The Project Gutenberg eBook of Die Geschwister

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Title: Die Geschwister

Author: Hugo Bertsch

Author of introduction, etc.: Adolf Wilbrandt

Release date: December 19, 2025 [eBook #77504]

Language: German

Original publication: Stuttgart: J.G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, 1904

Credits: Richard Illner, Michael John and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE GESCHWISTER ***

Anmerkungen zur Transkription.

Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler sind stillschweigend korrigiert worden.

Worte in Antiqua sind "kursiv" dargestellt.

Die Geschwister

Von

Hugo Bertsch

Mit einem Vorwort von Adolf Wilbrandt

Achte Auflage

Stuttgart und Berlin 1904

J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger

G. m. b. H.

Alle Rechte vorbehalten



Copyright 1903 by J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger
G. m. b. H.


Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart


[S. 7]

Vorwort

Ich habe die Freude, meinen Landsleuten ein Buch zu übergeben, das, so recht aus der Tiefe unsrer Volkskraft heraufgekommen, eine merkwürdige, herzbewegende Erscheinung und in einem gewissen Sinn etwas Einziges ist.

Vor zwei Jahren und länger, im September 1900, schickte mir aus Brooklyn-Neuyork ein deutscher Fabrikarbeiter, Hugo Bertsch, ein Buch, in das er ein Schauspiel hineingeschrieben hatte und allerlei Gedankengänge, betitelt »Phantasien auf hohem Seil«. Er schrieb dazu: »Wie Sie an beigeschicktem Manuskript ersehen, bin ich einer von den Nichtallewerdenden, denen es in Kopf und Herzen stürmt. Einer, der verbotene Wege wandelt — wennso das Schriftstellern, wie ich annehme, Privilegium der Studierten ist. Denn, hochgeehrter Herr! ich habe leider, leider, außer meiner Schwarzwälder Dorfschule — unterbrochen noch mit schwerer Feldarbeit — keine Bildung genossen. Gelesen habe ich viel, in Büchern, mehr noch in Gottes großem Buch: die Welt, die ich seit dem Verlassen meiner Heimat kreuz und quer durchwandert bin. Als Farmer, Bergmann, Holzhacker,[S. 8] Ziegelbrenner, Matrose, Fabrikarbeiter, in grobem Kittel, mit rauhen, schweren Händen — aber (ohne zu erröten) reiner, unsäglich empfindlicher Seele — habe ich so für mich gelesen, gelebt, geduldet — geweint. Ein Sonderling.

»Daß ich schreiben kann schier wie ich denke, das erfuhr ich, als ich in ziemlich langen Briefen meine Reisen schilderte. Ich tat's einmal, dann öfter, und schließlich — gepackt von dem berühmten Buch: Im dunkelsten England — versuchte ich eine ähnliche Schilderung: Im dunkelsten London.

»Ein so ausgedehntes Werk zu schreiben war mir unmöglich, das merkte ich bald. Den ganzen Tag arbeite ich schwer, und nach dem Nachtessen ist es spät und die abgerackerten Knochen zerren auch den willigsten Geist hinab, hinab aufs Bett zum Ruhen. Zudem ist meine Umgebung so ruhestörend, daß ich oft lachen muß über die originelle Weise, wie ich dichten muß. Notwendig entschloß ich mich zur kürzesten Form, meiner armen, überladenen Seele Erleichterung zu verschaffen.«

So hatte er denn versucht, ein Schauspiel zu schreiben, »ohne viel zu wissen, was man Regeln des Dramas und dergleichen nennt«. »Mitleid und Tränen zu locken für seine Helden«, nur das hatte ihn seinen Weg geführt. »Mit Gottvertrauen ließ ich meiner Phantasie die Zügel schießen, und bin gelandet jetzt — im Graben? oder drüber? — Das zu urteilen überlasse ich Ihnen, edler Herr.

»Jetzt aber kommt der Gipfel meiner Aufdringlichkeit[S. 9] — und o, Bescheidenheit, verhülle dein Erröten — dein glühendster Verehrer wird dein Verräter.

»Nie und nimmer! schrie ich dutzendmal beim Schreiben des Manuskripts — nie wieder werde ich unter so unmenschlichen Hindernissen es versuchen zu schreiben. Nur wenn gute Aussicht ist, daß ich das Ziel erreiche, mit Dichten mein Brot zu verdienen, werd' ich's noch einmal versuchen. Selbstverständlich andernfalls nicht. Ich kann glücklich und zufrieden leben als Arbeiter — freilich glücklicher als Schreiber — schon wegen der Wollust, meine Seele zu entladen. Aber in Ungewißheit schwanken zwischen beiden, macht mich sehr elend.

»Geehrter, teurer Herr! Seien Sie mein Richter, Ratgeber, Erlöser. Was denken Sie?

»Was immer — sagen Sie es mir mit kurzen, trockenen Worten. Ich bin ein wahrer Virtuose im Entsagen, und Religion und Vertrauen auf das Weiterleben jenseits gibt mir mehr als Mut, mich einzuschließen, einzupuppen — allein mit meinen süßen Gespenstern.«

Ich las das Buch; mit Staunen, mit immer wechselnden Eindrücken und mit einem tief tragischen Gefühl. Das Schauspiel: »Der Dieb« war ein wildes, krasses Nachtbild aus der »unteren Schicht«, mit einer oft überraschenden Beredsamkeit fesselloser Leidenschaft, aber sonst so recht, was man »unmöglich« nennt. Nicht nur jede Kenntnis der Bühne fehlte, auch das Leben erschien oft in übertrieben greller, glühender Beleuchtung und verzerrter Gestalt. So schafft wohl leicht ein ermüdetes, von außen gestörtes,[S. 10] sich mit Gewalt erhitzendes, vom Willen gepeitschtes Gehirn. Es spielte aber auch — und mehr noch in den »Phantasien auf hohem Seil« — diese verhängnisvolle Zwitterschaft mit, die Verbindung von hohem Seelenschwung und Geistesflug mit der ungeschulten Unbehilflichkeit. So viel Denken, auch Wissen, und so viel Unorthographisches. So erstaunlich reiches Formtalent, feines Sprachgefühl, und so viel undeutsche Wendungen, aus der englisch redenden Umgebung unbewußt aufgenommen. Gewiß ein ungewöhnlich begabter Mensch, gewiß auch ein Poet; aber wer und was sollte ihm zur Ausbildung und zur Reife helfen? Nur wenn er den Arbeitskittel ausziehen und herüberkommen konnte, um in der Luft der deutschen Dichter und mit fördernden Genossen zu leben, nur dann konnt' er »werden«. Er war noch nicht.

Und so sagte ihm der lange Brief, den ich ihm in tiefstem Mitgefühl schrieb, eigentlich doch nur das: kannst du dich freimachen, dir Geld verschaffen, um ein paar Jahre sorgenlos dich auszubilden? Dann versuch's! Dann kann's gelingen!

Darüber ging seine Antwort wie mit stummem, entsagendem Kopfschütteln hinweg. Er dankte mir nur mit rührenden Worten, daß ich seinen Wunsch erfüllt; »in traurigen Momenten kam es ja über mich: Sie werden meine Kindergartendichterei gar keiner Beantwortung wert halten und das arme Geschreibsel als ›Schmiere‹ in den Korb werfen. ... Daß Sie aber einen achtseitenlangen Brief an mich schreiben voll Sympathie und Gefühl und Verständnis[S. 11] für meine Lage, hat mich so glücklich gemacht, daß ich vollauf belohnt bin für alle Mühe und Bitterkeit, das Manuskript herzustellen. ...

»Daß es nun aus ist mit meiner ›Schriftstellerei‹, ist selbstverständlich. ...«

So schrieb er mir am 21. Oktober; aber im April 1901 kam ein dritter Brief. Er stellte sich darin von neuem vor als »jenen zudringlichen Fabrikarbeiter von Brooklyn«; dann fuhr er fort: »Damals äußerten Sie sich ermutigend über mein Talent und zum Schluß Ihres langen Schreibens wörtlich: ›Ich hoffe, daß Gott Ihnen doch noch etwas an die Hand gibt, an dem Sie sich emporziehen können; solche Wunder sind schon oft geschehn.‹ Und, hochgeehrter Herr! es ist geschehen. Gott ließ das Wunder geschehen an mir. Sie wissen ja, daß ich die Feder wegzulegen beschloß wegen Mangel an Zeit, Freiheit, Aufmunterung. ... Ich verwünschte, verbannte die Ideale, die anstürmend wie Meereswogen mein ruhiges Arbeiterleben unterwühlen; aber allem Widerstand zum Trotz — ich mußte, mußte dichten und schreiben.

»Das war der Anfang des Wunders — nur der Anfang. Was ich jetzt schreibe, wie ich schreibe, das ist das Wunder, an dem ich mich emporziehen werde, so wahr mich Gott liebhat und ich ihn. ...

»Vielleicht ist es zum Kopfschütteln, wenn ich behaupte, daß ich über meine Arbeit nicht befriedigt, sondern geradezu erstaunt bin, verblüfft. Ich steh' vor dem Geschriebenen wie vor einem geahnten, aber nie gesehenen Wunder. Daß so tief ich denken kann,[S. 12] empfinden kann, ein solches Himmelreich voll Geister beherbergt habe ohne es zu wissen, die lange Reihe von Jahren, das alles dünkt mich wie ein Geschenk von Gott, eine Entschädigung für die erdrückenden Schwierigkeiten, unter denen ich schreiben soll. Oft lebe ich im Wahn, ein viel Höherer als Menschen dichte für mich und meine schwieligen, harten Hände seien nur sein Werkzeug, das Tinte und Feder beherrscht ....

»Denken Sie ja nicht, diese wilden Sätze seien Schwulst, Überschätzung, Überspannung — es sind nur die Jauchzer einer glücklichen Seele, die hofft, einen Freund gefunden zu haben, der sie kennt und schätzt.«

Hugo Bertsch hatte damals etwa ein Drittel seiner neuen Dichtung geschrieben; zunächst fragte er, ob ich mich ihrer wohl annehmen werde. Ich, in großer Freude, erbot mich zu jedem möglichen Liebesdienst. Das erfüllte ihn so mit Dankbarkeit, daß sie ihn fast niederdrückte, traurig machte: »Sie haben mich um ein gut Teil Freiheit gebracht. Eh ich Sie (brieflich) kennen lernte, schwelgte ich in voller Freiheit, meine Dichterei betreffend. Ich konnte die Feder führen oder wegwerfen, absolut wie es mir beliebte — aber jetzt nicht mehr so. Ich darf nicht das Vertrauen enttäuschen, das Ihre ... Seele mir schenkt. Ich muß jetzt die Hoffnung, die Sie in mich setzen, verwirklichen. ...« Er nahm mich aber als »Ratgeber«, »Wegweiser« an, weil er die Notwendigkeit fühlte. »Ich habe (wie Don Karlos) auf dieser weiten Erde niemand, niemand und so weiter, der mich aufmuntert, führen könnte.«

[S. 13]

So begann denn meine beratende Mitwirkung an dem hier vorliegenden Buch. Es entstand langsam, mit großen Unterbrechungen, auch mit tiefen Senkungen des Selbstgefühls und der Schaffensfreude, in »nervenlähmender Mutlosigkeit«, wie er einmal schrieb; nicht zu verwundern bei der Art, wie es entstand. Der Dichter, kein Jüngling mehr, sondern »ein Mann in reifsten Jahren«, wie ich nun erst erfuhr, »aber außergewöhnlich gesund und stark«; auch glücklich verheiratet, mit einer Amerikanerin von irischer Abstammung, und »Vater zweier herzallerliebster Kinderchen«, »alle kerngesund« — er konnte eben doch nur nach des Tages Arbeit »komponieren und schreiben«, in der Küche, am Küchentisch. Und wenn er an Winterabenden schrieb, so saßen ihm die Kinder, die nicht mehr wie im Sommer auf die Straße gehen konnten, »schier buchstäblich auf dem Manuskript«. »Und wie die Jugend eben ist, sie vergessen jeden Augenblick, daß Papa nicht gestört werden möchte. Sprechen, lachen, an den Tisch stoßen stört mich wenig, das bin ich gewohnt; aber mit Fragen anrennen über dies und jenes, das holt mich rettungslos aus den Wolken herunter, wie der Pfeil den Vogel.«

Alle diese Hindernisse äußerer und innerer Art schadeten der Dichtung; es konnte nicht anders sein, umsoweniger, da sie ein Werdender schrieb. Das Gespinst ward ungleich, gröbere Fäden oder zu matt gefärbte liefen mit hinein. Hie und da verwilderte die müde, gehetzte, überreizte Phantasie. Der Plan des Ganzen entartete zuletzt ins Schwarze, Erbarmungs-[S. 14] und Hoffnungslose, Weltverneinende; gegen die eigentliche Natur des Dichters, der mit germanischer Gesundheit und Freudigkeit Gott und das Leben bejaht. Ich beriet ihn: kehr um! Geh einen andern Weg! Er ließ das Werk eine gute Weile liegen, dann begann ein neuer Anlauf. So gab er dem Buch die Form, in der ich es nun der Welt übergebe.

Es ist in jeder Zeile sein Werk und fast immer auch sein Wort; ich habe nur die kleinen »orthographischen Schandtaten«, wie einer seiner Briefe sie nennt, brüderlich verbessert, undeutsch englische Wortfügungen deutsch gemacht, und Längen gekürzt oder ein Übermaß weggeschnitten, da es in der Natur seiner »Inspirationen« liegt, gern und zuweilen unaufhaltsam in die Verschwendung des Reichen zu entarten. Daß ich dies alles mit seiner Zustimmung und auf seinen Wunsch getan hab', brauch' ich kaum zu sagen. Auch so wird der Leser wohl noch hie und da etwas »gröberes Gespinst« verspüren, halbversteckte Zeugen bejammernswerter Schaffensnot. Auch sei er hiermit freundlich gewarnt, daß er nicht zu viel Handlung oder Spannung erwarte. Es ist eine Seelengeschichte, die sich langsam, beinahe ganz in Briefen fortschiebt; viel Persönliches drin, in den »Helden« der Geschichte, Bruder und Schwester, sehr viel Eigenstes. Tom, der Bruder, ist Arbeiter wie Hugo Bertsch, Ausnahmsmensch an Begabung wie er, Grübler, Denker wie er. Und wenn sich der gewarnte Leser mit gelassener, nicht stoffhungriger Sammlung an den Tisch seines Gastgebers setzt, so[S. 15] wird er wohl staunen, denk' ich, was dieser Fabrikarbeiter aus Brooklyn ihm auftischt: wie viel Beredsamkeit, Geist, Satire, Stimmung, Humor, Tiefsinn, Phantasie.

Hierin ist er meines Erachtens etwas Einziges, wie ich vorhin sagte; und überhaupt wüßte ich ihm in unsrer Literatur nur einen zu vergleichen, Ulrich Bräker, den »armen Mann im Tockenburg« aus Jung Goethes Zeit, den auch ein unbezwingbares Talent aus der Tiefe emporzog und zum »Naturdichter« machte. Sie haben auch Stammesgemeinschaft, beide sind Alemannen; nur daß Bertsch ein Landsmann Schillers, ein Schwabe, Bräker ein Schweizer ist. Auch in ihrem innersten Wesen, deucht mir, ist viel Verwandtschaft; aber das Leben hat sie verschiedene Wege geführt, und die Glocken der Zeit haben ihnen sehr verschieden geläutet. Uli Bräker, der nach kurzen Abenteuern das Leben in seinem stillen Tal verbrachte, nur den eintönigen Kampf mit der Sorge kennend, blieb der träumerische, lyrische, kindliche, naturselige Mensch, als den die Natur und die Muse ihn geschaffen hatten. Hugo Bertsch, in früher Jugend hinaus und lange Jahre die Welt durchwandernd, dann von den tausend Stimmen einer gewaltig aufstrebenden Riesenstadt umbraust, von den Leiden und Wünschen und Begierden seiner emporringenden Standesgenossen im Innersten ergriffen, härtete sein weiches Herz für den großen Kampf. Noch nie hat ein Mensch des »vierten Standes« mit so geist- und seelenvoller, hochaufflammender Beredsamkeit für die Rechte dieses leidenden Standes und gegen das Babel der Zeit[S. 16] gestritten, wie Hugo Bertsch in diesem Buch. Es ist aber die edle, reine Beredsamkeit des Dichters, der zuletzt, im ruhelosen Weitertrachten der Gedanken — ein echt deutsches Blut! — zum Philosophen wird. Die altpersische Weltvorstellung lebt auf eine wunderbare Art in ihm auf: der gute und der böse Geist, die den großen Weltkampf kämpfen, in dem der Geschaffene, der Mensch mitstreiten soll. So findet sich sein »Held«, Tom Pratt, in der Schöpfung wieder zurecht, und die Sonne kann auch ihm wieder scheinen.

Doch ich sage nun nichts mehr von ihm und dem Buch. Es soll selber reden.

Auch mit Maxim Gorki, dem Russen, will ich ihn hier nicht vergleichen — so nahe der Gedanke liegt; vielleicht hat schon jeder, der bis hierher las, an Gorki gedacht. Wer das ganze Buch gelesen, mag, wenn er will, hernach selbst vergleichen. Ich sage nur: lest das Buch!

Möchte doch der Erfolg es segnen und dem Schwaben in Brooklyn so viel Mut und Freude und Freiheit schaffen, daß er von neuem auffliegen kann, und höher noch und höher; daß er den Inhalt seines Lebens, die Welt, die er gesehn, mit dem Jugendfeuer des endlich zum Wort kommenden Erzählers vor uns ausbreiten kann, oder, wie er in einem seiner Briefe sagt, »seiner Vergangenheit buntgewebten Teppich ausklopfen mit der Zauberrute Poesie«.

Adolf Wilbrandt

[S. 17]

Einleitung


Das verschollene Grab

Grab — welch ein Wort! Gibt es ein zweites, das wuchtiger trifft, schauriger, zermalmender, erstarrender?

Tod — — man kann tot sein und noch im warmen Bette liegen, umgeben von den lieben, teuren Angehörigen — tot sein und beschienen werden vom Licht und Blau der Welt, gefächelt werden von Luft und Atemzügen der Lebenden, geküßt werden, umarmt, angeredet.

Aber Grab — dieses schwarze, hohle Loch ins Jenseits hinüber, durch das keiner zurückkriecht, und rauchte am andern End' die Hölle. Wer da hinuntersaust am schnurrenden Seil, im zugenagelten Sarg, und dann Scholle auf Scholle den Marsch trommelt, bis es stiller wird, dumpfer, immer dumpfer, so grabesstill, daß nichts mehr gehört wird in der schaurigen Höhle als der Erde blähendes Verdauen.

Droben jagen sich die Ereignisse Licht und Schatten gleich; auf und unter geht der Tag, jeder Morgen[S. 18] Frisches begrüßend, jeder Abend Gebrauchtes begrabend.

Drunten wartet der Tote auf Erwachen, Wiedersehen, Auferstehen. Vergessen von den Menschen, eh' er ganz verfault; vergessen von Menschen, die in hysterische Zuckungen verfielen aus Schmerz über sein Ableben; denen er alles war, Liebling, Vater, Mutter, Bruder, Schwester ... Du armer Tor da unten hoffst, die gedankenlose Natur werde sich deiner erinnern nach Milliarden Jahren — die herzlose Natur werde sich deiner erbarmen — die Brüterin der Brutalität — Natur, die Säugerin des Zähen, Starken, die Anbeterin des Lebendigen, die Todfeindin des Toten, werde sich verlieben in morsche, längstverweste Knochen? Natur, die nur das Neue will und nie ein zweites Mal das Selbe schafft — die Altes nur als Treppe nützt, als Dünger, Mist — herz- und sinn- und zwecklose, sie weiß nicht, was sie tut — die Experimentiererin, die in ruheloser Sucht nach immer wieder Neuem, allerletztem Neuem, der Evolutionen hunderttausend-generationenlange Leiter auf und ab hüpft — lawinengleich Systeme rollt, Welten schleift, Sonnen und Planeten fegt auf einen einz'gen, riesengroßen Trümmerhaufen — herrlichste Gebilde (der Vollkommenheit so nah um Haaresbreite) zu Scherben schlägt wie lose Kinder ihren Weihnachtsskram, und liegen läßt für eine halbe Ewigkeit — Schund und Mißgeburten aber stehen läßt für eine halbe Ewigkeit.

Oder hoffst du armer Tor: ein Gott, der sich um[S. 19] Lebende nicht kümmert, werd' sich um Tote scheren? Der keinen kleinen Finger rührt, wenn Millionen sich in Qualen drehen, Millionen untergehen; der sich nicht finden lassen will, der sich versteckt vor dir — der werd' suchen — dich? — —

Gottes Acker — welch ein Wort! Gibt es ein zweites, das majestätischer klingt, magischer, ehrfurchtsvoller, hoffnungsvoller? Ist es nicht ein Gefühl, als erwache man aus schwerem Fiebertraum in Mutters Armen, an Mutters warmer Brust, ein Kind — und all die Schreckensbilder der vergangnen Nacht (Tod, Grab, Verwesung) weggescheucht von ihrem Lächeln, Trösten, Küssen, Lieben?

Gottes Acker — — Und der Mensch mit seinen Hoffnungen ist der Same — mit seinem Lachen und Weinen, Genießen, Entsagen, Trotzen, Dulden, Lieben, Hassen ist der Same. Hier werden seine Tugenden und Laster eingebettet, seine Resignationen und Rebellionen. Hier werden seine ungezählten, nie erfüllten Wünsche eingeackert — all die Träumereien von Glückseligkeit, die in diesem Leben, ach! aus süßem Sehnen nur zu bittern Tränen reifen — all die Leidenschaften, die vom Maienzug, der Schmetterlinge weht auf Honigkelche, bis zum Tornado, der Felsen rollt und durch schwarze Trichter Trümmer an den Himmel bläst, des Menschen Seele schleifen wie Vandalen den Besiegten in die Sklaverei. All die Reminiszenzen tausender Geschehnisse; all die Pläne und Fragmente — all die großen und kleinen Sünden und Gebete, die aneinander gereiht erdenlebenslange, schwere Kette[S. 20] bilden vom ersten Atemzug bis hierher zu diesem Röcheln aus dem Bette dort — vom ersten Blick ins Licht, das die Sonne spinnt durch den Spitzenvorhang (ein Silbernetz um Kind und Wiege), bis hierher zu dieser Sterbekammerlampe, die am letzten Tropfen saugt.

Gottes Acker — — Und da liegen sie jetzt in langen Reihen, ruhig die unruhigen Menschlein; im Leben keiner dem andern gleich, hier alle gleich; im Leben höchst unbrüderlich, neidisch, egoistisch, hier Kameraden auf ewige Zeiten, bescheiden, nachgiebig, unterwürfig. Noch hat der Reiche sein Monument von Marmor über sich und der Nachbar nur ein hölzernes Kreuzlein. Noch hat der eine Blumenbeete, wohlgepflegten Rasen, Buchs und Zaun, von Gärtners kundiger Hand beschnitten, der andre nur was ihm die Natur vorübereilend gnädig fallen läßt, Blümchen, eingewickelt in ein Büschel Gras. Noch haben Leichensteine ihre Namen, Worte, Daten. Ach, wie lang oder kurz, und die Ausgleichung ist auch oben wie unten. Zeit und Wetter verwischen die Inschriften, zernagen Stein und Eisenwerke — und die sie setzten, sterben auch.

Mein lieber Leser! Zweifellos hast du schon Kirchhöfe besucht, teils aus Zufall, Langerweile, Pflicht, oder gar von jenem unbeschreiblichen Gefühl gezogen, das uns Menschen den Ort zu besuchen zwingt, der als Haltestation irdischer Laufbahn gilt. Und gewiß hast du dann mehr oder minder tiefsinnige Betrachtungen angestellt über die Gegend und ihre Bewohner,[S. 21] über das fernere Schicksal dieser Leutchen, das auch dein Schicksal werden wird.

Da ruht ein Vater, dort eine Mutter, hier ein Wiegenkind, daneben seine Urahne, daneben die geknickte Kraft von zwanzig Sommern. Wie alt sie waren am Todestage, wann geboren, wann gestorben, konntest du alles am Leichenstein ablesen. Ob sie reich waren oder arm, geschätzt oder nicht, das zeigt ziemlich genau die Beschaffenheit und Instandhaltung der Grabstätte. Vor solchen Begräbnisstellen, die mit Inschriften versehen sind und besucht und gepflegt werden von überlebenden Verwandten und Freunden, hat die Phantasie wenig Spielraum zum Malen; die Freiheit, im Rätselhaften, Geheimnisvollen jagen zu dürfen, wird sehr beschnitten durch die Bekanntmachungen oben.

Das richtige Grab mit allen seinen Mysterien und Schauern ist das »verschollene Grab«; das Grab bei der Kirchhofmauer oder außerhalb der Kirchhofmauer; das eingesunkene, mit schiefem, verwittertem Kreuz und Stein oder mit gar keinem Abzeichen versehene Grab. Vor so einem verwahrlosten, vergessenen, zugedeckten Loch stehen — etwa bei Nacht, oder Abends im Herbst, wenn der untergehende Tag, der naßkalte Nordost, der feuchte, schleichende, im Gras und Schilf entlang kriechende Nebel, der tiefstehende Sichelmond, die sterbende Natur in all ihrem Stöhnen, Röcheln vom Blätterrascheln bis zum Uhuschrei im Forst, zum Unkenruf im Moor, zum Sensenklappern verspäteter Mähder,[S. 22] Chorus spielt in leerem Haus vor ausgebrannten Bühnenlichtern und fallenden Kulissen — vor so einem verschollenen Grabe stehen und nicht »Bruder! Bruder!« klagen — mit schüttelndem Haupt und feuchten Augen und Reue, Reue im Herzen — »Bruder! wer du auch seiest tief da unten — wie schwer oder leicht die Erde dich drückt — ob du viel oder wenig zurückließest in dieser Welt, oder alles, und ein leeres Stück Papier, die Quittung an das Glück, in deinem Sarge liegt — ich kenne dich nicht. Vielleicht bist du ein Weib, ein Mädchen; vielleicht bist du ein Heiliger oder ein Tyrann, ein Mörder oder ein Gemordeter; ach! das eine nur weiß ich, fühle ich: du bist ein Stück von mir. Die gleiche Luft hast du geatmet wie ich — die gleiche Sonne hat dich beschienen, die gleichen Sterne — die gleichen Sorgen, Träume, Leidenschaften haben dich gequält, und Freiheit dich geneckt, und diese Erde, einst dein Spielplatz und der meine jetzt, zieht uns beide niederwärts.. .« Stehen vor so einem Grab und der Toten Mahnen und Gottes Stimme überhören können — es kann nicht sein.

Mein lieber Leser! Willst du mir folgen? Ich führe dich zu einem Grab, so verschollen, einsam; so wenig besucht, gepflegt; so wenig geweint und gebetet wird vor diesem versunkenen Hügel ohne Namen, wie du wohl nie in deinem Leben ein zweites Grab gesehen haben wirst; und ach! das arme Herz, das da mit rauhen Steinen zugeschaufelt liegt, hat's nicht verdient. Kaum zwanzig Monate sind es her,[S. 23] daß ich es zum ersten und letzten Mal besuchte. Damals schlängelte sich ein Fußsteig an jenem Grabe vorbei über den fichtenbewachsenen Hügelrücken; der Pfad ist heute wohl verwachsen und verschwunden. Damals bezeichnete ein mit der Axt gezimmertes Kreuz die Stätte des Todes; heute ist das Kreuzlein wahrscheinlich umgestoßen vom Schneewehen, Sturmeswehen oder von Bären und grasenden Büffeln. Damals war seine Umgebung eine Lichtung im Wäldchen, spärlich mit Unkraut bewachsen; das kann wohl geblieben sein; auch die sechs runden Steine mögen dort liegen, die geordnet ein Kreuz bilden sollen.

Und — — noch einmal, willst du mir folgen, lieber Leser? Der Weg ist weit, wild, steil (gebe Gott, nicht abschreckend); vielleicht ist er langweilig; vielleicht gereut es dich, ihn angetreten zu haben; vielleicht mußt du weinen, schon auf halbem Wege. Aber dessen bin ich sicher: bist du dort, der Lohn ist die Mühe wert; denn jede Träne, die wir unsern Toten weinen, jede Blume, die wir streuen, jedes Lächeln im Gefühl des Wiedersehens, jeder Blick, der tief und langgezogen teure Bilder der Vergangenheit aus ihren Gräbern saugt — ach! Brüder, Menschenbrüder! jeder Gang und Schrei und Krampf der Seele — mit Schmerzen nur erwärmen wir den kalten Puls der Körperwelt — auch die Allmacht spürt Grenzen ihrer Mittel, das einzige, womit sie Tote auferwecken kann, ist: (viele nennen's Liebe, Sympathie), ist: der Menschen himmelstürmend Sehnen.


[S. 24]


Bellevue-Hospital, Neuyork.
25. August 1900.

Schwester!!


Jetzt ist es geschehen! — Was? — Das Langgefürchtete, Unausbleibliche: meine Hand liegt abgesägt in der Maschine — die linke — und die rechte kann der Lebensgefährtin Verbluten nicht stillen.

Schwester! Ich weiß, es ist grausam unvorsichtig, Dich so zu erschrecken, ohne Wahl der Worte, ohne Milderung im Ausdruck Dir die Schauerbotschaft zu schicken; aber Worte können meine Verzweiflung nicht mildern. Ich bin ruiniert, verloren, ein Krüppel; ich bin arbeitslos, hoffnungslos arbeitslos. Zwanzig, vierzig Jahre soll ich mit den mir noch übriggelassenen Knochen weiterleben ohne die Mittel zum Leben, ohne Arbeit. Was soll jetzt werden aus mir, aus meinem kranken, armen Weib, aus meinem Kind?! Die einzige Antwort, die mein fieberndes Gehirn mir gibt auf diese Fragen, ist Schweiß in kalten Tropfen.

Letzte Woche, Montag, kam das Unglück. Am Morgen — früh — gleich; es war das Allererste, was kam. Das Unglück schien förmlich gelauert zu haben auf mich die Nacht über, den Sonntag über. Kaum hatte die Dampfpfeife ihren Schrei in die[S. 25] Morgenluft hinausgekrischen und die Fabrikräder begannen sich zu drehen, und jeder von uns Arbeitern eilte auf seinen Posten, und ich setzte meine Maschine in Bewegung — die Bandsäge — diese kalte, glatte Schlange, diese zischende, schillernde, hundertzähnige Viper. Nie konnte ich das unnahbare, holzfressende Ding blitzen sehen und dabei die Erinnerung verscheuchen, wie es meinem Vorgänger den Daumen abbiß; wie es seinem Vorgänger vier Finger amputierte, ganz schräg der Länge nach, einem dritten die linke Hand zerfleischte und die zu Hilfe eilende Rechte erst recht. Keinem frißt diese fauchende Natter aus der Hand, dem sie nicht vorbeihauend einmal auf die Knochen beißt. Keinem. Mir auch nicht. Ich wußte das. Ich erwartete das. Aber Hunger kettete mich an den Platz, Pflicht an die Gefahr. Das Unglück hatte wenig Mühe, mich zu finden. O, meine Hand!!

Wie es kam? Warum? Das ist mir jetzt nur mehr schattengleicher Traum. Vielleicht war ich ausgerutscht mit meinen neubesohlten Schuhen, das ist wohl das Wahrscheinlichste — ja, so ist es — ich glitt auf dem glatten Boden aus und schlug mit dem linken Arm durch die Luft und mit voller Wucht in die Stahlzähne der Säge — und dann? — was? — ein wildes, himmelschreiendes »Oooo!« Eis und Feuer gemischt, ein Gefühl, zuckte elektrisch durch meinen Körper und blieb stecken — mich verrückt machend — in den Haarwurzeln meiner Kopfhaut. Ich sah Säge, Räder, Balken, Wände, Fenster, alles[S. 26] sich drehen, ringeln, überschlagen, auf mich los wälzen. Ich sah einen Fleischklumpen in die Sägespäne rollen und sich dort verkriechen — meine Hand! Ich sah Blut, Blut, wohin ich tastete, Blut. Hundert Stimmen hörte ich lärmen, durcheinander toben, schreien: »Doktor! Ambulanz! Er blutet sich tot! Hilfe! Hilfe!« Gestalten, jede mit hundert Augen, hundert Händen, stürzten von allen Seiten auf mich los; packten mich, hoben mich, drückten, trugen mich, preßten mich auf einen Stuhl nieder, spritzten mir Wasser ins Gesicht, umwickelten meinen Arm mit Stricken, Handtüchern, Taschentüchern — —

Und alle jene Schauergemälde zeichneten sich jetzt in die Luft, die im Wachen und Schlafen mich so oft beängstigten: Tom mit der abgesägten Hand — Tom arbeitslos — Tom ein Krüppel, Bettler — Toms Zukunft ruiniert — Toms Weib und Kind verwahrlost, weggerissen von ihm, entfremdet — das Familienglück, des armen Tom Einziges, das ihm all das lebenslange Schinden und Plagen wert war, verloren — verloren — verloren.

Und dort dreht sich noch immer, als wär' nichts geschehen; die Säge, die Schlange, die Mörderin. Grenzenlose Wut schnellte mich auf meine Füße, und »Die Maschine,« schrie ich, »schlagt sie tot, die Maschine!« — Es muß ein grauenvoller Schrei gewesen sein, denn alle ließen mich los. Ich machte zwei, drei Schritte nach der Richtung — dann wurd's Nacht.

Im Bellevue-Hospital, schräg überm Weg, wo ich[S. 27] verkrüppelt wurde, erwachte ich aus langer, tiefer Ohnmacht.

O, wär' ich nie erwacht!

Schwester! ich muß aufhören. Ich darf nicht weiterschreiben. Es macht mich rasend, mein Elend zu zergliedern. Ich darf nicht denken; — essen, trinken, atmen — aber nicht denken. Ich werde zum Tier.

Tom.


Brooklyn, den 27. August 1900.

Schwester!

Kaum hatte ich den Unglücksbrief abgesendet, so geschah mir eine große Erleichterung; ungesäumt will ich sie teilen mit Dir.

Mein Arbeitgeber bezahlt Doktor und Apotheke, bis ich geheilt sein werde; und weil das im eigenen Heim nicht weniger noch mehr kostet, so fuhren sie mich nach Brooklyn hinüber ins Nest. Die Bewegung hat mich angegriffen, sonst schrieb ich Dir schon gestern. Überhaupt werde ich häufig von Ohnmacht und Schwindel befallen. Ich habe viel Blut verloren, sagt der Arzt, und daß ich mit dem Leben davonkommen werde, zeuge von einer zähen, lebenskräftigen Konstitution. Ich werde noch meinen Spaß haben mit dieser zähen Lebenskräftigen — und leerem Magen. Doch lass' ich das Klagen für heute. Ich bin froh heute und guten Muts — sogar mit einem Anflug von »Sehr«.

Was doch die Umgebung aus dem Menschen[S. 28] machen kann; alles. Man schwimmt darin wie der Fisch, wie Treibholz im Fluß, und mit geht's; rasend schnell, wenn der Kurs paßt — langsam, wenn es gegen das Wollen ist — aber Wollen oder Nichtwollen, die Umgebung siegt.

Und ich bin aufrichtig glücklich über ihre Allmacht. Ich bin wie neugeboren, seit ich das Hospital verlassen und wieder die Heimat um mich seh'. Das Krankenzimmer in Bellevue war allerdings luftiger, höher, bequemer; ein Saal gegenüber dem engen Stübchen, das ich jetzt bewohne. Mein blasses, abgezehrtes Evchen kann auch den Vergleich nicht aushalten gegenüber der vollen, energischen Krankenwärterin mit ihren gesundheitsstrotzenden Lippen und Wangen; — aber — — Schwester, der leiseste Gedanke von Untreue, sollte er auftauchen in mir — noch tat er's nie — er wäre das Schurkenstück meines Lebens. Man sagt, im Unglück lerne man die Menschen kennen. Ich bin im Unglück. Zu all den körperlichen Schmerzen und den Seelenqualen, Kummer, Sorgen, Angst, Trostlosigkeit, gesellt sich jetzt ein neuer, der fürchterlichste Kumpan — die Reue. Ich war immer ein Mustergatte gewesen, ein guter Vater, ein Charaktermann; aber weißt Du auch, daß wir auf diesem Feld ins Unendliche wachsen können und mein körperlich schwaches Weib mich moralisch so riesenhoch überwachsen hat, daß Einholen hoffnungslos ausgeschlossen bleibt? O Schwester! Ich leide Qualen wie ein Gerichteter; die Liebe, das Mitleid, die Aufopferung dieses Engels brennt mich wie[S. 29] Rutenhiebe. Von dem Augenblick, als Eva mich besuchte in Bellevue — mit einem Schrei stürzte sie an mein Lager und schlug hart ihren Körper auf meinen; »Tom!« jammerte sie, »Tom! armer, armer Tom!« und schier ertränkte sie mich mit Tränen, erstickte meinen Atem mit Küssen, schier bohrte sich ihre Brust durch meine, ihre Stirn durch meine, bis aufs Herz und Hirn — — O Schwester! wie weh tut solche Liebe, wenn man sie erwidert nach Kräften und zurückbleibt in der Kraft. Und dann, wie jammervoll weh tut es, hier zu liegen jetzt im kleinen, engen Heim, hilflos gleich einem Kind, und das teure Wesen »Weib« schaffen, waschen, flicken, kochen — und husten sehn, und denken müssen, daß all ihr Mühen das sinkende Schiff nicht retten wird, daß wir untergehen, untersinken im Menschenmeer der Welt — unbemerkt. Was ist ein Hilfeschrei im Donnergebrülle dieser Riesenstadt, wo Millionen schreien, jammern, lachen, fluchen?

Schwester! Jennie! Ich will nicht wieder den Brief füllen mit Klagen. Wenn ich's hin und wieder tue, es ist der gestörte Geist, nicht mein Wunsch. Nimm's wörtlich: ich bin unzurechnungsfähig, unvollständig; die Hälfte ist verloren, und ich fürchte, die beste. Mit der lieben, teuren Hand ging auch mein guter Humor dahin, und wilde, wüste Witze, häßliche Sarkasmen werden jetzt die keusche Seele schänden dürfen. Vielleicht aber verstehst Du mein Geschreibe nicht, dann wär's besser. Vielleicht geht's Dir wie mir, ich sehe die Buchstaben zeitweilig auf[S. 30] dem Papier herumhinken wie lebende Figuren, wie sieche Krüppel an der Krücke, Spitalkrüppel — oder wie losgelaßne Kobolde; sie werfen die Beine in die Luft, die Mützen noch höher und purzeln über- und durcheinander, bis ein »O!« die Schelme verjagt und öder Jammer mir entgegenstarrt aus meinen Zeilen.

Dort hängt an der Wand Dein Bild, Schwester. Wo bist Du jetzt, derweil ich hier, aufrecht im Bette sitzend, an Dich schreibe? Der Gedanke tut weh. Neben Dir hängt das Bild meines unendlich geliebten Kindes, meiner Elsie, die jetzt tot und begraben draußen liegt im Kirchhof; der Gedanke tut weher. Gegenüber hängt der Spiegel, aus seinem Rahmen schaut mich das starre, blasse Antlitz eines Mannes an; er nickt mir zu — ich ihm. Er schüttelt langsam den Kopf — ich auch. Er zeigt mir einen gräßlich verstümmelten Arm — ich ihm den meinen. Er schüttelt wieder den Kopf. Er wartet auf ein Lächeln von mir — ich auf sein's.

Hölle! wohin soll ich schauen, dem Wahnsinn zu entrinnen? — Die Augen schließen und schlafen. »Eva! nimm den Brief — und fort!«


Pilot Knob, den 28. August 1900.

Mein Bruder!

Mit Entsetzen habe ich Deinen Brief gelesen. Armer, armer Bruder! Ich finde keine anderen Worte, mein Mitleid auszudrücken, mein grenzenloses[S. 31] Mitleid auszudrücken. Armer, armer Bruder! — So gut, brav, fleißig, bescheiden — ein Ehrenmann jeder Zoll und Atemzug an Dir — und so geschlagen werden vom Schicksal. Gott! Gott!


Ich mußte aussetzen. Ich konnte nicht schreiben mit solchem Krampf. Die Feder fiel mir aus der Hand, die Hand aufs Herz, aufs zuckende, todwunde Herz.

Jetzt hab' ich mich ausgeweint und Gott hat mich getröstet; und so will ich Dich. O, welche Gnade, welche Kraft es dem gepreßten Herzen gibt, das Weinen. Tränen, Tränen, Tau vom Himmel, der des Erdenlebens Wüste tränkt zur üppiggrünen Wiese Hoffnung.

Bruder, jetzt höre. Ich komme zu Dir, wie der Engel zu mir kommt, der mich aufrichtet. Ich brauche Worte, er keine, das ist der ganze Unterschied. Mit tiefinnerster Schwesterliebe rufe ich Dir zu: »Bete!« — Du mußt beten; Du mußt wieder beten; Du mußt Gott suchen, mußt ihn finden wieder. Es gibt kein anderes Mittel, Kummer zu stillen, Verzweiflung zu bannen, dem Wahnsinn übers starre, eisigkalte Antlitz zu fahren, daß es aufwärmt zu milderer Form; keine Brücke trägt die Last, die die Herzen bricht, trägt Mutlosigkeit über den Abgrund zum Hoffen wieder, zum Glauben, Dulden, wie — die Religion. Ich weiß, Du lachst jetzt nicht über diese Aufforderung. Ich weiß auch, Du wirst es versuchen, weil ich Dich bitte. Du wirst es versuchen müssen. O, ich sage[S. 32] so ungerne »müssen« zu Dir, weil ich Deine Denkart so hoch schätze wie ein Geschenk vom Himmel; aber, Bruder! das Freidenken, das Zweifeln, Kritteln, all die Philosophie der Gebildeten, das überkluge Kunstgedicht der Menschen gibt die Erlösung nicht, die ein kindlich »Vaterunser« gibt.

Was kann Dich näherbringen zum guten, großen Vater dort oben, als wie sein Kind werden, sein bittend Kind, sein krankes, hilfloses, hilfesuchendes, unwissendes Kind. Und das bist Du, Bruder; Du bist hilflos; Du bist ein Krüppel, arm, arbeitslos. Dein Weib kann Dir nicht helfen. Ich auch nicht. Freunde wirst Du wenige haben als Fremdling in Neuyork — und jetzt erst recht nicht, im Unglück. Von außen her bist Du so elend und allein, so verlassen und verloren wie der Hauch in Wintersnacht. Bruder, geh nach innen, geh in Dich, in Deine Seele — die Seele ist Gott. Wo Millionen getröstet werden, Millionen gerettet werden — auf feiger Flucht plötzlich sich umwenden und mit Löwenmut den Kampf ums Dasein kämpfen bis zum Ende. Geh in Dich! Nichts kann Dir eine ruhigere, bekanntere, wärmere, ältere Heimat sein als Dein eigen Selbst; gar nichts eine nähere. Geh in Deine Seele, die Seele ist Gott — geh zu Gott. Die größten Wunder werden nicht gesehen — gefühlt! Geh in Dich, bete. Was ist das Dasein ohne Hoffnung? Ein erbärmliches Leben. Was ist ein erbärmliches Leben ohne Hoffnung? Hölle. Bruder, es gibt ein Schicksal, regiert von höchster Intelligenz zum Segen[S. 33] aller Wesen. Der Arme im Geiste fühlt es — der Reichste im Geiste sieht es. O, könnte ich Dir alles so lebendig sagen, schreiben, wie ich es empfinde. Bete, Bruder, und Du wirst es begreifen. Alles, was Du verloren hast an Mut, Vertrauen, Hoffnung, Glauben — und das ist viel — wird zurückkommen wieder. Tu's, lieber Bruder. Bitte, tu's! Versuch's! Du bist kein Fremdling dort oben. Du bist kein rettungsloser Mensch — nur ein wenig locker im Glauben, ein wenig eigensinnig im Kritisieren der Wunder, die wir nicht ermessen, der Rätsel, die wir nicht verstehen.

Ich muß schließen, es wird Nacht. Viel, viel hätt' ich noch zu sagen. Mein Herz ist noch so voll wie am Anfang — und wenig leichter. Aber Nacht wird es, Pflichten rufen. Die Gattin verdrängt die Schwester. Peter kommt vom Bergwerk, hungrig, müd, naß, schmutzig. Die Kinder lärmen. »Mutter!« schreit's in allen Ecken. Die Feder spritzt. Das Papier geht aus. Der Brief muß fort. Gott sei mit Dir und Deinem Weib und Kind. Amen!

Jennie.


Brooklyn, den 1. September 1900.

Teure Schwester!

Ich bin doch ein miserabler Feigling, wenn ich an euch Frauen emporschaue. Du hast tausendmal recht, gute Schwester, ich brauche — mehr als das tägliche Brot — Mut zum Leben. Daß ich den mir[S. 34] holen muß beim schwachen Geschlecht, ist Beweis genug meiner elenden Lage. — — — Jetzt fällt mir die Feder auf den Boden. Gott! Gott! gibt es etwas Hilfloseres als ein Wickelkind? Ja, ein großer Mann im Bett und krank! — —

Eben kommt mein kleiner Bertie von der Straße herauf und küßt mich.

»Papa, tut's weh?« Er meint meine Wunde. Das ist seine immerwährende Frage jede Viertelstunde des Tages; bei Nacht schläft er wie alle gesunden Kinder. Aber das erste Wort am Morgen und das letzte am Abend ist: »Papa, tut's weh?« Glücklicher Knabe, der körperliche Leiden als die größten kennt.

Ja, ja, Schwester! ich werde ganz willenlos mich unterwerfen Deiner Zaubermacht. Du hast Gedanken geschrieben in Deinem Brief, zauberhaft überwältigend. Ich werd's versuchen — beten. Die alte Schule noch einmal besuchen. Sobald ich das Zimmer verlassen und die Treppe riskieren kann, wallfahre ich zur Kirche. Ich tu's. Ich hab's versprochen jetzt. Ob es hilft oder nicht hilft — ich versuche mein Menschenmöglichstes, den Weg zurückzufinden zum Kinderglauben. Ach, wie schnell und weit kommt man weg, wenn man rast und flucht! Aber ich geh' zurück. Ich werde Gott ersuchen um Brot, Wohnung, Kleidung, Arbeit für wenigstens eine Hand. Es ist freilich taktlos, sehr taktlos, nach vielen Jahren der Abwesenheit zum allererstenmal beten kommen und gleich mit einer Riesenbettelei. Ich wollt', es könnt' ein[S. 35] Dankgebet sein anstatt — — Aber Vertrauen, Tom, der liebe Gott verkehrt lange genug mit Geschöpfen, um zu wissen, daß vom Hund auf- und abwärts gerechnet der Mensch allein die Lumpeneigenschaft besitzt — betteln an der Pforte, die er gestern anspuckte — und Gott ist unendlich nachsichtig.

»Herr der Welt!« werde ich beten, »hier ist man wieder. Zwanzig Jahre oder mehr sind's her, daß man in der Wüste grast. Das Vaterunser hat man vergessen — halb. Den Glauben — ganz. Die Hoffnung ist verbraucht. Die Liebe verschenkt ans Weib. Die zehn Gebote, Rosenkranz und viel segenbringendes Anderes ist verloren gegangen im Laufschritt nach irdischen Reichtümern. Jetzt ist man müd, hungrig, bankrott. Man kommt, weil der Schuh drückt. Die Hühneraugen sind's, die Hilfe suchen. Wären die Leiden erträglicher, man dächte noch lange nicht ans Umkehren. Herrgott, rechne mir diese aufrichtige Unverschämtheit als den letzt gebliebenen Rest meiner Tugenden an! Allwissender, du kennst mich besser als ich dich, und das erspart mir die lange Erklärung. Allgütiger, du kannst mehr lieben als ich, und das steigert meine Hoffnung. Allmächtiger, du brauchst mich rein gar nicht, ich dich sehr, das entschuldigt meine Schnorrerei. Es gibt Geschöpfe, die lauter um Erlösung schreien — aber mich höre. Es gibt Geschöpfe, die keine Verzögerung deiner Hilfe ertragen können — aber mich zuerst. Mich, mich, dann wieder mich und immer mich

Nein, Schwester! so werde ich nicht Gott lästern.[S. 36] »Vaterunser!« werde ich rufen, »der du bist im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme zu uns. Gib uns heute unser täglich Brot« — —

O weh! ich höre den Doktor klopfen, und Eva öffnet dem Schrecklichen die Tür. Jetzt geht's los. Mein Gott! Mein Gott! Die Folter, die Metzgerei, die Messerschleiferei — — armer Tom! — —

Jennie! Jennie! sag mir's ehrlich: ist das Leben diese Qualen wert?

Tom.


Brooklyn, den 5. September 1900.

Teure Schwester!

Wenn ich wieder bei Kräften bin, werd' ich ein Waschweib werden. Dieser schaumweiße Stern der Hoffnung strahlt jetzt sein mildes, seifenblasenschillerndes Licht hernieder auf Toms Schmerzenslager. Eva saß diesen Morgen auf dem Bettrand bei mir und berichtete die Entdeckung dieses neuen Planeten am Ehehimmel. Sie streichelte mir, während sie redete, mit ihrer weichen, nervösen Hand unablässig über die Stirn, die Haare nach rückwärts, so lieb und zärtlich wie in den Tagen unserer Brautzeit. Es dünkt mich schier, ich sei ihr Kind, so mütterlich behandelt sie mich; oder will sie das Wäscheeinseifen schon im voraus probieren an mir. »Kind!« sagte sie, »ich hab' einen Plan ausgedacht und der ist gut. Bei den Nachbarsleuten bin ich herumgegangen, sie alle wissen von dem Unglück, das uns betroffen hat,[S. 37] und werden mir Arbeit geben. Ich werde jetzt eine Wäscherei einrichten.«

So weit meine Eva, jetzt höre mich. Also, Wäscherei einrichten! — Sobald ich aufstehen kann und stark genug bin, Tee zu trinken am Küchentisch, werd' ich eine lange weiße, gestärkte Schürze tragen; hinten zugeknüpft mit breiter Doppelschleife; vielleicht kommt dazu ein norwegisches Häubchen, Mieder, Spitzenkrause. Die Hosen darf ich anbehalten, Pantoffeln tragen auch. So steh' ich wenigstens bei Tage noch auf und nicht unter dem Pantoffel. Der Waschkübel ist schon gekauft, die Seife bestellt, das Wasser wartet in der Röhre, und — die Hemden, Socken und Bettücher werden schon noch verschwitzt werden bis dahin.

Ja — bis dahin. Ich kann vorläufig noch gar nicht mithelfen. Ich liege im Bett, so schwach und elend, wie nur ein Mensch liegen kann, der sich schier totblutete. Ich höre mein gutes, treues Evchen schaffen und mühen in der Küche nebenan — aber behilflich sein kann ich wohl noch lange nicht, und dann auch nur mit einer Hand.

Doch ist Hoffnung. Wir werden uns gegenseitig nicht verhungern lassen — Eva — Bertie — Tom. Die Wohnungsmiete ist bezahlt für September. Der Doktor kostet vorläufig nichts. Eva und Bertie haben neue Schuhe; ich brauche keine. Aber daß ich baumstarker Riese im Bett liege Tag und Nacht, und mein brustkrankes Weib für mich und das Kind sich abrackern soll am Waschbrett — — Schwester! das[S. 38] ist ein Stich ins Herz, das brennt, das vergiftet mich; das weckt so bittere Gefühle in mir gegen die reiche, bessergestellte Menschenklasse, daß ich ihr schwerlich je verzeihen werde.

Tom.


Brooklyn, den 9. September 1900.

Liebe Schwester!

Ich habe einen guten Tag. Um neun Uhr fing er an mit gutem Frühstück am Küchentisch. Appetit und Schlaf sind fehlerfrei. Um zehn Uhr besuchte mich der Herr Doktor. Nachdem er mit seiner Salberei fertig war, kamen zum erstenmal tröstende Worte in meine Ohren. »Die Sache heilt jetzt, Mister Pratt. Noch eine Woche oder so, und Sie können sich wohl selber forthelfen mit Verbinden.« Ach, das klingt so tröstlich. Den Doktor loswerden, und besonders einen mit der Säge und dem Messer, ist die wahre, unverfälschte Erlösung.

Nach dem Mittagessen — jetzt kommt der Generalbericht des »guten Tages« — versuchte ich den ersten Spaziergang ins Freie seit dem Unglücksfall. Erst promenierte ich vom Schlafzimmer nach der Küche, von der Küche zurück ins Schlafzimmer, und so hin und her. Dann kriegte ich plötzlich das Freiheitsfieber, nahm Hut und Rock und Stock und machte einen Angriff auf den Korridor. Er gelang. Bis zur Treppe schlug ich mich durch; aber dort — hm! — ich bin noch immer wackelig, und die Treppe auch, und dass Schlimmste: das Geländer ist links beim[S. 39] Absteigen. Das sind drei Gefahren. Aber die Sehnsucht, Straßenluft zu atmen, war mächtiger als die Vorsicht, mächtiger als das Flehen meiner überängstlichen Eva — und rückwärtsschreitend ging ich die Treppe hinunter. So bekam ich das Geländer rechts und einen Halt. Aber komisch muß es ausgeschaut haben, denn Evchen lachte. — Ja, ja, liebes Weibchen, rückwärts geht's, den Krebsgang geht's. Auf der untersten Treppe mußte ich ausruhen. Ich ließ gleichzeitig die Hausmeisterin an mir vorbei.

»Ah, Mister Pratt!« grüßte sie mich, meine strategische Stellung mißverstehend. »Spazieren gewesen? Schönes Wetter draußen, Mister Pratt!«

So kam ich denn schließlich hinab — hinaus — und heraus. — — O Freiheit! wie bist du im schlichtesten Gewande noch die Königin der Himmelsgaben. Das bißchen Sonnenschein, getrübt vom Dampf der Stadt. Das bißchen Blau dort oben, verschleiert vom Rauch der Metropole. Die dicke Luft. Die arme Erde — ein Pflasterstein auf jedem Grashalm. Bäume — Sträucher — Natur so verkrüppelt, verschunden, verhunzt von des Menschen Gier nach Profit. Die Hügel abgetragen; Täler ausgefüllt; Wälder, Felder und Wiesen rasiert; Bäche und Quellen verstopft wie pulsendes Leben; die Ufer der Bai vermauert, mit spitzen Pfählen gemartert; ein paradiesisches Stückchen Erde verstümmelt zu einem Agglomerat von Straßen, Häusern, Fabriken, Magazinen, Steinhaufen — alles dampfend, rauchend,[S. 40] qualmend — die Hölle für Tausende. Und doch bleibt noch so viel übrig nach dieser Vandalenplünderung, mein dürstend Herz zu tränken mit Entzücken.

Ein Stündchen lang spazierte ich um das Häusergevierte herum und gelangte (körperlich erschöpft, geistig erfrischt) wieder heim zur Hoftür.

Mein Bertie rannte mir laut jubelnd entgegen und hielt einen Apfel in der Hand: »Papa! den hat mir die gute Frau Finnerty geschenkt, und noch drei für dich und Mama.«

Und so war es: Evchen hatte Damenbesuch. Wir setzten uns, fünf Köpfe stark, um den Tisch herum, tranken Tee und schwatzten, klatschten und lachten, bis der Nachmittag das Aussehen eines kühlen, schönen Abends bekam, der uns zum Ruhen und Rasten lockte.

Tom.


Pilot Knob, den 12. September 1900.

Bruder!

Gott sei Dank! Die Briefe sind besser. Durch die Zeilen kann ich lesen, daß es besser geht bei Dir, daß Mut, Vertrauen, Hoffen und was dazu gehört, ein Kreuz tragen zu können, allmählich wieder zurückkehrt ins alte Lager, in Deine Brust.

So bleibst Du wenigstens geistig bei Kräften, und ist Dein Arm geheilt, dann — nun ja — es wird sich schon etwas finden für Dich. Es gibt Tausende von Krüppeln, es gibt Menschen, viel mehr verstümmelt[S. 41] und hilfloser als Du, und alle leben, essen, trinken, kleiden sich. Warum also verzagen? — Mut, lieber Bruder! Ganz glücklich sein, das können oder sollen wir nicht in dieser Welt. Auch der Beneidenswerteste hat Wünsche, die ihn quälen. Auch mit zwei Händen hat der Mensch Tränen zu trocknen, und hätt' er drei Hände, dann wär' wieder was unrecht. Zum Spaßmachen sind wir nicht ins Dasein gerufen worden — eine heilige, tiefernste Mission ist unser Leben — Seelen zu reifen.

Wie kleinmütig bist Du also, eines Mißgeschickes wegen so den Verstand zu verlieren, daß — — — Nein, ich will Dich nicht schelten, armer Tom. Ich begreife, wie Du gelitten hast und noch leidest — aber nichts mehr von der unseligen Vergangenheit. Die Zukunft wollen wir besprechen.

Bruder, Du sagst: Dein Arbeitgeber sei menschlich gegen Dich. Hier ist also schon Aussicht, daß Du Verwendung in seiner Fabrik erwarten kannst; freilich nicht an der Säge und Drehbank, aber sonstwie und -wo. Und wird's nichts in seiner Fabrik, dann wird's sonstwo. Die Welt ist weit und reich.

Mit jedem Tag wirst Du jetzt kräftiger und mehr im stande, Dich umzuschauen; und kommst Du nur erst unter Leute, auf die Straße, ins Gewühl und Getriebe, dann wächst Dir auch der Mut. Ich weiß das aus Erfahrung, daß nichts ihn so erschlafft wie das Bettliegen und nichts um und um haben als die Wand und Zimmerdecke. Es gehört zum Wunderbaren, daß man überhaupt gesund wird im Bett.

[S. 42]

Dann, lieber Bruder! vergiß nicht Dein Versprechen, das ich von Dir habe — geh zur Kirche. Sobald Du Haus und Zimmer verlassen darfst, geh zur Kirche. Am liebsten wäre mir's, Du wähltest eine katholische; Du bist so erzogen worden und bist gleich daheim beim ersten Schritt über die Schwelle. Hundert Dinge werden Bilder wachrufen in Dir, die jahrelang, seit Deiner Jugendzeit geschlafen haben, und Gottes Nähe und der Kindheit Ferne (diese beiden Pole) müssen Dich erschüttern — sonst wärst Du nicht mein Fleisch und Blut. Es ist die Umgebung, die den Menschen festhält oder fortreißt; Du sagst das selber. Wir Menschen haben das Gottesgeschenk und dürfen unsre Umgebung wählen; wähle den sichersten Ort zum Ruhigträumen, die Kirche. Kniee mit den Armen im Geiste vor dem ewigen Licht und bete. Kritisiere nicht, studiere nicht, bete. Denke nicht, Du wärst zu weitsichtig, klug, gelehrt; Religion ist ebenso heilig für Dich, ebenso unerklärlich, mysteriös für Dich, ebenso notwendig für Deine Ruhe und Deinen Frieden. Was ist Menschenwitz vor diesem Rätsel? Der Weiseste ist nur ein Rater — und Narren raten besser.

Nun genug. Zurück zur Prosa, zur allertrockensten Prosa — zum Peter. Mein lieber Mann läßt Dich vielmal grüßen und — leid tut's ihm, daß sein Schwager Tom — — und so weiter. Wenn's dem Peter leid tut, wenn's diesen Felsen erweichen tut — Bruder, Du kannst Dir etwas einbilden auf Peters Sympathie. Ist's wenig — es ist sein Alles. Zehn,[S. 43] zwölf Stunden lang täglich schaufeln, graben, wühlen, heben, auf dem Bauch und Rücken rutschen, im Kot und im schlammigen, schwarzen Wasser herumkriechen wie niederste Tiere — Todesgefahr vor Augen sehen, verstümmelte Kameraden sehen — Leichen sehen — nicht im Sonnenschein und Blau der Oberwelt — in schwüler, fauler Grubenluft, Nacht und Felsen der Brust so nah wie der nasse Rock, das nasse Hemd. Mitleid aus solcher Tiefe, Bruder, das ist der Menschenseele ungekünstelt reinster Ton. — Also, dem Peter tut's leid!

Meine Kinder beten jeden Abend ein »Vaterunser« für Onkel Tom in Brooklyn; das sind sechs Vaterunser. Hoffentlich betest Du auch bald eins, damit es sieben werden. Sieben ist eine heilige Zahl, eine magische, segenbringende Zahl. Man soll nie aufhören mit fünf und sechs. Ach, jetzt widerspreche ich meiner eigenen Weisheit, denn ich möchte um alles nicht mehr als sechs »Kinder«. Beim Abstimmen mit Peter jedoch bin ich der unterliegende Teil, und sieben — —

Sssst!! Huh! Pfui! Schäm dich, Jennie. Könnt' ich das wegkratzen ...

Bruder! Wenn ich so hin und wieder, wie eben, übers Ziel haue, danke ich immer gleich der Vorsehung für das Bleigewicht, das sie mir aufladet. Wo rast' ich hin ohne dieses Kreuz, mit meinem Übermut zügelloser Gedanken?

Dann soll ich noch ein Beileid berichten nebst Gruß von Deinem Schulkameraden Dick Teller. Der[S. 44] geht auch herum den Arm in der Schlinge — und sein Bruder Bill geht überhaupt nicht herum — der liegt zwischen Leben und Sterben im Bett. Sie verunglückten beide beim Stollenstützen. Ein dritter wurde tot heraufgeschafft, ein Familienvater. Gott, war das ein Jammer; die Leute wohnten neben uns, und nächtelang hörten wir die Kinder und die Mutter schreien. Jetzt sind sie nach St. Louis geschickt zu Verwandten.

Ja, ja, die Armen haben viel Herbes zu tragen, viel Kreuz und Elend. Es scheint die ganze Last zu ruhen auf den Armen. Und doch haben es die Reichen noch unbequemer, die müssen sich ihre Sorgen selber machen — wir bekommen sie geschenkt.

So, nun ist Schluß der Debatte: das Papier geht aus. In der Ecke unten, rechts, soll ich aus dem Brief heraus. Das ist jedesmal der Fall, wenn ich schreibe. Ich bin eine leichtsinnige Schreiberin. Ich weiß gar nichts von Gesetz und Maßhalten. Zum Spaß möchte ich nur mal sehen, wie viel ich so per Zeilen mit Dir plauderte, wär' der Briefbogen tausend Meilen lang. Bruder, ich käme schreibend durch Missouri, Illinois bis zu Dir nach Neuyork!

Herzliche Segenswünsche für Eva und Bertie. Schier vergess' ich's wieder: dem Bertie Glück zu seinem vierten Geburtstag. — Gutes Kind!

Jennie.

[S. 45]


Brooklyn, den 17. September 1900.

Liebe Schwester!

Mein Wort ist eingelöst. Ich war gestern in der Kirche, und zwar in der Hochmesse. Das wird Dich freuen, und noch mehr wird es Dich wundern, wie es mir ergangen ist dort. Darum schreibe ich diesen langen, vielleicht zu langen Brief.

Das allererste Gefühl, das mich erfaßte beim Beschreiten der Kirchenschwelle, war — Heimweh; und so überwältigend war es, daß ich herumgegangen sein muß wie ein Schlafwandler, denn ich fand mich plötzlich knieend in einem Betstuhl, nahe der Wand. Vor mir waren die Stühle besetzt mit Frommen; hinter mir, das sah ich nicht, aber hörte leises Flüstern betender Stimmen. Meine Nachbarin war ein berückend andächtig die Augen senkendes Mädchen, ihre Nachbarin ein altes Mütterchen mit schon geretteter Seele. Ich befand mich also in guter Gesellschaft. Verstohlen, um kein Ärgernis zu geben, ließ ich meine Blicke umherwandern und bemerkte viele alte Neuigkeiten, viele neue Altertümer, zahllose Bekanntschaften aus grauer Vergangenheit; mehrere grüßten mich bei Namen. Die Halle war geschmackvoll in Architektur, Skulptur, Malerei und ließ dem Tadel keinen, dem Lob allen Spielraum. Harmonische Harmonie, getaucht in wohltuendes Halbdunkel, füllte den Raum; dazu spielten die vielen Lichter und die Farbenpracht der Fenster feenhafte Akkorde. Wenn das die alltäglichen Kirchenbesucher zur Andacht neigt, wie viel mehr mich Fremdling. Ich empfand denn auch ein[S. 46] Regen im Busen, das wenig gesteigert mich zum Schluchzen gezwungen hätte. Tränen umflorten meine Augen, zwei davon tröpfelten auf den Ärmel nieder, die andern wischte ich fort. Unsäglich hilflos — mit tiefstem Menschenelend als Gesellschafter — ein Sünder vielhundertfach — ein Gottesleugner und Spötter — ein Bettler, den Verzweiflung zwingt, an die Pforte zu klopfen, die er in besseren Tagen besudelte mit Spott und billigen Sarkasmen — so kniete ich, zwischen Gott und mir die Schuld, zwischen mir und Gott die Schuld. Ich schaute mich um und gewahrte Menschen, knieende, singende, betende, nichtbetende; reiche, wohlgekleidete; arme, sehr arme — aber keinen so arm wie ich. Alle konnten sie das »Vaterunser« sagen — ich nicht. Alle konnten sie glauben — ich nicht. Alle konnten sie die Hände falten — ich nicht. Was tu' ich hier? — Gott! Gott! wenn du bist, was diese Betenden ahnen, gib mir (das Wenigste, um was gefleht werden kann), gib mir mein Eigentum wieder, ich hab's verloren — meinen Kinderglauben.

Jetzt begann die Orgel mit süßen Tönen, dann aus voller Brust den Raum füllend, ihr jubelnd Kyrie und Gloria. Anklammernd webten sich die Stimmen der Gläubigen in das Rauschen der Orgel, Natur und Kunst so eng verflechtend zu eins. Mein armes Herz — das letzte, wenn ihm alles fehlt, es preßt sich aus in wehem Krampf — blutete — blutete.

Armes Herz! bist, wenn auch nicht ewig, doch lebenslang Gefangener in des Körpers Kerker —[S. 47] wenn frei wie seine Wünsche der Geist kann fliegen. Ach! der Geist, der luftige, der lächelnde Titan, er lockt mich weg von dir und trägt mich adlergleich der Heimat zu. Jetzt zaubert er Mittagssonnenschein über die Gefilde und zeigt das teure Pilot Knob, die Berge und Täler, Fluren, Felder, Wälder, das Vaterhaus, die Hütten der armen, schlichten Leute — dort die Hütte der Jennie; zeigt ihre Kinder, sie, ihren Mann, wie sie vor dem Häuschen im Schatten der Nußbäume spielen; denn Sonntag ist's auch dort, so hat er's eingerichtet, der kleine Allmächtige, Allwissende. Jetzt zaubert er die Nacht auf Berg und Tal, und alles ruht. Des Himmels Sterne überwölben von Arkadien im Süden bis hinauf zu den eisigen Bergen ein blumenduftend Feld. Melodisch rauschen dort die Wasser des Wiesenbachs. Heilig rauschen hier die Weiden an der Kirchhofmauer. Leichensteine heben sich ab aus dem Dunkel der Nacht. Vollmond beleuchtet jetzt die Stätte. »Vater«, »Mutter« steht auf dem Grabstein. »Hier ruht« — »Hier ruht« — — Ja, ja, hier ruhet, Vater und Mutter; gestorben seid ihr, ohne gelebt zu haben. — Nun verhüllt sich hinter Wolken der Mond, und undeutlicher hängen am Hügel die Hütten. Hin und wieder flackert ein Licht auf und zeigt — — —

O Heimat! Heimat! Was ist Kummer, Elend, Sorgen? Was ist Kummer, Elend, Sorgen, gelitten in der Heimat? Was ist an Mutters Busen ein leidend Kind, in Schlaf geküßt? Was ist ein leidend Kind, nicht in Schlummer geküßt, weggerissen von[S. 48] der Mutter? Was ist Kummer, Elend, Sorgen in der weiten, weiten Welt, allein, allein im Menschenmeer verloren, verkannt, verbannt?

Hier bekam ich meinen Tritt. Erschrocken fuhren die Geister zurück zum verwaisten Leib. Die Gemeinde um mich war aufgestanden. Der Priester sang laut das heilige Evangelium. Ich stand, etwas verspätet, auch auf — und horchte. Der Gesang war in lateinischer Sprache, und mit Befriedigung fühlte ich mich den Anwesenden gleichgestellt, denn niemand verstand den Sinn noch die Worte der himmlischen Botschaft. Ihren Abschluß bezeichnete der Geistliche mit einem phlegmatischen Kuß aufs Buch. Der war gleichzeitig das Signal zum allgemeinen Niedersitzen.

Es schien mir, als käme nun der wichtigste, anziehendste Teil der Feierlichkeit: denn wer nur irgend einen Hals hatte, der hustete, räusperte, spuckte aus, schneuzte sich die Nase, rückte, rutschte, es glich einer vollständigen Auskehrung der Menschenbrust, um möglichst Raum zu schaffen für göttliche Dinge, die da kommen sollen. Langsam drehte sich der Priester um gegen die Gemeinde, und noch langsamer begann er zu verlesen: die Tagesneuigkeiten.

Heute ist der sechste Sonntag nach Pfingsten (oder ich weiß nicht was; einerlei).

Nächsten Donnerstag feiern wir die Himmelfahrt Christi.

Am Mittwoch ist ein gesetzlicher Fasttag.

Am Samstag noch einer.

Am Freitag sowieso.

[S. 49]

Ganz arme Leute, die Kartoffeln mit Salz zum Festessen rechnen, sind vom Fasten suspendiert; ebenso Schwerkranke und kleine Kinder.

Die Geldsammlung bei der zweiten Kollekte am letzten Sonntag betrug 196 Dollar 45 Cent. Das sind 22 Dollar und 17 Cent weniger als am vorhergegangenen Sonntag. Ein Kirchenmitglied gab 10 Dollar. 22 Mitglieder gaben je 1 Dollar. 66 gaben je 50 Cent. 84 gaben je 25 Cent. 710 gaben je 10 Cent. 349 gaben je 5 Cent. Und 2200 gaben je 1 Cent. Dann kam ein scharfer Verweis gegen die Knauserigkeit der Gemeinde, besonders gegen schmierige Pennygeber. »400 Dollar in zwei Kollekten, das sind noch keine lumpigen 25000 im Jahr mitsamt den Nebengeldern!« schrie der Geistliche im Angesicht des armen, barfüßigen Nazareners.

»Eine heilige Messe wird gelesen,« begann er wieder, »jeden Montag für alle diejenigen, die zehn und mehr Cent geben in jeder Kollekte. Eine Messe wird gelesen für alle diejenigen, die zehn Cent und mehr geben bei der Haus-zu-Haus-Kollekte. Am Mittwoch ist eine Messe für die Geldsammler. Am Donnerstag Spezialkollekte auf Listen. Dann ist heute das Sitzgeld fällig. Sammelkästen sind aufgestellt für den heiligen Vater, ebenso für die Mission bei den Indianern. Heute abend sieben Uhr ist musikalischer Vortrag des beliebten Paters Bennett, nebst zugehörigen Nebelbildern, hier im Gotteshaus; Eintritt 50 Cent, 75 Cent und 1 Dollar.« Und so weiter. ...

[S. 50]

Gottlob! ich war jetzt wieder vollständig nüchtern. Das Idealisieren war verdampft wie Spiritus im Rinnstein — nach solcher Zahlenschlacht am Hochaltar. Aber bewiesen war es gut: daß Seelsorger für den Leib sorgen.

Jetzt stand die Gemeinde abermals auf. Der Priester verlas das Evangelium, diesmal in gutem Englisch. Es war die Botschaft vom Himmelreich, das gleich ist einem Senfkörnlein. Ich kannte die Parabel noch aus meiner Schulzeit.

Hiernach folgte wieder ein Hinsitzen. Das ging überhaupt fleißig auf und ab. Man kam nie zum Ausruhen. Man halbierte und dreivierteilte in einem fort die Körperlänge, und die Kniescharniere wurden förmlich erhitzt — besonders bei dürren, ungeölten Beinen. Es war die reinste Turnschule.

Dann geschah die sogenannte Predigt. Der Pfarrer gab zu dem Senfkörnlein seinen Senf, und der Titel berechtigte mich, eine gewisse Schärfe zu erwarten; es war aber nicht einmal Mehlsuppe, ohne Schmalz und Salz. — Daß es sündhaft ist, dem heiligen Mann den Text zu verlesen, weiß ich selber, aber der heilige Mann hat zuerst angefangen und mir den Text verlesen. Er stieg auf die Kanzel und bombardierte mich von dieser Debattierfestung aus mit seiner Predigt. Predigen heißt: bekanntmachen, erklären, unterrichten, belehren, lehren. Er lehrte mich. Eigentlich lehrte er mich nicht, noch sonst jemand. Ein Leerer kann nicht lehren. Ein Lehrer kann lehren. Ein Leerer kann höchstens[S. 51] Taschen leeren. Ein Leerer kann aber gefüllt werden, und soll er gelehrt werden, muß er gefüllt werden mit Weisheit, Wissen, mit den sieben Gaben des heiligen Geistes; so wird der Geleerte gelehrt. Der Unterschied zwischen gelehrt und geleert dreht sich ums »Ha« rum. Ich könnte somit sagen: der heilige Mann ist ums »Haar« ein Gelehrter. Das endete die Kontroverse zufriedenstellend; aber unglücklicherweise denk' ich an meine abgesägte Hand und die Zwanzigtausenddollarkollekte, und eine unwiderstehliche Raufwut jagt mein Blut ins Kochen.

Nein, dieses Mannes Kopf war so hohl, öde, leer, geistlos — wie ein virginischer Weinkeller nach konföderierter Einquartierung. Und mit dieser Leere kommt er hausieren zu mir; nicht hausieren, er nötigt sie mir förmlich (unter Höllenstrafe) auf als himmlische Ware, als Heiliggeistfabrikation; verlangt, ich soll die Leere fühlen, sehen, hören, soll mit der Leere meine dürstende Seele füllen, im Leeren fischen nach Glaube, Hoffnung und Liebe, aus der Leere eine Lehre ziehen. Daß man zwanzig Winter lang studieren muß, um gescheit zu werden, ist bei einem Menschen, der Pfarrer werden will, begreiflich, aber so lang studieren und eine solche Predigt quacksalbern, das ist zum Zähneknirschen für Engel.

Also: »Das Senfkörnlein ist gleich dem Himmelreich.« Herrgott! welcher Spielraum ist hier einem Redner gegeben. Von der Wurzel im Erdboden bis hinauf zum blauen Saum der Unendlichkeit, in alle Höhen und Tiefen kann der Redner steigen und[S. 52] fallen und seine Hörer mit sich reißen wie der Wirbelsturm die losen Blätter. — Offenbar kannte der geistliche Herr gar nicht die Bedeutung der Parabel, oder verwechselte Senf mit sauren Gurken, Spinat und Linsen.

Mit nichts kann man nichts begeistern. Zwanzig Prozent der Gläubigen begannen denn auch einzuschlafen während der Predigt. Zwanzig weitere langweilten sich; fünfzig Prozent hielten zeitvertreibende Heerschau über die Anwesenden, über alte Bekannte in neuen Kleidern. Ich betrachtete mit Andacht ein Bild an der Wand: es stellte den Heiland dar, wie er fällt unter Kreuzeslast. Ein rührend Bild, ein ergreifend Bild; das Gute, Edle, Anbetungswürdige liegt am Boden, und Brutalität triumphiert. Armer Jesus!

Dann schweiften meine Blicke über die schläfrige Menge hin und berechneten, wie viele von diesen Christen wohl beispringen täten und helfen, falls der arme Jesus wirklich, leibhaftig, jetzt eben hier im Kirchgang mit seinem Holz auf dem Rücken daherwankte. Alle? — Ich mußte schier laut lachen, als ich die vielen Damen ansah mit Seidenkleidern, Straußenfederhüten und Diamanten im Ohrläppchen — und dann das arme Mütterchen nebenan, in schäbigem Tuch und wahrscheinlich krummen Schuhen.

Dann zogen meine Blicke an der Mauer entlang und gewahrten einen Mönch mit einem Kindlein im Arm, beide aus Holz geschnitzt und bemalt. Ich wollte eben dividieren und subtrahieren, wie viel[S. 53] der Heilige vergessen muß, bis er so unschuldig wär' wie ein Kindlein, und wie viel er lernen muß, bis er so herzinnig natürlich könnte sein wie ein Kindlein. ... Dann sah ich weiter vorne eine heilige Nonne, auch aus Holz geschnitzt. Sie hielt den Rosenkranz und blickte nach oben. Ich stellte Betrachtungen an über ihre wunderbare Gleichgültigkeit gegenüber dem Weltlichen (ich meine die Heilige, nicht den Holzklotz), und wie wenig das entsetzliche Ringen ihrer Schwestern sie bekümmert, behindert, den Weg zu spazieren nach dem Himmel — allein. Ja, ja, allein. Aus diesem grauenvollen Seelenschiffbruchsdurcheinander, das sie hier umtoset, rettet diese Selige — wen? — ihr liebes, teures Selbst. Das ist mehr, als manche Mutter kann, die beim Retten ihrer Kinder, ihres Gatten untersinkt.

So standen noch mehrere verschmitzte (geschnitzte, wollt' ich sagen), ungehobelte, aber vergoldete St.s an der Wand herum, in faulenzender Bequemlichkeit ihre nachahmungswerten Eigenschaften präsentierend. Sie waren größtenteils junge, ledige Leutchen, die bei Lebzeiten und löblichem Mühen den Weg entdecken konnten zur ewigen Seligkeit. Den heiligsten Heiligen aber, den armen, geplagten Familienvater, der ehrlich und redlich sich abschindet für Weib und Kinder, bis er Lunge und Leben verhustet im Staub der Werkstatt — dem sein Bild sah ich nirgends. Auch keinen Yankee-Heiligen konnte ich bemerken; lauter Ausländer mit fremden Gesichtern, Kleidern und wahrscheinlich Manieren. Ganz oben, links, im[S. 54] vordersten Chorfenster brannte die Sonne einem »Glasgemalten« so energisch auf den Rücken, daß sein ganzer Inhalt, des Leibs und der Seele, wie ein Balken farbiger Luft in die Kirche hineingeblasen wurde.

Schon wieder mußte ich pausieren im Phantasieren. Die Predigt war jetzt überstanden. Alles fühlte sich erleichtert. Man kann das nehmen, wie's paßt.

Dann geschah noch viel und vielerlei, die heilige Handlung vollständig, rund, fehlerfrei und gottgefällig zu gestalten. Endlich noch eins: Körbe an langen Stangen wurden den Betenden vors Gesicht gehalten, zum Füllen mit Bar, mit Geld; mit dem »Teufelszeug«, sagt der Prophet Jeremias; oder war's Herodes, der so sagt? Ich hab's einmal so gelesen, daß Geld Teufelszeug wäre; — und das ist wohl der Grund, warum die Seelsorger sammeln. Je weniger Geld die Gemeinde behält, je weniger hat sie Teufelszeug. Her mit dem Teufelszeug!

Amen! — Der Gottesdienst war aus. Eine Stunde und zwei halbe hat's gewährt. Herrgott! bist du genügsam.

Dann ging's heim: Ich machte meine Reverenz mit zwei krummen Knieen, krummem Rücken, Nacken, der gottgefälligsten Körperverrenkung, wie es scheint. Hierauf schlug ich das Kreuzeszeichen; das gelang mir gleichfalls. Man braucht keine zwei Hände, ein Kreuz zu machen; — ob ich's aber tragen kann mit einer? — Barmherziger! warum hast du mich[S. 55] so wenig getröstet, da drinnen da? Alle kommen sie heraus mit lachenden Gesichtern, und ich nur steh' hier betrübt auf der Straße und schau' zurück. »Ja, ja,« seufzte ich, »den Glauben muß man sich schon mitbringen, den kriegt man nicht da drinnen.«

Und doch geh' ich nächsten Sonntag abermals zur Messe. Ich tu's! Vielleicht erlebe ich die Wiederholung jener Träumereien, und das ist der armen Seele Himmel.

Tom.


Pilot Knob, den 23. September 1900.

Lieber Bruder!

Ich bin Dir zwei Briefe schuldig — hier ist einer:

Also in der Kirche gewesen bist Du, he? Den lieben Gott besucht hast Du, he?

Du bist doch der allerhartgesottenste Ketzer, der dem Scheiterhaufen entronnen ist. Man geht nicht in die Kirche, um den Pfarrer zu kritisieren — man geht in die Kirche, das eigene Selbst zu kritisieren. Man geht nicht in die Kirche mit Zirkel und Zollstock, Hammer und Leimpfanne, um Reparaturen vorzunehmen — man geht in die Kirche mit dem Rosenkranz, Gebetbuch und einem »Herrgott, sei mir armem Sünder gnädig!« — Aber, Tom! Dir stecken die Spotteufel so im Mark und Bein, daß Du ersticken müßtest, kannst Du nicht Deinen Witz auf irgend eine Einrichtung abladen. Ich wollt', ich könnte[S. 56] hinüberlangen jetzt, wo Du gerade liegst oder sitzest, und Dir die Ohren strecken wie Hosenträger, die Haare zausen mit allen zehn Fingern. Ich könnte Dich prügeln, würgen, breitschlagen, Du ungezogener, unverbesserlicher, hoffnungslos verwilderter Sünder — Du fürchterliches Ding Du! — Ist das die versprochene Besserung, die Buße, die Reue? Ist das die Umkehr zum Kinderglauben? Ist das die Rückkehr des verlorenen Sohnes zu seinem Vater — die Schweine mitbringen — die Säu' hereinlassen zum Gastmahl, daß sie das Bittgesuch grunzen sollen Deinerstatt?

So, das ist Brief eins — jetzt kommt zwei:


Mein lieber Bruder nebst Familie!

Ich bin nur halb bei mir selber, seit Du das Unglück hattest, Deine Hand zu verlieren. Ich kann nicht aufstehen, nicht hinliegen — jede Stunde, halbe, viertel Stunde des Tages muß ich immer und immer an Dich und die armen Deinen denken. Wie geht es Euch? Du schreibst mir oft, öfter als ich erwarten darf, aber dutzendmal zwischen jedem Brief sehne ich mich nach Auskunft. Daß wir so weit auseinander leben müssen — tausend Meilen. Daß ich so wenig Dir helfen kann. So hilflos selber bin — o, Armut wär' so schwer nicht zu tragen, könnte man herzlos sein. Warum gibt Gott den Armen das Mitleid und Erbarmen, anstatt es den Reichen zu geben? Ist das der Ausgleich vielleicht, daß die Reichen Gold, die Armen ein fühlendes Herz besitzen sollen,[S. 57] aber keines alles? Ich will nicht murren, aber, Bruder, manches Mal scheinen auch meiner gottvertrauenden Seele die Dinge der Welt so verkehrt, daß ich bange vor der Möglichkeit einer Lösung.

Bruder! Du hast mich mit Deinem Kirchgang ungemein erfreut. Daß Du Eindrücke mitnahmst, beweisen die vielen Neuigkeiten Deines sehr langen Schreibens. Daß Du Heimweh und Sehnsucht fühltest, beweist, wie die guten Engel die empfindlichste Seite Deiner Seele merken. Daß Du keinen Glauben mit herausbrachtest, verblüfft mich weniger. Den Glauben hast Du zuerst und am längsten verloren und wirst ihn so leicht nicht finden wie andere Himmelsgaben, die Du nur verlegt hast in irgend einem Winkel der Seele.

Diese paar Sätze gehören zum Brief eins, jetzt verschluckt sie der Brief zwei und füllt sich den Bauch damit auf Kosten seines Vorgängers. Das leid' ich nicht. Jedem das Seine! Nur meine ich: der Brief eins sei so schauderhaft, daß er je kürzer je besser würde.

Ich meint's übrigens nicht so buchstäblich, wie's dort steht. Ich bin eben (wie Du auch) eine rücksichtslose, anarchistische Feder. Ich hätte wohl die Säu' und Schweine, das demokratische Viehzeug, weglassen können und mehr aristokratisches benützen können — Adler, Hirsche, Löwen. Aber diese Herren der Tierwelt wollen mit einem Menschen nichts gemein haben, der Bettler ist. Du[S. 58] hast recht, wenn Du behauptest in einem Deiner früheren Briefe: »Ein bettelnder Mensch steht unterm Hund!«

Lieber Bruder! Ich zermartere mir das Gehirn, einen Pfad zu finden für Deine Zukunft. Mein Bruder Tom und betteln! Almosen betteln, mein stolzer Bruder!

Warst Du bei Deinem Arbeitgeber in Neuyork? Was sagt er? Was denkt er? Ist Aussicht, daß er Dich beschäftigen kann, oder empfehlen kann — sonstwohin? Die großen Herren haben viel Einfluß beim Arbeitvergeben, und wenn sie nur wollten, es brauchte niemand zu hungern.

Hundertmal wünsche ich, Du wärst hier in Pilot Knob. Ich glaube, ich kriegte es fertig und erbettelte Dir eine Anstellung bei der Grubenverwaltung als Wächter, Schreiber. Tom! ich hab' eine Eisenstirne zum Betteln für — andere. Ich bin nicht häßlich, schlank bin ich sehr, geschickt im Drehen und Biegen, feurige Blicke sind mir auch noch möglich — und all diese Talente ziehen stark bei den Herren. Schon dreimal zog ich meinen Peter aus der Patsche bei der Kompanie mit solchen Schauspielerkniffen. Peter bekam jedesmal seinen Platz wieder, und die Herren bekamen auch was — das Nachsehen — denn Jennie weiß ganz genau, wie tief und nicht tiefer das Weib eines braven Arbeiters sich beugen darf beim Kniefall.

O Himmel! ich werde ausschweifend und weitschweifend. Die kurze Stunde Zeit, die ich mir aussuchte[S. 59] von den vierundzwanzig, ist verbraucht mitsamt der Nasenspitze der folgenden.

Bruder! meinen Segen Euch allen.

Deine Schwester.


Brooklyn, den 27. September 1900.

Liebe, gute Schwägerin!

Ich will Dir nur auch schreiben daß wir vielmal danken weil Du so gut bist zu Tom. Er ist immer besser, wenn Du schreibst. Dann liest er den Brief laut und nachher lese ich den Brief wieder noch einmal. Ich kann nicht genug lesen. Und muß doch weinen bei jedem Brief. Weil Du so schön schreibst wie man sagt wenn man denkt manches Mal bei Nacht wenn man wacht und bei Tag wenn man traurig ist und alles elend geht dann denk' ich immer so und bete zu Gott daß es besser geht.

Mein Tom hat ein großes Unglück gehabt mit seiner Hand. Dann haben sie ihm den Arm noch zweimal abgeschnitten. Im Spital und hier weil es sein muß wegen Blutvergiftung. Sie haben ihm Lumpen herumgebunden mit Farbe an den Lumpen. Der Herr Doktor sagt das hat sein Blut vergiftet. Tom hat Dir das nicht geschrieben daß sein Arm abgeschnitten ist am Ellbogen. Er hat's nicht wollen. Er sagt das wird Jennie weh tun. Ich schreibe das nur weil es besser geht. Dann sagst Du immer Tom soll Mut haben und das hat mir weh getan, weil[S. 60] Tom so viel leiden tut und nicht einmal hat er laut geschrieen er hat nur sein Gesicht an mich gedrückt und ich hab' ihn gehalten und dann hat er nur gezittert, wenn der Herr Doktor und der andere hat das Fleisch weggeschnitten mit dem Messer und sogar mit der Säge. Das war so schrecklich. Ich bin schier ohnmächtig gewesen und ganz krank vor Mitleid. Dann hat Tom so wenig Blut übrig daß er kann nicht chloroformiert werden sagt der Herr Doktor sonst steht das Herz still.

Aber jetzt geht es besser. Tom kann herumgehen aber schaffen kann er nicht wieder. Das ist schrecklich. Solang er lebt.

Liebe Schwägerin ich muß Dir noch einmal danken daß Du so schöne Briefe schreibst. Schreibe recht oft. Tom freut sich jedesmal auf den Brief. Tom ist jetzt in Neuyork heute bei seinem Herrn Meister und fragt um Rat. Darum kann ich Dir schreiben. Tom soll nicht wissen daß ich Dir schreibe von seinem Unglück er will's nicht ganz wissen lassen. Ich kann nicht gut schreiben das ist schad. Ich bin nur ein Winter in die Schul und dann immer schaffen in die Spinnerei in St. Louis. Das kann nicht sein daß man viel lernt. Du kannst sehr schöne Briefe schreiben und bist immer sehr gut zu mir und ich bin gar nicht einmal amerikanisch und bin lutherisch und Bertie ist auch noch lutherisch aber wir haben Dich lieb und Du hast uns lieb und der liebe Gott hat uns alle lieb. So wollen wir leben im Frieden. Das ist mein Wunsch wenn ich sterbe ich will Dich[S. 61] und Tom und Bertie und Elsie und alle von Deiner und meiner Seite und alle guten Menschen wiedersehen im Himmel beim lieben, lieben Gott. Ich bete ein Vaterunser und schließe den Brief.

Deine treue Schwägerin

Eva Pratt.


Pilot Knob, den 1. Oktober 1900.

Teure Schwägerin!

Gute Seele! Du kannst also doch auch Briefe schreiben, und schöne, herzige Briefe. Ich spotte nicht. Ich meine es ernst und ehrlich, Dein Schreiben hat mich tiefer ergriffen als die längste Predigt — und nebenbei mein Urteil über Dich verworfen. Denke Dir, Schwester! ich wußte nie, daß Du schreiben und lesen kannst. Hätte ich das gewußt, wie oft würde ich Dir geschrieben haben — Intimes, Heimliches, unter Frauen so — Klatschiges — Du verstehst mich.

Der unflätige Tom ist aber schuld an diesem Mißverständnis — ich nicht — wahrlich nicht. Dann bist du selber, liebe Eva, auch ein ganz klein wenig schuld, daß ich Dich so verkehrt beurteilen mußte. Fünf Jahre lang bist Du meine Schwägerin und nie, nie hast Du mir eine Zeile geopfert. Dein Mann so oft, und Du nie. Nicht einmal hast Du meine zahlreichen Grüße und Glückwünsche (persönlich an Dich gerichtet) beantwortet, und die ganze Sache, als wäre sie Dir keinen Federstrich wert, Deinem[S. 62] teuren, treuen, anbetungswürdigen Herrn Gemahl, Deinem Götzen überlassen.

Wahrhaftig, das macht mich jetzt so wütend auf den Tom, daß ich — — jawohl, ich tu's — hier gleich — sofort fang' ich an und reiße ihm die Maske vom Gesicht und Dir, unglückliches, verblendetes Weib, den Schleier von den Augen. Ha! ich besitze Deines Gatten sämtliche Briefe seit seiner Abreise von Pilot Knob — und somit auch den Brief, worin er Dich als seine »Zukünftige« schildert. Hier ist er:

St. Louis, den — —

Teure, herzensgute, einzige Schwester!

Ich bin Dir — — und so weiter (jetzt kommt er auf Dich zu sprechen). Sie ist eine Waise seit ihrem zehnten Jahr; das sind wieder zehn — macht zwanzig. Die Eltern waren eingewanderte Skandinavier und Eva deren einziges Kind. Sie ist ein Modell der nordischen Rasse: sehr blond, sehr schlank, sehr hochgeschossen, schneeig, eisig, frostig, gefroren, schier nicht zum auftauen. Hier ist kein Hauch von Aussicht, zum Herzen vorzudringen, als mit brennender, weißglühender, alles schmelzender Liebe! — Sie ist ein Modell des weiblichen Geschlechtes: keusch, züchtig, natürlich, häuslich, treu, scheu; schüchtern, so schüchtern, daß sie nicht einmal haltmacht an der Grenze der Ängstlichkeit. Ein solches Reh lebendig zu fangen, muß der Jäger ein göttlicher Apollo sein und mit Rosen und Girlanden seinen Speer verhüllen. Oder ein grausamer, blutsaugender Panther, vom[S. 63] Baum springend auf das ahnungslose Opfer. — Sie ist das Modell einer Christin: religiös, gottvertrauend, duldend, entsagend, Gutes leicht glaubend, Böses nicht begreifend. — Sie ist das Modell eines fleischgewordenen Engels: himmelschön, himmelrein, himmelhoch erhaben — über mich. Ich kann sie nicht und nie erobern — ergeben muß ich mich ihr, das ist die einzige Möglichkeit, eins zu werden mit diesem Engel Eva.

Das sind also die Lichtseiten meiner Braut. Jetzt gelange ich zu Evas Schattenseiten. Wäre das Mädchen unsichtbar für irdische Augen, ich ging' beschwören, es habe keine Schattenseiten, sondern überstrahle an Reinheit Licht und Sonne; aber Eva ist sichtbar, leibhaftig, körperlich und hat demgemäß ihre Dunkelheiten wie jedes Ding der Welt.

Hier folgen sie: Eva ist sehr arm, sehr unerfahren, sehr — — jetzt kommt der tiefste Schatten — ach, er lastet wie die Winternacht ihrer nordischen Heimat auf diesem Maienbild — Eva ist ungebildet. Sie hat, fürchte ich, kaum je ein Schulhaus gesehen von innen. Sie kann, fürchte ich — schreiben gar nicht und lesen nur im Schneckentempo. Daß Gott erbarm! Das arme Kind mußte zur Fabrik, ihr Kostgeld verdienen — anstatt zur Schule. Wer ist schuld? — Und so weiter und so weiter.

Liebe Schwägerin!

Du siehst also, wie und wer mich auf den Wahn leitete, Du könnest weder lesen noch schreiben und ständest vollständig seitwärts der Korrespondenz, wie[S. 64] ich sie führe und liebe. Er ist es! Bezahl ihm's heim! — Eigentlich weiß ich ganz genau, warum er dieses Spiel treibt: er möchte Dich so unumschränkt allein besitzen und ausnützen, daß er eine Teilung fürchtet mit seiner Schwester, auf tausend Meilen Entfernung sogar. Es ist die verfluchte, höllische Eifersucht — die schwarze, gelbe, grüne!

Doch genug darüber. Ich bin nur froh, daß ich von jetzt an meine Waschfrauenkorrespondenz erweitern kann. Du sollst manchen Brief erhalten von Jennie — und Jennie erhält hoffentlich manchen Brief von schön Evchen. Das wird ja eine prächtige Zukunft — — Ach! Hier fällt's mir wieder ein, die klaffende Wunde der abgesägten Hand.

O, was hast Du leiden müssen, was wird noch kommen, Du arme Dulderin! Vater, Mutter verloren — die Heimat zweimal verloren — das heißgeliebte, goldlockige Kind, die Elsie verloren — dann Gesundheit verloren — und jetzt drückt mit diesem letzten, fürchterlichen Unglück das Kreuz Dich auf den Boden. Und niemand hast Du, der Dich aufrichtet, Dich tröstet, Dich ermutigt. Du armes Weib. Gott helfe Dir — — —

Ich muß so weinen, daß ich zittere. Ich werd' Dir später schreiben. Trösten kann ich Dich schwerlich, wenn ich weine und schluchze wie ein Kind. Leb wohl, Schwester! und Gott sei mit Dir und Deinen Schützlingen.

Jennie Daly.

[S. 65]


Brooklyn, den 5. Oktober 1900.

Liebe Schwester!

So — so — hm! — Hinter meinem Rüden also spielt mein Weibchen mit Dir und Du mit ihr. Bertie hat's verraten. Bertie ist ein Schwerenöter. Alles weiß Bertie, und was er nicht weiß, errät Bertie. Daß er seine lose Zunge von mir geerbt hat, gehört ins Gebiet der Erbsünden. Ich habe meine Zunge auch nicht selber gemacht — und mein Vater die seine ebenfalls nicht — und wenn die »Pratts« (nach Darwin) vom Spottvogel abstammen, dann wird das Sündenregister zu lang, den Schuldigsten dieser allerletzten Schwätzerei zu finden.

Also, Bertie sagte: »Papa, Mama hat einen Brief bekommen vom Postmann und hat den Brief versteckt, und dann hat Mama gesagt: Bertie, sag dem Papa nichts von diesem Brief, sonst ist Mama bös mit Bertie; und dann hab' ich Mama versprochen: ich werd' Papa nichts sagen von dem Brief.«

»Ja, warum erzählst du mir's jetzt?« forschte ich das Kind aus, »wenn Mama dir's verboten hat?«

»Weil ich Angst hab', du möchtest böse werden, wenn ich nichts sage, Papa. Und dann brauchst du ja der Mama nicht zu sagen, daß ich dir's sagte, sonst sagt Mama, der Bertie sagt alles, und ich sagte, er soll nichts sagen, aber alles sagt er.«

Das war allerdings genug gesagt. Warum auch Kindern Geheimnisse eingeben, dieses Gift der heutigen Gesellschaft.

»Freiheit für jeden und jede!« Ich ließ die[S. 66] Sache ruhen; nur ein klein wenig wunderte es mich, woher der Brief sein sollte; das ist ja verzeihlich.

Du treue, gute Seele! — »Mann und Weib sind ein Leib — und eine Seele« ruf' ich laut. Mein liebes Evchen gab mir, und mit strahlenden Augen, Dein Schreiben zu lesen. Es war das erste nach dem Kuß, was ich von ihr bekam, als ich ermüdet in die Küche trat.

Dann las ich Zeile für Zeile, und Eva berichtete mir gewissenhaft die Nebenumstände der jüngsten Korrespondenz; ein ganzer Heuwagen voll Neuigkeiten war es für das geschwätzige, alte Waschweib »Tom Pratt«.

Rache ist süß! Und weil ich gar viel Bitteres verschluckte in letzter Zeit, so fühle ich unbändiges Verlangen, die Süßigkeit zu naschen. Rache muß ich nehmen, süße, herzblutwallende Rache (an Dir, Schwester, später bei Gelegenheit) an meinem — hinterlistigen Weib, sofort, jetzt. Hinter ihrem Rücken werde ich ein Geheimnis preisgeben, das sie wähnt nur selber zu besitzen, das sie verschlossen hält in ihrem Busen wie der Tod das Leben.

Also — Verrat Nummer eins.

Es war vor etlichen Wochen — genau das Datum weiß ich nicht — ich hatte eine qualvolle, schlaflose Nacht überstanden. Mein Arm, mein armer Arm war vom Doktor verschnitten und verhackt worden wie Karbonade, am Tag vorher, und die Schmerzen ließen mir keine Ruhe. So schlummerte ich denn am folgenden Morgen gegen Mittag ein. Als ich bald[S. 67] wieder erwachte, hörte ich Eva sprechen in der Küche, Es konnte nicht Bertie sein, mit dem sie redete: den Knaben hatten sie fortgeschafft nach Neuyork zu einem Freund von mir, während der Operation und Krisis. Also mit wem redet mein Weib? Verstehen konnte ich nichts, die Konversation wurde im Flüsterton gehalten; aber hin und wieder vernahm ich ein Lachen, Kichern, allerlei unartikulierte Laute, wie Schluchzen, Stöhnen — sogar Küssen.

Ich bin ein Mensch. Trotz des Blutverlustes der paar vorhergegangenen Tage, die Eifersucht abzuzapfen war nicht gelungen; und sage: wenn Othello eines lumpigen Taschentuchs wegen so bullenwütig werden konnt', sein Weib totzudrücken im Bett — — Sapperment! ich wär' ein Klotz Polareis, hätt' ich stillgelegen bei diesem Geflüster nebenan in der Küche, bei diesem verdammten Kichern, Küssen, Stöhnen, diesen Ohs und Ahs!

Plötzlich — — sah ich etwas an der Wand, das mich blitzesschnell so mit Weh erfüllte, mit Schreck und Grauen, daß Feder und Tinte es nicht beschreiben dürfen. Eigentlich sah ich es nicht. Wenn ich sagte, ich sah es, ist das umgekehrt zu verstehen: das Bild meiner Elsie, das immer dort gehangen hatte, es war fort — verschwunden — und die ganze volle Ahnung, was das bedeute, kam in meine Seele.

Eva hat das Bild in der Küche und redet mit dem Kind.

So müd und krank ich war, unsägliches Verlangen gab mir Kraft, mein Bett zu verlassen. Vorsichtig,[S. 68] mich festhaltend an Bett und Wand, wankte ich zur halbgeöffneten Tür. Gott der Mutterliebe! es war wahr: Eva kniete, mit dem Rücken halb nach mir gewendet, am Boden vor dem Bild. Auf einem Stuhl hielt sie es mit beiden Händen; bald nah, bald weit von sich. Dann wieder preßte sie das Bild an die Brust, und heftig gegen das Gesicht. Ihr mageres, kreideweißes Gesicht — im Profil so unsäglich überirdisch, marmorgleich — die scharfe, dünne Nase — das scharfe, dünne Kinn — die merkwürdig tiefen Augen — ich hatte Angst, das Glas möchte zerbrechen an diesem Marmor ...

»Mein Kind!« kam es von den Mutterlippen. »Mein liebes Kind! Elsie! Elsie! Wo ist Elsie? Ist Elsie im Himmel? Ist Elsie bei Gottes Engelchen? — Goldenes Hemdchen haben sie Elsie angezogen, die Engelchen; goldene Schuh'. Und Elsie ist gern im Himmel — sehr gern im Himmel. Kind!!«

Das letzte Wort wurde geschrieen — die vorhergehenden gestöhnt in Grabestiefe — abwechselnd mit Schluchzen, hysterischem Lachen und einer Flüsterstimme, so übermenschlich zart wie das Zwitschern junger Schwalben im Nest.

Gott der Mutterliebe!

Dann küßte die Unglückliche wieder das Glas. »Wird Elsie Mama liebhaben, wenn ich komm'? Wird mich liebhaben? Und kennen? Papa ist krank, Elsie — sehr krank — Papa und Mama werden bald kommen — Mama kommt gern —[S. 69] Papa kommt auch gern — Bertie will noch spielen, dann kommt Bertie auch, dann sind wir beisammen wieder — alle. Wie lieb hat Elsie Mama? So lieb — so lieb!«

Herzbrechendes Schluchzen hob und senkte ihren Busen. Der abgemagerte Leib, durch dünne, ärmliche Kleider durch, zitterte wie im Fieber, und Tränen auf Tränen rieselten hernieder in heißen Tropfen — vom Marmor auf das Glas.

Gott der Mutterliebe, hab Erbarmen!

Ich mußte weg. Ich hätte noch länger dort gestanden an Himmels Tür, aber die Kräfte gingen mir aus. Ich suchte mein Bett. Dort gewahrte ich die abgerutschte, verbrauchte Wandtapete, wo das Bild gehangen hatte. Also oft — oft schon hat die Mutter das Bild heruntergelangt.

Ich schlief ein.

Tom.


Brooklyn, den 15. Oktober 1900.

Liebe Schwester!

Ich wartete lang', damit ich Dir zur Abwechslung eine Freudenbotschaft mitteilen könnte. Die ist aber ausgeblieben — wie alles, was man wünscht, erwartet, hofft, ersehnt und so weiter.

Mein Arbeitgeber in Neuyork, den ich vor zwei Wochen etwa besuchte, versprach mir eine Antwort zu senden auf mein Bittgesuch um Arbeit; und diese Antwort blieb aus. Das ist ein so herbes Gefühl,[S. 70] daß man zusammenhängende Gedanken nicht schreiben kann damit. Lies, wie es kommt!

O, war die Welt schön; oder schien sie nur mir armem Gefangenen so schön, dem Stubenhocker, Bettlieger? Kühl wehte die Seebrise über den Sund, der plätschernd durchschnitten wurde vom Kiel des Fährboots. Melodisch gurgelten die Wasser unterm Bug. Seegeier kreisten in der Morgenluft, tauchten nieder auf die Flut, stiegen aufwärts zum Äther, schwammen in der Freiheit. Wolken trieben hin am blauen, stillen Dach dort oben — Gedankenstriche ziehend durch die Schöpfung — und die Königin der Lichter, wegküssend gleichsam Sorgen, Sünden, Tränen der Menschheit, küßte die Millionenstadt.

Und Tom wischte sich die Augen. Auf dem vordersten Rand des pfeilschnell dahinschießenden Fährboots stand er und — der Wind füllte seine Augen mit Wasser. — —

Ja, ja, so möchte ich den Brief beginnen und symmetrisch zum Himmel bauen, bis Freude mich zum Sklaven heißer Tränen preßt. Aber die Botschaft ist ausgeblieben. Ich habe bis zu dieser Stunde noch keine Antwort auf mein Bittgesuch um Arbeit. Dass ist schlimm. Das ist ein so herbes Gefühl. O! was haben wir drei arme Dulder durchgelebt in diesen paar Wochen an Hoffnung, Glauben, freudiger Erwartung, Zukunftsplänen — Enttäuschung.

Doch ich will trocken erzählen, wie es dem Mann mit der abgesägten Hand ergangen ist auf seiner Betteltour nach Arbeit.

[S. 71]

Der Anfang war majestätisch. So majestätisch fing der Bettelsack am Morgen an, sich in Staat zu werfen; sein bestes Hemd anzulegen, sein bestes Gewand, Halstuch, Gesicht — sein Bestes hinten und vorne. Majestätisch stieg er die Treppe hinab auf die Straße, die Straße hinab nach dem Fährboot. Hinab — hinab, aber so majestätisch, daß es geradezu Notwendigkeit wurde, den Bettelsack heimzuschicken Abends, auf dem nämlichen Weg, so total verändert, verlottert, verdonnert, in Bettelsacks allertiefunterster Gottverlassenheit. Das stellt das Gleichgewicht wieder her!

Die Wasserfahrt von Brooklyn nach Neuyork währte zwanzig Minuten. In Neuyork ging Tom die altgewohnte Straße entlang zu seiner ehemaligen Arbeitsstelle; das währte nochmals zwanzig Minuten. Um zehn Uhr betrat Tom das Fabrikgebäude und stand vor der Kanzlei seines Herrn.

Angst und Hoffen! Das Herz klopfte ihm hörbar vor Aufregung. Hier liegt die Entscheidung. Wenn hier keine Anstellung wartet, wo er bekannt ist, geachtet, wo er verkrüppelt wurde im treuen Dienst für die Firma — wenn hier nicht, wo dann? Dann ist er gerichtet, verloren — arbeitslos. Gott der Armen, laß Tom nicht untergehen! Denk an sein Weib und Kind, lieber Gott, und laß Tom nicht untergehen!

Ich klopfte an und trat ein. Wurde merkwürdig gut aufgenommen. Der Empfang verblüffte mich. Das ganze Personal scharte sich teilnehmend oder[S. 72] neugierig um meine abwesende Hand. Ich war so plötzlich, unerwartet das Zentrum, die Hauptfigur, daß ich mir vorkam wie eine steigende Rakete, nach der sich alle Blicke kehren. Ach! die Himmelfahrt dauerte nicht. Die Rakete platzte an grauer, hängender Wolke, und alles, was übrig blieb aus der glühenden Verklärung, war der Stock — Toms Bettelstab.

In der Kanzlei saß ich dann auf dem äußersten Rand eines Stuhls, schier abrutschend vor Bescheidenheit — und Angst — und bettelte alleruntertänigst, unterwürfigst um Anstellung, Beschäftigung.

Und — wahrhaftig, ich bekam sie. Denke Dir, Schwester, ich bekam sie. Im ersten Anlauf. Welche Überraschung. Mein Arbeitgeber gab mir — Hoffnung, mich unterbringen zu können, irgendwo — nicht gerade in seiner Fabrik, das sei unmöglich, aber sonstwo — wahrscheinlich — möglich — allem Anschein nach — immerhin — kann ja sein — so oder so — wollen's abwarten. Abwarten. Wissen lassen per Postkarte. Hoffentlich.

Ja, ja, hoffentlich. Das war auch eine Litanei mit: »Herr, erbarme dich meiner!«

Der Werkführer der Fabrik war sogar noch hoffnungsreicher als der Prinzipal. Er hatte einen unerschöpflichen Vorrat und schmierte mir unglaubliche Bilder vor, wie Leute untergebracht wurden in feinen Anstellungen, die nur eine oder gar gar keine Klaue besaßen.

Meine Arbeitskollegen waren wiederum hoffnungsreicher als der Werkführer. »Tom!« sagten sie, »du[S. 73] kannst schreiben, rechnen und kannst einen Platz kriegen in der Kanzlei; du kannst einen Platz kriegen als Wächter« und so weiter.

Der Fabrikjunge verstieg sich sogar zu der Äußerung: es könne mein Glück sein, daß die Hand zum Schinder ging. Mit zwei Händen wäre ich zeitlebens am Werktisch gestanden im Staub und Rauch, jetzt aber dämmere mir eine neue, rosige, regenbogenfarbige Zukunft.

Je tiefer ich herabkam in der Rangstufe der Angestellten, je höher stieg ich in der Hoffnung. Schade, daß sie keinen Hund halten in der Fabrik, der Köter hätte sie alle übertrumpft und mir eine Anstellung gegeben — und wär's auch nur bei seinem Lampenpfosten.

Auf meiner Rundreise machte ich meinem früheren Werktisch eine Visite. Und der Säge. Ein Mann, doppelt so alt, doppelt so verwahrlost, doppelt so ungeschickt wie ich, quälte sich jetzt an dem Platz. Er schüttelte mir die Hand und sagte: er danke Gott, daß Tom Pratt die »Linke« verlor, oder die »Rechte«; welche von beiden, sei ihm übrigens gleich. — Nein, das sagte er nicht; aber daß er sieben Wochen lang die Straßen Neuyorks abgelaufen hätte nach Arbeit, und total bankrott sei mit seinem Hauswesen — das sagte er. »Mister Pratt, hätt' ich diesen Platz nicht gekriegt damals, ich hätt' den Strick genommen.« Er machte eine knotenschürzende Handbewegung um seinen Hals herum, damit ich die Meinung seiner Worte leichter begreife. Also das hat dem das[S. 74] Leben gerettet! Sag einer, es herrsche keine Weisheit dort oben, die für jeden Hilfe findet zur rechten Zeit! — Aber — hm — so nebenher und hintenrum gesagt: allmächtig sein ist doch nicht gar so schwierig, wie es ausschaut, wenn man's dem einen erst nehmen muß, soll's der andre bekommen.

Dann nahm ich Abschied vom Platz, auf Wiedersehen — hoffentlich. Im Glauben ging ich hinein — in der Hoffnung heraus. Wär' ich ein Frauenzimmer, ich müßt' zur Hebamme laufen mit der Last.

Was nun? Die Tür ist zu. Ich steh' auf der Straße. Und das ist alles, was ich erbetteln konnt'? Ooo! — Am Sonntag noch war ich zur Meß gegangen, und Bertie betete mit seinen Kinderhändchen und -lippen zum Vater der Armen, mein Weib betete.

Neben der Fabrik steht eine Kapelle. Ich fühlte mich so müd, so mutlos, daß ich eine Zeitlang überlegte, ob es angenehmer wär', wenn ich mich zuerst ertränkte im nahen East River, oder die paar Stufen hinaufginge zum Kirchlein. Ich wählte das letztere. »Du lieber Gott!« seufzte ich beim Eintreten in den Tempel, »auch du hast deine Sorgen.« Da stand groß und leserlich an die Wand geschrieben: Betender, hilf mit einer Gabe die Hypothek tilgen, die auf dem Hause Gottes lastet.

Im vordersten Stuhl ließ ich mich fallen. Mein Kreuz ließ ich nicht fallen. So ruht man schlecht. Beten konnt' ich auch nicht. Zum Danken war keine Ursache, und bitten, einen Herrgott anbetteln, der seine Hypothekenschulden nicht bezahlen kann, solche[S. 75] Schnorrerei muß ich erst lernen. Aber sympathisieren konnte ich mit dem Allmächtigen — und das tat ich. »Wohnst auch nicht am feinsten,« seufzte ich; »das hier ist ein armselig Kirchlein für dich, o Weltenschöpfer, der gewohnt ist zu schreiten von Fixstern zu Fixstern, auf sonnengepflasterter Milchstraße. Bretter, Blech, kein Turm noch Glocken — es könnt' ebensowohl ein Stall sein wie eine Kirche, ein Holzschuppen, eine Scheune. Hängt Rechen an die Wände und Mistgabeln anstatt der Heiligenbilder, und einen Heuwagen statt der Altärchen, und die Verwandlung ist fertig!«

Ich opferte einen Cent in die Opferbüchse (mich macht der Cent nicht ärmer, und dir hilft's!) und stolperte von dannen.

Wohin jetzt — zuerst? — Die paar Kirchenstufen herab auf die Straße brachten mich auch nicht näher gen Himmel. — Wohin jetzt? — Langsam schritt ich die Richtung entlang nach der Westseite. Planlos — zwecklos.

An der Ecke begegnete mir ein schäbig gekleideter Mann; der trug eine Blechtafel am Leib mit der Aufschrift: »Hilfe! Blind!« Dann begegnete mir ein Schuljunge, der trug eine Büchertasche. Dann begegnete mir ein Arbeiter, der trug einen Korb mit Kohlen. Dann begegnete mir eine Mutter, die trug ihr Kind. Dann begegnete mir ein Hökerweib, die trug einen Lumpensack, so groß wie — — pah! warum meinen Humor vergraben, eh er stinkt — raus!! — — die trug einen Lumpensack so groß[S. 76] wie der Planet Pallas. Dann begegnete mir eine Straßennymphe, die trug falsche Haare, Zähne und Diamanten. Dann begegnete mir ein Betrunkener, der trug einen falschen — nein! einen aufrichtigen — nein! einen beneidenswerten — ja! Rausch.

Hier bekam ich urplötzlich die Vision wieder und sah Gottes geheime Werkstatt offen. »Ha!« rief ich, und so begeistert, daß Passanten auf dem Bürgersteig sich umdrehten nach mir. »So ist es! Tragen ist die Bestimmung des Menschen, der Welt. Tragen, tragen — jeder, jede, jedes. Alles muß irgend etwas tragen, und das, zusammengerechnet, trägt den Bau der Schöpfung. Die Hochbahnpfeiler tragen die Hochbahn; das Haus den Giebel. Der Büttel dort muß seinen Knüppel tragen; der Soldat muß sein Gewehr tragen; der General seine Orden; der König muß die Krone tragen; und ich — die Verzweiflung.

An der nächsten Ecke stand ein Gebäude, das trug ein Riesenschild, und das Schild die Aufschrift: Eiskaltes Lagerhaus zur Aufbewahrung von Fleisch, Fisch, Käs, Butter, Speck (Ratten, Kellerschaben und rotzigen Schnecken). Wieder eine Kopierung aus der Werkstatt: so macht's der Allweise schon lang. Eiskaltes Lagerhaus: daß dem Menschen die Seele nicht verfault, steckt ihm die Vorsehung einen Eisklumpen in den Brustkorb — das Herz. Das hält dich kühl, das hält dich kalt — gelt, Bruder Mensch, das hält dich kalt.

An der nächsten Ecke zählte ich vier Schnapskneipen, eine neben der andern, und alle waren sie[S. 77] sperrangelweit offen. Schräg über sah ich eine Kirche. »Kommt herein, die ihr beladen seid,« stand über dem festverriegelten Kirchentor. Aber dort wurden die Beladenen aus der Schnapshöhle geworfen — und hier nicht hereingelassen.

Dann schlenderte ich in das Mammonsviertel von Groß-Neuyork, wo in jedem Häusergeviert vier Millionäre thronen und vier Straßenfeger fronen.

Dann kehrte ich dem Norden den Rücken und steuerte zum hochfeinen Hoffmanhouse, wo eingewanderte Nachkömmlinge der ehemaligen Republik Rom den Geldkönigen Amerikas die Schuh' putzen — anstatt Hände und Gewissen.

Nebenan steht der Dewey-Triumphbogen. Da sieht's faul aus mit dem Patriotismus in Gips. Armer Dewey, vor einem Jahr noch warst du größer als Jesus Christus, und heute — bist du ein Heros außer Arbeit. Ich bin ein Feigling außer Arbeit; aber ich werde begraben und dann vergessen, und du wirst vergessen und dann begraben.

Dann schwenkte ich östlich, durch den Park. Da sitzen täglich tausend arme, arbeitsslose Menschen und — warten auf den Messias. Wären mehr Parkbänke da, dann säßen Zehntausende fest und warteten auf den Messias. Millionen meinetwegen, und warteten auf den Messias.

Dann ging's heimwärts. Halb träumend vor Mattigkeit schwankte ich dem Flusse zu. Viel und vielerlei sah ich noch, das den Himmel über sich hat und die Hölle unter sich. Vielerlei, das den Himmel[S. 78] unter sich hat und die Hölle in sich. Manches, das einen Hypochonder zum Lachen und einen Luftibus zum Weinen treiben kann. Manches, das sich schämen sollt' vor ausgelöschtem Licht, und spazieren geht im Mittagsonnenschein auf breiter Straße. Manches, für das ein Gott geblutet hat und das jetzt im Rinnstein liegt. Verwahrloste Kinder sah ich, auf dem Weg zum Laster. Feingeschultes Schoßhündchen sah ich spazierenfahren in silberbeschlagener Karosse mit Madame, Kutscher und Lakaien. Zerlumpte, barfüßige Menschen sah ich — und ganze Warenhäuser voll Schuh und Kleider verderben vom langen Liegen. Hungrige Menschen sah ich, und ganze Warenhäuser voll Delikatessen verfaulen vom langen Liegen. Todmüde Menschen sah ich, vom Suchen nach Arbeit schier umsinkend. Todmüde Menschen sah ich, vom Überarbeiten schier umsinkend. Menschen, die auf dem Kopf stehen, sah ich nicht, aber eine ganze Menschheit, die auf dem Kopf steht, das sah ich. Ein Monster-Riesennarrenhaus, das sah ich.

Ein tintenschwarzes Meer. Sternenlose Nacht. Blinde regieren das Steuer, die Segel. Narren stehen am Kompaß. Wie das Schiff den Hafen finden kann — das seh' ich nicht.

Urwaldgrüne Finsternis. Greller Sonnenschein auf heißem Wüstensand. Des Mondes Schatten auf gefrorenem Schnee. Veilchenduft am Wiesenbach. Im hohen Norden Mitternacht. Harmonie der Schöpfung — das seh' ich.

[S. 79]

Ein rauchendes Schlachtfeld voll zuckender, stöhnender Leiber. Wetterleuchtend grollt's herab vom Himmel. »Mord!« brüllt's hinauf zum Himmel. Millionen wetzen die Messer. Harmonie der Menschen — das seh' ich nicht.

Ein wimmernd Kind auf kranker Mutter Schoß. Hohl sind ihre Augen, ihre Wangen. Kalt ihre Lippen. Kalt die Kammer. Leer der Tisch. Leer dass Herz. Der letzte gute Engel fürchtet sich, zu bleiben. Armut, Menschenelendsgrenzen — das seh' ich.

Ein Hundebazar. Pferdeschau. Die Riesenhalle schwillt von Reichtum, Pracht, Verschwendung, Lichtern, Farben, Musikrauschen, Modekram, Perlen und Juwelen. Spitze, Pudel, Bullenbeißer, Dachse, Läufer, Affenpinscher, vollgefreßne Möpse, vom großen Bernhardiner bis herab zum geilen Rattenfänger — und Pferde, mehr im Wert als tausend Arbeitswochen eines armen Tom — sie alle führen hier ein Schwelgerleben wie im Paradies. Und Herren von der reichsten Sorte und Ladys von der feinsten herzen und liebkosen hier das wohlgepflegte Vieh. Aber eine Träne nur aus so vielen, vielen Augen, einen Tränentropfen aus der ganzen Menschenwolke, dem grausenvollen Jammer armer Leute geweint — das seh' ich nicht.


Schwester!

Ich kann den Brief nicht so wegschicken. Beim Durchlesen des Geschriebenen schauderte mir über die Wildheit, in der ich phantasiere, wenn ich allein gelassen[S. 80] bin. Jetzt steht ein Schutzengel neben mir, mein teures Weib, und diktiert die Zeilen.

»Man muß hoffen,« sagt der Engel, »man muß Gott vertrauen! Der liebe Gott prüft die Menschen im Unglück, und das ist der Weg zum Himmel. Der liebe Gott ist unser Vater, wir sind seine Kinder. Alles hat Gott so eingerichtet, wie es ist, und wenn es die Menschen nicht sehen, Gottes Weisheit sieht es. Wenn es Reiche gibt und Arme, Satte und Hungrige, Traurige und Freudige, Gott weiß, warum es so ist und so sein muß. Einmal hat das Leid ein Ende und nachher kommt die Glückseligkeit. Vater unser, der du bist im Himmel.«

O süßer Glaube! der Lasten trägt auf steilster Bahn der Leiden.

So darf ich schließen, Schwester. Leb wohl!

Tom.


Brooklyn, den 22. Oktober 1900.

Meine Schwester!

Du hast mir nicht geantwortet auf mein letztes Schreiben — und das ist vollkommen recht von Dir. Solche Ungeheuer von Briefen können nur mit stillschweigender Verachtung erwidert werden. Das setzt der Wut den Dämpfer auf.

Ja, ja, je mehr ich darüber nachdenke, umso klarer wird es mir, daß ich mich ändern muß — total ändern. Nicht reformieren, sondern revolutionieren[S. 81] muß ich mich. Daß ich das begreife, ist ein Fundament wenigstens, auf das sich bauen läßt.

Dann, liebe Jennie, wird es nicht verlangt, daß Du mir ebensooft schreiben sollst wie ich Dir. Du hast Arbeit über Arbeit und wenig Zeit; ich hab' so viel Zeit, daß ich sie totschlagen muß, um einen Ausblick zu bekommen. Zudem kosten Dich Deine Briefe Porto und mich die meinen nichts.?. Das ist auch eine von den Miniaturausgaben göttlicher Vorsehung, die wir kurzsichtigen Weltbürger nicht begreifen, wenn es geschieht. Zu Ostern bekam ich neunzig Cent in Briefmarken von einem früheren Arbeitskollegen in St. Louis. Ich wetterte damals über die Gemeinheit, eine Schuld mit Postmarken abzugleichen, und über den Geiz, den Dollar nicht voll zu machen. Jetzt sind mir die Dinger der reinste Segen. So geht's.

Von meinem Prinzipal ist immer noch keine Nachricht eingetroffen. Er kann eben auch nichts finden. Beschäftigung finden für einen gesunden Menschen, ist heutigentags schier die Unmöglichkeit; für einen Krüppel aber — der Himmel helf!

Ich habe mir übrigens fest vorgenommen, zahm zu werden. Das Unglück soll sich austoben an mir, das Elend sich glatt reiben an mir, das Verderben alles Pulver verschießen. Ich lebe in der Hoffnung und werde soviel Geduld gebären — eine kleine Armee. Dann werde ich die Armee bewaffnen mit Mut und Standhaftigkeit und — selber angreifen. Jeden Tag schon mache ich Felddienstübungen nach Neuyork hinüber.[S. 82] Kommt das Unglück nicht auf den Gedanken, mich auszuhungern, dann schlag' ich jeden seiner Stürme ab. Vorige Woche gelang mir ein Ausfall und glaubte ich schon die Zernierungslinie gebrochen zu haben. Ich bekam eine Anstellung als Bücheragent. Was das ist: Bücheragent, weiß das lilienunschuldige Pilot Knob schwerlich.

Schwester, von Morgens bis Abends, vier Tage lang von Haus zu Haus, von Straße zu Straße, von Billy zu Jack quälte sich Dein Bruder ab, den Irving, Elliot, Holms, den Longfellow anzupreisen wie ein Krämer Käs und Kartoffeln. Ach, mit Schuhwichse hausieren am Kongo ist einträglicher als — — ich glaub', ich wär' verhungert, hätt' ich den Bücherhandel nicht aufgegeben am fünften Tag.

Dann hatt' ich für zehn Stunden eine Anstellung, wo das Verhungern ausgeschlossen blieb. Eine kuriose Anstellung, eine Erfindung der Großstadt und total unbekannt bei Euch im Hinterwald. Diese Anstellung besteht im Abtreten. Man tritt sie ab, sowie man sie antritt. Das Abtreten beginnt beim Eintreten. Das Austreten beim Abtritt. Es ist also halbwegs eine Abtrittanstellung. Pardon, Schwester! ich kann das Roß nicht zähmen und wenn ich's sieben Wochen lang mit Verzweiflung füttere — es schleift mich fort am Halfter.

In großen Städten wie Neuyork, St. Louis ist es gebräuchlich, lebende Anzeigen laufen zu lassen. Irgendwelchem Schlucker, der nichts zu schlucken hat, aber möchte, dem wird eine Tafel mit Anzeigen auf[S. 83] die Brust gebunden und eine ditto auf den Rücken. Der also Beladene muß das Straßenpflaster abtreten. Die Passanten können die Anzeigen auf seiner Oberfläche studieren, der Anzeigenträger kann oberflächlich die Passanten studieren. Beim Eintritt zum Antreten kriegt der Schlucker das Versprechen zu einer saftigen Belohnung, beim Abtritt erhält er sie, aber so dürr bemessen, daß man keinen Hund zweimal aus dem Stall lockt damit.

Ich spazierte auch einen Tag so auf und ab in der Bowery, vor einem billigen Speiselokal. Auf die Brust (eigentlich auf die Tafel vor der Brust) hatten sie mir ein schäumendes Bierglas gemalt. Ich konnt's beinah, mit ausgereckter Zunge sogar bequem betupfen. Unterm Bierglas stand, gerade außerhalb meines Magens, ein Teller mit Suppe, etlichen Kartoffeln und Brötchen. Hinten hatte ich Schinken, Würst' und Schweinefüß'.

Das war ein demütigender Tag für mich. Jeden Augenblick fürchtete ich erkannt zu werden von Vorübergehenden, und zog, um das zu verhindern, die greulichsten Grimassen. Gefressen werden mit samt der Speisekarte am oberen Nil und Aruwimi ist nicht halb so abschreckend wie dieses Spießrutenlaufen meines Ehrgefühls, für armselige Küchenabfälle als Bezahlung.

Eva war ernstlich böse, daß ich eine solche (beschämende, sagte sie) Stellung überhaupt nur denken konnte, und so verlor ich auch diesen Platz durch Hausarrest am folgenden Tag.

[S. 84]

Daß ich nächtelang von dem Abenteuer träumte, wirst Du begreiflich finden; Du kennst meine Empfindlichkeit. Jede Nacht (im Traum) trage ich die vermaledeiten Speisezettelbretter die Straßen entlang. Manchmal verwandeln sich die Bretter in alle nur denkbaren andern Dinge. Einmal waren es zwei riesige Heringe, dann zwei gerupfte Hühner, dann zwei lebende, jämmerlich schreiende Ferkel; sogar Türen, Fensterläden, Grabsteine. Letzte Nacht hatte ich die Pflicht, dem Moses seine Gesetzestafeln spazieren zu tragen; eine hing mir vorn, die andere hinten.

Es war höchste Zeit, daß Eva mich aus dem Platz vertrieb. Allerdings bekommt sie und Bertie keine Stullen und Würste, wenn ich Abends heimkehre; dafür aber werd' ich etliche Wochen später wahnsinnig — und das ist auch was wert.

Dann war noch eine Anstellung, die ich verlor, eh' ich sie hatte. Mein Weib erbettelte sie mir bei ihrem Seelsorger. Eine Hilfsmesnerstelle ist es, mit wenig Arbeit und noch weniger Bezahlung. Als der Pfaffe jedoch auskundschaftete, ich gehöre weder seiner noch sonst einer Kirche an, wurd's »bumm!« Ein Schafskopf bekam die Anstellung, und — 'raus mit dem Bock! —

So geht's halt und wird's gehen, weil's immer so gegangen ist. Amen!

Mittlerweile wiederkäue ich die Hoffnung, von der ich einen Vorrat besitze, daß er mir schier verfault. Gott, ist das ein Fressen für die unruhige[S. 85] Seele, so ohne Salz und Schmalz — — aber ich will nicht murren. Geduld, Tom, Geduld! Schwester, es kostet mich übermenschliche Zurückhaltung, nicht auf die Straße zu laufen und zu brüllen wie ein toller Stier — aber Tom ist nicht verrückt.

Eva hat neben der Wäsche künstliche Blumen übernommen. Ich bin ihr Laufbursche. Wir vertragen uns gut. Bertie ist im Hof und macht Kuchen von Dreck — wir werden nicht verhungern.

Tom.


Brooklyn, den 3. November 1900.

Teure Schwester!

Weißt Du auch schon, daß Arbeitslosigkeit der kürzeste Weg ist zur Hölle? Hat der Arbeitslose Charakter, Ehrgefühl, ein Herz für seine Familie, dann — brät er schon hier auf dieser Erde in der Pfanne. Hat er kein Herz und kein Ehrgefühl, dann wird er des Teufels so gewiß, als er hungrig wird beim Fasten.

Ich bin erst zwei Monate beschäftigungslos und wate schon bis über den Hutrand in Todsünden. Ich bin neidisch auf jeden, der arbeiten kann, und neidisch auf jeden, der zwei Hände hat und faulenzen kann. Es gab eine Zeit, wo ich niemanden beneidete, nicht einmal einen Beneidenswerten, und heute bin ich's gegen jeden Lump und Schuft. Der Lump hat keine Pflichten, keine Sorgen, kein Weib zu kleiden gegen Winterskälte, kein Kind zu füttern, ausreißen darf[S. 86] er vor dem Unglück bis nach Kalifornien und Kairo, ohne Heimweh fürchten zu brauchen oder nagendes Gewissen.

Dann könnte ich jetzt schon manches Mal, ohne mich sonderlich aufzuregen, einen Menschen totschlagen, nur weil er lacht und lustig ist oder kein Krüppel.

Heute saß ich auf der Vortreppe eines leeren Hauses und betrachtete meine übriggebliebene Hand. »Was kann ich mit dir jetzt anfangen?« frug ich das faule fünffingerige Glied. »Arbeit vertrauen sie dir keine an. Brot verdienen kannst du nicht. Weib und Kind vom Verderben retten kannst du auch nicht — — aber stehlen kannst du — stehlen — sogar schwören, einen falschen Eid schwören — einem reichen Protzen die Kehle abschneiden, wenn er schnarcht, und seine Taschen leeren — die ganze Stadt in Brand und Feuer setzen und zuschauen, wie andere auch verzweifeln.«

Siehst Du, Schwester, wie mich der Erzfeind gepackt hat. Das kommt vom Müßiggang. Der Teufel hol die Arbeitslosigkeit.

Tom.


Brooklyn, den 12. November 1900.

Teure Schwester!

Es ist doch ein gnädigeres Geschick, nur eine Hand zu haben, als nur einen Fuß. Wenn mich die Leute fragen: »Wie geht's, Mister Pratt?« so kann ich aufrichtig antworten: »Gut.«

[S. 87]

Das wäre gelogen, hätt' ich nur einen Fuß. Dann müßten sie mich schon fragen: »Wie steht's, Mister Pratt?«

Aber vorsichtig sind die Menschen, wenn sie einem Unglücklichen begegnen; dass hab' ich längst gemerkt. Sie hüten ihre Interessen mit einer Sicherheit, einer Schlauheit, mit einer so raffinierten Berechnung, die dem Kronenträger der Schöpfung Ehre machen könnte — wär's nicht purer Instinkt. Sie fragen nie: »Was machen Sie, Mister Pratt?« Sie wissen wohl, daß ich nichts mache, nichts machen kann mit einer abgesägten Hand; und ein Krüppel, der nichts macht, verdient nichts; und verdient er nichts, dann — nun ja, dann hört alles auf!

Ein Mensch, der Gefahr läuft, von innen heraus aufgefressen zu werden, ist im stande und verwildert zum Bettler. Der Bettler aber ist das Greulichste, was den Leuten den Weg vertreten kann. Mit nichts können diese gottesfürchtigen, frommen Christenkinder so in Verlegenheit gebracht werden als mit Anbetteln. Ich zweifle sehr, ob sie den Straßenräuber mehr verwünschen als den Bettler. Ist der Bettler ein Fremder, dann geht's noch. Der leiseste Ruck am Sehnerv genügt und der volle Hutladen rechts ist merkwürdiger als der leere Hut des Krüppels links. Ist der Bettler sehr herabgekommen, abgestanden, abgenutzt, verwittert, fadenscheinig, vom Schicksal durch die Walze gezogen, vom Unglück durch den Rinnstein — dann macht die christliche Barmherzigkeit vor solchem Jammer den Purzelbaum und stellt[S. 88] sich auf den Kopf. Aus dieser Lage betrachtet sieht dann selbstverständlich die Geschichte anders aus, als sie in Wirklichkeit ist. Der arme Lazarus sieht aus wie ein Lump. Die Ursache seiner Armut sieht aus wie leichtsinniges Selbstverschulden. Seine vor Erschöpfung unsichere Gangart — das kommt vom Saufen! — Ist der Bettler jedoch ein Bekannter, ein Freund, ein Blutsverwandter gar, dann — ja, hier beginnt der Eiertanz, der zwischen Geiz und Gewissen getanzt wird vom Witz des Menschen. Schau ihn an, den Jammermann, wenn er angebettelt wird, wie er schrumpft, schwitzt, errötet, stöhnt, knurrt, klagt, wimmert — lügt. Wie er herumschielt nach Erlösung von dem Bettler — nach einem Wagen, dem er ausweichen muß — nach einem Regentropfen, dem er entfliehen muß — nach einem irgend Etwas — nach einem scheuen Gaul — tollen Hund. Wie er (um alles zu bekräftigen, was er lügt) mit der Hand die Herzgegend reibt — als hätt' er eins — — —. Mephisto! Wenn bei dieser Heuchelei, Verlogenheit, Unverschämtheit, Grausamkeit der Teufel nicht lachen muß, daß ihm der Ziegenbart wackelt wie ein Staubwedel, dann hat der Alte keinen Sinn mehr fürs Detailgeschäft. Fertig!

Ich kann dieses Kapitel nicht ausschreiben — mir ekelt.

Tom.

[S. 89]


Brooklyn, den 15. November 1900.

Liebe, gute Schwester!

Ich habe schwer gesündigt in meinem Urteil über die Menschen im letzten Brief — und werde abbitten.

Heute saß ich im Navy Park auf einer Bank und betrachtete meine Schuhe. Ein vorübergehendes altes Mütterchen drückte mir zehn Cent in die Hand. Ich kaufte dafür einen Apfel fürs Kind, eine Orange für die Mutter und einen Laib Brot für uns drei.

Danke, danke, edle Geberin! Wer du auch seiest — Gott wird dich finden und belohnen. Du hast die Hungrigen gespeiset.

Es gibt doch noch gute Menschen.

Tom.


Brooklyn, den 20. November 1900.

Liebe Schwester!

Unfreiwillige Arbeitslosigkeit ist eine Schule, in der mehr gelernt und gelehrt wird als sämtliche Professoren der Welt zusammenstudieren.

Ich bin sicher, daß Newton hundert Gesetzfälle entdeckt hätte anstatt des einen Fallgesetzes, würd' er diese Musterschule besucht haben. Darwin hätte nicht den Unsinn geplaudert: der Mensch sei die veredelte Abstammung von der Bestie, sondern umgekehrt, wie's richtig ist. Galilei hätte den Zusatzt beschworen: »Sie bewegt sich doch — aber rückwärts.« Dem unerschöpflichen Shakespeare wäre der Spiritus[S. 90] vertrocknet, hätt' er, statt seines Shylock, als Arbeitsloser den Mordskerl »Kapital« studiert. Der Dulder von Gethsemane hätt' zu fühlen bekommen, daß Menschenerlösung das allerundankbarste Geschäft unterm Himmel ist. Archimedes könnte rechnen lernen, wie man eine zehnköpfige Familie ernährt mit neun Dollar Wochenlohn — oder gar keinem Lohn. Diogenes könnte Bekanntschaft machen mit dem Mietzinszahlen für seine Tonne. Mit der Laterne braucht' er den Mietsherrn nicht zu suchen, wenn der Monat fällig ist.

Es bleibt Tatsache: die Welt wird immer besser und schöner! Ein Arbeitsloser, mit der Hungerpeitsche durch die meilenlange Schulbank (Straße) gepeitscht, bis er das »Einmalkeins« und das »Ach—O—Weh« so im Schädel hat, daß er's schreit im Schlaf — der weiß, wie schön die Welt ist und wie sie herrlicher und besser wird von Tag zu Tag!

Häuser bauen sie wie Zauberschlösser aus »Tausend und eine Nacht«. Und der Arbeitslose hat das unantastbare Privilegium, daran vorbeizuspazieren, im Regen, Schneegestöber, Sonnenbrand, und Betrachtungen anzustellen über das Wohlbehagen der Insassen. Musentempel bauen sie, Sommergärten, Feengärten, Paläste — daß sich die Engel schämen beim Abstauben der himmlischen Möbel, über des Herrgotts altmodischen Krempel. Der Arbeitslose hat das unantastbare Recht, daran vorbeizuspazieren im Regen, Schneegestöber und Sonnenbrand ...

Im Park stehen Bänke unter schattigen Bäumen;[S. 91] der Arbeitslose darf sitzen dort, ausruhen, abkühlen, Luft ein- und ausatmen, herumschauen, auf und ab. Ist er durstig — dort steht ein Wassertrog für ihn, ein Blechkessel hängt am Kettchen; Wasser trinken darf er, bis sein Magen plantscht wie ein halbgefülltes Trinkhorn. Ist er hungrig — zahllose Schaufenster stehen ihm zur Verfügung mit gekochten und ungekochten Leckerbissen; die darf er angaffen mit allen Gefühlen, vom Ekel an die Leiter hinauf zum Verlangen, Sehnen, Schmachten, Gier, Heißhunger, Wolfshunger, bis ihm das Kinn tröpfelt wie ein kleiner Niagara.

Braucht der Arbeitslose Abwechslung, Unterhaltung, Zerstreuung — am Rennweg fahren die Protzen, die Reichen spazieren für ihn den ganzen Tag. Der Arbeitslose darf — stehen darf er nicht dort — sitzen auch nicht lang' — aber scheu durch die Hecken blicken und sehen: wie's geht, wenn's fährt. Sehen, was die Herren für reinliche Wäsche tragen mit Manschetten und Stehkragen; Krawatten mit Diamantennadeln; Handschuhe vom rarsten Ziegenleder; Stiefelchen wie geleckt; Höschen, Rock und Weste gebügelt, gemodelt von Schneiders kundiger Hand. Die Damen wie sie blühen, wenn sie glühen; wie sie schmachten, wenn sie trachten; wie sie faul sind vom Nichtstun; wie sie müde werden vom Faulenzen; wie sie verwöhnt werden von höfischer, kriechender, dienerischer Umgebung. Wind und Wetter werden ausgewählt, die Sonnenstrahlen gezählt, Wolken gewogen, eh' Fräuleins Haut oder Madames Hut das Wagnis[S. 92] wagt, spazierenzufahren in Gottes herrlicher Natur. Pfeilschnell fliegen die Renner durch die schattigen Alleen. Kühl fächelt der Wind die wohlgepflegten Gesichter; ist es kalt, die kostbarsten Pelze hüllen die Glieder ein wie warme Betten.

Und um und um drehen sich die Räder.

Oooo! Wie viele tausend halbgefütterte Mädchen und Mütter, Söhne und Väter der Armen müssen sich todmüde rackern, diesen Prassern ihren Tisch zu decken, ihre Häuser zu bauen, ihre Zimmer zu dekorieren, ihre Kleider zu weben, Unterhaltung zu schaffen, allen Launen einer verwöhnten, überfaulen, egoistischen Gesellschaft Leckerbissen zu streuen — bis Erbrechen folgt?

Bei solchen Studien kann es vorkommen, daß der Arbeitslose wahnsinnig wird, heimrennt und Bomben gießt. Der Unglückliche bildet sich dann ein, die runden Dinger seien Brotlaibe. Und wenn er sie abbrennt und knallen hört, denkt er, das sei der vierte Juli, der Tag der Unabhängigkeitserklärung. — Aber die Gesellschaft kann sich schützen gegen solche Narren. Der Anarchist wird per Strick am Hals zum Teufel geführt — der gibt ihm doch wenigstens gebratenes Fleisch zu riechen.

Ja, ja, es ist eine majestätische Weltordnung! Man möchte »Viktoria« schreien — oder besser noch hinaufsteigen irgendwo, auf den Chimborasso, und herunterpfeifen auf das ganze Eldorado.

Tom.

[S. 93]


Brooklyn, den 25. November 1900.

Schwester!

Letzte Nacht war ich lang und innig im Gespräch mit Gott. Wir hatten uns viel zu erzählen. Ich erzählte ihm vom Leben und Leiden in der Werkstatt; wie es staubt und stinkt in der Fabrik; wie man hustet, keucht, schwitzt, schwindsüchtig wird, und wenig verdient, und Weib und Kind schier nicht mitschleppen kann auf steiler Bahn.

Er erzählte mir vom Geisterreich, vom Schöpfungsplan, von Welten, die er machen wird und machte, von den Lichtern, die wir sehen jede Nacht, bis ganz hinten, tief, wo Sonnen frieren und die Allmacht Grenzen wünscht und keine findet.

Ich klagte über meine Not.

Über die Menschen er.

Ich betete ihn an.

Er hauchte mich an.

Wir gelobten uns ewige Treue.

So still das Wiesental, der Fluß. So halbdunkel, gespenstisch die Hügelwand mit Waldesschatten. So klar die Sternenwelt dort oben — wie nur das müde, schlafende Pilot Knob in warmer Sommernacht es geben kann.

Was der Nachtwind den lauschenden Fichten klagt; die Riesen nicken: »ja« — die Riesen schütteln: »nein«.

Was der Nachtwind abgehorcht dem Grollen der Donner, dem Rauschen der See, dem Krachen der Gletscher, dem Dünensand, dem Wüstensand, dem[S. 94] Hüttenraum der Armen, dem Prunkgemach der Reichen. Was der Nachtwind den Bergen erzählt: die Felsen überziehen sich mit Immergrün und Blütenstaub; die Felsen überziehen sich mit Eis — und weinen Wasserfälle.

Was der Wiesenbach den Blumen erzählt, was er sah und fühlte auf der Reise von der Quelle abwärts durch das Tal zum Meer — und auf Wolken wieder aufwärts bis zur Quelle — hin und her. Die Blumen hauchen ihre Seelen aus vor Lust und Sehnen — die Blumen weinen Tau — die Blumen sinken sterbend auf das Wasser, treiben mit der Flut zum Meer — und nimmer wieder.

Zwischen Nichts und erstem Werden. Durch jene Ewigkeit der Nacht, als Gottes Seele schlief und träumte noch, von Zukunft, Welt und mir — — mit einer Sehnsucht, Funken zu schlagen aus dem Nichts — mit einer Liebe, die Welt zu schwellen mit Wollust — mit Sonnen — Sonnen — — Sonnen — — —

Plumps! Ausgerutscht! Da liegt der Tom.

Nein, Schwesterchen! mit diesem Absprung komm' ich nicht an die Himmelstür, viel weniger hinein, zum Herrn der Heerscharen. Es geht nicht und geht nicht mehr. Ich hab's versucht. Oben kannst Du's, schwarz auf weiß, bemitleiden, wie ich mich anstrengte, mich ins Geschirr legte, einen Schwung machte ums Zentrum herum, daß die Zentrifugalkraft die Anziehungskraft förmlich sitzen ließ wie ein tanzwütiger Schwerenöter die alte Jungfer.

[S. 95]

Ich bin nicht mehr Tom, der Dichter im Schurzfell. Tom, der mit den Seraphs Harfen spielte — mit den Cherubs Abendspaziergänge machte über blutgesäumte Wolken. Tom, der, wenn er nur wollte, dem lieben Gott auf die Schulter klopfen durfte und plaudern mit ihm wie ein Kind.

Ach! Ach! Dahin! Dahin! — —

Letzte Nacht war ich lang und innig im Gespräch mit Gott. Der Tag vorher war bis zum Abend — ein Waschtag. Eva legte sich, müde von der Arbeit, früh zu Bett. Bertie auch. Ich setzte mich ans offene Fenster in der Küche und betrachtete die Nacht. Sie war schwer und herbstlich; ich war still und traurig.

Seltsam — ich starrte eine Weile auf die Sternengruppe der Andromeda und — erschrak über die merkwürdige Veränderung der Lichter. Die wohlbekannte Milchstraße schien mir plötzlich eine weiße, endlose Wand, Mauer — eine Gartenmauer. Sie kam mir näher, oder ich ihr. Mit einem Mal dachte ich's und da war es so: die endlose weiße Wand war die Mauer um das Paradies. Ich hörte Singen, Lachen, Harfenspielen über der Mauer drüben. Ich sah fruchtbeladene Palmen, gewiegt von blumenduftenden Winden. Ich roch Weihrauchwolken, die aufstiegen wie Feuerwerke. Ich war tatsächlich dem Himmel so nah, daß mir nur das Loch in der Mauer fehlte zum Seligwerden. Ich trottete auf gut Glück entlang und sucht's.

Die Umgebung des Paradieses ist auch ein Paradies (mit eines Wunsches Unterschied); Blumen[S. 96] und Fruchtbäume und wundervoll grünes Gras bedecken den von magischem Licht verklärten Boden; aber alles Bewegliche neigt sich verlangend nach der Mauer hin — ein Zug, der auch mich erfaßte. Ich wußte keine Ruhe hier außen, auch in diesem idealen Zauberpark nicht, den ich doch, wie ich merkte, ungeteilt bewohnen durfte. Qual und Sehnsucht verzehrten mich.

Da — gewahrte ich eine Öffnung an der hellen, glatten Wand, und o Himmel! es war das Pförtchen — der tausendfach gelobte, geschilderte, besungene Eingang in das Paradies.

Als ich, durch Blumen watend, näherkam, bemerkte ich einen weißgekleideten, weißhaarigen Greis. Er saß auf einer rohgezimmerten Holzbank neben dem Pförtchen und schien zu schlafen. Das war unzweifelhaft der heilige Petrus. Er trug ein ziemlich reines, grobgewirktes, ungeheuer weites, weißes Nachthemd mit Matrosenkragen. Der Heiligenschein schwebte in Gestalt eines rotglühenden Kübelreifs über seinem Haupt. Die Himmelsschlüssel lagen nebenan auf der Holzbank, und ebenso ein Körbchen mit einer im Winde flatternden, blutroten Atlasschleife am Korbhenkel. Säuberlich hineingebettet ruhten im Körbchen zwei riesige Pflaumen, zwei Butterstullen, ein gesalzener Rettich und ein verblüffend demokratisches Bierkrügerl. Im Gras, nicht weit von der Bank, bemerkte ich ein goldenes, niedlich kleines Pantöffelchen, die Sohle nach oben. Das ließ erraten, daß die Engelein dem alten Mann sein Vesperbrot heraustrugen[S. 97] und sich dann im Gras herumjagten, wie's ja die Kinder lieben überall.

Um des Heiligen Aufmerksamkeit zu wecken, begann ich halblaut zu husten. Die Wirkung war — entsetzlich. Der heilige Mann schnellte wie von Skorpionen gebissen senkrecht in die Luft und starrte mich an mit verglasten Augen. Ebenso schnell jedoch kam er wieder ins Gleichgewicht und setzte sich. Er zuckte zwei-, dreimal mit der Schulter, schüttelte den Kopf, und legte dann sein linkes Bein, vom Knie an abwärts, wagerecht übers rechte. Und — jetzt erst ging mir ein Licht auf über das, was ich vorher an der zusammengekauerten Gestalt für ein Nachmittagschläfchen hielt: der Heilige beschnitt sich die Zehennägel mit einem Federmesser.

»Bist du sehr in Eile?« frug er mich, halb mürrisch, halb gleichgültig, und seine Beschäftigung wieder aufnehmend.

»Nicht sehr, heiliger Petrus,« gab ich zur Antwort.

»Dann laß mich diese drei Nägel noch abschneiden.«

»Hundert, wenn's Euch beliebt!« — Ich war so verwirrt, daß ich ganz vergaß, daß der Menschenkörper nur zwanzig solcher Dinger besitzt.

»Wo kommst du her?« frug mich der Apostel wieder nach einer Pause, aber bedeutend leutseliger dieses Mal.

»Von der Erde unten,« erwiderte ich.

»Das kann ich riechen, haha! — Von welchem Land oder Königreich, will ich wissen.«

[S. 98]

»Von keinem Königreich, von einer Republik komme ich.«

»Von Transvaal?«

»Von Amerika.«

»Von Amerika?!« — Der Alte schüttelte den Kopf und seufzte. »Und woher in Amerika, wenn ich fragen darf?«

»Von Neuyork.«

»Neuyork? Neuyork? Hm — wo liegt das Ding?«

»Bei Long Island,« gab ich zurück, immer noch gepreßt.

»Long Island! Ah, jetzt erinnere ich mich. Neuyork — Long Island — das ist eine schlimme Weltgegend. In zehn Jahren bist du erst der zweite, der hier vorspricht.«

»Und wer ist der andere?« frug ich naseweis.

»Ingersoll.«

Ich schrie förmlich auf: »Ingersoll! Robert Ingersoll, der Ketzer?!«

»Und?« — Sankt Peter schaute von feiner Arbeit auf und mir ins Gesicht. »Und?«

»Ingersoll, der Atheist!«

»Und?«

»Der Gottesleugner!«

»Und?«

»Der Religionsspötter, Seelenvergifter, Teufelsagent, der ein Menschenleben lang die Bibel zerfetzte wie alte Zeitungen!«

»Und?«

[S. 99]

»Und?! — Den habt ihr in den Himmel 'reingelassen?«

»Wenn ich so genau wollt' richten,« erwiderte der Heilige trocken, »dann könnt' ich überhaupt die Bude schließen und die Schlüssel wegwerfen. Im Buch steht nichts, daß er Menschen geschunden hat und meinen Herrn und Meister verkauft; und ich halte mich ans Buch — nur ans Buch.«

Ich mußte lachen. »Wieso kann er den Herrgott verkaufen, wenn er gar nicht an den Herrgott glaubt?«

»Ach was, glaubt, glaubt, glauben. Was gibt der Ewige für euern Glauben — er pfeift euch auf euern Glauben. Gute Werke will er sehen; Brüderlichkeit, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit.«

Hier interessierte sich der Apostel mit einem Mal so für seine unterbrochene Beschäftigung, daß ihm das welterschütternde Thema Null war gegenüber dem Nagel am Zehen. Es war der große Zehennagel. Der Nagel war, wie man zu sagen pflegt, ein eingewachsener Nagel. Ein solcher Nagel verlangt ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit, Geduld und Kunst. Man muß mit Leib und Seele bei der Sache sein. Man darf da weder Übereilung noch Ängstlichkeit zeigen, noch an etwas anderes denken darf man.

Jetzt war es sterbensstill ringsum. Fernweg hörte man das Harfenspielen der Engel, aber kaum so laut wie das Summen der Glocken, wenn der Küster längst den Strang verlassen.

Und da saß er nun vor mir — und wie?

[S. 100]

Das also ist der heilige Petrus, der Schiffer und Fischer, der die Segel reffte auf dem Galiläischen Meer vor neunzehnhundert Jahren. Das ist der biedere, grade, natürliche Arbeiter, den der Heiland auf den ersten Blick so lieb und sympathisch fand, daß er ihn zu seinem Stellvertreter erwählte. Das ist der Charakterkopf, der die Wucht und Größe einer welterlösenden Religion erfaßte. Das sind die schwieligen Hände, die Netz und Ruder zogen — und dann durchnagelt wurden am Kreuz. Das sind die Füße, die Palästina durchwanderten vom himmelblauen See Genezareth bis zum Toten Meer, vom Berg Tabor bis zum Ölberg, von der heiligen Stadt Jerusalem bis zur ewigen Stadt Rom — und dort durchnagelt wurden am Kreuz.

Unsägliches Mitleid mit dem Märtyrer ergriff meine Seele. Unwiderstehlich zog es mich drei Schritte näher. Aus Mitleid, und mehr noch um den Mann wieder reden zu hören, frug ich: »Wie geht's Geschäft, heiliger Petrus?«

Er wies mit der messerhaltenden Rechten nach der Himmelspforte, gleichsam den Staub und die Spinnenweben dort auffordernd, mir die Antwort zu geben.

»Da sieht nicht aus wie überlaufen,« erwiderte ich.

»Das sieht aus, als ginge die ganze Welt zum Teufel!« schrie Sankt Peter plötzlich, und so rasch sein Temperament verschiebend, daß er mit dem letzten Wort im Satz zu spät kam und es wegließ bis aufs »T«. Kirschrot vor Aufregung wurde er im Gesicht,[S. 101] seine Augen schossen Blitze; seine Skalpierkunst am Zehen wurde abgebrochen; das Federmesser schnappte zu und verschwand im Faltenhemd. »Wär' ich der Allmächtige, ich pumpte alles Wasser des Universums auf die Menschenbrut hinunter, daß sie schwimmen müßten bis an den Mond, um Land zu finden. Sind dass Menschen? Ebenbilder Gottes? Christen, erkauft mit dem Blut? — Und wenn der Teufel tausend Jahre lang an einem einzigen Halunken seine ganze Wissenschaft verschwendet, er kriegt keinen Schuft zu stande, wie ihn die Gesellschaft produziert im Handumdrehen, ohne Müh' und Kraftverlust! — — Ach was —«

Hier kühlte sich des Heiligen Zorn und wie resignierend setzte er hinzu: »Es ist eben ein Fehlschlag. Die ganze Schöpfung ist ein Fehlschlag. Es ist wahr, jeder kann hin und wieder mal sein Pech haben mit der Arbeit, aber so den Stoff verpfuschen, das ist zum Weinen. Man hätt' was Herrliches draus machen können mit Überlegung und Zeit; aber so in der Eile sein und in sechs Tagen die Welt machen wollen, wozu man von Rechts wegen die Ewigkeit nehmen sollt'. Jetzt ist's geschehen — und alles Dranrumflicken und Pflastern macht's nicht vollkommen.«

Er reckte sich gähnend, nahm den Rettich aus dem Körbchen, betrachtete ihn eine Weile und legte ihn wieder zurück. Dann machte er ein paar Schritte von der Bank weg, wo das goldene Pantöffelchen im Grase lag, und warf es im Bogen über die[S. 102] Mauer. »Die Rangen, ihre Flügel werden sie sich noch abreißen nächstens.«

»Das ist allerdings traurig, lieber, heiliger Mann,»stöhnte ich, wie betäubt von dem Gehörten und Gesehenen.

»Zum Verzweifeln ist es!« erwiderte der Apostel und setzte sich abermals. »Mein Herr und Meister sagt es selber, daß es zum Verzweifeln ist. Erst vorige Woche war er hier außen bei mir auf ein Stündchen; dort saß er, wo das Krügerl steht, und hier saß ich. ›Peter,‹ sagte der Herr zu mir, und er war sehr traurig. Er ist immer traurig, aber den Abend war er auffallend traurig. ›Peter, jetzt feiern sie da unten das neue Jahrhundert; hörst du den Spektakel? Ein solcher Lärm war nicht, seit der Michel den Himmel säuberte von den Aristokraten. Auf drei Plätzen haben sie Krieg, auf zehn haben sie Massakres, auf hundert Schlachthäuser im Betrieb für ihre Brüder. Mord, Meineid, Lüge, Raub, Betrug, Trunksucht, Faulheit, Neid, Geiz, Hochmut, Heuchelei, Schändung — das Menschengeschlecht badet sich in Todsünden wie ein krätzig Tier im Morast. Den Reichen verfault ihr göttlich Teil im Prassen und Schwelgen, den Armen versiecht die Seele in Jammer und Verzweiflung; und keine Sonne am Himmel und kein Gott im Himmel ist den Menschen so warm und heilig wie Geld und Geld. Der alte Mann im Vatikan, mit seiner dreimaligen Krone, hat nicht die blasse Idee von dem Kommunismus, für den wir uns kreuzigen ließen. Mit seiner Politik,[S. 103] Peter, wär' ich Hohepriester geworden, du und Paulus römische Senatoren; und Judas — ah, der Schelm hat mich doch wenigstens nicht blamiert und hat seinen Preis verlangt; die Kuttenmänner aber verkaufen mich für zehn Cent, und nicht einer hängt sich auf vor Scham und Reue — nicht einer. Peter, ich zähle auf dein Prinzip, laß mir ja keinen durchschlüpfen, der nach Geld und Banknoten riecht!‹«

Der Alte erhob sich. »So, jetzt wollen wir zur Examination schreiten. Hoffentlich bestehst du sie. Es ist viel Platz im Himmel und (hier schnalzte der Heilige mit der Zunge und blinzelte schelmisch) verd...t gemütlich, seit das Radfahren aus dem Sündenregister gestrichen wurde.«

Ein Fieberfrost überlief mich bei dem Wort »Examen«, und kaum weiß ich, in welcher Tonart ich stotterte: »Lieber, heiliger Herr! Wollt Ihr das Essen kalt werden lassen meinetwegen und das Bier sauer? Ich bin rein gar nicht in der Eile, lieber, heiliger Herr.«

»Erst das Geschäft, dann das Vergnügen. Dass Bier kann 's Stehen vertragen, 's ist Anhäusers.«

Sankt Peter lachte und das ermutigte mich einigermaßen. Dann schloß er das Pförtchen auf und schritt hindurch. Ich blieb außen. Bald darauf öffnete er ein Schiebefenster neben dem Pförtchen. Ich verfolgte jede seiner Bewegungen. Er hob ein schweres, ledergebundenes, vergriffenes Buch aufs Gesimse. Ich verwandte kein Auge von ihm. Er setzte eine Brille mit Hornbeschlag auf die Nase, und das gab ihm[S. 104] ein zwischen Komik und Ehrwürdigkeit balancierendes Aussehen. Die Brille war alt und trug die Geschäftsmarke: »Levi u. Söhne, Esaustraße, Kapharnaum.« — Jetzt frug er mich nach Tauf- und Zunamen.

Ich antwortete: »Tom Pratt.«

Er blätterte im Register. »Tom Platt.«

»Um Himmels willen!« schrie ich, »Tom Pratt! — nicht Platt.«

»Tom Pratt — Pratt — Tom Pratt —«

Mit Todesangst hafteten meine Augen an des Alten Gesicht. Das geringste Stirnrunzeln bedeutet ewige Verdammnis. Das geringste Lächeln auf seinen Lippen heißt ewige Seligkeit.

Plötzlich verzerrten sich seine Züge wie die fluchende Fratze eines Ketzerrichters. Hochrot, blau, violett wurde die Hautfarbe seines Gesichts; Beulen, Klumpen schwollen heraus, förmliche Würste; Krampfknoten wie Trauben und kalifornische Zwetschgen. »Schwindler!« schrie er, »eine solche Unverschämtheit ist mir noch nicht begegnet seit der Himmelfahrt! Du lebst ja, du bist ja noch gar nicht tot! Den Himmel willst du haben bei Lebzeiten?« — Er griff nach dem dreipfündigen Schlüssel und — mir flog etwas an den Schädel, daß mir Sterne, Planeten und Saturnusringe vor den Augen flammten.

— — Ich wachte auf. Neben dem Küchenfenster sitzend war ich eingeschlafen, und im Schlaf fiel mir der Kopf aufs Fensterbrett — schwer wie Blei.

Tom.

[S. 105]


Brooklyn, den 1. Dezember 1900.

Teure Schwester!

Es gibt Augenblicke im Menschenleben, die nur verglichen werden können mit dem Reißen einer Wolke nach langer, trüber Regenzeit, wenn plötzlich augenblendend die Sonne leuchtet in die Finsternis. So, gleichsam durch Tränen lachend, war die gottgeschickte Stunde, die ich und meine Eva gestern morgen erleben durften.

Es war ein Regentag. Ich stand wie gewöhnlich auf, und weil es regnete und stark regnete, blieb ich im Haus.

Um acht Uhr pfiff der Briefträger nach »Tom Pratt«.

»Eva, ein Brief von Pilot Knob!« rief ich und rannte hinunter, ihn abzuholen. Es war kein Brief von »Jennie Dear« — sondern ein Schreiben war's von meinem ehemaligen Prinzipal in Neuyork. Keine Sekunde vermochte ich zu warten auf den Inhalt und riß den Umschlag in Fetzen — überflog die Zeilen. »Arbeit!« schrie ich, »Arbeit! ich habe Arbeit!« Und so laut schrie ich und so hastig lief ich die Treppen hinauf, daß ich in der Küche war, eh' mein Weib, durch mein Lärmen erschreckt, die Tür erreichte.

»Eva! Arbeit! Platz! Ich hab' eine Anstellung! Tom hat eine Anstellung — zwölf Dollar die Woche — — lies doch — hier sieht's schwarz auf weiß:

»Werter Herr Pratt!

Ich habe Ihnen nach langem Bemühen eine passende Stelle gefunden, die Sie jedoch sofort antreten[S. 106] müssen. Gehen Sie nach 700 Mercer Street. Mister Rouß ist unterrichtet von mir und wird Sie anstellen als Nachtwächter in seinem Lagerhaus. Gehalt zwölf Dollar. Zu arbeiten brauchen Sie nicht, aber ehrlich, nüchtern, wachsam, zuverlässig in jeder Art müssen Sie sein — und das sind Sie —«

Weiter kam ich nicht im Lesen. Mein Weib fiel mir laut weinend um den Hals; ich fiel ihr um den Hals; und dann fielen wir beide zusammen auf das Sofa. Dann erschien Bertie, aufgeweckt von dem Spektakel, im Nachthemdchen, und das Freudenschreien mißverstehend heulte er ebenfalls, und am allerlautesten, und vermehrte den Menschenhaufen mit seiner Persönlichkeit.

Es war jetzt ein so wirrer Knäuel auf dem Sofa, ein Schluchzen, Küssen, Lachen, Sprechenwollen, daß Minuten vergingen, eh' wir Alten vernünftig wurden und das Kind beschwichtigten. Das war höchste Zeit, wollten wir nicht die Nachbarschaft alarmieren oder gar die Feuerwehr.

Dann zog Papa seine Sonntagskleider an, Schuhe, weißes Hemd — derweil Mama das Kind küßte unter immerwährendem Schluchzen und Lachen, daß Bertie erstickt wär', hätt' ich Eva nicht weggerufen, mir die Halsbinde zu knüpfen.

Unter strömendem Regen trat ich meinen Weg an nach Neuyork. Eine Stunde später trat ich ins Kanzleizimmer des Mister Rouß.

Es war Tatsache: ich soll den Platz sofort antreten — das heißt, sofort nach sechs Uhr Abends.[S. 107] Das ist die Zeit, wo das Geschäft geschlossen und der Nachtwächter (das heißt: ich) eingeschlossen wird. Buchstäblich eingesperrt. Stündlich hat er das Gebäude abzupatrouillieren. Diebe, Feuer und Ratten sind die Hauptfeinde, auf die er seine Findigkeit konzentrieren soll.

Also den Nachtwächterposten hab' ich; »aber« — —

Noch nie in meinem Leben wurde ich von vier Buchstaben so überrumpelt wie von diesem »Aber«.

»Aber,« sagte Mister Rouß, »sollte Pat (Pat ist mein Vorgänger im Amt) — sollte Pat gesund werden, was wir alle sehnlichst hoffen, muß ich selbstverständlich als Geschäftsmann und Mensch ihm seinen Platz zurückgeben. Er ist Familienvater von elf Kindern und zudem ein alter, treuer Diener der Firma. Stirbt er, dann allerdings haben Sie die Stelle permanent. Kommen Sie heute abend um sechs zum Dienst. Instruktionen erhalten Sie jetzt sofort vom Aufseher.«

Der Herr winkte mir, zu gehen, und Tom zog die Kanzleitür ins Schloß, von außen. Vom Aufseher erfuhr ich ohne Zugpflaster (denn er ist ein solcher Schwätzer, daß er 's Maul nicht hält im Barbierstuhl und sich durch sein ewiges Schwätzen eine Papageienphysiognomie erworben hat, die nur stellenweise von blauer Brille und Zigarrenstummel verdeckt wird), daß Pat vierzehn Jahre lang Nachtwächterdienste tut fürs Haus, daß er vom Gliederreißen viel geplagt wird, daß seine Frau viel doktert und — trinkt, daß seine Kinder alle klein sind, daß[S. 108] er seit drei Wochen schwer krank an Erkältung das Bett hütet, daß seither abwechslungsweise Angestellte der Firma Nachtwächterdienste versahen für den kranken Pat. »Wohl denn,« sagte der Schwätzer zum Schluß, »verlieren wir den Pat, bekommen wir also einen Pratt. Hoffentlich ist der Unterschied zwischen Ihnen und ihm so klein wie im Namen, denn Pat ist ein sehr zuverlässiger Mann, ein sehr ehrlicher, zuverlässiger Mann. Adieu!«

Für meine Handlungen nach dieser aufregenden Stunde bin ich nicht verantwortlich. Die helle Freude, dann das trübe »Aber«, dann die vielen Zwerge, die an diesen zwei schwarz-weißen Riesen herumkrabbelten, erfüllten meine ohnehin nervöse Phantasie so mit beängstigenden Bildern, daß ich wie von Gespenstern gehetzt Hilfe suchte, irgendwo. Eine Kirche stand offen. Dort taumelte ich hinein, sank auf die Kniee, und so heiß, wie nur gebetet werden kann, betete ich dem Vater der Armen ein Dankgebet für die Erlösung aus der Hölle der Arbeitslosigkeit.

Daß ich meine Augen schloß; daß ich naß, kalt, müde und hungrig war und mein fieberndes Gehirn Bilder sah; mein Weib und Kind neben mir knieen sah, dann noch mehr arme, zerlumpte Menschen sah, die beteten und die Kirche füllten, daß ich dann plötzlich einen Mann aus der Menge die Hände aufheben sah und laut zu Gott schreien hörte um Brot für seine elf Kinder; daß ich unwillkürlich an Pat dachte, mein Traum aus, mein Gebet aus, meine Ruhe aus, alles, alles aus war — die ganze Himmelsharmonie[S. 109] von vorhin ausgellte in so schrille, wilde, nervenzerreißende Mißakkorde, wie das Chaos der heutigen Weltordnung — —

O Jennie! Ich kann nicht beten noch danken, ohne Gott zu lästern. Sünde wird mein Flehen, Fluch mein Danken, Brudermord mein Dasein. Was ich erbettle — ist meinem Bruder genommen. Was ich genieße, ist meinem Bruder geraubt. Meinen Bruder zerre ich unter Wasser, wenn ich schwimmen will. Meinen Bruder muß ich bestehlen, überlisten, würgen, totwürgen — so will es die Ordnung hier auf Erden.

Und ich bin für Ordnung.

Tom.


Pilot Knob, den 1. Dezember 1900.

Mein Bruder!

Der Himmel hat mir den rettenden Gedanken geschickt. Ich habe nächtelang darum gebetet. Hier ist er: Versuche mit Kopfarbeit Dein Brot zu verdienen! Tausende leben, und viele sogar im Wohlstand, die mit der Feder produzieren. Eine Hand genügt dazu, und die hast Du noch; und Gehirn und Herz hast Du erst recht. Allerdings bist Du nur ein rußiger, staubiger Fabrikarbeiter, der keine höheren als Volksschulen genossen hat; aber wenn ich Deine außergewöhnlichen Geistesgaben bedenke und Deine ergreifenden Briefe lese — — Versuch's!!

War nicht unser Vater (Gott hab ihn selig),[S. 110] wenn auch nur ein hartarbeitender Erzgräber, der klügste Mann im Minendistrikt, Ingenieur und Verwalter mitinbegriffen. Und »Mütterchen unser« so seelenvoll. Bruder! Mut! Der Genius steckt uns im Blut. Was andere mühsam aus der Tinte saugen müssen, haben wir schlafend in der Muttermilch getrunken. O, hätt' ich Zeit und nur Zeit, ich wollte schier selber eins dichten, das zum — Weinen wär' — hahaha! — —

Nochmals, Bruder! Versuche es mit Geist und Gemüt; wähle ein Thema, ein Problem aus dem Leben, aus der Geschichte, aus der natürlichen, übernatürlichen, aus der Hexenwelt — irgend eins. Schreib einen Aufsatz: wie man ledig bleibt, wenn man sich verheiratet wünscht. Wie man verheiratet bleibt, wenn man sich ledig wünscht. Wie man runzlig wird vom Ausschweifen und rund vom Keuschsein, oder umgekehrt. Wie man reich wird durch Ehrlichkeit und arm durch Betrug und Schwindel, oder umgekehrt. Wie man zum Himmel kommt durch Frommsein und zur Hölle durch Fluchen, oder nicht umgekehrt.

Du liebe Zeit! so plaudere ich und drei Kübel voll schmutziger Wäsche stehen wie das Schwarze Meer unterm Nußbaum. Ich bin freilich ein Waschweib. Fort, Feder — Seife her.

Bruder, das für heute. Ein meilenlanger Brief zum nächsten Mal.

Jennie.

[S. 111]


Pilot Knob, den 1. Dezember 1900.

Teure Schwägerin!

Mit Zittern und Zagen schreibe ich diesen Brief an Dich. Tom darf ihn nie zu Gesicht bekommen, hörst Du — nie! Dieser Brief ist nur an Dich und für Dich. Wenn Tom ihn in die Hand kriegt, ist alles verloren.

Ach, es ist vermessen, zwischen Dich und Deinen Mann, zwischen Euer grenzenloses Vertrauen diese Wand zu schieben; — aber Notwendigkeit, Liebe und alle guten Geister gebieten mir, so zu handeln. Eva — mir graut vor der Zukunft Deines Gatten — meines Bruders. Nicht, weil er seine Hand verloren hat, seine Arbeitsgelegenheit und Euer schönes Heim zerstört werden kann — mir graut vor Toms Seele. Ich fürchte und sehe, wie meines unglücklichen Bruders Geist sich umnachtet — sein schöner, großer Geist. Eva, Du kennst Deinen Gatten, aber ich kenne meinen Bruder. Er ist heroischer als andere Männer, aber auch kleinmütiger. Er ist gleichgültiger, phlegmatischer, stoischer als andere Männer, aber auch empfindlicher, weicher, gewissenhafter. Er ist geistreicher als andere Männer — aber kurzsichtiger, beschränkter auch. Er ist, leider Gottes, viel zu viel in einer Seele.

Es ist nicht wahr, daß große Seelen am meisten ertragen können — gemeine Seelen können alles tragen. Eva! Schwester! wir müssen Tom betrügen — um ihn zu retten.

Immer wilder, unbändiger, irrsinniger werden seine Anklagen gegen Gott und Menschen. Wo kann[S. 112] er Halt machen, wenn er Ruhe sucht und keine findet? Das treibt so hin, und abwärts. Hoffnung! Hoffnung! Ein Licht in der Nacht, einen Stern im Raum muß der Unglückliche haben, und das zuerst, einzig und allein — vorläufig.

Schwester! ich habe Deinem Gatten ein Schreiben geschickt, gleichzeitig mit diesem an Dich, und ihm ein Heilmittel angepriesen gegen Verzweiflung. Er wird's Dir vorlesen, dann weißt Du's. Das ist neu für Tom. Das lenkt seine Grübeleien auf neue Bahnen. Das gibt ihm Hoffnung, etwas zu werden. Und wenn es gar keinen Zweck hätte, als sein überfülltes Gehirn entladen zu helfen — was er denkt und leidet, auszutoben mit der Feder aufs Papier — schon das ist viel gewonnen.

Daß Tom mir viel und oft schreibt seit dem Unglücksfall, ist gut — aber gar nicht gut, daß er einseitig immer das nämliche wiederkäut. So einseitig, zweck- und maßlos die Menschen kritisieren, das leitet zum Menschenhaß, zum Pessimismus, zur Versteinerung, zum Wahnsinn. Fernblick muß der Menschengeist haben, mit einem Auge muß er Gott sehen, mit dem andern Auge den Wurm, wie er sich tummelt im Staub. Fernblick verleiht dem Menschen Ausdehnung, Freiheitsdrang, Willen. Hat er das nicht mehr, ach! dann ist er nur Sklave der Umgebung. Die Seele wird zum tickenden Gewerke — die Erscheinungen der Welt ziehen durch die Seele wie magnetischer Strom, unverstanden von ihr.

Eva, laß diese Worte nie Deines Mannes Ohr[S. 113] erreichen. Sag ihm nie, was ich hier schreibe. Nichts ist gefährlicher für einen Mutlosen als die Warnung vor Wahnsinn. Ermutige Tom zum neuen Streben und Leben. Mach ihn glauben, seine Schriftstellerei bringe Glück, Ehre, Wohlstand. Laß Dir vorlesen von ihm. Kritisiere, lobe, tadle, lache, weine. Derweil er dichtet und hofft, wird sich doch irgend eine Anstellung finden, mit der er das Hauswesen retten kann; — denn aufrichtig gesprochen: ich zweifle, daß Tom mit Schriftstellern sein Brot verdienen können wird. Die Gelehrten haben auch ihre Angst und Not mit Konkurrenz. Es ist eine fürchterliche Welt, in der wir hausen. Alles lebt im Krieg. Einer reißt den andern weg vom Platz. Wann, o wann wird es besser kommen? — Unsere armen Kinder! — Die Nächte sind lang, auch hier im Süden. Es will nicht Morgen werden, wenn man Sorgen hat. Die Stunden vor zwölf — die Stunden nach zwölf — das Ticken der Uhr — wie Wassertropfen Eimer füllen, so monoton, langsam verdrängt's die Schatten. Man hört das Atmen der Schlafenden um sich — draußen vielleicht das Bellen eines Hundes, dass Rütteln des Windes am Fensterladen, das Regnen auf dem Hüttendach — keine Mutter könnt's ertragen und am Morgen noch ein Lächeln übrig haben für die erwachenden Kleinen — ohne Glauben an guter Geister Gegenwart.

Ich habe ein Kreuz zu tragen — das für Jennie. Sechs mehr von meinen Kindern — das für die Mutter. Peter legt auch noch Holz auf meine Schultern[S. 114] — das für die Gattin. Das schwerste aber, das mich schier erdrückt, ist das Kreuz, das mein armer Bruder der Schwester aufbürdet.

Ach, Eva! ich weiß, Du leidest wie ich — ebenso geduldig, stumm, gottergeben — und darum wollen wir uns umarmen als Leidensgefährten, als Märtyrer für eine Religion der Aufopferung, Aufopferung, Aufopferung.

Dann muß ich Dich noch etwas fragen, Schwester. Glaubst Du, es wäre Euch möglich, den Haushalt abzubrechen, zu verkaufen, was Ihr habt, und hierher zu reisen, wieder in Toms Heimat? Sechzig Dollar sind notwendig. Ein paar Dollar kann ich auch erübrigen und zulegen. Gott! So wäret Ihr doch wenigstens bei mir — und tothungern lassen wir Euch nicht. Sag das Tom.

Blut möchte ich weinen vor Weh, Euch nicht helfen zu können und so weit weg zu sein, so weit weg.

Dann muß ich Dich noch etwas fragen, das ich immer vergeß beim Schreiben. Wie geht es Deinem Leiden? Ich erfahre rein gar nichts mehr von meiner kranken Schwägerin, seit ihr Mann alles Interesse absorbiert. Hast Du noch immer Atemnot, Blutspucken? Arme Dulderin!

Küß mir Bertie und sei tausendmal gesegnet von Deiner Dich ewig liebenden Schwägerin, Schwester

Jennie Daly.

[S. 115]


Brooklyn, den 4. Dezember 1900.

Liebe Schwägerin!

Gott ist mit uns. Tom hat den Brief nicht bekommen. Er schläft bei Tag weil er den Platz hat bei Nacht. Er kommt am Morgen von Neuyork. Dann ißt er Frühstück und geht zu Bett. Nach Mittag steht er auf. Der Briefträger kommt immer am Morgen. So hat er den Brief nicht bekommen. Nur seinen eigenen Brief. Das ist gut.

O Schwägerin Schwester laß mich auch Schwester sagen. Es lautet so viel schöner. Du hast recht geraten mit Tom. Er macht mir viel viel Angst. Er nimmt sich das Unglück so zu Herzen daß er abzehrt. Daß er krank wird. Er kann nicht essen nicht schlafen nicht lachen nicht sprechen. Oft wache ich auf mitten in der Nacht dann sitzt er am Fenster allein und will nicht ins Bett so viel ich bitte und weine. Das macht ihn krank. Gott sei Lob und Dank jetzt hat er einen Platz in Neuyork als Nachtwächter. Das ist ein guter Platz für einen Krüppel. Er bekommt zwölf Dollar. Das ist sehr gut. Aber den Platz hat er nur wenn der andere stirbt. Das ist traurig. Er sagt so jeden Tag. Ich bete und bete daß er den Platz soll behalten daß wir leben können. Das Waschen ist hart für mich. Wenn ich hart arbeite tut mir schon die Brust weh. Dass sind große Schmerzen.

Liebe Schwester. Bitte rede kein Wort vom Wegreisen von Brooklyn zu Tom. O sag es ja nicht mehr. Bitte bitte. Du siehst ja ich kann nicht wegreisen[S. 116] weil Elsies Grab hier bleibt. Wer soll Elsies Grab besuchen wenn ich wegreise? Tom sagte auch einmal wir müssen nach Pilot Knob. Dann hab' ich so geweint. Die ganze Woche. O lasset mich leben hier die paar Tage noch. Ich will ja nicht viel. Nur meiner Elsie Grab sehen wenn ich Zeit hab'. Wenn ich das nicht kann bin ich so elend daß ich sterbe. Wenn Tom seinen Platz behält wird ja noch alles recht. Wir wollen hoffen zu Gott.

Liebe Schwester. Tom hat recht. Er lehrte mich schreiben und lesen nach der Hochzeit. Jeden Abend. Wenn er kam von der Arbeit. Ich konnte nicht schreiben und lesen. Nur schwedisch ein wenig. Tom hat's mich gelehrt. Das ist schön wenn man sich Briefe schreiben kann. Ich werde Tom loben mit seinem Verstand. Du hast recht er schreibt gern. Das tut ihm gut. Wenn er aber den Platz behält braucht er keine Bücher schreiben. Er ist doch nicht gelehrt genug. Und fein wie die Herren. Denkst Du nicht auch so? Jetzt muß ich aufhören weil er schlaft und ich hab' Angst er schlaft nicht. Das Schreiben dauert bei mir viel länger. Gott segne meinen lieben lieben Mann. Und Dich und Deine Kinder und Deinen Mann. Deine Dich liebende Schwester Schwägerin.

Eva Pratt.


Brooklyn, den 4. Dezember 1900.

Teure, liebe Schwester!

Unsere Briefe haben sich dieses Mal gekreuzt auf dem Weg zur Bestimmung — irgendwo in Indiana[S. 117] oder Ohio. Sie tragen beide das gleiche Datum. Du hast demnach mein letztes Schreiben noch nicht beantwortet, wahrscheinlich aber gelesen jetzt.

Mit Deinem schwesterlichen Rat, ich soll's versuchen, mit der Feder Brot zu verdienen, kommst Du spät. Ich laufe, seit ich wieder gehen kann, schier die Beine weg, eine Anstellung als Schreiber zu erlangen. Wertloses Bemühen. Es ist das reinste Lottospiel. Einer aus zwölf, aus hundert oft, gewinnt die aussgeschriebene Schreiberstelle. Die anderen ziehen ab — und lauter Zweihändige, verstanden, bis auf den armen Tom.

Aber — hm — Schriftsteller werden? Bücher schreiben — Romane — Gedichte — Dramen? — Schwester! das ist ein Wort, mit dem Du mich tatsächlich erschrecken — nein, ruinieren kannst, weil es eine Brust voll gefesselte Geister loskettet zur Rebellion wider meine Ruhe. Ja, ja, sag' ich es freimütig, Du hast den gleichen Gedanken, wie er oft mich selber quält. Oft hab' ich zu mir selber gesagt: Tom, wie geht's? Wie steht's? Die Hand ist fort — und bis die wieder anwächst, wächst Gras über Dir und den Deinen. Du mußt ein neues Gewerbe ergreifen, anderes Handwerksszeug als Hobel, Hammer und Säge. Wie wär's zum Beispiel — —? Und mit der Nase stießen sie mich drauf, die friedenstörenden Kobolde.

Soll ich's probieren? — Ich werd' müssen. Ach, es ist so ungewohnt, so plötzlich, fremd. Seiltanzen dünkt mich passender. Ich, der Holzdreher, soll[S. 118] Schriftsteller werden. Soll ich zuerst lachen, oder weinen? Oder werden es andere tun für mich?

Schwester! Schwester! wenn ich es jetzt versuche, mit Löwenmut in die Wolken fliege, oder von dort herunterfalle — es ist Dein Werk. Auf denn, ich tu's! Weltgeist! steh mir bei. Ein Bettler kniee ich hier vor dir, ein armer, verkrüppelter Bettler. Nichts bin ich ohne dich. Weltgeist! laß mich nicht untergehen, ich fleh' dich an um — Inspiration!

Arme Jennie! Jetzt folgen etliche Zeilen, die uns beiden sehr ungewohnt sind. Ich muß Dich sehr hart tadeln und zurechtweisen. Nie wieder, hörst Du! nie wieder, unter gar keinen Umständen erlaube Dir eine Ausschreitung wie diese. Ich kann Dir meine brüderliche Verzeihung nicht garantieren, sollte es zweimal vorkommen. Dein Brief enthält, eingeschlossen, eine Fünfdollarnote. Das soll für mich und meine Familie sein, damit wir nicht Not zu leiden brauchen. Du schreibst es nicht, aber übersetzt vom Geist der Liebe liest es sich so. Nie wieder, hörst Du, um aller Vernunft willen — Jennie! Du mit sechs Kindern, die alle essen wollen wie die Hamster, und Schuh und Kleider brauchen für die kommende Kälte. Und Dein Gatte ein Bergmann, mit anderthalb Dollar Tagelohn. Nie wieder schick mir ein solches Blutgeld ins Haus. Mit diesem Brief kommt's zu Euch zurück — jeder Cent gesegnet von mir, meinem Weib und Kind.

Ich muß schließen. Um sechs Uhr beginnt meine Dienstzeit. Ich kann es kaum Arbeit nennen, denn[S. 119] ich habe nichts zu tun, als im Lagerhaus übernachten ein wenig herumspazieren, horchen, husten, riechen, herumleuchten, mißtrauen, und ja nichts hereinlassen noch hinauslassen als — meinen Gruß an Dich, und, den Deinen an mich. Jennie, Glück auf!

Tom.


Pilot Knob, den 9. Dezember 1900.

Bruder Tom!

Wenn die Not am größten, ist Gottes Hilfe am nächsten. Der Vater der Armen läßt seine flehenden Kinder nicht verderben.

Also eine Nachtwächteranstellung hast Du jetzt für Deine alten Tage? Das möchte ein Witzbold die dunkelste Zukunft nennen. Ich nenne sie so lichtvoll, daß mich schon ihre Ankündigung blendet wie Sonnenschein und mir das Wasser in die Augen treibt — oder ist es nur die Freude? Ich werde schier kindisch über diesem Glück. Ich werde Unwillen gebärenden Unsinn schreiben in diesem Brief. Ich werde Dich quälen damit, wie Du mich quälst mit Deinen Ausbrüchen — nur umgekehrt. Ich werde witzeln, spotten, hänseln wie zur Zeit, als Jennie ihren Bruder aus dem Bett rollte und schneeballte auf dem Schulweg. — Gott! mein langvernachlässigter Leichtsinn, den ich bereits verhungert und verdurstet wähnte und begraben und vermodert, drückt mich so ausgelassen, unbändig in die Arme, wie ein alter,[S. 120] privilegierter Jugendfreund, zurückgekehrt nach langen Jahren aus der Fremde.

Also Nachtwächter bist Du. Abschied nahmst Du vom Licht und — gegrüßt seiest du, rabenschwarze Finsternis, du Jagdrevier der Hexen, Geister, Teufel, Fledermäuse und — Nachtwächter. Sagen die Leute: Gute Nacht! Schlafen Sie wohl! dann setzt sich Tom zum Frühstück. Sagen sie: Guten Morgen! dann geht Tom zu Bett. Mensch! das hat noch gefehlt, Dich total anders zu machen als andere. Jetzt ist auch gar nichts mehr an meinem Bruder »Sonderling«, das ausgebügelt, geglättet werden kann, modern, fashionabel, gesellschaftsmäßig. Tom Pratt, Du bist die Revolution!

Heute ist es Sonntag. Meine Kinder sind ausgegangen für den Nachmittag, zum Wald. Peter schläft. Jetzt habe ich am Ende die beste Zeit, Dir eine Neuigkeit mitzuteilen. Das rettet mich zugleich vom Delirium und Überschnappen. Die Neuigkeit hätte ich Dir schon längst können mitteilen, aber — nun ja, Dein Unglück, und dieses auch dazu.

Wir hatten einen Grubenstreik hier. Sechs Wochen hat er gedauert. Das war ein Leben in den Bergen, das tote Indianer erwecken könnte zum Tanzen ums Feuer.

Jetzt ist der Streik beendet und — verloren. Ich habe nie etwas Kopfloseres gesehen als diesen Ausstand. Eigentlich hatte er zu viel Köpfe. Lauter Köpfe. Aber keiner der Köpfe, oder alle zusammen hatten nicht soviel Gehirn wie ein pensionierter Abschreiber.[S. 121] Mäuler, Mäuler — ja. Ein Gelärm war es, ein Geheul, Getue, ein Versammeln, Auflösen, Marschieren und Redenhalten vom Morgen bis in die Nacht hinein.

Mein Peter hat am lautesten, dafür auch am gründlichsten sich ausgeschrieen. Jetzt liegt das Streikkomitee dort auf der Bank und schnarcht, daß ich kaum schreiben kann. Alles vergessen schon — oder nichts vergessen und nichts gelernt. »Peter! he, Peter! Protokoll verlesen! Antrag stellen! Schluß der Debatte! Zur Tagesordnung, meine Herren!« — Ja, ja, ja.

Und so ist der Rest. Bruder, die Arbeiter sind die klobigsten Schüler in der Lebensschule, das steht bewiesen. Nichts haben sie gelernt bei diesem sechswöchentlichen Ausstand als das Hungern. Wann, o wann wird der heilige Geist herabkommen auf diese Heerscharen der Unwissenheit?

Du kannst Dir vorstellen, Bruder, wie der Streik uns schwer wurde — besonders uns Frauen. Das Borgen und Schuldenmachen wurde epidemisch; denn Bankbücher besitzen nur die wenigen. Ich gehöre zu den vielen. Und die Herren Männer? Diese bullenwütigen Oratoren, die 's Maul aufrissen wie feuerspeiende Krater — ein förmlicher Streikkatzenjammer ist in sie hineingefahren. Sie haben so alle Lust am Streiken verloren, daß sie eher umsonst graben als nochmals ausstehen. Das Herz ist ihnen fast wörtlich in die Hosen gefallen. Sie schleichen, kriechen, katzenbuckeln so über alle Maßen hündisch ängstlich[S. 122] vor dem Grubenverwalter, daß, wenn das so fortgeht, sie rettungslos zu Hufeisen verwachsen. Und wir armen Mütter — Gott steh uns bei mit solchen Männern — wir sollen eine Generation aufrichtiger Bürger gebären.

Und wie widerwärtig sie sind — knurrig — bissig beinah. Mein Peter ist der reinste Sauerampfer geworden in unserem ehelichen Paradiesgärtchen, seit dem verlorenen Ausstand. Er macht ein Gesicht (jetzt, während er schläft), als fütterte ich ihn sechs Wochen lang mit Essig und Schnupftabak. Und wacht er auf und kann denken gleich (was schwer fällt), dann multipliziert er seine Grimasse mit dreizehn. Er will mit Gesichterschneiden (ich lese Peters Ideengang wie guten Druck) mir solche Angst einflößen, daß ich vor Zittern und Beben nicht zum Lachen komme über seine großmäuligen Streikreden.

Der Rest ist — Schnarchen!

Aber, Gott hab' ihn im Schirm und Schutz. Er ist doch nicht so schlimm, wie viele andere sind. Wenn meine Ehe auch keine beneidenswerte heißt, mein Peter ist mir doch teuer wie keiner — der Vater meiner sechs herrlichen Kinder. Er ist ein lieber, herziger, wohldressierter Brummbär. Nicht mit der Peitsche dressiert, aber mit Zucker und Honig, mit ewigem Nachgeben, Schweigen, Gutsein von meiner Seite. Meine Geduld gibt ihm keine Gelegenheit, seine Grizzlinatur in Übung zu halten, und so hat er sie jetzt verlernt. Wir vertragen uns. Ich bin der Honigstock und Peter der Bär. Daß er mich[S. 123] jedoch bald aufgefressen haben wird, fühl' ich leider; ich wiege keine hundert Pfund mitsamt den Knochen.

Du lieber Gott! Es gibt ja Männer, die sind schlimmer. Es gibt Männer, die sind Tiger. Welche sind Hunde, Affen, Esel, sogar Schweine. Die Löwen sind selten — und auch bei denen ist das Lamm nicht sicher. Die besten Männer sind die, welche Menschen sind — wie Du, mein teurer, teurer Bruder. Oft denke ich: wie lange zwei Menschen, so begabt wie Du — oder besser: wie lange Millionen Menschen, so gut, ehrlich, gerechtigkeitsliebend wie Du, auf dieser Erde zusammenleben könnten, ohne Krieg zu haben, oder Hungersnot, Selbstmord. Ich wette mein Seelenheil, wenn alle so wären wie mein Tom, der Himmel käm' zwischen Wolken und Erde zu liegen. Ach!! —

Bruder, verzeih der Briefschreiberin den Tintenklecks; mein Peter hat sich eben umgewälzt, mit einem Schnarchen, an dem er selber erwachte. Er hat mich so erschreckt, daß die Feder spritzte. Tom, er könnte alle Bären und Berglöwen von Alaska bis Mexiko in ihre Höhlen jagen mit so einem Schrei wie dieser.

Jetzt schläft er wieder — und lang. Er träumt vom Streik. Ruhe! Die Debatte wird begonnen. Peter Daly hat das Wort.

Tom! Bruder! Nachtwächter! Ich weiß mich nicht zu halten über Deine Versorgung. Gott wird dem »Pat« sonstwie helfen und Du behältst den Platz. Du wurdest hart mitgenommen, jetzt kommt die Erlösung. Glück und Unglück — diese Extreme[S. 124] im Menschenleben sind das Läuterungsfeuer für bockbeinige Charaktere. Bei Deiner Aufrichtigkeit wirst Du mir zustimmen, daß Dich das Unglück schon ganz anständig gehobelt hat. In jedem Deiner Briefe lese ich das Wort »Gott« häufiger, das vordem fast nie von Dir geschrieben wurde (aus Respekt oder Geringschätzung, bleibe anheimgestellt).

Und in die Kirche gehst Du auch fleißig.

Und, und, und — Lebt wohl und lang' und glücklich!

Jennie.


Neuyork, den 20. Dezember 1900.

Liebe Schwester!

(9 Uhr Nachts.)

Wenn das mein neuer Prinzipal wüßte, möcht' es gelbe Papierschnitzel regnen. Ich benütze seine Privatkanzlei die ganze Nacht lang als Studierstube. Das heißt: ich mache zwölf Runden durchs Gebäude (eine per Stunde), wie's die Vorschrift erheischt, halte zudem Ohren und Nase kriegsbereit wie ein belagerter Fuchs. Aber in der Kanzlei auf gepolstertem Drehstuhl sitze ich dreißig Minuten von je sechzig, als wäre ich Mister Rouß der Millionär. Ich bin aber nur Tom Pratt der einarmige Nachtwächter, der ohne Balancierstange über das hohe Seil tanzen möchte zur Unsterblichkeit.

Nach der Neun-Uhr-Runde, gewöhnlich, sitzt der Nachtwächter am Pult und erwartet — seinen Verwandlungsprozeß[S. 125] zum Dichter. Er nimmt Kanzleipapier, Tinte und Feder der Firma (denn so verrückt ehrlich ist er doch nicht, daß er verhungern würde im Bäckerladen, ohne Geld) und versucht den Flug über den Olympus. Was der dann über Nacht zusammenschreibt an konfusem Durcheinander, ist zum Krämpfe kriegen. Ich möchte nicht der Dichter Tom Pratt sein, wenn ich die Wahl haben könnte. Das einzige, was mir an diesem dilettantischen Tintenkleckser imponiert, ist seine wunderbare Kompositionssicherheit, oder richtiger, sein Größenwahn. Nie seh' ich ihn kauen am Federhalter, nie hinterm Ohr kratzen, am Schnurrbart zupfen, nie simulieren, stöhnen, Atem verhalten, nie ein Wort ausstreichen oder ändern; nicht einmal das Geschriebene durchlesen seh' ich ihn. Wie der allweise Erschaffer der Welt macht er seine Arbeit ohne Vorher und Nachher, und gibt den Pfifferling um Rezensenten und lesendes Publikum.

Das wird einmal eine Katastrophe absetzen, wenn das Ungeheuer einen Verleger sucht, der's fressen soll — das Ungeheuer nämlich.

O, Schwester! es ist nicht zum Spaßen und Lachen: in meinen Verhältnissen die Gedanken konzentrieren müssen auf eine Arbeit, die sogar Genien ermattet — den Glauben behalten an die Kraft, die Kraft behalten zur Hoffnung — und die Liebe zum Ideal. Ja, wenn ich jetzt meine Anstellung fest und sicher hätte, dann wären meine Gedanken leicht und könnten fliegen ins Ätherblau. Aber, aber, »Pat« mit seinen elf darbenden Kindern wird jeden Tag[S. 126] rüstiger — und kommt Pat, dann geht Pratt — und wohin?

Der Gedanke: »wohin« lastet mit solcher Wucht auf mir, daß sämtliche andre Gedanken — wie die Liliputaner den Gulliver — diesen Riesen nicht fortschaffen können. Ich weiß nicht, ob es ein weiser Rat von Dir war, mich zum Schriftstellern aufzumuntern. Zu spät jedoch — der Kampf ist begonnen — die Geister stürmen — ich werde geschleift — — Wohin??

(10 Uhr Nachts.)

Ich schreibe, schreibe, schreibe. Ist es das Ungewohnte, Neue, was mich so berauscht, daß ich Visionen habe? Ich sehe meines Geistes Kinder in greifbarer Form herumgehen um mich. Alles lebt, atmet, redet, lacht, weint, — es ist der leibhaftige Zauberpalast, den ich hier bewohne. Glückselige Schwärmerei! Wenn nie ein Wechsel käme, es wär' mein Himmel.

(11 Uhr Nachts.)

Stundenlang ohne Rast und Ruhe arbeite ich in der neuen Werkstatt. Ich denke viel an Dich — und schreibe. Ich denke an mein Kind — und schreibe. Mein krankes Weib macht mir viel Sorge — aber ich schreibe. Werde ich je das Ziel erreichen, oder soll auch hier wieder die Enttäuschung das zarte, scheue Kind vom Himmel, Hoffnung, mit krallenden Fingern erdrosseln?

Ich bin manches Mal so mutlos, so schwach, daß ich mich fürchte wie der feigste Knabe und erst wieder[S. 127] ruhig werden kann, wenn ich mein Weib und Kind umarme.

(12 Uhr Nachts.)

Das ist die Geisterstunde. Von zwölf Uhr bis ein Uhr ruht die Feder und jede Arbeit. Ich zergliedere in Gedanken die Rätsel des Daseins. Ich bete. Das ist meine Gebetstunde.

(1 Uhr Nachts.)

Gewöhnlich nach dem dritten Vaterunser, manches Mal beim zweiten, öffnet dann der liebe Gott die Tür und ruft mich ein in seine Werkstatt. Jetzt bin ich schon ein ziemlich alter Gast. Das erste Mal jedoch, als ich die fremde Stube sah, war ich in solcher Furcht, daß schnell der Meister jede Arbeit ruhen ließ und mich beschwichtigte. Dann führt' er mich herum und zeigte mir die Wunder: den Kran, an dem die Schöpfung hängt — die Räder, die sie treiben — die Walzen, Formen, Pfannen, Feilen, Zangen — die Drehbank, auf der Planeten rund geraspelt werden — die Feueressen, aus denen er die Sonnen schöpft — das Sternensieb — Seiher für die Nebelflecken — und hundert Fragen, wie ein wißbegierig Kind sie fragt, erklärte mir der Gott mit unbeschreiblicher Geduld und Güte. Eine Frage nur, und sie dünkte mich die wichtigste, die machte ihn verlegen. Er küßte mich auf Stirn und Mund und seufzte schwer: »Kind, Allwissenheit macht halt vor dieser Frage — du allein kannst sie beantworten.«

(2 Uhr Nachts.)

Wenn Gott der Herr mir den Erdball mit allem[S. 128] was dran, drin und drauf klebt, als Geschenk präsentierte, und ich den Planeten absuchen sollte nach einem Ort und Wesen, wo mir so wohl wäre wie nirgend sonst — ich eilte schnurgerade nach Brooklyn in die Schlafkammer meiner Eva. Sitz' ich hier allein und eingesperrt wie ein Unzuverlässiger, und die Nacht ist still und lang wie jetzt, dann überkommt mich so unsägliche Sehnsucht nach meinem Weib, daß ich herumgeh', irgend etwas zu finden, das ich umarmen und ans Herz drücken kann. Ich möchte mich selber küssen — nur weil ich ihr Beschützer bin, ihr Ernährer. Das klingt schier albern von einem Ehemann, der fünf Jahre verheiratet ist. Aber, Schwester! wenn Du sie sehen könntest — schlafen — und ein Mann wärest anstatt ein Weib, Du würdest niederknieen vor ihrem Lager und sie anbeten. — Ich tu's oft.

In einer jener qualvollen Nächte, als ich, meinen Arm in der Schlinge, vor Schmerzen nicht ruhen konnte und Küche und Kammer abschritt, da saß oder kniete ich oft vor ihrem Bett — mit einer Andacht wie der Pilger vor dem Bilde der Madonna.

Einmal schien der Vollmond so grell und plötzlich aus Wolken brechend auf die Schlafende, daß ich nie den Moment vergessen werde. Das war nicht Fleisch und Blut, das war atmender Marmor. Es gibt Frauengesichter, die vom Kranksein schöner werden, engelgleicher, idealer, vom Dulden, Entsagen — sogar Hungerleiden.

Schwester! Wenn ich jetzt auf dem Punkt steh', Dir Geheimnisse zu beichten, ich rechne felsenfest auf[S. 129] Verschwiegenheit (Du bist mir eine schuldig), sonst wird Tom nie wieder vertraut.

Also:

Erstens: Ich werde mich total verändern müssen, eh' ich mit Gleichgültigkeit ein schlafendes Weib betrachten kann.

Zweitens: Daß Mitleid bei solcher Betrachtung jedes andere Gefühl überwiegt, ist mir nicht angeboren, sondern Philosophie.

Drittens: Gott segne euch Frauen.

Viertens: Und beschütze euch große, immerwährende Kinder — eure wohlgepflegten, wohlverdienten, wohltuenden Reize.

Fünftens: Ich liebe euch alle — sehr, oder weniger — aber alle.

Sechstens: Zartes, hilfloses Wesen, Weib! (Schwester, das rede ich jetzt ganz persönlich, individuell zu meiner Eva und geht Dich nichts an. Willst Du Dich aber zu ihr legen ins Bett und gar etliche Freundinnen mitbringen — ihr seid alle willkommen. Dann spreche ich zu allen:) Schlafet, träumet, schöne Frauen! Die einzigen Stunden sind es, wo ihr frei seid. Arme, arme Träumer! Schwärmer! Schwaches Geschlecht! Was habt ihr erdulden müssen im langen Lauf der Weltgeschichte? Was werdet ihr noch leiden müssen, bis das Ziel erklommen ist, bis zu eurer Krönung? Denn ihr seid die Krone der Schöpfung — nicht der Mann. Ihr habt die Freundschaft mit dem Weltgeist warm gehalten mit Sehnsucht, Schwärmerei und Idealen. Ihr habt das Menschengeschlecht[S. 130] vom Aussterben gerettet, das der Mann mit Feuer und Schwert dezimierte wie ein rasender Verrückter. Ihr habt die zarten Blümchen (Kinder) geboren, getränkt, gepflegt und großgezogen, derweil der Mann das Messer schliff und Ketten schmiedete. — Er wird seine Handlungen Vaterlandsverteidigung nennen, Religionseifer, Freiheitssturm. Sagt ihm: daß Frauenschändung nicht im Programm steht; Kinderschlachten auch nicht; Haus- und Herdverwüsten auch nicht; Sklaven treiben auch nicht; Despotismus auch nicht; Kapitalismus auch nicht. Sagt ihm, er sei ein Feigling, der sich fürchtet, sogar vor dem geknebelten Weib. Der sich fürchtet, das schwache Geschlecht frei zu machen aus dem Joch der Unterwürfigkeit, Ergebenheit, Dienstbarkeit — aus Angst vor ihrer Konkurrenz. Er kann nicht Schritt halten mit dem Weib der Gegenwart; sie tritt ihm auf die Fersen. Das Weib der Zukunft läßt ihn stehen wie ein Wirbelsturm den Bauern am Weg, ihm Hut und Schirm entführend nach den Wolken — hahaha!

Ist das zu viel gesagt? — Ich nehme kein Wort zurück. Schaut ihn an, den Jammermann, wie er schwächer wird, kleiner, leichter, nervöser von Generation zu Generation. Wie er abwärts wächst — aber das sind nur physische Kleinigkeiten. Schaut seinen moralischen Vorsprung, den er gemacht hat in sechstausendjährigem Wettlauf mit einem geknebelten Weib. Schaut die Wirtschaft an, die er führt, mit seinem Bürgerrecht und freien Wahlzettel — hahaha!

Die Erde ein fruchttragendes Paradies, strotzend[S. 131] von allem, was Menschen befriedigen kann — Wohlstand förmlich gebärend — und Tausende leiden Mangel, frieren, sterben Hungers, verderben, verzweifeln. Nicht wilde Bestien, Ratten und Heuschrecken sind es, nein, seine eigenen Kinder, seine Brüder, Schwestern, sein Weib, er selber.

(3 Uhr Nachts.)

Was ist doch das für ein Ding, das wir Menschen Seele nennen?

Gehöre ich ihr, oder sie mir? Ist sie meine Herrin, oder ich der ihre? War sie eher als ich, oder gleichzeitig mit mir? Wer von uns wird das andere überdauern? Eins sind wir nicht, sie und ich, das steht sonnenklar. Was zusammengeschmolzen und eins ist, führt nicht ewigen Krieg. Ach, es sieht aus wie eine miserable Verkuppelung, eine verfehlte Ehe, eine Zwangsheirat ohne Liebe noch Interessengemeinschaft. Das eine stammt von hier, das andere von dort. Eins wurzelt im Erdboden, das andere fiel vom Himmel. Eins möchte leben und hausen, natürlich, frei, gesetzlos — das andere nötigt dem ersten widernatürliche Pflichten auf, importiert von irgendwoher, vom Traumland, Feenland, Wolkenkuckucksheim. Da ist keine Aussicht, daß es Frieden wird zwischen diesen Eheleutchen, in diesem Haushalt, eh' nicht eins von beiden weggetragen wird als Leiche.

Wenn ich über dieses verworrenste aller Rätsel nachdenke, dann ist es mir jedesmal, als schreite ich verirrt, führerlos, mit ausgeblasener Kerze durch ein[S. 132] grenzenloses Labyrinth — durch die Mammuthöhle. Der einzige Laut, der von Leben zeugt, ist mein eigener Atem; der Widerhall meiner nimmer ruhenden Schritte auf krummer, holperiger Bahn ist der einzige Ton, der noch ein wenig auszittert — wie Echo — das Lied der Hoffnung: »Licht! Gefunden!« — Manchem Geist und Gespenst begegne ich, im angstvollen Herumtasten. Manchem Lebenden begegne ich, der so wie ich, so ratlos, hoffnungslos, verirrt herumsucht nach — nach — was? Dem Eingang, dem Ausgang.

Schöner, blauer Himmel dort draußen! Schöne, warme Sommerluft dort draußen. Wiesen, blumenbesät — Wälder, duftend von Harz und Blättern — spielende, lachende, singende Welt. Ach, könnt' ich ihn finden, den Ausgang — oder hätt' ich nie gesucht, gefunden — den Eingang. — —

»So ihr nicht werdet wie eines dieser Kinder, könnt ihr in das Himmelreich nicht eingehen.«

»Und was kein Verstand der Verständigen sieht,
Das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt!«

Diese herrlichen Worte eines Gottmenschen, und eines göttlichen Menschen fallen mir ins Gedächtnis, weil ich soeben an Bertie denke. Schier ärgert es mich jedoch, die obige Schmiere geschrieben zu haben, wenn ich Berties praktischen Pfeilschuß aufsteigen sehe neben meiner lahmen Theorie.

Bertie ist ein philosophisher Haudegen; ein kleiner Alexander, der jeglichen Knoten löst. Bertie verbindet Philosophie mit Diplomatie und Unverschämtheit[S. 133] zu einer Dreieinigkeit, vor der, wohl oder übel, der Allmächtige sich verneigen muß.

Eigentlich sollte ich es Dir nicht schreiben, was Bertie verübt hat; Du bist seine Tante und hast ein Recht, den Bengel auszuschelten — was ich bis jetzt unterlassen habe (aus Feigheit oder Sympathie, bleibe auch anheimgestellt).

Am Dekorationstag waren wir zwei auf dem Kirchhof und schmückten Klein-Elsies Grab. Als das geschehen war, setzte ich mich, Bertie aufs Knie hebend, dem Hügel gegenüber und begann mit jeder Faser meines Geistes Garantien zu sammeln: ob je wieder eine Zeit kommen werde, wo das liebe Kind, das hier vor mir vergraben liegt, ebenso mich umhalsen wird und ich es küssen auf die purpurroten Lippchen, auf die goldlockige Stirne, wie wir's taten so oft und oft.

Hier begann Bertie, etwas unsicher wie mich dünkt, zu fragen: »Papa!«

»Was ist es, mein Kind?«

»Darf ich dich fragen, Papa?«

»Ja, mein Kind.«

»Was tätst du sagen jetzt, wenn der liebe Gott dich sterben läßt und der Mann dich begraben tut da hinab und dann — —« Er hielt inne.

»Und? — Weiter.«

»Und der liebe Gott dich vergessen tut und drunten läßt, Papa. Was tätst du sagen?«

»Du meinst, wenn der liebe Gott mich nicht von den Toten auferstehen läßt?«

[S. 134]

»Ja, Papa. Wenn er dich drunten läßt für immer und immer und immer, und nie wieder 'raufkommen läßt — was tätst du sagen?«

»Hm — ich glaub', ich hielt 's Maul und sagte nichts.«

»Ich tät's aber sagen, Papa.«

»Und was?«

»Ich mag's nicht sagen, es ist wüst.«

»Wüst? — Mir kannst du's schon sagen, was ist es?«

»Ich würd' halt sagen zum lieben Gott: So — — du lügst auch

Schwester, das ist stark; ist es nicht? — Aber Bertie sagt's, Du kannst Dich drauf verlassen, er sagt es dem lieben Herrgott ins Gesicht, gerade so wie er's mir sagte.

(4 Uhr Nachts.)

Das ist die stillste, ruhigste Stunde in der Großstadt. Kein Geräusch von nah noch ferne stört den Frieden. Keine Wagen rasseln über das Straßenpflaster noch. Keine Dampfpfeifen heulen durch die Nacht. Uhus, Hähne, Frösche und Moskitos gibt es nicht auf Manhattan.

Ich denke an Dich — und mein liebes, teures Pilot Knob. Träume, ruhe, gute Jennie!

(5 Uhr Morgens.)

Morgenstund' hat Gold im Mund. Schwester, wenn ich je so glücklich sein werde, ohne Existenzsorgen meine ganze Energie und Seele konzentrieren zu können auf den einzigen Punkt — ich werde ein[S. 135] Gedicht schreiben, einen Pegasus reiten, ein so wildes, rasendes, unbändiges Prärieroß über den Büchermarkt klappern lassen, daß sich Händler, Agenten und Rezensenten die herumfliegenden Papierschnitzel und den Manuskriptenstaub nicht aus den Augen reiben werden, bis der Greif im blauen Äther kreist — unerreichbar für Speer und Bogen.

Schlag den Athleten mit Nervenfieber. Schlag den Poeten mit Nahrungssorgen. Schlag dem Kondor die Flügel ab. Oooo! Es ist ein Gefühl, das mich überkommt, wenn Dichtergedanken abprallen von Sorgengedanken — wie der Schreck eines Lebendigbegrabenen, dessen Finger abprallen vom Deckel seines zugenagelten Sarges.

Ich habe Augenblicke, wo ich fühle, wie der Ewige über den Sternen sitzt, neben mir, und mir Gedanken einhaucht, die ich schreiben soll.

Ich habe Augenblicke, wo ich fühle, wie die Fürchterlichen der Finsternis mir ein Loch bohren durch die Gehirnrinde — und all mein Denken zischt ins Leere.

(6 Uhr Morgens.)

Bald ist es Tag. Ich habe mich eine Nacht lang mit Dir unterhalten. Was würde werden aus mir ohne diese Unterhaltung? Gesegnet sei Feder, Tinte und Papier!

(7 Uhr Morgens.)

Von jetzt an bis acht Uhr muß ich verschiedenes in Ordnung stellen, und das Schreiben hört auf. Das Geschäft wird um acht präzis in Betrieb gesetzt;[S. 136] eine halbe Stunde früher jedoch öffnet der Aufseher die Türen von außen. Tom Pratt, der vierzehn Stunden lang sämtliche Spitzbuben Neuyorks (und das sind viele, die in Wallstreet gar nicht gezählt) am Einbrechen hinderte, wird herausgelassen.

Warum sie mich einschließen? Die Menschen sind heutigentags so mißtrauisch, daß sie den Nachtwächter, der das Haus bewacht, durch einen abermals bewachten Wächter wieder bewachen.

Tom.


Neuyork, Neujahrsnacht 1900-1901.

Teure, teure Schwester!

Da sitz' ich nun die halbe Nacht schon, eingeriegelt in der unheimlichen Warenburg, und schüttle den Kopf in peinlicher Untätigkeit. Ich kann absolut keinen zu meiner Dichtung brauchbaren Gedanken fassen. Die Inspirationen, die mein Gehirn belagern, sind wahnsinnig. Was soll ich tun? Singen, beten, Geister beschwören? Schlafen darf ich nicht, und kann und möchte ich nicht. Und noch ist es so lang', bis sie mich herauslassen hier — und heim.

Die Uhr schlägt eins.

Wir feiern Neujahr. Soeben hat der Lärm nachgelassen, mit dem unsere Durchschnittsbürger den Wechsel begrüßen. Sie haben wieder, wie in jeder Silvesternacht, gewaltig getutet, geknallt, gebrüllt, getrunken. Jetzt sind sie müd und legen sich aufs[S. 137] Ohr und saugen Sauerstoff ein zum frischen Lachen und Lustigsein, morgen.

Ach, Schwester! Ich habe meinen melancholischen Anfall — und bin allein. Wär' ich unter Menschen, ich möchte meine Schwermut abladen können durch überirdische Gutherzigkeit, aber hier bin ich aller Linderung bar.

Die Toten lassen mich nicht ruhen, bis ich ihnen meine Schuld bezahlt!

Hier sitze ich. Die Pendeluhr tickt. Die Feder kratzt auf dem Papier. Ein armes Mäuslein nagt an Brettern unterm Fußboden — und die öde, graue Nacht ist Silvesternacht. Und zwölf Monate zurück? Was kann ein einzig Jahr verwüsten? Saß ich nicht ebenso still wie jetzt, aber am Bettchen meiner noch lebenden Elsie, meiner noch gesunden Eva, und mit zwei kräftigen Armen, und zählte, bis ich müde war vom Zählen — mein Glück.

Da lagen herumgestreut, weiß wie Flocken, die Seelen, die Gott der Allgütige mir schenkte zu meiner eigenen — und saugten sich fester und fester mit jedem Atemzug, Lächeln, Seufzen, Erwachen.

Draußen jagte der Wind in wildem Zug durch Finsternis und Häusermeer. Kälte drückte an Türen und Fenster und wimmerte um Einlaß; und ich saß und träumte, schwärmte, schwelgte, betrachtete wieder und wieder meine Schützlinge: mein schönes, treues Weib, wie es hingebettet auf das eigene Lockenpolster ausruhte von des Tages Last; meine Kinder, Bertie schlafend sein Schwesterchen umarmend, als fürcht'[S. 138] er Raub, Elsie mit dem wehen Zug um ihre Lippen, die im Traume mehr als sonst den Stempel Gottes »Engel werden« trugen.

(3 Uhr Nachts.)

Dreimal drei ist neun — das kann bewiesen werden. Dreimal drei ist vier — das kann auch bewiesen werden vor einer Versammlung von Schafsköpfen. Beweis ist also nicht so unfehlbar, als er sich ausgibt. Daß Advokaten das Gegenteil, sogar von bewiesenen Beweisen, beweisen, beweist die Unzuverlässigkeit der ganzen Beweiserei. Es kommt also weit mehr darauf an, wie der Kopf oder der Mensch beschaffen ist, der den Beweis glaubt, als über was und wie da bewiesen und vereinbart wurde.

Sagt mir also einer: »Bruderherz! du hast eine unsterbliche Seele in deinem Korpus,« und beweist mir, daß ich ein solches Ding herumtrage, dann steigt (in meinem Schädel wenigstens) das Mißtrauen auf, ich gehöre möglicherweise zu der Schafskopfkategorie, die sich vorrechnen läßt: dreimal drei ist vier — und unwillkürlich beginne ich Selbstkritik zu üben an meiner geistigen Befähigung. Ich gelange zu dem Schluß: daß ich, ich selber die Unsterblichkeit meiner Seele fühlen, spüren, wissen, beweisen muß — nicht der andere. Er kann wohl unterrichtet sein über seine, aber über meine? — Sapperment! Wenn er nicht einmal weiß, ob ich Leibschmerzen habe, wenn ich Gesichter schneiden muß, um ihn auf den Gedanken zu führen — —-

Halt!!

[S. 139]

Es gibt Philosophen, die beweisen, daß die Existenz Gottes und der Seele nicht kann bewiesen werden mit den gegebenen Anhaltspunkten. Es fehle, was die Mathematiker heißen, die bekannte Größe, auf der sich aufbauen läßt. Diese Herren sind die Vogelstrauße im großen Wildpark der Gelehrtenwelt. Sie rennen (vom Problem verfolgt) unablässig im Kreis herum, am gleichen Punkt immer wieder anlangend, wo sie absprangen, und glauben, weil sie (mit dem Kopf im Sand) nichts sehen, können andere auch nichts sehen. Sie legen manches Mal ziemlich große, vielversprechende Eier. Die Hauptsache aber, das Ausbrüten, überlassen sie dem heiligen Licht und Feuer dort oben; und bis das es fertig kriegt mit seinem natürlichen, langsamen Prozeß, da haben Ratten und Käfer den Dotter gefressen. Daß Spatzen und Bachstelzen sich hin und wieder erdreisten, die Eier ausbrüten zu können, ist die komische Seite. Daß die Strauße nicht gerader laufen und so aus der Wüste heraus ins üppige Grenzland gelangen, ist die betrübende Seite.

Es gibt aber auch Philosophen, die so geradeaus laufen, daß sie mit dem Schädel ein Loch durch jegliche Mauer rennen, die ihnen im Wege steht. Durch dieses Loch schauen die Herren die allerübernatürlichsten Dinge, und je nach dem Grad der gehabten Gehirnerschütterung beim Mauerbrechen sehen sie den Himmel offen, die Zionsstadt mit Perlentor und goldenem Straßenpflaster. Den Herrgott sehen sie im Wolkenpolster ruhen leibhaftig, oder im Rollstuhl[S. 140] unter Blitz und Donner im Paradies herumkutschieren wie ein preiswütiges Automobil. Die Engel sehen sie tanzen, geigen und geschäftig die einlaufenden Seelen abwiegen, wie der Krämer Butter und Kartoffeln. Kurzum, sie sehen das ewige Leben mit Haut und Haaren als vollständig bewiesene Tatsache, und so weiter, Amen.

Diese Sorte Philosophen sind die Büffel im Wildpark der Gelehrtenwelt. Sie sind hartköpfig, eisenstirnig. Mit gewalttätigen Hörnern zerquetschen, was nicht zu ihrem Vaterunser schwört, das nennen sie Kopfarbeit. Rote Farben, rote Lappen und Fahnen reizen sie zum Schäumen; dafür stehen sie aber, ungleich den Straußen, bis an den Bauch im Futter. Daß ihnen das üppigste Gras (während die Herdenglöcklein läuten) zum Hals hineinwächst und gleichzeitig Stroh zu den Ohren heraus, ist die komische Seite. Daß sie lebenslang Gottesgelehrsamkeit studieren und gerade in diesem Fach Hornviecher bleiben, ist die betrübende Seite.

Dann gibt es Philosophen, sogenannte Pessimisten, Weltschmerzapostel, die vom Resignieren buchstäblich austrocknen, verdorren. Sie verlieren Fleisch, Fett, Appetit, warmes, eisenhaltiges Blut, tätige Leber, Galle, Magensäure, Zähne, Haare, Glauben, Hoffnung, Liebe, Freude am Dasein. Arm in Arm mit dem Weltschmerz schreiten sie durchs Leben, sorgfältig Dornen und Distelköpfe sammelnd — Blumen zertretend — Harmonien und Schönheiten ignorierend — glücklichen, lachenden Menschen ausweichend wie[S. 141] der Pest — auf Kirchhhöfen herumgeisternd — mit Gerippen und Totenschädeln spielend. Dem Tantalus flogen die gebratenen Tauben vom Munde weg, so oft er die Zunge reckte danach; der Pessimist macht sich die Höllenqualen umgekehrt, er beißt die Zähne zusammen, wenn das Füllhorn sich ausleeren möchte in ihn. Das ist jedoch nicht die betrübende Seite, sondern er sagt es selber, was: »mein Geborenwordensein halte ich für das allergrößte Unglück«. Daß ihm hierin jedermann beistimmt, sogar sein leiblicher Vater, ist die komische Seite. Verglichen mit Tieren können diese Sorte Denker nicht werden: es gibt kein Tierchen, das sich nicht mehr oder weniger wärmt und sonnt in Gottes herrlicher Natur.

Dann gibt es lachende Philosophen. Die Hälfte von ihnen ist jedoch kindisch. Die anderen stehlen Witze und hängen ihre Marke dran.

Dann gibt es philosophische Piraten (Atheisten), die jeder vorüberziehenden Seele Steuer, Anker, Segel, Kompaß, kurzum alles rauben bis auf die leere Schale.

Dann gibt es egoistische, geizige Philosophen. Sie behalten alles, sammeln mit eifrigem Betrachten Wissen, Weisheit, Urteilskraft — geben nie etwas von sich — Schweigen ist ihr Grundsatz. Sie sterben wie alle Geizhälse, reich an geistigen Schätzen, ohne übrigens jemand beschenkt und glücklich gemacht zu haben.

Dann gibt es verschwenderische Philosophen, die mit Schwatzhaftigkeit sich so entleeren, daß sie geistig[S. 142] schier zu den Bankerotten zählen. Sie machen allerdings manchen um sich herum klug, vorsichtig, sterben aber wie jeder Verschwender, ausgepumpt.

Dann gibt es — — Der Globus wimmelt von Philosophen. Die Luft ist dick und schwefelsauer von ihrem Stöhnen, Seufzen, Lamentieren und sogar Fluchen. Und ach, was haben die Herren zusammengedichtet? Das Denkerregiment mit Sokrates am rechten Flügel und Spencerlein am linken, was haben sie bewiesen, entdeckt, festgenagelt im Lauf von vielen hundert Jahren? Andere Wissenschaften haben Wunder gewirkt. Was kann die Philosophie am Tag der Prüfung zeigen? Bücher, tonnenschwer, und leiht wie Spreu ihr Inhalt. Bücher, tausendzählig, und — drei Originalitäten nur — kein einziger Beweis darin, der zieht und hält. Es ist der wackeligste Turm von Babel, den sie in den Himmel bauen möchten.

Und ach, was bin ich herumgeirrt in dieser Steppe der Irrenden, und hab' gesucht nach Quellen und Oasen — nach dem Körnchen Wahrheit im Berg von Kleie — in diesem Chaos von Einerseits und Anderseits Beweise gesucht und keinen gefunden, mit dem der Zweifel nicht Fußball spielen darf nach Lust und Vergnügen. Ach, was hab' ich gelesen, geschluckt, studiert, mit philosophischen Rosinen, Zwiebeln, Gurken und Limburgerkäsen mich so überfüttert, daß ich elendiglich sterben müßt' an Verstopfung — schluckt' ich nicht hin und wieder eine Kontroverspredigt als Abführmittel.

[S. 143]


Die Unterhaltung zwischen Gott und Mensch geschieht einzig durch Gefühl.

Gefühl ohne Erfahrung bleibt die unterste Stufe des Leben.

Der Unterschied zwischen höchstem Geist und Geschöpf besteht in des letzteren geringerer Erfahrung.

Ich zweifle nicht, daß mit höchster Erfahrung das Problem des ewigen Lebens gelöst ist.

Die Bestimmung des Menschen ist: jenes Problem zu lösen. Daß er das kann, wenn er will, garantiert die ewige Gerechtigkeit.

— Aber das ist ja wieder greulicher Quatsch — mir wird ja selber übel.

Sonntag im Sommer. Sehr heiß, staubig. Sehr windstill. Die Straßen von St. Louis glühen gleich einem Backofen. Jung und alt, was nur irgend sich freimachen kann, flüchtet hinaus in die schattigen Vorstädte, die Parks, oder treibt in Booten den großen Mississippi auf und ab.

Schon früh am Morgen warf ich mich in feiertäglichen Staat. Ich hatte die Einladung meines Freundes, mit ihm und seiner Neuvermählten nach deren Eltern Farm einen Ausflug zu machen, angenommen. Mit verzeihlicher Eitelkeit putzte, frisierte und rasierte ich den damals noch ledigen Tom Pratt.

Dann ging's los. Eigentlich nicht: zu meinem Ärger und meines Freundes noch viel größerem Leidwesen lag der Ärmste, als ich in seine Behausung trat, im Bett und stöhnte. Er laborierte an den Nachwehen einer in der Nacht gehabten Cholera.

[S. 144]

Er behauptete, das Biertrinken bei der Hitze hab's verschuldet. Sein Weibchen meinte, das Apfelmus, das sie ihm kochte zum Abendbrot, sei die Ursache. Zu dieser rührenden, in der Dissonanz sogar noch wohllautenden Harmonie der Neuvermählten schlug ich Takt mit der Bemerkung: »Bier und Apfelmus hat's getan — Punktum!«

Nach dem Mittagessen (so lange nötigte die Gastfreundschhaft mich auszuhalten) durfte ich endlich gehen. Der halbe Sonntag war nun verbraucht, verpfuscht; meine Feiertagslaune ebenfalls. Ärgerlich schritt ich nach der Avenue, um mit dem ersten mir begegnenden Straßenwaggon irgendwohin zu fahren — nur weg, weg vom bratenden Weichbild der Häusermasse. Halbwegs mußte ich meiner blankgewichsten Schuhe wegen einem Neubau ausweichen, ganz hinüber auf die sonnige Seite der Straße; dann wieder herüber auf die schattige. Das kühlte mich nicht; auch nicht, als mir ein nördlich fahrender Tramwaggon entschlüpfte, den ich hätte erreichen können, wär' die verdammte Kreuzung nicht gewesen.

Nach längerem Warten bestieg ich den nächsten, einen westlich fahrenden Waggon. Der war jedoch zum Erdrücken vollgepfropft; die Sitzenden erstickten schier, so tief saßen sie drunten; die Stehenden schoben sich hin und her und schwankten wie Betrunkene, je nach dem ungleichmäßigen Rollen des Fuhrwerks. Den außen am Geländer Hängenden, den Allergemartertsten, zu denen ich gehörte, wirbelte Staub ins Gesicht; die Sonne brannte ihnen Blasen auf[S. 145] die Haut; der Hut wollte fortfliegen; und mit des Jammers stummen Blicken schauten die armen Hühneraugen. Aber fort ging's, fort wenigstens, immer an den Häusern vorbei wie geflogen.

Mit einem Mal tauchten Bäume auf, Grasflächen, Blumenbeete, lange Eisengitter längs der Straße. »Ein Kirchhof!« zuckte es mir durchs Gehirn wie Erlösung, und ich weiß nicht, wie noch warum ich absprang von dem raschfahrenden Waggon. Graziös hüpfte ich einer vorbeirasselnden Equipage aus der Fahrlinie, etwas ungeschickter einem wahnsinnigen Radfahrer.

Dann trat ich durchs Gitterportal ins Reich der — Schlafenden.

Welch labende Kühle fächelte mir der heilige Ort ums Haupt, das ich ehrfurchtsvoll entblößte. Die Luft gewürzt mit tausend Düften; wie Segen, wie ein Zug aus offener Himmelstür wehte es mich an.

»Gott sei mit euch!« grüßte ich die Anwesenden; »Gott sei mit euch! Wie schön haben euch die Lebenden gebettet. Wie schön die Kinder ihre Eltern — die Eltern ihre Hoffnungen. Liebe und Verehrung haben sich wund und augenmüde gesponnen an der Decke, die euch hüllt, bis Gott sie hebt.« Wie nah sind doch die Lebenden den Toten; ein Pulsschlag ist die Trennung. Wie innig nah verwandt ist Freud und Leid, Glück und Unglück. Schmerz und Lust sind Bettgenossen. Haß und Liebe wohnen eng beisammen in derselben Kammer; wenn eines wacht, legt sich das andere nieder. Und eine Wiege hat[S. 146] genügt für Myriaden Gegensätze, die sich stoßen, reiben lebenslang, bis sie müde liegen wieder wie im Anfang so am Ende, friedlich, eng beisammen — aber hier.

Langsam schritt ich die geschlängelten Pfade des Friedhofs entlang, immer tiefer hinein ins Herz, bis wo die Kapelle steht mit geweihtem Altar. Dort betete ich für die Toten — für alle Toten. Dann schritt ich weiter und weiter, zikzackig, planlos, rechts und links schwenkend, über Hügel, Rasenplätze, Kieswege. Bald zog mich ein gigantisches Monument, bald ein hölzernes Täfelchen, ein Blümchen »Einsam«, oder ganze Garben Hyazinthen, Lilien und Maßliebchen, als liege dort ein Heiliger und hauche sich durch Lehm und Sand hindurch zum Himmel.

Gott! Da, ein Weib! Ein Mädchen! — Ich bebte vor Angst, mein Atem könnte die Erscheinung verwehen, und hielt inne zu atmen. Keine zehn Schritt von da, wo ich stand, kniete ein Mädchen auf rasenbewachsenem Grab, das Kreuzlein als Stütze gebrauchend für Gesicht und Hände. Gott, das Bild, das mich bannte, als wär' mein ganzes Erdenwallen hier am Ziel und machte halt: da kniete endlich leibhaftig vor mir die, die ich suchte, träumte, wünschte — so wünschte ich mir die Begegnung, den Ort, den Zufall, Umstände, Zeit und alles — so träumte ich ihre Gestalt, Jugend, Kleider, ihre Verlassenheit, Armut, Hilflosigkeit. Und ich ihr Retter jetzt! Ich der Auserkorene, Gottgesandte, der diese auf ihrer Mutter Grab verzweifelnde, von aller[S. 147] Welt verlassene Waise aufhebt, heimträgt, glücklich macht ...

Ob ich einen Schrei ausstieß? — Das Mädchen richtete sich erschrocken auf, sah mich an und — — der Traum war aus. Das Bild verwischt. Das arme, hilfesuchende Waisenkind mit den flehenden Augen — das schutzlose Wesen, dem ich Retter wollte sein — ach! das herrliche Idyll von naiver Jugendschwärmerei, das ich mir malte mit so stillem Blau, als nur die Sehnsucht noch vom kälteren Blau des Himmels unterscheiden kann, fort war es — fort.

Und vor mir stand an seiner Statt ein Cherub, der mich anblickte, so majestätisch, daß ich zum Bettler schmolz — so überirdisch, daß ich nackt in aller meiner Sinnlichkeit mich fühlte. Ein Cherub, der die Schlüssel trug zu meinem Himmelreich — den Zutritt zur Glückseligkeit mir gestatten konnte oder verwehren, je nach seiner Willkür. Jetzt war ich der Arme, Hilflose, Bettler und Verzweifelte. Hier blieb nichts mehr zu retten für mich, nichts als mit letztem Atem aus gepreßter Brust zu wimmern: »Gnade!«

Ich tat's — und sank zu Füßen meiner — Eva.


Goldorangengelb am wolkenlosen Horizont stieg die Abendsonne in die Nacht hinab. Das himmlische Licht, das mit blendender Majestät den Tag beherrscht, daß aller Augen Blicke sich verhüllen müssen —- es ist doch nur der Venus Vorgespann.

So viel sie auch singen und dichten mögen, predigen[S. 148] und beweisen vom Höchsten, das eine Sonne über allen Sonnen ist — laß sie nur predigen und blinzeln, weil es Tag ist: des Abends magnetische Schatten führen, ohne auf Widerstand zu treffen, auch sie zu dem Hochaltar, auf dem die Schöpfung opfert — zum Weib. — —

Ich konnte keine Stunde lang leben, das fühlte ich. Meine Kammer war eng, jetzt war sie tatsächlich ein Sarg, der sich zu schließen drohte. Ich kniete nieder und versuchte zu beten; aber die Verbindung war gerissen zwischen Gott und mir — irgend jemand stand zwischen mir und Gott. Ich ging ein wenig hin und her — aber das brachte mich nicht näher. Ich setzte mich ans Fenster — aber das machte mich unruhiger. Ich stand wieder auf — kniete nochmals. Die letzten Küsse eines Mädchens, das ich vom Kirchhof nach ihrem Kosthaus geleitet hatte, brannten meine Lippen, meine Wangen, meine Stirne wie glühende Kohlen.

»Ich ersticke!« schrie ich, und Hut und Rock ergreifend eilte ich hinaus ins nächtliche Gewühl der Stadt, von dem wahnsinnigen Gedanken gerissen, eine unbescholtene Jungfrau mitten in der Nacht aus ihrem Bett zu rufen.

Ein vorübersausender Straßenbahnwagen schnappte mich jedoch weg vom Erdboden, und fort ging's auf rollendem Gefährt — entgegengesetzt aber von »Ihr«.

Eine Stunde später, im Norden, wo die Großstadt sich malerisch auflöst in Landschaft, wankte ein Mensch, offenbar ziellos, durch Farmland. Auf[S. 149] Augenblicke blieb er stehen und reckte die Arme aus, als wollte er die Welt mit allem, was sie birgt, umfangen. Dann setzte er seine Wanderung wieder fort. Wer ihn nicht kannte, würd' ihn für einen Verirrten halten, oder gar für einen jener Unglücklichen, die dem Dasein entfliehen möchten. Plötzlich machte er halt — warf sich platt ins Gras, mit dem Gesicht nach unten — und so blieb er liegen.

Dicht an ihm vorüber rauschte ein mächtiger Strom, unerschöpfliche Wassermassen wälzend. Ringsum wogten, wie die Wasser dort, die Felder und Wälder hier. In eifersüchtigem Wettstreit, sich gegenseitig überragen zu können, reckten sich die Bäume über Sträucher, diese über Blumen und Gräser. Lauwarm wehte die Nachtluft um das Ganze, des Stromes züngelnde Wellen, des Waldes wogende Wipfel, das Weben und Leben der Welt hier unten, hinauftragend in die lichtgefüllten Höhen als Schlummerlied der Sommernacht.


Als ich mich von langem, erlösendem Weinen endlich wieder aufrichtete und umsah, war es mir, als wäre ich das Leben und alles andere tot. Mir war, als sei die Welt ein Nebelbild, Schein, und ich der Zweck, der Mittelpunkt, der rote Faden, der die beiden Enden knüpft; als sei ich das Bild und dieser unermeßlich weite Raum nur der Rahmen zum Bild. Vor mir lag in weitem Becken ein Wasser; ich bemerkte nicht, daß es der große Mississippi war, der[S. 150] gurgelnd und plätschernd am Ufer vorbeimarschiert durchs Tal, zum Meer, und unablässig Wasser auf Wasser drängend ewig sich verändert. Ringsherum standen Gebüsche, Fruchtbäume, Schilf und wilde Blumen, wie leblose tote Dinge; ich bemerkte nicht, daß sie alle grünen, wachsen, blühen, ewig sich recken und dehnen, sich verändern. Hoch über meinem Scheitel pendelten die Sterne als eine Welt über der Welt. Mir schien sie regungslos, immer gleich, auf dunkelblauem Samt die edelsteingestickte Bettgardine einer eingeschlafenen Natur. Ich bemerkte nicht, daß alles dort oben wie hier unten sich dreht und treibt und stößt und zieht — Leben saugt und gibt — mit gleichem Recht und Grund wie ich Unendlichkeit und Ewigkeit benützt als Tummelplatz für der Liebe Maientanz, für der Sehnsucht Herbstgefühl, für sommerschwüle Lust — und Wanderung durch winterkalte Nacht.

Dort stehen sieben Sterne und spiegeln sich auf dem Wasser. Das ist der Orion. So strahlte er in stiller Majestät über dem Griechischen Meer, während Homers Lieder die gottgeschwängerten Lüfte tränkten. So strahlte er in stiller Majestät über der Urwelt dampfendem Morast, während giftig hauchendes Gestöhn der Drachen durch das Schweigen banger Nächte ging.

Es gab eine Zeit, wo jenes Licht dort oben nicht am Firmamente glänzte, wo andere Lichter oder keine jene Kohlensäcke füllten, und keine Erde hier am Boden lag, kein Meer noch Land.

[S. 151]

Senkrecht über meinem Scheitel hängt ein grüner, magisch reiner Stern und schaut herab aus seiner Welt in meine. Welch ein Weg von dort zu mir? von jener Sonne, von jener Welt in Brand und Glut, die feuerlodernd ihre Fackeln wirft, als gält' es Untergang der Finsternis und Kälte. Welch einen Raum zum Denken, Staunen — Beten hat der Schöpfer aussgespannt zwischen hier und dort?

Aus all den kreisenden Systemen und den ungezählten Wesen, die sich decken und verstecken hinter Kohlenstaub und Eis, die heute sind und morgen nicht; aus allem, was da oben und hier unten den Raum erfüllt — nur einer hat den Platz behauptet — nur einer hat sich durchgerungen, durchgelebt. Aus diesem Chaos von Atomen einer. Von allem, was sich regt im Kampf ums Dasein — einer war der Stärkste, Zäheste — der Glückliche, der Sieger aus der Schlacht einer halben Ewigkeit, mit Feinden wie der Sand am Meer so viele — einer, einer nur. Und dieser eine, der bin ich! — Ich bin der Unbezwingliche, der einzig Lebensfähige, das Meisterwerk, der Schöpfung Krone, dem Schöpfer nah — und drücken sie das Universum durch ein Sieb, sie treffen nichts, das ebenbürtig zwischen uns sich stellen kann und darf.

Ist das hochmütig geredet? Ist das Gotteslästerung?

O, tiefste Demut ringt in mir mit höchstem Dank um die Oberhand! — Mein Gott! um welchen Preis bin ich das Ebenbild von dir? Um welche[S. 152] Opfer?! — Da liegt meine Mutter als das erste hinter mir; ihr Weh und Winseln, das mich in die Welt gestellt, bis müd und abgespannt von tausend Mühen meinetwegen ihr Leib zu Grabe sinkt — das erste Opfer. Arme, arme Mutter du! — Und hinter dir, zum gleichen Zweck verwendet, deine Mutter. Und hinter ihr ihre Mutter. Und ihre Mutter. Und ihre, ihre. Unerschöpflich wie im Strom die Wassertropfen, Kopf an Kopf, Gesichter an Gesichter, marschiert das Totenreich, mobil in allen seinen Regimentern, aus der Vergangenheit heraus — vorbei an mir.

Mein Gott! Um welchen Preis bin ich hierhergestellt? Um welche Opfer? Über so viel Leichen wie auf Treppenstufen mußt' ich steigen? Gibt's keine andere Leiter, die vom Boden unten hinaufreicht zu dir? — Ach, es gibt nur diese eine, sonst stellte Weisheit und Barmherzigkeit die andere hin.

Und diese Blicke all auf mich geheftet — dieser Augen Trillionenzahlen starr und fragend, als wäre ich das Rätsel aller Rätsel, der Mittelpunkt in Raum und Zeit. Und dieses fremde, wüste Treiben. Je weiter rückwärts mein entsetztes Schauen greift, dieses Würgen, Morden, Schlachten. Verwilderung hält Schritt mit Rückgang — und so mein Ekel. Behaarte Menschen seh' ich splitternackt, auf allen vieren aus der Höhle kriechen und kannibalisch rohes Fleisch zerreißen. Und hinter ihnen dampft der faule, mitternächtige Morast mit riesenwürmergleichen Schachtelhalmen, schlüpferigen Kröten, Molchen, stacheligen[S. 153] Saurusdrachen, die von sich spritzen, was sie trinken, mit der Eingeweide Gift gemischt.

Durch diese Höllengasse mußt' ich wandern? Und du mit mir? Gott, du mit mir? Gibt's keine andere Leiter?

Und all die Greuel dieser langen Reise, all die Barbareien, die viehischen Verbrechen, all die Sünden, die zum Himmel schreien, mußtest du, Allheiliger, vorüberziehen lassen. Billionen kalte Morde, Billionen Tyranneien, Flüche, Meutereien, falsche Eide, Ungeheuerlichkeiten, die um Rache schreien — Bastardmischung zwischen Tier und Menschen unterm Hurrabrüllen und Gewieher schadenfroher Teufel — mußtest du vorüberziehen lassen. Mit keinem andern Trost als: »Später, später« überladene Herzen brechen lassen; Gottvertrauen untergehen lassen; Unschuld untergehen lassen. All die Blicke, die zum Himmel flehen; all die Klagen, Seufzer — der Schlachten Brüllen — der Folterkammern schrilles Schreien — der Kerker hohles Heulen — der Krankenstuben Stöhnen — den Jammer einer ganzen Welt von End' zu End', mit keinem andern Trost ertragen als: »Später, später!« bis der schneckenträgen Weltgeschichte Räderwerk (mit klebrigem Blut geölt) der Hölle tierisch Teil an mir zu Kot zermahlt.

Hat je mit so viel Gram und Wehen eine Mutter ihre Frucht geboren, wie du, o Ewiger, dein Ebenbild?

— — — Ha, ist es das?! Allmächtiger, ist es das?! (Mir ist, als seh' ich ein reibend Schwefelholz[S. 154] an meiner Kerkerwand und find' die Tür — — Haltet mich, o haltet mich!) Auch du, Gott?! Auch du? Ist es möglich, auch du? O mein Erzeuger, der du bist, ist es möglich, auch du kämpfst wie ich den Kampf ums Dasein? — Die gleiche Scheu vor Stillstand wie die meinige ist dein. Das gleiche Fühlen, Denken, Sehnen ist uns eigen — nur in allergrößtem Maße dir. Die gleiche Sucht nach Einigkeit, Fortschritt, Freiheit, nach einem Gegenstand der Liebe (außerhalb), nach ewiger Glückseligkeit macht uns kämpfen — mich im engen Zirkel meines Selbst — dich im unermessenen Raum, mit einem Feind, dir ebenbürtig an Mitteln, Macht und Zähigkeit. Du mit Licht — er mit Nacht. Du mit Wärme — er mit Kälte. Du mit Leben — er mit Tod. Du mit Geist und Willen — er mit Körperträgheit. Du mit Liebe, Wahrheit, Schönheit — er mit allen Gegenteilen. — — Und dieses Riesenkampfes Gleichgewicht verschieben können nach rechts oder links, Ewiger! das kann ich?? — Ich kann dir trotzen und deine Allmacht entthronen? Deine Majestät entkleiden? Dir Glückseligkeit verbittern? Den ganzen, weiten Plan der Schöpfung stempeln mit Fehlschlag? Dich ausliefern dem Hohngelächter deines Feindes?

O, daß du mir diese Waffe zeigst — scharfgeschliffen wie sie ist, sie mir anvertrauest — welch ein Vertrauen! — Nach langer, langer Nacht gedankenlosen Schlafens wach' ich auf, und wie ein Kind zuerst aus der Mutter Augen Liebe trinkt und[S. 155] dann die Milch der Brust — ich liebe dich, Gott! Zum ersten Mal in meinem Dasein ruf' ich ehrlich aus: »Ich liebe dich, Gott!« Bis heute betete ich dich an — mit Staunen und Grauen maß ich deine Majestät — aber lieben? — Leere Worte waren meine Schwüre. In Maß und Form warst du ein überirdisch Ding für mich, so unverwandt und fremd wie ein Gespenst.

Ist Mitleid inniger als Staunen, und Liebe wärmer als Angst — ist Vater schöner, inniger als Gott — »Vater, ich liebe dich! Vereint sind wir allmächtig. Vereint sind wir die ewige Glückseligkeit — getrennt verloren

Und jeden Morgen, wenn ich neugestärkt zur Wirklichkeit erstehe und flüssig Blut, geerbt von dir, durch meine Adern pulsen spüre — lebendig Hirn, geerbt von dir, an meine Schläfe pocht — »Vater, ich liebe dich!«

Kürzen kann ich dieses pulsende, warme Leben; enden plötzlich, wenn ich will; die ganze Arbeit einer halben Ewigkeit von dir vernichten, wenn ich will; dem Feinde »Tod« mich ins Lager liefern als ein Meuterer von dir — — »Vater, ich bleib' dir treu!«

Wenn Waldesschatten mich in ihrer seelenvollen Sprache bitten: »Bleib — hier ist Moos zum Ruhen, dort der Quell; Beeren, Blumen überall, wohin du greifst; die Bäume schützen dich vor grellem Licht und rauhem Wetter; die Felsen mich vor allzuviel Besuch. Ist Gott nicht gut, daß er sich meiner Einsamkeit erinnert, und jedes Jahr mir viermal[S. 156] passend neue Kleider schenkt« — — »Vater, ich liebe dich!«

Wenn Sommermittagssonnenschein das vollste Treiben weckt, Gärten, Fluren, Felder schwelgen im Leben, die Schöpfung dröhnt von tausend Stimmen, alle durcheinander jauchzend, lachend, singend; oder wenn Nachts die Allmacht auf die Bühne tritt in voller Majestät der Kraft, und vor aufgezogenem Vorhang zeigt, was sie dem Tod und Stillstand abgerungen in der Zeiten Lauf — und jeder Blick in jene sternenvollen Tiefen mit Demut beladen zurücksinkt — — »Vater, ich liebe dich!«

Ein Fackelwurf aus meiner Hand genügt, und jene Waldidylle brennt zu Asche. Ein Losketten meiner Instinkte genügt, und jenes Paradies von Gärten, besäet mit Wohnungen glücklicher Geschöpfe, verwandelt sich zum Pandämonium eines brüllenden, rauchenden Schlachtfeldes, und Leichengeruch statt Blumenduft qualmt dir ins Angesicht. Und was, mit deiner vielgepufften Sternenherrlichkeit? Steck deine Kerzen du auf trillionmeilenhohe Leuchter — ich kann mir das Denken verhalten — die Vernunft schänden — bis blöd und tierisch Gottes Ebenbild dein Schauspiel sieht wie die ausgesperrte Kuh den Mond. Soll ich noch mehr dich höhnen? — — »Vater, ich bleib' dir treu!«

Hat je ein Künstler seine Arbeit gut gemacht — mit vollster Seele liebsten Stoff geformt, bis alle seine Wünsche sich verwirklichten im Meisterwerk. O, dieser Spiegel — und der Rahmen zu dem[S. 157] Spiegel! Vor keinem Spiegel lacht und weint der Mensch so ehrlich und so viel wie hier. In keinem Spiegel sieht der Mensch sich selber so wie hier. Vom hellsten Blau herab zum tiefsten Schwarz, in allen Farben, die ergreifen, strahlt der Spiegel ihm sein Bild zurück. Hier sitzt der Greis und schaut die hundert Schichten seines Lebens, die er im Flügelhemdchen bis herab zur Krücke durchgelebt mit Leib und Seele, und Gefühle, die geschlummert haben jahrelang, sie tauchen aus dem Spiegel auf und grüßen oder zürnen. Hier kniet die Mutter, der in langer Sorgennacht das Herz gebrochen, stundenlang vor diesem Spiegel, bis vom Schauen ihre Tränen trocknen, der bittre Mund sich öffnet zum verklärten Lächeln. Vor diesem Spiegel steht der Ewige mit Stolz und triumphierender Genugtuung — gemischt mit weher Sorge, der Spiegel möcht' zertrümmert werden von verfluchten Buben — denn Schöneres kann er nimmer machen, das ist sein Meisterwerk. Das ist das Gegenteil vom Tod — das ist der Allmacht stärkste Karte, die sie dem Feinde Tod auftrumpfen kann im Spiel um die Oberherrschaft dieser Weltkontraste. Der Spiegel ist das Kind! Des Kindes Seele, des Kindes Augen — Leib und Seele widerspiegelnd.

»Vater, ich liebe dich!«

Schaudere — — was kann ich hier verwüsten, wenn ich will, an dieser hilflosesten der Kreaturen? Mit Ärgernis, mit Grausamkeit, mit Vernachlässigung, mit Mißleitung, mit Mißbrauch meiner Zeugungstriebe?[S. 158] Hier bin ich selber schier allmächtig, wollt ich zerstören, was du aufgebaut.

»Vater, ich bleib' dir treu!« Dein Wille sei der meine. Dein Geist der meine. Dein Feind der meine. Wahrheit um jeden Preis und jedes Opfer sei von nun an meine Religion! Gerechtigkeit meine Religion, Opferwilligkeit meine Religion; zu großer, friedlicher Familie deine Menschen vereinigen, bis alle dich sehen wie ich, meine Religion. Und fortschreitend wie ein Siegesmarsch, im Schlachtenrauch, zu immer höheren Höhen — aus bettender Nacht des Stillstands zu immer lichterem Leben, zu reinerer Erkenntnis — aus des Daseins Sturm und Drang die Treppe bauen, bis die letzte Stufe den Thron streift und Gottes Ebenbild zu deiner Rechten sitzen kann — von dannen es kommen wird am Ende der Schlacht mit aller Kraft und Herrlichkeit, zu richten die Lebenden und Toten!

»Vater, ich liebe dich!«

Und nahet mir des Lebens letzte Stunde — und jenes Ding, das Blut gerinnen macht und Todesschweiß durch alle Poren preßt — —

Noch einmal seh' ich dann, wie der Wanderer auf höchstem Paß, zurück und schaue mein Erdenwallen einer weißen Straße gleich. Dort im Tal liegt meiner Jugend immergrüner Tummelplatz. Dort seh' ich die ersten Schatten, die mir Wetterwolken auf den Weg geworfen. Dort die erste steile Felsenwand. Dort den jähen Abgrund mit der schwanken Brücke.[S. 159] Dort den Wald mit Angst und Sehnen nach dem Ausgang. Noch einmal empfind' ich Verlangen zum Bleiben in der Welt, so heiß wie nie zuvor — und Trennungsschmerzen, eh ich fort bin — und Heimweh, eh ich abgereist — und Reue, eh ich gerichtet bin. Noch einmal, ach! durchschauert meine Seele jenes himmelahnende Gefühl, das Gesang und rauschende Musik allein im Menschenherzen wecken kann, bis wollustgleich in Tränen Lust und Leid sich entladen.

Kühl war der Morgen; heiß der Mittag; müde wankt das Kind am Abend in die Kammer, an sein Bett. Das Erdenleben gleicht dem langen Tag. Viel Blumen sind zertreten worden — viel ist herumgestritten und gerissen worden — Gesicht und Händchen sind ihm schmutzig, sein Kleidchen schier in Fetzen — wild war sein Spiel im langen Tag — doch, gebe Gott, es war ein Spiel. Noch einmal weint das Kind aus Müdigkeit, aus Leid ums abgerissene Spiel an seiner Mutter Brust: Natur; und dann — — ist Schlafenszeit.

»Vater, ich liebe dich!«

Ob ich unsterblich bin? — Unwiderruflich, ja! wenn ich will.

Ob mein Endziel höchste Glückseligkeit wird sein? — Unwiderruflich, ja!

O, meine Eva! meine Eva! Auf halbem Weg zu der Vollkommenheit erst, und deiner Küsse Seligkeit!

Dank, Dank, Allgütiger! Ich danke dir, vom[S. 160] ersten Werden bis hierher und ewig. Vater unser, der du bist! Ich verbleibe grenzenlos dankend

Dein liebes

Kind.


Pilot Knob, den 1. Januar 1901.

Lieber Bruder mit Weib und Kind!

Heute ist Neujahr. Mit ungezählten Segenswünschen beginne ich diesen Brief. Möge Gott Euch die Vergangenheit vergessen machen im Rausch einer fröhlichen Zukunft. Möge alles, was er zurückhielt an Freud' und Wohlergehen, hundertprozentig Euch ausbezahlt werden.

Das war ein böses, rauhes Jahr, das vergangene. So ein paar mehr noch könnten selbst dem Leichtsinn graue Haare wachsen machen. Wir armen Menschen — wir armen Leute!

Also, Neujahr.

Als ordnungsliebende Hausfrau — (lieber Bruder! Du hast in sämtlichen Briefen seit Deinem Unglückstag so viel Unverdauliches zusammengebraut und gebraten, daß unbedingt hausbackene Kost auf den Tisch muß zur Abwechslung, oder wir werden noch alle krank. Trockenes Brot — hier ist es:) Als ordnungsliebende Hausfrau nehme ich jetzt, gleich einem guten Geschäftsführer, die Warenaufnahme vor und beginne mit dem Hauptartikel der Haushaltung — mit Peter.

Mein Peter ist heute vierzig Jahre alt und vier[S. 161] Wochen. Er kam also herausgekrochen zu einer Jahreszeit, wo andere Bären sich verkriechen in ihre Höhlen zum Winterschlaf. Er machte auch hierin die eigensinnige Ausnahme, wie immer und überall. Wenn's schneit und friert, geht er in Hemdärmeln spazieren. Im Sommer ist ihm am wohlsten im schweren Rock, und — die Pelzmütze ist ihm buchstäblich auf dem Kopf verlaufen wie ein zu stark gebrühter Waschlappen, sonst hätt' er sie nicht abgelegt ums Verzweifeln. Daß Peter schlafen kann sitzend, stehend, mit dem Kopf nach unten, die Füße hoch, das hab' ich Dir schon früher berichtet. Ich zweifle nicht, daß er über die Waschleine gehängt wie ein nasser Strumpf ebensogut träumt und schnarcht wie im Federbett. Er ist das Ausnahmegesetz. Fahren die Bergleute zur Grube, ist Peter immer der letzte, der hinuntergeht, und Abends der erste, der 'raufkommt. Gelt, Bruder, das dünkt Dich ein fauler Arbeiter. Aber Peter ist nichts weniger als faul; er ist der längste Bergmann in der Schicht, und fährt der Fahrstuhl zur Tiefe, so verschwindet sein geliebtes, teures Bild zuletzt; und Abends erscheint sein Grizzlischädel schon, wenn seine Kameraden noch weit unten im finsteren Schacht atmen — hahaha!

Sonst ist Peter ja schon recht. Er kaut allerdings fürchterlich viel, raucht aber weniger und trinkt noch weniger, und fleißig ist er für drei. Er hat das ganze Jahr über keinen Arbeitstag versäumt (den Streik ausgenommen). Das ist abermals eine Ausnahme, verglichen mit andern Bergleuten, jedoch[S. 162] eine so gute Ausnahme, daß ich Gott danke und bitte, mir meinen Gatten noch viele, viele Jahre zu erhalten.

Nach dem Vater kommt von Rechts wegen die Mutter im Haushalt. Und geht's dem Alter nach, bin ich noch einmal Nächstes; ich bin schier dreiunddreißig alt. Weil Ihr beide jedoch stark im Waschgeschäft interessiert seid und ich ebenfalls (ich wasche außer meiner Hauswäsche für zwei Dutzend ledige Miner, die nebenan in Kost sind), so möchtet Ihr am Ende denken, ich trommle Reklame für meine Popularität und versuche Euch Kunden wegzuschnappen; darum werde ich Jennie vollständig ignorieren und die Ware, anstatt dem Alter nach, der Größe nach vornehmen.

Ich bin jetzt nur mehr die dritte Größe im Haus. Ja, ja, 's geht abwärts mit mir. Zwischen meinem Mann und mir, oder besser gesagt: zwischen dem alten Peter und mir, steht der junge Peter. Der junge Peter ist mein Ältester. Trotzdem er der Älteste ist, ist der andere der Älteste. Der Älteste ist also nicht mein Ältester, sondern mein Alter, und der Jüngere ist mein ältester Sohn.

Lieber Tom, Du siehst wie ich närrisch werde vor Freud', komm' ich auf meine Kinder zu sprechen. Und warum auch nicht; sie sind mein Leben, mein Leib und Seel', mein alles. Sie glücklich machen ist meiner Liebe allerhöchstes Ziel, mein schier einziges Gebet zu Gott.

Also noch einmal der Peter. Damit die Verwechslung[S. 163] aber endgültig aufhört, sage ich: der kleine Peter. Der kleine Peter ist größer als ich!

Er ist jetzt vierzehn Jahre alt — und seines Vaters Ebenbild. Er hat ganz die niedere Stirn, die braunen, phlegmatischen Augen — aber auch die undurchkämmbaren Borsten auf dem Dickschädel und den Knochenbau des Alten. Er wird noch ein Riese werden. Oft erfaßt mich eine Wut wider die Natur, die mit einer geradezu eselsgeduldigen Pünktlichkeit sich abgemüht haben muß, die beiden Peter so gleich zu machen wie — Billardbälle. Es gibt doch so viele und gefälligere Modelle.

An meinem Sohn kann man aber ersehen, was Erziehung macht aus dem Menschen. Peterchen ist ein Kind und wird's noch lange bleiben. Groß, schier wie ein Mann, und kräftiger als manche Männer, ist das Kind so weich und still, innig, gefühlvoll. Schauen wir uns an — es dünkt mir oft, es lese der armen Mutter Sehnen, Weh und Klagen aus ihren Augen. Ja, ja, und oft drängt es mich zum Weinen beim Kuß und »gute Nacht«. So war einmal der Jennie Traumbild gewesen, als sie ihr blutjunges Leben opferte — einem Wahn.

Im neuen Jahr nun muß Peterchen zur Grube. Der Alte will's. Meine Angst wird dann verdoppelt: Vater und Sohn; denn Bergmannsleben ist ein gefährliches Leben. Ach!

Nach dem Peter kommt der Willie. Der ist elf Jahre alt. Den Zeitraum zwischen Peters und Willies Erscheinen (Du weißt es selber) füllte die[S. 164] Vorsehung aus mit dreijähriger Prüfung an mir. Schier war es zu viel und zu lang für mich armes Weib; und daß ich herauskam aus der Angst und Qual, der Ratlosigkeit, Trostlosigkeit, Armut, Entbehrung, Enttäuschung — sag' ich es gerade heraus — aus der markverzehrenden Reue, einen Mann geheiratet zu haben, so rasch und leichtsinnig, wie ein weltunerfahrenes Mädchen es fertig kriegt, wenn es schwärmt, träumt, träumt — —

Das war ein Tag, als meines Mannes erstes herzloses Wort mich aufschreckte vom Träumen und mich stehen ließ in kalter Hütte der Not, getrennt von Mutter, Vater, Bruder, Jugend — ungeliebt. Daß ich das überleben konnte und stärker, besser noch herauskam aus der Schule, das zeugt, denke ich, von großer Kraft der Seele. — Ich bin also auch eine Riesin und stärker noch als Peter!

Begreiflich, wo solche Kräfte existieren und produzieren, muß das Resultat ein Wunder werden. Und Willie ist das Wunder! Willie ist das Wunderkind, das Zauberkind, ist meiner Wünsche Erfüllung, meines Himmels hellster Stern. Mir scheint, der Allgütige habe mich entschädigen wollen, belohnen wollen für mein Stillhalten auf der Folterbank des Lebens und schenkte mir Willie.

Mein Kind! Mein Kind! Kann so viel Segen, Seligkeit, Harmonie, Himmel zusammengehäuft werden in diese kleine, schwache Form — Gott! wie muß dein Ganzes sein, ein Sonnenmeer!

Soll Willies Hoffnung erfüllt werden, dann wird[S. 165] er Priester. Das ist sein heißer, schier einziger Wunsch. Meiner auch. Wenn ich diese Freude erleben darf, mein Kind stehen sehen vor dem Hochaltar als Priester — — Aber ich will nicht sündigen, guter Gott — ich will nicht zu viel verlangen. Gott, du weißt, es ist nur die fieberphantasierende Mutterliebe, die solch verwegene Bitten richtet an dich. Verzeih mir's, Gott. — Aber ich wär' sehr glücklich, sehr, sehr.

Willie ist der beste Schüler in der Klasse und der Lehrerin Liebling. Talent und Fleiß eroberten ihm diese Stellen. Dann ist Willie noch Ministrant in der Kirche. Dann ist er noch der Liebling des Herrn Pfarrers. Er ist überall und aller Menschen Liebling; sogar meiner, hahaha!

Bruder, jetzt muß ich Dir die Geschichte doch erzählen. Eine Weihnachtsgeschichte. Ich wollte sie eigentlich nie erzählen. Wie einen am Weg gefundenen Schatz wollte ich's verbergen, verstecken, heimtragen und die öden Räume meines armen Herzens damit schmücken, und damit spielen in traurigen Stunden. Jetzt aber will ich Dich einweihen und zugleich meine überschäumende Mutterfreude erleichtern.

Elf Uhr Nachts. Um zwölf begann die Messe. Willie und Mama wickelten sich so warm wie möglich in Kleider und verließen still die Hütte. Peter und die Kleinen schliefen. Der Weg zur Kirche ging talwärts und kostete uns kaum die halbe Zeit, die wir hatten. Dünner, frischgefallener Schnee deckte Flur und Feld, Sternenpracht die Berge und Wälder, Ruhe alles.

[S. 166]

In der Kirche angelangt, nahmen wir Abschied. Das Kind verschwand oben im Chor, die Mutter unten links, im hintersten Winkel.

Dort kauerte ich nieder und zitterte ein wenig. Ich hatte Kopfweh und kalte Füße. Dann schloß ich müde meine Augen.

Als ich sie wieder öffnete, brannten die Kerzen auf dem Hochaltar und Lichter ringsum. Die Orgel begann harmonische Laute durch den Raum zu wälzen — geisterhaft wie Sturmesklagen in der Waldesnacht — anschwellend, zurücktretend, donnernd laut, flüsternd, wehmütig flehend, auf jedem Pfad der Möglichkeit den Eingang suchend in das Menschenherz — die müden Geister aufzuwecken zum Gebet, zum Lieben, Hoffen.

Und wieder schloß ich meine Augen.

Da — o Gott! Ein Lied, eine Stimme, süß, engelrein, meine Sinne so ergreifend, die Seele mir aussaugend, zitterte herab zu mir:

»Stille Nacht! heilige Nacht!
Alles schläft, einsam wacht
Nur das traute, hochheilige Paar —«

O, das Lied! ich kenne es. Der Engel, der es singt! ich kenne ihn — er ist mein Kind! mein Kind! — — O, der Mutterfreuden höchster Berg, den ich erstiegen habe — nur ein Schritt vom Himmel — nur noch sterben.

Allmächtiger! Darum meine Dornenpilgerreise durch das Leben. Darum diese lange Kette von Schmerzen, Sorgen, Enttäuschungen. Vom Schlaf[S. 167] in der Wiege bis hierher, die tausend ungestillten Tränen, unerfüllten Wünsche zagender Bescheidenheit. Darum dieses dunkle, wirre, rätselvolle Erdenwallen; der Zickzackgang zum Grab, das Hoffen, Harren, Hasten, Hängenbleiben, das Suchen nach der Ruh', das Grauen vor der Ruh'. Darum mußte Jennie geboren werden dort am Berg in Armuts Armen, in der Bettlerhütte. Von einer Mutter, reich nur im Entsagen, im Mut, den Kampf zu wagen gegen Hungers Not. Hungrig zur Schule gehen, barfuß zur Kirche — die ungestillte, verkrüppelte Lernbegierde mir ausartend zur wilden Sucht und Schwärmerei. Darum mußte die arme Jennie, die Waise — und der Bruder ihr so fern — sich anklammern an den Mann, der jetzt ihres Kindes Vater ist — — Gott! wenn das der Plan war, dann lob' ich das Schicksal und bet' es an!

Ein Kuß weckte mich aus meiner Träumerei. Willie lag mir in den Armen und lächelte: »War's schön, Mama?«

Siehst Du, Bruder Tom, ich war auch für ein Stündchen in des lieben Herrgotts Werkstatt und durfte sehn, wie die Räder laufen.

Dann verließen wir Gottes Haus ebenfalls. Wir waren die letzten. Draußen lag der frischgefallene Schnee. Leichentuchartig deckte er die Erde, ein Bild der Vergänglichkeit. Der Himmel zeigte durch zerrissener Wolken Schleier das Bild der Unvergänglichkeit. Zwischen beiden schwebten wir der Heimat zu; bergauf.

[S. 168]

Willie ging voraus, mit trippelnden Schritten, leichtfüßig wie die Jugend. Und die Mutter folgte, schwerfällig wie das Alter.

»Willie!« sagte ich, als wir den Steg über den Bach hinter uns hatten, »hast du viel Angst gehabt beim Solosingen in der Messe?«

»Gar nicht, Mama.«

»Willie!« sagte ich, als wir an der Hütte des Murphy vorüberschritten, »hat der Herr Pfarrer Gute Nacht gewünscht, als du weggingst?«

»Sollt's meinen, Mama.«

»Willie! hast du dein Mäntelchen ausgezogen in der Kirche?«

»Ja, Mama.«

»Willie! friert's dich?«

»Nein.«

Der Weg wurde steiler und ich hatte Not, dem Knaben zu folgen. »Willie! kannst du langsamer gehen, ein wenig?«

»Ja, Mama.«

»Nur ein wenig. So. — Willie?«

»Mama?«

Ich blieb stehen. Der Knabe blieb auch stehen — und wendete sich um nach mir. Sein Gesicht glühte hochrot von Blut und Lebenswärme. »Willie!!« schrie ich auf einmal. Ein Windstoß wehte weiße Schleier kalten Schnees auf mich und ihn und versuchte uns zu trennen — aber ich lag auf den Knieen vor dem Kind und hielt es heftig an mein Herz gedrückt. »Warum so kalt und leer zu mir mit Ja[S. 169] und Nein, den Blick nach oben? Sind die Sterne dir schöner als deiner Mutter Augen? Küß mich, Kind! Lieb mich! O, lieb mich — bitte — bitte!«

Und da, vor Gott allein, getrennt von dieser Welt durch eine Wolke Schnee, die tausendfältig glitzernd uns verhüllte, wie Glorienschein die Seligen — da lag er mir am Herzen, glühend heiß mich küssend, liebkosend: »O Mama! Mama! so lieb!« — —

Tom! male weiter, wenn du willst — ich muß schwenken. Die wilde Jagd kommt: die Kinder kommen von Potters Farm mit Weihnachtsgeschenken, und Klein-Molly hat sich so müde gewirtschaftet, daß Peterchen sie tragen muß. Jetzt weg mit Tinte und Feder. Juchhe! meine Plagegeister. O, ich bin übernatürlich glückselig. Wirklichkeit ist doch schöner als schönstes Träumen!

Jennie.


Brooklyn, den 14. Januar 1901.

Liebe Schwester!

Ich bin also abermals arbeitslos. Die meisten Stunden des Tages sitze ich in meiner warmen Küche zu Brooklyn, und schreibe ich nicht, dann gaffe und gähne ich durchs Fenster auf die winterliche Straße hinunter und zähle die Pflastersteine.

Letzten Samstag morgen passierte ich die Linie, die im Ausbeuterdialekt »Überflüssig« benannt wird, oder verständlicher gesagt: ich wurde mit einem Tritt auf den Hintern ehrenvoll entlassen.

[S. 170]

Der Pat, der unverschämte, gewissenlose Irländer, wollte mir den Gefallen nicht tun und — — nein, den Tod wünsch' ich ihm gerade nicht — aber — aber — ja, hier ist guter Rat teuer, was ich dem armen Mann mit seinen elf Kindern wünschen soll. Eine Million Silberdollar wünsche ich ihm und Gesundheit dazu. Basta! Amen!

Ja, der Pat meldete sich zum Dienst zurück. Er ist noch gar nicht fähig dazu. Er sieht schrecklich krank und wackelig aus. Ich glaube kaum, daß er den fünften Stock des Warenspeichers erklimmen kann ohne Alpenstock. Aber so geht's halt im glorreichen Lande Onkel Sams. Die Sorge, ich möchte mich in seine Nachtwächterstelle festbeißen, die Angst um sein täglich Brot jagte den Proletarier, nur halb geheilt, aus dem Lazarett ins Kampfgewühl der Konkurrenz.

Daß genug Verdruß übrig bliebe, ohne den, den man sich selber macht — ich meine, die Menschen sollten sich wenigstens die Existenzsorgen vom Halse halten, und Jammer bleibt genug übrig, ohnehin, um verrückt werden zu können.

Das sind übrigens pensionierte Themas für mich. Tom Pratt hat keine Zeit mehr, der Mißwirtschaft Parade abzunehmen. Seine ganze Energie geht auf in seiner, jetzt nahezu fertigen Dichtung »Der Seestern«! — Schwester, nicht genug danken kann ich Dir für den Rat, ich soll das Dichten als Basis meiner Zukunft wählen. Du sagst, Gott habe Dir den erlösenden Gedanken eingehaucht. Ich glaub's. Das ist die Weise, wie er zu uns spricht! Wenn[S. 171] wir ruhig sind und lauschen, dann hören wir jedes seiner Worte. Darum bin ich (Du merkst wohl die Veränderung an mir jetzt schon), darum bin ich heute so geduldig, ergeben. Komm', was komm', ich hab' mir in den einsamen Nächten als Wächter viel zugelegt, was mich aufklärt über Zeichen und Wunder. Unmöglich hätt' ich meinen »Seestern« so zu stande gebracht außerhalb jener Kanzleistube und ihrer wunderbaren Abgeschlossenheit. Ach! jetzt packt mich gar das Heimweh nach meiner Nachtwächterzeit. Pat! ich verfolge dich in Gedanken durch alle Winkel des Hauses. Nimm dich in acht vor Gespenstern und bleib weg von Mister Rouß' Sanktum — der Einarmige sitzt dort!

Ich rechne, in acht Tagen werde ich ganz fertig sein mit meiner Arbeit und darf abliefern. Wie sehr wünsche ich, Du möchtest jetzt neben mir sitzen, damit ich Dir Stellen des Manuskripts vorlesen könnt'. Stellenweise ist der »Seestern« — lache nicht — geradezu meisterhaft! Er ist, wie schon der Titel erklärt, ein Ding vom Meer, ein Matrosenroman. Das Meer in allen seinen Bewegungen, Farben und Eindrücken auf den Menschen zu schildern, ohne überschwenglich und einförmig zu werden, das war die Idee. Die Handlung ist Trägerin nur all dieser Perlen, Steine, Juwelen, Muscheln, Flitter und Goldfische, die ich da (wie ich gar nicht bezweifle) mit einem Geschmack und Reichtum angehängt habe, den mir schwerlich einer übertrumpfen soll. Mein Jugendstreich, als ich ohne Abschied von Euch den[S. 172] Mississippi hinunterlotste, in Neuorleans die »Dora Doll« bestieg und herumsegelte mit ihr ums Horn nach Frisco — der Anschauungsunterricht damals kommt mir trefflich zu statten jetzt.

»Mitternachtswehen am Kap Horn« und »Morgen am Amazonenstrom« schilderte ich, Poesie, Natur, Liebeslust und -tragik, des Meeres und der Liebe Wellen so verschmelzend, daß dem Leser Salzwasser in Form seiner eigenen Tränen auf die Blätter träufeln und er das Buch festhalten wird wie ein Kleinod, aus Furcht, die wehende Brise der See möcht' es ihm entführen.

Schwester, Du wirst lachen und witzeln: jede Mutter hält ihr Kindlein für das schönste. Warte, Dichter Tom, bis die Herren Kritiker das Ding beurteilen: »Mißgeburt — Ohren zu lang — Nase platt — Augen blöde — Mund dumm.«

Es gibt aber Mütter, deren Kinder tatsächlich schön sind; und wenn ich zu dieser glücklichen Sorte gehöre, was dann? Warum soll es nicht möglich sein, daß Tom Pratt einen Treffer ins Schwarze macht beim allerersten Schuß? — Ein schlechter Schütze verknallt sein ganzes Pulverhorn und trifft die Scheibe nicht. Es kommt nicht aufs Vielschießen an — nicht einmal so sehr auf Übung — scharfes Auge (des Geistes beim Poeten), kühles Selbstbewußtsein sind Garantien für Treffen. Und diese Eigenschaften besitze ich, Gott sei Dank!

Der »Seestern« bleibt also vorläufig mein Hoffnungsstern.

Tom.

[S. 173]


Brooklyn, den 22. Januar 1901.

Teure Schwester!

Mein erstes Wort soll sein: »Verzeihe mir!«

Drei Wochen lang bin ich im Besitz Deiner Glückwünsche zum neuen Jahr, und jetzt erst komme ich, sie zu beantworten. Das ist wieder eine meiner Sünden, die nur entschuldigt werden kann, wenn man Schritt für Schritt die Schwierigkeiten mißt, mit denen schwacher Wille Träumer formt zu aufgeweckten Menschen.

Die rührenden Schilderungen Deines häuslichen Lebens ... Schwester, wie machst Du es nur? Was treibst Du nur? Ist es Leichtsinn, der Dich lachen macht bei solchen Entbehrungen? — oder ist's Galgenhumor? — Hier lese ich von einer kinderlosen Dame, die in verschwenderischem Luxus lebte, umgeben von allem, was das Herz begehrt, Freiheit, Freundschaft, Gesellschaft, Gesundheit. Ihr Gatte betete sie an. Schwermut zog sie aber zum Selbstmord.

In Pilot Knob lebt eine Bergmannsfrau, die sechs unerwachsene, immer lärmende, immer essende Kinder als Plagegeister um sich hat, nebst all ihrer Haus- und Wascharbeit. Die Frau ist das wahre Opferlamm. Schlaf, Ruhe, gute Kleider, Speise und Trank, Vergnügen, alles muß sie opfern; und doch ist sie der Inbegriff von guter Laune, Frische, Zufriedenheit. — Schwester! warum begehst Du nicht Selbstmord und entfliehst einem Dasein so voller Schatten?

O, warum denn fragen — hier steht ja die Antwort[S. 174] neben mir: Arme Eva mein! Das Kind ist fort — ja, die Elsie ist fort — und mit dem Kind geht des Weibes Lebenszweck zu Grabe. Das ist das Geheimnis. Euer Ebenbild vor Augen haben, gesund und munter, brav und gedeihlich, das ist eure irdische Glückseligkeit; wie es des Ewigen überirdische, unendliche Glückseligkeit sein muß, Menschen leben zu sehen, die ihn lieben, anschauen, mit ihm reden.

Schwester! Gestern setzte ich mein Kind aus! Meines Geistes Erstgeburt, der »Seestern«, wurde abgeliefert an den Verleger in Neuyork. Es war mein schwerster Gang — und leichter dünkt es mich, Arbeit zu erbetteln, oder gar Almosen, als so ein armseliges Schreibheft abliefern und erwarten, der vielbeschäftigte hohe Herr solle sich's Zeit und Geduld kosten lassen und den Quatsch kritisieren. Nie kam ich mir kleiner vor, eingeschrumpfter als im Augenblick des Anklopfens an seine Kanzleitür.

»Herein!«

Ich trat ein. So bleich und schlotterig tritt höchstens Hamlets Geist auf die Bühne, wenn sein Schneider im Parterre wartet, wie ich das Kontor betrat.

»Setzen Sie sich!«

Ich setzte mich. Eigentlich fiel ich. Wie ein Taschenmesser mit starker Feder klappte ich zusammen und saß einem Fragezeichen dergestalt ähnlich auf dem Stuhlrand, daß der hohe Herr ohne weiteres frug: »Sie wünschen?«

»Ja,« hauchte ich.

[S. 175]

»Was wünschen Sie?«

»Sir!« begann ich, »Sie sehen, ich habe ein großes Unglück erlebt. Mein linker Arm wurde mir abgeschnitten von der Maschine. Das war letzten Sommer. Seither versuchte ich mit allem guten Willen Arbeit zu erlangen, um mich und meine Familie vor dem Untergang zu bewahren — konnte jedoch nichts finden. Ein guter Geist gab mir den Rat, dieses Buch hier zu schreiben. Ich schrieb's. Ich weiß, es ist kühn, als ungeschulter Mensch zu wagen, was nur Hochgelehrte zu vollbringen vermögen; aber Not ist meine Entschuldigung. Ich bin in großer Not, mein Herr! und flehe um Nachsicht.«

Jetzt war nur noch der leere Bettelsack als würdige Schleppe fester zu binden und meine wohleinstudierte Rede wäre fertig gewesen; aber die Worte klebten mir an der Zunge fest und diese am Gaumen. Ich stockte.

Die Stimme des hohen Herrn klang wohlwollend, als er mich nach einer Pause anredete. Vielleicht fürchtete er, der Schlag werde mich treffen, wenn er mich schroff abweist, und einen Toten von meiner Größe bei sich liegen haben, bis der Leichenbeschauer kommt und wegräumt, das wär' Ursache genug, warum ich gnädig behandelt wurde. Vielleicht aber (o, ich bebte vor Freude) empfand der Herr ein menschliches Rühren.

»Mein lieber Freund! Daß Sie großes Unglück erlebt haben, kann ich sehen. Daß Sie in großer Not sind, kann ich ebenfalls sehen. Das allein soll[S. 176] mich bewegen, eine Ausnahme zu machen. Es ist mein Geschäftsprinzip seit Jahren, keine Manuskripte zu lesen, noch anzunehmen, außer gut empfohlene. Es läuft zu viel Mittelmäßiges ein. Der Markt ist überfüllt und meine Zeit ist kostbar. Dennoch werde ich, wie gesagt, mit Ihrer Dichtung eine Ausnahme machen — hoffend jedoch, daß Sie, falls meine Kritik abschlägig lautet, das Urteil wie ein Mann ertragen werden. Selbstverständlich würd' es mich Ihretwegen freuen, sollte das Buch druckreif erscheinen. Es kann ja sein. Es ist alles schon dagewesen. Sie werden von mir hören. Adieu!«

Er winkte ab.

Ich ging.

Jetzt heißt es, mit Vorsicht Hoffnung und Verzweiflung balancieren lassen, daß ja keines das andere sinken oder zu hoch steigen läßt. So zwischen Himmel und Hölle hängend — mein Gott! sind das Zeiten, die meiner harren.

Tom.


Brooklyn, den 24. Januar 1901.

Teure, liebe Schwester!

Warum ich Dir schon wieder schreibe? — Ich lebe in qualvollster Ungewißheit über das Schicksal meines Manuskriptes, über den Unter- oder Aufgang meines »Seesterns«. Ein Gefühl habe ich, als schwebe ich an einem Bindfaden hängend über dem[S. 177] Niagara; wenn der Faden nicht reißt, werd' ich gerettet; reißt er, so fall' ich.

Ach, Jennie! Schwester! Denkst Du, meine Dichtung werde durchdringen? Ist so etwas möglich? Um zwei Zeilen Trost und Aufmunterung fleht Dich an Dein armer

Tom.


Brooklyn, den 28. Januar 1901.

Liebe, teure Schwester!

Alles dreht sich vor mir und steht auf dem Kopf, das Unterste wird oben. Warten würgt sonst die Hoffnung — bei mir wird die Hoffnung blühender, je länger ich warte. Jetzt sind es sechs Tage, oder genau hundertachtundvierzig Stunden, daß ich meine schriftstellerische Produktion dem Verleger einreichte, und noch habe ich keine Antwort. Das würde vielleicht jeden anderen beunruhigen, mich tröstet es. Die ersten paar Tage lebte ich in peinlichster Sorge. Jede Stunde fürchtete ich, das Manuskript werde zurückgeschickt; sah ich den Briefträger über die Straße schreiten, so zitterte ich: er möcht's in der Tasche haben und mir aushändigen — und was das bedeutet, o Enttäuschung! Nun bin ich glücklich übers Anfangsstadium weg und fühle fester.

O, es ist himmlisches Gefühl, zu wandeln auf dem Pfad zu besseren Tagen. Der erste Schritt aus Waldesnacht, die den Verirrten grauenvoll umgarnte, der Sonne Licht, das die Nebel teilt und dem Schiffer Küsten zeigt, können kaum solche Zauber wecken.

Tom.

[S. 178]


Brooklyn, den 4. Februar 1901.

Liebe Schwester!

Es macht mir unerträgliche Pein, daß Du so lange schweigst. Nur ein paar Worte, von Deiner Hand geschrieben, würden mich beruhigen, aber nichts ist zu wenig. Bist Du krank? Oder quält Dich die Not? Oder bist Du erzürnt auf mich, weil ich Dich unablässig ärgere mit Lamentieren?

Liebe Jennie! Hab' ich Glück mit meinem »Seestern«, dann werden wir alle gute Tage erleben! Es bedeutet totale Umwälzung unserer Lage, von Notstand zu Wohlstand; denn viel Besseres werde ich schreiben nach diesem Erstlingswerk. Getragen vom Erfolg, von Begeisterung, Aufmunterung, Sorgenfreiheit, werd' ich fliegen so hoch — Freudenschauer schütteln mich, wenn ich denke, wie hoch ich fliegen kann, lastbefreit. Ich werd' dann wohl gar nicht mehr vom Himmel herunterkommen, und meine Berichte zur Tiefe schicken mit irgend einer Post, mit Sonnenstrahlen, Schallwellen, Tau und Regen. Ob mit Blitz und Hagelwetter, soll vorläufig nicht prophezeit noch abgeleugnet werden; unbedingt aber müssen die Menschen sich brüderlicher betragen, oder ich bombardiere die Erde mit Sonnenschlacken und faulen Eiern so groß wie Mondgebirge.

Schwester, Dir besonders werde ich ganz gehörig unter die Arme greifen. Deinen Waschkübel sollst Du zum Bach tragen und schwimmen lassen, den ganzen Mississippi hinunter in den Golfstrom, bis er da als Treibholz landet, wo Nansen den Pol stecken[S. 179] ließ. Dein Söhnchen Peter braucht nicht ins Bergwerk — nicht so früh untern Boden — ein passendes Handwerk laß ich ihn lernen. Und Deines Lieblings Wunsch, Pfarrer spielen zu dürfen, werde ich erfüllen; mit der einzigen Bedingung jedoch, daß er reines Christentum predige ohne das vorgeschriebene Beiwerk — und kost' es ihn seine Anstellung. Allen Deinen Kindern (ach, ich möchte allen Kindern) soll geholfen werden. — Glückauf!

Ist das, zusammengezählt und multipliziert mit brüderlichem Segen, nicht ein Briefchen wert? Bitte, antworte.

Tom.


Brooklyn, den 11. Februar 1901.

Schwester!

Du antwortest mir also nicht. Dieser wird mein sechster oder siebenter Brief, den ich an Dich richte. Warum antwortest Du nicht auf meine Briefe? Weißt Du denn nicht, daß ich erschöpft bin, an der Grenze bin, daß ich armer, einarmiger, vergessener Krüppel nicht weiterhinken kann und stecken bleibe im Bitten, Flehen: schreibe mir! Schwester, schreibe mir!

Diesen Vormittag besuchte ich den Herrn Verleger. Ich konnte meine Unruhe nicht länger bemeistern und besuchte den Herrn Verleger. Und mein armes Manuskript lag noch ungelesen dort. Nein, viel schlimmer, es lag unter einem Berg von Papier und Büchern vergraben wie ein totes Ding, und der Herr war in schlimmer Laune obendrein.

[S. 180]

Was das bedeutet? — Fehlschlag! Fehlschlag in zermalmendster Bedeutung. O, der Schlag ist härter als mein Widerstand. Ich werde wahnsinnig, das ist die letzte Offenbarung. Gott will mich vernichten, und weiß wie. Er hat Erfahrung im Fach und trifft jeden Nagel auf den Kopf. Warum? Bin ich ein zu ungeduldiges Ding? Bin ich im Weg? Ist einer zu viel im Schöpfungsraume, der Luft atmet? Was weiß ich von den Launen seiner Majestät, ich bin nicht allwissend. Aber den Glauben haben sie mir endlich beigebracht: mit Jammern rührt man Götter nicht; eher küss' ich Grönlands Felsen warm, bis seine Gletscher dampfen, eh ich mit allen meinen Klagen einen Gott erweichen kann.

Aber still! kusch! Genug gebellt, genug gepfiffen. Das Allerschlimmste: mein Weib wird kalt. Eva wird mir fremd! Gefühl und Liebe fängt zu rechnen an und multi-dividiert mit kalten Zahlen meinen — Bankrott. Sie meidet mich. Sie weicht mir aus. Sie fürchtet meine Liebkosungen. Zittert, wenn ich ihr nahe. Erschrickt, wenn ich sie ansehe. So fliehen sie mich alle! Bertie schlägt der Mutter nach und stiehlt sich fort. Das Schicksal ist mir todfeind. Gott auch. Die Menschen alle. Du auch. ... Der eine nur, den ich am meisten könnt' entbehren, den ich verwünsche bis ins Grab, der mich plagt und hetzt — mit Bitten und mit Drohen kann ich von seiner schrecklichen Gesellschaft nicht freikommen — der eine, letzte, der mir folgt in alle Ewigkeit, ist:

Tom.

[S. 181]


Pilot Knob, den 16. Februar 1901.

Armer Tom!

Gewiß — Du hast recht. Sechs oder mehr Briefe habe ich von Dir und keinen beantwortet. Und sag' ich die Wahrheit, keinen gelesen — oder gelesen und vergessen. Sie sind ja alle gleich. Jeder ist voll von Klagen. Und Du hast recht. Es geht dir schlecht. Herzlich schlecht. Was soll aus Dir werden jetzt? Ich seh' keinen Ausweg aus diesem Labyrinth von Unglück — gar keinen. Ich hab' nachgedacht, nächtelang, tagelang, und bin, aufrichtig gestanden, müd' und krank darüber. Es wird mir zum Ekel, das Denken. Ich kann Dir nicht helfen. Hilf Dir selbst! Sieh, wie Du fortkommst! Wann nicht, dann nicht. Ich zweifle, ob Du es kannst. Wahrscheinlich wirst Du keine Arbeit bekommen mit Deinem verkrüppelten Körper und — verkrüppelten Geist. Dein krankes Weib wird noch eine Weile waschen, und dann wird sie nicht mehr waschen. Man sieht den Schluß des Trauerspiels kommen — natürlich. Er kann nicht anders lauten als: »verdorben und gestorben.«

Tom, ich schreibe dieses alles nur so hin, wie mir die Worte einfallen. Ich denke nichts dabei. Das Denken hat mich krank gemacht. Das Reden, Bitten, Trösten hat mich krank gemacht. Ich muß mich schonen. Nachgeben. Wenn ich weinen könnte, dann würde mir wohler — das fühle ich. So recht heiß und lange weinen. Aber schreien hilft nichts. Ich hab' geschrieen, daß ich heiser bin. Es hilft nichts.[S. 182] Es gibt keinen Schrei, der hinüberreicht zu den Toten, Tom. Keinen ... Und das Kind ist fort ... Zerrissen haben sie mir das Kind ins Haus getragen. Als hätten wilde Tiere mein Kind zerrissen, so haben sie es mir ins Haus getragen. Ach Gott! warum ließ ich das Kind ins Bergwerk und schaffen wie ein Sklave um das bißchen Essen, dass es ißt. Jetzt ist es tot. Die Wand fiel auf die liebe, teure Form und zerdrückte mein Kind zur blutenden Masse ohne Atem, Leben. Das war der Anfang und das Ende seiner ersten Woche. So schnell. So gründlich.

O, mein Kopf! Mein weher Kopf! Ich möchte am liebsten liegen — hinliegen irgendwo im schwärzesten Winkel der Welt und schlafen — schlafen. — Das eine muß ich Dir aber noch sagen, eh ich die Feder weglege: Du sollst mir keine Antwort geben auf diesen Brief. Wir reisen ab ins nordamerikanische Sibirien, zu den Bären und Wölfen, nach Montana. Morgen. Auch das noch! Was dann? — Peter hat sich anwerben lassen ins Silberbergwerk. Der Vater kann nicht in der Grube schaffen, wo sein Kind erschlagen wurde, das ist die Ursache der Flucht. Und ich, ich kann mich nicht losreißen vom Grab meines Kindes. Beide haben wir recht. Aber ich verliere, er gewinnt. Ich verliere immer, immer. Daß ich eine Stunde meines Lebens wüßte, wo ich nicht die Verliererin war! — Aber still, still. Stumpfsinnigkeit, erbarme dich meiner! Es gibt keine Saite der Seele, die nicht wimmerte, würd' ich weiterschreiben jetzt. Darum still, still. Tom, ich muß[S. 183] schließen. Noch vieles, vieles möchte ich sagen. Aber besser so — wir nehmen Abschied auf Leben und Sterben hier. — — —

Die Abendsonne scheint ins Tal herab. Wenn Menschen sterben, die wir lieb gewonnen, so sind ihre letzten, langen Blicke — wie der Abendsonne Schein in meine Kammer hier. Leb wohl, Licht, Heimat, Welt. Und morgen scheinst du wieder in die Kammer hier — und Jennie ist gegangen.


Deer Lodge, Montana, den 27. Februar 1901.

Lieber Schwager Tom!

Die Jennie ist jetzt auch gestorben. Sie hat sich das nicht ausreden lassen. Daß es kalt ist. Jetzt ist sie tot am Sonntag. Dann ist sie doch fortgangen. Dann ist sie begraben worden gestern. Das war auch kalt. Das Wetter ist immer kalt. Es schneit auch immer. Dann ist es noch kälter. Dann ist es zugefroren. Wenn man Wasser holt ist es immer zugefroren. Mann muß es aufhacken dann kommt das Wasser. Das Wasser gefriert auch immer in der Küche. Ich sagte zu Jennie daß es kalt ist. Jennie sagte eins muß gehen. Wenn es kalt ist muß doch eins gehen. Am Sonntag geht immer eins. Dann hab' ich gesagt es ist verrückt in die Meß gehen so weit. Weil der Peter tot ist bist du verrückt. Dann ist sie fortgangen in die Meß. Das tut mir leid daß sie ist fortgangen und hat wenig[S. 184] Kleider. Jennie hat auch alte Schuh. Weil ich neue Stiefel hab' hat sie wollen warten. Der Willie hat auch alte Schuh. Dann hat Jennie geweint und ist fortgangen zur Meß. Die ist aber vier Meilen weit oder fünf. Das sind aber acht Meilen weil sie in Buxton liegt auf der anderen Seite. Der Wald liegt auch noch drüben. Die Kirche liegt nicht im Wald. Auf der anderen Seite in Buxton liegt die Kirche wenn man dort ist. Dann ist die Jennie nicht heimkommen. Am Abend ist sie auch nicht heimkommen. Dann hat jeder die Laterne genommen und hat gesucht. Der Mister Kelly hat sie gefunden zuerst. Der ist auch ein guter Freund von mir und hat den Laden. Jennie kaufte meine Stiefel in seinem Laden. Dann hat sie noch gelebt. Sie ist aber schon ganz steif gewesen. Und mitten im Wald. Dann haben wir Jennie heimtragen ins Bett. Dann ist sie gestorben um zwölf.

Dein Schwager

Peter Daly.


Deer Lodge, Montana, 17. März 1901.

Lieber Onkel Tom!

Mama ist tot. Du weißt es. Vater hat es Dir geschrieben. Schon drei Wochen lang ist Mama tot und noch kann ich es nicht glauben. Jeden Morgen wenn ich aufwache schau' ich verwundert herum, warum Mama nicht klappert mit den Tellern in der Küche. Dann fällt mir ein, ach! Mama ist ja tot.[S. 185] Ach, es ist so still bei uns, seit Mama nicht mehr lacht und redet und kocht und wascht. Ich habe schon so viel geweint daß ich nicht mehr kann. Ich kann nur den Kopf schütteln und herumgehen und alles anschauen, antasten, was der Mama gehörte weil sie lebte. Ihr Gebetbuch, den Rosenkranz, ihre Kleider. Ach, Onkel! es ist traurig. Wenn ich schreiben könnte wie ich fühle, dann würdest Du weinen über diesem Brief; aber ich kann nicht schreiben wie ich fühle. Ich kann nicht leben ohne Mama. Warum ist sie fortgegangen von uns? Warum hat der liebe Gott die gute Mama weggeholt und wir brauchen sie doch so notwendig? Molly und Rose muß ich ankleiden jeden Morgen und auskleiden am Abend und waschen und kämmen. Lilli ist auch noch zu klein. Tommy auch. Ach, es ist traurig ohne Mama. Sie fehlt uns. Bei Nacht liege ich stundenlang wach und warte. Ich schließe die Augen und denke: Mama kommt und küßt mich. Ich deck' mich bloß und denke: Mama kommt und hüllt mich warm. Und wenn ich träume von ihr und aufwache mitten in der Nacht und alles nur ein Traum war und gar nichts um mich ist als nur das Atmen meiner schlafenden Geschwister in der Kammer, und draußen der Wind, der rüttelt am Fensterladen und heult im Wald — — ach, Onkel! ich kann's Dir gar nicht schreiben wie ich traurig bin. Ich muß dann aufstehen. Ich muß herumgehen im kalten Haus wie ein Geist. Manchmal nehme ich Mamas alte Schuhe ins Bett zu mir und halte sie am Herzen, bis ich[S. 186] wieder einschlafe. Ach, Onkel! tu mich nicht auslachen und nicht den Leuten erzählen. Ich kann mir nicht helfen. Und Vater ist auch ganz verzweifelt. Er mag nicht schaffen und läßt alles verwahrlosen. Er ist so bös, daß ich mich fürchte vor ihm.

Ach, wenn Mama nur noch einmal käm' und wenigstens Abschied nähme. Sie hat gar nicht Abschied genommen. Sie war kalt und ohnmächtig, als sie fortging. Die schöne, gute Mama.

Ach! jetzt muß ich doch wieder weinen. Ich meinte, ich könne nicht weinen, und jetzt muß ich doch wieder weinen.

Lieber Onkel! Jetzt werde ich den Brief schließen. Ich wünsche Dir viel Glück und Arbeit, damit Du Geld verdienst. Der lieben Tante Eva wünsche ich Gesundheit und dem lieben Bertie auch alles Beste. Mama hat so oft von Euch gesprochen. Nun ist sie tot.

Willie Daly.


Deer Lodge, den 24. März 1901.

Lieber Onkel Tom!

Ich habe Heimweh und niemand hier, dem ich's klagen kann. Darum schreibe ich Dir schon wieder. Vater ist zur Schenke gegangen. Er geht jeden Abend zur Schenke, seit die gute Mama tot ist. Er kann's nicht aushalten in der Stube ohne die Mama, sagt er. Ach, es ist ja wahr, es ist schaurig hier im Haus. Eben schlägt die Uhr auf dem Kamin neun. Vier Stunden lang ist es schon Nacht. Und[S. 187] was für eine Nacht. Schnee, Schnee, Eis und Sturm. Und hier sitze ich allein. Die Kinder schlafen nebenan, aber Lilli hustet. Sie ist krank. Sie haben alle Erkältung und Lilli am meisten. Was soll das werden? Wären wir doch nie von der lieben, schönen Heimat weggereist. Dann lebte die gute Mama noch und Vater blieb' zu Hause bei uns. Jetzt bleibt er gar nie zu Haus. Und ist so bös mit uns. Jeden Abend sagt er: wenn wir alle miteinander sterben täten, wär's gut. Das Unglück hat Vater so verändert. Er war gut mit uns in Pilot Knob.

Ach, Onkel! Jetzt sitz' ich hier am Tisch und schreibe. Am alten Tisch, vor der alten Lampe, auf dem alten Stuhl, meine Schulhefte, Tinte und Feder vor mir. Wir brachten alles von Pilot Knob herauf. Die Heiligenbilder an der Blockwand schauen mich an wie früher. Die Uhr tickt wie damals.

O, meine Mama! — Wie oft bin ich, seit sie tot ist, hier gesessen in der Stube, allein. Bis elf, bis zwölf, bis Vater heimkam von der Schenke, und habe das Licht herabgedreht, daß es schier auslöschte und mit dem glühenden Ofen zusammen überall herum Schatten zittern ließ, am Boden, an der Wand, an der Decke. Und bin herumgegangen von Schatten zu Schatten.

O, ich kann nicht leben ohne meine Mama!!

Willie Daly.

[S. 188]


Deer Lodge, den 27. April 1901.

Lieber Onkel Tom!

Du böser Onkel Tom! Warum antwortest Du nicht? Jeden Tag laufe ich nach Kellys Laden und frage, ob der Brief da wäre von Neuyork. Der Mann ist schon ganz ärgerlich. Ich weiß wohl, Du kannst uns nicht helfen. Du bist selber arm. Wir wollen auch kein Geld von Dir — nur gute Worte wollen wir, Trost und Mitleid. Wir sind so verlassen in diesem wilden, kalten Land — so verlassen.

Ach, Onkel! Vater hat mir strenge anbefohlen, Dir die Neuigkeit nicht zu schreiben. Er war wütend, als ich ihm sagte, ich hätte Onkel Tom zwei Briefe geschrieben. Onkel Tom kann uns nicht helfen, sagte Vater, und wenn Du ihm diese Neuigkeit schreibst, ich schlag' Dich tot. Das sind seine Worte. Er hat sich schrecklich verändert seit der guten Mama Tod und Peters Tod. Er spielt den ganzen Tag Karten in der Schenke. Alles verwahrlost. Wir sind alle krank.

Wär' ich allein, ich würde ja schweigen und nichts verraten, aber meine armen Geschwister, ach! die sind so hilflos, daß ich ihretwegen reden muß, sonst wär' ich kein braver Bruder.

Lieber Onkel Tom! Wir haben eine neue Mama. Ein böses Weib. Vater hat sie geheiratet in der Schenke. Dort war sie Kellnerin. Und jetzt ist sie unsere neue Mama. Vater hat sie ins Haus gebracht vor drei Wochen und gesagt: »Kinder, das ist nun[S. 189] eure neue Mama, und die müßt ihr ebenso lieb haben wie die alte Mama.«

Ach, Onkel! wir können das Weib nicht lieb haben. Sie ist schlecht. Sie flucht und lügt und betet nicht. Wir wollen keine fette, große Mama, die immer bös ist. Jeden Tag sagt sie, daß wir eine Last sind und sterben sollen. — Könnten wir doch sterben. Wir wollen ja sterben. Dann wären wir im Himmel bei der guten, einzigen Mama für immer und immer.

Onkel! wir fürchten sie sehr. Vater fürchtet sie auch und muß jetzt jeden Tag ins Bergwerk, arbeiten. Das ist noch gut. Sie läßt ihn nicht zur Schenke am Tag. Abends gehen aber beide zusammen zur Schenke, trinken und tanzen. Jeden Abend. Jetzt sind sie auch dort und darum kann ich Dir diesen Brief schreiben. Aber sei ja vorsichtig, lieber Onkel, und adressiere an mich »Willie« und nicht an Vater. Mister Kelly weiß alles von mir und wird den Brief nur mir geben. Mister Kelly ist sehr gut zu mir. Er schenkt mir Briefmarken, Papier und was ich brauche. Er sagt immer: »Willie, deine Mama ist im Himmel, aber dein Vater ist verrückt, seine Familie in diese Wildnis zu bringen. Das tut kein vernünftiger Mann.«

Wir sind auch die einzige Familie im Lager. Zwei sind wieder abgereist die erste Woche schon. Aber wir kommen nicht weg, wir sind zu arm und müssen schon bleiben, bis Gott uns Hilfe schickt.

Ach, Onkel! ich zittere so vor Angst. Ich werde[S. 190] doch besser tun und schließen. Die Tür hat nur einen Schieberiegel, und wenn Vater jetzt heimkäme und mich abfaßte beim Schreiben. Ich bin auch sehr müd.

Leb denn wohl! Ich bete. Gott verläßt keinen Betenden.

Willie Daly.


[S. 191]

Die Abendsonne des letzten Maitags tauchte unter hinter dem Felsengebirge, und Schatten füllten langsam die endlich schneefreien Schluchten des Deer Lodge. Als die Röte am Horizont sich löste in farbloser Nacht und drunten im Tal einzelne Lichter blitzten, die Orte bezeichnend, wo Menschen inmitten der Wildnis wohnen, da kam ein Reiter von Buxton her in die Niederung geritten.

Offenbar war er nicht sehr in Eile, trotz der späten Stunde und des gefährlichen, holperigen Weges; vielleicht aber war er so tief in Gedanken versunken, daß ihm jeder Begriff von Tempo abhanden gekommen war und er das Allegretto nicht vom Andantino zu unterscheiden vermochte. Immerhin, das Maultier, das ihn trug, benützte diesen seltenen Fall, einen Dirigenten über sich zu haben, der sparsam mit dem Taktstock hantiert, und wählte den gemütlichsten Marsch, der noch erlaubt werden kann im Bereiche der Bewegung.

Erst als der Reiter an die erste Hütte gelangte und der Lichtstrahl aus dem Fensterchen sein Gesicht streifte, schrak er zusammen, richtete sich im Sattel auf und blickte, wie aus schwerem Schlaf erwachend, ringsum. Dann trieb er das Maultier dicht an die Hüttentür und pochte, ohne abzusteigen, mit dem[S. 192] Fuß. Vier bärtige, wettergebräunte Männer erschienen und tauschten mit dem Fremdling etliche Worte, die jedoch vom Gebell zweier Bulldoggen begleitet wurden. Der Fremde mußte sie doch verstanden haben, er bedankte sich und ritt dann im Trab weiter talwärts. Vor dem größten Blockhaus im Lager hielt er wieder an, sprang aus dem Sattel, warf die Zügel einem Stallknecht in die Hände und verschwand in Kellys Laden.

Schier eine volle Stunde lang konnte man ihn dort mit dem Eigentümer des Ladens gestikulieren sehen; beide nickten und schüttelten häufig die Köpfe, und beide behandelten das Thema als ein außergewöhnlich ernstes. Als er endlich wieder heraus auf den Weg trat, war er in Begleitung eines Mannes, der ihm vorausging, in die Nacht hinein. Vor einer ziemlich abseits vom Lager erbauten Bretterhütte machten sie halt. Der Wegführer empfing ein Geldstück und verschwand, dankend und pfeifend.

Sobald sich der Fremde allein wußte, kam es wie Erleichterung über ihn. Er blieb stehen, atmete auf, reckte sich. Dann zog er seinen breitrandigen Hut vom Kopf, murmelte etliche Worte, sich dabei gegen die Hütte verneigend, als wäre die Holzbaracke eine Kirche oder sonst ein heiliges Gebäude. Hierauf schritt er dicht an die Tür. Durch mehrere Ritzen drang Licht heraus. Er bückte sich und sah durch die größte in das Innere — in die Küche. Die war eigentlich der einzige Raum und füllte beinahe die Hütte; links waren allerdings zwei Türen zu abgesonderten Räumen,[S. 193] die wohl zum Schlafen dienten; groß konnten sie jedoch nicht sein. Eine Zimmerdecke gab es nicht; das Dach war die Decke. Ebenso fehlte die Tünche an der Wand, der Bretterboden, das zweite Fenster und noch unzähliges mehr. Alles war rauh, flüchtig, robinsonartig zusammengeschustert zu einer Menschenwohnung, ungastlich, unheimlich im höchsten Grad.

Plötzlich kam eine Unruhe in die große, kraftvolle Gestalt des Fremden. Er sah, wie die Tür der einen Schlafkammer sich öffnete und ein Kind in die Küche heraustrat. Es war ein Knabe von etwa zwölf Jahren. Er trug in einer Hand ein Bild im Rahmen, in der anderen eine kleine Statue. Beides stellte er vorsichtig auf den Tisch neben die Lampe. Dann kniete er auf den Boden, wickelte sich eine Schnur mit Kügelchen dran um die Finger und begann laut zu beten: »Gedenke, o seligste Jungfrau! daß noch nie erhört wurde, daß jemand, der zu dir seine Zuflucht nahm, von dir verlassen wurde —«

Der Fremde zog leise am Schieberiegel, öffnete ebenso die Tür und trat ein. Die kältere Luft von außen, die er mit hereinbrachte, störte den Knaben; er drehte sich um, und den Mann sehend sprang er rasch und erschrocken auf die Füße. Mit weitgesperrten Augen musterte er den Eindringling; zuerst dessen Gesicht; dann, heruntergleitend an der Gestalt, bemerkte er an der linken Schulter einen fehlenden — —

»Onkel Tom!!« schrie Willie und — —

Blitzesschnell setzte sich der Erkannte auf die Bank, riß das hingestürzte Kind vom Boden auf, warf es[S. 194] über die Kniee, preßte sein Gesichtchen hart an sich, rieb ihm Hände und Schläfe, Stirn und Hals, wiegte es hin und her, wie eine Mutter, wenn sie Schlummer erzwingen will. So gelang es Tom allmählich, das arme, in Konvulsionen zuckende Wesen wieder zu beleben. Ein langer, schriller Schrei entlud sich aus Willies Brust; dann kurze, pfeifende Laute, unterbrochen von Atemholen, begleitet von krampfhaftem Ballen und Öffnen der Hände, von verzweifelten Versuchen, sprechen zu wollen, Schluchzen in Worte formen zu wollen — bis endlich, wie lang zurückgedämmte Flut, alles wiederkam. Worte über Worte, grauenvolles Klagen ... Wie das Kind gelitten, geduldet; wie es getreten und geschlagen wurde, mutterlos allein, durch Wintersnacht, durch Hungersnot; und keine Menschenseele, die diese Last, zu schwer für Riesen, mit dem Knaben teilte.

Lautes, anhaltendes Weinen, weniger und weniger von Zuckungen gestört, bildete den Schluß. Stiller und weicher wurde das Kind; wärmer, anschmiegender. Die Verzweiflung hatte sich ausgetobt, wie in einem Wolkenbruch, und der Hoffnung Sonne, der heiße Hauch des Mitleids richteten den gebeugten Halm wieder auf. Behutsam drehte Tom, nach einer Weile Wartens, des Knaben Gesicht zur Seite, um es zu betrachten. Es war blaß, langgezogen, mager. Die Augen hatten einen kranken, schläfrigen, geistesabwesenden Glanz und blickten empor, wie eben zurückkehrend aus schwerer Betäubung. Schaudernd drückte Tom das Kind wieder an sich — seiner Schwester[S. 195] Kind — und wiegte und wiegte. Summend und schaukelnd, noch fünf Minuten, und — Willie war im Traumland.

Der Onkel entkleidete ihn jetzt. Die Schuhe fielen von selber ab. Das Wämschen war dünn, aber noch gut. Das Höschen war, von Willies eigener Hand, zum Weinen ungeschickt geflickt. Die Unterkleider — — Tom zitterte vor Erregung über die entsetzliche Magerkeit des Kindes, und über mehrere blutunterlaufene Hautflecken — zweifellos Merkmale brutaler Schläge. Rasch trug er dann seinen Schützling, so gut er's vermochte, mit dem einen Arm und dem Stumpf ins Bett.

Aufatmend kam der Samariter zurück, nahm die Lampe vom Tisch und leuchtete hinein ins Schlafzimmer der Kinder. Drei Mädchen lagen zusammengenestelt am Fußende des Doppelbetts, das beinahe die Kammer füllte. Im selben Bett, aber Fuß gegen Fuß mit den Schwesterchen, schliefen die Brüder ... Der Einarmige schüttelte mehr als einmal sein traurig blickendes Gesicht. Mehr als einmal seufzte er herzbrechend. Dann drückte er geräuschlos die Kammertür zu, trug das Licht auf den Tisch zurück und setzte sich. Vor ihm stand jetzt, angelehnt an den Wasserkrug, das Bild seiner Schwester und blickte ihn an. Geschwind wendete er es um. Neben dem Krug stand eine abgegriffene kleine Statue der Muttergottes von Lourdes. Er führte sie zum Mund und küßte ihr Gesicht mit tiefernster Ehrfurcht. Er hob den Rosenkranz, der am Boden lag, auf und machte[S. 196] den Versuch zu beten. Er konnte nicht. Seine Zähne waren so fest aufeinander gebissen — er konnte nicht beten.

Darauf trug er die Heiligtümer weg vom Tisch und versteckte sie im Bett der Kinder. Noch einmal sah er über die fünf Schlafenden hin, aber ohne Licht dieses Mal. Im Halbdunkel glich die Kammer so sehr einem Kerker, einem Totenhaus — und die bleichen Gesichter glichen Leichen. Ein wildes Gefühl erwachte in Tom: die Kinder zu wecken und eins nach dem andern zu drücken, zu umarmen — eins nach dem andern abzuküssen auf Mund, Stirne, Augen — so lang und so feurig mit Küssen und Weinen, bis, von Liebkosungen trunken, sie alle wieder schlafen wie zuvor. — Rasch überwand er das, schloß die Kammer, nahm den Hut — schloß die Küche ebenfalls — verließ das Blockhaus und trat ins Freie.

Neben der Hütte war ein kahler Sandhaufen, gegen Unwetter von überhängenden Fichten beschirmt. Spuren bezeichneten den Ort als Spielplatz der Kinder; Tom wich ihm aus. Auf dem Rasenhügel abseits warf er sich nieder und sah herum, empor. Dann wischte er sich die Stirn. Der Mond schien viertelvoll über dem Felsenpaß des Deer Lodge und war nah am Untergehen. Wolkenlos und scharfkühl war die Nacht. Grabesstille herrschte im weit auseinander gebauten Lager. Des guten Himmels Sterne weinten hernieder auf das Tal, die Hütten, die Menschen, die ihre Sünden sogar in diese felsengesperrten Täler trugen.

[S. 197]

Tom zog seine Uhr und besah die Zeiger im Mondschein. Zwölf. Er richtete sich auf und schritt die Halde hinab zur Hütte, schloß sich in die Küche ein. Er hatte Geräusch gehört; nun kam es näher und näher. Deutlich vernahm er Lachen, Sprechen, leichtsinniges Gebaren. Jetzt zog jemand am Schieberiegel. Die Tür ging auf; Peter und sein Weib traten ein. Sofort sahen sie den Fremdling, der schweigend am Tisch sitzend sein strenges Profil von der Lampe bescheinen ließ.

Sie erschraken ein wenig, die Eintretenden; Peter mehr als sie. Tom stand auf und gab sich zu erkennen. Nun begrüßten sie ihn; herzlich sogar. Peter stellte den Schwager Tom von Neuyork seiner Gattin vor, und dann seine Neuvermählte dem Einarmigen. Darauf empfand er das Bedürfnis, eine Entschuldigung zu salbadern an den Bruder seiner ersten Frau, wegen der kurzen Trauerfrist.

Tom gab ihm die Absolution, mit dem Zusatz, daß mancher Ehmann nicht so lange warte; es komme ganz auf den Wert der Toten an. Peter fühlte sich unsäglich erleichtert nach der Freisprechung und bekundete seine Dankbarkeit durch hündisch unterwürfiges Gebaren. Tom tätschelte dem Hund den Rücken. Tom war bei allerbester Laune. Tom war zu gerieben, um mit offenen Karten zu spielen; wenn doch der Zweck seiner Reise in dieses Bärenland war: ein Geschäft abzuwickeln mit diesen zwei Leutchen. Warum sich dann Feinde machen, die, wenn sie wollen, alle seine Pläne durchreißen können?

[S. 198]

Er ließ die strenge, unbeugsame Wahrheit im Wartezimmer und nötigte die schlüpferige Heuchelei herein. Er schmeichelte vorerst seinem gewesenen Schwager ob des feinen Geschmacks, den er beim Erwählen der neuen Frau Daly bekundet habe. Das erweckte Heiterkeit in der ganzen Küche. Dann machte er einen Schritt weiter ins gute Verhältnis und ließ alle die Vorzüge der neuen Frau Parade laufen, die dem plumpen, kurzsichtigen Blick des Gatten bisher entgangen sein mußten: denn Peters rostige, von Schmarren und Runzeln durchfurchten Züge glätteten sich wie Lumpenzeug unterm Bügeleisen und glänzten am Schluß der Lobhudelei, daß sämtliche Gegenstände der Küche Doppelschatten warfen — vom Lampenlicht und von Peters Gesicht.

Endlich wurde es dem Heuchler selber übel zum Erbrechen; denn das Weib da neben ihm — das wußte er schon — war eine an Leib und Seele bankerotte Vettel, die sich nirgends mehr in Umsatz bringen kann als nur im Lager zwischen Spielern, Säufern, geistig verwahrlosten Gräbern; eine fünfzigjährige, geschwollene Kokette, die sich mit allen Mitteln der Verstellung, mit allen Farben der Falschheit übermalt, mit wohlstudierter Haltung, mit angepappter Bildung, ach! mit Herzensgüte sogar, mit des Kindes naivem Blick und Lächeln Laster übertüncht, Egoismus, Gemeinheit, und gleich der Natter, die ihr Kleid an Dornen hängen sieht, Gift spritzen möchte, eh der Fuß sie tritt. Ein unbedachtes Wort vor diesem Weib, und die Kriegserklärung ist[S. 199] fertig. Daß sie aus so vielen Herren des Lagers den Peter bevorzugte — das ist für Peter nicht schmeichelhaft.

Tom siegte; siegte, wie er mußte. Er gewann die Kokette als Verbündete in sein Geschäft — und legte aus — erklärte, erzählte. Viel wurde zwar herumgeredet, geschachert, gefeilscht. Peter war ein halsstarriger Gegner des Plans; hauptsächlich drehte und krümmte er sich, als man auf Willie zu verhandeln kam. Schließlich glätteten sich jedoch die Widerspüche, und als die Schlacht geschlagen war, hatten alle Parteien gesiegt. Der Friedensvertrag lautete:

Erstens: Peter Daly ist total mittellos, sogar in Schulden. Die Reise nach Klondyke ist Peters heißester Wunsch, kostet aber mit Frau zweihundert Dollar. Peter Daly und Frau reisen also nach Klondyke.

Zweitens: Tom Pratt bezahlt sofort an Peter Daly und Gemahlin hundertfünfzig Dollar, und fünfzig weitere Dollar innerhalb zwei Wochen, die er aus der Bank am Hudson ziehen wird. Das, zusammen mit Peters Monatslohn, der am fünfzehnten Juni fällig wird, reicht zur Auswanderung.

Drittens: Peter Daly gibt alle Ansprüche auf seine noch lebenden fünf Kinder ab zu Gunsten des Tom Pratt.

Der Einarmige zog aus der Brusttasche ein schönbeschriebenes Blatt hervor, eine Feder und sogar Tinte; und während Peter und Gemahlin das Dokument[S. 200] lasen, zählte er hundertfünfzig Dollar in Kassenscheinen auf den Tisch.

»Woher hast du all das Geld?« fragte Peter glotzend; er hatte vorhin schon einmal gefragt.

»Ein Seestern!« antwortete Tom und lachte. — »Nimm's nur!«

Peter unterschrieb mit zitternder Hand. Dann nahm er das Geld und gab es mit ebensolchen Händen seiner »Marianne«.

Beide Eheleute bedankten sich, und der Handel war abgeschlossen.

Eine merkwürdige Veränderung kam über Tom, als er das unterzeichnete Papier faltete und in der Brusttasche verschwinden ließ. Eisige Kälte überzog augenblicklich sein vorher freundliches, gewinnendes Gesicht. Ohne ein Wort zu sagen, stand er auf, griff nach dem Hut und verließ das Haus.

Peter, todmüde von der Tagesarbeit in der Mine, vom Tanzen und Trinken in der Schenke und der Aufregung jetzt, streckte sich auf der Küchenbank aus und suchte in tiefem Schlaf Erholung. »Marianne« überzählte noch einmal das viele Geld und schmunzelte vergnügt.

Es war drei Uhr Morgens und stockfinstere Nacht. Der Mond war untergegangen. Da rollte an die Hütte ein Karren heran, mit zwei Maultieren bespannt. Ein Reiter folgte auf einem dritten; behende sprang er vom Sattel, gab die Zügel dem Fuhrmann auf dem Karren und verschwand im Schuppen. Wenige Sekunden später kam er wieder heraus. Er trug[S. 201] einen Knaben, in Bettzeug gewickelt und schlafend, zum Karren und legte ihn mit Hilfe des Fuhrmanns, der mit der Laterne leuchtete, ins Stroh.

Schnell wiederholte der Mann den Gang und brachte einen jüngeren Knaben heraus, in Lumpen und Laken gewickelt, und legte ihn ebenso in den kistenartigen, halb mit Stroh und Stalldecken gefüllten Karren. Das nächste Mal hatte der Räuber ein schlummerndes Mädchen, etwa fünf Jahre alt, im Besitz. Das vierte Mal trug er ein vierjähriges Mädchen in die Gefangenschaft. Das fünfte Mal — —

»Marianne« schüttelte den schnarchenden Peter. Er schlief weiter. Endlich zerrte sie ihn von der Bank herunter und schrie ihm ins Ohr: daß seine fünf Kinder gestohlen würden von einem einarmigen Einbrecher. Halbwachend erfaßte der Unglückliche die Situation in so milder Form, daß er mit Gähnen und Gliederrecken sich darüber wegsetzte. Er glaubte sogar ein Opfer zu bringen, als er das bequeme Liegen auf der Bank in Aufrechtsitzen umänderte.

»Peter! deine Kinder nimmt er dir weg!« kreischte die Stiefmutter. »Den Willie hat er, den Tom, die Lilli, die Rose —«

Jetzt trat Tom Pratt mit Molly, der Jüngsten, und zugleich mit einem Habersack voll Schulbücher, Bilder, Hefte, Briefe und Reliquien aus der Schlafkammer und versuchte zu fliehen.

Das war unmöglich. Der Räuber hatte sich überladen und Peter gelang es, ihm den Weg zu vertreten.

[S. 202]

»Meine Molly!« jammerte der Vater. »Mein Kind! Laß mir wenigstens eins von fünfen, eins. Den Willie laß mir!«

Beim Versuch, das schlafende Kind zu küssen, taumelte der immer noch Schlaftrunkene seitwärts — und Tom rannte nach dem wartenden Wagen. Eilig bettete er Molly ins Stroh; der Fuhrmann hieb auf die Esel los; Tom sprang in den Sattel; und fort ging's in die Nacht hinein.

»Tom!« hörte man von der Hütte her ein klägliches Rufen; aber weiter flogen die Räuber durch Staub und Finsternis.

»Tom!« klang es noch einmal.

Dann noch einmal, jedoch so ferne, daß der ächzende Karren und die Hufschläge der Tiere es übertönten: »Tom! O, o, o!«


Der Morgen dämmerte in phantastischen Umrissen über Deer Lodge, als die Flüchtlinge den Hügelrücken erreichten, der es dammartig von Buxton trennt. Die Kinder waren inzwischen alle wach geworden und betrachteten sich gegenseitig; jedoch ohne sonderliches Erstaunen zu bekunden. Sie nahmen die gewiß neue Weltordnung, in welche sie über Nacht, im Schlaf sogar hineingefahren waren, als etwas ganz Selbstverständliches, als hätten sie es vorausgewußt und erwartet. Oder waren die unglücklichen Wesen durch Entbehrungen schon so stumpfsinnig geworden, daß nichts mehr sie bewegte?

[S. 203]

Neben der Birkengruppe in dem mit der Axt ausgeschlagenen Fahrweg machte die Karawane halt. Tom stieg ab und befestigte die Zügel am Ast einer Weißrindigen. Der Fuhrmann unterrichtete ihn vom Wagensitz herunter, wie er gehen sollte. »So und so — fünf Minuten steigen;« dabei zeigte er mit dem Peitschenstiel auf eine riesige Tanne, die das Buschwerk überragte, als das Ziel. »Dort liegt's,« sagte er. »Wenigstens nicht weit von der Rottanne liegt das Grab. Sie können gar nicht fehlgehen, Sir, wenn Sie die Tanne im Auge behalten.«

Tom verschwand in der angegebenen Richtung.

Der Mann vom Lager, der Fuhrmann, sprang nun auch vom Wagen, löste die Halfter der Maulesel, befestigte sie am Karrenrad. Dann langte er einen Sack mit Welschkorn hervor und fütterte die Tiere. Auch Toms Geduldiger bekam sein Teil zu fressen. Darauf griffen zwei barmherzige Hände nach einer Pappschachtel mit süßem Zwieback und übergaben sie den Kindern zur Vernichtung. Dieselben Hände zogen dann einen Tabaksbeutel hervor, eine Tonpfeife, stopften die Pfeife, zündeten sie an und steckten sie einem gutmütig dreinschauenden Mann ins braune, bärtige Gesicht. Der Mann belohnte die zwei Barmherzigen, indem er sofort jede Arbeit ruhen ließ, sich aufs Moos lagerte und blaue Wölkchen hinaufblies in die knospenden Birken. Jetzt war es so ruhig ringsum, so still — man hörte nur das Kornkauen der Esel und das Knabbern guter Kinderzähne am Zwieback.

[S. 204]

Da — plötzlich gellte aus der Richtung, wo die große Tanne stand, ein wilder Schrei durch den Wald. Kurzes Echo gellte zurück von den Felsen. Erschrocken sprang der Fuhrmann auf und beruhigte die Tiere, die scheu zu werden drohten. Gespannt horchte er: wiederholt sich der Schrei? — Ein wildes Tier? — Aber nein. Es blieb still. Die Maulesel begannen ihr unterbrochenes Frühstück zu vervollständigen. Die Kinder ließen sich überhaupt nicht stören.

Jetzt kam Tom zurück. Er ging in gewöhnlichem Schritt und trug den Hut in der Hand. Totenblässe bedeckte jedoch sein Gesicht und Schweiß seine Stirn. Als der Fuhrmann ihn fragend anschaute, schüttelte Tom den Kopf.

»Fehlgelaufen, Sir?«

Statt der Antwort zog der Einarmige seinen Reisegefährten beiseite, damit die Kinder nichts hören sollten, falls sie lauschen wollten. Er redete halblaut. Es schien, als frage er viele Fragen, denn wiederholt zuckte der andere die Achseln und schüttelte den Kopf. Endlich sagte er laut: »Ich werde behilflich sein, aber nicht um Geld, Sir; nur aus Mitleid, einzig aus Mitleid. Ich hab' Kinder in Portland und weiß, wie's tut. Gott helf' Ihnen, Sir!«

Seine Pfeife ausklopfend und einsteckend, ging er zum Karren und langte den Willie, wie er war, in Decken gewickelt heraus. Tom nahm Willies Brüderchen und beide Männer schritten mit ihrer Last in die Richtung der großen Tanne und verschwanden.

[S. 205]

Nach zehn Minuten kehrten sie zurück, nahmen dieses Mal zwei der Mädchen und trugen sie den Hügel hinauf.

Wieder kamen sie zurück. Der Mann von Portland legte sich nun lang aus ins Grüne zur verdienten Ruhe. Tom nahm die kleine Molly auf seinen Arm und bahnte sich zum vierten Mal den Weg durch Hecken hinauf.

Erschöpft trat er in die Lichtung neben der Riesenfichte, setzte die Kleine zu ihren Geschwistern und sich selber — den Hut ab — etwa zehn Schritte seitwärts. Da kauerten sie nun alle fünf, in Stalldecken und Bettücher eingemummt, auf dem frischgeworfenen Hügel, unter dem frischgezimmerten Kreuz, in der kühlen, frischen Tagesdämmerung.

Die Kinder hatten, obwohl keines je hier war, den Ort gleich erkannt und wußten, was der Hügel, das Kreuz, die Zeremonie der Herreise bedeute. Sogar die Kleinste wußte es und begann das Mündchen zu verziehen zum Weinen. Merkwürdig jedoch, sie weinte nicht — und niemand. Niemand sprach ein Wort. Mit unnatürlich großen, tiefen Augen schauten die Kinder sich gegenseitig an; schauten ringsherum, mit heftigen, sogar wilden Blicken. Etliche davon trafen den armen Sünder nebenan, als hätte er, der Einarmige, die Mama getötet, ihr das Grab gegraben und sie da hinuntergeschaufelt.

Dann endlich bemerkte Tom, wie drei, vier, sieben, zehn kleine Hände nacheinander aus den Lumpen und Decken krochen; und das war es wohl, auf was er[S. 206] sehnsüchtig gewartet hatte. Denn sofort kniete er nieder, hielt seinen verstümmelten Arm nebst dem rechten in die Höhe, neigte sein Haupt tief zur Erde, und zitternd, leise, dann lauter, glockenreiner klang im Chorus, durch Wald und Wildnis, das göttliche Gebet: »Vater unser, der du bist im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme zu uns. Dein Wille geschehe ...«

Und mit Strahlen auf Strahlen vom Licht der erwachenden Sonne — durch Tannen, Birken, schwankendes Buschwerk, goldgelbe Bänder flechtend, gleichsam den Hügel und seine Heilige einspinnend in Netze himmlischer Farben — so kam der Gerufene herab zu den Kindern.


Mittags kamen sie endlich in die Niederung von Buxton. Der Fuhrmann trieb sein Fahrzeug nach einem abseits in halbwildem Garten stehenden Blockhaus und hielt vor der Umzäunung. Die Herauskommenden, zwei Frauen, grüßten ihn herzlich; die jüngere seine verheiratete Schwester, die andere deren Schwägerin, eine Witwe. Die beiden betrieben ein Waschgeschäft, nebst Flickerei von alten Kleidern. Der Hausherr war, wie schier alle seines Geschlechtes in dieser Weltgegend, Bergmann.

Zwischen Tom und seinem Reisegefährten war viel vereinbart worden während der Fahrt über den Hügel; sie hatten weiter nichts mehr zu unterhandeln. Tom küßte die Kinder, redete etliche wohlwollende[S. 207] Worte und entfernte sich dann auf seinem Reittier in der Richtung von Buxtons einziger Straße.

Jetzt ereignete sich etwas Unerwartetes. Kaum war Tom verschwunden, so ergriffen die drei andern die Kinder, schleppten sie hinter das Haus in den abgelegensten, verwachsensten Winkel und zogen die hilflosen Wesen aus, splitternackt, setzten sie so nebeneinander, dem Alter nach: Willie, dann weiter, auf ein rohes Brett und Holzklötze. Dann bewaffneten sich die beiden Weiber und ebenso der Fuhrmann mit scharfen Scheren, stürzten sich über die Mädchen, dann über die Knaben her und begannen sie völlig glatt zu scheren. Alles, was Haar hieß, schnitten sie herunter, so gründlich, daß die Opfer der Prozedur nach dem Angriff aussahen wie geschorene Schafe und keines das andere erkannte.

Sie ließen es sich aber schweigend gefallen.

Nach dieser Tortur kam der zweite Foltergrad: die Kinder wurden paarweise in warme Seifenbrühe gelegt, unbarmherzig gebürstet, getaucht und abgerieben mit Tüchern, und wieder gebürstet und abgerieben.

Auch das ließen sie sich schweigend gefallen.

Damit nicht genug: jetzt wurden alle die abgerissenen Unterkleider und Bettlaken, nebst den argverschnittenen Haarlocken, auf einen Haufen gekehrt und — zu Asche verbrannt.

Auch das ließen sie sich schweigend gefallen.

Jetzt schürten die Weiber den Herd mit frischem Holz, das der Portlander herbeischleppte, und stellten Bratpfannen auf. Als es so aussah, als sollten die[S. 208] Gefolterten in der Pfanne elendiglich gebraten und geröstet, mit Schweinefett und Zwiebeln vermischt und jedenfalls dann gefressen werden — da erschien als rettender Engel Tom. Er schleppte einen großen Pack unter dem Arm und ließ ihn neben der Küchenbank fallen, auf die man die Kinder gesetzt hatte.

»Ach, Onkel Tom!« klagten die kleinen Nackten, »wir sind schier nicht mehr da! Schau doch! schau!«

Der Einarmige lachte und wischte sich den Schweiß. Die Kinder lachten auch, die Folterknechte ebenfalls. Es war die erste heitere Szene.

Tom schnitt dem mitgebrachten Pack den Bauch auf, und lauter neue, schöne, reine Kleider und Schuhe und Strümpfe platzten heraus. Schnell, mit Hilfe der Frauen, wurden die Sachen verteilt und den nackten Gliederchen umgehängt. Schier alles paßte; und was nicht eben paßte, wurde so lange gelobt, bis es dann doch paßte. War das eine Freude! Das erste frohe Lachen seit Monaten kam aus der Kinder Innerstem. Die Mädchen hatten niedliche Kapuzen, die ihre geschorenen Köpfe verdeckten; Rose eine rote Kapuze, Lilli eine weiße, Molly eine blaue. Die Knaben hatten Jockeikappen, die ein Gleiches taten. Alles schillerte in Farben und Flitter.

Nun setzte sich die Gesellschaft an den Tisch; die Pfannen wurden auf die Teller umgeschüttet, und zu essen gab es. Und gegessen wurde mit einem Appetit, der — unterhalb des Polarkreises nicht wohl überboten werden kann.

Nach der Mahlzeit blieben Onkel Tom, der Fuhrmann,[S. 209] die beiden Frauen am Küchentisch, während die Kinder durch den Garten zogen und ihre neuen Kleider mit den wilden und gezähmten Blumen verglichen, sehr zum Nachteil der Blumen. Am Küchentisch wurden nun Rechnungen gemacht und beglichen, Schulden bezahlt. Viel Geld mußte Onkel Tom auslegen, viel Geld. Ohne Murren noch Seufzen zahlte er jedoch alles auf den Tisch. Endlich war er frei — und atmete auf.

Dann nahmen sie Abschied; Tom mit den fünfen einerseits, der Fuhrmann mit den zweien anderseits. Wie doch das Unglück Menschen rasch verbrüdert: dem bärtigen Karrenmann stand das Wasser in den Augen, als er dem Einarmigen die Hand drückte. »Sir!« sagte er, »leben Sie wohl, und glückliche Reise! Werd' auch bald nachreisen, nach Portland wieder. Das Geschäft geht miserabel schlecht in Deer Lodge; wird bald ganz aufhören über Sommer.«

Die beiden Frauen küßten die Kinder der Größe nach; die eine von unten nach oben, die andere umgekehrt. »Viel Glück! viel Glück!« riefen sie noch und schwenkten die Taschentücher, als Tom mit seinen Schützlingen schon fast verschwunden war zwischen Hecken und Büffelgras, auf dem Pfad zum Bahnhof.

Schon eine halbe Stunde wartete der Zug, und als die Reisenden eingestiegen waren in die nur schwachbesetzten Wagen, wartete er abermals eine halbe Stunde. Buxton ist Endstation; der Zug ist überhaupt der einzige täglich, der mit Butte City[S. 210] verkehrt, und das Dienstpersonal macht wohlverdiente Ruhepause hier.

Da saßen sie nun endlich im Eisenbahnwagen, fertig zur Abreise nach dem Osten, in die Zivilisation wieder, in die hoffentlich sonnige Zukunft. Tom stützte seinen verkrüppelten Arm auf das Gesimse des offenen Fensters und bedeckte sich mit der Rechten die Stirn, als hätte er Kopfweh oder sonst ein schweres Leiden. Er war seit dem Einsteigen plötzlich wieder tief traurig geworden und niedergeschlagener als je zuvor.

Ihm gegenüber saß Molly, das Gegenteil von Trauer und Niedergeschlagenheit. Vertieft in die Farben und Schönheiten ihrer neuen Kleider, schwelgte die dreijährige Kokette in Glückseligkeit. Abwechslungsweise hoch und höher zog sie ihr Röcklein und betrachtete mit schattenloser Befriedigung die blaubestrumpften, trotz aller Not rund gebliebenen Beinchen.

Neben der Molly saß Lilli — schneeweiß wie ihr Name. Die Unterlippe hatte sie ein wenig eingezogen; ebenso, nur fester, die Daumen in die innere, halbgeschlossene Handfläche. Mit tiefliegenden Augen, die von krankhaftem Blau unterstrichen waren, starrte das Kind unverwandt den großen, fremden Mann an, der sie von Deer Lodge hiehergebracht hatte. Wie sehr das notwendig war, und beinahe zu spät, bewies ein ungewolltes, erbarmungswertes Seufzen, das jede Minute wiederkehrend ihre kleine, abgemagerte Form erschütterte wie ein Schreck.

[S. 211]

Rechts am anderen Fenster unterhielten sich Willie, Tommy und Rose heimlich miteinander. Ziel und Zweck der Reise war das Thema, und Willie zeigte eine an Allwissenheit streifende Prophetengabe.

Ah! jetzt zog die Lokomotive an, mit dem bekannten Ruck. Die Wagen bewegten sich. Die Station ging vorüber, vorüber der angrenzende Schuppen, der Schwellenhaufen, das Wasserfaß, die ärmlichen, verdrückten Blockhütten der Ansiedlung ... Jetzt — o jetzt — Tom schaute auf und hinaus. Seine Blicke trafen den Horizont, den waldbewachsenen Hügelrücken, der Buxton trennt von Deer Lodge; sie erkannten die Riesentanne auf dem Hügel, die gleich einem von der Abendsonne vergoldeten Finger gen Himmel zeigte.

Donnernd rasselte der Zug vom offenen Feld in eine Felsenspalte, und das Bild war fort, verschwunden auf Nimmerwiederkehr.

Jennie! dachte Tom, dem die Tränen aus den Augen stürzten. Und dort liegst du nun in alle Ewigkeit allein; niemand, der dein Grab besucht, als das Tier der Wildnis. O, daß es so enden mußte mit dir! Steine statt Blumen; Hagel statt Tränen; statt der lieben Kinder Weinen werden Wölfe heulen. Jennie! Meine Jennie!

Mit schaurigem Gepolter stürzte sich der Zug in den mitternächtigen Tunnel — wie ein Sarg ins Grab.

Krampfhaftes Schluchzen schüttelte Tom, Tränen auf Tränen rieselten heiß über seine Wangen. »Jennie![S. 212] Schwester!« hörte man ihn nur hin und wieder seufzen. »Jennie! Schwester!«

Als es wieder heller wurde, und die letzten Abendstrahlen hereinleuchteten in den dahinschießenden Zug, saß er seitwärts gelehnt mit dem Haupt in die Wagenecke — und schlief.


Ein Sommernachmittag an den Jerseygestaden des Atlantischen Meeres.

Da rollen sie wieder heran und werden nicht müde, die schhaumgekrönten, grünen Wogen der See. In kühlen Armen schaukeln sie die Fischerboote, Ruderboote, Jachten und eisenschweren Dampfer, und werden nicht müde. Ist es die blaue Welt dort oben, die das Meer so harmonisch sekundiert und weiße Wolken, Himmels Segelschiffe, treiben läßt von Land zu Land, gleich der See? Ist es der Südwind, der palmenduftend die Küstenländer streicht und Wiesengras und Weizenhalme wogen macht in langen Reihen, gleich der See? Ein Gefühl ist's vielleicht, wie es unerklärlich, geisterhaft durch die Natur sich webt: wenn Schönheit auf die Bühne tritt, dann überkommt das Haus ein Verlangen, in dem Andacht und Wollust zusammenschmelzen. Das uralte Meer ist kindisch heut und spielt mit lachenden, jauchzenden Kindern am Strande, den ganzen, lieben langen Tag, und wird nicht müde.

Schon früh eh der Morgen graute wusch die Flut, des Meeres Magd, den Strand. Mit Wasser[S. 213] auf Wasser schwenkte sie, so weit ihr Eimer reichen konnte, Sand und Schilf und glättete der Dünen meilenlange, silberweiße Bank zum Spielplatz willkommener neuer Gäste. Und lange eh die Gäste kamen, trocknete des Himmels Licht und Wärme, freudestrahlend, das triefende Ufer. So oft und grimmig sie sonst sich stritten, des Himmels und des Meeres Mächte — mit Donnerrollen, Wogenbrüllen sich den Krieg erklärten — der Himmel seine Keulen breit schlug auf des Meeres höckerigem Rücken — und das Meer in blinder Raserei dem Blitz in seine Feuerpfanne spie — heute war Friede zwischen den Gegensätzen auf Erden. Heute war Versöhnungstag, Auferstehungstag.

Jetzt kamen sie! Sie kamen! Die Luft zitterte vor Erwartung; des Meeres lange Wogenreihen reckten ihre Hälse, eine die andere überschauend. Und Molly trat zuerst, barfüßig und das Röcklein hoch, in die sprudelnden Wasser. Jetzt folgten Rose und Lilli und hielten ihre nackten Spindelbeinchen hin als Wellenbrecher. Tommy und Klein-Bertie Pratt versuchten das wunderliche, fremde Bad. Und kecker wurden sie von Augenblick zu Augenblick.

»Onkel Tom, wie das kitzelt!« jauchzten die Mädchen, »wie das kitzelt!«

»Und kühlt!« schrieen die Knaben.

»Ach, Onkel Tom! ist das Meer immer so groß wie heute?« riefen die Mädchen.

»Ach, Onkel Tom! — Papa! lieber Papa! — Ist das Meer immer so schön wie heute?« lachten[S. 214] Bertie und sein Vetterchen vom Westen und liefen hin und her, in unbändiger Lust Luft atmend, Freiheit saugend.

Und melodisch schwatzte das Meer mit den Kindern, ihnen Märchen erzählend. Das ungeheure Meer, das Stahlkolosse wirft wie Bälle, sich auf Klippenküsten stürzt, bis die Felsen wanken, und bäumend nach des Himmels grauer Decke schnappt — liebkosend wusch es ihre Beinchen, so dünn und schwach, spülte durch die Zehen, spritzte neckend Schaum in ihre Gesichter, zog schelmisch den Sand weg unter ihren Sohlen und hüpfte vor Lust, wenn die wilden Gäste fielen.

O, Meer und Kind!

Sie hatten sich noch nie gesehen, und gleich erkannt und gleich geliebt, und gleich die Verwandtschaft herausgefühlt, daß ein großer, guter Vater, der des Kindes Busen hebt und senkt, des Meeres Flut und Ebbe will.

Und jetzt kommen die Wasser näher. Ein neues Paar haben sie entdeckt und drängen heran und winken und rufen. Dort sitzt, etwas weiter ab vom nassen Strand, ein schönes Weib und hält auf ihrem Schoß einen schönen Knaben. Sie kann nicht seine Mutter sein, dafür ist sie doch zu jung. Aber die gleichen hellen, nordischen Locken haben beide; die gleichen, wohlgeformten Züge und ach! das gleiche, kranke Blaß der Wangen, mit dem Anflug von Rot, den des Meeres Odem eben angehaucht. Der gleiche engelhafte Friede schaut aus beider Aug' ... Ja, das kann nicht beschworen werden, denn der Knabe[S. 215] schläft. Gleichmäßig atmet er mit dürstenden Zügen die Salzluft ein, im Traum der Wirkung unbewußt; aber bald wird sein müder Körper stark in dieser Pflege, und bald wird er gesund sein und auch spielen dort unten bei der schäumenden Brandung der See, mit den andern; und so seine Hüterin, die schöne Frau.

Jetzt führt sie mit der rechten Hand ein Buch, in dem sie las (derweil ihr linker Arm den Schützling umschlingt), an die Lippen und küßt es lang, süße Schmeichelworte stammelnd zwischen Küssen und Lächeln.

Jetzt legt sie das Buch beiseite auf den Dünensand und greift nach dem offenen Schirm und hält ihn über sich und den Schlafenden. Sprunghaft schier war die Sonne wieder aus der Wolke getreten; die Licht- und Lebenspenderin versuchte nun schon zum zehnten Mal, mit überraschender List ihren Zweck zu erhaschen, sich satt zu weiden, oder wenigstens mit einem heißen Kuß die Krankenstubenwangen dieses stillen Paars zu erwärmen. Aber abgeschlagen rollt das Licht vom aufgespannten Schirm herab auf das Buch im Sand; und gierig schier, als wäre dieses Buch und nicht die Leserin der Zweck des Niedersteigens aus der Himmelshöhe, beginnt die Königin zu buchstabieren:

»Der Seestern.
Roman von Tom Pratt.
(Sechstes bis zehntes Tausend).«

Und wie glühendes Entzücken zieht es hinauf und[S. 216] herunter — auf Sonnenfäden wie ein Weberschifflein auf- und abwärts, durch die Natur und tote Körper seelische Gefühle webend.

Plötzlich pfeift der Seewind ins aufgeschlagene Buch und schüttelt die Blätter zausend und zerrend durcheinander, gleich einem losen, wilden, schadenfrohen Buben Sand und Muschelscherben darüber streuend; und die gekränkte Sonne verbirgt ihre Enttäuschung hinter Wolkenhaufen.

Und wieder greift die schöne Frau nach dem Buch und senkt den Schirm zu Boden. Aber diesmal liest sie nicht. Suchend schweifen ihre Blicke meerwärts zu der Gruppe lachender, jauchzender Kinder, die sich dort in der Brandung tummeln, und haften fest an dem einarmigen Mann, der bei ihnen steht als Beschützer und Belehrer. Und dieser Mann ist der Dichter des herrlichen Buchs, das sie in der Hand hält; das sie liest und wieder liest, wie man Vaterunser betet unzählige Male. Ja, dieser einarmige Krüppel, dieser arme, tiefgekränkte Bettler hat, wie man Funken schlägt aus kaltem Stein, mit Gottvertrauen aus der Verzweiflung sprühendes Feuer gehämmert, das die Empfänglichkeit zur Flamme schürt und Wärme geben kann an das kälteste, gefrorene Herz. Und dieser einarmige Dichter ist ihr Gatte, ihr teurer, teurer Tom! — Ein kindischsüßes Lächeln spielt um ihre Lippen und zieht durch die bleichen Wangen aufwärts; — ein weher Schatten zieht von ihrer Stirn niederwärts. Auf halbem Weg treffen sich die Gegner, und der armen Eva himmelblaue[S. 217] Augen zittern unter dem Druck der streitenden Gäste und heiße Tränen tröpfeln auf den Sand, die Kleider, des Knaben Locken, auf das Buch, das ihr und sein und aller Erlöser wurde.

Als sie ausgeweint hat und mit der letzten Träne jenes Seufzen, fiebergleich doch wohltuend, ihren Körper schüttelt, das den Übergang bildet vom Sturm zur Ruhe — da ist es ihr, als sei noch nie im Leben diese Welt so schön gewesen wie in dieser Stunde. Weit, so weit ihr Auge reicht, dehnt sich das Meer, und Meer und Himmel, wie zwei ausgespannte Arme, schlingen sich um ihn und sie und diese lieben Kinder. Was die Wogen rauschen, klingt wie das Reden wohllautender Stimmen. Was die Wasser singen, ob Kinderjauchzen oder Plätschern der Brandung — alles ist ein einzig herrliches, liebes, oft gehörtes Lied in ihren Ohren, und die Wolken formen sich zu teuren Wesen und Gestalten, und der Schaum der Brandung zu Gesichtern, und jedes Ding ist verschönerte Verklärung.

Da liegt sie endlich tot und ausgetobt, die Angst und Sorge; die Vergangenheit wie eine schwere, schwere, schrecklich lang durchwachte Nacht. Mit Gefühlen, wie der Auferstandene sie haben mag am ersten Tag im Himmel, denkt sie jetzt zurück ans ferne Vaterland im kalten Norden — an der Heimat hohe Berge, wilde Wälder — an das Wanderlied, das ihre Eltern lockte übers Meer ins breite Tal des Mississippi — an die Leiden und Mühen der Armen in dem fremden Land — an Vaters jähen[S. 218] Tod — der Mutter frühes Sterben — die Verlassenheit der Waisenzeit — die Nächte, die sie mit Gottes Engeln durchbetete im stillen Kämmerlein — an die schaurigen Gefahren, die Schlangenringen gleich sich legen um ein Mädchenbild, so jung und so wohlgeformt und so bettelarm — an den Sonntag auf dem Kirchhof in St. Louis — an Toms Geständnis — an das erste Licht nach langer Finsternis — ans Paradies der Liebe — an der Vermählung Doppelfrucht — höchstes Glück auf dieser Erde — — ach! an Elfies Sterben — an des Gatten gräßliche Verstümmelung — Tränen — Elend — Hunger und Verzweiflung. Lawinengleich bricht jetzt das Verderben über Haus und Heim. Und dahinein gellt ein Schrei von außen: Jennie ist erfroren in Montana — der Jennie Kinder verderben — die Welt geht unter, und es gibt keinen Gott!

Da, o da — mit welcher Voraussicht hat der große Geist gerechnet! Das gräßlichste Geschehnis wird zum Heil: die abgesägte linke Hand zwingt die verwaiste Rechte zur Selbständigkeit, und verwirrt in ihrer neuen Stellung, greift sie gleich zum Allerhöchsten, was die Menschenhand erreichen kann: Verkörperung von Idealen ... So schreibt sie dem Krüppel Tom sein erstes Buch: »Der Seestern

Und Glück auf! es gefällt. Die Leser wollen mehr. Und Tom Pratt wird weiterdichten — muß weiterdichten; aus Pflicht für Weib und Kinder, aus Dankschuldigkeit gegen Gott, seinen Schöpfer, aus unbändigem Verlangen nach dem Kuß der Musen.

[S. 219]

Auch die allerlängsten Nächte haben ihre Morgen!

O, warum wir leiden, leben müssen? Um sterben zu dürfen? — Nein, um auferstehen zu können! — Leiden schmieden, Hammerschlägen gleich, die Ketten der Zusammengehörigkeit ums ganze menschliche Geschlecht. Gäb's hunderttausend Wege aus dem Nichts zum Sein, aus Verwilderung zur Veredlung, aus diesem Kampf ums Dasein zur Glückseligkeit und zu Gott, keiner führt vorbei und jeder durch die salzigbittere Wüste: Schmerz.

Doch haben die Tränen längst den kürzesten entdeckt. Und der sicherste der Führer bleibt die Sehnsucht ...

Schon seit einer Weile ist der Knabe wach und schaut empor. Er sieht das Wolkentreiben droben und das grenzenlose tiefe Blau der Welt, hört der Brandung geisterhaftes Rauschen, des Meeres röchelndes Atmen, und alle die Wunder drücken seine Nerven mit Ermüdung.

Jetzt kommt die schöne Frau zurück zur Gegenwart und blickt in die offenen Augen ihres Schützlings. Freude füllt ihre Brust. Dann, sich tief herabbeugend und des Knaben Stirn küssend, haucht sie: »Guten Morgen, Willie! Hast du gut geschlafen?«

Ein selig Lächeln ist die Antwort.

»Und darf ich wissen, was mein Liebling schönes träumt, derweil ihm das Meer die Schlummerlieder singt?«

Hier verändert sich des Knaben Aussehen. Abwehrend,[S. 220] tiefe Schwermut zeigend, senkt und öffnet er die Lider.

»Nicht?« klagt die Frau. Aber plötzlich schrickt sie zusammen — weicht zurück — langsam vergrößern sich die Pupillen in ihren Augen und bleiben so.

Zweimal nickt der Knabe, wie ein doppelt Ja.

Die schöne Frau nickt auch.

Sie hatten sich verstanden; das Kind war dort und hat's besucht. Was? Das verschollene Grab.


deko