The Project Gutenberg eBook, Eros und die Evangelien, by Waldemar Bonsels

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Title: Eros und die Evangelien

Aus den Notizen eines Vagabunden

Author: Waldemar Bonsels

Release Date: September 1, 2010 [eBook #33603]

Language: German

Character set encoding: ISO-8859-1

***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK EROS UND DIE EVANGELIEN***

 

E-text prepared by Norbert H. Langkau, Peter Simon,
and the Project Gutenberg Online Distributed Proofreading Team
(http://www.pgdp.net)

 

Einige Druckfehler sind korrigiert und mit Popups notiert. Rechtschreibungsformen wie »stehen« : »stehn« sind ungeändert.

 


 

 

 

Waldemar Bonsels

Eros und die Evangelien

Aus den Notizen eines Vagabunden



67. bis 90. Tausend

vignette

1922


Verlag der Literarischen Anstalt
Rütten & Loening
Frankfurt a. M.

Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vorbehalten.
Copyright 1920 by Literarische Anstalt Rütten & Loening, Frankfurt a. M.
Die Einbandzeichnung ist von Walter Tiemann.
Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig.
Die holländische Ausgabe im Verlag »Patria«, Amersfort.

Kapitelfolge

Seite
Der Tod
7
Das Meer 109

Erstes Kapitel

Der Tod

Eines Morgens machte ich die Entdeckung, daß sich am Deckleder eines meiner Stiefel eine Naht zu lösen begann, so daß eine Spalte klaffte, wenn ich den Fuß streckte. Es setzte mich in Erstaunen, da meine Stiefel, mit Ausnahme der Sohlen, eigentlich noch in einem recht brauchbaren Zustand waren, zumal, wenn man nicht absichtlich den Blick auf die Absätze richtete, die nicht mehr ganz grade aussahen. Da ich damals eine für meine Verhältnisse und Ansprüche angesehene Stellung in einer Buchdruckerei bekleidete, mußte ich Wert auf meine äußere Erscheinung legen und begab mich deshalb zu einem Schuhmacher, der Stevenhagen hieß und in der Nähe meiner Behausung auf einem Hofe wohnte.

Er war, wie alle Schuhmacher, ein Mann von Nachdenklichkeit und Bildung, besonders für die erste seiner Eigenschaften gaben meine Stiefel ihm Gelegenheit. Er hielt sie mit einer Unnachsichtigkeit ans Licht, die etwas Rohes an sich hatte, und sah mich dann mit einem Ernst an, der meiner Meinung nach in keinem Verhältnis zur Bedeutung des vorliegenden Falls stand.

»Es handelt sich vorläufig nur um die Naht, ich springe nur eben so auf meinem Weg zu Ihnen herein« sagte ich.

»So,« antwortete er mit genauer Beachtung meiner Worte, »lange werden Sie auf diesen Stiefeln nicht mehr springen.«

Der Mann war ohne Takt, er sprach nur zur Sache, ohne in Betracht zu ziehen, daß zu dieser Sache auch eine Person gehörte. Zudem kostete er die zufällige Überlegenheit, die die Lage ihm einbrachte, zu auffällig aus. Ich hätte auch vielleicht besser daran getan, nichts davon zu sagen, daß ich nur auf einen Sprung zu ihm gekommen sei. Wenn ich die Stiefel mürrisch und wortlos hingehalten, ins Zimmer gespuckt und geflucht hätte, so wäre ihm von mir und meinen Stiefeln ein Gesamtbild entstanden, das er besser überblickt und ohne inneren Widerstand hingenommen hätte. Offenbar war er jetzt der Meinung, daß ich beabsichtigt hatte, mehr zu scheinen, als ich war, daß ich gewissermaßen den schlimmen Zustand meiner Bekleidung als zufällig hinzustellen beabsichtigte, und mich für etwas besseres hielt, als andere Leute mit zerschlissenen Stiefeln.

Ich dachte, am besten ist es, man spricht offen mit dem Mann über diese Dinge, und ich hätte es sicher getan, wenn draußen nicht der Regen vom grauen Himmel geströmt wäre. Die eintönige Pflicht meines Tages lag mir schwer im Sinn. Der Sommer ging zur Neige und die ratlose Trauer über mein Geschick und meine Zukunft quälte mich. Welch eine Kluft gähnte zwischen meinen Erwartungen und den Aussichten, die sich mir boten, ich lebte Tag um Tag nur von meiner Hoffnung, sie war mein Brot. Solche Leute sind vom Sonnenschein abhängig, wer dagegen weiß, was er zu tun hat, tut es auch im Regen, und ein Ziel läßt sich selbst im Sturm verfolgen, aber die Hoffnung hängt vom Licht und von der Wärme ab, wie ein Keim in der Erde.

Ich fühlte, während die Geräte des Handwerkers erklangen, die Unruhe mit ihrem tödlichen Nachbarn, dem Hang zu zerstören, in mir wachsen. So erhob ich mich von meinem Sitz auf der Fensterbank und schritt auf Strümpfen durch die angelegte Tür auf den Hausflur hinaus, nur um mich zu bewegen, in meinem hilflosen Ungenügen. Die Stube des Schuhmachers lag zu ebener Erde, ein finsterer Gang führte weiter in das eng und dürftig gebaute Hinterhaus hinein, rechts und links waren Türen und am Ende eine Treppe, auf der es zum ersten Stockwerk emporging. Da vernahm ich in der Dämmerung ein hoffnungsloses Weinen, es wurde durch kein Schluchzen unterbrochen, es klang wie ein öder, stiller Gesang. Unter diesen Lauten, die mich festhielten, wo ich stand, brach in meiner Brust eine Quelle auf und mir war, als sei ihre Leere, an der ich eben noch gelitten hatte, ausgefüllt wie durch eine jähe Begünstigung. Es wurde mir warm und ich empfand Dankbarkeit, ohne daß ich mir darüber klar zu werden vermochte, wie dies geschah, aber wie im Gehorsam gegen einen inneren Befehl, öffnete ich die Tür, hinter der die Stimme zu klagen schien, und trat in ein niedriges Zimmer ein, in dem eine Frau an einem Herd vor dem erlöschenden Feuer kniete und dicht am Fenster ein Bett stand, in dem ein Mädchen schlief. Aber es war alles still im Raum.

Von den nur leicht verhangenen Scheiben fiel der glanzlose Tagesschein, eine stille Lichtdecke, auf das Gesicht der Ruhenden, das weiß und unwirklich schimmernd in das lose Haar eingebettet lag, das schwarz wie Kohle war. Die Arme waren zur Rechten und zur Linken an den Körper angelegt, der sich unter der leichten Decke abhob, grade gebettet wie bei einer Toten. Aber die Ruhende lebte, denn ich sah, wie ihre Brust sich unter ihren Atemzügen hob und senkte, aber ich erkannte zugleich, daß sie krank war und an der Grenze ihres Lebens stand. Ich sagte zu der Frau, die sich langsam aufrichtete und mich wortlos ansah:

»Wenn Sie erlauben, werde ich Sie besuchen.«

Die Frau gab mir zögernd die Hand, nickte langsam und schob mir einen Stuhl hin, den sie mit ihrer Schürze abwischte.

»Schickt Sie jemand zu uns?« fragte sie.

Die anfängliche Ratlosigkeit ihres von Entbehrungen elenden Gesichts wich einer ruhigen Aufmerksamkeit, die ohne Neugier in meinen Zügen zu lesen trachtete. Ich antwortete nicht auf ihre Frage, weil sie meine Antwort nicht verstanden hätte und weil ich keine Worte machen wollte, die meinem inneren Zustand nicht entsprachen. Die Traurigkeit gibt den Menschen eine eigenartige Freiheit, weil sie die Augen aus dem Wirrsal der kleinen Sorgen auf ein einziges Ziel richtet, so dunkel es auch sein mag, sie hat mit der Freude die Ausschließlichkeit gemeinsam und richtet unsere innere Haltung aus den Regionen der täglichen Beengung in eine Welt höherer Erwartung empor. Vielleicht vermochte diese Frau deshalb das Seltsame meiner unvermuteten Ankunft nicht als etwas Ungewöhnliches oder Hinderndes zu betrachten, sie nahm sie gleichmütiger hin als es andere, in ihren Gewohnheiten gesicherte Menschen, getan hätten.

»Wie geht es Ihrer Tochter?« fragte ich.

Diese Frage wirkte nicht ungewöhnlich, denn eine Mutter setzt immer voraus, daß die Welt von ihrem Kummer um ihr Kind erfüllt ist, so antwortete sie einfach:

»Wenn Asja nur ein einziges Mal eine Klage aussprechen wollte, wäre mir wohler. Ich habe immer gedacht, diese Krankheit bliebe den Leidenden verborgen, aber sie weiß sie und spricht ohne Kummer von ihrem Tod.«

»Vielleicht ist dies eine Erleichterung«, antwortete ich.

»Es ist doch mein Kind«, sagte sie und sah mich an.

Darauf vermochte ich keine Antwort zu geben und sah zu Asja hinüber. Die Ruhe ihres Gesichts erfüllte das Zimmer. Die Lider über den Augen waren das hellste der bleichen Landschaft dieses Angesichts aus Menschenarmut, Schlaf und Ferne. Neben dem Bett stand auf einem kleinen Tischchen eine Tasse, eine Kerze und ein Krug. Ein Buch in rotem Einband, aus dem ein paar lose Blätter Papier hervorschauten, lag zwischen einer Blumenvase und einem Stück Brot.

»Liest Asja viel?« fragte ich.

Die Mutter nickte. »Ich gehe um Bücher, aber die Leute leihen sie ungern. Wenn Sie Bücher hätten ...«

»Ich kann bringen,« antwortete ich, »heute noch.«

Die Mutter lächelte.

»Das wäre wirklich schön, Asja wird mit Ihnen darüber sprechen, was in den Büchern zu lesen steht. Wenn man Tag für Tag und Nacht für Nacht auf einem Fleck daniederliegt, wird man dankbar und ist mit weniger zufrieden, als die Menschen wissen, die alles haben, und gehen und leben, wie sie wollen. Wenn die Toten noch Empfindungen hätten, so wären sie sicher dankbar für jeden Wassertropfen, der durch ihre Sargwand sickert. Ich hätte gewiß noch Kraft, vieles zu tun, was dem Kind Hilfe brächte, aber es gibt keine mehr für uns, und das Warten, ohne etwas bewirken zu können, macht mutlos, weil keine Hoffnung mehr da ist ... Oft überwältigt mich dies Leben jetzt und ich meine, es nicht mehr ertragen zu können.«

»Als ich an Ihrer Tür vorüberging, dachte ich dasselbe.«

»Wenn Sie noch bleiben wollen, bis Asja erwacht ...« sagte die Frau mit zögernder Erwartung. Sie hatte ein Tuch um die Schultern gelegt, eine Tasche über den Arm gehängt und schickte sich nun an, das Zimmer zu verlassen.

»Herr Stevenhagen hat meine Stiefel, es kann noch eine Weile dauern, so bleibe ich also noch ...«

»Asja wird sich freuen, daß man sie besucht.«

Sie stellte noch eine kleine Glocke neben das Bett, seufzte auf, mit einem langen Blick auf die Kranke, und gab mir die Hand. »Wenn Sie an die Bücher denken wollen?«

Ich versprach es und begleitete sie an die Tür. Sie kam noch einmal zurück: Es stünde Kaffee im Rohr, wenn ich etwas wollte, oder vielleicht auch, daß Asja darum bäte. Sie selbst ginge bis zum Mittag in die Papierfabrik.

Als die Tür sich geschlossen hatte, sah ich zu der Schlafenden hinüber und begegnete ihrem Blick, der groß und dunkel auf mir ruhte. Ein kaum bemerkbares Lächeln, ein wenig schelmisch, belebte ihre Züge und wurde zu einem leisen Lachen, als ich meine Gegenwart zu begründen suchte.

»Ich weiß schon,« sagte sie, »Sie warten auf Ihre Stiefel. Aber warum tun Sie es bei uns?«

»Sie haben gewacht?«

»Die Mutter findet schwer fort, wenn ich nicht schlafe, und da es doch sein muß, daß sie geht, schlafe ich, damit sie leichter fortfindet. Wie kommen Sie zu uns?«

»Als ich über den Hausflur ging, hörte ich jemanden weinen und trat ein, man kann nie wissen ...«

»Niemand hat in diesem Zimmer geweint.«

»Mir schien es so.«

»Sie wollen mir Bücher bringen? Da bin ich doch gespannt, was es sein wird. Haben Sie viele Bücher?«

»Wenn ich ehrlich sein soll, so habe ich überhaupt keine, sie sind mir abhanden gekommen, oder liegen auf dem Dachboden meines Elternhauses, das nicht in dieser Stadt ist. Aber ich werde welche beschaffen, das wird mir nicht schwer.«

»Machen Sie sich keine Mühe«, sagte sie langsam, lächelte und sah vor sich nieder. In ihrer Ablehnung, die keinesfalls Bescheidenheit war, lag trotzdem nichts von einer Kränkung.

Mir war zumut, als habe die Welt, in der ich mich eben noch befunden hatte, sich jählings gegen eine andere vertauscht, als sei ich aus einer lauen, bedrückenden Luft, die von Bedürftigkeit und einem vagen Hang zu bereitwilligem Mitleid gesättigt war, plötzlich in einen herben Windzug geraten und in einen Bereich, in dem es nicht zu helfen galt, sondern zu bestehen. Ein leiser Unwille, dessen ich mich schämte, machte mich unsicher. Ich dachte: da sieht man es nun, jetzt sitzt du hier.

Aber als ich dann den Blick hob und ihn ruhig in die Augen dieses Mädchens senkte, begriff ich, auf welche Art ich ihr mit dem Gefühl des Mitleids Unrecht getan hatte. Es wird das beste sein, ich sage es ihr, dachte ich, und begann zögernd:

»Als ich dies Zimmer betrat und Umschau in ihm gehalten hatte, als ich Ihre Mutter und Sie gewahr geworden war, hatte ich das quälende Schuldbewußtsein, in das uns Mitleid zu stürzen vermag, aber seit ich nun in der ruhigen Helligkeit Ihrer Augen stehe, bin ich nichts mehr schuldig, Ihre Augen machen das Herz frei.«

Das Mädchen richtete sich auf, stützte sich auf ihre Ellenbogen und sah mich in so großem Erstaunen an, daß ich, wie vor mir selbst, erschrak. Was habe ich denn gesagt? dachte ich. Ein leiser Schwindel ergriff mich, ich besann mich, als hätte ich jahrelang etwas Unnennbares vergessen, das ich heimlich dennoch gesucht hatte.

»So bist du nun doch gekommen,« sagte das Mädchen schüchtern und langsam, aber mit großer Deutlichkeit, und als ich den Blick wieder hob, sah ich, daß sie so bleich war, wie das Leinen ihres Betts.

Da ich keinen Mut hatte, zu glauben, fragte ich zögernd:

»Wen hast du erwartet?«

»Es gibt für uns alle nur einen Menschen, zu dem wir du sagen.«

Nie hat mein Herz so schmerzhaft geschwankt wie unter diesen Worten, nie war es so von unfaßbaren Gewalten hin und her geworfen. Hoffnung und Mut, Zweifel, Aberglauben und Zuversicht stürzten sich wie Lichtströme und Nachtwolken über mich. Die Welt und die Menschen haben mich verdorben, dachte ich, denn wie kann mein Glaube am Tor dieser Wohltat zaudern, was hindert mich, den Garten zu betreten und zu sein, was ich bin, und zugleich immer zu erweisen gehofft habe, mir selbst und allen? Ich schäme mich, ein Mensch zu sein, dachte ich, daran sind wir alle krank. Aber darüber ward die Helligkeit der Genesung, die mir entgegenströmte und die zugleich aus mir hervorbrach, so mächtig in mir, daß ihr Licht meine Augen blendete.

Asja erhob sich von ihrem Lager, trat auf mich zu und legte ihren Arm um meinen Hals. Ich sah ihr Gesicht dicht vor meinem und unter der nun ruhig gewordenen und zuversichtlichen Aufmerksamkeit ihrer Blicke, wußte ich, daß ich bestehen würde. Da begriff ich, was Dank ist; wieviel erlebte ich doch in diesen Augenblicken, ein ganzes Leben vermag es nicht auszumessen. Ich glaube, in Wahrheit leben wir alle nur ein paar Augenblicke, alles andere ist Ahnung, Erinnerung und Hoffnung. Dies aber war Wahrheit, und so sagte ich es Asja, denn sonst wußte ich im drohenden Ernst meines Glücks nichts zu sagen.

Die Lichtabgründe ihrer großen Augen schienen das einzige zu sein, vor dem ich mich befand. Sie lag nun wieder still und grade vor mir auf ihrem Lager und sah mich an. Eine Weile sprach keiner von uns, ich ließ mich so an ihrem Bett nieder, daß ich ihr gegenüber saß, sie öffnete meine Hand und legte die ihre hinein, warm und fest, mit dem Rücken nach unten, als bettete sie sie in ein lebendiges Lager.

»Bist du sehr krank?« fragte ich.

Sie nickte und lächelte.

»Wirst du gesund werden?«

Sie schüttelte den Kopf, aber ihr Lächeln blieb.

Ich befand mich in einem Zustand überbotenen Gefühls, wie in einem Seelenraum, der weder Glück noch Schmerz zu fassen vermag, mir war zumut, als zöge das Leben ohne mich an mir vorüber, und ich fühlte doch, daß ich zum erstenmal ganz in seinem Strom trieb. Es sind die Ufer, die dahinziehen, dachte ich, es erscheint mir als stünde ich selber still und als zögen die Ufer dahin, aber in Wahrheit bin ich es, der zum erstenmal in die Bewegung des Lebens geraten ist und ich sehe nun, wie die Werte alten Bestands davonziehen.

Sie ist krank und wird sterben, dachte ich dann, sonderbar nüchtern, aber zu erfassen oder zu glauben vermochte ich den Sinn meines Gedankens nicht. Es kann nicht wahr sein, wie ich es bisher für wahr gehalten habe, sann ich schwerfällig, denn was bedeutet sonst dieses Lächeln, dieses Lächeln, das ich aus alter Erinnerung her kenne? So lächelte meine Mutter, wenn sie mir scherzend eine arge Botschaft brachte, hinter der sich im Grunde doch eine frohe Verheißung verbarg, sie, die damals noch alles möglich machen konnte, was mein Kinderherz begehrte, und von der ich wußte, daß sie es zuletzt doch tun würde, da mein Leid ihr schmerzlicher war als mir ...

Da sagte Asja:

»Die Gesunden ahnen das Wesen der Krankheit nicht und fürchten sie immer. Wer aber krank gewesen ist, weiß, daß die Erinnerung an diese Zeit nicht immer trüb und trostlos ist, wie vorher die Befürchtung war, sondern daß eine Helligkeit über diesen Tagen und Nächten liegen kann, die sogar die Schmerzen vergessen läßt. Dieses Licht bricht aus der Freiheit, in die uns unsere Anspruchslosigkeit führt, die sich langsam mehr und mehr mit unserem Daniederliegen einstellt. Krank zu werden ist viel schmerzlicher, als krank zu sein, denn zu Anfang fühlt sich unsere Seele noch an die Welt der Sinne gebunden, in der sie gefangen lag, und wir verstehen ihre neue Freiheit nur langsam. Aber sie stellt sich wider unseren Willen ein, und mehr und mehr gelangen wir aus den Regionen des Vergänglichen in die Bereiche des Unvergänglichen. Alle Krankheiten sind Entfesselungen der Seele aus der Welt der Sinne. Ich glaube, daß der Tod der hellste Wipfel dieser Höhen der Freiheit für unser Bewußtsein zu werden vermag.«

Das Mädchen sprach eifrig und einfach, aber ohne den Wunsch zu überzeugen, ich habe niemals im Leben etwas so deutlich gehört wie den Sinn dieser Stimme. Es war als stünde eine aufrechte Gestalt hinter der liegenden, eine andere, die doch dieselbe war, ein Wesen, das keiner Worte bedurfte, um sich verständlich zu machen, sondern das klar und selbstverständlich dadurch sprach, daß es so und nicht anders beschaffen war. Eine schweigsame Herrlichkeit der Verkündigung ging von ihr aus, wie von Wert und Unwert genesen.

Draußen schien der Morgen sich ein wenig aufzuhellen, es regnete nicht mehr und der Lichtschimmer, der ins Zimmer fiel, verriet, daß Wolken und Sonnenschein sich hoch über uns im Freien vermischten. Die Gegenstände des Zimmers, das sorgfältig geordnet war, nahmen in meinen Augen eine nüchterne Selbständigkeit an, wie Wesen von Sinn und Lebendigkeit, die in einer erstarrten Bereitschaft warteten. Ich betrachtete diese Dinge und die Eigenart dieser Morgenstunde beschäftigte mich. Solche Morgenstunden in einem Wohnzimmer sind mir fremd geworden, dachte ich, wo war ich denn stets um diese Zeit? Seit meiner frühsten Kindheit habe ich grade diese Stunden nicht mehr erlebt. Wenn ich krank war und nicht zur Schule konnte, erfuhr ich sie, oder Sonntags, aber schon dann waren sie anders.

Asjas Hand lag immer noch in der meinen. Sie hatte die Augen geschlossen und ich sah auf ihr Gesicht nieder. Das Lebenslicht der Züge floß über die mattfarbigen Formen der Schläfen und Wangen, deren Töne sich nicht unterschieden, alles war in ein ruhiges Blaß gebettet. Die Bogen der Brauen waren breit und tiefschwarz und die Augenlider am hellsten. Die Wimpern auf den Wangen ruhten dicht und dunkel, wie aus Samt, und der Mund, dessen Lippen kaum einen Schimmer von rot trugen, war von einer Lebendigkeit, die mich erbeben ließ. Ich sah mit Grauen und Andacht auf diese schwermütige Süße, von der es wie Frühlingssonnenschein aufstieg.

Mich ergriff ein Taumel von Armut und Gram, der mich durch und durch verwandelte, aber zugleich blühte mein Herz. Da wußte ich: Dies ist der Anfang und das Ende. Es ist die Bestätigung, dachte ich, und nahm das Urteil hin. Ich hatte das Empfinden uralt zu sein, und maß und erkannte dies Bewußtsein doch in der Allgewalt einer unbestürmbaren Jugend. Schlag deine Augen auf und sprich wieder zu mir, ich bin verwirrt und möchte doch meine Sicherheit nicht an Wesen und Dingen zurückgewinnen, an die ich nun nicht mehr glauben kann, und die ich niemals wieder lieben werde. In einem einzigen Augenblick hat das Lebenssinnbild deines Mundes eine Welt in Trümmer geworfen. —

Wir haben noch mancherlei miteinander gesprochen, dieses und jenes, wie der Augenblick es uns eingab, aber wenn auch von nichtigen Dingen die Rede gewesen sein mag, so war doch alles, was uns im Geist begegnete, von jener reinen Wichtigkeit des Wesens, die die Achtung und die beglückende Vorsicht der Liebe schaffen. Ich ahnte die Durchsichtigkeit der Welt, in der diese Seele lebte und meine Begierde wachte mächtig in mir auf, wie Durst. Als ich gewahrte, daß das Mädchen müde wurde, ohne daß sie die Erschöpfung ihres Körpers selbst spürte, verließ ich sie und ging, ohne ihr zu versprechen, daß ich wiederkommen würde, denn es verstand sich von selbst, und mir wäre eine solche Zusage vorgekommen, als hätte ich gesagt, daß es Tag sei, oder wieder Nacht werden würde. —

Irgendwo, mir aus weiter Ferne der Erinnerung noch dunkel bekannt, wie auf einem anderen Stern, saß der Schuster Stevenhagen, der meine Stiefel in Kur genommen hatte. Er sah mich erstaunt an, als ich bei ihm eintrat, wies nur schweigend in einen Zimmerwinkel und rückte den Schuh auf seinen Knien wieder in den Lichtkegel der gläsernen Wasserkugel, hinter der eine Lampe brannte. Ich suchte mein Eigentum unter den arg mitgenommenen Fremdlingen heraus, die wie eine Schar flüchtig geordneter Landstreicherpaare am Boden umherstanden, und fragte nach meiner Schuldigkeit.

»Das läßt sich aufbringen«, sagte der Alte.

Ich ließ mich auf einem Hocker nieder und zog die Stiefel an.

»Wo sind Sie gewesen?« fragte der Schuster.

Ich sagte es ihm und er hielt in seiner Arbeit inne, wandte sich mir zu und sah mich an.

»Kennen Sie Asja?«

»Ja,« sagte ich, »noch nicht lange, aber für immer.«

Er fuhr fort mich prüfend zu betrachten, lächelte, scheinbar dankbar über dieses Bekenntnis, schwieg aber und wandte sich endlich seiner Arbeit wieder zu. Als ich ihm Geld zum Wechseln gab, schob er die Münze fort, schüttelte den Kopf und forderte mich durch eine Bewegung auf, das Geld zurückzunehmen.

Ich verstand plötzlich, nahm die Münze und ging davon.

Ist es so, dachte ich draußen, als ich ziellos und doch eilig die nasse Straße durchschritt, daß es genügt mit dir bekannt zu sein, Asja, um alle zu Freunden zu haben, die von dir wissen?

Die Gesichter der Menschen, der Lärm der Straße und die Mauerwände der Häuser begannen auf mich zu drücken. Wenn ich doch Horizonte, Wiesen und Pflanzen sähe, dachte ich, ich würde meinen Glauben besser zu wahren wissen und meine Fröhlichkeit würde standhalten. Was ruft ihr mich an, bemächtigt euch meiner und zerrt mir die Seele aus dem Leib, ihr Namen und Bilder, Inschriften und Auslagen, Glocken und Stimmen? Eure traurige Hast und leere Mühe, eure Sucht ohne Sehnsucht und euer Weh ohne Heimweh verführen und verraten mich und machen mir alles verächtlich, um dessen willen ich allein leben möchte. Ihr betrügt die Seele um die Heimat.

Über solchen Gedanken kam mir in den Sinn, daß ich Asja Bücher versprochen hatte, und wenn ihre Worte, die mich gleichmütig und zurückhaltend nach diesem Vorsatz gefragt hatten, auch kein sonderlich starkes Vertrauen zum Wert dessen verraten haben mochten, was ich etwa bringen würde, so beschloß ich doch mein Vorhaben auszuführen und das Mädchen womöglich auf das angenehmste zu enttäuschen.

Während ich über die Straße dahinschritt durch den Regen, überfiel mich plötzlich der Gedanke an meine Beschäftigung, an meine Tagespflicht, an die Druckerei und meinen Brotherrn. Seit drei Stunden wartete man auf mich, ich war unentschuldigt ausgeblieben, in Gefahr ernstlich verstimmt zu haben und entlassen zu werden. Aber als ich auf eine Erklärung sann und erwog, ob ich die Angelegenheiten Asjas nicht besser in meinen freien Mittagsstunden erledigen sollte, überkam mich ein jäher Entschluß, der mir das Bewußtsein einer beseligenden Freiheit einbrachte. Ich nahm mir vor, überhaupt nicht mehr in die Druckerei zu gehen, und meine alte Verpflichtung gegen eine wertvollere einzutauschen, gegen die, Asja zu Diensten zu sein so lange sie noch lebte. Was galten mir äußerliche Verluste gegen das Glück der inneren Entbundenheit, in der ich nach diesem Vorsatz, wie neugestärkt, dahinschritt. Eine noch ungewisse Ahnung, daß ich Vergängliches gegen Unvergängliches eintauschte, erfüllte mich durch und durch mit Fröhlichkeit. Auch wußte ich, daß es mir für den Fall der Not nicht schwer fallen würde, wieder irgendeine Beschäftigung zu finden, die mich vor Hunger schützte, wie sie einem Menschen stündlich zu Gebote steht, der bereit ist jede Arbeit zu übernehmen.

Es mochte zwischen zehn und elf Uhr sein. Ich genoß für eine kurze Weile diese ungewöhnliche Stunde, die ich in den letzten Wochen nur mit Bedrücktheit und Verlangen von dem nüchternen Zifferblatt der Geschäftsuhr abgelesen hatte. Es galt aber sie zu nützen, und ich überdachte, auf welche Art ich mich am besten in den Besitz von Büchern zu setzen vermöchte. Meine Barmittel waren gering und ich sah ein, daß ich nicht nur der Gelegenheit, Bücher zu erwerben, sondern zugleich auch eines wohlmeinenden Rates und teilnehmender Fürsorge bedurfte. Da erinnerte ich mich dessen, daß ich zuweilen Korrekturbogen aus der Buchdruckerei zu einem wohlgebildeten und sehr vermögenden Herrn gebracht hatte, der Doktor der Philosophie, Kunsthistoriker und Schriftsteller war. Ich war genötigt gewesen, im Vorzimmer dieses Herrn auf dessen Einblick in die Satzproben zu warten und hatte, als der Diener in das Arbeitszimmer trat, einmal durch die Tür eine gewaltige Bücherwand erblickt, die bis an die Decke hinauf in den gedämpften Gold- und Farbtönen alter und neuer Bücher glitzerte. Ohne Besinnen entschloß ich mich einen Versuch zu machen, hier zu Büchern zu gelangen, und indem das Ungewöhnliche meines Vorhabens mir die Brust ein wenig beengte, erwachte zugleich jene unbändige Lust am Wagnis und am Besonderen, jener Hang, alle Fesseln einer hergebrachten Lebensform gegen die einfache Bewegung eines mutigen Menschentums einzutauschen, der mir meine ganze Jugend hindurch viel Leid und Seligkeit eingebracht hat, Erniedrigungen und Triumphe, Haß und Liebe.

Während ich den Weg in die Gartenvorstadt nahm, in der das Landhaus des wohlbekannten, ja auf seinem Gebiet berühmten Mannes lag, verbannte ich alle Vorsätze zu einer bestimmten Art des Auftretens aus meinen Erwägungen und beschloß, mich ganz der Gunst oder Ungunst des Augenblicks zu überlassen und nur dem zu gehorchen, was die Lage mir eingab und zumutete. Werde ich abgewiesen, dachte ich, so befinde ich mich bald wieder an dieser Stelle der Straße, auf der ich mich jetzt bewege, und ich befinde mich hier sehr wohl. Aber dann wurden meine Gedanken in einen verschleierten Ernst hinübergezogen, denn Asjas Gestalt stand vor ihnen auf und ihr Lächeln begleitete mich. Da glaubte ich zu wissen, daß alles kommen würde, wie es kommen mußte, und fühlte mich im Recht.

Als ich an dem hohen, eisernen Gartentor anlangte, setzte ich die Glocke in Bewegung und wartete darauf, daß der Hausdiener den Kiesweg herabkommen würde, um die Gruppe der Lebensbäume herum, die den seitlichen Eingang zum Haus verdeckte. Es war aber diesmal ein Stubenmädchen. Sie machte nicht auf, sondern fragte mich durch das Gitter, was ich wollte.

»Hinein«, sagte ich einfach.

»Ach so,« meinte sie und musterte mich, »Sie kommen von der Druckerei.«

Sie wartete meine Antwort nicht ab, sondern zog die Gittertür auf, schloß sie sorgfältig hinter mir und schritt mir dann voran, bis in das Wartezimmer, das ich kannte. Vorsichtig begab sie sich dann an die Tür zum Arbeitszimmer, beugte sich vor, zögerte eine Weile und pochte dann leise und außerordentlich zurückhaltend dreimal. Es sah aus, als wäre die schwere Eichentür zerbrechlich. Mir schien, daß der Gemeinte, wie manche verwöhnten Leute, durch allzu große Rücksicht auf seine Wünsche ungeduldig wurde, denn es ertönte ein sehr unfreundliches »Was ist los?« und das Stubenmädchen wagte kaum die Tür zu öffnen. Sie tat es, nachdem sie mir einen inhaltslosen Blick zugeworfen hatte, einen Blick, wie ihn Leute haben, deren innere Augen anders gerichtet sind als die äußern.

»Ein junger Mann von der Druckerei ist da«, sagte sie auf der Schwelle.

»Also. Was bringt er? Geben Sie her!«

Das Mädchen winkte mit der Hand eifrig zu mir hinüber, damit ich ihr einhändigen sollte, was sie für ihren Herrn bei mir vermutete.

»Ich bringe nichts,« sagte ich, »ich möchte den Herrn Doktor sprechen.«

Jetzt trat sie ganz ein, lehnte aber die Tür nur hinter sich an, so daß ich die laute männliche Stimme deutlich vernahm.

»Etwas abholen? Ich habe nichts, es ist alles geschickt worden.«

Als die Tür sich wieder öffnete, rief der Herr Doktor mich selbst an:

»Was ist denn? So kommen Sie herein.«

Ich trat ein und war erstaunt über die vornehme Pracht dieses großen Zimmers. Ein schwerer roter Teppich fing mich auf, von den Erkerfenstern brach gedämpftes Licht auf den mächtigen Schreibtisch, der mitten im Raum stand, umlagert bis zur Decke hinauf von hohen Bücherschränken und -borden, die in die Wände eingelassen waren. Ein dunkler Eichentisch mit rundlehnigen Ledersesseln bot sich zur Rechten, aus dämmrigem Hintergrund, den Augen dar, und neben ihm stand ein breites Ruhebett, belastet mit gewirkten Decken und einer großen Menge vielfarbiger Kissen, deren Zahl ich in der Eile auf etwa hundert schätzte.

Der Herr Doktor saß an seinem Schreibtisch und hatte sich mir zugewandt, die eine Hand auf die Lehne des Sessels aufgestützt, so daß er über seinen emporgestemmten Ellenbogen hinweg nach mir hinübersah. Zwischen den Fingern hielt er eine Zigarre, so groß und dick wie ein Tannenzapfen, von der eine hellblaue Rauchlinie emporstieg, deren lichtes Leben wundervoll über die Dämmerung des Hintergrunds dahinzog.

Mir schien, als mißfiele dem Herrn die Aufmerksamkeit nicht, die ich seinem Zimmer entgegenbrachte, erst nach einer Weile sagte er mit einem etwas selbstgefälligen Lächeln:

»Also, was ist denn?«

Ich trug mein Anliegen in einfachen Worten vor, ohne daß ich ihnen durch ungebührliche Wendungen oder unbescheidene Selbstverständlichkeit den Anschein einer heimlichen Anmaßung verlieh, es war nicht meine Schuld, daß unser Gespräch bald darauf einen Fortgang nahm, der den Hausherrn aufbrachte.

»Bücher wollen Sie von mir?« fragte er gedehnt und mit einer Betonung, als hätte ich von einem Schreiner einen Schuh verlangt. »So ohne weiteres, das ist denn doch ... muß ich sagen, ein höchst sonderbares Anliegen. Wer sind Sie denn überhaupt, ich meine eigentlich ...«

»Ich will Ihnen meinen Namen und meine Adresse später aufschreiben, wenn Sie mir Bücher gegeben haben. Als ich im Auftrag der Druckerei einmal bei Ihnen war, sah ich durch die Türspalte den Reichtum an Büchern, über den Sie verfügen, und ich dachte an Sie, als ich heute früh bei der Kranken war.«

»Und daraufhin ... ich glaube, Sie sind verrückt. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber einem daraufhin ohne weiteres mit dieser Bitte zu kommen, ist denn doch wohl mehr als ungewöhnlich. Sie glauben wohl in mir einen Dummen gefunden zu haben?«

»Nein,« sagte ich, »man kommt nicht immer gleich auf das Rechte.«

Der Angeredete schien den Satz daraufhin zu prüfen, ob sein Sinn eindeutig sei, und schaute dabei auf den Teppich nieder, als läse er ihn noch einmal in seinen Ornamenten nach, dann erhob er sich und schritt auf mich zu.

»Das war allerdings kaum das Rechte, so mir nichts dir nichts bei mir einzufallen. Gibt es nicht Buchhändler oder, wenn es Ihnen an Barmitteln fehlen sollte, Leihbibliotheken genug? Aber es wird wohl zuguterletzt auf etwas anderes herauskommen.«

Er zog seine Geldbörse und begann mit kurzsichtigen Augen darin zu suchen, während sein Finger die Münzen hin und her schob. »Wundert mich nur, wie Sie es fertiggebracht haben, bei mir einzudringen. Sie haben das Vertrauen Ihres Chefs mißbraucht, mein Lieber ... Bücher! Wie lange kennen Sie denn dieses Mädchen schon?«

Ich wollte bei der Auswahl des Geldstückes nicht stören und wartete deshalb ab, auf welches die Wahl meines erzürnten und unfreiwilligen Gastgebers fiele. In Erfahrung gebracht habe ich es niemals, denn es wurde mir mit viel Takt in der geschlossenen Hand geboten; jeder andere hätte die Münze sicherlich zwischen zwei Fingern erhoben dargereicht.

»Sie sind sehr freundlich,« sagte ich ohne zurückzutreten, »aber mir ist mit einer kleinen Geldsumme nicht gedient. Wenn Sie keine Bücher verleihen wollen, so muß ich unverrichteter Sache wieder meines Wegs gehen. Aber ich will es nicht tun, ohne einen letzten Versuch zu machen, Sie davon zu überzeugen, daß weder ein unbedachter und leichtfertiger Einfall, noch die Gier nach einem unverdienten Vorteil mich zu Ihnen geführt haben. Wenn ich den Reichtum an Unterhaltung, Belehrung und Erhebung, an menschlicher Freude und menschlichem Erleiden überdenke, den Sie in Ihrem Zimmer angesammelt haben, all das erschlossene und unerschlossene Glück, das diese Bände bergen, so erscheint es mir für einen Augenblick ungerecht, daß diese farbige Welt mit ihren Landschaften der Seele und der Erde hier verborgen und unbenutzt liegen soll, während ein paar Häuser weiter ein Mensch, der dies alles und mehr in kurzer Zeit für immer aufgeben muß, Verlangen danach trägt, für eine Stunde seine Armut und sein Geschick zu vergessen.«

Es entstand eine kleine Pause, als ich schwieg. Ein sonderbarer Blick voll Gift und Staunen traf mich, haftete wider Willen an meinen Zügen, umglitt mich, verächtlich geworden, und löste sich endlich in einem Lächeln, voll Neugier und Herablassung.

»Schon gut, schon gut,« sagte er, »Sie werden mich nicht beschwatzen.«

Nach diesen häßlichen Worten brach plötzlich eine befangene Gutmütigkeit im Ausdruck seines Gesichts durch, die ich nicht erwartet hatte, und die ich mir nicht erklären konnte, obgleich sie das einzige war, was auf mich wirkte. Wahrscheinlich hat er mir zuvor seine Kraft beweisen wollen, ehe er mir seine Schwäche verrät, dachte ich und darüber wurde ich mutlos, denn ich erkannte aufs neue, was unter den Menschen als stark gilt und was als schwach.

Da es in meiner Art und unbewußten Neigung lag, den Fortgang eines Wegs immer dort zu suchen, wo ich am tiefsten durch das Wirrwarr der Erscheinungswelt blickte, sprach ich als Antwort von dem, was ich erkannte und sagte:

»Nun Sie mir durch Ihr Wort bewiesen haben, wie wohl Sie gegen meine Tücke gewappnet sind, wird Ihr Herz einen freien Weg für seine Güte finden können.«

Mein Gegenüber lachte breit und ungeschickt auf, so daß ich ihn für einen Augenblick bedauerte, aber ich gab dieser Ablehnung nicht nach, sondern wappnete mich aufs neue, ich war entschlossen, zu meinem Ziel zu kommen. Ein leise quälender Zweifel nagte tief in mir und für einen Augenblick haßte ich diesen Mann, der den Wert der feinen Fügung meiner Gedanken verstieß, als spräche ein Narr zu ihm. Ich haßte die Kraft in ihm, die nichts als Roheit war, die ich hassen werde, solange ich atme, die am Tor aller Vernunft und Freiheit lauert und sich Männlichkeit nennt. Da er nun auch noch sagte: »Das war nicht schlecht geantwortet«, verzagte ich fast, denn ein Lob aus der Welt, die wir verachten, ist ärger als ein Tadel aus der Welt, die wir lieben.

»Woher kommen Sie denn eigentlich, wer sind Sie, haben Sie eine Schule besucht? Nun antworten Sie einmal.«

»Lassen Sie mich in Ruh«, sagte ich schroff. »So wohlfeil werden Sie Ihr Gefühl der Überlegenheit, das Sie vermissen wie eine Krücke, nicht zurückbekommen. Was geht Sie das an, woher ich komme? Wollen Sie mir ein Mittel geben, Sie sichtbar zu täusche, damit es Ihnen leichter wird, mir nicht zu glauben? Sie glauben mir längst. Ich lasse mich nicht auf ein Gebiet locken, auf dem Sie schon deshalb recht behalten, weil Sie eine hohe Haltung gegen eine niedrige vertauschen.«

»Das ist also einfach eine Unverschämtheit«, sagte mein Gegner freundlich, lachte und setzte sich breit und sicher mitten auf seinen Sessel.

»Nehmen Sie Platz«, fuhr er in einem veränderten Ton wohlwollenden Befehls und skeptischer Neugier fort, in dem seine Niederlage lag. »Sie haben vollständig recht. Ich müßte ein Lump sein, wenn ich das nicht zugäbe. Aber Bücher bekommen Sie keine.«

Welch ein armseliger Seitenweg ist diese halbe Freundlichkeit, dachte ich. Er zieht die Pfeile aus seiner Brust, bricht sie ab, und tut, als seien sie stumpf gewesen. Eher werden die Ströme zu den Bergen zurückfließen, als daß einem Menschen meiner Zeit sein fanatischer Glaube an den Triumph der Mittelmäßigkeit abhanden kommt. Ich fürchtete den aufsteigenden Ekel, der mich noch immer entwaffnet hat, und warf mich übereilig auf die Bahn eines neuen Mittels. Ich darf nicht auf diese halbe Belustigung eingehen, wußte ich, dieser Mann reißt mich anders in seine Niederlage hinein, und am Ende erhalte ich doch noch die Münze, die er immer noch zwischen den Fingern drückt, als stammte sie aus einem Taschendiebstahl. Zudem kam mir über dem Gedanken an diese Münze in den Sinn, daß ein paar Bücher, die ich vielleicht doch endlich leihweise erhielt, der Freundin wahrscheinlich wenig genug bedeuten würden, denn nicht nur ihre Frage nach meinen Beständen, sondern auch ihre Miene hatten mir verraten, wie schwer ihrem Anspruch Genüge getan werden konnte. Auch erschien es mir, als sei der ganze Kraftaufwand dieser Stunde schon viel zu groß, als daß ein paar entliehene Bände ihn endlich zu rechtfertigen vermöchten. Ich mußte viel mehr erreichen. Mein Mißerfolg lag daran, daß mein Kraftaufwand in keinem Verhältnis zu meiner Forderung stand; was konnte diesen bedrängten Ungläubigen mißtrauischer machen, als meine Anspruchslosigkeit?

Während ich sann, betrachtete mein Gegenüber mich mit unverhohlener Aufmerksamkeit, mit einer etwas benommenen Neugier, deren Lebenslicht mir aber keineswegs die Furcht einjagte, er möchte mich mit diesen aufgetanen Augäpfeln auch durchschauen. So sagte ich, meiner selbst sicher:

»Wenn ich den Ring betrachte, den Sie an Ihrem Finger tragen, der sicher nur einen geringen Teil Ihres großen Besitzes ausmacht, und bedenke, daß schon in ihm die Macht liegt, einem Menschen, der bald sterben wird, noch einmal die irdische Landschaft in Freuden und Ruhe zu erhellen, so meine ich, Sie müßten ihn mir geben, um Ihrer Freude und Ruhe willen.«

Der Angeredete lächelte betroffen und überlegen, aber nicht mehr mißbilligend. Vielleicht war er mir, ohne es zu wissen, dankbar dafür, daß ich die Haltung nicht einnahm, die er vorgeschlagen hatte, und derer er sich heimlich schämte.

»An diesen Ring fesselt mich eine Erinnerung, ein teures Andenken. Nun?«

Die Herausforderung in diesem letzten Wort empörte mich, die lässige Aufforderung darin, in meiner Mühe fortzufahren, war herabwürdigend.

»Und nun haben Sie dieses Andenken entweiht«, sagte ich rasch.

»Was habe ich getan? Junger Mensch — wenn eines mich wundert, so ist es, daß ich Ihnen nicht längst die Tür gewiesen habe ...«

»Ich will Ihnen sagen, wie ich denke, damit Sie sich nicht erzürnen«, antwortete ich und faßte mich. »Ist dieser Ring ein teures Andenken an einen Menschen, der Ihnen in Liebe nahesteht, oder gestanden hat, so ist er ein Sinnbild der Gemeinschaft, unvergänglichen Guts, heiligen Daseins über allem, das verfällt. So ist die Sendung, die ihn gehen und wirken hieß, mit der er untrennbar behaftet ist, wie mit seinem Glanz, die des wahrhaftigen Lebens, und nur indem es sich mit ihm erfüllt, ist die Erinnerung an den Geber geheiligt. Ich nehme nach Ihren Worten an, dieser Mensch liegt begraben, Ihnen oder uns allen; wird es nicht sein, als sei er auferstanden, wenn die teure Glut in heimlicher Glorie um seine Gabe neu ersteht, als fiele sie auf ihn zurück, nach dem Kreislauf ihrer Bestimmung, und schlösse ihn in ihr Licht ein? Sie aber drängen mit Ihrem Hang nach totem Besitz den lebendigen Geist in sein kaltes, goldenes Grab zurück.«

Es wurde still im Zimmer, der Angeredete sah starr vor sich hin, ohne daß mir irgendein Zeichen verriet, ob meine Worte ihn im Guten bewegt oder aufs neue erzürnt hatten. Dann sah er langsam auf, sein Blick überging mit beinah trauriger Entschlossenheit die prächtigen Dinge seines Raums, die Geräte seines Schreibtisches, die Blätter und Bücher darauf, und wurde endlich, als habe er sein eigenes Leben verloren, in das Leben des Lichts gezogen, das durch das Fenster eindrang, und dort verirrte er sich im wesenlosen Geist der Helligkeit.

Ich dachte daran, daß Asja nun auf ihrem Lager lag und in das gleiche Tageslicht schaute, und mir wollte scheinen, als müßten sich die Blicke dort drüben und draußen in der Höhe begegnen, so daß der Fremde von dem Ausdruck in Asjas Zügen überwunden würde, wie vor kurzem ich selbst, und mir so das Ende des schweren Wegs erspart bliebe.

»Hören Sie einmal«, sagte da plötzlich die tiefe Stimme und das langbärtige Gesicht wandte sich mir zu. »Sei das, wie es wolle, ich möchte nicht dieses oder jenes, nicht Wohltaten tun, noch Segen stiften, aber ich möchte einmal wieder glauben, auch an mich. Sie haben da eine Erinnerung in mir wachgerufen, auf eine eigene Art wachgerufen, das will ich Ihnen lassen. Weit mehr taucht mit ihr mein eigenes Leben vor mir auf, als dasjenige der Toten, von der dieser Ring stammt. Ich weiß nicht, wer Sie sind und welch merkwürdiges Unterpfand des Wesens Ihnen diese Kraft gibt, ich möchte es nicht prüfen noch ergründen, denn ich fürchte mich vor Eingeständnissen, für die ich noch nicht alt genug bin. Ich will Ihnen glauben, lassen Sie sich daran genügen, ich will es, es ist mir gleichgültig, ob Sie es verdienen. Diesen Ring selbst werde ich nicht fortgeben, jetzt weniger als je, denn die Macht seiner Mahnung ist von dieser Stunde ab größer geworden und ich bedarf ihrer, mehr vielleicht als andere, mehr sicherlich als Sie. Aber der Sinn, den Sie diesem Ring beimessen, soll sich nach Ihrer Erwartung erfüllen, und ich werde Ihnen die Summe zur Verfügung stellen, die seinen bezahlbaren Wert ausmacht. Es wird Ihnen gleichgültig sein, ob ich ihn Ihnen abkaufe oder ein Händler. Dann können Sie Bücher und alles beschaffen, was Sie wollen und brauchen, oder was Ihre bedürftige Freundin nötig hat.«

»Gut. Handeln Sie so.«

»Sie danken mir nicht, nun das ist wohl auch in Ordnung so ... Mir liegt die Zeit im Sinn, in der ich noch so jung und so erwartungsvoll, so zuversichtlich und gläubig war, wie Sie. Damals, als ich diesen Ring erhielt, stand ich im Beginn meiner Laufbahn, ich fing damals an berühmt zu werden, man las mein erstes Buch, es ist jetzt vergessen. Die Zeit geht eben rasch; nun, es kamen andere Werke und trugen meinen Namen in die Welt, aber wissen Sie, was mir über Ihren Worten vorhin so durch den Sinn gegangen ist — daß diese anderen Bücher auch einmal — vergessen sein könnten ... Aber nicht das allein, sondern vielmehr eine seltsame Gewißheit, als sei jene vergangene Zeit, ohne Ruhm und Besitz, durch einen ganz bestimmten Wohlstand reicher gewesen, als die heutige es ist, mit ihrem Erfolg.«

»Sagen Sie mir das nicht,« lehnte ich ab, »ich wollte Sie nicht demütigen.«

»Demütigen? Sonderbarer Mensch ...«

Unsicher und gequält sah ich ins Leere. Mir war, als habe ich unrecht getan, aber erst später sollte ich erfahren, worin dies Unrecht bestanden hatte.

»Also gut denn,« hörte ich ihn wieder sprechen, »lassen wir ruhen, was ruht, und leben, was leben soll. Ich biete Ihnen tausend Mark an Stelle des Rings und der Bücher; sind Sie einverstanden?«

»Ja, aber Sie sind es nicht.«

»Ich bin es. Sie hatten recht, meine Anwandlung zu Eingeständnissen, meine melancholische Selbstbetrachtung, abzulehnen. Vielleicht hoffte ich, mich von einer Niederlage wiederherzustellen, indem ich ein geringes Bild von mir entwarf, um, wenn Sie davongingen, in dem Bewußtsein zurückbleiben zu können, daß ich doch um einiges mehr sei, als ich Sie zuzugestehen genötigt hatte. Der Ruhm verdirbt, wir sind unehrliche Leute vor uns selbst geworden, um die Ehrlichkeit zu retten, um derer willen uns die anderen, die Welt, Bekenner und Eroberer nennt. Sie hat noch keinen Wahrhaftigen ihren Erlöser genannt ...«

»Also tausend Mark wollen Sie geben?«

Er schwieg, mit schräg gesenktem Blick.

»Sie nehmen mir die Freude daran«, sagte er langsam und in erkennbarem Verdruß über sein erneutes, unfreiwilliges Geständnis. Aber er holte dann zögernd, mit zurückgelegtem Oberkörper seine Schlüssel hervor, öffnete ein Schubfach des Schreibtisches, räumte etwas zur Seite, als seien es seine lästigen Gedanken, und entnahm einer Stahlkassette eine lederne Brieftasche.

»Hier,« sagte er kurz und unsicher, als fürchtete er durch sich selbst bei einem Diebstahl überrascht zu werden, »nehmen Sie und stiften Sie Segen und Gutes.« Er tastete an den Geldscheinen herum, als wollte er ihnen noch einmal, vor dieser Willkür, seine ganze besorgte Neigung zukommen lassen, und doch schien er diese Finger zu verachten, die den Wert des Papiers zu genießen trachteten. »Möge das Geld auf einen Acker fallen, besser bereitet, als es mein Herz noch ist. Und Sie, Sie selbst ... Wer sind Sie denn, so reden Sie doch. Dies alles ist doch höchst eigentümlich. — In die Hosentasche stecken Sie die Scheine?«

Plötzlich befiel mich eine wilde, heiße Fröhlichkeit. Es war mir, als erwachte ich mit dem Bewußtsein dieses Erfolges endlich aus einer Welt von Beziehungen, Kräften und Verstrickungen, die nichts mit jener zu schaffen hatte, in die ich nun gehen wollte, um der Freundin den Weg zu ihrer Gesundheit und zu glücklichen Tagen zu ebnen.

»Ich ——?« fragte ich plötzlich wie verwandelt, »ich komme mir vor wie Einer, der sich beim Satan eine Leiter geliehen hat, um Gott in den Himmel steigen zu lassen.«

»Auch ein Dank«, sagte er verständnislos und sah mich beinahe gierig an, mit einem Ausdruck, den ich so wenig auf seinen Ursprung zu prüfen vermochte, wie er meine Worte.

»Grüßen Sie Ihre Freundin,« sagte mein Gastgeber, als er sah, daß ich meinen Hut nahm, »berichten Sie mir, lassen Sie sich einmal wieder sehen, tun Sie es, vielleicht wird Ihre Teufelsleiter doch noch zu einer Brücke zwischen uns zwei.«

Ich ließ es offen.

»Weiß der Kuckuck, was mir dies bedeuten soll, nun, was geschehen ist, soll recht bleiben, leben Sie wohl. Wie eilig Sie es haben.«

Er gab mir die Hand, als sollte ich ihr Gewicht prüfen, ich fühlte mich erlöst und eilte rasch von dannen, seltsam benommen in einem merkwürdigen Unterbewußtsein, in dem mir zumut war, als freute meine Freude mich nicht, und als sei ich für meine Kraft nicht stark genug gewesen. —

Wohl drängte es mich, mit meinem Schatz zu Asja zu eilen, aber ich wartete und begab mich zuvor in meine Behausung. Ich beschloß, eine Reihe nützlicher und erfreuender Einkäufe zu machen, führte meinen Vorsatz jedoch nicht aus, da alles mir in heimlichem Widerspruch zu den Bedürfnissen dieses Mädchens zu stehen schien. Auch fehlte es mir an Erfahrungen, und ich schämte mich, an jene belanglosen oder nur äußerlich nützlichen Dinge zu denken, für deren Beschaffung den Frauen ein so sonderbares Talent eigentümlich ist, das in gleichem Maße von Liebesbereitschaft, wie von glückhafter Schamlosigkeit zeugt. Sie bringen es fertig, Pulswärmer, Zahnstocher, Pfeifenreiniger, oder unbedeutende Bruchteile von Nahrungsmitteln durch Ankauf in ihren Besitz und durch Schenkung in die Hände geschätzter Persönlichkeiten zu bringen. Auch auf kleinere Vasen, auf Löschblätter oder Bleistifte verfallen sie zuweilen, und die Anmut ihrer Darbietungen läßt uns in bestürzter Rührung erkennen, daß diese Dinge in kleinen, schwachen Händen zu Sinnbildern der großen, ewigen Liebe zu werden vermögen. Wir Verdorbenen und Ungläubigen dagegen vermögen uns nur auf Blumen oder Bücher zu beschränken, weil wir an die Allmacht der Liebe nicht glauben können, wenn unsere Gabe nicht schon ein Sinnbild der Geisteswelt ist.

Als ich meine Dachkammer betrat, erschien sie mir so fremdartig, daß ich lächeln mußte, es war gewissermaßen notwendig, daß ich mich allen Einrichtungsgegenständen erneut vorstellen mußte, was nicht lange dauerte. Ich warf meinen Hut aufs Bett, das noch nicht geordnet war, und sah in das Buch hinein, das von der letzten Nacht her noch aufgeschlagen neben der Kerze lag. Dies alles steht jenseits, dachte ich, eine neue Welt beginnt, es hat sich eine Straße vor mir aufgetan, ich weiß den Weg. Eine unbestimmte Traurigkeit machte mich ruhlos, ein plötzlich erwachtes Bewußtsein für die Sinnlosigkeit alles dessen, was ich bisher zur Erhaltung meines Daseins begonnen hatte, überfiel mich und füllte mich mit Zweifeln am Wert alles Zukünftigen. Auch du wirst alle Fragen der Brust nicht beantworten, Asja, dachte ich, du selbst bist die Antwort, und wenn ich dich nicht habe, so werden meine Kämpfe nicht enden.

Gegen Mittag kam ein Bote aus der Druckerei, um sich nach mir zu erkundigen. Ich schrieb auf einen Zettel, daß ich nicht mehr käme, siegelte den Brief mit dem Wachs der Kerze und war sicher, daß man mich in Ruhe lassen würde. Da draußen im Hof die Sonne schien, entschloß ich mich fortzugehen, aber mein Gewand machte mich nachdenklich und ich nahm den Spiegel von der Wand. Offenbar mußte der Kragen gewechselt werden, aber der andere war in der Wäsche. So nahm ich auch seinen ausdauernden Gefährten ab, suchte mein Halstuch, ergriff Stock und Hut und ging davon. Das Tuch machte mich fröhlich, ich weiß nicht weshalb. Ich, dein Bruder, dachte ich und sprach zu Asja, möchte in Armut und Schande, in Lumpen zu dir kommen. Ist es denn wahr, daß ich von ganzem Herzen glaube, daß deine Augen es nicht einmal sehen würden, es sei denn aus Erbarmen? Ist es wahr, daß die Tage der Menschenwertung nach Erfolg und Besitz eine solche Zuflucht haben, wie dein Sinn es ist?

Ich vergaß über solchen Gedanken die Geldsumme, die ich bei mir trug, wie man auf einem Feldweg die Straßen der Stadt vergißt. Auch als ich zu Asja kam, dachte ich lange Zeit nicht daran, aber als ich mich an ihrem Bett niederließ, empfand ich eine große Müdigkeit, die mir fremd war, und ich atmete tief auf und mußte seufzen, ohne daß ich Kummer hatte.

Sie nickte und sagte: »Du ruhst dich nun von allem aus, was dir bisher schwer gewesen ist, weil du allein warst, deshalb bist du jetzt müde.« Da verlor ich unter dem Frühling ihrer Augen meine Beherrschung, aber sie schien kaum darauf zu achten, sondern blieb von wunderbarer Festigkeit, weil sie die Kraft hatte, die Gabe ihres Wesens nicht zu verkleinern.

Ich sagte nach einer Weile, indem ich das Geld hervorzog und vor ihr auf die Decke des Betts legte:

»Nun werden gute Tage für dich kommen, du wirst dieses dunkle Zimmer gegen ein helles mit Sonne vertauschen, die Stadt gegen das Land. Du wirst gesund werden.«

In ihr Gesicht kam ein Zug von Schrecken, ihr Lächeln verschwand, ihre Augen sahen mich forschend an und sie unterbrach mich ängstlich:

»Woher hast du das Geld? Du hattest kein Geld.«

Ich erzählte von Anfang bis zu Ende alles. Sie störte meinen Bericht durch kein Wort und keine Frage, und schwieg auch noch, als ich am Ende war und, unsicher mit den Geldscheinen spielend, mein Verlangen verriet, eine Zustimmung von ihr zu hören.

»Nimm es und bring es zurück«, sagte sie.

Sie beobachtete die Wirkung ihrer Worte auf mich kaum, sondern schien nun vielmehr durch etwas anderes beschäftigt und bewegt; sie fragte unvermutet:

»Hast du von dem fremden Herrn diese Summe nur deshalb bekommen, weil du mit ihm gesprochen hast, hast du ihn überwunden, sie dir zu geben, nur durch den Willen, hat sich alles so zugetragen, wie du es mir gesagt hast?«

»Denke doch jetzt nicht an das Geld, Asja, denke daran, was es für dich tun soll.«

»Ach, es war so, wie du gesagt hast! — Ich denke nicht an das Geld, ich denke an dich.«

Sie sah mich schweigend an, dann kam Sorge in ihren Zügen auf und sie bat noch einmal:

»So nimm es und bring es wieder fort.«

»Du weist das Geld zurück, Asja?«

»Alles, was man für Geld haben kann, ist nichts wert. Ja, ich weise das Geld zurück.«

»Du wirst sterben, Asja.«

»Wie wir alle«, sagte sie einfach.

»O Asja, du machst aus der Not, daß du nicht leben sollst, die Tugend, daß du sterben willst.«

Das Mädchen sah mich an, aber ich spürte wohl, daß sie nicht über den Sinn meiner Worte nachdachte, sondern daß sie nur die Gesinnung prüfte, die hinter ihnen stand. Ich empfand plötzlich, daß es bei ihr immer so gewesen war, und als läge in solcher Prüfung und ihrem Ergebnis der Ursprung der Harmonie und Gemeinschaftlichkeit, die zwischen uns geherrscht hatten, und die nicht zu beugen waren. Ist es dies, dachte ich, und ward abgelenkt, liegt der Grund aller Mißverständnisse und der Verwirrung, die so viele befällt, die sich vor anderen erweisen oder bewähren möchten, darin, daß sie die Gesinnung nicht zu ermessen vermögen, und sich daher an das unredliche und mißbrauchte Gezücht der Worte halten, die der Augenblick eingibt? Asja war nicht in die Befangenheit eines meiner Worte geraten, sondern sie hatte darüber hinausgesehen, wie sie auch über die Erscheinungs- und Tatsachenwelt des Lebens fortzublicken schien — wohin nur? Ich wußte es noch nicht, aber ich fühlte, daß ich ihre Freiheit bedroht hatte.

»Ich will dir antworten,« sagte sie endlich ohne Aufwand und, wie meistens, mit einem beinahe schmerzlichen Zögern, »ich mache aus keiner Not eine Tugend, aber es ist ganz gleichgültig, ob du es so nennst. Wie könnte ich dir aber so unrecht tun, daß ich dort deine Kräfte zu recht bestehen ließe, wo sie dich verderben werden? Du bist so jung, wie willst du verstehen, wieviel du mir bedeutest? Du kennst dich nicht, und nun sollte ich dieses Geld nehmen und dir dadurch antworten: So bist du. — Ich weiß, daß ich sterben werde, aber ich weiß, daß es so gut ist, und daß ich zu meiner Stunde sterbe und mit Willen.«

»Liebst du das Leben nicht, Asja?«

»Oh, über alles,« sagte sie und ihre Augen glänzten, »aber ich denke anders darüber als du. Laß uns doch nicht von diesen Dingen sprechen. Wenn du bei mir bleibst, wirst du bald alles wissen, auch wenn ich schweige.«

»Wie meinst du das?«

»Was ich nicht bin, das will ich auch nicht sagen, was ich aber bin, wirst du fühlen, ohne daß ich es sage, und nachher wird dir sein, als hätte ich zu dir gesprochen. Ach, sei nicht besorgt, gib mir deine Hand und öffne dein Herz, laß mich Einkehr bei dir halten, dann wirst du bald empfinden, wie gut und groß du bist.«

»O Asja,« sagte ich und erbebte tief, »nun weiß ich, wie sehr du das Leben liebst, Asja.«

»Nicht wahr?« sagte sie glücklich, »und ich habe dir nichts erklärt.«

Sie lächelte entschuldigend, da sie diese Zustimmung ausgesprochen hatte, als sei es etwas Geringes, die Fröhlichkeit ihres Lächelns war von einer Bescheidung, daß ich sie empfand, als stünde ich über und über in Licht. Welch ein Wunder geschieht mir, dachte ich, dies alles ist ein heller Traum, nicht Fleisch und Blut verwaltet dieses Erlebnis, nicht die alten Dinge der Welt kommen darin vor. Mir war, als wendete ich mich fort, zu Anderen, zu Fremden, und riefe ihnen zu: Wie arm waren wir doch bisher, ihr und ich!

Aber wieder erwachte der Wille in mir, alles zu tun, was Menschen zu tun vermögen, um dies Leben dem Leben zu erhalten, das wir alle vollbringen. Ich empfand, daß ich irrte, aber ich wußte nicht worin. Welchen Opfers wäre ich nicht in dieser Stunde fähig gewesen! So sprach ich denn aufs neue und bat von Herzen darum, sie möchte ihr Leben zu erhalten suchen. Sie antwortete mir, sie wolle es nicht so, wie ich es dächte.

»Sieh,« sagte sie, »was ist denn Leben und was nennst du so? Ist das kleine Maß deines Daseins vom Aufgang bis zum Niedergang das Leben? Je mehr wir solch bemessene Tage, und unseren vergänglichen Wohlstand darin, so nennen, um so mehr verleugnen wir das Leben. Das ist sicherlich wahr und du wirst es verstehen lernen.«

»Ich verstehe diesen Gedanken, Asja, aber begreifst du nicht, daß meine Liebe sich wünscht, daß du bei mir bleibst? Ich habe dich erst heute gefunden.«

»Sei ruhig, ich verspreche dir, immer bei dir zu bleiben. Aber hindere mich nicht, laß mir mein Wesen. Ich bin nur ein Weg. Was über mich hin zu dir kommt, ist viel mehr als ich. Wurde dein Herz nicht eben noch befriedigt, obgleich ich nichts getan habe? Sind nicht meine Augen und mein Angesicht voll Licht? Woher sollte es kommen, wenn ich dem Licht nicht zugewandt wäre? Weshalb ereiferst du dich? Glaube mir doch, damit du fröhlich sein kannst.«

»Du willst immer bei mir bleiben?« fragte ich, als habe ich nur diesen Satz gehört. Eine schmerzhafte, verräterische Neugier bewegte mich, ich zitterte vor Begierde und Widerstand und begriff meinen Wunsch nicht, das Mädchen möchte mir eine Antwort geben, die mir ein Recht zur spöttischen Abkehr gab. Aber sie antwortete mir nicht.

So schwiegen wir lange. Endlich sagte ich:

»Ich will das Geld nun fortbringen«, und erhob mich, um zu gehen.

In diesem Augenblick haßte ich das Angesicht, den Menschen, der vor mir lag, der, ohne mich anzuschauen, mich doch zu sehen schien, der sich mit seinem Schweigen von mir abgewandt hatte, und der mich doch umfing, und dessen Unterlassen mich leidenschaftlicher beriet, als es der kühnste Eifer vermocht hätte. Aber mein Trotz war mächtiger als alles andere in mir, und ich sagte:

»Nein, Asja!«

Mir war, als habe ich alles mit diesem Nein gesagt. Es klang rauh und böse, wie eine ewige Absage, in dem stillen, einfachen Raum, und erschütterte mich so mächtig, als hätte ich den schwachen Körper vor mir durch einen Schlag verwundet. Da sah das Mädchen zu mir auf, voll Hilflosigkeit und Schmerz, nahm meine Hand und küßte sie. Es war kein Kuß der Andacht oder Demut, sondern ein kindlicher Kuß, eifrig und innig, ein herzliches Tun.


Das Alter wünscht sich noch froh zu sein, aber die Jugend liebt es, für ihr Glück zu leiden. Der in meiner Natur ruhende Widerspruch gegen die Freundin vertiefte sich oft bis zum Schmerz, denn der Jugend ist das Bedürfnis nach dem Abbild und Widerschein der vollkommenen Harmonie fremd, sie ist im Eigenen befangen und je echter sie ist, um so mehr scheut sie sich vor frühzeitiger Abrundung oder unerprobter Zustimmung. So ist ihr Widerstand nicht immer Mangel an Ehrfurcht, wie es häufig denen erscheint, die vom Wert ihrer Darbietungen überzeugt sind, sondern es ist das Recht der schlummernden Kraft. Oft erscheint es, als bedürfe diese werdende Kraft zu ihrem Wachstum des Leids, das sie sich selbst bereitet, und manche Herzen suchen es.

So verstehe ich heute, daß mein Gemüt vor dem Wesen Asjas schwankte, in Sorge sich zu verlieren oder in Begierde zu begreifen und sich hinzugeben. Aber ich segne den Widerstand meines Wesens, denn er rief die Blumen ihrer Seele hervor; nie wird die Liebe jemals Klage führen, daß ihrem Licht widerstanden worden ist. Ihr Wesen ist frei von jeder Absicht, und ihre Wirkung ist ihre Folge, nicht aber ihr Zweck. Erst wer diese Wahrheit in sich erlebt hat, wird der Freiheit im Bewußtsein teilhaftig, mit der ihr Reich in uns beginnt.

Wenn ich diese Worte niederschreibe, so spreche ich schon von dem Geistesgut, das dieses besondere Kind darstellte, denn es wäre unrichtig zu sagen, daß sie es nur verwaltete, wußte oder besaß. Heute erkenne ich gut, daß zweierlei Dinge mein Gemüt zu Anfang verschlossen, es waren die Sorge, mich in ihr völlig zu verlieren und die Scham. Ich schämte mich ihres Menschentums, der Allmacht ihres unverhüllten Fühlens und ihrer Tränen. Wie wenig unterschied ich mich, verglichen mit ihr, von allen, von denen ich mich so bemerkbar zu unterscheiden geglaubt hatte. Welch ein geringes Tun war doch mein Hang gewesen, voreilige Gemeinschaften zu meiden und meine Ansprüche nicht preiszugeben.

Wie ungern denke ich an jene Stunde zurück, in der ich am Tage darauf meinem vornehmen Freund in der Villenstraße sein Geld zurückbrachte. Er empfing mich freundlich, aber seine Entrüstung stieg ins Maßlose, als ich ihm sein verschmähtes Gut überreichte. Ich verließ ihn eilig, da es mir widerstand, etwas zu erklären, unter dessen Walten ich selber noch litt, ohne volle Klarheit zu haben, auch glaubte ich nicht daran, ihn von den Beweggründen meiner Handlungsweise überzeugen zu können. Es mag ihm erschienen sein, als wäre er zum Spielball einer Laune entwürdigt worden, vielleicht auch, daß eine Ahnung des Geistes ihn quälte, dem ich gehorsam war.

»Narr!« schrie er, bleich vor Wut.

Sein Wort begleitete mich. Als ich in meiner Dachkammer anlangte, wiederholte ich es mir ohne zu denken, starrte vor mich hin und ließ die Stunden verstreichen. Ich muß fort, dachte ich, wieder durch Wälder, über Heidehügel dahin, an Flußufern entlang, wo das Wasser mich lebendig begleitet. Habe ich den Aufgang der Sonne über der Landschaft vergessen, den glitzernden März, die Sommersonne im Schilf oder die schweigsame Herrlichkeit der Sternbilder? Aber ich verwarf alles. Das alles ist es nicht, dachte ich, es ist nur ein Trost, ein Gleichnis, ein wahrsagerischer Weg auf das Eine zu, nicht mehr. Warum bin ich so mutlos? Bin ich nicht durch die Pracht des Vielerlei dahingeschritten, Jahre um Jahre, um das Eine zu finden, liebte ich nicht alles allein als ein Sinnbild jenes Einen, vor Hoffnung ruhlos und aus Zuversicht trunken? Nun scheint sein Licht aus einem Herzen, es ruft mich und ich zaudere. Ach, ich ahne, wieviel es ist, dachte ich, weil es längst in mir glimmt. —

So geschah es, daß ich mit diesen Gedanken eines Tages zu Asja kam. Sie hob mir beide Arme entgegen und ich beugte mich, zitternd vor innerer Not, unter ihren Liebesgruß.

»Asja, glaubst du an Gott?«

»Wie fragst du so rasch, so böse?« sagte sie erschrocken.

»Antworte mir!«

»O Freund, ich kann nicht sprechen.«

»So sieh mich an. Antworte auf deine Art, aber antworte.«

»Du Lieber, wie es dich quält! Ach, wäre ich, was du ersehnst!«

»Du bist es. Sieh mich an.«

»Ich glaube an die Liebe«, sagte sie und mir war, als habe sie mich vergessen. »Ich will kein Bild von Gott. In der Liebe ist alles beschlossen, der Vater, das ist der Gehorsam in uns, der Sohn, das ist die Offenbarung in uns, und der Geist, das ist die Gemeinschaft. Sei doch ruhig, du Lieber, in deinem Sinn, so brennend und allein. Es ist alles geschehn. Nicht wir sollen die Liebe erwählen sondern sie hat uns erwählt.«

»O Asja, du machst das Herz froh.«

»Ich tue nichts.«

»Glaubst du an Christus, sag' es mir.«

»Wie du doch fragst! So kann ich nicht antworten. Ich glaube nicht an ihn, aber ich glaube wie er. Er war reinen Geistes, ein freier Weg der Liebe, die vor ihm war und immer ist. Sagt nicht er selbst, er sei der Weg? Sieh, so versteh es. Nicht mit ihm kam die Liebe in die Welt, sondern durch ihn, wie durch viele vor ihm und viele nach ihm. Zuweilen erwählt sie einen Menschen, in dem sie sich ohne Makel offenbart, dann ist es, als sähest du die Liebe selbst, oder Gott. Sagt er nicht, daß wer ihn sieht, Gott erblickt, und sagt er nicht, daß Gott die Liebe sei? Oh, welch eine Offenbarung der Liebe war sein Wesen! Aber alles, was uns von ihm bekannt ist, ist uns durch Menschengedanken und -sinne übermacht, es ist besser, an die Liebe selbst zu glauben, von ihr aus wirst du ihn verstehen, besser als umgekehrt. Immer ist der Vater die Quelle.«

»Der Vater, Asja?«

»Ja, durch den Gehorsam, sagte ich es dir nicht?«

»Was nennst du Gehorsam?«

»Oh, frag mich nicht, du wirst alles erleben, bald oder spät, ich aber möchte mich irren, wer wird einem Wort vertrauen, das so schnell gesagt ist, wie eine Antwort es herausfordert? Gehorsam sein heißt der Liebe kein Hindernis bereiten. Es gibt kein anderes Gebot, keinen anderen Gehorsam.«

»Und alle Gesetze, die Kirche?«

»Die Lieblosigkeit, der Zweifel, der Unglaube haben die Kirche erschaffen. Die Liebe bedarf ihrer nicht. Als Luther die Gesetze der alten Kirche zertrümmerte, trieb ihn die Liebe, als er neue erschuf, quälte ihn der Zweifel. Aber wie spreche ich denn, du drängst mich in meine Armut.«

»Oh, sprich weiter, Asja.«

»Nein, ich will nicht sprechen. Ich habe Furcht vor dem Eigenen in mir. Immer wieder drängt es sich noch herzu. Es muß aus mir sprechen, ohne mich. Komm, sieh die Sonne an, erzähle mir. Sprich von dir. Wie du bei mir von dir sprechen mußt, wird es dich frei und glücklich machen, denn unter meinen Augen verstehst du dich. Oh, wie ich dich liebe, weil du durstig bist.«

»So sag' mir noch eins, nur eines, was ist die Liebe? Ist sie ein Element, außerhalb unserer, eine Kraft, die in uns einzieht, eine Gnade, der wir teilhaftig werden? Wo ist ihr Ursprung, wo ihr Ende, wo ist ihr Sinn?«

Da hob Asja ihr Kinderhaupt aus dem weißen Kissenlager, neigte sich mir zu und sah mich an. Mir war, als bedrohte ihr Auge mich in einem unirdischen Schein, ich erbebte und tauchte in ihren Blick, der klar und still war. Ein unbeschreibbares Lächeln voll süßer Traurigkeit trug diese Stille zu mir. Da fühlte ich mein Herz wie Feuer brennen, schwieg und wußte, daß ich nie mehr im Leben diese Frage stellen würde.


Ihr sonderbaren Tage meines Lebens; Menschen, Wind und Sternbilder, Raum und Stunden aus dieser Zeit, wo seid ihr? Ich war ausgefüllt von innerem Erleben und Gesichten, getragen von Fülle und Licht ohne Ende, und wußte es kaum. Die Dinge der Umwelt zogen fremd an mir vorüber, ich beachtete sie nicht und begreife heute schwer, wie es hat möglich sein können, daß ich mein äußeres Dasein ohne Not fristete. Es geschahen Wunder, aber ich empfand sie nicht, merkwürdige Umstände traten ein, die mir alles erleichterten und möglich machten, ich nahm sie hin, als seien sie selbstverständlich, wie das Tageslicht oder die Luft. Wenn ich heute zurückdenke, so staune ich mit heimlichem Erzittern, und wo ich einst kleine Geschehnisse verwundert belächelte und ihnen kaum Beachtung schenkte, wo Fügungen eintraten, die ich Zufälle nannte, ohne mehr als einen Blick auf sie zu verlieren, die ich rasch vergaß und ohne Dank hinnahm, da sehe ich heute himmlische Engel, die in gewaltiger Macht Abgründe überbrückten und Berge versetzten, die die Nacht zum Tage machten und meine Augen vor allzu blendendem Erstrahlen schützten. Heute erkenne ich das Gesetz, das über meinem Leben waltete, das mich, aus mir stammend, in sich verwob und ward, indem ich war. Du Eines und du Alles, was suche ich nach deinem Namen? Es war alles gut! Das ist dein Name.

Eines Abends, als ich von Asja kam, empfing meine Zimmerwirtin mich wartend in meiner Kammer. Sie schien sich im Raum umgesehen zu haben, der Schrank stand offen, ich verschloß ihn für gewöhnlich nicht, da er leer war. Sie hatte ein paar Wäschestücke in der Hand, die aber wahrscheinlich nicht mir gehörten, und schien auf dem Tisch umhergesucht zu haben. Als sie mich ansah, erstarben der Unwille und die Besorgnis auf ihren Zügen, sie lächelte und setzte sich auf den Bettrand.

»Soll das so weiter gehen?« fragte sie mütterlich.

Ich beschloß alles einzusehen, um den Wohlstand ihres Gesichts nicht zu stören und sagte eifrig:

»Ich werde es ändern, es wird schon gehen.«

»Sie gehen nicht mehr in die Druckerei?«

»Nein, das nicht, ich habe zu tun.«

»Ich weiß nicht, auf was für Wege Sie so plötzlich geraten sind,« sagte sie, »aber Abwege sind es nicht.«

Ich schwieg.

»Ich möchte Sie um etwas bitten«, fuhr die Frau fort und sah ein Bild an der Wand an.

»Es soll alles bezahlt werden«, entgegnete ich rasch. »Noch ein paar Tage und ich habe Geld. Ich werde es bestimmt bekommen.«

»Woher denn? Aber das wollte ich nicht bitten. Vor ein paar Tagen haben Sie mir von ihrer neuen Freundin erzählt, von der Kranken. Wie geht es ihr?«

»Krank?« fragte ich erstaunt, aber dann besann ich mich, und antwortete auf ihre Frage.

Die Frau sah mich still und aufmerksam an. Ihren Namen habe ich vergessen, aber ihres Gesichts erinnere ich mich noch gut, jedoch nur deshalb, weil in seinen Zügen einst ein Widerschein meines inneren Erlebens stand. Sie schien verlegen und fuhr unbeholfen fort:

»Sie haben mir vor ein paar Tagen von diesem Mädchen erzählt. Wie war doch ihr Name?«

»Asja.«

»Ja, Asja. Jetzt denke ich daran und beschäftige mich damit. Ich wollte Sie nicht wegen Ihrer Schuld mahnen, deshalb bin ich nicht gekommen; meine Bitte geht dahin, Sie möchten von Asja noch erzählen, nur so dies und das, was sie sagt und von ihren Ansichten.«

»Gewiß,« sagte ich rasch, »aber natürlich.«

»Früher«, fuhr sie fort, »waren Sie stumm und fast verschlossen, gingen und kamen wie ein Schatten, aber Sie hatten, was Sie brauchten. Jetzt sind Sie ärmer als ein Straßenbettler, essen nicht, Ihre Kleidung verkommt, Ihr Gesicht ist elend, aber Sie sind fröhlich. Nicht daß Sie lachten oder scherzten, aber man spürt es und weiß nicht wie, es bleibt im Zimmer zurück, wenn Sie fortgegangen sind, es kommt die Stufen herauf, wenn Ihr Schritt klingt.«

Sie schwieg befangen und erweckte den Anschein, als schäme sie sich, oder als habe sie sich verirrt. »Ich meine ja nur so,« sagte sie und lächelte ausgleichend, »nehmen Sie es nicht übel, junger Herr. Ich bin nicht arm, lebe mit den Mietern und arbeite, aber das Leben wirft nichts Besonderes für unsereinen ab und man hört gern solche Dinge, wie Sie erzählt haben. Daß einer glücklich ist in seiner Lebensnot, wie dies Mädchen ... Sie werden schon verstehen.«

Ich schwieg und sah in das abendliche Licht des Hofs hinaus. Die gegenüberliegende rötliche Ziegelwand mit ihren kahlen Fenstern lag im spätherbstlichen Dämmerlicht, und vom Hofe herauf drangen Geräusche und Stimmen, es wurden Kisten verladen und in den dumpfen Lärm der Fuhrwerke drangen Kinderstimmen, dieser grelle, leere Jubel, der sinnlos und wehmütig klingt, wie das Zwitschern gefangener Vögel hinter den Stäben ihrer Käfige.

Meiner Wirtin mochte sein, als sei sie nach ihrer ihr selber kaum verständlichen Bitte noch etwas schuldig.

»Denken Sie nicht an die Miete und das Essen,« sagte sie, »wer entbehrt denn etwas, es wird schon ins Reine kommen. Wenn ich bisweilen am Abend mit der Lampe kommen darf und Sie erzählen mir, sprechen wie damals, aus der Seele und froh, so soll es gut sein.«

Ich nickte und blieb dem Fenster zugewandt. Im spiegelnden Glas sah ich, wie die Alte sich vorbeugte und zur Seite, um zu erkunden, ob ich mit Wohlwollen oder widerwillig zustimmte. Dann ging sie still hinaus. —

Ich fand Asja am andern Nachmittag schlafend. Das Zimmer schimmerte still im Licht des ersten Schnees, der vorzeitig gefallen war und auf den schrägen Dächern draußen lag, den grauen Himmelsschein über sich. Im Herd brannte ein Holzfeuer, das Zimmer war warm und licht und schien sonderbar leer. Ich war darin nun längst ein vertrauter Gast, und auch die Mutter hatte sich an meine Gegenwart gewöhnt, froh darüber, daß ihr Kind in den langen Stunden ihres Fortseins Gesellschaft und Unterhaltung fand. Sie achtete unsere Angelegenheiten mit einer Art ehrfürchtiger Scheu, ohne Eifersucht, aber ein klein wenig zögernd und ablenkend, als gäben wir uns Hoffnungen hin, die enttäuschen müßten. Aber sie schien längst damit abgefunden, daß ihre Tochter in einer anderen Welt lebte als sie selbst, und so wenig sie früher besondere Teilnahme gezeigt hatte, so gleichmütig beachtete sie die meine; zumal da Asja in ihrer Gegenwart mit derselben Gelassenheit und Selbstverständlichkeit sprach, in der sie früher geschwiegen hatte. Sie empfand meine Schonung und Sorgfalt gegen ihr Kind, und nur zuweilen sah sie erstaunt in Asjas leicht erglühtes Gesicht, lächelte nachsichtig, wohl auch ein wenig stolz, und riet zu Ruhe und Schlaf, wie der Arzt es sie gelehrt hatte. Mit den ein wenig aufs Materielle gerichteten Sinnen einer alternden Frau, die die Last des täglichen Erwerbs und den Wert der kleinsten Münze kennt, vermutete sie hinter meiner Erscheinung mehr und anderes, als sich ihr durch den Augenschein bot, denn sie hatte Sinn für den Gegensatz, in dem meine Sprechweise und mein Benehmen zu meinem bedürftigen Wandel standen.

Ich war an jenem Tag noch von der Frühe her bekümmert und sorgenvoll, wie so manchen Morgen hindurch, den ich allein verbrachte und nicht zu verwenden wußte, da er ein einziges Warten auf die Stunde war, in der ich Asja zu Gesicht bekommen sollte. Auch war ich zu jung und ungebärdig, als daß ich in solchen Stunden des Alleinseins ein volles Genüge an meinem Leben und Denken empfand; mächtiger als je drängte alles in mir zu Entschlüssen und Taten, ziellos stand ich im Walten eines bohrenden Triebs, und meine Ruhlosigkeit peinigte mich übermächtig, solange ich nicht Asjas Hand und Augenlicht auf meiner Stirn fühlte. Es war ein erstes Bewußtsein von Verantwortlichkeit, das sich vor ihrem Herzensgut erhob; ich war voll seligen Eifers, aber ohne Geduld. Meine hohen Entschlüsse setzten mich oft in heiliges Feuer, aber es lohte sinnlos in mir empor, wie ein Reisigfeuer auf einer Frühlingswiese, dessen Glut nur die Überreste des verflossenen Jahrs verzehrt, aber keinen Keim des Bodens fördert.

Ich schritt leise durchs Zimmer, legte lautlos Holz aufs Feuer und sah kniend zu Asja hinüber: sie schlief fest. Wie meistens lag sie grade ausgestreckt auf dem Rücken, und die leichte Decke ließ die Linien ihres Körpers erkennen. Sie war nicht groß, und das farblose Gesicht mit dem überschmalen Kinn lag im Nachtgrund des offenen Haars, das den Scheitel mit den Schultern verband, und grade von der Decke abgeschnitten wurde, merkwürdig feierlich, wie nach einem Gesetz. Das Schneelicht machte das Zimmer seltsam unwirklich, es lag jene Erneuerung aller Dinge im Raum, die mit dem ersten erkennbaren Wechsel der Jahreszeiten eintritt, und die solchen Menschen, die allein leben, oft wie ein Rücken des Zeigers an der großen Lebensuhr des Daseins erscheinen kann.

Ich nahm meinen Stuhl sacht vom Tisch fort, stellte ihn an Asjas Bett und ließ mich nieder. Auf dem kleinen Tisch neben ihrem Bett lag ein Stück Brot, von dem die Hand ein Stückchen abgebrochen hatte. Obgleich ich in Armut lebte und das Brot in dieser Gestalt kannte, bewegte mich sein Anblick an Asjas Bettstatt bis in die Tiefen der Seele, ich begriff nicht, woher die schmerzhafte Bestürzung voll Rührung kam, und sah das Brot an, als verklagte es mich.

Aber je länger ich es betrachtete, zur Stille genötigt durch die gleichförmige Lebensmelodie der Atemzüge der Schlafenden, und je andächtiger ich in dies Gesicht sah, um so inbrünstiger begannen dies Brot und dies Angesicht zu mir zu reden und trösteten mich.

Du Brot bewegst mich nicht, weil du Armut verrätst, dachte ich, denn es ist meiner Rührung eine Gewißheit zugetan, die keine Bekümmernis ist. Du bist das ewige Maß, nicht Fülle noch Entbehrung, sondern ein edles und einfaches Genug. Du bist das Sinnbild der mächtigen Ausmaße der Seele und des Geistes, du erhältst, ohne zu gefallen und ohne zu schmeicheln, du befriedigst, ohne daß Aufwand oder Fülle die Kräfte beanspruchen, du forderst keine Beachtung, und die Selbstverständlichkeit deines Gebens wehrt dem Unfrieden. Wie begreife ich, daß einst Christus dich und dein Wesen mit dem seinen verglich, daß er dich brach und gab, wie auch sich, als er das Opfer seiner Liebe und Erkenntnis feierte. Du bist das Sinnbild der Erhaltung, der Wandlung und Wiedergeburt, Abschied und Auferstehung.

»Warum siehst du das Brot an?« fragte Asjas Stimme plötzlich in mein verlorenes Sinnen hinein, »bist du hungrig?«

»Ich habe ewig, ewig Hunger!«

Sie richtete sich auf, kam mir nah mit dem durchscheinenden Licht ihrer unstillbaren Augen, und verlangend, fast zornig, sah es mich unter den angstvoll zusammengezogenen Brauen an. Die forschende Gier ließ mich erschauern. Da senkte sie mit einem unaussprechlichen Lächeln ihre Stirn auf meine Hand:

»Ach, Bruder ...«


Aber die schwermütigen Bewegungen, in die mein Geist geriet, und die Beunruhigungen, die mit meiner Liebe zu Asja über mich kamen, zerstörten mir die letzte Eintracht, in der ich mich zu den Dingen meines Lebens geglaubt hatte, und so gering meine Zufriedenheit gewesen sein mochte, nun erst spürte ich, daß ich aufgescheucht worden war. Wie handle ich nun töricht, dachte ich oft, daß ich mich auf einen fremden Weg locken lasse. Stehe ich denn im Zeichen des Abschieds, oder im Zeichen des Beginns? Aber dann war mir, als begänne mit allem bewußten Leben in uns Menschen der Abschied und als erwachten wir nur zur Erde, um Abschied von ihr zu nehmen. War denn, gemessen am Gang der Tage und Jahre, das Stündlein Zeit, das ich vielleicht länger verweilte, als diese zum Abschied so froh Gerüstete, gar so groß und gewichtig, und flogen die Stunden nicht eilig und unaufhaltsam dahin, von Hoffnung zu Hoffnung getrieben, und rissen mich mit auf einem fremden Weg, der nicht der meine war? Und so beschäftigte mich der Sinn dieses eigenen Wegs, den ich suchte, und ich sagte es Asja:

»Ich finde den Weg nicht!«

Sie richtete sich auf und sah mich an. Ihre Augen schienen zu fragen, zu forschen, weit in die Welt hinaus, und nichts von der Antwort zu wissen, die sie gab. Es war Abend, auf dem Tisch brannte eine Kerze, von draußen hörte man den schon winterlichen Wind, und Asjas Bett war ein wenig vom Fenster abgerückt worden, das von unten her zum Teil verhängt worden war, so daß es kleiner und höher erschien. Wir waren allein und hatten lange Zeit geschwiegen, bis die Stille des ruhenden Angesichts mir mehr und mehr zum Spiegel meiner qualvollen Lebensunruhe ward und mich zugleich ermutigte, das Schweigen zu brechen.

»Den Weg?« fragte sie langsam, »du suchst etwas vor dir und um dich her, was du selbst sein sollst. Wenn nicht du selbst der Weg bist, so findest du keinen, bist du es aber, so suchst du nicht mehr. Der Weg für was oder für wen, fragst du mich? Ich will es sagen: der Weg der Liebe. Mehr kann niemand finden und sein, und alles andere Suchen verlohnt sich keiner Lebensmühe, es macht arm und führt mehr und mehr zur Verlassenheit.

Bedenke doch recht, wieviele Wege du gefunden, verworfen und längst vergessen hast. Aber dann sieh weit, weit hinaus, und betrachte das Verlangen und die Worte der Erkenntnis derer, deren Namen die Erinnerungskraft der Menschen bewahrt hat. Aus ältester Zeit her klingt das Wort: der Weg. Keiner der Vollendeten suchte oder nannte den Weg; forsche nach, sie alle riefen: Ich bin der Weg! Begreife nun, welche Gewißheit diese Worte bergen, die Flut der Liebeskraft zog durch sie in den großen, lebendigen Strom der Liebe zurück, den wir Gott nennen. So nur ist er. Glaube mir, die Liebe ist nicht ohne deine Liebeskraft, erst du und alle sind sie. Der Liebe kein Hindernis zu bereiten, das ist der Gehorsam, der zur Vollendung führt. Sprach nicht auch Christus: Ich bin der Weg? Die Menschen verstehen dies Wort, als hieße es: Ich bin der Weg für euch. Nicht so ist Wahrheit darin, sondern es bedeutet, daß er selbst der Weg der Liebe ist, die durch ihn hindurch, ohne Hemmung, in die Welt scheint. Und fährt er nicht fort, in der Zuversicht jener Allmacht, die ihn mit diesem Gehorsam durchdrang: Ich bin die Wahrheit und das Leben? Seine Worte bedeuten: Ich habe der Liebe kein Hindernis bereitet, sie strömt durch mich, ihren Weg, so rein in die Welt, daß ihr Wesen offenbar wird, wie Gottes Wesen. So nur vermochte er frohen Sinns zu rufen: Wer mich sieht, der sieht Gott, der sieht die Liebe. Meinst du, dies sei sein Vorrecht gewesen? Es ist das deine. So suche nun keinen Weg mehr, die Erde hat keine Wege, die zur Ruhe führen, aber du bist der irdische Weg Gottes, seine Offenbarung und Auferstehung, sein Leben ... die Seele ist Maria.

Oft liege ich still, im Tageslicht oder in der Dunkelheit der dahinziehenden Nacht, und Gedanken kommen zu mir, wie Lichtvögel, farbige Bilder voll Helligkeit und Gewißheiten, die mich so erfreuen, daß ich schluchze. Ich liege in ihrem Glanz, wie der Tauschnee in der Sonne, fühle mich dahinschwinden, aufsteigen und schweben, in unfaßlicher Gestalt. So dankbar ist das Herz in solchen Stunden und die Zeit ist nicht mehr. Dann weiß ich, daß ich nicht sterbe und nicht den Tod sehe, sondern daß ich mich verwandle, bevor ich den Tod schmecke. Das ist kein Traum und seliger Rausch, du Lieber, nicht Schwäche noch rasche Glaubenswilligkeit, es ist die Zuversicht jener Gemeinschaft, wenn ich mein ganzes Sein und Recht zum Weg der Liebe mache. Bin ich nun ganz in ihr, der Ewigen, die zu mir kam, so bin ich wie sie, ohne Anfang und Ende, ein Weg, und Wahrheit und Leben. Das sei mein irdischer Tod.«

Ihre Worte waren in ein Flüstern übergegangen und ihre Augen waren geschlossen, als schliefe sie. Im Schein der Kerze sah ihr Angesicht wie Stein aus, alt und jung, zeitlos wie eine Landschaft aus weiter Ferne und so rein wie Schnee. Ich sah das stille Gebilde aus Fleisch und Blut an und begriff zum erstenmal im Leben die Hoheit eines Menschenangesichts, dies Alles und dies Letzte der Natur, die Quelle und die Mündung ihrer Fülle, das Sinnbild ihres Triumphs. Vom Keim auf den Wiesen bis zum Glanz dieser Stirn, welch ein unnennbarer Weg! Und der Weg ward mir im zweifachen Sinn deutlich, und zum erstenmal war mir, als formte sich in meiner Seele ein Gebet, nicht in Gedanken und in Worten, sondern im Geist und in der Wahrheit. —

Oft, wenn die Kerze niedergebrannt war und die Mutter längst in ihrer Kammer schlief, wenn die Nacht zu uns kam, und ich im Dunkel nichts mehr erkannte, war mir, als sähe ich Asja deutlicher, als jemals am Tage. Zuweilen lag ihre Hand in meiner und wir schliefen beide, sie auf ihrem Lager, ich in meinem alten Korbsessel, der bei jeder Bewegung knisterte. Brannte im Herd noch das Feuer, so umflatterte uns der Widerschein von den Wänden, zeigte uns einander und verbarg uns, aber unsrer Nähe taten Licht oder Finsternis nicht Schaden an, sie war im Schlaf und Wachen der Zustand unsres Daseins.

Oft war mir, nach solchem Ruhen, wenn ich erwachte und sandte meine Gedanken erneut zu den Dingen hinüber, die uns zuvor beschäftigt hatten, als seien sie mir nun verständlicher geworden und nähergerückt, obgleich nichts zu ihrer Erklärung getan war, als jene von allem Denken unabhängige Hingabe, die in der Wohltat der Ruhe lag, Hand in Hand.

Mir kamen über solcher Erfahrung merkwürdige Gedanken, wunderartig und flüchtig, Visionen und geheimnisvollen Einsichten vergleichbar, voll Trost. Eine neue Macht erhob ihr Morgenglühn an den fernen Horizonten meiner Erkenntnis, ich ahnte einen herrlichen Aufgang des Lichts und vergaß alles, was nicht von diesem Licht beschienen wurde. Krankheit, Schmerz und Tod, dachte ich, wo seid ihr in diesem Morgenrot, diesem Lächeln der hohen Berge der Zuversicht, die keinen Namen haben, die aber, dem Auge des Geistes erreichbar, alles gering erscheinen lassen, was nicht im Glauben an die Allmacht der Liebe liegt. —

So erstand uns in den armen vier Wänden dieses kleinen Raums eine Welt, die keiner andern Welt zu vergleichen war, die uns von Himmel und Erde abschloß, aber die ihren eigenen Himmel und ihre eigene Erde hatte. Unsere Gemeinschaft kam und wuchs so selbstverständlich heran, wie das Tageslicht anbricht, sie war von großer Herbheit und so ernst, wie nur die Jugend zu sein vermag.

Wenn ich nachts, am Abend oder am Tag diese Welt verließ, so kam ich mir verirrt vor und wie ein verstoßener Fremdling, aber so zuversichtlich und geborgen zugleich, wie ich es im Leben nicht wieder empfunden habe. Ich wußte das große Geheimnis, daß die Welt nicht an den Erscheinungsformen, die unsere Sinne wahrnehmen, ermeßbar ist, sie wurde mir frühzeitig zu einem Gleichnis und ich fühlte, was uns allein heiter und wahrhaft gerecht macht. Ich stellte keine Anforderungen, deren Gegenstand mir zugute kommen sollte, an diese Welt umher, und wußte doch, daß ich nicht verzichtete und kein Opfer brachte. Darüber begriff ich, daß nicht der Verzicht uns beruhigt, sondern die Einkehr. Ich will in der Welt nur wiederfinden, was ich bin, dachte ich, nicht aber von ihr empfangen, damit ich sei. Wer sich kennt, findet die Welt nicht fremd, wer in ihr erst sein Teil sucht, verliert sich in ihr.

Wenn ich mich aber fragte: Was bin und was habe ich denn? so wußte ich nur zu sagen, ich liebe aus tiefster Seele und habe Gemeinschaft. Und darüber begriff ich mit heißem Erzittern, daß dies alles sei. So sagte ich denn zu meinem Herzen für immer: Was dich die Liebe nicht lehrt, das sollst du nicht wissen.

Aber es kamen Stunden, in denen mich der glühende Wunsch ergriff, Herz und Mund zu öffnen, um alle an dem teilnehmen zu lassen, was mich erfüllte. Mir erschien es, als brenne und verlösche ein Licht im Verborgenen, und ich müsse aufstehen und seinen Schein verkünden. Ich sprach darüber einmal mit Asja, voll Ergriffenheit und betört von Eifer. Sie sah mich an, als verstünde sie mich nicht, endlich erfaßte sie, was ich meinte und sagte:

»Hast du etwas zu sagen, das schön und wahr ist, so ereifere dich nicht, sage einfach und geduldig, was dich bewegt, und bemühe dich nicht, der Wahrheit Flügel zu verschaffen, damit sie zu den Menschen dringt; das ist die Besorgnis des Zweiflers. Was dagegen Wahrheit ist, ist es nur deshalb, weil es längst Teil und Gut aller Wahrhaftigen und Erkennenden ist. So sprich nur, als sprächest du zu Brüdern. Alles andere ist Torheit.

Frage nicht danach, ob die Menschen dich verstehen, darauf kommt es nicht an, sondern darauf, daß du sie verstehst. Wappne dein Herz nicht, gib es ruhig dahin, sein Heldentum ist ohne Waffen. Aus Quellen, die sich hell und wehrlos in die Täler stürzen, wird der große Strom, das Meer, das Reich. Nur wer auf solche Art sein Herz preisgibt, weiß, was er tut, wenn er spricht: Dein Reich komme.

Oft will es mir erscheinen, als seien die wahrhaftigen Menschen unsrer Zeit, in der Gemeinschaft ihrer Geistesentwicklung, heute noch nicht weiter gekommen, als bis zu dieser Bitte. Das Vaterunser mißt die ganze Geschichte des Reichs aus, zugleich den einfachen Tag des Lebens. Es betrifft zugleich die Stunde der Gegenwart, das Wesen der Welt und dein Wesen, von der Geburt bis zum Tode. Es ist prophetisch wie sonst kein Wort und einfältig wahr, wie alles Prophetische. So ist es zugleich von Anfang bis zu Ende auf diesen Tag zutreffend, wie es ein Sinnbild der Bahnen aller Geisteskulturen ist, und endlich der Menschheitsgeschichte selbst. Liegt nicht das >Geheiligt werde dein Name< in Opfern, Weihrauch und Domen hinter uns, so sichtbar, als stünde es mit großen Zeichen über der Vergangenheit? Es wird eine Zeit nach uns kommen, die wird im Zeichen des dritten Worts stehn, das lautet: »Dein Wille geschehe.« Wie weit, weit liegt noch die Zeit, in der den Menschen das tägliche Brot die einzige Bitte wird, wo sie keines anderen irdischen Guts mehr bedürfen, wie nah werden sie der Liebe sein! Welch eine Zeit aber wird endlich anbrechen, die mit Zuversicht ausruft: Nun ist dein das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit.«

Sie schwieg eine kleine Weile und fuhr dann fort, wie im Bannkreis eines deutlichen Bildes:

»Es ist wahr, tausend Jahre sind wie ein Tag. Nicht an Zeit, sondern im Wesen, das ist das Geheimnis. So sind Gegenwart und Zukunft, Zeit und Ewigkeit einig, einig in einem Sinn, der sie läutert und der ich bin.«


Zuweilen, wenn ich von Asja kam und der Tag noch dauerte, durchschritt ich die Straßen der lauten Stadt, mischte mich unter Menschen und betrachtete ihr Tun und Treiben, als sei ich in eine ganz neue Welt verschlagen, auf einen fremden Stern. Und ich empfand, wie gut es sei, dies hier und da zu können, der große Abstand tat mir wohl und öffnete meine Augen. Es war kein Unfriede in meinem Bewußtsein, ihnen in der Nähe des Tages fern zu sein, und ich unterschied zwischen ihnen und mir ohne Groll.

Nur wenn langsam ein schlummernder Sinn der Zugehörigkeit, bei langem Verweilen unter ihnen, in mir neu erwachte, kam ein sonderbares Lächeln auf, das ich fürchtete. Es entstand gewissermaßen ohne mich in mir, und ich ward unruhig und oft zornig vor Sorge.

Dann dachte ich: Asja, deine Welt wird in mir versinken, diese große Welt, die nur der Jugend aufglüht. Bin ich nicht einzig fähig und erbötig, in ihr zu wandeln, weil ich jung und ohne Erfahrung bin? Wie aber vermag ich zu sichern, was du mir gegeben hast, wo ist das allgemeine Geistesland der Einsicht, Erkenntnis und Bestätigung? An Stelle deiner Güter werden mich die Tage mit ihrer Wirklichkeit, mit Stundengewalt und nüchternem Ermessen wieder in ihren Bannkreis ziehen und beherrschen. Ich werde wieder bereitwillig in das feine, verächtliche Lächeln einstimmen, in dem Satan triumphiert und das den Tod so gewaltig erscheinen läßt, daß wir ihn nicht bedenken können. Die nahen Menschen mit ihren wohlbegründeten Rechten, die Uhren und die Pflichten, der Ernst dem Geringen gegenüber, das vergeht, und die zugeständnisreiche Geselligkeit, die als Tugend gilt, alle werden sie wiederkehren, denn sie sind eine gewaltige Macht. Ich werde denken, wo war ich nur, was trieb und beherrschte mich, wie habe ich so entfremdet abschweifen können und mich so weit verirren? Und ich werde vergessen, daß ich in der Heimat war, denn ich weiß nicht, was dir Kraft gibt, allein zu sein und im Hellen zu verharren.

So sagte ich auch dieses eines Abends Asja, wie groß doch mein Vertrauen war. Ja, es ist die Zeit meines Lebens gewesen, in der ich nicht allein war, aber ich wußte es damals nicht, denn wir Menschen haben weit mehr Sinn für das, was uns fehlt, als für das, was wir besitzen. Die wahrhaft Einsamen aber wissen für gewöhnlich nicht, daß sie es sind.

Ich sah nicht, wie schwach und bleich Asja war, erst viel später, als ich mich einzelner ihrer Worte im Besonderen erinnerte, tauchte auch ihre weiße Stirn wieder vor mir auf, der farblose Mund und die übergroßen Augen. Ich sah und empfand nur die lebendige Kraft, die von ihr ausströmte, und nahm sie gierig und wie mein Recht an. Es war gut so und nach ihrem Willen, und es ist aller Menschen Recht, die Flamme zu sehen und nicht den dahinwelkenden Docht.

Sie sagte mir auf meine Frage:

»Ein rechtfühlendes Herz ist der Mittelpunkt der ganzen Welt, es gibt kein Bett der Ordnung und Ruhe, das ihm zu vergleichen ist, und vor seiner Echtheit ordnet sich immer wieder das Weltgeschehen. Nur, nur daran, sonst wäre die Erde längst ein Trümmermeer und die Menschen hätten einander vernichtet. Auch das Wissen ist ohne das Herz kein Trost, es ist wie eine Leiter, die in die Helligkeit gebaut wird und endet bald. Erst wenn sein Geistesweg ein echtes Gemüt umkreist, ist es ein seliger Ring der Freude, selig durch die Bewegung, nicht aber durch das Ergebnis, denn die Bewegung in ihm selbst ist das Ziel, nicht aber ein Ziel als Ende und Zweck. Ein echtes Gemüt aber ist Quelle und Weg der Liebe, sieh, so ordnet Gott, der die Liebe ist, die Welt.

Es hat keine Zeit gegeben, in der die Hoffnung der Besten nicht wahr und erhaben gewesen ist, es kann keinen Gott gegeben haben, der nicht aus dieser ordnenden Kraft der Liebe war. Die Bilder der Götter, die versunken sind, verstehen wir nicht mehr, aber das Herz ist älter als alle Götter, sein Gleichtakt im Licht und in der Wahrheit ist die Stimme und endlich die Gestalt der Gottheit. Die meisten Menschen brauchen ein Bild von Gott, das sich in der Schwäche ihrer Herzen spiegelt, aber in einem starken Gemüt haftet kein Bild, sondern nur Licht und Wärme. Darum sorge dich nicht, daß du vergessen oder dich verlieren möchtest, denn das Herz weiß das Gleichnis vom Wesen zu unterscheiden und den Schattenriß vom Angesicht.

Was fragst du mich nach Zeit und Ewigkeit, nach Ursprung und Ende! Wir wandern durch den Sonnenschein, die Hand voll Wiesenblumen, hören die Lerche — und suchen den Frühling. Verwirf alles, alles, Bruder, und schlag die Augen deiner Seele auf, ist Liebe in deinem Herzen, so offenbart sie dir dein Teil. Dann rufst du aus: Es ist alles geschehen, es ist alles gut, es ist vollbracht.«

»So sag' mir noch ein Wort, nur ein Wort über die Auferstehung, Asja!«

Ich war in heftiger Erregung und mir war zumut, als sei meine Wißbegier in ein Mißverhältnis zu meiner Andacht geraten, als kniete ich nicht am Altar, sondern als lüftete ich den Vorhang zum Allerheiligsten. Ich empfand, daß ich falsch fragte, daß ich kleine und törichte Maße der Einsicht in den Lichtstrom dieser Seele stellte. So beruhigte es mich fast, daß Asja nicht antwortete, obgleich meine persönlichen Liebespflichten und mein unpersönliches Verlangen nach den Wundern ihrer Worte sich oft miteinander vermischten, so daß ich sie nicht mehr zu scheiden vermochte.

Asja wandte sich ab gegen die Wand, die Linie ihres Nackens und der Schulter, unter dem Haar, verrieten mir eine Miene schweren Leides. Ein unerklärliches Schuldbewußtsein machte mich unsicher, und aus solcher Unsicherheit heraus wiederholte ich meine Frage beinahe unfreundlich. Aber die Herausforderung meiner Stimme weckte nicht ihren Unwillen, sondern ihre Güte. Sie wandte sich mir wieder zu und sah mich an:

»Wie mag ein Mensch fragen, was Auferstehung ist, dessen Seele nicht in der Schmerzensfinsternis ihres Grabes liegt? Fragt derjenige, der nicht gefallen ist, die Vorübergehenden, wie er sich erheben könnte? Wer aber nur deshalb fragt, weil er fürchtet, er möchte einmal fallen, der wird keine Antwort erhalten, denn er fragt aus Furcht, und Furcht ist nicht in der Liebe. Aber die Liebe, die in der Welt allein zu antworten vermag, kann nur der Liebe antworten. Sieh, das ist der Irrtum der Jahrhunderte, in denen unsere Geschlechter um Freiheit ringen, daß sie hoffen, die Liebe möchte der Lieblosigkeit Antwort geben. Nur wer aus der Wahrheit ist, hört die Stimme der Wahrheit, nur wer aus der Liebe ist, hört die Stimme der Liebe. Ich kann dir auf deine Frage nicht antworten, denn meine Antwort ist heilig, aber deine Frage ist es nicht. Jedoch die Stunde wird kommen, in der die Finsternis der Welt über dir zusammenschlägt, wo du im geistigen Tode am Boden liegst und weder fragen noch hoffen kannst. Dann will ich zu dir kommen, ich, deine Liebe, und zu dir sagen: Stehe auf!«


Erst darüber, daß ein Widerschein von Asjas Wesen sich in dem meinen kundtat, und daß andere ihn wahrnahmen, begriff ich recht, welch wahrhaftige Heiterkeit von ihrem Wesen ausging. Ich war in meiner Kindheit und Jugend zu eng in die Bereiche einer rasch zufriedenen und kampflos bescheidenen Frömmigkeit geraten, als daß ich nicht eine leidende Abwehr und einen an Widerwillen grenzenden Zorn vor jener Bescheidung in einer Gottseligkeit empfand, die nur Bestand hatte, weil ihren Trägern alle wahrhaftigen Ansprüche fehlten, und weil sie die Natur dadurch zu überwinden glaubten, daß sie sie leugneten und verrieten oder verachteten. So erhoben sich meine Forschungen vor den Quellen des Glücks dieser Seele oft bis zum Haß und mein Widerspruch bis zur Bosheit, ich wollte ihre Ansprüche kennen, bevor ich ihr Genügen guthieß, und war darin um so stürmischer und ungerechter, als ich die meinen noch nicht kannte.

Dann wieder, wenn die herbe Einfalt dieser einfachen Verkündigung mich überwunden hatte, bat ich ihr zerknirscht und meinen Trotz verwünschend meine Zweifel ab, aber sie zürnte mir nicht und war weit eher erstaunt als nachsichtig.

»Nie wird die Liebe Klage darüber führen, daß ihrem Licht widerstanden wird«, sagte sie einfach und ohne ihre Worte in den Widerstreit meiner Gedanken zu führen. Sie sagte sie wie für sich, und ihre beinahe arme Gebärde der Verzagtheit, die sie nur selten verbarg, wenn sie sprach, gaben der Wahrheit ihrer Worte etwas vom Himmelsschein auf fernen Angern der Welt, die nie ein Mensch betritt.

Aber wie jedes absichtslose, in sich selber selige Erkennen unsern Geist weit lebendiger anzieht und mächtiger fesselt, als alle, noch so leidenschaftlich und glühend ins Feld geführte Überredung, so erwachte und entflammte meine Wißbegier weit lebendiger in Asjas herber Zurückhaltung, als sie je vor ihrem Wunsch sich mitzuteilen erstanden wäre.

Am meisten beschäftigte mich nach allem, was ich gehört hatte, Asjas Stellung zu den Worten und zur Gestalt Christi, dessen Name und Aussprüche sie oft in so merkwürdigen Zusammenhängen erwähnte, daß es mir zuweilen, um der einfach menschlichen und vernünftigen Auffassung willen, fast praktisch und ins tägliche Dasein verwoben, dann wieder von solcher Inbrunst der Liebe erhoben vorkam, daß ich lange kein klares Bild zu gewinnen vermochte. Ich beneidete sie zuweilen um ihre von keinem Vorurteil bedrängte Art, seine Erscheinung und seine Wirkung nicht anders zu nehmen, als sie die irgend eines sonstigen weisen und großen Menschen hinnahm, verehrte und wiedergab.

Sie war auf eine für unsere Zeit ungewöhnliche und durch keinerlei Vorurteil beeinträchtigte Art an die Evangelien gekommen, erst in gereifter Jugend, und ohne in ihrer Kindheit jemals ein Wort daraus vernommen zu haben oder gar belehrt worden zu sein. Sie fand dies Buch eines Tages im Winkel eines vergessenen Schranks, als das Haus ihres wohlhabenden Vaters nach seinem Tode mit seiner ganzen Habe in die Hände fremder Menschen überging. Sie las es mit Erstaunen, begierig und eifrig, aber ohne eine andere Not der Seele, als diejenige, welche der Durst nach geistigem Gut in einem echten Gemüt hervorbringt.

Wohl hatten Asjas Worte an mich, einst zu Beginn, ein fruchtbares Leben in meiner Gedankenwelt entfacht, aber ich begriff die Einheit dieser in ihr wirksamen Erscheinung Christi nicht, und mein Wille, ihn ruhig zu betrachten und auf mich wirken zu lassen, wurde immer wieder durch die Vorstellungen getrübt, die man mich anzuerkennen gelehrt hatte, und durch die Bilder, die mich von Kind auf begleitet hatten. Ich entschloß mich schwer zu einer direkten Frage aus jener Schamhaftigkeit heraus, die die erklärliche Folge der absichtsvollen Entstellungen ist, unter denen wir genötigt waren, uns seinem Bild zu nähern. Es mochte hinzukommen, daß mein Gemüt in dieser Zurückhaltung den Anschein vermeiden wollte, als habe es Gemeinschaft mit allen denen, die den großen Namen nennen, um ein kleines, armes und unerprobtes Herz zu bemänteln.

Aber die Natur unserer Gespräche brachte es doch mit sich, daß ich meine heißen Fragen, denen schon so klare Antwort gegeben worden war, zweiflerisch wiederholte, denn einem jungen Menschen ist eine allzu endgültige und umfassende Antwort oft ein zu schwerer Baustein im Gebilde seiner Entwicklung und er verwirft ihn mit Recht und nicht mit Unrecht, wie die Weisheit jener Abgeschlossenen lehrt, die sich niemals in einer eigenen, sondern nur in fremden Welten bewegt haben.

Asja sah lange vor sich hin, als warte sie auf etwas, ihre Züge nahmen an Trauer und Hilflosigkeit zu und sie begann stockend:

»Ich denke wohl darüber dies und jenes, aber ich vertraue meinen Gedanken nicht. Sie erscheinen mir wie dahinziehende Wolken, und was sie mir an Klarheit bringen, liegt nicht in ihnen, sondern über ihnen und scheint erst durch sie hindurch, sobald sie sich lichten. Mir ist dann, als sei diese Helligkeit über ihnen immer vorhanden, vielleicht gewinnt sie ihre Gestalt durch die Gedanken, aber nicht ihr Wesen. Dann fürchte ich mich aber auszusprechen, was ich erschaue, denn mir ist, als sei es längst und immer das Gut und Eigentum aller Wahrhaftigen und entstünde nicht durch mich, sondern käme nur auch zu mir, in jenem kleinen Teil, den ich zu bergen vermag. Zu reden aber verstehe ich immer nur zu jenem kleinen Teil, und bin voll Furcht, das hohe Wesen über mir zu entstellen. Ich glaube nicht, daß ein Mensch eine Wahrheit auszusprechen vermag, die nicht längst vor ihm Wahrheit gewesen ist und immer sein wird, glücklich sind oft Schweigende, die schauen und entbehren. Sieh, wer nicht zu glauben vermag, wähnt die Wahrheit abhängig von seiner Einsicht, aber sie ist es nicht, sie ist vom Glauben abhängig, von einem Glauben, den wir wie eine Beschaffenheit haben müssen.

Die Menschen rühmen, wie nun auch du, den Gedanken. Was aber nennen sie ihre Gedanken? Sie lassen den Wind der vergänglichen Geschehnisse durch die Kammern ihrer Brust streichen, und wenn es darin ertönt, so sagen sie: Ich denke. Wer aber macht auch nur seinen Leib mit der Welt der Sinne zum Bogen, um die Kräfte seiner Gedanken pfeilgrade ins Licht emporzuschleudern? Wo blinkt der Panzer gegen den Unrat der Welt? Wer denkt, indem er Leib und Seele der Flamme seines Geistes zur Nahrung gibt, vor Kühnheit hilflos und arm vor Ehrlichkeit?

Und selbst dies Denken, wie Feuer gebildet aus dem Mark des Selbst, ist noch nichtig, mein Freund, es bleibt ein lichtloses Gleichnis, das in Gleichnissen irrt, wenn nicht die Gnade der Offenbarung den bereiteten Geist befällt. Die Offenbarung ist nicht durch die Macht der Gedanken zu locken, sie bereiten ihr wohl den Weg, aber ihr Kommen ist Gnade. Ich glaube nicht, daß die Lichtblumen dieser Gnade nach dem Wert des Ackers fragen, auf dem sie emporblühen. Sie keimen geheimnisvoll, mit Vergangenheit und Zukunft im heiligen Bund, dort auf, wo sie wollen, nicht aber dort, wo ein Mensch will. Die Kraft des Gedankens allein hat noch kein bleibendes Geisteswerk, das schön, gut oder erhaben ist, hervorgebracht, glaube mir, keins; immer geschah die letzte Vollendung im göttlichen Spiel der Gnade, heiter und mühelos, und der Empfangende, der erwählte Herd, sprach seinen Seufzer, dessen Name Gnade ist.

Begreifst du nun, was es bedeutet, erwählt zu sein? Die Erwählten sind der Weg. Es gibt kein anderes Gesetz unserer Beschaffenheit, in dessen Erkenntnis Erlösung ruht. Nur Erlösung, kein anderer Vorteil, wie ihn die Vielen suchen, die die Geisteskraft des Einzigen in die kleine Welt ihrer Begierden vor vergänglichem Bestand getragen haben. Wie soll sich dort bewähren, wie soll dort trösten, was der Erlösung gilt?

Der Ausspruch Christi von den Berufenen und Erwählten, den ich eben in meine Worte verwoben habe, bezeichnet ihn, von ihm aus wird er auferstehen, nicht einst, sondern wieder und wieder, gestern, heute und morgen, überall, wo die Beschaffenheit eines Menschen seiner Beschaffenheit gleicht, nicht aber dort, wo seine Größe, entstellt und zubereitet, den Unberufenen dargeboten wird.

Er traf keine Bestimmungen, sondern er erkannte Gesetze und sprach sie aus, obgleich sie Bestehendes zerstörten, allein um der Wahrheit willen. Niemals aber wird ein Mensch eine Wahrheit erkennen, aus der er nicht ist. Sieh, so scheidet Christus, nach uralter Sage von der Gottheit, das Licht von der Finsternis. Er ist der Weg, auf dem die Liebe sich offenbart, er ist die Gestalt der Offenbarung. Sagte ich dir nicht, daß in der großen Dreieinigkeit der Liebe der Sohn die Offenbarung sei?

Der heilige Geist aber ist jene Gemeinschaft, die ohne Willkür und ohne Tun unter denen ist, die beschaffen sind, zum Weg der Liebe zu werden. Ihr Schein ist von einer Art, sein Strom ist das Licht der Welt. Es gibt kein anderes Licht, keine andere Gemeinschaft. Die Erwählten wissen voneinander zu ihrer Zeit selten etwas und solche Gemeinschaft hat nichts mit jener Wärme und Nähe zu tun, die wir Armen, gekettet an die Welt der Sinne, zu unserm raschen Trost Gemeinschaft nennen. Sie sind alle allein, denn die Liebe ist Glut und nicht laues Erwärmen, sie richtet sich nicht in unsern Wohnzelten ein und hat keine Zuflucht, sie fürchtet die Berührung der Leiber im Blut und im Wort. Sieh, das bedeutet es, daß auch der Sohn kein Obdach auf der Erde hatte, keine Mutter, keine Brüder. In solcher Gemeinschaft aber, wie ich sie nenne, ist der Tod überwunden, sie überdauert das Dahinsinken der Leiber, sie ist Auferstehung. Wo ist die Bitterkeit des Todes, wenn dieser Strom der Gemeinschaft nicht endet? Sieh, das wird niemand begreifen, der nicht in jener Gemeinschaft steht, er kennt ihr Wesen nicht, ihm ist der Tod mächtiger und er fürchtet ihn. Bin ich aber beschaffen, ganz von Licht erfüllt zu sein, so werde ich Licht und begreife seine Dauer. Es ist mein Empfangenes, in das ich verwandelt bin. In ihm, das ich ausstrahle, trete ich aus mir heraus, was bleibt dem Tod noch, als jene Hülle, die längst nicht mehr ich ist?

Alle aber, welche fragen: Werde ich einst hier oder dort sein, die irren. Nur in der Gemeinschaft leuchtet die Heimat. Gemeinschaft ist das große, das eine Wort des Bewußtseins, der Heilige Geist; die Quelle in der Höhe, nicht die Mündung im Tal, nicht Wiederkehr, sondern Dasein, das Heute als Ewigkeit, die tausend Jahre als ein Tag. Es gibt keine andere Erlösung. Ich war gehorsam und die Offenbarung kam zu mir, die zur Gemeinschaft führte, so sind Vater, Sohn und Geist mir zum Bild der Liebe geworden und ich sage Gott, ohne Zweifel und Angst, heiter und wahrhaftig, unaussprechlich gewiß.«

Da fragte ich: »So glaubst du nicht an die Erlösung der Unerwählten?«

»Nein,« sagte Asja, »die Unerwählten sind es, die wiederkehren, nicht die Erwählten, denn die Unerwählten sind es, die noch der vergänglichen Gestalt allein angehören, dem Wandel der Natur. Sie sind der sinkende Becher, die Verschüttung und Beerdigung, die Wehmut der Hoffnung auf eine Heimkehr, die auch sein wird, jedoch zur Erde, zur Mutter. In diese Wehmut hat die Welt die Gestalt des Einzigen verwoben, um dieses Irrtums, dieser Schuld willen sinkt die Kirche in den Staub, die sein Wort nicht verstand: Laß die Toten ihre Toten begraben, sondern die die Hoffnung der innerlich Toten unter den lebendigen Menschen auf die Gräber wies. Erkennst du im Bild der Geschichte nicht deutlich, wie Maria, die Mutter, am Altar auftaucht, jemehr der Christus selbst verhüllt und verschüttet wird, und wie der Sohn zum Kinde wird? — Er wird wieder zum Mann werden, und aus den Schleiern jener Wehmut treten, die die Erde, die Mutter, das Heimweh der Unberufenen, um seine helle Stirn gelegt hat. Sie haben ihm den Hirtenstab gegeben und das Schwert der Entscheidung genommen, von welchem er gesprochen hat, als er vom Geisteswesen seines Kommens, vom Sinn seiner Sendung redete.

Nein, er hat nichts mit dieser Wehmut gemein. Auch hat er nichts mit denen gemein, die von ihrer Hoffnung sprechen, irdisch, nach dunkler Wandlung, in erneuter Gestalt wiederzukehren. Es ist kein Licht in dieser Zuflucht, keine Erlösung, denn der Wandel der Natur hat keine Kraft über seine Kreise emporzuheben, allein der Geist. Er hat das Bewußtsein zum Bett seiner Erstehung, seine erste Gestalt ist der Glaube, als eine Beschaffenheit, ihm folgt die Erkenntnis, deren Krone die Offenbarung ist. Seine letzte Gestalt, die offenbar wird, ist die Liebe, sie ist Anfang und Ende, das heilige >Gut<, sie ist Gott. Wehe einer Welt, die glaubt, die Natur vollende sich in ihrem Wandel bis zu Gott empor. Niemals! Auch unsere nicht. Nicht wir haben die Liebe erwählt, sondern die Liebe hat uns erwählt.

Wer aber fragt, was Liebe sei, der ist wie eine Wasserwoge, die sich dem Feuer zu verbinden trachtet. Kein Strahl aber fragt nach dem Wesen seiner Sonne, denn er ist ihr Wesen.«


Es war sonderbar genug, wie Asjas Leben langsam in mir ein eigenes Leben begann, als hätte ihr Geist in meinem Einkehr gehalten, in einer mystischen Hochzeit. Ihre Worte, schwer, einfach und an Fülle der Offenbarung fruchtbarem Korn vergleichbar, sanken in mein Gemüt, keimten und blühten. Ich verlor bald den Sinn dafür, ob ein Gedanke nach ihren Berührungen aus dem Boden meiner eigenen Seele emporwuchs, oder ob ich ihn von ihr übernommen hatte, ohne eigenes Tun. Auf wunderbare Art verschmolzen mir die Grenzen unsrer Beschaffenheit in ein Lichtgebilde schöpferischer Vereinigung, und ich begriff den Sinn der Gemeinschaft.

Was für die vergänglichen Leiber die Berührungen des Bluts waren, seine Verschmelzung und Auferstehung zu einer neuen Einheit, war das im höheren Sinn die Vereinigung der Seelen durch die Offenbarung, getragen durch die Gedanken, wiedergeboren im Geist? War hier Gottes Wiege, wie dort die Wiege des Menschen war, und waren Gott und Mensch in jenem heiligen Sinn eins, wie es von Christus heißt, der ein Gott genannt wird und des Menschen Sohn?

Im Reich des Geistes aber gab es nicht Mann noch Weib, ich begriff mit Erschauern den einfachen Sinn dieser einst so dunklen Worte vom Reich, von der Ewigkeit, von jener unendlichen Harmonie, die die Heiligen der Welt ersehnten und erschauten, die ewig ist, da sie stets gegenwärtig zu sein vermag. Ich begriff Asjas hellsichtige Auffassung des Worts, daß tausend Jahre wie ein Tag sind, nicht in der Dauer, sondern im Wesen.

So gingen die Monate des Winters herum, Tag nach Tag, nicht gemessen an Daten und Stunden, nicht an Wachen und Schlafen, sondern an den Schritten in die Regionen einer innerlichen Lebenszuversicht. Ich befand mich in jenen Zeiten außerhalb aller Bedrängnisse, die durch unsere Befangenheit und Abhängigkeit von der Erscheinungs- und Tatsachenwelt entstehen, und lebte. Meine Freiheit und Heiterkeit war zumeist unaussprechlich, die Erde schien klein und wie eine Gelegenheit von vielen, wie eine Station der großen Wanderung, ohne Last und Finsternis. Ich kannte keine Sorgen und glaubte mit einer flammenden Inbrunst, ohne sagen zu können, an wen oder an was, ich glaubte an das Licht in mir, und an meine Liebe.

So kam es, daß ich Asja seltener fragte und mir an ihrem Dasein genug sein ließ, vielleicht kam es auch deshalb, weil sie einmal eine Frage mit Zorn von sich gewiesen hatte, ich vergesse ihr Wort nicht, es ist wahr gewesen:

»Meinst du, es läge mir daran, dich zu überzeugen, oder ich gäbe dir Ratschläge? Niemals, nimmermehr! Ich spreche, wie ein Baum blüht, aber nicht, damit jemand Nutzen davon habe. Die Wirkung des Herzens macht sich nicht belohnt, verstehe doch dies: weit eher ist sie ein Lohn. Ein Lohn, wie eine Seligkeit in sich selbst, der Triumph von Kräften, die längst zurückliegen, ein Ende, auf daß begonnen werde.

Die Menschen haben die Folge der Liebe zu ihrem Zweck gemacht, und haben die Liebe dadurch entheiligt. So möchten sie sie nun überall finden — bei Anderen, und traurig wendet der Engel das Haupt. Sie glauben durch die Liebe die Welt zu bessern, und empfehlen sie den Ungläubigen und Lieblosen, den Bedrängten oder Traurigen. Als die Kriegsknechte das Haupt des Heiligen bespieen, waren sie schuldloser, als diese Propheten der Liebe, die niemand berufen hat, als Baal, um sein Reich der Finsternis zu sichern. Sie raten den Menschen, ihre Seele zu erhalten, und nennen sich die Priester dessen, der gesagt hat: Wer da sucht seine Seele zu erhalten, der wird sie verlieren.

Weißt du, was das heißt? Es ist der gleiche Geist, aus dem du zweifelst. Wer seine Seele zu erhalten sucht, hat nichts gemein mit der Liebe. Das Reich kommt nicht mit äußerlichen Gebärden ...«

Sie schwieg und sah mich ratlos und erschrocken an. Und langsam füllten sich ihre Augen mit Tränen, mir war, als erblickten diese Augen nichts mehr um sich her. Sie saß still und aufrecht in ihrem Bett und weinte, wie ohne Grund und Anlaß, ein verlorenes Kind in der traurigen Welt, deren Wege voll Steine sind.

Es mag Menschen geben, dachte ich, die eines Tages in Tränen ausbrechen, weil es ihnen an Kraft gefehlt hat, sich zu erweisen. Aber du, Asja, weinst nicht deshalb, denn du weißt nichts von diesem Wunsch, du weißt nicht einmal deinen Wert. Du bist geistig arm. Du bist wie der Klang einer Glocke, oder wie der Morgenschein auf den Bergen. Wir sind geistig reich, wir wissen von Glocken aus Erz und von Bergen aus Gestein, aber das Reich ist nicht unser. —

Darüber wurde mir in meinen Gedanken an Asja und ihre Art das Menschenwesen und die Welt zu schauen, mehr und mehr deutlich, daß jenes geheimnisvolle Wort der Evangelien, das von den Berufenen und Erwählten handelt, wie ein aufklärender Stern der Einsicht über ihren Betrachtungen und Einschätzungen stand. Meine Jugend und ihr Innenleben waren zu tief von jenem tätigen Mitleidsgedanken der Nächstenliebe durchtränkt, der alle Wohlgesinnten leitet, die unsere Kindheit bewacht haben, als daß Asjas einsame Haltung mir nicht zuweilen wie voll unerhörten, kindlichen Hochmuts erschienen wäre. Mir war, als läge viel Unbarmherzigkeit, ja Grausamkeit in solcher unerprobten Gewißheit. Wo blieb bei solchem Glauben und solcher Heilsgewißheit die unübersehbare Schar aller derer, die nach jenem Worte nicht erwählt waren? Mein Sinn empörte sich oft bis zum Haß, wenn ich lange allein war, aber ich schwieg beharrlich, im selbstsüchtigen Genuß einer vermeintlichen heimlichen Überlegenheit. Du liegst auf deinem weißen, stillen Ehrenlager des hochherzigen Abschieds, dachte ich, was bekümmert dich das große, allmächtige Leben, der heiße Strom, der unter dem Lichthorst deiner traumhaften Wolkenburg des Glaubens dahinflutet? Du hörst das Geschrei der Gebärenden so wenig, wie das Seufzen der Sterbenden, das gepeitschte Glutmeer des Kampfs der Geschlechter ist dir wie das seelenlose Brausen des Meers, und wer ist dein Nächster, den du lieben sollst, wie dich selbst?

Du! antwortete Asjas Stimme in meiner Brust. Und die Schweigende fuhr fort, in mir zu reden: Hast du geglaubt, dein Nächster sei der, welcher dir, Körper an Körper, örtlich am nächsten steht? Gehörst auch du zu denen, die der Buchstabe tötet und die der Geist nicht zu befreien vermag? Ihr schleppt den hohen Sinn in die Gassen des Alltags, und wenn ihr ihn darin zertreten und beschmutzt, verkleinert und geschändet habt, so verhöhnt ihr ihn und vermeint, seine Lüge erwiesen zu haben. Wenn der Falke im Gitterwerk des Hühnerstalls verdirbt, so fragt ihr den Zerbrochenen: Wo ist dein hoher Flug über den Wäldern? Dein Nächster ist nicht der, welcher dir örtlich am nächsten steht, sondern der, dessen Wesen deinem Wesen am nächsten ist, dessen Seelenkraft und Geistestugend, dessen Heimweh, Schmerz und Kraft den deinen gleichen, und dessen Blick dich spiegelt, zugleich Gram und Schmach, Beseligung und Zuversicht, ein Weckruf und ein Trost. Ihn wirst du lieben, wie dich selbst, das ist kein Befehl, sondern eine glückhafte Notwendigkeit, ein erhabenes und furchtbares Schicksal, eine mystische Pflicht. Gott aber, den du über alles stellen sollst, das ist die Liebe selbst, und ohne ihn ist auch dein Nächster dir fremd. Nur in der Liebe gibt es einen Nächsten, nicht in der Leidenschaft, noch im Hang nach irdischem Bestand, Vorteil oder Gewinn, noch nach Gefallen oder Vergnügen im Leben des Alltäglichen. Welch ein Widerspruch entstünde zu der wahrsagerischen Verkündigung, daß der Erwählte Vater und Mutter verlassen würde, wenn sein Nächster, der Mensch seiner örtlichen Nähe wäre? Denn wer steht dem Menschen näher, als sein Vater und seine Mutter? Du wirst sie verlassen, wenn sie nicht im Geist deine Nächsten sind, um deinen Nächsten zu suchen.

Und mit Erschauern erhoben meine Gedanken sich vor den besonnten Schneewipfeln der Geistesreinheit und Liebeshoheit, die einst mit Schmerzen und Jubel, die kein Sinn ermißt, eine Liebesforderung sondergleichen, aus blendend erhelltem Herzen strahlten. Die Marterblume eines schweren Lächelns blühte mir aus den Wolkenzügen des Abendhimmels meines unruhigen Tags und meiner Zeit entgegen, ich ging ziellos und allein weit vor die Stadt hinaus, und ich verstand Asjas Wort des Willkommens, als ich einst zum erstenmal an ihr Lager trat: »Wir haben alle nur einen Menschen, zu dem wir du sagen«, und ihr einfaches Versprechen, bei mir zu bleiben. Es verwandelt sich mir langsam in die Verheißung: Ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende.

Als ich in der Abenddämmerung heimschritt, begegnete mir auf einem verlassenen Feldweg, der auf öde Bauplätze und so auf die Vorstadt zurückführte, ein Mann, der etwa zehn Schritte vor mir mitten auf dem Weg stehenblieb und mich zu erwarten schien. Als ich ihn erreicht hatte, bemerkte ich seine Absicht, mich anzusprechen, hielt im Schreiten inne und sah ihn an. Er fragte mich auf eine Art nach dem Weg, der ich anmerkte, daß er keine Auskunft erwartete, sondern etwas anderes. Es war schon zu dunkel, als daß der Anstand von Wesen oder Kleidung für uns beide deutlich festzustellen gewesen wäre, bevor wir uns einander nicht ganz genähert hatten, und ich empfand nun, daß ich enttäuschte, und mir schien, als gäbe mein Gegenüber in etlicher Befangenheit seine Hoffnung preis, mehr bei mir zu finden, als er selbst besaß. So wurde seine Bitte, die er dennoch vorbrachte, auf eine vertraulichere Stufe kameradschaftlicher Mitteilung gehoben.

»Hast du Geld?«

Ich durchsuchte meine Taschen in großer Verlegenheit, und um sie zu verbergen, sprach ich von Dingen, die nichts mit meinem Betreiben zu tun hatten. Er betrachtete mich verdrossen und abwartend. Als ich endlich ein paar Münzen fand und sie hinreichte, trat er zurück und winkte mir ab.

»Hast du mehr?« fragte er.

»Nein«, sagte ich.

»Ist das alles?« wiederholte er seine Frage.

»Ja.«

»Behalt's«, sagte er und schritt ohne Gruß davon.

Ich wandte mich langsam, um auch meinerseits meinen Weg fortzusetzen, aber als ich die Münzen wieder in meinem Rock bergen wollte, hatte ich nicht die Kraft dazu; ich wußte nicht, wem sie gehörten.

Als ich die Stadt wieder erreicht hatte, umschlich ich das Haus, in dem Asja wohnte, und sah, daß Licht in ihrem Zimmer brannte, es war gegen zehn Uhr abends. Ich konnte ihr Fenster, das auf einen Hof hinausführte, durch den Mauerspalt zweier Häuser von der Straße aus sehen. Der Schuster Stevenhagen, der neben dem Eingang im Hinterhaus seine Wohnung hatte, öffnete mir auf mein Pochen, wie schon oft, und ließ mich ein.

»Wie geht es Asja?« fragte er, ohne über mein spätes Eindringen ein Wort zu verlieren.

Ich mußte mich besinnen und erschrak fast darüber, wie ungewiß meine Vorstellungen von ihrem körperlichen Zustand waren.

»Wir werden sie bald verlieren«, fuhr er auf meine unsichere Auskunft hin fort. »Ihre Mutter war heute bei mir.« Er sah mich an, als erwarte er von mir irgendein ungewöhnliches Wort der Erklärung, eine rasche und zuversichtliche Mitteilung, die seine Befürchtung zunichte machte, als müsse irgendein Wunder geschehen, von dessen Art und Wirkung niemand einen Begriff hatte. Ich war mutlos und schwieg, alles, was mich auf meinem Wege beruhigt und erhoben hatte, verflog.

»Vielleicht bringt die Zeit Besserung, weil jetzt der Frühling kommt«, fügte der Alte hinzu, als sei es nun an ihm, ein Wort der Beruhigung zu sagen, da von mir keines gefallen war. Er nickte mir zum Abschied zu und ließ mich auf dem dunklen Gang allein. Ich lehnte mich an die Wand und dachte: Es wird Frühling. Unter Asjas Tür glomm eine schmale, rötliche Lichtlinie, es war totenstill im Haus. Es wird Frühling, dachte ich, von den Bergen fallen warme Winde ins Land, über die Wiesen. Die Wipfel der Buchen färben sich rötlich, und die Bäche rauschen trüb und eilig zwischen ihren Ufern dahin, an denen Anemonen und Primeln keimen. Die Nächte sind voll warmer, glücklicher Unruhe. In der ländlichen Abgeschiedenheit krähen die Hähne von Hof zu Hof, da nun die Sonne schon eher aufgeht, über den Feldern mit grünem Winterkorn. An besonnten Hängen erklingt über den stäubenden, gelben Weidenblüten das erste Bienensummen, und hier und da, in der kaum begrünten Landschaft, zwischen den braunen Winterfarben der Büsche und Wege, taucht in der glitzernden Märzsonne ein erstes helles Kleid auf, zwischen den Hecken.

Aber Frühling, mein Bruder, was tue ich in deiner Gemeinschaft, wenn Asja begraben liegt? Ich fürchtete mich vor dem Eintritt in den grauen Raum der Entbehrung, des Verzichts und des Abschieds, der plötzlich zu einem Sterbezimmer geworden war, wie einst das erstemal, als ich ihn vor Monaten betreten hatte. Ich versuchte, mir gewaltsam jene Güter als meinen und Asjas Besitz ins Gedächtnis zurückzurufen, die in hohen Stunden unser Teil gewesen waren, aber es wollte mir nicht gelingen, die Finsternis erwürgte mich.

Wie eine unüberschreitbare Feuergrenze zwischen Leben und Tod brannte am Boden die Lichtlinie der Tür und ich vergaß, wo ich mich befand und erschauerte, wie in einem finstern Kerker. Ich entsinne mich meines Entschlusses nicht mehr, die Tür zu öffnen, wohl aber erblickte ich gleich darauf Asjas emporgerichtetes Gesicht im Licht der nahen Kerze, die es beschien, als wäre es allein in der Welt, und ich taumelte vor Ergriffenheit, wie über alles Vergleichen und Ermessen schön dies Angesicht war. Es sah aus der Nacht des Haars auf mich hin, ruhig und klar, das Lichtgebilde einer vor seligem Triumph trunkenen Weltenvernunft, ausstrahlend vor Lebendigkeit, still, ein Bild der Heimat. Und der Frühling, mein Bruder, den ich fern vermutet und weit von dieser Stätte verbannt hatte, kam mir aus der warmen Nacht der großen Augen entgegen, die Lerchenlieder über den Feldern, feuchter Wind und der süße Duft aus Schollen und Keimen, aus dem das lichte Blütenkleid sich bildet. Aber die Hoffnung, sein unruhiges Wesen, war hier in eine lautlose, mächtige Zuversicht verwandelt. Da wußte ich, daß ich es war, der zurück mußte, daß aber Asja in Frieden blieb.

»Hilf mir,« sagte ich, »wer hat dich erwählt? Ich kann mich nicht von dir trennen und weiß doch, daß es meine Armut und Schwäche sind, die mich von dir scheiden werden.«

Wie immer, erkannte Asja unmittelbar den inneren Zustand, in dem ich mich befand, sie war weder zu täuschen, noch irrte sie sich, und die göttlich-dämonische Macht ihrer Einsicht bestand darin, daß sie niemals bei ihren Schlüssen aus meinem Ungemach, oder bei dessen Benennung, von etwas anderem ausging, als von dem unerschütterlichen Glauben an eines Menschen Wert, Güte und Lebensrecht. Es ist unausdenkbar, daß jemals ein Mensch, selbst der schlechteste, solchem Glauben an seinen Wert etwas geringeres hätte entgegensetzen können, als ein erschrockenes Glück. Wer hoffte nicht darauf, er möchte einer Erlösung wert sein, wenn er leidet? Wer aber vermag einer Seele diese Ahnung ihrer Befreiung eher zu bringen, als der, welcher ihr altes Kinderrecht der Zugehörigkeit zur Liebe glaubt? Die Macht eines solchen Glaubens, wenn er wahrhaftig ist, vermag Berge von Schmach und Finsternis, von Selbsterniedrigung und Verarmung zu versetzen, und auf den befreiten Boden bricht wieder das Himmelslicht, keimt das Leben. Die Macht eines solchen Glaubens, groß genug, vermag Wüsten der Herzen in fruchtbares Land zu verwandeln, vom trocknen Firmament brechen die feuchten Schauer, und der Sand begrünt sich.

»Was quält dich?« fragte Asja mich. Oh, über diesen unvergeßbaren Ernst ihrer Fragen, ich habe ihn niemals im Leben wiedergefunden. Warum lächeln diejenigen, welche sich für stärker oder erfahrener halten, und wieviel ist eine Gabe unter solchem Lächeln noch wert? Ihr rechnet alle auf freundliche Nachsicht, weil ihr nur die Hälfte gebt, und weil ihr die Wahrhaftigkeit eines Anspruchs zu glauben verlernt habt. Euer Lächeln dieser Art ist der Erweis, daß ihr weder an eine echte Zugehörigkeit, noch an Gemeinschaft glaubt, ja kaum an Verständnis, nur an gegenseitige Nachsicht, und an ein ausgleichendes Mitleid der Hilflosigkeit. Als sei eines Menschen inneres Erleiden nicht erlaubt, und als sei ihm durch Herablassung am sichersten beizukommen. An diesem Lächeln gleitet ihr aneinander vorüber und gebt eure herrliche Liebe in der armen, kleinen Münze der Freundlichkeit aus, die jeder selber hat.

Asjas Augen öffneten mein Herz unter ihrer Frage bis auf den Grund, und ich sagte einfach, als wüßte sie schon alles:

»Das Wort von den Berufenen und Erwählten quält mich wieder und wieder. Du hast einmal davon gesprochen, daß das Wesen und Schicksal des Menschen mit diesem Gesetz offenbar würde, und daß seine furchtbare Wahrheit der Anfang der Ordnung zu aller Einsicht sei. Du hast gesagt, dies Wort vor allen andern bezeichnete die Erkenntnis und Lehre Christi, aber mich läßt die Frage nicht ruhen, was mit allen jenen geschehen soll, die weder berufen noch erwählt sind. Sind es nicht Menschen wie wir, und sind nicht wir wie alle? Dieses Wort aber schließt aus und sondert, entscheidet und verwirft. Ist das das Wesen der Liebe?«

»Ja,« antwortete Asja, »ich habe es gesagt.«

Ich wartete und hoffte darauf, daß die Sicherheit ihrer Antwort mir die innere Haltung schenkte, selbst zu sehen, was ihre Augen schauten, aber es blieb alles ungewiß in mir, und die Wege meiner Gedanken verirrten sich im Dunkeln.

»Sag' mir das Licht, in dem die Unerwählten stehen, und ich will schweigen und warten«, sagte ich.

»Sie stehen im Licht der Erwählten«, antwortete Asja. »Die Liebe scheidet und läßt sich nicht vermischen, das ist ihre Kraft und Herrlichkeit. Satan mischt und legt die Namen der Liebe an die laue und falsche Gestalt. Wer sind die Erwählten, daß du von ihnen sprichst, als seien sie im Sinn der Welt bevorteilt? Erwählt sein, heißt von der Liebe erwählt sein, zum Weg ihres Lichts. Glaubst du, solch heilige Gunst raffte den Wert an sich, um ihn für sich zu besitzen, gesättigt, zufrieden, selbstsüchtig? Sie strahlt ihn aus! Und je reiner ein Herz dies Licht ausstrahlt, um so eher ist es erwählt. Wer hat das große Wort auf Gunst und Wohlstand des zeitlichen Lebens ausgelegt? Wer hat es unter den Schein von kleiner Tugend und armseligen Lohn gestellt und in einen Rangstreit des Vorteils gezogen? Ich bin betrübt. Wieviel Angst muß in der Welt sein! Was von der Erlösung galt, das haben die Menschen in den Widerstreit von Vorteil und Besitz getragen. Ich habe Angst vor der Macht des Satan!«

»Wer ist Satan?«

»Steht er neben dir, daß du so fragst? Satans Reich ist überall, wo Gottes Reich nicht ist. Wenn du zum Bild der Liebe das Bild Gottes setzt, so setze für das Bild der Nichtliebe das Bild Satans. Sagt nicht der Böse von ihm! Er möchte euch im Bild dessen überlisten, was ihr das Gute nennt.«

Ich raffte mich zu einer raschen Frage auf, aber sie sah mich drohend an und rief laut:

»Schweig!«

Und wieder, wie einst, als eine harte Absage mich betroffen hatte, neigte sie sich über meine Hand und drückte ihre Lippen darauf. Erst nach einer Weile hob sie die Stirn und sagte fröhlich:

»Ich kenne ein altes Lied, willst du es hören? Es lautet so:

Ich möchte dich beglücken und kann nicht dunkel sein. So tritt mit deinem Zweifel in meiner Liebe Schein.
Mich quält nur eine Frage: Hast du mich lieb, sag an?! So bleib in diesem Lichte, das ich nicht trüben kann.
Frag nicht, weshalb ich frage. Aus Zweifel frag ich nicht. Es gibt nur eine Klage der Liebe, die um Licht.«

Es wurde nun Frühling, er wehte auch in die Mauern der Stadt und verkündete seine Gegenwart überall. Meinem Kammerfenster gegenüber, an der Hofseite des Nachbarhauses, hoch am Giebel, begann ein altes Mütterchen ihren Garten zu pflegen, der nicht größer als eine schmale Bank war und über der Dachrinne hing. Er hatte ein kleines grünes Gitter, und die Alte arbeitete mit einem Blechlöffel in der Erde, unter dem Giebel ihres Dachfensters. Wenn mittags die Sonne schien, hing sie ihren Kanarienvogel über dem Garten auf, und seine Stimme schmetterte in warmen Stunden durch die öden Hallen der Höfe. Man hörte auch wieder Kinderstimmen, und überall standen die Fenster offen. Die Weiber schnatterten auf den Stiegen, und es war schon hell, wenn man des Morgens erwachte.

Oft, wenn mich die Luft in der Frühe auf den Straßen umwehte, sehnte ich mich danach, die Stadt zu verlassen. Wohl entfloh ich zuweilen ihren Häusermauern, aber das öde Bereich ihrer Umgebung befriedigte nicht, sondern stimmte traurig. Einmal hörte ich über den Bauplätzen und Stadtgärten eine Lerche und erzitterte unter ihrer Stimme, die mich überwältigte. Ihr Gesang war überredender und süßer, als ich ihn jemals in der Freiheit der Fluren draußen vernommen hatte, und ich begriff, daß ihr Trost nicht wie eine Freude gesucht sein wollte, sondern wie eine Gnade in unsere Finsternis fallen muß. Und plötzlich verstand ich in einem ganz neuen Sinn das Wort: »Wer da sucht seine Seele zu erhalten, der wird sie verlieren.«

Ich lauschte dem Singen und vergaß die Stadt und ihre Beengung. Nun blüht draußen der Frühling über Wäldern und Wiesen, dachte ich, die Sonne scheint auf den nassen Boden, die Pflanzen keimen und die Äste im Wind begrünen sich. Ich möchte über den nassen Acker gehen und Samenkörner in die aufgebrochene Erde streuen, ich möchte die Saat mit meinen Tränen benetzen und auf dem dunklen Grund niederknien und zu Gott, dem Vater, beten. Mein Gebet wäre nicht Klage noch Bitte, es wäre ein unaussprechbarer Dank, ein Dank und Gehorsam wie das Blühen, das mich umweht und überkommt. Keine Worte sollten den Geist bedrängen, der mich durchdringen und erhellen würde, o Frühling, o Vater, du Liebe! —

Dies waren die Tage, Stunden und Gesichte meiner kurzen Jugend auf der Erde, in denen Asja starb. Ich habe außer der Nacht, in der sie Abschied von mir nahm, kaum mehr im Gedächtnis, was sich sonst zutrug, und weiß in meiner Erinnerung dies Erlebnis in keinen Rahmen äußerer Gewißheiten zu stellen. Das Jahr müßte ich errechnen, wie ich auch mein Alter nicht mehr weiß, denn es kamen ruhlose Zeiten des Dahintreibens auf dem uferlosen Meer des Lebens für mich.

Wie einer, der graden Blicks in die Sonne schaut, die Stunde des Tags an ihr nicht festzustellen vermag, so gibt es Ereignisse in unserm Dasein, deren Einwirkung so stark ist, daß wir den Widerschein auf den erkennbaren Dingen um uns her nicht festzustellen vermögen, sie stehen in unserm Leben, wie Gestirne am Himmel oder wie Grabhügel auf den Feldern.

Der Erdboden verliert seine freundliche, ruhige Gestalt, wenn der Pflug ihn für die Saat aufreißt, und die Zugvögel sehen, wie mit neuen Augen, nichts mehr als ein fernes Ziel, wenn ihre Stunden der Heimkehr kommen. Aber solche Blindheit ist in Wahrheit der wichtige Zustand unseres Daseins, in dem wir auf einen Weg gezogen werden, der zum lebendigen Sein und Schauen führt, sowohl die Seele, als endlich auch den Geist, der nicht durch den Gedanken allein geführt wird, sondern durch jene Macht, die auch den Gedanken zu wollen scheint.

Für diese Macht suchen wir alle Gestalt und Namen, unsere Bewegung hat diesen Sinn. Es gibt Augenblicke, in denen wir ihn wissen, von ihnen schweigt jeder Mund. Aber in diesem Schweigen liegen Erinnerung, Mahnung und Verkündigung und ein erlösendes Glück.

Es sind Jahre und Jahre über Asjas Todesnacht dahingegangen; auf dem Acker meines Herzens ist nun die Saat dieser Stunden aufgebrochen und blüht. Ihr sollt mich nicht nach diesem oder jenem fragen, denn was ich auf diesen Blättern darstelle, sind nicht die Saatkörner, wie sie einst fielen, sondern die Felder in der Mittagssonne des Lebens.

Als ich nach einem unruhigen Tag, der mich zerstreut und gequält hatte, am Abend zu Asja kam, saß sie ruhig in ihrem Bett und richtete ihre Blicke auf mich, als sei sie um mich in Sorge. Ich empfand die Aussage ihrer Züge so deutlich, als sagte sie zu mir: Leb nun wohl.

So stand unser Beisammensein im Zeichen des Abschieds, und ich vermochte mich nicht zu fassen, obgleich ich äußerlich gelassen und geduldig erschienen sein mag. Aber die kleinen freundlichen Täuschungen, mit denen die meisten Menschen sich im Guten zu beruhigen und zu trösten hoffen, hatten keine Bedeutung in unserm Umgang, und sie gelangen mir nicht, denn Asjas Seele war von jener Unverführbarkeit, wie nur die aufrichtigen Menschen sie haben. Sie griff niemals nach einer kleinen Hilfe und verschmähte jede Schonung, um der Wahrheit willen.

Ihre Mutter war noch eine Weile bei uns, und ich sprach über dieses und jenes mit ihr, aber ohne daß meine Gedanken bei meinen Worten waren, und ich war in einer geteilten Haltung von Ablehnung und scheuer Begierde, sie möchte uns nicht verlassen. Sie wagte nicht in Asjas Gegenwart mit mir von dem zu sprechen, was sie auf dem Herzen hatte, und ihren heimlichen Andeutungen, ich möchte ihr zu einer Unterredung unter vier Augen Gelegenheit geben, leistete ich nicht Folge. Sie hatte am Tage eine Besprechung mit dem Arzt gehabt, und wenn sie auch nicht ahnte, wie nahe der Tod ihrer Tochter bevorstand, so war sie doch voll jener schwankenden Ängste, die Herzen durchmachen, die sich bereitwillig täuschen lassen, wo sie hoffen, und die den geistigen Kräften des Bedrohten nicht gewachsen sind. Es kam hinzu, daß Asja sich, ohne Verstellung, in den letzten Tagen zuversichtlicher und lebendiger gezeigt hatte, als zuvor, besonders in Dingen, die das äußerliche Dasein betrafen und in ihrer Teilnahme am Ergehen der Umwelt. Es bewegte mich tief, daß sie dieser seltsamen Regung erlag, die die von ihrer Krankheit Befallenen so oft durchmachen, obgleich die Hoffnungsfreudigkeit, die sie zur Schau trug, kein Licht auf den Weg ihrer Seele warf, die in einem andern Licht lag, sondern gewissermaßen ein selbsttätiges Aufatmen ihres Körpers darstellte, der sich erleichtert fühlte.

Sie ordnete Feldblumen in ein kleines Gefäß und lächelte zuweilen flüchtig zu uns beiden hinüber. Ihre Gedanken schienen auf den Wiesen zu sein, auf denen die Blumen gewachsen waren, die ihre Hände bewegten. Sie schaute die farbigen Kelche in einer Nachdenklichkeit ohne Trauer an, wie in einer zögernden Erwägung, wie überhaupt ihr Hang zu allen schönen Gebilden der Natur wohl beziehungsvoll, aber nicht überschwenglich war.

Einmal sagte sie leise zu mir, in ein Gespräch hinein, das ich mit ihrer Mutter führte:

»Geh nicht fort.«

Kurz darauf schlief sie ein, ich sah es daran, daß die Blumen zur Erde niederfielen. Ihre Mutter ging zur Ruhe in ihre Kammer und bat mich, sie zu wecken, wenn es schlechter ergehen sollte, aber sie glaube es nicht, da die Kranke doch nun ruhig schlafe. Sie sah noch einen Augenblick in das Gesicht Asjas, und ich hatte den Wunsch es zu verhüllen. Auch legte sie noch eine Kerze neben den Leuchter und ließ mich nicht ohne einen beinahe zärtlichen Blick und Händedruck in meinem Korbstuhl allein.

Asja hatte mich noch niemals gebeten zu bleiben, zu gehen oder zu kommen, und ich dachte an ihr Wort und hörte Hof und Haus ruhig werden, während ich gegen meine Müdigkeit ankämpfte, die mich jetzt oft überwältigte, da ich mein äußeres Leben vernachlässigte und wenig Nahrung zu mir nahm. Ich weiß, daß ich ein tiefes, merkwürdiges Gefühl einer fast lieblosen Furcht hatte, wie sie mich fast immer befallen hat, bevor es galt sich zu erweisen. Ich dachte darüber nach und mir schien, daß diejenigen, welche vor verantwortungsvollen Handlungen, die ihnen neu sind, Zuversicht und gedankenlosen Mut an den Tag legen, sich für gewöhnlich nicht darin bewähren. Wer aber die Kraft hat, im Schweren zu bestehen, der hat auch die Vorahnung der Aufgaben, die es zu bewältigen gilt, darum erscheinen die wahrhaft Fühlenden zuweilen so kalt und herzlos, wenn es sich um ein rasches Mitleid und eilfertige Teilnahme handelt. Wer sich bereitwillig und unbedacht zu einer Tat drängt, die als bedeutsam erachtet wird, findet für gewöhnlich geringeres Vertrauen, als derjenige, der zu ihr gerufen wird, und unter denen, die der Wille der Andern erwählt, wird wahrscheinlich derjenige der Stärkste sein, der sich am längsten sträubt.

Meine Gedanken umwanderten solcherart in ruhloser Ermattung dies und das, ich fühlte den Schlaf nahen und kämpfte in willenloser Absicht gegen seine wohltuenden Dämmerungen. Ich warf einen Blick auf die Kerze, um mich zu vergewissern, ob kein Schaden entstehen könnte, wenn sie ohne unsere Beachtung niederbrennen müßte. Auf dem Tischchen am Bett lag ein Buch in einem roten Einband und Brot, von dem die Hand ein Stückchen abgebrochen hatte. Hoch am Fenster war ein gelblicher Lichtschein erkennbar, der, durch die Hauswände fallend, von einer Straßenlampe herrührte, und in dem das Muster der Gardine grau und schattenhaft sichtbar wurde, im Bereich zweier Lichtherde, denn die Kerze brannte nur trüb und flackernd. Ich dachte: Wenn die Morgendämmerung hereinbricht, so werde ich, wie schon so oft, Asjas leichten Kopf für den Frühschlummer auf das umgewandte Kissen betten, sie wird mich anlächeln, und unter ihrem Lächeln und Abschiedswort werde ich durch die leeren Straßen gehen, die Amseln in den Gärten hören und die feuchte Morgenluft des Frühlings auf der Stirn spüren. So war es oft, so wird es auch diesmal sein, denn wie sollte der Tod, wirklich der unfaßbare und entscheidende Tod uns nahen, um uns zu trennen?

Aber über dieser Zuversicht überkam mich in dunkler Allmacht ein Schatten von großer Liebesangst, so daß ich meine Hände mit bebender Gewalt vor mein Gesicht schlug und glaubte in einen Abgrund von Nacht und Jammer zu versinken. Ich fühlte, wie über alles lieb ich Asja hatte, befreite meine heißen Augen und sah sie wieder an, von einer furchtbaren Ahnung überwältigt. Ich erblickte ihr zur Hälfte abgewandtes Angesicht, und Grauen und Wehmut schüttelten mich mit unbarmherziger Gewalt. Ich mußte mich wieder abwenden, um nicht laut nach ihr zu rufen. Dies Kinderhaupt in Gottes ganzer Güte war von einer unirdischen Schönheit, wie nur das Wesen der Liebe sie verleiht, ungetrübt durch Begehren und eigenen Sinn, von einer Verletzbarkeit sondergleichen und bereit zu ertragen, was immer die Fremde bot. Aber die Last der Erde wurde auf dieser Stirn zur Glorie und das Kindertum der Züge zu einer so freien Weisheit der Liebe, daß das Erbarmen, das sie in mir auslösten, sich wie in heiligem Kreislauf in eine Tröstung verwandelte. Ist es so, dachte ich, und meine Sinne verloren sich wie in einen Traum, daß das Erbarmen, das die Unschuld in uns hervorruft, wenn sie sich von der Lieblosigkeit der Umwelt abhebt, daß dieses Erbarmen in uns sich in einen Glauben an unsere Erlösung verwandelt? Fließt der Segen eines hilflosen Blicks aus solcher Quelle, und müssen wir um dieser Allmacht willen zu Kindern werden, um das Reich zu finden?

Ich schlief ein und träumte, daß ich von der Straße aus einen großen, dunklen Garten sah, in dessen Tiefe ein verschwiegenes totenstilles Haus stand. Vor den Fenstern erhoben sich schwarze mächtige Stämme, wie Säulen, und die hohen Kronen der Bäume legten die Mauern in geheimnisvolle Schatten. Aber hoch über dieser Ruhe mußte es stürmen, denn trotz der toten Versunkenheit dieses Bildes sah ich die Äste der Bäume sich in den Scheiben bewegen, sie flatterten wie Fahnen, schwarzgrün in den dunklen Spiegeln. Dies ist eine alte, vornehme, unvergängliche Welt, kam mir zum Bewußtsein, hier wohnt der edle Geist der Menschenfamilie, hier ist Glaube an den Bestand des Irdischen, und wer es wagt vom Tode zu sprechen, der wird feierlich ausgewiesen und gilt als ein Leichtfertiger, der die hohe Würde des Bestehenden nicht achtet und Zerstörung sät.

Die Baumstämme standen sehr nahe am Haus, man mußte sie von den Fenstern aus fast berühren können. Es war nicht mehr bekannt, wer diese Bäume gepflanzt hatte, sie erhoben sich wie Hüter der Stille und zugleich gehörten sie zum ehrwürdigen Wesen dieses starken Baus. Die Fahnen der Zweige wehten ruhlos in den Spiegeln der Scheiben; es quälte mich zu erfahren, wer dies Haus bewohnte und ich wurde mir dessen schmerzhaft bewußt, wie zerklüftet, wirr und staubig die Heimat der Straße war, und wie friedlos die Freiheit der Suchenden. Wir haben unrecht, dachte ich, darum ist es so schwer. Unsere Liebe ist der Feind der Welt, und wir bringen Unfrieden in die Seelen und Gärten.

Da hörte ich eine klagende Stimme, so schmerzdurchzittert, daß sich mein Herz bäumte. Nur die Seele, die durch den Schlaf ungerüstet zum Widerstand ist, empfängt so mächtige Eindrücke, erliegt so ganz dem Zauber und Gram des Gefühls. Weckte mich nicht einst eine Geige aus dem Schlaf und war mir nicht, als sänke ein farbiger Himmel von unaussprechlicher Wohltat auf mich nieder?

»O ewige Liebe, erbarm' dich meiner!«

Das war Asjas Stimme.

Ich richtete mich in großem Erschrecken auf und streckte ihr meine Arme entgegen, aber sie sanken mir nieder, denn Asja sah mich nicht. Sie kniete in ihrem Bett und ihre großen Augen waren weit geöffnet und in eine Ferne gerichtet, die sie entführte. Ihre Hände lagen im Schoß, aber nicht gefaltet, sondern leblos und still, als habe sie sie für immer vergessen, und als wäre ihrem Bereich entrückt und ungreifbar, was die Augen schauten. Die Kerze war niedergebrannt, und Asjas Gesicht lag in dem verschleierten Licht, das, wie Mondlicht, von außen in unser Zimmer fiel. Es war ein Ausdruck von so großer Hilflosigkeit, ja so voller Verzweiflung in ihren Zügen, daß ich ohne Hoffnung zurückbebte und schweigen mußte.

Da sagte sie mit zitternder und schwacher Stimme, mit einem tiefen Seufzer:

»Bist du nicht mehr bei mir? Ach hilf mir! Wer kann mir helfen? Es ist dunkel umher und wird bald noch dunkler sein. O, es war alles gering, ich habe es nicht vermocht, ich bin zu schwach für die Marter und für das Licht gewesen.«

Sie barg ihr Gesicht in den Händen und sank vor Schwäche nieder, ohne noch darauf achten zu können, wie sie lag, als sei sie tödlich verwundet.

»Bruder, ach Bruder,« klang ihre Klage, »wo ist es besser? Ich bin nicht gewesen und habe nicht getan, was ich sein und tun sollte, im Raum ohne Ende, bei den fremden Menschen hier. Es ist überall Nacht, wer weiß es? Wie soll sie enden? Ich bin so traurig, daß ich es nicht ertragen kann.«

Ihr Körper bebte, wie von mächtigen Stößen erschüttert. Ihr Gesicht, das nun in meiner Hand lag, flog und glühte, und ihr Haar deckte sie wie ein schwarzer Mantel zu. Ein zitternder, durchbrannter Rest ihres Lebens lag, wie in Nacht verloren, in meinen Händen, dann warf ein furchtbarer Schmerz, dessen Ursprung schaurig war, ihr heißes Kinderhaupt empor. Sie sah mich nicht, ihr nasses Gesicht richtete sich hoch in das spärliche Licht empor, sie warf die Stirn weit zurück, und totenstill rang das Elend des armen Gesichts und Leibes wie mit einer gefesselten und gelästerten Seele.

»Ewige Liebe, nimm mich an! Ach, habe Arme, ein Herz, erblickende Augen, Tränen für mich! O sei Gestalt, du Liebe, weil ich arm bin, ärmer als alle, so schwach, so elend, daß ich schreie.«

Ich kniete leblos an ihrem Bett, hilfloser war ich nie in meinem Leben. In meinem Fühlen und Wollen riß ich sie wieder und wieder in meine Arme, preßte sie an meine Brust und küßte ihr Gesicht, als müßte ich ihren Schmerz mit meinem Leben zudecken. Aber ich tat es nicht. Alle Untat, Angst und Müdigkeit der Welt lagen in meinen Gliedern, keine Tränen lösten die Erstarrung und kein Seufzer brach den Bann.

Als habe Asja in ihrem Leben nie ein anderes Wort zu mir gesagt, so deutlich vernahm ich aus aufgewühlten Gründen der Seele tief in mir einen Ausspruch ihrer Lippen, den sie vor langer Zeit in einer versunkenen Stunde vor mir getan hatte: »Vergiß nie, daß wir der Liebe am nächsten sind, je hilfloser wir sind.« Der Geist dieses Worts kam zu uns und hüllte uns voll Erbarmen in einen großen Glanz ein, als eine unnennbare und übersinnliche Zuversicht. Es sprach in mir: Du sollst nun allein sein, Asja, liebe Schwester, wie einst ich, wie alle, die in Wahrheit Abschied von der Erde nehmen und die den Abschied von ganzem Herzen gewollt haben.

Langsam glättete sich nun der Leidenskrampf in Asjas Zügen, derweil der Morgen am Fenster herandämmerte und die Stube spärlich aufhellte. Der Körper wurde schwerer in meinen Armen, sie öffnete mit wehem Atmen den Mund, als tränke sie einen Trank der Linderung. Ein leiser Hauch streifte meine Stirn, er erklang und rief mich: »Mein Bruder«. Darauf sank ihr Gesicht zur Seite, die Augen schlossen sich, und sie verschied.


Der Kirchhof war ein weiter, großer Garten, in dem zu Anfang, dort wo das eiserne Tor hineinführte, die Tannen hoch und dicht standen, wie in einem Wald, kaum daß man alte Grabtafeln im Schatten noch entdeckte, nur zuweilen erhoben sich aus kleinen Efeubergen bemooste Steinkreuze unter ihnen. Als die Bäume niedriger und die Wege zur rechten und linken schmäler wurden, erblickte ich Rosen und Jasminbüsche, die in Blüte standen, Flieder und Weißdorn, oft in wilden farbigen Dickichten, von denen ein berauschender Duft aufstieg. Da ein Frühlingsregen niederfiel, glänzten die Blätter und Blüten vor Nässe, und aus ihrer Frische erklangen die Stimmen der Singvögel.

Langsam wurden nun auch die Bäumchen und Büsche immer spärlicher, der Garten lichtete sich zusehends und die Grabsteine und Kreuze umher hatten helle Farben, standen, obgleich in graden Reihen, doch wirr und bunt da, und wäre der Gesang der Vögel nicht über sie dahingeklungen, durch die Frühlingsluft, hätte ihr Anblick mich verletzt. So aber standen sie geweiht unter dem warmen, trüben Himmel, der am Horizont einen rötlichen Lichtstrich zeigte, obgleich es noch nicht spät am Tage war, es mochte gegen fünf Uhr nachmittags sein.

Ich schritt neben der Mutter hinter dem Wagen her, der Schuster Stevenhagen schien ein wenig Mühe zu haben uns zu folgen, obgleich der kleine Zug sich langsam dahinbewegte. Der alte Handwerker sah sonderbar in seinem sonntäglichen Aufzug aus, aber ich beneidete ihn doch, denn mein eigenes Gewand war weder feierlich noch auch nur ansehnlich. Ich hatte meinen Stock mit mir und nur ein Tuch um den Hals geschlungen, meine Habseligkeiten führte ich bei mir, in einem Bündel, denn ich wollte von diesem Grab aus nicht mehr in die Stadt zurückkehren, sondern hinausgehen, dem Sommer entgegen.

Es begleiteten uns noch einige Leute, die mir fremd waren, es mochten Bewohner des Hauses sein, in dem Asja gestorben war, arme, fremde Gestalten, wie wir, die niemand kannte. Neben dem Wagen her schritt ein junger Pfarrer, dessen Gestalt und Bewegungen, in seiner Amtstracht, mich beschäftigten. Da der Weg schmaler wurde, blieb er stehen, ließ den Wagen an sich vorüber und trat an meine Seite.

»Wir sind gleich am Grab,« sagte er zu mir, »haben Sie die Tote gekannt?«

»Ja.«

»So können Sie mir vielleicht irgend etwas sagen, das Beziehung zu ihrem verflossenen Leben hat, und das ich in meinen Worten am Grab zum Trost der Mutter anführen könnte.«

Der junge Geistliche machte mich sonderbar befangen; ich werde freundlich und höflich antworten, dachte ich, aber mir kam nichts in den Sinn, das mir, in Worte gefaßt, nicht sinnlos erschienen wäre. So schwieg ich unbeholfen und fühlte den Blick des Mannes forschend auf mir ruhen.

»Es ist gut«, sagte er endlich nachsichtig, und, wie um auszugleichen, daß ich nicht vor ihm bestanden hatte, fügte er herbeilassend hinzu, ohne daß es mitteilsam wirkte:

»So will ich denn das Wort aus Johannes über dieser Toten sagen: Ihr habt nicht mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt.«

Ich erbebte und legte meine Hand auf den blumenlosen Sarg. »Asja«, sagte ich.

»Warum lächeln Sie?« sagte der Geistliche betroffen.

Ich schaute zu ihm auf, ohne auf ihn zu achten.

»Ja, ja ...« sagte er in meinen Blick hinein, »ja ...«

Er sah mich fortgesetzt verwundert an, der Wagen hielt, der Sarg wurde herausgehoben und ein paar Schritt weit vor ein offenes Grab getragen. Aber man hatte sich geirrt, hob ihn erneut auf und trug ihn ein Stückchen weiter, es war eine Reihe offener Gruben, vor denen wir uns befanden.

In einer Birke, die schon auf freiem Feld stand, sang ein Vogel. Ich lauschte und wartete, denn ich kannte ihn nicht, er sang überhell und in klaren, gejubelten Tönen, ähnlich wie das Rotkehlchen, aber sein Gefieder war hellbraun und er war kleiner. Ein sanfter Wind strich über das Feld hin und berührte uns. Zur Seite lag nun der große alte Friedhof, dessen Bepflanzungen aus Grabhügeln, Kreuzen und Buschwerk langsam zum hohen Wald anwuchsen. Ein paar dunkle Gestalten bewegten sich in naher Ferne zwischen neueren Gräbern, sie blieben stehen, als die Stimme des Pfarrers durch die stille Luft scholl, und sahen zu uns hinüber.

Die Worte des Sprechenden brachten mich sonderbar auf, mich ergriff ein mächtiger Zorn, den ich nicht zu meistern wußte und der meinen Körper wie Fieber schüttelte, mir kam darüber zum Bewußtsein, wie schwach und hinfällig ich geworden war, und plötzlich überkam mich ein Verlangen, mein Gesicht in einem Spiegel zu betrachten, denn ich kannte mich nicht mehr. Vielleicht war dieser Zorn auch nichts als Bewegung, die einen Ausweg suchte, da sie in meinem Schmerz, den ich nur wußte, keinen Ausweg fand. Da berührte mich der dumpfe Anschlag von Erde auf dem Holzsarg, ein jeder warf anfänglich ein Häuflein hinab. Der Geistliche führte der Mutter die Hand mit der Schaufel und umschlang sie hilfreich, denn sie wankte. Hierauf übernahmen die Totengräber die Beendigung dieser Arbeit, die wir nicht abwarteten. Langsam bewegte sich unser Häuflein wieder auf den Hauptweg zurück, der Wagen war fort, aber der Vogelgesang aus den Waldlauben erklang immer noch und es hatte aufgehört zu regnen. Ich nahm Abschied von der Mutter, sie sah mich ängstlich an, als ob sie eine Frage stellen wollte, schwieg aber und nahm wieder den Arm des Schusters. Mir war, als sagte sie mir mit dieser Abkehr ein Wort anklagender Enttäuschung, als spräche sie: »Seht nun, es hat euch nichts genützt, ihr Kinder. Was habt ihr so viel miteinander gesprochen und waret so ernst und tatet wichtig und feierlich und glaubtet froh sein zu dürfen. Hättet ihr auf mich gehört, die Mutter, so ...« Aber hier brach ihre stumme Gedankenrede ab, denn dort wie hier stand für sie der Tod, und mutlos senkte sie die geröteten Augen auf den Weg.

Ich blieb zurück, fand zwischen den Tannen einen schmalen Seitenpfad, den ich einschlug, um so, von den andern getrennt, einen Ausweg aus dem Garten zu suchen. Eile hatte ich nicht, mein Weg war das ganze Leben und ich wußte kein Ziel. Die nassen Zweige der Tannen warfen Tropfen auf mich, hier und da hoben sich graue Steinkreuze im feuchten Frühlingsschatten, sie standen in Duft und Stille feierlich in den Tannendomen und sonderbar erhaben durch die Lieder der singenden Vögel, deren Stimmen unermüdlich und überselig die Welt einhüllten, wie ein klingender Schleier.

Als ich nahe am Ausgang nach einer guten Weile wieder den Hauptweg erreichte, auf dem mancherlei Besucher des Gartens einherschritten, sah ich, daß der junge Pfarrer in der Nähe der großen eisernen Pforte stand und scheinbar wartend auf mich hinschaute. Als ich ohne Gruß an ihm vorüberschritt, trat er auf mich zu.

»Da sind Sie,« sagte er freundlich, »ich möchte noch ein Wort mit Ihnen sprechen.«

Er lenkte die Schritte wieder in den Garten zurück, denn er schien den begangenen Weg und die Nähe der Menschen vermeiden zu wollen, und ich folgte ihm. Nach einer Weile begann er zögernd:

»Ich bin mir nicht darüber klar, was mich drängt, noch ein paar Worte an Sie zu richten. Sagen Sie mir, wer Sie sind und wohin Ihre Straße Sie führt.«

»Nein,« antwortete ich ohne Schroffheit, »so nicht. Was sollen solche Fragen, was kümmert es Sie, wer ich bin und wohin ich gehe? Wenn Sie etwas zu sagen haben, so reden Sie einfach und nur das, sonst lassen Sie mich gehen.«

»Sie haben recht«, sagte er schnell, und dann nach einer Pause. »Wer war diese Tote?«

»Ich weiß es noch nicht.«

»Sie weichen mir aus.«

»Ja, aber Sie wollen es nicht bemerken und richten sich nicht danach.«

»Nicht doch,« bat er herzlich, »ich will offen sein. Ich habe kraft meines Amts viele Tote zur Ruhe gebracht, bekannte und unbekannte, aber niemals hat eine Grablegung mich so mächtig ergriffen, wie soll ich mich Ihnen erklären, da ich doch selbst wie in einem Bann befangen bin, den ich nicht verstehe.«

Da blieb ich stehen und blickte ihn an. Ich sah eine offene Stirn über suchenden Augen und ein Angesicht, in dem Zweifel, Mühe und Schmerz ihre Linien zurückgelassen hatten, jene trüben Lichtbahnen, deren Runen von allen Gebilden der Schöpfung nur die Gesichter der Menschen aufweisen. Aber mein Mund blieb versiegelt. Da fuhr er fort und lächelte befangen:

»Als wir vorhin miteinander neben dem Sarg dahinschritten, sagte ich Ihnen, fast wider meinen Willen, das Wort, über das ich am Grab zu sprechen vorhatte, es ist mir nicht gelungen, ich weiß, denn ich war tief erregt über Ihr sonderbares Verhalten im Augenblick vorher. Sie legten die Hand auf den Sarg, nannten den Namen der Toten und lächelten so, als sei Ihr Lächeln eine Antwort auf ein Wort, das aus diesem Sarg zu Ihnen hinüberklang. Ich bitte Sie herzlich, halten Sie mich nicht für einen Schwärmer oder für einen ungesicherten Empfindlichen, der das Wunderliche an Stelle des Vernünftigen setzt und sich darin gefällt, mehr sehen zu wollen als andere. Dies ist es nicht, gewiß nicht, aber die Helligkeit in Ihrem Gesicht, die ich nie vergesse, brach aus dem Sarg hervor. Gott möge mir vergeben, wenn ich töricht bin ...«

Da wandte ich mich ab. Nun legst du deine Hand auf meine Augen, Asja, und hilfst mir, daß sich endlich ihr Brennen löst. — Aber meine Kraft war zu Ende.

Nach einer Weile saßen wir miteinander auf einer Bank. Mein Nachbar hatte übereifrige Worte der Entschuldigung gefunden, als sei er es gewesen, der mich bewegt hätte, aber mir schien es, in der leidenden und wachen Aufmerksamkeit, die ich niemals auszuschalten vermag, und die mich verzehrt, als sei er durch den Ausbruch meines Schmerzes sicherer und unbeteiligter geworden, ja, als sei er enttäuscht. Darüber fühlte ich mein Herz heilen, wie unter einem mächtigen Gebot, und begriff, daß wer sein Leid nur leidet, niemals Träger der Kraft sein kann, die heilt.

»Mach' mich nicht schuldig,« sagte ich zu der Toten, »mach' mich fröhlich!«

Vorsichtig begann mein Nachbar wieder:

»Möchte ich Ihnen doch weder voreilig noch allzu eindringlich erscheinen, wenn ich Sie bitte, mir von der Toten zu erzählen.«

»Niemals«, sagte ich.

Er sah mich erschrocken an, als sei ich wieder ein anderer geworden.

»Gut denn,« sagte er zögernd, »so sollen Sie heute schweigen, wie Sie es wollen, aber ich möchte doch, Sie verstünden mich recht. Glauben Sie an Wunder?«

»Was nennen Sie Wunder? Sie fragen wie ein Knabe. Entweder glaubt ein Mensch, oder er glaubt nicht. Glaubt er, so gibt es nichts, das für ihn unmöglich wäre, wie Menschen von möglich oder unmöglich sprechen. Glauben heißt schon, das Willkürliche und Zufällige der vergänglichen Erscheinungen- und Tatsachenwelt für nichts achten. Die Welt des Glaubens ist einfältig und wunderbar, wie alles Glück.«

Ich stand auf und bot ihm die Hand zum Abschied.

»Bleiben Sie noch,« bat er, »Sie müssen doch fühlen, was mich bitten läßt. Es drängt und bohrt und arbeitet in mir, mir ist als müßte dieser Tag mir etwas Unnennbares bringen. So hören Sie denn, was Sie hören müssen: ich glaube gewißlich, aber nun sagen Sie mir das Eine, was ich durchforsche wie trübe Luft, in qualvollem Eifer, damit die Tropfen fallen und der Himmel klar wird. Was wußte diese Tote, was wissen Sie? Ich bin mir kaum über das klar, was ich hier fragen muß ...«

»So ist es, Sie wissen nicht, was Sie sagen, am wenigsten aber, was Sie hören. Jenes Wort, das Sie am Grabe gesprochen haben, ist mehr und größer, als die Geistesarbeit einer ganzen lebendigen Jugend zu ermessen vermag. Es ist das Wort gewesen, mit dem die Tote einst in mein Leben trat. Sie versprach mir, bei mir zu bleiben, auch wenn sie stürbe. Das ist das Geheimnis jener Ergriffenheit, deren Zeuge Sie gewesen sind, ich begriff über Ihrem Ausspruch den Sinn der Verheißung aufs neue und der Mantel des Todes sank von der ruhenden Gestalt. Ich weiß, daß sie lebt, denn ihr Wesen war nichts anderes mehr, als jenes Licht, das heute und morgen in die Menschenfinsternis scheint, und ewig.«

Mein Nachbar schwieg, wie auch ich, und versank in sich. Er schien nicht zu bemerken, daß ich davonschritt, vielleicht auch war es ihm recht, daß ich ihn nun allein ließ, auf seinem Weg zu sich selbst, jenem einzigen Weg, den wir gehen können, wenn wir wahre Gemeinschaft mit den Menschen finden sollen.


Zweites Kapitel

Das Meer

Nach Asjas Tod vermochte ich mein Leben auf der Landstraße nicht zu ertragen, mir war, als schleppte ich auf Schritt und Tritt eine Last mit mir herum, die zu schwer drückte. Dabei empfand ich weder Trauer noch Schmerz, sondern nur Verlassenheit und die Tage flossen mir in einem Gleichmut herum, der mich ängstigte. Ich kann nicht wahrhaft traurig werden, dachte ich. Dann wieder fürchtete ich, der Verlust dieses Menschen habe etwas für alle Zeit in mir zerstört, meine Ruhlosigkeit war furchtbar und verfolgte mich bis in den Schlaf, der nicht mehr tief und dunkel war, wie einst, sondern voll nebelhaften Lichts und ohne Versunkenheit. In ihm erlitt ich zuweilen eine gegenstandslose Traurigkeit von solcher Inbrunst, daß ich durch mein Schluchzen geweckt wurde und zornig im Erwachen eine Gestalt zu erhaschen trachtete, die ich nicht gesehen hatte. Ich besann mich mühsam und war bekümmert, diese Traurigkeit verloren zu haben, die mir in meiner Traumerinnerung wie ein unirdischer Reichtum vorkam.

Den Vögeln, den Blumen, den Bäumen sagte ich oft: ich kenne euch alle längst. Menschen mied ich; gesellte sich mir hier und da auf der Wanderschaft einer zu, so vertrieb ich ihn durch meine Schweigsamkeit, denn da ich nicht alles zu sagen vermochte, sagte ich nichts. Nur eines Mädchens entsinne ich mich aus dieser Zeit noch, zwar habe ich auch mit ihr nur ein paar Worte gewechselt, aber ich kann sie nicht vergessen und immer, wenn ich ihrer gedenke, ist mir zumut, als hätte ich an jenem Tage mir selbst und ihr wichtige Eingeständnisse gemacht, die mich beruhigten. Bilder und Gestalten dieses Erlebnisses haben sich mir sonderbar eingeprägt, wie ein Abschied; wenn ich an sie zurückdenke, so ermesse ich daran den Zustand meiner Seele, die beziehungslos aufnahm, was sich ihr bot, wohl aber deutlich, sinnbildhaft, ein fremder Spiegel.

Es war ein heißer Tag des Frühlings, der schon in den Sommer überging, und mein Weg hatte mich durch eine verlassene Moorlandschaft geführt, in der ich den Vormittag hindurch niemandem begegnet war. Als ich das von Weiden- und Erlengebüsch bewachsene Ufer eines Flusses erreicht hatte, warf ich mich ins Gras nieder, das in der feuchten Erde so hoch stand, daß es mich wie eine grüne Flut aufnahm. Es war so still, daß man die Flügel der Libellen in der Luft des warmen Mittags hörte und die geheimnisvollen Stimmen des träge dahinziehenden Wassers. Die Rohrspatzen schrieen im Schilf, in einer nahen Sumpfniederung, in der das tote Wasser zwischen den hohen Halmen in der Sonne glitzerte. Ich dachte an das heiße Leidensband der Straße, wie an eine überstandene schmerzhafte Krankheit, trocknete meine Stirn und atmete tief.

Der sanfte Wind bewegte über meinen Augen die Halme, sie schaukelten im Himmel. Eine Biene zog daher, summte bekümmert und ließ sich am Rand des Kelches einer Blume nieder, die sich mit ihr neigte. Das kleine Tier zog in die farbige Helligkeit der Blüte ein, in den strahlenden Sonnentempel, in dessen reiner Halle das Leben einander suchte und sich begegnete. Langsam wanderte eine Wolke hoch am Himmel dahin, leuchtete, ward kleiner und zerging im Blau. Wenn die Wipfel der Erlen von einem Windhauch berührt wurden, begann für eine Weile ein geschäftiger Eifer in den Blättern, ein silberner Strom umfloß sie, der die Augen lockte und in glückhafte Gefangenschaft nahm. Die Düfte, die vom durchwärmten Wasser und aus dem feuchten Grund der Ufer strömten, schläferten ein und führten merkwürdige Erinnerungen aus den Tagen der Kindheit mit sich, die zugleich gegenwärtig und vergessen waren, wie ein von Träumen befangener Blick.

Ich ließ die Stunden verstreichen, als habe ich mein ganzes Leben lang auf sie gewartet. Als die Gnadenbahn der Sonne ihren Höhepunkt überschritten hatte, vernahm ich ein gedämpftes hölzernes Poltern und ein Plätschern des Wassers, das nicht von der Strömung kommen konnte. Ich richtete meinen Kopf empor und sah auf der Silberleiste des Flusses einen Kahn dahintreiben, in dem ein Mädchen stand, das mit einem groben Ruder steuerte und auf das Ufer zuhielt, an dem ich lag. Ich betrachtete ihre von Licht umflossene Gestalt, die jungen Glieder, die das dürftige und arme Sommerkleid kaum verhüllte, und das feuchte Haar, das in einem nachlässigen Knoten in den gebräunten Nacken hing. Es war von einem seltsamen, farblosen Blond, als hätten Sonne und Regen ihm seinen Glanz genommen, und doch lag ein matter Schein darauf. Dicht an meinem Ruheplatz sah ich nun einen Holzsteg im Sumpf, der, auf morschen Pfählen, ein wenig in den Fluß hineinragte, zwischen dem Schilf.

Als das Mädchen den Kahn an die Bretter treiben ließ und ihn befestigen wollte, erblickte sie mich und sah mich mit großen, überhellen Augen starr und erschrocken an. Die Helligkeit dieses Blaus hatte etwas tierhaft Leeres und Einschüchterndes, es flackerte über dem matten Braun der Wangen wie ein gespenstiges Lebenswahrzeichen von sagenhafter Unberührbarkeit. Die Strömung drehte langsam den Kahn, das Mädchen hielt einen der Pfähle, etwas geneigt, mit der Hand fest, beugte sich vor und staunte, bis der Ausdruck meines Gesichts ein ratloses Lächeln in ihren Zügen hervorbrachte.

»Was liegst du dort? Woher kommst du?« fragte sie langsam mit einer tiefen Altstimme.

Sie zögerte den Kahn zu befestigen und den Steg zu betreten, vielleicht, weil ich nicht sogleich antwortete. Endlich erhob ich mich halb unter der Last des schweren goldenen Sonnenmantels, der lange auf meinen Gliedern und Gedanken gelegen hatte, und sagte:

»Ich ruhe und schaue das Licht, die Pflanzen, den Himmel an, und nun auch dich.«

Mit leichter Verwirrung sah sie auf mich nieder, sie schien zu empfinden, daß sich mit mir nicht auf die Art reden ließ, wie sie es mit den Leuten ihrer Gegend und Heimat konnte. Aber in einem bescheidenen Stolz verbarg sie ihre Scheu vor dem Fremden, es war, als wünschte sie zu bestehen, und ihre heimliche Sorge, ohne Angst, war rührend und voll kindlicher Gefaßtheit.

»Du bist müde, oder vielleicht hungrig, auch lange unterwegs ...« Ihre Augen musterten mich aufmerksam, aber ihr Forschen verletzte nicht. Diese Sinne suchten nach anderen Merkmalen und Zeichen, als die Menschen es tun, die die Städte in toter Gemeinschaft bewohnen. Vorsichtig, klug und heiter umwanderten mich die hellen Lichter der Augen, voll freundlicher Neugier und bereit zu verstehen.

Die Würde ihrer Armut rührte mich tief. Mir schien, als entstammte ihre Gestalt dieser Landschaft so unmittelbar, wie eine Pflanze dem Wiesengrund. Die Sonnenglut verwob mir alles zu einem einzigen Teppich des Lebens, in dem das eine soviel wie das andere galt, Pflanzen und Wind, Mädchen und Hecken. Ich tat mir Gewalt an, erhob mich und machte einen Schritt auf den Steg zu.

»Komm herüber zu mir,« sagte ich, »ich werde dir helfen.«

Sie antwortete nicht, sah mich voll und ruhig an und löste die Hand vom Pfahl, ohne sich zu rühren, so daß der Fluß den Kahn langsam vom Steg abtrieb. Ich sah ihre Gestalt gegen den Himmel, unbeweglich und doch auf stiller Wanderschaft, wie zuvor die Wolke im Blau. So entfernte sie sich mehr und mehr von mir, aber sie lächelte mich an, als käme sie mir entgegen.

»Komm doch wieder«, sagte ich und trat vom Steg zurück. Da sie sah, wie ich mich an meinen alten Platz ins Gras sinken ließ und daß kein Anzeichen von Groll in meinem Gesicht zu finden war, tauchte sie das Ruder ein und stieß den Kahn wieder gegen die Flut, bis ihre Hand den Pfahl im Wasser erreichte, der sich ein wenig neigte, als sie sich und den Kahn aufs neue daran festhielt. Er war schwarz und schien so alt wie die Welt, wie lange mochte er an dieser Stelle im morastigen Grund stecken? Das Schilf rührte sich unter einem kaum spürbaren Luftzug, der sich vom Wasser erhob und wieder auf die ziehende Silberbahn sank.

»Was wolltest du hier tun?« fragte ich.

»In der Bachmündung liegt die Fischreuse. Die Fischreuse ...« wiederholte sie erschrocken. Es mochte ihr in den Sinn gekommen sein, daß sie mir mit dieser Aussage das Versteck ihres Geräts verraten hatte. Aber da ich weder danach suchte noch ihr antwortete, sah sie mit Befangenheit in meine Augen, als habe sie mir mit ihrer Besorgnis unrecht getan.

Ja, antwortete ich ihrem Blick, ohne zu sprechen, es gibt eine fröhliche Traurigkeit. Du hast mir kein Unrecht getan, weshalb wächst deine Unsicherheit? Ich will nicht mehr mit dir reden, denn ich weiß alles. Was ich aber nicht erlebt habe, ist dennoch mein Eigentum, es ist wie die Zukunft, süß wie die Keime der Pflanzen, wie die Liebe des Bluts und wie die Nacht.

Da löste das Mädchen, wie geängstigt durch mein Schweigen, in einer kaum sichtbaren Regung die Hand vom Pfahl, sie wagte nicht zu sprechen und schlug die Augen nieder, damit die sonderbare Frage meiner Blicke sie nicht erreichen konnte. Die willkommene Strömung faßte wieder den Kahn, drehte ihn langsam und nahm ihn lautlos mit sich fort. Erst als schon die Schilfwände sie zur Hälfte meinen Blicken verdeckten, hob sie die Hand und winkte schüchtern ins Grüne, Weite hinein.

Erst vereinzelt, dann in Gemeinschaft erklangen nun wieder die Stimmen der Rohrspatzen und eine Libelle mit dunkelblauen Flügeln ließ sich auf einem Schilfhalm dicht vor mir nieder. Als die Sonne mehr und mehr sank, wehte es kühler vom Wasser her. Der Sonnenschein umher bekam auf allen Blättern, auf dem Wiesengrund und in der Weite am Saum des Waldes, jenen Goldglanz ohne Frische, wie er die Nachmittage so klar und sonderbar macht in ihrer Stille. Die Fische begannen zu springen, ein dichter Schwarm kleiner, weißgeflügelter Insekten spielte über dem toten Wasserarm in der reinen Luft, und sah sich tausendfach im Spiegel seiner Lebenswelt: ein blanker, dunkler Abgrund mit dem Bild des Himmels, Wiege und Grab ...

So taucht in meiner Erinnerung zuweilen diese Stunde empor, die in den Stunden dieser Tage und Nächte merkwürdig geschieden und in gesonderter Deutlichkeit in mir zurückgeblieben ist. Sie ist zu Abschied und Verheißung für mich geworden und steht zwischen Trennung und Erneuerung, ein wahrsagendes Lebensbild.

Erst unsere Gedanken machen die Seele zum Geist, aber zuweilen scheint es, als dächte es in uns, ohne uns, wir werden zu Zuschauern unserer selbst, schreiten neben uns dahin und lassen neben uns geschehen und über uns dahingehen, was wir nicht teilen und doch sind. Es ist dann, als ob ein uraltes Vermächtnis in uns zu einer milden Ungeduld erwachte, wir empfinden später, daß wir Erben sind, die ihr Teil, obgleich sie es nicht erkennen, doch verwalten.

Mochte es sein, weil ich am Tage geruht hatte, ich verspürte mit der herabsinkenden Dämmerung keine Müdigkeit und schritt durch ein Dorf, in dem ich niemanden sprach, in die hereinbrechende Nacht hinaus. Es bildeten sich Wolken, die, ein rotbrauner feiner Rauch aus dem Herd des Sonnenuntergangs aufzogen und die aufbrechenden Sterne verschleierten. Sie und die schmale Mondsichel schienen hinter diesem ziehenden Flor dahinzueilen, fern und hastig, aber still, wie alles, das nicht dem Boden der Erde entstammt. Ich stand und sah die Sterne wandern. Sie stehen still und scheinen doch zu ziehen, dachte ich, aber hinter dieser Gewißheit gibt es eine andere, die, daß sie wandern, hoch im Weltall, obgleich es uns so erscheint, als stünden sie still. Was wir mit unseren Sinnen allein wahrnehmen ist immer nur richtig oder unrichtig, aber Wahrheit ist nicht durch die Welt der Sinne zu erkennen, erst die Geist gewordene Seele lebt in Regionen, in denen es Wahrheit gibt. Das ist das Ziel. Ob ich aber gehe oder ruhe, verweile oder dahintreibe, wer von euch weiß es, ich weiß es nicht. Ruhe sanft, schlaf wohl, Asja, du ewig Geliebte in der seligen Ruhlosigkeit deines lebendigen Lebens tief in mir und aller Liebe.

Es wurde so dunkel, daß ich kaum noch den Weg erkannte, obgleich die Augen sich leicht an Finsternis gewöhnen, wenn sie sich langsam mit ihrem Hereinbrechen, wie von innen her, öffnen. Ein dichter Buchenwald begann, dessen Stämme, glatt wie Säulen, ihr schwarzes nächtiges Blätterdach wie ein Domgewölbe trugen. In einer Lichtung hörte ich Eulenstimmen, und die Nacht wurde mir plötzlich lieb und voller Geheimnisse. Ein sonderbarer Geruch, der mich zugleich beunruhigte und mir die Brust weitete, machte sich wie ein Zustand bemerkbar, ich kannte diesen Hauch, aber er entsank immer wieder meinen Gedanken, so daß ich mich nicht sammelte, um ihn zu prüfen. Aber meine Unruhe wuchs, ich ging langsamer, der Wald lichtete sich und der Weg führte sanft bergan, sandig und über kahles Gelände.

Als ich die Anhöhe erreicht hatte, sah ich wieder Sterne, es ging ein kühler, gleichmäßiger Windzug und ich hörte ein sonderbares gedämpftes Rauschen, als ob der Wind durch Tannenwipfel zöge. Vor mir lag ein matter, großer Lichtschimmer, wie durchscheinender Nebel, und mir war, als sei ich vor eine Schranke geraten, als wanderten aber zugleich die Blicke von mir fort, so daß ich die Gewalt über sie verlor, und ein leiser Schwindel befiel mich. Da erkannte ich jählings, was vor mir lag, und erschrak sehr, taumelte gegen ein Bäumchen der Straße und schrie laut auf — das Meer!

Da lag es vor mir, über sich den mächtigen Dom der Nacht. Ein Schauer voller Freiheit und Erhobenheit faßte mich wie Wind, mein Glück war so groß, daß ich bebte, aber zugleich ergriff mich mit Ungestüm eine grüblerische Sehnsucht und ein unnennbares Ungenügen. Nie war ich kleiner und ärmer, nie so wenig dem Glück gewachsen, das sich in mir und vor mir weitete, als sei das Meer das Unfaßbarste und zugleich das Ersehnteste des Lebens. So lehnte ich an dem Straßenbaum in der Dunkelheit und sah das graue Meer leben und matt leuchten. Ich schloß die Augen, als trüge nun der Strom der Seele mich, aus mir selber stammend, über die Weite. Tief hinter der düsteren Meerwölbung, in Weltenfernen, mußten bunte Küsten flammen, überhell in der zornigen Sonne des Orients, heiß und wunderbar ...

Die dunkle feuchte Luft nahm mich wieder auf, als ich die Augen öffnete, mir war als sähe ich sie. Das hellere Band des nahen Strands zog sich zur Linken in einem weiten freien Bogen dahin, an dessen fernem Ende der Wald sich bis an die Flut drängte, und dort schimmerte in seiner schwarzen Mauer ein winziges Lichtlein, so rot wie ein Farbfleck, seltsam trüb und leblos in der silbrigen Dämmerwelt der Küstennacht.

Wenn man wochenlang das Meer befahren hat und sieht am Horizont endlich die starre, graufarbige Leiste der Küste, so ist man nicht weniger ergriffen, als wenn sich unerwartet die lebendigen Wassermassen des Meers vor uns auftun. Oft ist schon sein Schimmer in der Ferne, das auch ein Himmelsstreif, ein Strom oder eine Wolkenbank sein könnte, je nach der Beschaffenheit der Luft, ein Anblick voll sonderbar erregender Kräfte, es vollzieht sich ein Wechsel in uns, der unbeschreibbar ist und keinem anderen Gefühl zu vergleichen, wir verlieren heimlich eine alte, törichte Erdensicherheit, die unsere Seele in Fesseln gelegt hatte. In gnädiger Einfalt zeigt sich uns nun die Erde, unser Stern, für eine kurze Weile in der ungeheuren Dreieinigkeit von Himmel, Erde und Meer. Wie eine Last, wie ein häßliches bestaubtes Reisekleid sinkt das Bewußtsein von tausend kleinen Tages- und Lebenssorgen an uns nieder, unser Leib erhebt sich, umweht, vom kaum berührten Boden, und wir wissen, wie feierlich es ist, ein Mensch zu sein.

So stand ich lange und sann, bis das rote Licht am fernen Waldrand mich aufs neue in die Gefangenschaft seines Daseins nahm, und ohne es recht zu wissen, ging ich seinem stillen Ruf nach. Es galt, die Meerböschung wieder ein wenig emporzuklimmen, um festeren Boden zu gewinnen, denn das Schreiten im Sand ermüdete. Am Rand eines Kartoffelackers führte ein schmaler Fußweg entlang, auf der Höhe des Deichs, auf seinem Kamm ging ich dahin, zwischen Meer und Land. Wie eine mächtige, ruhende Silbersichel zog sich der Bogen der Bucht mit seiner helleren Brandung dahin, sie leuchtete stärker als Himmel und Meer und lebendiger. Die Landschaft zu meiner Linken ruhte in geheimnisvoller Dämmerung und duftete nach sommerlicher Abendnässe. Ich kam an ein Roggenfeld, dessen Halme spärlich standen, aber im nächtlichen Licht war dieser silbrige Lebensteppich von beglückender Fülle. Ich strich mit der Hand über die Ähren, sie rauschten geheimnisvoll und füllten durch ihre Berührung mein Blut mit einem wunderbaren Dank.

Der Wald vor mir wuchs an, ich näherte mich langsam seinem Bereich, und nun schien der rote Lichtschein bald zu erlöschen, bald wieder aufzuglimmen, jenachdem die Baumzweige und Büsche ihn meinen Augen verdeckten. Ich kam an einen verfallenen Gartenzaun aus groben, genagelten Planken, deren Spalten von Buschwerk durchwachsen waren und die teilweise lose niederhingen. Es war so dunkel hinter der Buschhecke, daß ich nichts erkannte, und still, wie auf einem Kirchhof. Dies mußten Haselnußsträucher sein, hier duftete Hollunder, oder war es Jasmin? Die schweren, kühlen Duftwogen standen wie Wolken über den Schattengründen der Gartentiefe, und erst meine Bewegungen in der Nachtluft schienen sie zu mischen. Kein Laut erhob sich, nur der rote Lichtschein glomm immer noch geheimnisvoll in naher Ferne, höher nun als vorher, und zuweilen sah ich die Zweige eines Ahornbaums mit dem gezackten Blätterwerk gegen den viereckigen Lichthintergrund des offenen Fensters, aus dem das Licht brach.

Nahe am Haus hörten die Büsche auf, so daß unter den Bäumen ein freierer Platz entstand, vielleicht ein breiter Weg oder ein Rasenrund. Ich erkannte eine schmale Holzbank, die um den Stamm eines der alten Bäume geführt war, und beschloß dort zu ruhen und zu prüfen, ob menschliches Wesen in dem kleinen Lichtbereich herrschte, dessen Ruf ich gefolgt war, und dessen viereckiges Tor, wie ein rosa Vorhang, totenstill in der Nacht schwebte.

Ich nahm meinen Stock fester in die Hand und schritt zögernd auf die Bank zu, jeden Augenblick konnte ein Hund hinter dem Haus hervorstürzen, das hätte mühevolle Beschäftigung gegeben, die ich kannte. Ich wußte aus Erfahrung, daß man in solchem Fall nicht flüchten darf, sondern standhalten muß und sich erst nach kurzer, ruhiger Haltung, langsam, Schritt für Schritt und rückwärts schreitend, auf den Zaun zurückziehen durfte. Einmal hatte ich auf einem Hof in der Einöde in einer pechschwarzen Regennacht mehr als eine Stunde lang einem großen Hund gegenüber gestanden, der mich gestellt hatte, und von dem ich nichts sah, als seine Augen. Keiner von uns rührte sich, wir waren zwei Statuen in der verlorenen Weltfinsternis, und jeder wartete auf die erste Bewegung des anderen. Das Tier und ich, wir beide wußten, es ging um unser Leben, diese Gewißheit verdichtete sich in unserm Bewußtsein zu einem graunhaft einsamen und einzigen Mordgedanken. Mit Bewegungen, die langsam waren wie der Zeiger einer Uhr, gelang es mir, mein Messer in die Hand zu bekommen und den Arm weit hinter mich zurückzustrecken, wozu ich mehr als eine Stunde gebraucht habe. Mit dem Wahnsinn, der Verzweiflung und dem Todesgrauen, die wie ein langes, atemloses Sterben gewesen waren, stieß ich jählings im Dunkeln das Messer unter die beiden glühenden Augen. Der Zustand mußte ein Ende haben, so oder so. Und meine Hand war glücklich, es röchelte, wälzte sich scharrend am Erdboden und ward still. Aber auch ich sank zur Erde und fand erst, als der Morgen dämmerte, die Kraft mich davon zu schleppen, bis an einen Wald, in dem ich lange schlief. —

Aber hier, unter den Ahornbäumen, blieb es still, nur die Erinnerung jagte meinen Geist für eine Weile vor sich her, als verfolgte ihn das Gespenst jenes Erstochenen in einer gleichen, finstern Nacht, wie es die Nacht seines Todes gewesen war. Tröste mich in der dunkeln Verlorenheit, du Licht, dachte ich, irgend ein Mensch wird in deinem Bereich atmen, ein Mann, ein Weib, vielleicht ein Kind, das bei der brennenden Kerze eingeschlafen ist. Ich lauschte hinauf, da vernahm ich in kleinen Abständen von einander jenes leise knisternde Rascheln, das durch das Wenden der Buchblätter beim Lesen entsteht. Das war mir ein gutes Zeichen. Menschen, die nachts in Büchern mit den Geistern anderer verkehren, sind dem meinen verwandt, wer in einem Buche liest, ist schon mein Bruder.

Da fragte ich laut zum Fenster empor: »Was liest du für ein Buch?«

»Himmel, Tod und Wolkenbruch,« antwortete eine Mädchenstimme, als riefe sie um Hilfe, »wer ist denn da?«

»Ein Mensch wie du, der die Welt durchwandert, wie dein Geist das Buch.«

»Aber wo steckst du denn? Deine Stimme klingt, als käme sie von der Decke herab.«

»Ich bin im Garten, unter den Ahornbäumen.«

»Merkwürdig ...«

»Sprich von dem Buch, in dem du liest.«

»Warum nicht gar! Soll ich etwa den ganzen Inhalt erzählen? Er würde dich kaum erfreuen, denn du gehst auf besseren Wegen als ich, draußen durch die Sommernacht, vom Strand her ... Dies Buch dagegen ist von Tante Mimsey, da wirst du dir schon denken können.«

»Hast du keine anderen Bücher?«

»Sag' erst, wer du bist.«

»Ich bin einer, der die Bücher von Tante Mimsey nicht liest.«

»Dann bist du also Vetter Eberhard.«

»Ich denke nicht daran.«

»Ach ... er wollte kommen.«

»Kommt er immer nachts?«

»Ich kenne ihn noch gar nicht, er ist Student, vielleicht kommt er nachts und erschreckt mich wie du es getan hast. Sag' jetzt, wer du bist, sonst muß ich die Unterhaltung abbrechen. Ich liege hier im Bett, habe nicht einmal ein Hemd an und spreche mit einem fremden Mann. Gottlob schläft Tante Mimsey an der andern Seite des Hauses, wegen der Sperlinge, die hier im Efeu nisten.«

»So werde ich also zu ihr hinübergehen.«

»Da kannst du allerlei erleben. Außerdem ist sie schwerhörig, sie hat eine Ohrentrompete, die auf ihrem Nachttisch liegt.«

»So soll ich bleiben?«

»Sag' erst, wer du bist.«

»Gut, ich will es sagen, aber versprich mir, wenn du mich anerkennst, nachdem ich mich dir vorgestellt habe, daß du zu mir herunterkommst.«

»Was fällt dir ein, niemals werde ich herunterkommen.«

»Warte ab, was ich dir sage. Wenn ich gesprochen habe und du willst nicht herabkommen, so verlangt auch mich nicht mehr danach, und ich werde meines Wegs gehen.«

»Wie unhöflich du bist.«

»Unhöflich ...«

»Natürlich! Seit wann kommt eine Dame zuerst zu einem Herrn? Könntest denn nicht du heraufkommen zu mir?«

Nun war es eine Weile still.

»Geht denn das?« fragte ich endlich. So armselig kann ein Mensch aus seiner Rolle fallen. Welch eine törichte Frage das doch war. Die Stimme antwortete ohne Eifer:

»Wenn ich dir sagen muß, ob es geht, so geht es sicher nicht. Aber erst wolltest du dich vorstellen. Ich verspreche dir getrost alles, was du willst, denn ich weiß, daß du schon bei der ersten Bedingung versagst, unter der ich meine Versprechungen mache. Wenn du dich vorgestellt hast, so werde ich dich nicht einladen, sondern verabschieden.«

Was war doch das? Ein mühsam unterdrücktes Gähnen scholl zu mir herab. Jetzt geht noch das Licht aus und das Fenster wird geschlossen, dachte ich mutlos. Aber es geschah etwas weit Schlimmeres: Ich hörte wieder, wie eine Seite im Buch umgeblättert wurde.

Nun galt es, einen neuen Anfang zu finden. Ach, wollte Gott, ich fände einst das Ende so leicht und froh, wie ich alle Anfänge gefunden habe.

»Leg' dein Buch fort!« sagte ich laut.

Es rauschte aus dem Fenster heraus jählings durch die Luft, raschelte wild im Gezweig und schlug klatschend neben mir am Boden auf. Das war das Buch.

»Und jetzt?« fragte es schläfrig aus dem Licht.

»Jetzt sei still. Glaubst du immer noch, daß du meine Kräfte beeinträchtigst, wenn du sie bezweifelst? Wieviel Sinn du doch dafür hast, daß einem Mann vor einem jungen Weib das Herz schüchtern wird, wenn sie ihm seinen Ernst durch ihr Spiel raubt und seinen Hang zum Spiel durch ihren unehrlichen Ernst. Wenn du wissen willst, wer ich bin, so darf ich nicht über mich, sondern ich muß über dich sprechen. Du wirst mich hören, als hörte mich niemand und alle. Spreche ich nicht aus der Nacht in ein ungewisses Licht empor und glaube immer und immer wieder, es sei der Morgen, der heraufdämmert? Von mir ist nichts zu sagen, als daß ich immer geglaubt habe, es sei der Morgen. Auch zuletzt werde ich es glauben, und dann wird er es sein.

Aber jetzt ist noch Nacht für mich, und du stehst mitten darin, so schön wie die Ahnung des Morgens und oft viel mächtiger. Wenn ich auf dich zugehe, so ist es auch, als ob ich dem Morgen entgegenginge. Auch du füllst die Seele wieder und wieder mit Hoffnung und bist in Wahrheit ein Morgenschein. In der Welt ist es wie eine Nacht in der Nacht, und es gibt zwei Morgen. Der eine bricht aus dem Blut hervor, der andere aus dem Geist, verstehe es wer mag, Gott ist in beiden, denn in beiden sind Lust und Heimweh, auch Zuversicht der Wiederkehr, der Dauer, der Ewigkeit und Freiheit.

Wie soll das Herz sich entscheiden? Ist das nicht unser einziges Leid? Seit ich nun deine Stimme gehört habe, ist jeder Morgen aus meinen Sinnen und Gedanken entschwunden, der nicht der Morgen ist, dessen Schein aus deinem Liebreiz bricht. Ich weiß nicht, ob du gut oder schön bist, häßlich oder böse, aber ich weiß, wie klar und feierlich die Liebe ist, die in meiner Brust erwachen könnte. Sie zeigt mir dein Lebenswesen als einen strahlenden Weg, dessen Ende und Ziel der ewige Gott ist, das große Meer aller Lichtwogen der Freude und aller Tränenströme. Sieh, so stehe ich hier in meinem Licht, das von dem deinen angelockt worden ist, in der irdischen Nacht, keine Sorge quält das Herz, das bereit ist, sich abzuwenden, denn es gibt jenen andern Morgen, weißt du noch von ihm?

Ihr wißt nichts von ihm, nur wie im Traum hört ihr von ihm reden und seht ihn fern leuchten, regt euch sehnsüchtig, lauscht wohl auch, und seid gläubig nach der Art der Mädchen und Frauen, ein wenig bestürzt, wie vom Licht benommen und rührender, als daß ein erkennendes Auge es ohne Tränen zu schauen vermöchte. Aber unsere Morgenhoffnung lebt nicht als Quelle in eurem Gemüt, und wenn wir nicht in euch wiederkehren, so war schon euer Willkommen ein Abschied. Versündige ich mich nun, oder bin ich gehorsam? Sieh, ich möchte mehr wissen, als nur, daß du hell bist.«

So sprach ich in der Dunkelheit, bald stockend und sonderbar traurig, bald von einer jubelnden Gewißheit des Glücks und des Triumphs erhoben, und stets dachte ich heimlich, als dächte es neben mir ein anderer: Du kannst jeden Augenblick still davongehen, du Narr und Held, und niemand wird wissen, wer geredet hat.

Als ich schwieg, blieb alles still. Ich hörte ein sonderbares fernes Geräusch und lauschte. Es war das Meer. Ein ungestümer Frohsinn ergriff mich jählings. Da draußen wogt und rauscht es, die mächtige Wasserebene, unter der Sternenweite. Ich will hinab ans Meer, dachte ich und schritt auf das Haus zu. Ich will am Strand schlafen und mich von den Stimmen des Meers einwiegen lassen, wie wird sein Laut wohltätig sein, ohne Wissen und Urteil, ohne Einschätzung, wie schon die Toten ihn vor tausend Jahren vernommen haben und wie die Kommenden ihn vernehmen, wenn wir unter der Erde sind.

Ja, es war ein kräftiger alter Efeustock, der am Hause emporrankte und dessen Schlangenarme, fest im Mauerwerk verwachsen, wohl einen Menschen tragen konnten, ohne durch sein Gewicht niedergerissen zu werden. Darin schliefen jene Spatzen, die Tante Mimsey mied. Wahrscheinlich würden einige von ihnen aufgescheucht werden. Wenn ich im Klettern innehielt, hörte ich mein Blut und das Meer brausen und klopfen. »Wenn wir unter der Erde sind ...« Wie bald wird es sein, Mut, meine Seele! Noch bist du über der Erde und schon ein erhebliches Stückchen höher, als eben noch. Wenn dieser knorrige Arm der alten, guten Efeustaude standhält, so erreicht meine Hand das Fensterbrett. Daß die fremde Freundin dieser Nacht von ihrem Lager aus nicht widersprach! Sollte ich vor ihr bestanden haben, mit meiner sonderbaren Rede? Was hatte ich denn gesagt ...

Nun erreichte ich das Fenster, schwang mich empor, saß auf dem Brett und schaute in den erhellten Schlafraum. Ich sah wenig darin, da meine Blicke zuerst allein durch das von einer Kerze beschienene Angesicht der Liegenden angezogen wurden, das wie in einem blonden Lichttal der Haare, etwas zur Seite geneigt, in tiefem Schlaf vor mir ruhte. Vielleicht verstellte sie sich, wer wollte es wissen, in dieser holden, schrecklichen Welt von Nacht, Fremde und süßem Weltzauber aus Kühnheit, Not und Glauben. Ich schwang mich lautlos auf das Fensterbrett, wartete still ein wenig, ob das Zittern meiner Glieder sich legen würde und darüber die hellen Lider vor mir im Lichtschein sich öffnen möchten, aber beides blieb, wie es war, und so ließ ich mich leise in den Raum nieder, trat auf das Bett zu und setzte mich auf den hölzernen Rand.

Ich wurde sonderbar ruhig, als ich dort nun saß. Wie mit einem tiefen Atemzug kam mir der Gedanke: Da sind wir nun beieinander, zwei Menschen in der Nacht, was sonst? Aber langsam überkam mich eine immer tiefer erregende Angst davor, das Mädchen möchte erwachen, auch beschämte es mich, sie zu betrachten und in ihren Zügen zu forschen, ohne daß sie es wußte und hindern konnte. Es mochte nach ihren Worten mein Recht gewesen sein, in diesen Raum zu dringen, dagegen in diese Seele einzudringen, deren unbewachtes Bild das junge Antlitz spiegelte, widerstand mir schmerzlich. Du sollst mir das Bild von dir geben, das du selber willst, dachte ich. So strich ich ruhig mit der Hand über die schöne, klare Stirn und das weiche Haar, das so zart war, wie die Haut der Schläfe und das sich nicht von ihr unterschied, nicht in der Berührung und nicht im Licht. Ich erzitterte vor der Unschuld dieser Züge, die ich nicht mit dem kecken und heiteren Aufwand der Worte in Zusammenhang zu bringen vermochte, die ich vernommen, und die mich kühn und selbstvergessen gemacht hatten. Die Kinderseligkeit dieses Angesichts nahm mir jede Willkür und führte mich mächtig zu mir zurück, als wäre alle Erinnerung meiner Jugend zu einer blendenden Mahnung geworden.

Da öffnete die Schlafende die Augen, setzte sich erschrocken auf und nahm mit beiden Händen meine Hand:

»Oh, verzeih!« sagte sie herzlich, »du hast so schön gesprochen, und ich bin eingeschlafen. Wie häßlich von mir. Aber glaube doch, ich habe das meiste gehört, es war wirklich sehr schön, besonders der Anfang. Bist du böse?«

»Wer bist du?«

»Sicher kein Gespenst — du schaust mich an, als sei ich eins. Bitte gib mir mein Hemd.«

Ich sah mich um.

»Dort am Waschtisch.«

Ich fand dort etwas Helles, leichter als ein Taschentuch, und reichte es ihr, wie im Traum. Es flatterte auf wie ein Nebelwölkchen im Licht, senkte sich zwischen den erhobenen Armen, und das blonde Haar flimmerte wieder im Kerzenschein. Aus dem losen goldenen Rahmen, aus betörend zartem Lebensblaß, sahen die Augen mich groß und sicher an, zugleich hell und dunkel, mit lächelndem Forschen, ohne Schüchternheit, aber ernst.

»Also ich heiße Kaja, von Geburt und Titel bin ich Baronesse, Freifräulein und »gnädige Frau«. Das tut aber nichts zur Sache, ich lege keinen Wert darauf, und wer bist du?«

»Worauf legst du Wert?«

»Das ist einfach zu sagen: Auf Sonnenschein, auf ein gutes Buch und kluge Männer.«

»Ich würde wenigstens sagen: Auf gute Bücher und einen klugen Mann.«

»Weshalb? Aus dir wird man nicht klug. Steigst du in Kammerfenster zu den Mädchen ein, um Predigten über Moral zu halten?«

»Setzt du voraus, daß man unmoralisch ist, wenn man zu einem Mädchen einsteigt?«

»Du weißt zu antworten. Ich setze es nicht voraus, aber ihr, ihr alle! Wenn ich es aber bei dir vorausgesetzt habe, so hoffe ich, nicht enttäuscht zu werden.«

Ich dachte nach, begriff den kecken Sinn dieser Wendung und erschrak heiß.

»Ich weiß, daß ich dich enttäuschen werde«, sagte ich abweisend.

»Woher weißt du das? Wie siehst du überhaupt aus? Dein Gesicht und deine Stimme sind anders als dein Gewand. Aber sag', wie willst du wissen, daß du mich enttäuschen wirst?«

»Du kannst nicht lieben, Kaja.«

Sie lachte laut und fröhlich auf: »Ich — nicht — lieben!? Weißt du, ich habe mir zuweilen mancherlei Vorstellungen davon zu machen versucht, wie ich wohl auf einen Menschen wirken würde, dem ich mich durch einen gnädigen Zufall von Anfang an so zu zeigen vermöchte, wie ich wirklich bin. Aber so kühn meine Phantasie die Wirkung ermessen hat, auf deine Antwort war ich nicht gefaßt! Ich soll nicht lieben können? Weshalb nicht?«

»Die Liebe ist wie ein Gott aus einem hellen Bereich, Kaja, der diese Erde betritt: Wenn nur erst sein Fuß ihren Boden berührt, so umhüllt er sich mit einer Wolkenwoge von Traurigkeit, Angst und Zögern. So geht es der Liebe, wenn sie unser Herz befällt.«

Sie sah mich mit wunderbaren Augen an, wie ein schönes, lebensvolles Tier, das zugleich erschrickt und seine Kraft ermißt zu Flucht oder Angriff.

»Höre doch,« sagte sie herzlich und nahm meine Hand, »du bist ja verrückt, oder sogar fromm, Herrgottsakrament. Da wärst du doch besser bei Tante Mimsey hereingeklettert. Jetzt machst du mich ganz befangen, fromme Leute machen mich verlegen, sie haben immer in ihrer Gesinnung recht und in ihren Ansichten unrecht, Gesinnungstüchtigkeit und Dummheit sind eine schreckliche Mischung. Dumm bist du nicht — aber gesinnungstüchtig? Wie gut, daß ich mein Hemd anhabe. Ach, nimm doch an, das Hemd sei jene Wolkenwoge, mit der der Gott sich umgibt. Es wird dich beruhigen.«

Ich wollte antworten: >Du verspottest mich<, aber ein trotziger, wilder Geist ergriff Besitz von mir und gewann Gewalt über mich. Ist es mein Lebensamt, Klage zu führen, dachte ich, wo es gilt, Herr der Stunde zu sein, die ich durchschreite? Ich will mich nach meinem Willen entscheiden, aber ich werde mich nicht erniedrigen und meine Flucht meine Entscheidung nennen. Es liegt alles viel weiter, in großer Ferne, dachte ich bebend, ich werde nicht umkehren. Lieber nenne ich meine Lebensbegier meine Pflicht, als daß ich meine Feigheit meine Tugend nenne. Aber ich fühlte wohl, daß ich in süße und schmachvolle Wirbel geraten war und mit geblendeten Augen in ein mächtiges Erdenlicht sah. Die blinde Kraft macht jede Schuld heilig, es gab nur noch diese Kraft oder die rasche Abkehr, tausend kleine Engel und Teufel tauchten auf und drohten mir mit dem ärgsten Bann des Daseins, mit einer unsterblichen Lächerlichkeit. Da verscheuchte ich die unheilige Schar der geflügelten Spötter und Versucher und sagte:

»Du verstellst dich, Kaja.«

»Wie?« sagte sie und richtete sich in ehrlicher Neugier auf. »Ich sollte mich verstellen? Bin ich denn häßlich? Wenn eine schöne Frau sich verstellt, so hat sie immer einen schwachen oder albernen Mann vor sich.«

»Wenn aber ein kluger Mann zu einer schönen Frau sagt: Du verstellst dich, so meint er damit, sie sei immer noch nicht frei und offen genug für ihre Schönheit.«

»Ach — so —«

»Wenn du deinen Körper mit einem Gott vergleichst, Kaja, wie du es eben getan hast, so gehört er zu denen, die ohne Wolkenwoge schöner sind.«

Sie verstand sofort:

»Siehst du, wie schlecht und böse du bist?« sagte sie bekümmert. Sie lachte leise auf, wie über sich selbst, als zwänge mein Verhalten sie sonderbare und unnütze Dinge zu sagen, Dinge und Worte, derer sie sonst weder bedurft hatte, noch daß sie sich ihrer jemals auch nur bewußt gewesen wäre. Ein Hauch holden, unwirschen Zweifels verzog ihre Lippen, in kindlicher Herablassung, erstaunt und schüchtern.

Mich befielen zugleich Zorn und Scham, aber mit ihnen ein warmer Himmelsschein, tief her aus meiner Seele, wo sie noch schlief und dem Licht vertraute. Ein Gefühl von Verantwortlichkeit, das zugleich Gier war, bemächtigte sich meiner und ein Mitleid, als sei es Erbarmen und Trotz.

»Warum quälst du mich?« fragte ich und seufzte.

— Du große Frühlingsfrage!

Auf welchen Lippen hast du nicht gelegen und welch weite Landschaften voller Blüten und Gram hast du nicht überflogen? Und immer wieder wird die Antwort die gleiche sein, das wehmütige, staunende Glänzen in den großen Märzaugen der erwachenden Seele, das süße Zögern zwischen Angst und Pflicht und das Beben der beseligten Schwäche, aus der die größte, die eine Kraft emporsteigt, ihren ersten allmächtigen Lebensschritt in die Zukunft zu tun, uns verwundet und blutend hinter sich zurücklassend. —

Das kleine Licht am Bett erlosch unter einer suchenden Hand, um ein übermächtiges Licht in uns emporströmen zu lassen, das uns blendete.

Sie ist dahingegangen und im Strom der Zeit versunken, diese Nacht, und ich weiß nichts von ihr und alles. Ich lasse sie in meinem Geiste emporsteigen und rede von ihr, meine lautlose Stimme zerflattert im nächtlichen Raum, und niemand hört mich. Und ist diese vergangene Stunde nicht dennoch jetzt und immer? Beschirmt von der Nacht, die sanft zu mir hereinscheint, an tausend Orten der Welt gegenwärtig, wie ein Blütenkranz um die kreisende Erde gelegt? Die aber, die heute ihre Blumen und Dornen tragen, lächeln über mich, sie wissen nicht, wovon ich rede, sie schauen sich an und erglühen tief versunken, fremd, in heiliger Torheit. Und der Schritt der Kraft, das lebendige Leben, geht über mein Herz, seinen Boden, und über die ihren, und fort und fort.


Wie gut ich noch weiß, daß mich die Sperlinge weckten, wahrhaftig, es war das irdische Leben, das helle, gleiche, namenlose wie zuvor. Mein erster Gedanke, der wie ein Schreck über mich herfiel, war die Gewißheit, daß ich ein Mensch auf der Erde sei, aber ich fand mich nicht in meine Lebenseinzelheiten zurück. Ich umschlang den goldumsponnenen Nacken neben mir, als stieße dies helle Fenstertor der fremden Welt draußen mich zurück, aber eine zarte Schulter stieß mich auch hier fort.

»Ach, nicht doch,« sagte sie zärtlich, »laß mich doch schlafen, geh doch nun, es wird ja schon hell, siehst du nicht? Schau doch hin!«

Sie selbst öffnete kaum die Augen und wandte sich ab, als hoffte sie darauf, einen Berg herabzurollen. Ich sprang empor und sah den Morgen, sah den schimmernden Körper und sah wieder den Morgen und taumelte mit tiefen Atemzügen gegen das umwachsene Fensterkreuz. Es lag alles voll Tau und die Sperlinge riefen, als meinten sie mich. Der kühle Seewind trug den Geruch des Gartens zu mir herein, er legte sich auf Stirn, Gesicht und Brust. Ich faltete die Hände und wünschte mir beten zu können. Ich muß mit Gott reden, rief ich, wohin soll dieser Strom von Seligkeit und Liebe fluten? Ist nicht draußen alles von übergroßer Erwartung so voll, so rein vor Licht, so kühl vor Frieden, so erfüllt vom Blühen, daß meine Seele nicht Raum darin findet?

Vorsichtig stieg ich gleich darauf durchs Fenster hinaus und die Efeuwand hinab. Ein Star schwatzte im Ahornwipfel, auf dem leeren Weg lag das Buch, am Rasenrand, kläglich aus seiner würdigen Form gebracht, beleidigt ob seiner Ungestalt, wie ein Vorwurf, über den ich lachen mußte. Ein Tannenpfad führte zum Strand hinab, es ging noch eine gute Weile durch alten Park. Rosengruppen und farbige Beete von Blumen wechselten ab, alles in einer fröhlichen Verwilderung. Auf den Wegen wuchs Löwenzahn, und langsam gingen die Pfade im Gesträuch unter, das schon auf sandigem Boden stand. Nur ein schmaler Weg führte, deutlich geschieden, zum Strand nieder, und nun öffnete sich vor meinen Augen das Meer und hinter ihm der erstrahlende Morgenhimmel.

Vom flachen Deich aus sah ich die ruhigen großen Wellen nahen und sich im Morgenrot auf den Strand werfen. Es roch nach Seetang und mir war, als schmeckte ich den Salzgeruch auf den Lippen. Zur Linken sah ich die in Deichhügel geduckten Strohdächer eines Dorfs, auf deren Giebeln bräunliches Licht lag. Es war kein Segel am Horizont zu sehen, kein Inselland, nur fern vor dem Ort am Strand machten Fischer ein großes Boot flott, um auf den Fischfang auszufahren, sie sahen klein wie Spielzeug aus und bewegten sich träge.

Ich warf meine Kleider ab und stieg langsam ins Wasser. Der kalte nasse Sand an meinen Füßen rann mit den kommenden und weichenden Wellen unter mir fort, mir war, als schwebte ich, die Erde trug hier nicht mehr den Menschen, wo das Reich des fremden Elements begann. Ein Möwenschrei ließ mich den Kopf wenden, da sah ich die Landschaft liegen, schlafend und bräunlichrot, noch stieg kein Rauch aus den Hütten.

Die Bewegung des Meeres und die bebenden Jubelrufe meiner Seele erschütterten mich so mächtig, daß ich aufsingen mußte, einen hilflosen, wilden, jauchzenden Gesang, voll Gram und Andacht, Finsternis und Licht, Gebet und Blut. Wie oft sang ich doch einst diese armen, mächtigen Lieder ohne Sinn, die die Natur und die Einsamkeit mich gelehrt hatten, und die meiner schlafenden Seele entsprangen, wie Quellen dem Erdgrund. Nun habe ich längst begonnen zu denken, und wie manches weiß ich nun, und meine Lust und Trauer sind nicht mehr mein Teil allein. Aber mein Gesang von einst bleibt wie ein Grundakkord in allem, und wenn ich ihn fern höre, so weiß ich wieder, daß unsere Seele niemals völlig wach sein wird, unser Leib ist ihr Reisegewand und Totenhemd, ein heiliges Kleid.

Ich schwamm weit hinaus, geblendet von der aufgehenden Sonne, die aus dem Meer emporstieg und Himmel und Wasser in goldenen Glutströmen miteinander vereinte. Sie schwebte in den durchhellten Elementen, und erst mit ihrem Aufstieg schied sie wieder Erde, Wasser und Himmel voneinander.

Als ich wieder den Strand erreichte, fand ich ein altes Boot, das umgekehrt im Sand lag, aber so, daß die Morgensonne unter sein schwarzes Dach schien. Ich kroch unter diese mächtige Höhlung, wie in den Rachen eines großen Fisches und wühlte mich ein wenig in den Sand, um zu schlafen. Langsam nahmen die Musik der Wogen, das Morgensonnenlicht und der tragende Boden sich meiner an, und ich wurde ein Teil dieser Elemente und gab versinkend auf, was mich von ihnen unterschied. Aber im Traum erwachte mein Geist zu einem eigenmächtigen Leben, und ich sah große Bilder und weite Landschaften von solcher Freiheit, daß ich schluchzte. Ein breiter ruhiger Strom trennte mich von ihnen, die Welt bestand aus zwei Hälften, auf der einen befand ich selbst mich, wie im leeren Raum, der sonderbar wogte und spiegelte, auf der anderen lag bunt und deutlich die Fülle der irdischen Erscheinungen in ihrer Pracht. Ich sah beblühte Wiesen, Täler und Berge, Wohnstätten und Baumgruppen, Quellen und Ströme. Und mitten darin, wie geboren und erblüht aus diesem lieblichen und mächtigen Wesen der Natur, stand das Weib, das Haar funkelte, ihr Leib schimmerte heller als die fernen Wipfel der Schneeberge und blühte und duftete holdseliger, als alle Pflanzen im Land. Um ihre Lippen lagen die Stimmen der Bäume, das Flüstern der Gräser und der Vogelgesang. Schattige Gründe der Triften, Kelche und Früchte waren umher, um zu verschönen und den Sinnen nahe zu bringen, was diese Schultern und Hüften trugen, die reinen Glieder und der unnennbare Grund und Wesenssinn des ganzen Leibes, den kein Name benennt und kein Auge schaut, keine Nähe erreicht und keine Hingabe überwindet. Es war mir, als gehöre dies lichthafte Locken und diese betörende Mahnung schon einer zukünftigen Zeit an, Vergangenheit aber und Ewigkeit lagen, wie eine Einheit, auf meiner Seite der Welt, die erhaben und traurig war.

Die spiegelnden Lichtwellen, die mich in meiner heiteren und klaren Leere umgaben, jener Welt, die ich drüben erblickte, so nah, und doch von ihr geschieden, sprachen zu mir und waren ich. Geh hinüber — bleibe hier. Und so fort und fort erklang es und wiegte mich und lud mich ein und warnte mich und war mir unaussprechlich wohlgesinnt. —

Als ich nach vielen Stunden eines tiefen Schlafs erwachte, mochte es, dem Stand der Sonne nach, gegen elf Uhr Mittags sein. Ich kroch fröhlich und alsbald völlig wach und wunderbar belebt aus meiner dunklen Bootmuschel hervor und taumelte vor Glück und Licht in der Sonne, die über dem Meer und Strand erstrahlte. Ich schüttelte den Sand aus meinen Kleidern und brachte sie in Ordnung und Anstand, wie der schöne Festtag der Natur es erheischte und vor allem der Besuch, den ich im freiherrlichen Hause plante. Ich war mir völlig darüber klar, daß dieser Besuch stattfinden mußte, vermochte mir allerdings über die Art keine Vorstellung zu machen.

Es wird sonderbar genug sein, dachte ich, wenn ich nun nach allen Vorschriften der Sitte dieser jungen Dame vorgestellt werde, die ich besser kenne, als alle, die ihr Leben von Anfang an mit ihr geteilt haben. Eine heiße Liebe zum wunderartigen Dasein überkam mich. Wie sollte ich nicht Mut zum Gewöhnlichen finden, sann ich, da ich doch das Ungewöhnliche bestanden habe?

Ich warf noch einen freundlichen Blick auf mein Boot, in dem ich meine zukünftige Herberge erblickte, und das ich nach meinen Gewohnheiten einzurichten beschloß, und begab mich dann auf gut Glück in den Park zurück. Es war zwischen den Büschen schon sommerlich warm, und überall strahlte die Sonne. Schmetterlinge schaukelten durch den heißen Duft, und die Reiser der Büsche blühten. Auch sangen noch Vögel in der Kühle der Baumkronen, denn es war zu Sommers Beginn, die schönste Zeit im Jahr.

Wo die Verwilderungen der Strandniederungen in den gepflegteren Garten übergingen, und die Wege sogar mit Kies bestreut waren, standen alte, grüne Bänke, manche waren rund um die Stämme der Buchen herumgeführt. Ich sah auf einem der Wege eine alte Dame langsam auf mich zukommen, die ein zerzaustes Huhn an einer Kette hinter sich herführte. Als sie näher kam, erkannte ich, daß es kein Huhn war, sondern ein Schoßhündchen. Der Anblick dieser alten, würdigen Dame beruhigte mich tief und machte mich fröhlich. Sie war in ein helles Seidentuch gehüllt und trug einen breitrandigen Hut aus weichem Stroh, dessen Rand zur Rechten und Linken bis auf die Schulter niedergebogen war. Von den Schläfen fielen schneeweiße Ringellöckchen auf die Schultern nieder, und zwischen ihnen lächelte ein feines, zartes Angesicht von süßer Welkheit, aller Welt fern, und voll kindlich hochgemuter Versunkenheit in den Sonnenglanz ihres späten Lebenstages.

Als wir auf dem Weg einander näher gekommen waren, blieb ich stehen, verbeugte mich tief und zog meinen Hut, so daß er einen großen Bogen machte und den Kies am Boden berührte. Die alte Dame blieb gleichfalls stehen, ein wenig mit Aufwand, und hob langsam eine große, schwarzgerandete Brille, die an einem Stiel befestigt war, vor ihre Augen. Ich trat näher herzu, um ihr die Aufgabe zu erleichtern, die sie sich stellte, und sagte mit großer Höflichkeit, daß mein Weg mich an ihrem Garten vorübergeführt habe, und daß ich um Verzeihung bäte, ihn ohne Erlaubnis betreten zu haben.

Sie nickte bedächtig ein paarmal, betrachtete mich aufmerksam von oben bis unten durch ihre Brille und sagte dann leise, mit feiner, gebrechlicher Stimme:

»Guten Morgen, guten Morgen.«

Ich wiederholte meinen Gruß und nahm wieder den Hut ab, wobei ich ein wenig zurücktreten mußte, damit mein Gruß dies zweite Mal nicht weniger ehrerbietig ausfiel.

Eigentlich erstaunt war meine vornehme Gastgeberin nicht, kaum ein wenig zögernd, keinesfalls aber ablehnend. Sie hob nun mit der feinen Hand ein merkwürdiges Horn empor, das an einer silbernen Kette befestigt an ihrer Seite hing, und das jenen Hörnern glich, die die alten Germanen nach der Sage zum Trinken verwandt haben sollen. Ihre zarte Hand, die aus einer schneeweißen Ärmelkrause von Spitzen hervorschaute, rührte mich tief, ich hätte diese Hand an meine Lippen ziehen mögen, um meine Ehrfurcht kundzutun, vor diesem lieblichen, welken Lebensgebilde, im warmen Dämmerlicht von vielen, vielen Daseinsjahren, von Abschied und dankbarer Demut gegen sein letztes Wirken.

Aber bevor das sonderbare Horn in seine Bestimmung eingesetzt werden konnte, ereignete sich ein Vorfall, der Beachtung forderte, er ging von dem Begleiter der Dame aus, von dem bereits erwähnten Schoßhündchen, das sich offenbar erst nun seiner Aufgaben und Verpflichtungen entsann. Das Tier ging, offenbar durch meinen Gruß irre gemacht, zum Angriff gegen mich vor. Mit einem heftigen, sehr hohen Gebell, das durch ein Schnarren unterbrochen wurde, kam es zur Hälfte unter dem schwarzen Seidenrock seiner Herrin hervor, verschwand aber sofort wieder, als seine Gebieterin es durch einen entrüsteten Zuruf aufklärte. Sie lächelte versöhnlich und sah mich an.

»Er ist nicht bissig«, teilte sie mit.

Ich sagte rasch ein paar Worte über seine Anhänglichkeit, die offenkundig sei, und über seinen Gehorsam. Inzwischen war das Horn erhoben worden und seine Spitze hatte die weißen Löckchen zur Seite geschoben und den Eingang zur Ohrmuschel gefunden. Da erkannte ich Tante Mimsey, von der Kaja gesprochen hatte, und nahm erneut Haltung an.

Tante Mimsey begann von vorn und wiederholte ihr freundliches: »Guten Morgen«; diesmal fügte sie hinzu: »Was führt Sie zu uns?«

Unmittelbar darauf wurde die breite Öffnung des Horns auf mich gerichtet, man erwartete eine Aufklärung.

»Ich bin ein wenig schwerhörig«, sagte die alte Dame freundlich und zog mit dem Augenglas eine wagrechte Linie durch die Luft, die diesen Umstand ausglich.

Ich wiederholte mit großem Aufwand meine erklärenden Worte über meinen Eintritt in diesen Garten, aber ich kam nicht damit zu Ende, denn Tante Mimsey ließ ihr Horn sinken und trat einen Schritt zurück.

»So laut brauchen Sie nicht zu sprechen! Sie brüllen ja!«

Ich entschuldigte mich rasch:

»Ich werde künftig leiser sprechen«, sagte ich.

Tante Mimsey schüttelte nachsichtig den Kopf:

»Wenn Sie leise sprechen, kann ich Sie nicht verstehen, ich bin etwas schwerhörig.«

Nun schien alles zu Ende und ich war ratlos.

Aber es war doch nicht so, denn die alte Dame nahm das Gespräch bereitwillig wieder auf und schien in keiner Weise durch mein Ungeschick enttäuscht zu sein. Sie mußte von meinen Worten so viel verstanden haben, daß sie sich als Besitzerin dieses Gartens anerkannt sah, und daß meine Absichten keine Anforderungen an sie stellten, die über eine kleine Morgenunterhaltung hinausgingen.

»Was sind Sie und was führt Sie denn zu uns hier ans Meer? Hier verkehren nicht viele Menschen, wir wohnen hier einsam.«

Das Horn kam, und ich versuchte, ihm gerecht zu werden.

»Ich bin ein Studierender der Naturwissenschaften«, sagte ich rasch und schnell gefaßt, denn ich sah ein, daß ich der Vorstellungswelt meiner prüfenden Gastgeberin ein wenig entgegenkommen mußte. »Ja, ich bin ein Student, ein armer, ein ärmerer ... Ich bin auf einer Forschungsreise, es sind zugleich die Sommerferien.«

Sie ließ es sich noch einmal sagen und schien leicht zu zweifeln. Ich nahm wahr, daß ich doch sehr laut sprechen mußte, wenn ich verstanden werden wollte.

»Was erforschen Sie?« fragte sie. Wir gingen nun langsam nebeneinander die Gartenwege entlang.

»Seetiere!«, schrie ich in das Rohr.

»So, so ...« sagte sie nachdenklich. »Seetiere. Wohl auch Algen?«

Sie schien stolz auf diese Unterscheidung zu sein und musterte mich glücklich mit den lieben, stillen Augen, voll heiterer Bescheidung.

»Auch Algen!« rief ich.

»Wie?« fragte sie bestürzt.

»Algen auch«, wiederholte ich deutlicher.

»Nun ja,« meinte sie verwundert, »das sagte ich ja schon.«

Wir ließen uns auf eine Bank nieder, die ganz von Flieder und Jasmin überschattet war. Die Büsche hatten hier unter den hohen Bäumen lange, hagere Triebe geschossen und blühten nur spärlich, ihr blattloses Gestänge um uns her wirkte wie ein Gitterwerk.

Das Hündchen mußte vorsichtig unter der Bank untergebracht werden, damit die Kette sich nicht verwickelte. Das kleine Tier trug schwer an dieser Fessel und schien verstimmt. Soweit seine Stirnzotteln, die wie die Fransen einer Reisedecke über seine Augen und die Schnauze fielen, es zuließen, warf es hier und da einen melancholischen Blick auf seine Herrin und einen äußerst mißtrauischen auf mich.

»Nieder, Niko!« rief die alte Dame entschlossen. »Nieder mit dir!«

Niko verkroch sich.

»Wollen Sie hier verweilen?« fragte mich das alte Fräulein. Sie sah mich liebevoll und aufmunternd an, ich hatte deutlich den Eindruck, nicht abstoßend auf sie zu wirken.

»Vielleicht finde ich im Dorf Unterkunft«, antwortete ich.

»Das wird schwer halten, aber was gelingt nicht einem mutigen, jungen Menschen, der vorlieb nimmt und nicht auf Äußerlichkeiten sieht. Der Jugend ist kein Lager hart.«

»Sie wohnen hier sehr schön«, sagte ich und maß Haus und Park mit einer Armbewegung.

»Ja,« sagte sie dankbar, »ein schöner Tag.«

Zuweilen rückte sie plötzlich ein wenig mit der Schulter beiseite, als erwartete sie einen jähen Überfall der Rede, der ihr entgehen möchte, oder der zu laut sein könnte. Sie ist nur noch Grobheiten gewohnt, dachte ich, denn wie kann man Zartheiten brüllen? Aber ich beschloß doch den Versuch zu machen, feine und schmiegsame Worte mit großem Aufwand von Lungenkraft auszustoßen und ihnen im Rahmen ihres Schallumfangs Milde und Anstand zu verleihen. Man muß die Verhältnisse berechnen und alles auf einer anderen Grundlage wieder ausgleichen ... ich begann zu grübeln.

»Wir wohnen hier im Sommer auf diesem kleinen Landsitz,« erzählte mir Tante Mimsey, »ich und meine Nichte Kaja, ein Kind noch, ein rechtes Kind. Ich ertrage die Großstadt nicht, die Menschen beängstigen mich, und ich liebe den Verkehr und die Gesellschaften nicht mehr. Einmal sah ich eine edle Taube — mein Bruder hielt Tauben —, die in einen Fabriksaal geraten war, in dem die Maschinen rasselten und die Arbeiter bohrten und feilten. Sie flatterte zwischen den Treibriemen hin und her und war außer sich! So fühle ich mich in der Großstadt. Meine Brüder bewohnen den Erbsitz, auch hierzulande, so habe ich mich auf diese kleine Besitzung zurückgezogen, ich nenne sie meinen Taubenschlag.« Sie lächelte nachsichtig.

Ich verstand alles durch eine zustimmende Neigung des Kopfes, die ich jedesmal wiederholte, wenn ich angesehen wurde. Da ich nicht zu antworten brauchte, konnte ich überdenken, auf welche Art es mir am besten gelingen möchte, die Teilnahme und das Wohlwollen des alten Fräuleins zu gewinnen und zu festigen, denn mein Entschluß war gefaßt, unsere Beziehungen fortzuspinnen und ihnen auf irgendeine Art die natürliche Dauer eines gesellschaftlichen Verkehrs zu geben. So wählte ich unbewußt durch das Schweigen, in das mein Grübeln mich senkte, den besten Weg, denn ich gab meiner Nachbarin Gelegenheit, sich ungestört mitzuteilen. Wie ich sie später kennenlernte, hätte ich kein geeigneteres Mittel ersinnen können, ihre Freundschaft zu gewinnen. Es schien ziemlich gleichgültig, ob ich zuhörte, denn oft, mitten in mein Schweigen hinein, stieß sie mit einem erschrockenen »Wie?« gegen mich vor, während sie meine zustimmenden Bemerkungen überhörte. Einmal schien es mir jedoch notwendig, deutlich und freundlich beizupflichten, aber sie schrie nur:

»Nieder Niko!«

Ich erfuhr in jener frohen Morgenstunde vielerlei und verlor nicht einen Augenblick die Geduld, denn ich wußte, worauf ich wartete. Immer begann die sanfte Klage an meiner Seite mit einer Schwingung der verzagten und unverstandenen Seele und verirrte sich langsam in die Unzuträglichkeiten einer kleinen Alltagssorge. Wie bei manchen gealterten Gemütern, deren Herkommen mit der unantastbaren Autorität ihres Standes verknüpft ist, bewegte auch Tante Mimseys Vorstellungswelt sich noch um die Achse einer anerkannten Richterlichkeit und eines oft gefragten Urteils. Sie hatte den Zusammenhang mit den Lebensrechten und der Interessengemeinschaft der neuen Generation verloren, hielt aber diese Generation für verloren, da diese die alten Anschauungen nicht teilte. Nur ihre Nichte Kaja war für sie der Inbegriff einer im erwiesenen Geist gesicherter Lebensform heranreifenden Persönlichkeit, sie erklärte den Charakter und Lebensanstand ihrer Schutzbefohlenen für das Resultat ihrer Einwirkung und war stolz auf diesen Triumph ihrer Anschauungen. Bewegend war die innige und selbstlose Liebe, die aus allen Einwänden sprach, die sie selber schüchtern wagte, mehr um für die hellen Tugenden einen Hintergrund zu haben, als etwa um sich zu beklagen, oder den Wert des jungen Mädchens in Frage zu stellen.

»Nur eines bereitet mir Sorge,« sagte sie nachdenklich und sah mich streng an, »daß das Kind sich nicht entschließen will, beim Baden in der See den üblichen Badeanzug anzulegen. Sie tut es nicht, ich weiß es, obgleich ich es nicht deutlich unterscheiden kann, ich bin etwas kurzsichtig. Aber der Badeanzug, den sie mitnehmen muß, ist nachher gewöhnlich trocken. Sie erklärt mir, die Sonne habe ihn getrocknet, aber nein, nein ... da soll sie ihre alte Tante doch nicht zum Narren haben. — Kaja, ich spreche von meiner Nichte Kaja. Sie wird gleich kommen, dann will ich sie Ihnen vorstellen, sie geht zum Baden und muß hier vorüberkommen. Vorher ... vorher stelle ich sie Ihnen vor.«

Sie richtete ihr Horn auf mich.

»Ich werde mich sehr freuen«, rief ich.

»Leider ist Kaja nicht dazu zu bewegen, jemals beim Bade eine angemessene Bekleidung anzulegen. Ich leide darunter und hege die Befürchtung, ein unberufenes Auge möchte Zeuge dieser kindlichen Vorurteile sein. So pflege ich denn während ihres Bades hier im Park und auch am Strand, wenn es nicht zu sonnig ist, zu wachen und Passanten abzulenken. Gottlob gibt es hier keine. Es wäre ja auch schrecklich!«

Sie erhob sich, nach einem ängstlichen Blick zur Seeseite, zerrte Niko, der eingeschlafen war, unter der Bank hervor und drängte auf das Haus zu.

»Sie nehmen vielleicht gern einen Imbiß?« fragte sie herzlich, aber deutlich in jener befangenen Besorgnis, die entsteht, wenn eine gute Absicht noch nicht die Form ihrer Durchführung gefunden hat. Sie zerrte an Nikos Kette, die sich anscheinend etwas verwickelt hatte, weil er erst unterwegs erwacht war. Die Kette kam seitlich unter ihm hervor, so daß er dadurch genötigt war mit schrägem Kurs unsere Richtung einzuhalten, aber deutlich war es nicht zu unterscheiden.

»Helfen Sie!« rief Tante Mimsey, aber Niko schnarrte und drohte vor Grimm zu ersticken, als ich mich ihm näherte. Obgleich Tiere mir lieb sind, habe ich für diesen Hund niemals Zuneigung aufzubringen vermocht, er war mir nicht angenehm. Wir kamen an einer Grotte vorüber, in der ich später oft mit Kaja gesessen habe. Man sieht von dort auf das Meer, ohne den Strand zu erblicken, durch die Stämme der Buchen hindurch und unter ihrem Dach dahin. Es ist ein goldgrüner Rahmen, in dem niemals etwas anderes erschienen ist, als Himmel oder Meer, Wogen oder Sterne, Licht oder Nacht. Ich sehe seine Form noch heute, ein unruhig gerändertes Tor, durch das die Lichtbahnen der Augen nur unveränderbaren Dingen begegnet sind. Nur einmal stand auch Kaja mitten darin, der Mond schien und sie fröstelte leicht im Mantel ihres Haars ...

»Wenn Sie meine Nichte Kaja erblicken sollten, so machen Sie mich bitte darauf aufmerksam«, sagte Tante Mimsey. »Hier können wir warten, später werden wir dann etwas zu uns nehmen.«

Bald darauf sah ich es dicht am Haus lebendig schimmern und mein Herz schlug übermächtig. Hell, rasch, eine weiße Seligkeit von Sein und Kommen, glitt es wie ein Frühlingslied hinter dem Vorhang der Büsche dahin, und das blonde Haar, eine schwere goldene Kappe, lag um die Schläfen und tief im Nacken. Wie groß sie war!

»Vielleicht ist sie das ...« stammelte ich und fühlte deutlich, daß es verächtlich klang.

»Ja, ja, ja!« rief Tante Mimsey, die nur meine Bewegung verstanden hatte, und dann laut: »Kaja, Kaja!«

Das Mädchen sah mich groß und heiter an, als sie nun auf uns zutrat. Ohne Überraschung musterte sie mich, nähertretend, aufmerksam und abweisend, und sah dann ernst und warnend in Tante Mimseys Augen.

»Um Gottes willen, wen hast du dir da aufgeladen?« fragte ihr Blick die Tante.

Ich rückte meinen Hut zurecht und brachte mein eines Bein in eine gefällige und vornehme Haltung.

Tante Mimsey verschanzte sich hinter dem Morgenkuß, aber er ging zu Ende und nun mußte sie sich rechtfertigen.

»Ein unerwarteter Gast,« sagte sie, »zwar unerwartet, aber ein junger Student auf der Reise. Er ist Naturforscher und hier fremd.«

Kaja machte einen strengen Knicks.

»Geh zu deinem Bad, mein Kind,« fuhr die Tante fort, »wir unterhalten uns hier noch ein Weilchen.«

»Jetzt wirst du zum Christentum bekehrt,« sagte Kaja zu mir, »nachher komm schwimmen. Du siehst schrecklich aus im Tageslicht, man schämt sich ja. Also auf Wiedersehen.«

Es war mir ein Rätsel, wie ein Mensch diese Worte aussprechen konnte und dazu ein Gesicht machen, als sagte er, betroffen und verlegen: »Guten Morgen, mein Herr, ich danke Ihnen für die Ehre Ihres Besuchs und hoffe, daß Sie sich in diesem Hause wohlbefinden werden.«

Tante Mimsey schien zufrieden, sie nickte gewissermaßen in sich hinein, und man sah den Bewegungen ihrer Hände an, daß ihr ein Hindernis als überwunden galt.

»Eine reizende junge Dame«, sagte ich zurückhaltend.

»Ja, ja, ja ...« sagte Tante Mimsey leise, als sei es die Schlußzeile eines Gedichts; sie dachte an etwas anderes.

Ich bat um die Erlaubnis, mir jetzt im Dorf eine Unterkunft suchen zu dürfen, und half ihr damit aus ihrer kleinen Verlegenheit. Während sie sich zu Niko niederbeugte, schnitt ich mit dem Taschenmesser ihre gestielte Brille von der Seidenschnur, an der sie befestigt war, und steckte sie ein, denn ich wollte mit Kaja baden. Auch hatte ich damit für alle Fälle einen Anlaß später wiederzukommen, um als glücklicher und ehrlicher Finder empfangen zu werden. —

Kaja saß auf einer schmalen Sandbank, im harten Gras des Strandes und zog sich aus. Sie hatte einen Platz gewählt, der vom Land aus nicht zu sehen war, da die Buchen dort bis dicht ans Wasser wuchsen, auf einem unterspülten Hang.

»Ich bewundere dich«, sagte sie. »Daß du mit mir fertig geworden bist, ist keine Heldentat, denn ich habe es dir leicht gemacht, aber mit Tante Mimsey — das will etwas heißen. Es war deutlich, daß sie dir wohlgesinnt ist.«

»Ich hatte erwartet, sie würde sich vor mir fürchten. Bist du noch einmal eingeschlafen?«

»Wie hast du es nur angefangen? Deine Reden versteht sie nicht.«

Ich überwand mit Gewalt meine törichte Unsicherheit, die sich in meiner lächerlichen Frage kundgetan hatte, und begriff, daß um Kaja der Seewind strich. Aber die Allmacht ihrer Unbefangenheit war eine furchtbare Prüfung. Mir war, als bewürfe mich eine Göttin mit Sonnenstrahlen, je mehr ihr schimmernder Leib aus den sinkenden Hüllen emporstieg. Als sie ihr Hemd fortwarf, kehrte sie mir den Rücken zu und sagte nachsichtig:

»Man muß dich ja schonen, du Armer.«

Ich hätte die Hälfte meines Lebens für eine Faust voll Roheit gegeben, als ich da nun im Sand lag, das Gesicht in den Händen und bebte.

»Wir müssen vorsichtig sein«, sagte sie und versuchte durch die Buchen zu spähen.

»Ich hab' die Brille«, antwortete ich schluchzend.

Sie starrte mich an und brach in Lachen aus.

»Mit der einen Hand betest du, und mit der anderen raubst du«, stellte sie nachdenklich fest. »Aus dir wird man nicht klug. Aber vor allen Dingen mußt du jetzt etwas essen. Sieh das Päckchen dort, es ist für dich.«

»Daran hast du gedacht, Kaja?«

Sie sah mich fragend an.

Ich merkte erst nun, wie hungrig ich war, und unter diesen Augen war ich es ohne Arg. Ich werde niemals zu schildern vermögen, woher die Gefahr und Wohltat dieser Seele kamen, sie strömten auf mich über und verwandelten mich. Diese Welt ohne Pflichten, Dank und Schuld war ungreifbar, von heiliger, uranfänglicher Freiheit. Man vermochte in ihr zu sein, beglückt oder traurig, aber erreichbar war sie nicht.

Sie saß nackt im Sand, die Augen gegen das Meer gerichtet, mitten in der Sonne, und rauchte. Ihr Haar fiel hinter ihr bis auf den Boden nieder, als schiene die Sonne durch ihre Stirn und verlöre sich, selig ermüdet, in mattem goldenen Fluß, im Schatten dieser hellen Schultern. Nun hob sie es langsam, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen, mit beiden Händen, und barg es unter einer roten Kappe aus dichtem Stoff, um es beim Bad vor dem Meerwasser zu schützen. Eine feine blaue Rauchsäule erhob sich lebendig über ihr und wanderte, sich leicht zerteilend, lautlos ins Buchengrün empor.

Kaja legte sich nun langsam auf den Sand zurück und öffnete sich ganz den Sonnenstrahlen, wie eine blühende Pflanze. Sie breitete ihre Arme aus, und als sie die leicht erhobenen Knie ein wenig öffnete, wandte sie mir gleichzeitig langsam ihr Gesicht zu, und ihre Blicke suchten und umfaßten mich, zugleich entschuldigend, lauernd und durstig. Aber von einer Offenheit sondergleichen und gebieterisch, ja verächtlich, so daß mir war, als saugte das Lebenslicht ihres Wesens mich in einen blassen Abgrund von ewiger Selbstverlorenheit.

Sie gab mir ihr Päckchen Zigaretten herüber, als würfe sie es fort. Keine Geste schien ihr verächtlicher zu sein, als die der Darbietung. Dankbar ist sie nicht, dachte ich, als dächte ein anderer für mich. Eines guten Mannes gute Frau wird sie niemals, denn wie vermöchte heute eine brave Männerseele sich leicht das Zelt seiner Ehe anders zu denken, als im Talgrund der Dankbarkeit eines durch ihn begnadeten Weibes. Ich mußte lachen, und Kaja sah sich nach mir um.

»Was ist geschehen?«

»Ich mußte lachen, weil ich mir dich als Ehegattin eines braven Mannes vorstellte.«

»Ja,« sagte sie, »ich weiß schon von heute nacht her, wie ausschweifend du in deinen Gedanken bist.«

»Erzähle mir von dir, Kaja.«

»Hast du noch nicht genug erfahren? Du möchtest mich endlich kennenlernen, nicht wahr? Wie leichtsinnig ihr doch seid, daß ihr den Mädchen erlaubt sich zu beschreiben, wie sie gesehen sein möchten. Es geschieht, weil ihr nicht selbst sehen könnt, wie sie sind, oder weil ihr es nicht wagt. Auch in den Büchern, die ich lese ... es ist immer dasselbe. Erst flehen sie einander um Schonung an und nennen es Verständnis, dann verstehen sie einander endlich und werfen sich Täuschung vor. Ein lächerliches Volk. Jetzt geh ich ins Wasser.«

Sie erhob sich, und der Sand blühte. Langsam, Schritt für Schritt, maß sie den feuchten Teppich, ging in Meer und Himmel über und schien die helle Welt, das schöne Leben selbst zu sein, dessen Beglückung sie annahm. Als eine größere Welle heraneilte, deren blendender Schaumkamm ihre Brust erreicht hätte, warf sie sich ihr entgegen und verschmolz mit dem kühlen Wasser wie für immer.

Ich aß und rauchte und zitterte vor Wut, daß ich beides zu dieser Stunde vermochte, aber es ging, und ich fühlte eine schmerzende Zweiheit wunderbar in mir heilen. Zugleich aber sank es um mich her nieder, als fielen die Sterne vom Himmelszelt, als wären alle Wunder zu Dingen geworden. Habe ich einst gesündigt, oder sündige ich nun? fragte ich mein Herz, aber als Antwort hörte ich nur den fühllosen Frohsinn der großen Wellen erklingen, die sich bildeten und zerwarfen, zergingen und sich erneuten unter der gleichen Sonne, in deren Himmelsflut meine Brust sich hob und senkte. Im gleichen Sonnenschein, Asja, liegt weit in der Ferne, bei der großen Stadt, dein Grabhügel. —

In einem frohen Taumel von Glück und Müdigkeit stampfte ich bald darauf durch die Mittagssonne am Strand dahin auf das kleine Dorf zu. Ich war nicht ratlos noch auch nur besorgt, wie es sich einrichten möchte, daß ich bei Unterkunft und unter gutem Vorwand im Lande blieb. Ist so Wichtiges, so Lebendiges, so viel glückliches Tun mir gelungen, so wird sich das Beiwerk dieser Tage ihrem Sinn fügen, dachte ich und war nach Art der Seelen frei und unbekümmert, die ein Ziel haben, einen Mittelpunkt, um den ihr Tun kreist.

Aber, sonderbar genug, mein Vertrauen wollte immer wieder von mir hören, wie groß es sei. Ich hatte es nie zuvor gekannt, daß man Zuversicht gewinnen kann im glückseligen Aberglauben und wie im Selbstbetrug einer beinahe heiligen Oberflächlichkeit. Wenn ich mir sagte, daß ich Kaja liebte mit der ganzen Inbrunst und aus tiefster Seele, so erschien es mir in der eroberten Gewißheit und im Wohlstand meines hohen Rechts doch, als zöge ich diese Liebe herbei, um mich freizusprechen. Sonderbar und mütterlich lächelte der Weltgeist mich an, gnädig und zögernd, als sei ihm ein Irrtum gefällig.

Es ist die Mittagsstunde im Sand am Meer, dachte ich, diese gewalttätige Verlassenheit, die die begrünte Erde vergessen macht. Ich blieb stehen und hörte den Wellen zu, ihre magischen Stimmen bemächtigten sich meiner, und ich empfand die Wohltaten, die mit ihrem Ausgleich in uns mächtig werden. Hart am Strand lag ein verwittertes Wrack, das schwarze Rippen in den fahlen Sonnenglanz emporreckte.

Ich schrieb mit dem Stock ein Wort in den weichen nassen Sand, den die Flut bespülte, und beobachtete, wie die Wogen es auslöschten. Ich grub die Buchstaben tiefer ein und sah abwartend und begierig auf die sanft heraneilenden, durchsichtigen Wasserhügel, die sich dicht über den Schriftzügen hoben, als wollten sie ihr Opfer bedrohen, niederbrachen, wie mit Gelächter, und sich breit und gelassen verebbend ausbreiteten und zerteilten. Sie löschten aus, was ich geschrieben hatte und rannen zu sich selbst zurück. Sie kamen und gingen immer auf die gleiche Art, ob ich ihnen eine Beute zur Vernichtung bot oder ob ich stumm ihr geglättetes Sandbett betrachtete.

Ich begriff ihre gefährliche Weisheit und beschloß mein Herz zu hüten, aber ihre Macht war eindringlich und der Gehorsam gegen ihr Gesetz eine süße Wollust. Und plötzlich mußte ich über alles lächeln, was ich auf der bewohnten Erde zu beginnen im Sinn hatte, über den Knabenernst meiner Absichten, über das Lebensgewicht der kommenden Jahre, voll Streben, Erfolg und Wirken, über Ziele, Zukunft und Ende. Ihr Wellen werdet euch im Sonnenlicht oder im ruhigen Mond, bei Regengüssen oder im Wind erheben, neigen und auf den Sand niederbrechen, zurückfluten und aufs neue in vergänglichem Gebilde erstehen, um wiederum zu zerfließen.

Ich trat hinzu und schrieb Kajas Namen in den Sand. Die erste Woge verwischte ihn, als sei er tiefer eingeschnitten und verblaßt, die zweite Woge nahm ihn spurlos dahin, die dritte fand den tausendjährigen Strand in seiner alten Wesenheit. Da schrieb ich mit zitternder Hand, ein leidender Mörder, Asjas Namen in den Sand. Die erste Woge verwischte ihn, als sei er tiefer eingesunken und verblaßt, die zweite Woge nahm ihn spurlos dahin, die dritte fand den tausendjährigen Strand in seiner alten Wesenheit.

Aber kaum hatte sich auf meinen Lippen ein ungewisses Lächeln gebildet, als mir sonderbar deutlich Asjas Worte über den Wandel der Natur zum Bewußtsein kamen, und zum erstenmal verstand ich den Sinn: »Der Wandel der Natur hat keine Kraft über seine Kreise emporzuheben, allein der Geist.«


Das erste Fischerhaus, das ich erreichte, war eine kleine mit Stroh gedeckte Kate, die, zwischen Kartoffeläckern, hinter den Deich geduckt, mit ihren Fenstern, wie mit Augen, eben noch auf die Meerweite hinaussah. Ein Vorgärtchen, dicht gedrängt voller Buschnelken, Phlox und Malven, ein Holzstall und weiter abseits im Land ein Ziehbrunnen machten den sichtbaren Bestand des kleinen bäuerlichen Anwesens aus. In langen durchsichtigen Bahnen, braun wie Erde, hingen die Netze, dicht am Strand, zwischen alten geteerten Pfählen ausgespannt, und zwei Boote lagen im Sand. Ein Geruch von Seetang und verdunstendem Meerwasser hauchte mir warm entgegen und meine frohen Kindertage kamen, wie Engel, zu mir und ermutigten mich.

Es schien niemand anwesend zu sein. Am Hauseingang war eine Ziege angebunden, die still vor sich hinsah und auf das Meerrauschen zu achten schien. Als ich mich ihr näherte, sah sie mich an und begann eifrig zu wedeln. Da ich nicht gewußt hatte, daß Ziegen diese Gewohnheit an den Tag legen, blieb ich stehen und beschäftigte mich eine Weile mit ihr. Es schien mir jedoch bald, als ob dieses eigenartige Wedeln keinesfalls in einer Beziehung zu ihrem Seelenleben stand, denn es unterblieb und erneuerte sich ruckweise und willkürlich und ging auch dann vor sich, wenn mein Verhalten und meine Einwirkung auf das Tier unterblieben, oder jedenfalls derart waren, daß sie keine Zustimmung herausforderten.

Dagegen ließen sich deutlich Wahrzeichen von Wachsamkeit feststellen, denn als ich den Nacken der Ziege zu streicheln versuchte, senkte sie mit einer sonderbar störrischen Gelassenheit den Kopf und ging mit ihren Hörnern gegen mich vor. Das Seil verhinderte die Ausführung ihres Vorhabens, jedoch beschloß ich vorsichtiger zu sein und den Abstand zu wahren, auf den sie Gewicht zu legen schien.

Nach einer Weile trat ein alter Mann unter der niedrigen Tür hervor und musterte mich mit listigen Augen, wobei sein Gesicht einen Ausdruck zeigte, als lache er mich heimlich aus. Sein Gesicht war von einem Bart eingerahmt, der wie ein gelblich-weißer, gleichmäßiger Halbkreis von Ohr zu Ohr um das Kinn herumlief, er trug zwei Transtiefel, groß wie Gießkannen, und die kurze Pfeife in seinem Mundwinkel machte in ihrem Verhältnis zu seinem Mund den Eindruck auf mich, als nährte er sich von ihr. Da sie nicht zu brennen schien, bot ich ihm Feuer an, mußte aber zurücktreten, als er mir gemächlich eine Rauchwolke ins Gesicht blies. Er fragte mich auf niederdeutsch, was mein Begehr sei, und da ich seine Sprache nicht nur verstand, sondern mich ihrer auch zu bedienen wußte, glaubte ich daran, daß ich mit ihm übereinkommen und ein Obdach in seinem Hause finden würde. Aber merkwürdigerweise verstand er mich nicht. Ob ich ein Franzose sei.

»Ein Franzose? Nein«, sagte ich auf hochdeutsch.

»Na, sieh an, es geht ja,« meinte er ermutigend in seinem Kauderwelsch, »warum sprichst du nicht gleich vernünftig?«

»Ich habe plattdeutsch gesprochen.«

Seine winzigen Augen wurden so groß wie Taler.

»Also das adelige alte Fräulein vom Wasserschloß schickt Sie zu mir?« fragte er.

»Ja, die Baronin, meine Freundin ...«

»Sieh an,« meinte er und blinzelte, aber es schien ihm keinen besonderen Eindruck zu machen. »Ich würde mich an die Junge halten, wenn ich in deiner Haut steckte.«

»Dazu ist die Haut nicht mehr heil genug,« antwortete ich und wies auf meinen Rock.

Der Alte spie aus. Es pfiff, ganz bestimmt traf er irgend ein Ziel draußen auf dem Deich.

»Die Weiber, um die es sich lohnt, haben noch keinen Mann nach seinem Rock gewählt, das bilden sich nur die Laffen ein, die nichts als ihren Frack besitzen. Aber was man Grünschnäbeln sagt, ist in den Wind geredet. Eine Kammer habe ich, was gibst du mir?«

Wir einigten uns, da ich keinen Grund hatte, eine Summe zu hoch zu finden, die ich doch nicht bezahlen konnte.

»Melden sich Herrschaften als Badegäste bei mir an,« sagte der Alte, »so kannst du Unterkunft bei deiner Baronin suchen.«

Damit war ich einverstanden. Die kleine Kammer zu ebener Erde enthielt nicht viel mehr als ein Bett, aber der Boden war mit weißem Sand bestreut, und das Fenster führte auf das Meer hinaus. Ich legte mein Bündel gewichtig auf den Holztisch, als sei es schwer von irdischen Gütern, aber der Alte hob es gelassen auf, wog es, um das Gewicht nachzuprüfen, und ließ es wieder nieder. Er sagte: »Nun ja ... wirst auch nur eine Mutter gehabt haben.«

Das verstand ich nicht ganz, aber es berührte mich wohlwollend, denn es stellte eine Art Gemeinschaft zwischen ihm und mir her, als habe er nach etwas gesucht, das wir sicherlich beide einmal aufzuweisen gehabt hatten.

»Ich habe eine Nichte, die das Haus versieht,« teilte er mir auf meine Frage mit, ob er allein lebe, »aber halt dich an deine Schloßmuhme,« fügte er hinzu, »sonst hat's gespukt.« Er nahm die Kissen vom Bett, um sie fortzutragen, und ließ nur ein Tuch aus grobem Leinen über dem Rapsstroh liegen, mit dem die Lade angefüllt war wie eine Krippe.

Dann gingen wir miteinander durch die zwei andern Stuben des Hauses und durch den Garten, der Alte zeigte mir alles. Der Brunnen befand sich weiter draußen im Feld, die Kartoffelbüschel waren schon groß, wie kleine Sträuße, bald würden sie blühen. Ja, der sandige Boden sei für die Kartoffel gerade das rechte. Aber seine Netze und die Boote waren ihm doch das wichtigste. Ich bot ihm meine Hilfe beim Fischen an, aber er spie nur aus, und wir sahen miteinander dem Vogel seiner schmalen Lippen nach, wie er das Weite suchte. —

Ich verschlief den Mittag nah am Strand im Halbschatten eines struppigen Busches. Da ich am Nachmittag mit dem Alten im Kartoffelacker arbeitete, dessen Pflanzen gehäufelt werden mußten, verstand es sich von selbst, daß ich auch sein Brot und seine geräucherten Fische mit ihm teilte. Gegen fünf Uhr kam seine Nichte aus dem Dorf zurück, ein siebzehnjähriges Mädchen mit blondem Haar, so hell wie Flachs. Ihre blauen Augen sahen ernst und mit Zurückhaltung auf mich, aber ohne andere Einschätzung, als die einer natürlichen Neugier. Ich wechselte nur ein paar Worte mit ihr, als wäre es Geld, denn sie war von unwahrscheinlicher Schüchternheit und nicht gewohnt, andere Menschen als die Dorfbewohner zu sehen. Auch wollte ich mich aufmachen, um im Wasserschlößchen meinen geplanten Besuch zu machen. Gottlob war ein schöner Tag, denn ich fürchtete mich davor, in den Rahmen eines wohlbestellten Zimmers treten zu müssen, der Garten war mir lieber. Ich ließ das Fenster meiner Kammer leicht angelehnt offen stehen und verabschiedete mich ohne Erklärungen.

»Nimm den Butt mit«, sagte der Alte und gab mir einen großen Fisch.

Die gestielte Brille Tante Mimseys und dieser platte Fisch waren mir Gewähr, eine gute Aufnahme zu finden. Die Sonne stand nun hinter dem Land und das Meer hatte sein Wesen geändert. Mir war, als sähe man viel weiter hinaus über seine silberblaue Ebene, und die Möwen waren blendend weiß und schwebten klar geschieden und ruhig im farbigen Himmel. Alles war wirklicher und verständlicher, die Lichtmysterien des Sonnenaufgangs und die blendenden Bewegungen der Elemente, die brausenden Wogen aus Glanz und Flut waren gestillt und schienen sich voneinander getrennt zu haben.

Ich sah in der Landschaft, hinter Kartoffel- und Buchweizenfeldern, eine Mühle am Horizont, deren Flügel sich bewegten, wie Sonntagsspaziergänger. Es verband sich mit dieser Gestilltheit eine leichte Enttäuschung, wie sie der erste Tag in einer neuen Lebenswelt in seinem Verlauf mit sich zu bringen pflegt. Auch sollte ich nun bleiben und mich einrichten, das war mir fremd.

Kajas Bild gaukelte in blauen Nachtschleiern und in den Stürzen der Flut vor meinen Augen, verwoben in die Elemente der Natur, zugleich Plan und Entzückung, unerreichbar, um mich her und tief in mir. Wie ruhlos machst du mich durch die Trennung, Kaja, und welche Trennung von mir selbst ist die Beruhigung deiner Nähe.

Als ich beim Garten angelangt war, sah ich Tante Mimsey an einem gedeckten Kaffeetisch sitzen. Ich blickte durch die Büsche, die die Gartenpforte übergrünten, und erkannte Niko auf ihrem Schoß, der schlief. Etwas abseits stand Kaja vor einer Staffelei und malte. Es war ein friedliches Bild von ländlichem Ruhn und Tun, und ich fand in der Gewohnheit dieser Stunde die innere Haltung mich ihr einzufügen.

»Unser Student!« rief Tante Mimsey sichtlich erfreut und hielt mir ihre liebe alte Hand hin, als gäbe es nichts in der Welt, das je zwischen uns treten könnte. Kaja drehte sich um, knixte steif und wischte ihren Pinsel am Rasen ab, als ob sie einen Zaun anstriche. Niko sah den Fisch und flüchtete. Er verschwand lautlos unter dem Tisch, als ob er herabfiele und kam nicht mehr zum Vorschein.

Auch Tante Mimsey verriet Entfremdung, als sie den Butt erblickte, den sie mit meinen Forschungen in Zusammenhang brachte, und an dessen Tod sie erst glaubte, als sie seine Bestimmung erfuhr. Sie dankte mir zärtlich, ja, der alte Lüdersen sei ihr guter Freund und seine Tochter Han habe sie auf den Armen getragen. Diese Erinnerung rührte sie, sie verbarg ihre Bewegung. Als sie nun den Fisch für tot hielt und ihre Brille mit frohem Dank zurückgenommen hatte, fragte sie mich, wie ich zu Gott stünde. Darauf vermochte ich nicht rasch zu antworten, am wenigsten laut, ich sagte zunächst nur: »Danke gut«, und überlegte mir die Sache. Kaja erschwerte mir den geforderten Ernst, denn sie rief, ohne sich umzudrehen, gleichmütig:

»Brüll' einen Bibelspruch, sonst sind wir verloren!«

Ich faßte mich und schrie: »Der Spruch meiner Einsegnung war: Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Bisher hat er sich bewährt.«

»Er wird es auch künftig tun«, sagte Tante Mimsey liebevoll und schob mir ein großes Stück Kuchen hin.

War ich nun anfänglich der Meinung, die Stellung der alten Dame zu religiösen Dingen sei von jener beziehungslosen Äußerlichkeit, wie sie so oft in welken Gemütern angetroffen wird, die eher eines undurchdachten Trostes als eines trostreichen Gedankens bedürfen, so irrte ich mich, denn das alte Fräulein lebte in den Bildern und Gestalten der Bibel, wie in ihrem Haus und Garten, still, heiter und in kindlicher Anhänglichkeit. Ihr Fehler bestand in der Hauptsache nur darin, daß sie niemanden für glücklich zu halten vermochte, der ihre Welt nicht teilte. Da ihr aber das ausgesagte Zugeständnis einer aufrichtigen Teilnahme genügte, um eine Gemeinschaft für erwiesen zu halten, war es leicht, ihr Wohlwollen zu finden, ohne deshalb eine Unwahrheit zu sagen. Ich ärgerte mich oft über Kaja, die ihre Zustimmung übertrieb, um zu spotten, und in ihrer ironischen Bereitwilligkeit viel weiter ging, als nötig war, um im Guten zu befriedigen. Aber ihr Hohn war von so feiner Schärfe, er verriet eine solche Kraft der Unterscheidung und des Anspruchs, daß ich an meinem heimlichen Tadel irre wurde, denn ich empfand sie als kalt, mich aber als lau.

Sie ließ an jenem Nachmittag ihre Arbeit, kehrte ihr Bild auf der Staffelei um und setzte sich zu uns. Ihr Ausdruck von Arglosigkeit und Unschuld war so vollkommen, so ohne einen Schatten von Verstellung oder Willkür, daß ich heiß erschrak und oft in einem Gefühl so schmerzlicher Wehmut in die Reinheit dieser Züge sah, daß ich glaubte, mein Herz schmerzen zu fühlen, wie in einem kalten Ring ewiger Rätsel. Ihr leicht geöffneter Mund, die holde Senkung der Stirn und das liebe Forschen ihrer Augen überredeten mich so unmittelbar zu einem wehen und süßen Gehorsam der Hingabe, daß keine Macht im Himmel und auf Erden mich vom heiligen Stolz dieser Pflicht geheilt hätte. Ich suchte mit Angst nach den Merkmalen ihrer schrankenlosen Sinnenfreiheit, nach den Wahrzeichen ihrer dämonischen Lust zur Erde, nach den Todesrunen der Wollust ohne Halt — kein Hauch von Schwüle oder Glut lag um die klare Stirn, kein Feuer unheiliger Gier des Bluts zeichnete das reine Weiß der Haut, die Kinderbläue des heiteren Blicks, den Frieden ihres feinen Wohlstands.

Diese Kindschaft der Natur, dieser Frohsinn, der dem farbigen Odem einer Wiesenblume im Morgentau vergleichbar war, hatte eine furchtbare Wirkung auf die schmerzenden Glutwunden meiner Seele, und ich begriff mit Erbeben den höllischen Geist dieser Entstellung aller Werte, in der die heiligen Feuer meiner Leidenschaft und Liebe mir unrein erschienen, und ihre dämonische Priesterin von himmlischer Reinheit. Gott ward in meiner entflammten und gequälten Vorstellung bald zu einem grausamen und betrügerischen Spieler, bald zu einem Götzen, der weit höheren Gesetzen unterworfen war, als sein Schöpferwesen sie umfaßte.

Tante Mimseys biblischer Eifer ließ nicht zu, daß ich mich mit Kaja oder meinem Gedanken beschäftigte, diesen beiden Elementen, um derer willen mir das Leben allein lobenswert erschien. Ich fühlte mich unter den Belehrungen und Darbietungen der alten Dame wie in einer gemütlichen Tortur, die mich zugleich in Erstaunen setzte und ungeduldig machte. Wenn ich von ihren Erörterungen und Erklärungen religiöser Fragen für einen Augenblick abschweifte und, durch den Gegenstand angeregt, an Asja dachte, so war mir, als sähe ich von einem einfältigen Kartenspiel, auf dessen Blättern bunte, biblische Figuren prangten, über einen dunklen See zu den Bergen, deren Wipfel in der Sonne lagen.

»Wir müssen einander lieben,« sagte Tante Mimsey innig, »die Welt ist an Liebe arm, erst wenn wir diese Absicht an den Tag legen, wird es besser.«

»Es tut schon jeder, was er kann«, sagte Kaja, die mir mit gefalteten Händen gegenübersaß.

Tante Mimsey zog eine Bibel aus ihrem Täschchen, gemeinsam mit einem Päckchen von Schriften. Sie schien nach einem Gegenstand Umschau zu halten, der ihr fehlte; endlich bat sie ihre Nichte um eine Nadel, und Kaja zog eine aus ihrem Haar und reichte sie hinüber. Dann hielt Tante Mimsey die Bibel zwischen beiden Händen so auf dem Tisch fest, daß sie aufrecht emporstand und forderte mich auf, mit der Nadel in die leicht zusammengehaltenen Blätter zu stechen.

Das war mir neu, und ich zögerte.

»Mutig«, sagte Kaja freundlich.

Ich stach, das Buch öffnete sich an der Stelle des Spalts, und Tante Mimsey nahm die Brille.

»Nun werden wir sehen«, sagte sie.

Ich hatte den alten Habakuk erwischt, von dem ich bisher nur gewußt hatte, daß er vor Zephanja kommt. Tante Mimsey vergrößerte mit einer Lupe, was von seinen Niederschriften gedruckt worden war, um das Zehnfache, und begann zu lesen.

»Komm um elf Uhr heute nacht«, sagte Kaja und sah mich an.

Langsam, als buchstabierte sie, las das alte Fräulein:

»Ihre Rosse sind schneller denn die Parder und behender, denn die Wölfe des Abends. Ihre Reiter ziehen in großen Haufen von ferne daher, als flögen sie, wie die Adler zum Aas ... Parder,« erklärte sie über die Brille fort, »das sind wahrscheinlich Panther, früher sagte man Parder.«

Ich nickte Kaja Antwort zu, und mir war, als verströmte ich mich in meinem Blick, meine Lippen erstarrten mir wie unter einem herben Schmerz.

Kaja senkte die Augen, deutlich befangen gemacht durch meinen Blick, und von ihren hellen Lidern strahlte mir mein unmögliches Wesen zurück, wie ein Strom von Traurigkeit.

Tante Mimsey begann nun, mir den Inhalt des gelesenen Kapitels auszulegen, sie bezog die Wahrsagungen des alten Propheten auf das kommende Reich des Heilands und verglich die angeführten Übeltäter mit den Feinden der Kirche, mit den Gottlosen der argen Tage, in denen sie lebte. Sie kam dann zu meiner Überraschung darauf zu sprechen, daß deshalb die Wiederkunft des Herrn unmittelbar bevorstünde.

Kaja sah auf die Uhr.

»Er wird wie ein Dieb in der Nacht kommen«, teilte Tante Mimsey geheimnisvoll mit und sah warnend drein.

»Herr Habakuk macht Schule«, meinte Kaja. »Die Tante wird hellsichtig. Nimm dir heute nacht ein Beispiel am Dieb und sei pünktlich.«

Hiernach erhob sie sich artig, küßte der Tante die Hand und ging, nachdem sie ihren Hofknicks vor mir gemacht hatte, ins Haus. Nun wäre Andacht möglich gewesen, wenn es nicht Niko im Sinn gelegen hätte, Kaja zu folgen. In traumwandlerischer Sinnlosigkeit galoppierte er unter seiner befestigten Kette, ohne von der Stelle zu kommen, so daß der Kies flog. Tante Mimsey gewahrte es nicht, weil sie sich wieder in Habakuk versenkt hatte. Als ich sie endlich darauf aufmerksam machte, war Niko atemlos, und sie geriet in große Bestürzung, denn sie hielt seine stürmische Bestrebung für das Anzeichen einer Verrichtung, die nicht hinausgeschoben werden durfte. Sie ließ alles stehen und liegen wie es war, löste die Kette von der Banklehne und ließ sich von Niko davonzerren. Beim Haus gab es eine flüchtige Störung, weil das Tier die Ecke zu rasch umeilte, so daß die alte Dame nicht ohne Bedrängnis zu folgen vermochte; aber dann entschwand auch sie meinen Blicken, und es wurde still im sommerlichen Garten.

Ich schritt unruhigen Sinns zum Meer hinab, erheitert und zugleich unbefriedigt. Der Gleichmut der Meerstimmen zog mich an, und solange ich nicht daran dachte, beruhigte er mich. Mein Ungenügen verwandelte sich langsam in Traurigkeit, und ich sah den Lichtgang der sinkenden Sonne auf dem Wasser. Ich glaubte den weiten Schattenteppich zu erkennen, den die Parkbäume aufs Meer warfen, die Möwen flogen mit ruhigem Flügelschlag, rot beschienen, es war so still, als sei die Welt verlassen. Der Seetang duftete schwül und fremdartig.

Ich war den kunterbunten Jahrmarkt der zurückliegenden Eindrücke nicht mehr gewohnt und sah Kaja wie in einem Narrenkleid einhergehen. Die Verführungen dieser arglosen Alltäglichkeiten bedrängten mich bitterlich, obgleich ich wieder und wieder versuchte, sie als das zu nehmen, was sie waren, als Stundentand und Sinnenreiz des raschen Tags. Aber mir war, als gelte es etwas unsagbar Wichtiges zu retten, das in diesen Einflüssen herabgesetzt wurde und verdarb. Es fiel Staub darauf, und alles wurde kleiner und ärmer, es verlor die Feierlichkeit, und umher standen hämische Verkünder der Erniedrigung.

Einst fühlte ich die Nacht kommen wie einen Menschen und vermochte in meinen Gedanken zu verweilen, wo immer ich wollte. Die Sterne und Stunden waren meine Geschwister, und ich hatte Zeit, als verteilte ich Ewigkeiten. Ich lebte allein und ging Gott entgegen, ich sah die Erde in die Gestirne eingereiht, und es war selig beliebig, welcher von ihnen mich trug. Jetzt war es die Erde ... Aber je länger ich im Sande lag, die Stirn gegen den Himmel, und je weiter die Nacht in tiefer Klarheit zum Meergesang hereinbrach, um so größer wurden die Sterne und um so kleiner die Erde.

Es mochte dicht vor Mitternacht sein, als Kaja mir im Garten entgegenkam. Der Mond, eine schmale Silbersichel, schien nur spärlich durch die Baumkronen zu uns nieder. Das Mädchen war groß und frauenhaft in diesem geheimnisvollen Licht, ich erkannte ihre Gewandung nur undeutlich. Wir sprachen unwillkürlich leise, obgleich kein äußerer Grund dazu vorlag, das Haus war totenstill und dunkel und der Park im leeren Land wie eine Insel. Das Gras duftete feucht, und die Grillen feilten an ihren undeutbaren Stätten.

»Wir wollen das Siebengestirn am Himmel suchen,« sagte Kaja, »komm ans Meer. Ich weiß nicht, warum es mich vor allen anderen Gestirnen anzieht, wir haben sicher alle irgendeine Beziehung zu einem besonderen Stern. Es ist eine geheimnisvolle Undeutlichkeit um dieses Sternenbild, wenn du es genau zu erkennen trachtest; schließt du aber die Augen halb, so erstrahlt es am hellsten wie eine kleine Lichtwolke. Du weißt den siebenten Stern und siehst ihn nicht, dann wieder siehst du ihn und glaubst es nicht. Ich beschäftigte mich viel mit den Sternen.«

Sie sprach mit großem Ernst und wichtigen Gebärden. Ihr Fuß auf dem Boden war lautlos, es ging eine heimliche Wärme von ihr aus, ein Sommerduft und -leid. Ich taumelte und verstand nicht auch nur ein Wort zu sprechen.

»Man sollte viel mehr an die Sterne denken, tust du es? Hast du nicht gemerkt, daß man es immer nur ganz kurze Zeit kann, es ist doch schade. Ich möchte die Sterne >tun<, verstehst du das? Wie man die Liebe tut, daß das Verlangen einmal still wird, und die Seele freundlich atmet und glücklich ausruht. Ich glaube, die Gestirne bewegen sich, um einander näher zu kommen ... lachst du mich aus?«

Sie nahm ihren Mantel von den Schultern und gab ihn mir. Sie trug darunter nichts als ihre blasse Mädchenherrlichkeit.

»Ist der Mantel schwer, daß du seufzt? Als ich ein kleines Mädchen war, noch fast ein Kind, gab ich den Sternen Namen. Ein jeder hieß nach den Empfindungen, die ich hatte, wenn er gerade über mir stand, wenn ich zu mancherlei Stunden im Boot oder auf dem Küstensand lag. Dieser hieß >Trauer<, jener >Unverstand<, dieser >Frohsinn<, und einer hieß >Sünde der Nacht<. Ich haßte und liebte ihn, er erinnerte mich immer wieder an das Blutheimweh der Einsamkeit, er flimmerte in allen Farben. Ich verklagte ihn und sprach: Du hast mir alles gesagt. Einen anderen nannte ich >Erlöser<, zu ihm betete ich, bis ich sie alle nicht mehr brauchte. Das war auf einer Fahrt mit einem jungen Fischer in den Ferien. Ich war sechzehn Jahre alt. — Hier ist es gut, der Sand ist noch warm. Wie blaß du in diesem Licht bist, Lieber. Nun leg deine Kleider ab, wir wollen baden. Ich möchte dich ruhig betrachten, es tut so wohl, tröstet, kühlt und heiligt mich. Ich sehe dich jede Nacht so, jede Nacht im Einschlafen und Traum.«

»Du hast noch keine Nacht verträumt, seit du mich kennst, Kaja.«

»Dich? Habe ich von dir gesprochen? Nein, ich meine den Mann. Wie soll ich es dir sagen, da ich doch nicht zu reden verstehe, wie ihr. Oft staune ich über eure Worte und Reden, aber ich höre euch gerne sprechen, es berührt so nah und wärmend, oft könnte ich mich in die Worte der Männer betten, wie in ein Lager von Wohlklang. Ich verstehe die Männer immer.«

»Hast du auch mich in der letzten Nacht verstanden, als ich unter deinem Fenster sprach?«

»Ja, du wolltest zu mir hinauf, ist es nicht so?«

»Ja, Kaja, ja. Ich habe nichts als das gesagt.«

»Wie du glühst! Oh, du bist gut und schön.«

»Ich weiß nichts mehr und will nichts mehr sagen, als daß ich zu dir will.«

»So sprichst du nun, hat aber die Herzglut sich erstürzt, so wirst du mir viel sagen; auch das Schweigen ist dann so lieblich, wie Tau. Jedoch ich liebe sehr, wenn ihr sprecht, ihr wißt ja so wenig, ach, so wenig, ihr Beherrscher der Erde, ihr süßen, lieben Diener ihrer Weiden. Wenn eure Worte dann ernst und wichtig erschallen, gnädig oder wohl auch erzürnt, kühler oder gieriger, nach eurem Gehorsam, dann begleiten sie die großen Melodien meines Bluts, klingen über dem Meer, kräuseln freundlich die wogende Flut, die entzündete, die sich nicht beschwichtigt, wie euer Sturm. Dann trag ich dich, ob du mich küßt oder schlägst ...«

Sie erhob den zurückgelegten Kopf und sah mich verstört an: »Was sag ich denn nur, sei nicht böse ...« Sie ließ sich langsam niedersinken und lag nun, als sei sie an den linden Sandhügel gekreuzigt, die Arme weit ausgebreitet, in reiner Kühle, ohne Durst. Sie sah mich Knienden mit Mund und Augen blicklos an, bis sich ihr Knie ein wenig hob und zur Seite neigte, und Landschaft, Meer und Sterne stürzten in ihren schaurigen Befehl.


Der Mond war untergegangen, wir hatten nur noch Sternlicht am Ufer, und die Nacht war von majestätischer Größe. Sie erhob sich in einer blauen Sternwand über dem bewegten Meer, das sich schwarz und mächtig vor uns ausdehnte. Die Himmelsbilder am Horizont waren in einen feinen Flor gelegt, aus wärmeren Gründen stieg es zu herrlicher Klarheit auf. Vielleicht schlief Kaja; oder lauschte sie, wie ich, auf die Stimmen des Wassers? Ich fröstelte leicht in dieser Kühle der Nacht und sah das edle, gesetzmäßige Raummaß des Orion über mir erstrahlen. Der lose Sand gab jeder kleinen Regung des Körpers nach, und trug uns, als täte er es leicht und gern. Langsam wich alles Gefühl für Zeit aus meinem Bewußtsein, so daß ich nur mein Herz und Blut noch hörte, die Quelle über dem Sand.

Zuweilen hob ich die Stirn und schaute über Kajas entfesselten Leib hin. Sie lag da, als erflehte sie in einem tiefen Weltentraum, mit allem Sein und Sinnen, die Liebe des ganzen Alls, Sonne, Regen und Wind. Sie verschmolz mit dem dämmrighellen Strand und bildete gegen den Meerhimmel eine Landschaft. Diese vom Sternlicht sanft beschienenen Höhen und Täler waren uralt, steinern, ein Weltgesicht und zugleich Form des zaghaften Gemüts meines von Andacht und Ahnung wunden Wesens, dessen arme und flüchtige Bewußtheit, haltlos vor Ergriffenheit, vor dem Geheimnis bebte.

Da überwältigte mich tief von innen her eine große Erschütterung, die ich nicht benennen kann, die, ein Geschehnis ohne Klarheit, doch eine mächtige Wahrheit in meinem Leben ist. Es zwang mein Gesicht in die Hände, und ich kämpfte, wie gegen ein Ungeheuer, gegen das furchtbare, wilde Schluchzen an, das mich ergriff. Es schüttelte mich, als wollte es mich aus einem langen Schlaf der Seele erwecken, der aufhören mußte, um nicht überzugehen in Erstarrung und Tod, und als es sich löste, in einer Hilflosigkeit ohnegleichen, verströmend wie für immer, lag ich fest, fest in Kajas Armen und weinte zum erstenmal darüber, daß Asja gestorben war.

Ich hörte Kajas tiefe, süße Stimme, sie sprach, ihren Mund dicht über meinen Augen; ihr Haar fiel wie eine Wand aus dunklem Nachtgold nah an meiner Wange nieder. Ihr Körper deckte mich zur Hälfte, kühl und doch wärmend, wie auch ihr Atem, der, von holder Nähe überströmend, ihre Worte auf mich niederhauchte, daß Geist und Sinne sie bei meiner tiefen Schwäche gleicherweise tranken.

»Sag doch, o sag, was ich für dich tun kann, Lieber!«

Ich schloß die Augen, die ganze Erde blühte.

Sie bettete meine Wange in ihre Hand, in diese Hand, die die Lust so lieblich regierte und die der Schmerz hilflos machte. Sie berührte mich so ängstlich wie ein Kind:

»Du bist ja ein Knabe,« sagte sie, »ein Kind. So sprich doch, ach, ich bitte dich, sprich!«

Nach einer Weile fuhr sie klagend fort:

»Kannst du nicht sprechen? Betrübe ich dich? Ich bin dir ja gern zu Willen, und du darfst nicht von mir glauben, daß ich arm und häßlich bin. Ich gehöre ja dir, kannst du es nicht glauben? Geh doch nicht fort tief innen, wohin treibt es dich denn? Aber sprich doch, sprich doch!«

Sie schmiegte den leichten, suchenden Leib inniger an mich, und schaurig still, wie Gewitter am Himmel, entzündeten Schmerz und Freiheit der Seele in mir sich über Zorn und Haß zu einem gewalttätigen Opferdank. —

Sie lachte leise auf, zitternd im Gewinnen, tief erheitert, doch ohne Stolz, plötzlich in den drohenden Ernst ihres unerbittlichen Rechts gestellt, im Eigensinn der brennenden Begabung. In März- und Sommerglut und hellen Frösten durcheilte ich die weiten Landschaften, die meine Augen gesehen hatten, Jahre vergingen, in Sekunden gedrängt, Augenblicke dehnten sich, in Silberfahnen gestaltgewordener Sehnsucht von Gestirn zu Gestirn gespannt, das Meer stürzte über die schneidende Firn der Ohnmacht aller Kraft, und mit der Rückkehr hallte es, mit der wieder emporsteigenden Nacht, über die gleitenden Grenzen der Bewußtheit hin: Tausend Jahre sind wie ein Tag. —

»Kaja, liebe Kaja, ich will einen weiten, stolzen Weg des Lebens machen, anders als alle. Ich will einen guten Gürtel haben, rasche Füße, frohe Augen. Wie offen liegt die Welt der Tage und Nächte, alles ist frei und nichts getan.«

»Du träumst ja schon«, sagte eine Stimme dicht über mir.

Zwei Hände zogen liebevoll einen Mantel über mich, wie eine Decke.

»Bald kommt der Morgen, Kaja ... sprach ich nicht vom Morgen zu dir, als ich dich noch nicht kannte, als ich im Dunkeln zu dir kam, damals unter dem Fenster?«

»Friert dich nicht?« fragte die Stimme, »schlaf nun, bald wird es hell.« —

Als ich erwachte, stand der Morgenstern über dem Meer. Er leuchtete so hell am Horizont, daß mir war, als füllte sein ferner Glanz mich an, als sei mein Leib durchscheinendes Glas. Das Meer war schon farbig, ein leichter Wind strich über das Wasser. Neben mir im Sand sah ich die Spuren des holden Lebens, das mich diese Nacht erfüllt hatte. Kaja war fort, es war alles umher still und leer wie am ersten Tag. Eine Fröhlichkeit ohnegleichen stieg in meiner Seele empor, meine Augen empfingen das Bild von Meer und Erde im Morgenlicht, das zu immer größerer Macht anwuchs.


Ein paar Tage darauf begleitete ich Han, Lüdersens Nichte, im Wind über den Deich. Es war ein trüber, stürmischer Tag und das Meer tobte. Han sah es selten an, es hatte schon in ihre Wiege geklungen, sie hatte es schon als Kind im Boot ihres Vaters befahren, aber sie hörte mir gerne zu, wenn ich über das Meer sprach.

»Eigentlich sollte ich es dir erzählen«, sagte sie und lächelte schüchtern.

»Nein, Han, du gehörst dazu.«

»Ja,« sagte sie, »so ist es.«

»Kennst du die Leute vom Wasserschloß? Die alte Baronin, Proker, den Diener, die Köchin mit der Haube wie ein Beduinenzelt und Niko? Aber wie solltest du sie nicht kennen ... das ist ja natürlich.«

»Ja, ich kenne sie alle,« sagte Han, »auch das junge Fräulein.«

»Kaja, ach ja.«

Han wandte den Kopf mit den braunen, festen Wangen; das helle Blau ihrer Augen war farbig und hart wie Glas, ein untrübbares, leeres Licht ohne Wehmut und Süße. Aber sie schlug die Augen nieder und sagte:

»Also, dann sprich von ihr ...«

Ich erschrak.

»Was ist von ihr zu sagen, sie ist sehr schön. Wenn man neben ihr dahingeht oder mit ihr redet, so verwandelt sich alles und bekommt seinen Wert durch sie ...« Ich stockte und schwieg.

Der Wind pfiff schneidend, wir gingen vom Deich hinab, um uns zu schützen, und tappten weiter durch den losen Sand. An geschützteren Stellen wuchsen Heidekraut und Ginster, da schritt es sich leichter.

»Hier hat das Meer einmal den Deich durchbrochen«, erzählte Han. »Es war eine Sturmflut, alles lag unter Wasser, und der Leuchtturm und die Station standen auf einer Insel.«

Sie erzählte mir dann von ihrem Onkel Lüdersen, der weite Reisen gemacht hatte; ihre Eltern lebten in der Stadt. Alles kam herb und mühsam über ihre Lippen, es war, als täte das Sprechen ihr weh; die Arbeit, die mit dem ganzen Körper getan werden konnte, ging ihr gefälliger vonstatten, Schreiten und Rudern und das Schaffen an den Netzen oder im Garten. Sie sagte:

»Sie kam vor vier Jahren das erstemal zu uns, ich habe die Hände falten müssen, als ich sie sah. Ich brachte die Koffer auf der Schiebkarre.«

»Wer? Wer kam?«

»Das Fräulein doch ...«

»Ach so, kam sie vor vier Jahren?«

»Ja, für den Sommer. Das erstemal nur kurz, weil Veit Geesten ertrank.«

»Wer war das?«

»Ein Fischer.«

»Was hat das mit ihrem Kommen und Gehen zu tun?«

»Das war so.«

»Sag mir doch, was du weißt, Han.«

»Ich weiß nichts,« sagte sie böse, »ich hab auch nichts gesagt.« Wir waren uns plötzlich fremd und schwiegen beide. So ließ ich sie denn allein ihren Weg machen und legte mich in den Sand, bis der Abend und der Regen mich heimtrieben. Eine Brigg kämpfte auf hoher See, sie hatte wenig Segel gesetzt und sah merkwürdig zerzaust aus, ohne Licht und wie auf einen Fleck gebannt, schaukelte sie in den grausamen Wasserbergen. Die graue, große Seewelt um mich her breitete ihre Öde in meinem Gemüt aus, und ich kämpfte gegen sie, wie draußen das Schiff gegen die Wogen.

Wenn ich die Augen schloß, sah ich einen hell erleuchteten Saal von großer Pracht, der mit festlich gekleideten Menschen angefüllt war. Eine verborgene Musik spielte, fröhliches Lachen und das Klingen von Weingläsern erschollen. Die Kleider der vornehmen Frauen waren aus kostbaren Stoffen und es schien, als erleuchteten ihre Schultern und Arme den Saal. Ich suchte mit meinen Augen Kaja. In einem Winkel der Vorhalle lehnte sich eine dunkle Herrengestalt über ein Mädchen, das fast noch ein Kind war. Da sie nicht zu ihm aufsah, musterten seine Augen sie mit schleichender Habgier, verächtlich und begierig. Sie lächelte schüchtern vor sich hin, und als sie die Blicke hob, fing er sein Gesicht und schaute einfältig-gütig drein. Ein Diener mußte Vorwürfe anhören, er schwieg, bleich und leblos, wie eine Säule. Endlich kam Kaja. Sie ging sehr rasch und die geschmeidige Kraft ihres Körpers wirkte aufreizend, aber ihr Verhalten gebot Ehrfurcht. Zwei junge Herren begleiteten sie, ein greiser Ritterlicher empfing sie, und mit der Huldigung, die er ihr bot, fügte sich der ganze Saal ihrem Zauber.

Ich riß die Augen auf. Lüdersen hatte schon Licht, aber ich ging noch ein paar Schritte über sein Haus hinaus, um nach dem Wasserschloß auszuspähen. Ein dunkler Waldfleck in der grauen Strandöde war alles, was ich sah. Der nasse Sturm trieb mich ins Haus. —

Aber die feuchten Schleier über der Welt wichen wieder dem Sommerwind, und als eines Morgens die Sonne strahlend über dem Meer aufging, glitzerte ihr Licht in der Feuchtigkeit der Buchenwälder. Der Strand wurde wieder weiß und säumte das bewegte Meer. Man sah weit, weit hinaus zur Rechten und Linken. Die Brust hob sich mit dem frischen Blick und das Gemüt war wie verwandelt. Es war als würden Himmel, Meer und Erde für ihre Geduld gelohnt, sie waren neu wie am ersten Tag, und keine Entstellung aus einem Kampf gegen das Ungemach der trüben Zeit war an ihnen zu finden.

Ich traf Kaja im Wald, dicht am Strand, wo das Wasser blau durch die Bäume glitzerte. Sie schritt hell und rasch durch die goldenen Lichtwege der Sonne und sang.

»Da bist du!« rief sie fröhlich, »wo warst du so lange?«

Das hatte ich sagen und fragen wollen. Sie war ohne Entzücken und ohne Enttäuschung, von einem beseligenden Wohlstand in sich selbst, und unter ihrer heiteren Gelassenheit glitten rasch und schaurig die dunklen Stunden der letzten Tage und Nächte an mir vorüber. Der Regen an den trüben Scheiben, der quälende Seewind, der überall pfiff und rüttelte, dieser unheilige Störenfried voll Beunruhigung, das feuchte Stroh meines Betts, Hans tödlich geduldiges Mädchenwesen um mich her, diese halbnackte, sinnlose Gemahnung, die mich umgeben hatte, wie ein einfältiger Hohn auf meine Verlassenheit.

»Was weiß ich«, antwortete Kaja wohlgemut auf meine Frage, wie sie die Regenzeit verbracht hätte. »Die Sonne scheint ja, es ist ja vorüber. Tante Mimsey hat täglich nach dir gefragt, du hast wirklich ihr Herz gewonnen, brich es nicht und geh zu ihr.«

Sie sah mich neugierig an.

»Ach, die Tante ...«, sagte ich.

»Unterschätz' das nicht,« meinte Kaja, »mit den alten Weibern hast du die halbe Welt, das wissen die wenigsten. Was kann dir an den Männern liegen, du bist ja selber einer.«

»Hast du Freundinnen, Kaja?«

»Das brauchtest du nach meiner letzten Weisheit nicht mehr zu fragen.«

»Ich frag' auch nur, weil ich bestätigt haben möchte, daß du keine hast.«

»Ich hatte eine, damals vor ...«

»... vor Veit Geesten.«

»Ja. Wenn du sie gesehen hättest, so würdest du mich verlassen haben, wie man ein Schiff verläßt, das am Ziel angelangt ist. Ihr Körper war wie Glas und warme Seide; sie war so zart und schweigsam, am Tage ging sie wie eine kleine Heilige still umher, ihre Hände schienen nach Hilfe zu suchen, und ihre Lippen mußte man berühren, um zu verstehen, was sie verschwieg. Nachts blühte sie auf, im Dunkeln, und tanzte auf der Waldwiese im Mond. Wenn ich über ihr Haar strich, es war weich, wie laues Wasser und du fühltest es kaum über der Haut, dann ahnte ich mein Liebesgeschick, den schmerzlichen Frühling.«

»Ist sie auch tot?«

»Aber wieso denn?! Sie hat einen Mann geheiratet, aus dessen zwei Wangen du ihren Körper hättest formen können. Als wir uns wiedersahen, wandte sie sich ab. Sie ist also glücklich. — Du nimmst alles so ernst.«

Ich dachte, sie weiß nicht, daß ich die Nächte unter ihrem Fenster gestanden habe, daß ich ruhlos durch die Wälder geirrt bin und am Meer dahin, bis ich mich im feuchten Sand bettete, in den ich sank. Han hatte heimlich heißen Wein in meine Stube gebracht, sie sah die stumme Schmach meines Leids mit blicklosen Augen, wie ein Spiegel, der doch das Bild mit sich fortträgt. Oder weiß Kaja dies alles doch, fragte ich mich, und hat es durchlebt, wie ich es durchlebt habe? Hat sie gehofft, ihr Fenster möge von den Steinchen erklingen, die ich im Dunkeln im Kies ausgewählt und doch nicht emporgeworfen habe?

Mein Ungenügen, Zweifel und Zorn wurden zu Blick- und Sinnengestalt, im Uferlosen meiner Gedanken war kein Halt zu finden. Der Wert meiner Hoffnung erzitterte und schmückte Kajas leichtes Kleid am Fall des Knies, wo er haften blieb, wie mißachtetes Geschmeide, wie ein verratenes Heil. Ihr Kleid war aus ockerrotem, hellem Stoff und fiel und schmiegte sich, als sei der leichte Sommerwind ein Meister, der mit diesen wehenden Hüllen den jungen Körper maß und prüfte. Die Arme waren nackt und die langen, schlanken Beine, unsichtbar schauhaft, wie der Wert im Gold, gingen nicht nur ihre Frauenschritte auf dem weichen Moosboden, sondern sie rühmten in lockendem Gleichtakt den Sommerhauch, die warme Erde und einen hellen, schluchzenden Tod.

»Pflück' die Blume dort, Kaja!«

Sie bückte sich nieder, tat es und gab sie mir.

»Wozu? Was willst du damit?«

Da sah sie in meine Augen und erbebte fröstelnd in einem tierhaften Blick von Prüfung und Gunst.

»Wir gehen baden, komm«, sagte sie rasch und ihre Neigung des Kopfs, der zaghafte Schritt voran und ihre Hand in meiner taten einen Himmel von wilder Freiheit auf. Der Sand und Wogenschlag empfingen uns, warmer Wind und ein Licht, das uns taumelnd machte und in eine herbe Verzücktheit von Lust und Unschuld hob.

Ihre Kleider wehten von den Hüften wie buntes Licht, sie lagen bald hier und dort im Sand umher, bei meinen groben Stiefeln, die einst der Schuster Stevenhagen geflickt hatte.

Wie gut macht Nacktheit, sie heilt und reinigt, in jener herben Kraft der leichten Enttäuschung, die sie nach den schwülen und süßen Ahnungen des Begehrens mit sich bringt. Kaja atmete hoch und mächtig, als sie langsam ins Wasser schritt, denn die Flut war noch kalt. Erregt und unbedachten, unsicheren Schritts vermochte sie nichts zu beachten, das ihre Dargebotenheit milderte, sie lachte nicht und ihr besonnener Ernst im Genuß aller Sinnesgaben wirkte auch hier wie ein mit Vorbedacht gesteigerter Wille zur Herrschaft. Sie wandte sich halb um und rief mir etwas zu, das die Brandung verschlang. In der ungeheuerlichen Linie der Meerbucht, im Sonnenall der blau-weißen See- und Strandweite war nur sie zu sehen, als wäre sie unter dem Himmel allein.

Die salzige Flut trug uns weit hinaus, die leise Beklemmung, die das Meer mit sich bringt, sein herber Duft, die Wasserschwere, der Glanz der grünlichen Wogenberge verwandelten uns zu neuen Geschöpfen einer freieren Schickung. Vergehen und Vergessen zogen in unsere Seelen, wie Wiedergeborene schwebten wir in gelinder Kampfesmühe über der unsichtbaren Tiefe, im Spiel erlöst, in weitausholenden Regungen der Glieder befriedigt, berührt und kühl geborgen, wie kein anderes Element aufzunehmen vermag.

Der heiße Sand empfing unsere durchkühlten Körper, Kaja saß aufrecht und sah in die Weite. Ihr frauenhaftes Mädchenhaupt mit der gehaltenen und klargeschiedenen Haarfülle, die tief in den Nacken sank, ohne sich gelockert zu haben, hob sich gegen den ehern schillernden Himmel ab, in frommer Majestät. Die liebliche Vollendung der Natur in diesem herrlichen Gebilde erschütterte mich tief und die Unnahbarkeit dieser Pracht und Fülle nahm mich in einen Bann von Ehrfurcht. Daß ich gewagt habe, auch nur zu dir zu beten, erschreckt mich schon, dachte ich, und nun — ist es denn Wahrheit? — würdest du mir zürnen, wenn ich nicht mit aller Macht meiner Seele und meines Leibes der rauhe Diener deines Wunsches würde? Laß mich die Augen schließen, bis mein Glück stärker als meine andächtige Besinnung wird, ich kann nicht schuldig werden durch Willkür und Tun, die Allmacht der aufschreckenden heißen Pflicht muß zu mir kommen und mich erwählen. Ich will dein Weg sein, du Schmerz und Glut, aber niemandes Herr. Aus meiner Andacht soll deine Fackel brechen, stärker als sie.

»Ich mag oft nicht haben, wenn du schweigst,« sagte Kaja plötzlich und lächelte fragend, »dann ist mir, als sammelte sich in dir dunkles Feuer, und ich fürchte mich. Leg deine Hand auf meine Brust, oft möchte ich deine Schwester sein, aber es ist ja Torheit, ich bin keines Menschen Schwester. — Wenn du mich berührst, wirst du ruhiger, ich fühle es ... Wie nennst du mich? Ach, sag nicht solche Namen und Worte, ich weiß, daß du gut von mir denkst, viel zu gut, und als sähest du mich durch lauter Zauberspiegel. Ich bin ja so einfach. Ein Wort genügte, aber das gibt es nicht unter den menschlichen Worten. Nach diesem Wort sucht ihr Männer alle, euer Suchen ist so schön. Ich kenne das Wort auch nicht, aber seinen Sinn. Ich habe und weiß und behalte ihn heute. Ich bin da, und ihr sagt es mit tausend Worten. Klug, sagst du, sei ich? Ja, vielleicht bin ich klug, da ich nichts sein möchte, als das, was ich bin. Du bist jung, viel jünger als du weißt, viel jünger als ich, obgleich du mich ein Kind nennst. Ich höre dies und alles, als hätte ich es schon tausend Jahre lang gehört!«

»Du fährst auf einem Nachen in der Sonne, Kaja, das Wasser glitzert und trägt dein leichtes Boot. >Das Licht spiegelt sich in den Wellen und in meinen Augen!< rufst du, aber auch tief, tief in den Grund sinkt Licht.«

»Oft lockt die Tiefe«, sagte sie ernst.

»Du weißt nichts von ihr, Kaja.«

»Sie trägt mich,« sagte sie leise, »so ist es gut.«

»Ja, so ist es gut, liebe Kaja, oh, ich bin glücklich!«

»Warum sagst du das, als schmerzte es dich; weißt du, daß ich dich manchmal beneide?«

»Um was, Kaja?« Durstig suchte ich ihren Blick.

Sie sah mich groß und suchend an, als sollte ich die Antwort geben, ihr Kopf kam mir nah und ich spürte ihren Atem, den Lebensduft der Frage, die sie tat, die Antwort, die sie gab, die Lippen, den kühlen, blassen Leib.


Ich mußte Tante Mimsey besuchen, das sah ich ein, nach all den Tagen der heißen und herrlichen Freiheit, die mich durch Wald und Wogen um ihr stilles Haus geführt hatten. Da ich Kaja die letzten zwei Tage nicht gefunden hatte, von Schlaf und Trauer wie ein Verwandelter gepeinigt, im Schein der großen Erinnerung, die wie die Sonne über allen Stunden stand, war mir der geplante Gang in zweifachem Sinn wichtig, und ich machte mich zur gewohnten Nachmittagsstunde auf.

Zu meinem Erstaunen saß zwischen den beiden Damen am Teetisch ein junger Herr. Was war natürlicher und was hätte mich mehr in eine planlose Bestürzung werfen können, aber ich konnte nicht mehr umkehren und nahm mit Gewalt alle Unbefangenheit zusammen, die ich irgend aufzubringen vermochte, beschleunigte meinen Schritt und tat, als wollte ich wieder gehen, noch ehe ich recht angekommen war.

Die beiden jungen Leute erhoben sich zur Begrüßung, Tante Mimseys zarte Hand und ihr liebes Lächeln ermutigten mich, ich fand darüber meinen Weg, der als ein Weg zu ihr und nur zu ihr gelten sollte, das wollte ich deutlich betonen. Wie verständlich war es, dieser liebevollen, alten Dame eine ehrfürchtige Aufwartung zu machen. Sie nahm sich meiner gütig an, wie griff sie gnädig und zart, in dankbarer Gewährung, meine arme Gabe auf, deren Not sie nicht ahnte.

Die Hand des jungen Herrn ruhte kurz und fest in meiner; sichere, lebendige Augen prüften mich unbefangen, ein klein wenig spöttisch, aber nicht mehr, als man einem Befremdeten gern verzeiht, da man ihm das Recht zugesteht, die eigene Befangenheit dahinter zu verbergen. Er war groß von Gestalt, schlank und kräftig, sein lebensvoller Blick glitzerte ein wenig, aber nicht hart, sondern fröhlich und klug. Seine Züge, alles andere als knabenhaft, waren eindringliche Lebensrunen, die von Erlebnissen sprachen, aber das Alter schwer erraten ließen. Er überließ mich nach der Begrüßung ganz Tante Mimsey, es schien, als sei er gewohnt, daß Menschen und Dinge an ihn herantraten, seine Zurückhaltung war selbstbewußt. »Eberhard« verstand ich; wo war doch der Name schon gefallen?

Kaja war ernst und undurchdringlich wie immer, vielleicht ein wenig ernster als sonst. Was bedeutete dieser Ernst? Ich wappnete mein Herz in bebenden Klammern des Willens zu bestehen, und begriff die Feindschaft nicht, die in mir erwachte.

Tante Mimsey glaubte mir schuldig zu sein, mich nach den Resultaten meiner Forschungen zu fragen, ich mußte so antworten, daß mir unter gleichmütigeren Fragen einer späteren Prüfung von anderer Seite zwei Wege offen blieben.

»Der Vetter hat uns mit seinem Besuch ganz unerwartet überfallen«, erzählte mir Kaja und sah an mir vorüber, während sie sprach, so daß ich nur eine törichte Antwort geben konnte. Das Gespräch ging stockend und planlos hin und her, Tante Mimsey schwenkte ihr Horn in alle Richtungen und verstand nur das, was nicht für sie bestimmt war. Endlich gab sie es auf, teilzunehmen und kraute Niko.

»Sie studieren Naturwissenschaften?«, fragte mich Vetter Eberhard.

Kaja sah mich an.

Im Blick des jungen Mannes lag jetzt ein offenkundiger, wenn auch durchaus liebenswürdiger Hohn. Er sah an meiner Kleidung so augenfällig vorbei, daß sie mir auf dem Körper brannte. Es gab nur eine Rettung:

»Ja,« antwortete ich, »wenn Sie es so nennen wollen. In der Hauptsache beschäftigt mich jedoch der Mensch, und an ihm vornehmlich sein sonderbarer Hang, Fragen zu stellen, deren Antworten er nicht zu glauben wünscht.«

Ich sah Kaja nicht an, obgleich ich alles Heil von einer noch so feinen Regung ihrer Lippen hätte nehmen können.

Vetter Eberhard beugte sich vor, als sei seine Teilnahme erst nun erwacht.

»Ach,« sagte er langsam, »da haben Sie ja bei meiner alten Tante eine gediegene Grundlage, um Ihre Bildung zu vervollkommnen. Sie hört nur leider etwas schwer.«

»Gut, daß sich solche Eigenschaften in der Verwandtschaft nicht immer vererben«, antwortete ich. »Die Gefahr liegt natürlich nahe. Es soll dann gewöhnlich damit anfangen, daß man zwar noch die Worte, aber selten ihren Sinn versteht.«

Jetzt lachte Kaja, und ich wurde rot vor Zorn. Glaubte sie mir helfen zu müssen? Ich lehnte ihre Zustimmung ab:

»Warum lachen Sie?« fragte ich.

»Wollen Sie sich nicht daran halten, die Fragen der Menschen zu erforschen und nicht auch noch ihr Lachen?« antwortete sie kühl.

Gut, dachte ich, so sind es zwei Feinde. Aber ich schwieg und sah vor mich hin. Warum habe ich die Hand geschlagen, die sich mir bot, dachte ich, warum vermute ich Gegner, wo harmlose Gefährten des Lebens sind? Aber willst du denn, daß ich unterliege, Kaja? Willst du, daß meine schreckliche Hilflosigkeit in den Augen Gleichgültiger deutlich wird, wie sie den Augen deiner Liebe deutlich geworden ist? Weißt du nicht, daß ich böse bin aus Scham vor meiner Güte, und stolz vor Schüchternheit, und hart aus Furcht das Edelste zu teilen?

Plötzlich hätte ich lachen mögen und beiden die Hände reichen. Vetter Eberhard sah aus, als würde er sie nehmen. Mit heiterer Unbekümmertheit betrachtete er mich, es war deutlich, daß der Aufwand meines Verhaltens ihn leicht befremdete; auch nicht ein Schatten vom Ehrgeiz zu bestehen, von der Sorge zu unterliegen, trübte das kluge Gesicht. Er fragte mich nicht mehr, da ich doch ungern zu antworten schien, auch so waren die Welt und ihre Dinge prächtig, und Kaja schön darin. Er sprach mit ihr, als wäre ich nicht da. Seine große Hand lag auf dem Tisch. Ich maß die Entfernung zwischen ihr und Kaja. Was meiner Liebe horizonteweit erschien, war für diese Hand in der Regung eines Augenblicks erreichbar.

Vetter Eberhard hielt mir sein Zigarrentäschchen hin.

»Rauchen Sie?« fragte er freundlich.

Ich lehnte ab, ohne zu danken.

»Aber nehmen Sie doch bitte«, bat er herzlich. »Sie rauchen ja, Kaja erzählte mir, daß Sie am Strand Ihre ganzen Tabakbestände vernichtet haben. Oder ist das zuviel gesagt?«

Ich sah ihn an und antwortete:

»Nein, Sie haben genau so viel gesagt, als Sie mich wissen lassen wollten.«

»Wieso? — Also Sie rauchen jetzt nicht ...«

Meine Blicke gingen zu Kaja. Ich war plötzlich durch und durch von einer großen, tiefen Ruhe erfüllt. Meine Augen sahen in ihren Zügen nur ein gleichmäßig-holdes Lächeln von besonnener Arglosigkeit, ihr Mund war ein wenig geöffnet und sie schien an etwas zu denken, das unsere Rede nicht betraf. Vielleicht an Tante Mimseys leise Zurückgesetztheit, an diese zärtliche Beachtung aller Einzelheiten, die das alte Fräulein so rührend zur Schau trug, und die ihre Abgeschiedenheit von unserem Tun und Sprechen zu verbergen trachtete.

Nun sah Kaja mich an und sagte:

»Ich möchte dich morgen treffen, wenn du es willst, vielleicht am Strand, wie sonst?«

»Wenn ich Sie nun doch um eine Zigarre bitten darf,« sagte ich leichthin zu meinem Nachbarn, »ich wäre Ihnen sehr dankbar. Für den Heimweg nehme ich sie gern.«

»Bitte,« sagte er freundlich, »aber sie ist nicht so leicht, wie Sie vielleicht glauben.«


Meine Nacht war qualvoll, und wandernde Geister der Zuversicht und Not wechselten miteinander ab, Wolken zogen über den Mond, der nur selten sein klares Licht in meine Kammer warf. Der Wind rüttelte an meinem Fenster, das dürftig gehalten offen stand, und ich hörte die See rauschen. Nähe und Ferne waren wie Gestalten, die sich zu mir drängten oder weit abrückten. Bald rang ich um Schlaf und bald um Kraft, aber beide mieden mich und die Stimmen der Nacht wurden zu Fieberlauten und verwandelten sich in vernehmbare Stimmen tief in mir. Was soll ich dir gestehen, damit du mir Ruhe gibst?

Erst das heraufdämmernde Licht tröstete mich, aber ich erhob mich nicht, weil ich die langen Morgenstunden fürchtete und die entkräftigenden Schwankungen des Wartens. Ich dachte an den Schlaf, an sein schweres, süßes Kommen, an diese Wohltat des Versinkens und an den hellen Gram seiner Täler. Unter den beinahe finsteren Baumkronen ist es kühl, von großer Weite und ziellosem Nirgendwo. Die Gedanken kommen nicht aus den bewußten Tiefen des eigenen Sinnens, sondern sie schweben als bunte, lautlose Vögel durch den Frieden der Fluren. Bald dieser, bald jener läßt sich auf unserer Schulter nieder und achtet auf das Lächeln des atmenden Mundes. Es sorgt umher für dich und mich, keiner soll sich am Tun ermüden, fern hinter uns, hinter den Bäumen der Nebelstrich, das ist der vergangene Tag.

Endlich hörte ich Han im Hause wirtschaften, die Eimer klapperten, sie ging zum Brunnen. Ich will gehen und ihr helfen, dachte ich, und blieb liegen und begleitete sie in meinen Gedanken. Wir wanden den Eimer, der seinen Überfluß unten im Dunkeln der Brunnentiefe zurückgab, langsam gemeinsam herauf. Han hatte über dem Hemd nur ihren bunten, groben Rock an, und wir drehten die Winde Arm neben Arm. Sie bückte sich ein wenig und ich rückte ihr das Tragholz auf die Schultern, die beiden Eimer hoben sich mit ihr und sie ging langsam ins Haus. Nein, wir sprachen nicht, Han war noch schweigsamer geworden.

Als ich aus dem Hause trat, sah man den Mond noch. Der Horizont über dem Meer war von mattem, bräunlichem Rot, das die Erwartung freudig hob. Weit, groß und leer breitete die aufgehellte Strandwelt sich aus. Ich dachte an jenen Tag, den ich emporkommen sah, nachdem ich Kaja zum erstenmal umarmt hatte. Endlich tauchte die Sonne rot aus dem Meer, aber die Macht ihrer Strahlen war zu groß für meine übernächtigten Sinne, ihr Licht betäubte mich und ich schlief ein.

Ein Traumbild zog durch diesen leichten, wachsamen Schlaf: Ich sah Kaja nackt am Strand über den feuchten Sand laufen, dicht an der Brandung, die ihre Schaumseen nach ihr ausdehnte, als legte sie Teppiche. Kaja lief wild und sinnlos gegen den jagenden Wind, der ihr aufgelöstes Haar wie eine große, gelbe Fahne flattern ließ. Sie lief ein wenig ungeschickt, und mir war, als schrie sie helle, kurze Schreie, wie über ihr die Möwen. Es waren zugleich Lust und Schmerz und Seligkeit, die sie dahintrieben, bis sie sich mit hocherhobenen Armen in den Sand fallen ließ und klein und sonderbar hell im Hellen am fernen Strand liegen blieb. —

Ich mußte mich wohl dicht an jenem Ort zum Schlafen niedergelegt haben, den Kaja mir genannt hatte, denn ich schrak von ihrer Stimme empor. Ihr Blick in meine erwachenden Augen verriet mir, daß sie mein schlafendes Gesicht betrachtet hatte, ich fand einen Schein in ihren Augen, dem ich noch niemals begegnet war. Es war eine wehmütige Erwartung darin, als wenn ihr Mund ein mütterliches Wort gesprochen hätte.

»Hast du hier geschlafen?« fragte sie mich.

»Laß mich ins Wasser, ich schlafe ja noch.«

»Doch nicht hier, die ganze Nacht?«

»Nein, nein, Kaja, ich habe prächtig in meinem Bett geschlafen.«

»Bleib, wir wollen jetzt nicht baden.«

Sie sah sich um.

»Kaja, ich habe viel von dir geträumt, sonderbare Dinge, wieviel erfuhr ich doch da über dich, wie naiv du bist und zugleich wie listig, klug und töricht, unvorsichtig und schlau, aufrichtig und versteckt.« Ich sprach rasch und beiläufig, als wollte ich erst auf das kommen, was mich wesentlich bewegte.

Kaja sah mich groß mit wachsamen Augen an:

»So füge doch noch hinzu keusch und eine Dirne. Für mich wird sich alles zu einem Ganzen vereinen, was dir, im Traum, wie du sagst, so willkürlich zusammengesetzt erschien, denn ich bin glücklich. Sieh, ich meine oft,« fuhr sie einlenkend fort, »die Menschen haben verlernt zu leben, sie glauben, sie dürften das Leben erst >tun<, nachdem sie es geordnet haben. Darüber lassen sie die Jugend in grauer Mühe verstreichen. Sie sind schwach, nichts als das.« Sie lachte leise vor sich hin. »Im Grunde bauen sie ihre Schranken doch nur aus Angst vor der Wahrheit des Lebens. Ich gebe zu, sie brauchen sie, aber mich laß in Ruh.«

»Wäre die Sitte nur das,« antwortete ich, »so wäre sie längst zerfallen. Sie hat eine tiefe Beziehung zum Wert des Menschen.«

»Warum sprichst du heute von diesen Dingen? Geh hin und sage das den Männern. Ich bin ein Weib. Ich fühle mich eurer Gemeinschaft nicht zugehörig, und solange ich keine Anforderungen an euch stelle, versündige ich mich nicht, wenn ich gelassen nach meinem Sinn lebe. Steinigt mich doch! Ich erlaube euch, mich umzubringen, weitere Zugeständnisse gedenke ich jedoch nicht zu machen.«

Sie hatte Kornblumen gepflückt und zerrte an den Stielen, um sie kürzer zu machen.

»Warum sagst du das so hart und häßlich, Kaja? Das alles ist es ja nicht, wenn du mich doch einmal anhören wolltest. Weißt du, was du tust, wenn du dich außerhalb der Sitte stellst ... verzeih, habe ich dich gekränkt?«

»Was ich tue, fragst du? Ich tue, was ich bin.« Sie zog die Hand über ihr Haar und runzelte forschend die Brauen.

»Oh, Kaja, daß du immer noch glaubst, ich wollte dich ändern, dich bessern. Ich liebe dich!«

»Wie schrecklich!« Halb scherzhaft, halb befangen verfolgte sie die Wirkung ihres kaum gewollten Worts, bereit es zu mildern.

»Ja, Kaja, es ist schrecklich. Was weiß dein Herz davon. Du sollst mich anhören, weil ich nicht schweigen kann und reden muß, aber ich spreche nicht in der Hoffnung, dich zu bestimmen. Ich weiß, wer du bist, aber ich weiß auch, wer ich bin.« Und ich fügte in meinen Gedanken hinzu: Töricht bin ich, töricht.

»Sag es doch gleich, was ich bin,« antwortete Kaja, »füge doch hinzu, daß du glücklich wärst, wenn du mich verachten könntest.«

»Du bist klug wie Feuer.«

»Ist das Feuer klug?«

»Auf seine Art. Wer das Feuer anbetet, weiß nichts von der Liebe.«

»Leuchtet es nicht?«

»Ja, indem es wahllos verzehrt, was es zu seinem unruhigen Dasein braucht. Es >versteht< gleich dir alles, was es braucht, und alles, was es hindert.«

»Was du dir doch für sonderbare Gedanken machst«, sagte sie, einen Augenblick kindlich betroffen. »Du bist ein gefährlicher Mensch, du raubst der Natur ihre Ruhe.«

»Ja, Kaja, ja, auch der meinen, bis ich ihren Sinn begreife. Ich bin ein Mensch, sonst nichts. Glaubst du denn, ich klagte dich an, um mich zu verteidigen, oder um zu meinem Recht zu kommen? Nein, nein, es ist umgekehrt und wird bis zu meinem letzten Atemzug so sein, daß ich mich gering mache, um zu rechtfertigen. Es soll nichts von mir gelten, als daß ich hier keine Ruhe fand, und daß ich mich nie beschied. In solcher Auflehnung gegen die betrügerische Standhaftigkeit des Vergänglichen beginnt das Menschenbewußtsein, erhebt Gott, die Liebe, in uns ihr Wirken. Ich habe einen neidlosen Blick ewigen Abschieds auf die Lebensbereiche derer geworfen, die sich kampflos und begnügsam bescheiden. Wenn ich im Leben einen Todfeind haben werde, so ist es ihr Frieden, wenn ich etwas zerstören werde, so werde ich ihre Ruhe zerstören, wenn meiner ein Kampf wartet, so ist es der Kampf gegen ihren Gott, der ihre Häuser schirmt und ihren Geist tötet. Eine furchtbare Macht wird auf meiner Seite sein, himmlischen Heerscharen vergleichbar, das ist die Jugend ...«

Ich schwieg erschrocken. Kaja sah mich mit einem Blick an, der tief sank, ich kann ihn nicht schildern. Mein Herz blutete darunter, denn ich fühlte eine Zustimmung voll heiliger Fremdheit und einen Abschied ohne Gemeinschaft. Aber sie wußte es nicht, sie sagte:

»Du sprichst wie zu einem Feind. Wir sind doch allein.«

»Weshalb sagst du das?«

»Nur so ... ich habe dir ja auch zugehört. Aber ist Gott, oder die Liebe, wie du sagst, nicht Ruhe? Wie willst du zu ihm kommen?«

»Er wird zu mir kommen, Kaja, er wird, er wird!«

Ein Schleier von Traurigkeit sank auf ihre Stirn, er schmerzte mich, als sei meine Hoffnung unsühnbar und eine ewige Schuld.

»Ich wäre glücklich auf deine Weise, Kaja, wenn ich dich mißachten könnte, wenn ich dich nehmen und genießen könnte, wie du genommen und genossen sein willst. Ich kann es nicht. Erst wenn ich mich gebe, glaube ich. Sieh, mich selbst könnte ich vielleicht sogar fortwerfen in Taumel und Rausch, aber meine Liebe nicht. Sie steht mit lauter Klage vor deinem Wesen auf, sie sucht die Augen ihrer selbst, ihren einzigen Blick, und macht mich ungewiß und ruhlos bis zur Marter. Ach, wie arm du bist, wenn du glaubst, ich vermißte bei dir äußeren Anstand oder Einschränkung, ich suche bei dir das Eine, das nie Aussprechbare. Es ist nicht Zuversicht, nicht Ruhe, nicht Heimat, alles das ist zu wenig, es gibt kein Wort. Das Wesen schweigt und weiß ... ich muß wieder fort, Kaja.«

»Aber wenn es so ist,« sagte Kaja sinnend, indem sie meine letzten Worte überging, »so müßte doch dein Hinnehmen nicht abhängig sein von meiner Tugend oder Untugend.«

»Wie wahr du sprichst, nicht mein Hinnehmen, aber meine Hingabe ist davon abhängig! Nicht jenes Glück, von dem du sprichst, und das du reich und beseligend austeilst, nicht jenes Glück, das du bist, sondern ein anderes, das ich zugleich bin und suche, es heißt Glaube. Du füllst mich mit Trauer und Unruhe, mit einem leidenden heißen Heimweh nach ewigem Bestand.«

Sie sah mich unruhig und böse an.

»Nun mache mir noch einen Heiratsantrag«, rief sie ungeduldig.

»Du hast recht«, sagte ich und erstarrte. In diesem Augenblick begriff ich, daß ein Mensch einen anderen zu töten vermag. Aber gleichzeitig fühlte ich meine Liebe zu diesem Mädchen so übermächtig, daß ich die fernen blauen Berge wie Tand und Plunder hätte dahingeben können und Gott kreuzigen, für eine einzige Berührung dieses lieblichen süßen Scheins, der auf ihrer nackten Schulter lag und im Fall ihres hellen Haars. Aber weder die Berge noch der holde Schein weichen im Frühling auf unser Geheiß von uns.

Da fühlte ich mit Zittern und tiefer Furcht, daß ich dieser Welt niemals anders Herr zu werden vermöchte, als indem ich sie ganz erlitt.

Ich verließ Kaja und schritt in der leicht verschleierten Sonne auf das Dorf zu. Die Möwen flogen über den Wellen und der Horizont über dem Wasser verschmolz in zartem Nebelblau mit dem Himmel, in der Ferne waren Meer und Himmel eins, nicht wie in der Nacht die Dinge verschmelzen und ineinander übergehen, sondern im Licht, in einem Glanz, der nicht blendete. Ich bin wie jenes törichte Kind, dachte ich, das ruhlos wanderte, um den Ort zu finden, wo die Kuppel des Himmels die Erde berührt.

Ich wußte nicht mehr, daß in der Scheidung von Himmel und Erde der Trost liegt, und nicht in der Mischung, wie fern war doch Asja mir gerückt, wie ein Traum. Ich versuchte, an sie zu denken, aber sie entglitt mir, ernst, ohne Lächeln. Es war mir wichtig, mir klarzumachen, daß meine Betrübnis daher stammte, daß sie mir verloren war, aber ich wußte in heimlichen Gründen der Seele, daß ich mich nur deshalb grämte, weil nun Tage vergehen würden, an denen ich Kaja nicht sah, und daß sie nicht allein sein würde.

Ich hing meine Blicke an die weißen Sommerwolken, die über dem grünen Bogen der Landschaft, im Blauen, auf das Meer zu wanderten, aber die Betrübnis, die mich quälte, ließ sich nicht auf den hellen Wegen der großen Himmelswanderer entführen. Und ich dachte, vor Schmerzen blind und taumelnd: Es muß etwas geben, es muß etwas geben ... warum quält mich mein übergroßes Glück so sehr? Ich möchte es halten und festigen, ich möchte ihm ewige Gestalt geben, ich möchte es Gott ans Herz legen und möchte es glauben, ohne Zweifel und ohne Not. Ich möchte es glauben, wie das Wasser zu Tal rinnt, oder wie das Licht scheint, ich möchte es sein ohne Trennung, ach, wieviel ist ein Glück wert, das ich habe, das in mir oder bei mir ist, von dem ich sage: Ich und mein Glück. Ich will es sein, ganz sein! Es darf keine Macht im Himmel und auf der Erde geben, die es betasten oder verletzen könnte, ich muß um meines Liebesglücks willen zu Gott werden, sonst sterbe ich vor Ungenügen und Traurigkeit.

So dachte ich in jenen Tagen, ich dachte und empfand, wie in Frühlingstagen, in denen zugleich die Sonne scheint und warmer Regen niedergeht, in denen der Acker taut und keimt, in denen die Quellen der Berge sich im Land trüben und die Morgensonne im Nebel aufgeht, in denen im heiligen Überschwang unzählige Blüten aufbrechen und dahinsinken, die nicht bestimmt waren, Früchte zu tragen.

Heute weiß ich, daß der Frühling des Bluts und der Seele in jener holden Ungewißheit verstreichen soll, die uns mit Ungeduld und unstillbarem Verlangen erfüllt, und daß seine Qualen und Seligkeit die Ahnung des Scheidewegs sind, an den wir alle kommen. Der Schoß der Erde, die warme Brust der Mutter, die Süßigkeit unseres Traums der Zugehörigkeit zu ihrem dunkeln Reich der Entstehung liegt im ersten Streit mit dem Widerschein des Geistes, des Vaters, zu dem wir berufen sind, bis das Vergängliche und das Unvergängliche sich wie Erde und Himmel vor den Augen unserer Seele öffnen. Das ist der Scheideweg, die Stunde unseres Abschieds von der Mutter, um zum Vater emporzufinden.

Was uns die Mutter versprochen hat, kann sich nicht nach unserem Kindersinn erfüllen; Maria weint ohne Hoffnung unter dem Kreuz und kennt den auferstandenen Sohn nicht wieder. Aber die Forderung des Sohnes ist groß in uns geworden, sie trägt kein Verlangen mehr danach, sich im Vergänglichen zu bewähren, dessen Schönheit nur ein Gleichnis der Wahrheit ist. Aber je weniger die hohe Forderung sich im Vergänglichen bewähren kann,— ach sänke doch diese Wahrheit in alle Herzen! — um so mächtiger blüht ihr Glanz über der Welt auf. Weil es auf der Erde nicht hat sein können, wie ich gefordert habe, deshalb fordere ich dreifach und hundertfach! Und wunderbar! Indem ich nicht ruhe, und mein heiliger Eifer überhand nimmt, strahlt mir die schöne Welt der vergänglichen Erscheinungen entgegen, als spräche sie: Bin ich nicht doch erfüllt, nur deshalb, weil du, aus mir stammend und mir zugetan, nicht aufgabst zu fordern?


Als ich nach einigen Tagen, die ich mit Lüdersen und Han verbrachte, nachts in den Garten des Wasserschlößchens schlich, kaum noch ein Mensch, hörte ich Stimmen in Kajas Zimmer. Tante Mimseys Baß hat sich verdunkelt, dachte ich und beschloß zu warten, bis es oben still geworden war. Die Büsche waren vom Regen naß und es tröpfelte aus dem Ahorn auf mich nieder, die Kühle der Sommernacht war voller Gerüche, und jeder barg ein Lebensgeheimnis voll mütterlicher Sanftmut. Wohl waren die Blüten vollendet, aber ihr Odem lag noch über den wachsenden Früchten der Pflanzen, eine Erinnerung voller Hoffnung und Schicksal.

Wie ein Irrlichtschein klang Kajas leises Lachen durch die nassen beschienenen Blätter zu mir nieder, aber mit diesem Klang kam mich ein schauriges Frieren an, es legte sich wie Eis um mein Herz. Mir war, als ob dieses unnennbare, zitternde Lachen nicht durch Mund und Augen aus ihrer Seele brach, sondern wie ein Flimmern von ihrem nackten Leib aufstieg, der in einer furchtbaren Weise preisgegeben sein mußte. Wie glühende Schneiden zog es durch meine Glieder und hemmte den Kreislauf meines Bluts, als stockte der Schlag der Adern in Glassplittern und Funken.

Selbst die größte Wachsamkeit der Sinne wird den Schrei des Schmerzes mit einem Jubelruf verwechseln können, den Seufzer der Erhobenheit mit dem Stöhnen der Schmach, das Ja mit dem Nein, wenn es Leben oder Tod gilt, aber das Ohr der Liebe erkennt ohne zu irren in der Stille der Nacht oder im Trubel des Marktes dies eine, dies unfaßbare und doch so überdeutliche Vibrieren im Odem eines Weibes, dessen Sinne das unheilige Feuer der Lüsternheit entzündet hat.

Und nun hörte ich die zärtliche, werbende Stimme eines Mannes, jenen tiefen singenden Klang, der dem Ohr des Mannes zu den qualvollsten Geräuschen des Lebens gehört, und den er an sich selbst nicht ertragen könnte, wenn er ihn nur einmal mit Bewußtsein vernähme. Ich entsinne mich, daß eine verlorene Nacht leichtfertiger Lustbarkeit mich viel später im Leben mit einem Mädchen zusammenführte, um dessen billige Gunst der Stunde ich in der Haltlosigkeit eines leichten Rausches warb, und über deren Schulter ich im Spiegel für einen kurzen Augenblick mein unbewachtes Gesicht sah. Ich versteinerte über diesen Zügen und floh wie vor einem geisterhaften Todfeind in die Nacht hinaus.

Aber sonderbar, waren diese Geräusche über mir zu deutlich, zu wahr, als daß ich sie schon im Bewußtsein verstand? Gibt es eine Wahrnehmungsfähigkeit des Gemüts, rascher als die der Sinne, und sind wir zuweilen eines Schicksals teilhaftig, bevor es uns betrifft? Es kam mich ein unterweltliches, sonderbares Lachen an, ein Lachen von grauser Unbeteiligtheit, urteilsreich, gerecht und mitleidig. Arme, kleine Kaja, lachte ich vor mich hin, hat es dich in den Krallen und schüttelt es dich, arme Verlorene du, in der bunten Süßigkeit deines Irrtums? Und über diesem Geschehen in mir erwachte jählings etwas wie eine gutmütige Hilfsbereitschaft: Du Menschenschwester da oben, du lieber Irgendwer.

Dann hob mich der stille grause Geist des Geschehens in eine andere Sphäre der Betrachtung: Sie hat einen Kerl bei sich, einen Mann im Bett, heimlich bei Nacht, wie ein Dienstbote, wie —— wie einst mich. War ich nicht auch ein solcher Bote im Dienst ihrer Vergnügungen gewesen? Und nun hockte mir ein Gespenst in der Brust und versuchte, mir die Trostbrocken einer jämmerlichen Richterlichkeit zuzuwerfen. Aber wohin sollte ich mich wenden? Über dieser Hilflosigkeit empfand ich, daß ich allein auf der Erde war, mehr, tiefer und erfahrener als je zuvor, aber ich mochte mich in die Leere selbst dieser Gewißheit nicht flüchten, sondern begann leise ein Lied zu pfeifen, das wir in der Schule hatten singen müssen.

Es wurde sonderbar still über mir, dann kamen von einem Menschen, der sich im Zimmer bückte, zwei Hände zum Vorschein und zogen langsam und leise die beiden Fensterflügel zu. Eine gläserne Wand war zwischen mir und Kaja entstanden, für immer.

Wer in dunkler Nacht bei einem Ungewitter durch einen Wald gegangen ist, vermag wenig Einzelheiten in seinem Gedächtnis festzuhalten, weil die Bilder unvorhergesehen wechseln, und die Kraftschläge der Wetter wohl ein neues, aber ein kaum vom vorhergegangenen unterscheidbares Bild der Natur hervorbringen. Es ist die grell, in bengalischem Grün aufflammende Waldwildnis, ein von Dämonen entfachtes und entzündetes Weltenangesicht, dessen Bildnis im Strom der niederschüttenden Wasser und im betäubenden Krachen des Donners verwildert. Der neue Eindruck folgt so rasch dem kaum erfaßten, daß sie einander ihr Recht in unserem Geiste bestreiten und zu einem einzigen Gesamtempfinden von Grauen, Angst, Ergriffenheit und Andacht verschmelzen. Wohl bleibt hier ein durchleuchteter Wassersturz, dort eine wirr aufstürzende und wild gepeitschte Baumkronenwolke in unsern Sinnen haften, aber wir werden zu stark von allem aufgenommen, zu hilflos in die Elemente verwoben, als daß wir ihr Beschauer und Beurteiler blieben.

So weiß ich wenig aus den Nachtstunden, die meinem Erlebnis vor Kajas Zimmerfenster folgten. Es war schon morgendämmrig, als ich in mein Fenster einstieg. Im unsicheren Licht sah ich, daß Han sich vom Boden erhob und zitternd vor mir stand.

»Lieber ...« sagte sie wie im Traum und schwieg bebend.

Was will nur Han zu dieser Stunde in meinem Zimmer? dachte ich. Han ist die Hausgenossin eines Fischers am Meer, am Meer, an dem ich weile, aus diesem oder jenem Grund des Weltwillens, der in meinem Ich waltet.

»Geh, Han, und schlaf.«

Sie faltete die Hände und rang sie, gebeugt, über ihren Knieen.

»Es wird schon Morgen, kleine Han. Man sieht das Frühlicht auf deinem Scheitel, der hell schimmert.«

»Ja,« sagte sie gehorsam und dann stockend: »Du bist traurig ...«

»Ja, Han, ich bin traurig, gewiß, sehr traurig. Auch traurig wird man zuweilen, nimmt dies und das, ein Mensch, wie es kommt.«

»Dort steht Brot und Milch,« sagte sie hilflos, »so iß doch, stärke dich, ich habe Angst, aber ich weiß nicht warum.«

So stand sie da, hell und unwirklich, ein matter Lichtschein in der leeren Morgenstunde im dämmrigen Raum. Ich sah sie an und hörte ihre Worte, und es lief mir aus den Augen über mein Gesicht und tropfte auf den Boden in der Stille, so daß ich es hörte. —

Als ich am Margen erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Ihre Strahlen sanken schräg an meinem Fenster vorüber und streiften die Hauswand, an der farbige Bohnen blühten. Eine der Blumen, an einer beweglichen Ranke, saß wie ein kleiner Schmetterling aus Feuer und schaukelte sich im tiefen Himmelsblau. Aus dem Garten klang die Stimme Lüdersens und verstummte, es herrschte draußen wieder die große Sonnenstille des Sommers.

Ich ging ans Meer und wusch mich. Das Boot war neu geteert worden und duftete so stark, daß sein Hauch mich wie eine Glutwelle überfiel. Das Wasser flüsterte kaum vernehmlich, die Wogen liefen träge und klein nacheinander heran, niedrig und zögernd, wie von der Lichtflut schläfrig gemacht. Ich sah zum Wasserschlößchen hinüber und erblickte fern zwei zierliche Gestalten am Ufer, Kajas rote Kappe leuchtete, und hinter diesen bildhaft feinen, fernen Strandfigürchen war die Weite lichtblau und verschwommen, ein Traumtal ohne Ende.

Ich ging ins Haus zurück und rief Han, die im Garten arbeitete.

»Heute Nacht ... vergib,« sagte sie, als sie schüchtern eintrat, »ich wollte nur ...«

»Hast du Geld, Han?«

»Geld?«

»Antworte.«

»Ich habe nicht viel zur Hand, ein paar Mark in der Kommode.«

»Und anderswo?«

»In der Kreisstadt habe ich auf der Sparkasse mehr als hundert Taler.«

»Gieb mir das Buch für die Sparkasse.«

Ihr Angesicht hellte sich auf, als bräche die Sonne ins Zimmer.

»Ach,« seufzte sie nur und preßte mit einem glücklichen Lächeln ihre von der Gartenerde rauhe Hand auf die Brust. »Gleich, sogleich, aber geh derweil nicht fort.«

Ich sah den Boden an, bis sie zurückkam und mir das schmale Heft gab, das sorgfältig in eine Zeitung eingewickelt und mit einem Bändchen verschnürt war.

»Kommst du wieder?« fragte sie.

Ich nickte, nahm das Buch und ging fort.

Es waren fast zwei Stunden Wegs bis zum Städtchen, es ging zwischen Knicks dahin, über die reifenden Kornfelder, auch hier und da durch Wald. Ich sah Windmühlen munter am Werk, und hörte die Stimmen der Goldammern. Überall war das Vieh draußen. Unterwegs sagte ich mir, daß ich Hans erspartes Geld nicht nehmen dürfte, aber woher sollte ich die Mittel erlangen, um den Plan ausführen zu können, der mich beschäftige? Und war es mir denn ernst mit diesem sonderbaren Plan, der sich meiner bemächtigt hatte, als ließe sich ein fremder bunter Vogel auf der Tenne eines Bauernhauses unter den Vögeln der Heimat nieder? Ich wußte nicht, ob es mir ernst mit meinem Plan war, wie ich denn überhaupt nicht wußte, was ich tat, und ein Verbrechen so leicht und unbedacht hätte vollbringen können, wie eine gute Tat. Eine gnädige Führung meines Geschicks ließ mich an jenem Tag diesen Weg finden, fort von der Stätte meiner Schmach und Schmerzen, gaukelte mir ein törichtes und einfältiges Beginnen als eine Errettung vor und hielt mich im Bann der armen lächerlichen Tatkraft meiner verwundeten Hoffnung, um mich so vor einer Untat zu bewahren, die mich hätte verderben können.

Als ich den Ort erreicht hatte, erhob ich die Geldsumme und erstand mir Kleider, Wäsche und Schuhe, alles, dessen ich bedurfte, um der äußeren Erscheinung nach in einen Stand erhoben zu werden, dessen Ansehen mir, an mir wahrnehmbar, so wichtig erschien wie mein Leben. Ich erschrak, als ich mich nun in einer spiegelnden Scheibe erblickte und zog den Hut. Es fehlte mir jetzt nichts mehr, sogar ein paar Handschuhe besaß ich und einen Stock mit verziertem Griff. Gegen Mittag saß ich an einem alten Steinbrunnen am Markt, im Schatten der Kirche und bemerkte plötzlich, daß ich weinte. Darüber mußte ich lachen, und ich bemühte mich, diesen Umstand der Tränen zu verbergen, der mir an mir, dem Fremden, peinlich auffiel. Am liebsten hätte ich mich mit den Vorübergehenden über diesen Fall in ernsten, gehaltenen Sätzen ausgesprochen, und ich würde es wohl verstanden haben, mich, wie einen anvertrauten Schützling, an den mich eine beiläufige Teilnahme band, in das rechte Licht zu rücken. Man würde mich angehört haben, dessen war ich gewiß, denn wer verweigert einem wohlgekleideten jungen Menschen jene flüchtige Aufmerksamkeit, die die Höflichkeit vorschreibt, wenn er sittsam zu sprechen versteht?

Aber ich trachtete nur danach zu verbergen, was mir geschah, und ein heiteres Angesicht zur Schau zu tragen. Auf dem Heimweg schreckte mich der Staub der Straße, weil ich um meine Schuhe in Sorge war. Ich zog sie aus, um sie zu schonen, sie waren auch zu eng. Es mochte gegen vier Uhr sein, als ich wieder in Lüdersens Fischerkate anlangte, er war zum Fischfang draußen und Han empfing mich unter der offenen Tür des Hauses.

»Oh Gott!« rief sie, »ja! ja!« Sie schlug jubelnd die Hände zusammen und wagte nicht mehr, mich mit du anzureden.

»Sind Sie jetzt fröhlich?« fragte sie stockend und schlug ihre Augen nieder, um ihr Glück nicht zu verraten.

Aber ihre Hoffnung peinigte mich, ich erschrak vor einer in mir aufkeimenden Möglichkeit zu einer Bescheidung, ich fürchtete ihre Zustimmung und Freude und mir graute davor, daß ein Trostschimmer in mir aufflammte, als riefe ein freundlicher Lebensgeist mich zurück, und als gäbe es im Schatten der Begnügsamkeit noch Lebensplätze. Aber schon ein einziger Gedanke, der mich zu mir selbst hätte führen können, erschütterte mich grausam, da er mich an die Abgründe der heimlichen Gewißheit führte, die mich langsam verzehrte. Ich darf nicht denken, dachte ich, es gilt doch, mein Eines zu retten. Und plötzlich erbebte ich vor Zorn über dies Glück um dessen willen ich meine Gedanken töten sollte.

Ich gab Han das Geld, das ich nicht gebraucht hatte, sie erschrak heftig, weil es ihr, nun, da sie es vor Augen hatte, weit mehr erschien, als es ungeteilt, in ihrer Vorstellung gewesen war. Mit einem unbewußten Lächeln der Betrübnis gegen meine Bereitwilligkeit es zurückzugeben, barg sie es, als wollte sie sagen: Ich heb es für dich auf. Es gehörte nicht mehr ihr und niemand durfte ihr Glück schmälern.


Wenn ich heute, um sie niederzuschreiben, an die Erlebnisse denke, die nun folgten, so ist mir zumute, als sei ich, der heute schreibt, der gleiche, der einst neben mir herschritt, als ich zum Wasserschlößchen ging, nicht aber der, der alles selbst erlebte. Denn ich war nicht eins mit mir, wie wir es sind, wenn wir einfach, unbewußt und frohsinnig dahinleben, sondern ich war wie aus mir vertrieben und sah mich mit spottenden Augen dahinschreiten. Auch heute sehe ich mich noch dahinschreiten, aber meine Augen spotten nicht mehr. Wohl denen, welchen mit der Erinnerung Freiheit entsteht und nicht Bitterkeit, Verstehen und nicht Reue. Nur der Leidenschaft ist diese Wohltat der Erinnerung vorbehalten und nicht, wie die meisten Menschen glauben, der mattherzigen Anteilnahme der Beweglichen. Nur aus wahrhaftiger Glut und Tränen steigt uns die Lebensform der Vergangenheit auf, die uns nie beschämt, weil wir unser Wachstum darin erkennen und das Gesetz unseres Daseins.

Mit den Schmerzen aber ist es mir anders ergangen, als den Menschen, die ich kenne und die ich oft darum beneidet habe, daß sie sich ihrem Schmerz ganz hinzugeben vermochten. Sie können schwer verlieren und leicht vergessen, aber ich kann leicht verlieren und schwer vergessen. Wozu mag es wichtig sein? Sagt es mir und euch, denn ich mag nicht darüber sprechen. Auf einem schönen Bildwerk des späten Mittelalters sah ich einst einen Mann, der an einen Pfahl gebunden, und dessen Körper von Pfeilen durchbohrt war. Er lebte, und seine ruhigen Augen schienen seine Peiniger zu betrachten. Mir war, als müsse ich die Pfeile aus seinem Körper ziehen, damit das erstürzende Blut ihm Erlösung verschaffte, aber ich wußte, daß seine Augen sich dann schließen würden, darum wollte ich es nicht, in meinen Gedanken, denn ich beneidete ihn glühend um das, was er sah. —

So schritt ich denn im Nebelkleid der ungefaßten Seele am Strand dahin, den ich gut kannte. Die schwarzen Rippen des alten Wracks starrten aus dem Sand empor und fern in den Hügeln erkannte ich, als ich schon dicht am Garten des Wasserschlößchens war, Kajas vergessene Staffelei, ein kleines zierliches Gerüst. Ich beschloß vom Meer her in den Garten einzudringen, da mich dort die großen, verwilderten Baumgebüsche noch eine Weile schützten.

Als ich den Schatten kaum betreten hatte, hörte ich Kajas Stimme in der Nähe und blieb stehen. Ich erblickte sie neben Eberhard unter einer der Buchen, deren Stamm von einer runden Bank umzogen war, und auf der ich am Tage meiner Ankunft mit Tante Mimsey gesessen hatte. Sie trug ihr leichtes helles Kleid aus ockerrotem Seidenbattist, und ihr Haar war nur flüchtig, in einem feuchten Knoten, tief zwischen den Schultern gehalten. Offenbar kam sie vom Baden, denn sie hatte nackte Füße und trug ihre rote Kappe in der Hand. Wärme und Sommerwesen hüllten ihre Gestalt sonderbar ein, die helle Farbe ihres Kleids verwob sich mit dem Licht, das in Goldflecken durch die Blätter fiel, und die schlanke Fülle ihres Körpers schien unbedeckt, so vernehmlich und fühlbar war sie allen Sinnen, denen die Augen nur eine arme, trügerische Hilfe gewährten. Ich spürte ihren Duft und hörte den Schlag ihres Bluts, ich schmeckte die bleichen Schatten dieses Leibes und trank den Ausdruck ihrer Züge wie Wein.

»Das fehlte mir, Schwesterchen!« rief Vetter Eberhard mit böser, ein wenig verschleierter Stimme. »Ich bin nicht dein Narr, und deine Späße gefallen mir nicht. Für wen hältst du mich? — Wo warst du?«

Er stand mit gespreizten Beinen da, in einer Haltung, zu der ihn sein schmucker Reitanzug zu verpflichten schien, halb abgewandt und den schönen Kopf schräg nach ihr hinübergerichtet, so daß ich sein jugendlich kühnes Profil über seiner Schulter sah.

Kajas Antwort vernahm ich nicht, sie gab sie auf ihre leise Art, eher mit dem ganzen verhaltenen Wesen als in Worten deutlich, und sonderbar schüchtern, unterwürfig wie aus Anteillosigkeit, aber zugleich herausfordernd. Bat sie denn um etwas? Die weiche Anmut ihrer Geste war betörend, von der ganzen Überlegenheit ihrer Lieblichkeit getragen und hilflos im unbestürmbaren Anstand ihrer Zurückhaltung.

»Du verkennst deine Stellung, Kleine«, sagte der junge Mann barsch. »Ich habe mir deine Kammertür nicht geöffnet, um von dir eingeschlossen zu werden. Glaubst du, deinesgleichen sei mir im Umgang neu und ich mache mir aus deinem Hemd einen Betschemel? Du bist eine Dirne! Was dir noch fehlt, ist, daß man es dir deutlich sagt, damit du endlich zum Genuß deiner Freiheit kommst. Das willst du! Und das ...«

Er hieb ihr mit diesen letzten Worten seine Gerte über die Schulter ... wieder, ein drittes Mal. Er stand da wie aus hartem Holz, unbeweglich. Lau und hell, ohne Laut und wie gebrochen sank Kaja an seinen Knieen nieder, umschlang deren eines und drückte ihre Lippen fest und heiß darauf.

»Schöner ... Lieber«, sagte sie deutlich und hob den Blick zu ihm empor.

»Nicht jämmerlich werden, meine Kleine,« antwortete er, »wir wollen im Stil bleiben. Steh auf! Komm mit!«

Er nahm sie und trug sie halb in seinem Arm, sie so fest umschlingend, daß ihr das Gehen beinahe unmöglich war, aber so schien es ihm recht zu sein. Wie ein nachsichtiger Sieger neigte er sich ein wenig zu ihr herab, verächtlich und gierig. Aber so gewalttätig sich mir in Handlung und Erscheinung das Bild seines Triumphes darbot, sah ich ihn doch als einen gefügigen Sklaven und bebte vor Kajas Macht. »Das willst du! Und das ...« klang sein Wort an sie in mir nach, wie der Anprall eines Steins im zerspringenden Glas nachklingt. —


Am anderen Tage traf ich Kaja allein am Strand, sie sah, daß ich mein Bündel und meinen Stock bei mir hatte. Ich war stundenlang um das Haus geirrt, um sie zu finden.

»Du gehst?« fragte sie.

»Ja, Kaja, ich gehe.«

»Also weißt du. Sieh, ich möchte nicht ...«

Sie sah mich an. Ihren Blick werde ich nie vergessen, solange ich lebe.

Wir ließen uns auf einem Sandhügel nieder, ich begann damit, denn ich vermochte mich nicht mehr aufrecht zu halten.

»Wohin du wohl überall kommen magst, Lieber, dir steht die Welt offen, nichts ist dir verschlossen, und vielleicht bringst du es zu etwas. Wer weiß ...«

»Ich werde wohl noch lange wandern, Kaja, vielleicht immer. Es ist mir nicht gegeben, in Bescheidung zu verweilen, und welche Gaben meiner Natur erlaubten mir auch ein Freund meiner Gefährten zu werden? Wir haben viel miteinander gesprochen, und ich habe dir manches über mich gesagt, heute verlangt mich nicht danach zu reden, auch ist es wohl so, daß man über sich einem Menschen nicht viel mehr zu sagen vermag, als er selber spürt.«

»Ja, das ist wahr«, meinte Kaja.

Es war ein trüber Tag geworden, doch regnete es nicht, aber das Meer ging bewegt, und sein Rauschen fiel in unsere Stimmen. Kaja schien leicht zu frösteln, denn sie war sommerlich bekleidet, und ihre Arme waren unbedeckt, wie auch ihr Hals und Nacken, die das blonde Haar trugen, das heute kühl und farbiger wirkte und so schwer wie ein lebendiges Gut.

»Ein Ziel hast du wohl nicht, ein bestimmtes ... oder?«

Sie lächelte, als bedürfe ihre Frage der Nachsicht, und ihre Augen, unberührt wie die eines Kindes, senkten sich und schienen ohne Eifer zu warten.

»Tante Mimsey möchte dir Lebewohl sagen, sie bat mich, es dir zu bestellen. Willst du ihr nicht noch die Hand drücken? Sie hat dich sehr ins Herz geschlossen.«

»Weiß sie denn, daß ich fort will?«

»Ach so. Ja. Ich habe es ihr gesagt ...«

»Du hast es ihr gesagt ...«

»Wenn man den Weg über unser Dorf nimmt und sich nach Westen hält, so kommt man in eine schöne Gegend, die bewaldet ist und Seen hat. Ich war mit einem ... mit einer Freundin einmal dort, und wir verlebten schöne Sommertage. Freilich, das Meer ist es nicht ...«

»Ich kenne solche Gegenden wohl, Kaja, wer so viel unterwegs ist wie ich, der sieht mancherlei. Solche Orte haben Beschaulichkeit und Besinnung für sich, und man verweilt an ihnen, wie um sich zu sammeln oder zu rüsten, nicht eben ungeduldig, aber voll ungestillter Erwartung. Solche Wohltaten befriedigen mich nicht, obgleich ich sie zuweilen aufsuche und über mich ergehen lasse. Die lauen, stillen Wasser erfrischen nicht, und zuweilen ist mir unter diesen Bäumen, als müßte ich mich auf ihre Wipfel stemmen, um hoch über sie fort in die Runde zu schauen. Nein, das Meer ist es nicht.«

»Mich drängt es jetzt oft in die großen Städte«, meinte Kaja nach einer Weile. »Mit meiner Mündigkeit werde ich unabhängig sein. Hier ist es still und langweilig.«

Ein weißer Schmetterling flatterte heran, ließ sich eine Weile vor uns auf einen Halm des zähen Deichgrases nieder und gaukelte dann auf das Meer hinaus. Er entschwand bald unsern Blicken, die ihm folgten. Kaja ließ den trockenen Sand durch die Finger gleiten.

»Dir wird es an nichts fehlen«, nahm sie nach einer Weile die Unterhaltung aufs neue auf. Wieder begleitete ein haltloses Lächeln ihre Worte, und diesmal war mir als verscheuche sie in ihm etwas wie eine flüchtige Regung des Kummers. Es mußte wohl so sein, denn sie fuhr langsam fort: »Vielleicht haben manche Stärke, aber du hast etwas anderes. Ich möchte dir gern etwas darüber sagen, aber wie soll ich es tun? Ich unterlasse es nicht, weil ich es für unnütz halte, sondern weil ich es nicht kann. Möchtest du doch scheiden und glauben, ich sei glücklich; wenn du das könntest, wie schön wäre das. Ich weiß, daß du keine Ruhe hast, bevor du nicht gut von andern denken kannst, das ist deine große Unruhe. Aber nun muß ich fort. Gute Reise, Lieber.«

Wir gaben uns nicht mehr die Hände, sondern wandten uns ab, und ich schritt davon, ohne mich umzusehen. —

Ja, das war nun einmal ein Gehen, immer Fuß vor Fuß, als träte ich eine sinnlose Maschine. Ich muß wohl zu Boden geschaut haben, denn ich sehe noch heute den Sand des Strandes und dann die graue Bahn der Straße unter mir fließen. Staublinien und Furchen, kleine Steinchen, Lichtflecke und auch schon herabgesunkene Blätter, da der Sommer vorgeschritten war. Ich häufe und mehre etwas zwischen ihr und mir, dachte ich, es wird langsam, mit jedem neuen Schritt größer. Ich blieb stehen, ohne den gefesselten Blick zu wenden und lauschte auf etwas. Es waren die Stimmen der Natur, jene Laute, die wir längst gewohnt sind zu überhören, die Wanderstimmen der Luft und das Flüstern von Pflanzen, Insektensummen und das leise Regen des Wassers in der Sommerstille. Auch erklang hier und da ein Vogellaut. Auf der Erde bin ich, dachte ich, ach könnte ich sie, die unerreichbare, unübersehbare, zwischen dich und mich legen. Aber du sollst nicht sinnen, mein Haupt, nicht pochen, Herz, ihr tragt schaurige Ungewitter von Bitternis und Zorn, Schmach und Wut, und ich darf nicht vergessen, ich darf nicht vergessen!

Ich kann nicht umkehren und kann nicht vergessen. Der eine Fuß am Boden rief mit dumpfem Aufschlag: Vergessen! der andere rief: Umkehren! Und mir war, als müßte ich diese Rufe wie Steine, Wort für Wort auflesen, sie häuften sich als ein Berg in meiner Brust, und ich mußte die Last schleppen. Wie licht hat es mir doch durch manche Träne des Abschieds einst geschimmert, aber nun wird es umher dunkler und dunkler.

Das Licht versank, es wehte kühl aus dem Wald, der mich aufnahm. Ich schritt tief gebeugt, und meine Hände hingen herab, mein Schritt klang nicht mehr, denn ich hatte nun Moos und Walderde unter den Füßen, die ziehende Bahn der Straße hatte ich nicht mehr ertragen können, mir war zuletzt gewesen, als müßte ich die eilende unter mir, die sich zwischen mich und mein Leben legte, mit meinen Händen halten, die Kaja gehalten hatten.

Der Geruch der dunklen Erde, mütterlich, umfing mich in der Waldtiefe so mächtig, daß ich an einem Baumstamm niedersank. Die Berührung meines ganzen Körpers mit dem Boden tat mir wohl. Noch trug sie mich, mir war, als sänke die gesammelte Last des Wegs neben mich in die Pflanzen, und das Moos kühlte die Stirn; die Kniee, die Arme, alles wurde getragen, und die Augen schlossen sich.

Ich schlief vor Schwäche ein, und langsam hellte die Luft um mich her sich wunderartig auf, so daß die Umrisse der Bäume und Büsche im Licht vergingen, das immer klarer wurde. Da trat Asja aus dem hellen Glanz, als käme meine Liebe zu mir. Sie sah auf mich nieder, und als ihre Augen den meinen begegneten, erstrahlte mein Wesen durch und durch. Sie hob ihre Hand und rief laut:

»Stehe auf! Stehe auf!«

 

 


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Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation web page at http://www.gutenberg.org/fundraising/pglaf.


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at
809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
business@pglaf.org.  Email contact links and up to date contact
information can be found at the Foundation's web site and official
page at http://www.gutenberg.org/about/contact

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     gbnewby@pglaf.org

Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit http://www.gutenberg.org/fundraising/pglaf

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations.
To donate, please visit: http://www.gutenberg.org/fundraising/donate


Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For thirty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
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