The Project Gutenberg eBook of Adams Tagebuch, by Mark Twain This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook. Title: Adams Tagebuch und andere Erzählungen Author: Mark Twain Release Date: December 8, 2021 [eBook #66904] Language: German Character set encoding: UTF-8 Produced by: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net *** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK ADAMS TAGEBUCH *** Anmerkungen zur Transkription Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter oder unterstrichener Text ist _so ausgezeichnet_. Im Original in Antiqua gesetzter Text ist ~so markiert~. Im Original fetter Text ist =so dargestellt=. Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des Buches. Mark Twains Humoristische Schriften Neue Folge. 5. Band Adams Tagebuch und andere Erzählungen Von Mark Twain Autorisiert Inhalt: Adams Tagebuch -- Mein Reisegefährte, der Reformator -- Meine Tätigkeit als Reisemarschall -- Von allerhand Schiffen -- Der Roman einer Eskimo-Maid -- Die Erzählung des Kaliforniers -- Die Appetit-Anstalt u. s. w. [Illustration] Stuttgart Verlag von Robert Lutz 1903. Alle Rechte vorbehalten. Druck von A. Bonz’ Erben in Stuttgart. Inhalt Adams Tagebuch 7 Mein Reisegefährte, der Reformator 35 Meine Tätigkeit als Reisemarschall 69 Von allerhand Schiffen 107 Der Roman der Eskimo-Maid 143 Die Erzählung des Kaliforniers 181 Die Appetit-Anstalt 201 Mein Eintritt in die Litteratur 231 Noch einmal ›Gedankentelegraphie‹ 277 Besuch eines Interviewers 293 Adams Tagebuch. _Vorbemerkung_: Ich habe einen Teil dieses Tagebuches bereits vor mehreren Jahren übersetzt, und ein Freund von mir hat ein paar Exemplare meiner Arbeit in unvollständigem Zustand gedruckt; doch ist nichts davon ins Publikum gedrungen. Seitdem habe ich noch etwas mehr von Adams Hieroglyphen entziffert, und ich glaube, daß er nachgerade als öffentlicher Charakter eine genügende Bedeutung besitzt, um die Herausgabe dieser Uebersetzung zu rechtfertigen. Mark Twain. _Montag._ Dieses neue Geschöpf mit dem langen Haar fängt an, mir sehr im Wege zu sein. Es ist immer hinter mir her und lungert beständig um mich herum. Ich mag das nicht; ich bin nicht an Gesellschaft gewöhnt. Ich wünschte, es bliebe bei den übrigen Tieren ... Es ist heute umwölkt; denke, wir werden Regen haben. Wir? Wer ist wir? Woher habe ich das Wort? Ich erinnere mich jetzt, -- das neue Geschöpf braucht es immer. _Dienstag._ Habe den großen Wasserfall untersucht. Er ist das Beste auf dem ganzen Grundstück, sollt’ ich meinen. Das neue Geschöpf nennt ihn den ›Niagara-Fall‹, -- habe auch nicht die blasseste Ahnung, weswegen. Wenn es sagt, das Ding sehe aus wie ›Niagara‹, so hat das keinen Sinn. Es ist nur so ein Einfall, nur leeres Geschwätz. Ich selber komme gar nicht mehr dazu, irgend etwas zu benennen. Das neue Geschöpf tauft alles, was uns gerade in die Quere kommt, ehe ich auch nur den geringsten Einwand dagegen erheben kann. Und das immer unter einem und demselben Vorwand, daß es so ›aussehe‹. _Mittwoch._ Habe mir einen Unterschlupf gegen den Regen gebaut. Aber ich konnte ihn nicht friedlich für mich behalten. Das neue Geschöpf war gleichfalls sofort drinnen. Als ich es hinauszudrängen versuchte, vergoß es Wasser aus den beiden Löchern, mit welchen es sieht, wischte es mit dem Rücken seiner Pfoten fort und gab dabei Töne von sich, wie verschiedene der andern Tiere, sobald ihnen etwas weh thut oder sie sich fürchten. Wenn es nur nicht sprechen wollte! Es schwatzt beständig. Das klingt fast wie Hohn und Spott, als wollte ich mich über das arme Geschöpf lustig machen. Aber die Absicht liegt mir fern. Ich habe die menschliche Stimme nie zuvor gehört, und jeder neue und fremde Laut, welcher das feierliche Schweigen in dieser träumerischen Einsamkeit unterbricht, beleidigt mein Ohr, wie eine falsche Note. Und obendrein ist dieser neue Laut immer so nahe bei mir, er ist dicht an meiner Schulter, dicht an meinem Ohr, erst auf dieser, dann auf der andern Seite; und ich war nur gewöhnt Laute zu hören, die mehr oder weniger entfernt von mir sind. _Freitag._ Das Benennen geht unaufhaltsam weiter, ich mag dagegen thun was ich will. Ich hatte für das große Grundstück hier einen sehr guten Namen erfunden, der hübsch war und musikalisch zugleich -- Garten von Eden. Ich gebrauche den Namen jetzt noch, aber nicht öffentlich, nur verstohlen. Das neue Geschöpf sagt, man sehe in der ganzen Landschaft nur Wald, Felsen und Wasser; sie erinnere nicht im mindesten an einen Garten sondern sehe aus wie ein Park und wie nichts anderes. So hat es ihm denn, ohne mich weiter zu fragen, den Namen Niagarafall-Park gegeben. Das ist eigenmächtig genug, sollte ich meinen. Und schon kann man auf dem Grase eine Tafel mit der bekannten Warnung sehen: »Es ist verboten den Rasen zu betreten!« Mein Leben ist nicht mehr so glücklich wie früher. _Samstag._ Das neue Geschöpf ißt zu viel Früchte. Wir werden wahrscheinlich bald Mangel daran haben. Schon wieder ›Wir‹ -- das ist sein Wort und meins jetzt auch bereits vom ewigen Hören ... Ziemlich neblig heute früh. Ich selbst gehe nicht in den Nebel hinaus. Aber das neue Geschöpf thut es. Es geht in allen Wettern aus und kommt dann mit schmutzigen Füßen wieder hereingestampft. Dabei spricht es fortwährend, und früher war es hier so angenehm und ruhig. _Sonntag._ Hab ihn glücklich hinter mir. Dieser Tag wird immer ermüdender. Der Sonntag wurde im letzten November zum Ruhetag gewählt und abgesondert. Früher hatte ich in jeder Woche schon sechs solche Tage. Und heute? Heute morgen fand ich das neue Geschöpf, wie es mit Erdklumpen nach dem verbotenen Baum warf, um die Aepfel herunterzuholen. _Montag._ Das neue Geschöpf sagt: sein Name sei Eva. Das ist ganz recht, und ich will nichts dagegen einwenden. Es sagt, der Name sei dazu da, damit ich es rufen könne, wenn ich es bei mir zu haben wünsche. Darauf erwiderte ich, daß der Name dann überflüssig sei. Dies Wort hob mich augenscheinlich in der Achtung des neuen Geschöpfs. Und wirklich das Wort ›überflüssig‹ ist sehr gut und von allgemeiner Bedeutung; es verdient bei jeder Gelegenheit wiederholt zu werden. Darauf sagte mir das Geschöpf, daß es gar kein ›Es‹, sondern eine ›Sie‹ sei. Das ist zum mindesten zweifelhaft; aber mir ist’s einerlei; sie mag sein was sie will, wenn sie nur ihrer Wege gehen und nicht beständig reden wollte! _Dienstag._ Sie sagt, dieser Park würde eine äußerst erquickende und reinliche Sommerfrische abgeben, für den Fall sich Gäste dafür finden ließen. Sommerfrische -- was heißt das? Offenbar wieder so ’ne neue Erfindung ihres rastlosen Hirns und ihres noch ruheloseren Mundes -- Worte ohne jeden Sinn. Was ist eine Sommerfrische? Aber besser, ich frage sie gar nicht erst danach -- sie hat ohnehin eine wahre Sucht alles zu erklären. _Freitag._ Sie hat es für gut befunden, mich zu bitten, nicht mehr über den Wasserfall zu gehen, wie ich es mir angewöhnt hatte. Wem geschieht denn damit etwas zuleide? Sie sagt es mache sie schaudern. Ich möchte nur wissen warum? Ich habe es immer gethan, seit ich hier bin. Das Hineinspringen, das Untertauchen und die Aufregung dabei macht mir den größten Spaß. Und dann die Kühle, wenn es sonst heiß ist! Ich habe auch immer gedacht, daß der Fall gerade deswegen da wäre. Wenigstens hat er -- soweit ich sehen kann -- sonst keinen Zweck, und irgend einen Zweck muß er doch haben. Und jetzt kommt sie und sagt, die ganze Geschichte wäre nur um der malerischen Scenerie willen da -- wie das Rhinoceros und das Mastodon. Bin darauf in einem Faß über den Fall hinuntergesegelt, -- auch das war nicht nach ihrem Geschmack. Dann in einer Waschbutte, -- sie war noch immer nicht zufrieden. Ich schwamm durch den Strudel unterhalb des Falls und durch die Stromschnellen oberhalb des Falls in einem nagelneuen Schwimmanzug von Feigenblättern, der dabei fast in Fetzen ging. Da bekam ich endlose Vorwürfe wegen meiner Verschwendungssucht. Ich fühle mich hier von allen Seiten eingeengt. Ein Ortswechsel wird mir gut thun. _Samstag._ Am Abend des letzten Dienstag bin ich durchgebrannt und habe mir dann, nachdem ich zwei Tage drauflosgewandert war, einen neuen Unterschlupf gebaut, an einer ganz abgelegenen Stelle. Aber wie sehr ich auch bemüht gewesen war, meine Spuren zu verwischen und zu verbergen, -- sie hat mich doch aufgespürt, mit Hilfe eines Tieres, welches sie gezähmt hat und ›Wolf‹ nennt; sie stürzte plötzlich zu mir herein, machte wieder das klägliche Geräusch, das ich nicht hören mag, und ließ das Wasser aus den beiden Löchern, mit denen sie sieht, hervorschießen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mit ihr zurückzugehen, -- aber ich werde sofort wieder ausreißen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Sie giebt sich mit allerlei ganz überflüssigen Dingen ab. Unter anderm versucht sie, herauszubekommen, warum die Tiere, welche Löwen und Tiger heißen, auf diesem großen Grundstück von Gras und Blumen leben, während sie doch nach ihrer Meinung eine Art Zähne haben, die deutlich beweist, daß sie bestimmt sind einander aufzufressen. Das ist einfach Narrheit. _Sonntag._ Habe ihn glücklich hinter mir. _Montag._ Ich glaube jetzt dahintergekommen zu sein, wozu die Woche da ist: sie soll einem Zeit geben, um sich von der Ermüdung des Sonntags zu erholen. Das ist gar keine schlechte Idee ... Ich habe Eva schon wieder an dem verbotenen Baum erwischt. Sie war hinaufgeklettert und ich warf mit Erdklumpen nach ihr, bis sie herunterkam und sagte, es hätte ’s ja niemand gesehen. Ich glaube, sie hält das für eine genügende Rechtfertigung, um die gefährlichsten Dinge zu thun. Sagte ihr es auch ins Gesicht. Das Wort Rechtfertigung erregte ihre Bewunderung und zugleich, wie mir schien, ihren Neid, der immer sehr leicht erregt ist. Es ist aber auch ein sehr gutes Wort. _Dienstag._ Das Neueste, was sie mir gesagt hat, ist, daß sie aus einer von meinem Körper genommenen Rippe gemacht sei. Das scheint mir eine gewagte Behauptung. Mir hat doch nie eine Rippe gefehlt! Besonderes Kopfzerbrechen macht ihr seit einiger Zeit der junge Habicht, mit dem sie sich so viel abgiebt. Sie sagt, er könne kein Gras vertragen, und fürchtet daher, ihn nicht aufziehen zu können, weil er, wie sie sich einbildet, verwestes Fleisch zur Nahrung haben müsse. Ein Habicht sollte sich, meiner Meinung, mit dem begnügen was vorhanden ist. Man kann doch nicht bloß dem Habicht zuliebe die ganze Ordnung der Dinge umkehren. _Samstag._ Gestern fiel sie in den Teich, als sie sich zu weit vorbog, um sich im Wasser zu betrachten. Sie thut das immer, sobald sie an einen Teich kommt, nur ist sie bis jetzt noch nicht hineingefallen. Sie hat so viel Wasser geschluckt, daß sie beinahe erstickte. Das sei ein höchst unbehagliches Gefühl, erklärte sie, als sie wieder draußen war. Es machte sie auch traurig wegen der Geschöpfe, welche im Wasser leben müssen, und die sie Fische nennt. Sie hat nämlich noch immer nicht aufgehört, allen möglichen Dingen ganz unnütze Namen anzuhängen. Sie kommen gar nicht, wenn sie den Namen ruft, aber das verschlägt ihr nicht das geringste; sie ist nun einmal solche Thörin! Die Folge war, daß sie gestern abend eine ganze Menge Fische einfing, hereinbrachte und, damit sie warm werden möchten, in mein Bett that. Aber ich habe sie seitdem beobachtet und die Wahrnehmung gemacht, daß sie durchaus nicht glücklicher schienen als vordem. Nur viel stiller sind sie den ganzen Tag gewesen. Und wenn es wieder Nacht wird, werde ich sie einfach vor die Thüre werfen und nicht wieder mit ihnen schlafen, denn sie sind unangenehm schleimig und naßkalt, und das Liegen zwischen ihnen ist, namentlich wenn man nichts anhat, höchst unbehaglich. _Sonntag._ Habe ihn glücklich hinter mir. _Dienstag._ Jetzt hat sie sich mit einer Schlange eingelassen. Die andern Tiere sind froh, weil sie beständig an ihnen herumhantierte und sie nicht in Ruhe ließ -- auch ich freue mich darüber, weil die Schlange gleichfalls spricht und ich mich etwas erholen kann. _Freitag._ Sie sagt mir, die Schlange habe ihr geraten, die Frucht von dem Baum zu kosten, und ihr versprochen, daß das Ergebnis eine große, schöne und edle Fortentwicklung sein werde. Ich sagte ihr, es würde noch etwas anderes daraus entstehen -- der Tod würde in die Welt kommen. Aber das war ein großer Mißgriff von mir, und ich hätte ungleich besser gethan, die Bemerkung für mich zu behalten. Es brachte sie nur auf den Gedanken, daß sie dann den kranken Habicht gesund machen und den trübselig einherschleichenden Löwen und Tigern frisches Fleisch zur Nahrung verschaffen könnte. Ich riet ihr noch einmal aufs dringendste, von dem Baum fortzubleiben. Sie sagte, sie wollte es nicht. Ich sehe allerlei Unannehmlichkeiten voraus und denke wieder ans Auswandern. _Mittwoch._ Ich habe eine bunte Zeit hinter mir. An jenem Abend bin ich ausgerissen und die ganze Nacht hindurch geritten so schnell mein Pferd nur laufen konnte, in der Hoffnung, aus dem Park herauszukommen und ein anderes Land zu erreichen, bevor die ganze Not hereinbrach. Aber das sollte mir nicht gelingen. Eine Stunde nach Sonnenaufgang hatte ich die Grenze noch immer nicht erreicht. Dafür befand ich mich auf einer grasigen, mit Blumen bedeckten Ebene, auf der Tausende von Tieren versammelt waren, teils schlafend, teils weidend, teils miteinander spielend, wie das bei den Tieren Brauch war. Aber plötzlich stießen sie allesamt ein entsetzliches Gebrüll und Geheul aus, und schon im nächsten Augenblick lief auf der ganzen Ebene alles wirr durcheinander. Wie rasend fielen die Tiere über einander her und zerfleischten sich gegenseitig. Ich hätte so etwas nie für möglich gehalten, doch wußte ich sofort, was es zu bedeuten hatte -- Eva hatte von der verbotenen Frucht gegessen, und im selben Augenblick war auch der Tod in die Welt gekommen! Die Tiger stürzten sich auf mein Pferd und zerrissen es, ohne sich weder an meine Bitten noch an meine Befehle zu kehren. Ja, sie würden mich selber gefressen haben, hätte ich mich nicht schnell aus dem Staube gemacht. Jenseits der Grenze des Parks fand ich diesen Platz und hier habe ich mich seitdem auch ein paar Tage äußerst behaglich befunden, bis -- sie mich auch hier entdeckt hatte und plötzlich vor mir stand. Das Merkwürdigste dabei war, daß mir das eigentlich gar nicht so unangenehm schien, wie ich es mir vorher vielleicht vorgestellt hatte. Auch sie fand den Platz gar nicht übel und hatte natürlich wieder sofort einen Namen für ihn, -- weil er gerade so aussah. Schließlich war ich sogar ganz froh, daß sie mich gefunden hatte, da es hier herum weder Früchte noch Beeren gab, wie drüben im Park, und sie ein paar von den Aepfeln des verbotenen Baumes mitgebracht hatte. Ich war so hungrig, daß ich mich genötigt sah, sie zu verspeisen. Eigentlich ging es gegen meine Grundsätze -- aber ich habe damals entdeckt, daß der Mensch seinen Grundsätzen nur treu zu bleiben pflegt, wenn er genug zu essen hat. Auch etwas Neues habe ich an ihr entdeckt. Sie kam in einer Art Umhüllung von Zweigen und Laubgewinden, und als ich sie fragte, was dieser neue Unsinn bedeuten solle, ihr das ganze grüne Zeug herunterriß und es auf die Erde warf, -- da zitterte sie an allen Gliedern, und wurde rot im Gesicht. Ich hatte noch nie jemanden zittern und rot werden sehen, es schien mir nicht nur unschön, sondern geradezu blödsinnig. Sie sagte aber auf meine Frage nur: ich würde das bald an mir selbst erfahren. Und darin hatte sie recht. Denn trotz meines Hungers legte ich den Apfel halb angebissen beiseite -- es war obendrein der feinste, den ich je gekostet habe, noch dazu bei so vorgeschrittener Jahreszeit -- und fing an, mich selber mit dem Grünzeug zu behängen, das ich ihr eben vom Leibe gerissen hatte. Dann sah ich sie an, wie sie so dastand und befahl ihr mit Entrüstung, noch mehr Zweige und Blätter zu holen, weil es sonst ein wahrer Skandal sei. Sie gehorchte mir mit Eifer und dann schlichen wir beide nach dem Platz zurück, wo die wilden Tiere vorhin die Vernichtungsschlacht gekämpft hatten und sammelten einige von den Fellen. Ich befahl ihr, daraus für uns ein paar Anzüge zusammenzunähen, in denen wir uns öffentlich zeigen könnten. Sie sind hart und unbequem, aber jedenfalls nach der neuesten Mode, und das ist ja schließlich bei Kleidern die Hauptsache. Ich finde neuerdings auch, daß sie eine ganz gute Gesellschafterin ist. Ohne sie würde ich jetzt recht einsam und traurig sein, nachdem ich meinen Grundbesitz verloren habe. Ueberdies hat sie mir eben gesagt, daß wir nach der neuen Ordnung der Dinge fortan für unsern Lebensunterhalt arbeiten müssen. Da kann sie sich nützlich machen. Sie wird arbeiten und ich werde die Aufsicht führen. _Nächstes Jahr._ Wir haben es Kain getauft, sie hat es eingefangen, während ich weiter draußen im Land war, um zu jagen und Fallen zu stellen. Sie fing es, wie sie mir bei meiner Rückkehr erzählte, im Tannengehölz, ein paar Meilen südlich von der Erdwohnung, die wir uns angelegt haben. Es sieht uns gewissermaßen ähnlich und ist vielleicht irgendwie mit uns verwandt. Wenigstens glaubt dies Eva, aber meiner Meinung nach ist es ein Irrtum. Der gewaltige Unterschied in der Größe allein rechtfertigt schon die Annahme, daß es nur eine andere, noch neue Art Tier ist, -- vielleicht ein Fisch. Als ich es aber ins Wasser warf, um mir Gewißheit zu schaffen, sank es sofort unter, worauf sie ihm nachsprang und es herauszog, ohne mir die nötige Zeit zu lassen, die Sache durch meinen Versuch zu entscheiden. Ich bin aber noch immer der Ueberzeugung, daß es ein Fisch ist, während es ihr so gleichgültig zu sein scheint, was es ist, daß sie es mir um keinen Preis zu einem neuen Versuch überlassen will. Das verstehe ich nicht. Mir ist an ihr neuerdings überhaupt mancherlei unverständlich. Seit sie das Geschöpf im Hause hat, scheint ihre Natur verändert. Auf Versuche läßt sie sich schlechterdings nicht mehr ein. Sie hat auch noch nie auf ein Tier so große Stücke gehalten, wie auf dieses, doch weiß sie mir keinen Grund dafür anzugeben. Ich glaube wirklich sie hat ihre fünf Sinne nicht mehr beisammen. Bisweilen trägt sie den Fisch halbe Nächte lang in ihren Armen umher, wenn er jammert und winselt, weil er ins Wasser will, und wenn ich ihn dann nach dem nächsten Teich tragen und hinein werfen möchte, so wehrt sie sich so sehr dagegen, wie nur je, als sie noch bei Verstande war. Bei solchen Gelegenheiten kommt ihr dann wieder das Wasser aus den Gucklöchern in ihrem Gesicht; sie drückt den Fisch an ihre Brust, klopft ihn leise auf den Rücken, macht mit ihrem Munde allerlei Töne, die ihn beruhigen sollen, und ist ganz närrisch vor Sorge und Angst um das Geschöpf. Ich habe sie früher dergleichen nie mit einem andern Fisch, oder sonst irgend einem Tiere thun sehen, und ich mache mir viel Kopfzerbrechens darüber. Ehe wir von unserm Grundstück vertrieben wurden, hat sie wohl auch von Zeit zu Zeit junge Tiger herumgetragen und ihr Spiel mit ihnen getrieben, aber doch nicht immerfort und niemals bei Nacht. Auch hat sie sich’s nie so zu Herzen genommen, wenn ihnen das Frühstück nicht gut bekam. _Sonntag._ Am Sonntag scheint sie sich’s zur Regel zu machen, nicht zu arbeiten, sondern ganz erschöpft von der Wochenarbeit dazuliegen und den Fisch auf sich herumkriechen zu lassen. Dabei bringt sie allerlei Töne mit dem Munde hervor und behauptet, das belustige ihn; sie steckt sich auch seine kleinen Pfoten oder Vorderflossen in den Mund und er fängt an zu lachen. Mein Lebtag habe noch keinen Fisch lachen sehen, und dabei kommen mir allerlei Zweifel ... Der Sonntag gefällt mir jetzt selber ganz gut. Es ermüdet ja Körper und Geist zugleich, wenn man die Woche über fortwährend die Arbeit anderer beaufsichtigen muß. Da sollte es noch mehr Sonntage geben. In den früheren Zeiten, auf dem großen Grundstück, waren die Sonntage kaum zum Aushalten, jetzt fangen sie an, mir ganz gelegen zu kommen. _Mittwoch._ Es ist kein Fisch. Das weiß ich jetzt -- aber darum kann ich noch lange nicht begreifen, was es eigentlich ist. Wenn es was haben will und bekommt es nicht gleich, macht es den tollsten und abscheulichsten Lärm. Wenn es aber hat, was es will, oder sonst zufrieden ist, sagt es ›Gugu‹ oder etwas der Art. Es ist kein Mensch, denn es kann nicht gehen; es ist kein Vogel, sonst könnte es fliegen; es ist kein Frosch, denn es hüpft nicht; und auch keine Schlange, weil es nicht kriechen kann. Daß es kein Fisch ist, weiß ich ebenfalls ganz bestimmt, obgleich ich nicht dazu kommen kann, es schwimmen zu lassen. Wenn Eva es nicht auf den Armen hat, liegt es meist am Boden auf dem Rücken und streckt die Füße in die Luft. Das habe ich noch bei keinem Tier gesehen. Ich glaube es muß ein Riesenkäfer sein. Wenn es stirbt will ich es auseinandernehmen, um seine innere Einrichtung zu untersuchen. Ich muß der Sache doch auf den Grund kommen. _Drei Monate später._ Die Geschichte wird immer rätselhafter. Ich kann kaum noch schlafen, weil sie mir so im Kopfe herumgeht. Das Geschöpf liegt nicht mehr am Boden, sondern kriecht nun auf seinen vier Füßen herum. Aber es unterscheidet sich wesentlich von den übrigen Vierfüßlern, denn seine Vorderbeine sind ungewöhnlich kurz. So ragt denn der Hauptteil seiner Person ganz unverhältnismäßig in die Höhe, was durchaus nichts Anziehendes hat. Im übrigen ist es ganz so gebaut wie wir, doch beweist schon die Art seiner Fortbewegung, daß es nicht zu unserer Gattung gehört. Die Kürze der Vorder- und die Länge der Hinterbeine deuten darauf hin, daß es aus der Känguruh-Familie stammt. Doch unterscheidet es sich auch hier wieder von dem wirklichen Känguruh, denn es kann nicht hüpfen wie dieses. Es muß eine seltsame und interessante Abart sein, die bisher noch nicht katalogisiert worden ist. Da ich dieselbe entdeckt habe, halte ich mich auch für berechtigt, mir den Ruhm dieser Entdeckung für alle Zeiten dadurch zu sichern, daß ich dem neuen Geschöpf meinen Namen beilege. Ich habe es ~Kaengurum Adamiensis~ getauft. Es muß ein ganz junges Exemplar gewesen sein, als Eva es in dem Tannengehölz fing, denn es ist seitdem beständig gewachsen. Jetzt ist es wohl fünfmal so groß wie damals, und wenn es etwas haben will und es nicht gleich bekommt, macht es dreißigmal mehr Lärm als früher. Zwang und Gewalt vermögen nichts dagegen auszurichten, im Gegenteil, sie machen die Sache immer nur schlimmer. Darum habe ich das Zwangs-System, mit dem ich es eine Zeit lang versuchte, wieder aufgegeben, zumal ich ihr gegenüber ohnehin damit einen besonders schwierigen Stand hatte. Sie besänftigt es immer mit Zureden und Schönthun und meistens damit, daß sie ihm alles giebt, was sie ihm zuerst rundweg abgeschlagen hat. Wie ich schon bemerkt habe, war ich nicht zu Hause, als sie es brachte. Sie sagte mir, sie habe es im Walde gefunden. Es ist unbegreiflich, daß es das Einzige seiner Art sein sollte, aber ich habe mich die ganze Zeit über müde und lahm gesucht, um ein zweites Exemplar zu finden, teils um es unserer Sammlung hinzuzufügen, teils als Spielgefährten für unseres. Es würde dann gewiß stiller sein und sich leichter zähmen lassen. Aber ich kann keines entdecken; auch nicht die leiseste Spur habe ich aufgefunden. Merkwürdig! Es kann doch gar nicht anders leben als auf dem Erdboden und wenn es sich vorwärts bewegt, müßte es doch eine Fährte hinterlassen. Ich habe wohl ein Dutzend Fallen und Schlingen gelegt, aber nichts dadurch erreicht. Alle kleinen Tiere kann ich fangen, nur dieses nicht. Sie gehen meist aus Neugierde in die Falle, nur um zu sehen, wozu die Milch eigentlich dort aufgestellt ist, glaube ich. Trinken thun sie die Milch nie, sie werfen sie höchstens um. _Drei Monate später._ Unser adamitisches Känguruh wächst noch immer fort, was höchst seltsam und beunruhigend ist. Ich habe noch nie gesehen, daß ein Känguruh so lange braucht, um seine volle Größe zu erreichen. Es hat jetzt einen Pelz auf dem Kopf; gar nicht wie einen Känguruhpelz, sondern viel eher wie unser eigenes Haar, nur daß es sich feiner und weicher anfühlt, und statt schwarz rot ist. Wenn das noch lange so fort geht, verliere ich nächstens den Verstand über die tollen und unberechenbaren Sprünge in der Entwicklung dieses unklassifizierten zoologischen Naturspiels. Könnte ich nur ein zweites fangen, -- doch das ist eine ganz vergebliche Hoffnung. Es ist eine neue Art und von dieser das einzige Exemplar, -- soviel steht jetzt fest. Seit vorgestern ist mir auch noch der letzte Zweifel geschwunden. Ich hatte ein wirkliches Känguruh gefangen und mit nach Hause gebracht, in dem Gedanken, daß das unserige in seiner Einsamkeit froh sein würde, wenigstens ein ihm einigermaßen verwandtes Tier zu begegnen. Unter Wildfremden, die nichts von seiner Art und Weise und seinen Wünschen und Begierden verstehen, mußte es doch darin, wie ich glaubte, einen kleinen Trost finden. Aber welchen Mißgriff hatte ich begangen. Es fiel bei dem bloßen Anblick des eingefangenen Känguruhs in solche Krämpfe, daß ich sofort wußte, es habe noch kein derartiges Geschöpf gesehen. Mir thut das kleine Tier leid, denn es schreit bei der geringsten Gelegenheit und ich kann nichts thun, um es glücklich zu machen oder zu sorgen, daß es sich bei uns wie unter seinesgleichen fühlt -- und doch möchte ich es selbst jetzt gar nicht mehr missen. Wenn ich es nur wenigstens zähmen könnte, -- aber auch das ist ganz außer Frage. Und je mehr ich es versuche, um so schlimmer scheine ich es zu machen. Es schneidet mir geradezu ins Herz, das kleine Ding bei seinen Anfällen von Kummer und stürmischer Leidenschaft zu sehen. Eigentlich möchte ich, wir wären es wieder los; doch wage ich gar nicht den Wunsch auszusprechen. Denn erstens ist es mir doch nicht ganz ernst damit und zweitens würde Eva von einem solchen Vorschlag kein Wort hören wollen. Das scheint sehr grausam und selbstsüchtig von ihr, -- aber vielleicht hat sie doch recht. Es würde dann am Ende noch einsamer sein als vorher. Ist es mir nicht gelungen ein zweites Exemplar seiner Gattung zu finden, so müßte es selber gewiß auch vergebens danach suchen. _Fünf Monate später._ Es ist kein Känguruh! Nein, es kann sich seit wenigen Tagen selbst auf den Hinterbeinen aufrecht erhalten, wenn es sich gleichzeitig mit einer seiner Vorderpfoten an ihrem hingestreckten Finger festhält. Ueber ein paar Schritte kommt es dabei freilich noch nicht hinaus, sondern fällt dabei jedesmal bald wieder auf alle Viere zurück. Aber das genügt, um uns die Gewißheit zu verschaffen, daß es kein Känguruh ist. Viel wahrscheinlicher, daß es eine Art Bär ist. Nur hat es keinen Schwanz und, -- wenigstens bis jetzt, -- kein haariges Fell, außer auf dem Kopf. Uebrigens sind die Bären gefährlich -- ich weiß das von jener Vernichtungsschlacht her. Ich werde diesem hier, so gerne ich ihn auch manchmal habe, nicht mehr lange erlauben, sich ohne Maulkorb herumzutreiben. Neulich habe ich wieder einen Versuch gemacht, Eva ein richtiges, ausgewachsenes Känguruh zu versprechen, für welches sie dann dieses laufen lassen könnte. Aber alles, was ich damit erreichte, war, daß es aus den Sehlöchern in ihrem Gesicht förmlich wie Feuer sprühte und sie seitdem den kleinen Bären noch weniger als je von der Hand läßt. Ich fürchte, sie wird uns durch ihre Thorheit in neue Gefahr bringen. Seit sie den Verstand verloren hat, ist sie wie umgewandelt. _Vierzehn Tage später._ Ich habe seinen Mund untersucht. Noch ist es unschädlich; es hat erst einen Zahn. Auch einen Schwanz hat es noch immer nicht. Aber dafür macht es mehr Lärm als je zuvor. Und namentlich in der Nacht. In den letzten beiden Nächten war es so arg, daß ich ausgezogen bin. Aber morgen gehe ich zum Frühstück hinüber, und dann sehe ich nach, ob es noch mehr Zähne bekommen hat. Wenn es erst einmal den ganzen Mund voll Zähne hat, wird es die höchste Zeit sein, Maßregeln zu ergreifen, -- Schwanz oder nicht Schwanz -- denn ein Bär braucht keinen Schwanz, um gefährlich zu sein. _Vier Monate später._ Ich bin wieder auf einem längeren Jagd- und Fischausflug fortgewesen. Etwa einen Monat lang. In der Zwischenzeit hatte der Bär gelernt, sich ohne Hilfe und auf den Hinterbeinen allein fortzuhelfen und etwas, das wie ›Poppa‹ und ›Momma‹ klang, zu sagen. Es ist sicherlich eine ganz neue Art. Diese Töne, die sich ganz wie Worte anhören, mögen etwas rein Zufälliges sein und an sich gar nichts zu bedeuten haben. Aber selbst dann ist die Sache noch immer merkwürdig genug, und jedenfalls etwas, was kein anderer Bär kann. Diese Aehnlichkeit mit menschlicher Rede, dazu das Fehlen des Pelzes und der vollständige Mangel eines Schwanzes, beweisen zur Genüge, daß es nicht nur eine besondere, sondern eine ganz neue Art Bär ist. Inzwischen beabsichtige ich, seinetwegen auf eine neue Forschungsexpedition auszugehen und die großen Wälder weiter im Norden nach einem zweiten Exemplar zu durchsuchen. _Drei Monate später._ Es war ein langer und langweiliger Jagdausflug, von dem ich da eben zurückgekehrt bin. Aber er war ganz und gar erfolglos. Was hat sie aber in der Zwischenzeit gethan? Ohne sich vom Platze zu rühren und sich im mindesten anzustrengen hat sie unterdessen gerade auf dem neuen Grundstück ein zweites Exemplar eingefangen! Hat man je von solchem Glück gehört? _Tags darauf._ Ich habe das neue Geschöpf genau mit dem alten verglichen, und es ist gar kein Zweifel, daß sie vom gleichen Schlage sind. Ich äußerte den Wunsch, eines von ihnen für meine Sammlung auszustopfen. Aber sie ist gegen das Ausstopfen im allgemeinen eingenommen, und in diesem Falle wollte sie erst recht nichts davon wissen. So habe ich denn die Absicht wieder aufgeben müssen, obgleich ich denke, daß ich unter allen Umständen darauf hätte bestehen sollen. Man denke sich, daß sie plötzlich wieder abhanden kämen, und stelle sich den Verlust für die Wissenschaft vor, wenn nichts von ihnen zurückbliebe! Das ältere von beiden ist auch das weitaus zahmere. Es kann sogar plappern und lachen, wie ein Papagei. Und da auch Papageien so viel um uns herum sind, bin ich überzeugt, daß es das alles, und die Gabe der Nachahmung überhaupt, von ihnen gelernt hat. Na, wer weiß, -- vielleicht kommt es zuletzt noch heraus, daß es selbst eine Art Papagei ist. Ich würde mich gar nicht darüber wundern, wenn ich bedenke, was es alles schon gewesen ist seit jenen ersten Tagen, als ich es für einen Fisch hielt. Das neue ist grade so häßlich wie das andere zuerst war; es hat gelblich-rote Fleischfarbe und auf dem Kopf nur hier und da einen ganz leisen Ansatz von Pelz. Sie hat ihm auch schon einen Namen gegeben -- Abel nennt sie es. _Zehn Jahre später._ Es sind Jungens! Wir wissen das jetzt schon seit geraumer Zeit. Nur ihre anfängliche Winzigkeit und Gestaltlosigkeit hat uns so lange irre geführt. Wir hatten es noch nicht erlebt, daher unsere lange Ungewißheit. Jetzt haben wir uns bereits daran gewöhnt, -- auch ein paar Mädel sind schon angekommen. Abel ist ein guter Junge. Aber wenn Kain ein Bär geblieben wäre, so würde das besser für ihn gewesen sein. Was mich anlangt, so sehe ich nach allen diesen Jahren ein, daß ich Eva im Anfang unrecht gethan habe. Es ist besser, außerhalb des Gartens mit ihr zu leben, als im Garten ohne sie. Ich meinte zuerst, sie spräche zuviel. Aber jetzt würde es mich aufs tiefste betrüben, wenn diese Stimme verstummen und ich sie mein Lebtag nicht mehr hören sollte. Gesegnet sei der Apfelbiß, der uns zuerst einander so nahe gebracht hat, daß ich ihre Holdseligkeit und die Güte ihres Herzens erkennen lernte! _Ende._ Mein Reisegefährte, der Reformator. Es war im Frühjahr 1893; ich reiste nach Chicago, um die Weltausstellung zu sehen, sah sie zwar nicht, aber mein Ausflug war doch nicht ganz fruchtlos -- ich fand Ersatz für die Ausstellung. In New York machte ich die Bekanntschaft eines Majors von der Armee, der mir sagte, er wolle ebenfalls nach Chicago gehen; wir verabredeten uns, die Reise zusammen zu machen. Ich hatte vorher noch etwas in Boston zu tun, aber das machte ihm nichts; er sagte, er wolle den Umweg machen und mitkommen. Er war ein schöner Mann, von einem Körperbau wie ein Gladiator, indes seine Manieren waren ruhig, seine Sprache war sanft und hatte etwas Ueberzeugendes an sich. Er war ein unterhaltender Gesellschafter, aber ungemein ruhig; dazu ohne jeglichen Sinn für Humor. Er nahm Interesse an allem, was um ihn herum vorging, allein sein Gleichmut war unerschütterlich; nichts brachte ihn aus der Ruhe, nichts regte ihn auf. Bevor indessen der Tag zu Ende war, bemerkte ich, daß er tief im Innern trotz all seiner Ruhe eine Leidenschaft hatte -- eine Leidenschaft für die Abstellung kleiner Mißstände im öffentlichen Leben. Er schwärmte für Bürgerpflicht -- das war sein Steckenpferd. Er war der Meinung, jeder Bürger der Republik müsse sich selber als nichtamtlichen und unbesoldeten Polizisten betrachten und über den Gesetzen und ihrer Beobachtung treue Wacht halten. Seiner Ansicht nach waren die Rechte der Allgemeinheit auf wirksame Weise nur zu wahren und zu schützen, wenn jeder Bürger für sein Teil dazu half, daß jeder Verstoß, der zu seiner persönlichen Kenntnis kam, verhindert oder bestraft wurde. Der Gedanke war gut; mir wollte nur scheinen, als ob man dabei fortwährend Unannehmlichkeiten haben müsse und nichts andres mehr zu tun habe, als pflichtwidrig handelnde kleine Beamte absetzen zu lassen, um vielleicht zum Dank dafür bloß ausgelacht zu werden. Aber er sagte nein, ich wäre auf dem Holzweg; es läge keine Veranlassung vor, irgend jemand absetzen zu lassen, ja es _dürfe_ überhaupt niemand entlassen werden; das wäre gänzlich verfehlt -- nein, man müßte den Mann reformieren und für die von ihm bekleidete Stelle brauchbar machen. »Da muß man also den Sünder erst zur Anzeige bringen und dann den Vorgesetzten bitten, ihn nicht zu entlassen, sondern ihm nur einen tüchtigen Rüffel zu geben und ihn zu behalten?« »Nein, so ist es nicht gemeint; Sie dürfen ihn überhaupt nicht anzeigen, denn damit bringen Sie sein täglich Brot in Gefahr. Sie könnten so tun, als ob Sie ihn anzeigen wollten -- wenn alles andre nichts hilft. Aber nur im äußersten Notfall. Das ist schon eine Art von Gewalt, und Gewalt taugt nicht. Diplomatie -- das hilft! Wenn nun jemand Takt besitzt -- wenn er Diplomatie anwendet ...« Seit zwei Minuten waren wir vor einem Telegraphenschalter gestanden, und die ganze Zeit über hatte der Major sich bemüht, die Aufmerksamkeit eines der jungen Beamten zu erregen; aber von denen hatte keiner Zeit, weil sie alle Maulaffen feil hielten. Schließlich machte sich der Major bemerklich und bat einen von ihnen, ihm sein Telegramm abzunehmen. Er bekam zur Antwort: »Sie können wohl ’ne Minute warten, was?« Und der junge Mann sah wieder aus dem Fenster. Der Major sagte ja, er hätte es nicht so eilig. Dann schrieb er ein zweites Telegramm: »Präsident der Western Union Telegraph Company. Bitte, speisen Sie heute abend bei mir. Kann Ihnen etwas davon erzählen, wie in einem Ihrer Bureaus der Dienst gehandhabt wird.« Der junge Mann, der eben vorher so schnippisch geantwortet hatte, streckte die Hand aus und nahm das Telegramm; als er es las, wurde er ganz blaß und begann sich zu entschuldigen. Er sagte, er würde seine Stellung verlieren, wenn dieses furchtbare Telegramm abginge, und vielleicht bekäme er keine andre wieder. Wenn es ihm nur noch diesmal so hinginge, so würde er in Zukunft keinen Anlaß zur Klage mehr geben. Daraufhin wurde der Friede geschlossen. Als wir weitergingen, sagte der Major: »Nun, sehen Sie, das war Diplomatie -- und Sie haben bemerkt, wie sie wirkte. Es hätte gar keinen Zweck gehabt, Lärm zu machen, wie die Leute fortwährend tun -- der junge Mensch kann einem mit gleicher Münze heimzahlen, und man zieht fast immer den kürzeren dabei und ärgert sich bloß über sich selber. Aber, wie Sie gesehen haben, gegen Diplomatie kann er nichts machen. Freundliche Worte und Diplomatie -- das sind die Werkzeuge, mit denen man arbeiten muß.« »Ja, ich verstehe; aber nicht jeder ist in so günstiger Lage, wie Sie in diesem Fall. Es steht eben nicht jedermann auf so vertrautem Fuß mit dem Präsidenten der Western Union.« »Ich kenne den Präsidenten gar nicht -- ich benutzte ihn nur zu diplomatischen Zwecken. Es geschieht zu seinem und zum allgemeinen Besten. Also nichts Böses dabei.« Ich fragte zögernd und mit bedenklichem Gesicht: »Ist es aber überhaupt wohl jemals recht oder anständig, zu lügen?« Die gelinde Selbstüberhebung, die in der Frage lag, beachtete er nicht, sondern antwortete mit unerschütterlich ernster Einfachheit: »Ja, zuweilen. Wenn man lügt, um jemand Schaden zu tun oder um sich selber einen Vorteil zu verschaffen, so ist das nicht zu rechtfertigen. Wenn man dagegen lügt, um einem Nebenmenschen beizustehen oder um des allgemeinen Besten willen -- oh, das ist ganz was andres! Das weiß ja jedes Kind. Aber ganz abgesehen von den Methoden -- Sie sehen das Ergebnis. Der junge Mensch wird jetzt ein brauchbarer und höflicher Beamter werden. Er hatte ein gutes Gesicht. Es lohnte sich, ihn zu retten, -- um seiner Mutter, wenn nicht um seiner selbst willen. Natürlich hat er eine Mutter -- auch Schwestern. Hol’ der Henker die Leute, die das fortwährend vergessen. Wissen Sie, ich habe nie in meinem Leben ein Duell gehabt -- nicht ein einzigesmal --, obwohl ich so gut wie andre Leute Herausforderungen erhielt. Ich sah immer meines Gegners unschuldige Frau oder Mutter oder Kinderchen zwischen ihm und mir stehen. _Sie_ hatten ja nichts getan -- ich konnte doch nicht _ihre_ Herzen brechen.« Er verbesserte im Lauf des Tages eine hübsche Menge Mißstände, und stets ohne Reibung, stets mit einer feinen und zartfühlenden ›Diplomatie‹, die keinen Stachel zurückließ. Seine Leistungen bereiteten ihm so viel Glückseligkeit und Zufriedenheit, daß ich ihn um seinen Beruf beneidete und mich vielleicht auch darin versucht haben würde, wenn ich die notwendigen Abweichungen von der Wahrheit mit ebensolcher Zuversicht aus meinem Munde hervorbringen könnte, wie es mir mittels einer Feder und hinter der Deckung einer Druckerpresse nach einiger Uebung -- glaube ich -- wohl möglich wäre. Als wir am späten Abend mit der Pferdebahn wieder in die Stadt hinein fuhren, kamen drei Radaubrüder in den Wagen und begannen nach rechts und links mit unflätigen Späßen und Flüchen um sich zu werfen. Die Passagiere, zum Teil Frauen und Kinder, hatten Angst, und kein Mensch wagte, den Knoten entgegenzutreten oder ein Wort zu erwidern; der Schaffner versuchte es mit gütlichem Zureden, aber die Rauhbeine gaben ihm einfach Schimpfworte zurück und lachten ihn aus. Sehr bald sah ich dem Major an, daß er hier einen Fall seiner Spezialität vor sich hatte; augenscheinlich musterte er in Gedanken seinen Vorrat von diplomatischen Mitteln. Ich sah mit Bestimmtheit voraus, daß ein derartiger Versuch ihm nur Spott und Hohn, vielleicht sogar noch Schlimmeres einbringen würde; aber bevor ich ihm diese Bemerkung zuflüstern konnte, sagte er bereits in gleichmütigem und leidenschaftslosem Ton: »Schaffner, Sie müssen die Schweine ’nausschmeißen. Ich will Ihnen dabei helfen.« Das hatte ich nicht erwartet. Schnell wie der Blitz fuhren die drei Knoten auf ihn los, aber kein einziger kam an ihn heran. Er teilte drei Faustschläge aus, wie man sie außerhalb eines Preisboxerringes zu sehen nicht erwarten konnte, und die drei Kerle blieben liegen, wo sie hingefallen waren. Der Major schleifte sie hinaus und warf sie von der Plattform des einen Moment haltenden Wagens hinunter; hierauf fuhren wir weiter. Ich war erstaunt; erstaunt darüber, daß ein Lamm so vorgehen konnte; erstaunt über die von ihm entfaltete Kraft und über das klare und allgemeinverständliche Ergebnis; erstaunt über die gewandte und geschäftsmäßige Art, wie er das Ganze gemacht hatte. Die Situation hatte ihre humoristische Seite, insofern ich den ganzen Tag über von diesem schlagfertigen Herrn fortwährend Vorträge über sanfte Ueberredung und freundliche Diplomatie angehört hatte. Ich hätte ihn gern darauf hingewiesen und einige Sarkasmen darüber angebracht; aber als ich ihn ansah, merkte ich, daß das keinen Zweck haben würde. Auf seinem ruhigen und zufriedenen Gesicht lag keine Ahnung von Humor; er würde mich nicht verstanden haben. Als wir auf einer der nächsten Haltestellen ausgestiegen waren, sagte ich zu ihm: »Das war ein tüchtiger diplomatischer Streich, oder vielmehr es waren drei tüchtige diplomatische Streiche.« »_Das?_ Das war keine Diplomatie. Sie sind völlig auf dem Holzweg. Diplomatie ist ganz was andres. Damit ist bei _der_ Sorte nichts auszurichten; sie würden’s nicht verstehen. Nein, das war keine Diplomatie, es war Gewalt.« »Da Sie das Wort nennen, so -- ja, ich glaube, Sie können vielleicht recht haben.« »Vielleicht? Natürlich habe ich recht. Es _war_ eben Gewalt!« »Ich glaube selber, es hatte den äußeren Anschein. Versuchen Sie oft, Leute auf diese Art zu bessern?« »O nein, das kommt beinahe nie vor. Nicht öfter, als jedes halbe Jahr einmal im Durchschnitt.« »Die Leute werden doch mit dem Leben davonkommen?« »Mit dem Leben davonkommen? Na, natürlich! Sie sind ganz außer Gefahr. Ich weiß, wie und wohin ich zu schlagen habe. Sie haben wohl bemerkt, daß ich nicht unter die Kinnlade schlug. Das würde sie getötet haben.« Ich glaubte das. Ich bemerkte -- und nach meiner Meinung war es ein ganz guter Witz --, er sei den ganzen Tag über ein Lamm gewesen, habe sich aber jetzt auf einmal zum Bock entwickelt, zum Sturmbock; aber er sagte mit freundlicher Offenheit und Unbefangenheit: nein, ein Sturmbock sei ganz was andres und jetzt nicht mehr im Gebrauch. Das war, um aus der Haut zu fahren, und ich wäre beinahe mit der Antwort herausgeplatzt, er habe von Witz nicht mehr Ahnung als ein Trampeltier. Ich hatte das Wort tatsächlich schon auf der Zunge, aber ich sagte es doch nicht, denn mir fiel ein, daß die Sache keine Eile habe, und ich es ebensogut ein andermal telephonisch abmachen könne. Am nächsten Nachmittag fuhren wir nach Boston. Die Rauchabteilung im Salonwagen war voll, und wir gingen daher in das gewöhnliche Rauchcoupé. Drüben auf der andern Seite des Wagenganges, auf dem vordersten Sitz, saß ein bescheiden aussehender alter Mann -- dem Anschein nach ein Landmann -- mit bleichem, kränklichem Gesicht und hielt mit dem Fuß die Tür offen, um frische Luft zu bekommen. Auf einmal kam polternd ein großer Bremser herein; bei der Tür blieb er stehen, warf dem Landmann einen ganz wütenden Blick zu und schlug mit solcher Kraft die Tür zu, daß der alte Mann beinahe seine Stiefelsohle eingebüßt hätte. Dann machte er sich an seine Verrichtungen. Mehrere von den Passagieren lachten, und der alte Herr sah ganz beschämt und traurig drein. Ein Weilchen darauf kam der Schaffner durch, und der Major hielt ihn an und stellte in seiner gewöhnlichen höflichen Weise die Frage: »Schaffner, wo beschwert man sich über unangemessenes Betragen eines Bremsers? Bei Ihnen?« »Sie können ihn in New Haven anzeigen, wenn Sie das wollen. Was hat er getan?« Der Major erzählte die Geschichte. Sie schien den Schaffner zu amüsieren. Er sagte mit einer ganz kleinen Beimischung von Sarkasmus zu seinen köstlichen Worten: »Wenn ich Sie recht verstehe, so _sagte_ der Bremser nichts?« »Nein, das tat er nicht.« »Aber er sah den Herrn wütend an, sagten Sie?« »Ja.« »Und er warf in unhöflicher Weise die Tür zu?« »Ja.« »Und das ist alles, nicht wahr?« »Ja, das ist alles.« Der Schaffner lächelte freundlich und sagte: »Na, wenn Sie ihn anzeigen wollen, meinetwegen; aber ich sehe nicht recht, wohin das führen könnte. Wenn ich recht begriffen habe, so wollen Sie vorbringen, der Bremser habe den alten Herrn hier beleidigt. Man wird Sie fragen, was er _gesagt_ habe. Sie werden antworten, gesagt habe er überhaupt nichts. Dann wird man jedenfalls fragen, wie Sie von einer Beleidigung sprechen können, wenn der Mann, wie Sie selber zugeben, kein Wort gesagt hat.« Ein Beifallsgemurmel belohnte den Schaffner für seine knappen und bündigen Schlußfolgerungen. Das machte ihm Vergnügen -- man konnte es seinem Gesicht ansehen. Aber der Major war unerschüttert. Er sagte: »Ja, da haben Sie einen schreienden Uebelstand im ganzen Beschwerdewesen berührt. Die Eisenbahnbehörden -- wie übrigens auch das Publikum und allem Anschein nach Sie selber -- wissen gar nicht, daß es auch Beleidigungen gibt, die nicht in Worten bestehen. Darum wendet sich niemand an die höchste Stelle und beschwert sich wegen Beleidigungen in Manieren, Gebärden, Blicken und so weiter, und trotzdem berühren solche zuweilen empfindlicher als Worte. Sie tun bitterlich weh, weil sie unfaßbar sind und weil der Beleidiger, wenn er von seinen Vorgesetzten zur Rede gestellt wird, immer sagen kann, es sei ihm nicht im Traum eingefallen, irgend jemand beleidigen zu wollen. Mir scheint, die Behörden sollten das Publikum dringend ersuchen, auch Beleidigungen und Unhöflichkeiten, die _nicht_ in Worten ausgedrückt waren, zur Anzeige zu bringen.« Der Schaffner lachte und sagte: »Na, das hieße denn doch die Fürsorge fürs Publikum recht weit treiben!« »Aber nicht zu weit, glaube ich. Ich will diesen Fall in New Haven zur Sprache bringen, und ich habe so eine Ahnung, daß man mir dankbar dafür sein wird.« Des Kondukteurs Gesicht verlor etwas von seinem freundlichen Ausdruck, oder vielmehr es wurde vollkommen kühl und ernst, als der Mann wegging. Ich sagte: »Sie wollen doch nicht wirklich wegen so einer Lappalie Lärm schlagen?« »Es ist keine Lappalie. So etwas sollte stets angezeigt werden. Es ist eine öffentliche Angelegenheit, und kein Bürger hat das Recht, darüber hinwegzusehen. Aber ich werde mich über diesen Fall gar nicht zu beschweren brauchen.« »Wieso?« »Es wird nicht nötig sein. Diplomatie wird alles in Ordnung bringen. Sie werden schon sehen.« Nach einiger Zeit kam der Schaffner wieder durch den Wagen; als er beim Major war, beugte er sich zu ihm herüber und sagte: »’s ist alles in Ordnung. Sie brauchen den Mann nicht anzuzeigen. Er ist mir verantwortlich, und wenn er’s noch einmal tut, will ich ihm einen Rüffel geben.« Der Major antwortete herzlich: »Nun, so gefällt’s mir. Glauben Sie nicht, ich hätte aus Rachsucht so gesprochen, ich tat’s aus Pflichtgefühl, weiter nichts. Mein Schwager ist einer von den Direktoren der Bahn, und wenn er erfährt, daß Sie den Bremser das nächstemal, wenn er einen harmlosen alten Mann gröblich beleidigt, ganz gehörig vornehmen wollen, so wird ihn das freuen, darauf können Sie sich verlassen.« Der Schaffner sah nicht so heiter drein, wie man vielleicht hätte erwarten können; er machte im Gegenteil den Eindruck, als ob ihm recht unbehaglich zu Mute wäre. Er dachte eine Weile nach, dann sagte er: »Ich meine, irgend ’was sollte gleich jetzt auf der Stelle mit ihm geschehen. Ich will ihn entlassen.« »Ihn entlassen? Was sollte das für einen Zweck haben? Glauben Sie nicht, es wäre vernünftiger, ihm bessere Manieren beizubringen und ihn zu behalten?« »Hm, da liegt was drin ... Was würden Sie vorschlagen?« »Er beleidigte den alten Herrn in Gegenwart all dieser Herrschaften. Wie wär’s, wenn Sie ihn hereinkommen ließen, daß er in ihrer Gegenwart Abbitte tut?« »Ich werde ihn sofort schicken. Und ich möchte noch eins bemerken: Wenn alle Leute es so machten wie Sie und solche Sachen sofort bei mir meldeten, anstatt ihren Aerger bei sich zu behalten und nachher herumzulaufen und auf die Eisenbahnen zu schimpfen, so sollten Sie mal sehen, wie schnell sich alles ändern würde. Ich bin Ihnen sehr verbunden.« Der Bremser kam und leistete Abbitte. Als er wieder hinaus war, sagte der Major: »Sehen Sie wohl, wie einfach und leicht das war? Der gewöhnliche Bürger würde nichts ausgerichtet haben -- der Schwager eines Direktors bringt alles fertig, was er nur will.« »Aber sind Sie wirklich der Schwager von einem der Direktoren?« »Immer. Immer, wenn das öffentliche Interesse es erfordert. Ich habe einen Schwager in allen Direktionen -- überall. Das erspart mir endlose Verdrießlichkeiten.« »Es ist eine recht ausgebreitete Verwandtschaft.« »Ja; ich habe ihrer mehr als dreihundert.« »Wird die Verwandtschaft niemals von einem Schaffner angezweifelt?« »Es ist mir noch niemals vorgekommen; auf mein Ehrenwort: _niemals_!« »Warum ließen Sie ihn denn nicht, wie er’s wollte, den Bremser fortjagen? Sie wissen, daß der Mensch es verdiente.« Der Major antwortete -- und in seinem Tone lag wirklich ein an ihm ganz ungewohnter Anflug von Ungeduld: »Wenn Sie bloß mal einen Augenblick nachdenken wollten, so würden Sie eine solche Frage nicht stellen. Ist ein Bremser ein Hund, und kann man ihn nicht anders erziehen wie einen Hund? Er ist ein Mensch und hat wie ein Mensch um seinen Lebensunterhalt zu ringen. Und er hat stets eine Schwester oder eine Mutter oder Weib und Kinder zu erhalten. Immer -- Ausnahmen gibt es nicht. Wenn Sie ihm seinen Lebensunterhalt nehmen, so nehmen Sie auch den ihrigen weg -- und was haben _sie_ Ihnen getan? Nichts. Und was hat es für Zweck, einen unhöflichen Bremser fortzujagen und einen andern anzustellen, der gerade so ist wie er? Es wäre eine Unklugheit. Sehen Sie denn nicht ein, daß es das einzig Vernünftige ist, den Bremser zu _bessern_ und ihn zu behalten? Das ist doch klar.« Während der ferneren Fahrt hatten wir bloß noch ein Erlebnis. Zwischen Hartford und Springfield kam mit dem üblichen Gebrüll der Buchhandlungsjunge durch den Wagen; er hatte einen ganzen Armvoll Bücher und Zeitungen und ließ ein dickes Heft einem schlafenden Herrn in den Schoß fallen, so daß er ganz erschrocken emporfuhr. Er war sehr ärgerlich, und er sowie zwei Freunde ergingen sich in sehr hitzigen Reden über den Frevel. Sie ließen den Salonwagenschaffner kommen, trugen ihm den Fall vor und verlangten, der Junge müsse durchaus fortgejagt werden. Die drei Beschwerdeführer waren reiche Holyoker Kaufleute, und der Schaffner hatte offenbar ziemliche Angst vor ihnen. Er suchte sie zu beschwichtigen und setzte ihnen auseinander, der Junge stehe nicht unter seiner Machtbefugnis, sondern sei Angestellter der Eisenbahnbuchhandlung. Aber all sein Reden nutzte ihm nichts. Hierauf erbot sich der Major freiwillig, für den Beschuldigten zu zeugen. Er sagte: »Ich habe alles mit angesehen. Sie, meine Herren, haben nicht übertreiben _wollen_, haben es aber doch getan. Der Junge hat nichts weiter getan, als was die Bahnzugjungen alle tun. Wenn Sie wünschen, daß er anständigere Manieren annimmt und sich bessert, so bin ich mit Ihnen einverstanden und bereit, Ihnen bei diesen Bemühungen zu helfen; aber es ist nicht recht, ihn einfach wegzujagen, ohne ihm eine Möglichkeit der Besserung zu geben.« Aber sie waren ärgerlich und wollten von einem Vergleich nichts wissen. Sie wären gut bekannt mit dem Präsidenten der Boston- und Albany-Gesellschaft, sagten sie, und wollten den nächsten Tag alles andre liegen lassen, um nach Boston zu gehen und dem Jungen zu zeigen, wer sie wären. Der Major sagte, da wollte er auch dabei sein, und er würde alles tun, was in seinen Kräften stände, um den Jungen zu retten. Einer von den Herren sah ihn von oben bis unten an und sagte: »Da kommt es also offenbar darauf hinaus, wer den größten Einfluß beim Präsidenten der Gesellschaft hat. Kennen Sie Herrn Bliß persönlich?« Der Major sagte in aller Ruhe: »Ja; er ist mein Oheim.« Die Wirkung war zufriedenstellend. Ein paar Minuten lang herrschte ein peinliches Schweigen. Dann fingen sie an einzulenken und halbe Zugeständnisse zu machen, daß sie wohl etwas zu hastig und überempfindlich gewesen seien. Und bald war alles wieder friedlich und gemütlich, und es wurde beschlossen, die Sache fallen zu lassen und dem Jungen sein Brot (mit Butter) zu lassen. Der Präsident der Eisenbahngesellschaft war natürlich nicht des Majors Oheim -- nur für diesen Tag und diesen Zug adoptiert! Auf der Rückreise erlebten wir gar nichts; wahrscheinlich, weil wir mit einem Nachtzug fuhren und den ganzen Weg über schliefen. Am Samstagabend fuhren wir mit der Pennsylvaniabahn von New York ab. Nach dem Frühstück am andern Morgen gingen wir in den Salonwagen, fanden es aber dort öde und ungemütlich. Es waren nur ein paar Leute drin und nichts los. Hierauf gingen wir in den kleinen Rauchabteil des Salonwagens und fanden dort drei Herren. Zwei von ihnen schimpften über eine Vorschrift der Bahnverwaltung: daß nämlich Sonntags in den Zügen nicht Karten gespielt werden dürfte. Sie hatten ein unschuldiges Spielchen gemacht, und es war ihnen verboten worden, weiter zu spielen. Der Fall interessierte unsern Major. Er sagte zu dem dritten Herrn: »Hatten Sie etwas gegen das Spielen einzuwenden?« »Durchaus nicht. Ich bin Professor an der Yale-Universität und ein religiöser Mann, aber das geht mir zu weit.« Hierauf sagte der Major zu den beiden andern: »Sie können ganz nach freiem Belieben Ihr Spiel wieder aufnehmen, meine Herren; niemand hier hat etwas dagegen einzuwenden.« Einer von ihnen wollte es nicht riskieren; aber der andre meinte, er wolle gern wieder anfangen, wenn der Major mit ihm spiele. Sie legten also einen Ueberzieher über ihre Kniee, und das Spiel nahm seinen Fortgang. Ziemlich bald nachher kam der Salonwagenschaffner herein und sagte in scharfem Tone: »Hoho, meine Herren, das geht nicht! Stecken Sie die Karten ein -- es ist nicht erlaubt.« Der Major war gerade beim Mischen. Er mischte ruhig weiter und sagte: »Auf wessen Befehl ist es verboten?« »Das ist mein Befehl. Ich verbiete es.« Der Major fing an zu geben und fragte: »Ist die Idee von Ihnen?« »Was für ’ne Idee?« »Die Idee, das Kartenspielen an Sonntagen zu verbieten.« »Nein, natürlich nicht.« »Von wem dann?« »Von der Gesellschaft.« »Dann geht ja eigentlich der Befehl nicht von Ihnen, sondern von der Gesellschaft aus. Stimmt das?« »Ja. Aber Sie hören ja nicht auf zu spielen; ich muß Sie ersuchen, daß Sie augenblicklich aufhören.« »Uebereilung ist zu nichts gut und tut oft Schaden. Wer ermächtigte die Gesellschaft, einen solchen Befehl zu erlassen?« »Mein werter Herr, das geht mich gar nichts an, und ...« »Aber Sie vergessen, daß Sie nicht der einzige sind, der hier in Betracht kommt. Vielleicht geht es _mich_ sehr nahe an. Ja, es ist in der Tat für mich eine Sache von sehr großer Bedeutung. Ich kann eine gesetzmäßige Vorschrift meines Landes nicht verletzen, ohne mich selber zu entehren; ich kann keinen Menschen und keiner Gesellschaft erlauben, meine Freiheit mit ungesetzlichen Vorschriften einzuschränken -- was Eisenbahnverwaltungen fortwährend zu tun versuchen -- ohne meine Bürgerwürde zu entehren. Ich komme daher auf meine Frage zurück: auf welche Autorität hin hat die Verwaltung diesen Befehl erlassen?« »Das weiß ich nicht. Das ist _ihre_ Sache!« »Meine auch. Ich zweifle, ob die Gesellschaft überhaupt ein Recht hat, eine derartige Vorschrift zu erlassen. Die Bahn führt durch verschiedene Staaten. Wissen Sie, in welchem Staat wir augenblicklich sind, und wie die gesetzlichen Vorschriften dieses Staates in Bezug auf das Kartenspielen am Sonntag lauten?« »Diese gesetzlichen Vorschriften gehen mich nichts an, wohl aber die Befehle meiner Gesellschaft. Es ist meine Pflicht, dafür zu sorgen, daß dies Spielen aufhört, meine Herren, und es _muß_ aufhören!« »Kann sein; aber trotzdem brauchen wir uns nicht zu übereilen. In Gasthäusern schlagen sie gewisse Vorschriften in den Zimmern an, aber stets führen sie dabei Paragraphen aus den Staatsgesetzen an. Hier sehe ich nichts derart angeschlagen. Bitte, weisen Sie Ihre Berechtigung nach und lassen Sie uns zum Schluß kommen, denn Sie sehen selber, daß Sie das Spiel aufhalten.« »So etwas habe ich nicht, aber ich habe meine Befehle, und das genügt. Diesen Befehlen muß gehorcht werden.« »Wir wollen nicht zu hastig in unsern Folgerungen sein. Es wird besser sein, wenn wir die Sache ohne Hitze und ohne Hast untersuchen und uns erst mal ansehen, wie es steht, bevor einer von uns einen Mißgriff macht -- denn wenn die Freiheiten eines Bürgers der Vereinigten Staaten beschnitten werden, so ist das ein viel ernsteres Ding, als Sie und die Bahnverwaltungen zu ahnen scheinen, und ich für meine Person lasse es mir nicht gefallen, wenn der Betreffende mir nicht die Berechtigung seines Vorgehens nachweist. Nun ...« »Mein werter Herr, _wollen_ Sie Ihre Karten hinlegen?« »Alles zu seiner Zeit -- vielleicht. Es kommt darauf an. Sie sagen, diesem Befehl muß gehorcht werden. Muß. Das ist ein starkes Wort. Sie sehen selber, wie stark es ist. Eine vernünftige Verwaltung wird Sie -- natürlich! -- nicht mit einem so drastischen Befehl bewaffnen, ohne eine Buße auf jede Verletzung der Vorschrift zu legen. Sonst könnte es leicht ein toter Buchstabe und ein lächerlicher Befehl bleiben. Wieviel beträgt die Buße für Uebertretung dieses Gesetzes?« »Buße? Davon habe ich niemals etwas gehört.« »Unfraglich müssen Sie sich irren. Ihre Gesellschaft befiehlt Ihnen, hier hereinzukommen und in schroffer Weise eine unschuldige Unterhaltung zu verbieten, und gibt Ihnen kein Mittel an die Hand, um dem Befehl Geltung zu verschaffen? Sehen Sie nicht ein, daß das Unsinn ist? Was _tun_ Sie denn, wenn Leute sich weigern, dem Befehl zu gehorchen? Nehmen Sie Ihnen die Karten weg?« »Nein.« »Weisen Sie den Frevler auf der nächsten Haltestelle aus dem Zug?« »Na, das können wir doch natürlich nicht, wenn einer seine Fahrkarte hat!« »Verklagen Sie ihn vor Gericht?« Der Schaffner schwieg; augenscheinlich war er verwirrt. Der Major gab neue Karten und sagte: »Sie sehen selber, daß Sie hilflos sind und daß die Gesellschaft Sie in eine lächerliche Stellung gebracht hat. Man überträgt Ihnen das Amt, eine anmaßende Vorschrift durchzuführen, Sie machen das mit Lärmen und Toben, und wenn Sie näher zusehen, so finden Sie, daß Sie kein Mittel haben, sich Gehorsam zu erzwingen.« Hierauf sagte der Schaffner mit kühler Würde: »Meine Herren, Sie haben den Befehl gehört, und damit habe ich meine Schuldigkeit getan. Ob Sie dem Befehl nachkommen oder nicht, das werden Sie machen, wie’s Ihnen gutdünkt.« Damit wandte er sich zum Gehen. »Bitte, warten Sie doch noch. Die Sache ist noch nicht zu Ende. Ich glaube, Sie irren sich, wenn Sie meinen, Ihre Schuldigkeit getan zu haben; aber wenn das wirklich der Fall ist, so habe ich jetzt selber eine Schuldigkeit zu erfüllen.« »Wie meinen Sie das?« »Werden Sie meinen Ungehorsam bei der Direktion in Pittsburg zur Anzeige bringen?« »Nein. Wozu auch?« »Sie müssen mich anzeigen, oder ich werde _Sie_ anzeigen!« »Anzeigen -- weswegen?« »Wegen Ungehorsams gegen die Befehle Ihrer Gesellschaft, indem Sie nicht unserm Spiel Einhalt getan haben. Als Bürger habe ich die Pflicht, den Eisenbahngesellschaften beizustehen, daß ihre Angestellten den Dienst ordentlich versehen.« »Meinen Sie das im Ernst?« »Ja, in vollem Ernst. Ich habe nichts gegen Sie als Menschen, aber ich muß Ihnen als Beamten den Vorwurf machen, daß Sie Ihren Befehl nicht ausgeführt haben, und wenn Sie mich nicht anzeigen, muß ich Sie anzeigen. Und das werde ich auch tun.« Der Schaffner sah ganz verblüfft drein und dachte einen Augenblick nach; dann rief er: »Ich habe mich da, wie’s scheint, selber in eine nette Patsche gebracht. Das Ganze ist ja ein großer Kuddelmuddel; ich werde absolut nicht mehr klug daraus. So was ist mir noch niemals vorgekommen. Die Leute haben sich stets gefügt und nie ein Wort gesagt, daher habe ich auch gar nicht bemerkt, wie lächerlich der dumme Befehl ohne Strafbestimmungen ist. Ich wünsche niemand anzuzeigen, wünsche aber auch selber nicht angezeigt zu werden -- um Gottes willen, davon könnte ich ja endlose Scherereien haben! Bitte, spielen Sie nur ruhig weiter -- spielen Sie den ganzen Tag, wenn Sie Lust haben --, und reden wir nicht mehr davon!« »Nein, ich habe bloß diesen Platz hier eingenommen, um die Rechte dieses Herrn hier zu vertreten -- jetzt kann er selbst weiterspielen. Doch bevor Sie gehen -- wollen Sie mir nicht vielleicht sagen, weshalb nach Ihrer Meinung die Gesellschaft diese Vorschrift erlassen hat?« »Der Grund für die Vorschrift ist vollkommen klar und einfach; sie ist erlassen aus Rücksicht auf die Gefühle, ich meine die religiösen Gefühle der Mitfahrenden. Es ist vielen unter ihnen peinlich, wenn durch Kartenspielen auf den Eisenbahnen der Sonntag entheiligt wird.« »So dachte ich mir’s auch. Sie finden nichts dabei, den Sonntag durch Reisen zu entheiligen, aber sie wollen nicht dulden, daß andre Leute ...« »Wahrhaftig, Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Auf diesen Gedanken war ich noch nie gekommen. Aber es ist wirklich eine _alberne_ Vorschrift, wenn man genauer zusieht.« In diesem Augenblick kam der Zugführer herzu und wollte sehr von oben herab das Kartenspielen untersagen, aber der Schaffner nahm ihn auf die Seite, um ihm den Fall auseinanderzusetzen. Wir hörten kein Wort mehr von der Geschichte. In Chicago lag ich elf Tage lang krank zu Bett und bekam daher von der Weltausstellung keinen Schimmer zu sehen, denn ich war genötigt, nach dem Osten zurückzukehren, sobald ich wieder reisefertig war. Am Tage vor unsrer Abreise bestellte der Major eine Salonabteilung in einem Schlafwagen und bezahlte den Preis dafür. Ich hatte also einen bequemen großen Raum zur Verfügung; als wir aber auf dem Bahnhof ankamen, stellte sich’s heraus, daß aus Versehen unser Wagen nicht angehängt worden war. Der Schaffner hatte einen Abteil für uns freigehalten -- mehr könne er nicht tun, sagte er. Aber der Major sagte, wir hätten es nicht so eilig und wollten warten, bis der Wagen angehängt sei. Hierauf antwortete der Schaffner mit freundlicher Ironie: »Mag sein, daß Sie es nicht eilig haben, wie Sie soeben sagten, aber wir haben’s eilig. Bitte, einsteigen, meine Herren, einsteigen! Lassen Sie uns nicht warten!« Aber der Major wollte nicht einsteigen und ließ auch nicht zu, daß ich es tat. Er verlangte seinen Wagen und sagte, er müsse ihn haben. Dies machte den vor Geschäftigkeit schwitzenden Schaffner ungeduldig, und er rief: »Wir haben unser möglichstes getan -- Unmögliches können wir nicht fertig bringen. Sie werden diesen Abteil nehmen oder gar keinen. Es ist ein Versehen vorgekommen, und das kann nicht in diesem letzten Augenblick wieder gutgemacht werden. So etwas kommt ab und zu vor, und man kann nichts andres tun, als sich so gut wie möglich darein zu finden. Andre Leute machen’s auch so.« »Ach ja, das ist es eben! Hätten sie auf ihren Rechten bestanden, so würden Sie jetzt nicht versuchen, die meinigen so mir nichts dir nichts unter die Füße zu treten. Ich habe durchaus nicht den Wunsch, Ihnen unnötigerweise Verlegenheiten zu bereiten, aber es ist meine Pflicht, den nächsten, dem das Gleiche passieren könnte, vor derartigem zu bewahren. Ich muß also meinen Wagen haben. Sonst werde ich in Chicago warten und die Eisenbahngesellschaft wegen Verletzung des mit mir abgeschlossenen Vertrages verklagen.« »Die Gesellschaft verklagen? Wegen so einer Kleinigkeit?« »Gewiß.« »Ist das wirklich Ihre Absicht?« »Allerdings.« Der Schaffner sah den Major mit einem erstaunt prüfenden Blick an; dann sagte er: »Donnerwetter, so ’was! Das war noch nicht da -- ist mir noch niemals vorgekommen. Aber ich will darauf schwören, Sie täten’s. Hören Sie, ich will den Bahnhofsvorsteher holen.« Der Bahnhofsvorsteher war nicht wenig ärgerlich -- auf den Major, nicht auf den Mann, der das Versehen gemacht hatte. Er war ziemlich kurz angebunden und stellte sich auf den gleichen Standpunkt wie anfangs der Schaffner; aber das rührte den Artilleristen durchaus nicht; er bestand mit seiner freundlichen Ruhe darauf, er müsse seinen Wagen haben. Offenbar lag in diesem Fall der ganze Vorteil des Rechts nur auf der einen Seite, und zwar auf der des Majors. Der Stationsvorsteher gab sein ärgerliches Wesen auf und wurde höflich; er bat sogar halb und halb um Entschuldigung. Dies war eine gute Eröffnung von Vergleichshandlungen, und der Major gab nun auch etwas nach. Er sagte, er wolle auf die _bestellte_ und bezahlte Salonabteilung verzichten, aber eine Salonabteilung müsse er haben. Nach einigem Suchen wurde eine gefunden, deren Inhaber sich überreden ließ; er vertauschte sie mit unserm Sonderabteil, und wir fuhren endlich ab. Am Abend besuchte der Schaffner uns und war freundlich und höflich und zuvorkommend. Wir hatten ein langes Gespräch miteinander und wurden schließlich gut Freund. Er sagte, er wünsche, das Publikum beschwerte sich öfter -- das würde von guter Wirkung sein. Man könnte nicht erwarten, daß die Bahnverwaltungen den Reisenden gegenüber ihre Schuldigkeit täten, solange nicht die Reisenden sich selber darum bekümmerten. Ich hoffte, wir hätten jetzt auf unsrer Reise genug reformiert, aber dem war nicht so. Am andern Morgen bestellte der Major, als wir im Speisewagen saßen, ein gebratenes Huhn. Der Kellner sagte: »Es steht nicht auf der Speisekarte, Herr; wir servieren nichts, was nicht auf der Karte steht.« »Der Herr da drüben ißt Huhn.« »Ja, das ist aber ’was andres. Er ist Betriebsdirektor bei der Gesellschaft.« »Dann muß ich erst recht gebratenes Huhn haben. Solche Unterscheidung liebe ich nicht. Bitte, schnell -- bringen Sie mir ein gebratenes Huhn!« Der Kellner kam mit dem Steward, und dieser setzte leise und höflich dem Major auseinander, es ließe sich unmöglich machen -- es wäre gegen die Vorschrift, und die Vorschrift laute auf das strengste. »Sehr wohl; dann müssen Sie sie entweder unparteiisch anwenden oder sie unparteiisch brechen. Sie müssen dem Herrn sein Huhn wegnehmen oder mir auch eins bringen.« Der Steward wußte nicht, was er machen sollte. Er begann eine unzusammenhängende Erklärung vom Stapel zu lassen, und in diesem Augenblick kam der Schaffner vorbei und fragte, wo’s fehle. Der Steward setzte ihm auseinander, da wäre ein Herr, der durchaus ein Huhn haben wollte, obwohl das doch gegen die Vorschrift wäre und jenes Gericht nicht auf der Speisekarte stände. Der Schaffner sagte: »Halten Sie sich an Ihre Vorschrift -- eine andre Wahl gibt’s nicht für Sie. Aber warten Sie mal ’nen Augenblick -- ist das der Herr?« Dann lachte er und fuhr fort: »Lassen Sie lieber Ihre Vorschriften ... ich rate Ihnen -- und ich weiß warum --, geben Sie ihm alles, was er verlangt, und wenn Sie’s nicht haben, so lassen Sie den Zug halten und besorgen Sie’s.« Der Major aß das Huhn, aber er sagte mir, er täte es nur aus Pflichtgefühl und des Prinzips wegen, denn eigentlich möge er Huhn gar nicht. Ich verfehlte allerdings die Weltausstellung, aber ich lernte dafür ein paar diplomatische Kunstgriffe kennen, die sich mir und dem Leser vielleicht im Laufe der Zeit als bequem und praktisch erweisen werden. Meine Tätigkeit als Reisemarschall. Es begab sich, daß wir von Aix-les-Bains nach Genf fahren mußten und von dort in einer Reihe von tagelangen und höchst verzwickten Eisenbahnreisen nach Bayreuth in Bayern. Natürlich hätte ich einen Reisemarschall annehmen sollen, der für eine so zahlreiche Gesellschaft wie meine Familie nach dem Rechten sehen konnte. Aber ich schob es auf die lange Bank. Die Zeit huschte dahin, und als ich eines Morgens aufwachte, kam mir die Tatsache zum Bewußtsein, daß wir abfahren sollten und keinen Reisemarschall hatten. Da faßte ich einen Entschluß; er war, das fühlte ich, wahnwitzig kühn, aber ich war gerade in der richtigen Stimmung dazu. Ich sagte, ich wollte für den ersten Teil der Fahrt ohne jede Hilfe allein die Führung übernehmen. Ich tat es. Ich brachte die Gesellschaft -- vier Personen -- höchstselber von Aix nach Genf. Die Entfernung betrug reichlich zwei Stunden; unterwegs war einmal Wagenwechsel. Es ereignete sich nicht das geringste Mißgeschick; allerdings ließ ich eine Reisetasche und einige andre Sachen auf dem Bahnsteig stehen -- aber das kann man doch kaum ein Mißgeschick nennen, so etwas kommt ja jeden Tag vor. Ich erbot mich daher, für den ganzen Weg bis Bayreuth die Führung der Gesellschaft zu übernehmen. Das war ein böser Fehler, wenngleich es mir damals nicht so vorkam. Zur Aufgabe gehörten nämlich mehr Unteraufgaben, als ich vermutete. Erstens: zwei Personen, die wir ein paar Wochen vorher in einer Genfer Pension zurückgelassen hatten, mußten abgeholt und nach dem Hotel gebracht werden. Zweitens: ich mußte in dem Geschäft am Grand Quai, wo man die Aufbewahrung von Koffern besorgt, Bescheid sagen, daß sieben von unseren aufbewahrten Koffern nach dem Hotel gebracht und dafür sieben andre, die die Leute in der Vorhalle aufgestapelt finden würden, wieder abgeholt werden sollten. Drittens: ich mußte ausfindig machen, in welchem Teil von Europa Bayreuth liegt, und sieben Eisenbahnkarten nach diesem Punkt käuflich erwerben. Viertens: ich mußte ein Telegramm an einen Freund in Holland abschicken. Fünftens: es war jetzt zwei Uhr nachmittags und wir mußten scharf aufpassen, um rechtzeitig zum ersten Nachtzug zu kommen und die Schlafwagenplätze zu besorgen. Sechstens: ich mußte auf der Bank Geld erheben. Die Schlafwagenplatzkarten waren, so schien es mir, das Allerwichtigste; um sicher zu gehen, begab ich mich daher selber nach dem Bahnhof; Gasthofbedienstete sind nicht immer allzu schlau. Es war ein heißer Tag, und ich hätte fahren sollen; es schien mir aber sparsamer, zu Fuß zu gehen. Das war indessen, wie sich’s herausstellte, ein Irrtum von mir, denn ich verlief mich und brachte dadurch die Entfernung auf das Dreifache. Ich verlangte die Fahrkarten, und man fragte mich, auf welchem Wege ich zu reisen wünschte. Das brachte mich in Verlegenheit und um meine Besinnung, denn es standen so viele Leute um mich herum, und ich hatte keine Ahnung von den Reisewegen und dachte nicht, es könnte zwei verschiedene geben; ich hielt es daher für das beste, erst wieder ins Hotel zu gehen, den Weg auf der Landkarte auszusuchen und dann wieder zu kommen. Diesmal nahm ich eine Droschke, aber als ich im Hotel die Treppen hinaufstieg, fiel mir ein, daß meine Zigarren alle waren; ich dachte daher, es wäre gut, mir gleich welche zu besorgen, ehe ich’s wieder vergäße. Es war gleich um die Ecke, und ich brauchte dazu die Droschke nicht, sagte daher dem Kutscher, er solle warten. Unterwegs dachte ich an das Telegramm und versuchte den Wortlaut desselben in meinem Kopfe zu entwerfen; darüber vergaß ich Zigarren und Droschke und ging weiter und immer weiter. Ich kehrte um nach dem Hotel, um von einem der Angestellten das Telegramm besorgen zu lassen. Da ich aber inzwischen ziemlich in die Nähe des Telegraphenamts gekommen sein mußte, so dachte ich, ich wollte es selber tun. Aber es war weiter, als ich vermutet hatte. Schließlich fand ich das Gebäude, schrieb die Depesche und reichte sie durch den Schalter. Der Telegraphenbeamte war ein streng aussehender aufgeregter Mensch; er begann mit einer solchen Zungengeläufigkeit französische Fragen auf mich loszufeuern, daß ich nicht entdecken konnte, wo das eine Wort aufhörte und das andre anfing -- und dadurch verlor ich abermals den Kopf. Zum Glück legte sich ein Engländer ins Mittel und sagte mir, der Beamte wünschte zu wissen, wohin er das Telegramm schicken sollte. Das konnte ich ihm nicht sagen, weil es nicht _mein_ Telegramm war, und ich setzte ihm auseinander, daß ich es bloß für ein andres Mitglied meiner Reisegesellschaft besorgte. Aber nichts konnte die Schreiberseele beruhigen: er mußte durchaus die Adresse haben! Ich sagte ihm daher, wenn er so heikel wäre, so wollte ich nach Hause gehen und sie besorgen. Es fiel mir indessen ein, ich wollte lieber erst gehen und die beiden fehlenden Personen abholen, denn es sei doch am besten alles systematisch und der Ordnung gemäß zu besorgen, und jedes Ding zu seiner Zeit. Dann fiel mir die Droschke ein, die mich da hinten vor dem Hotel mein schweres Geld kostete; ich rief daher eine andre Droschke an und sagte dem Mann, er solle seinen Kollegen nach dem Postamt kommen lassen, und da könnten sie warten, bis ich selber käme. Es kostete mich einen langen heißen Marsch, bis ich zu den abzuholenden Leuten kam; und als ich ankam, sagten sie mir, sie könnten nicht mit, weil sie schwere Reisetaschen hätten und eine Droschke haben müßten. Ich ging weg, um eine zu suchen; bevor mir aber eine in die Quere kam, bemerkte ich, daß ich in der Nachbarschaft des Grand Quai war -- oder wenigstens kam es mir so vor -- mir däuchte daher, ich könnte Zeit sparen, indem ich schnell um die Ecke ginge und die Sache mit den Koffern in Ordnung brächte. Ich ging ungefähr eine Meile weit schnell um die Ecke und fand zwar nicht den Grand Quai, wohl aber einen Zigarrenladen. Da fielen mir denn die Zigarren ein. Ich sagte, ich reiste nach Bayreuth und wünschte soviele Zigarren, wie ich unterwegs brauchte. Der Mann fragte mich, welchen Weg ich führe. Ich antwortete, das wüßte ich nicht. Er sagte, er könnte mir empfehlen, über Zürich und verschiedene andre Orte, die er mir nannte, zu reisen, und bot mir sieben direkte Fahrkarten zweiter Klasse zu 110 Francs das Stück an; ich sparte dabei den Rabatt, den die Eisenbahnverwaltungen ihm gewährten. Ich hatte es bereits satt bekommen, mit Fahrkarten erster Klasse stets zweiter Klasse zu reisen; deshalb nahm ich ihm seine ab. Mit der Zeit fand ich auch das Speditionsgeschäft von Natürlich & Cie.; ich sagte ihnen, sie sollten sieben von unsren Koffern nach dem Hotel schicken und dort in der Vorhalle aufstapeln. Es kam mir so vor, als ob ich nicht alles bestellte, was ich eigentlich sagen sollte; es war aber alles, was ich in meinem Kopf finden konnte. Hierauf fand ich die Bank und bat um etwas Geld; aber ich hatte meinen Kreditbrief irgendwo liegen lassen und konnte daher nichts bekommen. Nun fiel mir ein, daß ich ihn jedenfalls auf dem Tisch hatte liegen lassen, an welchem ich das Telegramm geschrieben hatte. Ich nahm also eine Droschke, fuhr nach dem Postgebäude und ging nach dem ersten Stock hinauf. Sie sagten mir, der Kreditbrief sei wirklich auf dem Tisch liegen geblieben, er befinde sich aber jetzt in den Händen der Polizeibehörde, und ich müsse mich zu dieser hinbegeben und meine Eigentumsrechte nachweisen. Sie gaben mir einen Jungen mit, und wir gingen zu einer Hintertür hinaus und wanderten ein paar Meilen und gelangten zu dem Polizeigebäude. Dann fielen mir meine Droschken ein, und ich bat den Jungen, er möchte sie mir zuschicken, wenn er wieder nach dem Postamt zurückkäme. Inzwischen war es Nacht geworden, und der Bürgermeister war zum Essen gegangen. Ich dachte, ich könnte ebenfalls zum Essen gehen, aber der diensthabende Beamte dachte anders darüber, und so blieb ich. Um halb elf sprach der Bürgermeister auf dem Bureau vor, sagte aber, es sei jetzt zu spät, um am Abend noch irgend etwas zu erledigen. »Kommen Sie morgen früh um halb zehn!« Der Beamte wünschte mich die ganze Nacht dazubehalten und sagte, ich wäre eine verdächtige Person; wahrscheinlich gehöre der Kreditbrief mir überhaupt nicht, und ich wüßte gar nicht mal, was ein Kreditbrief ist, sondern hätte nur gesehen, wie der wirkliche Eigentümer ihn auf dem Tisch hätte liegen lassen, und wollte ihn mir daher aneignen, weil ich wahrscheinlich ein Mensch wäre, der sich überhaupt alles aneignete, was er kriegen könnte, ob es Wert hätte oder nicht. Aber der Bürgermeister sagte, er sähe nichts Verdächtiges an mir, ich scheine ein harmloser Mensch zu sein, dem weiter nichts fehlte, als daß er das bißchen Verstand, das er überhaupt besäße, augenblicklich gerade nicht bei sich hätte. Ich dankte ihm für seine gute Meinung, er ließ mich frei, und ich fuhr in meinen drei Droschken nach Hause. Da ich hundsmüde und nicht in der Verfassung war, auf Fragen genaue Antworten zu geben, so dachte ich, ich wollte die Expedition bei nachtschlafender Zeit nicht mehr stören. Ich wußte, es war am anderen Ende des Flurs ein leeres Zimmer vorhanden; aber ich kam nicht ganz bis dorthin, denn es war ein Wachtposten ausgestellt gewesen. Die Expedition hatte nämlich den dringenden Wunsch, mich zu sehen. Die Expedition saß steif und unnahbar auf vier Stühlen in einer Reihe, Tücher und Mäntel und alles andere angezogen, Reisetaschen und Reisehandbücher auf dem Schoß. So hatten sie vier volle Stunden schon gesessen, und während dieser ganzen Zeit war das Barometer fortwährend gefallen. Ja, und sie warteten -- warteten auf mich. Mir schien, bloß ein plötzlich glücklich ausgedachter und glänzend ausgeführter ~tour de force~ könnte diese eiserne Schlachtlinie durchbrechen und eine Wendung zu meinen Gunsten herbeiführen. Ich trundelte daher meinen Hut in die Arena, folgte selber mit einem Hupf und Hops und rief munter: »Haha! Siehstewohl, da kommt er schon!« Nichts konnte eindrucksvoller oder stiller sein als der nun folgende gänzlich unhörbare Beifall. Aber ich blieb bei meiner Taktik, obgleich meine vorher bereits recht kümmerliche Zuversicht einen tödlichen Stoß bekommen hatte und tatsächlich bereits völlig geschwunden war. Ich versuchte, trotz meinem schweren Herzen, den Lustigen zu spielen; ich versuchte die andren Herzen da vor mir zu rühren und den bitterbösen Groll in ihren Gesichtern zu besänftigen, indem ich fröhliche leichte Scherze hervorsprudelte und die ganze Trauergeschichte als einen humorvollen Vorfall darstellte; aber dieser Gedanke fand keine gute Aufnahme. Es war nicht die richtige Atmosphäre dafür. Ich erntete kein einziges Lächeln; keine Linie in diesen beleidigt aussehenden Gesichtern löste sich; den Winter, der mir aus diesen frostigen Augen entgegenblickte, vermochte ich nicht aufzutauen. Noch einmal machte ich krampfhaft einen schwachen Versuch, aber das Haupt der Expedition fiel mir -- plumps! -- ins Wort und fragte schneidend: »Wo bist du gewesen?« Ich merkte an der Wahl der Worte und an ihrer Betonung, daß die Absicht obwaltete, sich auf einen kalten, geschäftlichen Standpunkt zu stellen. Ich begann also von meinen Fahrten zu erzählen, wurde aber wiederum schroff unterbrochen: »Wo sind die beiden anderen? Wir haben eine fürchterliche Angst um sie ausgestanden.« »O, die sind wohl und munter. Ich sollte ihnen eine Droschke besorgen. Ich will mich auch nun flugs auf den Weg machen und ...« »Setz dich! Weißt du denn gar nicht, daß es elf Uhr ist? Wo hast du sie gelassen?« »In ihrer Pension.« »Warum brachtest du sie nicht mit her?« »Weil wir die Reisetaschen nicht tragen konnten. Darum dachte ich ...« »Dachte! Du solltest nicht versuchen, zu denken. Man kann nicht denken, wenn man nicht den nötigen Mechanismus dazu hat. Es sind zwei Meilen bis zu der Pension. Gingst du denn ohne Droschke dorthin?« »Ich ..., nun ja, ich wollte es eigentlich nicht, es kam nur ganz zufällig so.« »Wieso kam es denn zufällig?« »Weil ich auf der Post war, und da fiel mir ein, daß ich eine Droschke hier vor dem Hotel hatte warten lassen, und so, um die Ausgabe zu sparen, schickte ich eine andre Droschke, um ... um ...« »Um ...?« »Ach du liebe Zeit, ich kann mich jetzt nicht so schnell darauf besinnen; aber ich glaube, der neue Droschkenkutscher sollte im Hotel Bescheid sagen, daß sie den alten Droschkenkutscher ablohnten und wegschickten.« »Was sollte das für einen Zweck haben?« »Was es für einen Zweck haben sollte? Dadurch hätte doch die Ausgabe für die Droschke aufgehört, nicht wahr?« »Indem die neue Droschke an Stelle der alten wartete, und so die Ausgabe fortdauerte?« Hierauf sagte ich nichts. »Warum ließest du denn nicht die zweite Droschke zurückkommen, um dich abzuholen?« »Ach so, das tat ich ja auch! Jetzt fällt mir’s ein. Jawohl, das tat ich. Ich erinnere mich nämlich, daß, als ich ...« »Nun, warum kam sie denn nicht zurück und holte dich ab?« »Nach dem Postamt? Aber das tat sie ja!« »Sehr schön. Wie kamst du denn darauf, zu Fuß nach der Pension zu gehen?« »Ich -- ich weiß nicht mehr so recht, wie das eigentlich zuging. O ja -- jetzt hab’ ich’s! Richtig! Ich schrieb die Depesche, die nach Holland geschickt werden sollte, und ...« »O, Dank dem Himmel! Da hast du doch wenigstens etwas fertig gebracht. Ich hätte dir auch nicht raten mögen, die Absendung zu verbummeln -- aber warum siehst du denn so sonderbar nach der Seite? Du versuchst, bei meinem Auge vorbeizublicken. Die Depesche ist das Allerwichtigste auf der ... Du hast die Depesche nicht abgeschickt!!« »Ich habe nicht gesagt, daß ich sie nicht abschickte.« »Das brauchst du auch nicht erst zu sagen. Ach Herrje, es ärgert mich mehr als alles auf der Welt, daß gerade dies Telegramm nicht abgegangen ist. Warum schicktest du es nicht ab?« »Hm, weißt du, wenn man so viel Verschiedenes zu tun und im Kopfe zu behalten hat ..., sie nehmen es da so fürchterlich genau, und nachdem ich das Telegramm geschrieben hatte ...« »Ach, lass’ es nur, schweigen wir davon. Langes Reden kann es jetzt auch nicht mehr gut machen. Was soll er aber bloß von uns denken?« »O, das ist ja ganz einfach, ganz furchtbar einfach. Er wird denken, wir hätten das Telegramm den Hotelleuten zur Besorgung übergeben, und sie ...« »Nun, natürlich. Und warum gabst du’s ihnen denn nicht? Das war ja doch das einzige Vernünftige.« »Ja, das weiß ich wohl; aber dann fiel mir ein, ich müßte der Sicherheit wegen auf die Bank gehen und etwas Geld erheben.« »Nun, das lass’ ich mir denn doch gefallen, daß du wenigstens daran gedacht hast. Ich will dir auch nicht zu nahe treten, aber du mußt selber zugeben, daß du uns allen viele Aufregungen verursacht hast und daß einige von diesen nicht nötig gewesen wären. Wieviel hast du dir geben lassen?« »Hm, ich ... ich habe mir gedacht, daß ...« »Daß was?« »Daß ... hm mir scheint, daß unter den obwaltenden Verhältnissen ... und da wir so viele, weißt du ... und ... und ...« »Was brummelst du denn da in den Bart? Dreh’ dein Gesicht herum und laß mich ... wahrhaftig, du hast überhaupt kein Geld erhoben!« »Ja, der Bankier sagte ...« »Einerlei, was der Bankier sagte. Du mußt einen ganz besonderen Grund dafür gehabt haben. Oder eigentlich keinen Grund im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern etwas, was ...« »Nun denn, kurz und gut, die einfache Tatsache war die, daß ich meinen Kreditbrief nicht bei mir hatte.« »Deinen Kreditbrief nicht bei dir?!« »Meinen Kreditbrief nicht bei mir.« »Plappere mir nicht so meine Worte nach! Wo war er?« »Im Postgebäude.« »Was sollte er denn da?« »Ach Gott, ich habe ihn da vergessen und auf dem Tisch liegen lassen.« »Auf mein Wort, ich habe schon recht viele Reisemarschälle gesehen; aber von allen Reisemarschällen, die ich jemals ...« »Ich habe mein Bestes getan!« »Nun ja, das hast du, armer Kerl, und es ist unrecht von mir, daß ich dich so ausschelte. Du hast dich ja todmüde gelaufen, während wir hier saßen und bloß an unsre Verdrießlichkeiten dachten, anstatt dir dankbar zu sein für alles, was du für uns zu tun versucht hast. Es wird schon alles zurechtkommen. Wir können ebensogut morgen früh mit dem Halb-Acht-Zug fahren. Hast du die Fahrkarten gekauft?« »Jawohl -- und sogar recht billig; 2. Klasse.« »Das freut mich. Alle Welt reist jetzt zweiter Klasse, und wir können die große Extraausgabe ganz gut sparen. Wieviel bezahltest du?« »Hundertzehn Francs für das Stück -- direkt bis Bayreuth.« »So? Das wußte ich nicht, daß man direkte Fahrkarten kaufen könnte. Ich dachte, das könnte man nur in London und in Paris.« »Manche Leute können’s vielleicht nicht -- aber manche können’s; und zu den letzteren gehöre ich, wie es scheint.« »Der Preis kommt mir ziemlich hoch vor.« »Im Gegenteil, der Händler ließ mir seine Kommissionsgebühr ab!« »Händler?!« »Ja -- ich kaufte sie in einem Zigarrenladen.« »Da fällt mir was ein. Wir werden ziemlich früh aufstehen müssen, und deshalb wäre es gut, wenn wir nichts zu packen hätten. Dein Regenschirm, deine Gummischuhe, deine Zigarren ..., was ist denn los?« »Himmeldonnerwetter! Ich habe die Zigarren in der Bank liegen lassen.« »Das sieht dir ganz ähnlich. Na, und dein Regenschirm?« »Das will ich schon in Ordnung bringen. Die Sache hat ja keine Eile.« »Was soll das heißen?« »O, ’s ist schon recht. Ich will dafür sorgen, daß ...« »Wo ist der Regenschirm?« »’s ist ja bloß ein Katzensprung; ich brauche ja keine fünf Mi ...« »Wo ist er?« »Aeh ..., ich glaube, ich habe ihn im Zigarrenladen stehen lassen; aber auf jeden Fall ...« »Nimm deine Füße da zwischen den Stuhlbeinen heraus! Das ist also genau so, wie ich’s mir gedacht hatte. Wo sind deine Gummischuhe?« »Die ... äh ...« »Wo sind deine Gummischuhe?« »Es ist ja so trocken ..., sie sagen ja alle, es sei kein Tropfen Regen mehr zu erw ...« »Wo -- sind -- deine -- Gummischuhe?!« »Sieh ’mal -- die Sache kam so. Zuerst sagte der Beamte ...« »Was für ein Beamter?« »Der Polizeibeamte; aber der Bürgermeister ...« »Was für ’n Bürgermeister?« »Bürgermeister von Genf; aber ich sagte ...« »Warte ’mal! Was ist mit dir los?« »Mit wem? Mit mir? Nichts. Sie wollten mich beide überreden, ich sollte dableiben, und ...« »Dableiben? Wo?« »Die Sache ist nämlich ...« »Wo bist du gewesen? Was hast du bis halb elf in der Nacht draußen zu tun gehabt?« »Sieh ’mal, liebes Kind, als ich meinen Kreditbrief verloren hatte, da ...« »Du gehst mir wie die Katze um den heißen Brei herum. Nun antworte mir kurz und bündig auf meine Frage! Wo sind die Gummischuhe?« »Sie ..., nun ja denn, sie sind im Kantonsgefängnis.« Ich zauberte ein versöhnungheischendes Lächeln auf meine Lippen, aber es erstarrte zu Eis. Das Klima war nicht danach. Ein drei- oder vierstündiger Aufenthalt im Kantonsgefängnis schien der Expedition nicht sehr humoristisch vorzukommen. Mir eigentlich auch nicht. Ich mußte nun die ganze Geschichte lang und breit auseinandersetzen, und natürlich stellte sich’s heraus, daß wir den Frühzug nicht benützen konnten, weil ich dann meinen Kreditbrief nicht herausbekommen hätte. Es sah so aus, als ob wir in Aerger und Hader zu Bett gehen würden, aber dazu kam es zum guten Glück doch nicht. Zufällig kam die Rede auf die Koffer, und ich war in der Lage, zu sagen, ich hätte diese Angelegenheit besorgt. »Wirklich? Nun, dann bist du so gut und aufmerksam und eifrig und intelligent gewesen, wie’s in deinen Kräften steht, und es ist nicht recht, so viel an dir herumzunörgeln. Und nun soll auch kein Wort mehr darüber gesagt werden. Du hast dich wirklich schön, bewunderungswürdig benommen, und es tut mir leid, daß ich dir überhaupt ein unfreundliches Wort sagte.« Diese Lobsprüche trafen mich tiefer als alle Scheltworte, und mir wurde unbehaglich dabei zu Mute, weil ich mich nicht so ganz sicher fühlte, daß ich das Koffergeschäft wirklich richtig besorgt hätte. Es schien mir irgend etwas dabei nicht ganz in Ordnung zu sein, obgleich ich nicht genau wußte, was es eigentlich war; aber ich verspürte keine Neigung, gerade in diesem Augenblick die Sache aufzurühren, denn es war schon spät, und ich dachte bei mir selber: O rühret, rühret nicht daran! Natürlich gab es am Morgen Musik, als sich’s herausstellte, daß wir nicht mit dem Frühzug reisen konnten. Aber ich hatte keine Zeit zu warten; ich genoß nur die ersten Takte der Ouvertüre und machte mich dann sofort auf den Weg, um meinen Kreditbrief wiederzubekommen. Es schien mir an der Zeit, zunächst mich mal um die Kofferangelegenheit zu bekümmern und sie ins rechte Geleise zu bringen, falls da etwas schief gegangen wäre, denn ich hatte einen unbestimmten Verdacht, das könnte wohl der Fall sein. Es war zu spät. Der Hausknecht sagte, er habe die Koffer am Abend vorher nach Zürich aufgegeben. Ich fragte ihn, wie er das hätte tun können, ohne unsre Fahrkarten vorzuzeigen. »Ist in der Schweiz nicht nötig. Man bezahlt für die Koffer und schickt sie, wohin es einem gefällt. Frei geht bloß das Handgepäck.« »Wieviel bezahlten Sie dafür?« »140 Francs.« »28 Dollars! Mit diesen Koffern ist ganz bestimmt irgend was nicht in Ordnung.« Dann begegnete ich dem Portier. Er sagte: »Sie haben nicht gut geschlafen, nicht wahr? Sie sehen abgespannt aus. Wenn Sie vielleicht gern einen Reisemarschall hätten -- ein guter ist gestern abend angekommen und ist für fünf Tage frei. Er heißt Lüdy. Wir empfehlen ihn, das heißt: das Grand-Hotel Beau-Rivage empfiehlt ihn.« Ich lehnte kalt ab. Mein Geist war noch nicht gebrochen. Und es gefiel mir nicht, daß man mit mir in solcher Art und Weise von meinem Reisemarschallsamt sprach. Gegen neun Uhr war ich im Kantonsgefängnis in der Hoffnung, der Bürgermeister möchte viel früher als zu seiner Dienststunde aufs Bureau kommen. Das tat er aber nicht. Es war langweilig dort. Jedesmal wenn ich etwas anfassen oder ansehen oder tun oder nicht tun wollte, sagte der Polizist es wäre ›~défendu~‹. Ich dachte, ich könnte mich bei ihm ein bißchen im Französischen üben, aber auch davon wollte er nichts wissen. Es schien ihn ganz besonders ärgerlich zu machen, wenn er seine Muttersprache hörte. Endlich kam der Bürgermeister, und dann ging alles glatt, denn er hatte die Minute vorher den Höchsten Gerichtshof zusammenberufen -- das tun sie immer, wenn es sich um Streitfragen über wertvolles Eigentum handelt. Alles ging nach guter Ordnung vor sich, Schildwachen wurden ausgestellt, und der Kaplan sprach ein Gebet. Mein unversiegelter Brief wurde hereingebracht und geöffnet -- und es war nichts weiter darin als ein paar Photographien. Ich hatte nämlich, wie mir nun einfiel, den Kreditbrief herausgenommen, um die Bilder hineinstecken zu können, und hatte den Brief in einer anderen Tasche verwahrt, wie ich zu allgemeiner Zufriedenheit nachwies, indem ich ihn herausnahm und mit nicht geringem freudigem Stolz herumzeigte. Die Herren vom Gerichtshof sahen mit einem eigentümlich nichtssagenden Ausdruck erst einander und dann mich an. Zuguterletzt ließen sie mich gehen, sagten aber, es sei unvorsichtig, mich frei herumlaufen zu lassen, auch fragten sie mich, welchen Beruf ich hätte. Ich sagte, ich sei Reisemarschall. Sie hoben in einer Art von staunender Ehrfurcht ihre Augen zum Himmel und sagten auf deutsch: »Du lieber Gott!« und ich sprach einige höfliche Worte des Dankes für ihre augenscheinliche Bewunderung und rannte spornstreichs nach der Bank. Da ich aber nun einmal Reisemarschall war, so fühlte ich mich auch bereits als großen Herold der Grundsätze: Ordnung! System! Jedes Ding zu seiner Zeit! Jedes Ding an seinem Ort! Ich ging daher am Bankgebäude vorüber, bog in eine Nebenstraße ein und begab mich auf den Weg, um die beiden fehlenden Mitglieder der Expedition abzuholen. Eine Droschke wankte an mir vorüber, und ich ließ mich überreden, sie zu nehmen. An Schnelligkeit gewann ich dadurch nichts, aber es war eine ruhevolle Abwechslung, und ich liebe recht viele Ruhe. Der wochenlange Jubellärm wegen des sechshundertsten Geburtstages der schweizerischen Freiheit und der Begründung der Eidgenossenschaft war auf seinem Höhepunkt, und alle Straßen waren mit wehenden Fahnen behangen. Pferd und Kutscher waren drei Tage lang betrunken gewesen und hatten während dieser ganzen Zeit weder Stall noch Bett gesehen. Sie sahen aus wie ich mich fühlte: schläfrig und katzenjämmerlich. Aber im Laufe der Zeit kamen wir trotzdem an. Ich ging ins Haus und klingelte, und bat ein Dienstmädchen, sie möchte den fehlenden Mitgliedern sagen, daß sie schnell herauskommen sollten. Sie sagte darauf etwas, was ich nicht verstand, und ich kehrte zu meiner Karre zurück. Wahrscheinlich hatte das Mädchen mir gesagt, die Leute wohnten nicht in ihrem Stockwerk, und es würde ratsam sein, wenn ich höher ginge und von Stockwerk zu Stockwerk läutete, bis ich sie fände; denn in diesen schweizerischen Mietskasernen scheint man jemanden nur dadurch finden zu können, daß man geduldig ist und auf dem Wege von unten nach oben die richtige Wohnung zu erraten trachtet. Ich rechnete mir aus, daß ich fünfzehn Minuten würde warten müssen, da bei derartigen Gelegenheiten stets drei unvermeidliche Umstände vorhanden sind; erstens: die Hüte aufsetzen, herunterkommen, einsteigen; zweitens: Umkehren des einen Mitglieds: »um meinen anderen Handschuh zu holen«; drittens: Umkehren des anderen Mitglieds: »um meinen ›kleinen Franzosen in der Westentasche‹ zu holen.« Ich beschloß, diese fünfzehn Minuten hindurch mich mit meinen Gedanken zu beschäftigen und mich nicht zu ärgern. Es folgte eine recht stille und ereignislose Pause; dann fühlte ich eine Hand auf meiner Schulter und fuhr in die Höhe. Der Störenfried war ein Polizist. Ich sah um mich und bemerkte, daß der äußere Anblick der Szenerie sich geändert hatte. Es war eine recht stattliche Menschenmenge versammelt, und die Leute sahen so vergnügt und neugierig drein, wie sie’s immer tun, wenn irgendwo irgendwer zu Schaden gekommen ist. Das Pferd war eingeschlafen, der Kutscher auch, und einige Jungen hatten sie und mich von oben bis unten mit bunten Zieraten behangen, die sie von den unzähligen Fahnenmasten gestohlen hatten. Es war ein empörender Anblick! Der Beamte sagte: »Es tut mir leid, aber wir können Sie nicht den ganzen Tag hier schlafen lassen.« Ich war verletzt und sagte voll Würde: »Ich bitte recht sehr -- ich schlief nicht; ich dachte!« »Nun Sie können ja denken, wenn es Ihnen Spaß macht; aber dann müssen Sie bei sich selber denken, Sie stören ja die ganze Nachbarschaft.« Es war ein armseliger Witz, aber die Menge lachte darüber. Ich schnarche zuweilen nachts, aber es ist unwahrscheinlich, daß ich bei Tage und auf offener Straße so etwas tun sollte! Der Beamte nahm uns die Zieraten ab; unsre Hilflosigkeit schien ihm leid zu tun, und er gab sich wirklich Mühe, anständig zu sein. Er sagte aber, wir dürften nicht länger mehr auf der Straße halten, sonst müßte er uns in Buße nehmen -- so laute die Bestimmung, sagte er. Und weiter bemerkte er in höflicher Weise, ich sähe ein bißchen angegriffen aus, und er möchte gern wissen ... Ich sah ihn recht hochnasig von oben bis unten an und sagte, ich wollte doch hoffen, man dürfte solche Tage ein bißchen feiern, besonders wenn sie einen ganz persönlich angingen. »Persönlich?« fragte er. »Wieso?« »Weil vor sechshundert Jahren einer meiner Vorfahren den Bundesvertrag mit unterzeichnete.« Er dachte einen Augenblick nach, sah mich dann prüfend an und sagte: »Vorfahre! Ich bin der Meinung, Sie haben ihn selber unterzeichnet. Denn von allen alten historischen Gedenkstücken, die ich jemals ... aber lassen wir das ... Worauf warten Sie hier so lange?« Ich sagte: »Ich warte überhaupt gar nicht so lange hier. Ich warte fünfzehn Minuten, bis sie einen Handschuh und ein Buch vergessen haben und wieder umkehren, um sich die Dinger zu holen.« Hierauf sagte ich ihm, wer die Leute wären, die ich abholen wollte. Er war sehr gefällig und begann Fragen zu den Köpfen und Schultern hinaufzurufen, die reihenweise aus allen Fenstern über uns heraussahen. Eine Frau rief von ganz oben herunter: »Die? Für die habe ich ja eine Droschke geholt, und sie sind schon vor langer Zeit von hier abgefahren -- so ungefähr um halb neun!« Das war verdrießlich. Ich warf einen Blick auf meine Uhr, sagte aber nichts. Der Beamte aber bemerkte: »Wie Sie sehen, ist es dreiviertel zwölf. Sie hätten sich besser erkundigen sollen. Sie haben hier dreiviertel Stunden lang geschlafen -- und in was für einer Sonnenglut! Sie sind gebraten -- braun gebraten. Es ist großartig! Und Sie werden vielleicht Ihren Zug verpassen. Sie interessieren mich sehr. Was ist Ihr Beruf?« Ich sagte, ich sei Reisemarschall. Das schien ihn zu wundern, und bevor er sich davon erholt hatte, waren wir fort. Als ich im dritten Stock des Hotels ankam, fand ich unsere Zimmer verlassen. Das überraschte mich nicht. Sobald ein Reisemarschall das Auge von seinen Schutzbefohlenen abwendet, so laufen sie in die Läden und machen Einkäufe. Je näher es der Abfahrtsstunde ist, desto sichrer sind sie weg. Ich setzte mich und versuchte zu überlegen, was ich nun zunächst tun solle, aber auf einmal kam der Hoteldiener herein und sagte, die Expedition sei vor einer halben Stunde nach dem Bahnhof gefahren. Es war meines Wissens das erstemal, daß sie etwas Vernünftiges taten, und diese neue Erfahrung war sehr geeignet, meine Gedanken in Verwirrung zu bringen. Dies ist eins von den Dingen, die den Beruf eines Reisemarschalls so schwierig und so ungewiß machen. Wenn gerade alles so recht schön im Geleise geht, pardauz, machen seine Leute einen Seitensprung, und aus ist es mit allen so sorgfältig ausgedachten Anordnungen. Der Zug sollte mit dem Glockenschlag zwölf abfahren. Jetzt war es zehn Minuten bis zwölf. In zehn Minuten konnte ich auf dem Bahnhof sein. Ich sah also, daß ich nicht mehr viel Zeit zu verlieren hatte, denn unser Zug war der ›Blitzzug‹, und auf dem europäischen Festlande setzen die Blitzzüge einen gewissen Stolz darein, zuweilen zur festgesetzten Zeit abzufahren. Meine Angehörigen waren die einzigen Leute, die noch im Wartesaale saßen; alle anderen waren schon hinausgegangen und hatten ›den Zug bestiegen‹, wie man dortzulande sagt. Sie waren ganz erschöpft vor Aufregung und Aerger, aber ich tröstete und munterte sie auf, und wir stürmten hinaus. Aber nein -- wir hatten wiederum Pech. Der Türsteher war nicht mit den Fahrkarten einverstanden. Er prüfte sie vorsichtig, bedächtig, mißtrauisch, sah mich eine Weile an und winkte hierauf einen anderen Beamten heran. Die beiden untersuchten die Fahrkarten und riefen einen dritten. Die drei riefen andere und diese Ratsversammlung hielt Reden und Reden und gestikulierte und redete immerzu, bis ich sie bat, sie möchten bedenken, wie flüchtig die Zeit ist, möchten daher schnell ein paar Beschlüsse fassen und uns gehen lassen. Hierauf sagten sie sehr höflich, es sei an den Fahrkarten etwas nicht in Ordnung; wo ich dieselben gekauft hätte? »Aha!« dachte ich, »nun weiß ich, was da los ist!« Ich hatte ja die Fahrkarten in einem Zigarrenladen gekauft und natürlich haftete ihnen der Geruch des Tabaks an; ohne Zweifel beabsichtigten sie die Fahrkarten erst der Zollbehörde vorzulegen, um die Steuer für den Geruch zu erheben. Ich beschloß daher, recht frank und frei zu sprechen; das ist zuweilen das beste. Ich sagte also: »Meine Herren, ich will Sie nicht länger hintergehen. Diese Eisenbahnfahrkarten ...« »Ah, Pardon, Monsieur. Das hier sind keine Eisenbahnfahrkarten.« »O,« sagte ich. »Sitzt da der Haken?« »Ganz gewiß, mein Herr. Dies sind Lotterielose, jawohl; und zwar Lose von einer Lotterie, die vor zwei Jahren gezogen wurde.« Ich heuchelte große Heiterkeit. Weiter kann man unter solchen Umständen nichts tun, und dabei nützt es noch nicht mal was. Keiner fällt darauf herein, und man sieht, wie jeder in der Runde einen bedauert und bemitleidet. Ich glaube, es gehört zu den peinlichsten Lebenslagen, wenn man sich ob der kläglichen Rolle, die man selber spielt, ärgern und schämen muß und dabei äußerlich den Verschmitzten und Lustigen zu spielen hat, während neben einem die eigene Expedition steht, die geliebten teuren Wesen, auf deren Liebe und Verehrung man nach dem Herkommen zivilisierter Völker Anspruch hat, und wenn man weiß, daß sie vor Scham vergehen möchten vor all diesen fremden Menschen, deren Mitgefühl ein Brandmal, ein Schandmal ist -- ein Brandmal, das einen kennzeichnet als einen -- o, ich kann’s nicht aussprechen, aber es ist etwas, woran menschliche Gemüter nur mit Schauder denken können. Ich sagte lustig, es sei schon recht, nur so ein kleines Versehen, wie es wohl jedem mal passieren könne. Ich würde binnen zwei Minuten die richtigen Fahrkarten haben, und wir kämen immer noch zur rechten Zeit in den Zug und hätten außerdem was, worüber wir unterwegs lachen könnten. Ich bekam auch die Fahrkarten rechtzeitig, schön abgestempelt und vollzählig, aber dann stellte sich’s heraus, daß ich sie nicht nehmen konnte. Ich hatte mir nämlich mit dem Abholen der beiden fehlenden Mitglieder so viel Mühe gegeben, daß ich darüber die Bank völlig verschwitzt hatte. Ich hatte also kein Geld. So fuhr denn der Zug ab, und es war augenscheinlich nichts andres zu machen, als nach dem Hotel zurückzugehen. Das taten wir denn auch, aber es herrschte sozusagen eine melancholische Stimmung, und es wurde nicht viel gesprochen. Ich versuchte ein paarmal eine Unterhaltung in Gang zu bringen, über die schöne Gegend und über Seelenwanderung und dergleichen, aber ich schien damit keinen Anklang zu finden. Unsere guten Zimmer hatten wir verloren, doch bekamen wir einige andere, die zwar ein bißchen weit auseinander lagen, aber immerhin leidlich waren. Ich dachte, das Wetter würde sich jetzt aufheitern, aber das Haupt der Expedition sagte: »Schicke die Koffer herauf!« Es lief mir kalt über den Rücken. An dieser Koffergeschichte war irgend etwas zweifelhaft. Darauf hätte ich beinahe schwören mögen. Ich wollte einen Vorschlag machen. Aber ein Wink mit der Hand genügte, um mich zum Schweigen zu bringen, und ich erhielt den Bescheid, wir würden jetzt für drei Tage unser Zelt in Genf aufschlagen und versuchen, ob die Ruhe uns wieder frische Kräfte gäbe. Ich sagte, mir wär’s recht, sie möchten sich nicht die Mühe machen, erst zu klingeln; ich würde hinuntergehen und selber nach den Koffern sehen. Ich nahm eine Droschke und fuhr stracks zu Herrn Carl Natürlich und fragte, was für einen Auftrag ich dort hinterlassen hätte. »Sieben Koffer ins Hotel zu schicken.« »Und sollten Sie nicht welche wieder mitnehmen?« »Nein.« »Sie sind sicher, daß ich Ihnen nicht gesagt habe, Sie sollten sieben abholen, die Sie in der Vorhalle aufgestapelt finden würden?« »Ganz gewiß haben Sie kein Wort davon gesagt.« »Dann sind sie alle vierzehn nach Zürich oder nach Jericho oder sonst wohin gegangen, und es werden sich in der Umgebung des Hotels noch mehr Bruchstücke vorfinden, wenn die Expedition ...« Ich sprach den Satz nicht zu Ende. In meinem Gehirn begann nämlich alles rund umzugehen, und wenn es so weit mit einem ist, so denkt man immer, man habe einen Satz zu Ende gesprochen, während man es in Wirklichkeit _nicht_ getan hat. Grübelnd und sinnend geht man weg und kommt erst wieder zum Bewußtsein, wenn ein Droschkengaul oder eine Kuh oder sonstwas einen umrennt. Ich ließ die Droschke vor Natürlichs Geschäft -- ich vergaß sie nämlich -- und überlegte mir auf dem Rückweg noch einmal die ganzen Ereignisse und beschloß, meinen Rücktritt vom Amt zu erklären; es schien mir nämlich sonst ziemlich sicher zu sein, daß man mich absetzen würde. Indessen schien es mir nicht das Richtige zu sein, mein Entlassungsgesuch in eigener Person einzureichen; ich konnte das auch durch einen Boten besorgen. Ich ließ mir daher Herrn Lüdy kommen und setzte ihm auseinander, ein Reisemarschall sähe sich wegen Unerträglichkeit oder Ermüdung oder dergleichen in die Notwendigkeit versetzt, zurückzutreten, und da er, wie ich gehört, auf vier oder fünf Tage frei wäre, so möchte ich gern, wenn er den offenen Posten annehme -- falls er dächte, er könnte ihn ausfüllen. Als alles abgemacht war, veranlaßte ich ihn, nach oben zu gehen und der Expedition zu sagen, daß wir infolge eines Versehens von Herrn Natürlichs Leuten keine Koffer hier hätten, in Zürich aber einen ganzen Haufen vorfinden würden, und daß es besser wäre, wir nehmen den ersten besten Schnell-, Bummel- oder Güterzug und machten uns auf die Reise. Er besorgte das und brachte mir von oben eine Einladung mit herunter, ich möchte mal hinaufkommen. »Ja gewiß,« sagte ich. Während wir dann nach der Bank gingen, um Geld zu holen und meine Zigarren nebst dem Tabak zu uns zu nehmen, und nach dem Zigarrenladen, um uns das Geld für die Lotterielose zurückgeben zu lassen und meinen Schirm zu holen, und nach Herrn Natürlichs Geschäft, um die Droschke zu bezahlen und wegzuschicken, und nach dem Kantonsgefängnis, um meine Gummischuhe in Empfang zu nehmen und für den Bürgermeister und die Herren vom Höchsten Gerichtshof Karten mit ~p. p. c.~ zu hinterlassen -- während dieser ganzen Zeit beschrieb er mir das Wetter, das in den höheren Regionen bei der Expedition herrschte, und ich sah, daß ich mich da, wo ich war, sehr wohl befand. Bis vier Uhr nachmittags wanderte ich draußen vor der Stadt in den Wäldern umher; dann begab ich mich nach dem Bahnhof und kam mit meiner Expedition gerade zur rechten Zeit zum Züricher Drei-Uhr-Expreß. Die Expedition befand sich jetzt unter der Obhut des Herrn Lüdy, der ihre verwickelten Geschäfte anscheinend mit geringer Anstrengung und in aller Bequemlichkeit zu erledigen wußte. So!! Ich hatte also wie ein Sklave gearbeitet, so lange ich im Amte war, und hatte mir die allergrößte Mühe gegeben. Und trotzdem sprachen sie alle nur von den Fehlern meiner Leitung, nicht von den guten Eigenschaften derselben; diese letzteren schienen in ihrem Gedächtnis gar nicht mehr zu existieren. Tausend gute Eigenschaften übersprangen sie einfach und redeten und redeten immer wieder von _einem_ Umstand, bis ich dachte, nun müßten sie doch endlich müde sein, davon zu sprechen. Und was war das für ein Umstand? -- nichts weiter, als daß ich mich in Genf selber zum Reisemarschall aufgeworfen und eine Betriebsamkeit entwickelt hätte, womit ich einen Zirkus nach Jerusalem hätte bringen können -- und daß ich damit nicht einmal meine kleine Schar aus der Stadt herausgebracht hätte. Schließlich sagte ich ihnen, ich wünschte von dem Gegenstand nichts mehr zu hören, ich bekäme Kopfschmerzen davon. Und ich sagte ihnen ins Gesicht, ich würde niemals wieder Reisemarschall sein, und wenn ich damit einem Menschen das Leben retten könnte. Und wenn ich lange genug am Leben bleibe, so will ich das beweisen. Meiner Meinung nach ist es ein heikliges, hirnermüdendes, nervenzerrüttendes, ganz und gar undankbares Amt, und der Hauptlohn, den man davon hat, ist: ein verärgertes Herz und ein wirbliger Kopf. [Illustration] Von allerhand Schiffen. Der moderne Dampfer. Wir leiden an einem allgemein verbreiteten Aberglauben -- wir bilden uns nämlich ein, die Veränderungen, die täglich auf der Welt statthaben, selbst mitzuerleben, weil wir in den Zeitungen darüber lesen und einen oberflächlichen Begriff von ihrer Art haben. Ich hätte nicht gedacht, daß das moderne Schiff eine Ueberraschung für mich sein könnte -- aber es ist so! Und zwar könnte die Ueberraschung wohl kaum größer sein, wenn ich niemals irgend etwas darüber gelesen hätte. Ich spaziere auf diesem großen Schiff, der ›Havel‹ herum, während es sich seinen Weg über den Atlantischen Ozean pflügt, und alle Einzelheiten, auf die mein Auge fällt, erinnern mich an ihre Miniaturvorbilder in den kleinen Schiffen, auf denen ich vor vierzehn, siebzehn, achtzehn, zwanzig Jahren den Ozean durchquerte. Auf der ›Havel‹ kann man sich’s in mancher Beziehung behaglicher machen als in den besten Gasthöfen des europäischen Festlands. So z. B. hat das Schiff mehrere Badezimmer mit einer praktischen und hübschen Einrichtung wie in einem schönen Privathaus in Amerika; in den europäischen Hotels dagegen gilt gewöhnlich _eine_ Badstube für ausreichend, und meistens ist diese schäbig ausgestattet und befindet sich in irgend einem abgelegenen Winkel des Hauses; außerdem muß man sich so lange vorher zum Baden anmelden, daß einem schließlich die Lust vergangen ist, wenn man endlich an die Reihe kommt. In den Hotels gibt es recht viele verschiedenartige Geräusche, die einem den Schlaf rauben; in meiner Kabine auf dem Schiff höre ich keinen Laut. In den Hotels wird gewöhnlich um Mitternacht das elektrische Licht abgestellt; auf dem Schiff kann man es die ganze Nacht im Schlafzimmer brennen lassen. Auf dem Dampfer ›Batavia‹, mit welchem ich vor zwanzig Jahren fuhr, war in der Scheide zwischen zwei Passagierkajüten eine Kerze angebracht, die die beiden Räume beleuchten sollte, aber nicht einmal einen einzigen erhellte. Um 11 Uhr abends wurden diese Kerzen ausgelöscht und zugleich mit ihnen alle Salonlampen mit Ausnahme von einer oder zweien; diese blieben brennen, damit doch die Passagiere sehen könnten, wie sie beim Herauskrabbeln in der Finsternis das Genick brächen. Bei Tisch saßen die Fahrgäste auf langen Bänken aus dem allerhärtesten Holz; auf der ›Havel‹ sitzt man auf einem Drehstuhl mit gepolsterter Rückenlehne. In jenen alten Zeiten war die Speisekarte immer die gleiche: ein Teller einfacher Suppe, gekochter Schellfisch mit Kartoffeln, steinhartes, gekochtes Rindfleisch; als Nachtisch: gestovte Pflaumen -- Sonntags ›Mehlbeutel‹, Donnerstags ›Plumpudding‹. Auf dem modernen Schiff ist das auserlesene ›Menu‹ mit vieler Kunst zusammengestellt und bietet täglich etwas anderes. In der alten Zeit glich das Mittagessen auf dem Schiff einer Leichenmahlzeit; heutzutage belebt ein unsichtbares Orchester es mit reizender Musik. Früher war das Verdeck immer naß; jetzt ist es da für gewöhnlich trocken, denn das Promenadendeck ist überdacht und nur selten schlägt eine Welle über Bord. Bei einigermaßen bewegter See konnte ein Landmensch früher sich kaum auf den Beinen halten; in unseren Tagen sind bei derartigem Seegang die Decks so eben wie ein Tisch. Früher war das Innere eines Schiffes höchst einfach und kahl; man schien sich die größte Mühe gegeben zu haben, etwas recht Häßliches und Unbequemes auszudenken. Das moderne Schiff ist ein Wunderwerk von reichem und kostbarem Schmuck und von prachtvoller Ausstattung; es ist mit jeder Behaglichkeit und Bequemlichkeit versehen, die für Geld sich beschaffen läßt. Auf den alten Schiffen war der einzige Versammlungsort der Speisesaal, die neuen besitzen mehrere geräumige und schöne Unterhaltungssäle. Rauchgelegenheit gab es in den alten Schiffen für den Passagier nur in der sogenannten ›Violine‹. Das war ein scheußliches Loch, eine rohgezimmerte Bretterbude, die zum Schutz der Hauptluke dienen sollte. Drinnen war es unbehaglich und schmutzig; Stühle gab es nicht; das einzige Licht gab eine Tranfunsel; es war sehr kalt und niemals trocken, denn durch die Bretterfugen brach alle Augenblicke das Wasser der Sturzseen herein und machte dieses Kellerloch gründlich naß. In den modernen Schiffen gibt es drei oder vier große Rauchzimmer mit Spieltischen und gepolsterten Sofas und Dampfheizung und elektrischer Beleuchtung. Wenig europäische Hotels haben solche Rauchzimmer. Die früheren Schiffe waren aus Holz und hatten in ihrem Raum zwei oder drei wasserdichte Abteilungen mit Türen, die häufig offen standen -- besonders wenn das Schiff gerade auf einen Felsen auflief. Der moderne Leviathan ist aus Stahl erbaut, und die wasserdichten Schotten haben keine Türöffnungen; sie teilen das Schiff in neun oder zehn wasserdichte Räume, so daß es zählebig geworden ist wie eine Katze. Daß diese Einrichtung völlig ihren Zweck erfüllt, wurde bei dem denkwürdigen Unfall dargetan, der vor ein paar Jahren der ›City of Paris‹ zustieß. Was einem auf dem großen modernen Schiff vor allem andern sofort auffällt, ist das vollständige Fehlen von Wirrwarr, Geklapper, Füßegetrampel und Kommandogebrüll. All dieser Lärm gehört der Vergangenheit an. Die verwickelten Manöver beim Heranbringen des Schiffes an seinen Landungsplatz vollziehen sich geräuschlos; man sieht nichts von den Arbeiten, hört keine Befehle geben. Eine sonntäglich feierliche Stille herrscht statt des Lärmens und Tobens früherer Zeiten. Das neuzeitliche Schiff besitzt eine geräumige Kommandobrücke, die zu beiden Seiten bis zu Kinnhöhe mit Segeltuch abgesperrt und deren Fußboden mit einem hölzernen Rösterwerk bedeckt ist; und auf dieser Brücke nebst ihren ebenfalls eingefaßten Fortsetzungen vorn und hinten könnte bequem eine Versammlung von hundertundfünfzig Menschen sitzen. Es sind drei Steuervorrichtungen vorhanden, von denen jede für sich allein ausreicht, falls die beiden andern brechen sollten. Von der Brücke aus wird das Schiff gelenkt und auch gesteuert. Dabei wird aber nicht gerufen, oder gepfiffen, sondern die Zeichen werden mittels eigenartiger selbsttätiger Gongs gegeben. Der Offizier achtern beim Steuer kann von der Brücke aus nicht gesehen werden und ist so weit ab, daß er sogar Trompetensignale nicht hören würde; aber die Gongs neben ihm sagen ihm, was er zu machen hat; er hört, aber die Passagiere hören nichts, und so sieht es aus als ob das Schiff ohne menschliche Hilfe selber seine Landung bewerkstelligte. Diese große Kommandobrücke befindet sich dreißig oder vierzig Fuß über der Wasserlinie; aber die See schlägt zuweilen so hoch hinauf, darum ist für solche Notfälle noch eine zweite Brücke 12 oder 15 Fuß höher angebracht. Mit der Gewalt des Wassers ist es eine eigentümliche Sache. Es schlüpft einem wie Luft zwischen den Fingern durch, gelegentlich aber wirkt es wie ein fester Körper und biegt einen dünnen Eisenstab krumm. Auf unserer ›Havel‹ zersplitterte es eine Reeling, daß sie aussah wie ein Besen, anstatt sie einfach entzwei zu brechen wie man doch hätte erwarten sollen. Aber das Wasser hat sogar noch sonderbarere Sachen gemacht und zwar in Fällen, die glaubhaft bezeugt worden sind. Ein Marlpfriem ist ein etwa fußlanges, schweres eisernes Werkzeug, das nach dem einen Ende zu dünner wird und in eine scharfe Spitze ausläuft. Eine Welle schlug über Bord eines Schiffes und raste in Brusthöhe nach hinten; sie riß einen Marlpfriem mit sich und zwar, die Spitze voran, mit solch blitzgleicher Schnelligkeit und Gewalt, daß das Eisen drei oder vier Zoll tief einem Matrosen in den Leib fuhr und ihn tötete. Auf alle Fälle muß unser heutiger Weltmeer-Windhund auf jemanden, der keine Vorstellungen von modernen Schiffstypen in seinem Kopf hat, einen gewaltigen Eindruck machen. An Leibesumfang kann so ein Dampfer es beinahe mit der Arche aufnehmen, und doch wird diese ungeheuerliche Stahlmasse in 24 Stunden 500 Meilen durch die Wogen getrieben. Ich erinnere mich der Renommierreise eines Dampfers, in welchem ich einmal auf dem Stillen Ozean fuhr: 209 Meilen in 24 Stunden. Ungefähr ein Jahr später war ich Fahrgast auf der Vergnügungsgondel ›Quaker City‹, und eines Tages, bei spiegelglatter See, sollte sie, wie behauptet wurde, von einem Mittag zum andern 211 Meilen heruntergehaspelt haben, aber vermutlich war das eine Lüge zu Reklamezwecken. Der kleine Dampfer hatte 70 Passagiere und 40 Mann Besatzung, und man kam sich vor wie in einem Bienenstock. Aber hier auf unserm Schiff verbringen wir in einer Art Einsamkeit diese angenehmen Sommertage; manchmal sieht man 100 Passagiere über die weiten Räume verstreut, manchmal bemerkt man keinen einzigen; dabei sind sie irgendwo in des Schiffes Leib verborgen, denn einschließlich der Besatzung sind beinahe 1100 Menschen auf der ›Havel‹ vorhanden. In der guten alten Zeit kletterten die Schifflein die Woge hinauf und wälzten sich auf der andern Seite in das Wellental hinunter; unsre jetzigen Riesenschiffe erklimmen nicht die Wellen, sondern brechen sich mit Gewalt ihren Weg durch die Fluten. Mit ihrer ungeheuren Wucht, Masse und Kraft meistern sie alle Wogen, wenn nicht gerade ein außergewöhnlicher Sturm herrscht. Wie erfindungsreich sind doch die Menschen -- d. h. die Menschen der Gegenwart! Heute fand ich im Kartenhaus an der Wand einen Rahmen mit beweglichen hölzernen Schildern, und auf den Schildern einige mir unverständliche Inschriften: Kielbehälter leer Doppelboden Nr. 1 voll Doppelboden Nr. 2 voll Doppelboden Nr. 3 voll Doppelboden Nr. 4 voll Während ich darüber nachdachte, was das wohl für ein Spiel sein möchte, und wie ein Fremder sich einige Fertigkeit darin erwerben könnte, kam ein Matrose herein, nahm das ›Leer‹ der obersten Zeile heraus und drehte das Schildchen um, worauf er es wieder an seinen Platz steckte; jetzt lautete diese Inschrift ebenfalls ›voll‹. Er nahm noch irgend eine andre Aenderung vor, doch bemerkte ich nicht, worin sie bestand. Die Bedeutung der Schildertafel war bald erklärt. Sie diente dazu um anzuzeigen, wie der Ballast auf dem Schiff verteilt war. Das Verblüffende dabei war, daß dieser Ballast aus Wasser bestand. Ich wußte nicht, daß jemals ein Schiff als Ballast Wasser eingenommen hatte. Ich hatte nur mal irgendwo gelesen, es sollten in dieser Richtung Versuche angestellt werden. Aber das kennzeichnet unsre Neuzeit: zwischen den Versuchen mit einer Neuerung und ihrer Einführung wird keine Zeit vertrödelt, sobald man die Brauchbarkeit erprobt hat. An der Wand, dicht neben der Schildertafel, war ein Aufriß des Schiffes, und diese Zeichnung enthüllte mir die Tatsache, daß das Schiff 22 ganz ansehnliche Wasserseen in seinem Leibe hatte. Diese Seen sind zwischen dem Boden des Schiffes und einem falschen Boden eingesperrt. Sie sind von einander durch wasserdichte Querschotten und in der Mitte durch ein Längsschott getrennt, das vom Bug des Schiffes über vier Fünftel der ganzen Länge nach hinten läuft. Dadurch wird eine 400 Fuß lange Kette von 5 bis 7 Fuß tiefen Seen hergestellt. Vierzehn von diesen Seen enthalten vom Lande mitgebrachtes Trinkwasser im Gesamtgewicht von 400 Tonnen. In den andern befindet sich Salzwasser -- 618 Tonnen. Alles zusammen mehr als 2000 Zentner Wasser. Man bedenke wie bequem dieser Ballast zu handhaben ist. Wenn das Schiff den Hafen verläßt, sind die Seen alle voll. Wenn durch den Kohlenverbrauch unterwegs das Gewicht des Schiffes sich vermindert, kommt dieses aus dem Gleichgewicht -- der Bug hebt sich empor, der Stern sinkt tiefer ein. Man läßt einfach einen von den am Stern angebrachten Wasserseen in das Meer auslaufen, und das Gleichgewicht ist wiederhergestellt. Dies kann wiederholt werden, so oft die Gelegenheit es erfordert. Auch kann mittels Röhren und Dampfpumpwerk der Inhalt eines Sees von dem einen Ende des Schiffes nach dem anderen überführt werden. Die Aenderung, die heute der Matrose an der Schildertafel vornahm, bezog sich auf eine derartige Ueberführung. Der Seegang war stärker geworden, man mußte dem Schiffsbug mehr Gewicht geben, damit der Dampfer nicht die Wogen hinaufkletterte anstatt sie zu durchbrechen; deshalb waren 500 Zentner, die den Inhalt eines ganz hinten belegenen Behälters gebildet hatten, nach dem Bug gepumpt worden. Ein Wasserbehälter ist entweder ganz voll oder ganz leer; die Wassermasse muß ein festes Ganzes bilden, so daß sie nicht hin- und herschlagen kann. Ein beweglicher Ballast würde natürlich nicht seinen Zweck erfüllen. Das moderne Schiff ist voll von schönen sinnreichen Einrichtungen; aber die Einführung des Wasserballastes schießt meiner Meinung nach den Vogel ab. Wenn ich diesen Gedanken gehabt hätte, so würde ich darauf stolzer sein als auf irgend was andres. Vielleicht ist bis auf unsre Tage ein Schiff niemals in vollkommenem und stets leicht zu regelndem Gleichgewicht gewesen. Ein nicht im Gleichgewicht befindliches Schiff aber gehorcht dem Steuer nicht, seine Schnelligkeit wird beeinträchtigt, es kämpft einen mühseligen Kampf mit den Wogen. Das arme Ding! sechstausend Jahre lang hat es sich plagen müssen, und erst in diesen allerletzten Tagen hat man’s ihm bequem gemacht! Sechs Jahrtausende lang schwamm es in dem besten und billigsten Ballast von der Welt, dem einzigen wirklich vollkommenen Ballast, aber das Schiff konnte seinem Herrn nichts davon sagen, und dieser hatte nicht so viel Grütze, von selber auf den Gedanken zu kommen. Es ist ein eigentümliches Gefühl, wenn man sich bewußt wird, daß im Schiff beinahe ebensoviel Wasser ist wie draußen, und daß trotzdem keine Gefahr vorhanden ist. Die Arche Noäh. Der seit Noahs Zeiten in der großen Kunst des Schiffsbaues gemachte Fortschritt ist sehr bemerkenswert. Auch steht die in den Tagen des guten alten Noah in der Handhabung der Schiffahrtsgesetze übliche Laschheit in schneidendem Gegensatz zu der Festigkeit, womit sie in der Gegenwart zur Anwendung gebracht werden. Es ist ausgeschlossen, daß Noah jetzt tun dürfte, was ihm damals erlaubt war. Erfahrung hat uns von der Notwendigkeit überzeugt, es genauer zu nehmen und mehr auf die Erhaltung von Menschenleben bedacht zu sein. Heutzutage würde Noah nicht die Erlaubnis erhalten, von Bremen abzusegeln. Die Inspektoren würden kommen und die Arche untersuchen, um alle möglichen Einwendungen zu erheben. Wer Deutschland kennt, kann sich den Auftritt und das Gespräch ohne Schwierigkeit und in allen Einzelheiten vorstellen. Der Inspektor in schöner militärischer Uniform, ehrerbietig würdevoll, freundlich, ein vollkommener Gentleman, aber unverrückbar wie der Polarstern in Bezug auf die geringsten Erfordernisse seiner Dienstpflicht. Noah würde ihm erzählen müssen, wo er geboren und wie alt er wäre, zu welcher Religionsgemeinschaft er gehörte, wie groß sein Einkommen wäre, auf welcher Stufe der gesellschaftlichen Rangleiter er stünde, welchen Beruf er ausübte, wie viele Frauen und Kinder er hätte, auch wie viele Dienstboten, und von ihnen allen würde er Namen, Geschlecht und Alter angeben müssen; wenn er keinen Paß hätte, würde er höflich ersucht werden sich schleunigst einen zu besorgen. Dann würde der Inspektor sich um die Arche selber bekümmern: »Wie lang ist sie?« »Sechshundert Fuß.« »Wie tief?« »Fünfundsechzig.« »Die Breite?« »Hundert Fuß.« »Gebaut aus ...?« »Holz.« »Was für Holz?« »Tannenholz.« »Innere und äußere Verzierungen?« »Verpicht inwendig und auswendig.« »Passagiere?« »Acht.« »Geschlecht?« »Die Hälfte männlich, die andere weiblich.« »Alter?« »Von hundert Jahren an aufwärts.« »Wie hoch aufwärts?« »Sechshundert.« »Ah -- gehen nach Chicago. Uebrigens guter Einfall. Name des Arztes?« »Einen Arzt haben wir nicht.« »Müssen einen Arzt besorgen. Auch einen Proviantmeister -- letzterer ist ganz besonders nötig. Die Leute dürfen in ihrem hohen Alter nicht die notwendigsten Lebensbedürfnisse entbehren. Besatzung?« »Dieselben acht.« »Dieselben acht?« »Dieselben acht.« »Und die Hälfte davon Weiber?« »Jawohl.« »Haben sie je zur See gedient?« »Nein.« »Aber die Männer?« »Auch nicht.« »Ist überhaupt jemand von euch je zur See gewesen?« »Nein.« »Wo sind Sie denn aufgewachsen?« »Alle zusammen auf einem Bauernhof.« »Das Schiff braucht eine Besatzung von 800 Mann, da es kein Dampfer ist. Sie müssen die besorgen. Es muß 4 Steuerleute und 9 Köche haben. Wer ist der Kapitän?« »Ich.« »Sie müssen einen Kapitän anstellen. Auch ein Stubenmädchen. Ferner Krankenpflegerinnen für die alten Leute. Wer entwarf den Bauplan des Schiffes?« »Das tat ich.« »Ist es Ihr erster Versuch dieser Art?« »Jawohl.« »Das dachte ich mir so halb und halb. Ladung?« »Tiere.« »Was für Arten?« »Sämtliche Arten.« »Fremdländische oder einheimische?« »Meistens fremdländische.« »Welches sind die hauptsächlichsten wilden?« »Megatherium, Elefant, Nashorn, Löwe, Tiger, Wolf, Schlangen -- alles wilde Getier aus allen Zonen -- von jeder Sorte zwei.« »Sicher in Käfigen untergebracht?« »Nein, nicht in Käfigen.« »Sie müssen eiserne Käfige haben. Wer besorgt Futter und Wasser für die Menagerie?« »Wir.« »Die alten Leute?« »Ja.« »Das ist gefährlich -- für beide Teile. Für die Tiere muß von sachverständigen Leuten gesorgt werden. Wie viele Tiere sind vorhanden?« »Große: 7000; große und kleine zusammen: 98000.« »Sie müssen 1200 Wärter besorgen. Wie ist das Schiff beleuchtet?« »Durch zwei Fenster.« »Wo sind die?« »Oben unter den Dachrinnen.« »Zwei Fenster für einen 600 Fuß langen und 65 Fuß tiefen Tunnel? Sie müssen sich elektrisches Licht zulegen -- ein paar Bogenlampen und 1500 Glühlichter. Was machen Sie, falls das Schiff leck wird? Wie viele Pumpen haben Sie?« »Keine, lieber Herr.« »Sie müssen Pumpen besorgen. Wie bekommen Sie Wasser für die Passagiere und die Tiere?« »Wir lassen von den Fenstern aus Eimer herunter.« »Das ist unzulänglich. Was ist Ihre Triebkraft?« »Was für was?« »Triebkraft. Welche Kraft benutzen Sie, um das Schiff fortzubewegen?« »Keine.« »Sie müssen Segel oder Dampfmaschinen besorgen. Von welcher Art ist Ihr Steuerapparat?« »Wir haben gar keinen.« »Haben Sie nicht ein Steuerruder?« »Nein.« »Wie steuern Sie denn das Schiff?« »Wir steuern nicht.« »Sie müssen ein Steuer besorgen und es mit der geeigneten Vorrichtung versehen. Wie viele Anker haben Sie?« »Keine.« »Sie müssen sechs anschaffen. Man darf in einem Schiff wie das Ihrige nicht ohne dieses Schutzmittel segeln. Wie viele Rettungsboote haben Sie?« »Keine, lieber Herr.« »Schaffen Sie 25 an. Wie viele Schwimmgürtel?« »Keine.« »Sie werden 2000 anschaffen. Wie lange, denken Sie, wird Ihre Reise dauern?« »Elf oder zwölf Monate.« »Elf oder zwölf Monate ... Ziemlich langsam. Aber Sie werden noch rechtzeitig zur Ausstellung kommen. Womit ist Ihr Schiff beschlagen -- mit Kupfer?« »Der Schiffsrumpf ist nackt -- ist überhaupt nicht beschlagen.« »Mein lieber Mann, die Bohrmuscheln draußen in der See würden das Schiff wie ein Sieb durchlöchern, und in drei Monaten würde es drunten auf dem Meeresboden liegen. Ihr Schiff _darf_ nicht die Erlaubnis erhalten, in solchem Zustand abzufahren; es muß beschlagen werden. Nun noch eins: Haben Sie sich auch überlegt, daß Chicago eine Binnenstadt und für Schiffe Ihres Kalibers nicht erreichbar ist?« »Schikargo? Was ist Schikargo? Ich beabsichtige nicht nach Schikargo zu fahren.« »Nicht? Darf ich mir dann die Frage erlauben, was für einen Zweck die Tiere haben?« »Die sind bloß dazu da, andre zu züchten.« »Andre? Ist es denn möglich, daß Sie noch nicht genug haben?« »Für die augenblicklichen Bedürfnisse der Zivilisation -- ja! Aber der Rest wird in einer Flut ertrinken, und diese hier sind dazu bestimmt, den Vorrat wieder zu ergänzen.« »In einer Flut?« »Ja.« »Wissen Sie das gewiß?« »Ganz bestimmt. Es wird vierzig Tage und vierzig Nächte regnen.« »Machen Sie sich darum keine Sorgen, lieber Herr; das kommt hier oftmals vor.« »Nicht diese Art von Regen! Mein Regen wird die Bergspitzen bedecken und das Land wird völlig unsichtbar werden.« »Im Vertrauen -- aber natürlich nicht in meiner Eigenschaft als Beamter -- gesagt: es tut mir leid, daß Sie mir diese Eröffnung gemacht haben; denn nun bin ich gezwungen, die Ihnen vorhin erteilte Erlaubnis, nach Ihrem Belieben zwischen Segel oder Dampf zu wählen, wieder zurückzuziehen. Ich muß Sie ersuchen Dampf anzuwenden. Ihr Schiff kann nicht den hundertsten Teil des für eine elfmonatliche Fahrt notwendigen Wasservorrats für die Tiere mit sich führen. Sie werden sich eine Destillationsanlage anschaffen müssen.« »Aber ich sage Ihnen ja, daß ich das Wasser auf der Außenseite mittels Eimer schöpfen werde.« »Das wird nichts nützen. Bevor die Flut die Bergspitzen erreicht, werden die süßen Gewässer mit dem salzigen Meerwasser zusammengelaufen sein und werden ebenfalls salzig werden. Sie müssen sich Dampfbetrieb zulegen und Ihr Wasser destillieren ... Nun will ich mich von Ihnen verabschieden, verehrter Herr. Wenn ich Sie recht verstand, so sagten Sie ja wohl, dies sei Ihr allererster Versuch in der Schiffsbaukunst?« »Mein allererster, Herr Inspektor: darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort. Ich baute diese Arche, ohne vorher jemals die geringste Uebung oder Unterweisung in Schiffsbaukunde gehabt zu haben.« »Es ist eine bemerkenswerte Leistung, geehrter Herr, eine sehr bemerkenswerte Leistung. Es sind darin meiner Meinung nach mehr neue -- völlig neue und unabgedroschene -- Züge als in jedem andern Schiff, das auf den Meeren schwimmt.« »Dies Kompliment erweist mir unendliche Ehre, lieber Herr, -- unendliche! -- und ich werde es mit Freuden in meiner Erinnerung bewahren, so lange mein Leben währet. Mein Herr, ich sage Ihnen meinen gebührenden und tiefst empfundenen Dank. Adieu!« Nein, der deutsche Inspektor würde gegen Noah über die Maßen höflich sein; Noah würde das Gefühl gewinnen, daß er unter Freunden sei; aber in See würde der Inspektor ihn mit seiner Arche nicht gehen lassen. Kolumbus und sein Schiffchen. In der Zwischenzeit von Noahs Erbauung der Arche bis zu Kolumbus’ Entdeckungsfahrt machte die Schiffsbaukunst etliche Veränderungen zum Bessern durch; war sie zuerst unaussprechlich kläglich gewesen, so erhob sie sich jetzt auf einen Standpunkt, den man als ›weniger unaussprechlich kläglich‹ bezeichnen kann. Ich habe mal irgendwo gelesen, eins von Kolumbus’ Fahrzeugen sei ein Neunzigtonnenschiff gewesen. Vergleicht man dieses Schiff mit den Ozean-Windhunden unsrer Tage, so kann man sich einigermaßen einen Begriff machen, wie klein die spanische Bark war und wie wenig sie geeignet sein würde, im heutigen Passagierverkehr über das Atlantische Meer den Wettbewerb aufzunehmen. Nicht weniger als 74 von ihrer Sorte wären nötig, um den Tonnengehalt der ›Havel‹ zu erreichen. Wenn mein Gedächtnis mich nicht täuscht, brauchte sie 10 Wochen zur Ueberfahrt. Nach unsern heutigen Begriffen würde das als schauderhafte Bummelei gelten. Wahrscheinlich hatte das Schiff als Besatzung einen Kapitän, einen Steuermann, vier Matrosen und einen Schiffsjungen. Die Bemannung eines modernen Schnelldampfers besteht aus 250 Menschen. Da Kolumbus’ Schiff klein und sehr alt war, so können wir aus diesen beiden Tatsachen mit unumstößlicher Sicherheit auf verschiedene weniger wichtige Umstände schließen, von denen die Weltgeschichte nicht berichtet. Zum Beispiel: Da das Schiff klein war, so wissen wir, daß es bei jedem gewöhnlichen Seegang rollte und stampfte und schlingerte und daß es bei tüchtigem Sturm entweder auf dem Kopf oder auf dem Hinterteil stand, oder mit der Seite auf dem Wasser lag. Fortwährend schlugen Sturzseen über Bord und wuschen das Deck vom Steven bis zum Stern. Die ganze Reise über waren die Sturmleisten auf dem Eßtisch, und trotzdem bekam einer seine Suppe öfter auf die Hosen als in den Magen. Der Speisesaal maß ungefähr 10 zu 7 Fuß, war dunkel, unlüftbar und von einem erstickenden Oeldunst erfüllt. Ferner war nur eine einzige Kajüte vorhanden; sie hatte die Größe eines Grabes und enthielt zwei oder drei übereinander gestellte Betten von der Größe und Bequemlichkeit von Särgen; wenn das Licht ausgelöscht war, herrschte in dieser Kajüte eine Finsternis von einer Dicke und Greifbarkeit, daß einer hineinbeißen und sie wie Gummi kauen konnte. Der einzige Raum, wo ein Mensch sich frei bewegen konnte, befand sich hinten auf dem hochaufragenden Hüttendeck -- ein Streifen von 16 Fuß Länge und 3 Fuß Breite; überall sonst auf dem Schiff lagen Taurollen und bespülten die Wellen das Deck. Daß dies alles so war, geht für uns aus der bloßen Tatsache hervor, daß das Schiff klein war. Da es zugleich auch alt war, so ergeben sich daraus natürlich etliche andre Gewißheiten. Zum Beispiel: es war voll von Ratten; es war voll von Kakerlaken; bei schwerer See öffneten und schlossen sich die Fugen der Planken wie wenn ein Mensch seine Finger auseinanderspreizt und wieder schließt. Es leckte wie ein Korb. Wo ein Leck ist, ist notwendigerweise auch Schlagwasser; und wo Schlagwasser ist, kann bloß ein Toter sich des Lebens freuen. Von wegen der Gerüche. Vor Schlagwasser schämt Limburger Käse sich seiner Ruchlosigkeit. Von diesen unumstößlich sichern Voraussetzungen ausgehend, können wir ein wahrheitsgetreues Bild von dem Tageslauf des großen Entdeckers entwerfen. In der Morgenfrühe verrichtete er seine Andacht vor dem Gnadenbild der Heiligen Jungfrau. Um acht erschien er auf der Hinterdeckspromenade. War das Wetter kühl, so erschien er, vom Helmbusch bis zum bespornten Absatz, in einer prachtvollen, mit Goldarabesken verzierten Rüstung, die er vorher am Küchenfeuer hatte wärmen lassen. War das Wetter warm, so kam er in der gewöhnlichen Seemannstracht jener Zeit auf Deck: Großer Schlapphut von blauem Samt mit einem wehenden Busch von schneeweißen Straußfedern, der durch einen blitzenden Klumpen von Diamanten und Smaragden zusammengehalten wird. Goldgesticktes Wams von grünem Samt mit geschlitzten Aermeln, die ein karmesinrotes Seidenfutter sehen lassen; breiter Kragen und Handkrausen aus kostbaren Spitzen; Pluderhosen aus rosenrotem Samt mit großen Knieschleifen aus gelbem Seidenbrokat; perlgraue seidene Zwickelstrümpfe mit zarter Stickerei; zitronengelbe Schlappstiefel aus Lammleder, herunterhängend, damit die schönen Strümpfe zu sehen sind; Stulphandschuhe aus feinstem weißem Ketzerleder, aus der Werkstatt der heiligen Inquisition, (früher zur Haut einer Dame von hohem Stande gehörend); Raufdegen mit juwelengeschmückter Scheide an einem breiten Wehrgehänge, das mit Rubinen und Saphiren besetzt ist. Gedankenvoll geht er auf und ab, beobachtet das Aussehen des Himmels und die Windrichtung; sieht sich nach schwimmenden Pflanzen um, sowie nach andern Anzeichen nahenden Landes; gibt zum Zeitvertreib dem Manne am Steuer einen Rüffel; holt ein nachgemachtes Ei aus der Tasche und übt sich in seinem alten Kniff, es auf die Spitze zu stellen; ab und zu läßt er eine Rettungsleine herunter und rettet einen Matrosen auf dem Quarterdeck vom Ertrinken. Die übrige Zeit hindurch gähnt und streckt und dehnt er sich und sagt, er wolle die Fahrt nicht wieder machen und wenn es sechs Amerikas zu entdecken gäbe ... Das war Kolumbus in seiner menschlichen Natürlichkeit, wenn er nicht für die Nachwelt posierte! Um 12 Uhr mittags mißt er den Stand der Sonne und stellte fest, daß das gute Schiff in 24 Stunden 300 Ellen gemacht hat. Das genügt aber für ihn, um als Sieger anzukommen. Ein jeder kann als Sieger ankommen, wenn außer ihm kein Mensch da ist, der über den Weg und das Ziel etwas zu sagen hat. Der Admiral hat allein gefrühstückt, ein feierliches Frühstück: Speck, Bohnen und Branntwein; um zwölf speist er allein und feierlich zu Mittag: Speck, Bohnen und Branntwein; um sechs ißt er allein und feierlich zu Abend: Speck, Bohnen und Branntwein; um elf nimmt er allein und feierlich sein Nachtmahl ein: Speck, Bohnen und Branntwein. Musik gibt es bei keiner dieser Orgien; das Schiffsorchester ist eine Erfindung der Neuzeit. Nach seiner letzten Mahlzeit spricht er ein Dankgebet für all die guten Sachen -- deren Wert er vielleicht ein bißchen übertreibt. Dann legt er die Seidenpracht oder das vergoldete Eisengeschirr ab, steigt in seinen kleinen Bettsarg, bläst die flackernde Oelfunsel aus und beginnt seine Lungen in tiefen Atemzügen mit der von den köstlichen Düften ranzigen Oels und Schlagwassers geschwängerten Luft zu erfrischen. Die Atemzüge werden zu Schnarchen, und dann schwärmen die Ratten und die Kakerlaken brigade- und divisions- und armeekorpsweise aus und spielen Zirkus auf seinem ganzen Leibe. Das war mehrere historische Wochen lang der tägliche Lebenslauf des großen Entdeckungsreisenden in seiner Nußschale, und der Unterschied zwischen den Bequemlichkeiten auf seinem Schiff und denen auf unserer ›Havel‹ springt einem sozusagen in die Augen. Als er wiederkam -- so berichtet die Weltgeschichte -- da sagte der König von Spanien voll Verwunderung: »Das Schiff scheint leck zu sein. Leckte es schlimm?« »Sire, Eure Majestät können selber urteilen: Ich pumpte während der Fahrt sechzehnmal den Atlantischen Ozean durch das Schiff.« So berichtet General Horace Porter. Andre Autoritäten sprechen nur von fünfzehnmal. Verschollene Gefühle. Eins ist vorbei, auf Nimmerwiederkehr: die Romantik des Meeres. Die zarte Gefühlsseligkeit, die das Seewesen umwob, ist aus unserem Werkeltagsleben verschwunden und gehört nur noch als eine ferne halbverwischte Erinnerung der Vergangenheit an. Aber viele von uns Mitlebenden können sich noch sehr gut der Zeit erinnern, da diese Gefühlsseligkeit in jedermanns Brust lebte; und je weiter die Menschen vom Salzwasser entfernt wohnten, desto höher hielten sie diese Liebe. Sie drang, wie die Luft, überall hin. Man brauchte in einer Gesellschaft bloß von der See, der romantischen See zu sprechen, und sofort verfielen die Leute in eine Rührung, die höchst komisch war. Weitaus die meisten Lieder, die vom Jungvolk in den weltabgelegenen Siedelungen gesungen wurden, hatten zum Helden den schwermütigen Wandrer, und dessen Aussprüche über das Meer bildeten die Kehrreime. Wenn Ausflügler in einem Kahn ein Flüßchen entlang plätscherten, sangen sie unfehlbar, sobald sich die Dämmerungsschatten herniedersenkten: Der Heimat zu, der Heimat zu, Vom fernen fremden Strand. Auch unter den Passagieren auf den Schraubendampfern im Westen war dies das Lieblingslied. Andre bevorzugte Gesänge trugen die bedeutungsvollen Titel: ›Der Sturm auf See‹; ›Der Meeresvogel‹; ›Des Schiffsjungen Traum‹; ›Des gefangenen Seeräubers Klage‹; ›Wir sind fern von Haus auf dem stürmischen Meer‹ u. s. w. u. s. w. Die Liste ist endlos. Die guten Ackersleute von dazumal lebten in ihrer Phantasie allesamt hauptsächlich inmitten der Gefahren des Meeres. Aber das ist jetzt alles vorüber. Spurlos verschwunden. Das Panzerschiff, dessen Aeußeres dem Gefühl nichts mehr sagt und an dessen Bord alles so nüchtern und streng zugeht, verbannte die Romantik aus der Kriegsflotte, und der ebenso nüchterne Dampfer verbannte sie aus der Handelsflotte. Die Gefahren und Ungewißheiten, die einst das Leben auf See romantisch machten, sind verschwunden, und mit ihnen das poetische Element. Heutzutage singen die Passagiere an Bord niemals Seemannslieder, und die Schiffskapelle spielt niemals derartige Weisen. Die rührenden Lieder von dem Wandrer in fremdem Land fern von der Heimat, die früher so beliebt waren und der Einbildungskraft so feurige Farben vorspiegelten, weil solche Wandrer so etwas Seltenes waren -- sie haben ihren Zauber verloren und sind verstummt, weil jetzt jedermann ein Wandrer in fernen Landen ist; die Teilnahme dafür ist also erstorben. Kein Mensch bangt sich mehr um den Wandrer; ihm drohen keine Gefahren der See, keine Ungewißheiten mehr. Er ist auf dem Schiff wahrscheinlich sicherer als zu Hause; denn dort kann es ihm nimmer passieren, daß er einem Freund die letzte Ehre erweisen und barhäuptig in Regen und Hagel am offenen Grabe stehen muß, auf die Gefahr hin, eine Lungenentzündung davonzutragen. Und die Ungewißheiten der Reise sind auf die Frage zusammengeschrumpft, ob er fahrplangemäß am Nachmittag an der andern Seite ankommen wird oder noch bis zum andern Morgen warten muß. Das erste Schiff, worauf ich überhaupt fuhr, war ein Segelschiff. Es brauchte 28 Tage von San Francisco nach den Sandwichinseln. Der Hauptgrund für diese überaus langsame Ueberfahrt war der Umstand, daß wir in eine Kalme kamen und 14 Tage lang mitten im Stillen Weltmeer 2000 Meilen von Land auf einem und demselben Fleck lagen. Hier auf der ›Havel‹ höre ich keine Seemannslieder, aber auf meinem Segelschiff damals -- da hörte ich alle, die es gibt. Es waren auf dem Schiff ein Dutzend junge Leute -- werden jetzt wohl hübsch alt sein -- und diese setzten sich jeden Abend am Heck zusammen und sangen bei Sternenlicht oder Mondenschein bis Mitternacht Seemannslieder in die leise, schweigende, regungslose Kalme hinein. Sie hatten keinen Sinn für Humor und sangen fortwährend: Der Heimat zu, der Heimat zu, ohne daran zu denken, daß dies einfach lächerlich war, denn wir lagen still und kamen überhaupt nach keiner Richtung hin vorwärts. Oft folgte diesem Gesang das andre schöne Lied: ›Sind wir nicht bald da? Sind wir nicht bald da?‹ Frug die sterbende Maid -- und der Hafen war nah. Es war eine sehr nette Gesellschaft von jungen Leuten, und ich möchte wohl wissen, wo sie jetzt sind. ›Ach, alle zerstreut‹ -- natürlich; und die Blüte und Anmut und Schönheit ihrer Jugend, wo sind sie jetzt? Unter ihnen war ein Lügenbold; alle versuchten ihn zu bessern, aber keinem gelang es. So überließ man ihn denn nach und nach sich selber; keiner von uns wollte etwas mit ihm zu tun haben. Oft habe ich seither im Geiste die einsame Gestalt vor mir gesehen, wie sie gedankenvoll gegen das Heckbord gelehnt stand, und ich habe bei mir gedacht, wenn wir uns mehr Mühe gegeben und mehr Geduld gehabt hätten, so hätten wir ihn vielleicht doch von seinem Fehler befreien und durch Zureden ihn davon abbringen können. Aber -- man mag es kaum aussprechen -- er war mit Leib und Seele seinem Laster verfallen und wahrscheinlich unverbesserlich. Ich möchte gerne glauben -- und glaube in der Tat -- daß ich alles tat, was an mir war, um ihn zu höherer und besserer Gesinnung zu bekehren. Wir hatten ein eigentümliches Erlebnis. Das Schiff lag während der Kalme die vollen 14 Tage lang genau auf demselben Fleck. Dann kam eine hübsche Brise wellenkräuselnd über die See, und wir breiteten unsre weißen Schwingen zum Fluge aus. Aber das Schiff rührte sich nicht. Die Segel blähten sich, der Wind spannte die Taue an, aber das Schiff bewegte sich nicht um Haaresbreite vom Fleck. Der Kapitän war überrascht. Erst nach mehreren Stunden fanden wir heraus was uns festhielt. Entenmuscheln! Sie sammeln sich in jenem Teil des Stillen Meeres sehr schnell an. Sie hatten sich an den Schiffsboden angesetzt; andre hatten sich wieder an diesen Haufen angesetzt, andre wieder an diese und so weiter, tiefer und tiefer und tiefer, und der letzte Büschel hatte die Säule stark und fest an den Meeresgrund angeheftet, und die See ist an jener Stelle fünf Meilen tief. So war also das Schiff ganz einfach der Griff eines fünf Meilen langen Spazierstocks -- jawohl!, und war durch Wind und Segel so wenig zu bewegen wie festes Land. Jedermann sah diese Tatsache als etwas sehr Merkwürdiges an. Nun, die Woche darauf -- indessen, Sandy Hook ist in Sicht. [Illustration] Der Roman der Eskimo-Maid. »Ja, Herr Twain, ich will Ihnen von meinem Leben alles erzählen, was Sie gerne hören möchten,« sagte sie mit ihrer sanften Stimme und dabei sah sie mir mit ihren unschuldigen Augen ruhig ins Gesicht; »denn es ist lieb und nett von Ihnen, daß Sie mich leiden mögen und etwas über mich wissen wollen.« Sie hatte, in Gedanken versunken, mit einem beinernen Messerchen Walfischfett von ihren Wangen geschabt und es an ihrem Pelzärmel abgewischt und dabei auf das Nordlicht am Himmel geblickt, das seine flammenden Strahlen in reichen Regenbogenfarben über die einsame Schneeebene und die Dome der Eisberge ergoß -- ein Schauspiel von fast unerträglich glänzender Schönheit. Aber jetzt schüttelte sie die träumerische Stimmung von sich ab und schickte sich an, mir die einfache kleine Geschichte zu erzählen, um die ich sie gebeten hatte. Sie setzte sich bequem auf dem Eisblock zurecht, der uns als Sofa diente, und ich nahm die Haltung eines aufmerksamen Zuhörers an. Sie war ein schönes Geschöpf. Ich spreche vom Eskimostandpunkt. Andere hätten sie für ein bißchen reichlich fett halten mögen. Sie war gerade zwanzig Jahre alt und galt für das weitaus bezauberndste Mädchen ihres Stammes. Sogar hier in der freien Luft, in ihren schwerfälligen und unförmlichen Pelzröcken, Pelzhosen und Pelzstiefeln und unter der großen Kapuze war wenigstens die Schönheit ihres Gesichtes erkennbar; die Schönheit ihrer Gestalt mußte man allerdings auf Treu und Glauben annehmen. Unter allen aus- und eingehenden Gästen hatte ich an ihres Vaters gastlichem Eßtrog kein Mädchen gesehen, das man ihrer ebenbürtig hätte nennen können. Und dabei war sie unverdorben! Sie war lieblich und natürlich und aufrichtig, und wenn sie wußte, daß sie eine Schönheit war, so ließ doch nichts in ihrem Gehaben darauf schließen, daß sie diese Kenntnis besaß. Sie war nun seit einer Woche meine tägliche Kameradin gewesen, und je besser ich sie kennen lernte, desto besser gefiel sie mir. Sie war zärtlich und sorgfältig aufgezogen worden, in einer Lebensluft, die in den Polargegenden als eine außerordentlich verfeinerte gelten konnte, denn ihr Vater war der einflußreichste Mann seines Stammes und stand auf der Höhe der Eskimokultur. Ich machte mit Lasca -- so hieß sie -- lange Spazierfahrten im Hundeschlitten über die mächtigen Eisfelder und fand ihre Gesellschaft stets liebenswürdig und ihre Unterhaltung angenehm. Ich ging mit ihr auf den Fischfang, aber nicht in ihrem lebensgefährlich schwachen Boot, sondern ich spazierte bloß am Eisrande entlang und sah zu, wie sie mit ihrem unfehlbar treffenden Speer ihr Wild erlegte. Wir segelten miteinander; mehreremale stand ich dabei, wenn sie und ihre Familie von einem gestrandeten Wal den Speck ernteten, und einmal begleitete ich sie ein Stück Weges auf die Bärenjagd; ich kehrte aber um, ehe es zum Schuß kam, denn im Grunde habe ich Angst vor Bären. Nun, wie gesagt, sie wollte mir ihre Geschichte erzählen. Hier ist sie: »Unser Stamm war nach uraltem Brauch wie die anderen Stämme über das gefrorene Meer von Ort zu Ort gewandert, aber vor zwei Jahren wurde mein Vater dieses Wanderns müde und baute sich dieses große Schloß aus Schneeblöcken -- sehen Sie es nur an! Es ist sieben Fuß hoch und drei- oder viermal so lang als irgend ein anderes Haus. Hier haben wir seither immer gewohnt. Er war sehr stolz auf sein Haus und das mit Recht; denn wenn Sie es sich aufmerksam ansahen, so müssen Sie bemerkt haben, wieviel schöner und vollständiger es ist als die üblichen Wohnungen. Haben Sie noch nicht darauf geachtet, so müssen Sie es unbedingt thun, denn Sie werden darin eine luxuriöse Ausstattung finden, die sich hoch über das Gewöhnliche erhebt. Zum Beispiel, an dem Ende, das Sie den ›Empfangssalon‹ genannt haben, da ist die erhöhte Plattform, woran meine Familie und ihre Gäste es sich beim Essen bequem machen. Diese Plattform ist die größte, die Sie je in einem Hause gesehen haben -- nicht wahr?« »Ja, Sie haben vollkommen recht, Lasca; es ist die größte. Wir haben selbst in den schönsten Häusern der Vereinigten Staaten nichts Aehnliches.« Bei dieser Anerkennung funkelten ihre Augen voll Stolz und Wonne. Ich bemerkte es und schrieb es mir hinter die Ohren. »Ich dachte mir’s, daß die Plattform Sie überrascht hätte,« sagte sie. »Und noch eins: Der Boden ist viel dicker mit Pelzen belegt als sonst üblich ist. Alle Arten Pelzwerk -- vom Seehund, Seeotter, Silberfuchs, Bär, Marder, Zobel -- alle Arten Pelzwerk sind im Ueberfluß vorhanden. Dasselbe gilt von den Eisblockschlafbänken an der Wand, die Sie ›Betten‹ nennen. Sind bei Ihnen zu Hause Plattformen und Schlafbänke besser ausgestattet?« »Das sind sie wirklich nicht, Lasca -- man denkt noch gar nicht mal daran.« Das gefiel ihr wieder. Sie dachte bloß an die Zahl der Pelze, die ihr feinsinniger Vater sich die Mühe nahm aufzubewahren, nicht an deren Wert. Ich hätte ihr sagen können, daß diese Massen von kostbarem Pelzwerk ein Vermögen bedeuteten -- oder wenigstens in meiner Heimat bedeuten würden -- aber sie hätte das nicht verstanden; solche Sachen galten bei ihrem Volk nicht als Reichtümer. Ich hätte ihr sagen können, daß die Kleider, die sie anhatte, oder die Alltagskleider der gewöhnlichsten Person ihrer Umgebung, zwölf- oder fünfzehnhundert Dollars wert seien, und daß ich bei uns zu Hause keine Dame kenne, die in Zwölfhundert-Dollars-Toiletten fischen ginge. Aber auch dies hätte sie nicht verstanden. Deshalb sagte ich nichts. Sie fuhr fort: »Und dann die Spülzuber! Wir haben zwei im Empfangssalon und außerdem noch zwei andere im Hause. Es kommt sehr selten vor, daß jemand zwei im Empfangssalon hat. Haben Sie zwei in Ihrem Salon daheim?« Der bloße Gedanke an diese Spülzuber benahm mir den Atem; ich sammelte mich aber wieder, bevor sie etwas merkte, und sagte voll Wärme: »Hören Sie, Lasca, es ist schlecht von mir, daß ich meine Heimat bloßstelle, und Sie dürfen es nicht weiter sagen, denn ich spreche zu Ihnen im Vertrauen -- ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß nicht mal der reichste Mann in der Stadt New York zwei Spülzuber in seinem Salon hat.« Sie schlug in unschuldigem Entzücken ihre pelzbekleideten Hände zusammen und rief: »O, das kann doch nicht Ihr Ernst sein, das _kann_ nicht Ihr Ernst sein!« »Ja, es ist _wirklich_ mein Ernst, Liebste! Da ist Vanderbilt. Vanderbilt ist ungefähr der reichste Mann auf der ganzen Welt. Nun, und wenn ich auf dem Totenbett läge, so könnte ich Ihnen sagen, daß nicht mal er zwei in seinem Salon hat. Ja, nicht mal _einen_ hat er -- ich will auf der Stelle sterben, wenn’s nicht wahr ist!« Ihre lieblichen Augen standen vor Erstaunen weit aufgerissen, und sie sagte langsam, mit einem gewissen Beben in der Stimme: »Wie seltsam -- wie unglaublich -- man kann es sich gar nicht vorstellen. Ist er geizig?« »Nein -- das ist er nicht. Auf die Ausgabe kommt’s ihm nicht an, aber -- hm -- wissen Sie, es würde protzig aussehen. Ja, das ist es -- so denkt er. Er ist ein einfacher Mann auf seine Art und hat eine Abneigung gegen Entfaltung von Pomp und Prunk.« »Nun, solche Demut ist ja recht anerkennenswert,« sagte Lasca, »wenn man sie nicht zu weit treibt -- aber wie sieht denn nun der Salon aus?« »Na, natürlich ziemlich kahl und unvollständig, aber ...« »Das kann ich mir denken. So was habe ich noch nie gehört! Ist es ein schönes Haus -- ich meine, abgesehen _davon_?« »Ziemlich schön, ja. Man hat ’ne sehr gute Meinung davon.« Das Mädchen saß eine Weile schweigend da und knabberte träumerisch an einem Lichtstumpf. Augenscheinlich versuchte sie sich auf das Gehörte einen Vers zu machen. Zuletzt schüttelte sie leise den Kopf und sprach frank und frei ihre Meinung aus: »Nun, nach meiner Ansicht giebt es eine Art von Demut, die, wenn man ihr auf den Grund geht, doch nur eine Prahlerei ist. Und wenn ein Mann, der sich zwei Spülzuber in seinem Salon leisten kann, es nicht thut, so ist er _vielleicht_ wirklich demütig, aber hundertmal wahrscheinlicher ist es, daß er gerade die Blicke der Welt dadurch auf sich lenken will. Nach meiner Meinung weiß Herr Vanderbilt genau, was er damit bezweckt.« Ich versuchte diesen Urteilsspruch zu mildern, denn ich fühlte, daß der Besitz von zwei Spülzubern nicht für jedermann der richtige Prüfstein sei, obgleich man in der Eskimogegend nichts dagegen einwenden kann. Aber das Mädchen hatte seinen eigenen Kopf und ließ sich nichts einreden. Plötzlich fragte sie: »Haben die reichen Leute bei Ihnen auch so gute Schlafbänke wie wir, aus so hübschen breiten Eisblöcken gemacht?« »Na, sie sind ziemlich gut -- gut genug -- aber aus Eisblöcken sind sie nicht gemacht.« »Ach gar! Warum sind sie denn nicht aus Eisblöcken?« Ich erklärte ihr die Schwierigkeiten und machte sie darauf aufmerksam, wie teuer das Eis in einem Lande ist, wo man auf seinen Eismann scharf aufpassen muß, damit die Eisrechnung nicht schwerer wird als das Eis selber. Da rief sie: »Herrje! _Kaufen_ Sie Ihr Eis?« »Ganz gewiß, mein liebes Kind.« Sie brach in ein stürmisches, harmloses Lachen aus und sagte: »O, so was Albernes habe ich noch nie gehört! Es ist ja doch massenhaft vorhanden, ist kein kleinstes bißchen wert! Ich gäbe keine Fischblase für das Ganze!« »Nun, Sie wissen eben den Wert nicht zu beurteilen, Sie kleine Provinzpflanze Sie! Wenn Sie das Eis hier im Hochsommer in New York hätten, so könnten Sie alle Walfische dafür kaufen, die am Markt sind.« Sie sah mich zweifelnd an und sagte: »Sprechen Sie die Wahrheit?« »Die reinste! Ich leiste meinen Eid darauf.« Das machte sie nachdenklich. Auf einmal sagte sie mit einem kleinen Seufzer: »Ich wollte, da könnte _ich_ wohnen!« Ich hatte ihr nur zum Vergleich Werte nennen wollen, von denen sie sich einen Begriff machen konnte; aber meine Meinung war mißgedeutet. Ich hatte ihr damit nur den Eindruck erweckt, daß in New York Walfische reichlich vorhanden und billig seien, und hatte ihr den Mund wässern gemacht. Es schien am besten zu sein, wenn ich den begangenen Fehler zu mildern versuchte; so sagte ich denn: »Aber Sie würden sich aus Walfischfleisch nichts machen, wenn Sie in New York wohnten. Kein Mensch dort fragt etwas danach.« »Was?!« »Nein, wirklich nicht.« »Aber warum denn nicht?« »T--scha, das weiß ich nicht recht. Es ist ein Vorurteil, denke ich. Ja, das ist’s -- einfach ein Vorurteil. Wahrscheinlich hat mal irgendwo und irgendwann irgend einer, der nichts Besseres zu thun hatte, ein Vorurteil dagegen aufgebracht, und Sie wissen ja, wenn so eine Einbildung mal eingewurzelt ist, so dauert es eine endlose Zeit, bis sie wieder ausgetrieben wird.« »Das stimmt -- das stimmt vollkommen!« sagte das Mädchen nachdenklich. »Geradeso war es hier mit unserem Vorurteil gegen Seife -- wissen Sie, unsere Stämme hatten anfangs ein Vorurteil gegen Seife.« Ich sah sie an. Sprach sie im Ernst? Augenscheinlich ja. Ich zögerte einen Augenblick, dann fragte ich vorsichtig, mit einer gewissen Betonung: »Entschuldigen Sie: Sie _hatten_ ein Vorurteil gegen Seife? Hatten?« »Ja. Aber das war bloß im Anfang. Kein Mensch wollte sie essen.« »Ach so, ich verstehe. Ich wußte nur nicht gleich, was Sie meinten.« Sie fuhr fort: »Es war einfach ein Vorurteil. Als zum erstenmal Seife von den Fremdländischen hierhergebracht wurde, da mochte keiner sie. Sobald sie aber in Mode kam, hatte jeder sie gern und jetzt hat jeder welche, der es sich nur leisten kann. Lieben Sie Seife?« »O ja, gewiß! Ich würde umkommen, wenn ich keine haben könnte -- besonders hier. Haben Sie sie gerne?« »Ich bete sie geradezu an. Mögen Sie Lichte?« »Ich betrachte sie als unentbehrliche Notwendigkeit. Lieben Sie sie?« Ihre Augen tanzten geradezu und sie rief: »O, sprechen Sie nicht davon! ... Lichte! ... und Seife!« »Und Fischeingeweide ...!« »Und Leberthran ...!« »Und Bratenfett ...!« »Und Walfischspeck ...!« »Und recht altes Fleisch von gestrandetem Wal! und Sauerkraut! und Bienenwachs! und Theer! und Terpentin! und Syrup! und ...« »O bitte, nicht mehr! Halten Sie ein! Mir bleibt die Luft weg vor Wonne ...« »Und dann alles zusammen in einer Thrantonne angerichtet und die Nachbarn dazu eingeladen und dann ...« Aber dieses Zauberbild eines idealen Festes war zu viel für sie, und sie fiel in Ohnmacht, das arme Ding. Ich rieb ihr das Gesicht mit Schnee und brachte sie wieder zu sich, und nach einer Weile kühlte ihre Erregung sich ab. Allmählich kam sie wieder so weit, daß sie in ihrer Geschichte fortfahren konnte: »So begannen wir also hier in dem schönen Hause zu wohnen. Aber ich war nicht glücklich. Der Grund war dieser: Ich war zur Liebe geschaffen; ohne Liebe konnte es für mich kein wahres Glück geben. Ich wollte um meiner selbst willen geliebt sein. Ich wollte anbeten und wollte von meinem Angebeteten angebetet werden; nichts Geringeres als gegenseitige Anbetung konnte meine glühende Natur befriedigen. Ich hatte Freier genug -- ja übergenug -- aber in allem und jedem Fall hatten sie einen verhängnisvollen Mangel; früher oder später entdeckte ich diesen Mangel -- kein einziger von ihnen vermochte ihn vor mir zu verhehlen: sie wollten nicht mich, sondern meinen Reichtum!« »Ihren Reichtum?« »Ja; mein Vater ist der allerreichste Mann in unserem Stamm -- und überhaupt unter allen Stämmen dieser Gegend.« Ich fragte mich neugierig, worin wohl ihres Vaters Reichtum bestehen möchte. Das Haus konnte es nicht sein -- ein jeder konnte sich so eins bauen. Die Pelze waren’s auch nicht -- denn die waren hier nichts wert. Der Schlitten, die Hunde, die Harpunen, das Boot, die beinernen Fischhaken, Nadeln u. s. w., das alles konnte es nicht sein -- nein, das war alles kein Reichtum. Was konnte es denn also sein, das diesen Mann so reich machte und den Schwarm von habgierigen Freiern in sein Haus brachte? Schließlich dünkte mich, es wäre, um dies herauszufinden, das beste, wenn ich sie fragte. Ich that es. Das Mädchen war durch diese Frage so augenscheinlich geschmeichelt, daß ich sah, sie hatte sich schmerzlich danach gesehnt. Ihr Mitteilungsbedürfnis brannte sie ebenso sehr wie mich meine Neugier. Sie schmiegte sich traulich an mich an und sagte: »Raten Sie, wie schwerreich er ist -- Sie kriegen es niemals heraus!« Ich that, als dächte ich tief über die Sache nach, und sie beobachtete den Ausdruck meiner Denkanstrengungen auf meinem Gesicht mit atemlosem und entzücktem Interesse. Und als ich es endlich aufgab und sie bat, meine Sehnsucht zu stillen und zu mir selbst zu sagen, wieviel dieser Vanderbilt des Nordpols wert sei, da legte sie ihren Mund dicht an mein Ohr und wisperte eindrucksvoll: »_Zweiundzwanzig Angelhaken_ -- keine beinernen, sondern fremdländische -- _aus echtem Eisen_!« Dann sprang sie mit dramatischer Gebärde zurück, um die Wirkung zu beobachten. Ich gab mir die allergrößte Mühe, sie nicht zu enttäuschen. Ich erbleichte und murmelte: »Gott Strambach!« »Es ist so wahr, wie Sie leben, Herr Twain!« »Lasca, Sie machen mir was weis -- Sie können es nicht im Ernst meinen!« Sie wurde furchtsam und verwirrt und rief aus: »Herr Twain, jedes Wort davon ist wahr -- jedes Wort. Sie glauben mir -- Sie glauben mir doch, bitte, nicht wahr? _Sagen_ Sie, daß Sie mir glauben -- bitte, bitte, sagen Sie, daß Sie’s glauben.« »Ich ... hm ... na ja, ich glaube -- ich bemühe mich, es zu glauben. Aber es kam gar so plötzlich. So plötzlich und so verblüffend. Sie sollten so was nicht so mit einemmal machen. Es ...« »O, es thut mir so leid! Hätte ich nur gedacht ...« »Nun, es ist schon gut ... und ich mache Ihnen keine Vorwürfe mehr, denn Sie sind jung und gedankenlos, und natürlich konnten Sie nicht voraussehen, was für ’ne Wirkung ...« »Ach ja, Bester, ich hätte ganz gewiß besser daran denken sollen. Aber wie ...« »Sehen Sie, Lasca, wenn Sie mit fünf oder sechs Angelhaken angefangen hätten und dann allmählich ...« »O, ich verstehe, ich verstehe ... dann allmählich einen hinzufügen, und dann zwei und dann ... Ach, warum habe ich denn auch nicht daran gedacht!« »Nun, gleichviel, Kind; es ist schon recht. Ich fühle mich jetzt besser ... binnen kurzem werde ich darüber weg sein. Aber ... einem unvorbereiteten und gar nicht sehr kräftigen Menschen mit sämtlichen zweiundzwanzig auf einmal ins Gesicht springen ...!« »O ... es _war_ eine Sünde! Aber Sie verzeihen mir -- sagen Sie, daß Sie mir verzeihen! Bitte!« Nachdem ich ein gut Teil sehr niedlichen Streichelns und Hätschelns und Zuredens eingeheimst hatte, vergab ich ihr, und sie war wieder glücklich und kam nach und nach wieder in ihre Geschichte hinein. Auf einmal entdeckte ich, daß der Familienschatz noch irgend was anderes Ausgezeichnetes enthalten mußte -- augenscheinlich irgend ein Kleinod -- und daß sie versuchte in Andeutungen davon zu sprechen, damit es mich nicht abermals umwürfe. Doch ich wünschte auch von diesen Dingen genau Bescheid zu wissen und drang in sie, mir zu sagen, was es sei. Sie hatte Angst. Aber ich bestand darauf und sagte, diesmal würde ich mich zusammennehmen und den Stoß aushalten. Sie war voll böser Ahnungen, aber die Versuchung, mir das Wunder zu enthüllen und sich an meinem Erstaunen und meiner Bewunderung zu weiden, war zu stark für sie, und sie gestand mir, sie trüge es bei sich, und sagte, wenn sie _sicher_ wäre, daß ich gefaßt sei -- u. s. w. u. s. w. -- und damit griff sie in ihren Busen und brachte ein verbeultes viereckiges Messingstück zum Vorschein, wobei ihr Blick erwartungsvoll an meinem Auge hing. Ich sank an ihren Busen in einer ganz vorzüglich gespielten Ohnmacht, die ihr Herz entzückte und zugleich in höchsten Schrecken versetzte. Als ich wieder zu mir kam, erkundigte sie sich begierig, was ich zu ihrem Kleinod sagte. »Was ich dazu sage? Ich denke, es ist das köstlichste Ding, das ich jemals sah.« »Denken Sie das wirklich? Wie nett von Ihnen, daß Sie das sagen. Aber es ist auch herzig -- ist es nicht?« »Gewiß, das will ich meinen! Ich wollte es lieber mein eigen nennen, als den ganzen Aequator!« »Ich dachte mir’s, daß Sie’s bewundern würden,« sagte sie. »Ich meine, es ist so herzig! Und es giebt kein zweites in diesen ganzen Gegenden! -- Es sind Leute ganz vom offenen Polarmeer hierher gereist, um sich’s anzusehen. Sahen Sie jemals früher so was?« Ich sagte nein; es wäre das erste derartige Juwel, das ich je gesehen hätte. Es gab mir einen schmerzlichen Knax, diese großmütige Lüge zu sagen, denn ich hatte in meinem Leben eine Million solcher Dinger gesehen -- da ihr Kleinod nichts anderes war, als eine verbogene alte New Yorker Bahnhofsgepäckmarke. »Alle Wetter!« sagte ich. »Sie gehen doch nicht mit diesem Juwel auf Ihrem Leibe so allein und ohne Schutz herum, und ohne auch nur ’nen Hund mitzunehmen?« »Pßt! Nicht so laut!« sagte sie. »Niemand weiß, daß ich’s bei mir habe. Sie denken, es liegt bei Papas Schatz. Und da liegt es auch für gewöhnlich.« »Wo ist der Schatz?« Das war eine plumpe Frage, und einen Augenblick lang sah sie verdutzt und ein wenig mißtrauisch drein; aber ich sagte: »O, o! Haben Sie doch keine Angst vor mir. Zu Hause sind wir siebzig Millionen Menschen, und -- ich sollte es eigentlich nicht selber von mir sagen, aber da ist kein einziger unter ihnen allen, der mir nicht unzählbare Angelhaken anvertrauen würde.« Dies beruhigte sie wieder und sie erzählte mir, wo die Angelhaken im Hause versteckt lägen. Dann machte sie eine kleine Abschweifung, um ein bißchen mit der Größe der durchscheinenden Eisplatten zu renommieren, die die Fenster ihres Schlosses bildeten, und fragte mich, ob ich zu Hause je ihresgleichen gesehen, und ich bekannte frei und offen, das hätte ich nicht, und das machte ihr solche Freude, daß sie keine Worte finden konnte, ihre Dankbarkeit darin zu kleiden. Es war so leicht ihr Freude zu machen, und eine solche Freude, dies zu thun, daß ich fortfuhr und sagte: »O, Lasca, Sie sind wirklich ein glückliches Mädchen! Dieses schöne Haus, dies köstliche Juwel, der reiche Schatz, all dieser elegante Schnee und die prachtvollen Eisberge und die grenzenlose Wüste, und die jagdfreien Bären und Walrosse, und edle Freiheit und weite Natur! Und jedermanns Augen ruhen bewundernd auf Ihnen, und jedermanns Ehrfurcht steht Ihnen ungesucht zu Gebote! Jung, reich, schön, umworben, gefeiert, beneidet -- von jedem Luxus sind Sie umgeben, jeder Wunsch wird Ihnen erfüllt, ja es giebt nicht einmal etwas, was Sie wünschen könnten -- was für ein unermeßliches Glück! Ich habe Myriaden von Mädchen gesehen, aber keine, der man alle diese außerordentlichen Dinge mit Recht nachsagen konnte, außer Ihnen. Und Sie sind ihrer würdig -- sind ihrer aller würdig, Lasca -- das glaube ich in meines Herzens Grunde!« Es machte sie unendlich stolz und glücklich, mich dies sagen zu hören und sie dankte mir immer und immer wieder für die Schlußbemerkung, und an ihrer Stimme und ihren Augen merkte ich, daß sie wirklich gerührt war. Aber plötzlich sagte sie: »Und doch, es ist nicht alles Sonnenschein -- es sind auch düstere Wolken vorhanden. Die Bürde des Reichtums ist schwer zu tragen. Oftmals habe ich zweifelnd bei mir gedacht, ob es nicht besser wäre, arm zu sein -- oder wenigstens nicht so über alle Maßen reich. Es schmerzt mich, wenn Leute von Nachbarstämmen mich anstarren, wenn sie bei mir vorüber kommen, und wenn ich sie ehrfurchtsvoll zu einander sagen höre: ›Da! Das ist sie -- die Millionärstochter!‹ Und manchmal sagt einer kummervoll: ›Sie wälzt sich in Angelhaken, und ich -- ich habe nichts!‹ Das bricht mir das Herz. Als ich ein Kind war und wir arm waren, da schliefen wir bei offener Thür, wenn wir wollten, aber jetzt -- jetzt müssen wir einen Nachtwächter haben. Früher war mein Vater freundlich und höflich zu allen; aber jetzt ist er streng und hochfahrend und kann’s nicht leiden, wenn ihm einer vertraulich kommt. Einst war seine Familie sein einziger Gedanke, aber jetzt denkt er, wo er geht und steht, an seine Angelhaken. Und sein Reichtum macht, daß ein jeder unterthänigst vor ihm katzbuckelt. Früher lachte niemand über seine Späße, denn sie sind immer fade und weithergeholt und armselig und mangeln des einzigen Elements, das wirklich einen Spaß rechtfertigen kann -- des Humors. Aber nun lacht und kichert ein jeder über diese greulichen Dinger, und wenn’s einer ’mal nicht thut, so ärgert mein Vater sich tief und läßt es sich merken. Früher fragte kein Mensch nach seiner Meinung, und sie taugte auch wirklich nichts, wenn er sie ’mal ungefragt abgab; diesen Fehler haben seine Meinungen auch jetzt noch, trotzdem wollen alle sie hören und geben ihren Beifall dazu -- und er selbst stimmt in den Beifall ein, denn echtes Zartgefühl hat er gar nicht, dafür aber eine große Masse Taktlosigkeit. Er hat den Ton unseres ganzen Stammes heruntergebracht. Einst war’s ein freimütiges, mannhaftes Geschlecht, jetzt sind sie jämmerliche Heuchler und aufgedunsene Liebediener. Von ganzem Herzensgrunde hasse ich all dies Millionärsgethue. Unsere Stammesgenossen waren einst schlichtes, einfaches Volk, zufrieden mit den beinernen Angelhaken ihrer Väter; jetzt sind sie von Habsucht zerfressen und würden jedes Gefühl von Ehre und Würde opfern, um des Fremdlings entwürdigende eiserne Angelhaken zu erlangen. Aber ich darf bei diesen traurigen Geschichten nicht verweilen ... Wie ich gesagt, es war mein Traum, um meiner selbst willen geliebt zu werden. »Endlich schien dieser Traum in Erfüllung gehen zu sollen. Eines Tages kam ein Fremder durch, der sagte, sein Name sei Kalula. Ich nannte ihm meinen Namen, und er sagte, er liebe mich. Mein Herz hüpfte hoch vor Dankbarkeit und Glück, denn ich hatte ihn auf den ersten Blick geliebt, und nun sagte ich ihm das. Er zog mich an seine Brust und sagte, er wünschte niemals glücklicher zu sein, als in dem Augenblick. Wir lustwandelten miteinander weit über die Eisfelder, sprachen immerfort von uns selber und planten, ach! die lieblichste Zukunft. Als wir endlich müde wurden, setzten wir uns nieder und aßen, denn er hatte Seife und Lichte bei sich, und ich hatte ein bißchen Walfischthran mitgenommen. Wir waren hungrig und niemals schmeckte uns etwas so gut. »Er gehörte zu einem Stamm, dessen Jagdgründe fern im Norden lagen, und ich fand heraus, daß er niemals was von meinem Vater gehört hatte, und das machte mich über alle Maßen froh. Das heißt, er hatte wohl von dem Millionär gehört, kannte aber dessen Namen nicht -- so konnte er also, verstehen Sie, nicht wissen, daß ich die Erbin war. Sie können sich denken, daß ich ihm nichts davon sagte. Endlich war ich um meiner selbst willen geliebt, und wie zufrieden machte mich das! Ich war so glücklich -- o, glücklicher, als Sie sich vorstellen können. »Allmählich wurde es Zeit zum Abendessen, und ich führte ihn nach unserm Hause. Als wir in dessen Nähe kamen, war er erstaunt und rief: »›Wie prachtvoll! Ist das deines Vaters Haus?‹ »Es gab mir einen Stich durchs Herz, als ich diesen Ton hörte und den bewundernden Glanz in seinem Auge sah, aber dies Gefühl schwand bald hinweg, denn ich liebte ihn so sehr, und er sah so schmuck und vornehm aus. Meiner ganzen Familie, Tanten, Onkeln, Vettern und Cousinen gefiel er gut, viele Gäste wurden eingeladen, das Haus wurde dicht verschlossen, die Thranlampen angezündet, und als alles heiß und recht zum Ersticken gemütlich war, da begannen wir ein fröhliches Festmahl zur Feier meiner Verlobung. »Als der Schmaus vorüber war, da erlag mein Vater seiner Eitelkeit und konnte der Versuchung nicht widerstehen, mit seinen Reichtümern zu protzen und Kalula sehen zu lassen, in was für ein großes Glück er hineingetappt wäre -- und vor allem natürlich wollte er sich an des armen Mannes Erstaunen weiden. Ich hätte weinen mögen -- aber es hätte nichts genützt, wenn ich versucht hätte, meinem Vater abzureden; so sagte ich denn nichts, sondern saß nur da und litt schweigend. »Mein Vater ging im Angesicht aller Leute geradenweges auf das Versteck los und holte die Angelhaken hervor und brachte sie herbei und warf sie streuend über meinen Kopf weg, so daß sie in glitzerndem Durcheinander vor meines Liebsten Knieen auf die Plattform niederfielen. Natürlich stand bei dem erstaunlichen Schauspiel dem armen Burschen der Atem still. Er konnte nur in stumpfsinniger Verblüfftheit auf die Angelhaken starren und sich wundern, wie ein einzelner Mensch so unglaubliche Reichtümer besitzen könne. Dann auf einmal leuchtete sein Antlitz auf und er rief aus: »›Ah, so bist du der berühmte Millionär!‹ »Mein Vater und alle übrigen brachen lärmend in ein glückliches Gelächter aus, und als mein Vater nachlässig den Schatz zusammenkehrte, als wäre es ein gewöhnlicher Plunder ohne alle Bedeutung, und ihn wieder an seinen Platz trug, da war Kalulas Ueberraschung zum Malen. Er sagte: »›Ist es möglich, daß du solche Sachen forträumst ohne sie zu zählen?‹ »Mein Vater ließ ein prahlerisch wieherndes Lachen erschallen und sagte: »›Gewiß und wahrhaftig, da kann ein Toter sehen, daß du niemals reich gewesen bist, wenn eine Lappalie von einem oder zwei Angelhaken in deinen Augen ein so mächtiges Ding ist!‹ »Kalula war verwirrt und senkte den Kopf; dann sagte er aber: »›Ach, in der That, Herr, ich besaß niemals auch nur soviel, wie der Widerhaken an einer solchen kostbaren Angel wert ist, und ich habe niemals einen Mann gesehen, der so reich war, daß es sich verlohnt hätte, seinen Hort zu zählen, denn der Wohlhabendste, den ich bis jetzt gekannt, besaß nur drei.‹ »Mein thörichter Vater brüllte wieder in albernem Entzücken und mußte dadurch den Eindruck noch vertiefen, daß er nicht gewöhnt sei, seine Angelhaken zu zählen und scharf zu bewachen. Sehen Sie, das war Renommisterei. Ob er sie zählte? Ei ja, er zählte sie jeden Tag! »Ich hatte meinen Liebling in der ersten Morgendämmerung getroffen und kennen gelernt; nach unserem Hause gebracht hatte ich ihn genau drei Stunden später, bei Einbruch der Nacht -- denn die Tage waren kurz, da wir uns damals der sechsmonatlichen Nacht näherten. Viele Stunden dauerte unser festliches Gelage; endlich gingen die Gäste fort, und wir Zurückbleibenden verteilten uns die Wände entlang auf die Schlafbänke und bald waren alle in Träume versunken -- außer mir. Ich war zu glücklich, zu erregt, um schlafen zu können. Nachdem ich lange, lange Zeit still dagelegen hatte, kam bei mir eine undeutliche Gestalt vorbei, die in dem Dunst am anderen Ende des Raumes verschwand. Ich konnte nicht unterscheiden wer es war und ob es ein Mann oder eine Frau sein mochte. Plötzlich kam dieselbe Figur oder eine andere in der entgegengesetzten Richtung an mir vorüber. Ich grübelte in mir darüber nach, was wohl dies alles bedeuten könnte; aber das Grübeln half mir nichts, und während ich noch grübelte, schlief ich ein. »Ich weiß nicht wie lange ich schlief -- aber plötzlich war ich hell wach und hörte meinen Vater mit schrecklicher Stimme rufen: ›Beim großen Schneegott! Es fehlt ein Angelhaken!‹ Eine innere Stimme sagte mir, dies bedeute Kummer und Sorge für mich -- und das Blut in meinen Adern erstarrte vor Kälte. Mein Vorgefühl fand sich im selben Augenblick bestätigt; mein Vater schrie: ›Auf, ihr alle miteinander und packt mir den Fremden!‹ Dann ein Ausbruch von Geschrei und Flüchen auf allen Seiten und ein wildes Rennen schattenhafter Gestalten durch die Dunkelheit. Ich eilte meinem Geliebten zu Hilfe, aber was konnte ich anders thun als warten und die Hände ringen? »Er war bereits durch einen lebenden Wall von mir getrennt, und man war dabei, ihm Hände und Füße zu binden. Erst als sie sich seiner versichert hatten, ließen sie mich zu ihm. Ich warf mich auf seine arme mißhandelte Gestalt und weinte meinen Schmerz an seiner Brust aus, während mein Vater und meine ganze Familie auf mich schalten und ihn mit Drohungen und schmählichen Schimpfworten überhäuften. Er ertrug diese schnöde Behandlung mit einer ruhigen Würde, die ihn mir teurer denn je machte und mich mit glücklichem Stolz erfüllte, daß ich mit ihm und für ihn leiden durfte. Ich hörte, wie mein Vater befahl, die Aeltesten des Stammes sollten zusammengerufen werden, um über Kalula auf Leben und Tod zu richten. »›Was?!‹ rief ich. ›Bevor überhaupt nach dem verlorenen Haken gesucht worden ist?‹ »›Nach dem _verlorenen_ Haken!‹ riefen sie alle höhnisch, und mein Vater fügte spöttisch hinzu: ›Tretet alle beiseite und seid recht ernst, wie sich’s gehört -- sie geht auf die Jagd nach dem ›verlorenen‹ Haken! O, ohne Zweifel wird sie ihn finden!‹ -- worauf sie wieder alle lachten. »Auf mich machte dies keinen Eindruck -- ich hatte keine Befürchtungen, keine Zweifel. Ich sagte: »›Jetzt seid ihr daran zu lachen; aber wir kommen auch noch an die Reihe. Wartet ab und seht!‹ »Ich ergriff eine Thranlampe. Ich dachte, ich würde das elende kleine Ding in einem Augenblick finden; und ich begab mich mit solcher Zuversicht auf die Suche, daß meine Leute ernst wurden. Es dämmerte ihnen der Gedanke, sie wären doch vielleicht zu voreilig gewesen. Aber ach und je! O, wie bitter war dieses Suchen. Eine Zeitlang, während welcher man zehn- oder zwölfmal seine Finger hätte zählen können, herrschte tiefes Schweigen, dann begann mir das Herz zu sinken, und um mich herum fingen wieder die Spottreden an und wurden immer lauter und zuversichtlicher, bis zuletzt, als ich es aufgab, Salve auf Salve von grausamem Gelächter erscholl. »Kein Mensch kann jemals ahnen, was ich da litt. Aber meine Liebe war mir Stütze und gab mir Kraft, ich stellte mich auf den mir zukommenden Platz an meines Kalula Seite, schlang meinen Arm um seinen Nacken und flüsterte ihm ins Ohr: »›Du bist unschuldig, mein Herzlieb -- das weiß ich. Aber sage es selber mir zum Trost. Dann kann ich alles tragen, was immer uns beschieden sein mag.‹ »Er antwortete: »›So gewiß ich in diesem Augenblick auf der Schwelle des Todes stehe: ich bin unschuldig. Tröste dich also, o zertretenes Herz. Sei im Frieden, o du Atemzug meiner Nüstern, Leben meines Lebens!‹ »›Nun, so laßt die Aeltesten kommen!‹ Und als ich diese Worte sprach, da kam von draußen ein verworrenes Geräusch von knirschendem Schnee, und dann huschten wie Geister gebeugte Gestalten zur Thür herein -- die Aeltesten! »Mein Vater klagte den Fremden in aller Form an und schilderte die Vorgänge der Nacht in allen ihren Einzelheiten. Er sagte, der Nachtwächter habe vor der Thür gestanden und drinnen sei kein Mensch gewesen außer der Familie und dem Fremden. ›Würde die Familie ihr eigenes Eigentum stehlen?‹ Er hielt inne. Die Aeltesten saßen viele Minuten lang schweigend da; zuletzt sagte einer nach dem andern zu seinem Nachbarn: ›Das sieht schlimm aus für den Fremden.‹ Kummer bringende Worte für mich zu hören! Dann setzte mein Vater sich hin. O, ich Elende -- Elende ich! In demselben Augenblick hätte ich meines Lieblings Unschuld beweisen können -- aber ich wußte es nicht! »Der Vorsitzende des Gerichtes fragte: »›Ist hier jemand, der den Angeklagten verteidigen will?‹ »Ich stand auf und sagte: »›Warum sollte _er_ denn den Haken stehlen -- einen einzelnen oder sie alle zusammen? Einen Tag darauf wäre er ja der Erbe des ganzen Schatzes gewesen!‹ »Ich stand und wartete. Es trat ein langes Schweigen ein; der Atemdampf von den vielen Menschen umwallte mich wie ein Nebel. Endlich nickte ein Aeltester nach dem anderen mehreremale langsam mit dem Kopf und murmelte: ›Es liegt Beweiskraft in dem, was das Kind gesagt hat.‹ O was für eine Herzerleichterung lag in diesen Worten! Wenn auch flüchtig -- wie köstlich war sie doch. Ich setzte mich. »›Wenn einer noch etwas zu sagen wünscht, so möge er jetzt sprechen -- später aber schweige er,‹ sagte der Vorsitzende. »Mein Vater stand auf und sprach: »›Während der Nacht kam in dem trüben Dämmer eine Gestalt bei mir vorüber, ging zum Schatz und kam plötzlich wieder zurück. Ich glaube jetzt, es war der Fremde.‹ »O, ich war einer Ohnmacht nahe! Ich hatte gedacht, es sei mein Geheimnis; nicht der große Eisgott selber hätte es mir aus dem Herzen reißen sollen. Der vorsitzende Richter sagte ernst zu meinem armen Kalula: »›Sprich!‹ »Kalula zauderte, dann antwortete er: »›Ich war’s! Die Gedanken an die schönen Angelhaken ließen mich nicht schlafen. Ich ging hin und küßte sie und streichelte sie, um meinen Geist zu beruhigen und mit einer harmlosen Freude einzulullen. Dann legte ich mich wieder hin. Ich habe vielleicht einen fallen lassen, aber gestohlen habe ich keinen!‹ »O, was für ein verhängnisvolles Eingeständnis an solchem Ort! Schauerliches Schweigen herrschte. Ich wußte, er hatte sein eigenes Urteil gesprochen, und es war alles vorüber. Auf jedem Antlitz konnte man die Worte eingegraben lesen: ›Es ist ein Geständnis -- und ein armseliges, lahmes, schwächliches!‹ »Ich saß und hielt meine schwachen Atemzüge an -- und wartete. Auf einmal hörte ich die feierlichen Worte, die, wie ich wußte, kommen mußten. Und jedes Wort, wie es ertönte, fuhr mir wie ein Messer ins Herz: »›Es ist der Befehl des Gerichtshofes, daß der Angeklagte der ›Wasserprobe‹ unterworfen werde.‹ »O, Fluch auf das Haupt des Menschen, der die Wasserprobe in unser Land brachte! Sie kam vor Menschenaltern aus irgend einem fernen Lande -- wo es liegt, weiß keine Seele. Vorher benutzten unsere Väter Zeichendeutung und andere unsichere Beweismittel, und ohne Zweifel kam dann und wann ein armes Geschöpf trotz seiner Schuld mit dem Leben davon. Nicht so ist es mit der Wasserprobe; denn diese ist von weiseren Männern erfunden worden, als wir armen unwissenden Wilden sind. Durch sie werden die Unschuldigen zweifellos und fraglos für unschuldig befunden, denn sie ertrinken; die Schuldigen aber werden mit derselben Sicherheit als schuldig erkannt, denn sie gehen nicht unter. Das Herz brach mir im Busen, denn ich sagte mir: ›Er ist unschuldig und er wird in die Wogen versinken und ich werde ihn niemals wiedersehen.‹ »Von diesem Augenblick an wich ich nicht mehr von seiner Seite. Ich trauerte in seinen Armen all die kostbaren Stunden lang, und er übergoß mich mit dem tiefen Strom seiner Liebe. Zuletzt rissen sie ihn von mir und ich folgte ihnen schluchzend und sah sie ihn in die See schleudern -- dann verhüllte ich mein Antlitz mit den Händen. Todesqual? O, ich kenne die tiefsten Tiefen dieses Wortes! »Im nächsten Augenblick brachen die Leute in ein hämisches Freudengeschrei aus; vor Schreck zusammenfahrend nahm ich meine Hände vom Gesicht. O bitterer Anblick: _er schwamm_! Augenblicklich wurde mein Herz zu Stein, zu Eis. Ich sagte: ›Er war schuldig -- und er log mir!‹ Voll Verachtung wandte ich meinen Rücken und ging meines Weges -- nach Hause. »Sie fuhren mit ihm weit hinaus in die See und setzten ihn auf einen Eisberg, der nach Süden trieb -- nach Süden zu den großen Gewässern. Dann kam meine Familie heim und mein Vater sprach zu mir: »›Dein Dieb sendet dir seine Todesbotschaft. Er sagt: »Sage ihr, ich bin unschuldig und alle Tage und alle Stunden und alle Minuten, während ich verhungere und verkomme, werde ich sie lieben und an sie denken und den Tag segnen, da ich ihr süßes Antlitz zuerst erblickte.« -- Ganz reizend, geradezu poetisch!‹ »Ich sagte: ›Pfui, wie schmutzig -- laßt mich niemals wieder ihn nennen hören.‹ »Und ach -- denken zu müssen: Er _war_ unschuldig! »Neun Monate -- neun öde traurige Monate gingen dahin und endlich kam der Tag des großen Jahresopfers, wo alle Jungfrauen des Stammes ihr Antlitz waschen und ihr Haar kämmen. Mit dem ersten Strich meines Kammes kam zum Vorschein der verhängnisvolle Angelhaken, kam heraus aus seinem Versteck, wo er diese ganzen neun Monate genistet hatte -- und ich fiel ohnmächtig in die Arme meines von Reue gequälten Vaters! Stöhnend sagte er: ›Wir mordeten ihn, und ich werde niemals wieder lächeln.‹ Er hat sein Wort gehalten ... Höre: von diesem Tage bis heute verging kein Monat, daß ich nicht mein Haar kämmte! Aber ach, was nützt das alles jetzt! ...« * * * * * So endete der armen Jungfrau bescheidene kleine Geschichte -- und wir lernen daraus: Sintemalen hundert Millionen Dollars in New York und zweiundzwanzig Angelhaken am Rande der arktischen Zone dieselbe finanzielle Uebermacht darstellen, so ist ein Mann in bedrängten Verhältnissen ein Narr, wenn er in New York bleibt, da er doch nur für zehn Cents Angelhaken zu kaufen und auszuwandern braucht. [Illustration] Die Erzählung des Kaliforniers. Vor dreiundzwanzig Jahren war ich den Stanislaus aufwärts auf die Goldsuche aus. Den lieben langen Tag wanderte ich mit Spitzhaue, Waschpfanne und Horn, wusch hier einen Hutvoll Erde aus und dort einen, und dachte immer, ich würde einen reichen Fund machen. Aber ich machte keinen. Es war eine liebliche Gegend, waldreich mit köstlich würziger Luft. Vor vielen Jahren war sie dicht bevölkert gewesen, aber jetzt waren die Menschen verschwunden und es war einsam in dem entzückenden Paradiese. Als das oberflächliche Graben sich nicht mehr lohnte, gingen die Goldsucher fort. An einer Stelle, wo eine betriebsame kleine Stadt mit Bankhäusern und Zeitungen und Feuerwehr und einem Bürgermeister nebst Stadträten gestanden hatte, da war jetzt bloß noch ein weitausgedehnter smaragdgrüner Rasen und nicht das leiseste Zeichen verriet, daß jemals menschliches Leben sich hier gerührt hatte. Es war in der Nähe von Tuttletown. In der Nachbarschaft daherum, längs den staubigen Landstraßen fand man in Zwischenräumen verstreut die niedlichsten kleinen Landhäuser, nett und kosig und so mit rosenübersätem Weinlaub umsponnen, daß Thüren und Fenster völlig dahinter verschwanden -- ein Zeichen, daß diese Heimstätten verlassen waren, seit vielen Jahren von enttäuschten Familien aufgegeben, die sie weder verkaufen noch auch nur verschenken konnten. Ab und zu, so etwa jede halbe Stunde einmal, kam man bei einsam liegenden Blockhütten vorbei, die in der Morgenröte der Goldgräberzeit von den ersten Goldgräbern, den Vorläufern der Landhausbesitzer, gebaut waren. In einigen wenigen Fällen waren diese Hütten noch jetzt bewohnt; und wenn man so eine traf, so konnte man sich darauf verlassen, daß der Bewohner der Pionier selbst war, der einst die Hütte gebaut hatte; und noch auf eins konnte man sich verlassen: er war da, weil er einmal seine Gelegenheit, reich nach den ›Staaten‹ zurückzukehren, verpaßt hatte. Er hatte später seinen Reichtum wieder verloren und dann in seiner Zerknirschtheit beschlossen, alle Verbindungen mit den Verwandten und Freunden daheim abzubrechen und hinfort bei ihnen für tot zu gelten. Ueber ganz Kalifornien war damals eine Schar von solchen lebendig-toten Männern verstreut. In ihrem Stolz getroffene arme Burschen, grau und alt mit vierzig, hatten sie keine anderen Gedanken als Reue und Sehnsucht: Reue wegen ihres vergeudeten Lebens und Sehnsucht, mit dem Kampf und allem anderen fertig zu sein. Es war ein einsames Land! In all diesen friedlichen weiten Grasebenen und Wäldern kein Laut als das einschläfernde Summen der Insekten; kein Schimmer von Menschen oder Vieh; nichts, was einem den Sinn aufmuntert und Freude am Leben giebt. So empfand ich denn ein beinahe dankbares Gefühl der Erleichterung, als ich am frühen Nachmittag ein menschliches Wesen zu Gesicht bekam. Es war ein Mann von etwa fünfundvierzig Jahren und er stand an der Gartenpforte von einem jener traulichen rosenumrankten Häuschen, von denen ich vorhin sprach. Dieses hier machte aber keinen verödeten Eindruck; man sah ihm im Gegenteil an, daß Menschen darin wohnten und es pflegten und mit Lust und Liebe sauber hielten; und in dem Vorhof war ein Garten mit überreichem, buntem Blumenflor. Natürlich wurde ich gebeten hereinzukommen und es mir behaglich zu machen -- so ist es dort zu Lande Brauch. Es war ein köstliches Gefühl, in solchem Hause zu weilen, nachdem ich wochenlang täglich und nächtlich nur in Goldgräberhütten verkehrt hatte -- und das bedeutete schmutzige Fußböden, nie gemachte Betten, Blechteller und -Becher, Speck und Bohnen und schwarzen Kaffee, und nichts zum Schmuck als Kriegsbilder, die aus östlichen Zeitschriften herausgerissen und mit Nägeln an den Holzwänden befestigt waren. Ueberall harte, freudlose, trostlose Verdumpfung -- aber hier war ein Nest, wo das ermüdete Auge sich ausruhen konnte. Es ist in der menschlichen Natur ein gewisses Etwas, das, wenn es nach langer Entbehrung auf Erzeugnisse der Kunst trifft -- mögen sie auch billig und bescheiden sein -- sofort sich bewußt wird, daß es unbewußt nach solcher Speise gehungert und daß es sie jetzt gefunden hat. Ich hätte niemals gedacht, daß ein Lappenteppich mich so heiter, so zufrieden machen könnte oder daß ein Seelentrost in Tapeten und eingerahmten Lithographien läge und in hellfarbigen Sofaschonern und Lampenschirmen, in Lehnstühlen und in lackierten Nippschränkchen mit Seemuscheln und Büchern und Porzellanvasen darauf und überhaupt in all den unbezeichenbaren Kleinigkeiten, die eine Frauenhand in einem Hauswesen anzubringen weiß -- man sieht sie, ohne es zu wissen, und würde sie doch augenblicklich vermissen, wenn sie weggenommen würden. Das Entzücken, das ich im Herzen empfand, sprach sich auf meinem Gesicht aus und der Mann sah es und freute sich darüber; und als antwortete er auf eine Bemerkung von mir, sagte er in liebevollem Ton: »Alles _ihr_ Werk! Sie machte es alles selber -- jedes bißchen,« und er umfaßte das Zimmer mit einem Blick voll verehrungsvoller Liebe. Ein japanisches Tuch, so ein Stück von jenem weichen Stoff, womit Frauen sorgfältig-nachlässig den oberen Teil eines Bilderrahmens zu verhängen pflegen, war in Unordnung geraten. Er bemerkte es und brachte es mit vorsichtiger Hand wieder in die richtige Lage, wobei er mehreremale zurücktrat, um den Eindruck zu beurteilen. Endlich fand er es nach Wunsch, strich zum Schluß noch ein- oder zweimal leicht mit der Hand darüber und sagte: »Sie macht es immer so. Man kann nicht genau sagen, was daran fehlt, aber es fehlt wirklich etwas daran, bis man’s ebenso gemacht hat; man sieht es selbst, wenn man damit fertig ist -- aber das ist auch alles, was man davon weiß. Warum es so ist, das weiß man nicht; ’s ist wie wenn eine Mutter zum Schluß ihrem Kind übers Haar streicht, nachdem sie’s gekämmt und gebürstet hat; so ist’s, wie mir scheint. Ich habe ihr so oft zugesehen, wenn sie all die Dinger hier festmacht, daß ich selber ganz richtig damit umgehen kann, obwohl ich nicht weiß, _warum_ das so und jenes so sein muß. Aber _sie_ kennt auch das Warum. Sie weiß mit dem Wie sowohl wie mit dem Warum Bescheid; ich verstehe vom Warum nichts, ich kenne bloß das Wie.« Er führte mich in ein Schlafzimmer, wo ich mir die Hände waschen könnte. So ein Schlafzimmer hatte ich seit Jahren nicht gesehen: weiße Bettdecke, weiße Kissen, dielenbelegter Fußboden, Tapeten an den Wänden, Bilder, Putztisch mit Spiegel und Nadelkissen und zierlichen Toilettegegenständen; und in der Ecke ein Waschtisch mit Schüssel und Krug aus echtem Porzellan und mit Seife in einem Porzellannapf und an einem Gestell mehr als ein Dutzend Handtücher -- Handtücher so sauber und weiß, daß einem, der an so etwas nicht mehr gewöhnt war, ihr Gebrauch wie eine Verschwendung vorkam. Man mußte meinem Gesicht ansehen, was ich empfand, und er freute sich wieder darüber und sagte: »Alles _ihr_ Werk; sie machte es alles selber -- jedes bißchen, kein Ding hier, das nicht die Berührung ihrer Hand gefühlt hat. Nun werden Sie denken ... aber ich darf nicht so viel sprechen ...« Ich trocknete gerade meine Hände ab und ließ dabei meine Augen im Zimmer herum von einem Gegenstand zum andern wandern, wie man’s gerne thut, wenn man an einem neuen Ort ist, wo jedes Ding, das man sieht, ein Labsal für Auge und Gemüt ist. Und ich merkte -- man merkt so etwas manchmal auf unerklärliche Weise -- daß da irgendwo irgendwas vorhanden wäre, was ich nach des Mannes Wunsch selber entdecken sollte. Ich wußte das ganz genau und ich merkte auch, daß er mir durch verstohlene Andeutungen mit seinen Augen dabei zu helfen suchte; so gab ich mir denn viele Mühe, dahinter zu kommen, denn ich wollte ihm gerne ein Vergnügen machen. Mehreremale riet ich falsch -- ich sah es aus dem Augenwinkel, ohne daß er ein Wort sagte. Zuletzt aber mußte ich meinen Blick auf die richtige Stelle gelenkt haben; ich merkte das an dem Behagen, das in unsichtbaren Wellen von ihm ausströmte. Er brach in ein glückliches Lachen aus, rieb sich die Hände und rief: »Das ist’s! Sie haben’s herausgefunden. Ich wußte, Sie würden’s finden! ’s ist ihr Bild.« Ich ging zu dem kleinen Schwarznußpaneel an der anderen Wand und fand dort etwas, was ich bisher noch nicht beachtet hatte -- einen Photographieständer. Der Rahmen umschloß das süßeste Mädchenantlitz und -- wie mir’s vorkam -- das schönste, das ich je gesehen. Der Mann trank die Bewunderung von meinem Gesicht und war völlig befriedigt. »Neunzehn war sie an ihrem letzten Geburtstag,« sagte er, als er das Bild wieder auf seinen Platz stellte, »und das war der Tag, an dem wir heirateten. Wenn Sie sie sehen -- aber warten Sie nur, wenn Sie sie sehen!« »Wo ist sie? Wann wird sie zurück sein?« »O, sie ist jetzt gerade verreist. Sie besucht ihre Leute. Sie wohnen vierzig oder fünfzig Meilen von hier. Heute vor vierzehn Tagen reiste sie ab.« »Wann erwarten Sie sie zurück?« »Heut’ ist Mittwoch. Sie wird Samstag wieder da sein, am Abend -- wahrscheinlich so um neun Uhr.« Ich hatte ein schneidendes Gefühl von Enttäuschung. »Das thut mir leid, weil ich dann wieder fort sein werde,« sagte ich voll Bedauern. »Fort? Nein -- warum sollten Sie denn gehen? Gehen Sie nicht. Sie wird so enttäuscht sein!« Sie würde enttäuscht sein -- das schöne Geschöpf. Hätte sie selber mir diese Worte gesagt, sie könnten mir kaum wohler gethan haben. Ich fühlte ein tiefes starkes Sehnen danach, sie zu sehen. Ein so sehnsüchtiges, so dringliches Verlangen, daß es mir bange machte. Ich sagte zu mir selbst: Ich will stracks von hier fortgehen -- um meines Seelenfriedens willen. »Wissen Sie, sie liebt es, wenn Leute kommen und bei uns bleiben -- Leute, die was verstehen und sprechen können -- Leute wie Sie. Da hat sie ihre Wonne dran; denn sie selber weiß -- o sie weiß beinahe alles, und kann reden, o, wie ein Vogel -- und was für Bücher sie liest -- wahrhaftig, Sie würden sich wundern. Gehen Sie nicht; es ist ja nur eine kleine Weile und sie würde so enttäuscht sein.« Ich hörte die Worte, aber achtete kaum darauf, so tief war ich in den Widerstreit meiner Gedanken verstrickt. Er ließ mich allein, aber ich merkte es nicht. Plötzlich war er wieder da mit dem Photographieständer in seiner Hand und hielt mir das Bild vor die Augen und sagte: »Da! Nun sagen Sie ihr ins Gesicht, Sie hätten hier bleiben können um sie zu sehen, und wollten’s nicht!« Dieser zweite Anblick machte alle meine guten Vorsätze zu Schanden. Ich beschloß, auf jede Gefahr hin zu bleiben. Am Abend rauchten wir in Ruhe unsere Pfeife und plauderten bis spät in die Nacht von allerlei, besonders aber von ihr und gewiß hatte ich seit vielen Tagen nicht einen so angenehmen und ruhigen Abend verlebt. Den Donnerstag verbrachten wir in aller Behaglichkeit. In der Dämmerstunde kam ein großer Goldgräber, der drei Meilen entfernt wohnte -- einer von den grauhaarigen gestrandeten Pionieren. Er begrüßte uns warm, wenngleich er ernst und nüchtern sprach. Dann sagte er: »Ich spreche bloß ’mal schnell ein um zu hören wie’s mit dem Frauchen steht und wann sie heim kommt. Giebt’s was Neues von ihr?« »O ja, einen Brief. Möchtest du ihn hören, Tom?« »Nu, ich denke, das möchte ich wohl, wenn’s dir recht ist, Henry.« Henry holte den Brief aus seinem Taschenbuch hervor und sagte, wenn’s uns recht wäre, so wollte er ein paar von den Sätzen über Privatangelegenheiten überschlagen; dann fing er an und las den Hauptteil des Briefes -- ein liebevolles ruhiges und ganz reizend anmutiges Stück Arbeit mit einem Postskriptum voll von freundlichen Aufmerksamkeiten und Grüßen für ›Tom und Joe und Charley und andere uns befreundete Nachbarn.‹ Als der Vorleser fertig war, guckte er Tom an und rief: »Oho, schon wieder! Nimm deine Hand weg und laß mich deine Augen sehen. Du machst es immer so, wenn ich dir einen Brief von ihr vorlese. Wart’, das werde ich ihr schreiben!« »O, nein, das darfst du nicht, Henry! Du weißt, ich werde alt und jede kleine Enttäuschung geht mir zu Herzen, daß ich heulen möchte. Ich dachte, sie wäre selber hier, und nun hast du bloß einen Brief gekriegt.« »Na nu? Wie hast du dir denn das in den Kopf gesetzt? Ich dachte, jeder wüßte, daß sie erst Samstag kommen soll!« »Samstag! Richtig, jetzt fällt mir’s ein, das wußte ich ja. Ich weiß gar nicht, was in der letzten Zeit mit mir los ist! Gewiß wußte ich’s! Wir haben ja alles zu ihrem Empfang fertig. Na, ich muß nun gehen. Aber ich bin wieder da, wenn sie kommt, Alter!« Am Freitag kam spät nachmittags ein anderer alter Veteran von seinem Blockhaus, ungefähr eine Meile weit, herüber gewandert und sagte, die Burschen hätten gern eine kleine Lustbarkeit und wollten sich’s am Samstag abend ein bißchen wohl sein lassen, wenn Henry nicht dächte, ›sie‹ würde von ihrer Reise zu müde sein um noch aufbleiben zu können. »Müde! _Sie_ müde? Nu hör’ einer an! Joe, _du_ weißt doch, sie würde einem von euch zu Gefallen sechs Wochen lang aufbleiben!« Als Joe hörte, es wäre ein Brief da, bat er, Henry möchte ihn vorlesen und der liebevolle Gruß, der für ihn drin stand, machte den alten Knaben ganz gerührt. Aber er sagte, er wäre so ein altes Wrack, daß ihm das passieren würde, wenn sie auch bloß seinen Namen erwähnte. »Lieber Gott, wir sehnen uns so nach ihr!« sagte er. Am Samstag nachmittag ertappte ich mich darüber, daß ich recht oft die Uhr zog. Henry bemerkte es und sagte mit einem beunruhigten Blick: »Sie denken doch wohl nicht, sie müßte schon so früh hier sein, was?« Ich war ein bißchen verlegen, daß er’s gemerkt hatte. Aber ich lachte und sagte, es wäre so eine Gewohnheit von mir, wenn ich mich in großer Erwartung befände. Er schien indessen von dieser Erklärung nicht ganz befriedigt zu sein und ich sah ihm seit diesem Augenblick an, daß er sich unbehaglich fühlte. Viermal nahm er mich mit bis an einen Punkt der Landstraße, von wo man eine große Strecke überblicken konnte; da stand er dann und überschattete seine Augen mit der Hand und spähte aus. Mehreremale sagte er: »Ich werde aufgeregt -- ich werde ganz richtig aufgeregt. Ich weiß, sie kann nicht vor etwa neun Uhr hier sein und doch ist mir’s, als wollte irgend ’ne innere Stimme mir sagen, es sei ihr was zugestoßen. Sie denken doch nicht, es ist ihr was passiert, was?« Ich fing an, bei mir zu denken, der Mann wäre ja so kindisch, daß es ’ne Schande wäre. Und zuletzt, als er mir noch einmal wieder seine Frage vorwinselte, verlor ich für den Augenblick die Geduld und fuhr ihn ziemlich grob an. Das schien ihn so einzuschüchtern und so kleinlaut zu machen und er sah nachher so verletzt und so niedergeschlagen drein, daß ich mich selber wegen meiner unnötigen Grausamkeit verwünschte. Und so war ich froh, als Charley, ebenfalls einer von den Veteranen, in der Abenddämmerung ankam und sich an Henry heranmachte, um den Brief lesen zu hören und die Vorbereitungen für ihren Empfang zu besprechen. Charley ließ eine muntere Rede nach der anderen los und that sein Bestes, um seines Freundes böse Ahnungen und Befürchtungen zu zerstreuen. »Ihr was _passiert_!? Henry, das ist ja der reine Unsinn! Es giebt ja gar nichts, was ihr passieren könnte, darüber mach’ dir nur keine Gedanken! Was stand doch im Brief? Daß es ihr gut ginge, nicht wahr? Und daß sie um neun Uhr hier sein würde, nicht wahr? Hast du je bemerkt, daß sie ihr Wort nicht hielt? Du weißt, du hast es nie bemerkt! Na, dann habe also keine Angst; sie _wird_ hier sein, das steht unumstößlich fest, das ist so gewiß wie daß du geboren bist. Komm, laß uns jetzt ans Ausschmücken gehen; wir haben nicht mehr viel Zeit.« Ziemlich bald darauf kamen Tom und Joe an, und dann hatten wir alle Hände voll zu thun, das Haus mit Blumen zu schmücken. Gegen neun sagten die drei Goldgräber, sie hätten ihre Instrumente mitgebracht und könnten nun gleich ’mal eins aufspielen, denn die Jungens und die Mädels würden ja nun bald kommen und hätten wohl jedenfalls sich schon auf einen guten Tanz nach alter Art gespannt. Eine Fiedel, ein Banjo und eine Klarinette, das waren die Instrumente. Das Trio nahm Platz, einer neben dem andern, und begann eine betäubende Tanzmusik; dazu stampften sie mit ihren schweren Stiefeln den Takt. Es war inzwischen nahezu neun Uhr geworden. Henry stand in der Thür und hielt die Augen auf den Weg geheftet und sein Körper schwankte in der Qual seiner Aufregung. Sie hatten mit ihm schon ein paarmal auf seiner Frau Gesundheit und Wohlergehen angestoßen, und jetzt rief Tom: »Nun, Jungens, heran! Noch ein Schluck und sie ist hier!« Joe brachte die Gläser auf einem Präsentierteller und reichte das Getränk herum. Ich griff nach dem einen von den zweien, die noch auf dem Teller standen, aber Joe brummte halblaut: »Nicht das! Nehmen Sie das andere!« Das that ich denn. Henry bekam zuletzt sein Glas. Kaum hatte er das Getränk hinuntergegossen, so schlug es neun. Er lauschte, bis der letzte Schlag verklungen war, und sein Gesicht wurde bleich und immer bleicher. Dann sagte er: »Jungens, ich bin ganz krank vor Angst. Helft mir -- ich möchte mich hinlegen!« Sie halfen ihm auf das Sopha. Er legte sich bequem zurecht und fing an einzuschlummern. Aber auf einmal sagte er und es klang, wie wenn einer im Schlaf spricht: »Hörte ich Hufschlag? sind sie gekommen?« Einer von den Veteranen sagte ihm ins Ohr: »Es war Jimmy Parrish; er hat Bescheid gebracht, die Gesellschaft hätte unterwegs Aufenthalt gehabt, aber sie wären schon auf dem Wege und kämen bald. Ihr Pferd ist lahm, aber in einer halben Stunde wird sie hier sein.« »O, ich bin so dankbar, daß ihr nichts passiert ist.« Er war eingeschlafen, bevor die Worte kaum aus seinem Munde waren. In einem Augenblick hatten die behenden Burschen ihm seine Kleider abgezogen und ihn in die Kammer getragen, wo ich mir die Hände gewaschen hatte. Dort legten sie ihn ins Bett. Sie schlossen die Thür und kamen wieder heraus. Dann schienen sie fortgehen zu wollen, aber ich sagte: »Bitte, ihr Herren, gehen Sie nicht! Sie würde mich nicht kennen, ich bin ein Fremder.« Sie sahen einander an; dann sagte Joe: »Sie? Das arme Ding -- sie ist seit neunzehn Jahren tot.« »Tot?« »-- oder schlimmer als tot. Sie ging ein halbes Jahr nach ihrer Hochzeit zu ihren Verwandten auf Besuch, und auf ihrer Rückreise, an einem Samstag-Abend, raubten die Indianer sie, fünf Meilen von hier, und man hat niemals wieder was von ihr gehört.« »Und er hat darüber seinen Verstand verloren?« »Er hat seither niemals wieder eine vernünftige Stunde gehabt. Aber schlimm wird es mit ihm nur, wenn die Zeit wieder herankommt. Dann fangen wir an, bei ihm vorzusprechen, drei Tage bevor sie kommen soll, und sprechen ihm Mut zu und fragen, ob er was von ihr gehört hat und am Samstag kommen wir alle und putzen das Haus mit Blumen heraus und machen alles zu einem Tanz fertig. So haben wir’s seit neunzehn Jahren jedes Jahr gemacht. Am ersten Samstag, da waren wir unser siebenundzwanzig, ungerechnet die Mädels. Jetzt sind wir bloß noch drei und die Mädels sind alle fort. Wir geben ihm einen Schlaftrunk, sonst würde er wild werden. Dann ist es wieder für ein Jahr ganz in Ordnung mit ihm -- er denkt, sie ist bei ihm, bis die letzten drei oder vier Tage herankommen, dann fängt er an nach ihr auszusehen und kriegt seinen armen alten Brief heraus und wir kommen und bitten ihn, uns den Brief vorzulesen. Lieber Gott, was war sie für ’ne herzige Kleine ...« [Illustration] Die Appetit-Anstalt. I. Das Etablissement heißt Hochberghaus. Es liegt in Böhmen, eine kleine Tagereise von Wien und da es zum österreichischen Kaiserreich gehört, so ist es natürlich eine Kuranstalt. Das Reich besteht aus lauter Kurorten; es versorgt die ganze Welt mit Gesundheit. Die Quellen sind alle medizinisch. Ihr Wasser wird auf Flaschen gefüllt und über die ganze Erde versandt; die Einheimischen selbst trinken Bier. Dies sieht aus wie Aufopferung -- aber Ausländer, die einmal Wiener Bier getrunken haben, sind anderer Meinung darüber. Besonders wenn es jenes Pilsener war, das man in einem kleinen Keller in einem dunklen Hintergäßchen im ersten Bezirk bekommt -- der Name ist mir entfallen, aber das Lokal ist leicht zu finden: man frage nach der Griechischen Kirche; hat man sie gefunden, so gehe man rechter Hand gerade aus -- das nächste Haus ist die kleine Bierschänke. Sie liegt fern von allem Verkehr und Lärm; hier ist ewiger Sonntag. Die Wirtschaft besteht aus zwei kleinen Zimmern mit niedrigen Decken, die von mächtigen Gewölbepfeilern getragen werden; Gewölbe und Pfeiler sind weiß getüncht, sonst könnte man die Räume für Kerkerzellen im Donjon einer Bastille halten. Die Einrichtung ist einfach und billig, Schmuck fehlt gänzlich -- und doch ist hier ein Himmel für die aufopferungsvollen Biertrinker, denn das Bier ist unvergleichlich -- wirklich, es giebt seinesgleichen nicht auf der ganzen Welt! Im ersten Zimmer wird man zwölf bis fünfzehn Damen und Herren von bürgerlichem Stande finden, im zweiten ein Dutzend Generäle und Botschafter. Man kann viele Monate in Wien leben, ohne von diesem Ort zu hören. Aber hat man einmal davon gehört und seine Reize erprobt -- so wird man der Kneipe als Stammgast verfallen sein. Indessen, dies alles sage ich nur so nebenbei -- es ist nur eine flüchtige Bemerkung zum Zeichen der Dankbarkeit für genossenes Glück; mit meinem Aufsatz hat es nichts zu thun. Mein Aufsatz betrifft Kurorte. Alle ungesunden Leute sollten ihren Wohnsitz in Wien aufschlagen und von dieser Basis auf von Zeit zu Zeit nach den umliegenden Kurorten, je nach Bedürfnis, Ausflüge machen: einen Ausflug nach Marienbad, um das Fett loszuwerden; einen Ausflug nach Karlsbad, um den Rheumatismus loszuwerden; einen Ausflug nach Kaltenleutgeben, um die Wasserkur zu gebrauchen und alle übrigen Krankheiten loszuwerden. ’s ist alles so bequem zur Hand. Man kann in Wien stehen und einen Zwieback nach Kaltenleutgeben hineinwerfen; man braucht bloß eine Dreißigzentimeterkanone dazu. Man kann zu jeder Tageszeit dorthin eilen; man fährt mit phänomenal langsamen Zügen und braucht trotzdem kaum eine Stunde und ist dem Dunst und der Hitze der Stadt entronnen und hat dafür waldige Berge und schattige Waldwege und weiche kühle Lüfte und Vogelmusik und Ruhe und Frieden eines Paradieses. Und man hat noch eine Masse anderer Kurorte zur Verfügung, die man bequem von Wien aus erreichen kann -- lauter reizende Plätzchen; Wien liegt im Mittelpunkt einer schönen Welt von Bergen, wo hier und da ein See und Wälder sich finden; in der That, keine andere Großstadt ist so glücklich gelegen. Es ist, wie ich schon sagte, Ueberfluß an Kurorten vorhanden. Zu diesen gehört Hochberghaus. Es liegt einsam auf dem Gipfel eines dichtbewaldeten Berges und ist ein Gebäude von bedeutender Größe. Es nennt sich die Appetit-Anstalt, und Leute, die ihren Appetit verloren haben, kommen hierher um ihn sich wieder herstellen zu lassen. Als ich ankam, nahm Professor Haimberger mich mit sich in sein Sprechzimmer und fragte: »Es ist sechs Uhr; wann aßen Sie zuletzt?« »Um zwölf.« »Was aßen Sie?« »Beinahe gar nichts.« »Was war auf dem Tisch?« »Die üblichen Sachen.« »Rippchen, Hühner, Gemüse u. s. w.?« »Ja. Aber sprechen Sie nicht davon -- ich kann’s nicht vertragen.« »Sind Sie der Sachen überdrüssig?« »O, über alle Maßen. Ich möchte, ich hörte niemals wieder was davon.« »Der bloße Anblick von Essen beleidigt Sie, nicht wahr?« »Mehr als das, er empört mich.« Der Doktor dachte eine Weile nach; dann zog er eine lange Speisekarte hervor und ließ langsam sein Auge daran heruntergleiten. »Ich denke,« sagte er dann, »was Sie essen müssen, ist ... aber hier, suchen Sie sich selber was aus!« Ich warf einen Blick auf die Liste, und mein Magen schlug einen Purzelbaum. Von allen barbarischen Gelagen, die jemals ausgesonnen wurden, war dieses das gräßlichste. Ganz oben stand: ›Kutteln, zäh, halbgar, halbverfault, mit Knoblauch angemacht‹; halbwegs die Karte hinunter las ich: ›Junge Katze; alte Katze; Katzenklein‹ und ganz unten stand: ›Matrosenstiefel, mit Talg weich gemacht -- roh aufgetragen.‹ Die großen Zwischenräume der Speisekarte wiesen Gerichte auf, die darauf berechnet waren, einem Kannibalen die Kehle zuzuschnüren. Ich sagte: »Herr Doktor, es ist nicht angebracht, mit einem so ernsten Fall, wie der meinige ist, seinen Scherz zu treiben. Ich kam hierher, um Appetit zu kriegen, nicht um das bißchen, was ich noch davon übrig habe, loszuwerden.« Er sagte ernst: »Ich scherze nicht; warum sollte ich scherzen?« »Aber ich kann solche Greuel nicht essen.« »Warum nicht?« Er sagte das mit einer Unbefangenheit, die jedenfalls bewunderungswürdig war, mochte sie nun echt oder nur gut gespielt sein. »Warum nicht? Weil -- ja, Herr Doktor, seit Monaten habe ich selten einmal andere feste Nahrung verdauen können als Rühreier und Eierkuchen. Ihre unaussprechlichen Gerichte ...« »O, Sie werden Sie mit der Zeit sogar gerne essen. Sie sind sehr gut. Und Sie _müssen_ sie essen. Das ist eine Vorschrift hier, und zwar eine strenge. Ich kann durchaus nicht erlauben, daß davon abgegangen wird.« Ich sagte lächelnd: »Nun, dann Herr Doktor werden Sie den Abgang des Patienten zu erlauben haben. Ich reise.« Er sah betroffen aus und sagte in einem Ton, der der Sache ein anderes Aussehen gab: »Ich bin gewiß, Sie werden mir ein solches Unrecht nicht anthun. Ich habe Sie in gutem Glauben aufgenommen -- Sie werden dieses Vertrauen nicht zu Schanden machen. Diese Appetit-Anstalt ist meine ganze Existenz. Wenn Sie fortgingen mit dem Appetit, wie Sie ihn jetzt haben, so könnte das bekannt werden und Sie sehen selber ein, daß dann die Leute sagen würden, wenn meine Kur in Ihrem Fall fehlgeschlagen hätte, so könnte sie auch in anderen Fällen fehlschlagen. Sie werden nicht fortgehen; Sie werden mir das nicht anthun!« Ich bat um Entschuldigung und sagte, ich wollte bleiben. »Das ist recht! Ich war sicher, Sie würden nicht gehen; Sie hätten damit meiner Familie das Essen vor dem Munde weggenommen.« »Würde die sich was daraus machen? Ißt sie denn diesen verteufelten Kram?« »Sie? Meine Familie?« Seine Augen waren voll freundlichen Erstaunens. »Natürlich nicht.« »O, also nicht! Und Sie?« »Ganz gewiß nicht.« »Ich verstehe; ’s ist wieder ’mal der Fall des Arztes, der seine eigene Medizin nicht nimmt.« »Ich brauch’ es nicht ... Es ist sechs Stunden her, daß Sie gefrühstückt haben. Wollen Sie Ihr Abendessen jetzt haben -- oder später?« »Ich bin nicht hungrig, aber ›jetzt‹ ist ebenso gut wie sonst ’ne Zeit und es wäre mir lieb, wenn ich damit fertig wäre und es vom Halse hätte. Es ist so ziemlich meine gewohnte Stunde, und Regelmäßigkeit wird von allen ärztlichen Autoritäten empfohlen. Ja, ich will versuchen, jetzt ein bißchen zu knabbern -- ein kleiner Spazierritt wäre mir lieber gewesen.« Der Professor reichte mir das abscheuliche ›Menu‹. »Suchen Sie sich selber was aus -- oder wollen Sie es später haben?« »O, du lieber Gott! Weisen Sie mir mein Zimmer an. Ich vergaß Ihre strenge Vorschrift.« »Warten Sie noch einen Augenblick, ehe Sie sich endgiltig entscheiden. Es ist noch eine andere Vorschrift da: Wenn Sie jetzt etwas wählen, wird Ihre Bestellung sofort ausgeführt werden; wenn Sie aber warten, so müssen Sie warten bis es _mir_ beliebt. Sie können von der ganzen Speisekarte kein Gericht ohne meine Einwilligung bekommen.« »Schon recht. Zeigen Sie mir mein Zimmer und schicken Sie die Köchin zu Bett; ich habe es ganz und gar nicht eilig.« Der Professor führte mich eine Treppe hinauf und brachte mich in eine sehr einladende und behagliche Wohnung, bestehend aus Wohnzimmer, Schlafstube und Baderaum. Die Vorderfenster gewährten eine weite Aussicht über grüne Lichtungen und Thäler, über waldbedeckte Hügelkuppen -- eine vornehme Einsamkeit, unberührt von der Qual der lärmenden Welt. Im Wohnzimmer waren eine Anzahl Gestelle voller Bücher. Der Professor sagte, er wolle mich jetzt mir selber überlassen; dann fuhr er fort: »Rauchen und lesen Sie soviel Sie mögen, trinken Sie soviel Wasser, wie Sie Lust haben. Wenn Sie Hunger bekommen, so klingeln Sie und bestellen Sie was und ich werde entscheiden, ob Sie es bekommen dürfen oder nicht. Ihr Zustand ist ein hartnäckiger böser Fall und ich denke die ersten vierzehn Gerichte, die auf der Karte stehen, sind ohne Ausnahme nicht stark genug für die Verhältnisse. Ich bitte Sie um die Gefälligkeit, sich einzuschränken und keins von ihnen zu bestellen.« »Mich einschränken -- sagten Sie nicht so? Seien Sie darum ohne Sorgen. Bei mir werden Sie Geld sparen! Der Gedanke, eines kranken Mannes verlorenen Appetit mit solchem Raubvogelfraß zurückschmeicheln zu wollen ist heller Wahnsinn!« Ich sagte dies voll Bitterkeit, denn es brachte mich außer mir, daß er so ruhig und kalt von seinen herzlosen neuen Mordmethoden sprach. Der Doktor sah mich bekümmert, aber nicht beleidigt an. Er legte die Speisekarte auf das Nachttischchen, das am Kopfende meines Bettes stand, ›so daß es bequem zur Hand sein möchte‹ und sagte: »Ihr Fall ist durchaus nicht der schwerste, der mir bis jetzt vorgekommen ist; aber immerhin ist er schlimm und erfordert kräftige Behandlung; ich werde Ihnen deshalb verbunden sein, wenn Sie die Selbstbeherrschung üben, die ersten vierzehn zu überschlagen und erst von Nr. 15 an zu beginnen.« Hierauf ging er, und ich fing sofort an mich auszuziehen, denn ich war hundemüde und sehr schläfrig. Ich schlief fünfzehn Stunden und wachte am nächsten Morgen um zehn herrlich erquickt auf. Wiener Kaffee! Das war das erste, woran ich dachte -- dieser unerreichbare Wonnetrank, dieser prachtvolle Kaffeehauskaffee, mit dem verglichen aller andere europäische Kaffee und aller amerikanische Hotelkaffee bloß eine flüssige Armseligkeit ist. Ich klingelte und bestellte welchen; auch Wiener Brot dazu -- diese köstliche Erfindung. Der Aufwärter sprach mit mir durch das Schiebefenster in der Thür und sagte -- aber man weiß schon, was er sagte. Er verwies mich auf die Speisekarte. Ich gestattete ihm zu gehen -- ich hätte ihn nicht weiter nötig. Nach dem Bade zog ich mich an und gedachte einen Spaziergang zu machen -- und kam bis an die Thür. Sie war von außen verschlossen. Ich klingelte und der Diener kam und setzte mir auseinander, das sei wieder eine andere Vorschrift. Der Patient müsse eingeschlossen bleiben, bis er die erste Mahlzeit eingenommen habe. Es war mir vorher am Ausgehen nicht übermäßig viel gelegen gewesen; aber nun war es etwas anderes! Ein Mensch, der eingeschlossen ist, wünscht immer dringend, auszugehen. Bald begann ich es schwierig zu finden, die Zeit totzuschlagen. Um zwei Uhr war ich sechsundzwanzig Stunden ohne Nahrung gewesen. Eine Zeitlang war ich immer hungriger geworden; jetzt merkte ich, daß ich nicht nur Hunger hatte, sondern daß mein Hunger sogar mit einem sehr kräftigen Adjektiv bezeichnet werden mußte. Indessen war ich doch nicht hungrig genug, um es mit der Speisekarte aufnehmen zu können. Ich mußte mir irgendwie die Zeit vertreiben. Ich dachte an Lesen und Rauchen. Ich that es; Stunde auf Stunde. Die Bücher waren alle von derselben Art: von Schiffbrüchen; von Menschen, die sich in Wüsten verirrt hatten; von Leuten, die in verschüttete Bergwerksschächte eingeschlossen waren; von Leuten, die in belagerten Städten verhungert waren. Ich las von allen ekelerregenden Speisen, womit jemals hungerleidende Menschen ihre Gier nach Essen gestillt haben. Während der ersten Stunden machten diese Geschichten mir übel; dann folgten Stunden, wo sie nicht mehr solchen Eindruck auf mich machten; dann kamen Stunden, wo ich mich ab und zu darüber ertappte, daß ich bei der Beschreibung irgend welcher leidlich höllenmäßigen Gerichte mit den Lippen schmatzte. Als ich fünfundvierzig Stunden lang ohne Essen gewesen war, lief ich munter an die Klingel und bestellte das zweite Gericht auf der Speisekarte: eine Art Knödel mit Füllungen von Kaviar und Theer. Es wurde mir verweigert. Während der nächsten fünfzehn Stunden machte ich alle Augenblicke ’mal einen Besuch bei der Klingel und bestellte ein Gericht, das weiter unten auf der Karte stand. Immer wieder abgeschlagen! Aber ich überwand stracks ein Vorurteil nach dem andern; ich machte sichere Fortschritte; ich kroch mit tödlicher Sicherheit näher an Nr. 15 heran, und mein Herz schlug schneller und schneller, meine Hoffnungen stiegen höher und höher. Schließlich, als seit sechzig Stunden keine Nahrung über meine Lippen gekommen war -- da war der Sieg mein und ich bestellte Nr. 15: »Weich gekochte Kücken, fertig zum Auskriechen -- mit den Eiern; sechs Dutzend, heiß und duftig!« In fünfzehn Minuten waren sie da; und mit ihnen kam, vor Freude sich die Hände reibend, der Doktor. Er sagte in großer Erregung: »Das ist ’ne Kur! Das ist ’ne Kur! Ich wußte, sie würde mir gelingen. Lieber Herr, mein großes System schlägt niemals fehl -- niemals! Sie haben Ihren Appetit wieder -- Sie wissen, Sie haben ihn; sagen Sie’s und machen Sie mich glücklich!« »Her mit Ihrem Fraß! Ich kann alles essen, was auf der Speisekarte steht!« »O, das ist edel, das ist prächtig! Aber ich wußte, es gelänge mir; das System ist unfehlbar. Wie sind die Vögel?« »So was Köstliches war noch niemals auf der Welt -- und doch mache ich mir sonst im allgemeinen nicht viel aus Geflügel. Aber unterbrechen Sie mich nicht, bitte! Ich kann meinen Mund nicht entbehren, wirklich, ich kann’s nicht.« Da sagte der Doktor: »Die Kur ist vollständig. Da ist kein Zweifel mehr dran und keine Gefahr mehr vorhanden. Lassen Sie das Geflügel stehen; jetzt kann ich Ihnen ein Beefsteak anvertrauen.« Das Beefsteak kam -- ein ganzer Korb voll -- mit Kartoffeln, und Wiener Brot und Kaffee; und dann hielt ich eine Mahlzeit, die all meiner umständlichen Vorbereitungen wert war! Und Thränen der Dankbarkeit troffen mir die ganze Zeit über die Sauce hinein -- Dankbarkeit gegenüber dem Doktor, daß er mir ein kleines bißchen einfachen gesunden Menschenverstandes eingetrichtert hatte, der so viele, viele Jahre mir gefehlt hatte. II. Vor dreißig Jahren machte Haimberger eine lange Reise in einem Segelschiff. An Bord waren fünfzehn Passagiere. Die Kost wies die übliche tagtägliche Einförmigkeit auf: Um 7 Uhr früh eine Tasse schlechten Kaffee im Bett; um 9 Frühstück: schlechter Kaffee mit kondensierter Milch, dumpfige Brötchen, Wasserzwiebäckchen, gesalzener Fisch. Um 1 Uhr Gabelfrühstück: kalte Zunge, kalter Schinken, kaltes Pökelfleisch, dumpfige kalte Brötchen, Wasserzwiebäckchen; um 5 Hauptmahlzeit: dicke Erbsensuppe, gesalzener Fisch, warmes Pökelfleisch mit Sauerkraut, gekochtes Schweinefleisch mit Bohnen, Pudding; von 9 bis 11 Abendessen: Thee mit kondensierter Milch, kalte Zunge, kalter Schinken, Pfeffergurken, Schiffszwieback, marinierte Austern, marinierte Schweinsfüße, geröstete Rippchen. Als das Ende der ersten Woche herankam, hatte man aufgehört zu essen; statt dessen wurde nur an den Speisen herumgepickt. Die Passagiere kamen freilich zu Tische, aber dies thaten sie teils um die Zeit hinzubringen, teils weil die Weisheit der Menschengeschlechter uns anempfiehlt, regelmäßig in unseren Mahlzeiten zu sein. Sie waren der derben und einförmigen Kost leid, hatten kein Interesse daran, keinen Appetit darauf. Den lieben langen Tag lungerten sie auf dem Schiff herum: halb hungrig, von ihrem knurrenden Magen gequält, verdrießlich, mundfaul, elend. Drei von ihnen waren ausgemachte Magenkranke; diese wurden im Lauf von drei Wochen zu reinen Schatten. Dann war da noch ein bettlägeriger Invalide; der lebte von gekochtem Reis; er konnte nicht einmal den Anblick der gewöhnlichen Speisen vertragen. Auf einmal ging das Schiff unter; Passagiere und Mannschaft retteten sich in offenen Boten. Wie üblich waren die Nahrungsmittel knapp. Die Vorräte wurden gering und immer geringer. Da besserten sich die Appetite. Als nichts mehr übrig war außer rohem Schinken und als die tägliche Ration davon auf 55 Gramm für die Person herunterkam, da waren die Appetite vorzüglich. Nach Verlauf von 14 Tagen kauten die Magenleidenden, der Invalide und die zartestbesaiteten Damen der Gesellschaft voll Wonne an alten Matrosenstiefeln und beklagten sich über dies Essen bloß, weil es so wenig davon gab. Und das waren dieselben Leute, die auf dem Schiff das ewige Pökelfleisch und das Sauerkraut und die anderen Unverdaulichkeiten nicht hatten ausstehen können! Ein englisches Schiff errettete sie aus ihrer Not. Binnen zehn Tagen waren alle fünfzehn in so guter Verfassung, wie an dem Tage, da sie schiffbrüchig wurden. »Sie hatten von ihrem Abenteuer keinen Schaden genommen,« fügte der Professor hinzu. »Verstehen Sie, was das sagen will?« »Ja.« »Verstehen Sie’s wirklich?« »Ja -- ich glaube doch.« »Nein, Sie verstehen es _nicht_. Sie zögern. Sie können sich nicht zum Verständnis der Bedeutung aufschwingen. Ich will es noch einmal sagen -- mit besonderer Betonung: Nicht ein einziger von ihnen erlitt irgend welchen Schaden.« »Nun beginne ich zu verstehen. Ja, das war in der That merkwürdig.« »Ganz und gar nicht. Es war vollkommen natürlich. Es war gar kein Grund vorhanden, warum sie Schaden nehmen sollten. Sie hatten die Appetitskur der Mutter Natur durchgemacht -- die beste und weiseste Kur auf der Welt.« »Brachte dieses Erlebnis Sie auf Ihre Idee?« »Ja, es brachte mich darauf.« »Es war für die Leute eine wertvolle Lehre.« »Warum meinen Sie das?« »Nun, ganz einfach: Es scheint doch, daß es für Sie eine solche war.« »Darum handelt es sich hier nicht. Ich bin kein Narr!« »Ich verstehe. Waren die anderen Narren?« »Sie waren Menschen.« »Ist das dasselbe?« »Warum fragen Sie? Sie wissen es selbst. In Bezug auf seine Gesundheit -- und auf alles übrige -- ist der Durchschnittsmensch das Produkt seiner Umgebung und seiner abergläubischen Vorurteile; das Endergebnis ist: er wird ein Esel. Er kann nicht drei oder vier für ihn neue Umstände sich zusammenreimen und einen Schluß daraus ziehen; das geht über seine Kräfte. Er kann nicht selbst Beobachtungen machen, er muß alles aus zweiter Hand beziehen. Wenn die fälschlich so benannten niederen Tiere so albern wären wie der Mensch -- sie wären alle binnen einem Jahr vom Erdboden verschwunden.« »Diese Passagiere ließen sich’s also nicht zur Lehre dienen?« »Keine Ahnung! Sie gingen auf dem englischen Schiff wieder zu ihren regelmäßigen Mahlzeiten und sehr bald pickten sie wieder anstatt zu essen -- appetitlos, von den Speisen angeekelt, verdrießlich, elend, halbhungrig, den ganzen Tag auf ihre mißhandelten Mägen fluchend und schimpfend und dabei winselnd und wehklagend. Und das alles ganz überflüssigerweise, denn ihre Mägen waren die Mägen von Narrenvolk.« »So ist also, wenn ich Sie recht verstehe, Ihr Verfahren ...« »Ganz einfach: _Essen Sie nichts bevor Sie hungrig sind!_ Wenn das Essen Ihnen nicht mehr schmeckt, Ihnen keine Befriedigung, kein Vergnügen, kein Behagen mehr gewährt, so essen Sie nicht eher, als bis Sie _sehr_ hungrig sind. Dann wird es Ihnen Vergnügen machen und außerdem gut thun.« »Und habe ich keine regelmäßigen Stunden für die Mahlzeiten einzuhalten?« »So lange Sie mit einem schlechten Appetit zu kämpfen haben -- nein! Haben Sie den Feind untergekriegt, so ist Regelmäßigkeit nicht von Uebel, d. h. so lange der Appetit gut bleibt. Sobald er wieder ins Schwanken gerät, greifen Sie wieder zum Heilmittel -- und dieses ist: _Hungern_ -- lange oder kurze Zeit je nach dem Erfordernis des einzelnen Falles.« »Die beste Kost, scheint mir -- ich meine die gesündeste ...« »Jede Kost ist gesund. Die eine ist gesunder als die andere -- aber alle gewöhnlichen Gerichte sind gesund genug für die Leute, die darauf angewiesen sind. Mag eine Kost fein oder derb sein, sie wird gut schmecken und nahrhaft sein, wenn man auf seinen Appetit acht giebt und jedesmal, wenn er schwächer wird, ein kleines Fasten einschiebt. Nansen war an feine Kost gewöhnt, aber als monatelang seine Mahlzeiten nur auf Bärenfleisch beschränkt waren, da machte ihm das weder Schaden an der Gesundheit noch Unbehagen, weil sein Appetit infolge der Schwierigkeit, sich das Bärenfleisch regelmäßig zu beschaffen, in gutem Stande gehalten wurde.« »Aber Aerzte entwerfen sorgfältig überdachte und auserlesene Zusammenstellungen von Speisen für Kränkliche.« »Sie können’s nicht anders. Der Patient ist voll von ererbten Vorurteilen und hungert nicht aus freien Stücken. Er denkt, das würde ihn ganz bestimmt ins Grab bringen.« »Es würde ihn aber doch schwach machen, nicht wahr?« »Aber ohne Gefahr. Nehmen Sie die Kranken unter unseren Schiffbrüchigen. Sie lebten vierzehn Tage lang von ein paar Schnipfeln rohen Schinkens, lutschten ’mal an einem Matrosenstiefel und hungerten die ganze Zeit. Es machte sie schwach, aber es that ihnen nichts. Es brachte sie in eine gute Verfassung, so daß sie von einer herzhaften Kost herzhaft essen konnten; sie gewannen dadurch die Grundlage für eine kräftige Gesundheit. Aber sie waren nicht verständig genug, sich’s zu nutze zu machen, sie ließen die Gelegenheit vorübergehen, sie blieben kränklich -- es geschah ihnen recht! Kennen Sie den Kniff aller Badeärzte?« »Worin besteht er?« »Es ist mein System in einer Verkleidung -- verschleiertes Hungern. Traubenkur, Brunnenkur, Moorbadekur -- ’s ist alles dasselbe. Die Trauben, der Brunnen, das Moorbad -- sie geben der Sache einen Anstrich und helfen auch ein bißchen, die Hauptarbeit aber macht das Hungern, wovon der Patient nichts weiß. Einer ist an vier Mahlzeiten gewöhnt und zwar zu späten Stunden, an den beiden Enden _seines_ Tages -- nun sehen Sie sich ’mal an, was er in einem Kurort zu thun hat: Er steht auf um sechs Uhr in der Frühe. Ißt ein Ei. Trampelt zwei Stunden lang mit den anderen Narren einen Spazierweg auf und nieder. Ißt einen Schmetterling. Schlürft ein Glas von einem gefilterten Gesöff, das wie Raubvogelatem riecht. Spaziert nochmals zwei Stunden, aber allein; wenn man ihn anredet, sagt er ängstlich: ›Mein Brunnen! -- Ich bin dabei, meinen Brunnen abzulaufen; bitte, stören Sie mich nicht!‹ -- und stapft weiter. Ißt ein gezuckertes Rosenblatt. Ruht sich stundenlang in der Stille und Einsamkeit seines Zimmers; darf nicht lesen, darf nicht rauchen. Nun kommt der Doktor und befühlt sein Herz, seinen Puls, und beklopft seine Brust und seinen Rücken und seinen Magen und horcht mit einem Kindertrompetchen darauf herum. Dann befiehlt er des Patienten Bad: ›einen halben Grad Réaumur kälter als gestern.‹ Nach dem Bade wieder ein Ei. Ein Glas Gesöff um drei oder vier Uhr nachmittags, und feierliche Promenade mit den anderen Krüppeln. Diner um sechs: ein halbes Spätzle und eine Tasse Thee. Wieder Spazierengehen. Um halbneun Abendessen: noch einen Schmetterling. Um neun zu Bett. Dieses ›Regime‹ sechs Wochen lang -- denken Sie sich’s mal aus. Es hungert einen Menschen aus und bringt ihn in eine prachtvolle Verfassung. Es hätte dieselbe Wirkung in London, New York, Jericho -- überall.« »Wie lange dauert es hier bei Ihnen, bis eine Person wieder in guter Verfassung ist?« »Es sollte nur einen oder zwei Tage erfordern; thatsächlich dauert es aber eine bis sechs Wochen; je nach dem Charakter und der Geistesanlage der Patienten.« »Wie kommt das?« »Sehen Sie dahinten die Schar von Damen, die Fußball spielen, boxen und über die Zäune springen? Sie sind sechs oder sieben Wochen hier gewesen. Sie waren mickrige arme Gespenstergestalten, als sie kamen. Gewohnheitsmäßig nibbelten sie viermal täglich zu festgesetzten Stunden an Leckereien und Delikatessen und hatten Appetit auf gar nichts. Ich fragte sie aus und schloß sie darauf in ihre Zimmer ein, um zu hungern -- die schwächsten für neun oder zehn Stunden, die anderen für zwölf bis fünfzehn. Es dauerte nicht lange, so begannen sie zu betteln; und sie litten in der That beträchtlich. Sie jammerten über Uebelkeit, Kopfschmerzen u. s. w. Aber dann hätten Sie sie sollen essen sehen, als die Zeit um war! Sie konnten sich nicht erinnern, daß ihnen jemals das Verzehren einer Mahlzeit ein solches Entzücken bereitet hätte -- so drückten sie sich wörtlich aus. Damit hätte denn nun ihre Kur zu Ende sein sollen -- aber nein! Sie konnten nach Belieben an jeder Mahlzeit meines Hauses teilnehmen und sie wählten ihre gewohnten vier. Nach einem oder zwei Tagen hatte ich einzuschreiten. Der Appetit nahm wieder ab. Ich ließ sie eine Mahlzeit überschlagen. Das brachte sie wieder auf den Damm. Dann fingen sie wieder mit ihren vier Mahlzeiten an. Ich bat sie, sie möchten doch lernen, von selber eine zu überschlagen, ohne auf mich zu warten. Bis vor vierzehn Tagen konnten sie das nicht; sie hatten wirklich dazu nicht Mut genug; aber schließlich brachten sie’s doch dazu und jetzt denke ich, sie sind in Sicherheit. Sie überschlagen alle Augenblicke einmal aus eigenem Antrieb eine Mahlzeit. Sie sind jetzt prächtig bei Gesundheit und ich glaube, sie könnten ruhig nach Hause reisen, aber sie haben noch kein vollkommenes Vertrauen zu sich selber und deshalb warten sie noch eine Weile.« »Giebt es auch andere Fälle verschiedener Natur?« »O ja. Zuweilen lernt einer die ganze Kunst in einer Woche -- lernt seinen Appetit zu regulieren und dadurch in vorzüglicher Ordnung zu halten -- lernt häufig einmal eine Mahlzeit zu überschlagen, ohne sich was daraus zu machen.« »Aber warum muß man eine ganze Mahlzeit überschlagen? Warum läßt man nicht einen Teil weg?« »Das wäre ein schwächliches Verfahren und ein unzulängliches! Wenn der Magen nicht kräftig nach Nahrung verlangt -- sozusagen darnach schreit -- so ist es besser, ihn nicht zu belästigen, sondern ihm eine wirkliche Ruhe zu gönnen. Es giebt Menschen, die mehr essen können als andere und dabei doch gedeihen. Es giebt allerhand Sorten von Menschen und allerhand Sorten von Appetiten. Ich werde Ihnen nachher einen Herrn vorstellen, der sich’s angewöhnt hatte, täglich an acht Mahlzeiten herumzunibbeln. Das waren für die ihm eigentümliche Art von Appetit zwei zu viel. Ich habe ihn auf täglich sechs heruntergebracht und er ist wohl und munter und freut sich seines Lebens ... Wieviele Mahlzeiten halten Sie jeden Tag?« »Früher -- zweiundzwanzig Jahre lang -- anderthalb; während der beiden letzten Jahre zwei und eine halbe: Kaffee und ein Brötchen um neun; Frühstück um eins, Hauptmahlzeit um halb acht oder acht.« »Früher ein und eine halbe Mahlzeit -- das heißt: Kaffee und ein Brötchen um neun, Hauptmahlzeit abends, zwischendurch nichts -- ist’s nicht so?« »Ja.« »Warum fügten Sie eine Mahlzeit hinzu?« »Meine Familie hatte den Gedanken. Sie waren besorgt um mich. Sie dachten, ich brächte mich selber ins Grab.« »Sie fanden die ganzen zweiundzwanzig Jahre lang anderthalb Mahlzeiten genug?« »Vollkommen!« »An Ihrem gegenwärtigen jämmerlichen Zustand ist die Extramahlzeit schuld. Lassen Sie sie aus. Sie versuchen öfter zu essen als Ihr Magen es verlangt. Sie gewinnen dabei nichts, Sie verlieren. Sie nehmen jetzt in einem Tage bei zwei und einer halben Mahlzeit weniger Nahrung zu sich als früher in anderthalb.« »Das stimmt -- bedeutend weniger; denn in jenen alten Tagen war meine Hauptmahlzeit ein recht umfangreiches Ding.« »Setzen Sie sich jetzt für ein paar Tage auf eine einzige Mahlzeit: abends, bis Sie eines guten, gesunden, regelmäßigen, vertrauenswerten Appetits sicher sind, dann halten Sie sich beständig zu Ihren anderthalb und hören Sie ganz und gar nicht auf Ihre Familie. Haben Sie irgend ein gewöhnliches Unwohlsein, besonders wenn es mit Fieber verbunden ist, so essen Sie während vierundzwanzig Stunden überhaupt nichts. Das wird Sie kurieren. Es wird sogar den hartnäckigsten Schnupfen kurieren. Kein Schnupfen überdauert ein streng durchgeführtes vierundzwanzigstündiges Fasten.« »Ich weiß es. Ich habe es oft an mir selbst erfahren.« [Illustration] Mein Eintritt in die Litteratur. Ich hatte in meinen Jugendtagen schon ein kleines Ding -- es war ›Der hüpfende Frosch‹ -- in einer Zeitung des Ostens veröffentlicht, aber ich war der Meinung, daß dies nicht zähle. Meiner Ansicht nach konnte eine Person, die in einer gewöhnlichen Zeitung was erscheinen ließ, keinen Anspruch erheben, für eine litterarische Person im eigentlichen Sinne zu gelten: sie mußte höher hinauf; sie mußte in einer Zeitschrift erscheinen. Dann würde einer eine litterarische Person sein; dann würde er auch zugleich berühmt sein -- einfach berühmt. Nach diesen beiden Dingen strebte mein Ehrgeiz mit starker Sehnsucht. Dies war 1866. Ich machte einen Beitrag fertig und sah mich sodann um, welche Zeitschrift wohl die beste wäre, um meinen Ruhm aufblitzen zu lassen. Ich wählte die bedeutendste, die es in New York gab. Mein Beitrag wurde angenommen. Ich unterzeichnete ihn ›Mark Twain‹, denn dieser Name war an der Küste des Stillen Ozeans schon so ziemlich unter den Leuten und ich gedachte ihn jetzt mit diesem einzigen Anlauf über die ganze Welt zu verbreiten. Der Artikel erschien in der Dezember-Nummer und ich saß einen ganzen Monat und lauerte auf das Januarheft; denn dieses mußte die Liste der Mitarbeiter des Jahrgangs enthalten; mein Name würde darunter und ich würde berühmt sein und könnte das Bankett geben, dessen Veranstaltung ich plante. Ich gab das Bankett _nicht_. Ich hatte die Worte ›Mark Twain‹ nicht ganz deutlich geschrieben; es war für die Buchdrucker im Osten ein neuer Name und sie setzten dafür ›Mike Swain‹ oder ›Mac Swain‹ -- genau erinnere ich mich nicht mehr. Jedenfalls wurde ich nicht berühmt und gab kein Festmahl. Ich war eine litterarische Person, aber was für eine -- eine begrabene, eine lebendig begrabene! Mein Artikel betraf den Brand des Schnellseglers ›Hornet‹, der am 3. Mai 1866 auf der Fahrt unterging. Es waren damals 31 Mann an Bord, und ich befand mich in Honolulu, als die 15 Ueberlebenden, zu Gespenstern abgemagert, dort ankamen, nachdem sie mit Lebensmitteln _für zehn Tage_ versehen in offenem Boot eine 43tägige Reise unter der sengenden Tropensonne gemacht hatten. Ein recht bemerkenswerter Ausflug; aber der Kapitän, der ihn leitete, war auch ein bemerkenswerter Mann, sonst würde kein einziger lebend angekommen sein. Er war ein Neuengländer vom besten Seemannsschlag der tüchtigen alten Zeit -- Kapitän Josiah Mitchell. Ich befand mich auf den Sandwichinseln, um Briefe für die Wochenausgabe der ›Union‹ von Sacramento zu schreiben, eine reiche und einflußreiche Tageszeitung, die zwar meine Artikel nicht nötig hatte, sich’s aber leisten konnte, wöchentlich 20 Dollars für nichts auszugeben. Die Eigentümer waren liebenswürdige und allgemein beliebte Leute; ohne Zweifel sind sie jetzt längst tot, aber in mir lebt wenigstens noch _ein_ Mensch, der ihnen eine dankbare Erinnerung zollt; denn es lag mir sehr viel daran, die Inseln zu sehen, und sie erhörten meine Bitte und verschafften mir die Gelegenheit, obwohl nur kümmerliche Aussicht vorhanden war, daß sie irgend welchen Nutzen davon hätten. Ich war mehrere Monate auf den Inseln gewesen, als die Schiffbrüchigen ankamen. Ich war bettlägerig in meinem Zimmer und nicht imstande auszugehen. Hier bot sich eine großartige Gelegenheit mein Blatt gut zu bedienen -- und ich konnte sie mir nicht zunutze machen! Natürlich ärgerte mich das schmählich. Aber zum guten Glück war damals Excellenz Anson Burlingame in Honolulu, auf dem Wege zur Uebernahme seines Postens in China, wo er den Vereinigten Staaten so gute Dienste leistete. Er kam zu mir, besorgte eine Tragbahre und ließ mich nach dem Krankenhaus tragen, wo die Schiffbrüchigen lagen. Ich brauchte nicht einmal eine Frage zu stellen; das besorgte er alles selber und ich hatte nichts weiter zu thun als die Notizen zu machen. Es war so recht bezeichnend für ihn, daß er sich die Mühe machte. Er war ein großer Mann und großer Amerikaner und es lag in seiner prächtigen Natur, sich nicht auf den Standpunkt seiner hohen Würde zu stellen, sondern einen freundlichen Dienst zu erweisen, wenn er nur konnte. Um sechs Uhr abends waren wir mit der Arbeit fertig. Ich aß nichts, denn es war keine Zeit zu verlieren, wenn ich die anderen Berichterstatter schlagen wollte. Es kostete mich vier Stunden, meine Notizen in richtige Ordnung zu bringen, dann schrieb ich die ganze Nacht durch und noch ein bißchen länger. Der Erfolg war der, daß ich am Morgen um neun einen langen und umständlichen Bericht von den Erlebnissen der Hornet-Mannschaft fertig hatte, während die Korrespondenten der San Franciscoer Blätter nur eine kurze Schilderung der hauptsächlichsten Vorfälle schicken konnten -- denn sie blieben _nicht_ die Nacht auf. Der Schoner, der in unregelmäßigen Zwischenräumen den Postverkehr mit San Francisco besorgte, sollte ungefähr um neun segeln; als ich zum Dock kam stieß er gerade vom Quai ab. Mein dickleibiger Brief wurde von starker Hand hinübergeworfen und fiel richtig an Bord -- und damit war mein Sieg gewonnen. Das Schiff landete zur rechten Zeit in San Francisco; mein vollständiger Bericht schlug wie eine Bombe ein und wurde von Mr. Cash, dem damaligen Vertreter des New York-Herald, an die New Yorker Zeitungen telegraphiert. Als ich einige Zeit darauf nach Kalifornien zurückkehrte, reiste ich nach Sacramento und präsentierte meine Rechnung für allgemeine Berichterstattung zu 20 Dollars die Woche. Sie wurde bezahlt. Dann kam ich mit einer Rechnung für ›Spezialdienst beim Hornetfall‹: drei Spalten enggesetzte Nonpareilleschrift zu 100 Dollars die Spalte. Der Kassierer fiel zwar nicht in Ohnmacht, aber es fehlte nicht viel daran. Er ließ die Verleger rufen und sie kamen und sagten kein Wort. Sie lachten nur nach ihrer lustigen Art und sagten, es sei Spitzbüberei, aber es schade nichts; es sei eine großartige Leistung (ob sie meine Rechnung oder den Hornetartikel meinten, weiß ich nicht). »Zahlen Sie aus; ’s ist alles in Ordnung.« Die besten Zeitungsverleger, die es jemals gab! Die Ueberlebenden von der ›Hornet‹ kamen am 15. Juni bei den Sandwichinseln an. Sie waren bloß noch Haut und Knochen; die Kleider schlotterten um sie herum, und saßen ihnen wie eine Flagge, die bei Windstille am Stock herunterhängt. Aber sie wurden im Hospital gut gepflegt und die Einwohner von Honolulu versahen sie mit allen Leckerbissen, die ihnen gut thun konnten; sie bekamen schnell wieder Kräfte und bald waren sie so gut wie hergestellt. Nach vierzehn Tagen reisten die meisten von ihnen nach San Francisco; ich ging mit demselben Schiff, einem Segler. Kapitän Mitchell von der ›Hornet‹ war auch dabei, desgleichen die beiden einzigen Passagiere, die auf der ›Hornet‹ gewesen waren. Es waren zwei junge Studenten, Brüder, aus Stamford, Connecticut: Samuel und Henry Ferguson. Die ›Hornet‹ war ein Schnellsegler erster Klasse; die Kajüte der jungen Leute war geräumig und bequem, gut ausgerüstet mit Büchern und auch mit eingemachten Fleischspeisen, Gemüsen und Früchten, um die Schiffskost aufzubessern. Als das Schiff in der ersten Januarwoche aus dem New Yorker Hafen auslief sprachen alle Anzeichen dafür, daß die vierzehn- oder fünfzehntausend Meilen bis zum Ziel in schneller und angenehmer Fahrt würden zurückgelegt werden. Sobald die kalten Breiten im Rücken lagen und das Schiff in Sonnenwetter eintrat, wurde die Reise zu einem Sonntagspicknick. Das Schiff flog südwärts unter einer Wolke von Segeln, die keine Aufmerksamkeit erforderten, da tagelang keine einzige Aenderung daran nötig war. Die jungen Leute lasen, schlenderten auf dem geräumigen Deck herum, ruhten und träumten im Schatten der Segel, speisten mit dem Kapitän; und wenn er sein Tagewerk gethan hatte, spielten sie ›Whist mit ’nem Blinden‹ mit ihm bis zur Schlafenszeit. Nach dem Schnee und Eis und den Stürmen von Kap Horn trollte das Schiff wieder nordwärts, bis es in Sommerwetter kam, und wieder war die Spazierfahrt ein Picknick. Bis zum frühen Morgen des 3. Mai. Vermutliche Lage des Schiffes: 112° 10´ w. L., 2° n. Br. Kein Wind, kein Seegang -- tote Stille. Temperatur tropisch d. h. sengend, blasenziehend von einer Art, daß jemand, der noch nicht selber in solcher Hitze geröstet worden ist, sich keinen Begriff davon machen kann. Auf einmal ein Schrei: »Feuer!« Ein gewissenloser Matrose war gegen alle Vorschriften mit einem offenen Licht in die Vorratskammer gegangen, um etwas Firnis aus einem Faß zu holen. Es kam, wie es kommen mußte, und des Schiffes Stunden waren gezählt. Es war nicht viel Zeit zu verlieren, aber der Kapitän wußte sie vortrefflich anzuwenden. Die drei Boote wurden ausgesetzt, das Langboot und zwei Seitenhanger. Daß die Zeit sehr knapp und der Wirrwarr und die Aufregung sehr beträchtlich waren, geht schon daraus hervor, daß beim Aussetzen der Boote das eine durch einen Zusammenstoß einen ziemlich bedeutenden Leck bekam und daß dem zweiten ein Ruder durch die Seite gerannt wurde. Vor allem sorgte der Kapitän dafür, daß vier kranke Matrosen auf Deck gebracht und vorläufig auf einer sicheren Stelle niedergelegt wurden -- unter ihnen ein Portugiese. Dieser hatte die ganze Reise über keinen einzigen Tag gearbeitet, sondern vier Monate lang in seiner Hängematte gelegen und eine Eiterbeule gepflegt. Als wir im Krankenhaus von Honolulu unsere Notizen machten und ein Matrose Herrn Burlingame diesen Nebenumstand berichtete, hob der Dritte Steuermann, der im Bett nebenan lag, mit aller Anstrengung seinen Kopf hoch und berichtigte mit schwacher Stimme, aber feierlich und im Tone der Ueberzeugung: »Er _züchtete_ Eiterbeulen. Er hatte ’ne ganze Familie von solchen Dingern. Er that es bloß, damit er nicht auf Wache brauchte.« Alles was an Lebensmitteln schnell zu erreichen war, wurde von den Leuten und den beiden Passagieren zusammengerafft und auf das Deck geworfen wo der Portugiese lag; dann eilten sie fort, um mehr zu holen. Der Matrose, der es Herrn Burlingame erzählte, fügte hinzu: »Wir brachten auf diese Weise für die 31 Mann 32 Tagesrationen zusammen.« Der Dritte Steuermann richtete wiederum seinen Kopf in die Höhe und verbesserte auch diese Angabe, indem er voller Bitterkeit sagte: »Der Portugiese, der da Schildwache spielte, aß zweiundzwanzig davon auf, während niemand auf ihn acht gab. Ein verdammter Windhund!« Das Feuer verbreitete sich mit rasender Geschwindigkeit. Rauch und Flammen trieben die Männer zurück, sie mußten halbverrichteter Dinge von der Aufgabe, Lebensmittel zusammenzutragen, Abstand nehmen, und als sie die Boote bestiegen, hatten sie nur zehn Tagesrationen für jeden in Sicherheit gebracht. Jedes Boot hatte einen Kompaß, einen Quadranten, ein Exemplar von ›Bowditch’s Navigator‹ und einen ›Nautical Almanac‹; die vom Kapitän und vom Ersten Steuermann kommandierten Boote hatten Chronometer. Die Gesamtzahl der Leute betrug 31. Der Kapitän stellte ein Verzeichnis sämtlicher vorhandenen Lebensmittel auf und erhielt folgendes Ergebnis: 4 Schinken, beinahe 30 Pfund gesalzenes Schweinefleisch, eine halbe Kiste Rosinen, 100 Pfund Brot, 12 Zweipfundsdosen mit Austern, Pfahlmuscheln und verschiedenem Eingemachten, ein Fäßchen mit 4 Pfund Butter, 12 Gallonen[1] Wasser in einem 40 Gallonen haltenden Faß, 4 Korbflaschen von je 1 Gallone Inhalt mit Wasser gefüllt, 3 Flaschen Branntwein (Eigentum der Passagiere), einige Pfeifen, Zündhölzer und etwa 100 Pfund Tabak. Keine Arzneimittel. Natürlich mußte die ganze Gesellschaft sofort auf knappe Rationen gesetzt werden. [1] 1 Gallone = ungefähr 4½ ~l~. Der Kapitän und die beiden Passagiere führten Tagebücher. Auf unserer Ueberfahrt nach San Francisco gerieten wir mitten auf dem Stillen Ocean in eine Windstille und kamen vierzehn Tage lang nicht einen Klafter vorwärts; dies setzte mich instand, eine Abschrift von den Tagebüchern zu machen. Das von Samuel Ferguson geführte ist das vollständigste; ich will einiges daraus mitteilen. Als die nachstehende Eintragung gemacht wurde, hatte das dem Untergang geweihte Schiff ungefähr vor 120 Tagen den Hafen verlassen und alle Mann an Bord suchten sich mit den üblichen Zerstreuungsmitteln die viele überflüssige Zeit zu vertreiben; an ein Unglück dachte kein Mensch. 2. Mai. 1° 28´ n. Br. 111° 38´ w. L. Wieder ein heißer trägemachender Tag. Einmal versprachen indessen die Wolken Wind und es kam wirklich eine leichte Brise -- gerade genug, um uns in Fahrt zu halten. Zu erwähnen ist heute nichts, als daß sich große Mengen Fische um unser Schiff zeigen; am Vormittag wurden 9 Boniten gefangen und mehrere große Thunfische bemerkt. Nach dem Essen bekam der Obersteuermann einen großen Burschen an die Angel; er konnte ihn nicht halten und reichte die Leine dem Kapitän zu, der am Bug stand. Dieser hielt fest und brachte mit einem Ruck den Fisch heraus -- aber, schnapp! weg war Leine und Haken und alles. Auch sahen wir, gemächlich hinter unserm Stern herschwimmend, einen gewaltigen Haifisch, der 9 oder 10 Fuß lang gewesen sein muß. Wir stellten ihm mit allen möglichen Angeln und mit einem Stück Schweinefleisch nach; aber er hatte keine Lust anzubeißen. Ich vermute er hatte mit den über Bord geworfenen Köpfen und anderen Ueberresten der Boniten seinen Appetit gestillt. Die Eintragung vom nächsten Tag betrifft die Katastrophe. Die drei Boote stießen ab, ruderten ein kleines Stück hinweg und hielten dann. Die beiden beschädigten hatten jedes einen bösen Leck; einige von den Leuten mußten fortwährend das Wasser ausschöpfen, andere verstopften die Löcher, so gut sie konnten. Der Kapitän, die beiden Passagiere und elf Mann waren im Langboot; sie hatten einen Teil der Lebensmittel und des Wassers und es war kein Platz übrig, denn das Boot war nur 21 Fuß lang, 6 breit und 3 tief. Der Obersteuermann und 8 Mann waren in dem einen von den kleinen Booten, der Zweite Steuermann und 7 Mann im anderen. Die Passagiere hatten von ihren Kleidern bloß die Mäntel gerettet, dazu die Sachen, die sie auf dem Leibe trugen. Das Schiff in seinem Flammenmantel und mit der gewaltigen Säule von schwarzem Qualm, die sich gen Himmel erhob, bot in der Einsamkeit des Weltmeers einen großartig malerischen Anblick und Stunde auf Stunde saßen die von ihrem Obdach Vertriebenen und starrten auf dieses Bild. Inzwischen berechnete der Kapitän die ungeheure Entfernung, die zwischen ihm und dem nächsten erreichbaren Land lag und setzte dann die Rationen fest, die ihnen in ihrer Not zur Verfügung standen: einen halben Zwieback zum Frühstück, einen Zwieback und ein bißchen Büchsenfleisch zum Mittag, einen Zwieback als Abendessen; zu jeder dieser Mahlzeiten ein paar Schluck Wasser. Und so begann der Hunger bereits zu nagen, während das Schiff noch brannte. 4. Mai. Das Schiff brannte die ganze Nacht lichterloh und wir hegen einige Hoffnung, daß irgend ein Schiff den Feuerschein gesehen hat und auf uns zu hält. Wir haben indessen bis heute Vormittag keins bemerkt und uns deshalb entschlossen, alle zusammen Nord zum West zu halten; es liegen einige Inseln 18° oder 19° n. Br. und 114° oder 115° w. L. und wir hoffen in der Zwischenzeit von einem Schiff aufgelesen zu werden. Das Schiff sank plötzlich um 5 Uhr in der Frühe. Wir finden die Sonne sehr heiß, sie versengt uns die Haut; aber wir alle wollen nach Kräften versuchen, unser Leben zu retten. Sie thaten nunmehr etwas sehr Natürliches: sie warteten noch etliche Stunden auf das Schiff, das möglicherweise den Feuerschein gesehen hatte und natürlich nur langsam durch die fast totenstill daliegende See herankommen konnte. Endlich gaben sie diese Hoffnung auf und setzten ihren Plan fest. Ein Blick auf die Karte wird dem Leser zeigen, daß ihr Kurs leicht zu bestimmen war. Die Albemarleinsel (von der Galapagosgruppe) liegt genau östlich beinahe 1000 Meilen entfernt; das im Tagebuch ziemlich unbestimmt als ›einige Inseln‹ bezeichnete Land (die Revilla-Gigedo-Inseln) liegen, nach der Schätzung der Schiffbrüchigen, in einer nur sehr unsicher bestimmten Richtung ungefähr 1000 Meilen nördlich und 100 oder 150 Meilen westlich; Acapulco, an der mexikanischen Küste, liegt ziemlich genau nordöstlich, nicht ganz 1000 Meilen entfernt. Man wird sagen: »Felseninseln, die einsam im Weltmeer liegen, können ihnen nichts nützen; mögen sie doch auf Acapulco und das Festland zuhalten!« Es sieht allerdings aus, als ob dies der natürliche Kurs sei, aber wenn man die Tagebücher liest, so errät man sofort, daß eine solche Fahrt ganz unvernünftig gewesen wäre -- in der That, der reine Selbstmord! Hätten die Boote auf Albemarle zugehalten, so wären sie den ganzen Weg über in den Doldrums[2] gewesen; und das hätte sicheren Untergang in den Fluten bedeutet, denn die Winde sind dort völlig verrückt, blasen aus allen Richtungen der Windrose gleichzeitig und außerdem noch von obenher. Hätten die Boote versucht, Acapulcos zu erreichen, so wären sie auf halbem Wege aus den Doldrums herausgekommen -- vorausgesetzt, sie hätten diesen Punkt erreicht -- und wären dann in kläglicher Lage gewesen, denn dort hätten ihnen die nordöstlichen Passatwinde gerade in die Zähne geweht, und die Boote waren so mangelhaft aufgetakelt, daß sie nicht binnen 8 Strichen des Kompasses segeln konnten. Sie steuerten also sehr vernünftigerweise nordwärts mit einer kleinen Abweichung nach Westen. Ihre Lebensmittel reichten bei knapper Einteilung nur für zehn Tage; das Langboot hatte die beiden anderen im Schlepptau; sie konnten nicht mit Sicherheit darauf rechnen, in den Doldrums ein nennenswertes Stück vorwärts zu kommen -- und sie hatten noch vier- bis fünfhundert Meilen in den Doldrums vor sich. Diese Doldrums sind der wirkliche Aequator, ein tausend oder zwölfhundert Meilen breiter wogender, brüllender, regengepeitschter Belt, der den Erdball umgürtet. [2] Mit ›Doldrums‹ bezeichnet man den Teil des Oceans nahe dem Aequator, wo häufig Windstillen, Böen und schwache, unstätige Winde vorkommen. Die erste Nacht hindurch regnete es stark, und alle wurden durchnäßt, aber sie füllten dadurch ihr Wasserfaß. Die Brüder saßen am Heck beim Kapitän, der das Ruder führte. Das Boot war gedrängt voll; kein einziger bekam viel Schlaf. Der nächste Morgen war stürmisch, böig und regnerisch. Schwerer und gefährlicher ›kurzer‹ Seegang. Man wundert sich, wie solche Boote ihn überstehen konnten. Es gilt als ein verzweifeltes Wagestück, wenn ein Mann mit einem Hund in einem Nachen von der Größe eines Langboots den Atlantischen Ocean durchquert -- und es ist auch wirklich eins. Aber _dieses_ Langboot war überladen mit Menschen und Sachen und nur drei Fuß tief. Natürlich dachten wir oft an alle Lieben zu Hause; wir freuten uns als uns einfiel, daß heute Abendmahlssonntag ist und daß unsere Freunde Gebete für uns zum Himmel senden, obwohl sie von unserer Gefahr nichts wissen. Der Kapitän gönnte sich während der ersten drei Tage und Nächte nicht einmal ein Nickerchen, aber in der vierten Nacht nahm er ein paar Augen voll Schlaf. Ungefähr um 10 Uhr änderte er den Kurs und steuerte ost-nordöstlich, in der Hoffnung die Felseninsel Clipperton zu erreichen. Verfehlte er sie, so machte das nichts aus; er würde es dann näher nach den anderen Inseln haben, die das ursprüngliche Ziel bildeten. Ich will hier gleich erwähnen, daß er den Felsen nicht fand. Am 8. Mai war den ganzen Tag kein Wind, glühend sengte die Sonne; sie griffen zu den Riemen. Delphine waren in Menge sichtbar, aber sie konnten keinen einzigen fangen. Ich glaube wir alle beginnen uns mehr und mehr der furchtbaren Lage bewußt zu werden, worin wir uns befinden ... Ein Schiff braucht oftmals eine volle Woche, um durch die Doldrums zu kommen -- wie lange also erst eine Nußschale wie die unsrige? ... Wir sitzen so gedrängt, daß wir uns nicht ausstrecken können, um ’mal einen guten Schlaf zu thun. Dieser letzterwähnte Umstand wurde natürlich mit der Zeit immer beschwerlicher, aber es liegt in der menschlichen Natur, solche Unannehmlichkeiten nur im Anfang besonders zu erwähnen. Diese Qual dauerte noch fünf Wochen -- dessen müssen wir uns erinnern, da der Tagebuchschreiber nichts davon sagt; unsere Betten werden uns dadurch um so weicher vorkommen. Henry befindet sich gut; aber er brütet mehr über unsere Lage als mir lieb ist ... Wir fingen zwei Delphine, sie schmeckten gut ... Der Kapitän glaubte, der Kompaß sei nicht in Ordnung, aber der seit lange unsichtbar gewesene Polarstern trat hervor -- ein willkommener Anblick! -- und bestätigte die Angabe des Kompasses. 10. Mai. 7° 0´ 13´´ n. Br., 111° 32´ w. L. Wir haben also in den 6 Tagen, seitdem wir das Schiff verließen, ungefähr 300 Meilen nach Norden gemacht. Heute treiben wir den ganzen Tag in Kalmen. Dabei werden wir von der Hitze gebraten. Wie der Kapitän sagt: alles Romantische ist längst entschwunden; wir kommen nur sehr langsam vorwärts; vom hintersten Boot kommen schlimme Nachrichten; die Leute sind unverständig, sie haben all ihr Büchsenfleisch, das vom Schiff mitgenommen wurde, aufgegessen und werden jetzt unzufrieden. Nicht so die Leute des Obersteuermanns; diese stehen offenbar unter den Augen eines _Mannes_. 11. Mai. Wir liegen still! Oder noch schlimmer: wir verloren in der letzten Nacht mehr Fahrt, als wir gestern gemacht hatten -- wir sind drei volle Meilen von den mühsam zurückgelegten 300 wieder zurückgekommen. Der Hahn der von dem brennenden Schiff in unser Boot gerettet wurde, lebt noch immer und kräht jeden Morgen, wenn der Tag anbricht; das heitert uns wirklich auf ... Wovon hat er die ganze Woche über gelebt? Haben die hungernden Männer ihn von ihren armseligen Bissen noch mitgefüttert? ... Des Zweiten Steuermanns Boot hat wieder kein Wasser mehr -- ein Zeichen, daß sie mehr trinken, als sie dürfen. Der Kapitän sprach ziemlich scharf zu ihnen. Noch immer lugten sie hoffnungsvoll nach Schiffen aus. Der Kapitän war ein bedächtiger Mann und ließ sie bei ihrem Glauben; er selbst wußte ohne Zweifel, daß ihr Ausspähen im Grunde nur Zeitvergeudung war. In diesen Breiten sind am Horizont oftmals aufrechtstehende Wölkchen, die genau wie Schiffsegel aussehen ... Ich hatte drei Flaschen Branntwein von unserem Privatvorrat in Sicherheit gebracht; sie leisteten uns in diesen Tagen gute Dienste. Der Kapitän giebt jedem Mann von der Wache zwei Eßlöffel voll, halb Branntwein, halb Wasser ... Die Leute halten regelmäßig Wache -- vier Stunden Dienst, vier Stunden Ruhe ... Der Obersteuermann ist ein ausgezeichneter Offizier. Ich bot ihm eine Flasche Branntwein an, aber er lehnte sie ab; er sagte, er könnte auch im hintersten Boot Ruhe halten und wir hätten nicht genug für alle. 13. Mai. Heute nacht brachte der Ruf: Ein Schiff! uns alle auf die Beine. Es schien, als ob die Signallaterne eines Schiffes sich aus der See erhebe. In atemloser Hoffnung standen wir, die Hand über den Augen haltend, und das Herz stak uns in der Kehle. Dann brach die Hoffnung zusammen: das Licht war ein aufgehender Stern. Ich dachte heute oft an unsere Leute daheim; wie enttäuscht werden sie nächsten Sonntag sein, wenn sie kein Telegramm von uns aus San Francisco bekommen. Es sollte noch manche Woche dauern bis dies Telegramm ankam; aber dann kam es wie ein Blitz aus dem Himmel, wie ein freudenbringendes Wunderzeichen -- ein Lebenszeichen von lieben Menschen, die schon als tot betrauert waren. Am 13. Mai verzeichnet Ferguson, daß die Tagesration auf einen Viertel-Zwieback für jede Mahlzeit heruntergesetzt ist; dazu haben sie täglich ungefähr ein Viertelliter Wasser. Und noch liegt mehr als ein Monat vor ihnen! Doch da sie dies nicht wissen, so sind sie ›alle ziemlich vergnügt‹. Am 14. Mai versetzt ein Ereignis sie in einen Freudentaumel von Hoffnung: es kommt ein Landvogel! Er ruht sich eine Weile auf der Raa aus und sie können ihn in aller Bequemlichkeit ansehen und können ihn beneiden und ihm für die Botschaft danken. Als neuer Gesprächsstoff ist dieser Vogel unermeßlich wertvoll: eine Abwechselung für die Zungen, die bis zu tödlicher Ermüdung immer und immer wieder dieselbe Frage besprechen: »Werden wir jemals wieder Land sehen -- und wann?« Ist der Vogel von Clipperton-Rock? Sie hoffen es und sie glauben von Herzen gern, was sie wünschen. Wie sich später herausstellte, war der Vogel kein Bote des Heils gewesen; er hatte sie gefoppt. Am 17. Mai vermerkt Kapitän Mitchell in seinem Logbuch: »Nur noch ein halber Scheffel Zwieback übrig!« -- Und sie haben noch einen Monat über die See zu wandern! Es regnete die ganze Nacht und den ganzen Tag; ein unbehaglicher Zustand für sie alle. Ein Schwertfisch jagte einen Boniten; das arme Ding suchte Rettung unter dem Steuerruder des Langboots. Der große Schwertfisch schoß fortwährend um das Boot herum, zum nicht geringen Schrecken aller Insassen. Den Leuten lief das Wasser im Munde zusammen, denn das Tier hätte ein ganzes Festessen gegeben; aber niemand wagte natürlich die Bestie anzurühren, denn sie hätte ja sofort das Boot in Grund gebohrt, wenn sie belästigt worden wäre. Die Vorsehung behütete den armen Boniten vor dem wilden Schwertfisch. Das war recht und billig. Dann kam die Vorsehung den schiffbrüchigen Seeleuten zu Hilfe: sie fingen den Boniten. Das war ebenfalls recht und billig. Aber dabei kam der Schwertfisch zu kurz. Er machte sich davon; wahrscheinlich dachte er über diese knifflichen Fragen nach. Die Mannschaft in allen drei Booten ist allem Anschein nach wohlauf; der schwächste von den Kranken, der so lange Zeit an Bord keinen Dienst hatte thun können, ›ist prächtig wiederhergestellt‹. Es ist der vom Dritten Steuermann verabscheute Portugiese, der die ›ganze Familie von Eiterbeulen gezüchtet hatte.‹ Am 19. Mai ließ der Kapitän die beiden kleinen Boote herankommen und erklärte, eins von ihnen müsse auf eigene Hand weiterfahren; das Langboot könne nicht länger alle beide schleppen. Der Zweite Steuermann weigerte sich, aber der Obersteuermann war bereit; er war überhaupt stets bereit, wenn eine _Männerarbeit_ zu thun war. Er übernahm das hinterste Boot; sechs von den Leuten erklärten sich bereit darin zu bleiben, zwei von seiner eigenen Mannschaft kamen mit ihm; im ganzen waren also acht, den Obersteuermann eingerechnet, neun Mann im Boot. Er segelte ab und kam gegen Sonnenuntergang den anderen außer Sicht. Dem Tagebuchschreiber that es leid, daß er ging; das war natürlich: sie hätten besser den Portugiesen missen können. Jetzt nach 32 Jahren lebt meine Abneigung gegen diesen Portugiesen wieder auf. Seit langer Zeit weiß ich nicht einmal mehr, wie er aussieht -- aber einerlei, ich hasse ihn wieder inbrünstig wie nur je. Wasser wird jetzt kostbar werden, denn da wir jetzt aus den Doldrums herauskommen, so kriegen wir höchstens ab und zu einen Regenschauer mit einem Passatwind. Am 20. Mai erreichen sie 12° 0´ 9´´ n. Br. Sie müßten jetzt völlig aus den Doldrums heraus sein -- aber sie sind noch drin. Keine Brise; die langersehnten Passatwinde wollen immer noch nicht kommen. Sie schauen immer noch sehnsüchtig nach einem Segel aus, aber sie haben nur ›Visionen von Schiffen, die sich zu nichts verflüchtigen‹. Am Nachmittag fängt der Zweite Steuermann einen Tölpel, einen Vogel, der hauptsächlich aus Federn besteht; ›aber da sie kein anderes Fleisch haben, so ist es willkommen‹. Am 21. Mai erreichen sie endlich die Passatwinde. Der Zweite Steuermann fängt noch drei Tölpel und giebt dem Langboot einen ab. Zum ›Mittagessen‹ giebt es eine halbe Kanne kleingeschnittenes Fleisch, das unter die Leute verteilt wird und ihnen ›einige Kraft giebt‹. Ein Mann muß fortwährend Wasser schöpfen, denn der Leck, den das Boot beim Aussetzen bekam, war schlecht zugestopft. Der nächste Tag war ein recht ereignisvoller. 22. Mai. Diese Nacht hatten wir den Wind von vorne, so daß wir ost-südöstlich, dann wieder west-nordwestlich zu steuern hatten, und so immer abwechselnd. Heute morgen weckte uns plötzlich der Ruf: »Segel voraus!« Und wirklich, wir konnten es sehen! Wir machten uns vom Boot des zweiten Steuermanns frei und steuerten so, daß wir auf dem Schiff bemerkt werden mußten. Es war ungefähr um halb sechs in der Frühe. Nachdem wir ungefähr 20 Minuten lang in höchster Aufregung auf das Segel zu gehalten hatten, erkannten wir, daß wir das Boot des Obersteuermanns vor uns hatten. Natürlich freuten wir uns, sie zu sehen und zu vernehmen, daß alle gesund waren; aber es war doch für uns alle eine bittere Enttäuschung! Jetzt, wo wir unter den Passatwinden sind, können wir, wie es scheint, unmöglich so scharf nördlich halten, um die Inseln zu erreichen. Wir haben beschlossen, unser Bestes zu thun, um den von Schiffen befahrenen Strich der See zu erreichen. Infolgedessen wurde es notwendig, auch das andere Boot seinem Schicksal zu überlassen. So geschah es denn auch, aber erst nach recht unerquicklichen Auseinandersetzungen und nachdem wir noch einmal Wasser und Lebensmittel geteilt und den Matrosen Cox aus ihrem Boot in das unsrige genommen hatten. Mit ihm sind wir jetzt fünfzehn! Die Leute vom Boot des zweiten Steuermanns verlangten, wir sollten sie alle bei uns aufnehmen und ihr Boot treiben lassen. Es war ein sehr schmerzlicher Abschied. Durch den westlichen Kurs verbessern sich unsere Aussichten, von einem Schiff aufgenommen zu werden, aber jeden Tag schmelzen unsere spärlichen Vorräte so sehr zusammen. Wenn wir nicht die Fische, Delphine und Vögel gehabt hätten, so weiß ich nicht, wie wir so weit hätten kommen können. Vorgestern erbot ich mich, das Morgen- und Abendgebet zu lesen und that das gestern abend zum erstenmal. Die Leute, obwohl verschiedenen Nationen und Glaubensbekenntnissen angehörend, sind sehr aufmerksam und nehmen die Hüte ab. Möge Gott meinen schwachen Bemühungen Erfolg verleihen! 24. Mai. 14° 18´ n. Br. Zum Mittagessen auf den Mann fünf Austern und drei Löffel voll Saft, einen Becher Wasser und ein Stück Zwieback von der Größe eines Silberdollars. Wir werden sichtlich immer schwächer -- habe Gott Gnade mit uns allen! 26. Mai. 15° 50´ n. Br. Wir haben einen fliegenden Fisch und einen Tölpel gefangen, mußten sie aber roh essen! Die Leute werden immer schwächer und, wie mir vorkommt, mutlos; sie sagen jedoch sehr wenig. Und so kommt zu all den anderen erdenkbaren und undenkbaren Schrecknissen noch das Schweigen hinzu -- das stumme Vorsichhinbrüten, das einem Verzweiflungsausbruch vorausgeht! Ferguson hofft, ›die anderen Boote sind nach Westen verschlagen und aufgefischt worden.‹ (Man sollte von ihnen auf dieser Welt niemals wieder ein Wort hören!) Sonntag, den 27. Mai. 16° 0´ 5´´ n. Br.; 117° 22´ w. L. nach dem Chronometer. Unser vierter Sonntag! Als wir das Schiff verließen, reichten nach unserer Berechnung unsere Vorräte etwa für 10 Tage und jetzt hoffen wir bei strenger Einteilung noch für eine weitere Woche damit auszukommen.[3] Vorige Nacht fiel wieder ein fliegender Fisch ins Boot, und heute auch einer -- beide waren nur klein. Keine Vögel. Ein Tölpel ist ein großer Fang für uns, und ein recht großer giebt ein kleines Mittagessen für uns fünfzehn ab -- d. h. natürlich was wir in unserm Langboot ein Mittagessen nennen. Versuchte heute morgen den ganzen Gottesdienst zu lesen, fand es aber zu viel für meine Kräfte; bin zu schwach, werde schläfrig und kann nicht scharf aufpassen; ich ließ daher die zweite Hälfte für heute abend übrig. Ich vertraue auf Gott, daß Er die Gebete hören wird, die heute zu Hause für uns zu Ihm emporsteigen und daß Er sie gnädigst erhört, indem Er uns in unserer tiefen Not Hilfe und Beistand sendet. [3] Es lagen noch 19 Tage vor ihnen! M. T. Am 29. Mai wurde der Hungerriemen abermals ein paar Löcher enger zugezogen: die Brotportion wurde von der bisherigen Menge -- ein Stückchen Zwieback jedesmal von der Größe eines Silberdollars -- auf die Hälfte herabgesetzt und von den täglichen drei Mahlzeiten wurde eine ausgelassen. Des Kapitäns Logbuch verzeichnet die Vorräte: Eine halbe Gallone Brotschnitzel, der dritte Teil von einem Schinken, drei kleine Büchsen Austern und zwanzig Gallonen Wasser. Trotzdem erhält sich in den Tagebüchern der hoffnungsvolle Ton. Das ist bemerkenswert! Das Boot ist jetzt, unter 16° 44´ n. Br. und 119° 20´ w. L., mehr als 200 Meilen westlich von den Revilla-Gigedo-Inseln; diese zu erreichen, davon kann bei der mangelhaften Segeltüchtigkeit des Bootes nicht die Rede sein, denn die Passatwinde wehen genau aus Westen. Das nächste für ein solches Boot erreichbare Land ist die ›Amerikanische Inselgruppe‹, die 650 Meilen westwärts liegt! Trotzdem ist keine Rede davon, den Kampf aufzugeben, ja es ist nicht einmal eine Entmutigung zu bemerken. Und dabei heißt es am 30. Mai: »Jetzt haben wir noch: eine Büchse Austern; drei Pfund Rosinen; eine Büchse Suppe; den dritten Teil von einem Schinken; dreiachtel Gallonen Brotschnitzel.« Sechshundertundfünfzig Meilen Wegs mit einem Hut voll Lebensmitteln! Und zum Glück wissen sie nicht, daß sie nicht 650 Meilen, sondern 2200 noch zurückzulegen haben. Der letzte Mai ist da. Und an diesem Tage ist ein Unglück zu verzeichnen: Gestern waren noch drei Pinten Brotschnitzel übrig, heute morgen wird der kleine Sack offen gefunden und _es fehlen ein paar Stücke Zwieback_! Es thut uns weh, jemanden wegen einer so schurkischen Handlung im Verdacht haben zu müssen, aber es ist keine Frage, daß dieses schwere Verbrechen begangen worden ist. In zwei Tagen wird es mit den übrigen Brocken sicherlich zu Ende sein. Gott gebe uns die Kraft, die amerikanische Gruppe noch zu erreichen. Wie der dritte Steuermann mir in Honolulu erzählte, erinnerten die Matrosen sich in jenen Tagen voll bitteren Aergers, daß der Portugiese 22 Rationen gefressen hatte, als er auf dem Schiffsdeck lag; nun verwünschten sie ihn und thaten einen Schwur, wenn es zu Kannibalismus käme, so solle er zuerst für die anderen leiden. Samuel Ferguson bemerkt vom Kapitän: »Er ist ein guter Mann und hat sich sehr freundlich gegen uns benommen -- beinahe wie ein Vater. Er erzählte: wenn ihm das Kommando des Schiffes etwas früher angeboten wäre, so hätte er seine beiden Töchter mit an Bord genommen.« Man schaudert, wenn man daran denkt, mit wie knapper Not die Mädchen dem Schiffbruch entgingen! An diesem letzten Mai vermerkt der Kapitän in seinem Logbuch: Die beiden Mahlzeiten täglich bestehen jetzt aus folgendem: 14 Rosinen und ein Stück Zwieback von der Größe eines Pennys zum Abendessen; ein Becher Wasser, ein Stück Schinken und ein Stück Brot, beide von der Größe eines Pennys, zum Frühstück. Hierzu ist zu bemerken, daß die Angabe ›von der Größe eines Pennys‹ sich nicht nur auf den Umfang sondern auch auf die Dicke bezieht. Der Schinken wurde nach Samuel Fergusons Tagebuch so dünn geschnitten, wie es nur mit einem ganz scharfen Messer möglich war. 1. Juni. Diese Nacht und heute ist das Wetter sehr böig und es ist kein Zweifel, daß nur des Kapitäns Bedachtsamkeit -- nächst Gottes fürsorglichem Schutz -- uns während dieser 24 Stunden vor dem Untergang bewahrt hat. Es ist über alle Begriffe wunderbar, wie jeder Bissen, der über unsere Lippen kommt, uns gesegnet ist. Ich muß täglich an das Wunder mit den Fischen und Broten denken. Henry benimmt sich prachtvoll; dies ist ein großer Trost für mich. Wie es kommt, weiß ich selbst nicht, aber ich hege große Zuversicht und hoffe, daß unsere Trauerzeit bald enden wird, obwohl wir die befahrene Schiffsstraße nur kreuzen und sehr bald weit davon weg sein werden. Unsere Haupthoffnungen setzen wir auf einen Walfischfänger oder ein Kriegsschiff, oder auf irgend einen Australier. Die Inseln, auf die wir steuern, sind im ›Bowditch‹ angegeben, aber nach meiner Karte soll es zweifelhaft sein, ob sie an der betreffenden Stelle wirklich vorhanden sind. Gebe Gott, daß sie da seien! Zweifelhaft! Es war schlimmer: eine Woche später segelten sie über die Inseln weg! Aus dem Logbuch des Kapitäns: 2. Juni. Nur noch zwei kümmerliche Tagesvorräte; zehn Rationen Wasser für den Mann und ein Häppchen Brot. _Aber die Sonne scheint und Gott ist barmherzig._ Aus Samuel Fergusons Tagebuch: Sonntag, 3. Juni. Unser Zustand wird allmählich fürchterlich. Ich ging, oder kroch vielmehr, heute morgen nach dem vorderen Ende des Bootes und war überrascht, wie außerordentlich schwach ich war, besonders in den Knieen und überhaupt in den Beinen. Die Sonne hat wieder geschienen, ich habe einige von meinen Sachen trocknen können und hoffe auf eine bessere Nacht. 4. Juni. Wenn unser Chronometer einigermaßen richtig geht, müssen wir morgen oder übermorgen die ›Amerikanischen Inseln‹ sehen. Sind sie nicht da, so haben wir für uns nur noch die Möglichkeit, einem von seinem Kurs verschlagenen Schiff zu begegnen, aber dies müßte in den allernächsten Tagen sein, denn länger als 5 oder 6 Tage _können_ wir mit unseren Nahrungsmitteln nicht reichen und mit unseren Kräften geht es sehr schnell abwärts. Ich war sehr erstaunt als ich heute bemerkte, wie meine Beine oberhalb der Kniee abgemagert sind; sie sind kaum noch dicker als früher meine Oberarme waren. Doch ich vertraue auf Gottes unendliche Gnade, ich bin gewiß, Er wird’s machen, wie es für uns am besten ist. Daß wir 32 Tage in einem offenen Boot am Leben geblieben sind, mit Nahrungsmitteln, die nur für 10 Tage reichten und von denen wir noch dazu zweimal einen Teil abgegeben haben -- das ist mehr, als _menschliche_ Klugheit und Kraft ohne Beistand vollbringen könnte. Aus des Kapitäns Logbuch: 4. Juni. Brot und Rosinen gänzlich aufgezehrt. Aus Henry Fergusons Tagebuch: Die Unzufriedenheit der Mannschaft wird gefährlich; wir hören lautes Murren und rohe Redensarten. Gott behüte uns vor einem Kampf mit den Leuten; wenn wir sterben müssen, so nehme Er uns zu sich und mache uns den bitteren Tod nicht noch bitterer. Aus Samuels Tagebuch: Eine ruhige Nacht und ein leidlicher Tag; leider sind unser Segel und der Flaschenzug schadhaft geworden und müssen ausgebessert werden; das ist ein hartes Stück Arbeit, weil es notwendig ist, dazu den Mast zu erklettern. Von den Leuten vernehmen wir, daß unter ihnen Unzufriedenheit herrscht und drohende Klagen über ungerechte Verteilung des Essens laut werden -- lauter unvernünftiges Zeug; es gilt indessen auf der Hut zu sein. Ich werde erbärmlich schwach, suche mich aber, so gut ich kann, aufrecht zu erhalten ... Von heute an giebt’s nur noch eine Mahlzeit, ungefähr um die Mittagsstunde; dazu um 8 oder 9 Uhr morgens, um 12 Uhr mittags und um 5 oder 6 Uhr abends je einen kleinen Schluck Wasser. Aus des Kapitäns Logbuch: Nichts mehr übrig als ein Stückchen Schinken und ein Becher Wasser für jeden. Jetzt sind sie also herunter auf _eine_ Mahlzeit täglich -- und was für eine ›Mahlzeit‹! -- und dabei noch 1500 Meilen vor ihnen! Immer furchtbarer wurde die Lage und wenn sie auch von wirklicher Meuterei verschont blieben, so wurde doch die Haltung der Leute sehr bedrohlich. Und welch wunderbare Fügung: Der Matrose Cox, der vorhin erwähnt wurde, war mehrere Tage in des Obersteuermanns Boot gewesen; er war bereits gänzlich ihrem Gesichtskreis entschwunden, dann zurückgekehrt und in das Langboot aufgenommen worden. Nun, wäre er nicht zurückgekommen, so wären wohl der Kapitän und die beiden jungen Passagiere von den Matrosen totgeschlagen worden, denn diese waren jetzt infolge ihrer Leiden dem Wahnsinn nahe. Folgenden Zettel steckte Henry seinem Bruder Samuel zu: Cox sagte mir gestern abend, es würden gegen den Kapitän und uns beide recht böse Reden geführt. Sie sagen, der Kapitän sei an allem schuld, er habe überhaupt nicht versucht, das Schiff zu retten, oder Mundvorrat auf die Seite zu bringen; er habe den Leuten nicht ’mal erlaubt, das was sie bereits hatten, in die Boote zu bringen; er gehe bei der Austeilung des Essens parteilich vor, indem er uns begünstige. X. fragte Cox neulich, ob er lieber hungern oder Menschenfleisch essen wolle. Cox antwortete, er würde hungern, worauf der andere versetzte, das wäre ja einfach Selbstmord. Wenn wir die Amerikanischen Inseln nicht finden, thun wir gut, uns auf alles gefaßt zu machen. X. ist der lauteste von allen. Antwort: Ich denke, wir können uns auf A. und auf B. verlassen; außerdem auf Cox, nicht wahr? Zweiter Zettel: Ich glaube es auch; außerdem höchst wahrscheinlich noch auf C.; aber darauf ist nicht bestimmt zu rechnen; ganz sicher sind nur B. und Cox. Wenn ich Cox richtig verstehe, so ist bis jetzt noch nichts Bestimmtes besprochen oder abgemacht: aber Hungernde sind unzurechnungsfähig. Es wäre gut wenn du auf dein Pistol und die Patronen aufpaßtest, damit sie uns nicht gestohlen werden. Aus Henrys Tagebuch: 6. Juni. Wir kamen bei Seetang vorüber und bemerkten etwas, das wie ein alter Baumstamm aussah, aber keine Vögel! Wir fangen an zu befürchten, daß die Inseln nicht da sind. Heute wurde dem Kapitän ganz laut vor allen Leuten gesagt, einige von den Matrosen würden unbedenklich Menschenfleisch essen, falls einer von uns sterben sollte, doch würden sie niemanden totschlagen. Entsetzlich! Gott erhalte uns allen unsere Vernunft und erspare uns solche Greuel. »Vor Seuche, Pest und Hungersnot, vor Krieg und Mord und plötzlichem Tod, bewahr’ uns lieber Herre Gott!« Aus Samuels Tagebuch: 6. Juni. 16° 30´ n. Br. 134° w. L. (nach dem Chronometer). Trockene Nacht. Der Wind ist steif genug, sodaß das Segel nicht geändert zu werden braucht; heute morgen mißlang ein Versuch, es herunterzulassen, um den Schaden auszubessern. Zuerst versuchte der Dritte Steuermann es; er kam auch bis zur Blockrolle hinauf, mußte aber, beinahe ohnmächtig, wieder herunter kommen, ehe er fertig war. Dann ging Joe hinauf; beim zweiten Versuch konnte er die Taue vorläufig festmachen und die Blockrolle mit nach unten bringen; aber es war eine sehr anstrengende Arbeit und er war nachher den ganzen Tag erschöpft. Wir müssen aber unbedingt das Segel in gute Ordnung bringen, ehe wir alle unsere Kräfte verlieren. Aus des Kapitäns Logbuch: Nur noch drei Mahlzeiten übrig. Aus Samuels Tagebuch: 7. Juni. Die Nacht war naß und ungemütlich. Heute haben wir die volle Gewißheit, daß die Amerikanischen Inseln nicht vorhanden sind. Gegen Mittag beschlossen wir, nicht mehr nach ihnen auszuschauen; wir werden von heute abend an ein bißchen mehr nördlich halten auf die Sandwichinseln zu. Die Passatwinde sind uns günstig. Sollten wir weiter westlich sein, als es nach unserem Chronometer der Fall ist, so wäre dies natürlich zu unserem Vorteil; ich kann mir eigentlich nicht denken, daß der Zeitmesser richtig geht, denn was für Stöße hat bei dem Seegang, den wir hatten, das zartgebaute Instrument aushalten müssen! 8. Juni. Mein Husten hat mich diese Nacht ziemlich gequält und ich schlief daher fast gar nicht. Trotzdem befinde ich mich ziemlich wohl und darf mich nicht beklagen. Gestern brachte der Dritte Steuermann die Blockrolle wieder in Ordnung und Harry kletterte bis zur Mastspitze hinauf und brachte glücklich die Taue an ihren Platz, so daß das Segel jetzt schnell und bequem zu handhaben ist. Bei dem Seegang, den wir haben, ist es überhaupt nicht leicht bis zur Mastspitze hinaufzuklettern, nun nehme man dazu, wie schwach mein Bruder jetzt ist! Wir konnten Harry nur durch einen Extraschluck Wasser belohnen. Heute haben wir gute Fahrt gemacht und gutes Wetter gehabt. Unser heutiges Essen bestand für alle 15 zusammen aus einer halben Büchse ›Suppe mit Rindfleisch‹; die andere Hälfte ist für morgen aufgespart. Henry hält sich immer noch großartig; er ist der allgemeine Liebling. Gebe Gott, daß er am Leben bleibe! Aus des Kapitäns Logbuch: Unter der Mannschaft herrscht bessere Gesinnung. Samuels Tagebuch: 9. Juni. 17° 53´ n. Br. Heute sind wir, so kann ich wohl sagen, mit unseren Lebensmitteln gänzlich fertig geworden. Wir haben bloß noch das untere Ende von einem Schinkenknochen, woran noch ein bißchen von der äußeren Rinde und Haut ist. Der Wasservorrat indessen reicht, wie ich glaube, bei der jetzigen Einteilung noch für zehn Tage. Damit und mit der Nahrung, die unsere Stiefelschäfte und andere kaubare Gegenstände uns liefern werden, hoffen wir es noch auszuhalten, bis wir die Sandwichinseln erreichen oder bis ein Schiff uns aufnimmt. Ich setze meine Hoffnung auf den letzteren Fall, denn nach menschlicher Berechnung werde ich den anderen nicht erleben. Doch wir sind bisher in so wunderbarer Weise beschirmt worden und Gott wird uns, so hoffe ich, auf Seine Art erhalten. Die Leute werden schwächer, sind aber noch ruhig und ordentlich. Sonntag, 10. Juni. Eine ziemlich gute Nacht gehabt; und heute ist wieder ein schöner Sonntag! Ich fühle bis jetzt den Nahrungsmangel nicht so sehr wie die Wassersnot. Sogar Henry, der für gewöhnlich reichlich Wasser trinkt, kann ab und zu die Hälfte von seiner Portion sich aufsparen; ich dagegen vermag das nicht. Vielleicht liegt dies aber auch an meinem kranken Hals. Jetzt ist also _nichts_ mehr übrig, was man mit dem besten Willen ›Nahrung‹ nennen kann. Und doch müssen sie sich noch über 5 Tage hinweghelfen, denn von der Mittagsstunde an haben sie noch 800 Meilen vor sich. Jetzt beginnt ein Rennen auf Leben und Tod. Ich gebe von jetzt an ohne unterbrechende Bemerkungen des jüngeren Bruders Tagebuch. Henry Ferguson schreibt: Sonntag, 10. Juni. Unser Schinkenbein hat uns heute einen Geschmack von Essen gegeben und wir haben für morgen noch den Rest von dem Knochen. Ganz gewiß gab es niemals auf der Welt so einen köstlichen Knabberknochen, der so mit Wonne genossen wurde. Es kommt mir vor als ob ich mich nicht schlechter befinde als am vorigen Sonntag, trotz der Einschränkung im Essen; ich glaube bestimmt, daß wir alle die Kraft haben, die Leiden und Strapazen der nächsten Woche noch auszuhalten. Unserer Schätzung nach sind wir keine 700 Meilen mehr von den Sandwichinseln und da unsere Tagesleistung durchschnittlich etwa 100 Meilen beträgt, so sind unsere Hoffnungen nicht unvernünftig. Gebe der Himmel, daß wir alle Land sehen! 11. Juni. Aßen das Fleisch und die Haut, die an unserem Schinkenbein saß und haben für morgen noch die Speckschwarte. Gott sende uns Vögel oder Fische und lasse uns nicht Hungers sterben, oder zu der furchtbaren Notwendigkeit getrieben werden, uns von Menschenfleisch zu nähren. So wie ich mich jetzt fühle, bin ich überzeugt, daß nichts mich dazu bringen könnte; aber man kann nicht sagen, was man thun wird, wenn man halbtot vor Hunger und seines Verstandes nicht mehr mächtig ist. Ich hoffe und bete, wir mögen die Inseln erreichen, ehe wir in solche Not kommen; aber wir haben einen oder zwei verzweifelte Gesellen an Bord, wenn sie sich auch jetzt ganz ruhig verhalten. _Es ist mein fester Glaube und meine innige Zuversicht, daß wir werden gerettet werden._[4] [4] An diesem Tage verzeichnet der Kapitän in seinem Logbuch nur die drei Worte: »Nahrungsmittel gänzlich aufgezehrt.« Gleichzeitig wurde entdeckt, daß die wahnsinnigen Matrosen sich in den Kopf gesetzt hatten, der Kapitän habe hinten beim Steuer _eine Million Dollars in Gold_ versteckt; sie waren damit umgegangen, ihn und die Passagiere zu ermorden und sich des Geldes zu bemächtigen. M. T. 12. Juni. Steife Brise. Wir fliegen dahin -- gerade auf die Inseln los. Gute Hoffnung -- aber die Aussicht auf die nächsten Hungertage sind fürchterlich. Aßen heute Schinkenknochen. Der Kapitän hat Geburtstag; er ist 54 Jahre alt. 13. Juni. Die letzten Splitter vom Schinkenknochen sind jetzt alle; wir finden die Stiefelschäfte sehr schmackhaft, nachdem wir das Salz aus ihnen herausgesogen haben. 14. Juni. Der Hunger thut uns nicht so sehr weh; aber wir sind entsetzlich schwach. Unser Wasser wird gefährlich knapp. Gott gebe, daß wir bald Land sehen. _Nichts zu essen_ -- fühle mich aber besser als gestern. Sahen gegen Abend einen prachtvollen Regenbogen -- den ersten seit Antritt unserer Reise. Der Kapitän sagte: »Lustig, Jungen! Das ist ein Wahrzeichen -- _es ist der Bogen der Verheißung_!« 15. Juni. Gott sei ewig gepriesen für Seine unendliche Gnade: =Land in Sicht!= Wir kamen schnell näher und waren bald der Thatsache _gewiß_! ... Zwei prächtige Kanaken kamen zu uns herausgeschwommen und brachten das Boot an Land. Wir wurden voller Freuden von zwei Weißen aufgenommen: Mr. Jones und seinem Hausdiener Charley; dazu kam ein ganzer Schwarm von Eingeborenen, Männer, Weiber und Kinder. Sie nahmen uns prächtig auf -- halfen uns, trugen uns das Ufer hinauf und brachten uns Wasser, Poi, Bananen und grüne Kokosnüsse; aber die Weißen paßten auf, daß wir nicht zu viel aßen. Alle waren über die Maßen froh uns zu sehen und drückten mit Mienen, Gebärden und Worten ihre Teilnahme aus. Dann wurden wir nach dem Hause hinaufgetragen; wir hatten das Tragen allerdings auch nötig! Mr. Jones und Charley sind die einzigen Weißen hier. Bewirteten uns großartig! Gaben zuerst einem jeden von uns einen Theelöffel voll Branntwein in Wasser, dann eine Tasse heißen Thees mit ein wenig Brot. Wir haben alle erdenkliche Pflege bei ihnen. Nachher gaben sie uns noch eine Tasse Thee und wieder etwas Brot. Dann ließen sie uns allein, damit wir schlafen sollten ... _Heute ist der glücklichste Tag meines Lebens!_ ... Gott in Seiner Gnade hat unser Gebet erhört ... Alle Menschen sind so freundlich. Finde keine Worte dafür. 16. Juni. Mr. Jones gab uns ein köstliches Bett, und wir hatten auch eine gute Nachtruhe; aber schlafen konnten wir nicht -- dazu waren wir zu glücklich. Wir fürchteten wenn wir einschliefen, so möchten wir aufwachen und finden, daß alles eine Täuschung wäre und wir uns wieder in unserem Boot befänden. Wir zogen die Wirklichkeit vor. Es ist ein erstaunliches Abenteuer. Es giebt nichts Aehnliches, was es im Möglichmachen von Unmöglichkeiten übertrifft. In _einer_ außerordentlichen Einzelheit -- daß nämlich _alle_ Insassen des Bootes am Leben bleiben -- steht es wahrscheinlich unter den Abenteuern dieser Art einzig da. Gewöhnlich hält nur ein Teil der Bootsbesatzung es aus -- hauptsächlich Offiziere und andere gebildete Leute, die an schwere Arbeit und Entbehrungen nicht gewöhnt sind; die derben Faustarbeiter unterliegen. Aber in diesem Fall überstanden auch die rauhen und rohen Gesellen Hunger und Elend so gut wie die beiden jungen Studenten und der Kapitän. Das heißt: körperlich! Geistig brachen die meisten Matrosen in der vierten Woche zusammen. Immerhin war die von ihnen an den Tag gelegte körperliche Ausdauer erstaunlich. Natürlich war das nicht das Verdienst der Leute, sondern es war lediglich der Willenskraft und geistigen Ueberlegenheit des Kapitäns zuzuschreiben. Ohne ihn wären sie gewesen wie Kinder ohne Aufsicht; sie hätten binnen einer Woche ihre Lebensmittel aufgezehrt und ihr Mut hätte nicht einmal so lange ausgehalten wie die Lebensmittel. Zuguterletzt wäre das Boot beinahe noch gescheitert! Als es der Küste nahe kam, wurde das Segel heruntergelassen; dann sah aber der Kapitän, daß sie langsam auf ein fürchterliches Riff zutrieben und es wurde ein Versuch gemacht, das Segel wieder hochzuziehen. Aber es ging nicht; die Kräfte waren völlig erschöpft, die Matrosen konnten nicht einmal mehr ein Ruder halten. Sie waren hilflos und dem Tode verfallen. In diesem Augenblick wurden sie von den beiden Kanaken entdeckt, die zu ihnen hinaus schwammen und das Boot durch eine enge, kaum bemerkbare Lücke im Riff lotsten -- die einzige Lücke auf eine Strecke von 35 Meilen! Binnen zehn Tagen nach der Landung waren alle bis auf einen wieder auf den Beinen und konnten herumkriechen. Eigentlich hätten sie an der ›Nahrung‹ der letzten paar Tage sterben müssen; wenigstens einige von ihnen, die ihre Mägen mit Lederstreifen von alten Stiefeln und mit Spähnen von der Buttertonne beladen hatten; sie wurden das Zeug nicht durch Verdauung, sondern auf irgend eine andere unaufgeklärte Weise wieder los! Der Kapitän und die beiden Passagiere hatten kein Leder und keine Spähne gegessen, wie die Matrosen, sondern sie _schabten_ die Stiefel und das Butterholz und machten mit Wasser einen Brei davon. Der Dritte Steuermann erzählte mir, die Stiefel wären alt und voll von Löchern gewesen; und gedankenvoll setzte er hinzu: »Aber die Löcher waren am besten zu verdauen.« Da ich eben von Verdauung sprach, so will ich einen bemerkenswerten Umstand anführen: während dieser seltsamen Reise und noch eine Zeitlang, als sie schon an Land waren, setzten bei einigen von den Leuten die Gedärme völlig ihre Arbeit aus, und zwar zwanzig bis dreißig Tage, in einem Fall sogar dreiundvierzig Tage lang! Auch der Schlaf hörte auf, und trotzdem schadete es den Leuten nichts. Viele Tage lang -- ich glaube, einundzwanzig hintereinander -- schlief der Kapitän überhaupt nicht. Nach der Landung gelang es, alle Geretteten davon abzuhalten, daß sie sich überaßen -- ausgenommen den Portugiesen. Der entkam dem Wärter und aß eine unglaubliche Menge Bananen. Hundertzweiundfünfzig, sagte der Dritte Steuermann, wären’s gewesen; aber dies war unzweifelhaft eine Uebertreibung -- ich denke es waren nur hunderteinundfünfzig. Er war schon beinahe ganz voll von Leder; es hing ihm zu den Ohren heraus. (Dies berichte ich nicht auf Grund der Aussage des Dritten Steuermanns, sondern ich übernehme selbst die Verantwortung dafür.) Der Portugiese hätte natürlich daran krepieren sollen und es thut einem sogar jetzt noch beinahe leid, daß er’s nicht that. Aber er erholte sich und zwar so schnell wie alle andern -- trotz allem Leder und Butterholz und Taschentüchern und Bananen, die er in sich hatte. Einige von den Matrosen aßen nämlich in den letzten Tagen Taschentücher, auch Strümpfe. Zu diesen gehörte auch er. Es ist ein gutes Zeichen für die Leute, daß sie den Kikerikihahn nicht schlachteten, der jeden Morgen so wacker krähte. Er lebte 18 Tage lang; dann stand er auf, streckte seinen Hals lang und machte einen tapferen aber schwachen Versuch, noch einmal seine Pflicht zu thun. Dabei starb er. Ein interessantes Bild. Bemerkenswert ist auch der Regenbogen -- der einzige, den man in den 43 Tagen sah; er erhob sich wie ein Triumphthor in die Lüfte, unter welchem die standhaften Streiter als Sieger in den Hafen der Rettung segelten! Mit Lebensmitteln für 10 Tage vollbrachte Kapitän Josiah Mitchell diese denkwürdige Reise von 43 Tagen und 8 Stunden in einem offenen Boot -- eine Segelfahrt von 4000 Meilen, die sie wirklich zurücklegten, und 3360 Meilen in der Luftlinie -- und brachte jeden Mann gesund an Land. Ein aufgeklärter, einfacher, ungezwungener, tapferer Mann und lieber Gesellschafter. Ich spazierte 28 Tage lang mit ihm auf Deck -- (wenn ich nicht in der Kajüte saß und die Tagebücher abschrieb) -- und ich erinnere mich seiner in Verehrung. Wenn er noch lebt, ist er jetzt 86 Jahre alt. Samuel Ferguson starb, wenn mein Gedächtnis mich nicht täuscht, bald nach unserer Ankunft in San Francisco. Ich glaube nicht, daß er noch sein Elternhaus erreichte; seine Krankheit war durch die Strapazen sehr verschlimmert worden. Eine Zeitlang hoffte man, daß man auch von den beiden kleinen Booten etwas vernehmen würde -- aber diese Hoffnung wurde nicht erfüllt. Sie gingen ohne Zweifel unter und mit ihnen alle, die an Bord waren, auch der ritterliche Obersteuermann. Die Verfasser der Tagebücher erlaubten mir, sie genau so, wie sie niedergeschrieben waren, abzuschreiben und die Auszüge, die ich daraus gegeben habe, sind in keiner Weise überarbeitet oder verbessert. Die beiden letzten Eintragungen in Henrys Tagebuch sind durch keine Kunst besser zu machen: sie sind litterarisches Gold. Ich hatte die Tagebücher 32 Jahre lang nicht angesehen, aber ich finde sie haben in diesem Zeitraum nichts verloren. Verloren? Gewonnen haben sie! Denn ein unerklärliches Gesetz will, daß menschliche Tragik durch die Perspektive der zeitlichen Entfernung an Interesse gewinnt. Wir werden uns dessen bewußt, wenn wir in Neapel sinnend vor der armen Mutter aus Pompeji stehen, die vor 18 Jahrhunderten in dem weltgeschichtlichen Aschenregen unterging. Sie liegt da, das Kind, das sie zu retten versuchte, an ihren Busen gedrückt und ihr verzweiflungsvoller Schmerz ist durch die grause Hülle, die ihr den Tod brachte, auf unsere Tage gebracht worden. Die glühende Lava nahm ihr das Leben, aber sie überlieferte ihre Gestalt und ihre Gesichtszüge der Ewigkeit. Sie rührt uns, sie verfolgt uns, beschäftigt tagelang unsere Gedanken -- warum? Das wissen wir nicht, denn sie ist nichts für uns, sie ist 1800 Jahre lang für keinen Menschen etwas gewesen. Würde uns dagegen heutigen Tages ein solcher Fall vorkommen, so würden wir sagen: »Die arme Frau! Was für ein Jammer!« -- und hätten sie in einer Stunde vergessen. Noch einmal ›Gedankentelegraphie‹. Ich habe drei oder vier eigentümliche Erlebnisse zu erzählen. Wie mir scheint, gehören sie unter die Rubrik ›Gedankentelegraphie‹, worüber ich vor Jahren schon einen Aufsatz veröffentlichte.[5] [5] Enthalten im ›Skizzenbuch‹; Band 3 der ›Humoristischen Schriften‹. Vor etlichen Jahren machte ich mit Herrn George W. Cable eine Rundreise, um Vorträge zu halten. In Montreal wurde uns zu Ehren ein Empfang veranstaltet. Er begann um zwei Uhr nachmittags in einem langen Salon im Windsorhotel. Herr Cable und ich standen am einen Ende des Raumes, die Damen und Herren traten am anderen Ende ein, gingen die lange Wand linker Hand entlang, schüttelten uns die Hand, sagten ein oder zwei Worte und gingen weiter -- die übliche Geschichte. Mein Auge ist wie ein Fernrohr, und plötzlich sah ich in dem Gedränge von Fremden, die sich weit da hinten zur Tür hineinschoben, ein bekanntes Gesicht. Ich dachte voll Ueberraschung und zugleich voll Freude bei mir selber: »’s ist Frau R.; ich hatte ganz vergessen, daß sie eine Kanadierin ist.« Sie war in meinen Jugendtagen in Carson City, Nevada, sehr befreundet mit mir gewesen. Seit zwanzig Jahren hatte ich nichts mehr von ihr gesehen oder gehört. Es war kein Anlaß vorhanden, sie mir in die Erinnerung zu bringen; sie hatte tatsächlich schon seit langer Zeit aufgehört für mich zu existieren und war mir völlig aus dem Gedächtnis entschwunden. Aber ich erkannte sie augenblicklich; ich sah sie so klar und deutlich, daß ich einige Kleinigkeiten an ihrem Anzug bemerken konnte; ich bemerkte sie tatsächlich und behielt sie im Gedächtnis. Ungeduldig wartete ich darauf, daß sie näher herankäme. Mitten unter all dem Händedrücken warf ich ab und zu einen schnellen Blick auf sie, und ich sah, wie sie in der langsam vorrückenden Reihe immer näher kam; als sie an der linken Wand war, konnte ich ihr Gesicht von vorne sehen. Als ich sie zuletzt bemerkte, war sie 25 Fuß von mir entfernt. Eine Stunde lang dachte ich fortwährend, sie müsse doch irgendwo im Salon sein und würde zuletzt noch zu mir kommen. Aber in dieser Erwartung hatte ich mich getäuscht. Als ich am Abend den Vorlesungssaal betrat, sagte jemand zu mir: »Bitte, kommen Sie mit nach dem Wartesaal; es ist jemand da, der Sie kennt und Sie gerne sehen möchte. Ich werde Sie nicht vorstellen; Sie sollen wenn möglich die betreffende Person selber erkennen.« Ich dachte bei mir selbst: »Es ist Frau R.; die Sache wird sehr einfach sein.« Es saßen etwa zehn Damen im Saal; mitten unter ihnen, ganz wie ich’s erwartet hatte, Frau R. Sie war genauso angezogen, wie ich sie am Nachmittag gesehen hatte. Ich ging auf sie zu, gab ihr die Hand, begrüßte sie mit ihrem Namen und sagte: »Ich erkannte Sie heute nachmittag im selben Augenblick als Sie den Saal betraten.« Sie sah mich überrascht an und antwortete: »Aber ich war ja gar nicht beim Empfang. Ich komme gerade eben von Quebec an und bin noch keine Stunde hier in der Stadt gewesen.« Nun war ich an der Reihe überrascht zu sein. Ich sagte: »Es ist aber doch so. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß es genau so ist, wie ich sage. Ich sah Sie beim Empfang, und Sie waren genau so gekleidet wie jetzt. Als man mir vor einem Augenblick sagte, ich würde einen Bekannten in diesem Zimmer finden, da stieg Ihr Bild vor mir auf, in Kleidern und allem anderen genau so, wie ich Sie beim Empfang gesehen hatte.« Dies sind die Tatsachen. Sie war weder beim Empfang noch irgendwo in der Nähe; trotzdem sah ich sie dort, klar und deutlich und unverkennbar. Darauf könnte ich einen Eid leisten. Wie soll man so etwas erklären? Ich dachte nicht etwa in dem Augenblick an sie; ich hatte seit Jahren nicht an sie gedacht. Aber ohne Zweifel hatte sie an mich gedacht. Flitzten vielleicht ihre Gedanken meilenweit durch die Lüfte zu mir und brachten mit sich das deutliche, hübsche Bild der Dame? Ich glaube es. Dies war und bleibt mein einziges Ergebnis in Bezug auf Erscheinungen -- ich meine Erscheinungen, die man in hellwachem Zustande sieht. Ich hätte vielleicht für einen Augenblick eingeschlafen sein können; dann wäre die Erscheinung ein Traumgebilde. Aber diese Möglichkeit kommt hier gar nicht in Frage; das Interessante dabei ist, daß es gerade in dem betreffenden Augenblick passierte -- nicht früher und nicht später; dies ist ein Beweis dafür, daß der Ursprung in Gedankenübertragung zu suchen ist. Mein nächstes Erlebnis wird wohl von den meisten Leuten als reines zufälliges Zusammentreffen erklärt werden: Vor Jahren dachte ich manchmal daran, eine Vorlesungstour bei den Antipoden zu machen, gab aber die Idee stets wieder auf, teils wegen der Länge der Reise, teils weil meine Frau es nicht gut möglich machen konnte, mich zu begleiten. Ende Januar letzten Jahres kam nach langer Zwischenzeit plötzlich diese Idee mir wieder in den Kopf -- und zwar mit aller Macht und anscheinend ohne jeden Anlaß. Woher kam sie? Was regte sie an? Hierauf komme ich gleich zu sprechen. Ich war damals, wo ich jetzt bin -- in Paris. Ich schrieb sofort an Henry M. Stanley in London und fragte ihn nach verschiedenen Einzelheiten in Bezug auf seine Australische Vorlesungstour, wer das Geschäftliche besorgt hätte, wie die Bedingungen gewesen wären u. s. w. Nach ein paar Tagen kam seine Antwort; sie begann: »Für Australien und Neu-Seeland ist der Vorlesungsagent par excellence Herr R. S. Smythe in Melbourne.« Dann teilt er seine Reiseroute, die Bedingungen, eine Aufstellung der Kosten für die Seefahrt und einiges andere mit und riet mir, an Herrn Smythe zu schreiben. Das tat ich auch -- am 3. Februar. In den Eingangszeilen meines Briefes sagte ich ungefähr folgendes: er kennte mich zwar nicht persönlich, wir hätten aber einen gemeinsamen Freund in Stanley, und das würde wohl als Einführung genügen. Dann machte ich meinen Vorschlag und fragte, ob er mit mir zu denselben Bedingungen abschließen wollte wie mit Stanley. Am 6. Februar gab ich meinen Brief an Herrn Smythe auf die Post, und drei Tage später bekam ich einen Brief von demselbigen Smythe, datiert: Melbourne, den 17. Dezember. Ich hätte mich auch nicht mehr gewundert, wenn ich einen Brief vom seligen George Washington gekriegt hätte. Der Brief begann ganz ähnlich wie der meinige -- mit einer Selbsteinführung: »Geehrter Herr Clemens! -- Es ist so lange her, seit Archibald Forbes und ich einen so reizenden Nachmittag in Ihrem gemütlichen Hause in Hartford verbrachten, daß Sie dies wahrscheinlich gänzlich vergessen haben.« Im weiteren Verlauf des Briefes hieß es: »Ich biete Ihnen« -- (hier folgten dieselben Bedingungen, die er Stanley bewilligt hatte) -- »für eine Vorlesungstour von etwa drei Monaten bei den Antipoden.« Da hatte ich also die Antwort auf die einzige wesentliche Frage meines Briefes drei Tage nachdem ich denselben abgesandt. Ich hätte mir die Mühe und das Porto sparen können -- und ein paar Jahre vorher _hätte_ ich sie mir auch gespart, denn da hätte ich mir gesagt, der plötzliche starke Antrieb, an einen Fremden auf der anderen Hälfte der Erdkugel brieflich einige Fragen zu richten, sei ein Zeichen, daß die Anregung von dem Fremden ausgehe, und er werde mir von selber auf meine Fragen antworten, wenn ich es einfach abwartete. Herrn Smythes Brief reiste wahrscheinlich an meiner Nase vorbei nach Amerika, wodurch er drei Wochen Verspätung erhielt, und hinterließ im Vorbeifahren ein Gerüchlein von seinem Inhalt. Das tun Briefe oft. Statt daß der ›Gedanke‹ in einem Augenblick von Australien herüberkommt, teilt der (anscheinend) empfindungslose Brief einem diesen Gedanken mit, während er unsichtbar im Postsack an einem vorbeistreift. Nächstes Erlebnis: Einen Monat später -- im März -- war ich in Amerika. Ich verbrachte einen Sonntag in Irvington am Hudson bei Herrn John Brisben Walker, von der Zeitschrift ›~The Cosmopolitan~‹. Den nächsten Morgen fuhren wir nach New York und gingen, um zu frühstücken, in den Century Club. Er äußerte sich sehr lobend über den Charakter des Clubs, über die maßvolle Heiterkeit, die darin herrschte, und über die angenehme Lage des Hauses, und fragte mich, ob ich mich niemals bemüht hätte, Mitglied zu werden. Ich sagte nein, New Yorker Clubs wären für Mitglieder, die nicht am Ort wohnten, nur eine beständige Ausgabe, ohne daß man viel Nutzen oder Annehmlichkeit davon hätte. »Und dabei fällt mir was ein!« rief ich. »Da ist der ›Lotos‹ -- der erste New Yorker Club, bei welchem ich Mitglied wurde -- meine allererste Liebe in dieser Art. Ich bin jetzt weit über zwanzig Jahre Mitglied gewesen und habe eigentlich doch nur selten mal Gelegenheit gehabt, vorzusprechen und die Leutchen zu sehen. Sie werden alt und grau, ohne daß ich was davon merke. Und dabei zahle ich fortwährend meinen Beitrag. Ich muß heute nachmittag auf ein paar Tage nach Hartford fahren; sobald ich aber zurück bin, will ich ganz im geheimen zu John Elderkin gehen und ihm sagen: »›Gedenket des Veterans und erweiset ihm Ehren, um der alten Zeiten willen! Macht mich zum Ehrenmitglied und schafft meinen Beitrag ab. Wenn ihr so was wie Ehrenmitglied nicht habt, um so besser -- schafft es zu meiner Ehre und Glorie!‹« »Das wäre wirklich was Großartiges; ich will John Elderkin besuchen, sobald ich von Hartford zurück bin.« Ich fuhr am Nachmittag mit dem letzten Schnellzug, telegraphierte aber vorher noch an Herrn F. G. Whitmore, er möchte mich am nächsten Tag besuchen. Bei seiner Ankunft fragte er: »Bekamen Sie vor Ihrer Abreise aus New York einen Brief von Herrn John Elderkin, dem Sekretär des Lotosklubs?« »Nein.« »Dann hat er Sie gerade eben verfehlt. Hätte ich gewußt, daß Sie kommen, so hätte ich ihn hier behalten. Es ist was Schönes, und Sie werden stolz darauf sein: Der Vorstand hat Sie durch einstimmigen Beschluß zum lebenslänglichen Mitglied erhoben und den Jahresbeitrag gestrichen. Und Sie sollen am Abend des dreißigsten, zum fünfundzwanzigsten Stiftungsfest des Klubs anwesend sein, um Ihre Auszeichnung entgegenzunehmen. Es sollte mich nicht wundern, wenn sie bei dieser Gelegenheit was Großes aufstellen!« Wie kam mir an jenem Tage im Century Club die Ehrenmitgliedschaft in den Kopf? Ich hatte nie zuvor daran gedacht. Ich weiß nicht, warum ich den Gedanken gerade in jenem Augenblick hatte und nicht schon früher, aber ich bin fest überzeugt, daß er in der Vorstandssitzung des ›Lotos‹ entsprang und im Augenblick, wo die Abstimmung vollzogen war, den geraden Weg durch die Luft in mein Gehirn nahm. Und noch ein Beispiel: Ich weilte zwei oder drei Tage in Hartford als Gast des Rev. Joseph H. Twichell. Ich habe ein Vierteljahrhundert lang bei seinen Kindern die Würde eines Ehrenonkels bekleidet und fuhr jetzt mit ihm nach Farmington, um eine meiner Nichten zu besuchen, die in der berühmten Schule von Frau Porter war. Die Entfernung beträgt acht oder neun englische Meilen. Unterwegs erzählte ich zur Erläuterung irgend einer Behauptung folgende Anekdote: Vor dritthalb Jahren kam ich mit meiner Familie auf der Reise nach Rom durch Mailand, wo wir Halt machten und im Continental abstiegen. Nach dem Essen ging ich hinunter und setzte mich auf einen Stuhl in den fliesenbelegten Hof, wo die üblichen Zitronenbäume in den üblichen Kübeln standen, und sagte zu mir selber: ›Hier ist’s wirklich gemütlich -- gemütlich und ruhig, und kein Mensch kann mich stören; denn ich kenne in ganz Mailand keinen Menschen.‹ In diesem Augenblick stand ein junger Herr auf und streckte mir die Hand hin, wodurch meine im Selbstgespräch aufgestellte Behauptung allerdings ein bißchen zu Schaden kam. Er sagte etwa folgendes: ›Sie werden sich meiner nicht erinnern, Herr Clemens, aber ich erinnere mich Ihrer sehr gut. Ich war Kadett in West Point, als Sie mit Rev. Joseph H. Twichell vor einigen Jahren da waren und eine Vorlesung hielten. Ich bin jetzt Leutnant in der regulären Armee und heiße H. Ich bin mutterseelenallein in Europa auf einem bescheidenen kleinen Ausflug; mein Regiment steht in Arizona.‹ Wir kamen in ein freundliches Gespräch, und dabei erzählte er mir ein kleines Abenteuer, das er vor kurzem gehabt hatte, ungefähr in folgender Weise: ›Ich war in Bellagio, im großen Hotel dort, und vor zehn Tagen verlor ich meinen Kreditbrief. Ich wußte absolut nicht, was ich anfangen sollte. Ich war ein Fremder, kannte keinen Menschen in Europa, hatte keinen Soldo in der Tasche. Ich konnte nicht mal ein Telegramm nach London bezahlen, um mir für den verlorenen Kreditbrief einen Ersatz zu bestellen. Meine Hotelrechnung war eine Woche alt und mußte mir nächstens vorgelegt werden -- vielleicht konnte das schon im allernächsten Augenblick geschehen. Ich hatte solche Angst, daß ich dachte ich verlöre den Verstand. Wie ein Verrückter lief ich fortwährend auf und ab, hin und her. Wenn jemand in meine Nähe kam, drückte ich mich schleunigst, denn mochte er aussehen wie er wollte, ich dachte immer, es wäre der Oberkellner mit der Rechnung. ›Zuletzt war ich in solcher verzweifelten Stimmung, daß ich entschlossen war alles zu tun, wobei ich auch nur eine schwache Aussicht auf Hilfe hatte, und so beging ich denn folgende Verrücktheit: Ich sah an einem kleinen Tisch in der Veranda eine Familie beim Frühstück sitzen und erkannte, daß es Amerikaner waren: Vater, Mutter und mehrere junge Töchter -- jung, geschmackvoll gekleidet und hübsch, wie durchweg alle unsere Landsmänninnen. Ich ging stracks auf sie los, stellte mich ihnen mit meinem Namen vor, sagte ich sei Leutnant in der Armee, erzählte meine Geschichte und bat um Hilfe. ›Nun raten Sie mal, was der Herr tat? Aber Sie kommen in zwanzig Jahren nicht darauf. Er nahm eine Handvoll Goldstücke heraus und sagte mir, ich möchte nur ganz ungeniert zulangen. Ja, das tat er!‹ Am andern Morgen sagte der Leutnant mir, sein neuer Kreditbrief sei inzwischen angekommen; wir bummelten also zu Cook, und er ließ sich das Geld geben, das er brauchte, um den Wohltäter zu bezahlen. Dann schlenderten wir unter der großen Arkade entlang. Auf einmal sagte er: ›Da hinten sind sie; kommen Sie mit, ich will Sie vorstellen.‹ Ich wurde den Eltern und den jungen Damen vorgestellt; dann trennten wir uns, und ich sah weder ihn noch sie jemals w ... »Hier sind wir in Farmington,« unterbrach mich Twichell. Wir stiegen aus und stapften durch den aufgeweichten Boden die hundert Schritte nach der Schule hin; unterwegs sprachen wir von der langentschwundenen Zeit, da wir und Warner in jene Gegend herausgestreift wären und wie schön die Zeit gewesen wäre. Wir unterhielten uns mit meiner Nichte im Sprechzimmer; dann brachen wir auf. Vor dem Hause begegneten wir einer Doppelreihe von zwanzig oder dreißig jungen Damen aus Frau Porters Schule, die von einem Spaziergang nach Hause kamen. Wir traten zur Seite, als ob wir ihnen Platz machen wollten; in Wirklichkeit aber, um sie uns anzusehen. Auf einmal trat eine von ihnen aus der Reihe heraus und sagte: »Sie kennen mich nicht, Herr Twichell; aber ich kenne Ihre Tochter, und das verschafft mir den Vorzug, Ihnen die Hand zu geben.« Dann streckte sie ihre Hand mir hin und sagte: »Und auch Ihnen möchte ich die Hand geben, Herr Clemens. Sie erinnern sich meiner nicht, aber Sie wurden mir vor dritthalb Jahren unter den Arkaden in Mailand von Leutnant H. vorgestellt.« Was hatte mir nach so langer Zeit die Geschichte in den Sinn gebracht? War es wirklich die Nähe des jungen Mädchens oder war es nur ein eigentümlicher Zufall? Besuch eines Interviewers. Der kräftige, nette, ›schneidige‹ junge Mann nahm den Stuhl, den ich ihm anbot, und sagte, er gehörte zur Redaktion der ›Täglichen Blitzpost‹; dann fuhr er fort: »In der Annahme, daß Sie nichts dagegen haben, möchte ich Sie interviewen.« »Möchten Sie ... was?« »Sie interviewen.« »Ah so! Ja ... ja. Hm. Ja ... ja.« Ich fühlte mich an dem betreffenden Morgen nicht gerade sehr hell im Kopf. In der Tat, meine geistigen Fähigkeiten schienen ein bißchen umwölkt zu sein. Ich ging indessen an meinen Bücherschrank und nachdem ich sechs oder sieben Minuten lang gesucht hatte, sah ich mich genötigt, mich an den jungen Mann um Auskunft zu wenden. Ich sagte: »Wie buchstabieren Sie es?« »Buchstabieren? Was denn?« »Interviewen.« »O, du gütiger Himmel! Wozu brauchen Sie es denn zu buchstabieren!« »Ich will das Wort nicht buchstabieren; ich möchte nur nachschlagen, was es bedeutet.« »Na, das ist ja aber erstaunlich, das muß ich sagen. Ich kann Ihnen sagen, was es bedeutet, wenn Sie ... wenn Sie ...« »O, schön! Das genügt, und ich bin Ihnen sehr verbun ...« »I--n, in, t--e--r, ter, inter--« »Dann buchstabieren Sie es mit einem I?« »Natürlich.« »So, deshalb brauchte ich so lange!« »Nanu, mein _lieber_ Herr, womit wollten Sie es denn buchstabieren?« »Ja, ich ... ich ... weiß nicht recht. Ich hatte das Konversationslexikon, große Ausgabe, vor und blätterte im Nachtragsband herum, in der Hoffnung, ich könnte das Wort unter den Abbildungen finden. Aber es ist eine sehr alte Auflage.« »Nun, bester Freund, eine _Abbildung_ davon wäre selbst in der neuesten Aufl ... Mein werter Herr, ich bitte um Verzeihung, ich meine es absolut nicht böse, aber Sie sehen nicht -- nicht -- so -- äh -- intelligent aus, wie ich erwartet hatte. Nichts für ungut -- ich meine es ja nicht böse.« »O, bitte, bitte! Es ist mir, und zwar von Leuten, die mir niemals schmeicheln würden und auch gar keine Veranlassung dazu haben könnten, schon oft gesagt worden, daß ich in dieser Art geradezu eine Sehenswürdigkeit bin. Ja ... ja; sie sprechen immer ganz hingerissen davon.« »Das kann ich mir leicht denken. Doch um auf unser Interview zu kommen. Wie Sie wohl wissen ist es jetzt Brauch, jeden Menschen, der berühmt geworden ist, sofort zu interviewen.« »Ach, was Sie nicht sagen! Davon hatte ich noch nie was gehört. Das muß sehr interessant sein. Womit machen Sie es?« »Ah, ... hem! ... hem! ... hem! ... das ist ja ... Manchmal _sollte_ es mit ’ner Keule gemacht werden; für gewöhnlich aber besteht es darin, daß der Interviewer Fragen stellt, und der Interviewte darauf antwortet. Man ist ganz darauf versessen. Wollen Sie mir gestatten, einige Fragen über die merkwürdigsten Daten Ihrer öffentlichen und privaten Lebensgeschichte an Sie zu richten?« »O, mit Vergnügen -- mit Vergnügen! Ich habe ein sehr schlechtes Gedächtnis, aber ich hoffe, Sie werden nicht so genau darauf sehen. Das heißt ... es ist ein unregelmäßiges Gedächtnis -- überaus unregelmäßig. Manchmal geht es im Galopp, und dann wieder braucht es vierzehn Tage, um über einen gewissen Punkt hinwegzukommen. Das macht mir viel Kummer.« »O, bitte, es macht ja nichts, wenn Sie sich nur recht Mühe geben wollen.« »Gewiß. Ich will mit ganzer Seele bei der Sache sein.« »Danke. Sind Sie so weit?« »Jawohl.« * * * * * »Wie alt sind Sie?« »Neunzehn, im Juni.« »So?? Ich hätte Ihnen fünf- bis sechsunddreißig gegeben. Wo wurden Sie geboren?« »In Missouri.« »Wann fingen Sie an zu schreiben?« »1836.« »Nanu? Wie könnte dann das zugehen, wenn Sie jetzt erst neunzehn sind?« »Das weiß ich nicht. Es sieht allerdings ein bißchen sonderbar aus.« »Ja, das tut’s. Wer ist nach Ihrer Meinung der Hervorragendste von allen Männern, mit denen Sie je in Berührung kamen?« »Aaron Burr.« »Aber Sie können doch nicht Aaron Burr gekannt haben, wenn Sie jetzt erst neunzehn Jahre alt sind --« »Nun, wenn Sie besser von mir Bescheid wissen als ich selber, warum fragen Sie mich dann?« »O, es war nur eine Andeutung, weiter nichts ... Unter welchen Umständen waren Sie mit Burr zusammen?« »Ja, ich war zufällig eines Tages bei seinem Begräbnis, und er bat mich, nicht so viel Lärm zu machen und ...« »Aber, grundgütiger Himmel! wenn Sie bei seinem Begräbnis waren, so muß er tot gewesen sein, und wenn er tot war, was ging’s ihn dann an, ob Sie Lärm machten oder nicht?« »Das weiß ich nicht. Er war in dieser Beziehung immer ein schnurriger Kauz.« »Trotzdem verstehe ich’s ganz und gar nicht. Sie sagen, er habe mit Ihnen gesprochen, und Sie sagen, er sei tot gewesen.« »Ich sagte nicht, daß er tot gewesen sei.« »Aber war er denn nicht tot?« »Ja, die einen sagten, er wäre tot, die anderen, er wär’ es _nicht_!« »Und was war Ihre Meinung?« »O, mich ging das nichts an. Es war ja nicht mein eigenes Begräbnis.« »Hatten Sie ... Indessen, wir kommen damit doch nicht zum Ziel. Gestatten Sie mir, Sie nach etwas anderem zu fragen. Wann war Ihr Geburtstag?« »Montag, den 31. Oktober 1693.« »Was? Unmöglich! Dann wären Sie ja hundertachtzig Jahre alt. Wie erklären Sie das?« »Ich erkläre es überhaupt nicht.« »Aber zuerst sagten Sie, Sie seien neunzehn, und jetzt wollen Sie hundertachtzig Jahre alt sein. Das ist aber ein häßlicher Mißklang.« »Haben Sie das wirklich bemerkt?« Ich schüttelte ihm die Hand. »Manchmal kam es mir selber vor, als ob’s ein Mißklang sei, aber ich konnte mir nicht recht klar darüber werden. Wie schnell Sie doch so etwas bemerken!« »Danke für das Kompliment ... Haben oder hatten Sie Bruder oder Schwester?« »Hm ... Ich ... ich glaube, ... ja ... aber ich erinnere mich nicht genau ...« »Hören Sie, das ist aber das Sonderbarste, was ich je gehört habe.« »Wieso? warum denn?« »Na, das ist doch selbstverständlich, daß ich mich darüber wundere. Bitte, sehen Sie mal hier: wen stellt das Bild hier an der Wand vor? Ist das nicht ein Bruder von Ihnen?« »O ja, ja, ja. Nun erinnern Sie mich daran; das _war_ ein Bruder von mir. Das ist William --; Bill nannten wir ihn. Armer alter Bill!« »Ach was? Ist er denn tot?« »Ach! Ich glaube, ja. Wir konnten es niemals genau sagen. Es schwebt ein großes Geheimnis über der Geschichte.« »Das ist traurig, sehr traurig. Er ist also wohl verschwunden?« »Sozusagen ja; wir begruben ihn.« »_Begruben_ ihn! _Begruben_ ihn!! Ohne zu wissen, ob er tot war oder nicht?« »O, nein. Das nicht. Tot genug war er.« »Ich verstehe; er wachte wieder vom Tode auf.« »Er dachte gar nicht dran.« »Na, so was habe ich meiner Lebtage noch nicht gehört! _Jemand_ war tot. _Jemand_ wurde begraben. Nun, wo lag denn da das Geheimnis?« »Ah, das ist’s gerade. Da haben Sie’s getroffen! Wissen Sie, wir waren Zwillinge -- der Verstorbene und ich -- und wir wurden in der Badewanne verwechselt, als wir erst zwei Wochen alt waren, und einer von uns ertrank. Aber wir wußten nicht wer; einige meinen es wäre Bill, andere sagen, ich wäre es gewesen.« »So, das ist ja wirklich interessant. Und was ist _Ihre_ Meinung darüber?« »Der Himmel weiß es. Und ich gäbe ganze Welten drum, wenn ich’s wüßte. Dieses erhabene furchtbare Geheimnis hat einen Schatten über mein ganzes Leben geworfen. Aber ich will Ihnen jetzt einen geheimen Umstand mitteilen, den ich bisher noch keiner Menschenseele enthüllt habe. Einer von uns hatte ein besonderes Kennzeichen -- ein großes Muttermal auf dem Rücken der linken Hand. Das war -- ich! _Und dieses Kind ertrank!_« »Herr ... ich sehe eigentlich nicht, was dabei denn für ein Geheimnis ist.« »Nicht? Aber _ich_ sehe es. Jedenfalls begreife ich nicht, wie man einen solchen Unsinn machen und das verkehrte Kind begraben konnte. Aber, schscht! -- erwähnen Sie es nirgends, wo meine Familie davon hören könnte! Der Himmel weiß, sie haben schon ohnedies genug gebranntes Herzeleid.« »Nun, ich glaube, ich habe für den Augenblick Stoff genug und bin Ihnen für Ihre Bemühungen sehr verbunden. Aber besonders interessierte mich, was Sie von Aaron Burrs Begräbnis erwähnten. Würden Sie mir vielleicht noch sagen, welcher besondere Umstand Sie veranlaßte, Burr für einen so hervorragenden Mann zu halten?« »O, es war eigentlich nur eine Kleinigkeit! Unter 50 Leuten hätte kaum ein einziger überhaupt darauf geachtet. Als die Predigt vorüber war, und das Trauergefolge in der richtigen Ordnung aufgestellt dastand, und der Leichnam schmuck und nett in seinem Sarge auf dem Leichenwagen lag, da sagte er, er möchte noch einen letzten Blick auf die Umgebung werfen und stand auf und setzte sich neben den Kutscher.« * * * * * Hierauf empfahl der junge Mann sich voller Ehrerbietung. Er war ein sehr angenehmer Gesellschafter, und es tat mir leid, daß er ging. [Illustration] Mark Twains Ausgew. humoristische Schriften. _Inhalt_: Bd. I. =Tom Sawyers Streiche und Abenteuer.= Bd. II. =Abenteuer und Fahrten des Huckleberry Finn.= Bd. III. =Skizzenbuch.= Bd. IV. { =Leben auf dem Mississippi.= { =Nach dem fernen Westen.= Bd. V. =Im Gold- und Silberland.= Bd. VI. =Reisebilder u. verschiedene Skizzen.= Preis des einzelnen Bandes M. 2.50 gebunden. Preis aller 6 Bände, zusammen bezogen, M. 13.50 gebunden. _Neue Folge_: Bd. I. =Tom Sawyers _Neue_ Abenteuer.= Bd. II. =Querkopf Wilson.= Bd. III./IV. =Meine Reise um die Welt.= 2 Abt. Bd. V. =Adams Tagebuch= u. a. Erzähl. Bd. VI. =Wie Hadleyburg verderbt wurde= u. a. Erzähl. Preis des _einzelnen_ Bandes M. 3.-- gebunden. Preis _aller_ 6 Bände, zusammen bezogen, M. 17.-- gebunden. Weitere Anmerkungen zur Transkription Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Sonst wurden unterschiedliche Schreibweisen beibehalten. Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht. Die Vorspannseiten mit dem Kapitelnamen wurden entfernt. Korrekturen: S. 147: Schluß → Schuß ehe es zum {Schuß} kam *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK ADAMS TAGEBUCH *** Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. 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START: FULL LICENSE THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free distribution of electronic works, by using or distributing this work (or any other work associated in any way with the phrase "Project Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project Gutenberg-tm License available with this file or online at www.gutenberg.org/license. Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm electronic works 1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to and accept all the terms of this license and intellectual property (trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession. 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Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For forty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Most people start at our website which has the main PG search facility: www.gutenberg.org This website includes information about Project Gutenberg-tm, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.