The Project Gutenberg eBook of Leben und Meinungen des Herrn Andreas von Balthesser, eines Dandy und Dilettanten

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Title: Leben und Meinungen des Herrn Andreas von Balthesser, eines Dandy und Dilettanten

Author: Richard von Schaukal

Release date: May 3, 2020 [eBook #62006]

Language: German

Credits: Produced by the Online Distributed Proofreading Team at
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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK LEBEN UND MEINUNGEN DES HERRN ANDREAS VON BALTHESSER, EINES DANDY UND DILETTANTEN ***

Anmerkungen zur Transkription

Der vorliegende Text wurde anhand der 1907 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr gebräuchliche Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert, sofern der Sinn des Texts dadurch nicht beeinträchtigt wird. Rechtschreibvarianten wurden nicht vereinheitlicht, wenn die jeweiligen Formen mehrmals bzw. gleich oft im Text vorkommen.

Die Nummer des Buchexemplars (414) wurde im Original von Hand auf die Buchseite gestempelt. Das Inhaltsverzeichnis wurde der Übersichtlichkeit halber vom Bearbeiter an den Anfang des Texts verschoben.

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ANDREAS VON BALTHESSER

LEBEN UND MEINUNGEN
DES
HERRN ANDREAS VON BALTHESSER
EINES DANDY UND DILETTANTEN

MITGETEILT VON

RICHARD SCHAUKAL

ZWEITE VERBESSERTE AUFLAGE

Verlagssignet

MÜNCHEN UND LEIPZIG
BEI GEORG MÜLLER
1907

Die erste Auflage dieses Buches war in 830 numerierten Exemplaren, davon 30 auf Bütten, hergestellt worden. Diese zweite veränderte Auflage umfaßt 1010 numerierte Exemplare, davon 10 vom Autor signierte Exemplare auf echt van Geldern. Der Preis eines solchen gebundenen Luxusexemplares beträgt 15 Mark.

Dieses Exemplar trägt die Nummer 414

CARL BARON BAMBERG

in aufrichtiger Freundschaft

Wien, im Sommer 1906

R. Sch.

A vrai dire, je ne suis rien moins que sûr d’avoir quelque talent pour me faire lire. Je trouve quelque fois beaucoup de plaisir à écrire, voilà tout.

Henri Beyle (1835).
(Vie de Henri Brulard.) 

INHALT.

Seite
Ouvertüre: Herr von Balthesser hält einen Vortrag vor wißbegierigen jungen Leuten (nach der offenbar ironischen Schilderung eines wohl nicht ganz objektiven Zeugen)
Selbstbiographie Herrn von Balthessers
Andreas von Balthesser über den „Dandy“ und Synonima
Andreas von Balthesser an die Gräfin F.
Andreas von Balthesser spricht mit einem Literaten über die Gesellschaft, die Künstler und ihr Gehaben und das Selbstverständliche
Andreas von Balthesser spricht mit einem andern Literaten über das Monokel, über Witze, liebenswürdige Sonntagsplauderer und die deutsche Prosa
Herr von Balthesser spricht mit einem bescheidenen jungen Schriftsteller über Bücher
Andreas von Balthesser über die Betrachtung von Gemälden
Was Andreas von Balthesser gelegentlich über das Gespräch zu bemerken hatte
Glossen zur Psychologie der Kleidung
Herr von Balthesser gibt seine Anschauungen vom Verkehr zum besten
Über Vernünftige, Snobs und Beflissene
Antibarbarus. (Eine ungedruckte „Erwiderung“, die sich in Herrn von Balthessers Papieren vorgefunden hat. Anlaß dazu mag irgend ein Zeitungsartikel gegeben haben, der das Recht des deutschen Touristen, in Touristenkleidung an der Hoteltafel zu erscheinen, etwas herausfordernd zu verteidigen unternommen haben dürfte)
Herr von Balthesser phantasiert über das Thema „Die Dame“
Einiges aus Andreas von Balthessers leider nicht gesammelten Sinnsprüchen und Glossen
Vom Aristokratischen
Andreas von Balthessers unrühmliches Ende

[S. 1]

OUVERTÜRE

HERR VON BALTHESSER HÄLT EINEN VORTRAG VOR WISSBEGIERIGEN JUNGEN LEUTEN

(NACH DER OFFENBAR IRONISCHEN SCHILDERUNG EINES WOHL NICHT GANZ OBJEKTIVEN ZEUGEN)

[S. 3]

H

Herr Andreas von Balthesser, der im geheimen sehr berühmte Dichter des „Perseus“, der „Androgyne“, des „Korybanten“, eingeladen, in dem akademischen Zirkel der „Intelligenten“ einen seiner geneigten Wahl überlassenen Vortrag zu halten, erschien in dem verräucherten Klublokal des Hotels Pinsch, mit der ihm eignen nachlässigen Eleganz gekleidet, um die schmalen rasierten Lippen das ein wenig moquante und gleichzeitig hilflose Lächeln, das er an sich so liebte, leicht vornübergebeugt, hastig und verspätet.

Er hatte einen Freund mitgebracht, den er mit stark auswärts gedrehtem Daumen der Linken dem Vorsitzenden präsentierte, Viktor Grafen Melinges, Gesandtschaftsattaché, einen bei ungewöhnlich hohem Wuchs fabelhaft magern, mit der farblosen verlebten Miene und den eckigen Bewegungen der Gliedmaßen an einen Knaben gemahnenden Menschen, der nun, die linke Hand in der Hosentasche, einen leutseligen Rundgang um die nicht eben sauber gedeckte Tafel mit[S. 4] kurzen raschen Schritten und knappen ruckweisen Verbeugungen vor den zumeist von ihren Sitzen emporschnellenden Konviven absolvierte. —

Andreas von Balthesser, vom Vorsitzenden an seine Seite gebeten, hob das Monokel aus der rechten Augenhöhle, hielt es einen Moment mit steifem Unterarm aufmerksam vor sich hin, faßte das dünne Glas dann zwischen zwei Finger der Linken, entnahm mit der Rechten dem Frack — die beiden waren, wie man flüsternd auffing, unmittelbar von einem Diner gekommen — ein ungeheuer großes Taschentuch, entfaltete es, putzte das Monokel umständlich blank, und indem er sich, sein Glas wieder vorm Auge, mit einer leichten Verbeugung gegen die ihm voll schlecht verhehlter Neugier zugekehrten Gesichter wendete, sagte er halblaut und etwas näselnd:

„Meine Herren! Sie haben mich durch Ihren sehr geehrten Vorsitzenden, Herrn Dr. Robert Schaffer, in liebenswürdigster Weise eingeladen, Ihnen in einem sogenannten Vortrag etwas über Kunst zu sagen. Das heißt, nicht wahr, Sie hatten, aus ebenso liebenswürdiger Artigkeit gegen[S. 5] meine dem Fixierten nicht eben geneigte Natur, meiner Stimmung die Wahl des Gegenstandes dieses sogenannten Vortrages überlassen. Aber Sie meinen mit Fug erwarten zu dürfen, daß ich über das Thema Kunst zu sprechen nicht geringe Lust verspüren würde. Nun könnte ich Ihnen ja in der bei Ihnen beliebten Weise einen Exkurs über Stephane Mallarmé oder Emile Verhaeren oder Oskar Wilde oder Tooroop abspinnen. Es wäre mir die, wie Sie annehmen, erwünschte Gelegenheit geboten, mein durch die Erfassung der flüchtigsten Nüancen gesteigertes Wissen um diese oder jene Erscheinung der Kunst oder Literatur vor Ihnen als der urteilsfähigsten Hörerschaft glänzen zu lassen. Ich gestehe gern, daß ich an derlei Sermonen ein nicht wohl abzuleugnendes Gefallen hatte, als ich mich noch in jenem Stadium der Referentenlust befand, die Ihrer Periode, der des beflissenen Studiums, — denn ich sehe doch zumeist Juristen der letzten drei bis vier Semester vor mir — so wesenhaft ist.

Und fast war ich“ — er nahm das Monokel aus der rechten Augenhöhle, hielt es[S. 6] mit steifem Unterarm aufmerksam vor sich hin und setzte es nach einer Pause wieder ein; der Vorsitzende rückte höflich seinen Stuhl noch ein wenig weiter links von ihm ab — „fast war ich, als ich mich Ihrer Einladung in diesen Tagen entsann, entschlossen, ein solches Thema, vielleicht um mir Ihre Sympathien zu sichern, heute hier zu tradieren.

Da ich Sie nun aber vor mir sehe, junge Leute mit Brillen und Zwickern, mit wüsten Bärten und übernächtigen Augen, mit ungesunder gelber Gesichtsfarbe, und Sie mir im Geiste verhundertfacht denke als eine Herde von eifrigen Bücherlesern und eine lebendige Nomenklatur von allerlei sogenannten modernen Doktrinen und Termini, bin ich von einer, wie Sie sagen würden, perversen Lust angewandelt, über die Dichtkunst, von deren Beherrschung ich manche nicht unerhebliche Proben geliefert zu haben glaube, einige wenige offenbar sakrilegische Worte zu sagen.

Meine Herrn“, — er lehnte sich zurück, schlug langsam ein Bein über das andre und starrte in die zuckende Gasflamme[S. 7] auf dem gußeisernen Arm vor ihm, so daß das Monokel wie ein toter Stein glänzte — „meine Herrn, diese Ihre Beschäftigung mit der Dichtkunst und den Dichtern erscheint mir als ein Zeichen, ein jämmerliches Zeichen von Unkultur. Sie werden jetzt in Ihrem Innern heftig erschrecken oder sich entrüsten oder mit vermeintlicher Ironie sich mir entziehen. Ich versichere Ihnen ehrlich, daß mich das nicht im geringsten berührt.“ Das Auditorium rückte mit verlegen lächelnden Mienen an den Stühlen. Man konnte bemerken, daß einer den andern gleichsam niedriger einschätzte.

„Ich bin nämlich Ihrer Auffassung dessen, was Sie Kultur zu nennen belieben, so fern wie ein Gestirn. Ich weiß nicht, ob Sie recht haben oder ob ich recht habe. Es ist mir auch nicht darum zu tun, zu erfahren, wer ‚recht hat‘. Ich empfinde in diesem Moment nur die durch nichts niederzuhaltende Lust, Ihnen zu sagen, daß das alles, was Sie in Anspruch nimmt, aufregt, das, in dessen Besitz Sie sich über die andern erhaben fühlen, mir im Grunde so gleichgültig ist wie dieses — übrigens äußerst[S. 8] unappetitliche halb geleerte Bierglas vor mir.“ Er stellte das Glas energisch vor seinen linken Nachbar, dessen Auge an dem Rande des Glases wie bezaubert haften blieb.

„Ob einer von Ihnen ein Gedicht, das ist eine willkürliche und offenbar eitle Zusammenstellung von unzulänglichen Worten des sogenannten Sprachschatzes, in einer vom Herkömmlichen abweichenden Weise zustande bringt oder nicht, ob er seine minderbemittelten Wünsche an das Leben in gleich langen oder verschieden langen Verszeilen in einer obskuren Revue drucken läßt oder sie seiner Hausbesorgerin, während er der Verschlafenen das Sperrgeld einhändigt, in kürzerer Fassung mitteilt: die Kultur hat mit dem einen so wenig zu schaffen wie mit dem andern. Sie sind heute noch immer, dank der bequemen und einschläfernden Werkelei unsrer ‚führenden Geister‘, als da sind: Gelehrte, Dichter, Zeitungschreiber, in einer Art von Traumwandelei befangen. Es ist nicht meine Sache, den öffentlichen Anrufer zu spielen. Ich fände das wie alles Laute geschmacklos. Ich sage daher diese unfreundlichen[S. 9] Dinge fast wie Salonaperçus, und ich sage sie Ihnen, da ich ganz genau weiß, ich werde Ihnen zum Schlusse doch nur eine angenehme Stimulation bereitet haben, und Sie werden, jeder in seiner Weise, als von etwas Merkwürdigem und Interessantem über meine Worte Bekannten und Unbekannten gegenüber sprechen, meist sehr willkürlich und ohne jeglichen Zusammenhang mit Ihren wahren Empfindungen, weil Sie sich das ja bereits zur chikanösen Manier herangebildet haben. Kurz, ich halte diese meine Aperçus für durchaus ungefährlich, hier in einem Kreise von unverbesserlichen Bücherlesern, deren keiner aus innerer Unfähigkeit heraus das wahre Wesen meiner Anschauungen auch nur zu ahnen, geschweige zu erfassen selbständig genug ist.“ —

Hier entstand ein Gemurmel die Tafel entlang. Man war verlegen, im Grunde sogar ein wenig ungehalten, hinwiederum aber doch des Eindrucks dieser eigenartigen Worte nicht sicher und befand, es wäre jedenfalls geschmackvoller, sich solcher malitiösen Witze zu freuen, als sich darüber zu ärgern.

Andreas von Balthesser wechselte gelassen[S. 10] die Stellung seiner Beine, strich sich mit der Linken leise, leicht, fast zärtlich über das sorgfältig geglättete dunkle Haar seines Hinterhauptes, bat plötzlich mit einem höflichen Lächeln, wobei er ihn kaum anblickte, den Vorsitzenden, Herrn Dr. Schaffer, um die Erlaubnis, sich eine Zigarette anzünden zu dürfen, erhielt diese Erlaubnis, kam ihr nach, wobei aller Blicke auf die schmale fein gerippte silberne Zigarettenbüchse mit dem aufgesetzten gräflichen Doppelwappen gerichtet waren, und fuhr, sich zurücklehnend und nur von Zeit zu Zeit der über den langgeschlitzten beweglichen Flügeln leicht gebogenen Nase duftige Rauchschleier entlassend, die Augen wieder an die Gasflamme gehängt, in seinen halblauten, an Worten kaum verweilenden Erörterungen also fort:

„Wenn ein schlanker Mensch mit stahlharten elastischen Sehnen, bekleidet mit einem roten Frack aus weichem Tuch und schneeweißen Bridges, die vom Knie abwärts keine einzige Falte werfen, die Arme eng und doch leicht an den Leib gehalten, in den Bügeln eines galoppierenden Jagdpferds steht, oder wenn[S. 11] eine junge Dame sich während eines unbefangenen Gespräches — Sie, meine Herrn, wissen freilich nicht, was ein unbefangenes Gespräch ist, und wenn ich Sie jetzt darum fragte, würden Sie mir irgend einen dänischen Autor nennen, bei dem Sie eines gefunden zu haben meinten, — wenn eine solche junge Dame von großer Familie (denn nur die haben die natürliche Begabung zu den Ihnen gänzlich versagten unbefangenen Gesprächen); sie ist ohne Apprehension gekleidet (die jungen Damen, die Sie kennen, sind erstens keine Damen, zweitens sind sie nicht gekleidet, sondern mehr oder weniger geschmacklos kostümiert) — wenn eine junge Dame“ (er schloß das linke Auge, das Monokel stand starr und leuchtete) „sich während eines unbefangenen Gespräches erhebt, ihrem Gegenüber Tee einzuschenken, den der lautlos eingetretene schwarz livrierte Bediente, in weißem Porzellan auf silberner Platte angerichtet, mit behutsam auseinanderlegenden Handgriffen vor sie niedergesetzt hat, — sehen Sie, das zum Beispiel sind Dinge, die mir Kultur bedeuten. Solche Dinge zu zeigen, mit[S. 12] notwendigerweise aufdringlichen Worten, sie Menschen zu zeigen, denen sie nichts Verwandtes anregen, ist — Unkultur.

Und, sehen Sie, wenn einer sich an seinen Schreibtisch setzt oder sich im Bette neben einer zuckenden Kerzenflamme aufrichtet, um mit einer Stahlfeder oder mit einem Taschencrayon auf ein Stück Papier, auf einen Briefumschlag ein Gedicht zu schreiben, sei es nun eine tastende Mitteilung oder eine absichtliche Verschleierung seiner Gefühle oder gerade gegenwärtigen Gedanken, das ist — Unkultur. Und Menschen, die derlei oft und mit Beifall zuwege gebracht haben, gewöhnen sich daran, hierin eine außerordentlich merkwürdige Sache zu sehen, und das ist Unkultur in Permanenz.

Was aber die Leute betrifft, die in mit um einiger Gedichte willen etwas wie einen Gleichgesinnten voraussetzen zu dürfen glauben: ich versichere Ihnen, unter tätowierten Insulanern ist mir wohler... Ich bekomme täglich Briefe von allerlei Skribenten des In- und Auslandes, die mich auf verschiedentliche, mit ihren Meinungen[S. 13] angefüllte Revuen und Bücher aufmerksam machen. Ich aber lese beileibe nicht diese Bücher und Revuen, sondern z. B. die Bekenntnisse des heiligen Augustinus oder in einer vergleichenden Grammatik der romanischen Sprachen, und dann gehe ich in einen Klub von angenehmen Sportsleuten, die bei Wagneraufführungen ihre Logen leer stehen lassen, oder ich reite stundenlang in den Praterauen. Daß mir dabei vielleicht Alexander der Große einfällt, wie er im Bade liegt oder wie ihn ein Feldherr reizt mit Einwürfen oder wie er sich von zwei Mädchen die Künste der Liebe mit anmutigen Bewegungen aller Gliedmaßen vorführen läßt, dafür kann ich nichts. Es ist so, als ob ich, der ich einen Reiz der Nasenschleimhaut verspürte, zu meinem Taschentuche griffe, wie jetzt“, (er tat es) „und mich schneuzte“ (er tat es). „Und eigentlich sollte man, wenn man gut und lange geschlafen und sich darauf, nach einem lauwarmen Bad in einer glänzend weißen Wanne, mit der liebenswürdigen Sorgfalt angekleidet hat, die eines der zehn Gebote der Selbstachtung ausmacht, wohlgepflegten Kindern zusehen,[S. 14] die Reifen schlagen, oder im Garten die Bäume bewundern, die Blüten treiben, oder am gleitenden Wasser liegen auf einer weichen englischen Decke und sein Spiegelbild in den Wellen haschen wie weiland Adonis. Aber man muß jedenfalls tadellos rasiert sein.“

Hier ließ Herr von Balthesser eine Pause eintreten, die sich so sehr in die Länge zog, daß einige der Versammelten in aller Bescheidenheit und mit möglichster Vermeidung von Geräuschen etwas Weniges von den längst erkalteten Fleischspeisen zu verzehren unternahmen, die man schon vor geraumer Frist vor sie hingestellt hatte.

[S. 15]

SELBSTBIOGRAPHIE HERRN VON BALTHESSERS

[S. 17]

H

Herr von Balthesser, der Dichter der „Androgyne“, von einer großen polyglotten Revue aufgefordert, sein Leben in einer Skizze niederzuschreiben, lieferte auf drei mit dem kleinen aufgesetzten weißen Wappen geschmückten zartlila Briefbogen in enger steiler Schrift nachstehende Mitteilungen:

„Ich bin in Rom geboren, als mein verstorbener Vater dort bei der Botschaft war. Man sagt mir, daß ich einen mit dünnem blondem Haar bedeckten spitz auslaufenden Schädel besessen und, ohne zu schreien, wie das bei den Kindern üblich ist, mich in die Welt gefunden hätte. Ich habe mich von den landläufigen Gymnasialstudien nicht abhalten lassen, die Dichter und Philosophen der vorzüglich in Betracht kommenden Sprachen, die Kirchenväter und die großen Historiker zu lesen. Mit 15 Jahren schrieb ich eine kleine Studie über den Neuplatonismus, die von der schwedischen Akademie preisgekrönt wurde. Mein um ein Jahr älterer Bruder war damals mit der so amü[S. 18]santen Lektüre des Cooperschen Lederstrumpf beschäftigt, die ihm in einer Ausgabe für die reifere Jugend von unsrer guten Mama zu Weihnachten war geschenkt worden.

Sonst wüßte ich nichts aus meinem Leben zu berichten, das für Leser Ihres Journals von Interesse sein könnte. Denn daß ich einige größere Reisen unternommen, bei einem Dragonerregiment gedient habe, im auswärtigen Amte mich auf die diplomatische Carrière vorbereite und im Winter fast täglich außer Haus speise, dürfte Ihnen nicht von Belang scheinen, was ich vollkommen billige.“

[S. 19]

ANDREAS VON BALTHESSER ÜBER DEN „DANDY“ UND SYNONIMA

[S. 21]

M

Man nennt mich einen Dandy. Die Bezeichnung will ich gelten lassen. Aber die Meinung ist falsch. Ich bin ein Dandy. (Freilich noch einiges mehr; aber das Äußerlichste an mir, die für die Menschen sichtbare ‚Zwiebelschale‘ meiner Persönlichkeit ist das Dandytum.) Die Leute fassen jedoch den Begriff ganz oberflächlich auf; dies ist wörtlich zu nehmen: sie begreifen nur seine Oberfläche. Man verwechselt den Dandy mit dem Gecken, dem fat. Wenn Kurzsichtige in mir einen Gecken zu erblicken meinen und ihre primitive Erfahrung in dem Begriffe Dandy endgültig festzulegen, also zu begraben unternehmen, — denn Begriffe begraben das Leben der Erscheinung, während sie anderseits den Gedanken gleichsam erstarren machen, und man braucht solche Krystalle zu Zwecken des vereinfachten Verkehrs — dann sehen die Menschen an mir nichts als etwa den tadellos geschnittenen Rock, den niemals gesprungenen Lack meiner Schuhe, den täglich frisch gebügelten Zylinder und der[S. 22]gleichen Zeichen, die ihren vom empörten Gefühl des Unvermögens getrübten Augen als die Merkmale eines Gecken gelten müssen, weil sie selbst nicht imstande sind, sich auch nur menschlich zu kleiden, geschweige denn die Nüancen der guten Toilette zu begreifen. Daß sorgfältige Kleidung ihren Träger keineswegs zum Gecken stempelt, wird man Menschen von so dürftiger Anschauung niemals klar zu machen vermögend sein. Der Mann, der etwas auf sich hält, im Geistigen wie im Physischen, wird ebenso seinen Intellekt wie seine Nägel pflegen, seine Wäsche ebensowenig wie seine Gedanken vernachlässigen, aber bei all seiner Korrektheit — denn dies ist das gültige Wort — niemals das Impromptu mißachten. Es ließe sich natürlich, pathetisch ausgedrückt, ein Eid darauf schwören, daß die Leute, die den Korrekten mit dem Elegant zu verwechseln blöde genug sind, keine Ahnung davon haben, was es heißt, das Impromptu nicht außer acht zu lassen, und hierin gerade liegt das Wesen des Dandisme. In diesem Sinne sage ich, daß man, wenn man mich einen Dandy nennt, etwas Richtiges aus[S. 23]spreche und doch etwas Falsches darunter verstehe. Ich bin ein Dandy, nicht weil ich korrekt bin, sondern weil ich bei aller Korrektheit niemals das Impromptu außer acht lasse. Der Korrekte, der es außer acht läßt, ist der Gentleman.

Der Dandy ist sich seiner Korrektheit bewußt. Auch der Gentleman ist nicht naiv. Aber der Dandy ironisiert sein Bewußtsein. Der Gentleman ironisiert weder sein Bewußtsein noch irgend etwas auf der Welt. Der Gentleman ist so korrekt, daß er der Ironie einfach unfähig ist, wie einer, der zum Beispiel — nicht schwimmen kann. Der Gentleman „kann nicht schwimmen“: er würde entweder untergehen — höchst korrekt untergehen — oder auf dem Wasser obenauf bleiben, wenn er sehr substanziös ist. Der Dandy ist jederzeit bereit zu schwimmen. Aber er trifft niemals Anstalten dazu. ‚Anstaltentreffen‘ heißt: der Beobachtung zugängliche Anstalten treffen, und der Dandy ist überhaupt nicht zugänglich, am allerwenigsten der Beobachtung.

Es ist selbstverständlich, daß der Dandy sein Bewußtsein über alles stellt. Man wird[S. 24] einen Dandy niemals berauscht sehen, was dem korrektesten Gentleman, wenn das Getränk für ihn zu stark ist, passieren kann. Der Dandy vermeidet zu starke Getränke, womit nicht gesagt sein soll, daß er starke Getränke, sogar die stärksten, ausschlüge, — wenn er sie verträgt, was er weiß. Der Dandy weiß immer, was er verträgt. Der Dandy weiß auch immer, was der andre verträgt. Aber das hält ihn nicht ab, dem andern Dinge zuzufügen, die dieser nicht verträgt, was der Gentleman unfehlbar vermeidet.

Der Dandy ist kein Poseur. Dieser Ausdruck stammt von der Bühne, ist also etwas Grelles, Lautes, Minderwertiges. Er ist dann in die Literatur gekommen und hat dort nicht an Erziehung gewonnen, wie denn überhaupt durch die Literatur die besterzogenen Begriffe verdorben werden. Mit dem Worte Poseur bezeichnet eine ‚höhere‘ Art von brutalen Beobachtern jene Seite des Dandytums, die ich Bewußtsein nenne. Eine Pose aber ist etwas Starres, etwas, das gewissermaßen nur von einer Seite gilt: auf der andern ist die Pose schon „Rückseite“, Soffittenquerholz,[S. 25] Futter. Der Dandy ist von allen Seiten gleich unverdächtig. Verdächtig ist er nur im Innern, — dem nämlich, der selbst die Seele eines Dandy hat. Den andern, Gentlemen und Nichtgentlemen, ist er nicht verdächtig, sondern entweder unangenehm oder angenehm. Das ist, wie alle Geschmacksachen, etwas ganz Persönliches.

Was dem brutalen Beobachter am Dandy unangenehm auffällt, ist seine Vielfältigkeit, die Rundheit, die ihn reizt, weil er eben einseitig, einfältig, eckig ist. Der Dandy ist geschliffen. Er kann alle seine Facetten, indem er sich langsam dreht, erglänzen lassen. Er kann sie funkeln machen und — auslöschen. Aber sie bleiben immer geschliffen.

Der Ungeschliffene haßt instinktiv den Dandy. Der Joviale möchte ihn hänseln, gutmütig ‚aufziehen‘. Von dem Dandy gleitet alles ab. Er ist glatt und immer höflich. Höflichkeit ist glatter als polierter Stahl. Gegen Höflichkeit kann selbst Freundlichkeit nicht ankämpfen. Freundlichkeit haucht die Facetten des Dandy an. Sie werden trüb. Aber nur für einen Moment.

[S. 26]

Der Dandy ist vor allem gegen sich selbst höflich. Er weiß, daß nur, wer sich selbst artig behandelt, zu leben versteht. Man darf nicht gegen sich selbst unartig sein, ist ein Prinzip des Dandy, — soweit ein Dandy etwas so Eckiges wie Prinzipien überhaupt an sich duldet.

Der Dandy ist als Dandy nicht „auffallend“. Der Gentleman und der Dandy können auffallen. Auffälligkeit ist etwas Relatives. Wenn ein weißer Bäckerbursch unter Rauchfangkehrern erscheint, fällt er auf. Ein Reiter, der sich aus der Nobelallee in den Wurstelprater verirrt, fällt auf. Es ist sogar möglich, daß man ihn steinigt.

Selbstverständlich spreche ich nicht nur von der Kleidung. Es ist überhaupt nicht oft genug zu betonen, daß die Kleidung — in einem höhern Sinn freilich, als die meinen, die davon nichts verstehen, — wenig in diesen Unterscheidungen besagt. Die meisten Leute, die sich über den Gecken entrüsten, der zu unpassender Gelegenheit z. B. einen grauen Zylinder und weiße Handschuhe trägt, ahnen nicht, daß der unscheinbare Herr daneben ein Dandy ist und mit ihnen[S. 27] den Gecken verachtet, sie selbst aber noch viel mehr, weil sie auch ihn als einen Gecken ansprechen würden, wenn er zufällig — in Renntoilette unter sie geriete.

Wer einem jungen Mädchen die Hand küßt, darf als ein Mensch von schlechten Manieren gelten. Aber nicht jeder, der das unterläßt, ist ein Mensch von guten Manieren. Der Dandy hat die besten Manieren. Der Gentleman muß nicht unbedingt gute Manieren haben. Der Grandseigneur — ein Begriff der alten Zeit, der heute noch sehr gut anwendbar bleibt, leider aber nur noch selten würdige Repräsentanten findet — hat immer gute Manieren, und zwar einigermaßen pompöse. Der Grandseigneur kühlt die Luft ab. Es ist nur an ihm gelegen, sie wieder zu erwärmen. Und dies vermag der Grandseigneur wie kein andrer. Der Grandseigneur muß kein Gentleman, er mag ein Dandy sein, nie wird er ein Geck sein können.

Der Dandy läßt niemals das Impromptu außer acht. Das Impromptu ist das Flüchtigste, Feinste, gewissermaßen der Hauch einer Äußerung. Unter „Äußerung“ will ich[S. 28] nicht notwendigerweise eine Äußerung durch Worte verstanden wissen. Man kann sich durch Blicke und Handlungen, durch Unterlassungen „äußern“. Das Impromptu hat Ehrfurcht vor dem Moment. Es weiß ihm so zu begegnen, daß er liebenswürdig sich fügt. Ein Tausendstel einer Sekunde später — und der Moment hätte sich bereits zurückhalten lassen müssen, was unbedingt respektlos und sehr unliebenswürdig ist, wenn es auch sehr „herzlich“ sein mag. Der Dandy verfehlt nie den richtigen Moment. Er betont ihn nie, betont überhaupt nichts (am allerwenigsten seine Gegenwart), er läßt den Moment sogar verschleiert vorbeigehen, aber er verkennt ihn nie.

Der Enthusiast verkennt häufig den Moment. Stößt er auf ihn, dann ist er unbedingt Sieger. Daß der Besiegte knirscht, ist dem Enthusiasten gleichgültig. Der Dandy ist niemals Enthusiast. Und seine Siege demütigen den Besiegten nie. Freilich sehen sie auch niemals nach einer — Niederlage aus, was dem Enthusiasten manchmal passieren kann. Denn der Enthusiast[S. 29] ist zumeist „gleich darauf“ niedergeschlagen. Diesen jähen Szenen- und Mienenwechsel kennt der Dandy nicht, das heißt an sich nicht. An den andern kennt er alles und richtet sich darnach ein.

Wenn er keine andern Beziehungen hat, unterhält der Dandy um so freundlichere zu seinem Kammerdiener.

„Dandy“ ist ein Begriff der ästhetischen, „Gentleman“ einer der ethischen Wertung.

[S. 31]

ANDREAS VON BALTHESSER AN DIE GRÄFIN F.

[S. 33]

Gnädigste Gräfin!

S

Sie verlangen in Ihrer beneidenswerten ländlichen Einsamkeit von mir einen Bericht über Abenteuer. Hier ist einer, und zwar von der mir sympathischesten, der ironischen Sorte.

Gestern abend — ich hatte um vier Uhr bei Trautensteins diniert, um sechs meinen Tee getrunken und wollte mich eben zum Besuch der Oper umkleiden — trat mein Bedienter ein, und da ich mich unwillig (ich liebe keine Überraschungen, und Benedikt respektiert meinen strengen Befehl, mich ungerufen so selten als möglich mit seiner Anwesenheit zu belästigen) ihm entgegen wendete, meldete er in der steifen Haltung, die ich ihm mit einem unsäglichen Aufwande von Geduld beigebracht habe, Herr von Haller wünsche mich sogleich zu sprechen. Nun wußte ich zunächst, ich würde eine unbequeme, weil beobachtete Toilette machen, die notwendigerweise in meinem Sinn unvollkommen geraten müßte,[S. 34] des weitern mindestens die Ouvertüre zu Carmen versäumen und bei bereits verdunkeltem Hause, was ich um der Orientierung in der Umgebung willen durchaus verabscheue, in meine Loge treten, endlich, Ernst Haller, der überlaute, in seinen Mitteilungen auf eine peinliche Art unbeholfene Mensch, werde mich beunruhigen, vielleicht um die ganze, mühsam aus einem nicht allzu bequemen Tage gerettete Stimmung bringen. Ich war äußerst ungehalten und herrschte den geradezu delikat rasierten und mich dadurch nur um so unerwünschter an mein gestörtes Vorhaben gemahnenden Bedienten, indem ich die Hand von der Klinke des Ankleidezimmers sinken ließ, in einem mir selbst widerwärtigen überhasteten Tonfall an: „Und du hast gesagt, ich wäre zu Hause?“

„Euer Gnaden haben mir nicht befohlen, Euer Gnaden zu verleugnen!“

„Esel, immer sollst Du mich verleugnen!“

Sofort auch ärgerte ich mich schon dieser nicht überlegten, nur durch den tyrannischen Widerspruchsgeist des Befehlenden hervorgereizten, kommenden Tages mit aller mir zu Gebote stehenden Macht niederdrü[S. 35]ckender Überzeugungssicherheit füglich zu widerrufenden Worte.

Aber Ernst von Haller stand bereits in der Tür. (Er hat eine Art, Türen aufzureißen, die nach der Reitpeitsche verlangt.) Ich sammelte mich mühsam. „Guten Abend,“ sagte ich und wandte mich voll ihm zu. Mir fiel die Unordnung in seinem Anzug auf. Er, der sicherlich zu den an den Fingern einer Hand geläufig herzuzählenden Menschen gehört, die sich hier zu kleiden wissen, erschien da mit einer an Künstler und Examinanden gemahnenden zerrütteten Haartracht, geöffnetem Wintermantel, geöffnetem Gehrock; der Zylinder war — ich sah es an den Spiegellichtern seiner Flächen — aufgerauht. Benedikt verharrte, sichtlich erbleicht, da Haller ohne Aufforderung eingetreten war, in abwartender Stellung. Ich wollte ihn nicht allsogleich sich entfernen lassen, um wenigstens die Einleitung der mir unliebsam zu gewärtigenden Unterredung — denn eine Unterredung (wie ich das Wort hasse!) sollte da natürlich sich abspinnen — von ihrer jedenfalls überwältigenden Maßlosigkeit auf das Niveau gesellschaftlichen Nebenbei-Tones herabzustim[S. 36]men. Doch Ernst Haller ließ mich dieses Mittel gar nicht erst in Betracht ziehen. Er begann unvermittelt und mit einem fast theatralischen Heranschreiten: „Ich bitte dich in einer dringenden Angelegenheit....“

„Du kannst gehen“, hatte ich noch Zeit, meinem Diener winkend zuzurufen, sonst hätte der Kerl aus dem Repertoir von Tagesblättern und Lieferungsromanen eine willkommene Gratisgabe erhalten.

Als er sich rasch und lautlos — er darf nie frisch besohlte Schuhe tragen (wie er das anstellt, ist seine Sache) — hinwegbegeben hatte, nötigte ich Haller, dem ich meine für den Abend noch nicht behandelte Hand reichte (wenn ich einmal meine Finger kultiviert habe, lasse ich sie nur in Handschuhen anrühren), auf den einen der beiden mächtigen Lederlehnstühle zu Seiten des mit einem schmiedeeisernen Gitter diskret geschmückten Kamins. Er warf sich zwar so, daß die Federn stöhnten, auf die breite Sitzfläche zwischen den hohen Armstützen, sprang aber auch sofort, als ob es ihn nicht litte, wie ein Gaukler auf und mir fast ins Gesicht. Ich bot ihm — er sprudelte schon eine Menge vager[S. 37] Worte — Zigaretten an. Es wies sie ab.

Kurz, — ich hatte es ja längst geahnt — er hat mich, brüsk und vor mir aufgepflanzt wie bei einer Fechtakademie, nach meinen Beziehungen zu seiner Schwester gefragt. „Ich weiß alles!“ schrie er. (Das ist die dümmste Art, mir beikommen zu wollen.) Und dann ergab sich wie ein gelöst rollender Knäuel Bindfaden die ganze umständliche Geschichte. Es ist zwar bekannt, daß er seine Schwester seit je beargwöhnt hatte. Ich habe auch immer die, wie ich nunmehr sah, gegründete Überzeugung gehegt, daß er uns mindestens beobachten ließe. Aber mich verdroß die, wie gesagt, theatralische Manier, mit der er dieses höchst zwecklose Gespräch in Szene setzte.

Die Baronin Alice Sigmar-Bouvelle ist eine jener Damen, die — wie soll ich mich ausdrücken? — einfach nicht anders können. Sie ist sehr schön, groß, gut gebaut und von dieser unersättlichen blonden Rasse, die so reizend hinter einem müden — darf ich sagen: „Sehnen“? — eine stete, sehr amüsante Glut zu verbergen weiß. Sie ist mir im Grunde so gleichgültig wie meine Uhrkette. Aber[S. 38] die Grazie, mit der sie eine glimmende Zigarette, den Arm leicht über ein Polster gelegt, mit fast geschlossenen Augenlidern betrachtet oder wie sie mit einem federnden Schwung sich von der Handfläche, die man ihrem kleinen Fuß unterschiebt, in den Sattel hebt und niedergleiten läßt, gefällt mir über alle Maßen. Und einmal hatte ich, als sie mir die Hand bot, diese Hand von unten nach oben gedreht und über dem etwas gepreßten Ballen durch den kleinen Ausschnitt im Handschuh geküßt. Dann hat sich alles sehr einfach arrangiert. Es war keine besonders mühsame Geschichte. Und bald langweilte mich die Sache, so leid es mir tat, die bequeme Situation zu verlassen. Kam mir da der Bruder mit dem unangemessenen Aufwande!

Ich zündete mir — es war vorauszusehen, daß ich ja nun doch zu spät ins Theater kommen würde, und die Zähne hatte ich mir nach all dem Gerede, das folgen sollte, gründlichst von neuem zu putzen — ich zündete mir gelassen (wenn ich auch allmählich von der Brust aufwärts gegen den Hals hin leise zu zittern begann) eine Zi[S. 39]garette an und sagte — ich weiß genau die langsamen Worte —, sagte nichts als: „Willst du dich mit mir schlagen?“ Das wirkt immer famos. Er hielt in seiner unablässigen Wanderung zwischen dem Kamin und meinem Schreibtisch, Gott sei Dank, für einen Augenblick inne und sah mich an (ich bemerkte, daß sein Schnurrbart heute nicht gestutzt worden war).

„Ich will Gewißheit,“ sagte er sehr laut. Wieder so ein Wort der Theaterstückeschreiber! „Was für eine ‚Gewißheit‘?“ fragte ich, mich zurücklehnend und den dünnen blaugrauen Rauch in kurzen Stößen aus der Nase entlassend. „Daß du mit meiner Schwester...“ Es kam ihm nicht von der Zunge. Ich begreife das. Mir wäre das auch höchst fatal. „Lieber Freund,“ sagte ich und richtete mich etwas auf (ich hatte den Nacken zu fest an den Hemdkragen gedrückt), „sei nicht böse, aber du bist — entschuldige schon — komisch.“

„Reize mich nicht noch mehr!“ polterte der alberne Mensch wieder.

Ich mußte unwillkürlich lächeln. Er, diese knarrende Windfahne, sprach von „reizen“![S. 40] „Übrigens hast du gesagt, du wüßtest alles.“ Er beging nun (natürlich!) die große Unvorsichtigkeit, zu entgegnen: „Also doch!“

Da stand ich auf. Ich steckte beide Hände in die Taschen meiner Beinkleider und erhob ein wenig die Stimme: „Lieber Alter, verzeih, wenn ich jetzt etwas sehr Unanständiges mir zu — flüstern erlaube: Ich wollte fast — du wüßtest ‚alles‘; dann — wüßte ich es auch...“ Er war augenscheinlich überrascht. Ich aber, jetzt gut eingefahren, setzte hinzu: „Und die Baronin hat doch einen Mann.“ Er schwieg. Ich bot ihm eine Zigarette an. Er nahm sie geistesabwesend.

„Schau, Ernst, (ich riskierte jetzt den Vornamen, gleichzeitig überlegte ich, ob ich Benedikt rufen sollte, daß er Kognak hereinbrächte), schau Ernst, du bist — du verzeihst schon —, du bist ein Narr. Blamier’ dich nicht! Der Fredi (Alfred Baron Sigmar-Bouvelle ist der glückliche Besitzer meiner ‚Passion‘), der Fredi würde ‚sich kugeln‘“, (ich wählte diese ‚gemütliche‘ Ausdrucksweise, da ich nun die Gewißheit hatte, noch einen Teil der Ouverture von Carmen zu retten, die ich so gerne höre), „wenn wir ihm diesen Besuch erzählten.[S. 41]“ Ernst Haller setzte sich. Ich ließ Kognak bringen. Wir rauchten schweigend.

Endlich bat er mich um Verzeihung. Ich verzieh ihm großartig. Dann begleitete er mich in das Ankleidezimmer. Ich mußte schon ein übriges tun und gnädig sein. Und da ich ihn einlud, mit mir die Oper zu besuchen, verlangte er Kamm und Bürsten und richtete sich etwas menschlicher her...

Ist das nicht ein Abenteuer? Ich gestehe, daß ich es gegen keinen der berühmten Postwagenüberfälle in den noch immer so beliebten, weil im Aussterben begriffenen romantischen Gegenden auszutauschen Lust hätte. Sie werden sich wundern, daß ich die vollen Namen der agierenden Persönlichkeiten genannt habe; noch mehr jedoch, daß Sie diese Namen heute zum ersten Male vernehmen, da Sie, Gräfin, was die hiesige Gesellschaft betrifft, immerhin einige Personen- und Sachkenntnis zu besitzen meinen. Nun denn, verzeihen Sie mir, daß ich Sie — nicht entrüste: sie sind erfunden.

Stets in Verehrung der Ihre
Andreas Balthesser.

[S. 43]

ANDREAS VON BALTHESSER SPRICHT MIT EINEM LITERATEN ÜBER DIE GESELLSCHAFT, DIE KÜNSTLER UND IHR GEHABEN UND DAS SELBSTVERSTÄNDLICHE

[S. 45]

A

ANDREAS VON BALTHESSER: Der Hauptgrund der nicht wohl abzuleugnenden Verwirrung, in der sich bei den Deutschen heute die Literatur befindet — ich meine das Gemenge von Echtem und Falschem, vor allem aber die beängstigende Übermacht des verrucht täuschenden Falschen, dichterisch Unerlebten — der Hauptgrund dieser bösen Unkultur unsres Schrifttums scheint mir die einigermaßen fragwürdige soziale Stellung des Schriftstellers gerade bei uns und gerade heute. (Anderseits freilich dürfte wiederum die Masse, wie überhaupt im sozialen Leben, den Stand drücken.) Erst wenn ein Autor sehr großen Ruhm und natürlich auch sehr viel Geld erworben hat, duldet ihn die Gesellschaft, und auch dann nur mit jener unverschämten Neugierde, wie man sie sogenannten farbigen Rassen entgegenbringt. Als voll nimmt sie ihn ja doch nicht. Deshalb darf der Schriftsteller, der etwas auf sich hält, während man von ihm noch nicht entsprechend viel hält, das Schreiben gewissermaßen nur incognito ausüben, geschehe[S. 46] dies auch noch so — öffentlich. Er muß etwas „daneben“ sein, mindestens ein Herr X, Sohn des Herrn Y. Ein Mensch, der „nur“ Schriftsteller ist und noch nicht den großen Ruhm und sehr viel Geld erworben hat, trachtet, sich für seine Stellung außerhalb der Gesellschaft durch allerlei Mittelchen auf seine Weise zu entschädigen. Er macht aus der Not die bekannte Tugend. Er sucht aufzufallen. Er setzt sich in Szene. Wenn er schon nicht mit den Menschen leben kann als einer ihresgleichen (und es ist sein heimlicher Neid), so sollen wenigstens möglichst viele um ihn herum stehen und ihm verwundert zusehen.

DER LITERAT: Was Sie da von dem Schriftsteller sagen, ist eine grausame Wahrheit, die die wenigsten von uns einsehen mögen, wie man eben immer gerade das nicht „einsehen“ will, was man am besten weiß. Sie haben aber bei Ihrer „Soziologie“ vergessen oder übersehen, daß das „Soziale“ ein dehnbarer Begriff ist, zumindest wie alle Begriffe relativ.

ANDREAS VON BALTHESSER: Ich finde nicht, daß Begriffe dehnbar seien. Dehn[S. 47]bar, das heißt doch wohl elastisch, sind die von den Begriffen zugedeckten Dinge. Der Begriff aber ist immer sehr hart, sehr hölzern, sehr „Deckel“. Doch dies nebenbei. Sie meinen, ich hätte übersehen, daß der Schriftsteller soziale Beziehungen hat und pflegt. Ja, gewiß, zu andern Farbigen: Schauspielern, Virtuosen, Malern...

DER LITERAT: Nicht der schlechteste Umgang.

ANDREAS VON BALTHESSER: Warum die Betonung? Gewiß nicht, aber „an sich“ kein Umgang im „sozialen“ Sinn.

Sprechen wir darüber ohne Gereiztheit. Es ist doch selbstverständlich, daß ein kluger Schauspieler, ein geistreicher und begabter Maler, ein erfahrener und lebendiger Schriftsteller ein besserer „Verkehr“ sind als etwa ein dummer, oder wie die Demokraten unentwegt zu sagen pflegen, ein vertrottelter Sportsmann. Aber — wir streiten ja auch nicht darüber, ob es angenehmer sei, mit hübschen und zugänglichen Balletteusen zu soupieren als mit steifen alten Herzoginnen, sondern, nicht wahr, wir sprechen von der „sozialen Stellung[S. 48]“ und den Gesetzen der „Gesellschaft“. Und in der „Gesellschaft“, darüber sind wir uns doch ganz klar, zählt weder der Klaviervirtuose noch „der Schriftsteller“ noch „der Maler“. Er „zählt“ wohl, aber ich möchte nicht gern so „zählen“, das gestehe ich unumwunden: er zählt als Bestandteil der „Bühne“.

In der Gesellschaft — Sie denken dabei hoffentlich nicht an einen „Jour“? — gibt es immer eine Bühne und — das lächelnd zurückgelehnte Parkett. Ob auf der „Bühne“ einer im Schweiße seines Angesichts Klavier spielt oder — ohne Schweiß — seinen mehr oder weniger berühmten Namen als Schriftsteller oder Maler vorzeigt oder vorzeigen läßt von einem Impresario, der sich meinetwegen im Parkett erhebt, das ist im Grunde dasselbe. „Soziale Stellung“ im Sinne der „Gesellschaft“ hat der Schriftsteller „als solcher“ nicht. Und ebensowenig der Schauspieler. Daran werden alle Tiraden über „Demokratisierung der Gesellschaft“ nichts ändern. Sie verstehen: Ich spreche vom Titel, vom Anspruch, nicht von einzelnen Tatsachen, die sich scheinbar gegen das „Prinzip“ aufleh[S. 49]nen. Es gibt ja anderseits auch Gräfinnen, die ganz und gar nicht zur „Gesellschaft“ zählen. Es gibt nur eine Gesellschaft. Auch dies ist ein Axiom, das die nicht anerkennen wollen, die nicht dazu gehören. Man „gehört“ zur Gesellschaft oder — nicht. An der Zugehörigkeit zur Gesellschaft kann einem der Verkehr mit Schriftstellern nichts rauben — ebensowenig wie der Verkehr mit Balletteusen. Wer aber mit Balletteusen — verwandt ist, der gehört nicht zur Gesellschaft, und ein veritabler Schriftsteller in der Familie ist auch keine Annehmlichkeit, verstehen Sie mich? Wenn der Schriftsteller sehr berühmt und sehr reich ist, so schadet er einem nichts, hören Sie, im besten Fall schadet er nicht. Auch ein Strumpfwirker in der Familie schadet nicht, wenn er — Millionär ist. Und das hat Sinn. Ja, dieser Unsinn, wie die Leitartikler sagen, hat Sinn. Denn es ist klar, daß der Strumpfwirker, der Millionär ist, sich in irgend etwas von dem Strumpfwirker, der sich 2000 Gulden im Jahr verdient oder noch weniger, unterscheiden wird, und zwar durch Lebensgewohnheiten. Sehen Sie, darauf kommt[S. 50] es an. Dem Strumpfwirker-Millionär erlaubt man sogar, sich seine „Gewohnheiten“ erst anzugewöhnen. Man drückt ein Auge zu und blinzelt verliebt zur Million hinüber. Das mag kleinlich sein, aber es ist sehr natürlich und wie alles Natürliche „echt“. (Nicht alles „Echte“ anderseits ist — natürlich.)

Also noch einmal, es gibt nur eine Gesellschaft. Das ist eine Tatsache, die man angreifen oder beklagen kann, aber nicht hinwegdekretieren. Freilich machen die Gesellschaft nicht die aus, die sich unbefugt selbst dazu zählen, auch nicht die, die von beflissenen oder — verwandten Reportern auf dem geduldigen Papier dazu gezählt werden. Nicht die Leute etwa, die ein Wohltätigkeitsfest gelegentlich in Verkaufsbuden vereint, gehören zur Gesellschaft. Sie sind arme Teufel, wenn sie sich’s darum einbilden... Ich bin neulich auf der Straße einem mir nach Abbildungen in illustrierten Zeitschriften bekannten Komponisten begegnet. Er ging mit seiner Frau. Sie trug natürlich die entsetzliche Reformtracht. (Haben Sie schon jemals eine „Dame“ auf der Straße in Reformtracht gesehen? Ich nicht; und das[S. 51] hat wiederum Sinn und ist sehr begründet.) Er den Künstlerhut und die liebliche Mähne aller Komponisten. Ich möchte wissen, weshalb Komponisten immer Mähnen haben? Warum sie immer schlecht gekleidet sind, weiß ich sehr genau: weil sie sich über derlei Dinge erhaben fühlen, oder, wie ich es mir auszudrücken erlaube, davon keine Ahnung haben. Aber ich frage Sie, warum tragen Komponisten immer Mähnen? Es ist scheußlich, aber „künstlerisch“. Muß also nicht der „Künstler“ als öffentliche Erscheinung für den wohl erzogenen, den lautlosen Menschen ein Greuel sein. Wer sorgt dafür? Die Künstler mit ihren Sammetjacken und -baretten, mit ihrer Löwenmähne und den Reformkleidern ihrer Frauen. Und das sind die Menschen des „höhern Seins“, die Menschen der Kunst, der „Blüte der Kultur“.

Hat nicht der „gigerlhafte“ Aristokrat mit seinen engen Beinkleidern und dem fabelhaft gut gemachten Rock (nicht nur der Schneider macht gute Röcke, das ist ein Irrtum: der Träger macht den guten Rock oder — läßt ihn machen), hat er nicht mehr Kultur im Leibe?

[S. 52]

Also, um auf meinen Komponisten zu kommen: Er trug seine Löwenmähne — es war ein nicht eben sonderlich warmer Frühlingstag — ungekämmt zur Schau, nämlich den Hut in der Hand oder auf seinem Spazierstock, glaube ich, ja, ja, auf seinem Spazierstock. Ich frage: Tut so etwas ein andrer Mensch als ein „Künstler“? Sie werden mir da natürlich den göttlichen Übermut dieses ungebundenen Völkchens und die berühmte rote Weste Gautiers zitieren usw. Erstens aber ist damit gar nichts „bewiesen“, denn die rote Weste Gautiers, wenn sie auch vielleicht die Philister reizte — und eben darum eine arge Geschmacklosigkeit bedeutete: es ist geschmacklos, den Philister zu reizen —, war immerhin, da sie die Farbe betonte, im Gegensatze, sagen wir: zur Nüchternheit der Philisterumgebung, etwas Malerisches, ein (grobes) Symbol, aber was ist an der ungekämmten Mähne eines Komponisten malerisch? Und dann: die ganze Sache ist ja gemacht. Alles aber, was gemacht ist, ist geschmacklos. Der „gigerlhafte“ Aristokrat ist nicht „gemacht“. Es ist das eine Sache der angeerbten Un[S. 53]natur, vielmehr: der natürlichen Unnatur, also doch Natur, ein Cachet, das nicht aufgeklebt ist, sondern aus dieser seiner „unnatürlichen Natur“ fließt. Daß aber der Dirigent seinen Hut, seinen „Künstler-Schlapphut“, auf seinem Spazierstock vor sich her trägt, neben seiner Frau, die in Reformtracht, Lilien über der Sitzfläche, durch die Stadt zieht („zieht“ ist das Wort), ist Mache, riecht nach dem Theater, ist ekelhaft prononciert, im besten Fall unerträglich lächerlich. Darin, daß sich jemand „auffallend gut“ kleidet, kann ich nichts Lächerliches finden. Die bizarre Erscheinung dieser schlanken Arabeske nimmt sich, meine ich, sehr gut aus. Ich fühle Kultur, die Kultur der Gepflogenheit, in dieser Art, sich ein wenig auffällig zu kleiden. Selbstverständlich ist höchste Vornehmheit unauffällig. Aber ich wette um den Lockenkopf des liebenswürdigsten „Gesellschafts“-Zeilen-Plauderers, daß dieser Löwe der literarischen „Jours“ an ihr immer wieder vorbeisieht. Dieser naseweise Herr, der sich, literarisch bis in die abgebissenen Fingernägel, für Gautiers rote Weste begeistert und[S. 54] sich in einem frischgebügelten Waschleinenanzug für Oscar Wilde hält, ist bei all seiner Belesenheit oder — Angelesenheit ein Mensch, der, was den Geschmack betrifft, meist tief unter dem kleinsten Kavallerie-Kadetten aus gutem Hause steht, als welcher außer dem Wallenstein — in der Kadetten-Schule — von den Klassikern wenig erfahren hat und lieber das kleine Witzblatt liest und die Personalnachrichten des Salon- und Sportblatts als das „Textbuch“ zu „Tristan“. Jener fade Enträtsler der unter den Falten ihres Reformgewandes verborgenen Psyche des modernen Weibes hat keine Ahnung von der Kultur der Gepflogenheiten. Was er „Elegantes“ tut oder besser: „vollführt“, denn es ist falsches Pathos in seiner Beflissenheit, ist Surrogat. Aber weil er „unterm Strich“ den wehrlosen Barbey d’Aurevilly zitiert, dünkt sich der Federstilgewandte mehr als jener harmlose Kavalleriekadett aus guter Familie. Er ist rührend, dieser Trugschluß. Nein, er ist nicht rührend, denn er ist allzu unbescheiden. Die Vernunft, das Wissen, das Schreiben ist gar nichts. Das Selbstverständliche ist alles.

Ob einer „selbstverständlich“ malt wie Ve[S. 55]lasquez oder „selbstverständlich“ dichtet wie Shakespeare oder „selbstverständlich“ ein Pferd reitet, im Grunde sind das alles Äußerungen einer einzigen Kraft, der Natur. Wenn aber der „unterm Strich“ Vauvenargues — „man kennt die sublime These „„des““ Vauvenargues“ (natürlich hat er sie soeben erst in der gestern als Rezensionsexemplar ihm zugewiesenen Übersetzung gelesen) — zitiert und gewohnheitsmäßig zu diesem Behuf seine walzenrunden Manschetten auszieht und vor sich auf den Tisch stellt, so ist das ein Produkt der „Bildung“, ein Exkrement der Bildung sozusagen, eine häßliche und übelriechende Sache.

[S. 57]

ANDREAS VON BALTHESSER SPRICHT MIT EINEM ANDERN LITERATEN ÜBER DAS MONOKEL, ÜBER WITZE, LIEBENSWÜRDIGE SONNTAGSPLAUDERER UND DIE DEUTSCHE PROSA

[S. 59]

M

Manchmal fragt mich einer, warum ich ein Monokel trüge. Ich antworte mit der größten Offenheit, weil es mir gefiele. Das kann der andre nicht begreifen. Er lächelt mitleidig oder boshaft oder ungläubig, und endlich spielt er seinen höchsten Trumpf aus, wenn er nämlich sehr gut mit mir ist: es sei doch „eine ganz gewöhnliche Fexerei“.

Ich gebe ihm das natürlich zu. Nun ist er erstaunt. „Du siehst das also ein?“ „Natürlich. Einzusehen ist doch keine Kunst. Ich sehe ein und tue doch, was mir gefällt. Ich trage zum Beispiel ziemlich hohe Stöckel und sehr enge Beinkleider. Es gefällt mir. Vielleicht gefällt es mir morgen nicht mehr. Dann werde ich sie nicht mehr tragen.“

„Aber du machst dich lächerlich.“ „Wer macht sich nicht lächerlich? Der eine, indem er Gedichte schreibt, — vor einem Zuckerraffineur; der andre, indem er seinen ergrauenden Schnurrbart färbt, Töchterschülerinnen gegenüber. Sich lächerlich zu machen,[S. 60] ist unvermeidlich. Denn jedermann findet Kritiker. Jedermann. Und wer vor andern kritisiert, wird gern einen Witz anbringen. Man kann Witze machen über die Tatsache, daß Goethe die „Iphigenie“ geschrieben hat. Daran ist nichts zu verwundern. Ärgerlich und zwar für den, der sie anzuhören gezwungen ist, sind nur schlechte Witze. Gute Witze läßt man sich gelegentlich immer gefallen, — besonders wenn sie auf Abwesende gemünzt sind. Also wenn du einen guten Witz über mein Monokel machen willst, so mach’ ihn ungescheut. Aber nur einmal! Oder wenn du ihn unbedingt ein zweites und ein drittes Mal anbringen mußt — eine Geschmacklosigkeit, die ein Zeichen von Armut ist, da du mit dir selbst wucherst — dann mach’ ihn, bitte, das zweite und dritte Mal vor andern. Es wäre dir hoffentlich selbst unangenehm, wenn ich ihn zweimal von dir anhören müßte.“

Es gibt meines Erachtens nichts Beschämenderes, als wenn einer einen Witz — das Unmittelbarste, Blitzähnlichste, was sich denken läßt — zweimal vor demselben Publikum anbringt. Ich erinnere mich eines Pro[S. 61]fessors, der seine „Witze“ in seinem Kollegienheft notiert hatte und sie Jahr für Jahr „vortrug“. Man konnte sich Tag und Stunde ausrechnen, wann sie fallen würden. Es gab „Liebhaber“, die solche Stunden immer wieder aufsuchten. Ich habe das von den Liebhabern womöglich noch geschmackloser gefunden als von dem Professor. Bei ihm war immerhin ein klein wenig Verachtung dabei.

Einer der bei Provinzabonnenten und hauptstädtischen Provinzialen so beliebten Sonntagsplauderer irgend eines Tageblattes schwelgte neulich einmal in der Mitteilung, daß ein kürzlich verstorbener Krösus, der doch ein so fürstlicher Wohltäter gewesen sei, mit dem Kellner um ein unrichtiges Plus von 20 Kreuzern habe feilschen können und nicht nachgegeben hätte, des verächtlichen Lächelns des Kellners unerachtet. Der anmutige Chroniqueur fühlt sich in diesem Punkt dem Nabob verwandt. Auch er feilscht um 20 Kreuzer mit dem Kellner und gibt nicht nach. Und das verächtliche Lächeln stellt sich unfehlbar ein... Es ist ein „feiner“ Unterschied da, den der liebenswürdige Plauderer nicht merkt. Der Nabob konnte sich das erlauben. Er blieb[S. 62] der Nabob. Es ist so, als ob es ihm beliebt hätte, mit durchlöcherten Schuhen spazieren zu gehen. Wenn einer um 20 Kreuzer feilscht, weil ihr Verlust ihn schädigt, ist das sehr natürlich, aber keineswegs eine interessante Perversität... Jener Krösus, der um 20 Kreuzer gefeilscht haben soll, ist mir übrigens nicht einmal interessant. Er konnte sich das erlauben. Ist das interessant, was man sich erlauben kann? Ein andrer kann sich so etwas nicht erlauben. Das ist aber nicht jener charmante Glossator, dem es tatsächlich ein Bedürfnis ist, zu feilschen, weil er das Bedürfnis hat nach dem — Objekt des Feilschens, beziehungsweise seinen Mangel peinlich empfindet. Ich meine den Unnatürlichen, der seine Unnatur fühlt, sie bekämpft und — ihr unterliegt.

Von einem andern Zeitungsschreiber habe ich neulich lesen müssen: Niemals habe die deutsche Prosa auf einer ähnlichen Höhe gestanden wie heute. Es hat deutsche Schriftsteller gegeben vom Range der Schlegel, Grimm, Hoffmann, Kleist, Novalis, Hölderlin, Platen, Stifter, Goltz, Keller! Und der Unglückselige findet, die deutsche Prosa[S. 63] sei heute auf einer Höhe angelangt „wie noch nie“! Heute schreiben sie und „tun so“, „als ob“. Und dieser armselige Festredner glaubt es ihnen. Dabei ist die Grammatik abhanden gekommen. Unter hundert heute landläufigen Schriftstellern kann kaum einer Deutsch. Sie machen Fehler wie die Buben in der ersten Gymnasialklasse und merken es nicht. Sie merken es nicht einmal bei andern: ein Zeichen, daß ihre „stilistischen Ohren“ verstopft sind. Und Dumme und Kluge lassen sich heute so leicht blenden! Es braucht einer nur seine Worte einige Jahre hindurch anders zu stellen, als es die Syntax gebieterisch fordert: er imponiert; zumal wenn ihn die andern „Verbrecher aus verlorner Ehre“ vielfach darum preisen. Seine Unarten werden von unzähligen Schmieranten nachgeahmt; so wird man heute Klassiker.

Ich sage: es ist einfach unglaublich, wie schlecht bei uns geschrieben wird. Kein Volk auf der ganzen Erde mißhandelt seine Sprache so wie das deutsche. Es sollte ein Grimm heute versuchen, sein Wörterbuch mit Beispielen aus der „schreibenden Gegenwart“ zu[S. 64] belegen, er könnte fast nur fehlerhafte Wendungen verzeichnen. Gesetzt, ein Grimm von heute hätte ein Gefühl für die Fehler seiner schreibenden Zeitgenossen.

Denn das macht es aus, nicht nur in der Schriftsprache, im Leben überhaupt sind wir um allen Stil gekommen und merken es nicht. Wie wäre es sonst möglich, daß sich die Menschen nicht zusammenrotteten und die große Mehrzahl ihrer Architekten, ihrer Baumeister, ihrer Schriftsteller, vor allem ihrer Schriftsteller erschlügen? Man müßte heute, um zum Tauglichen wenigstens wieder — „instradiert“ zu werden, alle Städte niederreißen, bis auf den Grund, und so ziemlich alle „gebildeten“ Einwohner dieser Städte töten. Nur so wäre es möglich, mit einer ausgewählten Zucht von jungen Menschen — die man im Wachstum wieder dezimierte —, durch gute Lehrer und treffliche Beispiele unterstützt, etwas Kulturähnliches zu erzielen.

Der Literat hat schweigend zugehört. Jetzt sagt er: „Aber Sie, nicht wahr, Herr von Balthesser, Sie blieben uns doch erhalten? Das heißt, — den andern natürlich, denn[S. 65] ich würde ja wohl auch ausgerottet. Da ich jedoch noch am Leben bin, darf ich mir die Frage erlauben, ob ich Sie, Herr von Balthesser, ‚unterm Strich‘ behandeln kann.“

[S. 67]

HERR VON BALTHESSER SPRICHT MIT EINEM BESCHEIDENEN JUNGEN SCHRIFTSTELLER ÜBER BÜCHER

[S. 69]

M

Man sollte, sagte Herr Andreas von Balthesser, seine Bücher in höchstens 100 Exemplaren drucken lassen, die man verschenkte. Das Papier müßte fest und holzfrei, vorzüglich Bütten sein, die Textsäule ungefähr ein Sechstel der großen Seite einnehmen. Kein Buch wäre zu binden: das bliebe dem Eigentümer und seinem persönlichen Geschmack überlassen. Wenn man, wie dies heute leider noch immer der Fall ist, seine Bücher durch einen Verlag veröffentlichen und sie an den Türen der Redaktionen um ein gütiges Geleitwort bitten läßt, verdient der Autor eigentlich gar nicht, daß ein zärtlicher Schätzer seines Werkes die Gabe ihm mit Dank quittiere. Wozu geht ein Dichter, der etwas auf sich hält, auf den Markt? Um des Ruhmes willen? Den verleiht die Mitwelt nicht. Und er kann dem stillsten Buche zuteil werden, das vergessen in dem Winkel einer kleinen Bibliothek steht. Um des Geldes willen? Wie selten hat ein wirklich vortreffliches Buch seinem Schöpfer Geld eingetragen! Aus Eitel[S. 70]keit, das heißt des zweifelhaften Vergnügens wegen, sein Werk unter zahllosen unberufenen nach einem berufenen Beurteiler auf der deplorabeln Suche zu sehen?

Sie vergessen, Herr von Balthesser, erlaubte sich der junge bescheidene Schriftsteller zu bemerken, daß man ein Buch wohl ins Ungewisse flattern läßt, gleichwie ein dem Käfig entronnener Vogel, der aus fremden Zonen stammt, ins Ungewisse flattert, daß aber liebevolle Aufnahme ihm zuteil werden kann, von der sein Schöpfer niemals erfährt. Ist das nicht schön? Und bietet der eine Leser, dem Ihr Werk ein süßes Ereignis der Seele geworden ist, Ihrer Einbildung nicht Ersatz für hundert andre, die ihm nicht gewachsen sind?

BALTHESSER: Das ist eine zärtliche Idylle in Wachs, gewickelt in Watte, die mit Rosenwasser befeuchtet ist und verschämt duftet.

DER JUNGE BESCHEIDENE SCHRIFTSTELLER: Ist das ein Einwand, Herr von Balthesser?

BALTHESSER: Nein, nur eine spöttische Bewegung der Mundwinkel.

DER JUNGE BESCHEIDENE SCHRIFTSTELLER: [S. 71] Die ich also nur als ehrfürchtiger Beobachter Ihres interessanten Mienenspiels zu werten habe.

BALTHESSER: Wie Sie wollen. Ich jedenfalls werde meine Bücher nicht mehr herausgeben, wenn ich überhaupt noch den Heroismus aufbringen sollte, Bücher zu schreiben.

DER JUNGE BESCHEIDENE SCHRIFTSTELLER: Sie werden gewiß noch Bücher schreiben, Herr von Balthesser, und Sie werden sie auch herausgeben.

BALTHESSER: Woher wissen Sie das?

DER JUNGE BESCHEIDENE SCHRIFTSTELLER: Ich erlaube mir das daraus zu schließen, daß Sie so gegen das Herausgeben von Büchern perorieren.

BALTHESSER: Sie sind ein malitiöser Partner. Aber ich liebe das. Nichts ist langweiliger als Zustimmung... O doch: eines ist noch langweiliger: eben dieses, Bücher zu schreiben.

DER JUNGE BESCHEIDENE SCHRIFTSTELLER: Sie müssen es wissen.

BALTHESSER: Sie verblüffen mich angenehm.

DER JUNGE BESCHEIDENE SCHRIFTSTELLER verneigt sich.

[S. 72]

BALTHESSER: Ich habe sonst bei „zeitgenössischen Autoren“ wenig Geist verspürt.

DER JUNGE BESCHEIDENE SCHRIFTSTELLER: Um so bequemer für Sie, Herr von Balthesser.

BALTHESSER: Wieso?

DER JUNGE BESCHEIDENE SCHRIFTSTELLER: Weil Sie sich sicherlich die Mühe genommen hätten, ihn zu negieren.

BALTHESSER: Sie meinen doch nicht etwa, daß ich etwas ähnliches wie Kritik geübt hätte?

DER JUNGE BESCHEIDENE SCHRIFTSTELLER: Ich müßte mich sehr täuschen, wenn Sie nicht oftmals bereits „Kritik geübt“ hätten.

BALTHESSER: Man spricht niemals von gestern.

DER JUNGE BESCHEIDENE SCHRIFTSTELLER: Ich werde mich bemühen, diese Lebensregel zu befolgen.

BALTHESSER: Man soll sich niemals bemühen.

DER JUNGE BESCHEIDENE SCHRIFTSTELLER: Sondern andre. Sehr richtig.

BALTHESSER: Gewiß. Wer andre bemüht, ist der Herr seiner Wünsche.

[S. 73]

DER JUNGE BESCHEIDENE SCHRIFTSTELLER: Aber der Sklave seiner Launen. Ich habe die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen, Herr von Balthesser.

[S. 75]

ANDREAS VON BALTHESSER ÜBER DIE BETRACHTUNG VON GEMÄLDEN

[S. 77]

V

Vor Gemälde vermeide ich mit Bekannten zu treten. Es wird dann immer höchst überflüssigerweise „geredet“. Und sobald man vor Gemälden über sie redet, entziehen sie sich einem. Es ist, als ob es sie verdrösse. Sie verhüllen sich gleichsam von innen heraus. Man kann über Gemälde nur in ihrer Abwesenheit sprechen. (Das Gegenteil hat bei Menschen statt. Ich finde, daß man über Menschen nur mit ihnen selbst sprechen kann. Natürlich auch brieflich, denn der richtige Briefschreiber spricht zu einem Anwesenden. Es gibt wohl auch Briefschreiber, die zu Abwesenden sprechen, solche aber werden immer schlechte Briefe schreiben, uninteressante, unpersönliche.)

Gemälde soll man nur in Stimmung betrachten. Es ist nicht wahr, daß sich die Stimmung einstelle. Man muß Sehnsucht nach Gemälden empfinden, sogar Sehnsucht nach bestimmten Gemälden. Spürt man unbestimmte Sehnsucht nach Gemälden, dann mag man es versuchen, sich gleichsam magne[S. 78]tisch mit dem in Rapport zu setzen, das sein Antlitz im Nebel dieser unbestimmten Sehnsucht verschleiert hält. Will es sich nicht entschleiern, dann unterlasse man es, an dem Schleier zu zupfen. Es schneidet sonst plötzlich eine Grimasse, die lange nachwirkt. Aber jede unbestimmte Sehnsucht birgt einen bestimmten Gegenstand. Unbestimmte Sehnsucht ist nur ein vorläufiger, ein Verlegenheitsausdruck.

Etwas anders ist gemeint, wenn ich hinzufüge, daß man sich in der Betrachtung von Gemälden reinigen kann. Das soll nicht heißen, daß man ohne Stimmung sei. Im Gegenteil: man hat gerade dann, wenn man dieses Reinigungsbedürfnis empfindet, eine sehr starke Stimmung zu künstlerischen Eindrücken. Eben ihre Stärke bedingt die Unlust, die einem das „andre“ bereitet. Man wäre aber zum Beispiel nicht in der Stimmung zu künstlerischer Betrachtung, wenn man sich in sinnlicher Erregung befände. Wer von der Dame seiner Sinne endlich die verheißende Andeutung erhalten hat, der darf nicht vor Gemälde treten. Er wird geneigt sein, eine Nudität von Allegri über Reitergruppen von[S. 79] Mollyn zu stellen, beziehungsweise, was noch schlimmer ist, vor Rubens an die zu gewärtigenden Alkovenbewegungen seiner Dame denken.

Ich habe es ferner immer äußerst uninteressant gefunden, mit Malern vor Bildern zusammenzutreffen. Fachsimpelei ist der Tod der künstlerischen Empfindung, die unmittelbar in der Seele wirksam ist und so von seelischer Wirkung zeugt. Die Seele eines Künstlers spricht durch ein Bild zu meiner Seele. Ihr muß ich mit meiner Seele zu begegnen trachten. Da hält technische Kennerschaft nur auf. Man mag ihre Betätigung geruhig den nur allzu häufigen Stunden der künstlerischen Ernüchterung überlassen.

Damit will ich durchaus nicht gesagt haben, daß die Erfassung des Technischen, die restlose Bewältigung des Technischen durch die Anschauung, nicht nötig wäre, als Basis gleichsam jener Seelenzwiesprache. Man lernt die Seele eines Bildes erst allmählich und auf vielen technischen Umwegen kennen, wenn sie auch beim ersten Zusammentreffen ihre Anwesenheit der verwandten noch so deutlich verrät. Ich meine nur, daß das[S. 80] Reden über technische Dinge am besten hinterm Rücken eines Bildes geschehen sollte. „Hinterm Rücken eines Bildes“, das kann sich sehr gut vertragen mit dem vollsten Betrachten. Aber es ist ein andres Betrachten als das, bei dem alle Vernunft schweigt, abstirbt sozusagen, erlischt wie ein Licht in einer Lampe, das noch eben eine leuchtende und wärmende Flamme war und alle entfernten Ecken eines Raumes erhellte und — mit eins fort, aus der Welt ist, niemals da war.

Bilder sind der schwierigste Umgang. Sie sind voll Launen und äußerst empfindlich. Manchmal kommen sie einem entgegen mit einer Offenheit, einer Freundlichkeit, daß man nicht weiß, wie man sich zu fassen hat. Manchmal gehen sie von einem so schnell und weit fort, daß man ihnen nicht zu folgen imstande ist. Auch haben sie sehr wechselnde Stimmen. Bald sind sie überlaut, bald so leise, daß man sie kaum versteht und immer „wie“ fragen möchte.

Nebenbei gesagt: Bilder sind ein gefährlicher Umgang. Sie können einen geradezu verzaubern. Es gibt Bilder, die man niemals[S. 81] mehr aus seinem Leben bringt. Sie können das Schicksal eines Lebens werden... Man besucht eine Stadt zum erstenmal, man begibt sich unter andern Fremden in eine ihrer öffentlichen Sammlungen. Man tritt in einen Saal. Milde Oktobersonne liegt darin oder ein warmer Frühlingschein, eine Dame in grünem Reiseschleier steht über ein rot gebundenes Buch geneigt. Ein Aufseher wandelt auf knarrenden Sohlen an dir vorbei... Du siehst auf. Ein Bild. Noch kaum ein Name, hat es plötzlich Gewalt über dich bekommen, deine Weltauffassung, ohne daß du es noch ahnst, im Kerne geändert. Vielleicht hat es der Zukunft deines von einer fremden Frau noch ungeborenen Kindes die Bahn gewiesen.

[S. 83]

WAS ANDREAS VON BALTHESSER GELEGENTLICH ÜBER DAS GESPRÄCH ZU BEMERKEN HATTE

[S. 85]

W

Wenn mich die Leute nur mit ihren „Ansichten“ in Ruhe ließen! Ich bin aus Höflichkeit genötigt, ihnen zu antworten, und, will ich mich nicht überflüssigerweise mit Lügen anstrengen, muß ich ihnen mindestens etwas Ähnliches wie „eigene Ansichten“ sagen, die leider immer anders lauten, als ihre Fragestellung will.

Das Gespräch erzogener Menschen meidet jegliche Auseinandersetzungen. Es bewegt sich leicht, spielend, gewissermaßen mit fröhlicher Ironie, die jedermann zugänglich ist, tändelnd auf Wandelwegen im duftigen Schatten beschnittener Hecken. Es mag manchmal langweilen, aber es will keinen „sachlichen“ Ernst. Es bietet keine groben Handhaben, wie sie die stämmigen Dauerredner überall angebracht sehen wollen, sich mit der Wucht ihrer Überzeugungen dranzuhängen. Es ist nicht ohne das feine Parfüm des Mißtrauens. Es hat vor allem keinerlei jeder Behaglichkeit so gefährliche Individualität.

Wir sind zusammengekommen, uns in leicht[S. 86]sinniger Stimmung mit heitern, an sich völlig belanglosen Worten zu vergnügen. Es steht bei den einzelnen, sich zu beteiligen oder mit verbindlichem Lächeln zeitweilig außer den Kreis der „Aktiven“ zu treten.

Gute Gesellschaft ist ohne Meinung. Der Causeur referiert nicht — ein Referat ist der plumpe Grabstein der Konversation —, noch weniger urteilt er. Urteile in der Causerie sind ein Zeichen schlechter Erziehung.

[S. 87]

GLOSSEN ZUR PSYCHOLOGIE DER KLEIDUNG

[S. 89]

G

Gut gekleidet sein, heißt vor allem nicht auffallend gekleidet sein. Alles Vollkommene ist unbefangen, selbstverständlich.

Das zweite Gesetz lautet: Solidität. Auch dieses wird seine Anwendung überall im Leben bestätigen, wo etwas Vollendetes vorliegt.

Es ist zum Beispiel durchaus nicht selbstverständlich, die Manschetten und Kragen an das Hemd anzuknöpfen. „Selbstverständlich“ ist das Hemd aus einem Stück. Sparsamkeit aber, womit man allenfalls die Teilung zu rechtfertigen sucht, ist ein Begriff aus einem andern Reich, der in das „künstlerische“ Gebiet der Kleidung hineingetragen wird, wie man in die Dichtung das moralisierende Element, die Tendenz, hineingetragen hat als ein wesensfremdes. Tendenzen wie „angeknöpfelte“ Manschetten und Kragen sind sicherlich „zielbewußte“, aber darum nicht eben schönere Dinge. Stil lehnt jedes Kompromiß ab. Das Kompromiß bringt den Stil um. Es ist stillos, an das[S. 90] Hemd einen Teil durch mechanische Mittel anzufügen, der mit ihm ein Ganzes vorzustellen hat und — darin liegt das Unreelle, also Gemeine der Sache — dieses Resultat vorzutäuschen beabsichtigt. Die vollkommenste Täuschung bleibt eben als Täuschung ein armseliger Kniff der Unzulänglichkeit, die das Zulängliche kennt, schätzt und — den Schein der Zulänglichkeit erschleicht.

Noch eines: Wer Manschetten und Kragen aus „Schonung“ an das Leibstück anknüpft, trachtet im Grunde nur über die Tatsache hinwegzutäuschen, daß er ein bereits gebrauchtes Hemd nicht zu wechseln pflegt. Er verschweigt sein verschmutztes Hemd, indem er die sichtbaren Ausläufer — Kragen und Manschetten — durch reine Stücke ersetzt. Man darf das gebrauchte Hemd nicht ein zweites Mal anziehen. Das mag kostspielig sein, aber — sich gut zu kleiden, ist eben nicht wohlfeil. Daran ist nichts zu ändern.

Über die „Fasson“ des Anzugs entscheidet natürlich die Mode. Aber nur bis zu einem gewissen Grade. Einem Menschen, der sich[S. 91] mit Verständnis und Geschmack zu kleiden weiß, hat die Mode nichts zu befehlen. Nie wird er sich ihr blind unterwerfen, aber auch nie gegen sie demonstrieren. Eines ist ebenso geschmacklos wie das andre.

Kreationen freilich mag man geruhig einem tonangebenden König überlassen.

So wie ein wohlerzogener Geschmack nicht „Leder“-Tapeten oder ein Gips-Gebälk in der Wohnung duldet, ebenso wird er das angefertigte „Flüchtige“, die steif gefaltete und „fertig“ genähte Krawatte und den unwandelbar mit „Bug“ versehenen Strohhut verabscheuen. Sicherlich auch wird der Mensch von Geschmack seine Schuhe selbst schließen, also entweder zuknöpfen oder zuschnüren, nicht in ein durch Gummiteile gefügig gemachtes Stiefelgehäuse schlüpfen, auch nicht wie ein Negerhäuptling über einem Wolleibchen ein „Vorhemd“ — schon der Name riecht nach Kannibalentum — baumeln lassen. Derlei Dinge sind auch nur noch in deutschen Landen „diskutabel“, wo man allen Ernstes erwägt, ob man an der Hotel-Abendtafel in Kniehosen und Wollhemd teilnehmen dürfe oder nicht, und wo das Messer ebenso unfehlbar zur[S. 92] — Torte gehört wie das Tellerchen aus gepreßtem Glas mit neckisch untergelegtem gesticktem Tüchlein samt dem Miniaturlöffelchen zum „Eis“...

Das sind die Axiome. Alles übrige ist „Nuance.“ Doch wer wird von den „letzten Dingen“ — den wechselseitigen zarten Beziehungen der einzelnen Kleidungsstücke untereinander — zu Honoratioren und sonstigen Unsäglichen sprechen, die den Abend-Gesellschaftsanzug, den Frack, als des brav aufwartenden Bürgers Vormittagsfestgewand ansehen, die das Straßen- und Besuchskleid, den Gehrock, aus dem Verließ des Garderobeschrankes hervorholen, wenn sie mit der seidestarrenden Ehehälfte zur — Sommersonntagsfahrt ins Grüne sich rüsten, die etwa gar den zeremoniellen Zylinder mit dem bequemen gelben Schuh in Geberlaune zum farbigen Akkord zwingen und dem Gehrock durch die — Frackweste und die schwarze Smokingschleife größere Feierlichkeit zu verleihen meinen!

[S. 93]

HERR VON BALTHESSER GIBT SEINE ANSCHAUUNGEN VOM VERKEHR ZUM BESTEN

[S. 95]

M

Menschen und Bücher, die immer von der Aristokratie des Geistes reden, sind mir tief verdächtig. Ganz abgesehen davon, daß ich nach meinem persönlichen Geschmack die Aristokratie der Geburt weitaus der des Geistes vorziehe, im Umgange, heißt das. An den Verkehr stelle ich hohe Anforderungen, die der gebürtige Aristokrat mühelos erfüllt, der „geistige Aristokrat“ leider zumeist ganz unerfüllt läßt. Ich verlange zum Verkehr nicht Menschen, die immer das letzte Werk des neuesten Norwegers schon gelesen haben, sondern Menschen, die sich mit Unbefangenheit gut zu benehmen imstande sind. Wer da glaubt, das seien bescheidene Ansprüche, der täuscht sich gewaltig. Es ist viel „leichter“, einen geistreichen Essay zu schreiben, als ein tadelloses Benehmen zu entwickeln. Denn einen geistreichen Essay zu schreiben, das erfordert außer Technik des Handwerks und einiger Bildung noch den sogenannten Geist, beziehungsweise — sein Spiegelbild.[S. 96] Tadelloses Benehmen aber ist lautloser Lebensrhythmus.

Tadelloses Benehmen ist kein Additionsergebnis. Es läßt sich durchaus nicht in einem Anstandsbüchlein auseinandersetzen, wie es pomadisierte Ladenjünglinge der Konfektionsbranche in den Pausen ihres schwierigen „Verkehrs“ mit den Damen der Hauptstadt voll Beflissenheit studieren. Tadelloses Benehmen ist überhaupt nicht erlernbar, sondern eine „Rasse“eigentümlichkeit, etwa wie die Hautausdünstung der Schwarzen. Das „Aristokratische“ ist keineswegs immer tadellos. Aber sicherlich haben von 100 Aristokraten 90 ein sicheres Benehmen. Unter 100 Nichtaristokraten hingegen sind 98 in ihrem Benehmen ganz und gar unmöglich. Und ich ziehe es entschieden vor, mit weniger geistreichen Leuten, die sich „benehmen“ können, zu verkehren, als mit Leuten ohne Benehmen, sie mögen im übrigen das Gebildetste auf der Welt sein.

Diese schreiben ja heutzutage zumeist Bücher. Und es ist doch weitaus bequemer und amüsanter, in ihren Büchern zu blättern, die man jederzeit weglegen kann, als[S. 97] sich die Last eines Verkehrs aufzuhalsen, der aus vollen Schüsseln der Intelligenz mit — ästhetischer Roheit spendet. Es ist aber leider zehn gegen eins zu wetten, daß der scharfsinnige Autor eines lesenswerten Buches im „Leben“ ein unästhetischer Mensch sei. Deshalb vermeide ich auch lieber persönliche Bekanntschaften aus dem „Reiche des Geistes“, die mir höchstens den guten Eindruck eines Buches verderben könnten.

Entrüsteten Ausrufzeichen aber begegne ich mit einer Darstellung dessen, was ich unter einem „unästhetischen Menschen“ verstehe. Die Entrüsteten denken natürlich zuerst an das Nasenbohren und Kopfhautkratzen, als welches sie sich doch schon seit dem Gymnasium abgewöhnt hätten; sie denken, wenn sie auf weitere Fortschritte in der Schule des Benehmens stolz sind, an das Ausspucken und Mit-dem-Messeressen. Aber das sind die allergröbsten „Handgreiflichkeiten“. Sich über derlei aufhalten, hieße Spucknäpfe in Bureaulokalitäten tragen. Ich meine ganz andre Dinge. Ich habe es, als ich in jüngern Jahren nicht umhin konnte, manchmal „Picknicks“ der sogenannten gebil[S. 98]deten Stände aufzusuchen, z. B. stets im höchsten Grade unästhetisch gefunden, wenn ein junges Mädchen bei der Quadrille mir von Maeterlinck zu sprechen anhub. Es ist mir tausendmal lieber, wenn ein junges Mädchen zu ihrem Tänzer sagt: „Finden Sie nicht, daß es heute sehr heiß ist?“ Auf mein Wort, mir ist das tausendmal lieber. Aber das Mädchen, das mit mir, in dem sie den Dichter sah (ich hasse alle Leute, die „in mir den Dichter sehen“), bei der Quadrille von Maeterlinck zu sprechen anhub und sich wunder was darauf einzubilden imstande war, hat dem nächsten Herrn doch gesagt: „Finden Sie nicht, daß es heute sehr heiß ist?“ Diese Tochter der gebildeten Stände richtet nämlich ihr Benehmen ein. Ein Mensch von Benehmen aber richtet niemals sein Benehmen ein. Er hat ein Benehmen, und das geht von ihm aus wie der Heugeruch vom Stallburschen.

Der unästhetische Mensch ist entweder befangen oder ungeniert. Beides ist gleich peinlich. Der Befangene ist immer um einen halben Takt voraus oder zurück; er stört jede Situation und bittet beständig um Entschul[S. 99]digung, flüstert hinter der hohlen Hand und behandelt Bediente mit Ehrerbietung, wofür ihn diese natürlich gebührendermaßen verachten. Der Ungenierte ist von aufreizender Kordialität. Er drückt alten Damen die Hand, nimmt mit vorgespreizter Handfläche „das Wort aus dem Mund“, tritt aufgeräumt zu Spieltischen alter Herrn, denen er in den Nacken hustet, wendet sich mit unpassender Vertraulichkeit an den servierenden Bedienten. Niemals wird ihm in seiner Gottähnlichkeit bange, er hat keinerlei Menschenfurcht: ihm kann nichts geschehen, man müßte ihn denn niederschießen.

Eine der schrecklichsten Sorten unästhetischer Menschen sind die noch in der Entwicklung begriffenen „Elegants“. Sie haben Bewegungen des Rückgrats, die verstimmend auf die Magennerven wirken. Ihre abgezirkelte „Nonchalance“ könnte unter Umständen humoristisch wirken, wenn sie nicht mit Ernst quittiert werden müßte! Die Art, wie sie Bein über Bein schlagen, während sie den Zucker in der Tasse schwarzen Kaffees umrühren, ist geeignet, den umgänglichsten Menschen zu ihrem Todfeind[S. 100] zu machen. Sie spielen immer den Überlegenen, und eine ihrer reizendsten Kombinationen ist die arrogante Verlegenheit, mit der sie angebliche Indiskretionen vorbringen, um die sie niemand ersucht hat.

Das Ekelhafteste auf der Welt aber ist der „Schöngeist“ in seinen verschiedenen Spielarten, als da wären: die leicht chokierte ältliche Dame aus geachteter Beamtenfamilie, der im Cönakel „gefeierte“ Schriftsteller, der den Weltmann spielt und auf Schritt und Tritt Nüancen fallen läßt wie Knallerbsen, endlich der „Unberechenbare“, der durch eigenartige Auffassungen der solidesten Lebensverhältnisse zu verblüffen bestrebt ist, z. B. plötzlich das Recht auf Blutschande verteidigt und mit schamlosen Geständnissen nicht geizt.

Es gibt Menschen, die regelmäßig ins Kaffeehaus gehen. Sie können ja nichts dafür, daß es ihnen angenehm ist. Solche Menschen meide ich „von vornherein“. Es ist unmöglich, daß ein Mensch, der täglich durch einige Stunden im Kaffeehause sitzt, ein wünschenswerter Verkehr wäre. Das setzt eine Unempfindlichkeit gegen eine ganze[S. 101] Reihe höherer Taktfragen voraus, die für mich zu den Unerläßlichkeiten gehören.

Es gibt Menschen, die auf sogenannten städtischen Promenaden auf und ab ziehen. Solche Menschen meide ich „von vornherein“. Das sind Leute, die gegen Staub, Gestank und Lärm, die größten Plagen der heutigen Menschheit, unempfindlich sind.

Es gibt Leute, die jede Première sehen müssen. Solche Menschen meide ich von vornherein. Kritiker, die durch den Besuch der Theater ihren Beruf ausüben, sind auf das tiefste zu bedauern, jene „Amateurs“ aber sind verächtlich, da sie Sinne wie Taue und einen Geschmack wie Feuerländer haben müssen.

[S. 103]

ÜBER VERNÜNFTIGE, SNOBS UND BEFLISSENE

[S. 105]

E

Es gibt „vernünftige“ Menschen, die sich an Wagners „Texten“ stoßen. Sie behaupten, die Musik zu schätzen, den Text aber zu verabscheuen. Sie „weisen das nach“. Es gibt Schwärmer, die behaupten, daß die Bühne den Zweck habe, Illusionen zu erzeugen. Diesen Kerzlweiberstandpunkt hat der Prunk der sogenannten szenischen Darbietungen verschuldet.

Ich kenne „Vertreter geistiger Interessen“, die Shakespeare mit Wildenbruch, Hölderlin mit Hamerling, Maupassant mit Tovote, Terborch mit Grützner, Ibsen mit Sudermann verwechseln. Da ist nichts zu machen. Solchen Leuten geht man am besten behutsam aus dem Wege, und wenn man ihnen nicht ausweichen kann, stellt man sich grinsend schwerhörig. Es sind dieselben Menschen, die von „unsympathischen Charakteren“ bei Dostojewski sprechen oder E. T. A. Hoffmann einen Gespenstergeschichtenerzähler nennen. Das ist eine Gruppe von „Kunstfreunden“. Sie zählt nach Millionen. Wenn sie zufällig „akademische Bildung genossen“ haben, ist es nicht ausgeschlossen, daß sie eine Deutsche Literaturgeschichte „verfassen“.

[S. 106]

Eine zweite Gruppe hat immer die Meinung des Nächststehenden. Es gibt Menschen, die ihre Meinung mit dem Abonnement ihrer Zeitungen ändern, ja, mit dem Wechsel der Feuilletonredakteure. Das sind die Leute des „neuen Stils“, die, wenn sie bei Mitteln sind, alle 10–12 Jahre ihre Hauseinrichtung von Grund aus ändern, und wenn der letzte Band Ebers an die heranwachsende Nichte verschenkt ist, mit dem ersten Band — Ruskin beginnen. Sie führen Goya und — Sascha Schneider im Munde, tragen heute hochgeschlossene und morgen tief ausgeschnittene Westen, je nach dem, was der Schneider ihnen als die letzte Mode empfiehlt, und geben ungebeten die neuesten Verhaltungsmaßregeln. Sie sind immer bereit, mit fliegenden Fahnen überzugehen. Wenn sie „Dichter“ sind, schreiben sie heute à la Maeterlinck und morgen à la D’Annunzio. Sie wissen nie, wer sie im Grunde sind. Sie könnten sich über Nacht gestohlen werden. Ihre Vertreter in der Generation der heute fünfundzwanzigjährigen sind durch die Bank „moderne Lyriker“.

[S. 107]

ANTIBARBARUS

(EINE UNGEDRUCKTE „ERWIDERUNG“, DIE SICH IN HERRN VON BALTHESSERS PAPIEREN VORGEFUNDEN HAT. ANLASS DAZU MAG IRGEND EIN ZEITUNGSARTIKEL GEGEBEN HABEN, DER DAS RECHT DES DEUTSCHEN TOURISTEN, IN TOURISTENKLEIDUNG AN DER HOTELTAFEL ZU ERSCHEINEN, ETWAS HERAUSFORDERND ZU VERTEIDIGEN UNTERNOMMEN HABEN DÜRFTE)

[S. 109]

A

Auf die Gefahr hin, wieder einmal intra et extra montes mit Kopfschütteln, bedenklichem sowohl als wohlwollend-mißbilligendem, zu den Unverbesserlichen gezählt zu werden, die sich, während sie doch „Wichtigeres“ zu tun hätten, die Finger an heißen Platten und platten Hitzigkeiten zu versengen allzu lüstern scheinen, muß ich auf die Schafwollverwogenheiten des aus seiner Pseudonymität weiter nicht zu lüftenden „Montanus“ erwidern, wies der Geist mir eingibt. Ich habe das trutzige Stückchen vom frisch-froh-freien Lodengermanen auf der Heimreise von St. Moritz gelesen, zufällig gerade diesen abgegriffenen Fehdefäustling von einem Zeitungsjungen zur Fahrt-Verkürzung und Rückkehrtrübsalströstung erwerben müssen. Nunmehr, da ich in Gletschergedanken und Firnenträumen seufzend wieder städtisches Pflaster trete — die nach bescheidenen Begriffen „boshafte“ Anspielung sei etwaigen Duplikanten gratis dahingegeben — und nachge[S. 110]rade etliche Zeit verstrichen ist, als innerhalb welcher Herrn „Montanus“ zu entgegnen andern Bewohnern dieses Teils der leider zeitunglesenden Welt freigestanden hätte, drängt’s mich, in einer unbeschäftigten halben Stunde mit der Abermeinung aufzuwarten. Noch steht mir der Geruch in der Nase — idealiter heißt das —, der die Lektüre begleitete. Keineswegs, wie man füglich, doch aber voreilig annehmen könnte, war’s der mit brav aufsaugender, konservierender Wolle unzertrennlich verbundene männiglich bekannte, sondern Veltliner Geruch, beizendes Weinparfüm nämlich und dieser zähe Odeur, ein in zwei Wechselhemden heimtückisch aus zerbrochener Flasche eingeflossener, Hemden, die ich in der Handtasche aus Bahnfahrtreinlichkeitsgründen für 26 Stunden (außer dem frischen auf dem lesenden Leibe) bereit hielt: ein also freventlich umkleidsamer Antibarbarus bin ich, hört es, Silvani! Zunächst nun die „oben beregte“ Frage der „Wichtigkeit“. Ich kann nicht einsehen — ein typisches Merkmal des Unverbesserlichen —, daß es minder „wichtig“ sein sollte, über Fragen der „äußern“, der ästhetischen[S. 111] Kultur zu diskutieren denn über reimtechnische etwa oder Fragen der Bühnenpraxis oder solche der hochnotpeinlichen Politik von Fragmentfraktiönchen. Und Menschen, die es partout nicht begreifen wollen, beziehungsweise als unwürdig verschreien, wenn ein Dichter, nach ihrer Meinung also ein Mensch mit einem unverrückbaren „Poetenstandpunkt“, sich „ernstlich“ um andre Dinge bekümmert als um sogenannte „dichterische“, vermag ich nur als betrübliche Scheuklappenstelzbeine zu bedauern. Für mich, Andreas von Balthesser, dekadenten Autor der „Androgyne“, ist ein „Dichter“ ein Mensch mit dichterischer Begabung, im übrigen aber ein Mitmensch, Weltbürger und Zeitkind mit mehr oder weniger großem Welthirn und mehr oder weniger hellen Zeitaugen. Sein „Vorzug“ vor „Nichtdichtern“ liegt, wenn überhaupt vorhanden, im größern Reichtum an Persönlichkeit, nützliche Mitglieder der Gesellschaft sattsam aufregender Eigentümlichkeit, in der Fülle seiner unausschöpfbaren Wesenhaftigkeit, in der kompliziertern Kontur. Ein beliebiger Bedichter beliebiger Dichtbarkeiten scheint mir um[S. 112] dieser seiner unfreiwilligen Merkwürdigkeit willen noch lange nichts Wunderbares. Dagegen sind mir, seitdem ich das zweifelhafte Vergnügen habe, bewußter Nebenmensch Nächster zu sein, Kultur, Stil, vollendete Form, blutvolle Rasse, alles Ganze, Echte, Runde als herrliche, leider nur allzu spärlich ausgestreute Besitztümer erschienen.

Dies also wäre die Einleitung. Und nun in medias res, wie minder beherzte Schreiber sich anzufeuern pflegen. „Montanus“ schmäht mit der — Ausschließlichkeit des unverkennbaren Spreeatheners alle Bergfahrer, die in ihrem Koffer die ihnen unumgänglich dünkenden Abendtoiletteutensilien mitführen. Ihm gilt nur der als ein der großen Natur, die auch er alljährlich per Rundreisebillett mit seiner Gegenwart beehrt, würdiger Reisender, der sie, die nackende Natur nämlich, mit Vermeidung alles ekeln „städtischen“ Rüstzeugs aufsucht. Das Ideal — wozu die Betonung? — des Alpenwanderers ist sonach der weidlich bekannte Loden- und Schafwolldeutsche, der um keinen Preis „angesichts“ von Gletschern und Spitzen in weißer[S. 113] gesteifter Wäsche und gebügelten Beinkleidern sich zu Tische setzen mag. Dies ist nun freilich wieder einmal Geschmacksache. Keineswegs jedoch ist das stolz verkündete Programm der verschwitzten Freizügigkeit ein Dokument von Deutschlands größerer Reise- und Tourentüchtigkeit. Ich, Andreas von Balthesser, der Dandy, stelle des unentwegten Lodenapostels entrüstunglodernder Beteuerung die zwischen zwei Zigarettendampfstößen dem Gehege meiner blankgeputzten Zähne entlassene, nicht minder von sich selbst überzeugte Behauptung entgegen, daß die trefflichsten, ausdauerndsten und erfolgreichsten Hochtouristen sich unter dem von Montanus und Stilgenossen verschrienen Lackschuhpöbel finden, der es aus Kultur der Gepflogenheit für geschmackvoller hält, an der Abendtafel eines komfortabeln Hotels nicht in verstaubten Kniestrümpfen und durchnäßter Joppe Platz zu nehmen. Montanus aus — Athen stellt die Sache fast so dar, als wäre das Mitführen eines Frack- oder Smoking-Anzuges körperlichen Leistungen nicht nur mechanisch-physisch, sondern geradezu moralisch hinderlich, als[S. 114] wäre es ein Zeichen verächtlicher Städterei, in die Berge den Teil der Garderobe mitzubringen, den man — auf Bergen nicht anzulegen pflegt.

So hingeklebt äfft die Karikatur ihren leider sehr befriedigten Bildner. Es handelt sich gar nicht darum, ob jemand mit Lackschuhen Gletscher betritt oder im Tennisanzug Felsen erklimmt. Wer solche Unverträglichkeiten zusammenstellt, um sie dann hohnlachend niederzukartätschen, kämpft lärmend gegen Windmühlen vor einem Publikum von Blindgebornen. Es handelt sich auch nicht darum, ob jemand aus Gründen des Geldbeutels lieber einfache Herbergen aufsucht als Engadin-Palasthotelbauten. Das sind Fragen nicht der Kultur und Sitte, sondern der finanziellen Verhältnisse oder der persönlichen Vorlieben. Wenn man aber, wie es der Berg- und Talgermane tut, sich breit aufpflanzt und den Nationen des der Tageszeitung lauschenden Erdballs mit Donnerstimme den Wilden als den bessern Menschen verkündet, dann darf der durchaus Andersgläubige immerhin der Frage auf den geschwollenen Leib rücken und, seinerseits[S. 115] alle Modifikationen ablehnend, sich absolut versteifen.

Und dieses meint der rettungslos Versteifte — den Dank begehrt er nicht —: Notlage entschuldigt, rechtfertigt aber kaum. Wenn ein Tourist, der — sei’s nun „aus Prinzip“ oder aus Bedürfnislosigkeit — ohne Gepäck reist, bergmäßig angetan in einen lichterhellen Table-d’hôte-Saal gerät, wird man den Versprengten nicht abweisen dürfen. Sicherlich hat auch er das „Recht“, in verschwitzter Wäsche und bestaubten Kleidern gleich den gereinigten Genossen sein Mahl zu genießen, das er ebenso wie sie bezahlt. Unfug aber wäre es, Terrorismus vor allem gegenüber wehrlosen Nachbarn, wollte die Phalanx der wilden Männer durch die brutale Mehrzahl die löbliche Sitte sprengen, der sich gerne fügt, wer auch Gehorchen zu den Kulturerrungenschaften des „Gebildeten“ zählt. Die abendliche Speisetracht unter Menschen von Geschmack ist nicht der Lodenrock, sondern eben der abendliche Gesellschaftsanzug. Dies zu bestreiten, ist kein Heldentum, sondern Eigensinn. Wer, wenn er von drei Uhr morgens bis zum späten Nach[S. 116]mittag gewandert und geklettert ist, nicht das Bedürfnis fühlt, Wäsche und Kleidung zu wechseln, ist um den Mangel dieses Bedürfnisses wahrlich nicht zu beneiden. Wer aber, wenn er’s empfindet und ihm nachgibt, geflissentlich andre Kleidungsstücke anlegt, als im weltbürgerlichen Europa die erprobte diskrete Gepflogenheit verlangt, mag sich Revolutionär dünken, darf sich aber nicht wundern, wenn ihn der andre Teil der Welt — der diesseits aller Hinterwäldler und Hinterweltler — stillschweigend oder halblaut als einen — sagen wir artig-neutral Outsider nimmt und also traitiert. Es ist keine Kunst, sich gegen Regeln irgend eines Milieus aufzulehnen. Aber es ist mehr als „Kunst“, es ist Gnade, sich unbefangen, selbstverständlich in einem erlauchten Milieu zu bewegen. Und wenn der deutsche, zumal norddeutsche Reisende leider noch immer dafür bekannt ist, daß er gegen die Gesetze des gesellschaftlichen Taktes und der konventionellen äußern Kultur (Ästhetik) unangenehm zu verstoßen pflegt, so scheint mir, Andreas von Balthesser, Autor der „Androgyne“, dies nicht eben ein Moment, das[S. 117] trotzig-selbstbewußt zu betonen, das vielmehr in bescheidener Erziehungsarbeit mit allem Aufwand an deutschem Fleiß und deutscher Energie allmählich endlich — schon aus „Humanität“ — zu beseitigen wäre.

[S. 119]

HERR VON BALTHESSER PHANTASIERT ÜBER DAS THEMA „DIE DAME“

[S. 121]

E

Eine Dame ist eine virtuelle Vollkommenheit, die Mängel nicht ausschließt. Man kann eine Dame sein und muß keine Rasse haben. Man kann eine Dame und rührend oder unverzeihlich dumm sein. Man kann eine Dame sein und sich sogar — schlecht kleiden. Jedenfalls kann man eine Dame sein ohne die Spur von Eleganz, ohne die Spur von Geist. Man kann tugendhaft wie ein englischer Gouvernantenroman und nichtsdestoweniger eine Dame sein. Man kann Bücher schreiben und doch eine Dame bleiben, man kann Kinder haben, sogar viele Kinder, und eine Dame sein. Es gehört nicht Geld dazu, und Millionen müssen die Gnade nicht erdrücken. Man darf kokett, sogar sehr kokett sein und kann doch eine unantastbare Dame bleiben.

An eine Dame kann niemand heran. Eine Dame wird sich nichts „vergeben“. Eine Dame wird über ihr Benehmen nie im Zweifel sein. Sie wird aber nichts affektieren, was ihre Wesenheit zu umschreiben dienen könnte. Eine Dame darf Launen und Passionen ver[S. 122]raten. Sie mag versteckt, sogar borniert, bigott, adelstolz, hochmütig, frei und großzügig, leutselig, liebenswürdig, zuvorkommend, mürrisch, schlagfertig, jähzornig, sentimental, melancholisch, unterhaltungssüchtig, ehrgeizig, kindisch sein. Sie kann eine Königin der Mode, sogar eine Zierpuppe, eine Pretieuse, eine Zimperliche (prüde) sein. Sie hat aber keinen Hang zum Snobismus oder — läßt ihn sich niemals anmerken. Sie mag hassen, verachten und spotten, sie wird aber nicht maulen, raunzen, greinen, tratschen und klatschen.

Sie gestattet Schmeicheleien, aber sie glaubt nicht daran. Sie ist nicht laut, aber auch nicht schüchtern. Sie ist nicht grell, aber auch nicht farblos. Sie muß nicht platt und banal, sie kann glatt, schwierig, sie darf sogar ein unauflösliches Rätsel sein. Sie muß nicht das Wort führen, wird es sich aber nicht nehmen lassen. Sie wird nicht „lauschen“, aber beileibe keine Rede halten. Sie wird sich nicht in Szene setzen, sich jedoch niemals übersehen lassen, nie dominieren wollen und doch leise den Ton stimmen. In ihrer Nähe wird man nicht[S. 123] immer Ehrfurcht empfinden, gewiß aber nicht Unverschämtheit betätigen. Man muß sie nicht vergöttern, wird sie aber niemals überhören. Sie wird nicht diktieren, und man wird sich ihr doch fügen. Sie braucht nicht verführerisch, nicht anmutig zu sein, aber sie kann nicht geringgeschätzt werden. Eine Dame respektiert man. Eine Dame kann erwärmen und — abkühlen. Denn eine Dame hat Takt und immer wieder Takt. Dame kann man nicht werden.

Eine junge Dame aus bürgerlichster Familie heiratet einen Vollblutaristokraten und „wird“ Aristokratin —: sie ist es längst gewesen. Aber hätte sie einen Schnittwarenhändler geheiratet, wäre es nicht aus ihr „herausgekommen“.

Die „Dame“ ist nicht an eine Kaste gebunden. Aber nicht in allen Schichten ist ihr Nährboden; unterhalb einer gewissen Sphäre ist der Begriff nicht anwendbar, bleibt die Erscheinung unerkannt. Es ist theoretisch denkbar, wenn auch nicht wahrscheinlich, daß eine Ehefrau, die ihrem Gatten, dem Papierhändler, hinter der Budel hilft oder ihm die Bücher führt, alle Eigen[S. 124]schaften einer Dame besitze, dennoch bleiben sie sozusagen unfruchtbar.

Eine Dame kann sehr gut einen Omnibus benützen, wenn sie nicht in der Lage ist, einen Fiaker zu bezahlen, sie kann in der Küche selbst das Essen zubereiten, das sie ihren Gästen selbst vorzusetzen den anmutigen Stolz besitzt, sie kann eine Gewinn erzielende Tätigkeit entwickeln, Stunden geben, Handarbeiten anfertigen, aber — Kunden bedienen kann sie nicht. Es gibt Damen, die Ammen sind, große Damen sogar (der Säugling ist freilich ein Prinz des Herrscherhauses), es gibt Damen, die den Dienst von Kammerfrauen versehen und sich eine Ehre daraus machen (der Geschmack daran ist Erziehungssache), aber keine Dame wird an einem Schauturnen sich beteiligen oder öffentlich einer sozialethischen Doktrin huldigen, während es hinwiederum vorkommen soll, daß sich unter Schauspielerinnen Damen finden (der Geschmack daran ist — Talentsache).

Die Dame muß durchaus nicht amüsant, braucht aber auch nicht langweilig zu sein. Sie wird den Anspruch nicht verlieren,[S. 125] wenn sie von Vergangenheiten umflüstert und wechselnden Gegenwarten geneigt ist. Dieser Punkt ist freilich einigermaßen heikel. Aber nicht die Brille eines Obmanns des Vereins zur Hebung der Sittlichkeit wird man aufsetzen dürfen, um hier klar zu sehen, sondern es gilt, Ohren zu spitzen, die das Gras über Begebenheiten wachsen zu hören begabt sind. Es gibt eine tönerne Schale des Begriffs „Dame“, die tausend Risse, und nicht nur feine Haarrisse, sondern recht derbe Sprünge aufweisen kann, ohne zu zerscherben. Man wird innerhalb eines Gesellschaftskreises aus tausend Gründen der Eitelkeit, Rücksicht, Klugheit die Augen mit Gewalt verschließen Tatsachen gegenüber, die der Mund nicht nur nicht in Abrede zu stellen versucht, sondern sogar ganz behaglich wiederholt. Und es gibt „Damen“, die, zum gesellschaftlichen Tod verurteilt, ein hohes Alter der äußern Reputation erreichen. Es gibt „Damen“, über die man sich nicht genug entrüsten kann und denen man doch nicht ernsthaft auf den leichten Fuß zu treten wagt oder imstande ist. Die moralische Heuchelei verträgt sich mit fader[S. 126] Prüderie ebensogut wie mit der (angesagten) Inkognito-Debauche. Auch ist der Ehebruch zum Beispiel, wenn er selbst in Permanenz erklärt ist, nach der strengen Auffassung maßgebender Kreise noch lange nicht so verdammenswert als die eklatante Mißheirat, und der Gatte, der eine „unmögliche“ Frau in die Gesellschaft bringen wollte, die — Maitressen duldet, würde bald in Zweifel ausschließender Deutlichkeit an die Naivetät seines ungehörigen Vorgehens sich erinnert finden.

Die Dame des Hauses ist die Seele des von ihr geladenen Kreises. Sie weiß Harmonie hervorzuzaubern aus ungefügen Elementen, weiß sie zu erhalten. Nichts ist bezeichnender für ein Haus als seine Geselligkeit. Nicht so sehr die Personen, die man heranzieht oder die sich einfinden, als ihre Stimmung. Das ist, so wenig man auch dem Hausherrn seine Rolle verkürzen mag, den ihm gebührenden Einfluß mindern will, Sache der Dame. Daß der Stil ihres Hauswesens sie ausdrückt, ist selbstverständlich. Die Dame des Hauses lebt in ihrer Tischordnung, ihrem Gerät, der Verteilung der[S. 127] Lichteffekte. Aber die Dame belebt nicht nur stumme Mittel, sie dirigiert lebendige. Niemals wird eine Dame ein Stocken des allgemeinen Gesprächs oder eine Stauung in der Zirkulation der Mitglieder ihres Kreises dulden. Niemals werden Längen eintreten, niemals wird ein unpassendes Presto-staccato die Leistungsfähigkeit ihres Orchesters vor der Zeit schwächen dürfen. Sie wird sie vielmehr zu beleben trachten, wird eine Art von Rausch in Permanenz erhalten, der beschwingt, aber ja nicht lastende Ernüchterung zurückläßt. Gesellschaften, denen man mit Gewissensbissen nachhängt, sind schlecht geleitet gewesen. Es ist Sache der Dame, die ihr zur Verfügung gestellten Talente nicht abzubrauchen. Sie muß zu gruppieren, nicht nur Situationen, sondern auch Skalen der Beziehungen zu schaffen wissen. Und darum muß sie zuerst unbedingt ihrer selbst sicher sein. Worin besteht die Sicherheit des Benehmens, das die Dame auszeichnet? Es sind nur Züge anzudeuten, die man nicht etwa summieren darf. Summen sind immer brutal. Sicherheit ist nicht mit Ungeniertheit zu verwechseln. Man kann geniert sein durch[S. 128] einen Lümmel, der sich im Eisenbahncoupé Rock und Schuhe auszieht, durch einen Roßknecht, der im Freien badet, durch einen Trunkenen (es muß nicht gerade ein Trunkener sein), der an der Hauswand sein Wasser abschlägt, durch eine Chansonette, die sich in gewagten Entblößungen gefällt. Es ist außer Frage, daß solche „Gêne“ hier nicht gemeint ist. Das Befangensein, das durch gesellschaftliche Situationen hervorgerufen wird, denen man sich nicht gewachsen fühlt, aus Mangel an gesellschaftlicher Bildung, ist der Makel, der die Kleinbürgerin von der Dame unterscheidet.

(Das große Kapitel der schlechten Manieren überschlagen wir.) Aber nicht nur die Befangenheit, auch, ja noch mehr fast die — Unbefangenheit ist hier von Übel.

Die Leute, die es „reizend“ finden, wenn ein Negerfürst die Mundschale austrinkt, halten solche „Unbefangenheit“ mit Recht bei übertünchten Europäern für anstößig.

Eine Frau, die nur Herrn bei sich sieht, ist keine Dame. (Sie mag eine gewesen sein.) Eine Frau, die nur Frauenbesuch empfängt, muß aber darum noch keine Dame sein. Im Gegen[S. 129]teil: dies ist sogar ein (immerhin grobes) Zeichen für den Mangel der den Begriff konstituierenden Eigenschaften. Frauen, die miteinander „verkehren“, während die Männer einander nur im Kaffeehause oder „Geschäft“ begegnen, sind keine Damen. Solcher „Stil“ schließt die Neigungen einer Dame von vornherein aus.

Man kann sehr zurückgezogen leben und sogar eine große Dame sein (obwohl dies einigermaßen schwer ist, jedenfalls muß man, um den Titel mit Fug behaupten zu dürfen, eine Zeitlang wenigstens — nicht zurückgezogen gelebt haben).

Die „große“ Dame ist vor allem Aristokratin. Zu ihrer „Größe“ gehört nicht nur ein großer Titel, sondern auch eine lang nachflutende Schleppe von Ahnen. Sie ist in glänzenden Geldverhältnissen, und sie weiß sie großartig zu nutzen. Man irrt, wenn man in der Gattin eines hohen Funktionärs mit historischem Namen bereits eine große Dame zu erblicken wähnt. Nicht die Stellung, nicht der Name, nicht der Reichtum, sondern alles zusammen ergibt die große Dame — und dies erst dann, wenn[S. 130] sie in ihrer Persönlichkeit die Musik dazu hat. Man „wird“ ebensowenig eine große Dame, wie man ein Grandseigneur „wird“. Aber es ist sehr gut denkbar, daß man eine große Dame „gewesen ist“ und aufgehört hat, es zu sein. Da man weder Persönlichkeit noch Namen aufgeben kann, wäre der Schluß naheliegend, die Verwandlung bloß auf das materielle Moment zu beziehen; und sicherlich, wenn eine große Dame ihr Geld einbüßt, ihre Besitzungen verkauft, ihre Juwelen verpfändet, ihre Pferde losschlägt, ihre Lakaien entläßt, ist sie bereits depossediert. Aber doch liegt es nicht in diesen aufzählbaren Fakten, sondern in ihrer „Melodie“. Man kann nicht sagen, diese und jene Verengerung des gewohnten Rahmens sei die Grenze, hinter der sich die Züge der Erscheinung plötzlich verwandeln. Sonst wäre es ja denkbar, daß jemand sein ganzes Leben — sich an die Grenzbalken lehnte. Und es ist nicht denkbar, denn eine solche angelehnte große Dame ist nur für Kurzsichtige noch „groß“.

Wer sich unter einer „großen“ Dame die sogenannte majestätische Erscheinung vor[S. 131]stellt, wird höflich ersucht, seinen Portiersstandpunkt nicht zur Diskussion beisteuern zu wollen.

[S. 133]

EINIGES AUS ANDREAS VON BALTHESSERS LEIDER NICHT GESAMMELTEN SINNSPRÜCHEN UND GLOSSEN

[S. 135]

I

Ich nenne mich, wenn das große Wort erlaubt ist, — für große Worte sollte man immer um Verzeihung bitten und dazu lächeln — „stolz“ einen Dilettanten. Nur der Dilettant ist der Freie. Alles, was Uniform trägt (ich meine die unsichtbare; die sichtbare ist — eine Sichtbarkeit, eine Äußerlichkeit, im Grunde genommen eine Bequemlichkeit, oft sogar, was freilich so verallgemeinert als Ironie wirkt, — ein Zeichen der Freiheit), alles, was Uniform trägt, ist irgendwie eingeschworen. Über Eingeschworene und Eingeborene hat der Reisende das Übergewicht der Leichtigkeit. Eingeborene bleiben zurück.


Zu den Aufdringlichsten gehört ein Mensch, der sich rechtfertigt.


Das Geheimnis der guten Beziehungen ist das Vermögen, sich außer allem Bezug zu erhalten.


Der große Meßmer hat ein halbes Jahr lang ohne Worte gedacht. Die meisten Menschen[S. 136] behelfen sich ein Leben lang mit Worten ohne Gedanken.


Das Gesetz der Welt ist das Gleichgewicht. Im Körperlichen, Moralischen und Geistigen rührt alles Unbehagen von seinem Verluste her. Tragisch heißen Menschen, die ihn eintreten fühlen und vergeblich dagegen ankämpfen. Moralisch ist jedes Streben, es wieder zu gewinnen. Die japanischen Akrobaten erlösen die Seele des moralischen Zuschauers auf Augenblicke von ihrem Leiden. Auch die beseligende Wirkung der vollkommenen Schönheit beruht auf jenem Gesetze.


Es gibt Leute, die so selten wahre Affekte haben, daß sie ihre seltnen erst posieren müssen, um daran glauben zu können.


Verträglichkeit ist ein Zeichen der Gleichgültigkeit.


Gegensätze soll man nicht auszugleichen trachten, sondern produktiv gestalten.

[S. 137]


Ein einheitlicher Mensch sein, heißt Gegensätze in sich zu erhalten wissen.


Viele Menschen lernt man auch in jahrelangem Verkehr nicht kennen, weil sie sich immer „geben“, niemals „sind“.


Der vornehme Mensch empfängt ohne Bedenklichkeit.


Geben kann man lernen, nehmen muß man können.


Rasse ist ein andres Wort für Gleichgewicht.


Man sieht den Menschen, wenn man ruhiger geworden ist, sich geistig-seelisch „gesetzt“ hat, gar so leicht hinter ihre Masken, und wenn man überdies nicht mehr jung genug ist, sich hinterdrein darüber zu ärgern, daß man immer wieder versucht gewesen war, sich täuschen zu lassen, wird eine Art von stillem Ekel das Ergebnis dieser unwillkürlichen Erfahrung abgeben. Auch ich habe, gesteh ich’s nur, einst geschwärmt für andre Menschen, andre Meinungen, für neue, noch nicht erhörte Dinge. Das war die Zeit[S. 138] der geistigen Pubertät, — die bei manchen Menschen niemals endet. Bei mir hat sich der Staub aufwirbelnde Frühlingssturm sehr bald, vielleicht zu bald gelegt. Die ironischen Mundwinkel sagen „zu bald“. Zwei, drei grobe Enttäuschungen — für mich grob, für robuster Fabrizierte wären sie vielleicht gar nicht in Betracht gekommen — haben genügt, mich zu ernüchtern. Enttäuschungen hinterlassen einen starken Schweißgeruch. (Wer beschämt wird, fühlt den Schweiß am ganzen Körper hervorbrechen.) Man schreitet schnell hindurch in reinere Atmosphären. Heute täusche ich mich so leicht nicht mehr. Auch bin ich mir meiner eigenen Schwächen und Unwahrheiten — jeder Mensch hat deren nur allzuviele; die wenigsten gestehen sie sich ein (andern sie einzugestehen, ist ganz und gar unnötig) — allzusehr bewußt, als daß mir die der andern entgehen könnten: sie gleichen einander alle ja auffallend. Anderseits gibt es Irrtümer, die man lieb hat, lieb behält. Man weiß, es sind Irrtümer, man hat sie auch längst von sich abgetan, aber man sieht sie noch immer gern — an andern.

[S. 139]


Takt ist unhörbare Harmonie.


Takt ist richtige Empfindung, Regel erstarrte Übung.


Geist ist wenig, Tiefe ist alles.


Jede große Tiefe hat eine spiegelnde Oberfläche.


Erziehen ist eine Aufgabe für Musiker. Der Erzieher soll der Dirigent der Seele sein. Unmusikalische Menschen taugen nicht zu Erziehern. Bildung kann man einem Kaffer vermitteln, erziehen heißt Vorhandenes entwickeln.


Rasse ist Erziehung in Permanenz.


Es gibt viele „Wahrheiten“, die den Umgang mit der Vernunft als einen zu schlechten Verkehr ablehnen.


Wenn man sich über die Dummheit der andern nicht aufregt, sondern dazu lächelt, nennen sie einen herzlos.


Diplomat sein, heißt den andern nicht zum Bewußtsein kommen lassen, daß man sie ge[S. 140]täuscht habe. Die meisten Diplomaten glauben ein Übriges getan zu haben, wenn sie „beobachten“ und über Beobachtungen berichten. Dann wäre, theoretisch gesprochen, eine Tarnkappe das unentbehrlichste Requisit des Diplomaten. Nach demselben Trugschluß könnte die vervollkommnete Photographie in Farben den — Maler ersetzen.


Man erzählt von einem erschrecklich raffinierten Kirchenfürsten, der dem Besucher im vollen Sonnenlicht seinen Platz angewiesen habe, während er selbst im Schatten verblieben sei, um unbeobachtet beobachten zu können. Ich vermag leider nur zu konstatieren, daß der schlaue Kirchenfürst keine Manieren besessen haben muß. Sicherlich hätte ich in dieser Situation meinen Fauteuil vom blendenden Licht gelassen abgerückt.


Etwas, was die „Gebildeten“ in ihrem gefrornen Dünkel nicht ahnen, ist die unsichtbare Gemeinschaft der Gläubigen an den heiligen Geist und ihre Hierarchie (Stufen und Grade der Nähe).

[S. 141]


Wer kein Gehör hat, wird unfehlbar von Freiheit und Gleichheit deklamieren, sobald er sich zu Menschen einer höhern Tonart verirrt hat.


Auf dem Glatteis der schönen Sitte muß alle Prinzipienflegelei Arme und Beine brechen.


Wer sich bewegen kann, ist nicht verpflichtet, Meinungen zu widerlegen.


Meinungen sind ein Auskunftsmittel für Leute ohne Gehör.


Es gibt Leute, die sich dafür entschuldigen, daß sie auf der Welt sind. Und immer wieder findet man es wirklich — unverzeihlich.


Wer nicht fühlen kann, muß hören, was andre sagen.


Wer sprechen gelernt hat, glaubt schon reden zu können.


Man kann ein durchaus ehrlicher Mensch sein und doch ganz unmaßgeblich. Man[S. 142] kann Staubfäden zu klassifizieren imstande sein und braucht deshalb doch kein Gesicht zu haben.


Fülle des Herzens, der Goethesche „Mittelpunkt“ („Glüh’ entgegen...“). Die „Grenze“ zwischen der Albernheit des Enthusiasmus und seiner hinreißenden flammenden Schönheit ist keine Linie, sondern ein halber, ein Achtel-Ton.


Es sind nicht gerade die Verständigsten, die alles „verstehen“ wollen.


Das kollernde Bleistück der Bürgerlichkeit läßt einen der eigenen Genialität vertrauen.


Constantin Somoffs Theaterzettel für das kaiserlich russische Hoftheater: russisches Rokoko, das entzückendste. Puschkins Novellen. Sein eleganter Tod. Und die plumpe Komödie der „modernen“ Konstitution. Druckerschwärze, Petroleumlampen, Schnaps, staubige Röhrenstiefel über Fußlappen.

[S. 143]


Die geniale „Idee“ der katholischen Kirche. Ihre erlauchten Symbole. Die göttliche Gnade und ihre geadelten Träger. Dagegen Pastorenliberalismus, Kompromißlerschweifklemmerei.


Choderlos de Laclos, Fragonard, Boucher, Miniaturporträts, Lawrence, Beardsley — reimt das auf fraternité, égalité usw.? Sumpfgegend der modernen „Kultur“. Hügelzüge von Abfall und Scherben. Garküchengeruch. Und „unentwegte“ Dickhäuter in numerierten Tümpeln watend.


Ein glücklicher Bräutigam ist dem „Nächsten“ ebenso langweilig wie ein verzweifelter Witwer. — Zwischen zwei „Nächsten“ dehnt sich die unabsehbare Fremde.


Takt ist im Grund nur ein andres Wort für — Herz.


Gutmütigkeit ist nicht mit Herz zu verwechseln.


Es kann einer das Herz „auf dem rechten Fleck“, aber eben nur dort, nicht — überall haben.

[S. 144]


Gourmandise ist ein Zeichen von feinen Sinnen. Der Gourmand ist nichts weniger als ein Schlemmer. Er ist der „Eßkünstler“. Ich kenne Leute, die in ihrem langen Fresserleben noch niemals den Genuß des Essens empfunden haben.


Es gibt Menschen, die sich selbst verhöhnen, um ganz zu bleiben oder vielmehr um sich selbst ein Ganzes vorzustellen.


Bornierte Menschen soll man nicht widerlegen wollen. Widerspruch ist immerhin ein Zeichen von Anerkennung.


Man erkennt den Philister daran, daß er niemals um Gründe verlegen ist und immer Zwecke fordert. Der Dilettant ist der unbegründet Zwecklose.


Das (unausgesprochene) Ideal des „modernen“ Menschen ist seine „Steigerung“ zur Maschine. Man teilt die nützlichen Mitglieder der Gesellschaft — in Funktionäre ein.

[S. 145]


Es klingt heute schon wie ein Märchen, daß es Völker, Kulturen gegeben habe, die Organismen vorstellten.


Symptomatisch für die Kultur der Gegenwart ist die Vervollkommnung der Surrogate.


Wenige Menschen wüßten sich anders denn durch ein Legitimationspapier zu legitimieren.


Visitenkarten sind oft das Einzige, was von einem Menschen „aussagt“.


Nimm dem Menschen die Pose (wie man, als Vorsehung auf den Wolken thronend, dem Ahnungslosen zum Beispiel — ein Lieblingsgedanke des unter dem Geschwätz der Nachbarn Leidenden — einen bestimmten Vorrat an Worten abgezählt zumessen könnte: plötzlich ginge ihm, wenn er nicht haushälterisch mit seinem Besitz umgegangen wäre, das letzte Wort aus: er schnappte wie ein Fisch und klapperte im Leeren wie die Schatten Homers), nimm dem Menschen[S. 146] die Pose: er wird verwelken, verkümmern, eingehen, absterben. Was ist Alexander, der Asien Tribut auferlegt, gegen einen Bureauchef, der seinen Hilfsarbeitern den Urlaub mit der großen Papierschere beschneidet! Ratsch! Zwei Tage ringeln sich im Staube. Diesem Machtbewußtsein gegenüber kann nur — der Riese Prokrustes standhalten oder sonst etwas Mythisches.

Das erste Gesetz der Sozietät lautet: Du mußt dir in irgend einer Hinsicht wichtig dünken!


Es gibt Leute, die sich geehrt fühlen, wenn man sie verkennt, in schmeichelhafter Weise verwechselt.


Es gibt Leute, die gern „leutselig“ danken. Sie danken oft, ehe sie gegrüßt werden.


Die Menschen sind so leicht zufrieden gestellt. Sie müssen nur wissen, was einer ist, z. B. er ist ein Staatsanwalt, ein Millionär, ein Dramatiker. Das genügt.

Und ist es denn im allgemeinen anders? Begnügen sich die Menschen nicht überhaupt[S. 147] mit Benennungen? Sind die Worte, mit denen wir uns „verständigen“, nicht auch nur „Benennungen“ „abgekürztes Verfahren“?


Der Wahnsinn des „Fortschritts“ zertrampelt die nährenden Wurzeln der Vergangenheiten.


Unter „Fortschritt“ verstehen die meisten — unbewußt — die Unfähigkeit, Wurzel zu fassen.


Das Vorhandensein unwürdiger Repräsentanten erweist die Lebensfähigkeit einer Organisation.


Man hört heute immer wieder von Festversammlungen. Und doch kennt diese Zeit nur — angesagte.


Nicht alle, die Bücher schreiben, haben Bücher — gelesen.


Wer ein Buch gemacht hat, meint, über — Menschen urteilen zu können.


Der Kabarettist, der seine ernsthaften dichterischen Erzeugnisse vorn Podium herab[S. 148] vorträgt, fühlt sich mir überlegen, der ich ihm, Sekt trinkend, zuhöre (oder mit meinem Nachbar plaudere). Mein Nachbar fühlt sich dem Kabarettisten überlegen, der seine ernsthaften dichterischen Erzeugnisse vom Podium herab vorträgt, während er, der Nachbar, Sekt trinkt und ihm zuhört (oder mit mir plaudert). Ich fühle mich meinem Nachbar überlegen, weil er sich dem Kabarettisten überlegen fühlt, und fühle mich dem Kabarettisten überlegen, weil er sich mir und meinem Nachbar überlegen fühlt... Eine Frage: Würde ich mich als Kabarettist einem überlegen fühlen, der mir, Sekt trinkend, zuhörte, während ich meine ernsthaften dichterischen Erzeugnisse usw.?


Kostümierte Affekte sind Snobismen der Seele.


Der unrettbare Kleinstädter als „Weltmann“: es gibt kaum etwas Kläglicheres. Aber immer wieder finden sich Leute, denen auch er imponiert. Und Literaten schreiben auf Grund solcher Eindrücke „Bilder aus der Gesellschaft“.

[S. 149]


Der Bauchredner, der seine Puppen auf den Knieen hält und mit peinlich wirkender Gewaltsamkeit den Verblüffer spielt — für Unteroffiziere und Kindermädchen: ein Bild für manchen großen Mann unter den heutigen Literaten.


Es gibt eine Übergangsperiode im Leben, die man mit dem Wort altklug nicht übel bezeichnet. Ein großer Teil unsrer Literaten kommt über dieses kindische Stadium niemals hinaus.


Nur der Leser und Hörer heißt mir ein mit Urteil begabter, der keinerlei Doktrinarismus, auch nicht dem — revolutionären huldigt.


Wir leiden heute an Autoren, die mehr können, als sie — sind.


Es ist ein großer Mangel der deutschen Literatur, daß ihr das Weltmännische abgeht.

Der deutsche Schriftsteller „übt den schriftstellerischen Beruf aus“.

[S. 150]


Unsre bessere Literatur riecht nach ungelüfteten Stuben, die schlechtere nach dem Kaffeehaus.


Unter literarischen Snobs muß man den Dandy hervorkehren. Das ist die einzige Rettung gegen die üble Ausdünstung dieses Milieus. Man macht sich gleichsam durch eine Schlangenhaut unempfindlich.


Nur der heißt mir ein Redender, ein Schreibender, der jedem Wort neues Leben einflößt, sein Leben.


Schreiben ist Unterwerfung des Wortes. Die größten Schöpfungen sind die, deren Dasein das Wort überhaupt vergessen macht, Schöpfungen gegen das Wort.


Die meisten Schriftsteller schreiben im Taglohn des Wortes, eines Chefs, den sie niemals zu Gesicht bekommen.


Stil im Schreiben (wie Geschmack im Leben) ist nur Vorläufigkeit, nicht Erfüllung. Größe bedarf keines Erkennungszeichens.

[S. 151]


Er ist wahrhaftig schrecklich, dieser gute Ton, der es einem verbietet, das jeweils einzig richtige Wort anzuwenden. Bin ich wirklich verpflichtet, bis ans Grab die Komödie der Höflichkeit mitzumachen?

Wie unerhört ist die Anmaßung eines Herrn X-Y, der „auch“ Bücher schreibt (hätt’ ich es doch nie getan!), einen Menschen, der wahrlich nichts dafür kann, um deswillen als „Gleichgesinnten“ zu begrüßen. Sie halten’s für Pose, diese Armseligen, wenn ich verlauten lasse, daß mich Hundeausstellungen weitaus mehr interessierten als die „Anschauungen“ des „gleich“- oder andersgesinnten Herrn Y-Z über Ibsen oder Meunier.


Schlechte Manieren werden nur Leuten verziehen, die sie nicht nötig hätten.


Wer „fürstliche“ Trinkgelder gibt, bekundet ein ängstliches Bewußtsein mangelnder Selbstachtung.


Es gibt ernsthafte Männer, die ihre „geistigen Interessen“ nicht mit ihrer Frau teilen, wohl aber — mit dem „Stammtisch“.

[S. 152]


Es gibt naive Gemüter, die von Zeit zu Zeit ausspucken und sich immer wieder dafür entschuldigen, — daß sie keine Manieren haben.


Damen soll man nur dann voll anschauen, wenn sie lächeln. Dann verlangen sie es.


Ich empfinde es immer als Anmaßung, wenn ein Jemand zu mir „auf Wiedersehen“ sagt. Es ist ein Wunsch, der mit der Gegenseitigkeit rechnet.


Der Gesellschaftston legt den Zwang auf, zwanglos zu erscheinen. Wer das Bewußtsein der Tatsache verloren hat, daß dieser Zwanglosigkeit Zwang zum Grunde liegt, heißt ein Gesellschaftsmensch.


Eine Frau, die weiße Wollstrümpfe und dazu — Zugstiefeletten trägt, sollte man um einen Fuß kürzer machen dürfen.


Germania in Zwirnhandschuhen und Konfektions-„Nouveautés“: ein Vorwurf für einen[S. 153] naturalistischen Bildner. Nicht zu vergessen die höchst praktischen, „der Touristin unentbehrlichen“ mechanischen Klapp-Rockschürzer.


Wenn einer eine Reise tut, glaubt er davon erzählen zu dürfen!


Zu rechter Zeit aufhören, heißt genußfähig sein. Armer Teufel, der ein bezahltes Gericht, eine halbgeleerte Flasche Sekt nicht — stehen lassen kann, ohne Reue zu empfinden.


Fortschritt, Kulturkampf, Freimaurertum, Emanzipation der Frau usw.: armselige Selbstgefälligkeit taubstummer „Weltbürger“, die sich nur durch eine konventionelle Gebärdensprache miteinander „verständigen“ können.


„Von vornherein“ miteinander per Du sind bei uns in Österreich die Aristokraten und — anderseits — die Fiakerkutscher, „Wasserer“, Taglöhner. Oben und unten die — Selbstverständlichen. Die Mittelklasse: Professoren, Beamte, Kaufleute sind auf konventionellem Fuß miteinander. Sie haben einander immer[S. 154] nur etwas zu sagen, können nie auf freiem Fuß miteinander verkehren wie die Aristokraten und — die Fiakerkutscher.


Die geschmackvolle Geselligkeit als unbewußte Äußerung kulturgesättigter Organisationen ist heutzutage fast gänzlich ausgestorben. Es gibt einen traditionellen Stil der großen Welt, der eine gewisse natürliche Grazie hat, aber leeres Arabeskenspiel bleibt, wenn er nicht mit Unsittlichkeit gewürzt ist. Es gibt ferner einen Kompromißstil der verschiedenen Zwischenreiche, der sogenannten „zweiten Gesellschaften“, in denen man sich relativ am besten unterhält, weil viel „Abwechslung geboten“ und — meist recht gut gegessen wird. In diesen Kreisen findet man auch hin und wieder versprengt einen harmlosen Menschen, dem diese mühsamen Lustbarkeiten wirklich noch ein Vergnügen zu bereiten imstande sind.

Die große Welt hat ihre eigenen Gesetze, hinter denen der Mensch verschwindet. Aber wenn diese Bande einigermaßen nachlassen — in der intimen Häuslichkeit —, weiß ich überhaupt nichts, das reizender wäre. Hier[S. 155] herrscht Freiheit, Maß, Sicherheit, Ruhe. Die bürgerlichen Kreise sind sehr mannigfacher Art, aber fast durchaus unerfreulich. Entweder wird ein Stil kopiert, oder es ist ein Stil im Begriffe, verlustig zu gehen.

Die größte gesellschaftliche Roheit herrscht in den Kreisen der „ausübenden“ Künstler aller Art; vor allem mangelt das, was jeder höhern Geselligkeit den anmutigsten Reiz verleiht: Achtung vor dem Alter und den Kindern und Ritterlichkeit und Dezenz gegen die Frau.


Die Prüderie der hohen Gesellschaftskreise, die Heuchelei ist, kann man sehr leicht parieren: man vermeide Verstöße. Meist klagt der über Prüderie, der es an Takt ermangeln läßt.


Ein Blick in den Zuschauerraum eines modernen Varietétheaters, der dann zur Bühne gleitet, wo Neger brüllend Cake-walk tanzen oder ein bunt gekleideter Radfahrer, auf einer elektrisch bewegten Drehscheibe gegen die Drehrichtung tretend, seine Lunge vor biertrinkenden Handlungsreisenden aufbraucht,[S. 156] sollte den Schwärmern für die Kultur des konstitutionellen Europa Erleuchtung zu verleihen imstande sein über die unrettbare Barbarei dieser ordinärsten aller „geschichtlichen Epochen“.


Es ist ein großer Unterschied zwischen schäbiger Eleganz und eleganter Schäbigkeit. Diese ist ein rührendes, Hochachtung einflößendes Zeichen des Widerstandes der Rasse gegen das herbe Schicksal, jene der unwiderlegliche Beweis abenteuerlicher Gemeinheit.


Der gesellschaftliche Snob ist ein Held von großer Bravour. Er erleidet täglich Demütigungen seiner Eitelkeit, die bis aufs Blut gehen. Aber er verschmerzt sie immer wieder und erklimmt auf Händen und Füßen die nächste Etappe.


Es gibt Menschen, die ihre unerbetenen Einladungen so lange zurückweisen lassen, bis man neugierig wird, den Träger einer derart jedes erlaubte Maß übersteigenden[S. 157] Schamlosigkeit zwischen seinen vier Wänden kennen zu lernen: dann ist ihr Zweck erreicht.


Wenn sich junge Leute aus guter Familie in einem Hause, wo sie zu Gast sind, ungezogen benehmen, ist immer das Haus daran schuld. Der besterzogene Mensch, gar ein junger, wird übermütig, wenn er sieht, daß er sich alles erlauben darf, und versucht aus Trotz gegen diese hündische Observanz immer von neuem, ob er in seiner Unart nicht noch weiter gehen könne. Es sollte zu denken geben, daß in den Häusern der Snobs und Parvenus gerade die jungen Leute sich am ungezogensten geben, die in ihren Kreisen auf das sorgfältigste den Anstand wahren.


Der typische Vertreter des neunzehnten Jahrhunderts — des Jahrhunderts der Lüge — ist der geadelte „Bürger“. Die Söhne spielen bereits die Aristokraten, und den Enkeln glaubt man es — aus Bequemlichkeit.


Man kann die Menschen nach ihrem sichtbaren Wesen, dem, was ihren natürlichen Stil aus[S. 158]macht, in zwei Klassen scheiden: die einen und die andern. Die einen sind die von der Natur begünstigten, die andern die nichtbegünstigten. Es ist nur ein Glück, daß die Nichtbegünstigten es nicht merken. (Im Grunde gefällt sich eigentlich jeder Mensch, täuscht sich jeder gern über sich selbst, wenn er auch Momente der Selbstbesinnung und Selbstverachtung hat.)

Das „Geistige“ freilich ist ein ganz andrer Einteilungsgrund und scheidet die Menschen in ganz andre Lager.


Wenn man Fragen des gesellschaftlichen Anstands ernsthaft traitiert, rumoren „Freigeister“ gleich über Engherzigkeit. Als ob solche Nadelköpfchen mit der Schlosserzange anzufassen wären! Wer wird sich mit diesen Nichtigkeiten abgeben, deklamiert ein „Großzügiger“.... „Abgeben“? Mit nichten. Sobald derlei Niaiserien mit Gewicht behandelt werden, sind sie auch schon erdrückt. Man kann sie nicht in Paragraphen „erschöpfen“, kann keine Normalien für Anstand herausgeben. Alle solchen Wegweiser und Handbüchlein sind von niederschmetternder Lächerlichkeit.

[S. 159]

Überhaupt hat die Vernunft in solchen Dingen nichts dreinzureden. Sie wird sich da immer sehr schwerfällig, plump und abgeschmackt gebärden. Und ebensowenig hat die Ethik mit den zierlichen Sächelchen zu schaffen. Beileibe auch nicht das berühmte „Gemüt“. Empfindsamkeit in seinem Achtzehnten-Jahrhundert-Sinn schon viel eher. Es führt eine vielfach verschnörkelte Linie vom Pretieusentum über die Empfindsamkeit zum Chik. Der Chik aber ist nicht wie ein Stück Skulptur aus einer Barockdeckenmalerei „täuschend“ hervorgezerrt (sehr handgreiflich „gezerrt“), sondern eine Arabeske im Material des gesellschaftlichen Anstandes, einer Welt der „andern“ Dimensionen, ebensowenig an der Ethik wie die Ethik am Dienst-Reglement zu messen. (Die Gerade und die Kugel — zwei „Welten“.)


Unverkennbar ist die Gleichmäßigkeit der Temperatur im gesellschaftlichen Verkehr der mehr als „Wohlgeborenen“ nicht eine „Geschmacks“frage der leeren „Zeichen“, sondern ein musikalisches Aufeinandergestimmt[S. 160]sein. Ein fremdes Element muß dem Musikalischen sofort auffallen. Stufenweise Fortgeschrittene behalten immer etwas beamtenhaft Rangsklassenhaftes, dessen „ärarischer“ Geruch unaustilgbar scheint.


Gibt es wohl etwas Geschmackloseres als ein Festmahl, veranstaltet von Frauen zu Ehren eines Sexualethikers?


Das „arrogante Gesicht“ vor Portiers und Kammerdienern. Man weiß darum, lächelt, höhnt sogar darüber, spielt aber doch immer wieder die mediokre Komödie. Und die Leute brauchen das. Das „liebe Gesicht“ des jungen unter ältern Kollegen. Die charmante Bereitwilligkeit. Alles Humbug natürlich, aber sowohl erzieherisch als wirksam ... Das gerührte Gesicht, das ergriffene Gesicht, das nachdenkliche, das blasierte, das unbefangene, naive Gesicht (dieses übrigens äußerst wohlfeil), das dämonische, das faszinierende Gesicht.


„Er ist ein Schwein.“ Schlagende, totschlagende Kürze. Ein Spruch, gegen den es keine[S. 161] Einrede mehr gibt. Wenn einmal jemand irgend wen vor andern so gekennzeichnet hat, dann ist kein Beschönigen mehr möglich, kein Abmildern, geschweige denn ein Zurücknehmen. Das „Schwein“ deckt ihn ein für alle Male zu. Den Unglückseligen, der uns einmal irgendwo als „Schwein“ vorgestellt worden ist — in absentia natürlich —, kann jedermann als „Schwein“ weitergeben.

Wer ist ein „Schwein“? Besser: wie wird man ein „Schwein“? Nicht der Zotenjäger ist gemeint, nicht aus Studentenbierkneipen stammt das Wort, das wie ein Peitschenhieb über einer moralischen Physiognomie sitzt, diese „soziale“ Bezeichnung hat hochgebornen Ursprung und verliert sofort an Gewicht, wenn sie außerhalb ihrer Sphäre angewendet wird. Es gibt Leute, die einfach niemals „Schweine“ werden können. Das verächtliche Wort will unter Gentlemen besagen: Der und der ist gänzlich „unmöglich“.

Es ist mancher längst ein „Schwein“, ohne es zu wissen, wenn er’s auch — ahnt. Aber erst der erfüllt den Begriff „voll und ganz“, wie die Festredner mit Vereinsabzeichen[S. 162] sagen, der genau weiß, daß er durch diese Handlung, jene Unterlassung ein „Schwein“ geworden ist. Manchmal versucht er es noch, sich wieder an die Oberfläche zu bringen. Es geschieht zitternd. Der Anblick eines einzigen Menschen, bei dem er „Wissen“ voraussetzt, macht seine Kräfte schwinden. Endlich gibt er es auf, flieht in die böhmischen Wälder der Vogelfreien, außerhalb der Gesellschaft, fristet unter Masseusen und Revolverblattreportern ein gasflammenübergossenes scheues Dasein, wird etwa, wenn er noch Ehrgeiz besitzt, eine — Nachtkaffeegröße. Aber sein Herz ist gebrochen. Oder er avanciert zum Lumpen, wird frech, selbstbewußt-schamlos. Und vielleicht kommt er noch als „Idealist“ wieder ans Tageslicht und eifert gegen Klassenvorrechte.


Warum schlagen mich die Kohlenträger nicht tot, denen ich auf der Treppe begegne, wenn ich in Lackschuhen mit der Zigarette um halb elf in mein Bureau im Auswärtigen Amt spaziere? Ich könnte es ihnen nicht verdenken. Vorher aber würde ich[S. 163] mich doch wahrscheinlich noch zu rechtfertigen versuchen: Meine sehr geehrten Herren Totschläger, wir haben nämlich wirklich so späte Bureaustunden im auswärtigen Amt.


Die sozialen Differenzen äußern sich vorzüglich in manuellen Verrichtungen, die der eine Teil ebenso selbstverständlich von dem andern beansprucht, wie dieser sie ihm ohne Bedenken leistet. Die Utopisten einer Sozialisierung der Gesellschaft meinen diese Differenzen — die das Unbewußte in der Organisation der menschlichen Verbände ausmachen — dadurch auszugleichen, daß jeder jeweils sein eigener Herr und Diener zugleich, wenn auch nicht gleichzeitig zu sein hätte. Es soll also alles bewußt, alles Fundament Oberfläche werden. Als ob ein Bau ohne verdeckte Basis möglich wäre.


Kriege haben nur zwischen Rassen Sinn. Kriege zwischen „Begriffen“ sind sinnlos. Verständlich sind auch Sprachen- und Religionskämpfe, aber auch sie sind nicht so tief organisch begründet wie Rassenkämpfe, Rassenverfolgungen, Rassenkriege.

[S. 165]

VOM ARISTOKRATISCHEN

[S. 167]

W

Was ist das Aristokratische? Eine gewisse Leichtigkeit einerseits, eine gewisse Gewichtigkeit anderseits. Nicht mehr. Äußerlich wohl auch ein sozusagen charakteristisches Gepräge, ein unverkennbarer Habitus. (Aristokratische Maler: Van Dyck, Lawrence.)

Das Aristokratische an einer Frau ist eine schamhafte Freiheit. Grobsinnige Beurteiler wollen es auf gewisse exzentrische Manieren reduziert wissen, die jede Kokotte aufbringt. Man verwechselt da wieder einmal die Frechheit mit der Freiheit. Auch nicht wie man ißt, geht, sitzt, reitet, spricht, sich kleidet usw., nicht eine Summe, sondern das in sich selbst geschlossene runde Ganze ist das Wesentliche. „Aristokratie des Geistes“ sei hier energisch beiseite geschoben. Dieses von „Opponenten“ aufgebrachte liebliche Schlagwort verbreitet einen ranzigen Vernunftgeruch. Liberalismus und Doktrinarismus überhaupt haben in diesem Gebiet der Musik aber auch gar nichts zu schaffen. Das Aristokratische ist eine Tonart, kein Programm.

[S. 168]

Aristokraten sind komisch, wenn sie sich ernsthaft geben, und können vor dem Ehrfurchteinflößenden eine frivole Auflehnung gegen das wider Willen Imponierende sich nicht versagen. Sie haben eine Anzahl niemals einer Überprüfung unterzogener Vorurteile, denen gegenüber sie von Zeit zu Zeit eine feierliche rituelle, geradezu hieratische Haltung einnehmen, worauf sie allsogleich, ohne jeden Übergang, in ihren natürlichen leichtfertigen Lebensrhythmus sich zurückfallen lassen. Dieser Rhythmus, in dem sich ihre wohlgebildeten Erscheinungen so fabelhaft zu Hause fühlen, ist das unbeschreiblich Schöne an ihnen. Es ist sicherlich Kultur. Aber man darf, unwiderstehlich angezogen von dieser erlauchten Taktmäßigkeit, nicht übersehen, daß die Kultur der Aristokraten keinerlei geistige Errungenschaften, kaum dumpfe seelische Werte enthält. Ihre Erziehung ist bei aller dem Bürger fremden Freiheit im Lebensstil eine sogar mit Worten (aus Mangel) haushälterische Schablone. Ihre Kinder verlieren die andachteinflößende reine Kindlichkeit früher als die Kinder mancher in Traditionen anmutiger Wohlhabenheit auf[S. 169]gewachsener Bürgerfamilien. Sie sind allzubald dem kindlich unbefangenen Leben und Erleben entfremdet, indem der im Blut sitzende Achtung einflößende Stil der Erwachsenen sie bei der schönen freien großzügigen Familiengemeinschaft, so wie sie nur zu beobachten anfangen, ohne auf Widerstände zu treffen, überzeugt.

Die jungen Leute sind alle frühreif, sie spielen immer ihre kommenden Jahre: wenn sie fünfzehn sind, das achtzehnte, wenn sie achtzehn sind, das zweiundzwanzigste, mit 23 Jahren den Mann von dreißig. Die Mädchen sind dagegen weit über ihre Jahre hinaus jung oder vielmehr kindisch, da ihr Geist nicht geweckt, sondern systematisch im Halbschlaf erhalten wird. Bei den Jünglingen besorgen die sexuell vor der Zeit erfahrenen, nur um weniges älteren Standesgenossen und das timide Benehmen der Hofmeister, als abschreckendes Beispiel, die geistige Erziehung. Die Wissenschaften sind von vornherein ein Deridendum, gut genug für Kandidaten, die nichts Besseres zur Verfügung haben. Die Mädchen werden von einem prädestinierten Gouvernantengeschlecht in einem verhalten[S. 170] kichernden Respekt auf Distanz erzogen. Sie gedeihen alle zu mütterlichen Frauen, die Jünglinge selten zu väterlichen Männern. Ein gebildeter Standesgenosse ist ein mit scheuer Hochachtung betrachteter Fremder von Distinktion. Halbwegs tiefer gehende Bildung — die immer noch oberflächlich genug bleibt — äußert sich zunächst immer in einem äußerst wohlfeilen Demokratismus, der vom geborenen Plebejer mit bedientenhafter Verehrung vor dieser leutseligen Herablassung quittiert wird.

Wenn aber ein Aristokrat echte Seelenbildung genossen und einem gesunden Ingenium einverleibt hat, ist seine geistig-moralische Erscheinung ein kaum übertreffliches Ganze. Die angeborene ergibt mit der erworbenen Freiheit ein wunderbares, ununterscheidbares Durchdrungensein. Und die vom leeren Formalismus der standesgemäßen Bigotterie entbürdete Christgläubigkeit, das dem (vom schalen Liberalismus unrettbar verderbten) Bürgerlichen nahezu unzugängliche große Religiöse an einer solchen harmonischen Bildung ist ein unbedingt Verehrungswürdiges. Wahre „verfassungsmäßige“ Freiheit kann[S. 171] einem bürgerlichen Staat nur ein bedeutender aristokratischer Staatsmann gewähren. Den Schwindel der falschen Freiheit, die verdummende Dogmatik des Zeitenliberalismus durchschaut nur ein großzügiger Aristokrat. Das Ritterliche im Soldatenhandwerk kann nur ein Aristokrat erweisen — unwiderleglich wie alles Natürliche.

Das monarchistische Prinzip kann nur der die Lehnspflicht, die Lehnstreue im Blut tragende Aristokrat aus Überzeugung stützen. Ein dem väterlichen Boden nicht entfremdeter, aus dem geistigen Erleben nicht ausgeschalteter, national und religiös gesinnter Adel ist neben einer schollen- und sprachentreuen Bauernschaft noch immer das Wesenhafte eines festgefügten Staatswesens.

[S. 173]

ANDREAS VON BALTHESSERS UNRÜHMLICHES ENDE

[S. 175]

ANDREAS VON BALTHESSER AN DIE BARONIN DELLA SERRA.

I

Ich habe gestern mit dem kleinen Wartenberg gefrühstückt. Sie wissen, Baronin, daß er Sie sehr verehrt. Er hat mich gebeten, bei Ihnen für ihn ein günstiges Wort einzulegen. Ich entledige mich der heikeln Aufgabe auf diese sicherlich bequemste Weise. Wenn Sie gegen seine Verehrung nichts einzuwenden wissen, wird das der Sache nicht geschadet haben. Ich küsse Ihre Hände.

A. B.“

DIE BARONIN DELLA SERRA AN ANDR. V. BALTHESSER.

„Lieber Herr v. B.! Ihr originelles Briefchen werde ich dem kleinen Wartenberg zeigen. Das soll Ihre Strafe sein. Wenn Sie heute um 6 Uhr bei uns essen wollen, können Sie das Nähere von ihm selbst erfahren.

Nina della Serra.“

[S. 176]

ANDR. V. B. AN DIE BARONIN DELLA SERRA.

„Gnädigste Baronin, Ihrem Befehle nachzukommen, wird mir ein besondres Vergnügen sein. Ein Diner bei Ihnen muß mir mein Leben wert sein.

A. B.“

Zwei Wochen später.

GRAF SERGES WARTENBERG AN ANDR. V. BALTHESSER.

„Ich habe die peinliche Aufgabe, mein lieber Andreas, Dich im Namen einer Dame, die wir beide kennen, zu bitten, Deine Besuche in ihrem Hause einzustellen. Sie hatte geglaubt, daß es genügen würde, wenn sie sich dreimal verleugnen ließe. Nichts für ungut.

Dein ergebener Serges W.“

ANDR. V. B. AN DEN GRAFEN SERGES WARTENBERG.

„Ich nehme nach einiger Überlegung davon Abstand, Deinen freundlichen Brief dem Baron Eugen della Serra einzuschicken, der[S. 177] meines Erachtens dazu legitimierter gewesen wäre als der — Unlegitimierte.

A. B.“

ZEITUNGSNOTIZ.

„In der Reitschule des ....-Instituts hat gestern ein Duell zwischen zwei Herrn der Gesellschaft stattgefunden, das leider einen tragischen Abschluß fand. Herr A. v. B. hat im dritten Gang eine Kugel mitten in die Brust erhalten.“


Im gleichen Verlage erschienen von

Richard Schaukal:

Kapellmeister Kreisler. Dreizehn Vigilien aus einem Künstlerdasein
1906
Giorgione oder Gespräche über die Kunst
1906
Literatur. Drei Gespräche
1906
Meine Gärten. Einsame Verse
1897
Vorabend. Ein Akt in Versen
1902
Von Tod zu Tod und andre kleine Geschichten
1902
Das Buch der Tage und Träume
1902
Pierrot und Colombine oder das Lied von der Ehe
1902
In Vorbereitung: Goltz, Buch der Kindheit. Neuausgabe
1907
Schlemihle. Drei Novellen.
 

Bei andern Verlegern:

Heinebreviarium
1897
Intérieurs aus dem Leben der Zwanzigjährigen
1901
Mimi Lynx. Eine Novelle
1904
Ausgewählte Gedichte
1904
E. T. A. Hoffmann
1904
Wilhelm Busch
1904
Großmutter. Ein Buch von Tod und Leben
1906
Verlaine-Heredia. Nachdichtungen
1906
Eros-Thanatos. Novellen
1906
Die Mietwohnung
1907

Folgende früher erschienene Bücher sind im Buchhandel nicht mehr vorhanden:

Gedichte
1893
Rückkehr. Ein Akt
1894
Verse (1892–1896)
1896
Tristia. Neue Gedichte
1898
Tage und Träume
1899
Sehnsucht. Neue Verse
1900
Einer, der seine Frau besucht, und andre Szenen
1902

Druck von Oscar Brandstetter in Leipzig.