieder angewachsen, so daß Sascha sich jetzt nicht mehr zu fürchten brauchte.

Ein andermal brachte der Sandmann einen Mönch zu Sascha. So einen hatte Sascha schon auf Bildern gesehen. Ein ganz einfacher Mönch in einer schwarzen Mütze mit gekreuzten Armen. Der Sandmann stellte den Mönch vor Saschas Bett am Fußende hin und verschwand selbst.

Sascha machte die Augen auf und rief Tante Lena. Tante Lena stand auf, zündete das Lämpchen an, sah aber keinen Mönch. Doch der stand immer noch da, wie der Sandmann ihn hingestellt hatte, mit gekreuzten Armen und starrte Sascha an.

Seitdem brennt im Turmzimmer nachts immer das Lämpchen.

Der Mönch aber mag das Licht wohl nicht, denn er ist nicht mehr wiedergekommen. Dafür brachte der Sandmann die Maka zu Sascha.

Maka gefiel der Sascha sehr gut, und auch Sascha gefiel der Maka. Und Maka gewann Sascha so lieb, daß sie zu jeder Zeit auch ohne den Sandmann bei ihr zu erscheinen begann. Sie tritt ganz dicht an Sascha heran und spricht mit ihr. Makas Stimme kann niemand hören außer Sascha, und was Sascha zu Maka sagt, das hören zwar alle, aber keiner versteht es, denn es sind ganz besondere Worte, keine russischen.

Wenn Sascha an irgendetwas besonderen Gefallen findet, sagt sie: „das ist makig.“ Mama ist makig, Tante Lena ist makig, die Ziege Maschka ist makig, und Onkel Andrej ist es, wenn er singt oder aus der Stadt Schokolade mitbringt.

Die Freundschaft zwischen Sascha und Maka ist einfach rührend. Die beiden sehen sich sehr oft.

„Lena,“ sagte Sascha und unterbricht ihr Spiel oder irgendeine interessante Geschichte, „ich muß zu Maka gehen.“

Und sie begibt sich nach dem zweiten Schloßturm, wo das Familienarchiv und die Bibliothek sich befinden und wo einst der Großvater Jurij Alexandrowitsch gewohnt hat.

Hier haust jetzt Maka.

3.

Sascha ist drei Jahre alt oder dreitausend, oder vielleicht auch dreimal dreitausend. Sascha zählt ihr Alter nicht nach Jahren.

Sascha meint, sie hätte von Ewigkeit an im Schlosse gelebt, sie wäre die Enkelin nicht der Großmama Euphrosyne Iwanowna, sondern der Tante Lena; sie hält sich für groß und alt, älter als das ganze Geschlecht, das im Schloß gewohnt hat, älter als die Tante Tatjana Afanasjewna, denn die Tante ist ja nicht hundert Jahr alt, sondern erst sechzehn, oder vielleicht noch weniger.

Sascha steigt oft in Makas Turm hinauf.

Der Turm ist alt, und eine Unmenge von Mäusen haust darin: in der Bibliothek und im Archiv haben sie genug zu fressen, und man hört sie Tag und Nacht kratzen und krabbeln. Dort unterhält sich Sascha mit Maka, dort guckt sie nach den kleinen Mäuschen und freut sich, wenn eins ohne die geringste Furcht ganz dicht an sie herankommt und sich den Bart mit den Pfötchen streicht.

In Großvaters Kabinett hängen Bildnisse: eins zeigt Großvater als jungen Mann in Leutnantsuniform; auf dem andern ist er ganz alt und hat einen langen Bart und helle blaue Augen, ganz wie Saschas Augen.

Sascha kennt Großvater, sie hat Großvater gesehen: einmal nachts kam Großvater mit dem Sandmann an ihr Bett und unterhielt sich mit ihr, Großvater sagte zu Sascha, er werde nach anderthalb Jahren ganz zu ihr ins Schloß kommen. Und wenn Sascha jetzt in das Kabinett läuft, denkt sie immer, Großvater würde einmal da sein.

Mama erzählt Sascha ganz wunderschöne Märchen: von dem Fischer und seiner Frau und vom gestiefelten Kater und vom kleinen Däumling, vom Froschkönig und vom schlauen Fuchs.

„Willst du, Mama? Ich erzähle dir auch ein Märchen,“ sagt Sascha, als die Mutter mit ihrer Geschichte zu Ende ist.

„Erzähl’ mal!“

Und Sascha erzählt ihr Märchen:

„Es waren einmal zwei Bauern, die gingen ans Meer, um Fische zu fangen. Sie fingen aber nichts, und da gingen sie wieder nach Hause und legten sich schlafen.“

Damit ist das Märchen aus.

Sie hat noch ein anderes ebenso schönes Märchen vom Hahn und vom Bären, wie der Hahn den Bären auffraß.

Sascha hat es auch sehr gerne, wenn Mama erzählt, was sie alles gemacht hat, als sie, die Mama, noch klein war.

„Als ich klein war, war ich sehr unartig,“ erzählt die Mutter zum hundertsten Male. „Einmal kam ich in die Küche, als gerade alle hinausgegangen waren. Da stand der Samowar auf der Bank. Ich griff nach dem Krahn, drehte ihn um und blieb mit der Schulter am Samowar hängen, so daß er umfiel — gerade auf mich. Da fing ich furchtbar zu schreien an, denn ich hatte mir die Beinchen verbrüht. Großmama kam gelaufen und Großpapa und Tante und die Urgroßmama. Man legte mich ins Bett und holte den Doktor. Als der Doktor gekommen war, nahm man mir die Strümpfe ab, aber mit den Strümpfen ging auch die Haut ab. Das tat furchtbar weh und ich weinte und schrie. Lange mußte ich im Bett liegen, dann wurden die Beinchen allmählich gesund, eine neue Haut wuchs drüber.“

„Und dann noch eine?“ unterbricht Sascha die Mutter.

„Nein. Anfangs konnte ich nur kriechen. Ich hatte das Gehen ganz verlernt. Erst nach und nach lernte ich wieder fest auf meinen Füßen stehn.“

Sascha hört mit zusammengezogenen Brauen zu, und wenn die schöne Geschichte zu Ende ist, die Beine wieder heil sind und die Mama wieder laufen kann — dann strahlt Sascha über das ganze Gesicht und lacht.

„Noch einmal!“

Und Mama erzählt die schöne Geschichte zum zweitenmal.

„Aber als ich klein war,“ fängt Sascha dann an, „da lag ich mit dir im Kinderwagen, und dann zog ich dich an . . .“

Aber das ist schon so lange her, so lange, daß Sascha klein war! Und wenn Sascha ihrer Kindheit gedenkt, behauptet sie, daß sie wieder einmal klein sein werde.

„Wer wird dich liebkosen, wenn ich tot bin?“ sagte Sascha einmal, als sie wieder in Kindheitserinnerungen schwelgte und umarmte die Mama so innig, als wäre sie ihr Teddy-Bär.

Jeden Morgen nach dem Gebet begibt sich Sascha gewöhnlich mit der Tante zu Mama, um sie aufzuwecken, und dann geht es hoch her: sie kriechen als Bären auf allen Vieren, stoßen sich als wilde Kühe mit den Hörnern, stellen Gewitter, Sturm, Regen, Hagel dar. Und Sascha sucht der Mama Angst zu machen: sie bläst die Backen auf und sagt mit hohler Stimme, sie wäre nicht Sascha, sondern der Froschkönig. Und dann kratzt Mama Sascha den Rücken und die Schulter: Sascha hat das über alle Maßen gern.

Einmal sagte Mama zu Sascha:

„Weißt du, Sascha, ich habe Maka gesehn.“

Da drohte Sascha mit dem Finger, kletterte der Mutter auf den Schoß und flüsterte ihr ganz leise ins Ohr:

„Still du, Mama, das darf man nicht laut sagen.“

„Warum denn nicht?“

„Man darf nicht,“ wiederholte Sascha nun ganz streng und furchte die Stirn.

„Weißt du denn, wie deine Maka aussieht?“

„Sprich nicht so laut, Mama, sag es niemandem,“ flüsterte Sascha. „Maka ist ein ganz altes zahnloses Fräulein. Immer bittet sie um Zigaretten, und kann doch gar nicht rauchen, denn Maka hat keinen Mund, sondern bloß zwei Zungen.“

Und wie sie so von ihrer geliebten geheimnisvollen Maka erzählte, lächelte Sascha, und der dunkle Leberfleck auf der Oberlippe ließ dieses Lächeln unbeschreiblich süß erscheinen.

Die Krawatte

1.

Schon ganz zu Anfang des Semesters hatte man auf dem Newskij-Prospekt einen schwarzhaarigen Studenten bemerkt, der sich von den andern eleganten Studenten in ihren neuen Uniformen scharf unterschied. Die neu immatrikulierten Studiosi, die zum erstenmal nach Petersburg gekommen sind, pflegen scharenweise auf dem Newskij spazieren zu gehen, gucken neugierig nach allen Seiten und stehen lange vor den Schaufenstern.

Der Student, der allen auffiel, war auch ein Neuling und auch elegant gekleidet, aber sein Gesicht und seine Haltung unterschieden ihn von den andern.

Er hatte so feurige schwarze Augen und so schwarzes Haar — es gab keinen zweiten so schwarzen auf dem ganzen Newskij.

Seine Augen behielten, auch wenn er lächelte und sogar sehr schelmisch lächelte, immer denselben Ausdruck: ein alter Schmerz, eine Wehmut, die Jahrhunderte überdauert zu haben schien und immer wieder durch ein verborgenes nie verlöschendes Feuer genährt wurde, sprach aus diesen Augen. Und wenn er, ohne den Kopf zu wenden, nach einer vorübereilenden Dame schielte, dann sah man von den Augen nur das Weiße.

Sein Gang war sehr sicher und solide; er schritt gleichmäßig, ohne hin und her zu wackeln und ohne mit den Armen zu fuchteln. Und doch hatte man das Gefühl, als müßte er von allen Spaziergängern der tollste und phantastischeste sein.

„Abdul Achad,“ sagte der schwarze Student einmal, als er sich einem semmelblonden, ängstlich dreinschauenden Kommilitonen vorstellte.

„Ein Türke,“ zwinkerten die Kellner in den Kaffeehäusern und die Ladendiener einander zu, wenn sie Abdul Achad zu Gesichte bekamen.

Die Liebhaber arabischer Märchen mußten in große Erregung geraten, wenn sie zufällig mit Abdul Achad zusammen kamen, — dem Türken, wie er nur noch von den Kameraden genannt wurde.

Vom Newskij kam der Türke auf Wasili-Ostrow. In der zwölften Linie mietete er sich ein Zimmer. Und schon im November kannte der ganze Stadtteil den Türken.

Der Türke war reich und freigebig. Der Türke fiel allen auf. Und es gab kaum ein junges Mädel im ganzen Stadtteil, in das der Türke sich nicht verliebt hätte; es gab kein einziges, das nicht für den Türken geschwärmt hätte.

Es gingen die unglaublichsten und lächerlichsten Geschichten über den Türken um.

Allerdings liebte er selbst sehr von sich zu sprechen und allerlei unglaubliche, lächerliche Geschichten zu erzählen, von Reisen und Abenteuern jeder Art, — und immer wollte er alles selbst gesehen und selbst erlebt haben.

Die Liebhaber arabischer Märchen mußten in große Erregung geraten, wenn sie zufällig eine Geschichte des Abdul Achad zu hören bekamen.

Und der semmelblonde ängstliche Studiosus, zu dem der Türke sich besonders hingezogen fühlte und den er protegierte, der semmelblonde ängstliche Studiosus, der stete Begleiter des Türken, berichtete einmal voll herausfordernden Stolzes von seinem Beschützer, dieser sei schon als Quintaner Vater gewesen und hätte sich in dieser Rolle keineswegs wohl gefühlt.

Übrigens hatte auch der Türke selber in einem Augenblick besonderer Offenherzigkeit etwas Ähnliches von sich erzählt, und sogar geschildert, wie peinlich es ihm war, als Vater eines kräftigen Jungen vom Lehrer in den Winkel gestellt zu werden.

Man schenkte der Geschichte nicht eben viel Glauben, aber man amüsierte sich köstlich.

„Nun freilich,“ sagte man, „ein Türke!“

„Der Türke ist da!“ rief man mit frohem, freundlichem Lachen, wenn Abdul Achad in der Kneipe erschien.

Der Türke lebte sich in Petersburg ein, wie die andern Türken, die „Schopftürken“ —so nannte Abdul Achads Zimmerwirtin die Sphinxe an der Nikolaibrücke — sich an die kalte Newa, an den bleichen Himmel, an den Rauhreif und an den Petersburger Wind gewöhnt hatten.

Der Türke fand es immer heiß und knöpfte seinen kostbaren Pelz nie zu.

„Natürlich,“ hieß es, „ein Türke.“

„Der Türke, der Türke!“ wurde Abdul Achad mit frohem, freundlichem Lachen auf der Straße begrüßt.

Aber der Türke war launisch: heute konnte er lustig sein, und tags darauf war er traurig; heute erzählt er die tollsten Geschichten und macht die abenteuerlichsten Pläne, und morgen sieht man nur das Weiße seiner Augen.

Und alle kennen das — sie kennen sein Lachen und seine Tränen und sie liebkosen den Türken, wenn er weint.

„Lieber Türke, laß doch!“ — Und sie streicheln ihn wie eine Katze.

Zu Weihnachten tanzte der Türke auf Maskenbällen und nach Weihnachten setzte er sich an die Kolleghefte.

Aber was ist das Kolleg für den Türken? Und was ist der Türke dem Polizeiwachtmeister?

Ganz unerwarteterweise kam der Türke eines schönen Tages nicht mehr nach seiner zwölften Linie und nicht zu den Schopftürken, den Sphinxen, an denen er sonst so oft vorübergegangen war, sondern an das Arsenal-Ufer in das Gefängnis von Kresty.

2.

Man gelangt auf sehr einfache Weise nach Kresty.

Auf dem Newskij gab es eine Straßendemonstration. Unter den Demonstranten befand sich auch der Türke. Wie wäre eine Demonstration ohne den Türken möglich gewesen? Bei Demonstrationen trifft man eine Unmenge Bekannte und es ist sehr lustig, wie auf keinem Ball, keiner Maskerade.

„Der Türke! Der Türkei“ riefen die Kameraden freudig, als sie Abdul Achad zu Gesicht bekamen.

Und anfangs ging alles sehr nett und lustig her, aber vor dem Rathause hatte die Polizei den Demonstranten eine Falle gestellt, und nun gab es Knuten- und Säbelhiebe.

Der Türke ist alles, was ihr wollt; er ist nicht erst in der Quinta, sondern schon in der Sexta Familienvater gewesen; das ist alles wahr. In China war er allerdings nicht, wenn er auch sehr schön von lebendig gebratenen Fischen zu erzählen weiß, die ihm irgendein vornehmer Chinese vorgesetzt haben soll. Aber der Türke ist ein Ritter, der Türke kann es nicht zulassen, daß ein hübsches Mädel, noch dazu eins, das er sehr gut kennt, von einem Soldaten mit dem flachen Säbel geschlagen wird.

Drei junge Studentinnen stürzten auf die Treppe des Rathauses, legten die Hände vors Gesicht und knieten nieder, den Soldaten den Rücken zukehrend. Ein Soldat stieg ihnen nach und begann sie der Reihe nach mit seinem schweren, harten Säbel zu schlagen.

Der Türke geriet in Raserei.

In der Menge lachte jemand laut auf und sagte etwas Kränkendes über die unglücklichen, geduldig unter den Säbelhieben knienden Mädchen. Und von allen Seiten tönte Geschrei und Gewinsel. Man stieß sich, rannte, stolperte, fiel.

Der schwarze Türke mit den schwarzen brennenden Augen lief nicht, wie die andern, er schrie nicht, wie die andern, er rollte nur seine großen brennenden Augen.

Und seine Raserei erreichte den Höhepunkt.

Und das Weiße seiner Augen schimmerte so schauerlich, daß dem Schutzmann, der aus seinem zufälligen Opfer die letzten Lebensgeister herausprügeln wollte, plötzlich der Gedanke kam:

„Ist das nicht der Teufel selber, der nicht umzubringen ist?“

Die Lebensgeister ließ der Türke sich nicht herausprügeln, aber nach Kresty kam er doch.

3.

Mit dem Türken hatte man von der Demonstration noch viele Studenten nach Kresty gebracht, und bald zeigte es sich, daß von allen der Ungebärdigste, der Schwierigste Abdul Achad, der Türke, war.

Als alle Beulen, Quetschungen, Risse, Schrammen geheilt waren, wurde auch der Türke wieder lebendig. Und er war wie ein kleines Kind . . . Was konnte man auch von einem Türken anders erwarten?

Der Türke bekam Besuch von zwei Bräuten. Der Türke war in die eine ebenso verliebt, wie in die andre, und er wußte selbst nicht mehr genau, welche von beiden die schönere war und welche er lieber hatte.

Die Bräute brachten ihm Blumen, Schokolade, Kuchen ins Gefängnis. Die Zusammenkünfte dauerten immer sehr lange. Aber der Türke war immer noch unzufrieden. Er bat, daß ihn noch eine dritte Braut besuchen dürfe. Und so erhielten drei Bräute die Erlaubnis, den Türken zu besuchen, jede zu ihrer bestimmten Stunde.

Aber auch das war ihm noch nicht genug. Der Türke gab keine Ruhe.

Wie wäre das auch möglich gewesen, da er in Wahrheit doch nicht drei, sondern dreiunddreißig Bräute hatte.

Die Zelle des Türken befand sich im Hintergebäude im vierten Stock. Das Fenster war hoch. Vom Fußboden aus konnte man nicht durchsehen. Der Türke stellte seinen Stuhl auf den Tisch, kletterte hinauf und schaute abends aus dem Fenster.

Dort am Ufer, von den Schopftürken, den Sphinxen, bis zum Arsenal gingen seine Bräute spazieren, alle dreiunddreißig.

Der Türke dachte nur an sie, erwartete ihren Besuch und träumte nachts von ihnen.

Und dann kam der Frühling. Es ward streng verboten, aus dem Fenster zu sehn. Aber wie konnte der Türke nicht aus dem Fenster sehn, wenn der Frühling gekommen war?

Der Türke kümmerte sich um die Vorschriften nicht.

Man drohte ihm mit Karzerhaft — er ließ sich nicht bange machen. Man sperrte ihn in den Karzer — es half nichts. Da ließ man ihn in Frieden. Was sollte man auch mit ihm anfangen? Früher, als er noch frei war, hatte er die ganze Welt in drei Gruppen geteilt: hübsche Mädel, junge Mädel und Weiber überhaupt. In die ersten verliebte er sich, in die zweiten war er nicht abgeneigt, sich zu verlieben, und den dritten war er stets bereit, den Hof zu machen.

Und nun, da der Frühling gekommen war, da liebte er sie alle, alle gleich und machte keinen Unterschied mehr zwischen hübschen und jungen und Weibern überhaupt.

Und am Ufer gingen abends nicht mehr dreiunddreißig, sondern mindestens dreihundertdreiunddreißig Bräute spazieren, er sah sie mit seinen eigenen Augen.

Alle Frauen waren seine Bräute.

Zu Ostern weinte der Türke sogar. Er weinte, weil man ihn nicht auch in die Kirche gehen ließ, wie alle seine Mitgefangenen, und auch weil er abends, als er aus dem Fenster seine am Ufer spazierenden Bräute sah, ein so großes Mitleid mit ihnen empfand.

Es kam der Mai und die hellen Nächte.

Aus dem Fenster sah der Türke den Mai, die hellen Nächte.

Einmal, als die Kontrolle eben vorüber war, und der Türke auf den Stuhl geklettert war, um nach den Bräuten Ausschau zu halten, bemerkte er einen schwarzen Bart, der aus dem Gitterfenster nebenan heraushing. Der Nachbar hatte den Türken auch bemerkt und suchte ihm durch Zeichen zu verstehen zu geben, daß er nicht reden solle.

Aber wann hätte der Türke je guten Rat angenommen?

Er war so erfreut über den schwarzen Bart.

„Sitzen Sie schon lange hier?“

„Zwei Jahre.“

„Woher?“ „Aus Wilejki.“

„Wofür?“

„Denunziation. Ich weiß selbst nichts Genaues.“

„Besucht Sie jemand?“

„Nein. Ich habe daheim eine Frau und ein kleines Mädel.“

„Was war Ihr Beruf?“

„Melamed. Lehrer.“

„Langweilen Sie sich nicht?“

„Ich klebe Schachteln.“

„Sehnen Sie sich nicht nach Ihrer Frau?“

Aber der Nachbar antwortete nicht. Der schwarze Bart verschwand hinter dem Gitter. Und da klopfte auch der Wächter an die Tür. Der Türke mußte von seinem Stuhl herunter.

Als der Wächter vorübergegangen war, kletterte der Türke wieder hinauf und rief wieder den Nachbar an, aber der schwarze Bart zeigte sich nicht mehr, man sah durch das Gitter nur einen gekrümmten müden Rücken. Dann vergaß der Türke den Bart, und endlich wurde der Türke freigelassen. Es war doch nichts mit ihm anzufangen.

4.

Aus Kresty begab der Türke sich geradewegs auf den Newskij. Er wußte gar nicht, was er mit sich anfangen, wo er sich lassen sollte. Seine Bekannten aufsuchen? Dazu war auch morgen noch Zeit genug. Drei Tage war ihm Frist gegeben, drei Tage durfte er sich in Petersburg aufhalten, und in drei Tagen konnte er alles erledigen, alle besuchen.

Der Türke ging auf dem Newskij und lächelte, alle lächelte er an, die Alten und die Jungen.

„Türke, lieber Türke, wie geht es dir?“ lächelten die Leute ihm entgegen, oder zum mindesten schien es ihm so.

Er ging in ein Kaffeehaus nach dem andern, trank Kaffee, aß Kuchen, guckte in ein paar Kinos hinein, aber nirgends hielt er’s lange aus.

„Türke, lieber Türke! Wie schön, wie herrlich ist die Freiheit!“ summten, brummten, flüsterten die Passanten — zum mindesten schien es ihm so.

In einer Schaubude am Newskij gab es wilde Menschenfresser zu sehen. Aus Neu-Guinea hatte man sie nach Petersburg gebracht.

„Das allerwildeste Volk auf dem Erdball!“ verkündete das Plakat. Der Türke ging hinein, sich die wilden Menschenfresser anzusehen. Die Menschenfresser sahen ganz wie Theaterteufel aus und lächelten, wie der Türke selbst. Und der Türke konnte nicht anders — er kletterte zu ihnen auf das Podium hinauf. Die Wilden verstanden nicht, was der Türke zu ihnen sagte, und auch die andern, die zahmen Zuschauer, ja der Türke selbst, verstanden kaum etwas, aber die Wirkung war eine ganz unerwartete: die Wilden hielten ihn wohl für einen Gott, sie spannten ihre Bogen, schossen ihre Pfeile ab, reckten sich lang aus, wie Peter der Große, und machten so wüste Kängurusprünge, daß dem Publikum angst und bange wurde und alles in größter Hast zum Ausgang drängte.

Im Gedränge kam auch der Türke hinaus.

„Türke, lieber Türke, wie lustig ist es, wie lustig!“ rief man ihm nach — oder zum mindesten schien es ihm so.

Die Newa hatte das Eis vom Ladogasee schon ins Meer hinaus befördert. Es war warm. Übrigens hätte der Türke es auch warm gefunden, wenn das Eis noch nicht abgegangen wäre.

Die weiße, durchsichtige Nacht lockte mit fernen silbernen Sternen.

Es war Kaisers Geburtstag. Auf dem Newskij flammten längs dem Bürgersteig bunte elektrische Laternchen auf, an den Häusern leuchtende Monogramme und Wappen. Das Gedränge der Spaziergänger wurde immer größer.

Der Türke sah nach allen Seiten und lächelte. Alles schien ihm so reich geputzt, so jung und rein, er hätte alle ohne Unterschied küssen können.

An der Ecke beim Katharinenkanal blieb der Türke stehen.

Von der Kasankathedrale her kamen Gardekürassiere.

Riesengroß, auf prächtigen Pferden, in silbernen Harnischen, bewegten sich die schimmernden Reiter wie Gespenster vorwärts.

Der Türke sah auf die Kürassiere und lächelte. Und lange noch schimmerten die silbernen Harnische durch die weiße Nacht, die bunten grünen Laternchen und die dunkeln, wie Bärte herabhängenden Fahnen. Als die Kürassiere vorüber waren, ging der Türke mit der Menge weiter.

Auf der Brücke fiel ihm ein Mädel auf — schwarzhaarig, schlank, fast wie ein Backfisch, nicht geschminkt, mit Augen, die glänzten, wie die Harnische der Kürassiere. Er lächelte sie an und sie lächelte auch. Er faßte sie unter den Arm. Sie ließ ihn lächelnd gewähren. Und sie gingen weiter.

Sie gingen und lachten, wie alte Bekannte.

Warum auch nicht? Sie war ja seine Braut! Alle waren sie seine Bräute.

Die weiße durchsichtige Nacht lockte mit fernen silbernen Sternen.

„Wohnen Sie weit von hier?“

Sie nannte ein Hotel.

Ihre Antwort belehrte den Türken, daß sie erst seit kurzem auf der Straße war: sie empfing noch keinen Besuch in ihrer Wohnung.

Sie gingen nach dem Gasthaus. Ließen sich ein Zimmer anweisen.

Und noch deutlicher ward es dem Türken, daß sie erst seit kurzem auf dem Newskij war: sie wollte kein Bier trinken.

Der Kellner brachte Limonade. Sie tranken die Limonade. Dann kleideten sie sich aus.

Sie war eine Jüdin und hieß Rosa.

„Sind Sie auch Jude?“

„Nein.“

„Grieche?“

„Nein!“

Sie sah ihn mit großen erstaunten Augen an und zählte alle Völker auf, die sie kannte. Sie kam schließlich bis auf die Chinesen und die menschenfressenden Papuas, die sie sich ebenso angesehen hatte wie der Türke.

„Ein Papua?“

„Nein.“

„Ein Türke?“

Der Türke konnte sich nicht mehr beherrschen und fing laut zu lachen an.

„Ein Türke! Ein Türke!“ rief Rosa erfreut, wie Kinder sich freuen, wenn sie einen Spielgefährten endlich in seinem gar nicht mal besonders schlau gewählten Versteck aufgestöbert haben, und immer wiederholte sie mit gutmütigem Lachen, wie die Kameraden, wenn sie den Abdul Achad irgendwo trafen, wo sie ihn am allerwenigsten erwartet hatten: „Ein Türke! Ein Türke!“

Rosa hatte nur noch das Korsett abzunehmen.

Der Türke schwatzte allerlei tolles Zeug, behauptete, er sei kein Türke, sondern ein ganz richtiger Kannibale und er werde sie gleich mit Haut und Haar auffressen, und dabei lachte er so, daß er ganz außer Atem kam.

Aus Rosas Korsett fiel plötzlich etwas auf den Boden. Der Türke bemerkte es. Aber Rosa bückte sich in größter Hast und verbarg den Gegenstand in ihrer hohlen Hand.

Was mochte das sein? Und warum wurde sie so rot?

„Was ist das?“

„Nein, nein, das dürfen Sie nicht . . .“ Rosa trat zurück.

„Warum nicht?“ widersprach der Türke, umarmte Rosa und setzte sie auf seinen Schoß. „Sag mir doch, was es ist!“

„Es geht nicht,“ wiederholte sie. „Bitte, fragen Sie mich nicht. Ich will das nicht.“

Aber wann hätte der Türke je guten Rat angenommen! Er bestand auf seinem Stück: du mußt es mir sagen! Er schwur, daß er ihr Geheimnis keinem verraten und auch nicht lachen werde: auf ihn, den Türken, könne man sich verlassen.

„Alles geht,“ sagte er, „und das nicht? Warum denn nicht? Warum nur?“

Aber sie preßte den geheimnisvollen Gegenstand nur noch fester in ihrer Faust zusammen und schwieg. Es schien, als könnte keine Gewalt auf Erden ihr das Geheimnis entreißen, selbst wenn alle Schutzleute vom Newskij sich mit ihren kräftigen Fäusten auf sie gestürzt hätten. Sie weigerte sich, auch nur ein Wort zu sagen.

Dieser kindische Trotz ärgerte den Türken. Er gab keine Ruhe. Er mußte Rosas Geheimnis wissen. Er rollte die schwarzen, brennenden Augen. Er packte Rosas Hand. Und sie öffnete die Faust.

Anfangs verstand der Türke nichts. Er traute seinen Augen nicht.

„Eine Krawatte?!“

Sie hielt eine ganz gewöhnliche, genähte, schwarze Krawatte in der Hand — das Mittelstück, das wie ein schwarzer Schmetterling aussah.

Und Rosa fing an, ganz schnell, stotternd, einzelne Worte bald verschluckend, bald wiederholend, zu reden. So flüstern Kinder, wenn sie sehr froh sind, der Mutter ins Ohr:

„Weißt du, Mama —“ oder, wenn sie sich schuldig fühlen, ängstlich und bitter: „Ich will es nie mehr tun!“

Es war eine Krawatte. Eine Krawatte ihres Mannes. Rosa wollte dem Türken nicht von ihrem Manne sprechen. Sie hat auch ein Kind. Ein dreijähriges Mädel. Sie kommt aus Wilejki.

Ihren Mann hat man in einer schwarzen Kutsche nach Petersburg gebracht. Schon vor zwei Jahren. Ein Arbeiter aus der Nachbarschaft hatte ihn angeschwärzt. Ihr Mann war Melamed im Cheder.

„Ein Melamed — ein Lehrer,“ wiederholte Rosa.

„Ich hab ihn gesehen, deinen Mann, er hat einen schwarzen Bart und einen krummen Rücken. Er ist sehr mager. Ein richtiges schwarzbärtiges Skelett,“ sagte der Türke ganz erfreut, und deutlich sah er wieder seine Zelle im vierten Stock vor sich und den Abendhimmel und sich selbst auf den Stuhl stehen.

„Ich selbst komme eben aus Kresty, und er ist auch dort, in Kresty. Das Gefängnis Kresty auf der Wiborger Seite, Arsenalufer 5.“

Aber Rosa saß nicht mehr auf seinem Schoß, Rosa lag auf dem Boden zu Füßen des Türken und schrie so, als würde sie geschlagen, als wollte sie ihre ganze Seele sich aus dem Leibe schreien.

Der Türke griff nach der Karaffe und goß ihr Wasser ein. Was hatte er denn getan, daß sie sich wie in Krämpfen auf dem Boden wälzte und schrie? Aber Rosa rührte das Wasserglas nicht an, sie stand nicht auf, sie blieb liegen, in Hemd und Strümpfen, sie winselte und schluchzte und preßte die schwarze Schleife, die wie ein Schmetterling aussah, fest in ihrer Hand zusammen.

Der Türke erkannte Rosa nicht wieder. Das war nicht mehr der bleiche, schüchtern-schlaue Backfisch, sondern ein rasendes Weib, das von einem wilden Weh gepeinigt wurde. Und der Schmerz machte ihr Gesicht alt und häßlich.

An die Tür wurde geklopft. Man forderte Einlaß.

Der Türke ging um Rosa herum und wußte nicht, was er anfangen sollte.

„Beruhige dich doch,“ sagte er und streichelte sie, „was liegt denn an einem Schlips? Bei Gott, ich habe nichts Böses gesagt!“

An die Tür wurde geklopft. Und es war, als klopfte man nicht nur an die Tür, sondern an alle Wände und an die Decke, nicht mit der Faust, sondern mit einem Hammer.

Der Türke mußte öffnen: man hätte sonst die Tür aufgebrochen.

Ein Polizeiwachtmeister, ein Schutzmann, der Zimmerkellner, ein Droschkenkutscher und ein Frauenzimmer, wohl aus der Stube nebenan, traten ein.

„Was geht hier vor?“ fragte der Wachtmeister und betrachtete den entkleideten Türken und die auf dem Boden liegende Rosa mit strengen Blicken.

„Nichts,“ erwiderte der Türke, „ich habe gar nichts getan!“ Und er stürzte sich auf Rosa, hob sie auf und setzte sie, so gut es ging, auf das Sofa.

Rosa beachtete die Leute gar nicht, sie sah und hörte nichts, sondern winselte nur und schluchzte.

Der Wachtmeister befahl Abdul Achad sich anzukleiden. Der Türke sollte ihm auf die Polizeiwache folgen, wo man die Sache zu Protokoll bringen werde.

Was hatte er denn getan? Hatte er sie denn geschlagen? Hatte er ihr etwas Kränkendes gesagt? Nichts, rein gar nichts! Nichts Böses hatte er ihr getan, ja nicht einmal gedacht.

Der Türke zog sich hastig an, wie einer der sich schuldig fühlt. Aber die Hände wollten ihm nicht gehorchen. Kein Knopf ging zu. Rund herum aber standen die Leute und gafften ihn an wie einen ertappten Taschendieb, und schienen ihm zuzuzwinkern: „Was sagst du nun? Haben wir dich doch?“

Er hatte Gold in der Tasche. Er legte alles in Rosas offene Hand und folgte dem Wachtmeister nach dem Polizeiamt.

Hinter dem Wachtmeister gingen auch die andern hinaus: das Frauenzimmer von nebenan, der Kutscher und der Zimmerkellner — sie hatten ihre Schuldigkeit getan, mehr konnte man nicht von ihnen verlangen.

Rosa blieb allein zurück. Sie saß immer noch in Hemd und Strümpfen auf dem Sofa und weinte und winselte und preßte in der einen Hand die Krawatte zusammen, die wie ein schwarzer Schmetterling aussah, und in der andern das Gold des Türken. Sie war allein in dem Zimmer geblieben, und vor ihr stand der stumpfnasige Schutzmann vom Newskij-Prospekt . . .

 

 

 

Anmerkungen zur Transkription

 

Das Inhaltsverzeichnis wurde vom Ende des Buches an den Anfang verschoben.

 

Die folgenden Korrekturen am Originaltext wurden vorgenommen: