The Project Gutenberg eBook of Sämmtliche Werke 7: Briefwechsel I

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Title: Sämmtliche Werke 7: Briefwechsel I

Author: Nikolai Vasilevich Gogol

Editor: Otto Buek

Release date: December 13, 2017 [eBook #56174]

Language: German

Credits: Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMMTLICHE WERKE 7: BRIEFWECHSEL I ***

Nikolaus Gogol
Briefwechsel

Nikolaus Gogol
Sämmtliche Werke
In 8 Bänden

Herausgegeben
von
Otto Buek

Band 7

München und Leipzig
bei Georg Müller
1913

Nikolaus Gogol

Aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden

Herausgegeben
von
Otto Buek

München und Leipzig
bei Georg Müller
1913

Vorrede

Ich lag an einer schweren Krankheit danieder; schon war ich dem Tode nahe. Da raffte ich meine letzten Kräfte zusammen, die mir noch blieben, benutzte den ersten Augenblick, wo ich mich im vollen Besitz meiner Geisteskräfte befand, und schrieb mein geistiges Testament nieder, in dem ich unter anderm meinen Freunden die Pflicht auferlegte, nach meinem Tode einige von meinen Briefen herauszugeben. Damit hoffte ich wenigstens einen Teil der Schuld sühnen zu können, die ich durch die Wertlosigkeit alles dessen, was ich bisher geschrieben hatte, auf mich geladen hatte, denn meine Briefe enthielten nach dem Urteil derer, an die sie gerichtet waren, weit mehr solche Gedanken, deren die Menschen bedürfen, die ihnen not tun, als meine Werke. Gottes himmlische Güte wandte die Hand des Todes von mir ab. Ich bin beinahe wiederhergestellt und ich fühle mich wieder besser. Dennoch aber empfinde ich, wie schwach meine Kräfte sind, und dies mahnt mich jeden Augenblick daran, daß mein Leben an einem Haar hängt, und nun, wo ich mich zu einer weiten Reise ins Heilige Land rüste, die meiner Seele ein Bedürfnis ist und während deren mir vieles zustoßen kann, fühle ich den Wunsch, meinen Landsleuten beim Abschied etwas von mir zu hinterlassen. So wähle ich denn selbst alles aus meinen letzten Briefen, die ich wieder in meinen Besitz bringen konnte, aus, was sich auf solche Fragen bezieht, die die Gesellschaft gegenwärtig am meisten beschäftigen, lasse alles beiseite, was erst nach meinem Tode Sinn und Inhalt erhalten kann, und scheide alles aus, was nur für wenige von Bedeutung sein könnte. Dazu füge ich noch zwei oder drei literarische Aufsätze hinzu, und endlich lege ich dem Ganzen noch mein Testament bei, auf daß dieses, wenn mich der Tod unterwegs ereilen sollte, als durch alle meine Leser bezeugt und verbürgt, sogleich rechtmäßig in Kraft trete.

Mein Herz sagt mir, daß mein Buch einem wirklichen Bedürfnis entspricht und daß es vielleicht von einigem Nutzen sein kann. Ich glaube dies nicht deshalb, weil ich eine zu hohe Meinung von mir habe und weil ich mir zutraue, Nützliches wirken zu können, sondern weil ich noch niemals so innig von dem Wunsche beseelt war, etwas Nützliches zu vollbringen, wie heute. Für uns Menschen genügt es schon, wenn wir die Hand ausstrecken, um zu helfen; die eigentliche Hilfe aber kommt nicht von uns, sondern von Gott, der seine Kraft von oben auf uns herabsendet und sie dem ohnmächtigen Worte mitteilt. So unbedeutend und minderwertig also mein Buch auch sein mag, ich wage dennoch, es der Öffentlichkeit zu übergeben, und ich bitte meine Landsleute, es mehrmals durchzulesen; zugleich aber bitte ich die unter ihnen, die sich eines gewissen Wohlstandes erfreuen, sich mehrere Exemplare zu kaufen und sie an solche Leute zu verteilen, die sich das Buch selbst nicht kaufen können, und ihnen bei dieser Gelegenheit zu erklären, daß alles Geld, das nach Deckung der Unkosten, die die bevorstehende Reise verursachen wird, übrigbleiben sollte, teils denen, die gleich mir das innere Bedürfnis fühlen, während der kommenden großen Fasten nach dem Heiligen Lande zu pilgern und dies nicht aus eigenen Mitteln zu tun vermögen, teils denen zur Unterstützung dienen soll, mit denen ich auf dem Wege dorthin zusammentreffen werde und die am Grabe des Herrn für ihre Wohltäter, d. h. meine Leser, beten werden.

Ich wünschte, ich könnte meine Reise vollenden wie ein guter Christ, und daher bitte ich hiermit alle meine Landsleute um Verzeihung wegen aller Kränkungen, die ich ihnen zugefügt haben sollte. Ich weiß, daß ich viele Leute durch meine unüberlegten Handlungen und durch meine unreifen Werke betrübt, viele sogar gegen mich aufgebracht und überhaupt bei vielen Anstoß und Ärgernis erregt habe. Ich darf indessen zu meiner Rechtfertigung sagen, daß meine Absicht stets gut war, und daß ich niemand betrüben oder gegen mich aufbringen wollte; nur meine Unbesonnenheit, meine Hast und Übereilung waren die Ursache, daß meine Werke in so unvollkommener Gestalt ins Leben traten, wodurch beinahe alle über ihren wahren Sinn getäuscht wurden. Alles andere dagegen, wobei tatsächlich eine verletzende Absicht vorliegen sollte, bitte ich mir mit jener Großmut zu verzeihen, deren nur die russische Seele fähig ist, wenn sie verzeiht. Auch alle die bitte ich, mir zu vergeben, mit denen mich mein Lebensweg für längere oder kürzere Zeit zusammengeführt hat. Ich weiß, daß ich vielen Menschen mancherlei Unannehmlichkeiten bereitet habe, ja manchen sogar mit Absicht. Überhaupt hatte die Art meines Verkehrs mit den Menschen stets etwas Unangenehm-Abstoßendes an sich. Dies rührte teils davon her, daß ich einem Zusammentreffen und einer Bekanntschaft mit Menschen gern aus dem Wege ging, da ich das Gefühl hatte, ich hätte den Menschen noch nichts Gescheites und wirklich Notwendiges zu sagen (und leere und überflüssige Redensarten wollte ich nicht machen), und da ich zugleich davon überzeugt war, daß ich mich selbst wegen meiner zahllosen Mängel und Fehler noch in einiger Entfernung von den Menschen erziehen müsse. Zum Teil aber war es auch die Folge meiner kleinlichen Eitelkeit, wie sie nur denen unter uns eigen ist, die sich aus Schmutz und Kot emporgearbeitet, sich eine Stellung unter den Menschen erobert haben, und die sich daher für berechtigt halten, stolz auf die anderen herabzusehen. Wie dem auch sein mag, ich bitte, mir alle persönlichen Kränkungen zu verzeihen, die ich einem Menschen seit den Zeiten meiner Kindheit bis zum gegenwärtigen Augenblicke zugefügt haben sollte. Auch meine Berufsgenossen, die Literaten, bitte ich um Verzeihung, wenn ich sie je bewußt oder unbewußt geringschätzig oder ohne gebührende Achtung behandelt haben sollte; wem es aber aus irgendeinem Grunde schwer werden sollte, mir zu vergeben, den erinnere ich daran, daß er ein Christ ist. Wie der Fastende vor der Beichte, die er sich vor dem Angesichte Gottes abzulegen anschickt, alle seine Brüder um Verzeihung bittet, so bitte ich sie um Verzeihung, und wie in solch einem Augenblick kein einziger den Mut findet, seinem Bruder nicht zu vergeben, so werden auch meine Brüder nicht den Mut haben, mir ihre Vergebung zu versagen. Und endlich bitte ich meine Leser um Verzeihung, wenn auch in diesem Buche wieder etwas Peinliches vorkommen sollte, das sie kränken oder beleidigen könnte. Ich bitte sie, mir deshalb nicht innerlich zu zürnen, sondern mir statt dessen lieber großmütig alle Mängel, die sie in diesem Buche entdecken sollten, sowohl die des Schriftstellers wie die des Menschen, nachzuweisen: meine Torheit, meine Unüberlegtheit, meine übermäßige Eitelkeit und Sicherheit, mein eitles Selbstvertrauen — mit einem Wort, alle die Fehler, die allen Menschen eigen sind, auch wenn sie sie nicht erkennen, und die ich wahrscheinlich in noch weit höherem Maße besitze.

Zum Schluß bitte ich alle Russen, für mich zu beten, vor allem die Priester, deren ganzes Leben ein einziges Gebet ist. Auch die bitte ich, mich in ihr Gebet einzuschließen, die in ihrer Demut nicht an die Kraft ihres Gebets glauben, wie auch die, die überhaupt nicht an das Gebet glauben und es nicht einmal für notwendig halten; aber wie kraftlos, dürr und matt auch immer ihr Gebet sein möge, ich bitte sie, in diesem kraftlosen, dürren und matten Gebet meiner zu gedenken. Ich aber will am Grabe des Herrn für alle meine Landsleute beten; kein einziger soll von meinem Gebete ausgeschlossen bleiben; und mein Gebet wird ebenso kraftlos, dürr und matt sein, wenn nicht der heilige allgütige Wille des Himmels es zu einem Gebet machen wird, wie es in Wahrheit sein soll.

Im Juli 1846.

I
Mein Testament

Völlig meiner Sinne mächtig und im vollen Besitz meines Verstandes lege ich hier meinen letzten Willen nieder.

I. Erstens ordne ich an, daß mein Leib nicht eher begraben werden soll, als bis sich an ihm deutliche Spuren der Auflösung bemerkbar machen. Ich erinnere ausdrücklich daran, weil mich schon während meiner Krankheit Augenblicke der Ohnmacht überkamen, wo das Leben stockte, mein Herz aufhörte, zu schlagen, mein Puls stillstand ... Da ich während meines Lebens schon häufig Zeuge vieler trauriger Vorfälle war, an denen unsere unvernünftige Übereilung in allen Dingen, selbst bei einer solchen Angelegenheit wie die Beerdigung, schuld war, so spreche ich dies hier gleich zu Beginn meines Testamentes aus, in der Hoffnung, daß meine Stimme vielleicht nach meinem Tode ganz allgemein zur Vorsicht mahnen wird. Im übrigen aber soll man meinen Leib der Erde übergeben, ohne lange zu überlegen, an welchem Ort er ruhen soll; auch sollen keine Ehren oder Erinnerungen an meine sterblichen Reste geknüpft werden. Jeder sollte sich schämen, der meinen faulenden Knochen irgendwelche Achtung erweisen wollte, sind sie doch gar nicht mehr mein Eigentum, er würde sich vor den Würmern beugen, die sie zernagen. Ich bitte daher alle, lieber um so kräftiger für meine Seele zu beten, und statt aller Bestattungsfeierlichkeiten und Ehren lieber einige arme Leute, denen es am täglichen Brot fehlt, in meinem Namen mit einem einfachen Mittagessen zu bewirten.

II. Zweitens ordne ich an, mir kein Denkmal auf meinem Grabe zu errichten, ja gar nicht erst an diese Torheiten, die eines Christen unwürdig sind, zu denken. Die Menschen, die mir nahestanden und die mich wirklich lieb hatten, werden mir schon ein anderes Denkmal errichten: und zwar werden sie es in sich selbst aufrichten, durch unerschütterliches Festhalten an ihrem Lebenswerk und durch Aufmunterung und Ermutigung aller Menschen ihrer Umgebung. Wer nach meinem Tode zu höherer geistiger Reife emporwachsen wird, als sie ihm während meines Lebens eigen war, der wird damit beweisen, daß er mich wahrhaft geliebt hat, daß er mein Freund war, und mir damit ein wirkliches Denkmal errichten, denn auch ich habe, bei all meiner Schwäche und Nichtigkeit, meine Freunde stets ermutigt, und keiner von denen, die mir in der letzten Zeit näher traten, hat in Stunden des Kummers und der Entmutigung bei mir ein trübseliges Gesicht gefunden, obwohl ich selbst schwere Augenblicke zu durchleben hatte und nicht weniger litt und bekümmert war, als andere. So möge denn auch ein jeder von ihnen nach meinem Tode dessen eingedenk sein, sich an alle meine Worte erinnern und noch einmal all meine Briefe durchlesen, die ich vor einem Jahre an ihn geschrieben habe.

III. Drittens ordne ich an, daß mich niemand beweinen soll; ja, der würde eine Sünde auf seine Seele laden, der meinen Tod für einen großen und allgemeinen Verlust halten wollte. Selbst wenn es mir gelungen sein sollte, etwas Nützliches zu vollbringen, wenn ich wirklich schon begonnen haben sollte, so wie es sich gehört, meine Pflicht zu erfüllen, und wenn der Tod mich in dem Augenblick, wo ich mein Werk — das ja nicht dem Vergnügen einzelner dienen sollte, sondern dem, was allen not tut — begonnen, hinweggenommen haben sollte, so wäre es dennoch unrichtig, sich einer fruchtlosen Verzweiflung zu überlassen. Selbst wenn heute in Rußland ein Mann stürbe, dessen das Land bei der gegebenen Lage der Dinge wirklich bedürfte, so wäre auch dies noch kein Grund für einen der Lebenden, zu trauern und mutlos zu werden, obwohl es schon richtig ist, daß, wenn uns von den Menschen, die wir alle brauchen, einer nach dem andern entrissen wird, dies ein Zeichen des göttlichen Zornes ist, und daß wir hierdurch aller Mittel und Werkzeuge beraubt werden, mit deren Hilfe sich mancher dem Ziele nähern könnte, das uns alle zu sich ruft. Wir dürfen nicht gleich traurig und mutlos werden bei jedem plötzlichen Verlust, sondern müssen in unser Inneres blicken und nicht an die Schlechtigkeit der andern und an die Schlechtigkeit der ganzen Welt, sondern an unsere eigene Schlechtigkeit denken. Die Bosheit und Verderbnis der Seele ist fürchterlich, warum aber erkennen wir das erst dann, wenn wir den unerbittlichen Tod vor Augen sehen?

IV. Viertens vermache ich allen meinen Landsleuten (wobei ich lediglich davon ausgehe, daß ein jeder Schriftsteller seinen Lesern irgendeinen guten Gedanken als Vermächtnis hinterlassen sollte), viertens vermache ich ihnen das Beste, was meine Feder hervorgebracht hat — ich hinterlasse ihnen ein Werk von mir, das den Titel Abschiedserzählung trägt. Diese Erzählung handelt, wie sie erkennen werden, von ihnen selbst. Ich habe sie lange in meinem Herzen getragen, wie meinen größten Schatz, wie ein Zeichen der göttlichen Gnade, die sich an mir vollzogen hat. Sie war mir ein Quell verborgener Tränen, seit den Tagen meiner Kindheit. Sie also hinterlasse ich ihnen als Vermächtnis. Allein ich flehe all meine Landsleute an, es nicht als Kränkung und Beleidigung anzusehen, wenn sie etwas wie eine Belehrung aus ihr heraushören sollten. Ich bin ein Schriftsteller, und die Aufgabe des Schriftstellers besteht nicht allein darin, Geist und Geschmack angenehm zu unterhalten; er muß strenge Rechenschaft ablegen, wenn seine Werke der Seele keinen Nutzen gebracht haben und keine Wohltat gewesen sind und wenn keine Belehrung für die Menschen in ihnen enthalten ist. Meine Landsleute mögen doch bedenken, daß ja auch jeder unserer Brüder, der diese Welt verläßt, selbst wenn er kein Schriftsteller ist, ein Recht hat, uns etwas wie eine Lehre, eine brüderliche Mahnung zu hinterlassen, und dabei kommt es weder darauf an, ob er nur eine geringe Stellung bekleidet, noch ob er ein ohnmächtiger, oder gar ein unvernünftiger Mensch ist; wir sollten lediglich daran denken, daß ein Mensch, der auf dem Totenbett liegt, viele Dinge besser durchschauen kann, als ein solcher, der sich in der Welt bewegt. Trotzdem ich mich aber auf dieses mein wohlbegründetes Recht berufen könnte, hätte ich es doch nicht gewagt, zu erwähnen, was man aus meiner Abschiedserzählung heraushören wird; denn nicht mir, dessen Seele häßlicher und sündhafter ist, als die aller andern, und der so schwer an seiner eigenen Unvollkommenheit krankt, kommt es zu, solche Reden zu führen. Allein was mich dazu treibt, ist ein anderer gewichtiger Grund. Landsleute! Es ist furchtbar. Die Seele möchte vor Schrecken vergehen bei der bloßen Ahnung der überirdischen Majestät und Erhabenheit des Jenseits und jener höchsten geistigen Schöpfungen Gottes, vor denen die ganze Größe alles Erschaffenen, das wir hier unten erblicken und das uns hier in Erstaunen setzt, in Staub versinkt. Mein sterblicher Leib ächzt beim Gedanken an all die monströsen gigantischen Gebilde und Früchte, deren Samen wir während unseres Lebens säeten, ohne zu ahnen und ohne zu fühlen, was für Schrecknisse aus ihnen erwachsen werden ... Vielleicht wird meine Abschiedserzählung einen gewissen Eindruck auf die machen, die das Leben noch immer für ein Spiel halten, vielleicht wird ihr Herz etwas von seinem strengen Geheimnis und von der innigen himmlischen Musik dieses Geheimnisses vernehmen. Landsleute! — ich weiß nicht, ich finde kein Wort dafür, wie ich euch in diesem Augenblick anreden soll. — Fort mit dem leeren Anstand! Landsleute! — ich habe euch geliebt, ich habe euch geliebt mit jener Liebe, von der man nicht spricht, die mir Gott geschenkt hat, für die ich Ihm danke, wie für Seine höchste Wohltat, weil diese Liebe mir Trost und Freude war während meiner schwersten Leiden. Im Namen dieser Liebe bitte ich euch, meiner Abschiedserzählung euer Ohr und Herz zu leihen. Ich schwöre es euch, ich habe sie nicht erfunden, ich habe sie nicht erdacht, sie ist meiner Seele selbst entströmt, die Gott selbst durch Kummer und Versuchungen gebildet hat, und ihre Klänge entsprangen aus den innersten Kräften und Elementen unseres russischen Wesens, das uns allen gemeinsam ist und durch das ich euch allen aufs engste verschwistert bin[1].

V. Fünftens bitte ich, meiner Werke nach meinem Tode in der Presse und in den Zeitschriften weder mit übereiltem Lob noch Tadel zu gedenken; alle diese Urteile werden ebenso parteiisch sein, wie bei meinen Lebzeiten. In meinen Werken gibt es weit mehr Verurteilungswürdiges als solches, was Lob verdient. Alle Ausfälle, die sich gegen sie richteten, waren ihrem eigentlichen Kerne nach mehr oder weniger berechtigt. Mir gegenüber hat sich niemand schuldig gemacht; es wäre unedel und ungerecht, wenn ein Mensch jemand um meinetwillen in irgendeiner Hinsicht tadeln, oder ihm einen Vorwurf machen wollte. Ferner erkläre ich laut, damit alle es hören können: daß es außer den schon gedruckten Schriften keine Werke mehr von mir gibt: alles was an Manuskripten vorhanden war, habe ich verbrannt, wie etwas Kraftloses, wie etwas Totes, das ich in einer krankhaften Gemütsverfassung und in einem Zwangszustande niedergeschrieben habe. Wenn daher jemand etwas unter meinem Namen herausgeben sollte, so bitte ich dies für eine nichtswürdige Fälschung zu halten. Dafür aber mache ich es meinen Freunden zur Pflicht, alle meine Briefe zu sammeln, die ich seit dem Ende des Jahres 1844 an einen von ihnen gerichtet habe, und diese nach strenger Auswahl alles dessen, was irgendwie von Nutzen für unsere Seele sein kann, und nach Verwerfung alles übrigen, das nur der eitlen Unterhaltung dient, in Buchform herauszugeben. Diese Briefe enthalten einiges, das denen von Nutzen gewesen ist, an die sie gerichtet waren. Gott ist barmherzig; vielleicht werden sie auch andern von Nutzen sein; und vielleicht wird so wenigstens ein Teil der harten Verantwortlichkeit für die Wertlosigkeit dessen, was ich früher geschrieben habe, von meiner Seele genommen.

VI. Nach meinem Tode soll keiner der Meinen mehr berechtigt sein, sich selbst anzugehören — sondern nur noch den Bekümmerten, den Leidenden und denen gehören, die in diesem Leben schon irgendein Leid zu erdulden hatten. Ihr Haus und Gut sollen mehr einem Gasthaus oder einer Herberge für fremde Pilger, als der Wohnstätte eines Gutsbesitzers gleichen; wer auch immer zu den Meinen kommt, den sollen sie aufnehmen, wie einen nahen Verwandten und einen ihrem Herzen nahestehenden Menschen; sie sollen ihn herzlich und freundschaftlich nach all seinen Lebensverhältnissen ausfragen, um zu erfahren, ob er nicht hilfsbedürftig ist, oder doch wenigstens um ihn zu erheitern und zu ermuntern, auf daß keiner das Gut ungetröstet verlasse. Wenn der Reisende aber einfachen Standes, wenn er an ein ärmliches Leben gewöhnt ist und es ihm aus irgendeinem Grunde peinlich ist, im Hause des Gutsbesitzers Wohnung zu nehmen, so sollen sie ihn zu einem wohlhabenden Bauern, zu dem besten und tüchtigsten im ganzen Dorfe, führen, der sich eines musterhaften Lebenswandels befleißigt und seinem Bruder mit einem guten Rate zur Seite stehen kann; dieser soll seinen Gast ebenso herzlich und freundlich nach seinen Verhältnissen ausfragen, ihm Mut zusprechen, ihn ermuntern, ihm einen guten Rat und Zuspruch mit auf den Weg geben, und dann dem Gutsherren über alles Bericht erstatten, damit auch diese ihrerseits ein gutes Wort und einen guten Ratschlag hinzufügen oder ihm Hilfe und Unterstützung schenken können, was und wie sie es für angemessen halten, auf daß niemand ungetröstet davonfahre oder das Gut ohne Zuspruch verlasse.

VII. Siebentens ordne ich an ... doch da fällt mir ein, daß ich hierüber schon nicht mehr zu verfügen habe. Durch eine Unvorsichtigkeit bin ich meines Eigentumsrechtes beraubt worden: mein Porträt ist gegen meinen Willen und ohne Erlaubnis öffentlich verbreitet worden. Aus vielen Gründen, die ich hier nicht näher anzugeben brauche, habe ich dies nicht gewünscht; ich habe daher auch niemand durch Verkauf das Recht abgetreten, eine öffentliche Ausgabe dieses Porträts zu veranstalten, und sämtlichen Buchhändlern, die mit einem solchen Antrag an mich herantraten, eine Absage erteilt; ich gedachte mir dies erst dann zu gestatten, wenn es mir mit Gottes Hilfe gelingen sollte, jenes Werk zu vollenden, das meine Gedanken während meines ganzen Lebens beschäftigt hat, und zwar so zu vollenden, daß all meine Landsleute einstimmig erklärten, ich hätte meine Aufgabe redlich gelöst, und den Wunsch äußerten, die Züge des Menschen kennen zu lernen, der bis zu diesem Augenblick in aller Stille gearbeitet und nie den Wunsch ausgesprochen hätte, einen unverdienten Ruhm zu genießen. Dazu kam noch ein anderer Umstand: mein Bild konnte in solch einem Falle sofort in einer großen Anzahl von Exemplaren verbreitet werden und dem Künstler, der mein Bild stechen würde, einen bedeutenden Gewinn eintragen. Dieser Künstler ist bereits seit mehreren Jahren in Rom damit beschäftigt, einen Stich nach dem unsterblichen Bilde Raffaels: Die Verklärung Christi herzustellen. Er hat dieser Arbeit alles geopfert — einer aufreibenden Arbeit, zu der er viele Jahre gebraucht und die seine Gesundheit aufgezehrt hat, und er hat dies Werk, das nun seiner Vollendung entgegengeht, mit einer solchen Vollkommenheit ausgeführt, wie dies bisher noch keinem Radierer gelungen ist. Wegen der hohen Kosten und da es nur eine kleine Zahl von Kunstkennern und Liebhabern gibt, kann sein Stich nicht in dem Maße verbreitet werden, um ihn für alles zu entschädigen. Hätte er mein Bild stechen können, so wäre ihm geholfen gewesen. Nun aber ist mein Plan zerstört: ist das Bild einer Persönlichkeit einmal in der Öffentlichkeit verbreitet, so wird es dadurch zum Eigentum eines jeden, der sich mit der Herausgabe von Stichen und Steindrucken beschäftigt. Sollte es sich jedoch so fügen, daß nach meinem Tode unveröffentlichte Briefe von mir herausgegeben werden sollten, die der Gesellschaft von Nutzen sein könnten (wenn auch nur durch das reine und aufrichtige Streben, Nutzen zu stiften), und sollten meine Landsleute den Wunsch haben, mein Porträt kennen zu lernen, so bitte ich alle Herausgeber solcher Bilder, hochherzig auf ihre Rechte zu verzichten; dagegen bitte ich die Leser, die sich aus einem übertriebenen Wohlwollen für alles, was Ruhm und Ansehen genießt, ein Porträt von mit angeschafft haben, es sofort, nachdem sie diese Zeilen gelesen haben, zu vernichten, um so mehr, da diese Porträts schlecht und gar nicht ähnlich sind, und sich nur ein solches Porträt zu kaufen, das die Unterschrift: Gestochen von Jordanow trägt. Dies wäre wenigstens eine gute Tat. Noch besser aber wäre es, wenn die, die sich eines gewissen Wohlstandes erfreuen, sich statt meines Bildes den Stich: Die Verklärung Christi kaufen wollten, einen Stich, der selbst nach dem Urteil von Ausländern die Krone der Radiererkunst darstellt und Rußland zum höchsten Ruhme gereicht.

Mein Testament soll sofort nach meinem Tode in allen Zeitungen und Journalen veröffentlicht werden, damit sich niemand aus Unkenntnis und ohne es zu wollen, gegen mich vergehe und damit eine Schuld auf seine Seele lade.

II
Die Frau in der vornehmen Welt
An Frau ***

Sie glauben, Sie können keinen Einfluß auf die Gesellschaft ausüben. Ich bin der entgegengesetzten Ansicht. Der Einfluß der Frau kann sehr groß sein, besonders heute, bei der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung oder -unordnung, die einerseits durch eine matte erschlaffte gesellschaftliche Bildung charakterisiert wird und in der sich andererseits eine seelische Erkaltung und eine moralische Müdigkeit bemerkbar macht, die dringend einer Erweckung und Belebung bedarf. Um jedoch eine solche Neubelebung hervorzubringen, dazu bedürfen wir der Hilfe der Frau. Dies ist eine Wahrheit, die die ganze Welt ganz plötzlich wie eine dunkle Ahnung ergriffen hat. Jedermann scheint etwas von der Frau zu erwarten. Lassen wir einmal alles andere beiseite, sehen wir uns einmal in unserem russischen Vaterlande um und achten wir dabei auf das, was wir so häufig bemerken können: auf die zahlreichen Mißbräuche aller Art. Es stellt sich heraus, daß die Mehrzahl aller Fälle von Bestechungen (Mißbräuchen im Dienst), sowie alle übrigen Vergehen, deren man unsere Beamten und die Bürger aller Klassen beschuldigt, entweder auf die Verschwendungssucht der Frauen, die danach lechzen, in der großen und kleinen Welt zu glänzen und zu diesem Zweck Geld von ihren Männern verlangen, oder aber auf die Hohlheit und die Leere in ihrem häuslichen Leben zurückgeführt werden können, das lediglich allerhand idealen Träumereien und nicht den wahren eigentlichen Aufgaben und Pflichten gewidmet ist, die doch weit schöner und erhabener sind als alle Träumereien. Die Männer würden sich auch nicht den zehnten Teil der Mißbräuche zuschulden kommen lassen, die sie jetzt verüben, wenn ihre Frauen auch nur im mindesten ihre Pflicht und Schuldigkeit täten. Die Seele der Frau — ist für den Mann ein schützender Talisman, der ihn vor vielen moralischen Krankheiten und Ansteckungen behütet; sie ist eine Kraft, die ihn auf dem geraden Wege festhält, und eine Führerin, die ihn vom krummen Pfade auf den rechten zurückleitet; umgekehrt aber kann die Seele der Frau auch der böse Geist des Mannes sein und ihn für alle Ewigkeit zugrunde richten. Sie haben das selbst gefühlt und einen so schönen Ausdruck dafür gefunden, wie ihn bisher noch keine von weiblicher Hand geschriebene Zeile enthält. Jedoch Sie sagen: alle andern Frauen könnten ein Feld für ihre Betätigung finden, nur Sie allein nicht. Sie finden überall Arbeit für sich, sie können Verkehrtes und Verfehltes verbessern und wieder einrenken oder mit etwas Neuem und Notwendigem beginnen — mit einem Wort, sie können überall fördernd eingreifen, nur Sie selbst finden keine Tätigkeit für sich und wiederholen immer wieder betrübt: „Warum bin ich nicht an ihrer Stelle?“ Wissen Sie, daß dies eine allgemeine Verblendung ist? Heute will es jedem so erscheinen, als ob er viel Gutes stiften könnte, wenn er an der Stelle eines anderen stünde oder sein Amt bekleidete, und als ob er es nur in seiner eigenen Stellung nicht könnte. Das ist der Grund allen Übels. Wir alle sollten jetzt darüber nachdenken, wie wir in unsrer eigenen Lage und an der Stelle, wo wir stehen, Gutes wirken können. Glauben Sie mir, Gott hat nicht vergebens einen jeden gerade an die Stelle gestellt, an der er steht. Man muß sich nur ordentlich umsehen. Sie sagen: warum bin ich nicht Mutter einer Familie; dann könnten Sie Ihren Mutterpflichten nachkommen, von denen Sie sich jetzt eine so klare und deutliche Vorstellung machen; oder Sie sagen: warum liegt mein Gut nicht danieder; das würde Sie veranlassen, aufs Land zu gehen, Gutsbesitzerin zu werden und sich mit der Landwirtschaft zu beschäftigen; Sie klagen: warum ist mein Mann nicht in einem gemeinnützigen Beruf tätig, der ihm schwere Pflichten auferlegt, dann könnten Sie ihm behilflich sein, Sie könnten die treibende Kraft sein, die ihn erfrischt und aufmuntert; warum gibt es keine anderen Aufgaben und Pflichten für Sie, als die langweiligen sinnlosen Besuche in der großen Welt und der hohlen seelenlosen vornehmen Gesellschaft, die Ihnen jetzt einsamer und öder erscheint als eine menschenleere Wüste! Und dennoch und trotz alledem ist diese Welt doch bevölkert, es gibt Menschen in ihr und zwar ganz ebensolche wie überall sonst. Sie dulden und quälen sich ebenso und leiden dieselbe Not, schreien stumm um Hilfe und wissen, ach! nicht einmal, wie sie um Hilfe bitten sollen. Welchem Bettler aber soll man zuerst helfen: dem, der noch auf die Straße hinausgehen und betteln kann, oder dem, der nicht einmal die Kraft hat, seine Hand auszustrecken? Sie sagen, Sie wissen nicht und können es sich nicht einmal denken, womit Sie jemand in der vornehmen Welt von Nutzen sein könnten; dazu müsse man über so viele verschiedene Mittel verfügen, dazu müsse man eine so kluge und allseitig unterrichtete Frau sein, daß Ihnen schon bei dem bloßen Gedanken an dies alles der Kopf ganz wirr werde. Wie aber, wenn man dazu nur das zu sein brauchte, was Sie bereits sind? Wie, wenn Sie die Mittel bereits besäßen, deren man gegenwärtig gerade bedarf? Alles das, was Sie über sich selbst sagen, ist vollkommen wahr: Sie sind wirklich noch zu jung, Sie besitzen weder Menschenkenntnis noch Lebenserfahrung, mit einem Wort nichts von alledem, dessen man bedarf, um anderen Menschen geistigen Beistand leisten zu können, vielleicht werden Sie sich diese Dinge sogar niemals aneignen, aber Sie besitzen andere Mittel, durch die Ihnen nichts unmöglich ist. Erstens sind Sie schön, zweitens sind Sie im Besitz eines unbefleckten, von keiner Schmähung und Verleumdung berührten Namens, und drittens verfügen Sie über eine Kraft, über eine Macht, die Sie selbst nicht in sich vermuten, — über die Macht der Herzensreinheit. Die Schönheit der Frau ist noch immer etwas Geheimnisvolles. Gott hat nicht vergebens gewollt, daß gewisse Frauen schön sein sollen; es ist nicht umsonst so eingerichtet, daß die Schönheit auf alle Menschen den gleichen mächtigen Eindruck macht, sogar auf die, die gegen alles gleichgültig und gefühllos und die zu nichts fähig sind. Wenn schon die sinnlose Laune einer schönen Frau die Ursache welthistorischer Revolutionen werden und die gescheitesten Menschen zu allerhand Torheiten veranlassen konnte, wie stände es wohl dann, wenn diese Launen vernünftig und auf das Gute gerichtet wären? Wieviel Gutes könnte wohl dann eine schöne Frau im Vergleich mit anderen Frauen stiften! Dies ist somit eine mächtige Waffe. Sie aber besitzen noch eine höhere Schönheit — den reinen Zauber einer besonderen, nur Ihnen allein eigenen Unschuld, die ich nicht mit Worten beschreiben kann, aus der jedoch jedem Menschen Ihr sanftes Taubengemüt entgegenleuchtet. Wissen Sie, daß die verdorbensten unter unseren jungen Leuten mir gestanden haben, daß ihnen in Ihrer Gegenwart nie ein häßlicher Gedanke eingefallen sei, daß sie, wenn Sie zugegen sind, nie den Mut hätten, — ein Wort zu sagen, — nicht nur kein zweideutiges Wort, mit dem sie wohl andere Auserwählte erfreuen, nein überhaupt kein Wort, da sie das Gefühl hätten, daß in Ihrer Anwesenheit alles grob und plump erscheinen und unanständig und burschikos klingen würde? Dies ist schon eine Wirkung, die ohne Ihr Wissen von Ihrer bloßen Anwesenheit ausgeht! Wer sich in Ihrer Gegenwart nicht einmal einen häßlichen Gedanken erlaubt, der schämt sich bereits dieser Gedanken, und eine solche Selbsterkenntnis ist, auch wenn sie nur einer momentanen Regung entspringt, bereits der erste Schritt des Menschen zur Besserung. So ist denn auch dies eine mächtige Waffe. Zu alledem aber haben Sie noch ein von Gott selbst in Ihre Seele gelegtes Streben oder wie Sie es nennen: einen Durst nach dem Guten. Glauben Sie wirklich, daß Ihnen dieser Durst vergebens verliehen ward, dieser Durst, der Ihnen keinen Augenblick Ruhe läßt? Kaum haben Sie einen edlen, klugen Mann geheiratet, der alle Eigenschaften besitzt, um eine Frau glücklich zu machen, da werden Sie, statt tief in Ihrem häuslichen Glück aufzugehen, in ihm unterzutauchen, schon wieder von dem Gedanken gequält, daß Sie dieses Glückes nicht würdig sind, daß Sie nicht das Recht haben, sich ihm hinzugeben, es zu genießen, während Sie ringsum von soviel Leiden umgeben sind und während jeden Augenblick die Nachricht von allerhand Nöten und Unglücksfällen zu Ihnen dringt: von Hungersnot, Feuersbrünsten, schwerem seelischem Leid und furchtbaren geistigen Krankheiten, die unser heute lebendes Geschlecht ergriffen haben. Glauben Sie mir, das geschieht nicht ohne Grund. Wer inmitten all der lauten Zerstreuungen und Vergnügungen in seiner Seele eine solche himmlische Unruhe und Sorge um die Menschen, ein solches engelhaftes Mitgefühl und Mitleid mit ihnen verschließt, der kann viel, sehr viel für sie tun; der hat stets ein Betätigungsfeld, denn es gibt überall Menschen. Fliehen Sie daher die Welt nicht, in die Sie durch Ihre Bestimmung hineingestellt worden sind; hadern Sie nicht mit der Vorsehung. In Ihnen lebt etwas von jener unbekannten Kraft, deren die Welt jetzt bedarf; schon aus Ihrer Stimme tönen einem jeden, infolge des ständigen Dranges Ihrer Seele, den Menschen zu Hilfe zu eilen, Töne entgegen, die einen verwandt berühren; wenn Sie zu sprechen beginnen, und Ihr reiner Blick und dieses Lächeln, das niemals von Ihren Lippen schwindet und nur Ihnen allein eigen ist, Ihre Rede begleitet, so will es jedem so scheinen, wie wenn eine liebe Schwester aus dem Himmel zu ihm spräche. Ihre Stimme hat etwas Mächtiges, Unüberwindliches angenommen, Sie können befehlen und ein solcher Despot sein, wie keiner von uns. So gebieten Sie denn, wortlos und stumm, durch Ihre bloße Gegenwart; gebieten Sie gerade durch Ihre Schwäche und Kraftlosigkeit, über die Sie so empört sind; gebieten Sie gerade durch jene weibliche Schönheit, die die Frau unserer Zeit leider bereits verloren hat. Mit Ihrer ängstlichen Unerfahrenheit werden Sie heute unendlich mehr ausrichten, als eine kluge Frau, die in ihrem stolzen Selbstvertrauen bereits alles kennen gelernt und ausgekostet hat. Ihre gescheitesten Gedanken, mit denen sie die heutige Welt auf den rechten Weg zurückführen wollte, würden in Form von boshaften Epigrammen auf ihr Haupt zurückschnellen, dagegen wird sich bei keinem von uns ein Epigramm auf die Lippen zu drängen wagen, wenn Sie jemand von uns stumm und mit flehendem Blick auffordern würden, sich zu bessern. Warum haben Sie sich durch die Erzählungen über die Laster und die Verdorbenheit der vornehmen Welt so erschrecken lassen. Diese Laster sind tatsächlich vorhanden, ja noch in weit höherem Maße, als Sie es glauben; aber Sie sollten gar nichts davon wissen. Brauchen Sie sich denn vor den traurigen Lockungen und Sünden der Welt zu fürchten? Stürzen Sie sich nur ruhig mit demselben strahlenden Lächeln in sie hinein; treten Sie ein, wie in ein Krankenhaus, das mit Kranken und Leidenden angefüllt ist, aber nicht als Arzt, der strenge Vorschriften macht und bittre Arzneien verordnet! Sie sollen sich gar nicht darum kümmern, von welchen Krankheiten jeder einzelne befallen ist. Sie haben nicht die Fähigkeit, Krankheiten zu diagnostizieren und zu heilen, und daher werde ich Ihnen nicht dazu raten, wozu ich jeder andern Frau raten müßte, die dazu fähig ist. Ihre Aufgabe besteht lediglich darin, den Leidenden durch Ihr Lächeln und durch Ihre Stimme zu erfreuen, aus der die Seele einer Schwester zu uns Menschen zu sprechen scheint, einer Schwester, die vom Himmel zu uns herabgestiegen ist — nichts mehr. Verweilen Sie nicht zu lange bei jedem Einzelnen und eilen Sie schnell zu dem Nächsten weiter, denn man bedarf Ihrer überall. Ach! An allen Enden der Welt harrt und wartet man ungeduldig auf dieses Eine, auf diese lieben verwandten Laute, diese einzige Stimme, die Sie schon besitzen. Sprechen Sie nie mit Weltleuten über Dinge, über die sich diese Leute zu unterhalten pflegen; zwingen Sie sie, darüber zu sprechen, worüber Sie sprechen. Gott bewahre Sie vor jeglicher Pedanterie und vor allen jenen Reden, die den Lippen einer üppigen Weltdame entströmen. Führen Sie jenen schlichten treuherzigen Plauderton in die Gesellschaft ein, jenen Ton, in dem Sie so beredt zu erzählen wissen, wenn Sie sich im Kreise von nahestehenden Menschen und Hausgenossen befinden, wenn jedes schlichte Wort, das Sie sagen, gleichsam aufstrahlt und Licht um sich her verbreitet und es der Seele eines jeden, der Ihnen zuhört, so erscheint, als rede er mit den Engeln süße Worte über einen himmlischen Kindheitsstand der Menschheit. Solche Gespräche und Reden sollten Sie in die Gesellschaft einführen.

1846.

III
Die Bestimmung der Krankheiten
Aus einem Brief an den Grafen A. P. T.

Meine Kräfte lassen von Augenblick zu Augenblick nach, aber nicht mein Geist. Noch nie fühlte ich mich durch die körperlichen Gebrechen so entkräftet. Oft leide ich so sehr, so furchtbar, fühle ich eine so schreckliche Müdigkeit im ganzen Körper, daß ich mich Gott weiß wie sehr freue, wenn der Tag endlich zu Ende geht und wenn man endlich zu Bett gehen kann. Oft rufe ich von geistiger Ohnmacht übermannt aus: Mein Gott, wo ist denn endlich das Ufer, wann kommt das Ende von alledem! Wenn man dann aber Einkehr in sich selbst hält und tiefer in sein Inneres hineinschaut, dann entströmen der Seele nur noch Tränen und Worte des Dankes. O wie sehr bedürfen wir der Leiden! Von dem vielen Guten und Nützlichen, das ich aus ihnen gezogen habe, will ich nur auf eines hinweisen! Ich mag heute sein, wie ich will, ich bin doch besser geworden, als ich früher war; wenn diese Krankheiten und Leiden nicht gewesen wären, so hätte ich gewiß geglaubt, daß ich schon ganz so sei, wie ich sein sollte. Dabei will ich gar nicht einmal davon reden, daß die Gesundheit, die uns Russen immer dazu reizt, über den Strang zu schlagen, und den Wunsch in uns rege hält, unsere Vorzüge vor anderen Leuten zur Schau zu stellen, mich dazu veranlaßt hätte, tausend Torheiten zu begehen. Dazu besuchen mich jetzt in Augenblicken geistiger Frische, die mir die Güte des Himmels schenkt, und während der schlimmsten Qualen zuweilen unendlich viel schönere und bessere Gedanken, als ich sie früher je gehabt habe, und ich sehe es selbst, daß jedes Werk meiner Feder heute weit wertvoller und bedeutsamer sein wird, als alles Frühere. Hätten mich diese schweren und qualvollen Leiden nicht heimgesucht, wie hochmütig wäre ich da wohl geworden, für einen wie bedeutenden Menschen hätte ich mich gehalten! Wenn ich jedoch jeden Augenblick fühle, daß mein Leben an einem Haar hängt, daß meine Krankheit plötzlich meinem Werk, auf dem meine ganze Bedeutung beruht, ein Ende bereiten könne, daß der ganze Nutzen, den meine Seele so innig zu bringen wünscht, nur ein ohnmächtiger Wunsch bleiben und nie Erfüllung werden wird, daß ich nie mit den Talenten, die mir Gott verliehen hat, wuchern, und daß ich verdammt werden würde, wie der schlimmste Verbrecher — wenn ich dies alles fühle und erkenne, so füge ich mich stets in Demut und finde keine Worte, wie ich der göttlichen Vorsehung für meine Krankheit danken soll. Daher sollten auch Sie jedes Leiden mit Ergebung hinnehmen, in dem Glauben, daß es notwendig ist. Bitten Sie Gott nur um eins: daß Ihnen die wunderbare Bestimmung dieses Leidens und die ganze Tiefe seiner großen Bedeutung aufgehe.

1846.

IV
Etwas über die Bedeutung des Wortes

Als Puschkin einmal folgende Verse aus der Ode Derschawins an Chrapowizky las:

„Mag der Satiriker die Worte schmähn,

Wenn er nur meinen Taten Achtung zollt“,

sagte er: „Derschawin hat nicht ganz recht, die Worte des Dichters sind bereits seine Taten.“ Puschkin hat recht. Der Poet soll im Reiche des Worts ebenso einwandfrei und makellos dastehen, wie jeder andere Mensch in seinem Kreise. Wenn sich ein Schriftsteller entschuldigen und bestimmte Umstände für die Unaufrichtigkeit, Unüberlegtheit oder Übereiltheit seiner Worte verantwortlich machen wollte, dann kann auch jeder ungerechte Richter eine Entschuldigung dafür finden, daß er sich bestechen läßt und mit Recht und Gerechtigkeit Handel getrieben hat, indem er die Schuld auf seine beschränkten Verhältnisse, auf seine Frau, oder auf Krankheiten in seiner Familie abwälzt. Finden sich doch immer genug Gründe, die man anführen kann! Ein Mensch gerät plötzlich in schwierige Verhältnisse. Es geht die Nachkommen doch nichts an, wer schuld daran war, daß der Schriftsteller eine Dummheit, etwas Törichtes und Albernes gesagt hat und daß er seinen Gedanken in unüberlegter und unreifer Weise Ausdruck gegeben hat. Sie werden nicht danach fragen, wer seine Hand geführt hat: ein kurzsichtiger Freund, der ihn zu verfrühtem Handeln aufforderte, oder ein Journalist, der nur um den Erfolg seiner Zeitschrift besorgt war. Die Nachwelt wird weder auf Koterien noch auf Journalisten, ja nicht einmal auf seine Armut und seine schwierige Lage Rücksicht nehmen. Ihr Tadel wird sich gegen ihn und nicht gegen sie richten. Warum konntest du dem allem nicht widerstehen? Du hattest doch ein Gefühl für die Ehre deines Standes, du selbst hast ihn doch allen andern, ja den aussichtsreichsten und vorteilhaftesten Ämtern und Berufen vorgezogen und hast dies nicht etwa aus einer Laune, sondern nur darum getan, weil du dich von Gott dazu berufen fühltest. Zu alledem ward dir noch ein Verstand geschenkt, der weiter und tiefer blickte, einen größeren Umkreis von Dingen umspannte, als die, die dich anspornten und vorwärts stießen! Warum also bliebst du ein Kind und wardst nicht ein Mann, wo dir doch alles zuteil geworden war, was dazu gehört, ein Mann zu sein? Kurz, ein gewöhnlicher Schriftsteller könnte sich vielleicht noch mit den Umständen entschuldigen, nicht aber ein Derschawin. Er hat sich selbst viel dadurch geschadet, daß er nicht wenigstens die größere Hälfte seiner Oden verbrannt hat. Diese Hälfte seiner Oden ist höchst merkwürdig und wunderbar: noch nie hat ein Mensch so über sich selbst und über das Heiligtum seiner Überzeugungen und Gefühle gespottet, wie dies Derschawin in dieser unseligen Hälfte seiner Oden getan hat. Wie wenn er sich bemüht hätte, eine Karikatur seiner eigenen Person zu zeichnen: alles, was bei ihm an vielen andern Stellen schön und frei klingt, so durchwärmt ist von der inneren Kraft eines geistigen Feuers, erscheint hier kalt, seelenlos und gezwungen; und was das schlimmste ist, — all jene Wendungen, jene Ausdrücke, ja ganze Sätze (jene königliche Adlergeste seiner begeisterten beseelten Oden) finden sich hier wieder, aber sie wirken hier bloß komisch und erzeugen einen Eindruck, wie wenn ein Zwerg den Panzer eines Riesen angelegt und ihn überdies noch verkehrt angezogen hätte. Wieviel Menschen urteilen heute über Derschawin lediglich nach seinen banalen Oden! Wie viele zweifeln an der Aufrichtigkeit seiner Gefühle, bloß weil sie den Eindruck haben, daß diese Gefühle an vielen Stellen schwächlich und seelenlos ausgedrückt sind! Was für zweideutige Gerüchte sind über seinen Charakter, die Vornehmheit seines Wesens und über die Unbestechlichkeit der richterlichen Gewalt entstanden, für die er eintrat! Und dies bloß darum, weil er das nicht verbrannt hat, was er dem Feuer hätte übergeben sollen. Unser Freund P*** hat folgende Gewohnheit: sobald er ein paar Zeilen von einem bekannten Schriftsteller entdeckt, veröffentlicht er sie sofort in einer Zeitschrift, ohne es sich gründlich zu überlegen, ob sie dem Autor zur Ehre oder zur Unehre gereichen. Und er besiegelt sein ganzes Werk mit der bekannten Ausrede der Journalisten: „Wir hoffen, die Leser und die Nachwelt werden uns dankbar sein für die Mitteilung dieser wertvollen Zeilen; alles, was von einem großen Mann herrührt, hat Anspruch auf unser Interesse“ und dergleichen mehr. Das alles sind Torheiten. Irgendein unbedeutender Leser wird es ihm vielleicht danken, aber die Nachwelt wird diese kostbaren Zeilen gar nicht beachten, wenn sie nur eine seelenlose Wiederholung dessen sind, was bereits bekannt ist, und wenn sie uns nicht einen Hauch von der Heiligkeit dessen fühlen lassen, was wirklich heilig sein soll. Je erhabener eine Wahrheit ist, um so vorsichtiger muß man mit ihr umgehen; sonst verwandelt sie sich in einen Gemeinplatz und Phrasen schenkt man keinen Glauben. Die Atheisten haben bei weitem nicht soviel Unheil angerichtet, wie die Heuchler oder die Propheten Gottes, die noch nicht genügend für ihr Amt vorbereitet waren und sich erdreisteten, Seinen Namen mit ungeweihten Lippen zu verkünden. Man muß redlich mit dem Worte umgehen: es ist die höchste Gabe, die Gott den Menschen verliehen hat. Wehe dem Schriftsteller, der in einem Augenblick ein Wort spricht, wo er unter dem Einfluß leidenschaftlicher Verirrungen, des Ärgers, des Zornes oder einer persönlichen Abneigung steht, kurz, zu einer Zeit, wo seine Seele noch nicht zu voller Harmonie gelangt ist: dann werden ihm Worte entfliehen, die allen Widerwillen und Ekel einflößen, und in solchen Fällen kann man selbst beim reinsten Streben nach dem Guten Unheil anrichten. Unser obenerwähnter Freund P*** kann als Beweis dafür dienen: er war sein ganzes Leben lang eifrig darum bemüht, seinen Lesern sofort alles mitzuteilen, sie von allem in Kenntnis zu setzen, was er soeben gelernt hatte, ohne zu überlegen, ob ein Gedanke in seinem eigenen Kopfe auch genügend ausgereift war, um auch allen andern vertraut und verständlich zu sein, mit einem Wort — er stellte sich vor den Lesern in seiner ganzen Unklarheit und Verworrenheit zur Schau. Und wie? Haben die Leser etwa das edle und schöne Streben bemerkt, das bei ihm so oft durchleuchtete? Haben sie von ihm angenommen, was er ihnen mitteilen wollte? Nein, sie haben nichts an ihm entdeckt als seine innere Zuchtlosigkeit und Unreinlichkeit, die der Mensch zuallererst bemerkt, und haben nichts von ihm angenommen. Dreißig Jahre lang hat dieser Mensch gearbeitet und gestrebt wie eine Ameise, sein ganzes Leben hindurch war er bemüht, alles eiligst an den Mann zu bringen, was sich ihm an Gegenständen darbot, die zur Bildung und Aufklärung Rußlands beitragen konnten, und kein Mensch hat ihm dafür gedankt; ich bin noch nie einem dankbaren Jüngling begegnet, der erklärt hätte, er schulde ihm Anerkennung für ein neues Licht, das er ihm aufgesteckt, oder für das edle Streben nach dem Guten, das sein Wort ihm eingepflanzt habe. Im Gegenteil, ich mußte ihn oft verteidigen und für die Reinheit seiner Absichten und für die Aufrichtigkeit seiner Worte gegenüber solchen Leuten eintreten, die ihn doch wohl hätten verstehen können. Ja, es wurde mir sogar schwer, jemand zu überzeugen, weil er es verstanden hat, sich so vor allen zu vermummen, daß es völlig unmöglich ist, ihn den Leuten in seiner wahren Gestalt vorzuführen. [Wenn er vom Patriotismus spricht, dann spricht er so über ihn, daß es den Anschein hat, als ob sein Patriotismus ein bezahlter Patriotismus sei; spricht er von der Liebe zum Zaren, einem Gefühl, das er warm und aufrichtig und wie ein Heiligtum in seiner Seele hegt, so äußert er sich so, daß man nichts wie Kriecherei und habsüchtige Liebedienerei herauszuhören meint. Seiner aufrichtigen ungekünstelten Empörung über jede Bestrebung, die Rußland schaden kann, leiht er einen Ausdruck, wie wenn er bestimmte Leute, die er allein kennt, denunzieren wollte. Mit einem Wort, auf Schritt und Tritt verleumdet er sich selbst.] Es ist eine große Gefahr für einen Schriftsteller, mit dem Wort Spott zu treiben: „Ein faules Wort gehe nie aus eurem Munde.“ Wenn sich dies ohne Ausnahme auf jeden von uns bezieht, um wieviel mehr muß es für die gelten, deren Reich — das Wort ist und deren Bestimmung es ist, von allem Schönen und Hohen zu reden. Wehe, wenn mit faulen Worten von heiligen und erhabenen Dingen geredet wird; dann ist es schon besser, man redet mit faulen Worten von faulen Dingen. Alle großen Erzieher der Menschheit haben denen, die die Gabe des Wortes besaßen, in erster Linie ein langes Schweigen auferlegt und zwar gerade dann und in solchen Augenblicken, wo sich in ihnen der Wunsch am stärksten regte, mit Worten zu prunken, und wenn ihre Seele den Drang fühlte, den Menschen viel Gutes und Nützliches zu sagen; sie fühlten, wie leicht man schänden kann, was man erhöhen will, und wie unsere Zunge auf Schritt und Tritt zur Verräterin wird. „Leg’ Tür und Riegel deinem Munde auf“, sagt Jesus Sirach: „Du verzäunest deine Güter mit Dornen; warum machst du nicht vielmehr deinem Munde Tür und Riegel? Du wägest dein Gold und Silber ein; warum wägest du nicht auch deine Worte auf der Goldwage?“

1844.

V
Über den öffentlichen Vortrag russischer Dichtungen
An L**

Ich freue mich, daß man bei uns endlich mit dem öffentlichen Vortrag der Dichtungen unserer russischen Schriftsteller begonnen hat. Man hat nur schon aus Moskau einiges hierüber geschrieben, dort soll man verschiedene Werke der modernen Literatur, darunter auch einige Stücke aus meinen Erzählungen, vorgetragen haben. Ich war immer der Ansicht, daß solche öffentlichen Vorlesungen eine Notwendigkeit für uns sind. Wie es scheint, neigen wir mehr zu gemeinsamem Tun, selbst beim Lesen; wenn wir allein sind, sind wir alle träge, und solange wir sehen, daß sich die andern nicht regen, regen auch wir uns nicht. Ich glaube, wir werden tüchtige Rezitatoren hervorbringen: bei uns gibt es nur wenig Schwätzer, die über die Macht der Rede verfügen und die sich in den Gerichtssälen und Parlamenten hervortun könnten, aber wir besitzen viele Leute, die die Fähigkeit haben, mit jedem andern zu fühlen. Eine Empfindung mitzuteilen, sie mit andern zu teilen, das wird bei manchen geradezu eine Leidenschaft, die um so stärker wird, je mehr sie merken, daß sie sich nicht in Worten auszudrücken vermögen (ein Zeichen ist eine ästhetische Natur). Auch unsere Sprache begünstigt die Ausbildung von Rezitatoren; sie ist wie geschaffen für den kunstvollen Vortrag, da sie über alle Klangnuancen verfügt und die kühnsten Übergänge vom Erhabenen zum Einfachen in ein und derselben Rede ermöglicht. Ich glaube sogar, daß die öffentlichen Vorlesungen bei uns mit der Zeit das Schauspiel ersetzen werden. Ich wünschte freilich, daß für diese Vorlesungen, wie sie heute veranstaltet werden, Werke ausgewählt würden, die es wirklich verdienen, öffentlich vorgetragen zu werden, so daß es auch den Rezitator nicht zu gereuen brauchte, Mühe und Arbeit auf die Vorbereitung zu verwenden. In unserer modernen Literatur aber gibt es nichts Derartiges, und es ist ja auch gar nicht nötig, daß durchaus etwas Modernes vorgetragen wird; das Publikum liest es ja doch ohnedies wegen seiner großen Vorliebe für alles Neue. Alle diese neuen Erzählungen (darunter auch meine eigenen) sind gar nicht bedeutend genug, als daß man sie öffentlich vortragen sollte. Wir sollten uns an unsere Poeten halten, an jene hohen Dichtwerke, die in ihrem Kopfe in langem Nachdenken und langer Arbeit ausreiften und an denen auch der Rezitator lange arbeiten sollte. Unsere Dichter sind heute im Publikum so gut wie unbekannt. Man hat in den Zeitschriften viel über sie geredet, sie ausführlich und unter Aufwand vieler Worte analysiert, aber diese Analysen waren eigentlich mehr eine Selbstcharakteristik der Verfasser als eine solche der Dichter. Die Zeitschriften haben damit nur das erreicht, daß sie die Begriffe, die unser Publikum von seinen Dichtern hatte, noch mehr verwirrt und durcheinandergebracht haben, so daß die Persönlichkeit jedes Dichters für unser Publikum zweideutig und widerspruchsvoll geworden ist und daß sich niemand mehr ein klares Bild davon macht, was eigentlich das wahre Wesen eines jeden Dichters ist. Nur ein kunstvoller Vortrag kann einen klaren Begriff von einem Dichter vermitteln. Aber natürlich sollte der Vortrag nur von einem Redner übernommen werden, der jede kleinste, verschwindende Nuance des Werks, das er vorliest, wiederzugeben vermag. Dazu braucht man kein feuriger Jüngling zu sein, der in der Siedehitze der Begeisterung und in einem Zug an einem und demselben Abend eine Tragödie, eine Komödie, eine Ode und wer weiß was sonst noch herunterzulesen imstande ist. Ein lyrisches Gedicht wie es sich gehört vorzutragen — das ist durchaus keine Kleinigkeit: dazu muß man es erst lange durcharbeiten. Man muß das hohe Gefühl, das die Seele des Dichters erfüllte, aufrichtig mit ihm teilen; man muß jedes seiner Worte mit Herz und Seele nachempfinden und erst dann zum öffentlichen Vortrag schreiten. Solch ein Vortrag wird keineswegs laut und lärmend und nicht aus der Fieberglut geboren sein. Im Gegenteil, er kann sehr ruhig sein, aber die Stimme des Vortragenden wird eine unbegreifliche, nie geahnte Kraft ausströmen, die ein Zeugnis für seine echte innere Rührung ist. Diese Kraft wird sich allen mitteilen und Wunder wirken: auch die, die nie von den Lauten der Poesie ergriffen wurden, werden erschüttert werden. Der Vortrag unserer Dichtwerke kann der Öffentlichkeit sehr zum Nutzen gereichen. In unseren Dichtern gibt es viel Schönes, das nicht bloß gänzlich vergessen, sondern auch verunehrt, schlecht gemacht und dem Publikum in einem gemeinen niedrigen Sinne ausgelegt worden ist, an den unsere hochherzigen Dichter nicht im entferntesten gedacht haben. Ich weiß nicht, von wem der Gedanke stammt, den Ertrag der öffentlichen Vorlesungen den Armen zuzuwenden: dieser Gedanke ist jedenfalls sehr schön. Er kommt besonders heute gerade zur rechten Zeit, wo es in Rußland so viele Menschen gibt, die unter Hungersnot, Feuersbrünsten, Krankheiten und allerhand Mißgeschick zu leiden haben. Wie würden sich die Geister der Dichter, die nicht mehr unter uns weilen, freuen, wenn ein solcher Gebrauch von ihren Werken gemacht würde!

1843.

VI
Wie man den Armen helfen soll
Aus einem Briefe an A. O. Sm—rn—wa.

Ich komme nun zu Ihren Ausfällen gegen die Torheit der (Petersburger) Jugend, die auf die Idee verfallen ist, ausländischen Sängern und Schauspielerinnen goldene Kränze und Becher zu verehren, während in Rußland ganze Provinzen von der Hungersnot heimgesucht werden. Das ist weder Dummheit noch eine Verhärtung des Herzens, das ist nicht einmal Leichtsinn — es ist eine Folge der menschlichen Gleichgültigkeit, die ein gemeinsamer Charakterzug von uns allen ist. Die Leiden und Schrecknisse, die eine Hungersnot mit sich bringt, spielen sich ja in einer großen Entfernung von uns ab, das geschieht tief im Innern der Provinz, und nicht vor unseren Augen — da liegt des Rätsels Lösung, und das erklärt alles! Ein Mensch, der bereit ist, hundert Rubel für einen Parkettplatz im Theater zu bezahlen, um sich am Gesang eines Rubini zu erfreuen, würde sicherlich sein ganzes Hab und Gut verkaufen, wenn er zufällig Augenzeuge eines einzigen von jenen furchtbaren Bildern der Hungersnot sein müßte, vor denen alle Greuel und Schrecken, wie sie in Melodramen dargestellt werden, verblassen. Mit der Veranstaltung von Sammlungen hat es bei uns keine Schwierigkeit, wir sind alle bereit, zu geben. Aber gerade für die Armen ist man heute bei uns nicht allzugern bereit, etwas zu geben, teils, weil nicht jeder davon überzeugt ist, daß seine Gabe auch an ihr Ziel und in die Hände dessen gelangen wird, der sie erhalten soll. Meist gleicht die Hilfe einer Flüssigkeit, die man in der hohlen Hand trägt, und die unterwegs zerrinnt, ehe sie an ihren Bestimmungsort gelangt — und der Notleidende bekommt nichts zu sehen, als die trockene Hand, in der nichts enthalten ist. Das ist’s, was zuerst überlegt sein will, ehe man mit der Sammlung von Gaben beginnt. Hierüber wollen wir später miteinander reden, weil das durchaus keine unwichtige Sache ist, die es wohl wert ist, daß man sie in verständiger Weise bespricht. Nun aber wollen wir einmal gemeinsam überlegen, wo zuerst und vor allem geholfen werden muß. Man sollte in erster Linie solchen Leuten helfen, die von einem plötzlichen unerwarteten Unglücksfall betroffen wurden, durch den sie mit einem Schlage und in einem Augenblick um alles gekommen sind: es kann sich dabei um eine Feuersbrunst handeln, bei der das ganze Hab und Gut bis auf den Grund abgebrannt ist, oder um eine Seuche, der das ganze Vieh zum Opfer gefallen ist, oder um einen Todesfall, der einen Unglücklichen seiner einzigen Stütze beraubt hat — mit einem Wort um jeden plötzlichen Verlust, in dessen Gefolge die Armut mit einem Male über einen Menschen hereinbricht, der gar nicht an sie gewöhnt ist. Da ist Ihre Hilfe am Platze. Dabei aber ist es nötig, daß diese Hilfe auch in wahrhaft christlicher Weise dargebracht werde: wenn sie bloß in einer Geldunterstützung besteht, dann hat sie gar keinen Wert und kann nichts Gutes wirken. Wenn Sie nicht zuvor selbst gründlich über die ganze Lage des Menschen nachgedacht haben, dem Sie helfen wollen, und keinen Rat und keine Unterweisung für ihn mitbringen, wie er von nun an sein Leben einrichten soll, so wird ihm nicht viel Vorteil aus Ihrer Hilfe erwachsen. Der Wert der Unterstützung, die einem Menschen erwiesen wird, kommt selten dem Wert des verlorenen Gutes gleich; im allgemeinen beträgt sie selten soviel wie die Hälfte dessen, was der Mensch verloren hat, oft dagegen nur ein Viertel und zuweilen sogar noch weniger. Der Russe ist überall zum äußersten fähig: wenn er erkennt, daß er mit dem wenigen Gelde, das er erhalten hat, nicht mehr das gleiche Leben führen kann, wie früher, ist er imstande, in seiner Verzweiflung alles auf einmal durchzubringen, was ihm gegeben wird, um ihm für längere Zeit einen Lebensunterhalt zu gewähren. Daher müssen Sie ihn belehren, wie er sich mit dem, was ihm durch Ihre Unterstützung zuteil wurde, aus seiner Lage heraushelfen kann; klären Sie ihn über die wahre Bedeutung des Unglücks auf, damit er einsieht, daß es ihm gesandt ward, auf daß er sein früheres Leben aufgebe und ein anderer werde, wie früher, gleichsam ein neuer Mensch in physischer wie in moralischer Beziehung. Sie werden ihm dies schon in kluger Weise darzulegen wissen, wenn Sie nur seinen Charakter und seine Lebensverhältnisse näher kennen lernen werden. Und er wird Sie verstehen: das Unglück macht den Menschen weicher; sein Wesen wird feiner, zartfühlender, er bekommt mehr Verständnis für Dinge, die die Begriffe eines Menschen übersteigen, der in alltäglichen gewöhnlichen Verhältnissen lebt; er verwandelt sich dann gleichsam in ein Stück warmen Wachses, das man kneten kann, wie man will. Am besten wäre es jedoch, wenn die Hilfe in allen Fällen durch die Vermittlung eines erfahrenen und klugen Priesters dargebracht würde. Nur ein Priester ist imstande, den Menschen über den tiefen heiligen Sinn eines Unglücks aufzuklären, das, in welcher Gestalt und Form es auch immer auf dieser Erdenwelt über einen Menschen hereinbricht, ob er nun in einer ärmlichen Hütte oder in prunkvollen Gemächern wohnt, stets eine Stimme aus dem Himmel ist, die den Menschen auffordert, sein früheres Leben aufzugeben und von Grund aus zu ändern.

1844.

VII
Über Schukowskis Übersetzung der Odyssee
An W. M. Jasykow.

Das Erscheinen der Odyssee wird eine Epoche heraufführen. Die Odyssee ist sicherlich die vollkommenste Dichtung aller Zeiten. Sie ist ein Werk von gewaltigem Umfang. Die Ilias ist ihr gegenüber nur eine Episode. Die Odyssee umfaßt die gesamte antike Welt, das öffentliche und das häusliche Leben, alle Sphären der Menschen jener Zeit mit ihren Beschäftigungen, ihrem Wissen und Glauben ... kurz, es ist beinahe schwer zu sagen, was die Odyssee nicht enthält oder was von ihr übergangen wäre. Während mehrerer Jahrhunderte ist sie den Dichtern der Antike und hierauf allen Dichtern überhaupt eine nie versiegende Quelle gewesen. Ihr entnahmen sie den Stoff für eine unzählige Menge von Tragödien und Komödien; und dies alles machte die Runde durch die Welt und wurde zum Gemeingut aller, während die Odyssee selbst vergessen wurde. Das Schicksal der Odyssee hat etwas Seltsames an sich: sie wurde in Europa nicht in ihrem wahren Werte erkannt. Daran ist teils der Umstand schuld, daß es an einer Übersetzung fehlte, die eine künstlerische Nachbildung des herrlichsten Werkes der Antike darstellte, teils der Mangel einer Sprache, die reich und vollkommen genug war, um all die unendlichen kaum faßbaren Schönheiten der hellenischen Zunge im allgemeinen und Homers im besonderen widerzuspiegeln; und endlich fehlte es auch an einem Volk, das mit einem so reinen jungfräulich unberührten Geschmack begabt gewesen wäre, wie er erforderlich ist, um einen Homer innerlich zu verstehen und nachzuempfinden.

Gegenwärtig wird diese größte Dichtung in die reichste und vollkommenste aller europäischen Sprachen übersetzt.

Schukowskis gesamte literarische Tätigkeit war gleichsam nur die Vorbereitung zu diesem Werk. Er mußte seine Verskunst an Übersetzungen von Dichtwerken aller Nationen und Sprachen schulen und ausbilden, um fähig zu werden, Homers unvergängliche Verse nachzubilden — sein Ohr mußte der Leier aller Völker lauschen, um so feinhörig zu werden, daß ihm der Eigenton der hellenischen Laute nicht entgehen konnte; er mußte auch von dem glühenden Wunsche durchdrungen werden, alle seine Landsleute zu ästhetischem Nutz und Frommen ihrer Seele, zu solcher Liebe zu Homer zu zwingen, es mußte sich im Innern des Übersetzers selbst vieles ereignen, was seine Seele zu höherer Harmonie stimmte und ihr jene hohe Ruhe mitteilte, die dazu erforderlich ist, um ein Werk nachzudichten, das einer solchen ebenmäßigen Harmonie und Ruhe entsprungen ist, er mußte endlich auch noch in tieferem Sinn zum Christen werden, um sich jene weitblickende vertiefte Lebensanschauung anzueignen, wie sie nur ein Christ haben kann, der bereits begriffen hat, was der Sinn des Lebens ist. So viele Voraussetzungen mußten erfüllt werden, damit die Übersetzung der Odyssee nicht zu einer sklavischen Nachbildung werden, sondern damit uns aus ihr das lebendige Wort entgegenklingen und ganz Rußland Homer als etwas Verwandtes und Vertrautes aufnehmen konnte.

Dafür ist auch etwas wahrhaft Wunderbares zustande gekommen. Das ist keine Übersetzung, sondern eher eine Neuschöpfung, eine Restauration, eine Auferstehung Homers. Die Übersetzung scheint uns noch tiefer in das Leben der Alten einzuführen, als selbst das Original. Der Übersetzer ist gleichsam ganz unmerklich zum Kommentator Homers geworden, er hat sich gewissermaßen wie ein die Dinge verdeutlichendes Sehrohr vor den Leser gestellt, das alle unendlichen Schätze Homers noch klarer und bestimmter hervortreten läßt.

Meiner Überzeugung nach haben sich heute die Verhältnisse wie mit Absicht so gestaltet, daß das Erscheinen der Odyssee in unserer Zeit geradezu zur Notwendigkeit werden mußte: in der Literatur wie überall sonst — macht sich eine gewisse Kühle, ein Nachlassen des Interesses bemerkbar. Eine Müdigkeit hat die Menschen ergriffen, man begeistert sich nicht mehr und man ist nicht mehr enttäuscht. Selbst die krampfhaften und krankhaften Produkte unseres Zeitalters, mit ihrem Einschlag aller möglichen unverdauten Ideen, wie sie uns als Folge politischer und anderer Gärungen angeflogen sind, sind sehr im Niedergang begriffen, nur die ewig nachhinkenden Leser, die daran gewöhnt sind, sich an die Schleppe der führenden Journalisten zu hängen, lesen noch hin und wieder etwas Derartiges, ohne in ihrer Einfalt zu bemerken, daß die vorangehenden Leithämmel schon längst sinnend und nachdenklich stehen geblieben sind, da sie selbst nicht wissen, wohin sie ihre umherirrenden Herden führen sollen. Mit einem Wort, jetzt ist eine Zeit gekommen, wo das Erscheinen eines edlen, in all seinen Teilen formvollendeten Werks, das das Leben mit einer wunderbaren Deutlichkeit und Klarheit widerspiegelt und von dem eine hohe Ruhe und der Hauch einer geradezu kindlichen Einfalt ausgeht, von unendlicher Bedeutung sein kann.

Von der Odyssee wird eine große Wirkung auf uns alle und auf jeden einzelnen von uns ausgehen.

Sehen wir einmal zu, was für eine Wirkung sie auf uns alle ausüben kann. Die Odyssee ist das Werk, das alle notwendigen Voraussetzungen dafür enthält, ein Buch zu werden, das allgemein und vom ganzen Volke gelesen wird. Sie vereint in sich die Spannung, die von einem Märchen ausgeht, und die schlichte Wahrheit menschlicher Erlebnisse, die auf jeden Menschen, er mag sein, wer er will, den gleichen Reiz ausüben. Edelleute und Bürger, Kaufleute, Gebildete wie Ungebildete, einfache Soldaten, Bediente, Kinder beiderlei Geschlechts, von jener Altersstufe an, wo die Kinder Freude an Märchen zu bekommen pflegen — sie alle werden sie lesen und ihr lauschen, ohne sich zu langweilen — ein Umstand von ungeheurer Wichtigkeit, besonders wenn man bedenkt, daß die Odyssee zugleich ein wahrhaft moralisches Werk ist und daß der alte Dichter sie nur deshalb gedichtet hat, weil er die Handlungen der damaligen Menschen und ihre Gesetze in lebendigen Bildern darstellen wollte.

Im griechischen Polytheismus liegt nichts Verführerisches für unser Volk. Unser Volk ist klug, es weiß sich selbst solche Dinge, die die gescheitesten Leute in Verlegenheit bringen, ohne viel Kopfzerbrechen zu deuten und zu erklären. Es wird aus alledem nur dies eine entnehmen: wie schwer es für den Menschen ist, allein und ohne Hilfe von Propheten und höherer Offenbarungen zu einer wahrhaften Erkenntnis Gottes zu gelangen, welch unsinnige Vorstellungen und Bilder er sich von Seinem wahren Wesen macht, wenn er die Einheit und die eine Allkraft in eine Vielheit von Kräften und Formen zerspaltet. Es wird nicht einmal über die alten Heiden lachen, weil es sie für gänzlich unschuldig halten wird: zu ihnen sprachen keine Propheten, Christus war noch nicht geboren, Apostel gab es damals noch nicht. Nein, das Volk wird sich eher den Kopf kratzen beim Gedanken, daß es mit geringerem Eifer zu Gott betet und seine Pflicht und Schuldigkeit schlechter erfüllt, als die alten Heiden, obwohl es den wahren Gott in Seiner wirklichen Gestalt kennt, obwohl es Sein geschriebenes Gesetz stets in Händen hat und in seinen Beichtvätern Lehrer und Berater hat, die ihm das Gesetz auslegen. Das Volk wird verstehen, warum der Höchste auch dem Heiden um seines guten Lebenswandels und seines inbrünstigen Gebets willen Seinen Beistand lieh, trotzdem er Ihn aus Unwissenheit in der Gestalt eines Poseidon, Kronion, Hephaistos, Helios, Kypris und der ganzen Schar von Göttern, die die lebhafte Phantasie der Griechen ersonnen hat, anbetete und zu ihnen flehte. Mit einem Wort, das Volk wird den Polytheismus beiseite lassen und sich nur das aus der Odyssee aneignen, was es sich daraus aneignen soll, d. h. das, was allen deutlich sichtbar ist, was den Geist ihres Inhalts bildet und den eigentlichen Zweck ausmacht, um dessentwillen die Odyssee geschrieben ist; er wird daraus die Lehre ziehen, daß dem Menschen überall und auf jedem Gebiet viel Unglück bevorsteht, daß er dagegen ankämpfen muß — denn nur dazu ward dem Menschen das Leben gegeben — daß er niemals verzagen darf, wie Odysseus nie verzweifelte, der sich in schweren Stunden der Not stets an sein Herz wandte, ohne zu ahnen, daß er schon durch diese Wendung an sein eigenes inneres Ich jenes innere an Gott gerichtete Gebet erschuf, das sich jedem Menschen, auch dem, der nicht einmal einen Begriff von Gott hat, auf die Lippen drängt. Das ist das Allgemeine, der lebendige Geist ihres Inhalts, durch den die Odyssee einen Eindruck auf alle machen muß, noch ehe sie entzückt und ergriffen sein werden von ihren dichterischen Vorzügen: der Wahrheit der Bilder und der Lebendigkeit der Schilderungen; noch ehe andre bewundernd staunen werden über die antiken Schätze, die sich hier vor ihnen auftun und die in all diesen Einzelheiten weder von der Skulptur, noch von der Malerei, noch von den antiken Denkmälern im allgemeinen festgehalten wurden; noch ehe wieder andre verwundert dastehen werden über die unglaubliche Kenntnis aller Windungen und Falten der menschlichen Herzen, die alle offen dalagen vor dem blinden Sänger, der alles sah; noch ehe wiederum andre staunen werden über den tiefen staatsmännischen Blick, die große Beherrschung der schweren Kunst der Menschenleitung und -regierung, die der göttliche Alte gleichfalls besaß, er, der ein Gesetzgeber seines eigenen und der kommenden Geschlechter war — mit einem Wort, noch ehe sich jemand je nach seinem Beruf, Handwerk, seiner Beschäftigung, seinen Neigungen, Liebhabereien und seiner persönlichen Eigenart für irgendeine Einzelheit in der Odyssee begeistern wird. Und dies alles nur daher, weil sich dieser Geist ihres Inhalts, dieses ihr inneres Wesen einem jeden mit so greifbarer Deutlichkeit aufdrängt, wie es in keinem andern Werk mit ähnlicher Kraft zum Ausdruck kommt, alles durchdringend und alles beherrschend, besonders wenn wir noch darauf achten, wie lebendig, wie farbig alle Episoden sind, deren jede beinahe die Grundidee zu überstrahlen, in den Hintergrund zu drängen imstande ist.

Warum aber müssen das alle so deutlich empfinden? Darum, weil es dem alten Dichter so tief aus der Seele dringt. Man sieht förmlich auf Schritt und Tritt, wie er das, was er für alle Zeiten im Menschen befestigen und sichern wollte, mit der ganzen bestrickenden Schönheit der Poesie zu umkleiden suchte; wie er danach strebte, was an den Volkssitten gut und lobenswert war, zu erhalten und zu kräftigen, wie er bemüht war, den Menschen an das Beste und Heiligste zu mahnen, was in ihm liegt, und was er jeden Augenblick vergessen kann — in jedem seiner Helden den Menschen ein Muster und Beispiel für jeden Beruf und Stand zu hinterlassen und allen zusammen in seinem unermüdlichen Odysseus ein ewiges Musterbild allgemeinmenschlicher Tätigkeit aufzustellen.

Diese strenge Achtung der Sitten, diese tiefe Ehrfurcht vor der Obrigkeit und den Regierenden, trotz der begrenzten und noch wenig entwickelten Regierungsgewalt, diese jungfräuliche Schamhaftigkeit der Jünglinge, diese Güte und diese Milde der Greise, diese herzliche Gastfreundschaft, dieser Respekt, man möchte fast sagen, diese Ehrfurcht vor dem Menschen, als dem Ebenbilde Gottes, dieser Glaube, daß kein guter Gedanke im Hirne der Menschen entspringt, ohne den souveränen Willen eines höheren Wesens, daß der Mensch aus eigener Kraft nichts zu erreichen vermag — kurz alles, jeder kleinste Zug in der Odyssee kündet von dem inneren Wunsche dieses Dichters aller Dichter, dem Menschen der alten Welt ein lebendiges und vollständiges Gesetzbuch zu hinterlassen, zu einer Zeit, als es noch weder Gesetzgeber noch Stifter von Rechtsordnungen gab, als noch die Beziehungen unter den Menschen durch keine geschriebenen Bestimmungen oder bürgerlichen Rechte geregelt waren, als die Menschen noch sehr vieles nicht wußten, ja nicht einmal ahnten und als allein der göttliche Greis alles sah, hörte, erkannte und ahnte — ein blinder Mann, der der Sehkraft beraubt, die allen Menschen eigen ist, und nur bewaffnet war mit jenem inneren Auge, das die Menschen nicht besitzen.

Wie kunstvoll ist doch die Arbeit langjähriger Überlegungen unter der Schlichtheit eines treuherzigen Berichtes versteckt! Es ist fast, als hätte er alle Menschen zu einer Familie versammelt und säße nun mitten unter ihnen, wie der Großvater unter seinen Enkeln, der gelegentlich selbst dazu bereit ist, mit ihnen zu spielen und Mutwillen zu treiben, und als trage er nun treuherzig seine Erzählung vor, nur darum besorgt, niemand zu ermüden oder durch unangebrachte und allzu lange Belehrungen zu erschrecken, sondern ihn unsichtbar auf Windesflügeln durch die ganze Welt zu tragen, auf daß sich alle spielend aneignen, was dem Menschen durchaus nicht zu Spiel und Scherz gegeben ward, und auf daß sie unmerklich davon kosteten und sich davon erfüllten, was er während seines Jahrhunderts und zu seiner Zeit an Schönstem und Bestem gesehen und erfahren hat. Man könnte das Ganze beinahe für eine ohne jede Vorbereitung dahinfließende Erzählung halten, wenn sich einem nicht nachträglich, nach einer aufmerksamen Analyse die wunderbare Kunst des Baus — des Ganzen sowohl wie die jedes Gesanges im einzelnen enthüllte. Wie dumm sind doch die superklugen deutschen Gelehrten, die den Gedanken aufgebracht haben, Homer sei ein Mythos und all seine Werke seien Volksgesänge und Rhapsodien.

Doch sehen wir nun einmal zu, was für eine Wirkung die Odyssee auf jeden einzelnen von uns ausüben kann. Zunächst wird sie auf unsere Schriftstellerzunft, auf unsere Autoren wirken. Sie wird viele dem Lichte zurückgeben, nachdem sie sie wie ein gewandter Lotse durch den Nebel und die Verwirrung hindurchgesteuert hat, die durch unsere zerfahrene und unausgegorene Schriftstellergeneration heraufbeschworen wurde. Sie wird uns alle wieder daran erinnern, mit welch naiver ungekünstelter Schlichtheit die Natur reproduziert, wie jeder Gedanke bei uns zu einer geradezu greifbaren Klarheit gebracht werden, in welch ruhigem Gleichmaß unsere Rede dahinfließen muß. Sie wird allen unseren Schriftstellern wieder jene alte Wahrheit näher bringen, die wir unser ganzes Leben lang im Auge behalten sollten und die wir doch immer wieder vergessen: daß wir nämlich nicht eher zur Feder greifen sollten, als bis sich in unserem Kopfe alles zu der Klarheit und Ordnung gestaltet hat, daß selbst ein Kind imstande wäre, alles zu verstehen und in seinem Gedächtnis aufzubewahren. Aber eine noch stärkere Wirkung als auf die Schriftsteller wird die Odyssee auf die ausüben, die sich erst auf die Schriftstellerlaufbahn vorbereiten, und die, ob sie nun auf dem Gymnasium sind oder auf der Universität studieren, ihr künftiges Arbeitsfeld noch unklar und wie im Nebel vor sich sehen: diese kann die Odyssee von Anfang an auf den rechten Weg weisen und sie vor einem unnötigen Herumirren in krummen winkligen Gassen bewahren, in denen sich ihre Vorgänger zur Genüge umhergetrieben haben.

Ferner wird die Odyssee auch einen Einfluß auf den Geschmack und die Entwicklung des ästhetischen Gefühls ausüben. Sie wird einen frischen Zug in die Kritik hineintragen. Unserer Kritik hat sich eine gewisse Müdigkeit bemächtigt, sie hat in der Analyse der problematischen Werke unserer neuesten Literatur Ziel und Richtung verloren, sie hat sich in ihrer Verzweiflung auf Seitenwege verirrt, läßt die literarischen Probleme ganz beiseite und produziert nur noch ganz törichtes Zeug. Das Erscheinen der Odyssee aber kann vielleicht viele wirklich gute und tüchtige Kritiken hervorrufen, um so mehr, als es wohl auf der Welt kaum ein zweites Werk gibt, das sich von so vielen Seiten aus betrachten läßt, wie die Odyssee. Ich bin überzeugt, daß die Diskussionen, die Untersuchungen, die Betrachtungen und Erörterungen, die Bemerkungen und Gedanken, zu denen sie Veranlassung geben wird, unsere Zeitschriften mehrere Jahre lang beschäftigen werden. Diese Leser werden nur Vorteil davon haben: die Kritiken werden nicht mehr so hohl und nichtssagend sein. Um eine solche Kritik zu schreiben, muß man viel lesen, sich über vieles neu orientieren, viel erlebt und über vieles nachgedacht haben; ein hohler und oberflächlicher Kopf wird über die Odyssee kaum etwas zu sagen wissen.

Drittens kann die Odyssee in dem russischen Gewande, das ihr Schukowski gegeben hat, viel zur Reinigung unserer Sprache beitragen. Bei keinem unserer Schriftsteller, in keinem der früheren Werke Schukowskis, ja nicht einmal bei Puschkin und Krylow, die häufig im Ausdruck, in ihren Wendungen noch schärfer und genauer sind, als jener, hat die russische Sprache einen solchen Reichtum, eine solche Vollkommenheit erreicht. Hier finden sich alle ihre Wendungen und Nuancen in sämtlichen Variationen und Abstufungen. Diese ungeheuren unendlichen Perioden, die bei jedem andern matt und dunkel wirken würden, und andererseits wiederum die knappen kurzen Perioden, die bei andern hart und abgerissen klingen und der Rede etwas Herbes, Gefühlloses verleihen würden, stehen bei Schukowski so brüderlich zusammen, alle Übergänge und der Zusammenstoß der Gegensätze vollziehen sich mit einem solchen Wohllaut, alles fließt so in eins zusammen und läßt die schwerfällige Masse des Ganzen sich so zerteilen und verschwinden, daß man den Eindruck hat, als hätten der Bau und das Gefüge der Sprache sich überhaupt verflüchtigt; sie scheinen nicht mehr vorhanden zu sein, so wie auch der Übersetzer völlig verschwindet. Statt seiner aber steht der greise Homer in seiner ganzen majestätischen Größe vor unseren Augen, und wir hören die hehren, gewaltigen, ewigen Worte, die nicht dem Munde eines Menschen entstammen, sondern deren Bestimmung es ist, — ewig durch die Welt zu tönen. Jetzt werden unsere Schriftsteller erkennen, mit welch kluger Vorsicht jedes Wort und jeder Ausdruck verwendet sein will, wie man jedem schlichten Wort seine hohe Würde wiedergeben kann durch die Kunst, ihm seinen richtigen Platz anzuweisen, und was für ein solches Werk, dessen Bestimmung es ist, in den Händen aller zu sein und von allen genossen zu werden — das ein geniales Werk ist, diese äußere Wohlgestalt und dieser äußere Anstand, diese Durchbildung und Abrundung des Ganzen bedeuten: hier fällt jedes kleinste Staubkörnchen ins Auge und wird von jedem bemerkt. Schukowski vergleicht diese Staubkörnchen sehr richtig mit Papierschnitzeln, die in einem herrlich ausgeschmückten Prunkgemach herumliegen, wo von der Decke herab bis zum Parkett alles glänzt und strahlt wie ein Spiegel: jeder Eintretende wird zuallererst diese Papierschnitzel bemerken, und zwar aus demselben Grunde, aus dem er sie in einem unsauberen unaufgeräumten Zimmer überhaupt nicht entdecken würde.

Viertens wird die Odyssee sowohl die Wißbegierde derer, die sich mit der Wissenschaft beschäftigen, wie auch derer, die keine Wissenschaft studiert haben, befruchten, indem sie uns eine lebendige Kenntnis der antiken Welt vermitteln wird. In keinem Geschichtswerk kann man das finden, was man aus ihr schöpfen kann; von ihr geht ein lebendiger Hauch der Vergangenheit aus; der antike Mensch steht lebendig vor unseren Augen, als hätten wir ihn erst gestern gesehen und mit ihm gesprochen. Man sieht ihn förmlich vor sich in seinem ganzen Tun und Treiben und zu allen Tageszeiten: wie er sich andächtig zum Opfer vorbereitet, wie er beim Becher ehrsam mit dem Gastfreund spricht, wie er sich ankleidet, wie er auf den Platz hinaustritt, wie er den Reden der Greise lauscht und die Jünglinge belehrt; sein Haus, sein Wagen, sein Schlafgemach, das kleinste Möbelstück im Hause, von den Tischen, die hereingetragen werden, bis zum Riemenriegel an der Tür — alles steht noch frischer und lebendiger vor unseren Augen, als in dem ausgegrabenen Pompeji.

Und endlich bin ich sogar der Ansicht, daß von dem Erscheinen der Odyssee eine Wirkung auf den heutigen Geist unserer Gesellschaft im allgemeinen ausgehen wird. Gerade in unserer Zeit, wo durch den geheimnisvollen Willen der Vorsehung überall ein schmerzlicher Schrei der Unbefriedigung durch die Welt geht, ein Schrei der Unzufriedenheit mit allem, was es auf der Welt gibt, mit den Zuständen, mit der Zeit, wie mit uns selbst, wo allen endlich die Vollkommenheit, bis zu der uns unser moderner bürgerlicher Geist und die Aufklärung emporgehoben haben, verdächtig zu werden beginnt, wo sich bei jedem ein unbewußtes Sehnen fühlbar macht, etwas anderes zu sein, als das, was man ist, ein Sehnen, das vielleicht aus der edlen Quelle, dem Wunsche, besser zu sein, entspringt; wo durch die törichten Losungen und durch die übereilte Verkündigung neuer ganz unklar erfaßter Ideen hindurch sich ein allgemeines Streben Bahn bricht, sich mehr einer dunkel ersehnten Mitte zu nähern, das wahre Gesetz unseres Handelns, sowohl das der Massen, wie das jedes einzelnen zu finden, in einer solchen Zeit muß die Odyssee durch die patriarchalische Größe des antiken Lebens, durch die unkomplizierte Einfachheit der das öffentliche Leben bewegenden Triebfedern, durch die Frische des Lebens, durch die noch durch nichts abgestumpfte kindliche Heiterkeit des Menschen, ergreifen. Aus der Odyssee wird unserem neunzehnten Jahrhundert ein starker Vorwurf entgegentönen, und dieser Vorwurf wird nicht verstummen, je tiefer es in sie eindringen und je mehr es sich mit ihr vertraut machen wird.

Was kann zum Beispiel einen stärkeren Eindruck machen, als der Vorwurf, den wir in unserer Seele vernehmen, wenn wir sehen, wie der antike Mensch, mit seinen geringen Werkzeugen, bei der großen Unvollkommenheit seiner Religion, die ihm sogar erlaubte, zu stehlen, Rache zu üben, seine Zuflucht zu List und Tücke zu nehmen, um den Feind zu vernichten, mit seiner rebellischen, harten, nicht zum Gehorsam neigenden Natur und seinen schwachen Gesetzen es verstanden hat, durch die bloße Erfüllung der von den Vorfahren ererbten Sitten und Gebräuche — die nicht umsonst von den alten Weisen eingeführt und festgesetzt worden waren, und die nun auf ihr Gebot wie ein Heiligtum vom Vater auf den Sohn vererbt wurden, — wenn wir sehen, wie der Mensch der alten Zeit es verstanden hat, durch bloße Erfüllung dieser Sitten seinen Handlungen eine gewisse strenge Form, ein gewisses Ebenmaß, ja sogar eine gewisse Schönheit zu verleihen, so daß alles an ihm vom Kopf bis zu der Zehe, jedes seiner Worte, die einfachste Bewegung, ja selbst der Faltenwurf seines Gewandes Größe und Würde atmete, und daß man in ihm wirklich den göttlichen Ursprung des Menschen zu ahnen glaubt? Wir dagegen, mit all unseren gewaltigen Mitteln und Werkzeugen der Vervollkommnung, mit der Erfahrung aller Jahrhunderte, mit unserer schmiegsamen, gelehrigen Natur, mit unserer Religion, die uns doch nur zu dem Zweck gegeben ward, damit wir heilige und göttliche Menschen werden — wir haben es mit all diesen Mitteln zu nichts gebracht, als zu einer gewissen inneren, wie äußeren Unordnung, Disharmonie und Zerfahrenheit, wir wußten nichts aus uns zu machen, als traurige, halbe, zerstückelte und kleinliche Menschen, vom Kopf bis zu den Füßen, ja bis zu unserer Kleidung, und zu alledem sind wir uns gegenseitig so zuwider geworden, daß keiner den andern mehr achtet; nicht einmal die tun es, die immer von der allgemeinen Menschenachtung reden.

Mit einem Wort, die Odyssee wird auf die an ihrer europäischen Vollkommenheit Leidenden und Krankenden eine starke Wirkung ausüben. Sie wird sie an vieles Kindlich-Schöne erinnern, das uns leider verloren gegangen ist, das die Menschheit sich jedoch wiedererobern muß, als ihr rechtmäßiges Erbe. Viele werden zum Nachdenken über manche Dinge angeregt werden. Zugleich aber wird vieles aus den alten patriarchalischen Zeiten, die dem russischen Wesen so nah verwandt sind, sich unsichtbar über das russische Land verbreiten. Der Wohlgeruch atmende Mund der Poesie vermag unserer Seele manches einzuhauchen, was ihr weder mit Gewalt, noch durch die Kraft des Gesetzes eingepflanzt werden kann.

VIII
Einige Worte über unsere Kirche und unsere Geistlichkeit.
Aus einem Brief an den Grafen A. P. T.

Sie beunruhigen sich unnötigerweise wegen der Angriffe, die heute in Europa gegen unsere Kirche gerichtet werden. Auch unsere Geistlichkeit der Gleichgültigkeit anzuklagen, wäre eine Ungerechtigkeit. Warum wollen Sie, daß unsere Geistlichkeit, die sich bisher durch eine würdige überlegene Ruhe ausgezeichnet hat, die ihr so wohl anstand, sich unter die europäischen Schreier mischen und gleich ihnen oberflächliche, ungenügend durchdachte Broschüren erscheinen lassen soll? Unsere Kirche hat sehr weise und klug gehandelt. Um sie zu verteidigen, muß man sie erst selbst kennen gelernt und begriffen haben. Wir aber kennen unsere Kirche sehr schlecht. Unsere Geistlichkeit sitzt nicht müßig da. Ich weiß genau, daß im Innern unserer Klöster und in der Stille unserer Klosterzellen an unwiderleglichen Werken zum Schutz und zur Verteidigung unserer Kirche gearbeitet wird. Und diese Männer, gerade diese Männer tun ihre Pflicht und Schuldigkeit weit besser, als wir; sie beeilen sich nicht, und arbeiten in der Erkenntnis dessen, was ein solcher Gegenstand erfordert, in tiefer Ruhe an ihrem Werk. Sie schaffen in ständigem Gebet und in der Arbeit der Selbsterziehung; indem sie alle Leidenschaften und alles, was einer unstatthaften, sinnlosen Fieberhitze gleichsieht, aus ihrer Seele austreiben und sie bis zu der Höhe himmlischer Leidenschaftslosigkeit zu erheben suchen, auf der sie sich erhalten muß, wenn sie stark genug sein will, um einen solchen Gegenstand zu behandeln. Aber auch diese Verteidigungsschriften werden noch nicht genügen, um einen römischen Katholiken vollständig zu überzeugen. Unsere Kirche muß in uns selbst geheiligt werden und nicht durch unsere Worte. Wir selbst müssen unsere Kirche werden und durch uns muß ihre Wahrheit verkündigt werden. Man sagt, daß es unserer Kirche an Lebenskraft fehlt, aber man spricht die Unwahrheit, denn unsere Kirche ist das Leben. Freilich ist man ganz logisch und durch einen richtigen Schluß zu diesem falschen Satz gelangt: — Wir selbst nämlich sind tot, sind Leichen, und nicht die Kirche, und nach uns nennt man unsere Kirche einen Leichnam. Wie sollen wir unsere Kirche verteidigen und was für eine Antwort sollen wir geben, wenn man uns vor folgende Fragen stellt: „Hat die Kirche euch denn zu besseren Menschen gemacht? Tut denn jeder bei euch, wie es sich gehört, seine Pflicht und Schuldigkeit?“ Was sollen wir hierauf antworten, wenn wir es plötzlich tief im Innern fühlen, wenn das Gewissen es uns sagt, daß wir die ganze Zeit über neben unserer Kirche hergewandelt, an ihr vorübergegangen sind und sie nicht einmal jetzt ordentlich kennen? Wir sind im Besitze eines Schatzes von unendlichem Wert und bemühen uns nicht, uns ein Gefühl dafür zu verschaffen, sondern wissen nicht einmal, wo wir ihn verwahrt halten. Man bittet den Herrn des Hauses, er möge doch den kostbarsten Gegenstand vorzeigen, den sein Haus birgt, und der Herr weiß selbst nicht, wo dieser Gegenstand sich befindet. Diese Kirche, die sich seit den Zeiten der Apostel allein in ihrer unberührten ursprünglichen Reinheit erhalten hat, wie eine keusche Jungfrau, diese Kirche, die mit all ihren tiefen Lehren und ihren kleinsten äußeren Zeremonien gleichsam unmittelbar um des russischen Volkes willen vom Himmel herabgestiegen ist, sie, die allein fähig ist, alle Zweifelsknoten und alle unsere Fragen zu lösen, sie, die angesichts des ganzen Europa das größte und unerhörteste Wunder zu vollbringen vermag, indem sie jeden unserer Stände, alle Ämter und Berufe veranlassen kann, sich in den ihnen gesetzten Grenzen zu halten, ohne den Staat in irgendeiner Weise umzuwälzen oder zu erschüttern, Rußland groß und stark zu machen und die ganze Welt durch die wohlgefügte harmonische Ordnung eines Organismus in Staunen zu setzen, durch den es bisher nur Schrecken verbreitete, — diese Kirche ist uns bisher ganz unbekannt! Diese für das Leben geschaffene Kirche haben wir noch immer nicht in unserem Leben zur Wahrheit gemacht.

Nein, Gott bewahre uns davor, unsere Kirche jetzt verteidigen zu wollen. Das hieße sie herabsetzen. Für uns gibt es nur eine Art der Propaganda — unser Leben selbst. Durch unser Leben müssen wir unsere Kirche verteidigen, die durchaus nichts anderes ist, als Leben, durch den reinen Atem unserer Seelen müssen wir ihre Wahrheit verkünden. Mögen die Missionäre des römischen Katholizismus sich an die Brust schlagen, mit den Händen fuchteln und die Beredsamkeit ihrer Seufzer und Worte mit schnell trocknenden Tränen begleiten. Der Verkünder des griechischen Katholizismus aber soll so vor das Volk treten, daß schon beim bloßen Anblick seiner demutsvollen Gestalt, der erloschenen Augen und der ruhigen ergreifenden Stimme, die tief aus der Seele dringt und in der alle weltlichen Wünsche erstorben sind, alles erschüttert wird, noch ehe er erklärt hat, worum es sich handelt, und alles wie aus einem Munde zu ihm spricht: „Du brauchst nichts zu sagen: wir vernehmen, auch ohne daß du ein Wort redest, die heilige Wahrheit deiner Kirche.“

IX
Über denselben Gegenstand
Aus einem Briefe an den Grafen A. P. T.

Die Ansicht, daß unsere Kirche bei uns so wenig Autorität und Bedeutung hat, weil unsere Geistlichkeit nicht weltgewandt genug ist und es nicht versteht, sich in der Gesellschaft zu bewegen, ist genau so töricht, wie die Behauptung, unsere Geistlichkeit werde durch die Satzungen unserer Kirche an jeder Berührung mit dem Leben gehindert und durch die Regierung in ihrem Handeln beschränkt. Freilich sind unserer Geistlichkeit bei ihrem Verkehr mit der Welt und mit den Menschen strenge und wohlberechtigte Schranken gezogen. Glauben Sie mir, es wäre nicht gut, wenn unsere Geistlichen häufiger mit uns zusammenkämen, an unseren täglichen Zusammenkünften und Vergnügungen teilnähmen oder sich in unsere Familienangelegenheiten mischen würden. Der Geistliche ist vielen Versuchungen ausgesetzt, in weit höherem Maße als wir: er würde sicher zu all jenen Intrigen im Schoße der Familien kommen, die man den römisch-katholischen Priestern zum Vorwurf macht. Die römisch-katholischen Geistlichen sind gerade deshalb so verderbt und korrumpiert, weil sie zu weltlich geworden sind. Unsere Geistlichkeit hat zwei Gebiete, auf denen sie sich betätigen kann und auf denen sie mit uns zusammentrifft: die Beichte und die Predigt. Auf diesen beiden Gebieten, auf deren erstem sich nur ein- bis zweimal jährlich Gelegenheit zur Betätigung bietet, während man sich auf dem zweiten jeden Sonntag treffen kann, läßt sich sehr viel leisten. Und wenn der Priester es nur verstände, angesichts des vielen Häßlichen und Bösen, das er im Menschen findet, bis zum richtigen Zeitpunkt zu schweigen und sich’s gründlich zu überlegen, wie er sich ausdrücken, wie er so zu den Menschen reden solle, daß jedes seiner Worte ihnen tief zu Herzen dringt, so wird er bei der Beichte und in der Predigt so starke mächtige Worte dafür finden, wie ihm dies in seinen täglichen Unterhaltungen mit uns nie gelingen würde. Er muß von einem erhöhten Platz zu dem mitten im Weltgetriebe stehenden Menschen reden, damit der Mensch den Eindruck gewinne, daß nicht ein Priester vor ihm stehe, sondern Gott selbst, der sie alle beide hört, und daß von Seiner unsichtbaren Gegenwart ein Hauch ausgeht, der beide mit ehrfürchtigem Schaudern erfüllt. Nein, es ist sogar gut, daß unsere Geistlichkeit sich in einer gewissen Entfernung von uns hält. Es ist gut, daß sie sich sogar durch ihre Kleidung, die keinerlei Wandlungen und Launen unserer törichten Mode unterworfen ist, von uns unterscheidet. Diese Kleidung ist schön, groß und würdig. Das ist kein sinnloses, aus dem achtzehnten Jahrhundert übernommenes Rokoko, das ist nicht die aus buntem Flitter zusammengesetzte, nichtssagende Kleidung der römisch-katholischen Priester. Diese Kleidung hat einen tiefen Sinn: sie ist ein Abbild, sie gleicht jener Kleidung, die der Heiland selbst getragen hat. Der Geistliche soll auch in seiner Kleidung ein ewiges Erinnerungszeichen an Den mit sich führen, dessen Abbild er für uns sein soll, damit seine Seele sich auch nicht für einen Augenblick vergessen und in den Genüssen, Zerstreuungen und den nichtigen weltlichen Sorgen verlieren kann, denn von ihm wird tausendmal strengere Rechenschaft gefordert werden, als von irgendeinem unter uns; daher sollen die Geistlichen immer daran erinnert werden, daß sie gleichsam andre, höhere Menschen sind. Nein, solange der Priester noch jung ist, solange er das Leben noch nicht kennt, soll er überhaupt nur bei der Beichte und bei der Predigt mit den Menschen zusammentreffen. Und wenn er sich schon einmal in eine Unterhaltung mit einem von ihnen einläßt, so sollen dies nur die Weisesten und Erfahrensten unter ihnen sein, die ihn die Seele und das Herz des Menschen kennen lehren, und die ihm das Leben in seiner wahren Gestalt und in seinem wahren Lichte und nicht in dem Lichte, in dem es einem unerfahrenen Menschen erscheint, darstellen können. Der Priester muß auch Zeit für sich selbst haben, er muß an sich selbst arbeiten können. Er muß sich ein Beispiel an unserem Heiland nehmen, der lange Zeit in der Wüste weilte und erst, nachdem er sich durch ein vierzigtägiges Fasten darauf vorbereitet hatte, zu den Menschen hinausging, um ihnen seine Lehre zu bringen. Einzelne kluge Köpfe sind bei uns auf den Einfall gekommen, man müsse sich in der Welt herumbewegen, um sie kennen zu lernen. Das ist grundfalsch. Diese Ansicht wird durch alle Weltleute widerlegt, die sich ihr ganzes Leben lang in der Welt bewegen und doch die hohlsten und leersten Menschen sind. Nicht inmitten der Welt selbst wird man für die Welt erzogen, sondern fernab von ihr in tiefer innerster Selbstbetrachtung, in der Erforschung der eigenen Seele, denn dort liegen die Gesetze aller Dinge verborgen: suche zuvor den Schlüssel zu deiner eigenen Seele; hast du ihn erst gefunden, so wirst du mit diesem Schlüssel auch die Seelen aller anderen aufschließen.

X
Über das Lyrische bei unseren Poeten
An W. A. Schukowski

L uns von dem Aufsatz sprechen, über den das Todesurteil gefällt ist, d. h. von dem Aufsatz, der die Überschrift: „Über das Lyrische bei unseren Poeten“ trägt. Vor allem: Dank für das Todesurteil! So ward ich denn bereits zum zweitenmal von dir gerettet, du mein wahrhafter Lehrer und Erzieher! Schon im vergangenen Jahre hat deine Hand mir Halt geboten, als ich eben im Begriff war, Pletnjew für seinen „Sowremennik“ meine Betrachtungen über unsere russischen Dichter zu senden; und nun hast du eine neue Frucht meines Unverstandes der Vernichtung preisgegeben. Du bist der einzige, der mir noch Einhalt gebietet, während mich die andern alle anfeuern und ermuntern; weiß ich doch selbst nicht wozu. Wieviel Torheiten hätte ich schon begangen, wenn ich nur auf meine andern Freunde gehört hätte! So, da hast du meinen Dankhymnus: und nun zu dem Aufsatz selbst. Ich werde schamrot, wenn ich daran denke, wie dumm ich noch immer bin, wie ich so gar nicht verstehe, von gescheiteren Dingen zu reden. Am törichtesten aber geraten meine Gedanken und Betrachtungen über die Literaten. Hier kommt alles, was ich schreibe, besonders geschwollen, dunkel und unverständlich heraus. Ich bin nicht imstande, meine eigenen Gedanken auszudrücken und niederzuschreiben, die ich doch nicht nur im Geiste vor mir sehe, sondern auch mit dem Herzen erahne und erfühle. Der Kern meines Aufsatzes ist vernünftig und richtig, und doch habe ich mich so ausgedrückt, daß jeder meiner Ausdrücke zum Widerspruch herausfordert. Ich muß es noch einmal wiederholen: in der Lyrik unserer Dichter liegt etwas, was kein Poet einer andern Nation besitzt — es ist dies jenes Etwas, das an die Bibel gemahnt, — jene höhere Art Lyrik, die nichts gemein hat mit leidenschaftlicher Schwärmerei und nur der sichere Aufschwung im Lichte des Verstandes, der höchste Triumph geistiger Nüchternheit ist. Ich will hier nicht einmal von Lomonossow und Dershawin reden, selbst bei Puschkin tritt einem diese strenge Lyrik überall da entgegen, wo er einen großen Gegenstand behandelt. Denke nur an solche Gedichte wie: An einen Kirchenfürsten, der Prophet, oder sogar an jene geheimnisvolle Flucht aus der Stadt, die erst nach seinem Tode veröffentlicht wurde. Aber nimm einmal die Gedichte von Jasykow und du wirst sehen, daß er stets unendlich hoch über die Leidenschaft, ja sogar über sich selbst hinauswächst, wenn er an etwas Höheres rührt. Ich möchte hier eines seiner Jugendgedichte „Der Genius“ als Beispiel anführen. Es ist übrigens nicht lang.

Einst stürmte der Prophet, der hohe,

Mit Blitz und Donner himmelwärts,

Und eine mächt’ge Feuerlohe

Erfüllte da Elisas Herz.

Es reckte sich sein Geist empor;

Ein heiliges Gefühl erblühte

In ihm, der vor Begeistrung glühte,

Und Gottes Stimme lauscht’ sein Ohr.

So wird der Genius mit Beben

Sich eigner Größe froh bewußt,

Sieht er den Bruder aufwärts streben

Mit Donnerlaut aus Erdendust.

Und hehrer Wundertat entgegen

Die Kräfte reifen neu erwacht,

Und seiner Werke hoher Segen

Strahlt sternengleich durch Weltennacht.

Welch leuchtende Klarheit und welche strenge, erhabene Größe! Ich suchte das dadurch zu erklären, daß unsere Dichter jeden großen Gegenstand in seinem richtigen Zusammenhang mit dem höchsten Quell aller Lyrik, mit Gott sehen, die einen bewußt, die andern unbewußt, weil die russische Seele, wie sich das aus dem russischen Wesen selbst ergibt, dies aus irgendeinem Grunde ganz von selbst fühlt. Ich sagte, daß es vorzüglich zwei Gegenstände sind, die unsere Dichter zu dieser, der biblischen so nahestehenden Art der Lyrik begeistert haben. Der erste ist — Rußland. Bei dem bloßen Klang dieses Namens erhellt sich plötzlich das Auge unseres Poeten, erweitert sich sein Horizont, wird alles um ihn herum größer und weiter, wächst er selbst gewissermaßen zu höherer Würde und Größe empor, und erhebt er sich hoch über den gewöhnlichen Menschen. Das ist mehr als bloße Liebe zum Vaterland. Demgegenüber erschiene die Vaterlandsliebe fast wie ekle Prahlerei. Ein Beweis dafür sind unsere Hurrapatrioten. [Ihre übrigens meist ganz aufrichtigen Lobhymnen können einem Rußland beinahe verleiden.] Wenn dagegen ein Dershawin von Rußland spricht — dann fühlt man eine übernatürliche Kraft durch seine Adern rinnen, man ist gleichsam ganz erfüllt von der Größe Rußlands. Die Vaterlandsliebe allein hätte — gar nicht erst zu reden von Dershawin — nicht einmal einem Jasykow die Kraft dieses großen, feierlichen Ausdrucks verliehen, der sich jedesmal einstellt, wenn er von Rußland redet. So zum Beispiel in den folgenden Versen, wo er darstellt, wie Stephan Batorius gegen Rußland in den Krieg zieht.

Schon rüstet Stephan sich zur Schlacht,

Schon eilt er, seine ganze Macht

Zu einer Heerschar zu verdichten,

Um, wenn er Pskow den Tod gebracht,

Rußland für immer zu vernichten!

Doch du, o heil’ges Vaterland,

Du hehre Liebe unsrer Ahnen,

Du riss’st das Schwert aus seiner Hand.

Nicht siegten diesmal seine Fahnen.

Diese nüchterne, ruhige Heldenkraft, die sich zuweilen sogar unwillkürlich mit einer prophetischen Verherrlichung Rußlands verbindet, entspringt daraus, daß der Gedanke unbewußt an die höchste Vorsehung rührt, deren Walten so deutlich in den Schicksalen unseres Vaterlandes zum Ausdruck kommt. — Außer der Liebe aber ist hieran auch noch das tiefe, innere Entsetzen über die Vorgänge beteiligt, die sich durch Gottes Willen auf jenem Stück Erde abspielen sollten, jenem Stück Erde, das dazu bestimmt war, unser Vaterland zu werden, sowie die Vorahnung eines neuen, herrlichen Baus, der sich, zunächst noch nicht für alle sichtbar, errichtet, dessen Wachsen nur der Dichter mit dem scharfen Ohr der Poesie, das alles hört, oder ein solcher Seelenkenner, der schon im Samen die künftige Frucht erkennt, zu vernehmen vermag. Heute beginnen allmählich auch die andern Menschen etwas davon zu erkennen, aber sie drücken sich so unklar aus, daß ihre Worte Torheit zu sein scheinen. Du hast unrecht, wenn du annimmst, daß die heutige Jugend, wenn sie vom Slawentum träumt und prophetisch von Rußlands Zukunft spricht, einer Modeströmung folgt. Sie verstehen es nicht, ihre Gedanken in ihren Köpfen ausreifen zu lassen, und beeilen sich, sie der Welt zu verkünden, ohne zu bemerken, daß ihre Gedanken noch törichte Kinder sind — das ist alles. Auch bei den Juden lehrten gleichzeitig vierhundert Propheten: von diesen war gewöhnlich nur einer der Gesandte Gottes, dessen Reden in das heilige Buch des jüdischen Volkes eingetragen wurden; alle andern werden viel Unnützes und Überflüssiges zusammengeredet haben, trotzdem aber haben wohl auch sie dunkel und unklar dasselbe vernommen, was die Auserwählten klar und verständig auszusprechen wußten; sonst hätte das Volk sie sicherlich gesteinigt. Warum sind denn weder Frankreich, noch England, noch Deutschland von dieser Strömung ergriffen und prophezeien und künden nicht von sich selbst, warum tut dies Rußland allein? Nun, weil Rußland es deutlicher fühlt, wie Gottes Hand auf allem ruht, an allem teilhat, was sich mit unserem Lande zuträgt, und weil es ein neues Reich herannahen fühlt. Daher die biblischen Töne bei unseren Dichtern. Daher kann solches bei den Dichtern anderer Nationen nicht vorkommen, und wenn sie ihr Vaterland noch so innig lieben und dieser Liebe einen noch so glühenden Ausdruck zu geben vermögen. Und hier darfst du nicht mit mir streiten, mein herrlicher Freund.

Doch laß uns nun zu dem andern Gegenstande übergehen, an dem sich die Lyrik unserer Dichter gleichfalls zu jenem hohen, lyrischen Schwunge erhebt, von dem hier die Rede ist: laß uns der Liebe zum Zaren gedenken. Die zahlreichen Hymnen und Oden auf unsere Zaren haben unserer Poesie schon seit den Zeiten Lomonossows und Dershawins jene erhabene, königliche Note verliehen. Daß diese Gefühle aufrichtig sind, darüber brauchen wir wohl nicht erst zu sprechen. Nur Geister von kleinlichem, nörgelndem Witz, der nur karger, blitzartiger, oberflächlicher Gedanken und Erwägungen fähig ist, werden dahinter nichts wie Schmeichelei und den Wunsch, einen Vorteil für sich herauszuschlagen, suchen, und werden diese Behauptung auf ein paar unbedeutende und schlechte Oden jener Dichter gründen. Der dagegen, der nicht nur geistreich, der mehr ist, der Einsicht und Weisheit besitzt, wird bei jenen Oden Dershawins verweilen, in denen er den weiten Kreis nützlicher, wohltätiger Wirksamkeit vor dem Herrscher beschreibt, und wo der Dichter selbst mit Tränen in den Augen zu ihm von den Tränen spricht, die den Augen — nicht nur der Russen — nein auch gefühlloser Wilden, die an den äußersten Enden seines Reiches wohnen, entströmen würden bei der bloßen Berührung mit der Milde und Liebe, die nur die allmächtige Hand des Herrschers ihrem Volke erweisen kann. Hier ist vieles zu so gewaltigem Ausdruck emporgehoben, daß selbst, wenn sich einmal ein Herrscher finden sollte, der für eine Zeitlang seine Pflicht vergäße, er sich beim Lesen dieser Zeilen unfehlbar wieder seiner Schuldigkeit erinnern und von tiefer Rührung über die Heiligkeit seines Amtes ergriffen werden würde. Nur kaltherzige Menschen werden Dershawin wegen seiner übermäßigen Verherrlichung Katharinas tadeln; der dagegen, der keinen Stein an Stelle des Herzens hat, der wird die herrlichen Strophen nicht ohne Rührung lesen, in denen der Dichter davon spricht, daß, wenn seine Gestalt in Marmor gehauen auf die Nachwelt kommen sollte, dies nur deshalb geschehen werde,

Weil ich die Kaiserin besang,

Der Reußen Zarin, welcher keine

Je gleichkommt auf der weiten Welt.

Des rühme, rühm’ dich, meine Leier.

Auch die folgenden, kurz vor dem Tode geschriebenen Verse wird er kaum ohne aufrichtige seelische Erschütterung lesen:

Schlaf sank auf Katharinens Muse nieder;

Das Alter raubte mir die Lieder.

— — — — — — — — ... Bald

Ertönt der andern Lied, wenn meins verhallt,

Und meiner Hand entsinkt die Leier;

In andern glühe nun das Feuer,

Mit dem drei Zaren einst mein Sang

Zu Ruhm und Preis erklang.

Der Greis, der mit einem Fuß im Grabe steht, wird nicht lügen. Während seines ganzen Lebens hat er diese Liebe wie ein Heiligtum in sich gehegt und so hat er sie mit sich ins Grab genommen und ist er ihr auch bis übers Grab treu geblieben. Aber darum handelt es sich ja gar nicht. Woher stammt diese Liebe? Das ist hier die Frage. Daß sie im ganzen Volke, in einem dunkeln Instinkt seines Herzens lebt, und daher auch der Dichter, als der reinste Spiegel seines Volkes, sie laut in sich vernehmen mußte, das erklärt nur die eine Hälfte des Problems. Der ganze, der vollkommene Dichter gibt sich nie an eine Sache hin, ohne sich vorher Rechenschaft über sie abgelegt und ohne sich überzeugt zu haben, daß sie vor der Weisheit und vor dem hellen Lichte seiner Vernunft bestehen kann. Er, der im Besitz eines Ohres ist, das die kommenden Dinge und Ereignisse vernimmt, und der von dem Streben beseelt wird, die Dinge, die die andern nur stückweise, von einer einzigen, oder etwa bloß von zwei Seiten und nicht von allen vier Seiten sehen, in ihrer ganzen Vollkommenheit und Vollständigkeit nachzuschaffen, er konnte nicht anders, als die Kulmination in der Entwicklung und dem Reifen dieser Herrschergewalt voraussehen. Mit welcher Weisheit hat Puschkin die Bedeutung des unumschränkten Monarchen gekennzeichnet! Wie klug war überhaupt alles, was er während seiner letzten Lebensjahre gesagt hat: „Warum,“ so pflegte er zu sagen, „warum muß einer von uns höher als alle, ja selbst noch über dem Gesetze stehen? Darum, weil das Gesetz ein Stück Holz ist; weil der Mensch bei dem Worte Gesetz etwas Kaltes, Hartes empfindet, etwas, dem das Herzliche, Brüderliche fehlt. Mit der buchstäblichen Erfüllung des Gesetzes allein kommt man nicht weit; und doch darf keiner von uns es verletzen oder umgehen; dazu bedarf es eben der höchsten Gnade, die das Gesetz mildert, und die sich für den Menschen lediglich in der unumschränkten Gewalt verkörpern kann. Ein Staat ohne souveränen Monarchen ist ein Automat: es ist schon viel, wenn er es so weit bringt, wie die Vereinigten Staaten. Und was sind die Vereinigten Staaten? Etwas Totes, Abgestorbenes. Die Menschen dort sind so hohl und so leer geworden, daß sie keinen Pfifferling mehr wert sind. Ein Staat ohne souveränen Monarchen gleicht einem Orchester ohne Kapellmeister: die einzelnen Musiker mögen noch so tüchtig sein; wenn es an einem Manne fehlt, der das Ganze mit einer Bewegung des Taktstockes lenkt und im rechten Augenblick das Zeichen gibt, dann wird nie ein gutes Konzert zustande kommen. [Er scheint zwar selbst gar nichts zu tun, er spielt auf keinem Instrument, sondern bewegt nur sein Stöckchen kaum merklich hin und her, und hält Überschau über alle Musiker, und doch genügt ein Blick von ihm, um hier oder dort den rauhen, häßlichen Ton einer täppischen Trommel oder einer plumpen Pauke zu mildern.] In seiner Gegenwart wagt es selbst des Meisters Geige nicht, sich allzu frei gehen zu lassen und die andern zu übertönen; er wacht über der allgemeinen Ordnung, er belebt alles, er, der Herr und Stifter höchster Eintracht und Harmonie!“ Welch tiefes Verständnis besaß er für die großen, ewigen Wahrheiten!

Dieses innere Wesen, diese Macht des selbstherrlichen Monarchen hat er ja auch, wenigstens zum Teil in einem seiner Gedichte zum Ausdruck gebracht, das du übrigens selbst unter seinen nachgelassenen Werken abgedruckt hast. Du hast sogar Korrekturen daran vorgenommen und die Form verbessert; allein du hast den Sinn nicht verstanden. Ich will dir hier des Rätsels Lösung geben. Ich meine die Ode an den Kaiser Nikolaus, die unter dem bescheidenen Titel An N*** erschienen ist. Ihr Ursprung ist folgender: Im Anitschkowpalast fand eine Abendgesellschaft statt, eine von jenen Gesellschaften, zu denen, wie bekannt, nur wenige Auserwählte aus unserer Gesellschaft eingeladen wurden; unter ihnen befand sich an jenem Abend auch Puschkin. Alle Gäste waren bereits in den Sälen versammelt; nur der Kaiser wollte lange Zeit nicht erscheinen. Er hatte sich in den andern Flügel des Schlosses zurückgezogen, die erste freie Minute, während der ihn kein Geschäft rief, benutzt, die Ilias aufgeschlagen und sich ganz unmerklich tief in die Lektüre versenkt, während im Saale schon längst die Musik schmetterte und die Tänze hin und her wogten. Er erschien erst ziemlich spät beim Ball, während auf seinem Gesicht noch die Spuren anderer Eindrücke nachzitterten. Dieses Sichkreuzen zweier widerspruchsvoller Stimmungen wurde von keinem beachtet; auf Puschkins Seele aber machte es einen tiefen Eindruck; die Frucht dieses Eindrucks war folgende grandiose Ode, die ich hier noch einmal anführen will. Sie hat nur eine einzige Strophe:

Lang hieltest Zwiesprach’ du mit dem Homer allein,

Lang harrten wir auf dein Erscheinen,

Und aus der Ätherhöh’ stiegst du im Strahlenschein,

Durch das Gesetz uns zu vereinen.

Doch in der Wüste fandst du uns. Entgegen scholl

Dir gotteslästerliches Singen

Beim wüsten Zechgelag’, du sahst uns blind und toll

Um unsern neuen Götzen springen.

Und wir erschraken, da den Gram und Grimm wir sahen

In deinem Blick voll Hoheitsschimmer;

Und da verfluchtest du den kindisch blöden Wahn,

Schlugst deine Tafeln jäh in Trümmer.

Doch nein, du fluchtest nicht! ... Aus Höhen wolkenfern

Stiegst du ins Tal, das wolkenlose.

Du liebst des Donners Hall, doch lauschest du auch gern

Dem Bienensummen um die Rose.

(Fiedler.)

Aber lassen wir die Person Nikolaus’ II. beiseite und sehen wir zu, was der Monarch im allgemeinen als Gesalbter Gottes bedeutet, er, der die Pflicht hat, das ihm anvertraute Volk dem Lichte entgegenzuführen, in dem Gott wohnt, und laß uns zusehen, ob Puschkin recht hatte, ihn mit dem alten Freunde Gottes, mit Moses zu vergleichen? Der Mensch, auf dessen Schultern das Schicksal von Millionen seiner Brüder gelegt ist, der durch die furchtbare Verantwortlichkeit für sie, die er Gott gegenüber auf sich genommen hat, von jeder Verantwortlichkeit vor den Menschen befreit ist, der unter der Furchtbarkeit dieser Verantwortung leidet und vielleicht im stillen solche Tränen vergießt und so schmerzliche Qualen erduldet, wie sie sich ein tief unten stehender Mensch nicht einmal vorzustellen vermag, dem inmitten aller Sinnengenüsse und Zerstreuungen die ewige, nie verstummende Stimme Gottes in den Ohren klingt, die unaufhörlich mahnend zu ihm spricht, der darf wohl mit Recht dem alten Gottesfreund Moses verglichen werden, der darf, wie er, seine Tafeln in Trümmer schlagen und das leichtsinnige, gaukelnde Menschengeschlecht verfluchen, das, statt danach zu streben, wonach alles, was auf dieser Erde lebt, streben sollte, unruhig und eitel um seine von ihm selbst geschaffenen Götzen springt. Aber was Puschkin so tief bewegte, das war neben allem andern jene höchste Bedeutung der Herrschergewalt, die sich die Ohnmacht und Schwäche der Menschheit vom Himmel herabgefleht hat; und dies Flehen war kein Schrei nach der ewigen Gerechtigkeit, vor der kein Mensch dieser Erde zu bestehen vermöchte, es war ein Schrei nach der himmlischen, göttlichen Liebe, die alles zu vergeben vermag: unsere Pflichtvergessenheit, unser ungeduldiges Murren und unsere Unzufriedenheit, mit einem Wort alles, was ein Erdenmensch nicht verzeihen kann; auf daß ein einziger alle Macht in seiner Person vereinigte, sich von uns allen entfernte und sich über alles Irdische erhob, um sich gerade dadurch allen um so mehr zu nähern, allen gleich zu werden, von seiner Höhe zu uns allen herabzusteigen und allem verständnisvoll zu lauschen: vom Donner des Himmels und der Lyra des Dichters bis herab zu unseren unscheinbarsten Freuden und Vergnügungen.

Es hat den Anschein, als sei Puschkin in diesem Gedicht, nachdem er sich selbst die Frage gestellt hatte, was denn diese Macht eigentlich sei, vor der Größe und Erhabenheit der sich seinem Geiste aufdrängenden Antwort in den Staub gesunken. Es ist gut, hierbei im Auge zu behalten, daß das derselbe Dichter ist, der so ungeheuer stolz auf die Unabhängigkeit seines Geistes und auf seine persönliche Würde war. Niemand hat so gesungen wie er:

Ein Denkmal hab’ ich mir errichtet ohnegleichen;

Zu diesem Geisterbau bewächst nie Gras den Pfad,

Trutzhäuptig überragt es selbst die Ruhmeszeichen,

Die sich Napoleon errichtet hat[2].

(Nach Fiedler.)

An den „Ruhmeszeichen Napoleons“ bist freilich du schuld, aber selbst wenn diese Zeile in ihrer ursprünglichen Fassung erhalten geblieben wäre, sie wäre dennoch ein Beweis, ja ein zwingender Beweis dafür, daß Puschkin, trotzdem er sich persönlich, als Mensch, vielen gekrönten Häuptern überlegen fühlte, doch tief im Innern empfand, wie klein und gering sein Beruf im Vergleich mit dem eines gekrönten Königs war, und daß er es verstand, sich ehrfürchtig vor denen unter ihnen zu beugen, die der Welt die ganze Größe und Erhabenheit ihres Amtes vor Augen geführt haben.

Unsere Dichter haben die hohe Bestimmung des Monarchen durchschaut, indem sie erkannten, daß sie unweigerlich zuletzt ganz in der reinsten Liebe aufgehen, und daß es so allen offenbar werden müsse, warum der Kaiser das Ebenbild Gottes ist, wie dies unser ganzes Land vorerst nur instinktiv fühlt. Diese Bedeutung des Herrschers wird allmählich auch in Europa in derselben Weise zum Ausdruck kommen. Alles zielt darauf hin, in den Fürsten diese höchste göttliche Liebe zu ihrem Volk zu erwecken. Schon vernimmt man den Schrei der Seelennot, an der die ganze Menschheit und beinahe jedes moderne europäische Volk leidet; die Bedauernswerten winden sich alle in ihrem Schmerz und wissen sich selbst nicht zu helfen: jede äußere Berührung ist ihren schmerzenden Wunden eine Pein; jedes Mittel, jede Hilfe, die der Verstand ersinnt, erscheint ihnen rauh und qualvoll und bringt keine Heilung. Dieser Schrei wird schließlich so laut werden, daß selbst das gefühlloseste Herz vor Mitgefühl zerspringen wird, und ein tiefes Mitleid von einer bisher noch nicht gekannten Stärke wird die ganze Kraft einer andern, neuen Liebe wachrufen, wie sie bisher nicht ihresgleichen hatte. Dann wird der Mensch von Liebe zu allem, was menschlich ist, entbrennen — von einer gewaltigen Liebe, wie er noch nie von einer gleichen ergriffen war. Von uns gewöhnlichen Menschen aber wird keiner die ganze Kraft dieser Liebe in sich verwirklichen können, sie wird eine Idee, ein Gedanke bleiben und nie ganz zur Tat werden; nur die können völlig von ihr durchdrungen werden, denen das ewige unwandelbare Gesetz auferlegt ward, alle Menschen zu lieben, wie wenn sie ein einziger Mensch wären. Wenn so der Fürst von Liebe für jeden Menschen seines Reichs, für jeden Beruf und Stand ergriffen werden, und alles, was da lebt, gleichsam zu seinem eigenen Fleisch und Blut machen wird, wenn er in seinem Herzen mit allen leiden, Tag und Nacht um sein leidendes Volk trauern und klagen und für es beten wird, dann wird im Fürsten jene allmächtige Stimme der Liebe lebendig werden, die der leidenden Menschheit allein verständlich ist, die ihre Wunden nicht schmerzlich berühren wird und die allein allen Ständen Frieden und Versöhnung bringen und den Staat in einen wohlgeordneten Chor harmonisch zusammenklingender Stimmen verwandeln kann. Nur da wird ein Volk ganz gesunden, wo der Monarch seine hohe Bestimmung erkennen wird — ein Abbild Dessen auf Erden zu sein, Der selbst die Liebe ist. In Europa ist es niemand in den Sinn gekommen, die höchste Bedeutung, die höchste Aufgabe des Monarchen zu ergründen. Die Staatsmänner, die Gesetzeskundigen und Rechtsgelehrten haben immer nur die eine Seite der Sache in Betracht gezogen, nämlich die, daß der Monarch der höchste Beamte des Staates ist, [der von Menschen eingesetzt ward], und daher wissen sie auch nicht, wie sie sich zu dieser Institution verhalten sollen, [wie sie ihre wahren Grenzen bestimmen sollen], wenn die sich täglich ändernden Umstände es notwendig machen, ihre Kompetenzen zu erweitern oder zu beschränken; dadurch aber wird dort der Fürst seinem Volk und umgekehrt das Volk seinem Fürsten gegenüber in eine sonderbare Lage versetzt; beide betrachten sich gegenseitig beinahe wie zwei Gegner, von denen jeder die Macht auf Kosten des andern an sich reißen will. Bei uns aber haben die Dichter und nicht die Rechtsgelehrten die höchste Bestimmung des Monarchen erkannt; — die Dichter haben Gottes Willen mit ehrfürchtigem Zittern vernommen, sie, d. h. die monarchische Gewalt in Rußland in ihrer wahren Gestalt zu begründen, daher nehmen ihre Töne einen biblischen Charakter an, sobald ihr Mund das Wort „Zar“ ausspricht. Das erkennen bei uns auch die, die keine Dichter sind, weil jede Seite unserer Geschichte zu deutlich von dem Willen der Vorsehung spricht: diese monarchische Gewalt in Rußland in ihrer höchsten und vollkommensten Gestalt zu begründen. Alle Ereignisse, die sich von der Invasion der Tataren ab in unserem Vaterlande abgespielt haben, zielen deutlich darauf hin, alle Macht in der Hand eines einzigen zu vereinigen, um diesen einen zu jener berühmten Umwälzung des ganzen Staats zu befähigen, ihm die Kraft zu verleihen, alle aufs tiefste zu erschüttern, alle aufzurütteln, jeden von uns mit jener höheren Selbsterkenntnis auszurüsten, ohne die der Mensch sich selbst nicht verstehen, sich nicht selbst das Urteil sprechen, und nicht den Kampf gegen Unwissenheit und Finsternis in sich selbst aufnehmen kann, wie ihn der Herrscher in seinem Reiche aufgenommen hat; auf daß nachher, wenn jeder von dieser heiligen Kampfbegeisterung erfaßt und alles sich seiner Kraft bewußt ist, der Einzige wiederum allen voran und die Leuchte in der Hand voraustragend, sein ganzes von einem Geiste beseeltes Volk mit sich reißen und jenem höchsten Lichte entgegenführen könne, nach dem sich Rußland so innerlich sehnt. Und sieh nur, durch welche wunderbare Fügung bereits die Saat der Liebe in die Herzen gesenkt ward, noch ehe sich dem Herrscher selbst und seinen Untertanen die volle Bedeutung dieser monarchischen Gewalt enthüllen konnte. Kein königliches Geschlecht darf sich eines ähnlichen Ursprungs rühmen, wie das der Romanows. Schon dieser ihr Ursprung ist ein hohes Werk der Liebe. Der letzte und geringste der Untertanen des Reichs hat sein Leben hingegeben und hingeopfert, um uns einen Zaren zu schenken, und mit diesem reinen Opfer ein unzerreißbares Band zwischen dem Herrscher und seinem Volk gestiftet. Die Liebe ist uns in Fleisch und Blut übergegangen und hat eine tiefe Blutsverwandtschaft zwischen uns allen und dem Zaren erzeugt. [Und so haben sich Herrscher und Untertanen miteinander verschmolzen und sind so sehr eins geworden, daß es uns allen heute als ein großes Unglück erscheinen würde, wenn der Fürst seinen Untertan vergessen und sich von ihm abwenden oder der Untertan seinen Herrscher vergessen und sich von ihm lossagen wollte.] Wie deutlich kommt der Wille Gottes gerade in dieser Wahl der Romanows und keines andern Fürstengeschlechts zum Ausdruck! Wie unbegreiflich ist diese Erhebung eines ganz unbekannten Jünglings auf den Thron, wo doch Männer aus den ältesten Adelsgeschlechtern und noch dazu verdienstvolle Männer, die ihr Vaterland gerettet hatten: ein Poscharski, ein Trubetzkoi oder endlich eine Reihe von Fürsten, die in direkter Linie von Rjurik abstammten, daneben standen. Und doch wurden sie bei der Wahl übergangen, und es erhob sich keine Stimme des Protestes: auch nicht einer wagte es, seine Rechte geltend zu machen! Und solches geschah in jener finsteren Zeit der Wirren, wo jeder Streit und Unruhe stiften und Scharen von Anhängern um sich sammeln konnte. Und wer wurde erwählt? Einer, der in weiblicher Linie ein Verwandter jenes Zaren war, der noch vor kurzem die Erde in Schrecken gesetzt hatte, [so daß nicht nur unter den Bojaren, denen er nachgestellt und die er verfolgt hatte, sondern auch im Volk, das kaum etwas von ihm zu leiden gehabt hatte, noch lange das Sprichwort im Schwange blieb: „Der Kopf war gut, gottlob, daß er in der Erde ruht.“] Und trotz alledem beschlossen alle, von den Bojaren bis zum letzten Habenichts herab einstimmig, daß der Thron ihm gehören solle. Solche Dinge geschehen bei uns! Wie kannst du da glauben, daß die Lyrik unserer Dichter, die doch die wahre ganze Bedeutung des Königs aus den Büchern des Alten Testaments kennen und die den Willen Gottes in allen Ereignissen, die unser Vaterland betrafen, sich so deutlich äußern sehen konnten — wie kannst du glauben, daß die Lyrik unserer Dichter nicht voller biblischer Anklänge sei? Ich wiederhole, die einfache Liebe hätte nicht genügt, ihren Tönen eine so nüchterne Strenge zu verleihen: dazu bedarf es einer vollen und festen, aus der Vernunft stammenden Überzeugung, und nicht allein eines dunklen, unbewußten Liebesgefühls; sonst müßten ihre Töne Weichheit und Zartheit atmen, wie bei dir in deinen frühen Jugendwerken, als du dich noch ganz dem Gefühl deiner liebenden Seele hingabst. Nein, es ist etwas Starkes, Hartes, ja fast zu Starkes in unseren Dichtern, was die Dichter anderer Nationen nicht besitzen. Wenn du das nicht fühlst, so beweist dies noch nicht, daß es überhaupt nicht vorhanden ist. Du mußt doch berücksichtigen, daß du ja nicht alle Züge des russischen Wesens in dir vereinst, vielmehr haben sich viele Züge in dir bis zu einer solchen Höhe und so stark in die Breite entwickelt, daß sie den andern keinen Raum zum Wachstum ließen, und so stellst du eigentlich eine Ausnahme von jenem allgemeinen russischen Charakter dar. In dir haben sich alle jene weichen und zarten Seiten unseres slawischen Wesens vereinigt, jene starken und satten Züge dagegen, bei denen den ganzen Menschen etwas wie ein Schauder und Schrecken überläuft, sind dir unbekannt. Sie aber sind gerade der Quell und Ursprung jener Lyrik, von der hier die Rede ist. Diese Lyrik vermag sich für nichts mehr zu begeistern, als für ihren höchsten Quell, d. h. für Gott allein. Sie hat etwas Strenges und Furchtsames und liebt die vielen Worte nicht: sie widert alles auf dieser Erde an, wenn es nicht den Abdruck des Göttlichen an sich trägt. Wer nur ein Fünkchen von dieser lyrischen Stimmung besitzt, der besitzt trotz aller Unvollkommenheiten und Fehler etwas von jenem strengen hohen Seelenadel, vor dem er selbst ehrfürchtig erbebt und der ihn alles fliehen läßt, was einem Dank oder einer Anerkennung von seiten der Menschen ähnlich sieht. Seine eigene edelste Tat erregt ihm Abscheu und Ekel, wenn sie ihm einen Lohn einträgt, denn er fühlt zu gut, daß das Höchste über jeden Lohn erhaben sein sollte. [Erst nach Puschkins Tode hat man Näheres über seine wahren Beziehungen zum Zaren erfahren und ist das Geheimnis, das zwei seiner schönsten Gedichte umgibt, gelüftet worden. Er hat bei Lebzeiten nie mit jemand von den Gefühlen gesprochen, die ihn erfüllten, und er hat klug daran getan. Da man bei uns in Rußland nach dem vielen kalten und lauten Zeitungsgerede im Stil jener Reklameartikel, in denen man Pomaden usw. anpreist, und nach all den heftigen ungezogenen und zornigen Ausfällen aller möglicher Hurra- und anderer Patrioten ganz aufgehört hatte, an die Aufrichtigkeit gedruckter Äußerungen zu glauben — war es für Puschkin gefährlich, offen hervorzutreten: man hätte ihm am allerehesten den Vorwurf der Bestechlichkeit gemacht und ihn verdächtigt, daß er sich von Habgier und von einem selbstsüchtigen Interesse leiten lasse. Nun aber, wo diese Dichtungen erst nach seinem Tode erscheinen, wird sich wohl kaum ein Mensch in ganz Rußland finden, der es wagt, Puschkin einen Schmeichler zu nennen, der nach der Gunst irgendeines Menschen gestrebt habe. Hierdurch ward das Heiligtum eines hohen reinen Gefühls gerettet. Jetzt wird jeder, auch der nicht fähig ist, mit seinem eigenen Verstande in das Wesen der Sache einzudringen, doch an sie glauben und Vertrauen zu ihr haben, denn er wird sich sagen: „wenn selbst Puschkin so gedacht hat, so ist das sicherlich die lauterste Wahrheit.“] Die königlichen Hymnen unserer Dichter haben selbst Ausländer durch ihre erhabene Form und ihren hohen Stil in Staunen gesetzt. Erst vor kurzem hat Mickiewicz in seinen Vorlesungen darüber zu den Parisern gesprochen und er hat dies in einem Augenblick ausgesprochen, als er selbst gereizt und erbittert gegen uns und ganz Paris über uns empört war. Trotzdem aber hat er feierlich erklärt, daß in den Oden und Hymnen unserer Dichter nichts Sklavisches und Gemeines, sondern eher etwas Freies und Erhabenes liege, und unmittelbar danach hat er, obwohl dies keinem seiner Landsleute gefallen wollte, seine Ehrfurcht vor dem vornehmen edlen Charakter unserer Schriftsteller ausgesprochen. Mickiewicz hat recht. Unsere Schriftsteller tragen wirklich die Züge einer höheren Natur. In Augenblicken klarsten Bewußtseins, höchster Selbsterkenntnis haben sie uns oft ihre geistigen Porträts hinterlassen, die freilich den Eindruck einer Selbstverherrlichung machen würden, wenn nicht das ganze Leben des Dichters eine Bestätigung ihrer Treue wäre. Indem Puschkin an seine Zukunft denkt, sagt er

Und meinem Volke bleib’ ich lange lieb und teuer,

Weil ich in ihm den Trieb zum Guten stets entflammt,

In grauser Zeit durchglüht sein Herz mit Freiheitsfeuer

Und den Gefallnen nie verdammt.

(Fiedler.)

Man braucht nur an Puschkin zu denken, um sofort zu erkennen, wie treu dies Porträt ist. [Wie lebhaft konnte er werden, wie konnte er sich begeistern, wenn es sich darum handelte, das Los eines armen Verbannten zu mildern oder einem Gefallenen die Hand zu reichen. Wie ungeduldig wartete er auf den Augenblick, wo der Zar ihm gnädig gestimmt war — nicht etwa, um sich selbst in Erinnerung und Empfehlung zu bringen — nein, um ein Wort für einen Unglücklichen oder Gefallenen einzulegen. Ein echt russischer Zug.] Denke nur an jenes rührende Schauspiel, wenn das ganze Volk zu den Verbannten kommt, die die Reise nach Sibirien antreten, und wenn jeder etwas von seiner Habe mitbringt! der eine Speise und Trank, der andere etwas Geld, ein dritter ein christlich mildes Trostwort. Da gibt es nichts von Haß gegen den Verbrecher, auch nichts von jener Donquichotterie, die aus ihm einen Helden machen will, sich seine Unterschrift oder ein Bild von ihm zu verschaffen sucht, oder ihn neugierig anstarrt, wie dies wohl im aufgeklärten Europa vorkommt. Dies ist etwas Größeres: es ist auch nicht der Wunsch, ihn zu entschuldigen oder der Hand der Gerechtigkeit zu entreißen; es ist der Wunsch, seinen sinkenden Mut zu heben, ihn zu trösten, wie ein Bruder den Bruder tröstet, wie Christus uns gelehrt hat, einander zu trösten.

Puschkin hatte eine sehr hohe Meinung von dieser Neigung, den Gefallenen wieder zu erheben. Daher pochte auch sein Herz so stolz und stürmisch, als er davon hörte, daß der Monarch nach Moskau kommen wolle, während dort die Cholera wütete. — Eine Regung wie diese hatte wohl noch kein Monarch gezeigt; und so konnte sie der Anlaß zu jenen wundervollen Versen werden:

Beim Himmel, wer so kalt und fest

Dem schwarzen Tode kann begegnen

Um andrer willen, ist ein Held.

Ihn wird der Himmel ewig segnen,

Wie auch der Spruch der blinden Welt

Mag lauten ....

(Fiedler.)

Und in der gleichen Weise hat er einen andern Zug aus dem Leben eines anderen Monarchen: Peters des Großen, verherrlicht. Denke an das Gedicht: „Das Fest an der Newa“, wo er erstaunt fragt, was wohl der Anlaß zu jenem ungewöhnlichen lauten Jubel, jener Feier im Hause des Zaren sein mag, von der ganz Petersburg und die ganze Newa widerhallt, die vom Kanonendonner erschüttert wird. Er zählt alle Ereignisse auf, die das Herz des Zaren erfreut haben mögen und der Anlaß zu diesem großen Jubelfeste sein könnten; er fragt sich: ist dem Zaren ein Thronerbe geboren, feiert die Zarin, seine Gemahlin, ihren Geburtstag, triumphiert der Zar über einen unbesiegbaren Feind, oder ist die Flotte, für die der Zar eine besondere Leidenschaft hatte, im Hafen eingelaufen? Und er antwortet auf alle diese Fragen:

Weil zum Feind er stieg hernieder

Und begrub uralten Groll,

Schäumen Becher, tönen Lieder,

Ist der Zar so freudenvoll,

Herrschet Jubel in den Hallen,

Rauscht das Fest am Newastrand.

Und Kanonenschüsse schallen

Donnernd durch das weite Land.

Puschkin allein konnte die ganze Schönheit einer solchen Handlung empfinden. Seinem Untertan nicht nur vergeben können, sondern diese Tat, diesen Akt der Vergebung auch noch feiern, wie den Sieg über einen Feind — das ist ein wahrhaft göttlicher Zug. Nur im Himmel ist man solcher Handlungen fähig. Nur dort ist mehr Freude über die Reue eines Sünders als über einen Gerechten und alle unsichtbaren himmlischen Heerscharen nehmen an dem himmlischen Festmahle Gottes teil. Puschkin war ein Kenner alles Großen im Menschen, für das er ein tiefes Verständnis hatte, und wie hätte es auch anders sein können, wenn die innere Vornehmheit ein charakteristischer Zug fast aller unserer Schriftsteller ist? Es ist höchst merkwürdig, daß die Schriftsteller in allen anderen Ländern wegen ihres persönlichen Charakters nicht die volle Achtung der Gesellschaft genießen. Bei uns ist es gerade umgekehrt. Bei uns wird selbst ein Mensch, der kein Schriftsteller, sondern ein bloßer Pfuscher ist, der nicht allein keine schöne Seele hat, sondern sich bisweilen sogar recht gemeine und niedrige Handlungen zuschulden kommen läßt, im Innern Rußlands durchaus nicht für einen gemeinen Menschen gehalten. Im Gegenteil, in allen Russen, selbst in denen, die kaum etwas von den Schriftstellern hören, lebt etwas wie eine innere Überzeugung, daß der Schriftsteller ein höheres Wesen ist, daß er unbedingt ein edler Mensch sein muß, daß sich vieles für ihn nicht schickt und daß er sich manches nicht gestatten darf, was man andern verzeiht. In einer unserer Provinzen gab ein Adliger, der zugleich Literat war, während der Wahlen zur Adelsversammlung seine Stimme einem Menschen, der kein ganz reines Gewissen hatte — da wandten sich alle Adligen sofort gegen ihn, tadelten ihn und sagten vorwurfsvoll: „Und das will ein Schriftsteller sein!“

1846.

XI
Diskussionen
Aus einem Brief an L***

Der Streit um den Grundcharakter unserer europäischen und slawischen Natur, der, wie du sagst, bereits in unsere Salons einzudringen beginnt, beweist nur, daß wir bereits zu erwachen anfangen, aber noch nicht ganz erwacht sind; daher ist es gar nicht verwunderlich, daß auf beiden Seiten viel törichtes Zeug zusammengeredet wird. All diese Slawisten und Europäisten — Altgläubige und Neugläubige — Östlinge und Westlinge — (was sie aber in Wahrheit sind, weiß ich dir nicht zu sagen, weil sie mir bis jetzt nur eine Karikatur auf das zu sein scheinen, was sie wirklich sein wollen) — sie alle sprechen von zwei ganz verschiedenen Seiten derselben Sache, ohne auch nur zu ahnen, daß sie sich ja gar nicht widersprechen, und daß eigentlich gar kein Anlaß zum Streit für sie vorliegt. Die einen stehen zu nahe vor einem Gebäude und sehen nur einen Teil von ihm, die andern stehen zu weit und sehen die ganze Fassade, können aber dafür die einzelnen Teile nicht genau sehen. Natürlich ist die Wahrheit mehr auf seiten der Slawophilen und Östlinge, weil sie ja doch die ganze Fassade sehen, und folglich vom Ganzen und nicht von den Teilen reden. Aber auch die Europäer und Westlinge haben bis zu einem gewissen Grade recht, weil sie mit einer gewissen Ausführlichkeit und Bestimmtheit von der Mauer reden, die sie unmittelbar vor Augen haben; ihr Fehler besteht nur darin, daß sie über dem Giebel, der diese Mauer krönt, die Spitze, in die der ganze Bau ausläuft, d. h. das Kapitäl, die Kuppel und alle oberen Teile, nicht sehen. Man könnte den einen den Rat geben, doch, wenn auch nur für einen Augenblick, etwas näher heranzukommen, und den andern, ein wenig zurückzutreten. Aber sie werden nicht darauf eingehen, weil der Geist des Hochmuts beide gefangen hält. Jeder von beiden ist überzeugt, daß das Recht ganz und ausschließlich auf seiner Seite, und das Unrecht ganz und ausschließlich auf seiten des andern ist. Freilich ist mehr Hochmut auf seiten der Slawophilen; sie prahlen gern, jeder von ihnen bildet sich ein, er habe Amerika entdeckt, und macht aus jeder Mücke, die er findet, einen Elefanten. Natürlich bringen sie mit solch trotzigen Großsprechereien die Westlinge nur noch mehr gegen sich auf, die vieles schon längst aufgegeben hätten, weil sie heute bereits mancherlei kennen lernen, wovon sie früher nie etwas gehört haben, und sich nur noch dagegen sträuben, weil sie dem allzu trotzig tuenden Gegner nicht gern nachgeben wollen. [Diese Streitigkeiten wären alle miteinander nicht gefährlich, wenn sie sich nur auf die Salons und die Zeitschriften beschränkten. Das Schlimme ist, daß zwei entgegengesetzte Anschauungen, die noch so wenig ausgereift und geklärt sind, bereits die Köpfe vieler Männer von Ämtern und Würden zu beeinflussen beginnen. Man hat mir erzählt, es käme vor — und dies sei besonders dort der Fall, wo ein Amt oder wo die Macht in den Händen zweier Personen liegt — daß ein Vorgesetzter vollkommen in europäischem Geiste zu wirken und zu regieren sucht, während der andere ganz im altrussischen Geist zu wirken und alle alten Einrichtungen zu befestigen strebt, die in einem absoluten Gegensatz zu denen stehen, die sein Kollege einzuführen plant. Und daraus erwächst, sowohl für die Sache selbst wie für die Beamten, nur Unheil: sie wissen nicht mehr, wem sie gehorchen sollen. Und da beide Ansichten, trotzdem sie so extrem sind, noch keinem völlig klar sind, machen sich, wie man sagt, allerhand Schelme diesen Umstand zunutze. Auch der Gauner hat jetzt die Möglichkeit, sich, sei es unter der Maske eines Slawophilen oder Europaschwärmers — wie sich’s trifft — d. h. je nachdem was dem Vorgesetzten gerade mehr gefällt, ein hübsches Pöstchen zu ergattern und dort entweder als Verteidiger der alten Sitten oder als Vorkämpfer einer neuen Ordnung allerhand Durchstechereien zu verüben.] Diese Streithändel sind überhaupt eine Angelegenheit, an der sich klügere und ältere Leute nicht beteiligen sollten. Mag sich doch die Jugend zuerst gründlich austoben: das ist ihre Sache. Glaube mir, es ist nun einmal so und muß auch so sein, daß sich die größten Schreier gründlich sattschreien müssen, damit die klugen Leute unterdessen einmal gründlich nachdenken können. Höre aufmerksam zu, wenn sich die Menschen um dich herum streiten, aber mische dich nicht selbst in ihren Streit. Die Idee des Werks, das du schreiben willst, ist sehr vernünftig, und ich bin sogar überzeugt, daß du dies besser machen wirst, als ein großer Schriftsteller. Nur um eins bitte ich dich, arbeite nach Möglichkeit nur in Stunden größter Kaltblütigkeit und Ruhe daran. Gott bewahre dich vor jeglicher Heftigkeit und Hitze, auch bei dem unbedeutendsten Ausdruck. Zorn ist nie am Platze, am wenigsten bei einer guten Sache, weil er ihr gutes Recht nur trübt und verdunkelt. Sei immer eingedenk, daß du kein Jüngling mehr, sondern bereits ein Mann in vorgeschrittenem Alter bist. Einem jungen Mann stünde es vielleicht noch an, heftig zu sein und zu zürnen: wenigstens verleiht ihm der Zorn in den Augen mancher Leute etwas Schönes. Wenn dagegen ein alter Mann heftig wird, wird er ganz einfach häßlich und wird von den jungen Leuten verspottet und lächerlich gemacht. Siehe zu, daß man nicht einmal von dir sagt: „Dieser häßliche, alte Mann! Sein ganzes Leben lang hat er auf der Bärenhaut gelegen und nichts getan und nun tritt er plötzlich auf und macht andern Leuten Vorwürfe wegen ihres schlechten Lebenswandels.“ Aus dem Munde eines alten Mannes sollen nur gütige, nicht aber laute und polternde Worte kommen. Ein Geist reinster Milde und Sanftmut muß die hohen Reden des Greises durchwehen, so daß die jungen Leute kein Wort der Entgegnung finden und das Gefühl haben, daß jede Rede hier unziemlich wäre und daß ein ergrautes Haupt etwas Ehrwürdiges habe.

1844.

XII
Der Christ schreitet vorwärts
An Schtsch—w

Mein Freund! Halte dich nicht für mehr, als für einen Lehrling und für einen Schüler. Glaube nicht, daß du schon zu alt bist, um noch zu lernen, daß deine Kräfte und Fähigkeiten schon die rechte Reife und den höchsten Grad der Entwicklung erreicht und daß dein Charakter und deine Seele schon ihre rechte Gestalt angenommen haben und nicht mehr besser werden können. Für einen Christen gibt es keine vollendete Lehrzeit, er bleibt ein ewiger Lehrling, ein Schüler bis zum Grabe. Nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge erreicht der Mensch seine höchste Verstandesreife mit dreißig Jahren. Zwischen dem dreißigsten und vierzigsten Jahre geht es mit seinen Kräften noch ein wenig aufwärts; jenseits dieser Altersgrenze aber gibt es kein Fortschreiten mehr und wird alles, was der Mensch produziert, nicht nur keineswegs besser, sondern sogar schwächer und kälter als das, was er früher hervorgebracht hat. Dies gilt jedoch nicht für einen Christen, und wo für die andern die Grenze der Vollkommenheit liegt, da beginnt der Weg erst für den Christen. Die begabtesten und fähigsten Menschen werden, wenn sie das vierzigste Jahr überschritten haben, stumpf, müde und schwach. Nimm alle Philosophen und die größten weltumspannenden Genies: ihre Blütezeit fällt in die Epoche ihrer besten Mannesjahre; von da ab beginnt ihr Geist bereits nachzulassen, und im Alter fallen sie sogar häufig in Kindheit zurück. Denke zum Beispiel an Kant, der während seiner letzten Jahre fast gänzlich das Gedächtnis verlor, ein Kind wurde und starb. Vergleiche damit das Leben aller Heiligen, und du wirst sehen, daß sie an Verstand und Geisteskräften erstarkten, je gebrechlicher sie wurden und je mehr sie sich dem Tode näherten. Selbst die unter ihnen, die von Natur keineswegs mit glänzenden Gaben ausgestattet waren und ihr ganzes Leben lang für einfältig und dumm galten, setzten die Menschen später durch die Weisheit ihrer Reden in Erstaunen. Woher kommt das wohl? Weil sie sich jene vorwärtstreibende Kraft erhielten, die jeder andere Mensch nur während seiner Jugendjahre besitzt, wenn er von Heldentaten träumt, denen der Lohn des allgemeinen Beifalls winkt, wenn er noch in rosige Fernen blickt, die für den Jüngling soviel Verlockendes haben. Versinken aber diese Fernen erst einmal und mit ihnen die Heldentaten — so erlischt auch die Kraft, die ihn vorwärts treibt. Vor dem Christen aber strahlt ewig eine lockende Ferne und ihm stehen stets unvergängliche Heldentaten bevor. Wie ein Jüngling sehnt er sich nach den Kämpfen des Lebens; ihm fehlt es nie an einem Feind, gegen den er zu streiten und anzukämpfen hätte, weil sein in sich zurückgewandter Blick, der immer an Schärfe und Klarheit zunimmt, ihm in seinem Innern stets neue Gebrechen und Fehler aufdeckt, die ihn zu neuen Kämpfen aufrufen. Daher können auch seine Kräfte nie ganz einschlummern oder schwächer werden, sie werden vielmehr unaufhörlich geweckt, und der Wunsch, besser zu sein und sich den himmlischen Beifall zu verdienen, ist ihm ein solcher Ansporn, wie ihn nicht einmal der ehrgeizigste Mensch in seiner unersättlichen Ehrsucht besitzt. Das ist der Grund, weswegen der Christ noch weiter fortschreitet, wenn die andern Menschen bereits Rückschritte machen, und warum er immer klüger wird, je weiter er fortschreitet.

Der Verstand ist nicht das höchste Vermögen in uns. Er hat lediglich polizeiliche Funktionen; er kann nur die Dinge ordnen und jedem Ding seinen Platz anweisen, das bereits in uns liegt. Er selbst aber schreitet nicht vorwärts, wenn ihm die beiden andern Vermögen in uns, aus denen er seine Weisheit schöpft, nicht vorangehen. Abstrakte Lektüre, Grübeleien und ein fortgesetztes Studium aller Wissenschaften tragen nur sehr wenig zu seiner Entwicklung bei: zuweilen ersticken sie ihn sogar und hemmen sie ihn in seiner selbständigen Entwicklung. Er ist weit abhängiger von den Zuständen des Gemüts: sowie die Leidenschaften in uns zu toben beginnen, wird er blind und töricht; ist unsere Seele dagegen ruhig und von keiner Leidenschaft bewegt, so erhellt und klärt auch er sich und läßt uns klug und weise handeln. Die Vernunft ist ein weit höheres Vermögen; aber sie wird nur durch den Sieg über die Leidenschaften erworben. Nur solche Menschen haben sie besessen, die ihre eigene Selbsterziehung nie vernachlässigten. Aber auch die Vernunft setzt den Menschen noch nicht in den Stand, fortzuschreiten und vorwärts zu streben. Es gibt ein noch höheres Vermögen; es heißt Weisheit, und diese kann uns nur Christus allein verleihen. Sie wird keinem von uns bei seiner Geburt in die Wiege gelegt, sie ist keinem von uns angeboren, sondern ist ein Geschenk der höchsten, himmlischen Gnade. Der, der schon Verstand und Vernunft besitzt, kann sich die Weisheit nur dadurch erwerben, daß er Gott Tag und Nacht immer wieder in heißem Gebet bittet, sie ihm herabzusenden, daß er seine Seele bis zur reinsten unschuldigsten Güte und Milde erhebt und alles in sich nach bestem Vermögen reinigt und in Ordnung bringt, um diesen himmlischen Gast in sich aufzunehmen, der solche Wohnungen meidet, in denen noch keine Ordnung im seelischen Hausgerät herrscht und wo noch nicht alles ganz einträchtig und harmonisch zusammenklingt. Wenn jedoch die Weisheit das Haus betritt, dann beginnt ein himmlisches Leben für den Menschen, und er lernt die ganze wundersame Süßigkeit kennen, die darin liegt, ein Schüler zu sein; die ganze Welt wird seine Lehrerin, der geringste unter den Menschen kann ihm zum Lehrer werden. Aus dem einfachsten Rat weiß er die weise Belehrung, die in ihm steckt, herauszulesen; das törichteste Ding wendet ihm seine tiefste, klügste Seite zu, und das ganze Weltall liegt vor ihm, wie ein offenes Buch der Weisheit; mehr Schätze als alle andern wird er aus diesem Buch schöpfen, denn weit lauter als den andern wird es ihm aus ihm entgegentönen, daß er ein Schüler ist. Sollte ihn jedoch auch nur für einen Augenblick der Wahn anwandeln, daß seine Lehrjahre beendet seien, daß er kein Schüler mehr sei, und sollte er sich durch eine ihm erteilte Lehre oder Belehrung gekränkt fühlen, so wird die Weisheit plötzlich von ihm genommen werden, und er wird im Dunkeln zurückbleiben, wie König Salomon in seinen letzten Tagen.

1846.

XIII
Karamsin
Aus einem Brief an N. M. Jasykow

Ich habe den Aufsatz, den Pogodin zu Ehren Karamsins geschrieben hat, mit großem Vergnügen gelesen. Das ist Pogodins beste Arbeit, sowohl der Sauberkeit und Vornehmheit des Inhalts, als auch der äußeren Form nach: seine gewöhnlichen groben und plumpen Ausfälle fehlen hier ganz, und auch der Stil hat nichts von jener rohen Flüchtigkeit, die ihm so sehr schadet. Vielmehr ist hier alles schön aufgebaut, wohl überlegt, geordnet und vorzüglich disponiert. Alle Stellen aus Karamsin sind so klug ausgewählt, daß Karamsin gewissermaßen ganz durch sich selbst beleuchtet wird, er charakterisiert sich gleichsam selbst, bestimmt sich mit seinen eigenen Worten den Wert und tritt damit dem Leser lebendig vor Augen. Denn Karamsin ist in der Tat eine außergewöhnliche Erscheinung. Unter unseren Schriftstellern ist er sicherlich der, von dem man mit dem meisten Recht behaupten kann, er habe seine Aufgabe ganz erfüllt, sein Pfund nicht in der Erde vergraben und für die fünf Talente, die ihm verliehen waren, noch fünf neue hinzuerworben! Karamsin war der erste, der den Beweis erbracht hat, daß ein Schriftsteller bei uns unabhängig sei und von allen gleichmäßig als angesehenster Bürger unseres Staates geachtet werden kann. Er hat zuerst feierlich verkündet, daß die Zensur einem Schriftsteller nicht im Wege stehen könne, und daß sie, wenn er nur in so hohem Maße von dem reinen Streben nach dem Guten beseelt sei, daß dieses Streben seine ganze Seele erfüllt, ihm in Fleisch und Blut übergegangen und sein tägliches Brot geworden ist, nie zu streng gegen ihn verfahren werde, und daß er überall Freiheit genießen könne. Er hat das ausgesprochen und bewiesen. Kein Mensch hat eine so kühne und edle Sprache geführt wie Karamsin, ohne daß er darum seine eigenen Gedanken und Meinungen zu unterdrücken brauchte, trotzdem sie durchaus nicht in allen Punkten mit den Anschauungen der damaligen Regierung übereinstimmten, und man hat unwillkürlich das Gefühl, daß er allein ein Recht dazu hatte. Welch eine Lehre für einen Schriftsteller! Und wie komisch erscheinen danach die unter uns, die da behaupten, man könne in Rußland nie die ganze Wahrheit sagen, denn sie sei uns ein Dorn im Auge! Und dabei drücken sie sich selbst so töricht und roh aus, daß sie weit mehr, als durch die Wahrheit selbst, durch die hochmütigen Worte verletzen, mit denen sie ihre Wahrheit zum Ausdruck bringen, und deren maßlose Heftigkeit nur die Zuchtlosigkeit eines undisziplinierten verworrenen Geistes bezeugt; und dann wundern sie sich noch und sind sie empört, daß niemand ihre Wahrheit anerkennen und anhören will! Nein, man muß ein so reines, harmonisches Gemüt besitzen wie Karamsin, dann erst hat man ein Recht, jene Wahrheit zu verkünden: dann werden uns alle anhören, vom Zaren bis herab zum letzten Bettler im Staate; ja man wird uns mit solch einer Liebe und Hingebung zuhören, wie man in keinem Lande der Welt einem parlamentarischen Redner und Verteidiger der Bürgerrechte und keinem der hervorragenden Prediger zuzuhören pflegt, die die Elite der modernen Gesellschaft um sich versammeln. Mit solch einer Liebe und Hingebung vermag eben nur unser herrliches Rußland zuzuhören [von dem man sich erzählt, daß es die Wahrheit überhaupt nicht liebt].

1846

XIV
Vom Theater, von einer einseitigen Ansicht über das Theater und von der Einseitigkeit überhaupt
An den Grafen A. P. T...

Sie sind sehr einseitig und zwar sind Sie erst seit kurzer Zeit so einseitig geworden; und Sie sind es nur deshalb geworden, weil ein Mensch, der sich in der Gemütsverfassung befindet, in der Sie sich jetzt eben befinden, nicht anders als einseitig werden kann. Sie denken nur noch an das Heil und die Rettung Ihrer Seele, und da Sie noch immer den Weg nicht entdecken können, auf dem es Ihnen bestimmt ist, Ihr Seelenheil zu finden, so halten Sie alles auf der Welt für sündhaft und für ein Hindernis auf dem Wege zu Ihrer Rettung. Ein Mönch kann nicht strenger sein, als Sie. So sind auch Ihre Ausfälle gegen das Theater ganz einseitig und ungerecht. Sie suchen darin eine Stütze für Ihre Ansicht, daß auch einige Geistliche, die Sie kennen, gegen das Theater eifern: und sie haben ganz recht, während Sie unrecht haben. Denken Sie einmal etwas tiefer darüber nach: sind Sie wirklich gegen das Theater oder nur gegen jene Form, jene Gestalt, in der es heute auftritt. Die Kirche wandte sich in den ersten Jahrhunderten, als das Christentum überall zur Annahme gelangt war, gegen das Theater, das war zu einer Zeit, als das Theater noch der einzige Zufluchtsort des von überall vertriebenen Heidentums und eine Freistätte seiner wilden Bacchanale war. Das war der Grund, weswegen Johannes Chrysostomus so mächtig gegen das Theater eiferte. Aber die Zeiten haben sich geändert. Die ganze Welt hat sich erneut durch das Heraufkommen junger und frischer europäischer Völker, deren Bildung und Erziehung bereits auf christlicher Grundlage begann, und nun waren es die heiligen Männer selbst, die das Theater wieder begründeten und einführten: an den geistlichen Akademien wurden Theater gegründet. Unser Dimitrij Rostowski, der mit Recht zu den heiligen Kirchenvätern gezählt wird, dichtete selbst Stücke, die zur Aufführung bestimmt waren. Folglich liegt die Schuld nicht beim Theater. Man kann alles in sein Gegenteil verkehren und allem einen schlechten Sinn unterlegen; der Mensch ist hierzu fähig. Man muß einem Ding jedoch stets auf den Grund gehen und in Betracht ziehen, was es sein soll, und es nicht nach den Karikaturen beurteilen, die nach ihm hergestellt wurden. Das Theater ist durchaus keine geringe Sache und keine unwichtige Angelegenheit, wenn man berücksichtigt, daß es eine große Menge von fünf- bis sechstausend Menschen mit einem Male in seinen Räumen aufnehmen und beherbergen kann und daß diese ganze Menge, in der die einzelnen, für sich genommen, nichts miteinander gemein haben, plötzlich von einer großen Erschütterung ergriffen werden, in einem einzigen Augenblick in einen Strom von Tränen oder in ein einziges allgemeines Gelächter ausbrechen kann. Das ist ein Katheder, von dem aus man der Welt sehr viel Gutes sagen kann. Sie müssen freilich einen Unterschied machen zwischen dem eigentlichen, sogenannten höheren Theater und jenen Ballettaufführungen, Tänzen, Possen, Melodramen und all jenem Flitter und falschen Prunk der Ausstattungsstücke, die nur für das Auge berechnet sind und die nur einem korrupten Geschmack oder einem korrupten Gefühl schmeicheln, und Sie müssen daneben das eigentliche Theater ins Auge fassen. Ein Theater, in dem hohe Tragödien und Komödien aufgeführt werden, muß in völliger Unabhängigkeit von allen anderen Künsten dastehen. Es wäre ja auch merkwürdig, Shakespeare mit Tänzern und Tänzerinnen in weißledernen Hosen unter einen Hut bringen zu wollen. Welch eine Kombination! Die Beine sind etwas für sich, und ebenso ist der Kopf etwas für sich. In einzelnen Gegenden Europas hat man das begriffen: dort gibt es eigene Theater für die Werke der höheren dramatischen Kunst, und nur diese Theater werden von der Regierung subventioniert. Man sollte ganz ernsthaft darüber nachdenken, ob es nicht möglich wäre, die besten Werke der dramatischen Kunst so zur Aufführung zu bringen, daß das Publikum auf sie aufmerksam würde und daß die wohltätige moralische Wirkung, die von allen großen Dichtern ausgeht, ganz zur Geltung käme. Shakespeare, Sheridan, Molière, Goethe, Schiller, Beaumarchais, sogar Lessing, Regnard und viele andere unter den Dichtern zweiten Ranges aus dem verflossenen Jahrhundert haben nichts geschrieben, was dazu beitragen konnte, unsere Achtung vor den großen Gegenständen zu verringern; in ihren Dichtungen sind nicht die leisesten Nachwirkungen davon zu spüren, was in den Werken der fanatischen Autoren jener Zeit gärt und brodelt, die sich mit politischen Fragen beschäftigten und die Saat der Mißachtung gegen das Heilige ausstreuten. Wenn auch bei jenen einmal Hohn und Spott aufblitzen, so richten sie sich gegen die Heuchelei, Gotteslästerung, Verdrehung der Wahrheit und niemals gegen das, was die Wurzel aller menschlichen Tugend bildet; im Gegenteil, ihre Liebe für das Gute ist selbst dort noch streng und deutlich vernehmbar, wo sie ganze Garben funkelnder Epigramme aufblitzen lassen. Häufige Wiederholungen dramatischer Werke hohen Stils, d. h. jener wahrhaft klassischen Stücke, die sich mit dem Wesen und mit der Seele der Menschen beschäftigen, müssen dazu führen, daß die Menschen sich festen Grundsätzen zuneigen und in ihnen bestärkt werden und daß sich ihre Charaktere unmerklich innerlich kräftigen und befestigen, während diese Flut von leichten und nichtssagenden Stücken, von all diesen Possen und schlecht durchdachten Dramen bis hinauf zum Ballett und selbst zur Oper nur ablenkt und zerstreut und die Gesellschaft oberflächlich und leichtsinnig macht. Eine Welt, deren Aufmerksamkeit durch Millionen glänzender Gegenstände in Anspruch genommen wird, die unsere Gedanken nach allen Richtungen ablenken und zerstreuen, wird Christus nicht so bald auf ihrem Wege begegnen. Sie ist noch zu weit von den himmlischen Wahrheiten des Christentums entfernt. Sie wird erschrocken zurückweichen, wie vor finsteren Klostermauern, wenn man ihr keine unsichtbare Leiter reicht, die zum Christentum emporführt, und wenn man sie nicht auf einen höheren Platz geleitet, von dem aus sie den unendlichen Horizont des Christentums besser überschauen und alles besser erkennen kann, was ihr früher gänzlich unverständlich war. In der Welt gibt es vielerlei, was allen, die sich vom Christentum entfernt haben, als Leiter dienen kann, die sie unsichtbar zum Christentum emporleitet, darunter auch das Theater, wenn es seiner höchsten Bestimmung zugeführt werden könnte. Man müßte die vollkommensten Werke aller Zeiten und Völker in ihrer ganzen strahlenden Schönheit zur Aufführung bringen. Man müßte sie häufiger, ja so häufig als möglich, aufführen, man müßte ein und dasselbe Werk fortwährend wiederholen. Und das ist sehr wohl möglich. Man kann allen Stücken ihre Frische und Neuheit wiedergeben, so daß sie alle interessieren, die Kleinsten wie den Größten, wenn man es nur versteht, sie richtig aufzuführen. Das sind Torheiten, daß sie veraltet sind und daß das Publikum den Geschmack an ihnen verloren hat. Das Publikum ist gar nicht so launenhaft, es wird einem immer dorthin folgen, wohin man es führt. Wenn ihm die Autoren nicht stets ihre üblen Melodramen vorsetzen würden, würde das Publikum auch keinen Geschmack an ihnen finden und nicht nach ihnen verlangen. Man nehme das abgespielteste Stück und führe es auf, wie es sich gehört, dann wird das Publikum in Scharen herbeiströmen. Molière wird ihm ganz neu erscheinen. Shakespeare wird es mehr locken als die modernste Posse. Aber freilich muß eine solche Aufführung tatsächlich und absolut künstlerisch sein, und diese Aufgabe muß stets einem wahrhaften Künstler und dem allerersten und tüchtigsten Schauspieler, der sich in der ganzen Truppe findet, anvertraut werden. Auch soll man ihm nicht etwa noch einen Gehilfen, irgendeinen Beamten und Sekretär, als Anhängsel zugesellen, sondern er soll alles allein machen und allein über alles verfügen. Es muß sogar besonders dafür gesorgt werden, daß die ganze Verantwortlichkeit ihm allein zufalle; man muß ihn öffentlich vor versammeltem Publikum sämtliche Nebenrollen — und zwar eine nach der anderen — spielen lassen, um den weniger bedeutenden Schauspielern lebendige Vorbilder vor Augen zu stellen; denn diese studieren ihre Rollen nach toten Vorbildern, die durch eine dunkle Überlieferung bis auf sie gekommen sind, sie schöpfen ihre Belehrung aus Büchern und nehmen kein wirkliches lebendiges Interesse an ihren Rollen. Schon diese Darstellung untergeordneter Rollen durch einen erstklassigen Schauspieler kann das Publikum anlocken und es reizen, sich ein und dasselbe Stück zwanzigmal nacheinander anzusehen. Wen könnte es nicht interessieren, Schtschepkin oder Karatygin Rollen spielen zu sehen, die sie bisher noch niemals gespielt haben! Wenn dann ein solcher erstklassiger Schauspieler auf seine alte Rolle zurückkommt, nachdem er sämtliche anderen Rollen gespielt hat, wird er sich einen ganz andern, umfassenderen Begriff von seiner Rolle, sowie von dem ganzen Stück gebildet haben; das Stück aber wird durch diese Vollkommenheit der Darstellung — etwas bisher völlig Unerhörtes — für den Zuschauer noch mehr an Interesse gewinnen. Es gibt nichts, was den Menschen stärker ergreift und erschüttert, als jene vollkommene Ausgeglichenheit und Übereinstimmung aller Teile, wie sie ihm bisher nur in der Ausführung eines Musikstückes durch ein Orchester entgegentreten konnte, und durch die man es dahin zu bringen vermag, daß ein Werk der dramatischen Kunst häufiger hintereinander gegeben werden kann, als die beliebteste Oper. Man mag sagen, was man will, aber die in Worte gefaßten Töne des Herzens und der Seele sind weit mannigfaltiger, als die Töne der Musik. Ich muß jedoch wiederholen, dies alles ist nur dann möglich, wenn diese Aufgabe auch tatsächlich so ausgeführt, wie es sich gehört, und wenn die volle Verantwortlichkeit für das Repertoire einem erstklassigen Schauspieler zufällt, d. h. wenn die Tragödien von dem ersten tragischen und die Komödien vom ersten komischen Schauspieler inszeniert werden und wenn beide ganz allein die Leitung des Ganzen innehaben. [Ich sage: sie allein, weil ich weiß, wieviel Leute es bei uns gibt, die bei jeder Sache dabei sein wollen und sich überall herandrängen. Sowie irgendein Posten geschaffen wird, der mit irgendwelchen Geldeinnahmen verknüpft ist, so ist auch schon irgendein Sekretär bei der Hand, der sich hinzudrängt. Woher er plötzlich kommt, das weiß Gott allein: es ist, wie wenn er plötzlich aus dem Wasser emporgetaucht wäre; er beweist euch sofort, so klar wie daß zwei mal zwei vier ist, seine Unentbehrlichkeit, beginnt damit, daß er Papiere und Akten über ökonomische Fragen vollschreibt und dann fängt er allmählich an, sich in alles hineinzumengen, bis schließlich alles in Unordnung gerät. Diese Sekretäre sind wie ein unsichtbarer Mottenschwarm; sie haben alle Berufe und Ämter unterwühlt, und das Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Untergebenen einerseits und den Untergebenen und Vorgesetzten andererseits gänzlich verwirrt und verschoben. Wir haben uns erst neulich über alle Berufe und Ämter unterhalten, die es in unserem Vaterlande gibt. Indem wir ein jedes Amt innerhalb der ihm gezogenen Grenzen betrachteten, fanden wir, daß sie gerade das sind, was sie sein sollen, daß sie gewissermaßen wie durch die Hand des Höchsten dafür geschaffen sind, um allen Bedürfnissen unseres Staatslebens zu genügen, und daß sie alle insgesamt von ihrem wahren Ziel abgewichen sind, weil jedermann mit allen andern darum zu wetteifern schien, die Grenze der ihm gezogenen Berufspflichten zu zerstören oder sich völlig über sie hinwegzusetzen. Alle, selbst ganz kluge und ehrliche Leute, wollten durchaus, wenn auch nur um ein Zollbreit, mehr Macht haben und den Kreis ihrer Tätigkeit überschreiten, weil sie glaubten, daß sie selbst und ihr Beruf hierdurch vornehmer und edler werden müßten. Wir sind damals sämtliche Beamtenkategorien, von den höchsten bis zu den niedrigsten, durchgegangen, die Sekretäre aber haben wir vergessen, und gerade sie neigen am meisten dazu, die Grenzen ihres Berufs zu überschreiten. Wo ein Sekretär lediglich Schreiberarbeit zu leisten hat, sucht er die Rolle eines Vermittlers zwischen Vorgesetzten und Untergebenen zu spielen. Wo man eines solchen Vermittlers zwischen Vorgesetzten und Untergebenen bedarf und wo ihm diese Vermittlung übertragen wird, da beginnt er, wichtig zu tun; er tut dem Untergebenen gegenüber so, als ob er selbst sein Vorgesetzter wäre, er richtet sich ein Vorzimmer ein, läßt die Leute stundenlang auf sich warten, kurz: statt den Untergebenen den Zutritt zu ihrem Vorgesetzten zu erleichtern, trägt er nur dazu bei, ihn noch mehr zu erschweren. Und dies alles geschieht häufig nur deshalb, um der Stellung eines Sekretärs einen Schein von Vornehmheit zu geben. Ich habe sogar einige treffliche und gescheite Leute gekannt, die die Untergebenen ihres Vorgesetzten in meiner Gegenwart so behandelten, daß ich für diese Menschen erröten mußte. Mein Chlestakow war in solchen Augenblicken ein Stümper gegen sie. Dies alles wäre übrigens noch nicht so schlimm, wenn es nicht so viele traurige Folgen hätte. Viele wahrhaft nützliche und unentbehrliche Menschen sind schon aus dem Staatsdienst ausgetreten lediglich wegen der Niedertracht eines Sekretärs, der die gleiche Achtung für sich in Anspruch nahm, die sie allein dem Vorgesetzten schuldeten, und der sich, wenn ihm jemand diese Achtung verweigerte, dadurch rächte, daß er ihn zu verleumden suchte, dem Vorgesetzten eine schlechte Meinung von ihm beibrachte, kurz sich der niederträchtigsten Mittel bediente, deren nur ein ehrloser Mensch fähig ist. In den Departements für die schönen Künste usw. liegt die Oberleitung in den Händen eines Komitees oder eines unmittelbaren Vorgesetzten, der an der Spitze steht, und da gibt es meist keinen Sekretär, der die Rolle eines Vermittlers spielt: da hat er lediglich die Verfügungen anderer schriftlich zu fixieren oder er hat die Geschäftsführung und die Verwaltung der Finanzen inne; zuweilen aber kommt es doch auch dort vor, daß er sich dort infolge der Trägheit der Mitglieder oder aus irgendeinem andern Grunde immer tiefer einnistet und die Rolle eines Vermittlers oder sogar eines künstlerischen Leiters an sich reißt. Und dann ist einfach der Teufel los: der Zuckerbäcker fängt an Stiefel zu machen und der Schuster muß Kuchen backen. Ein Künstler erhält Instruktionen, die nicht von einem Künstler herrühren; es erscheint eine Verordnung, von der man überhaupt nicht verstehen kann, wozu sie erlassen worden ist. Oft wundert man sich, wie ein Mensch, der doch bis dahin ganz gescheit war, plötzlich ein so törichtes Schriftstück abfassen konnte; dabei aber ist er nicht im mindesten daran beteiligt; das Schriftstück stammt aus einer Quelle, an die kein Mensch auch nur denken konnte, wie das Sprichwort sagt: Ein Schreiber hat’s hingeschmiert, dem der Name Hündchen gebührt.]

Bei jeglicher Kunst sollte die letzte und höchste Durchführung und Ausführung in den Händen eines höchsten Meisters dieser Kunst liegen [und nicht in den Händen irgendeines Sekretärs, der lediglich bei der Verwaltung des Geschäfts und der Finanzen verwendet werden sollte]. Nur der Meister selbst kann Unterricht in seiner Kunst erteilen, da er allein alles kennt, was dazu erforderlich ist, und kein anderer. Nur ein erstklassiger Schauspieler, der ein wirklicher Künstler ist, kann eine gute Auswahl von Stücken treffen und sie nach strengen Grundsätzen sichten; er allein kennt das Geheimnis, wie die Proben geleitet werden müssen, er weiß, wie wichtig es ist, häufige Leseproben und Probeaufführungen des ganzen Stückes zu veranstalten. Er wird es dem Schauspieler nicht einmal erlauben, seine Rolle zu Hause auswendig zu lernen, sondern es so einrichten, daß die Schauspieler das Ganze zusammen einstudieren und daß jeder seine Rolle ganz von selbst während der Proben lernt und im Kopfe behält, so daß er durch die Umstände selbst, durch das ihn umgebende Milieu und durch die bloße Berührung mit ihm unwillkürlich den richtigen und seiner Rolle angemessenen Ton trifft. Dann kann auch ein schlechter Schauspieler manches Gute lernen: solange die Schauspieler ihre Rolle noch nicht auswendig können, können sie sich vieles von einem guten Schauspieler aneignen. Hier erfüllt sich jeder, ohne selbst zu wissen, wie es geschieht, mit Wahrheit und Natürlichkeit, sowohl in der Rede als auch in den Bewegungen. Der Ton der Frage verleiht dem Ton der Antwort seine Farbe. Ist die Frage in einem geschwollenen hochtrabenden Ton gehalten, so wird auch die Antwort hochtrabend sein; stelle eine einfache Frage, so wird auch die Antwort einfach ausfallen. Selbst der einfachste, schlichteste Mensch ist imstande, eine passende Antwort zu geben. Aber wenn der Schauspieler seine Rolle zu Hause auswendig gelernt hat, dann wird seine Antwort geschwollen und einstudiert klingen, und diesen Ton der Antwort wird er nie wieder loswerden können. Du wirst nie einen andern aus ihm machen, kein Wort, keinen Tonfall wird er von dem besseren Schauspieler lernen; die ganze Umgebung, alle Dinge und Charaktere, unter denen sich der von ihm dargestellte Charakter bewegt, werden stumm für ihn bleiben, und auch das Stück wird ihm fremd bleiben und ihm nichts sagen, und er wird sich wie ein Toter zwischen Toten bewegen. Nur ein Schauspieler, der ein wahrhafter Künstler ist, hat ein Gefühl für das Leben, das in einem Stück pulsiert, und kann es dahin bringen, daß dieses Leben auch allen Schauspielern sichtbar, und lebendig von ihnen empfunden wird, nur er allein hat den richtigen Maßstab für die Veranstaltung der Proben, wie sie geleitet werden müssen, wann man mit ihnen aufhören kann, und wieviel Proben genügen, um das Stück dem Publikum in wirklicher Vollendung vorzuführen. Man muß es nur verstehen, diesen Schauspieler und Künstler dazu zu bewegen, daß er sich dieser Sache wie seiner eigensten intimsten Aufgabe annimmt, man muß ihm beweisen, daß das seine Pflicht ist und daß die Ehre seiner eigenen Kunst dies von ihm fordert — so wird er es tun, so wird er es durchführen, weil er seine Kunst lieb hat. Ja, er wird sogar noch mehr tun, er wird dafür sorgen, daß auch der unbedeutendste Schauspieler seine Rolle gut spielt, und wird seine eigene Aufgabe in der strengen Vollendung des Ganzen sehen. Er wird nie dulden, daß ein banales oder nichtssagendes Stück auf die Bühne gelangt, [das vielleicht ein Beamter, dem es nur darum zu tun ist, daß möglichst viel Geld in die Kasse kommt, aufführen lassen würde], er wird es nicht dulden, weil schon sein inneres, ästhetisches Gefühl das Stück ablehnen wird. Er ist auch nicht imstande, einen Druck auf die ihm anvertrauten Schauspieler auszuüben, sie zu tyrannisieren und zu schikanieren, [wie das Leute aus dem Beamtenstande tun], die Rücksicht auf den Ruhm und das Ansehen seines Namens wird ihm dies nicht erlauben. [Irgendein Beamter, z. B. ein Sekretär dagegen wird dreist und ruhig eine Gemeinheit begehen, da er fest davon überzeugt ist, daß niemand was davon erfahren wird, selbst wenn er sich noch so viel Gemeinheiten zuschulden kommen läßt, weil er ja eine Null ist, die niemand beachtet. Wenn sich dagegen ein Schtschepkin oder Karatygin etwas Unrechtes zuschulden kommen lassen würden, so würde dies sofort allgemeines Stadtgespräch werden. Darum ist es so ungeheuer wichtig, daß bei jeder Sache die Hauptlast der Verantwortung auf einen Mann fällt, den bereits jeder in der Gesellschaft kennt.] Und endlich wird ein Schauspieler, der zugleich ein Künstler ist, der völlig in seiner Kunst lebt und aufgeht, dessen höchstes Lebenselement die Kunst ist, über deren Reinerhaltung er wacht und die er hütet wie ein Heiligtum, es nie dulden, daß das Theater eine Pflanzstätte des Lasters werde. — Also: die Schuld liegt nicht beim Theater. Man reinige das Theater erst einmal von all dem Schutt und Plunder, der darauf ruht, und dann mag man zusehen und darüber urteilen, was das Theater ist. Ich habe hier nicht deshalb die Sprache aufs Theater gebracht, weil ich durchaus vom Theater sprechen wollte, sondern deshalb, weil man das, was hier übers Theater gesagt wurde, auf alle Dinge anwenden kann. Es gibt viele Gegenstände, die darunter zu leiden haben, daß man ihre eigentliche Bedeutung verfälscht und verdreht, und da es ja überhaupt viele Leute in der Welt gibt, die die Neigung haben, gleich in der ersten Hitze und Erregung zu handeln oder, wie es im Sprichwort heißt, „das Kind mit dem Bade auszuschütten“[3] lieben, so wird vieles, was uns allen zu Nutz und Frommen dienen könnte, vernichtet. Einseitige Menschen, die überdies noch Fanatiker sind, sind ein Krebsschaden für die Gesellschaft; wehe dem Lande oder dem Staat, in dem solche Leute einen Teil der Macht in die Hände bekommen. Sie wissen nichts von christlicher Demut und von Zweifeln an sich selbst; sie sind fest davon überzeugt, daß die ganze Welt lügt und nur sie allein die Wahrheit reden. Lieber Freund! Geben Sie doch ein wenig mehr acht auf sich! Sie befinden sich gerade in diesem gefährlichen Zustande. Es ist ein Glück, daß Sie noch keine Stellung haben und daß Sie nicht mit der Verwaltung eines Amtes betraut sind: Sie, den ich als Menschen kenne, der dazu befähigt ist, die schwierigsten und verantwortlichsten Stellungen auszufüllen, Sie könnten weit mehr Unheil und Unordnung anrichten, als der unbegabteste von allen unbegabten Menschen. Nehmen Sie sich auch mit Ihrem Urteil über alle Dinge in acht! Seien Sie nicht wie jene frommen Eiferer, die mit einem Male alles, was es auf der Welt gibt, vernichten möchten, da sie alles für eitel Teufelswerk halten. Es ist ihr Los, in die gröbsten Irrtümer zu verfallen. Etwas Ähnliches hat sich neulich auf literarischem Gebiet ereignet. Da sind plötzlich Leute erschienen und haben öffentlich in der Presse erklärt, Puschkin sei ein Deist und kein Christ gewesen; wie wenn sie in Puschkins Seele hineingeblickt hätten, und wie wenn Puschkin durchaus verpflichtet gewesen wäre, in seinen Gedichten von den höchsten Dogmen des Christentums zu sprechen, wozu sich selbst ein Priester der Kirche nur mit großer Angst und tiefster Ehrfurcht entschließt, nachdem er sich durch einen wahrhaft heiligen Lebenswandel dazu vorbereitet hat! Nach der Ansicht dieser Leute sollte man die höchsten und erhabensten Ideen des Christentums in Reimform bringen und sie wohl gar zu einer Art Versspiel machen. Puschkin hat sehr klug daran getan, daß er es nicht wagte, das, wovon seine Seele noch nicht bis ins Innerste durchdrungen war, in Verse zu kleiden, und daß er es vorzog, allen denen, die sich bereits sehr weit von Christus entfernt hatten, eine unsichtbare Sprosse zum Höchsten zu sein, statt sie durch seelenlose Verse, wie sie von Leuten geschrieben werden, die sich Christen nennen, dem Christentum völlig zu entfremden. Ich kann gar nicht verstehen, wie es einem Kritiker auch nur einfallen konnte, in der Presse ganz offen und vor allen Leuten eine solche Beschuldigung gegen Puschkin zu erheben, seine Werke wirkten demoralisierend auf die Menschen, wo doch selbst die Zensur laut Vorschrift verpflichtet ist, wenn der Sinn eines Werks nicht ganz klar aus dem Werk hervorgeht, ihm eine möglichst ungesuchte und einfache Deutung zu geben, die möglichst günstig für den Autor ist, und nicht eine falsche und gekünstelte, die dem Autor schaden muß. Wenn das sogar der Zensur zur Vorschrift gemacht wird, die immer stumm sein und schweigen muß und nicht einmal die Möglichkeit hat, sich vor dem Publikum zu rechtfertigen, um wieviel mehr muß sich die Kritik das zum Gebot machen, die selbst über die unbedeutendsten Motive und Handlungen Aufklärung geben und sich ihretwegen rechtfertigen kann! Öffentlich erklären, ein Mensch sei kein Christ, ja er sei sogar ein Feind Christi, indem man sich auf einige Fehler seines Charakters und darauf beruft, daß er der Welt und ihren Versuchungen erlegen sei, wie doch jeder von uns ihnen erliegt — ist das etwa christlich gehandelt? Ja, wer von uns ist denn dann ein Christ? Auf diese Weise kann ich schließlich auch dem Kritiker selbst vorwerfen, daß er kein Christ sei. Ich kann sagen, ein Christ könne nicht mit solcher Sicherheit auf seinen Verstand bauen, um ein Urteil in einer so dunklen Sache zu fällen, die Gott allein kennt und begreift, denn ein Christ weiß, daß unser Verstand nur bei einem ganz reinen heiligen Leben der vollen Klarheit teilhaftig und dazu befähigt wird, einen Gegenstand von allen Seiten zu sehen; der Lebenswandel eines solchen Menschen aber ist vielleicht doch noch nicht so ganz rein und heilig. Ein Christ wird sich erst besinnen, ehe er sich entschließt, jemand eines solchen schweren Verbrechens anzuklagen, wie des, er wolle Gott nicht in der Gestalt anerkennen, in der ihn uns Gottes Sohn selbst, der zu uns auf die Erde herabgestiegen ist, anzubeten geboten hat, — denn das ist eine furchtbare Beschuldigung. Er wird ferner erklären: in der Poesie ist noch vieles ein Geheimnis; es ist schon nicht leicht, über einen gewöhnlichen Menschen ein Urteil zu fällen, und erst ein abschließendes und endgültiges Urteil über einen Dichter fällen zu wollen, das kann nur ein Mensch, der selbst etwas vom Geist der Poesie in sich trägt und beinahe ein dem Dichter selbst ebenbürtiger Dichter ist — wie dies ja auch für jedes einfache Handwerk oder jede Kunstfertigkeit zutrifft, wo ja auch jeder in gewissem Maße mitsprechen kann, wo aber nur der Meister selbst ein umfassendes und endgültiges Urteil fällen darf. Kurz, der Christ wird in erster Linie Demut üben, die sein vornehmstes Banner ist, an dem man erkennen kann, daß er ein Christ ist. Statt von den Stellen in Puschkin zu reden, deren Sinn noch dunkel ist und auf zwei verschiedene Weisen ausgelegt werden kann, wird ein Christ nur von den Werken sprechen, die ganz klar sind, die aus seinem reifen Mannesalter und nicht aus seiner schwärmerischen Jugendzeit stammen. Er wird sein gewaltiges Gedicht „An einen Kirchenfürsten“ anführen, in dem Puschkin von sich selbst redet und sagt: auch in den Jahren, als er noch für die Schönheit und das Treiben dieser Erdenwelt begeistert gewesen sei, habe der bloße Anblick des Dieners Christi einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht.

Da traf dein Wort mich wundereigen

Mit überirdischer Gewalt,

Und meine Finger ließen schweigen

Die Saiten, die wie Hohn geschallt.

Mein Herz in seinem tiefsten Horte

Schlug reuekrank, gewissenswund;

Beim Chrysam deiner duft’gen Worte

Ward es zu neuem Sein gesund.

Aus deiner Geisteshöhe reichst du

Mir deine Hand zur Stütze nun;

Mit sanfter Liebeshand verscheuchst du

Den Sturm — und meine Sinne ruhn.

Das ewig Wahre, ewig Schöne

Durchflammt das Herz mir im Gebet;

Stumm hört des Seraphs Harfentöne

Im heiligen Schauder der Poet.

(Fiedler.)

Das ist ein Gedicht, auf das ein Kritiker hinweisen wird, der ein wahrhafter Christ ist! Dann wird seine Kritik einen Sinn erhalten und Gutes stiften: damit wird sie die gute Sache stärken und kräftigen, denn sie wird zeigen, wie selbst ein Mensch, dessen Geist all die verschiedenartigen Glaubenssätze und alle Fragen seiner Zeit umfaßte, Fragen, die noch so unklar und verworren sind, die uns so weit von Christus entfernen, wie selbst solch ein Mensch in seinen besten Momenten, in Augenblicken höchster Klarheit, dichterischer Erleuchtung und Hellsichtigkeit die Hoheit des Christentums über alles stellte. Was aber hat die Kritik jetzt für einen Sinn? frage ich. Wozu kann es gut sein, daß man die Menschen irreführt, indem man Zweifel und Argwohn gegen Puschkin in ihre Seelen sät? Es ist doch keine Kleinigkeit, den klügsten Menschen seiner Zeit als einen Mann hinzustellen, der das Christentum negiert — einen Menschen, zu dem das geistige Rußland wie zu seinem Führer emporschaut, der alle andern Menschen weit hinter sich gelassen und überholt hat! Es ist noch gut, daß es ein so unbegabter und unfähiger Kritiker war und daß es ihm daher nicht gelingen konnte, einer solchen Lüge Eingang zu verschaffen, und daß Puschkin selbst Gedichte hinterlassen, die diese Lüge widerlegen; [wäre es nicht so gewesen, was hätte er anderes tun können, als Unglauben statt Glauben zu verbreiten?] So Schlimmes kann man anrichten, wenn man einseitig ist! Lieber Freund, Gott bewahre Sie vor Einseitigkeit; mit ihr stiftet der Mensch überall nichts wie Unheil: in der Literatur, in seiner amtlichen Tätigkeit, in der Gesellschaft — kurz überall! Ein einseitiger Mensch ist von sich selbst überzeugt, ein einseitiger Mensch ist dreist, ein einseitiger Mensch macht sich alle zu Feinden. Ein einseitiger Mensch kann nie das rechte Maß finden. Ein einseitiger Mensch kann kein wahrer Christ sein; er kann bloß ein Fanatiker sein. Einseitigkeit im Denken ist nur ein Zeichen dafür, daß der Mensch erst auf dem Wege zum Christentum ist, daß er es noch nicht ganz erfaßt hat, weil das Christentum unserm Geist Vielseitigkeit verleiht. Mit einem Wort: Gott bewahre Sie vor der Einseitigkeit! Bewahren Sie sich einen besonnenen Blick für jedes Ding und denken Sie immer daran, daß es zwei gänzlich entgegengesetzte Seiten haben kann, von denen Ihnen eine noch nicht bekannt ist. Theater und Theater — das sind zwei verschiedene Sachen, wie es ja auch beim Publikum zwei Arten der Begeisterung gibt: es ist doch was anders, ob man in Entzücken gerät, wenn eine Ballettänzerin ihr Füßchen möglichst hoch in die Höhe schleudert, oder ob man von Begeisterung ergriffen wird, wenn ein großer Schauspieler durch seine erschütternde Rede die höchsten Gefühle im Menschen zu noch reinerer Höhe steigert. Ein andres sind die Tränen, die ein fremder Sänger einem Menschen entlockt, indem er sein Gehör in angenehmer Weise kitzelt, Tränen, die, wie ich höre, heute auch solche Leute in Petersburg vergießen, die nicht Musiker sind, und ein andres sind die Tränen, die dem Auge des Zuschauers entströmen, wenn er durch die lebendige Darstellung einer hohen Tat bis ins Innerste erschüttert wird und dann nach Verlassen des Theaters mit neuer Kraft, noch ganz unter dem Eindruck dieser Darstellung einer heroischen Handlung stehend, an seine pflichtmäßige Tätigkeit geht. Mein Freund. Wir sind in diese Welt berufen, nicht um zu zerstören und zu vernichten, sondern um [nach dem eigenen Vorbilde Gottes] alles zum Guten zu lenken — selbst das, was die Menschen bereits verdorben und zum Bösen gewandt haben. Es gibt kein Werkzeug in der Welt, das nicht dem Dienste Gottes geweiht wäre. Alle diese Hörner, Pauken, Leiern und Zimbeln, mit denen die Heiden ihre Götzen verherrlichten, dienten, nach dem Siege des Königs David, dem wahren Gott zu Preis und Ruhme, und in Israel herrschte noch größere Freude, als es vernahm, daß dieselben Instrumente, die noch nie Ihm zu Ehren erklungen waren, nun zu Seinem Preis und Ruhme tönten.

1845.

XV
Über die Aufgaben der lyrischen Dichtung unserer Zeit
Zwei Briefe an N. M. Jasykow

I.

Dein Gedicht „Das Erdbeben“ hat mich entzückt. Auch Schukowski war ganz davon begeistert. Dies ist seiner Ansicht nach nicht nur das beste von deinen Gedichten, sondern überhaupt das beste russische Gedicht. Welch eine kluge und fruchtbare Idee: ein Ereignis der Vergangenheit zu nehmen und in die Gegenwart zu verlegen! Auch die Anwendung auf den Dichter, der seine Ode vollendet, ist so glücklich, daß jeder von uns, was auch sein Beruf und seine Tätigkeit sein mag, sie in diesem furchtbaren Jahr, wo die ganze Welt in ihrem Grunde erschüttert wird, und alles vor Angst wegen des Kommenden vergehen will, auch für sich nutzbar machen sollte.

Freund! ein lebenspendender Quell springt vor dir auf. Deine an den Dichter gerichteten Worte:

Und bring den angsterfüllten Menschen

Gebete mit aus Bergeshöhn

sind Worte, die an dich selbst gerichtet sind. Dir enthüllt sich das Geheimnis deiner Muse. Die gegenwärtige Zeit bietet gerade dem lyrischen Dichter die günstigste Gelegenheit zur Betätigung. Mit der Satire kann man nicht viel ausrichten: mit einfachen Schilderungen und Nachbildungen der Wirklichkeit, wie sie sich dem Auge moderner, weltlich gerichteter Menschen darstellt, kann man niemand aus dem Schlummer wecken: die heutige Zeit schläft den tiefen Schlaf des Helden. Nein, finde in der Vergangenheit ein Ereignis, wie es sich auch heute ereignen könnte, führe es uns plastisch vor Augen und triff es im Angesichte aller mit deinem Verdammungsurteil, wie es zu seiner Zeit vom Zorne Gottes getroffen ward; geißle die Gegenwart in der Vergangenheit, und eine doppelte Kraft wird von deinem Worte ausgehen: die Vergangenheit wird dadurch lebendiger werden, und wie ein Schrei wird dir’s aus der Gegenwart entgegentönen. Schlage das Alte Testament auf: du wirst jedes Geschehnis, jede Tat der Gegenwart darin wiederfinden; klarer wie der Tag wird’s dir daraus entgegenstrahlen, worin ihr Vergehen wider Gott lag, und so deutlich und überzeugend ist darin Gottes Gericht an ihr geschildert, daß die Gegenwart erbeben muß. Du besitzest alle Mittel und Fähigkeiten dazu: in deinem Vers liegt eine mahnende und erhebende Kraft, und beides brauchen wir gerade heute. Die einen müssen erhoben werden, die andern bedürfen der Ermahnung und des Tadels. Alle die müssen erhoben werden, die durch die Untaten und durch alle Schrecken, die sie umgeben, bestürzt und verwirrt sind, und man muß denen ins Gewissen reden, die in den erhabenen Augenblicken des göttlichen Zornes und der unendlichen Leiden, die keinen verschonen, noch den Mut haben, sich wilden Ausschweifungen und einem schmählichen Jubel hinzugeben. Deine Verse sollten allen in leuchtender Klarheit vorschweben, wie die in die Luft geschriebenen Buchstaben, die während des Festmahls des Belsazar aufflammten und schon alle in Schrecken versetzten, noch ehe jemand ihren Sinn zu enträtseln vermochte. Wenn du jedoch wünschest, daß dich alle noch besser verstehen, dann erfülle dich mit biblischem Geiste, laß dir von ihm gleichwie von einer Fackel voranleuchten und steige hinab bis in die tiefsten Grüfte des russischen Altertums, triff in ihm die Schmach der gegenwärtigen Zeit und vertiefe damit in uns das Gefühl für das, was unsere Schmach noch weit schmachvoller erscheinen läßt. Dein Vers wird nicht schwächlich und matt klingen; das brauchst du nicht zu fürchten; der Hauch der alten Zeit wird ihm Farben verleihen, er allein wird dich in die rechte Stimmung versetzen und dich mit Begeisterung erfüllen. Aus allen unseren Chroniken dringt er uns förmlich wie etwas Lebendiges entgegen. Vor kurzem fiel mir ein Buch: „Empfang beim Zaren“ in die Hand. Hier sind schon allein die Ausdrücke und die Namen der fürstlichen Kleidungsstücke, der teuren Gewebe und Edelsteine ein wahrer Schatz für einen Dichter; jedes Wort schreit förmlich nach dem Vers. Man staunt über die Kostbarkeiten unserer Sprache, jeder Ton, jeder Laut ist ein Geschenk, da ist alles groß, kernig und gleich einer Perle, und mancher Ausdruck ist noch kostbarer als die Sache selbst, die er bezeichnet. Wenn es dir gelingt, deinen Vers mit solchen Worten zu schmücken, — wirst du den Leser völlig in die vergangenen Zeiten zurückversetzen. Als ich drei Seiten aus diesem Buche gelesen hatte, glaubte ich überall die alten Zaren jener vergangenen altersgrauen Zeit in ihrem altertümlichen Zarenornat andächtig zum Vespergottesdienste schreiten zu sehen.

1844.

II.

Ich schreibe dir noch einmal unter dem Eindruck deines bereits erwähnten Gedichts: „Das Erdbeben“. Laß das begonnene Werk um Gottes willen nicht liegen! Lies die Bibel noch einmal genau durch, erfülle dich mit dem Geist des russischen Altertums und suche mit seinem Lichte in die Gegenwart einzudringen. Es gibt noch ungeheuer viel Gegenstände, die du bearbeiten solltest, und es ist eine Sünde, wenn du sie nicht siehst. Schukowski hat bisher nicht mit Unrecht von deiner Poesie gesagt, sie entstamme einer Begeisterung, die kein Objekt hat. Es ist eine Schande, seine lyrische Kraft in blinden Luftschüssen verpuffen zu lassen, wo sie dir doch dazu verliehen ward, um Steine zu sprengen und Felsblöcke wegzuwälzen. Blick’ um dich! alles ist jetzt Gegenstand für den lyrischen Dichter, ein jeder Mensch lechzt förmlich nach einem lyrischen Mahnruf, wo du hinblickst, überall siehst du jemand, der ermahnt oder ermutigt und ermuntert sein will.

So rede denn zuallererst in einem gewaltigen lyrischen Mahngedicht den Klugen ins Gewissen, die den Mut sinken ließen. Du wirst Eindruck auf sie machen, wenn du ihnen die Sache in ihrem rechten Lichte zeigst, d. h. wenn du ihnen beweisest, daß ein Mensch, der sich dem Trübsinn hingibt, ein ganz überflüssiges wertloses Ding ist, das zu nichts nütze ist, was auch immer die Ursachen der Trübsal und der Entmutigung sein mögen; denn Trübsinn und Kleinmut sind Gott verhaßt. Du wirst den echten russischen Mann zum Kampf gegen Kleinherzigkeit und Mutlosigkeit aufrufen und ihn über alle Schrecknisse und alle Erschütterungen der Erde erheben, wie du in deinem Erdbeben den Dichter erhöht und erhoben hast.

Richte einen machtvollen lyrischen Appell an den noch schlummernden schönen Menschen. Wirf ihm ein Brett vom Ufer zu, auf daß er seine arme Seele rette. Schon hat er sich weit von der Küste entfernt; schon wird er ganz umklammert und mitgerissen von der höchsten Schicht der Gesellschaft, dieser nichtigen hohlen Oberschicht; schon locken ihn Diners, die Füßchen der Tänzerinnen, und schon sieht man ihn täglich einem betäubenden einschläfernden Rausch erliegen; schon wächst ihm unmerklich die fleischliche Hülle, schon ist er ganz Fleisch geworden und ist kaum noch etwas wie eine Seele in ihm. Schrei auf zu ihm wie aus tiefster Not; laß das Greisenalter, diese Hexe, vor ihm erstehen, wie sie auf ihn zueilt, sie, die ganz Eisen ist, ja gegen die ein Stück Eisen noch wie Mitleid und Erbarmen erscheint, und die uns keinen Fetzen eines Gefühls wieder zurückgibt. O wenn du ihm doch das sagen könntest, was mein Pljuschkin aussprechen soll, wenn ich noch dazu komme, den dritten Teil meiner „Toten Seelen“ zu schreiben!

Stell’ in einem zürnenden Dithyrambus die Wucherer neuesten Schlages, wie sie in unseren Tagen ihr Wesen treiben, an den Pranger: ihren verfluchten Luxus, ihre schlechten Frauen, die sich und ihre Männer mit ihrer Eitelkeit und ihrem Flitter zugrunde richten, die verfluchte Schwelle ihrer prunkenden Paläste und die abscheuliche Luft, die sie dort atmen; auf daß sie jedermann, ohne sich umzusehen, meide und eilenden Fußes entfliehe, wie vor der Pest.

Verherrliche in einem feierlichen Hymnus den stillen bescheidenen Arbeiter, der — ein Ruhm und eine Ehre des edlen russischen Wesens — mitten unter den waghalsigsten dreistesten Wucherern lebt und der in seiner Unbestechlichkeit nie ein Geschenk annimmt, selbst dort nicht, wo sich alles um ihn herum bestechen läßt. Verherrliche ihn, seine Familie, sein edles Weib, das lieber selbst in einer altmodischen Haube einhergeht und sich dem Gespött der Leute aussetzt, als zuläßt, daß ihr Mann etwas Niederträchtiges oder Schlechtes begeht. Stell’ ihre herrliche Anmut so dar, daß sie vor allen Augen aufstrahle wie ein Heiligtum, und daß einen jeden die Sehnsucht nach ihr ergreife.

Laß einen Hymnus zum Preis jenes Recken erklingen, wie er nur aus russischen Landen hervorgehen kann, der plötzlich aus seinem schmählichen Schlummer erwacht, sich gänzlich verwandelt und mit einem Schlage ein anderer wird: der offen und vor aller Welt seine Schlechtigkeit und seine abscheulichen Laster verflucht und der gewaltigste Streiter und Vorkämpfer des Guten wird. Zeig’ uns, wie sich diese ungeheure gewaltige Tat in der echten russischen Seele vollzieht, aber stell’ es so dar, daß die russische Seele in jedem von uns unwillkürlich erbebt und daß jeder, selbst der Mann der unteren Stände ausrufen muß: Wackerer Mann! und von dem Gefühl ergriffen wird, daß auch er dasselbe vollbringen kann.

Groß, gewaltig groß ist die Zahl der Gegenstände für einen lyrischen Dichter — ein ganzes Buch würde kaum genügen, um sie aufzuzählen, geschweige denn ein Brief. Alle wahrhaften russischen Gefühle verkümmern, und es ist niemand da, der sie zu wecken vermöchte! Es schlummert unsere Kühnheit, und es schlummern unser Wagemut und unsere Entschlossenheit zur Tat, es schlummert unsere unerschütterliche Kraft und Stärke, es schläft unser Verstand, der völlig von den Interessen eines mattherzigen, weibischen gesellschaftlichen Lebens absorbiert wird, das uns unter dem Namen der Aufklärung aufgedrängt worden und als Begleiterscheinung aller möglicher sinnloser und kleinlicher Neuerungen bei uns eingezogen ist. Reib dir den Schlaf aus den Augen und geh hin und rüttle auch die andern aus dem Schlummer auf. Wirf dich vor deinem Gott auf die Knie und flehe ihn an, er solle deinem Herzen Zorn und Liebe senden: Zorn wider das, was dem Menschen verderblich ist, und Liebe — für die arme Menschenseele, die alle mit Verderben bedrohen und die er selbst zugrunde richtet. Die Worte und Ausdrücke wirst du schon finden: nicht Worte, sondern flammende Blitze werden aus deinem Munde zucken, wie aus dem der alten Propheten, wenn du die Sache nur gleich ihnen zu deiner eigensten Angelegenheit, zu einer Angelegenheit deines innersten Wesens machen, wenn du nur gleich ihnen Asche auf dein Haupt streuen, deine Kleider zerreißen und Gott weinend darum anflehen wirst, die Kraft auf dich herabzusenden, und wenn du die Errettung deines Landes mit solcher Glut und Inbrunst herbeisehnen wirst, wie sie die Errettung ihres von Gott erwählten Volkes herbeigesehnt haben.

1844.

XVI
Ratschläge
An S. P. Schewyrew

Indem wir andre belehren, lernen wir selbst. Während dieser schweren Zeit der Krankheit, zu der sich auch noch schwere seelische Leiden gesellt haben, war ich genötigt, einen so regen Briefwechsel zu unterhalten, wie ich ihn bisher noch nicht geführt habe. Und wie mit Absicht war dies beinahe für alle, die meinem Herzen nahe stehen, eine Zeit voll innerer Erlebnisse und Erschütterungen. Sie alle wandten sich, wie von einem dunklen Instinkt getrieben, an mich und verlangten Rat und Hilfe von mir. Jetzt erst erkannte ich, welch nahe Verwandtschaft die Seelen der Menschen miteinander verbindet. Man muß nur selbst ernsthaft gelitten haben, um jeden Leidenden zu verstehen und um beinahe sicher zu sein, was man ihm zu sagen hat. Aber mehr noch: auch unser Verstand wird klarer; die Lage der Menschen und ihre Berufstätigkeit, in die man bisher keinen Einblick hatte, werden einem plötzlich deutlich und verständlich, und es wird einem klar, wessen ein jeglicher bedarf. Während der letzten Zeit kam es sogar vor, daß ich Briefe von Menschen erhielt, die mir fast gänzlich unbekannt waren, und daß ich ihnen Ratschläge erteilen konnte, die ich früher nie hätte erteilen können. Und dabei bin ich doch gewiß nicht klüger als irgendein anderer Mensch. Ich kenne Menschen, die weit klüger und gebildeter sind und die sehr viel nützlichere Ratschläge erteilen könnten als ich, aber sie tuen es dennoch nicht und wissen nicht einmal, wie man so etwas macht. Gott ist groß, und Er ist es, der uns die Weisheit schenkt. Wodurch aber macht Er uns weise? Durch dasselbe Leiden, dem wir zu entfliehen suchen und vor dem wir uns verbergen. Es ist unsere Bestimmung, daß wir uns durch Kummer und Leiden ein Körnchen von jener Weisheit erwerben sollen, die wir aus keinem Buche zu lernen vermögen. Wer sich jedoch bereits ein solches Körnchen erworben hat, der hat schon nicht mehr das Recht, es vor den anderen zu verbergen und geheimzuhalten. Es ist nicht mehr unser, sondern Gottes. Gott hat es in dir hervorgebracht; und alle Gaben Gottes werden uns deshalb verliehen, damit wir mit ihrer Hilfe unseren Mitbrüdern dienen können. Er hat geboten, daß wir einander fortwährend belehren sollen. Nun denn, so ruhe nicht und stehe andern mit Rat und Belehrung zur Seite. Wenn du jedoch willst, daß das auch dir zugleich von Nutzen sei, so tue so, wie ich es für richtig halte und wie ich es mir von nun ab für immer zum Gebot meines Handelns gemacht habe. Jeden Ratschlag und jede Belehrung, die du jemand erteilst, sei es selbst einem Menschen, der auf der niedrigsten Bildungsstufe steht und mit dem du nichts gemein haben kannst, richte zugleich an dich selbst, und was du dem andern geraten hast, das rate dir selbst; was du an einem andern zu tadeln fandest, das mache dir sogleich auch selbst zum Vorwurf. Glaube mir, alles wird auch auf dich passen, und ich weiß nicht einmal, ob es einen Fehler gibt, den man sich nicht selbst vorzuwerfen hätte, wenn man nur tiefer in sich selbst hineinblickt. Deine Waffe sei zweischneidig. Selbst wenn du dich einmal über einen Menschen ärgerst und ihm zürnst, so zürne zugleich dir selbst, wenn auch nur deswegen, weil du einem andern zürnen konntest. Tue das unter allen Umständen! Lasse dich selbst nie aus den Augen! In dieser Beziehung mußt du Egoist sein. Der Egoismus ist gar keine so häßliche Eigenschaft. Die Menschen hätten ihm bloß keine so schlimme Deutung geben sollen. Und doch liegt dem Egoismus eine große Wahrheit zugrunde. Kümmere dich vor allem um dich selbst und dann erst um die andern; suche zuerst selbst besser und reineren Herzens zu werden und dann erst sorge dafür, daß die andern besser und reiner werden.

1846.

XVII
Über die Aufklärung
An W. A. Schukowski

Ich schreibe dir noch einmal von der Reise. Bruder! Ich danke dir für alles. Am Grabe des Herrn will ich zu Gott beten, Er möge mir die Kraft verleihen, dir auch nur einen Teil von all dem wiederzuerstatten, das du in deiner Güte und Klugheit an mir getan hast. Glaube und laß dich nicht irremachen in deinem Herzen. Wenn du nach Moskau kommst, wird es dir so erscheinen, als ob du in den Schoß deiner eigenen lieben Familie kämest. Moskau wird dir wie ein ersehnter Hafen erscheinen, und du wirst es dort ruhiger haben, als hier. Weder der sinnlose Lärm des leeren Weltgetriebes noch das ewige Wagengerassel wird dich beunruhigen; rücksichtsvoll wird man die Straße vermeiden, in der du wohnen wirst. Und selbst wenn jemand angefahren kommen sollte, um dich zu besuchen — ein alter Freund, oder ein Mensch, den du bisher noch nicht kanntest, so wird er dir zuvorkommen und dich bitten, ihm keinen Gegenbesuch zu machen, um dir nur ja keinen Augenblick deiner Zeit zu rauben. Bei uns versteht man sich darauf und weiß man sehr gut, wie man einen Menschen ehrt, der seine Schuldigkeit ganz getan hat. Wer all seine Gaben so einwandfrei treu und ehrlich ausgenutzt hat, ohne seine Fähigkeiten einschlafen zu lassen, ohne sich sein Leben lang je einen Augenblick der Trägheit hinzugeben, wer sich im Alter die Frische der Jugend erhalten hat, während alle um ihn herum sie in törichten Ausschweifungen ausgegeben haben und während die Jungen gebrechliche Greise geworden sind, der hat Anspruch auf Achtung und Ehrfurcht. Du wirst in Moskau leben wie ein Patriarch, und die Jugend wird den Worten des Greises lauschen und sie hüten, wie lauteres Gold. Deine Odyssee wird von großem Nutzen für die allgemeine Sache sein; das sage ich dir voraus. Sie wird dem Menschen von heute, der sich durch die Verworrenheit unseres Lebens und unserer Gedanken ermüdet fühlt, seine Frische wiedergeben, durch sie wird er vieles in einem neuen Lichte sehen, was er als alten Plunder, der keinen Wert für das Leben hat, von sich geworfen hat. Sie wird ihn der Schlichtheit und Einfachheit wiedergeben. Aber nicht weniger, wenn nicht noch mehr gute Früchte werden die Werke bringen, auf die dich Gott selbst hingewiesen hat, und die du mit Recht noch geheimhältst. Auch sie werden einem allgemeinen Bedürfnis entsprechen. So laß denn den Mut nicht sinken und schaue fest und ruhig in die Zukunft! Laß dich nicht schrecken durch die Mißform und die Disharmonie, der du begegnest. Es gibt mitten in unserem Lande eine Macht, die mit allem versöhnt und alles zur Eintracht bringt, und die bisher noch nicht alle sehen — unsere Kirche. Doch schon rüstet sie sich, von ihren Rechten vollen Besitz zu nehmen und ihr Licht hell über die ganze Erde erstrahlen zu lassen. In ihr ist alles enthalten, dessen man für ein Leben in wahrhaft russischem Sinne und Geiste, und zwar in jeder Beziehung und jeglicher Rücksicht: sowohl für das staatliche wie für das gewöhnliche Familienleben bedarf, sie schafft die rechte Stimmung und Disposition für alles, sie weist allem die Richtung und den rechten, richtigen Weg. Meiner Ansicht nach ist schon der bloße Gedanke, unter Ignorierung unserer Kirche Reformen in Rußland einzuführen, ohne sich ihren Segen dazu erbeten zu haben, eine Torheit. Ja, es wäre sogar unsinnig, wenn wir selbst unserer Denkweise allerhand aus Europa stammende Gedanken aufpfropfen wollten, ehe sie von der Kirche die Weihe erhalten und ehe sie vom Licht des Christentums verklärt worden sind. Du wirst sehen, du wirst Zeuge davon sein, wie das in Rußland mit einem Schlage von allen — von den Gläubigen wie von den Ungläubigen — zugegeben werden und wie unsere Kirche plötzlich, von allen erkannt und verstanden, dastehen wird. Es war wohl der Wille der Vorsehung, daß so viele von einer unerklärlichen Blindheit geschlagen werden sollten. Wenn ich die Fäden der Weltereignisse sorgsam aneinanderzulegen versuche, dann erkenne ich die ganze Weisheit Gottes, die darin liegt, daß Er zuerst eine vorübergehende Spaltung innerhalb der Kirche geschehen ließ, der einen gebot, unbeweglich und gleichsam in einer großen Entfernung und Entfremdung von den Menschen zu verharren, und bestimmte, daß die andere in ihre Unruhe und Bewegung hineingezogen werde, daß Er der einen gebot, keine Reformen oder Neuerungen zuzulassen, außer denen, die von den heiligen Männern der besten Zeiten des Christentums und von den ersten Vätern der Kirche eingeführt wurden — während Er die andere hieß, sich in stetigem Wandel an alle Zeitumstände, den Geist und die Gewohnheiten der Menschen anzupassen und alle möglichen Neuerungen durchzuführen, selbst solche, die von sündhaften und lasterhaften Priestern ausgingen, daß Er die eine gleichsam der Welt absterben und die andre gewissermaßen die Herrschaft über die ganze Welt gewinnen ließ, daß Er die eine hieß, sich gleich der bescheidenen Maria aller Sorgen um das Irdische zu entschlagen und sich zu den Füßen des Herrn niederzulassen, auf daß sie sich recht tief mit Seinem Worte erfülle, ehe sie hinginge, es anzuwenden und es den Menschen zu verkünden, der andern dagegen gebot, gleich der sorgsamen Martha, sich wie eine gastfreie Hausfrau um die Menschen zu kümmern, und ihnen die noch nicht völlig durchdachten Herrenworte mitzuteilen. Die erste hatte das bessere Teil erwählt; sie lauschte lange und aufmerksam den Worten des Herrn und ertrug geduldig die Vorwurfe der kurzsichtigen Schwester, die sich sogar erdreistete, sie einen toten Leichnam zu nennen, sie des Irrglaubens zu beschuldigen und ihr vorzuwerfen, daß sie vom Herrn abgefallen sei. Es ist nicht leicht, Christi Wort auf die Menschen anzuwenden, daher mußte sie sich zuvor tief von ihm durchdringen lassen. Dafür hat sich in unserer Kirche alles erhalten, dessen unsere erwachende Gesellschaft bedarf. Sie ist Steuer und Richtmaß der kommenden neuen Ordnung der Dinge, und je tiefer ich mich mit Herz, Verstand und Gemüt in sie versenke, um so mehr wundere ich mich, welch erstaunliche Möglichkeiten für eine Versöhnung der Widersprüche in ihr liegen, die die römische Kirche nicht zur Aussöhnung zu bringen vermag. Die römische Kirche mochte noch ausreichen für die frühere unkomplizierte Ordnung der Dinge; sie konnte vielleicht zur Not die Welt lenken und sie mit Christus aussöhnen, solange die Menschheit noch so unvollkommen und einseitig entwickelt war. Jetzt dagegen, wo die Menschheit zu einer so vollkommenen Entwicklung aller ihrer Kräfte und aller ihrer Fähigkeiten — der guten sowohl wie der bösen — gelangt ist, jetzt kann die römische Kirche die Menschen Christus nur entfremden: je mehr sie um den Frieden und die Einigkeit besorgt ist, um so mehr Hader sät sie, da sie mit ihrem dünnen Licht nicht imstande ist, die Dinge, so wie sie sich heute darstellen, von allen Seiten zu beleuchten. Alle sind sich darüber klar, daß sie mit der Aufstellung so vieler menschlicher Satzungen, die von solchen Kirchenfürsten herrühren, die noch keineswegs durch die Heiligkeit ihres Lebenswandels der höchsten und allumfassenden christlichen Weisheit teilhaftig geworden waren, sich ihren Blick für die Welt und das Leben verengt hat und diese nicht mehr zu umfassen vermag. Einen allseitigen vollständigen Blick für das Leben gibt es jetzt nur noch auf ihrer östlichen Hälfte, die offenbar für eine spätere und höhere Entwicklungsstufe der Menschheit prädestiniert ist. In ihr kann sich nicht nur Herz und Seele des Menschen, sondern auch sein Verstand in seinen höchsten und edelsten Fähigkeiten frei entfalten. Sie ist nur Weg und Richtung, um alle Kräfte und Vermögen der Menschen in einem einmütigen Hymnus auf das höchste Wesen zusammenzuführen. Freund, laß dich nicht irremachen! Und wenn die heutigen Verhältnisse noch siebenmal verwickelter wären — unsere Kirche wird sie alle entwirren und zur Versöhnung bringen. Wie von einem dunklen Instinkt geleitet, beginnen selbst unsere Weltleute, die sich unter uns bewegen, bereits etwas davon zu ahnen, daß wir einen Schatz besitzen, in dem unsere Rettung liegt, — der sich mitten unter uns befindet und den wir nicht bemerken. Dieser Schatz wird eines Tages hell aufstrahlen, und sein Glanz wird auf jedes Ding fallen. Und diese Zeit ist nicht mehr fern. Wir führen jetzt immer das sinnlose Wort Aufklärung im Munde, und dabei haben wir es uns nicht einmal überlegt, woher dies Wort stammt und was es bedeutet. Dies Wort gibt es in keiner Sprache, es existiert nur bei uns. Aufklären[4] heißt nicht belehren, unterweisen, bilden oder gar erleuchten, sondern den Menschen bis in sein Innerstes hinein mit all seinen Kräften und Vermögen durchleuchten, nicht nur seinen Verstand; heißt sein ganzes Ich wie durch ein reinigendes Feuer hindurchgehen lassen. Dieses Wort stammt aus dem Sprachschatz unserer Kirche, die es bereits gegen tausend Jahre lang gebraucht, trotz aller Finsternis und trotz der Wolken und Nebel der Unwissenheit, die sie von allen Seiten umwogen, und sie weiß, warum sie es braucht. Nicht umsonst hebt der Oberpriester beim Hochamt den dreiarmigen Leuchter, das Sinnbild der heiligen Dreieinigkeit, und den zweiarmigen Leuchter, das Sinnbild Seines heiligen Wortes, das in doppelter Gestalt als Gott und Mensch zu uns auf die Erde herabgestiegen ist, mit beiden Händen empor, weiht alle mit ihnen und spricht: „Christi Licht erleuchtet, heiliget, verkläret alle!“ Und nicht umsonst ertönen während eines andern Teils der Messe in kurzen Abständen, als kämen sie vom Himmel, die Worte an eines jeden Ohr: „Das Licht der Aufklärung!“ ohne daß etwas anderes zu ihnen hinzugefügt würde.

1846.

XVIII
Vier Briefe an verschiedene Personen über die „Toten Seelen“

I.

Sie haben unrecht, sich so über den maßlosen Ton aufzuregen, in dem manche Angriffe gegen die „Toten Seelen“ geschrieben sind: das hat auch seine gute Seite. Mitunter brauchen wir Menschen, die über uns empört sind. Wer ganz von der Schönheit einer Sache ergriffen ist, der sieht die Mängel nicht und verzeiht alles; wer uns dagegen zürnt und gegen uns erbittert ist, der wird versuchen, alles Häßliche, allen Unrat in uns aufzuwühlen und ihn so deutlich ans Licht zu stellen, daß wir ihn sehen müssen, ob wir nun wollen oder nicht. Man bekommt so selten die Wahrheit zu hören, daß man schon um eines kleinen Körnchens Wahrheit willen die Kränkung verzeihen sollte, die in dem Ton liegt, in dem sie ausgesprochen wird. In den Kritiken Bulgarins, Ssenkowskis und Polewois steckt viel Richtiges, ja selbst in dem Rat, der mir gegeben wird, ich solle zuerst einmal Russisch lernen und dann Bücher schreiben. In der Tat, wenn ich mich mit der Drucklegung des Manuskripts nicht so beeilt hätte und es noch ein Jahr lang liegen gelassen hätte, so hätte ich wohl selbst gesehen, daß das Buch unter keinen Umständen in einem so rohen und unordentlichen Zustand hätte erscheinen dürfen. Ja, selbst die Epigramme und die Scherze, die gegen mich gerichtet wurden, hatte ich nötig, trotzdem sie mir zuerst durchaus nicht gefielen und mir keineswegs angenehm waren. O wie sehr bedürfen wir der ständigen Püffe und Stöße, wie sind uns dieser beleidigende Ton und diese boshaften aufs tiefste verwundenden Spöttereien vonnöten! Auf dem Grunde unserer Seele liegt soviel kleinliche armselige Eitelkeit, soviel häßlicher leicht verletzter Ehrgeiz verborgen, daß wir in einem fort Püffe erhalten und mit allen nur möglichen Zuchtruten gezüchtigt werden sollten, ja wir sollten uns stets dankbar über die Hand freuen, die uns züchtigt.

Indessen wünschte ich mir doch noch mehr Kritiken, die nicht von Literaten, sondern von Menschen herrühren, deren eigentliches Tätigkeitsfeld das Leben selbst ist. Von praktisch tätigen Leuten hat sich — abgesehen von den Literaten — wie zum Tort für mich auch nicht ein einziger geäußert. Und doch haben die „Toten Seelen“ viel von sich reden gemacht und viel Unwillen erregt; sie haben viele durch Spott und Karikatur und die in ihnen enthaltene Wahrheit im Innersten getroffen; sie haben Verhältnisse berührt, die ein jeder täglich vor Augen hat, obwohl sie freilich andererseits auch wieder voller Fehler, Versehen und Anachronismen sind und an einer offenbaren Unkenntnis vieler Gegenstände kranken; hie und da habe ich sogar mit Vorbedacht manch Anstößiges und Verletzendes aufgenommen; ich dachte mir: vielleicht wird mich jemand tüchtig dafür ausschelten und mir in seinem Ärger und Zorn die Wahrheit sagen, die ich hören will. Ach, wenn doch nur eine Menschenseele ihre Stimme erhoben hätte! Und doch hätte jeder dies leicht gekonnt. Und wieviel Gescheites hätte er sagen können! Ein Beamter hätte mir offen vor allen Leuten die Unwahrscheinlichkeit der von mir geschilderten Vorgänge nachweisen können, da er mir nur zwei oder drei Vorgänge hätte vorzuhalten brauchen, die sich wirklich ereignet haben, und so hätte er mich gründlicher widerlegt, als mit vielen Worten; und in derselben Weise hätte er für die Wahrheit meiner Schilderungen eintreten und den Beweis für sie erbringen können. Durch Anführung einer Begebenheit, die sich wirklich ereignet hat, beweist man viel mehr, als durch leere Worte und literarische Redensarten. Und das gleiche hätte der Kaufmann, der Gutsbesitzer, kurz jedermann, der des Lesens und Schreibens kundig ist, tun können, ob er nun ein eingefleischter Stubenhocker ist oder das weite russische Land in allen Richtungen durchstreift. Hat doch ein jeder Mensch, auch wenn er bereits eine eigene Ansicht über die Dinge besitzt, auf der Stelle oder auf der Stufe der sozialen Ordnung, auf die er durch sein Amt, seinen Beruf oder durch seine Bildung gestellt ist, stets Gelegenheit, jeden Gegenstand von einer Seite kennen zu lernen, von der ihn kein anderer Mensch zu sehen vermag. Über die „Toten Seelen“ könnte von ihrem gesamten Leserkreis ein zweites, unvergleichlich viel interessanteres Buch als die „Toten Seelen“ selbst geschrieben werden; ein Buch, aus dem nicht nur ich, sondern auch die Leser selbst Belehrung schöpfen können, weil wir ja alle — wozu sollen wir unsere Fehler verheimlichen! — weil wir Rußland allesamt recht schlecht kennen.

Ach wenn doch nur eine Seele ihre Stimme laut und für alle vernehmbar erhoben hätte! Es ist fast so, als ob alles ausgestorben wäre, wie wenn Rußland tatsächlich nicht von lebendigen, sondern nur noch von „toten Seelen“ bewohnt würde. Und da wirft man mir meine mangelhafte Kenntnis Rußlands vor! Wie wenn ich, wie vom Heiligen Geiste erleuchtet, von allem unterrichtet sein müßte, was an sämtlichen Ecken und Enden Rußlands geschieht! Ich soll über alles unterrichtet sein, ohne daß mich jemand unterrichtet! Woraus aber kann ich Belehrung schöpfen, ich, ein Schriftsteller, der schon durch seinen Schriftstellerberuf zu einer sitzenden einsiedlerischen Lebensweise verurteilt, der noch dazu krank und genötigt ist, außerhalb Rußlands in der Fremde zu leben. Auf welche Weise soll ich mir diese Kenntnisse verschaffen? Die Literaten und Journalisten können mich doch nicht darüber belehren, denn sie sind doch auch Einsiedler und Stubenhocker. Der Schriftsteller hat überhaupt nur einen Lehrer: das sind die Leser selbst. Die Leser aber haben sich geweigert, mich zu belehren. Ich weiß, daß ich strenge Rechenschaft vor Gott werde ablegen müssen, weil ich meine Aufgabe nicht erfüllt habe, wie ich sollte; aber ich weiß, daß auch andere die Verantwortung für mich werden übernehmen müssen. Und das sage ich nicht ohne Grund; Gott selbst weiß es, daß ich dies nicht ohne guten Grund sage.

1843.

II.

Ich habe es vorausgesehen, daß alle lyrischen Episoden in meiner Dichtung falsch aufgefaßt werden würden. Sie sind so unklar, haben so wenig Zusammenhang mit den Gegenständen, die vor den Augen des Lesers vorüberziehen, sie passen so wenig zu dem Stil und der Haltung des ganzen Werkes, daß sie die Gegner wie ihre Freunde und Verteidiger gleichermaßen irregeführt haben. Alle Stellen, wo ich in ganz allgemeiner Weise über den Schriftsteller rede, wurden auf mich bezogen; ich habe sogar über die Versuche erröten müssen, sie zu meinen Gunsten auszulegen. Aber es geschieht mir ganz recht! Unter keinen Umständen hätte ich ein Werk herausgeben dürfen, das zwar in seiner Anlage nicht schlecht, jedoch nur flüchtig und wie mit weißen Fäden zusammengeheftet war, gleich einem Anzug, den der Schneider zur Anprobe mitbringt. Ich wundere mich nur, daß so wenig Ausstellungen gegen die Kunst und das Prinzip des Schaffens gemacht worden sind. Daran sind einerseits der Ärger und Unmut meiner Kritiker, andererseits aber der Umstand schuld, daß wir nicht gewöhnt sind, tiefer nach dem Plan und dem Aufbau eines Werkes zu forschen. Man hätte darauf hinweisen müssen, welche Teile im Verhältnis zu den andern viel zu lang geraten sind, wo der Verfasser sich selbst untreu wird und den eigenen Ton, in dem er begonnen hat, nicht festhält. Ja, es hat auch nicht einer bemerkt, daß die letzte Hälfte des Buches viel weniger ausgeführt ist als die erste, daß sie viele Lücken enthält, daß darin die wichtigsten und bedeutsamsten Momente in gedrängter Kürze dargestellt, die unwichtigen und nebensächlichen weit ausgesponnen sind, daß der Geist, der das Werk erfüllt, aus ihm nicht genügend hervorleuchtet, dafür aber die Buntheit der Teile und das Fragmentarische des Ganzen um so mehr in die Augen fällt. Kurz, man hätte weit ernstere und gediegenere Einwände machen, man hätte mich weit heftiger tadeln können, als man es jetzt tut, und zwar mit gutem Grunde. Aber jetzt handelt es sich nicht darum. Worum es sich hier handelt, das ist die lyrische Episode, die den meisten Angriffen von seiten der Journalisten ausgesetzt war und in der man Anzeichen einer übertriebenen Selbsteinschätzung, Selbstbeweihräucherung und einen Hochmut hat finden wollen, wie er bisher bei keinem Schriftsteller zu finden war. Ich habe hier jene Stelle aus dem letzten Kapitel im Auge, wo der Verfasser von Tschitschikows Abreise aus der Stadt erzählt, seinen Helden für eine Weile allein auf der Landstraße läßt, sich selbst an seine Stelle versetzt und sich unter dem Eindruck der Monotonie und der Einförmigkeit seiner Umgebung, der öden und kalten Ungastlichkeit des grenzenlosen Raumes und des traurigen Liedes, das von einem Meer zum andern durch das ganze weite russische Land tönt, in einer lyrischen Apostrophe an Rußland selbst wendet, es um eine Erklärung für das unbegreifliche Gefühl bittet, das sich des Dichters bemächtigt hat, und fragt: warum es ihm so erscheint, als heftete alles, jeder beseelte und jeder seelenlose Gegenstand seinen Blick auf ihn und als erwarte er etwas von ihm. Diese Worte wurden als Hochmut und als eine bisher unerhörte Prahlerei ausgelegt, während sie doch weder das eine noch das andere sind. Sie sind einfach ein ungelenker Ausdruck für ein echtes Gefühl. Ich kann noch immer diese melancholischen Töne unserer Lieder nicht ertragen, die durch die unendlichen, grenzenlosen Räume Rußlands klingen. Diese Töne schwingen in meinem Herzen weiter, und ich bin erstaunt, daß nicht ein jeder dasselbe in seinem Innern empfindet. Wer beim Anblick dieser wüsten, noch unbevölkerten und ungastlichen Räume nicht traurig gestimmt wird, wer aus den melancholischen Klängen unserer Lieder nicht einen schmerzlichen Vorwurf gegen sich selbst, jawohl, gegen sich selbst heraushört, der hat entweder seine Pflicht und Schuldigkeit bereits restlos getan, oder er hat keine russische Seele. Betrachten wir die Sache einmal so, wie sie sich wirklich verhält. Schon sind beinahe hundertundfünfzig Jahre verflossen, seit Kaiser Peter I. uns mit dem reinigenden Feuer der europäischen Aufklärung den Schlaf aus den Augen gescheucht und uns alle Mittel und Werkzeuge in die Hand gegeben hat, damit wir zur Tat schreiten sollten; noch immer aber liegt unser weites Land ebenso öde, traurig und einsam da, noch ist alles um uns herum ganz ebenso unfreundlich und ungastlich wie ehedem, ganz als ob wir noch immer nicht bei uns zu Hause unter dem eigenen heimischen Dach weilten, sondern irgendwo obdachlos auf der Landstraße lägen, noch weht uns von Rußland kein warmes herzliches Gefühl entgegen, wie wenn wir von lieben Brüdern empfangen würden, es erscheint uns vielmehr wie eine kalte vom Schneesturm verwehte Poststation, aus der ein einsamer, gegen alles gleichgültiger Stationswächter hervorschaut, der auf unsere Frage stets die nüchterne trockene Antwort bereit hat: „Wir haben keine Pferde!“ Woher kommt das? Wer ist schuld? Wir [oder die Regierung? Aber] die Regierung ist doch die ganze Zeit über unermüdlich tätig gewesen. Dafür zeugen zahlreiche Bände voller Verfügungen, Gesetzesverordnungen und Maßnahmen, eine gewaltige Zahl neu erbauter Häuser, eine Menge neu herausgegebener Bücher, eine Unzahl von Einrichtungen und Institutionen aller Art: Lehranstalten, humanitäre Einrichtungen, Wohltätigkeitseinrichtungen, kurz, sogar solche Anstalten, wie sie von keiner Regierung eines andern Staates gegründet werden. Die Fragen kommen von oben, die Antworten von unten; und mitunter ertönten von oben Fragen, die von ritterlichen und hochherzigen Regungen vieler Herrscher Zeugnis ablegen, die häufig sogar gegen ihre eigenen Interessen und gegen ihren eigenen Vorteil gehandelt haben. Und wie hat man von unten auf dies alles geantwortet? Es kommt doch auf die Verwertung eines Gedankens, auf die Kunst an, ihm eine solche Anwendung zu geben, daß man sich ihn wirklich anzueignen vermag und daß er in uns Wurzeln schlägt. Eine Verordnung mag noch so wohl durchdacht und noch so bestimmt sein, sie ist doch nur eine Blankoanweisung, wenn es unten an dem gleichen reinen Streben fehlt, sie in die Tat umzusetzen und zwar in der Richtung, in der es erforderlich ist, in der dies geschehen muß und die nur der richtig beurteilen und bestimmen kann, dessen Geist vom Begriff der göttlichen — nicht der menschlichen Gerechtigkeit erleuchtet ist. Ohne dies muß alles eine schlimme Wendung nehmen. Ein Beweis dafür sind die zahlreichen abgefeimten Gauner und bestechlichen Beamten, die es bei uns gibt, die es verstehen, jede Verordnung zu umgehen, für die jede neue Verordnung nur eine neue Einnahmequelle, ein neues Mittel ist, die Abwicklung der Geschäfte durch neue Komplikationen zu belasten und zu erschweren und dem Menschen einen neuen Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Mit einem Wort, wohin ich mich wende, überall sehe ich, daß der die Schuld trägt, der die Verordnungen durchführt, d. h. wir selbst, einer von uns: und zwar ist er entweder schuld, weil er den brennenden Wunsch hat, seinen Namen berühmt zu machen [oder einen Orden zu ergattern], und sich daher zu sehr beeilt, oder er ist schuld, weil er gar zu hitzig vorwärtsstrebt, um nach gut russischer Art seinen Opfermut zu beweisen; so einer geht nicht lange mit sich zu Rate, fragt in seinem hitzigen Übereifer nicht erst viel, worum es sich handelt, bemächtigt sich sofort der Sache wie ein Sachverständiger und ist dann — gleichfalls nach gut russischer Art — schnell wieder abgekühlt, wenn er sich einem Mißerfolg gegenübersieht; oder er ist schließlich schuld, weil er aus verletzter, kleinlicher Eitelkeit gleich alles hinschmeißt und den Posten, auf dem er einen so schönen Anlauf genommen hatte, dem ersten besten Gauner abtritt, [damit der die Leute gründlich rupfen kann]. Kurz, selten besitzt einer von uns genug Liebe zum Guten, um ihr seinen Ehrgeiz, seine Eitelkeit und all die kleinen Regungen eines übermäßig empfindlichen Egoismus zum Opfer zu bringen und es sich unweigerlich zum Gebot zu machen — seinem Vaterlande — und nicht sich selbst zu dienen, ewig eingedenk, daß er seinen Beruf ergriffen hat, um andre glücklich zu machen und nicht sich selbst. Statt dessen scheint der Russe in der letzten Zeit es wie mit Vorbedacht darauf angelegt zu haben, seine Empfindlichkeit in allen Punkten und die kleinliche Reizbarkeit seines Ehrgefühls allen und überall vor Augen zu führen. Ich weiß nicht, ob es viele Leute unter uns gibt, die nur getan haben, was ihre Schuldigkeit war, und die offen vor der ganzen Welt erklären können, daß Rußland ihnen nichts vorzuwerfen habe, daß kein seelenloser Gegenstand in seinem weiten, öden Raume sie vorwurfsvoll anstarre, daß alle mit ihnen zufrieden sind und nichts von ihnen erwarten. Ich weiß nur, daß ich diesen Vorwurf sehr deutlich vernommen habe. Auch jetzt höre ich ihn wieder. Auch in meinem bescheidenen Beruf als Schriftsteller hätte sich etwas machen, etwas leisten lassen, was von wirklichem und dauerndem Nutzen sein konnte. Was hat es zu bedeuten, daß in meinem Herzen stets die Sehnsucht nach dem Guten lebendig war und daß ich nur aus diesem Triebe heraus zur Feder griff? Wie habe ich meine Sehnsucht gestillt? Hat denn zum Beispiel gleich dies Werk von mir, das jetzt erschienen ist und das den Namen „Die toten Seelen“ trägt, hat es etwa den Eindruck gemacht, den es hätte machen können, wenn es so geschrieben gewesen wäre, wie es hätte geschrieben werden müssen? Ich habe meine eigenen Gedanken, — einfache und wahrhaftig nicht kopfbrecherische Gedanken, nicht auszudrücken vermocht und selbst Anlaß dazu gegeben, daß sie verkehrt aufgefaßt und daß ihnen ein Sinn untergelegt wurde, der eher schädlich als nützlich ist. Und wer ist schuld daran? Soll ich etwa sagen, meine Freunde oder die Ungeduld der Ästheten, die an leeren, schnell verrauschenden Klängen ihre Freude haben, hätten mich dazu gedrängt? Soll ich etwa sagen, daß ich durch schwierige und ärmliche Verhältnisse in eine peinliche Lage gebracht worden sei und, da ich mir das Geld für meinen Lebensunterhalt hätte erwerben müssen, genötigt gewesen wäre, mich zu beeilen und mein Buch zu früh erscheinen zu lassen? Nein, wer entschlossen ist, seine Pflicht redlich zu erfüllen, den können keinerlei Verhältnisse schwankend machen, der wird, wenn es nicht anders geht, sogar lieber seine Hand ausstrecken und um Almosen bitten, der wird sich um keinen schnell verklingenden Spott und Tadel, geschweige denn um die törichten Anstandsregeln der vornehmen Gesellschaft kümmern. Der, der aus Rücksicht auf diese Anstandsregeln der Gesellschaft eine Sache schädigt, die für sein Land ein Bedürfnis darstellt, der liebt es nicht. Ich war mir der verächtlichen Schwäche meines Charakters, meines elenden Kleinmuts, der Ohnmacht meiner Liebe bewußt, daher schien mich ein jedes Ding in Rußland mit bitterem Vorwurf anzustarren. Aber die Kraft des Höchsten hat mich aufgerichtet; es gibt kein Vergehen, das nicht wieder gutzumachen wäre, und dieselben öden Strecken, die meine Seele mit solcher Melancholie erfüllten, versetzten mich durch ihre gewaltige freie Ausdehnung und Geräumigkeit — dies weite Feld für einen rastlosen Betätigungsdrang — in Entzücken. Die Apostrophe an Rußland: „Sollte nicht hier der Held erstehen, wo frei der Raum sich weitet, auf daß er sich entfalte und ausbreite und frei dahinschwebe,“ kam wirklich von Herzen. Diese Worte wurden nicht dem schönen Bilde zuliebe oder aus Prahlsucht und zu eitlem Selbstlob gesprochen; ich habe sie gefühlt und fühle sie noch heute. In Rußland kann man jetzt bei jeder Gelegenheit zum Helden werden. Jedes Amt und jeder Stand erfordert einen gewissen Heldenmut. Jeder von uns hat die Heiligkeit seines Berufs und seines Amtes derart befleckt und herabgezogen (denn jeder Beruf ist heilig), daß es wahrhaft riesenhafter Kräfte bedarf, um ihn wieder auf seine frühere Höhe zu bringen. Ich habe die große Aufgabe geschaut, die große Perspektive, die heute keinem andern Volke offen steht und die sich allein vor dem russischen Volke auftut, weil nur dies Volk einen so freien Spielraum für die Entfaltung seiner Kräfte besitzt, und weil nur der russischen Seele der echte Heldenmut eigen ist — daher entrang sich meinem Herzen der Schrei, den man für Prahlerei und Hochmut gehalten hat!

1843.

III.

Ich verstehe nicht, wie du, ein solcher Menschenforscher und Menschenkenner, mir die gleichen törichten Fragen vorlegen kannst, auf die sich alle anderen so trefflich verstehen! Die gute Hälfte von ihnen bezieht sich darauf, was der Zukunft angehört. Was für einen Sinn hat bloß diese Neugierde? Nur eine Frage, die du stellst, ist klug und deiner würdig, und ich wünschte, daß auch andere Leute sie an mich gerichtet hätten, obwohl ich nicht weiß, ob ich sie auch vernünftig beantworten kann; ich meine die folgende: woher es nur komme, daß die Helden meiner letzten Werke, besonders die der „Toten Seelen“, trotzdem sie nichts weniger als naturgetreue Porträts von wirklichen existierenden Menschen, und obwohl sie an und für sich sehr wenig sympathisch und anziehend sind, unserem Herzen dennoch so nahe stehen, wie wenn die Seele bei ihrer Schöpfung beteiligt gewesen wäre? Noch vor einem Jahr wäre es mir peinlich gewesen, dir auf diese Frage zu antworten. Heute aber will ich es offen bekennen: die Helden meiner Werke stehen unserem Herzen darum so nahe, weil sie Schöpfungen der Seele sind; alle meine letzten Werke sind Zeugnisse meiner seelischen Entwicklung. Um mich dir besser verständlich zu machen, will ich dir eine Definition von mir als Schriftsteller geben. Man hat viel über mich gesprochen und geschrieben und die verschiedensten Seiten meines Wesens zu ergründen gesucht, aber mein wahres Wesen hat man darum doch nicht zu bestimmen vermocht. Dieses hat nur Puschkin allein erkannt. Er sagte mir immer, noch nie habe es einen Schriftsteller gegeben, der in so hohem Grade das Vermögen besaß, die Gemeinheit und Plattheit des Lebens in so satten Farben zu schildern, die Hohlheit und Nichtigkeit eines gemeinen Menschen mit einer solchen Kraft zu zeichnen, wie ich, so daß die ganze Kleinheit und Armseligkeit, die den meisten Menschen entgeht, jedem deutlich in die Augen springt. Das ist der Grundzug meines Wesens und er fehlt in der Tat den meisten anderen Schriftstellern. Er hat sich mit der Zeit in mir noch vertieft, weil sich noch andere geistige Momente mit ihm verbunden haben. Aber das konnte ich damals nicht einmal Puschkin mitteilen. Dieser Grundzug hat sich mit besonderer Kraft in den „Toten Seelen“ offenbart. Die „Toten Seelen“ haben nicht darum in Rußland solch ein Grauen hervorgerufen und so ein Aufsehen gemacht, weil sie irgendwelche furchtbare Wunden oder innere Krankheiten an den Tag gebracht, oder ein erschütterndes Bild vom Triumph des Bösen und von den Leiden der Unschuld entworfen hätten. O nein. Meine Helden sind durchaus keine Bösewichter; wenn ich einem jeden von ihnen nur einen einzigen guten Zug verliehen hätte, der Leser hätte sich sicher mit ihnen allen ausgesöhnt. Aber die Gemeinheit und Plattheit des Ganzen flößte dem Leser Schrecken ein. Was ihn mit solch einem Grauen erfüllte, war dieses, daß bei mir ein Mensch immer kleinlicher und elender war, als der andere, daß es unter ihnen auch nicht eine tröstliche Erscheinung, keinen einzigen Ruhepunkt gab, an dem der arme Leser hätte aufatmen und Mut schöpfen können, und daß es einem, wenn man das ganze Buch gelesen hatte, so vorkam, als trete man aus einem dumpfigen Kellergewölbe wieder in Gottes freie Welt hinaus. Man hätte es mir eher vergeben, wenn ich lauter malerische Ungeheuer gezeichnet hätte — die Jämmerlichkeit und Gemeinheit hat man mir nicht verziehen. Das, wovor der Russe erschrak, das war seine Nichtigkeit, sie war ihm weit schrecklicher als all seine Mängel und Laster! Ist das nicht eine außerordentliche Erscheinung? Fürwahr, dieser Schrecken ist etwas Herrliches! Wer einen solchen Ekel und Widerwillen vor dem Kleinen und Nichtigen empfindet, in dem liegt sicherlich das Gegenteil von aller Kleinheit und Nichtigkeit verborgen. Dies also ist mein größter Vorzug und ich wiederhole, er hätte sich nicht mit einer solchen Kraft in mir entwickelt, wenn nicht meine eigene geistige Stimmung und meine inneren Erlebnisse hinzugekommen wären. Keiner meiner Leser wußte, daß er über mich selbst lachte, während er über meine Helden lachte.

Ich hatte kein einzelnes großes Laster, das all meine übrigen Untugenden um Haupteslänge überragte, ebensowenig wie ich irgendeine markante Tugend besaß, die mir ein besonders interessantes Äußere verliehen hätte, dafür aber vereinigte ich in mir alle Scheußlichkeiten, die es nur gibt, ich besaß zwar von jeder nur ein wenig; aber sie waren in mir in einer solchen Menge vertreten, wie ich es noch nie zuvor bei einem Menschen gesehen habe. Gott hat mir eine vielseitige Natur gegeben. Er hat mir bei meiner Geburt auch manche gute Keime eingepflanzt, der beste jedoch, für den ich ihm nicht genug zu danken vermag, ist der Wunsch, besser zu werden. Ich habe meine schlechten Seiten nie geliebt, und wenn es die himmlische Liebe Gottes nicht so gefügt hätte, daß sie sich nur langsam und allmählich vor mir enthüllten, statt sich mir plötzlich und mit einem Schlage zu offenbaren, als ich noch keine Vorstellung von Seinem unendlichen Mitleid besaß, — dann hätte ich mich sicherlich erhängt. Aber in dem Maße, als ich sie in mir entdeckte, verstärkte sich durch eine wunderbare höhere Eingebung der Wunsch in mir, mich von ihnen zu befreien; es war ein außergewöhnliches seelisches Erlebnis, das mich dazu führte, sie meinen Helden mitzuteilen. Was dies für ein Erlebnis war, darfst du nicht erfahren; wenn ich geglaubt hätte, daß es jemand nützen könnte, hätte ich es schon längst bekanntgemacht. Von diesem Augenblick an begann ich meine Helden über ihre Gemeinheit hinaus auch noch mit meinen persönlichen Scheußlichkeiten auszustatten. Das geschah folgendermaßen: ich nahm eine schlechte Eigenschaft, die ich bei mir selbst fand, untersuchte, welche Formen sie in einem anderen Berufe, Stand oder Lebenskreise annimmt, versuchte es, sie als meine Todfeindin darzustellen, die mich aufs empfindlichste beleidigt hat, und verfolgte sie mit Haß, Spott und allem, dessen ich noch sonst fähig war. Wenn jemand all die Ungeheuer gesehen hätte, die meine Feder im Anfang für mich selbst erschuf, er hätte vor Entsetzen gezittert. Ich brauche dir nur zu erzählen, daß Puschkin, als ich ihm die ersten Kapitel der „Toten Seelen“ vorlas (er hatte sonst stets gelacht, wenn ich ihm etwas vortrug, denn er lachte gern und von Herzen), immer finsterer und finsterer wurde, bis sich sein Gesicht zuletzt vollkommen verdüsterte. Als ich geendigt hatte, sagte er mit einem tiefen Schmerz in der Stimme: „Gott, wie grauenhaft trostlos und traurig ist doch unser Rußland.“ Dieser Ausspruch überraschte mich. Puschkin, der Rußland so gut kannte, hatte nicht bemerkt, daß dies alles nur eine Karikatur, ein Produkt meiner Phantasie war. Und jetzt erst erkannte ich, was eine Sache bedeutet, die einem aus dem Herzen geflossen ist, was geistige Wahrheit ist und in was für einer erschreckenden Gestalt man dem Menschen die Finsternis und den furchtbaren Mangel an Licht darstellen kann. Seit dieser Zeit dachte ich nur noch daran, wie ich den niederschmetternden Eindruck mildern könnte, den die „Toten Seelen“ hervorrufen konnten. Ich sah, daß vieles Schlechte des Hasses nicht wert und daß es besser ist, es in seiner Nichtigkeit und Armseligkeit darzustellen, die in alle Ewigkeit sein Teil ist. Ferner wollte ich sehen, was die Russen sagen würden, wenn man ihnen ihre eigene Häßlichkeit und Gemeinheit vor Augen führte. Nach einem Plan, der mir schon lange vorschwebte, brauchte ich für meinen ersten Teil lauter kleine und armselige Menschen. Diese elenden Menschen sind jedoch keineswegs Porträts nach lebendigen Personen, ich habe vielmehr in ihnen die Züge der Leute gesammelt, die sich für besser halten, als die anderen; allerdings habe ich sie aus Generälen zu gemeinen Soldaten gemacht. Hier finden sich außer Zügen von mir selbst noch viele solche von meinen Freunden und sogar einige von dir. Ich werde dir das später beweisen, wenn die Zeit für dich gekommen sein wird, bis jetzt bleibt das noch mein persönliches Geheimnis. Ich mußte allen guten Menschen, die ich kannte, alles Häßliche und Gemeine nehmen, das sie sich zufällig erworben hatten und es ihren rechtmäßigen Besitzern wiedergeben. Frage nicht, warum der erste Teil von nichts anderem handelt als von Elend, Armseligkeit und Gemeinheit und warum alle handelnden Personen bis auf die letzte so trivial und gemein sein müssen. Die Antwort hierauf wirst du in den folgenden Bänden finden. Das ist das Ganze! Der erste Teil hat trotz all seiner Unvollkommenheiten seine Aufgabe erfüllt, er hat allen Menschen einen wahren Ekel und Widerwillen gegen meine Helden und gegen ihre Armseligkeit eingeflößt, er hat, wie es meine Absicht war, in uns etwas wie Schmerz und Unwillen gegen uns selbst erzeugt. Fürs erste genügt mir das. Mehr wollte ich nicht erreichen. Dies alles wäre natürlich noch bedeutsamer geworden und wäre mir viel besser gelungen, wenn ich mich nicht so sehr mit der Veröffentlichung beeilt hätte und wenn ich das Ganze noch sorgfältiger und gründlicher bearbeitet hätte. Meine Helden haben sich noch nicht völlig von mir abgelöst und daher auch noch nicht die rechte Selbständigkeit erlangt. Ich habe sie noch nicht fest genug auf den Boden gestellt, auf dem sie stehen sollten, noch sind sie nicht recht heimisch geworden in dem Kreis unserer Sitten, noch wurzeln sie nicht tief genug in dem eigentlich russischen Leben mit all seinen Einzelheiten. Noch ist das ganze Buch nicht viel mehr als eine Frühgeburt, aber sein Geist hat sich doch schon unsichtbar verbreitet und selbst sein verfrühtes Erscheinen kann mir dadurch nützlich werden, daß es meine Leser veranlassen kann, mir all meine Fehler nachzuweisen, die ich bei der Schilderung der gesellschaftlichen und privaten Verhältnisse Rußlands begangen habe. Wenn du z. B., statt mir unnütze Fragen zu stellen (mit denen du mehr als die Hälfte deines Briefes angefüllt hast, und die zu nichts führen, als zur Befriedigung einer müßigen Neugierde), wenn du alle vernünftigen und sachlichen Bemerkungen und Einwände, die über mein Werk laut werden, deine eigenen sowohl, als auch alle möglichen fremden, die von klugen Menschen herstammen, die auch Erfahrung genug besitzen und mitten in einem tätigen Leben stehen, sammeln und ihnen eine Reihe von Anekdoten und tatsächlichen Begebenheiten beifügen wolltest, die in eurem Kreise oder in eurer Provinz vorgefallen sind — sei es nun, daß sie mein Buch in einem seiner Teile widerlegen oder bestätigen — zu jeder Seite könnte man ein ganzes Dutzend solcher Fälle anführen — dann würdest du ein wahrhaft gutes Werk tun, und ich würde dir von Herzen dankbar sein. Wie würde sich dadurch mein Horizont erweitern! Wie würde das meinen Kopf erfrischen und wieviel leichter würde die Arbeit vonstatten gehen! Aber das, worum ich bitte, will kein Mensch tun. Niemand hält meine Bitten für ernst und wichtig genug und jeder respektiert nur seine eigenen. Andere wieder verlangen Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit von mir, ohne selbst zu wissen, was sie verlangen. Und was soll bloß diese müßige Neugierde, diese törichte unnütze Hast, die, wie ich sehe, auch dich angesteckt hat. Sieh doch, wie in der Natur alles würdig und weise nach wohlgefügten Gesetzen vonstatten geht und wie vernünftig eines aus dem anderen folgt! Nur wir allein machen uns, Gott weiß warum, soviel unnütze Unruhe. Alles eilt und hastet wie im Fieber. Hast du dir denn deine Worte auch ordentlich überlegt? „Es ist absolut notwendig, daß wir den zweiten Band erhalten.“ Wie? soll ich mich denn bloß deswegen, weil alle Leute mit mir unzufrieden sind, mit dem zweiten Bande beeilen? Das wäre doch ebenso dumm, wie das, daß ich mich mit dem ersten zu sehr beeilt habe. Bin ich denn schon ganz um mein bißchen Verstand gekommen? Ich brauche diesen Unwillen und diese Unzufriedenheit ja. Wenn die Menschen unwillig über mich sind, werden sie mir doch wenigstens irgend etwas sagen. Und woraus schließt du nur, daß der zweite Band gerade jetzt ein dringendes Bedürfnis geworden ist. Hast du etwa in meinen Kopf hineingeblickt? Fühlst du, was das Wesen dieses zweiten Bandes ausmacht? Deiner Ansicht nach braucht man ihn jetzt, während ich glaube, daß er nicht früher als nach zwei Jahren erscheinen sollte und auch dies bloß, wenn man die Umstände und den Gang der Zeit berücksichtigt. Wer von uns hat nun recht? Der, in dessen Kopf der zweite Band fertig dasteht, oder der, der noch nicht weiß, was den Inhalt bildet. Was das jetzt für eine seltsame Mode ist, die neuerdings in Rußland aufgekommen ist! Der Mensch liegt selbst auf der faulen Haut, will selbst nichts Vernünftiges tun und spornt die anderen zur Tätigkeit an; als ob jeder andere sich aus allen Kräften anstrengen müßte, vor Freude darüber, daß sein Freund müßig auf dem Rücken liegt! Kaum erfährt man, daß irgendein Mensch mit einer ernsten Sache beschäftigt ist, so treibt man ihn schon überall zur Eile an und dann schilt man ihn noch, wenn er es schlecht macht; dann heißt es: warum hast du dich so beeilt? Aber ich schließe meine Predigt. Auf deine klugen Fragen habe ich geantwortet. Ich habe dir sogar gesagt, was ich bis heute noch keinem einzigen Menschen gesagt habe. Glaube bitte nach diesem Bekenntnis nicht, daß ich ebenso ein Ungeheuer bin, wie meine Helden. Nein, ich gleiche ihnen nicht. Ich liebe das Gute, ich suche es aus allen Kräften, und meine Seele glüht für alles Schöne, ich liebe meine Schändlichkeiten nicht und suche nicht, sie festzuhalten, wie meine Helden; ich liebe das Gemeine in mir nicht, das mich von dem Guten fernhält. Ich kämpfe gegen es an und werde gegen es ankämpfen, bis ich es ganz ausgetrieben habe, und dabei wird Gott mir helfen. Es ist ganz falsch, was törichte, weltlich gerichtete Menschen sich ausgedacht haben, daß der Mensch nur erzogen werden könne, solange er noch in der Schule sitzt, und daß er später keinen Charakterzug mehr in sich verändern könne. Nur in einem törichten, weltlich gesinnten Schädel konnte ein so dummer Gedanke entstehen. Ich habe mich schon von vielen meiner Scheußlichkeiten befreit, indem ich sie auf meine Helden übertrug, sie in ihnen verspottete und auch andere zwang, über sie zu lachen. Ich bin schon manche von ihnen losgeworden, indem ich ihnen ihr verlockendes Äußeres, ihre ritterliche Maske nahm, dank der jedes von unseren Lastern keck durch die Welt geht. Ich habe sie neben das Häßliche gestellt, das allen sichtbar ist. Wenn ich mich in der Beichte vor Ihm prüfe, Der mich in die Welt gesandt hat und Der mir befahl, mich von meinen Fehlern zu befreien, dann erkenne ich viele Laster in mir, aber es sind nicht mehr dieselben wie im vergangenen Jahr, eine heilige Kraft half mir, mich von ihnen zu befreien. Dir aber rate ich, diese Worte nicht unbeachtet verhallen zu lassen, sondern wenn du meine Briefe gelesen hast, einen Augenblick mit dir allein zu bleiben, alles andere eine Weile beiseite zu lassen und gründlich in dich selbst hineinzublicken, indem du dein ganzes Leben an dir vorüberziehen läßt, und dann die Wahrheit meiner Worte einer Prüfung zu unterziehen. In dieser meiner Antwort wirst du, wenn du näher zusiehst, auch eine Antwort auf deine übrigen Fragen finden, und du wirst erkennen, warum ich bisher dem Leser nicht auch die tröstlichen Erscheinungen gezeigt und mir keine tugendhaften Menschen zu Helden erwählt habe. Solche kann man nicht frei aus dem Kopfe erfinden. Solange man ihnen nicht im geringsten selbst gleicht, solange man sich nicht durch Hartnäckigkeit und Beständigkeit einige gute Eigenschaften erobert hat — wird alles, was die Feder niederschreibt, tot und leblos und so weit von der Wahrheit entfernt bleiben, wie der Himmel von der Erde. Ich habe diese Schreckgespenster nicht erfunden — diese Schreckgespenster haben meine eigene Seele gewürgt und bedrückt: nur was lebendig in meiner Seele lebte, ist frei aus ihr herausgeströmt.

IV.

Ich habe den zweiten Teil der „Toten Seelen“ verbrannt, weil das eine Notwendigkeit war. „Das du säest, wird nicht lebendig, es sterbe denn,“ — sagt der Apostel. Man muß zuvor sterben, wenn man wieder auferstehen soll. Es ist mir nicht leicht geworden, die Frucht einer fünfjährigen Arbeit zu verbrennen, einer Arbeit, die mich soviel schmerzliche Anstrengungen, wo jede Zeile mich schwere Erschütterungen gekostet hat und worin vieles enthalten war, was mein höchstes Streben ausmachte und meine Seele ausfüllte. Und doch wurde alles verbrannt und noch dazu in einem Augenblick, wo ich den Tod vor Augen sah und etwas hinterlassen wollte, was mich bei der Nachwelt in besserem Andenken erhalten sollte. Ich danke Gott, daß er mir die Kraft verliehen hat, dies zu vollbringen. Sowie die Flamme die letzten Blätter meines Buches aufgezehrt hatte, erstand sein Inhalt plötzlich in verklärter und geläuterter Gestalt vor mir, gleich einem Phönix aus der Asche, und ich sah nun mit einem Male, wie unreif und unausgegoren das noch war, was ich bereits für ausgereift, harmonisch und abgerundet gehalten hatte. Wäre der zweite Band in dem Zustande, in dem er sich damals befand, erschienen, er hätte eher Schaden als Nutzen gestiftet. Nicht der Genuß und die Befriedigung der Kunstkenner und Literaturfreunde ist es, die man anstreben muß, sondern die aller Leser, für die die „Toten Seelen“ geschrieben wurden. Eine Anzahl edler Charaktere darzustellen, die für die vornehme Gesinnung und den hohen Adel unseres Wesens zeugen, — das kann zu nichts führen. Das erregt bloß Hochmut und eitle Prahlsucht. Viele von uns, besonders aber von unseren jungen Leuten, haben die Gewohnheit angenommen, die Vorzüge des russischen Charakters über alles Maß zu preisen und mit ihnen zu prahlen und doch denken sie gar nicht daran, diese Eigenschaften zu vertiefen und an ihrer eigenen Erziehung zu arbeiten, sondern sie suchen sie möglichst zur Schau zu stellen, als wollten sie Europa zurufen: „Seht einmal, ihr Deutschen, wir sind doch besser als ihr!“ Diese Prahlsucht richtet alles zugrunde. Sie reizt die andern und gereicht auch dem Renommisten selbst zum Schaden. Man kann die beste Sache in den Kot ziehen, wenn man sich ihrer rühmt und sich was auf sie zugute tut. Bei uns aber rühmt man sich und prahlt man schon, noch ehe man etwas geleistet hat — man prahlt mit dem, was erst kommen soll! Nein, dann scheint es mir noch besser, man ist kleinmütig und man grämt sich über sich selbst, als daß man hochmütig ist und sich selbst zu viel zutraut. Im ersten Falle wird sich der Mensch wenigstens seiner Armseligkeit, Gemeinheit und Nichtigkeit bewußt und richtet seine Gedanken auf Gott, der alles aus dem tiefsten Elend und der tiefsten Erniedrigung erhebt und zur Höhe emporführt; im zweiten Falle dagegen flieht der Mensch sich selbst und rennt geradeswegs dem Satan, dem Vater des Hochmuts, in die Arme, der den Menschen zur Überhebung verleitet, indem er ihm blauen Dunst vormacht und ihn zum Tugendstolz verführt. Nein, es gibt Zeiten, wo man die Gesellschaft oder sogar eine ganze Generation gar nicht anders auf das Gute hinleiten und für das Gute begeistern kann, als indem man ihnen den ganzen Abgrund der Verkommenheit zeigt, in dem sie stecken; es gibt Zeiten, wo man überhaupt nicht vom Hohen und Schönen sprechen darf, ohne zugleich einem jeden die Richtung und den Weg zum Schönen zu zeigen, so daß er sie taghell vor sich liegen sieht. Dieses letzte Moment ist im zweiten Bande der „Toten Seelen“ nur schwächlich und unvollkommen zum Ausdruck gekommen, und doch hätte es eigentlich das wichtigste und wesentlichste Moment sein sollen. Und darum habe ich diesen zweiten Teil verbrannt. Urteilen Sie bitte nicht über mich und ziehen Sie keine Schlüsse daraus; Sie werden sich ebenso täuschen, wie die unter meinen Freunden, die sich aus mir ihr eigenes Ideal eines Schriftstellers zurechtgemacht hatten, das ihren eigenen Begriffen von einem Dichter entsprach, und nun von mir verlangten, ich solle diesem, doch nur von ihnen selbst entworfenen Ideal entsprechen. Gott hat mich erschaffen und Er hat mir nicht vorenthalten, was meine eigentliche Bestimmung ist. Ich bin gar nicht dazu geboren, um eine Epoche in der Literaturgeschichte heraufzuführen. Meine Aufgabe ist weit einfacher und näherliegend; meine Aufgabe ist das, woran ein jeder Mensch und nicht nur ich allein zuallererst denken sollte. Meine Aufgabe — ist die Seele und die große sichere ewige Aufgabe des Lebens. Darum muß auch mein Tun stark und dauerhaft sein und ich muß Werke schaffen, die dauern. Ich brauche mich nicht zu beeilen; mögen doch die andern hasten und sich beeilen! Ich verbrenne, was verbrannt werden muß, und ich handle sicherlich richtig, denn ich unternehme nichts, ohne zuvor zu Gott gebetet zu haben. Was aber Ihre Befürchtungen wegen meiner zarten Gesundheit anbelangt, die es mir vielleicht unmöglich machen wird, den zweiten Band niederzuschreiben, so sind sie überflüssig. Meine Gesundheit ist sehr zart — das ist freilich wahr. Zuzeiten ist mir’s so schlecht zumute, daß ich es ohne Gottes Hilfe kaum auszuhalten vermöchte. Zu dem Verfall meiner Kräfte ist noch ein so intensives Frösteln hinzugekommen, daß ich gar nicht mehr weiß, wie und woran ich mich erwärmen soll: ich müßte mir Bewegung machen, und doch habe ich nicht die Kraft, mich herumzubewegen. Selten kann ich mehr als eine Stunde für die Arbeit erübrigen, aber selbst dann fühle ich mich nicht immer frisch. Allein, meine Hoffnung sinkt darum doch nicht. Der, Der durch Kummer, Leid und Hindernisse die Entwickelung meiner Fähigkeiten und Gedanken, ohne die ich nie auf den Einfall gekommen wäre, mein Werk zu schreiben, beschleunigt hat, Der da machte, daß die größere Hälfte in meinem Kopf bereits fertig feststeht, Der wird mir auch die Kraft verleihen, was noch übrig ist, zu vollenden und zu Papier zu bringen. Meine Kräfte verfallen, aber nicht mein Geist. Alle meine geistigen Fähigkeiten werden vielmehr stärker und kräftiger, nun denn, so wird wohl auch die Körperkraft sich einstellen. Ich lebe dem Glauben, daß, wenn die rechte Stunde schlägt, auch das, woran ich fünf Jahre lang mit Schmerzen gearbeitet habe, in wenigen Wochen vollendet dastehen wird.

1846.

XIX
Liebt unser russisches Vaterland
Aus einem Briefe an den Grafen A. T.

Ohne Liebe zu Gott kann keiner gerettet werden, wir aber besitzen keine rechte Gottesliebe. Im Kloster ist sie kaum zu finden, ins Kloster gehen nur die, die Gott selbst dahin berufen hat. Ohne Gottes Willen kann man Ihn nicht liebgewinnen. Und wie sollte man auch Den lieben, Den noch niemand gesehen hat? Gibt es ein Gebet, gibt es eine Kraftanstrengung, mit der wir diese Liebe von Ihm herabflehen könnten? Sehen Sie nur, wieviel gute, vortreffliche Menschen es gegenwärtig auf der Welt gibt, die sich glühend nach dieser Liebe sehnen und nur spröde Härte und öde Kaltblütigkeit in sich finden. Es ist schwer, Den liebzugewinnen, Den niemand gesehen hat. Christus allein hat uns das Geheimnis geoffenbart und verkündet, daß wir in der Liebe zu unseren Brüdern der Liebe zu Gott teilhaftig werden. Wir müssen sie so lieben lernen, wie Christus es uns gelehrt hat, und die Liebe zu Gott wird sich von selbst daraus ergeben. So gehen Sie denn in die Welt hinaus und lernen Sie erst Ihre Brüder lieben.

Wie aber sollen wir die Brüder lieben lernen? Wie sollen wir die Menschen liebgewinnen? Die Seele möchte nur das Schöne lieben, die armen Menschen aber sind so unvollkommen, und es ist so wenig Schönheit in ihnen. Wie also sollen wir es anfangen? Danken Sie Gott vor allem dafür, daß Sie ein Russe sind. Für den Russen tut sich jetzt ein Weg auf, und dieser Weg ist Rußland selbst. Wenn der Russe erst einmal Rußland lieben lernen wird, so wird er bald auch alles mit Liebe umfassen, was es in Rußland gibt. Gott selbst weist uns jetzt auf diese Liebe hin. Ohne die Leiden und Krankheiten, von denen Rußland gegenwärtig in so hohem Maße betroffen ward, und an denen wir selbst die Schuld tragen, würde niemand von uns Mitleid mit dem Lande empfinden. Mitleid aber ist bereits der Beginn der Liebe. Selbst in dem entrüsteten Geschrei über die Mißbräuche, die Ungerechtigkeiten und die Bestechlichkeit kommt keineswegs bloß die Empörung der guten und anständigen Elemente über die Unanständigen und Ehrlosen zum Ausdruck, dies ist mehr, es ist der Schmerzensschrei des ganzen Landes, an dessen Ohr die Nachricht drang, daß zahllose Scharen fremder Feinde ins Land eingefallen, in die Häuser gedrungen seien und alle Bewohner unter ihr hartes Joch gezwungen hätten; schon wollen sich die, die diese Seelenfeinde freiwillig in ihr Haus aufgenommen haben, selbst von ihnen befreien; sie wissen nur nicht, wie sie dies anfangen sollen, und so entringt sich allen ein einziger, erschütternder Schrei; selbst die Stumpfen und Gefühllosen beginnen sich zu regen. Aber die wirkliche, eigentliche Liebe empfindet noch keiner, auch Sie besitzen sie nicht. Sie lieben Rußland noch nicht.

Sie können sich immer nur grämen, klagen und sich darüber aufregen, sowie Sie hören, daß etwas Böses oder Häßliches in Rußland passiert. Dies erregt bei Ihnen nichts wie Ärger, Bitterkeit oder Mißmut. Nein, das ist noch nicht Liebe. Sie sind noch weit entfernt von der Liebe, das ist höchstens etwas wie ein schwaches Anzeichen, durch das sie sich ankündigt. Nein, wenn Sie Rußland wirklich lieben werden, dann wird jener kurzsichtige Gedanke, der jetzt in den Köpfen vieler ehrlicher und selbst gescheiter Leute entsteht, als könnten sie heutzutage nichts für Rußland tun, und als ob Rußland ihrer überhaupt nicht bedürfte, ganz von selbst verschwinden. Im Gegenteil, dann werden Sie erst wirklich und mit voller Stärke empfinden, daß die Liebe allmächtig ist und daß man mit ihr im Bunde alles zu vollbringen vermag. Nein, wenn Sie Rußland wirklich liebgewinnen werden, dann werden Sie sich förmlich dazu drängen, dem Vaterland zu dienen. Und Sie werden dann nicht etwa Gouverneur, sondern Polizeihauptmann werden wollen, dann werden Sie sich mit dem letzten unbedeutendsten Posten, der sich Ihnen darbieten wird, begnügen wollen und jedes Körnchen Tätigkeit in diesem Beruf einem tatenlosen und müßigen Leben, wie Sie es jetzt führen, vorziehen. Nein, Sie lieben Rußland noch nicht. Und solange Sie Rußland noch nicht lieben, können Sie auch Ihre Brüder nicht lieben, ohne solche Liebe zu Ihren Brüdern aber können Sie nicht in Liebe zu Gott entbrennen. Und ehe Sie sich nicht mit dieser göttlichen Liebe erfüllen, gibt es keine Rettung für Sie.

1844.

XX
Lernt Rußland kennen!
Aus einem Brief an den Grafen P. T.

Es gibt keinen höheren Beruf als den Mönchsberuf. Gott gebe, daß es uns einmal beschieden sei, die schlichte Mönchskutte anzulegen, nach der sich meine Seele so sehnt! Schon der bloße Gedanke an sie ist mir eine Freude. Allein aus eigener Kraft, ohne von Gott dazu berufen zu werden, können wir solches nicht vollbringen. Wenn man das Recht besitzen will, sich aus dieser Welt zurückzuziehen, muß man dieser Welt Lebewohl sagen können. Verteile zuvor all dein Gut an die Armen und dann erst gehe ins Kloster. Diese Worte gelten für alle, deren Weg dorthin führt. Sie sind reich, Sie können Ihr Vermögen unter die Armen verteilen, was aber hätte ich ihnen zu geben? Mein Vermögen besteht nicht in Geld. Mit Gottes Hilfe ist es mir gelungen, mir ein gewisses geistiges und seelisches Besitztum zu erwerben, Er hat mir einige Fähigkeiten verliehen, mit denen ich andern nützen und dienen kann — daher muß ich diese Güter unter die verteilen, die keine besitzen, ehe ich ins Kloster gehe. Aber auch Sie können sich dadurch, daß Sie all Ihr Geld wegschenken, noch nicht das Recht dazu erwerben. Wenn Sie an Ihrem Gelde hingen und wenn es Ihnen schwer würde, sich von ihm zu trennen, dann läge die Sache anders. Allein Sie sind gleichgültig gegen das Geld, es bedeutet heute nichts mehr für Sie. Was für eine Heldentat und welch ein Opfer wäre es, sich von ihm zu trennen. Oder heißt es etwa, seinem Bruder Gutes tun, wenn man ein unnützes Ding aus dem Fenster wirft, sofern wir nämlich das Gute in dem hohen Sinne des Christentums verstehen? Nein, Ihnen sind die Tore zu der ersehnten Klosterzelle noch ebenso verschlossen wie mir. Ihr Kloster ist — Rußland. Nun, so legen Sie das geistige Mönchsgewand an — sterben Sie sich selbst völlig ab — sich selbst — nicht Rußland — und gehen Sie hin, um darin zu wirken und tätig zu sein. Unser Land ruft heute seine Söhne lauter als je. Schon schmerzt ihm die Seele, und schon ertönt sein Schrei aus tiefer Seelennot. Lieber Freund! Sie haben entweder ein gefühlloses Herz oder Sie wissen nicht, was Rußland für einen Russen bedeutet. Denken Sie doch daran, wie einst, wenn Not und Elend über das Reich hereinbrachen, die Mönche ihre Klosterzellen verließen und zu den anderen in die Reihen traten, um das Vaterland zu retten. Die Mönche Oslabja und Pereswet griffen, vom Segen des Priors begleitet, zum Schwert, das dem Christen ein Greuel ist, und blieben auf der blutigen Walstatt, und Sie weigern sich, die Pflicht eines friedlichen Bürgers — ja, wo denn nur? — mitten im Herzen Rußlands zu erfüllen. Machen Sie keine Ausflüchte, und weisen Sie nicht auf Ihre Unfähigkeit hin, Sie besitzen viele Fähigkeiten, die Rußland jetzt höchst dienlich und von größtem Nutzen sein können. Sie sind Gouverneur zweier Provinzen von äußerst verschiedenem Charakter gewesen. Sie haben diese Stellung trotz aller Fehler und Unzulänglichkeiten, die Ihnen damals noch anhafteten, weit besser ausgefüllt als mancher andere, Sie haben sich aus erster Hand positive Kenntnisse über die Zustände und Vorgänge im Innern Rußlands erworben und das Land in seinem wahren Wesen kennen gelernt. Aber das ist noch nicht die Hauptsache, und ich würde Ihnen nicht so zureden, wieder in den Staatsdienst zu treten, trotzdem Sie so bedeutende Kenntnisse besitzen, wenn ich bei Ihnen nicht eine bestimmte Eigenschaft entdeckt hätte, die mir weit bedeutsamer erscheint, als alle übrigen. Ich meine jene Fähigkeit, ohne besondere Anstrengung und ohne selbst zu arbeiten, ja, während Sie selbst ein bequemes müßiges Leben führen, alle andern zur Arbeit anzufeuern. Bei Ihnen wickelte sich alles schnell und glatt ab, und wenn man Sie dann erstaunt fragte: wie kommt das nur? pflegten Sie zu antworten: das alles ist das Verdienst meiner Beamten, ich hatte das Glück, tüchtige Beamte zu bekommen, die mir selbst gar keine Arbeit übrig lassen. Und wenn sich dann Gelegenheit bot, jemand für eine Auszeichnung oder Belohnung vorzuschlagen, dann wiesen Sie stets zuerst auf Ihre Beamten hin, indem Sie ihnen alles Verdienst zuschrieben und sich selbst ganz übergingen. Das ist Ihr höchster Vorzug. Ganz abgesehen von Ihrer großen Fähigkeit, sich die rechten Beamten zu wählen. Kein Wunder, daß Ihre Beamten sich die größte Mühe gaben, ja, einer hat sich beim Schreiben so überanstrengt, daß er an der Schwindsucht erkrankte und starb, trotzdem Sie aufs eifrigste bemüht waren, ihn zu bestimmen, er solle nicht so viel arbeiten. Wessen ist ein Russe nicht fähig, wenn ein Vorgesetzter ihn in dieser Weise behandelt! Eine solche Fähigkeit wird heute zu einem wahrhaften Bedürfnis. Gerade heute, in einer so selbstsüchtigen Zeit, wo ein jeder Vorgesetzter nur daran denkt, sich selbst möglichst in den Vordergrund zu rücken und sich alle Verdienste zuzuschreiben. Ich sage Ihnen, mit dieser Ihrer Fähigkeit sind Sie heute in Rußland völlig unentbehrlich, und es ist eine Sünde, daß Sie dies nicht einmal empfinden. Ich würde eine Schuld auf mich laden, wenn ich Sie nicht auf diese Fähigkeit aufmerksam machte. Sie ist das Beste, was Sie besitzen. Die, die sie entbehren, denen diese Eigenschaft fehlt, flehen Sie an, daß Sie sie nicht brachliegen lassen mögen. Sie aber halten sie wie ein Geizhals unter festem Verschluß und stellen sich taub. Es ist richtig, vielleicht stünde es Ihnen heute nicht gut an, eine ähnliche Stellung einzunehmen wie die, die Sie vor zehn Jahren innehatten, nicht deshalb, weil Sie sie nötig haben — Sie besitzen gottlob keinen Ehrgeiz, und in Ihren Augen ist keine Stellung zu gering — sondern deshalb, weil Ihre Fähigkeiten sich noch mehr entwickelt haben, noch gewachsen sind und zu ihrer Entfaltung und Nahrung eines anderen freieren Wirkungskreises bedürfen. Ja, aber gibt es denn etwa so wenig Posten und Wirkungskreise in Rußland? Blicken Sie um sich, sehen Sie sich ordentlich um, und Sie werden einen finden. Sie sollten einmal eine Reise durch Rußland machen. Sie kennen das Land, wie es vor zehn Jahren war, aber das genügt jetzt nicht mehr. In zehn Jahren ereignet sich in Rußland mehr, als in einem anderen Staate während eines halben Jahrhunderts. Sie haben selbst, während Sie hier im Ausland wohnen, bemerkt, daß in den letzten zwei, drei Jahren ganz andere Menschen aus Rußland herauskommen, Menschen, die gar keine Ähnlichkeit mit denen haben, denen Sie noch vor kurzem begegneten. Um zu erfahren, was das heutige Rußland ist, muß man unbedingt einmal eine Reise durch das Land machen. Glauben Sie nicht, was man spricht und was man sich erzählt. Das eine ist freilich wahr, daß es in Rußland noch niemals eine so außerordentliche Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Meinungen und Anschauungen gegeben hat, wie sie heute unter den Leuten herrschen, und daß der Unterschied der Bildung und der Erziehung die Menschen noch niemals in einen solchen Gegensatz zueinander gebracht und soviel Streit und Uneinigkeit unter ihnen erregt hat, wie heutzutage. Überdies ist ein Geist der Klatschsucht aufgekommen, sind so viele neue törichte Ideen mit allen daraus folgenden Konsequenzen zu uns importiert worden, sind so viele törichte Gerüchte entstanden und einseitige nichtssagende Schlüsse gezogen worden. Dies alles hat bei allen Leuten die Begriffe über Rußland so sehr entstellt und verwirrt, daß man niemand mehr glauben kann. Man muß selbst eine Reise durch Rußland machen und sich selbst überzeugen. Das ist besonders nützlich für den, der eine Weile fern von Rußland in der Fremde gelebt hat und nun mit einem frischen, noch nicht umnebelten Kopfe zurückkehrt. Er wird vieles sehen, was ein anderer Mensch, der sich selbst mitten in dem verwirrenden Getriebe befindet und empfindlich und feinfühlig auf die brennenden Fragen des Augenblicks reagiert, nicht sehen kann. Führen Sie Ihre Reise in folgender Weise aus: zunächst müssen Sie alle Anschauungen, die Sie bisher über Rußland besaßen, bis auf die letzte völlig aus Ihrem Kopfe verbannen und sich von all Ihren eigenen Schlüssen und Folgerungen, die Sie bereits gezogen haben, lossagen. Sie müssen tun, als ob Sie so gut wie gar nichts wüßten, und Ihre Reise so antreten, wie wenn Sie ein neues, Ihnen noch völlig unbekanntes Land kennen lernen wollten. Und wie sich ein russischer Reisender jedesmal bei seinem Eintreffen in einer größeren europäischen Stadt beeilt, alle ihre Denkmäler aus alter Zeit und alle Sehenswürdigkeiten in Augenschein zu nehmen, so müssen Sie, wenn Sie in die erste beste Kreis- oder Provinzhauptstadt kommen, ja mit noch größerem Interesse sich bemühen, alles Bemerkenswerte an ihr kennen zu lernen. Dieses besteht nicht in ihren architektonischen Kunstwerken und in ihren Altertümern, sondern in ihren Menschen. Ich möchte darauf schwören, der Mensch hat mehr Anspruch darauf, daß man ihn aufmerksam und mit Interesse kennen zu lernen und zu erforschen sucht, als irgendeine Fabrik oder eine Ruine. Rüsten Sie sich mit einem Tropfen wahrhaft brüderlicher Liebe aus und versuchen Sie es, einen Blick auf den Menschen zu werfen, und Sie werden sich nicht wieder von ihm trennen können, so interessant wird er Ihnen werden. Lernen Sie vor allem die Menschen kennen, die den eigentlichen Kern, den Extrakt, „das Salz“ einer jeden Stadt oder jedes Kreises bilden. In jeder Stadt gibt es immer zwei bis drei solche Menschen. Sie werden Ihnen in wenigen Zügen ein Bild der ganzen Stadt vermitteln, so daß Sie sich schon selbst ein Urteil darüber bilden werden, wo und an welchen Orten Sie die meisten Beobachtungen über die gegenwärtige Lage der Dinge machen können. Wenn Sie mit den fortgeschrittensten Repräsentanten jeden Standes reden werden (mit Ihnen unterhalten sich doch alle Menschen so gern und öffnen Ihnen gleich ganz weit ihr Herz), so werden Sie von ihnen erfahren, was heutzutage jeder Stand bedeutet. Der flinke und gewandte Kaufmann wird Ihnen sofort erklären, was die Kaufmannschaft der Stadt darstellt. Ein nüchterner, tüchtiger Kleinbürger wird Ihnen einen Begriff von dem Kleinbürgertum geben; von einem energischen Beamten werden Sie alles Notwendige über den Geschäftsgang in den staatlichen Organen erfahren, und von dem allgemeinen Geist und der Atmosphäre der Gesellschaft werden Sie sich selbst ein Bild machen. Übrigens dürfen Sie sich nicht allzusehr auf die fortgeschrittenen Leute, die geistige Elite verlassen. Es ist schon besser, wenn Sie immer zwei oder drei Leute aus jedem Stande hören. Vergessen Sie auch nicht, daß heute alle miteinander im Streite liegen und einer den andern rücksichtslos verleumdet und schlecht macht. Suchen Sie sofort Fühlung mit der Geistlichkeit zu nehmen, weil man mit dieser leicht bekannt wird. Von ihr werden Sie alles übrige erfahren. Und wenn Sie auch nur die wichtigsten Punkte und Städte Rußlands besuchen werden, so wird es Ihnen sonnenklar werden, wo und an welcher Stelle Sie sich nützlich machen können und um welchen Posten Sie sich bewerben müssen. Inzwischen aber können Sie, wenn Sie nur wollen, schon durch Ihre bloße Reise sehr viel Gutes stiften. Schon während dieser Reise werden Sie Gelegenheit zu so großen wahrhaft christlichen Taten finden, wie sie sich Ihnen nicht einmal im Kloster bieten würde. Erstens können Sie, der Sie sich so angenehm unterhalten können und der Sie allen Menschen gefallen, als ein fremder abseits stehender neuer Mensch die Rolle des unparteiischen Mittlers und Richters übernehmen. Sie wissen nicht, wie wichtig, wie notwendig das jetzt in Rußland ist und welches Verdienst in einer solchen Tätigkeit liegt. Der Heiland hat sie beinahe noch höher gestellt als jede andere Art der Tätigkeit. Er nennt die Friedfertigen geradezu die Kinder Gottes. Ein Vermittler und Friedensstifter aber findet bei uns überall etwas zu tun. Alles liegt miteinander im Streit. Unsere Adligen leben miteinander wie Hund und Katze, die Kaufleute leben wie Katze und Hund; die Kleinbürger vertragen sich so schlecht wie Hund und Katze; ja selbst die Bauern leben, wenn sie nicht gerade durch irgendeinen besonderen Grund zu einträchtiger Arbeit veranlaßt werden, miteinander wie Hund und Katze. Ja, sogar brave ehrliche Menschen leben in Zwietracht miteinander. Nur unter den Gaunern kann man noch etwas wie Eintracht und Freundschaft bemerken, wenn nämlich einer von ihnen heftigen Verfolgungen ausgesetzt ist.

Ein Friedensstifter findet überall einen Wirkungskreis. Haben Sie keine Furcht, es ist nicht schwer, zu vermitteln und zu versöhnen. Für die Menschen selbst ist es allerdings schwierig, sich wieder zu vertragen und wieder auszusöhnen. Sowie aber ein Dritter zwischen sie tritt, söhnt er sie sofort miteinander aus. Daher spielt bei uns das Schiedsgericht, dieses eigenste und wahrhaftigste Produkt unseres Landes, das bisher weit mehr Erfolge zu verzeichnen hatte, als alle anderen Gerichte, eine so große Rolle. Es gibt eine wunderbare Eigenschaft, die der menschlichen Natur im allgemeinen, besonders aber dem russischen Wesen eigen ist. Sowie ein Mensch merkt, daß ein anderer ihm auch nur ein bißchen entgegenkommt oder nachsichtig gegen ihn ist, so ist er schon so gut wie bereit, ihn deswegen um Verzeihung zu bitten. Keiner will zuerst nachgeben, sowie jedoch einer sich zu einem solchen hochherzigen Entgegenkommen entschließt, drängt sich der andere förmlich dazu, ihn an Großmut noch zu überbieten. Daher können bei uns selbst die ältesten Prozesse und Zwistigkeiten weit schneller als irgendwo sonst beigelegt werden, wenn nur ein wahrhaft edler Mensch, der von allen geachtet wird und überdies noch ein Kenner des menschlichen Herzens ist, zwischen die Streitenden tritt. Eine solche Versöhnung aber — dies muß ich noch einmal wiederholen — ist jetzt sehr vonnöten. Wenn nur einige wenige Menschen, die sich jetzt gegenseitig entgegenarbeiten und einander Schwierigkeiten machen, weil sie verschiedener Ansicht über irgendeine Sache sind, sich dazu verständen, einander die Hand zu reichen, so würde es den Gaunern schlecht ergehen. Da haben Sie also einen Teil der Tätigkeit, zu der sich Ihnen während Ihrer Reise durch Rußland auf Schritt und Tritt Gelegenheit bieten wird. Aber es gibt auch noch eine andere Aufgabe für Sie, die nicht geringer ist als jene erste. Sie können der Geistlichkeit der Städte, die Sie berühren werden, einen großen Dienst erweisen, indem Sie sie näher mit der Gesellschaft bekannt machen, in der sie lebt, indem Sie ihr eine gewisse Kenntnis der Vorgänge und der Machenschaften beibringen, von denen die Menschen heutzutage in der Beichte gar nicht reden, da sie annehmen, daß sie nicht in die Sphäre des christlichen Lebens gehören. Dies ist sehr notwendig, weil viele Geistliche, wie ich weiß, infolge der großen Menge von Ungehörigkeiten und Mißbräuchen, die in der letzten Zeit stattgefunden haben, mutlos geworden sind, weil sie fast der Ansicht sind, daß niemand mehr auf sie hört, daß ihre Worte und Predigten in die Luft gesprochen sind, daß das Übel schon so tiefe Wurzeln geschlagen hat und daß an eine Entwurzelung gar nicht mehr zu denken ist. Das ist unrichtig. Freilich sündigt der Mensch von heute wirklich unvergleichlich viel mehr als zu irgendeiner früheren Zeit; allein er sündigt nicht aus einem Übermaß von Verdorbenheit und Lasterhaftigkeit, nicht aus Gefühllosigkeit und nicht deshalb, weil er den Wunsch zu sündigen hat, sondern deshalb, weil er seine Sünden nicht erkennt. Noch hat sich nicht allen die für unser gegenwärtiges Zeitalter so furchtbare Wahrheit enthüllt, noch liegt diese Wahrheit nicht so klar vor unseren Augen, daß wir nämlich heutzutage alle miteinander bis auf den Letzten der Sünde verfallen sind, und daß wir bloß nicht offen und direkt, sondern indirekt sündigen. Das empfinden selbst unsere Prediger noch nicht recht, daher sind ihre Predigten auch in die Luft gesprochen und daher bleiben die Menschen taub für ihre Worte. Wenn man heutzutage erklärt: „ihr sollt nicht stehlen, nicht in Überfluß und Üppigkeit leben, ihr sollt euch nicht bestechen lassen, sondern beten und den Armen milde Gaben reichen“, so bedeutet das nichts und kann keine Wirkung haben. Denn abgesehen davon, daß jeder sagen wird: „aber das sind doch alles bekannte Dinge“, wird er sich noch vor sich selbst rechtfertigen und sich womöglich gar noch für einen Heiligen halten. Er wird sagen: „Stehlen? — ja, das tue ich doch nicht. Legt eine Uhr, ein paar Münzen, legt jeden beliebigen Gegenstand vor mich hin, ich werde ihn nicht anrühren. Ich habe sogar meinen eigenen Diener wegen Diebstahls entlassen; ich lebe natürlich auf großem Fuße, aber ich habe weder Kinder noch Verwandte, ich brauche für niemand zu sparen und zurückzulegen und mit meiner Verschwendung und mit meinem Überfluß stifte ich noch Nutzen, denn ich gebe damit den Handwerkern, den Gesellen, den Kaufleuten und Fabrikherren Gelegenheit, zu verdienen. Geschenke nehme ich nur von den Reichen an, die mich selbst darum bitten und für die das noch nicht den Ruin bedeutet. Ich bete immer fleißig, auch jetzt bin ich doch in der Kirche, ich bekreuzige mich und mache meine Kniefälle, ich helfe auch stets, kein Armer geht an mir vorüber, ohne daß er eine Kupfermünze von mir erhält, auch habe ich mich niemals geweigert, etwas für irgendeine Wohlfahrtseinrichtung zu geben.“ Mit einem Wort, er wird sich nach einer solchen Predigt nicht nur für gerechtfertigt halten, sondern wohl gar noch stolz auf seine Sündlosigkeit sein.

Aber wenn man den Vorhang vor ihm wegzieht und ihm bloß einen Teil von all den furchtbaren Schrecken und Übeln zeigt, die er zwar nicht unmittelbar, aber doch indirekt verursacht, dann wird er ganz anders reden. Man sage einem kurzsichtigen, aber ehrenhaft denkenden reichen Mann, daß er, indem er sein Haus schmückt und seine Lebensweise nach dem Vorbild der vornehmen Herren einrichtet, schweren Schaden und schweres Ärgernis verursacht, indem er einem andern weniger Reichen denselben Wunsch einpflanzt. Denn dieser wird, um nur nicht hinter jenem zurückzustehen, nicht nur sein eigenes, sondern auch fremdes Gut verschwenden, die Menschen ausplündern und sie zu Bettlern machen; außerdem aber sollte man eins jener furchtbaren Bilder der Hungersnot im Innern Rußlands vor ihm erstehen lassen, bei der ihm die Haare zu Berge stehen müssen, und die es vielleicht nicht geben würde, wenn er nicht wie ein vornehmer Mann leben, nicht den Ton in der Gesellschaft angeben und die Köpfe anderer Leute verwirren würde. Ebenso zeige man allen Modedamen, die sich nicht gern immer in demselben Kleide sehen lassen und sich ganze Haufen neuer Kleider anfertigen lassen, ohne ein einziges davon wirklich abzutragen, wobei sie jeder kleinsten Laune der Mode folgen, ebenso zeige man diesen, wie sie eigentlich gar nicht dadurch sündigen, daß sie sich einem solchen eitlen Treiben hingeben und ihr Geld verschwenden, sondern dadurch, daß sie auch andere zu einem solchen Leben zwingen, daß so mancher Mann einer andern Frau aus diesem Grunde Bestechungsgelder von einem Beamten, dem eigenen Kollegen, angenommen hat [gewiß, dieser Beamte war reich, aber um das Geld aufzubringen, mußte er einem weniger Reichen an die Kehle springen und ihn ausplündern. Dieser mußte seinerseits irgendeinem Assessor oder einem Landrat die Kehle zudrücken und der Landpolizeihauptmann wiederum war gezwungen, die ganz Armen und Besitzlosen auszuplündern] und man lasse auch vor all diesen Modedamen ein Bild der Hungersnot erstehen. Dann werden sie nicht mehr an Hüte oder an ein neues, modernes Kleid denken. Sie werden einsehen, daß auch das Geld, das sie den Armen hinwerfen, und auch die humanen Wohlfahrtseinrichtungen, die sie in den Städten auf Kosten der ausgeplünderten Provinzen errichten, sie nicht von der furchtbaren Verantwortung vor Gott befreien werden. Nein, der Mensch ist nicht gefühllos. Der Mensch wird im tiefsten erschüttert sein, wenn Sie ihm die Sache darstellen, wie sie ist. Und er wird sich heute mehr erschüttert fühlen, denn sein Herz, sein Wesen ist milder und weicher geworden, und die Hälfte seiner Sünden rührt von seiner Unkenntnis und nicht von seiner Lasterhaftigkeit her. Er wird den, der ihn dazu anhalten wird, in sich zu gehen und seinen Blick auf sich selbst, in sein Inneres zu richten, liebevoll wie seinen Retter umarmen. Der Prediger braucht den Vorhang nur ein wenig zu lüften und ihm nur eins von den Verbrechen zu zeigen, die er jeden Augenblick begeht, und er wird nicht mehr den Mut haben, mit seiner Sündlosigkeit zu prahlen. Er wird sein verschwenderisches Leben nicht mehr mit elenden, armseligen Sophismen zu verteidigen suchen, wie wenn ein solches Leben notwendig wäre, um den Handwerkern Brot zu verschaffen, er wird erkennen, daß der Gedanke, daß man ein halbes Dorf oder einen halben Kreis zugrunde richten müsse, um irgendeinem Tischler Hambs Brot zu verschaffen, nur in dem traurigen Kopfe eines Nationalökonomen des 19. Jahrhunderts, nicht aber in dem gesunden Gehirn eines vernünftigen Menschen entstehen konnte. Wie, wenn der Prediger die ganze Kette jener unzähligen indirekten Verbrechen, die der Mensch durch seine Unvorsichtigkeit, seinen Stolz, sein Selbstvertrauen begeht, vor ihm aufrollen und auf alle Gefahren der gegenwärtigen Zeit hinweisen würde, wo jeder von uns mit einem Schlage so viele Seelen zugrunde richten kann, nicht nur seine eigene, ja wo man sogar, ohne selbst unehrlich zu sein, bloß durch seine Unvorsichtigkeit andere zu ehrlosen Menschen und Schurken machen kann, kurz, wie wäre es wohl, wenn er nur ganz vorsichtig darauf hinweisen würde, auf welch gefährlichem Wege sich alle Menschen befinden! Nein, die Menschen werden nicht taub gegen seine Worte sein. Keins seiner Worte wird in die Luft gesprochen sein. Sie aber können viele Priester hierauf aufmerksam machen, indem Sie sie auf alle die Machenschaften der Menschen unserer Zeit, die Sie unterwegs kennen lernen werden, aufmerksam machen. Aber Sie können sich hierdurch nicht nur den Priestern, sondern auch anderen Menschen nützlich erweisen. Dies sind Tatsachen, deren Kenntnis heutzutage jedem von Nutzen ist.

Man muß dem Menschen das Leben zeigen: das Leben, nicht wie es sich unter dem Gesichtspunkt einer vergangenen, sondern unter dem aller Wirrsale und Verwirrungen unserer gegenwärtigen Zeit darstellt; nicht wie es dem oberflächlichen Blick eines Weltmanns, sondern wie es einem Manne erscheint, der es von dem höchsten Standpunkt eines Christen betrachtet, in Erwägung zieht und bewertet. Die Unkenntnis Rußlands, wie sie in Rußland selbst verbreitet ist, ist ganz ungeheuer. Alle Leute leben in einer fremden Welt ausländischer Journale und Zeitungen, nicht aber in ihrem eigenen Lande. Keine Stadt kennt die andere, kein Mensch kennt seine Mitmenschen. Menschen, die innerhalb derselben vier Wände wohnen, scheinen durch Meere voneinander getrennt zu sein. Sie aber können sie auf Ihrer Reise miteinander bekannt machen und wie ein gewandter Kaufmann einen wohltuenden gegenseitigen Verkehr und Gedankenaustausch zwischen ihnen anbahnen. In einer Stadt können Sie Kenntnisse sammeln, um sie in einer andern mit Profit wieder an den Mann zu bringen. Sie können alle reicher machen und sich zugleich selbst weit mehr bereichern als alle. So Großes können Sie auf Schritt und Tritt vollbringen — und das sehen Sie nicht. Erwachen Sie doch. Eine Hülle liegt über Ihren Augen. Es liegt nicht in Ihrer Macht, die Liebe herbeizurufen, damit sie komme und Wohnung in Ihrem Herzen nehme. Sie können die Menschen nicht anders lieben lernen, als dadurch, daß Sie es lernen, ihnen zu dienen. Wie könnte ein Diener seinen Herrn liebgewinnen, wenn dieser ihm beständig fernbleibt und wenn er noch nie für ihn gearbeitet hat. Daher liebt ja auch eine Mutter ihr Kind so innig, weil sie es so lange unter ihrem Herzen getragen, weil sie alles für es hingegeben hat, weil sie so viel für es gelitten hat. Wachen Sie auf! Ihre Klosterzelle ist — Rußland.

1845.

XXI
Was eine Gouverneursgattin ist
An Fr. A. O. S.

Ich freue mich, daß Ihre Gesundheit jetzt besser ist. Die meine ... aber sprechen wir nicht von unserer Gesundheit. Wir sollten sie ebenso vergessen wie uns selbst. Also Sie kehren wieder in Ihre Gouvernementshauptstadt zurück. Sie müssen sie mit neuer Kraft lieben lernen; sie gehört zu Ihnen, sie ist Ihnen anvertraut, sie muß Ihre wahre Heimat werden. Sie haben unrecht, wenn Sie schon wieder meinen, daß Ihre Anwesenheit für das soziale Tun und Leben daselbst ganz ohne Nutzen, daß die Gesellschaft bis auf die Wurzel verderbt sei. Sie sind einfach müde — das ist alles. Die Frau eines Gouverneurs findet überall, auf Schritt und Tritt ein Feld der Betätigung. Sie wirkt sogar auch dann noch, wenn sie überhaupt nichts tut. Sie wissen doch selbst schon, daß es sich nicht darum handelt, sich viele Unruhe, sich viel zu schaffen zu machen und sich beständig voller Hitze und Eifer auf alle möglichen Dinge zu werfen. Sie haben zwei lebendige Beispiele vor sich, die Sie selbst erwähnt haben. Ihre Vorgängerin, Frau Sch., hat einen ganzen Haufen von Wohlfahrtseinrichtungen gegründet und zugleich damit alle möglichen Schreibereien, eine große Aktenwirtschaft veranlaßt, allerhand Ökonomen, Sekretäre angestellt und den Grund zu Veruntreuungen und einem törichten unsinnigen Getue gelegt, sie hat sich in Petersburg durch ihre Wohltätigkeit berühmt gemacht und in K. eine große Verwirrung angerichtet. Die Fürstin O. dagegen, die vor Ihnen Gouverneurin der Stadt K. war, hat keinerlei Wohlfahrtseinrichtungen und keine Asyle gegründet, sie hat außerhalb der Stadt kaum von sich reden gemacht, auch hatte sie gar keinen Einfluß auf ihren Mann und sie hat sich auch an der eigentlichen Regierungstätigkeit und den offiziellen Geschäften gar nicht beteiligt, und doch kann bis auf den heutigen Tag kein Mensch in der Stadt ihrer ohne Tränen gedenken, und jedermann — von dem Kaufmann bis herab zum letzten Habenichts — sagt auch heute noch immer: „Nein, wir werden nie eine zweite Fürstin O. bekommen.“ Und wer sagt so etwas? Dieselbe Stadt, für die sich, wie Sie annehmen, nichts tun läßt, dieselbe Gesellschaft, die Ihrer Meinung nach für alle Zeiten und unwiederbringlich verdorben ist. Wie denn nun? Läßt sich denn wirklich nichts machen? Sie sind müde, das ist alles, und Sie fühlen sich müde, weil Sie sich gar zu eifrig ins Zeug gelegt, weil Sie Ihren eigenen Kräften gar zu viel zugetraut haben. Ihr weibliches Temperament ist mit Ihnen durchgegangen ... Ich wiederhole Ihnen noch einmal, was ich Ihnen schon oft gesagt habe: Sie haben einen großen Einfluß. Sie sind die erste Persönlichkeit in der Stadt. Dank dem äffischen Wesen der Mode und der bei uns in Rußland herrschenden äffischen Nachahmungssucht im allgemeinen wird man alles an Ihnen, jede kleinste Kleinigkeit, nachahmen. Sie werden auf allen Gebieten tonangebend, Gesetzgeberin sein. Wenn Sie nun recht für Ihre eigenen Angelegenheiten sorgen werden, so werden Sie schon allein hierdurch wirken, weil Sie damit auch andere veranlassen werden, sich mehr und gründlicher mit ihren Angelegenheiten zu beschäftigen. Bekämpfen Sie den Luxus (solange Sie nichts anderes zu tun finden), auch das ist schon eine hohe Aufgabe, die dazu nicht einmal viel Arbeit und Unruhe erfordert, noch viele Kosten verursacht. Fehlen Sie auf keinem Ball und in keiner Versammlung. Erscheinen Sie stets und zwar nur, um sich mehrmals in ein und demselben Kleide sehen zu lassen. Ziehen Sie das gleiche Kleid drei-, vier-, fünf-, sechsmal an. Loben Sie an jedem Dinge nur das, was einfach und billig ist. Kurz, bekämpfen Sie diesen abscheulichen nordländischen Luxus, diesen Krebsschaden Rußlands, diesen Quell aller Bestechlichkeit, aller Ungesetzlichkeiten und Schändlichkeiten, die es bei uns gibt. Wenn Ihnen auch nur dies eine gelingen sollte, so werden Sie damit bereits mehr wahren Nutzen stiften, als selbst die Fürstin O. Und das erfordert, wie Sie selbst sehen, nicht einmal irgendwelche Opfer, ja nicht einmal viel Zeit. Liebe Freundin! Sie sind müde. Aus Ihren früheren Briefen ersehe ich, daß Sie für den Anfang bereits sehr viel Gutes geleistet haben (wenn Sie sich nicht allzusehr beeilt hätten, hätten Sie noch mehr geleistet). Ihr Ruf ist bereits über die Grenzen von K. gedrungen, und mancherlei ist auch mir zu Ohren gekommen. Aber Sie sind noch gar zu hastig. Sie lassen sich noch zu sehr fortreißen. Alles Häßliche und jede kleine Unannehmlichkeit macht noch einen viel zu starken Eindruck auf Sie und drückt Sie zu leicht nieder. Liebe Freundin! Denken Sie immer wieder an meine Worte, von deren Richtigkeit Sie sich, wie Sie selbst sagen, überzeugt haben. Betrachten Sie die ganze Stadt so, wie ein Arzt ein Krankenhaus betrachtet. Tun Sie dies, aber tun Sie außerdem noch etwas anderes, und zwar folgendes: Suchen Sie sich selbst davon zu überzeugen, daß alle Kranken, die im Krankenhaus liegen, Ihre Verwandten, daß sie Menschen sind, die Ihrem Herzen nahe stehen. Dann wird sich vor Ihren Augen alles ändern. Sie werden sich mit den Menschen aussöhnen und nur noch gegen ihre Krankheiten ankämpfen. Wer hat Ihnen gesagt, daß diese Krankheiten unheilbar sind? Das haben Sie sich selbst eingeredet, weil Sie keine Mittel wider sie in der Hand hatten. Wie? Sind Sie etwa ein Arzt, der allwissend ist? Warum haben Sie sich denn nicht an andere Leute mit der Bitte um Hilfe gewandt. Habe ich Sie denn vergeblich darum gebeten, mich über alles zu unterrichten, was es in Ihrer Stadt gibt, mir dazu zu verhelfen, daß ich Ihre Stadt kennen lerne, damit ich mir einen vollständigen Begriff von dieser Stadt machen kann. Warum haben Sie das nicht getan, um so mehr, da Sie doch selbst davon überzeugt sind, daß ich in vielen Beziehungen eine größere Wirkung auszuüben vermag als Sie. Um so mehr, da Sie mir selbst eine gewisse Menschenkenntnis zuschreiben, wie sie nicht allen eigen ist. Um so mehr endlich, da Sie ja selbst sagen, daß ich Ihnen in Ihren Herzensangelegenheiten mehr geholfen habe als sonst jemand. Glauben Sie wirklich, daß ich nicht auch Ihren unheilbaren Kranken zu helfen vermöchte? Sie haben wohl vergessen, daß ich zu beten vermag und daß mein Gebet bis zu Gott dringen kann. Gott aber kann meinem Verstande Einsicht schenken, und mein von Gott erleuchteter Verstand könnte Besseres vollbringen, als ein Verstand, der nicht von Ihm belehrt ist.

Bisher haben Sie mir in Ihren Briefen nur einen ganz allgemeinen Begriff von Ihrer Stadt gegeben und ganz allgemeine Züge mitgeteilt, wie sie jeder Provinzhauptstadt eigen sein können. Aber auch diese allgemeinen Züge sind noch nicht vollständig. Sie haben sich darauf verlassen, daß ich Rußland kenne wie meine fünf Finger. Und doch weiß ich von Rußland so gut wie gar nichts. Wenn ich auch früher vielleicht etwas davon gewußt habe, so ist dieses seit meiner Abreise ganz anders geworden. Selbst in der Zusammensetzung der Gouvernementsverwaltung sind große Veränderungen vorgegangen. Viele Instanzen und viele Beamte sind jetzt nicht mehr vom Gouverneur abhängig, sondern sind andern Departements und Ressorts und den Ressorts anderer Ministerien zugeteilt worden. Es sind neue Posten geschaffen worden, und es gibt mancherlei neue Beamte. Kurz, ein Gouvernement und eine Gouvernementshauptstadt erscheinen heute nach vielen Richtungen hin in einem anderen Lichte, und ich habe Sie doch gebeten, mich recht vollständig mit Ihrer Situation bekannt zu machen. Nicht mit irgendeiner idealen, sondern mit Ihrer eigentlichen wirklichen Situation, damit ich Ihre ganze Umgebung und alles vom Kleinsten bis zum Größten zu übersehen vermag.

Sie sagen selbst, daß Sie während der kurzen Zeit Ihres Aufenthalts in K. Rußland besser kennen gelernt haben, als während Ihres ganzen früheren Lebens. Warum haben Sie denn dann Ihre Kenntnisse nicht mit mir geteilt? Sie sagen, Sie wüßten nicht einmal, an welchem Ende Sie anfangen sollen, Sie sagen, daß der große Haufen von Kenntnissen, die Sie gesammelt haben, noch ganz ungeordnet in Ihrem Kopfe liegt (Notabene: das ist die Ursache Ihrer Mißerfolge). Ich will Ihnen helfen, sie zu ordnen, nur möchte ich Sie darum ersuchen, mir zunächst folgende Bitte zu erfüllen und zwar so gewissenhaft, als Ihnen dies möglich ist, und nicht in der Weise, wie dies eine Ihrer Geschlechtsgenossinnen — d. h. eine leidenschaftliche Frau, die von zehn Worten acht überhört und nur auf zwei antwortet, weil sie ihr zufällig angenehm sind oder gefallen haben, tun würde, sondern so, wie unsereiner, d. h. ein kalter, leidenschaftsloser Mann oder noch besser, wie ein energischer vernünftiger Beamter dies zu tun pflegt, der sich nichts besonders zu Herzen nimmt, sondern gleichmäßig auf alle Punkte antwortet.

Sie sollten um meinetwillen noch einmal darangehen, Ihre Gouvernementshauptstadt zu studieren. Erstens sollten Sie mich mit allen bedeutenden Persönlichkeiten Ihrer Stadt, mit ihren Vor-, Vater- und Familiennamen sowie mit allen Beamten — vom ersten bis zum letzten — bekannt machen. Dies ist ein Bedürfnis für mich. Ich muß ebenso ihr Freund werden, wie Sie ausnahmslos die Freundin eines jeden sein müssen. Zweitens sollten Sie mir schreiben, was ein jeder von ihnen für einen Beruf hat. Dies alles sollten Sie persönlich von ihnen selbst und nicht von irgendeinem andern zu erfahren suchen. Knüpfen Sie dazu mit jedem ein Gespräch an und fragen Sie ihn aus, worin seine Berufstätigkeit besteht, lassen Sie sich alle Gegenstände nennen, auf die sie sich bezieht, sowie ihre Grenzen angeben. Das wäre die erste Frage. Bitten Sie ihn dann weiter, er möge Ihnen angeben, wodurch, wie und wieviel Gutes man unter den gegenwärtigen Verhältnissen in diesem Beruf zu tun vermag. Das wäre die zweite Frage. Fragen Sie ihn ferner, wieviel Unheil man in diesem selben Beruf anrichten könne und auf welche Weise. Das wäre die dritte Frage. Wenn Sie dies alles in Erfahrung gebracht haben, so begeben Sie sich auf Ihr Zimmer und schreiben Sie es sofort für mich auf. Hierdurch werden Sie mit einem Schlage zwei Aufgaben erfüllen. Erstens werden Sie mir hierdurch die Möglichkeit geben, mich Ihnen in der Zukunft einmal nützlich zu erweisen, und zweitens werden Sie aus den eigenen Antworten jedes Beamten erfahren, wie er seinen Beruf auffaßt, woran es ihm fehlt, kurz er wird sich mit seiner Antwort selbst charakterisieren. Er kann Ihnen sogar manchen Wink geben, was sich bereits gleich jetzt tun ließe ... Aber darum handelt es sich nicht. Beeilen Sie sich fürs erste nicht zu sehr. Tun Sie selbst dann noch nichts, wenn es Ihnen so erscheint, als ob Sie etwas tun könnten und als ob Sie in der Lage wären, irgendwo zu helfen. Es ist besser, wenn Sie zunächst noch einen genaueren Einblick in die Dinge zu gewinnen suchen, begnügen Sie sich fürs erste damit, mir alles mitzuteilen. Außerdem bitte ich Sie, mir entweder am Rande desselben Blattes oder auf einem anderen Stück Papier Ihre eigenen Bemerkungen und Beobachtungen über jeden einzelnen Mann mitzuteilen — auch was die andern über ihn sagen, kurz alles, was sich vom Standpunkt des äußeren Beobachters von ihm sagen läßt.

Ferner bitte ich Sie, mir ganz ähnliche Mitteilungen über die gesamte weibliche Hälfte Ihrer Stadt zukommen zu lassen. Sie sind so klug gewesen und haben ihnen allen einen Besuch gemacht und sie fast alle kennen gelernt. Übrigens bin ich der Überzeugung, daß Sie sie doch nicht genügend kennen gelernt haben. Frauen gegenüber lassen Sie sich schon durch den ersten Eindruck leiten, die, die Ihnen nicht gefällt, lassen Sie fallen. Sie suchen nur immer nach der Elite und nach den allerbesten. Das muß ich Ihnen zum Vorwurf machen, liebe Freundin! Sie müssen alle lieben, und die ganz besonders, die viel Häßliches und Schlechtes an sich haben. Vor allem sollten Sie sie gründlicher kennen lernen, weil davon vieles abhängt und weil sie einen großen Einfluß auf ihre Männer haben können. Übereilen Sie sich nicht, suchen Sie ihnen keine guten Lehren zu erteilen, sondern fragen Sie sie zunächst einmal ordentlich aus. Sie haben ja die Gabe, einen Menschen zum Reden zu veranlassen. Suchen Sie sich über die Verhältnisse einer jeden zu orientieren, womit sie sich beschäftigt, ja suchen Sie selbst ihre Denkungsart und ihre Geschmacksrichtung kennen zu lernen: ihre Neigungen, was einer jeden von ihnen gefällt und was das Steckenpferd einer jeden ist. Dies muß ich alles wissen.

Meiner Ansicht nach muß man einen Menschen völlig und bis in sein Innerstes durchschauen, um ihm helfen zu können. Ohne dies kann ich es nicht einmal verstehen, wie man jemand auch nur zu raten vermag: An jedem Ratschlag, den man ihm erteilt, wird er in einem solchen Fall immer nur die schwierigste Seite sehen, und er wird ihm nicht leicht, ja sogar unausführbar erscheinen. Mit einem Wort, suchen Sie die Frauen bis auf den Grund zu durchschauen, damit ich ein vollständiges Bild von Ihrer Stadt erhalte.

Außer den Charakteren und den Persönlichkeiten beiderlei Geschlechts bitte ich Sie auch jeden Vorfall, der sich bei Ihnen ereignet, und der die Menschen oder den allgemeinen Geist der Provinz auch nur nach irgendeiner Seite hin zu charakterisieren geeignet ist, schlicht und einfach zu verzeichnen, ganz so, wie er sich abgespielt hat oder wie er Ihnen von zuverlässigen Leuten berichtet worden ist. Geben Sie mir auch ein paar Stichproben von zwei oder drei Klatschgeschichten, welche Ihnen gerade mitgeteilt werden, damit ich weiß, was für Klatschereien bei Ihnen im Schwange sind. Sorgen Sie dafür, daß diese Aufzeichnungen Ihnen zur dauernden Gewohnheit werden, und setzen Sie ein für allemal eine bestimmte Stunde des Tages dafür fest. Suchen Sie sich eine systematische und möglichst vollständige Vorstellung von der ganzen Stadt in ihrem ganzen Umfange zu bilden, damit Sie sofort übersehen können, ob Sie auch nicht vergessen haben, etwas aufzuschreiben, und damit ich endlich ein möglichst vollständiges Bild von Ihrer Stadt erhalte.

Wenn Sie mich dann auf solche Weise mit allen Personen, ihrer Tätigkeit, ihrer Auffassung von ihr und ihrem Beruf und endlich auch mit dem Charakter der Ereignisse, die sich bei Ihnen abspielen, bekannt gemacht haben, dann will ich Ihnen etwas sagen, und Sie werden erkennen, daß vieles Unmögliche doch möglich und daß vieles Unverbesserliche doch noch gutzumachen ist. Bis dahin aber will ich nichts sagen, und zwar gerade darum, weil ich mich irren kann, und das möchte ich nicht gern. Ich möchte nur solche Worte zu Ihnen sprechen, die gerade ins Ziel treffen, nicht höher und nicht tiefer, gerade in den Punkt und den Gegenstand, auf den sie gerichtet sind. Ich möchte Ihnen so raten können, daß Sie sofort erklären: das ist nicht schwer, das läßt sich leicht ausführen.

Übrigens möchte ich Ihnen hier doch schon im voraus ein paar Winke geben, die allerdings nicht für Sie, sondern für Ihren Gatten bestimmt sind: bitten Sie ihn vor allem darauf zu achten, daß die Räte in der Gouvernementsverwaltung ehrliche Leute sind; das ist die Hauptsache. Sowie diese Räte ehrlich sind, werden wir auch ehrliche Polizeihauptleute, ehrliche Assessoren usw. bekommen, mit einem Wort, so wird jedermann ehrlich sein. Sie müssen nämlich wissen (wenn Sie dies nicht schon wissen sollten), daß die allerungefährlichste Art, Bestechungsgelder anzunehmen, die ist, wenn ein Beamter auf Befehl des Vorgesetzten von einem Kollegen ein Geschenk annimmt; in solch einem Fall gelingt es dem Schuldigen stets, sich seiner Strafe zu entziehen. Dies geht zuweilen in einer unendlichen Stufenleiter von oben nach unten. Der Polizeihauptmann und die Assessoren sind häufig bloß deswegen gezwungen, zu schwindeln und Geschenke anzunehmen, weil man ihnen selbst was abnimmt und weil sie Geld brauchen, denn sie müssen zahlen, wenn sie eine Stelle erhalten wollen. Diese Kauf- und Verkaufsgeschäfte können sich offen vor aller Augen abspielen und doch von niemand bemerkt werden. Aber hüten Sie sich um Gottes willen, deswegen gegen jemand vorzugehen und ihn deshalb zu verfolgen. Sorgen Sie nur dafür, daß in den oberen Regionen unbedingte Ehrlichkeit herrscht, dann werden auch in den unteren alle von selbst ehrlich sein. Strafen Sie und verfolgen Sie niemand, ehe die rechte Zeit kommt und ehe das Übel ganz zur Reife gekommen ist. Suchen Sie unterdessen lieber durch Ihren moralischen Einfluß zu wirken. Ihr Gedanke, daß ein Gouverneur stets Gelegenheit hat, viel Unheil anzurichten, daß er nur wenig Gutes tun kann, daß er kaum die Möglichkeit hat, Gutes und Heilsames zu leisten, da ihm auf diesem Gebiete die Hände gebunden sind, ist nicht ganz richtig. Ein Gouverneur kann immer einen moralischen Einfluß ausüben, ja dieser Einfluß ist sogar sehr groß, ebenso wie auch Sie einen großen moralischen Einfluß ausüben können, obwohl Sie über keinerlei gesetzliche Vollmachten verfügen. Glauben Sie mir, wenn Ihr Gatte irgendeinem Herrn keinen Besuch macht, so wird gleich die ganze Stadt davon reden: man wird sich sofort fragen, warum und aus welchem Grunde dies nicht geschehen ist, und derselbe Herr wird schon aus bloßer Furcht davor zurückschrecken, eine Gemeinheit zu begehen, der er sich sonst ohne Furcht und Zaudern schuldig gemacht und die er aus Respekt vor dem Gesetz und der Obrigkeit sicher nicht unterlassen hätte. Die Art, wie Sie, d. h. Sie und Ihr Gatte, gegen den Kreisrichter des N.schen Kreises gehandelt haben, den Sie ausdrücklich in die Stadt kommen ließen, um ihn mit dem Staatsanwalt auszusöhnen, und ihn um seiner Geradheit, Anständigkeit und Ehrlichkeit willen durch eine herzliche und freundliche Aufnahme und Bewirtung zu ehren, wird ihre Wirkung nicht verfehlen. Dies können Sie mir glauben. Was mir hierbei besonders gefallen hat, ist folgendes: daß der Richter (der, wie es sich herausgestellt hat, ein äußerst gebildeter und aufgeklärter Mensch ist) so angezogen war, daß man ihn, wie Sie sich ausdrücken, nicht einmal ins Vorzimmer eines Petersburger Salons hineingelassen hätte. Ich hätte ihm in diesem Augenblick den Schoß seines abgetragenen Fracks küssen mögen. Glauben Sie mir, die beste Art, wie man heute handeln kann, besteht nicht darin, sich heftig und leidenschaftlich über die Bestechlichkeit und die Schlechtigkeit der Menschen zu entrüsten, und auch nicht darin, gegen sie vorzugehen und sie zu verfolgen; statt dessen sollte man sich lieber bemühen, jeden Zug von Ehrlichkeit öffentlich bekannt zu machen und einem geraden und ehrlichen Menschen offen und vor aller Welt freundschaftlich die Hand zu drücken. Glauben Sie mir, sobald es im ganzen Gouvernement bekannt wird, daß der Gouverneur wirklich so handelt, wird er den gesamten Adel auf seiner Seite haben. Unser Adel hat einen wunderbaren Zug an sich, der mich stets in Staunen versetzt hat. Es ist dies ein Gefühl für Anstand und Vornehmheit, und zwar nicht für jene Vornehmheit, von der auch der Adel anderer Länder durchdrungen ist, d. h. nicht für die Vornehmheit der Geburt oder der Abstammung, auch nicht für den europäischen point d’honneur, sondern für die echte sittliche Vornehmheit. Selbst in solchen Provinzen und in solchen Gegenden, wo jeder Aristokrat einzeln genommen ein ganz minderwertiger Mensch zu sein scheint, erheben sich alle wie ein Mann, wenn man sie nur zu einer wahrhaft edlen Tat aufruft, wie elektrisiert, und Menschen, die sonst nichts wie Gemeinheiten begehen, sind mit einem Male der herrlichsten Taten fähig. Daher wird jede edle Handlung des Gouverneurs zuallererst beim Adel Widerhall finden, und das ist sehr wichtig. Der Gouverneur muß unbedingt einen moralischen Einfluß auf den Adel ausüben. Nur hierdurch kann er die Aristokraten bewegen, sich auch mit unbedeutenden Ämtern oder wenig verlockenden Stellungen zu begnügen. Das aber ist durchaus notwendig. Denn wenn ein Adliger aus derselben Provinz eine Stelle annimmt, um andern Leuten ein Vorbild zu geben, wie man seine dienstlichen Verpflichtungen erfüllt, so wird er, was er auch für ein Mensch sein mag, selbst wenn er träge ist und vielerlei Mängel hat, seine Pflicht und Schuldigkeit tun, wie dies ein fremder, aus einem andern Ort in die Provinz versetzter Beamter niemals vermag, und wenn er sein ganzes Leben lang im Bureau verbracht hätte. Mit einem Wort, man darf niemals aus dem Auge verlieren, daß das dieselben Beamten sind, die im Jahre 1812 alles zum Opfer gebracht haben, alles, d. h. ihre ganze Habe, die sie besaßen.

Wenn es einmal vorkommt, daß ein Beamter wegen irgendwelcher unehrenhafter Handlungen vor Gericht gestellt wird, so muß dies stets unter Enthebung von seinem Amt geschehen. Das ist von großer Bedeutung, denn wenn er vor Gericht gestellt wird, ohne daß er seines Amts enthoben wird, so werden alle andern Beamten für ihn Partei nehmen. Er wird noch lange Winkelzüge zu machen und Mittel zu finden suchen, um alles derartig in Verwirrung zu bringen, daß es überhaupt nicht mehr möglich ist, die Wahrheit ans Licht zu bringen; wird er dagegen unter Enthebung von seinem Amt vor Gericht gestellt, so wird er plötzlich die Nase hängen lassen, niemand wird mehr Angst vor ihm haben, auf allen Seiten werden sich Beweise gegen ihn häufen, alles wird plötzlich an den hellen Tag kommen und die Sache wird sich völlig aufklären. Um eins aber bitte ich Sie, liebe Freundin, verlassen Sie um Christi willen nie einen aus dem Amt gejagten Beamten gänzlich, mag er so schlecht sein, wie er will: denn er ist ein Unglücklicher. Aus den Händen Ihres Gemahls muß er in Ihre Hände gelangen. Sprechen Sie nicht selbst mit ihm und empfangen Sie ihn nicht, sondern behalten Sie ihn von ferne im Auge. Sie haben gut daran getan, die Aufseherin an der Irrenanstalt hinauszuwerfen, weil sie die Brötchen, die für diese Unglücklichen bestimmt waren, an andre Leute verkauft hat — ein Verbrechen, das um so abscheulicher ist, wenn man in Betracht zieht, daß die Geisteskranken ja nicht einmal imstande waren, sich deswegen zu beklagen. Daher mußte ihre Entlassung öffentlich und vor aller Welt erfolgen. Aber lassen Sie nie einen Menschen völlig fallen, machen Sie ihm die Rückkehr nicht ganz unmöglich und behalten Sie den Ausgestoßenen im Auge. Denn mitunter kann ein solcher aus Kummer, Verzweiflung und Scham noch größere Verbrechen begehen. Handeln Sie entweder durch Ihren Beichtvater oder überhaupt durch irgendeinen klugen Geistlichen, veranlassen Sie diesen, ihn aufzusuchen und Ihnen beständig über ihn Bericht zu erstatten. Vor allem aber sorgen Sie dafür, daß er nie ohne Arbeit und Tätigkeit ist. Nehmen Sie sich in diesem Fall nicht das tote Gesetz, sondern den lebendigen Gott zum Vorbild, der den Menschen mit allen Geißeln des Unglücks schlägt, ihn aber bis an sein Lebensende nie verläßt. Ein Verbrecher mag sein, wie er will, solange die Erde ihn noch trägt und Gottes Donner ihn noch nicht vernichtet hat, so bedeutet das, daß er sich hier in der Welt noch aufrecht zu erhalten vermag, auf daß jemand durch sein Los gerührt werde, ihm helfe und ihn rette. Sollten Sie übrigens bei den Aufzeichnungen, die Sie für mich machen werden, oder bei Ihren eigenen Forschungen über alle möglichen Mißstände und Gebrechen allzusehr durch die traurigen Seiten unseres Lebens erschüttert werden und sollte sich Ihr Herz mit Empörung erfüllen — so rate ich Ihnen in solch einem Falle, sich hierüber so häufig wie möglich mit dem Erzpriester zu unterhalten. Dieser ist, wie ich aus Ihren Worten ersehe, offenbar ein kluger Mann und ein gütiger Priester. Führen Sie ihn durch Ihr ganzes Krankenhaus und klären Sie ihn über alle Leiden Ihrer Kranken auf. Selbst wenn er keine großen Kenntnisse und Erfahrungen in der Heilkunst besitzen sollte, so müssen Sie ihn dennoch über alle Krankheitsanfälle, alle Symptome und alle Krankheitserscheinungen unterrichten. Suchen Sie ihm alles bis aufs letzte so lebendig darzustellen, daß es ihm fortwährend vor Augen steht, daß er sich in Gedanken fortwährend mit Ihrer Stadt beschäftigen muß, daß sie ihm immer lebendig und gegenwärtig ist, wie sie auch Ihre Gedanken beständig beschäftigen muß, damit all sein Denken stets ganz von selbst darauf gerichtet ist, unaufhörlich für sie zu beten. Glauben Sie mir, seine Sonntagspredigt wird hierdurch den Zuhörern immer mehr und mehr zu Herzen gehen, und es wird ihm gelingen, in viele Dinge Licht hineinzubringen und persönlich, ohne auf jemand hinzuweisen, jedem seine eigene Schlechtigkeit und Gemeinheit von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustellen, so daß sich ein jeder mit Ekel von dem, was sein Eigenstes ist, abwenden wird. Achten Sie gleichfalls auf die Stadtpfarrer, suchen Sie sie unbedingt alle kennen zu lernen. Von ihnen hängt alles ab, und die Rettung unserer Seele liegt in ihren Händen und nicht in den Händen irgendeines anderen. Achten Sie trotz der Einfalt und Unwissenheit so mancher keinen von ihnen zu gering. Es ist leichter, sie ihrer Pflicht wiederzugeben, als irgendeinen von uns. Wir weltlichen Menschen besitzen viel Stolz, Ehrgeiz, Eigenliebe und vertrauen zu sehr auf unsere Vollkommenheit. Infolgedessen will niemand von uns auf die Worte und die Ermahnungen seiner Brüder hören, so wahr und richtig sie auch immer sein mögen. Dazu kommen noch die vielen Zerstreuungen und Vergnügungen ... Ein Geistlicher dagegen mag sein wie er will, er hat doch immerhin ein gewisses Gefühl dafür, daß er demütiger und bescheidener sein muß, als alle anderen Menschen. Außerdem wird er ja auch täglich während des Gottesdienstes, den er abhält, daran erinnert, mit einem Wort, er ist weit eher dazu imstande, sich auf den rechten Weg zurückzufinden, als wir, und indem er selbst dahin zurückkehrt, kann er auch uns alle auf ihn zurückführen. Daher müssen Sie, selbst wenn Sie ganz unfähige Leute unter ihnen antreffen, diese nicht geringschätzen, sondern ordentlich mit ihnen reden. Fragen Sie einen jeden, was er für eine Gemeinde hat, lassen Sie sich ein vollständiges Bild von ihr entwerfen, lassen Sie sich erzählen, was für Leute in seinem Pfarrdorf leben, wie er sie versteht und in welchem Maße er sie kennt. Vergessen Sie niemals, daß ich bisher noch gar nicht weiß, was das Bürgertum und die Kaufmannschaft in Ihrer Stadt eigentlich darstellen. Daß sie auch schon anfangen, die Mode mitzumachen und Zigaretten zu rauchen, das ist eine Erscheinung, der man überall begegnet. Ich wünschte, Sie könnten mir einen von ihnen mitten aus seinem Milieu lebendig herausgreifen, damit ich ihn vom Kopf bis zu den Füßen in all seinen Einzelzügen vor mir sehen könnte. Also noch einmal: suchen Sie sie möglichst vollständig und bis ins einzelne kennen zu lernen. Eine Seite der Sache werden Sie von den Priestern erfahren, eine andere vom Polizeimeister, wenn Sie sich nur die Mühe geben, die Sache gründlich mit ihnen durchzusprechen. Einen dritten Zug werden Sie von ihnen selbst erfahren, wenn Sie es nicht verschmähen, mit einem von ihnen eine Unterhaltung anzuknüpfen, was Sie meinetwegen Sonntags beim Verlassen der Kirche tun können. Alle Daten, die Sie so sammeln werden, werden dazu dienen, das Musterbild des Bürgers und Kaufmanns, wie er in Wahrheit sein soll, vor Ihnen erstehen zu lassen. Selbst im Krüppel werden Sie das Ideal erkennen, dessen Karikatur dieser Krüppel darstellt. Wenn Sie aber das Gefühl haben, daß Sie so weit sind, dann lassen Sie den Priester holen und sprechen Sie mit ihm darüber. Sie werden ihm gerade das sagen, was er wissen muß. Sie werden ihm das Wesen eines jeden Berufs klarmachen, d. h. Sie werden ihm zeigen, was ein jeder Beruf bei uns sein muß, und Sie werden eine Karikatur dieses Berufs vor ihm erstehen lassen, d. h., Sie werden ihm zeigen, wozu er durch unsere Mißbräuche geworden ist. Darüber hinaus brauchen Sie nichts hinzuzufügen. Er wird schon selbst auf das Rechte kommen, wenn sein eigener Lebenswandel besser werden wird. Unsere Priester bedürfen solcher Gespräche, besonders mit fertigen in sich abgeschlossenen Menschen, die es verstehen, die Grenzen und Pflichten eines jeden Berufs und Amtes in wenigen, aber klaren und treffenden Zügen abzustecken. Häufig weiß mancher von ihnen nur deshalb nicht, wie er sich gegen seine Gemeinde und seine Zuhörer verhalten soll, und bringt nichts als Gemeinplätze vor, die sich nach keiner Richtung hin unmittelbar auf den Gegenstand beziehen. Suchen Sie sich auch in seine eigene Lage zu versetzen. Helfen Sie seiner Frau und seinen Kindern, wenn seine Gemeinde arm ist, und denen, die da roh und trotzig tun, drohen Sie mit dem Erzpriester. Im allgemeinen aber suchen Sie vor allem durch Ihren moralischen Einfluß zu wirken. Erinnern Sie sie daran, daß ihre Pflichten groß und furchtbar sind, daß sie strengere Rechenschaft werden ablegen müssen, als irgendein Mensch aus einem anderen Beruf, daß heutzutage ja auch der Synod und selbst der Kaiser ganz besonders auf den Lebenswandel der Priester achten, daß ein großes Revirement bevorsteht, weil nicht nur die höhere Obrigkeit, sondern auch alle Privatleute im Staate ohne Ausnahme zu merken beginnen, daß der Grund alles Übels darin liegt, daß die Priester nicht mehr recht ihre Pflicht und Schuldigkeit tun ... Klären Sie sie möglichst häufig über die furchtbaren Wahrheiten auf, bei denen unsere Seele unwillkürlich erschauert. Kurz — vernachlässigen Sie die Stadtpfarrer unter keinen Umständen: mit ihrer Hilfe kann die Frau eines Gouverneurs einen großen moralischen Einfluß auf die Kaufmannschaft, das Bürgertum und die niederen Stände der Stadtbewohner ausüben, einen so großen Einfluß, wie Sie sich’s kaum vorstellen können. Ich will nur einiges davon erwähnen, was sie durchzusetzen vermag, und Sie auf die Mittel aufmerksam machen, mit deren Hilfe sie dies vollbringen kann: erstens, — aber da fällt mir ein, daß ich ja gar keinen Begriff davon habe, was das Bürgertum und die Kaufmannschaft in Ihrer Stadt darstellen. Meine Worte könnten Ihnen vielleicht nicht recht gelegen kommen, daher ist es besser, ich unterdrücke sie ganz. Ich will Ihnen nur das eine sagen, daß Sie selbst einmal erstaunt sein werden, wenn Sie erkennen werden, welch große Aufgaben und Taten Ihnen in diesem Wirkungskreis bevorstehen, Taten, die weit mehr Nutzen bringen können, als irgendwelche Asyle und alle möglichen Wohlfahrtseinrichtungen, obwohl sie mit keinerlei Geldopfern und Arbeit verbunden sind, sondern einem sogar zum Vergnügen, zu einer Erholung und zu einer geistigen Zerstreuung werden.

Versuchen Sie es auch, die Elite, d. h. die Besten unter den Bewohnern der Stadt zu sozialer Tätigkeit anzuhalten: beinahe jeder von ihnen kann gleich Ihnen sehr viel erreichen, und es ist möglich, sie aufzurütteln; wenn Sie mir nur ein vollständiges Bild von ihrem Charakter, ihrer Lebensweise und ihrer Beschäftigung geben wollen, so werde ich Ihnen sagen, wie und wodurch man sie zur Tätigkeit anspornen kann: in jedem Russen gibt es verborgene Saiten, die er selbst nicht kennt, die man jedoch nur anzuschlagen braucht, um ihn aufzurütteln und aufzuwecken. Sie haben mir schon ein paar gescheite und edle Menschen in Ihrer Stadt genannt. Ich bin überzeugt, daß sich noch weit mehr finden werden. Legen Sie keinen Wert auf ein abstoßendes Äußeres, legen Sie auch keinen Wert auf unangenehme Manieren, auf ein grobes, plumpes und ungeschicktes Benehmen, ja nicht einmal auf die Sucht, zu renommieren und sich durch große Kühnheit und Bravour hervorzutun, oder auf ein allzu freies ungeniertes Auftreten. Wir alle haben uns in der letzten Zeit ein etwas unangenehmes hochnäsiges Benehmen angewöhnt, dennoch ist unsere Seele in ihrem Innersten weit mehr guter Regungen und Gefühle fähig als jemals früher, trotzdem wir sie in allerhand wertlosem Plunder erstickt oder sogar einfach befleckt und in den Kot gezerrt haben.

Vor allem: Verachten Sie die Frauen nicht. Ich schwöre Ihnen, die Frauen sind weit besser als wir Männer; sie sind viel hochherziger, haben viel mehr Wagemut und sind weit fähiger zu edlen Taten als wir. Messen Sie dem keine Bedeutung bei, daß sie sich von dem hohlen modischen Treiben umgarnen ließen. Wenn es Ihnen gelingt, die Sprache der Seele zu ihnen zu reden, wenn es Ihnen glückt, der Frau auch nur im geringsten ihre hohe Aufgabe, die ihrer heute in der Welt harrt, ihre himmlische Bestimmung klarzumachen: uns eine Erweckerin zu allem Edlen, zur Geradheit und Ehrlichkeit zu werden und den Menschen zu edlem Tun und Streben aufzurufen, so wird dieselbe Frau, die Sie noch soeben für ganz hohl und nichtig gehalten haben, in edler Begeisterung aufflammen, in sich gehen, erkennen, daß sie ihre Pflichten vernachlässigt hat, sich zu edlen Taten aufraffen, all ihren Flitter weit von sich werfen, ihren Mann zu treuer Erfüllung seiner Pflichten anhalten, und alle dazu veranlassen, daß sie umkehren und sich wieder in den Dienst einer Sache stellen. Ich schwöre Ihnen, unsere Frauen werden uns hochherzig ins Gewissen reden und uns die Peitsche spüren lassen, sie werden uns mit der Geißel der Scham und des Gewissens antreiben wie eine stumpfsinnige Hammelherde, noch bevor ein jeder von uns erwachen und erkennen wird, daß er schon längst von selbst hätte vorwärts laufen und nicht erst auf den Schlag der Peitsche warten sollen. Sie werden die Liebe aller gewinnen. Und diese Liebe wird innig und stark sein; es ist ja auch nicht anders möglich, als daß alle Sie lieben, wenn sie Ihre Seele kennen lernen. Bis dahin aber müssen Sie alle, bis zum letzten, lieben, ohne alle Rücksicht, ob einer Sie liebt oder nicht.

Jedoch mein Brief ist schon zu lang geworden. Ich fühle, daß ich anfange, Dinge zu sagen, die weder Ihrer Stadt noch Ihnen selbst im gegenwärtigen Augenblick sehr gelegen kommen mögen. Und doch sind Sie selbst schuld daran, da Sie mir über nichts ausführliche Nachrichten zukommen lassen. Bisher lebe ich immer noch wie in einem einsamen Walde. Ich höre fortwährend von unheilbaren Krankheiten und weiß doch nicht, woran eigentlich ein jeder leidet. Ich habe jedoch die Gewohnheit, nie auf ein bloßes Gerücht hin an irgendein unheilbares Leiden zu glauben, und ich nenne eine Krankheit niemals unheilbar, bis ich mich nicht durch eigenhändiges Befühlen und Betasten davon überzeugt habe. Also noch einmal: Suchen Sie mir zuliebe die ganze Stadt gründlich kennen zu lernen, beschreiben Sie mir alles und jedermann und ersparen Sie keinem einzigen Menschen folgende drei unvermeidliche Fragen: Worin sein Beruf besteht, wieviel Gutes und wieviel Böses man in seiner Stellung vollbringen kann. Machen Sie es wie eine fleißige Schülerin, schaffen Sie sich zu diesem Zwecke ein Heft an und vergessen Sie nie, daß Sie in Ihren Unterhaltungen mit mir möglichst umständlich sein müssen. Denken Sie stets daran, daß ich dumm, daß ich ganz dumm bin, solange mich nicht jemand in ausführlichster Weise über einen Gegenstand orientiert. Oder stellen Sie sich lieber vor, daß ein Kind oder ein völlig unwissender Mensch vor Ihnen steht, dem man alles, bis auf die kleinste Kleinigkeit, erklären und auseinandersetzen muß: nur dann wird Ihr Brief seinen Zweck ganz erfüllen. Ich weiß nicht, warum Sie mich für einen solchen Alleswisser halten. Wenn es mir einmal gelungen ist, Ihnen etwas vorauszusagen, und wenn meine Voraussagungen einmal wirklich eingetroffen sind, so liegt das ausschließlich daran, daß Sie mich damals in Ihre Geistes- und Gemütsverfassung eingeweiht haben. Ist denn das etwas so Großes, gewisse Dinge vorauszusehen! Man muß bloß die gegenwärtigen Verhältnisse recht aufmerksam beobachten, dann wird die Zukunft ganz von selbst vor unserem Geiste erstehen. Ein Narr, der an die Zukunft denkt, ohne die Gegenwart in Rechnung zu ziehen! Ein solcher Mensch muß entweder etwas Törichtes oder Unwahres sagen, oder aber in Rätseln reden. Ich muß Sie übrigens noch wegen folgender Zeilen ausschelten, die ich Ihnen hier vor Augen führen will. „Es ist traurig und sogar bitter, die Zustände in Rußland aus der Nähe ansehen zu müssen. Im übrigen aber sollte man nicht darüber sprechen. Wir sollten hoffnungsvoll und heiteren Auges in die Zukunft schauen, die in den Händen des allbarmherzigen Gottes liegt“. In den Händen des allbarmherzigen Gottes liegt alles: alles Gegenwärtige, Vergangene und Zukünftige. Das ist ja unser ganzes Unglück, daß wir die Gegenwart nicht sehen wollen, sondern nur in die Zukunft schauen. Daher kommt ja dies ganze Unheil, daß das eine traurig und bitter und anderes wieder einfach häßlich und widerwärtig ist. Und wenn es nicht so geht, wie wir es gerne möchten, so lassen wir die Hände sinken, verzweifeln an allem und blicken starr in die Zukunft. Darum sendet uns Gott auch keine Klarheit, daher hängt ja auch die Zukunft für uns alle gleichsam in der Luft: manche fühlen zwar, daß sie schön sein wird dank einigen hochstehenden Menschen, die sie auch schon instinktiv vorausahnen und diesem Gefühl nur noch keine streng zahlenmäßige oder arithmetische Begründung geben können. Wie man jedoch diese Zukunft herbeiführen soll, das weiß kein einziger. Es geht uns ähnlich damit wie mit den sauren Trauben. Dabei vergißt man eine Kleinigkeit: man vergißt, daß die Straßen und Wege, die in diese heitere Zukunft führen, ja gerade durch diese dunkle und verworrene Gegenwart hindurchgehen, die niemand kennen will. Jedermann hält sie für so häßlich, widerwärtig und der Beachtung nicht wert, und ist sogar ärgerlich, wenn man sie allen vor Augen führt. So lehren Sie mich doch wenigstens diese Gegenwart kennen. Sie dürfen sich nicht durch das viele Häßliche und Schmutzige abschrecken lassen, und Sie sollen mir keine Niederträchtigkeit ersparen. Das Gemeine und Schmutzige ist nichts Ungewohntes für mich: ich selbst habe genug Gemeines und Schmutziges in mir. Solange ich noch wenig Einblick in alles Niederträchtige und Widerwärtige hatte, brachte mich alles Gemeine und Häßliche in Verlegenheit, ich fühlte mich durch vieles verstimmt, und es erfaßte mich ein Grauen bei dem Gedanken an Rußland. Seitdem ich aber tiefer in all den Schmutz und die Niedertracht hineinzublicken versuchte, bin ich zu höherer geistiger Klarheit gelangt. Vor mir taten sich Auswege auf. Ich sah Mittel und Wege und erfüllte mich mit noch größerer Ehrfurcht vor der Vorsehung, und jetzt danke ich Gott sogar am meisten dafür, daß er es mir ermöglicht hat, die Gemeinheit und Niedertracht — sowohl meine eigene wie die meiner armen Brüder — wenigstens teilweise kennen zu lernen. Und wenn ich heute auch nur ein Fünkchen Verstand besitze, wie er nicht allen Menschen eigen ist, so rührt das daher, weil ich mich bemüht habe, möglichst tief in diesen Schmutz und diese Gemeinheit hineinzublicken; wenn es mir gelungen sein sollte, einigen von denen, die meinem Herzen nahe stehen, darunter auch Ihnen eine geistige Hilfe und Stütze zu sein — so war dies nur möglich, weil ich tiefer in diesen Schmutz und diese Gemeinheit hineingeblickt habe. Und wenn ich schließlich gelernt habe, die Menschen mit einer nicht bloß eingebildeten, erträumten, sondern mit einer wahrhaften und wirklichen Liebe zu lieben, so war mir auch dieses schließlich nur dadurch möglich, daß ich recht tief in den Abgrund der Niederträchtigkeit und Gemeinheit hinabgesehen habe.

Schrecken Sie also nicht vor Schmutz und Niedertracht zurück. Vor allem aber wenden Sie sich nicht mit Ekel von den Menschen ab, die Ihnen aus irgendeinem Grunde widerwärtig und gemein erscheinen. Ich versichere Ihnen, es wird einmal die Zeit kommen, wo viele von den sogenannten „Reinen“ ihr Gesicht mit den Händen bedecken und bittere Tränen weinen werden, gerade weil sie sich so rein erschienen, weil sie sich ihrer Reinheit und ihres hohen Strebens nach irgendwelchen hohen Gütern gerühmt und sich deshalb für bessere Menschen gehalten haben. Denken Sie stets daran und gehen Sie daher, wenn Sie Ihr Gebet verrichtet haben, mit neuem frischerem Mut als früher an die Arbeit. Lesen Sie meinen Brief fünf- oder sechsmal durch, denn alles in ihm ist sprunghaft, und es ist keine strenge logische Gedankenfolge in ihm, woran Sie übrigens selbst schuld sind. Sie müssen sich den Kern, den Inhalt dieses Briefes ganz zu eigen machen. Meine Fragen müssen zu Ihren Fragen und meine Wünsche zu Ihren Wünschen werden, damit jedes Wort und jeder Buchstabe Sie unablässig verfolgt und so lange quält, bis Sie meine Bitte erfüllen und tuen, was ich verlange.

1846.

XXII
Der russische Gutsbesitzer
An B. N. B.

Die Hauptsache ist, daß du bereits auf deinem Gute angelangt bist und es dir zum unumstößlichen Vorsatz gemacht hast, Gutsbesitzer zu werden. Das übrige wird sich schon von selbst ergeben. Laß dich nicht irremachen durch den Gedanken, daß das alte Band, das ehemals den Gutsherrn mit dem Bauern verknüpfte, für immer zerrissen ist. [Daß es zerrissen ist, ist wahr, und daß die Gutsbesitzer selbst daran schuld sind, das ist auch wahr, aber] daß es für alle Zeiten und für immer zerrissen sein sollte — das glaube doch nicht und achte du nicht auf solche Redensarten. Nur ein Mensch, der nicht über seine eigene Nasenlänge hinaussieht, kann so etwas behaupten. Wie? Es sollte schwer sein, sich die Liebe eines Russen, der für alles Gute, das man ihm beibringt, so dankbar zu sein vermag, — es sollte schwer sein, sich die treue Liebe und Anhänglichkeit eines Russen zu erwerben? Im Gegenteil, man kann den Russen so an sich ketten, daß man nachher nur noch einen Gedanken hat: wie man ihn wieder loswerden soll. Wenn du nur alles genau ausführst, was ich dir jetzt sagen werde, dann wirst du noch am Ende dieses Jahres erkennen, daß ich recht hatte. Du mußt die Aufgabe, die einem Gutsbesitzer gestellt ist, in ihrem wahren und rechten Sinne erkennen und in der rechten Weise in Angriff nehmen. Vor allem mußt du die Bauern um dich versammeln und ihnen klarmachen, was du bist und wer sie sind. Du mußt ihnen erklären, daß du nicht deshalb ihr Gutsherr geworden bist, weil du befehlen oder den Gutsbesitzer spielen wolltest, sondern deshalb, weil du schon vorher Gutsbesitzer warst, weil du als Gutsbesitzer geboren bist und weil Gott dich zur Verantwortung ziehen würde, wenn du deinen Beruf gegen einen andern vertauschen wolltest, denn ein jeglicher muß Gott an der Stelle, an die er gestellt wird, und nicht an einer andern fremden dienen. Ebenso müßten auch sie, die Bauern, da sie doch nun einmal durch ihre Geburt unter der Gewalt des Gutsherrn stehen, sich dieser Obergewalt unterordnen, unter der sie geboren seien, denn es gibt keine Obrigkeit ohne von Gott. Bei dieser Gelegenheit mußt du ihnen die entsprechende Stelle im Neuen Testament zeigen, so daß ein jeder bis auf den letzten sich davon überzeugen kann. Ferner mußt du ihnen sagen, daß du sie zur Arbeit und zur Tätigkeit anhältst, nicht weil du Geld für irgendwelche Genüsse und Vergnügungen brauchst [um ihnen das zu beweisen, solltest du vor ihren Augen ein paar Banknoten verbrennen], du mußt es vielmehr so einrichten, daß sie wirklich den Eindruck gewinnen, das Geld hätte nicht den geringsten Wert für dich. Sage ihnen, du ließest sie bloß darum arbeiten, weil es Gottes Wille sei, daß der Mensch in schwerer Arbeit und im Schweiße seines Angesichts sein Brot verdienen solle, und lies ihnen unmittelbar darauf die entsprechende Stelle aus der Heiligen Schrift vor, damit sie sich davon überzeugen. Sage ihnen die ganze Wahrheit, sage ihnen, Gott werde wegen des letzten Lumpen im Dorfe Rechenschaft von dir fordern und deswegen würdest du um so schärfer darauf achten, daß sie redlich arbeiten; nicht nur für dich, sondern auch für sich selbst. Denn du weißt, und sie wissen es ja auch, daß ein Bauer, der nicht arbeitet und sich dem Müßiggang ergibt, zu allem fähig ist — er kann zum Dieb, zum Trunkenbold werden, er kann seine Seele zugrunde richten und dir eine schwere Verantwortung vor Gott aufbürden. Bekräftige alles, was du sagst, stets und ohne Verzug durch Worte der Heiligen Schrift. Weise mit dem Finger auf die Buchstaben und die Zeilen, die diese Worte enthalten. Halte jeden dazu an, daß er sich zuvor bekreuzige, einen Kniefall tue und das Buch küsse, in dem es geschrieben steht. Kurz, sie müssen klar erkennen, daß du dich bei allem, was sich auf sie bezieht, nach dem Willen Gottes richtest und nicht aus irgendwelchen europäischen oder anderen Launen und Einfällen heraus handelst. Der Bauer wird das verstehen. Er bedarf der vielen Worte nicht. Sage ihm die ganze Wahrheit: sage ihm, daß die Seele des Menschen das Wertvollste auf der ganzen Welt ist und daß du vor allem darauf achten wirst, daß keiner von ihnen seine Seele verderbe und sie den ewigen Qualen überantworte. Bei jeglichem Tadel und jeder Rüge, die du einem Menschen erteilst, der des Diebstahls, der Faulheit oder der Trunksucht überführt worden ist, mußt du ihn nicht dir, sondern Gott von Angesicht zu Angesicht gegenüberstellen. Zeige ihm, daß er sich gegen Gott und nicht gegen dich versündigt, und tadele nicht ihn allein, sondern rufe auch sein Weib, seine Familie und seine Nachbarn herbei. Rede seinem Weibe ins Gewissen, frage sie, warum sie ihren Mann nicht davon abgehalten, Übles zu tun, und ihm nicht mit Gottes Zorn gedroht habe. Rede auch den Nachbarn ins Gewissen, weil sie es zugelassen haben, daß ihr Bruder, der doch mitten unter ihnen weilt, ein Leben wie ein Hund geführt und seine Seele um nichts und wieder nichts verdorben habe. Beweise ihnen, daß sie deswegen vor Gott Rechenschaft ablegen müssen. Suche es zu erreichen, daß sich alle miteinander dafür verantwortlich fühlen und daß alle Gegenstände, die den Menschen umgeben, ihn vorwurfsvoll anzublicken scheinen und es ihm nicht gestatten, sich allzusehr gehen zu lassen. Sorge dafür, daß von allen musterhaften Landwirten und von den besten und tüchtigsten Bauern eine mächtige Wirkung ausgehe und daß ihnen eine große Verantwortlichkeit zufalle. Mache es ihnen ganz klar, daß es nicht allein ihre Aufgabe ist, selbst einen guten und ehrenhaften Lebenswandel zu führen, sondern daß sie auch andere lehren müssen, gut zu leben, daß ein Trunkenbold keinen Trunkenbold belehren kann, und daß das ihre Pflicht sei. Den Lumpen und Trunkenbolden befiehl, daß sie den braven und tüchtigen Bauern die gleiche Achtung erweisen, wie dem Dorfschulzen, dem Verwalter, dem Priester und sogar dir selbst. Schon wenn sie einen solchen braven und musterhaften Bauern oder Landwirt aus der Ferne erblicken, sollen alle Bauern ihre Mützen vom Kopfe reißen und ihm den Weg freigeben. Wer es aber wagt, ihm irgendwelche Mißachtung zu erweisen oder seinen klugen und gescheiten Worten kein Gehör zu schenken, den mußt du in Gegenwart aller ausschelten und zu dem mußt du folgendermaßen sprechen: „O du ungewaschenes Maul, du selbst lebst in Dreck und Asche, daß man nicht einmal sieht, wo du deine Augen hast, und du willst dem keine Ehre erweisen, dem Ehre gebührt! Beuge dich tief vor ihm und bitte ihn, daß er dir den rechten Weg weise. Denn wenn er dich nicht zur Vernunft bringt, mußt du zugrunde gehen wie ein Hund.“ Die braven Bauern aber mußt du zu dir rufen und wenn es ältere Männer sind, vor dir Platz nehmen lassen und dich mit ihnen beraten, wie Sie die andern belehren und sie im Rechten unterweisen und also erfüllen können, was Gott uns geboten hat. Führe das bloß ein Jahr lang durch, und du wirst selbst sehen, wie gut alles gehen wird. Selbst die Landwirtschaft wird hierdurch nur gewinnen. Kümmere dich nur um die Hauptsache, alles andere wird dir von selbst in den Schoß fallen. Christus hat nicht vergebens gesagt: Dies alles wird euch von selbst zufallen. Wie wahr das ist, dafür ist das Leben der Bauern ein noch beredteres Zeugnis als unser Leben. Für den Bauern sind ein wohlhabender Bauer und ein guter Mensch — Synonyme, und wo in einem Dorfe einmal das christliche Leben Einkehr gehalten hat, da tragen die Bauern das Silber mit Schaufeln fort.

Übrigens will ich dir auch in bezug auf Landwirtschaft einen Rat geben, nur mußt du ihn ordentlich verstehen, dann wird er dir nicht zum Schaden gereichen. Zwei Menschen danken es mir schon, der eine ist K., den du auch kennst. Mit welchen Zweigen der Landwirtschaft du dich beschäftigen mußt und wie du dies zu tun hast, darüber will ich dir nichts sagen: das weißt du besser als ich. Zudem kenne ich auch dein Gut nicht so genau wie meine eigene Handfläche und in bezug auf allerhand Neuerungen bist du ja vernünftig und hast du ja selbst eingesehen, daß man nicht nur am Alten festhalten, sondern es auch bis auf den Grund kennen lernen muß, um aus ihm selbst die Mittel zu seiner Verbesserung zu gewinnen. Ich will dir lieber einen Rat geben, der die Beziehungen des Gutsherrn zu seinen Bauern in den landwirtschaftlichen Angelegenheiten und bei den Arbeiten betrifft, was zunächst einmal von viel größerer Bedeutung ist als alles übrige. Denke an das Verhältnis, das früher zwischen den Gutsherren und Landwirten und ihren Bauern herrschte: du mußt ein Patriarch sein, selbst den Anfang machen und in allen Dingen vorangehen. Mache es dir zur Regel und vergiß nie, wenn eine gemeinsame Sache in Angriff genommen wird, also bei der Aussaat, bei der Heu- oder Kornernte usw. das ganze Dorf zu einem Festmahl einzuladen. An solchen Tagen muß in deinem Hofe ein gemeinsamer Tisch für alle Bauern gedeckt sein, ganz so wie am Ostermontag, und du selbst mußt mit ihnen speisen, mit ihnen zur Arbeit hinausgehen und ihnen auch bei der Arbeit überall voranschreiten, sie alle zu tüchtigem, eifrigem Schaffen anspornen, für die, die sich durch ihren Mut und ihre Tüchtigkeit auszeichnen, ein Wort des Lobes und für die Trägen und Faulen eine Rüge bereit halten. Und wenn dann der Herbst kommt und die Feldarbeiten zu Ende gehen, mußt du den Abschluß der Arbeiten durch ein ebensolches oder ein noch größeres Festmahl feiern, das von einem feierlichen Dankgebet begleitet wird. Du sollst den Bauer nicht schlagen; ihm einen Schlag in das Gesicht versetzen, das ist noch keine große Kunst, das kann auch der Stanowoi, der Assessor und selbst der Dorfschulze. Der Bauer ist daran gewöhnt, er kratzt sich nur hinter den Ohren, und das ist alles. Lerne es lieber, durch deine Worte Eindruck auf ihn machen. Du verstehst dich doch auf treffliche Worte. Schilt ihn vor versammeltem Volke aus, aber so, daß das ganze Volk ihn auslacht und verspottet. Das wird weit nützlicher für ihn sein als alle möglichen Püffe und Maulschellen. Du mußt stets sämtliche Synonyme von: „braver Bursche“ für den, der ermuntert, und alle Synonyme von: „altes Weib“ für den, der getadelt werden muß, bereit halten, damit das ganze Dorf weiß, daß ein Faulpelz und ein Trunkenbold ein altes Weib und ein erbärmlicher Kerl sind. Suche womöglich ein noch schlimmeres Wort hervor, kurz, du darfst ihm sagen, daß er alles ist, was ein Russe nicht sein soll. Hocke nicht zu lange in der Stube, sondern erscheine recht oft bei den Arbeiten der Bauern und richte es, wo du auch hinkommst, stets so ein, daß bei deinem Kommen alles lebhafter und heiterer wird, sich mutig und frisch betätigt und daß jeder sich bei der Arbeit besonders auszuzeichnen sucht. Suche ihnen allen Mut und Kraft einzuflößen, indem du ihnen zurufst: „Kommt, Jungens, laßt uns einmal alle zusammen anpacken.“ Nimm selbst die Axt oder die Sense zur Hand, das wird dir gut tun und weit besser für deine Gesundheit sein als diese Heilgymnastik, diese Motion, als Marienbad und die vielen trägen und bequemen Spaziergänge.

Deine Bemerkungen über die Schulen sind ganz richtig. Es ist wirklich ein Unsinn, dem Bauern das Lesen beizubringen, damit er die Möglichkeit habe, allerhand törichte Bücher zu lesen, die europäische Menschenfreunde für das Volk herausgeben. Die Hauptsache aber ist, daß der Bauer ja gar keine Zeit dazu hat. Nach der schweren Arbeit wird kein Buch ihm in den Kopf hinein wollen, und wenn er nach Hause kommt, sinkt er wie tot hin und schläft den Schlaf des Gerechten. Dir selbst wird es so ergehen, wenn du häufiger zur Arbeit gehen wirst. Der Dorfpfarrer kann dem Bauer weit mehr sagen, was ihm wirklich von Nutzen sein kann, als all dieser Bücherkram. Wenn einer dagegen wirklich vom Bildungsdrang ergriffen wird und zwar nicht etwa darum, um ein Bureaumensch zu werden sondern weil er die Bücher lesen will, in denen das Gesetz, das Gott den Menschen gegeben hat, geschrieben steht, dann ist das freilich eine andere Sache. Einen solchen mußt du erziehen wie deinen eigenen Sohn, und alle Sorgfalt und alle Mittel auf ihn verwenden, die du für eine ganze Schule verwandt hättest. Unser Volk ist gar nicht so dumm, wenn es vor jedem beschriebenen Stück Papier davonläuft wie vor dem Teufel. Es weiß, daß dies der Quell aller menschlichen Verwirrung, aller Kabalen und Haarspaltereien ist. Eigentlich sollte es überhaupt nicht wissen, daß es noch andere Bücher als die heiligen Bücher gibt.

[Apropos: der Priester; du hast unrecht, wenn du dich darum bemühst, daß er durch einen andern ersetzt wird und wenn du den Erzpriester darum bitten willst, er möge dir einen erfahreneren und gebildeteren Priester senden. Einen solchen wird er dir nicht verschaffen können, denn ein solcher Priester ist überall unentbehrlich. Schlage es dir aus dem Kopfe, daß du einen Priester finden könntest, der deinem Ideal völlig entspricht. Kein Seminar und keine Schule kann einen solchen heranbilden. Im Seminar wird nur der erste Grund zu seiner Bildung gelegt. Die eigentliche Bildung und Erziehung dagegen erwirbt er sich erst durch das Leben selbst. Du mußt selbst sein Lehrer sein, da du doch eine so klare Vorstellung von den Pflichten eines Dorfpfarrers hast. Wenn der Pfarrer schlecht ist, so sind meist die Gutsbesitzer selbst schuld daran. Statt ihn bei sich im Hause aufzunehmen wie einen nahen Verwandten, und in ihm das Bedürfnis nach einer edleren Unterhaltung zu erwecken, aus der er etwas lernen könnte, überlassen sie ihn, jung und unerfahren, wie er ist, den Bauern, wenn er selbst noch nicht einmal weiß, was der Bauer eigentlich ist. Sie bringen ihn in eine solche Lage, daß er genötigt ist, dem Bauern zu schmeicheln und sich bei ihm beliebt zu machen, während er doch vielmehr von vornherein eine gewisse Autorität über ihn ausüben sollte, und nachher klagt man, daß die Priester schlecht sind, daß sie die Manieren der Bauern annehmen und sich gar nicht mehr von den gewöhnlichen Bauern unterscheiden. Ja, da möchte ich doch fragen: wer würde unter solchen Verhältnissen nicht verrohen, selbst wenn er eine gute Vorbereitung und Erziehung besäße? Dagegen mußt du es folgendermaßen machen. Richte es so ein, daß der Priester jeden Tag mit dir zu Mittag speist. Du mußt geistliche Bücher mit ihm lesen, diese Lektüre interessiert und befriedigt uns doch heute weit mehr als alles andere. Was aber die Hauptsache ist, du mußt den Priester überall mitnehmen, wenn du zur Arbeit gehst, damit er von Anfang an als dein Gehilfe bei dir weile und sich persönlich von deinem Verhalten gegen die Bauern überzeugen könne. Hierdurch wird er klar erkennen, was ein Gutsbesitzer und was ein Bauer ist, und wie die Beziehungen zwischen beiden sein müssen. Zugleich aber werden auch die Bauern ihm mehr Achtung entgegenbringen, wenn sie sehen werden, daß er Hand in Hand mit dir geht und mit dir zusammenarbeitet. Sorge dafür, daß er zu Hause keine Not leide, daß sein Haushalt auf sicherem Grunde ruhe und daß er dadurch die Möglichkeit habe, beständig mit dir zusammen zu sein. Glaube mir, er wird sich so an dich gewöhnen, daß er sich langweilen wird, wenn du nicht da bist. Hat er sich aber einmal an dich gewöhnt, so wird er sich ganz unmerklich auch deine Sachkenntnis und Menschenkenntnis und vieles andere Gute aneignen. Denn du besitzst ja gottlob sehr viel von diesen Dingen und du hast die Gabe, dich so klar und gut auszudrücken, daß ein jeder nicht nur deine Gedanken, sondern selbst deine Ausdrucksweise und sogar deine Worte von dir annimmt.

Was nun die Predigt anbelangt, die du für notwendig hältst, so möchte ich dir hierüber folgendes sagen. Ich bin eher der Meinung, daß es für einen Priester, der noch nicht völlig für seine Tätigkeit ausgebildet ist, und der die Leute, die ihn umgeben, noch nicht kennt, besser ist, überhaupt keine Predigten zu halten. Hast du einmal darüber nachgedacht, wie schwierig es ist, eine kluge Predigt zu halten, besonders vor Bauern? Nein, gedulde dich lieber noch ein wenig, mindestens so lange, bis der Priester und du euch ordentlich umgesehen habt. Bis zu dieser Zeit aber möchte ich dir raten, was ich schon einem anderen geraten habe und was ihm, wie ich glaube, von Nutzen gewesen ist. Nimm dir die heiligen Kirchenväter, besonders aber den Johannes Chrysostomus vor. Ich sage: besonders den Chrysostomus, denn dieser war, da er es mit dem ungebildeten Volk zu tun hatte, das das Christentum nur äußerlich angenommen hatte, innerlich aber noch immer dem rohen Heidentum anhing, immer bemüht, sich besonders den Begriffen einfacher und roher Menschen anzupassen, und er spricht so lebendig über die notwendigsten, ja häufig sogar über sehr hohe Dinge, daß man ganze Partien aus seinen Predigten direkt auf unsern Bauern anwenden und an ihn richten kann, denn er wird sie verstehen. Nimm also den Chrysostomus vor und lies ihn zusammen mit deinem Pfarrer, und zwar mit dem Bleistift in der Hand, damit du alle derartigen Stellen anstreichen kannst. Solche Stellen kommen bei Chrysostomus in jeder Predigt dutzendweise vor. Laß ihn dem Volke diese Stellen vortragen. Sie brauchen nicht lang zu sein, es genügt, wenn sie eine Seite oder selbst eine halbe Seite betragen. Je kürzer sie sind, um so besser. Der Priester muß sie jedoch, bevor er sie dem Volke vorträgt, mehrmals mit dir zusammen durchlesen, damit er es lernt, sie nicht nur mit innerem Gefühl und Begeisterung vorzutragen, sondern seinen Worten auch jenen überzeugenden Ton zu verleihen, wie wenn er für eine ihn persönlich angehende Sache eintrete, von der das ganze Heil seines Lebens abhängt. Du wirst sehen, dies wird viel wirksamer sein als eine eigene Predigt. Man muß nur wenig, aber in möglichst treffenden Worten zum Volke reden, sonst kann es sich ebenso an die Predigt gewöhnen wie unsere höchsten Kreise sich an sie gewöhnt haben, die genau so hinfahren, um sich irgendeinen berühmten europäischen Prediger anzuhören, wie sie in die Oper oder in das Schauspiel fahren. Bei K. K. predigt der Priester überhaupt nicht, sondern erwartet die Bauern, da er sie von Grund aus kennt, in der Beichte. Während der Beichte aber redet er jedem von ihnen derartig ins Gewissen, daß dieser die Kirche verläßt, wie wenn er aus einem Schwitzbad käme. S** hat einmal absichtlich dreißig Arbeiter aus seiner Fabrik, und zwar die schlimmsten Gauner und Trunkenbolde, zu ihm in die Beichte geschickt und sich dann selbst in der Vorhalle aufgestellt, um sich die Gesichter anzusehen, die sie machen würden, wenn sie aus der Kirche kämen. Alle kamen rot wie die Krebse heraus, und doch hatte er sie gar nicht einmal lange im Beichtstuhl festgehalten, sondern sich vier bis fünf Mann auf einmal vorgenommen. Während der folgenden zwei Monate aber soll sich, wie S** selbst erzählt, keiner von ihnen in der Kneipe haben sehen lassen, so daß die Gastwirte des Bezirks gar nicht begreifen konnten, was bloß geschehen war.]

Doch nun sei es genug. Arbeite nur ein Jahr lang recht eifrig, dann wird das Werk und die Arbeit schon ganz von selbst so vonstatten gehen, daß du gar nicht erst Hand anzulegen brauchst. Du wirst reich werden wie ein Krösus, ganz im Gegensatz zu jenen kurzsichtigen Leuten, die da annehmen, daß die Interessen des Gutsbesitzers denen des Bauers widersprechen. Du wirst ihnen nicht durch Worte, aber durch die Tat beweisen, daß sie unrecht haben und daß ein Gutsbesitzer, wenn er seine Aufgabe nur mit dem Auge des Christen anschaut, nicht allein die alten Bande, von denen man sagt, daß sie für immer zerrissen seien, durch das gemeinsame Band Christi zu kräftigen und zu befestigen vermag, das stärker und kräftiger ist als jedes andere. Und so wirst du, der du bisher in keinem Wirkungskreise eifrig und mit Hingebung gearbeitet hast, als Gutsbesitzer dem Kaiser einen Dienst leisten, wie ihn kein Mann in hohen Ämtern und Würden zu leisten vermag. Sage was du willst, ihm achthundert Untertanen zu schenken, die allesamt wie ein Mann allen Menschen ihrer Umgebung durch ihren wahrhaft musterhaften Lebenswandel zum Vorbild dienen können — das ist kein unnützes Werk, sondern eine durchaus berechtigte und große Tat.

1846.

XXIII
Der Historienmaler Iwanow
An M. Ju. Weligurski

Ich schreibe Ihnen über Iwanow. Wie unbegreiflich ist doch das Schicksal dieses Menschen! Endlich schienen sich alle über ihn klar zu sein, alle waren überzeugt, daß das Bild, an dem er arbeitet, eine geradezu unerhörte Erscheinung sei, nahmen Anteil an dem Künstler, alles bemühte sich darum, ihm die Mittel zu verschaffen, um sein Bild zu vollenden, [damit der Künstler nicht während der Arbeit sterbe — ich meine dies ganz buchstäblich: nicht vor Hunger sterbe] und noch immer bekommt man nicht das geringste aus Petersburg zu hören; ich flehe Sie an: [um Christi willen suchen Sie doch festzustellen, was das zu bedeuten hat. Es sind so törichte Gerüchte hierher gedrungen, wie wenn die Maler und alle Professoren der Akademie der Künste aus Furcht, das Bild Iwanows könnte alles in Schatten stellen, was unsere Kunst bisher hervorgebracht hat, und aus Neid darauf hinarbeiten, daß ihm die Mittel zur Vollendung des Bildes nicht zur Verfügung gestellt werden. Das ist eine Lüge, davon bin ich fest überzeugt. Unsere Künstler sind vornehme, anständige Menschen und wenn sie erfahren, was der arme Iwanow durch seine beispiellose Selbstentäußerung und Arbeitsliebe zu erdulden gehabt hat, er, der tatsächlich Gefahr lief, vor Hunger zu sterben, so würden sie ihr eigenes Geld brüderlich mit ihm teilen und nicht noch andere zu einer solchen Grausamkeit verleiten. Ja, warum hätten sie Iwanow auch zu fürchten,] er wandelt seine eigenen Bahnen und steht niemand im Wege. Er strebt weder nach einer Professur noch nach materiellen Vorteilen. Er will überhaupt nichts mehr, denn er ist der ganzen Welt abgestorben außer seiner Arbeit. Er bittet bloß [um eine armselige Pension] — um eine Pension, wie sie ein Schüler und ein Anfänger erhält und nicht er, der Meister, der an einem so ungeheuren Werke arbeitet, wie es bisher noch niemand unternommen hat. Und dies [Hunger]gehalt, das ihm alle zu verschaffen bestrebt sind, um das sich alle für ihn bemühen, kann er sich trotz der Bemühungen aller nicht erbetteln. Sagen Sie, was Sie wollen, ich sehe in alledem den Willen der Vorsehung, die es so bestimmt hat, daß Iwanow alles erdulden, alle Leiden bis zur Neige auskosten und alles ertragen sollte. Einen anderen Grund dafür kann ich nicht finden.

Bisher hat man ihm immer den Vorwurf gemacht, er arbeite zu langsam. Man hat immer gesagt: wie? er sitzt acht Jahre lang an seinem Bilde, und noch immer ist das Gemälde nicht vollendet. Jetzt beginnt dieser Vorwurf endlich zu verstummen, wo man sieht, daß der Künstler auch nicht einen einzigen Augenblick von seiner Zeit verloren hat, daß die Skizzen zu dem Bilde, die er angefertigt hat, allein einen ganzen Saal, daß man eine ganze Ausstellung mit ihnen füllen könnte, und daß die ungewöhnliche Größe des Bildes, dem kein zweites an Flächenumfang gleichkommt (das Bild ist größer als die Gemälde von Brjulow und Bruni), außerordentlich viel Zeit und Arbeit erforderte, besonders bei den geringen Geldmitteln, die es dem Maler nicht erlaubten, sich mehrere Modelle zugleich, vor allem aber nicht solche, wie er sie brauchte, zu halten. Mit einem Wort — jetzt beginnen alle endlich zu erkennen, wie töricht der Vorwurf einem solchen Künstler gegenüber war, der wie ein fleißiger Arbeiter sein ganzes Leben lang bei der Arbeit verbracht hat, so daß er kaum noch wußte, ob es in der Welt noch einen anderen Genuß gibt als die Arbeit — wie töricht der Vorwurf war, er sei faul und arbeite zu langsam. Die, die ihm Langsamkeit vorgeworfen haben, werden sich noch mehr schämen, wenn sie erfahren, was der andere geheime Grund dieser Langsamkeit war. Mit der Arbeit an diesem Gemälde verknüpfte sich der eigenste, innerste, geistige Lebenszweck des Künstlers — eine Erscheinung, wie sie in der Welt nur äußerst selten vorkommt und deren Grund nicht im freien Ermessen des Menschen, sondern in dem Willen Dessen zu suchen ist, der über allen Menschen steht. Es war offenbar höhere Bestimmung, daß sich an diesem Bilde die eigentliche Erziehung des Künstlers sowohl nach der Seite manueller Kunstfertigkeit wie nach der Seite der Ideen, die die Kunst ihrer wahren und höchsten Bestimmung entgegenführen, vollziehen sollte. Schon der Gegenstand des Gemäldes ist, wie Sie wissen, höchst bedeutend. Der Maler hat sich eine Stelle aus den Evangelien zum Vorwurf gewählt, die einer Darstellung ganz besondere Schwierigkeiten bietet und die bisher noch von keinem Künstler, nicht einmal von einem Meister einer der uralten, von so inniger Frömmigkeit erfüllten künstlerischen Epochen behandelt worden ist, nämlich — das erste Erscheinen Christi vor dem Volke. Das Bild stellt die Wüste am Ufer des Jordans dar. Im Vordergrunde des Ganzen steht die Gestalt Johannes des Täufers, der vor versammeltem Volke predigt und im Namen Dessen, Den noch niemand gesehen hat, tauft. Er ist von einer Menge nackter oder solcher Menschen, die damit beschäftigt sind, sich an- oder auszuziehen oder die bereits ausgezogen sind, die aus dem Wasser hervorkommen oder im Begriff sind, ins Wasser zu steigen, umgeben. Unter dieser Menge befinden sich auch die künftigen Jünger des Heilands selbst. Jedermann lauscht, während er mit seiner Verrichtung beschäftigt ist und verschiedene Körperbewegungen ausführt, voll innerer Spannung den Reden des Propheten, als wollte er ihm jedes Wort von den Lippen ablesen, alle Gesichter spiegeln die verschiedensten Gefühle wider: ein Teil der Anwesenden ist bereits vollkommen überzeugt, andere zweifeln noch, ein dritter Teil schwankt schon, andere wieder halten ihre Häupter voll Reue und Zerknirschung gesenkt. Es sind auch solche darunter, denen man anmerkt, daß die harte Rinde der Gefühllosigkeit, die ihr Herz umgibt, noch nicht geborsten ist. Und während nun alles von so verschiedenen Gemütsbewegungen ergriffen ist, erscheint Er, in Dessen Namen die Taufe bereits vollzogen ward, in der Ferne — und das ist der eigentliche Höhepunkt des Bildes. Der Künstler hat den Augenblick gewählt, wo der Vorläufer Christi mit dem Finger auf den Heiland hinweist und die Worte spricht: „Siehe, das ist das Lamm, das der Welt Sünde trägt.“ Die ganze Menge aber hält, ohne ihren Gesichtsausdruck zu verändern, ihre Augen auf Den geheftet, und richtet alle ihre Gedanken auf Ihn, auf Den der Prophet hinweist. Zu dem früheren Ausdruck, der noch nicht von den Gesichtern verschwunden ist, kommt nun noch ein neuer hinzu, der den neuen Eindruck widerspiegelt. Die Gesichter der Auserwählten, die ganz vorne stehen, leuchten von einem wunderbaren Licht, während die andern noch bemüht sind, in den Sinn der unverständlichen Worte einzudringen und nicht begreifen können, wie ein einziger alle Sünden der Welt auf sich nehmen kann, und während die Dritten zweifelnd ihr Haupt schütteln, als wollten sie sagen: „Wie könnte ein Prophet aus Nazareth kommen!“ Er aber schreitet mit himmlischer Ruhe und wie in eine wunderbare Ferne entrückt langsamen und festen Schrittes auf die Menschen zu.

Wahrlich es ist keine Kleinigkeit, auf den Gesichtern diesen ganzen Prozeß der Bekehrung des Menschen zu Christus darzustellen! Es gibt Menschen, die davon überzeugt sind, daß für einen großen Künstler alles erreichbar ist: die Erde, das Meer, der Mensch [ja selbst ein Frosch, eine Rauferei, ein Zechgelage oder eine Kartenpartie] wie ein an den himmlischen Vater gerichtetes Gebet, mit einem Wort, daß ihm alles leicht erreichbar sei, wenn er bloß ein talentvoller Künstler ist und die Akademie besucht hat. Ein Künstler kann nur darstellen, was er selbst gefühlt und wovon er sich im Geiste eine vollständige Idee gebildet hat, im andern Falle wird sein Bild ein totes akademisches Gemälde bleiben. Iwanow hat alles getan, was ein anderer Künstler für ausreichend gehalten hätte, um sein Gemälde zu vollenden. Die gesamte materielle Seite daran, alles, was sich auf eine strenge und weise Verteilung der Gruppen auf dem Bilde bezieht, ist mit höchster Vollendung durchgeführt. Auch die Gesichter haben jenen typischen Ausdruck, der dem Geist des Evangeliums entspricht, auch ist der jüdische Typus überall festgehalten. Man erkennt sofort an den Gesichtern, welches Land der Schauplatz dieser Vorgänge ist. Iwanow ist ausdrücklich zu diesem Zwecke überall herumgereist, um jüdische Gesichter zu studieren. Alles, was sich auf eine harmonische Verteilung der Farben, der menschlichen Gewänder und die wohlüberlegte Art, wie sie den menschlichen Körper umhüllen und von ihm gehalten werden, bezieht, ist mit einer solchen Sorgfalt studiert, daß jede Falte die Aufmerksamkeit des Kenners auf sich lenken muß. Endlich ist auch die landschaftliche Seite, auf die ein Historienmaler gewöhnlich nur wenig achtet, die malerische Wüste, in die die Gruppen hineingestellt sind, so ausgeführt, daß selbst die Landschaftsmaler, die sich in Rom aufhalten, staunen. Iwanow hat zu diesem Zwecke viele Monate in den ungesunden Pontinischen Sümpfen und in den Wüsteneien Italiens zugebracht, zahlreiche Skizzen von sämtlichen wilden und öden Gegenden, die sich in Roms Umgebung finden, entworfen, er hat jedes Steinchen und jedes Baumblatt studiert, kurz — er hat alles getan, was er tun konnte, und alles nachgezeichnet, wofür er ein Vorbild finden konnte. Wie aber sollte er das darstellen, wofür bisher noch nie ein Künstler ein Modell finden konnte! Wo konnte er ein Modell dafür finden, was die Hauptsache, die eigentliche Aufgabe seines ganzen Gemäldes bildet? Wie konnte er den Vorgang der Bekehrung der Menschheit zu Christus in seiner Gesamtheit zur Darstellung bringen? Wo sollte er ihn hernehmen? Aus dem Kopfe? Sollte er ihn aus seiner Phantasie erzeugen, ihn mit dem Gedanken erfassen? Nein, das sind alles Torheiten. Dazu ist der Gedanke zu kalt und zu frostig und die Phantasie zu arm und zu matt. Iwanow hat seine Einbildungskraft so gewaltig angestrengt, als er nur vermochte, er war bestrebt, aus den Gesichtern aller Menschen, denen er begegnete, die hohen Gemütsbewegungen der Seele abzulesen. Er ist in die Kirchen gegangen, um die Menschen während des Gebets zu beobachten, und mußte schließlich erkennen, daß dies alles viel zu kraftlos, zu ohnmächtig, daß es ungenügend sei und in seiner Seele nicht die volle Idee von dem, was er brauchte, hervorbringen und befestigen konnte, und das wurde der Anlaß zu bitteren Seelenqualen, und war der Grund, warum sein Bild so langsame Fortschritte machte. Nein, solange sich die wahre Bekehrung zu Christus nicht im Künstler selbst vollzogen hat, wird es ihm nie gelingen, sie auf der Leinwand darzustellen. Iwanow hat inbrünstig zu Gott gebetet, Er möge ihm diese volle Bekehrung zuteil werden lassen, er hat stille Tränen vergossen und Ihn angefleht, Er möge ihm die Kraft verleihen, die ihm von Ihm selbst eingegebene Idee auszuführen, und in einem solchen Moment konnte man ihm den Vorwurf machen, daß er zu langsam arbeite, und ihn zur Eile drängen! Iwanow hat Gott angefleht, Er möge jene kalte Härte und Mattherzigkeit, an der heute viele von den Edelsten und Besten leiden, im Feuer Seiner Gnade zerschmelzen und zu Asche verbrennen und ihn mit der Begeisterung erfüllen, die ihm die Kraft verleihen würde, diese Bekehrung so darzustellen, daß auch der Nichtchrist beim Anblick seines Bildes gerührt und erschüttert dastünde, und in solchen Augenblicken konnten sogar Leute, die ihn persönlich kennen, ja selbst seine Freunde ihm Vorwürfe machen und glauben, er sei träge und faul, ja sie konnten sich ernstlich fragen, ob man ihn nicht durch Hunger und dadurch, daß man ihm alle Mittel entzöge, dazu zwingen könne, sein Bild zu vollenden! Sogar die Mitleidigsten unter ihnen sagten: „Er ist selbst schuld: das große Bild ist etwas für sich, in der Zwischenzeit könnte er kleinere Bilder malen und sie verkaufen, dann brauchte er nicht vor Hunger zu sterben.“ So konnten die Leute reden, ohne zu ahnen, daß ein Künstler, dem sein Werk nach dem Willen Gottes zu einer innersten Seelen- und Herzensangelegenheit geworden ist, schon nicht mehr imstande ist, sich mit irgend etwas anderem zu beschäftigen, daß es für ihn keine Zwischenzeit gibt; sein Denken ist gar nicht mehr fähig, sich auf andere Gegenstände zu richten, so sehr er sich auch dazu zwingen und so sehr er es auch vergewaltigen mag. So ist auch ein treues Weib, das ihren Mann wahrhaft liebt, nicht mehr imstande, einen andern lieb zu gewinnen. Nie wird sie ihre Zärtlichkeit für Geld verkaufen, nicht einmal, wenn sie sich selbst und ihren Mann hierdurch vor der Armut bewahren könnte. Dies war der Seelenzustand Iwanows. Sie werden sagen: „Ja warum hat er dies alles denn nicht niedergeschrieben? Warum hat er seine wirkliche Lage nicht klar dargestellt. Dann hätte man ihm sofort Geld geschickt? Das wäre schön, wenn’s so wäre. Es soll doch einmal einer von uns versuchen, der noch keinen Beweis seines Könnens gegeben hat, der sich selbst noch nicht darüber klar zu werden vermag, was in ihm steckt, sich mit Leuten anderer Berufe auseinanderzusetzen, die aus sehr natürlichen Gründen nicht einmal zu begreifen vermögen, daß es eine höchste Stufe der Kunst gibt, eine solche Stufe, die sie unendlich weit über das Niveau emporhebt, auf dem die Kunst unserer heutigen modesüchtigen Zeit steht. Sollte er etwa sagen: „Ich will ein Werk schaffen, das euch einst in Erstaunen setzen wird, von dem ich jedoch heute nicht zu euch sprechen kann, weil mir selbst heute noch manches nicht ganz klar ist. Ihr aber mögt die ganze Zeit über, während der ich an meiner Arbeit sitze, geduldig warten und mir das Geld zu meinem Lebensunterhalt verschaffen?“ Dann würden sich wahrscheinlich viele Liebhaber finden, die ebenso sprechen würden, und glauben Sie etwa, daß es einen so törichten Menschen gibt, der ihnen Geld geben würde? Aber selbst angenommen, Iwanow hätte sich in dieser Zeit der Unklarheit klar ausdrücken und sagen können: „durch höhere Eingebung ward mir eine Idee zuteil, die mich unablässig verfolgt — ich will die Bekehrung des Menschen zu Christus auf der Leinwand darstellen. Ich fühle, daß ich das nicht tun kann, ehe ich mich selbst wahrhaft zu ihm bekehrt habe. Wartet daher, bis sich diese Bekehrung in mir selbst vollzogen hat und gebt mir bis dahin das Geld, das ich zu meinem Lebensunterhalt und um arbeiten zu können, brauche.“ Ja, hätten wir ihm nicht alle wie aus einem Munde zugerufen: „Was ist denn das für ein törichtes Gerede? Hältst du uns etwa für Narren? Wie hängt denn das zusammen: die Seele und ein Gemälde? Die Seele ist etwas für sich und ein Gemälde ist auch eine Sache für sich. [Warum sollten wir auf deine Bekehrung warten, du sollst auch ohne das ein Christ sein. Wir sind doch auch alle wahrhafte Christen.“] So hätten wir alle zu Iwanow gesprochen, und jeder von uns hätte eigentlich recht gehabt. Wären nicht diese schwierigen Lebensverhältnisse und diese innere Seelenfolter gewesen, die ihn mit Gewalt dazu getrieben haben, Gott mit innigerer, glühenderer Sehnsucht zu suchen, und die ihm die Fähigkeit gaben, seine Zuflucht zu Ihm zu nehmen und so in Ihm zu leben, und in Ihm aufzugehen, wie keiner von den modernen profanen Künstlern in Ihm lebt, und sich durch bittre Tränen die Gefühle zu erringen, die er sich ehedem durch bloßes Nachdenken und bloße Überlegung zu erringen suchte, so wäre er nie imstande gewesen, das darzustellen, wozu er jetzt auf der Leinwand bereits den Grund gelegt hat, und er hätte sowohl sich wie die andern betrogen trotz seines glühenden Wunsches, sie nicht zu täuschen. Glauben Sie nicht, daß es leicht ist, sich während eines solchen inneren Übergangszustandes, wenn nach Gottes Willen ein Umgestaltungsprozeß in dem innersten Wesen des Menschen eingesetzt hat, sich andern Menschen mitzuteilen. Ich kenne das selbst sehr gut und habe es sogar an mir selbst erfahren. Meine Werke hängen in ganz wunderbarer Weise mit meinem Seelenleben und meiner inneren Selbsterziehung zusammen. Mehr als sechs Jahre lang vermochte ich nicht für die Welt zu schaffen. Die ganze Arbeit fand in mir und für mich selbst statt. Und doch — vergessen Sie dies nicht — und doch lebte ich damals, ausschließlich von den Einkünften, die mir meine Werke brachten. Fast alle Welt wußte, daß ich Not litt, und doch waren alle überzeugt, daß dies seinen Grund ausschließlich in meinem Eigensinn hat, daß ich mich nur hinzusetzen und irgendeine kleine Sache niederzuschreiben brauchte, um sehr viel Geld zu verdienen. Allein ich war nicht imstande, auch nur eine einzige Zeile zu schreiben, und als ich einmal dem Rat eines unvernünftigen Menschen folgen und mich dazu zwingen wollte, ein paar kleine Aufsätze für eine Zeitschrift zu schreiben, wurde mir dies so schwer, daß mich mein Kopf schmerzte und mir all meine Sinne wehe taten. Ich schmierte einige Seiten voll, zerriß sie wieder und ruinierte nach zwei, drei Monaten einer solchen Folter meine ganze Gesundheit, die ohnedies schon schlecht genug war, so daß ich mich zu Bett legen mußte. Dazu kamen noch allerhand Nervenbeschwerden und Leiden, die daraus entsprangen, daß es mir völlig unmöglich war, mich gegen irgendeinen Menschen in der Welt über meinen Zustand und meine Lage zu äußern; dies alles brachte mich so herunter, daß ich mich beinahe am Rande des Grabes befand. Und dieses passierte mir zweimal nacheinander. Einmal befand ich mich zu alledem noch in einer Stadt, wo ich nicht einen einzigen mir nahestehenden Menschen hatte. Auch war ich völlig mittellos und lief beständig Gefahr, nicht nur an meiner Krankheit und meinen seelischen Qualen, sondern sogar vor Hunger zu sterben. Das ist schon sehr lange her [ich wurde damals durch den Kaiser gerettet, von dem mir unerwartet Hilfe kam. Hatte ihm eine innere Stimme gesagt, daß sein armer Untertan in seiner unscheinbaren nichtamtlichen Stellung von dem heißen Streben beseelt war, ihm ebenso treu und redlich zu dienen, wie andere ihm in ihren hervorragenden amtlichen Stellungen dienten, oder war es einfach eine Regung der Gnade und Güte, wie wir sie bei ihm gewohnt sind, genug, diese Hilfe richtete mich plötzlich auf. Es war mir in diesem Augenblick sehr angenehm, mich ihm und keinem andern verpflichtet zu fühlen. Zu den Gründen, die mich veranlaßten, mit neuer Kraft an die Arbeit zu gehen, kam auch noch folgender Gedanke hinzu. Wenn Gott mich für würdig halten sollte, mir die Liebe und Zuneigung vieler Menschen zu erwerben und mich der Liebe derer würdig zu erweisen, die mich liebten, dann wollte ich ihnen sagen: „Vergeßt es niemals, ich wäre jetzt vielleicht nicht mehr auf der Welt, wenn der Kaiser nicht dagewesen wäre“]. In solch eine Lage kommt man mitunter. Außerdem muß ich Ihnen noch sagen, daß ich gerade zu dieser Zeit oft den Vorwurf zu hören bekam, ich sei ein Egoist: Viele konnten es mir nicht verzeihen, daß ich mich nicht an Unternehmungen beteiligen wollte, die sie, wie sie glaubten, im Interesse der Allgemeinheit planten. Meine Einwände, ich könne nicht schreiben und ich dürfe nicht für Zeitschriften und Almanache arbeiten, wurden für eine Laune gehalten. Selbst der Umstand, daß ich im Ausland lebte, wurde auf ein sybaritisches Bedürfnis zurückgeführt, die Schönheiten Italiens zu genießen. Ich konnte es nicht einmal meinen nächsten Freunden klarmachen, daß mir nicht nur aus Rücksicht auf meine Krankheit eine zeitweilige Trennung von ihnen selbst ein Bedürfnis war, gerade weil ich nicht in ein falsches Verhältnis zu ihnen kommen und ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten wollte — selbst dies vermochte ich ihnen nicht klarzumachen!

Ich hatte selbst die Empfindung, mein Seelenzustand sei so seltsam geworden, daß ich ihn keinem Menschen auf der Welt in klarer und verständlicher Weise hätte mitteilen können. Wenn ich mich bemühte, einem Menschen wenigstens einen Teil von meinem Selbst zu enthüllen, so stand es mir sofort klar vor Augen, daß ich den Menschen, zu denen ich sprach, mit meinen Worten nur den Kopf verwirrte und umnebelte, und ich bereute bitterlich, daß ich auch nur den Wunsch gehabt hatte, aufrichtig zu sein. Ich möchte darauf schwören: es gibt Situationen von solcher Schwierigkeit, die sich nur mit der Lage eines Menschen vergleichen lassen, der in einem lethargischen Schlaf versunken daliegt, der selbst sieht, wie er lebendig begraben wird — und nicht einmal einen Finger rühren und ein Zeichen geben kann, daß er noch lebt. Nein, Gott bewahre uns vor dem bloßen Versuch, im Moment eines solchen inneren Übergangszustandes einem Menschen unser Herz zu öffnen. Zu Gott allein sollte man seine Zuflucht nehmen; zu niemand sonst. So kam es, daß viele, selbst solche Menschen, die mir sehr nahe standen, ungerecht gegen mich wurden und doch waren sie eigentlich ganz unschuldig daran: ich selbst hätte genau so gehandelt, wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre.

Und ebenso verhält es sich mit dem Fall Iwanow: wenn er vor Armut und aus Mangel an Mitteln sterben sollte, so würden sich alle sofort empört gegen die wenden, die dies zugelassen haben. Vorwürfe und Anklagen gegen die andern Künstler würden laut werden, und man würde sie der Gefühllosigkeit und des Neides bezichtigen. Am Ende würde gar ein dramatischer Dichter ein rührsames Drama über dieses Sujet schreiben, das Publikum bis zu Tränen rühren und Zorn und Abscheu wider die Feinde Iwanows erregen. Und doch wäre dies alles nichts wie lauter Lüge und Unwahrheit, weil in Wahrheit doch eigentlich niemand an seinem Tode schuld wäre. Nur ein Mensch hätte Anlaß, sich einer unehrenhaften Handlungsweise anzuklagen und sich die Schuld zuzuschreiben. Dieser Mensch wäre — ich. Ich habe mich in einer ganz ähnlichen Lage befunden, habe alles am eigenen Leibe erfahren und habe es doch den andern nicht klarmachen können, und das ist der Grund, weswegen ich Ihnen jetzt schreibe. Suchen Sie diese Sache zu arrangieren und in Ordnung zu bringen, sonst nehmen Sie eine schwere Verantwortung auf Ihre Seele. Ich habe sie durch diesen Brief von meinem Herzen abgewälzt. Nun liegt sie auf Ihnen. [Richten Sie es so ein, daß Iwanow nicht nur jene armselige Pension, um die er bittet, bewilligt wird, sondern außerdem auch noch eine Prämie dafür, daß er so lange an seinem Gemälde gearbeitet hat und daß er während dieser Zeit an nichts anderem arbeiten wollte, trotzdem ihn die Menschen und seine eigene Not dazu drängten]. Sparen Sie nicht mit dem Gelde: es wird reiche Zinsen tragen. Schon fängt man überall an, den Wert des Bildes zu erkennen, schon spricht ganz Rom davon, obwohl es sich doch nur nach dem jetzigen Stadium, das die Idee und Absicht des Künstlers noch nicht in vollem Maße widerspiegelt, ein Urteil erlauben kann, schon sagt ganz Rom, daß eine ähnliche Erscheinung seit den Zeiten Raphaels und Leonardo da Vincis noch nicht dagewesen sei. Das Gemälde wird vollendet werden [— dann wird auch der ärmste Fürstenhof in Europa gern soviel dafür bezahlen, wie man heute für ein neu entdecktes Gemälde eines großen alten Meisters auszugeben pflegt]. Solche Gemälde erzielen selten Preise unter 100000 oder 200000. [Richten Sie es so ein, daß ihm die Prämie nicht für sein Gemälde, sondern für seine Selbstaufopferung und seine beispiellose Liebe zur Kunst zugesprochen wird, auf daß dies Beispiel allen Künstlern zur Lehre diene. Wir haben eine solche Lehre nötig, damit alle erkennen, wie man die Kunst lieben soll: daß man allen Lockungen des Lebens absterben müsse wie Iwanow, daß man nicht aufhören dürfe, zu lernen, und sich stets für einen Schüler halten solle wie Iwanow, daß man die größten Entbehrungen auf sich nehmen, ja selbst an Feiertagen sich beim Mittagessen den Extragang versagen muß wie Iwanow, daß man, wenn einem alle Mittel ausgegangen sind, eine einfache Leinwandjacke anziehen und alle leeren Rücksichten des Anstands außer acht lassen muß wie Iwanow, daß man alle Leiden auskosten und selbst bei einer so hohen und feinen Seelenbildung, bei einer so außerordentlichen feinsinnigen Empfindlichkeit für alles, alle bitteren Niederlagen ertragen, ja selbst ruhig dulden muß, daß einzelne einen für verrückt erklären und überall das Gerücht verbreiten, man sei nicht bei Verstande, so daß man es auf Schritt und Tritt mit eigenen Ohren hören muß, wie Iwanow dies getan hat. Für alle diese großen Verdienste sollte ihm eine Prämie zugesprochen werden. Dies ist besonders ein Bedürfnis für unsere jungen Künstler und für die, die ihre Künstlerlaufbahn erst eben beginnen, damit sie ihre Gedanken nicht bloß darauf richten, sich feine Krawatten und Röcke anzuschaffen und Schulden zu machen, um ihr Ansehen in der Gesellschaft zu heben, sondern damit sie erkennen, daß die Hilfe und Unterstützung der Regierung nur solchen unter ihnen zuteil wird, die nicht an feine Röcke denken und von Zechgelagen mit ihren Kameraden träumen, sondern die sich ganz ihrer Aufgabe widmen und in ihr ganz aufgehen wie ein Mönch in der Klosterzelle. Es wäre sogar gut, wenn die Summe, die Iwanow bewilligt würde, recht groß wäre, damit sich alle anderen unwillkürlich hinter den Ohren kratzen. Fürchten Sie nicht, daß er diese Summe nur für seinen eigenen Bedarf verwenden könnte. Vielleicht wird er sich selbst nicht einmal eine Kopeke davon nehmen. Diese Summe wird ganz darauf verwandt werden, um den wirklichen Arbeitern auf dem Gebiete der Kunst, die der Künstler besser kennt als irgendein Beamter, zur Unterstützung zu dienen, und er wird besser darüber verfügen, als ein Beamter dies vermöchte. Weiß Gott, was ein Beamter alles auf dem Kerbholz haben kann; er kann eine Modedame zur Frau, oder er kann Freunde haben, die große Feinschmecker sind und denen er ein feines Mittagessen vorsetzen muß. Ein Beamter kann einen großen Aufwand machen und vielen Glanz entfalten, und wird dann womöglich noch behaupten, daß dies notwendig sei, um das Ansehen der russischen Nation hochzuhalten, um den Ausländern Sand in die Augen zu streuen, und Geld dafür verlangen. Mit dem dagegen, der selbst auf dem Gebiet tätig ist, auf dem er später anderen behilflich sein soll, der den Schrei der Bedürftigkeit und keiner vorgespiegelten, sondern der wirklichen Not vernommen, der selbst gelitten und gesehen hat, wie andere leiden, der mit ihnen gelitten und sein letztes Hemd mit dem armen Arbeiter geteilt hat, während er selbst nichts zu essen und nichts anzuziehen hatte, wie dies Iwanow getan hat, — mit dem verhält es sich ganz anders. Ihm kann man dreist Millionen anvertrauen und sich ruhig schlafen legen. Von dieser Million wird keine Kopeke umsonst verloren gehen]. Also seien Sie billig. Meinen Brief aber zeigen Sie sowohl meinen wie Ihren Freunden, besonders aber denen, denen die Verwaltung eines Ressorts anvertraut ist. Denn fleißige Arbeiter wie Iwanow kommen in allen Berufen vor, und man sollte doch nicht zulassen, daß solche Menschen vor Hunger sterben. Wenn es einmal passieren sollte, daß einer von ihnen sich von den andern zurückzieht und sich intensiver und eifriger seiner Sache widmet, ja selbst in dem Falle, wenn es seine eigene Sache ist und er nur sagt, daß diese Sache, die scheinbar bloß seine eigene Sache ist, einem allgemeinen Bedürfnis dient, müssen Sie so tun, als ob er den Menschen wissentlich diente, und für seinen notwendigen Lebensunterhalt sorgen. Damit Sie sich aber überzeugen, daß hierbei kein Betrug im Spiele ist, weil sich unter dieser Maske leicht auch ein fauler Mensch, der nichts tut, einschleichen kann, so sehen Sie zu, was für einen Lebenswandel er führt. Seine Lebensweise wird Ihnen alles sagen. Wenn er ebenso wie Iwanow alle Anstandsrücksichten und alle Konventionen der vornehmen Welt verachtet und hintan setzt, wenn er eine einfache Jacke anzieht, jeden Gedanken an Vergnügungen und Zechgelage, selbst den Gedanken, sich ein Weib zu nehmen, um eine Familie oder einen Hausstand zu begründen, von sich gewiesen hat und ein wahrhaft mönchisches Leben führt, Tag und Nacht an seiner Arbeit sitzt und jeden Augenblick dem Gebet widmet, dann sind keine langen Überlegungen am Platz, sondern dann muß man ihm die Mittel zur Arbeit verschaffen. Man soll ihn auch nicht drängen und anfeuern, sondern man soll ihn in Ruhe lassen: Gott wird ihn auch ohne uns vorwärts treiben. Ihre Aufgabe ist es nur, dafür zu sorgen, daß er nicht vor Hunger stirbt. Sie sollen ihm auch keine große Pension bewilligen, setzen Sie ihm eine bescheidene, ja armselige Pension aus und halten Sie die Lockungen und Verführungen der Welt von ihm fern. Es gibt Menschen, die ihr ganzes Leben lang Bettler bleiben müssen. Der Bettlerstand ist eine Seligkeit, die die Welt noch nicht recht begriffen hat. Aber wen Gott für würdig gehalten hat, ihre Süßigkeit zu kosten, und wer seinen Bettelsack wirklich lieben gelernt hat, der wird ihn für keine Schätze dieser Welt verkaufen wollen.

1846.

XXIV
Was die Frau ihrem Manne im häuslichen Leben des Alltags und bei den heutigen Zuständen in Rußland sein kann

Ich habe lange darüber nachgedacht, wen von Ihnen beiden ich tüchtig auszanken soll, Sie oder Ihren Mann. Schließlich aber habe ich mich entschlossen, mir Sie vorzunehmen: denn eine Frau ist eher dazu fähig, sich auf sich selbst zu besinnen und sich aufzuraffen. Obwohl Sie beide auf dem Gipfel der Seligkeit zu schweben glauben, ist Ihre Lage meiner Ansicht nach nicht nur keineswegs glücklich, sondern noch weit elender als die jener Menschen, die tief im Unglück und im Elend zu stecken meinen. Sie besitzen alle beide viele gute Eigenschaften, sowohl solche des Gemüts als auch des Herzens, Sie besitzen auch geistige Fähigkeiten, und es fehlt Ihnen nur das eine, ohne das dies alles zu nichts dienen kann. Es fehlt Ihnen an der inneren Disziplin. Keiner von Ihnen ist Herr über sich selbst. Es fehlt Ihnen an Charakter, wenn man unter Charakter einen starken Willen zu verstehen hat. Ihr Mann hat ein Gefühl für diesen inneren Mangel gehabt. Er hat sich gerade deswegen verheiratet, um in seiner Frau ein Wesen zu finden, das ihn zur Tätigkeit und zu wirklichen Leistungen anspornt. Und Sie haben ihn geheiratet, damit er Ihnen in allen Angelegenheiten des Lebens ein Erwecker und Anreger werde. Sie erwarten beide gerade das voneinander, was keiner von Ihnen besitzt. Ich sage Ihnen, dieser Zustand ist nicht nur keineswegs glücklich, sondern sogar gefährlich. Sie beide zerfließen und gehen im Leben auf wie ein Stück Seife im Wasser. Alle ihre Vorzüge und ihre guten Eigenschaften werden spurlos verloren gehen in der Unordnung und der Zuchtlosigkeit Ihrer Handlungen, die allein Ihren Charakter ausmachen werden, und so werden Sie beide die leibhaftige Ohnmacht und Kraftlosigkeit darstellen. Bitten Sie Gott um Kraft und Willensstärke. Durch Gebet kann man alles von Gott erlangen, selbst Kraft und Willensstärke, die sich ein schwacher und kraftloser Mensch bekanntlich auf keine Weise anzueignen vermag. Vor allem handeln Sie vernünftig: bete und rudere auf das Ufer zu, sagt ein russisches Sprichwort. Sprechen Sie jeden Morgen, mittags und abends immer wieder in Ihrem Innern: Lieber Gott, fasse all meine Kräfte und mein ganzes Ich in mir selbst zusammen und stärke mich!“ Und dann tun Sie ein ganzes Jahr lang so, wie ich es Ihnen gleich angeben werde, ohne nachzugrübeln, wozu und zu welchem Zwecke Sie so handeln. Den ganzen Haushalt müssen Sie auf Ihre Schultern nehmen. Alle Ausgaben und Einnahmen sollen durch Ihre Hände gehen. Legen Sie sich kein allgemeines Kassenbuch an, sondern machen Sie gleich zu Beginn des Jahres einen Überschlag über den gesamten Haushalt. Suchen Sie sich eine Übersicht über all Ihre Bedürfnisse zu verschaffen. Überlegen Sie sich im voraus, wieviel Sie bei Ihrem Einkommen in einem jeden Jahr ausgeben dürfen und ausgeben müssen, und rechnen Sie sich alles in runden Summen aus. Teilen Sie Ihr ganzes Geld in sieben nahezu gleiche Haufen. Der erste Haufen sei zur Deckung der Ausgaben für die Wohnungsmiete, die Heizung, Wasserversorgung, Holz sowie alles, was sich auf die vier Wände Ihres Hauses und die Sauberkeit Ihres Hofes bezieht, bestimmt. Der zweite Haufen muß das Geld für die Kost und sämtliche Lebensmittel, den Gehalt des Kochs und den Lebensunterhalt aller, die mit Ihnen in Ihrem Hause leben, enthalten. Der dritte Haufen sei für den Stall, für den Wagen, den Kutscher, die Pferde, Heu, Hafer, kurz für alles, was sich auf diesen Teil des Haushalts bezieht, bestimmt. Aus dem vierten Haufen müssen die Unkosten für die Garderobe, d. h. für alles, was Sie beide brauchen, wenn Sie sich in der Gesellschaft sehen lassen oder wenn Sie zu Hause sitzen, beglichen werden. Der fünfte Haufen enthalte Ihr Taschengeld, der sechste Geld für allerhand außerordentliche Ausgaben, die ja häufig vorzukommen pflegen: wie etwa bei Anschaffung neuer Möbel, einer neuen Equipage, oder für die Unterstützung eines Verwandten, wenn er plötzlich in die Lage kommen sollte, ihrer zu bedürfen. Der siebente Haufen aber sei Gott geweiht, d. h. er diene zur Deckung der Ausgaben für die Kirche und für die Armen. Sorgen Sie dafür, daß Ihnen diese sieben Haufen niemals durcheinander geraten, sondern stets gesondert für sich bestehen bleiben, wie sieben besondere Ministerien. Führen Sie über jeden von ihnen besondere Rechnung. Unter keinem Vorwand aber machen Sie eine Anleihe bei dem einen zugunsten des andern; selbst wenn sich Ihnen während dieser Zeit auch noch so günstige Kaufgelegenheiten bieten sollten, oder wenn ein Gegenstand Sie durch seine Wohlfeilheit noch so sehr zum Kaufe reizen sollte — dürfen Sie ihn nicht kaufen. Das können Sie sich erst erlauben, wenn Sie sich innerlich genügend gefestigt und gekräftigt haben. Jetzt aber dürfen Sie keinen Augenblick vergessen, daß Sie dies alles nur tun, um sich einen starken Charakter zu erwerben, und daß diese Erwerbung fürs erste weit wichtiger für Sie ist als jede andere. Seien Sie daher in solchen Fällen geradezu eigensinnig, bitten Sie Gott, er möge Sie eigensinnig machen. Selbst dann, wenn die Notwendigkeit an Sie herantritt, einem Armen zu helfen, dürfen Sie doch nicht mehr ausgeben, als der für diesen Zweck bestimmte Haufen enthält. Ja selbst dann, wenn sich Ihnen das Bild eines herzzerreißenden Jammers und Elends darbietet, dessen Zeugin Sie sein müssen, und wenn Sie sehen, daß hier durch Geld etwas auszurichten und zu helfen wäre, dürfen Sie dennoch unter keinen Umständen einen von den andern Haufen angreifen. Fahren Sie lieber in der ganzen Stadt herum, besuchen Sie alle Ihre Bekannten und suchen Sie ihr Mitleid zu erwecken; bitten Sie, flehen Sie sie an, seien Sie sogar zu jeder Selbsterniedrigung bereit, damit Ihnen dies eine Lehre sei, und Sie sich ewig daran erinnern, wie Sie einmal vor die bittere Notwendigkeit gestellt waren, einem Unglücklichen Ihre Hilfe zu versagen; wie Sie sich deswegen allen möglichen Erniedrigungen aussetzen und sogar den öffentlichen Spott auf sich lenken mußten, auf daß Ihnen dies nie aus dem Sinn komme, und Sie hierdurch lernen, alle Ihre Ausgaben von jedem Haufen einzuschränken und im voraus daran zu denken, so daß am Ende des Jahres von jedem noch etwas für die Armen übrig bleibe und das Geld nicht nur gerade knapp zur Deckung der Ausgaben ausreiche. Wenn Sie dieses beständig im Kopfe behalten werden, werden Sie niemals ohne dringende Not in einen Kaufladen fahren und sich plötzlich einen Schmuckgegenstand für Ihren Tisch oder Kamin kaufen, wozu bei uns sowohl unsere Frauen wie unsere Männer so leicht geneigt sind. [Die letzten sogar noch mehr, diese sind nicht einmal Frauen, sondern alte Weiber.] Ihre Wünsche und Launen werden auf diese Weise unwillkürlich und kaum merklich immer mehr und mehr zusammenschrumpfen, und schließlich wird es so weit kommen, daß Sie selbst das Gefühl haben werden, Sie brauchten nicht mehr als einen Wagen und ein Paar Pferde und bei der Mittagstafel nicht mehr als vier Gänge, dann werden Sie erkennen, daß man seine Gäste ebensogut mit einem einfach servierten Diner, mit einem einzigen Extragang und einer Flasche Wein, der ohne alle Finessen in einfachen Gläsern verschenkt wird, zu befriedigen vermag. Sie werden nicht vor Scham vergehen, wenn sich in der Stadt das Gerücht verbreitet, bei Ihnen sei es nicht comme il faut, sondern Sie werden selbst darüber lachen, da Sie sich aufs tiefste davon überzeugen werden, das wahre comme il faut sei das, das Der von dem Menschen fordert, Der ihn erschaffen hat, nicht aber irgendein Mensch, der allerhand Satzungen und Systeme für die Diners erfindet, nicht einmal der, der Etiketten austiftelt, die jeden Tag wechseln, ja nicht einmal Madame Sichler in eigener Person. Schaffen Sie sich ein besonderes Kassenbuch für jeden einzelnen Geldhaufen an. Ziehen Sie jeden Monat die Bilanz über die Einnahmen und Ausgaben, die sich auf die einzelnen Haufen beziehen, prüfen Sie am letzten Tage jedes Monats alles nach und vergleichen Sie jedes Ding mit jedem andern, damit Sie erkennen lernen, um wievielmal notwendiger und nützlicher es ist als ein anderes, und damit Sie sich ganz klar darüber werden, auf welchen Gegenstand Sie im Fall der Not zuerst verzichten müssen, und so die Kunst lernen, zu erkennen, was vom Notwendigen das Allernotwendigste ist.

Halten Sie sich während eines ganzen Jahres streng an diese Grundsätze. Werden Sie stark, werden Sie eigensinnig und beten Sie während der ganzen Zeit zu Gott, er möge Ihnen einen starken Willen verleihen — dann werden Sie wirklich stark und fest werden. Worauf es ankommt, ist dies: daß in dem Menschen wenigstens etwas stark und unerschütterlich werde. Hierdurch kommt ganz unwillkürlich auch Ordnung in alles andere. Wenn Sie in Angelegenheiten materiellen Charakters stark werden, werden Sie unwillkürlich in den geistigen und seelischen Angelegenheiten sicheren Boden gewinnen. Machen Sie sich eine feste Zeiteinteilung, setzen Sie für jedes Ding eine bestimmte Stunde fest, und gehen Sie nicht von ihr ab; bleiben Sie nicht den ganzen Morgen bei Ihrem Mann, sondern schicken Sie ihn ins Departement und spornen Sie ihn zur Tätigkeit an. Erinnern Sie ihn jeden Augenblick daran, daß er sich ganz der allgemeinen Sache und dem ganzen Staatshaushalt widmen muß — [sein eigener Haushalt dagegen sei nicht seine Sorge: dieser muß nicht auf seinen, sondern auf Ihren Schultern ruhen], daß er ja gerade darum geheiratet habe, um sich aller kleinen Sorgen zu entschlagen und sich ganz dem Vaterlande zu widmen, und daß ihm die Frau nicht dazu geschenkt ward, um ihm ein Hemmnis zu sein, durch das er in seinem Dienst behindert wird, sondern gerade um ihn für den Dienst zu stärken und zu kräftigen. Ein jedes von Ihnen arbeite den Morgen über für sich, jeder in seinem Kreise, damit Sie sich vor dem Mittagessen in froher Stimmung wieder begegnen und sich so übereinander freuen, als hätten Sie sich viele Jahre lang nicht gesehen, damit Sie sich auch etwas zu erzählen haben und nicht dasitzen und einander angähnen: erzählen Sie ihm alles, was Sie in Ihrem Hause und in Ihrem Haushalt vollbracht haben, und lassen Sie sich alles von ihm erzählen, was er in seinem Departement für den allgemeinen Haushalt geleistet hat. Sie müssen unbedingt darüber unterrichtet sein, worin das Wesen seiner beruflichen Tätigkeit besteht, Sie müssen wissen, was sein Ressort ist, was für Angelegenheiten er an jenem Tag zu erledigen hatte und worin sie bestanden. Achten Sie diese Dinge nicht gering und denken Sie stets daran, daß die Frau ihrem Manne eine Stütze und Helferin sein muß. Wenn Sie sich während eines Jahres alles von ihm erzählen lassen und aufmerksam zuhören, so werden Sie im folgenden Jahre bereits imstande sein, ihm einen Rat zu erteilen, und werden wissen, wie Sie ihn trösten und ermutigen können, wenn ihm im Dienst eine Unannehmlichkeit zustößt, wie Sie ihm behilflich sein können, über sie hinwegzukommen und das zu ertragen, womit er sonst nicht fertig geworden wäre, da ihm der Mut dazu gefehlt hätte. So werden Sie ihm eine wahre Erweckerin zu allem Schönen und Guten werden.

Fangen Sie schon heute an und tun Sie, wie ich es Ihnen soeben gesagt habe. Werden Sie stark, beten Sie, flehen Sie unablässig zu Gott, er möge Ihnen helfen, sich innerlich zu sammeln und sich selbst festzuhalten. Heute fängt bei uns alles an, sich zu lockern und aus den Fugen zu gehen. Die Menschen sind heutzutage allzumal solch traurige jämmerliche Waschlappen geworden, sie haben sich selbst zu Stützen alles Gemeinen und zu Sklaven der kleinsten und törichtesten Umstände und Verhältnisse gemacht, und es gibt heute nirgends etwas wie wahre Freiheit im wirklichen Sinne dieses Wortes. Diese Freiheit hat einer meiner Freunde, mit dem Sie nicht persönlich bekannt sind, den aber ganz Rußland kennt, folgendermaßen definiert: „Die Freiheit besteht nicht darin, daß man zu jeder willkürlichen Laune Ja sagt, sondern darin, daß man auch Nein zu ihr zu sagen vermag.“ Und er hat recht wie die Wahrheit selbst. Heutzutage ist niemand imstande, sich selbst ein solch starkes Nein zuzurufen. Ich vermag nirgends einen Mann zu entdecken. So muß denn das schwache Weib ihn daran mahnen. Heute ist alles so seltsam und so wundersam geworden, heute muß die Frau dem Manne befehlen, er solle ihr Haupt und ihr Gebieter sein.

1845.

XXV
Ueber ländliche Rechtspflege und Gerichtsbarkeit
Aus einem Briefe an M.

Vernachlässigen Sie die Rechtspflege und Gerichtsbarkeit unter keinen Umständen. Beauftragen Sie nie einen Verwalter oder einen andern Mann aus dem Dorfe mit dieser Angelegenheit. Das ist eine Sache, die noch wichtiger ist als die Landwirtschaft. Halten Sie selbst Gericht. Allein hierdurch können Sie das Band zwischen Gutsbesitzer und Bauer kräftigen. Richten — das ist etwas Göttliches, und ich weiß nicht, was es Höheres gibt. Nicht umsonst wird im Volke der so hoch geehrt, der es versteht, ein gerechtes Urteil zu fällen. Nicht nur alle Bauern Ihres Gutes, sogar die Bauern aus anderen umliegenden Dörfern werden zu Ihnen hinströmen, wenn sie erfahren, daß Sie es verstehen, Recht zu sprechen. Achten Sie keinen von denen, die zu Ihnen kommen, für zu gering und übernehmen Sie das Richteramt in allen Fällen, selbst bei einem unbedeutenden Streit oder bei einer Rauferei. Bei solchen Gelegenheiten können Sie dem Bauern vieles sagen, was seiner Seele zu Nutz und Frommen gereichen kann und was Sie ihm zu einer andern Zeit nicht zu sagen vermöchten, da Sie nichts finden könnten, woran Sie anknüpfen sollen.

Sitzen Sie über jeden Menschen in zwiefacher Weise zu Gericht und entscheiden Sie über jede Sache gleichfalls in doppelter Weise. Das Gericht muß erstens ein menschliches Gericht sein. Durch ein solches Gericht muß der Schuldige verurteilt und dem Unschuldigen zu seinem Rechte verholfen werden. Sorgen Sie dafür, daß dies in Gegenwart von Zeugen geschieht, und daß hierbei auch andere Bauern zugegen sind, damit es allen klar werde wie der lichte Tag, in welchem Punkte der eine recht und der andere unrecht hat. Daneben müssen Sie aber noch in anderer Weise nach einem andern Rechte Gericht halten, nämlich nach göttlichem Rechte: hierbei müssen Sie beide, den Schuldigen sowohl wie den, der recht hat, verurteilen. Beweisen Sie dem zweiten aufs deutlichste, daß er selbst daran Schuld war, daß der andere ihn beleidigt hat, und zeigen Sie dem ersten, daß er eine doppelte Schuld auf sich geladen hat: vor Gott und vor den Menschen. Sprechen Sie dem einen Ihren Tadel aus, weil er seinem Bruder nicht verzeihen wollte, wie Christus es uns geboten hat. Dem andern aber sprechen Sie Ihre Mißbilligung aus, weil er Christus selbst in seinem Bruder gekränkt hat. Beiden aber erteilen Sie eine Rüge, weil sie sich nicht von selbst miteinander ausgesöhnt, sondern das Gericht angerufen haben, und nehmen Sie beiden das Versprechen ab, daß sie dem Priester in der Beichte alles beichten und bekennen werden. [Wenn Sie in solcher Weise Recht sprechen werden, werden Sie aus höchster Vollmacht richten, wie Gott selbst, denn Gott wird Sie dazu bevollmächtigen.] Sie werden hieraus vielen Nutzen ziehen, vieles, das Ihnen zugute kommen wird, und viel unmittelbares und wahrhaftes Wissen daraus schöpfen. [Wenn viele Staatsleute nicht gleich mit dem Aktenschreiben, sondern damit beginnen würden, über die einfachen Leute Recht zu sprechen, so würden sie den Geist des Landes, die Eigenart ihres Volkes und die menschliche Seele im allgemeinen weit besser kennen lernen und nicht Neuerungen bei uns einführen, die sie fremden Ländern entlehnen und die nicht zu uns passen.] Die Rechtspflege könnte bei uns weit besser sein als in allen anderen Staaten, denn von allen Völkern ist es allein das russische, in dem der so wahre Gedanke entsprungen und lebendig ist, daß es keinen gerechten Menschen gibt und daß Gott allein gerecht ist. Dieser Gedanke hat sich wie ein unerschütterlicher Glaube durch unser ganzes Volk verbreitet. Von ihm erfüllt, mit ihm ausgerüstet, gewinnt selbst ein einfacher und nicht übermäßig gescheiter Mensch Autorität im Volke, und wird hierdurch befähigt, Streitigkeiten zu schlichten. Nur wir Menschen der höheren Kreise haben kein Gefühl, kein Verständnis für diesen Gedanken, weil wir uns nach dem Vorbild Europas allerhand törichte ritterliche Begriffe von der Gerechtigkeit zurechtgelegt haben. Wir streiten bloß darüber, wer recht hat und wer schuldig ist. Wenn wir jedoch alle unsere Streitigkeiten genau untersuchen, so können wir sie alle auf einen Nenner bringen, nämlich auf den, daß alle beide Teile schuldig sind. Und dann erkennt man, daß die Kommandantin in Puschkins Erzählung „Die Hauptmannstochter“ ganz recht hatte, als sie den Leutnant aussandte, um den Streit des Polizeisoldaten mit dem Weibe zu schlichten, die im Bade wegen einer Schöpfkelle aneinander geraten waren, und die ihm dabei folgende Instruktion mitgab: „Untersuche, wer recht und wer unrecht hat, und bestrafe alle beide.“

1845.

XXVI
Rußlands Schrecken und Grauen
An die Gräfin ***

Auf Ihren langen Brief, den Sie mit solch innerem Grauen geschrieben haben, antworte ich, obwohl Sie mich bitten, ihn, nachdem ich ihn gelesen habe, sofort zu vernichten, und obwohl Sie mich darum ersuchen, Ihnen die Antwort nicht anders als durch die Hand einer zuverlässigen Persönlichkeit und nicht durch die Post zuzustellen, nicht nur keineswegs in aller Heimlichkeit, sondern, wie Sie sehen, in einem gedruckten Buche, das vielleicht von der Hälfte aller Menschen in Rußland, die da lesen können, gelesen werden wird. Was mich dazu veranlaßte, war der Umstand, daß mein Brief vielleicht auch manchen andern als Antwort dienen wird, die sich ebenso wie Sie durch die gleichen Befürchtungen und Schrecken beunruhigen lassen. Das, was Sie mir im geheimen mitteilen, ist nur ein Teil der ganzen Angelegenheit. Wenn ich Ihnen alles erzählen wollte, was ich weiß (und ich weiß ohne Zweifel noch bei weitem nicht alles), dann würde sich Ihr Geist verfinstern, es würde Ihnen dunkel vor den Augen werden, und Sie würden nur noch daran denken, wie Sie aus Rußland entfliehen könnten. Wohin aber soll man fliehen? Das ist die Frage. Die Lage Europas ist noch schwieriger als die Rußlands. Der Unterschied ist bloß der, daß es dort noch niemand einsieht. Alle, und davon sind selbst die Staatsleute nicht auszunehmen, bewegen sich noch immer an der Oberfläche eines oberflächlichen Wissens, d. h. sie kommen nicht aus jenem in einem fehlerhaften Zirkel verlaufenden Wissen heraus, wie es von den Zeitschriften in Form frühreifer Folgerungen und übereilter Feststellungen angeschwemmt worden ist, die, durch das trügerische Prisma aller möglicher Parteien entstellt, gar nicht in ihrem wahren und wirklichen Lichte erscheinen. Warten Sie nur, bald werden gerade in jenen so wohlgeordneten Staaten, deren äußerer Schein und Glanz uns in solche Begeisterung versetzt, die wir uns in allem nachzuahmen bemühen und deren Einrichtungen wir uns anzupassen suchen, von unten herauf, solche furchtbare Schreie ertönen, daß selbst jenen berühmten Staatsleuten, deren Auftreten in den Gerichten und Parlamenten Sie so entzückt hat, der Kopf schwindeln wird. In Europa bereiten sich jetzt überall solche Wirren vor, gegen die kein menschliches Mittel etwas wird ausrichten können, wenn sie erst ausgebrochen sein werden, und gegen die alle Schrecken nichts sind, die wir in Rußland vor unseren Augen sehen. In Rußland schimmert doch noch hie und da etwas wie ein Lichtstrahl hindurch. Es gibt doch noch Mittel und Wege zur Rettung, und diese Schrecken sind, Gott sei Dank, gerade heute und nicht zu einer späteren Zeit zum Vorschein gekommen. Ihre Worte: „Alle lassen den Mut sinken wie in Erwartung eines unvermeidlichen Schicksals“ treffen in der Tat das Richtige, ebenso wie Ihre andre Bemerkung. Jeder denkt nur daran, seine eigene Habe in Sicherheit zu bringen, er denkt nur an seinen eigenen Vorteil, wie auf dem Schlachtfeld nach einer verlorenen Schlacht ein jeder nur daran denkt, wie er sein eigenes Leben retten könne: „sauve qui peut“. So liegen die Dinge heute wirklich, und so muß es auch sein. Gott hat gewollt, daß es so sei. Jeder soll jetzt an sich selbst und zwar gerade an seine eigene Rettung denken. Aber nun handelt es sich um eine andere Art der Rettung. Wir sollen heute nicht etwa ein Schiff besteigen, aus unserem Lande fliehen und all unsern verächtlichen irdischen Besitz in Sicherheit zu bringen suchen, sondern ein jeder von uns soll seine Seele retten, ohne sein Land zu verlassen. Er soll sich selbst zu retten suchen, während er mitten im Herzen des eigenen Staates weilt. Auf dem Schiff seines Berufs und seiner Tätigkeit soll heute ein jeder von uns dem Strudel entfliehen, indem er beständig auf den himmlischen Steuermann hinblickt. Selbst der, der nicht im Staatsdienst steht, soll jetzt in den Dienst des Staates treten und sich an sein Amt klammern, wie ein Ertrinkender nach einer Planke greift, denn ohne dies kann keiner gerettet werden. Heutzutage muß ein jeder von uns den Dienst auf sich nehmen, aber nicht in der Weise, wie in dem Rußland von ehedem, sondern gleichsam, wie wenn er Bürger eines andern himmlischen Reiches wäre, dessen Haupt Christus selbst ist, und daher müssen wir alle unsere Pflichten gegen die Obrigkeit, die über uns gesetzt ist, gegen die Menschen, die uns gleichgestellt sind und die sich um uns herum bewegen, sowie gegen die Menschen niederen Standes, die unter uns stehen, so erfüllen, wie uns kein anderer als Christus selbst dies geboten hat. Daher ist es jetzt auch nicht mehr am Platze, dem eine große Bedeutung beizumessen, wenn irgend jemand unserem Ehrgefühl oder unserer Eigenliebe einen kleinen Stich versetzt — wir müssen immer im Auge behalten, daß wir unser Amt um Christi willen auf uns genommen haben und daß wir es darum so verwalten müssen, wie kein anderer als Christus es uns geboten hat. Nur auf diese Weise kann ein jeder von uns seine Seele retten, und wehe dem, der nicht jetzt schon seine Gedanken darauf richtet. Sein Geist wird sich verdunkeln, seine Gedanken werden sich verfinstern, und er wird keinen Fleck auf der Erde finden, wohin er vor seinen eigenen Schrecken und Grauen entfliehen kann. Denken Sie an die ägyptische Finsternis, die uns König Salomon so gewaltig geschildert hat, als der Herr, um einen Teil der Menschen zu strafen, unerhörte und unbegreifliche Schrecken und Finsternisse auf sie herabsandte. Stockfinstere Nacht umfing sie plötzlich inmitten des hellen Tages; von allen Seiten starrten ihnen furchtbare Fratzen entgegen, morsche klapprige Schreckgespenster mit traurigen Gesichtern schwebten ihnen unaufhörlich vor Augen, ohne stählerne Ketten fesselte sie alle eine furchtbare Angst und raubte ihnen alles: Alle Gefühle, alle Regungen, alle Kräfte schwanden ihnen dahin außer der einen einzigen Furcht, und dies alles geschah nur mit denen, die Gott strafen wollte. Die andern sahen während derselben Zeit keinerlei Schreckbilder, sondern wandelten im Licht und im Tage.

Sehen Sie zu, daß mit Ihnen nichts Ähnliches geschehe. Beten Sie lieber und bitten Sie Gott, daß er Sie erleuchten möge, wie Sie sich in Ihrer Stellung zu verhalten haben und wie sie in ihr alles so erfüllen können, wie Christus es uns geboten hat. Jetzt ist kein Platz mehr für Scherze. Jetzt wird die Sache ernst. Statt sich durch die Unordnung um uns herum erschrecken zu lassen, sollten wir lieber zuvor Einkehr in uns selbst halten. So blicken denn auch Sie in Ihre Seele hinein, weiß Gott, vielleicht werden Sie in ihr dieselbe Unordnung entdecken, um deren willen Sie die andern schelten. Vielleicht nistet darin ein häßlicher, zuchtloser Zorn, der sich jeden Augenblick zur Freude des Feindes Christi Ihrer Seele bemächtigen kann. Vielleicht ist sie von jener schwächlichen Neigung beherrscht, sich bei jeder Gelegenheit dem Kleinmut und der Mutlosigkeit dieser traurigen Tochter des Unglaubens zu ergeben. Vielleicht lebt in ihr der eitle Wunsch, allem nachzujagen, was glänzt und was Ruhm und Ansehen in der Welt genießt. Vielleicht birgt sie Hochmut und Stolz auf die besten Eigenschaften Ihrer Seele, ein Stolz, der alles Gute, alle Güter, die wir besitzen, zu vernichten vermag. Es ist unvergleichlich viel besser, darüber zu erschrecken, was in uns selbst, als darüber, was außer uns und um uns herum vorgeht. Was aber die Schrecken und Grauen Rußlands anbelangt, so sind auch sie nicht ohne Nutzen. Sie waren für viele ein Erziehungsmittel, wie sie keine Schule uns darzubieten vermag. Selbst die Schwierigkeit der Verhältnisse, die dem Verstande neue Schleichwege eröffnet hat, hat bei vielen schlummernde Fähigkeiten geweckt, und zur selben Zeit, wo an dem einen Ende Rußlands noch weiter Polka getanzt und weiter Preference gespielt wird, erstehen, ohne das man es merkt, in den verschiedensten Wirkungskreisen Männer von echter Lebensweisheit und wahre Helden des Lebens. Lassen Sie noch einige zehn Jahre vergehen, und Sie werden sehen, wie Europa zu uns kommen wird, nicht mehr um Hanf und Talg, sondern um Weisheit bei uns einzukaufen, die heute auf den europäischen Märkten nicht mehr feilgeboten wird. Ich könnte Ihnen viele Leute nennen, die einstmals die Zierde Rußlands sein und ihm zu unvergänglichem Heil gereichen werden. Aber zur Ehre Ihres Geschlechts sei es gesagt, daß die Zahl solcher Frauen größer ist als die der Männer. Eine ganze Perlenschnur solcher Frauen halte ich in dem Fach meines Gedächtnisses verschlossen. Sie alle, um mit Ihren Töchtern zu beginnen, die es mir so lebendig zum Bewußtsein gebracht haben, wieviel mächtiger die Seelenverwandtschaft ist als jede Blutsverwandtschaft (Gott gebe, daß die beste Schwester die Bitte Ihres Bruders mit solcher Bereitwilligkeit erfüllen möge, wie Sie jeden kleinsten Wunsch meiner Seele erfüllt haben) — Sie, Ihre Töchter, ferner alle die, von denen Sie kaum etwas gehört haben, und endlich die, von denen Sie vielleicht nie etwas hören werden, die aber noch weit vollkommener sind als die, von denen Sie etwas gehört haben — Sie alle gleichen einander kaum, und jede von ihnen ist für sich genommen eine außergewöhnliche Erscheinung. Nur Rußland allein konnte eine solche Mannigfaltigkeit von Charakteren hervorbringen, und nur in unserer heutigen Zeit mit all ihren schwierigen Verhältnissen, ihrer Entnervung, ihrer allgemeinen Korruption und bei der allgemeinen Nichtigkeit und Armseligkeit unserer Gesellschaft konnten sie erstehen. Sie alle aber werden überragt von einer, die ich nicht persönlich kenne und nicht gesehen habe, und von der nur ein dunkles Gerücht bis zu mir gedrungen ist. Ich habe nie geglaubt, daß es auf der Erde etwas derart Vollkommenes geben kann. Eine so kluge und großmütige Tat zu vollbringen und sie so zu vollbringen, wie sie dies verstanden hat: es so einzurichten, daß nicht einmal der Verdacht, sie könne an dieser Sache beteiligt sein, auf sie falle, und das ganze Verdienst auf die andern abzuwälzen, so daß diese sich des von jener vollbrachten Werks rühmen, als ob es ihr eigenes wäre, in der festen Überzeugung, daß sie selbst es vollbracht haben, — es sich so klug im voraus zu überlegen, wie man dem entgehen könne, daß der Name der Urheberin bekannt wird, während die Sache selbst notwendig laut von sich künden und sie bekanntmachen mußte, und dies alles dennoch zu vollbringen und unbekannt zu bleiben, nein, eine ähnliche hohe Weisheit habe ich noch nie kennen gelernt, bei keinem von unsereinem, d. h. bei keinem Mann, ja mir erschienen in diesem Augenblick alle idealen Frauengestalten, die je von einem Dichter geschaffen wurden, als blaß und matt; im Vergleich zu dieser Wirklichkeit erscheinen sie wie der Fiebertraum der Phantasie gegenüber der vollen Klarheit des Verstandes. Wie armselig erschienen mir in diesem Augenblick auch alle die Frauen, die dem Glanz und Ruhm nachjagen. Und wo konnte ein solches Wunder erstehen? In einem unscheinbaren Flecken, in einem Winkel Rußlands und gerade zu einer Zeit, wo es für den Menschen besonders schwierig geworden ist, sich durchzuwinden und durchzusetzen, wo sich alle unsere Verhältnisse so verwirrt und so verwickelt haben und wo solche Schrecken und Grauen in Rußland erstanden sind, die sie so sehr in Angst und Unruhe versetzen.

1846.

XXVII
An einen kurzsichtigen Freund

Du hast dich mit dem kurzsichtigen Auge der heutigen Menschen bewaffnet und glaubst nun, ein richtiges Urteil über die Ereignisse zu haben. Deine Schlüsse sind morsch und hinfällig, deine Rechnung ist ohne Gott gemacht. Was berufst du dich auf die Geschichte? Die Geschichte ist tot, sie ist nur ein verschlossenes Buch für dich; ohne Gott in Rechnung zu stellen, wirst du nie einen großen tiefen Sinn in ihr finden, sondern nur armselige kleine und nichtige Ergebnisse. [Rußland ist nicht Frankreich, das französische Element ist nicht das russische Element.] Du hast es sogar vergessen, die Eigenart eines jeden Volkes in Betracht zu ziehen, und glaubst nun, daß ein und dieselben Ereignisse die gleiche Wirkung auf jedes Volk ausüben müssen. Der Hammer, der auf ein Stück Glas herabfällt und es in Stücke schlägt, schmiedet das Eisen, auf das er herniedersaust. Deine Gedanken [über die Finanzen] beruhen auf der Lektüre ausländischer Bücher und englischer Zeitschriften und sind darum tote Gedanken. Du solltest dich schämen, daß du, ein so kluger Mensch, dich noch immer nicht selbst gefunden hast und es noch nicht gelernt hast, mit deinem eigenen Verstande, der sich doch so frei und urwüchsig entfalten könnte, zu denken, sondern daß du ihn mit allerhand fremdländischem Plunder verstopft und verunreinigt hast. Ich sehe auch nicht, daß du bei deinen Projekten mit Gott rechnest. Auch aus den Worten deines Briefes kann ich trotz des Geistes und des blendenden Witzes nicht erkennen, daß du an Gott gedacht hast, während du den Brief schriebst. Ich vermisse die himmlische Erleuchtung und Weihe in deinen Gedanken. Nein, du wirst [in deiner Stellung] nichts Gutes vollbringen, obwohl du dies gerne möchtest, und deine Taten werden nicht die Früchte tragen, die du von ihnen erwartest. Mit den schönsten Absichten kann man Böses vollbringen, wie dies schon vielen passiert ist. In der letzten Zeit haben nicht etwa die Dummen, sondern gerade die klugen Leute viel Verwirrung angerichtet, und dies alles kam nur daher, weil sie ihren Kräften und ihrem Verstande zu sehr vertrauten. Du bist stolz, aber worauf bist du stolz? Wenn du noch stolz auf deinen Verstand wärest, aber nein, du hast deinen wahrhaft bedeutenden und großen Verstand mit allerhand Plunder verunreinigt und ihn zu einem Fremdling gemacht, der dir selbst fremd ist. Du bist stolz auf einen fremden, toten Verstand und gibst ihn für deinen eigenen aus. Gib acht auf dich; du gehst einen gefährlichen Weg. Du hast den Ehrgeiz, ein Staatsmann zu werden, und du wirst auch Staatsmann werden, weil du tatsächlich die Fähigkeiten dazu besitzt. Aber um so strenger mußt du jetzt über dich wachen. Führe die Neuerungen nicht ein, von denen dein Kopf schon ganz voll war [noch ehe du deine Stellung angetreten hattest], und denke stets daran, daß man heute durch eine unvorsichtige Handlung unendlich viel Böses anrichten kann. Schon aus deinen gegenwärtigen Projekten spricht mehr Ängstlichkeit als Vorsicht. Alle deine Gedanken sind darauf gerichtet, in der Zukunft einer großen drohenden Gefahr zu entgehen. Statt dessen solltest du lieber nicht um die Zukunft, sondern um die Gegenwart besorgt sein. Gott will es, daß wir für die Gegenwart sorgen sollen. Von dem, dessen Seele durch die Angst um die Zukunft verdunkelt wird, hat die heilige Kraft bereits ihre Hand abgezogen. Wer mit Gott im Bunde ist, der schaut heiter in die Zukunft und ist schon in der Gegenwart der Schöpfer einer glänzenden Zukunft. Du aber bist stolz: du willst auch jetzt noch nichts sehen, du hast ein zu großes Selbstvertrauen: du glaubst schon alles zu wissen, du meinst, daß alle Zustände und Verhältnisse [in Rußland] dir bekannt sind. Du glaubst, daß es niemand gibt, von dem du etwas lernen könntest. Du bist aus allen Kräften darum bemüht, jenen (Staats)-Leuten ähnlich zu sein, die sich durch eine kurze glänzende Laufbahn berühmt gemacht haben und ebenso schnell wieder verschwanden, die alle Mittel dazu besaßen, um sehr viel Gutes zu vollbringen, ja die sogar von dem glühenden Wunsche durchdrungen waren, Gutes zu wirken, und sogar ihr ganzes Leben lang wie die Ameisen arbeiteten und doch trotz alledem keine Spur von sich hinterlassen haben, ja deren Namen bereits völlig vergessen ist: wie ein Ring auf dem Wasser, so ist die Spur von ihrem Leben inmitten Rußlands verschwunden, und noch immer weisen uns die Europäer zu unserer Beschämung auf ihre großen Männer hin, obwohl manch einer von uns, der keineswegs ein großer Mann ist, klüger ist als sie. Sie aber haben doch wenigstens etwas Dauerndes hinterlassen, wir aber schichten einen ganzen Haufen von Taten übereinander auf — die doch zugleich mit uns wie Staub vom Angesicht der Erde hinweggeweht werden. „Du bist stolz,“ sage ich dir, und muß es dir immer wieder sagen: „du bist stolz.“ Wache über dich und rette dich noch rechtzeitig vor deinem Stolz. Beginne damit, daß du dich zu allererst davon zu überzeugen suchst, daß du der dümmste von allen bist und daß du von nun ab erst ernsthaft daran gehen mußt, klüger zu werden. Höre jeden Mann der Tat so aufmerksam an, wie wenn du überhaupt nichts wüßtest und alles von ihm lernen wolltest. Aber meine Worte sind noch ein Rätsel für dich. Sie werden keinen Eindruck auf dich machen. Dann wäre es nötig, daß dich irgendein Unglück trifft oder daß du von einer schweren Erschütterung heimgesucht wirst. Bete zu Gott, er möge dir diese Erschütterung senden, daß dir irgendeine unerträgliche Unannehmlichkeit [im Dienste] zustoßen möge, daß sich ein Mensch finden möge, der dich aufs tiefste beleidigt und in Gegenwart aller beschimpft, so daß du nicht weißt, wo du dich vor Scham verstecken sollst und mit einem Schlage die zartesten und empfindlichsten Saiten deiner Eitelkeit entzweireißest. Er wird dir ein wahrhafter Bruder und Retter sein. O wie sehr haben wir es nötig, einmal öffentlich und in Gegenwart aller eine Ohrfeige zu empfangen.

1844.

XXVIII
An einen hochgestellten Mann

Nehmen Sie um Gottes willen jede Stellung an, die man Ihnen anbietet, und lassen Sie sich nicht irre machen. Ob Sie nun in den Kaukasus zu den Tscherkessen fahren, oder, auch weiterhin die Stellung eines Generalgouverneurs bekleiden werden, Sie sind jetzt überall notwendig. Was aber die Schwierigkeiten anbetrifft, von denen Sie reden, so ist jetzt alles schwierig. Heute ist alles so kompliziert geworden, es gibt überall so viel Arbeit. Je tiefer ich mit meinem Verstande in das Wesen der gegenwärtigen Verhältnisse eindringe, um so weniger vermag ich zu entscheiden, welches Amt, welcher Beruf heute der schwierigste und welcher der leichteste ist. Für einen Menschen, der kein Christ ist, ist heutzutage alles schwierig; für einen solchen dagegen, der Christus in all seine Angelegenheiten und in alle Taten seines Lebens hineinträgt, ist alles leicht. Ich will nicht sagen, daß Sie schon im vollen Sinne des Wortes ein Christ sind, aber Sie sind doch nahe daran, es zu sein. Sie werden nicht mehr von Ehrgeiz gestachelt. Weder die Aussicht auf Titel, Ehren und Auszeichnungen treibt Sie vorwärts. Sie denken nicht mehr daran, sich vor Europa auszuzeichnen und in Szene zu setzen und eine historische Persönlichkeit aus sich zu machen. Kurz, Sie haben bereits jene Stufe, jenen Seelenzustand erreicht, in dem sich ein Mensch befinden muß, der heute Rußland von Nutzen sein will. Was also brauchen Sie zu fürchten? Ich verstehe nicht einmal, wie ein Mensch sich vor etwas fürchten kann, der bereits erkannt hat, daß man überall als Christ handeln muß. Ein solcher Mann ist an jeder Stelle ein Weiser und ist in allen Dingen sachkundig. Wenn Sie in den Kaukasus reisen — so sehen Sie sich dort zunächst einmal gründlich und aufmerksam um. Ihre christliche Demut und Bescheidenheit wird Sie vor jeder Hastigkeit und Übereilung bewahren. Sie werden vor allem lernen wie ein Schüler. Sie werden keinen alten Offizier an sich vorüber gehen lassen, ohne ihn über seine persönlichen Zusammenstöße mit dem Feinde ausgefragt zu haben, denn Sie wissen, daß nur aus der Kenntnis der Einzelheiten die Kenntnis des Ganzen gewonnen werden kann. Sie werden sich von jedem von ihnen ihre Taten und Erlebnisse während des Kriegs- und Biwaklebens erzählen lassen, Sie werden die Tsitsianower und die Jermolower ausfragen ebenso wie die Offiziere der heutigen Epoche, und wenn Sie alle Daten, die Sie brauchen, gesammelt, wenn Sie alle Details kennen gelernt haben werden, werden Sie die einzelnen Ziffern und Posten zusammenfassen und die Summe daraus ziehen. Aus dieser wird sich ganz von selbst ein Feldzugsplan für den Feldherrn ergeben. Sie werden sich nicht erst den Kopf zu zerbrechen brauchen, es wird Ihnen klar sein, wie der lichte Tag, wie Sie zu handeln haben. Und wenn Sie den ganzen Plan in Ihrem Kopfe haben werden, so werden Sie sich auch dann noch nicht übereilen. Ihre christliche Demut wird Ihnen dies nicht erlauben. Sie werden ihn niemand mitteilen, werden alle bedeutenden Offiziere um Rat fragen, wie sie an Ihrer Stelle handeln würden, werden keine Meinung und keinen Rat gering achten, von wem er auch kommen möge, selbst wenn er von einem Menschen in niedriger Stellung herrührt, denn Sie wissen, daß Gott zuweilen auch einem einfachen Manne einen klugen Gedanken eingeben kann. Zu diesem Zwecke werden Sie jedoch keinen Kriegsrat einberufen, da Sie wissen, daß es ja nicht auf Debatten und Streitereien ankommt, sondern Sie werden der Meinung jedes einzelnen, der mit Ihnen reden will, Gehör schenken. Kurz, Sie werden jeden anhören, dann aber so handeln, wie es Ihnen Ihr eigener Verstand gebietet. Ihre eigene Vernunft aber wird Ihnen sicherlich klug raten, denn Sie werden alle anhören. Sie werden nicht einmal imstande sein, unvernünftig zu handeln, denn unvernünftige Handlungen entspringen nur aus Hochmut und übermäßigem Selbstvertrauen, aber die christliche Demut wird Sie überall retten und Sie vor Verblendung bewahren, der sogar viele sehr kluge Menschen zum Opfer fallen, die, wenn sie nur eine Hälfte einer Sache kennen gelernt haben, bereits glauben, die ganze Sache zu kennen und voller Hast und Übereilung zur Tat drängen, während doch selbst von einer Sache, die wir scheinbar von Grund aus zu kennen glauben, uns die gute Hälfte unbekannt und verborgen sein kann. Nein, Gott wird Sie vor dieser groben Verblendung bewahren. Weswegen also brauchen Sie sich vor dem Kaukasus zu fürchten?

Oder nehmen wir an, Sie würden auch weiterhin irgendwo in Rußland Generalgouverneur bleiben, so wird Sie auch hier die gleiche christliche Weisheit erleuchten. Ich weiß sehr wohl, daß es jetzt äußerst schwierig ist, in Rußland den Vorgesetzten zu spielen, — weit schwieriger als jemals und vielleicht auch schwieriger als im Kaukasus: es kommen soviel Mißbräuche vor, die Durchstechereien und die Bestechlichkeit haben so überhand genommen, daß ihre Beseitigung unsere menschliche Kraft übersteigt. Ich weiß auch, daß heutzutage eine besondere Art ungesetzlicher Geschäftspraxis unter Umgehung der Gesetze üblich geworden ist und sich bereits beinahe gesetzliche Geltung verschafft hat, so daß die Gesetze nur noch zum Scheine da sind, und wenn man sich die Dinge, über die andere oberflächlich hinwegsehen, ohne etwas Böses zu ahnen, bloß aufmerksam anschaut, so muß auch dem gescheitesten Menschen der Kopf schwindeln. Aber Sie werden auch hier klug zu handeln verstehen. Die christliche Demut und Bescheidenheit wird Sie auch in solchen Fällen lehren, nicht den Schlüssen des stolzen Verstandes Folge zu leisten, sondern sich geduldig umzusehen und auf Ihrer Hut zu sein. Sie wissen, wie vielen fremden Einflüssen ein jeder Mensch heutzutage ausgesetzt ist und wie sie alle auf seine Berufstätigkeit zurückwirken, und daher werden Sie sich dafür interessieren, die Männer, die die wichtigsten Ämter bekleiden, alle kennen zu lernen und zwar sie nach allen Richtungen kennen zu lernen: in ihrem häuslichen und in ihrem Familienleben, in ihrer Art, zu denken, in ihren Neigungen und ihren Gewohnheiten. Zu diesem Zwecke werden Sie sich jedoch keiner Spitzel bedienen. Nein, Sie werden sie selbst ausfragen, und sie werden Ihnen alles sagen, und sich Ihnen offen mitteilen, denn in Ihrem Wesen liegt etwas, was allen Vertrauen einflößt. Hierdurch werden Sie alles erfahren, was ein Schreier oder ein sogenannter Polterer niemals erfahren würde. Sie werden nie einen einzelnen wegen einer ungesetzlichen Handlung verfolgen, ehe Ihnen nicht die ganze Kette vor Augen liegt, innerhalb deren der von Ihnen ins Auge gefaßte Beamte nur ein notwendiges Glied ist. Sie wissen bereits, daß sich die Schuld heutzutage auf alle verteilt, daß man unmöglich gleich zu Anfang sagen kann, wer mehr Schuld trägt als die andern: es gibt Schuldige, die unschuldig und es gibt Schuldige, die schuldig sind. Aus diesem Grunde werden Sie jetzt weit vorsichtiger und bedächtiger sein, als Sie es jemals gewesen sind. Sie werden tiefer und genauer in die Seele des Menschen hineinzublicken suchen, da Sie wissen, daß sie der Schlüssel zu allem ist. Die Seele muß man heute kennen lernen, immer wieder die Seele, denn ohne dies kann man nichts ausrichten. Die Seele aber kann nur ein Mensch kennen lernen, der bereits begonnen hat, an seiner eigenen Seele zu arbeiten, wie Sie dies jetzt tun. Wenn Sie in dem Gauner nicht nur den Gauner, sondern zugleich den Menschen sehen, wenn sie alle seine geistigen Kräfte und Fähigkeiten, die ihm dazu gegeben wurden, um Gutes zu vollbringen und die er angewandt hat, um Übles zu tun, oder überhaupt hat brachliegen lassen, erkennen werden, dann wird es Ihnen gelingen, ihm so ins Gewissen zu reden und ihn gegen sich selbst auszuspielen, daß er nicht wissen wird, wo er sich vor sich selbst verbergen soll. Die Sache wird plötzlich eine ganz andere Wendung nehmen, wenn man dem Menschen zeigen wird, worin er sich nicht gegen die andern, sondern gegen sich selbst vergangen hat. Hierdurch kann man ihn so sehr in seinem ganzen Wesen erschüttern, daß er plötzlich Mut und Lust bekommen wird, ein anderer zu werden, und dann erst werden Sie erkennen, wie dankbar die Natur eines Russen selbst noch im Gauner sein kann. Ihre gegenwärtige Tätigkeit als Generalgouverneur wird etwas gänzlich anderes darstellen als Ihre ehemalige Tätigkeit. Der Hauptfehler in Ihrer ehemaligen Regierungstätigkeit (die indessen sehr viel Nutzen gebracht hat, obwohl Sie sie jetzt verurteilen und lästern), bestand meiner Ansicht nach gerade darin, daß Sie das Wesen Ihres Berufs nicht ganz richtig bestimmt hatten. Sie hielten den Generalgouverneur für den dauernden Vorgesetzten und den eigentlichen wirtschaftlichen Verwalter und Regenten der Provinz, dessen wohltätiger Einfluß nur bei einem längeren Aufenthalt an ein und demselben Orte der Provinz spürbar werden kann. Einer unser Staatsmänner hat dieses Amt folgendermaßen definiert: „Der Generalgouverneur ist der Minister des Innern, der sich auf der Durchreise befindet.“ Diese Definition ist genauer und entspricht mehr dem, was die Regierung selbst von den Vertretern dieses Amtes verlangt. Dieses Amt ist mehr ein provisorisches als ein dauerndes. Der Generalgouverneur wird darum in die Provinz entsandt, um den Pulsschlag des Staats innerhalb der Provinz zu beschleunigen, in den Gouvernements den ganzen Regierungsapparat in schnellste Bewegung zu setzen, und zwar sowohl in den Instanzen der Provinz, die miteinander in Verbindung stehen, wie in denen, die unabhängig sind und unter der Verwaltung der einzelnen Ministerien stehen; allen einen Anstoß zu geben, durch seine unumschränkte Macht die schwierige Situation vieler Instanzen in ihrem Verkehr mit den weit entfernten Ministerien zu erleichtern, und ohne neue Prinzipien und ohne von sich selbst aus etwas Eigenes einzuführen, alles innerhalb der gesetzlichen Grenzen, die bereits vorgeschrieben und ein für allemal gezogen sind, in eine schnellere Bewegung zu bringen. Diese Gewalt, die in der höchsten Kontrolle und Überwachung alles dessen besteht, was schon vorhanden und bereits eingeführt ist, haben Sie mit der mühevollen Pflicht des Regenten verwechselt, der sich selbst in dem ganzen Haushalt zurechtfinden und mit ihm fertig werden muß und der alle kleinen Ausgaben auf sich zu nehmen hat. Sie haben einen Teil davon, was zu den Obliegenheiten des Gouverneurs und nicht zu denen des Generalgouverneurs gehört, an sich gerissen, und haben damit die Bedeutung Ihres höchsten Amtes verringert, Sie haben Ihre Stellung für eine lebenslängliche gehalten. Sie wollten in Ihren eigenen Schöpfungen und Einrichtungen ein Denkmal, ein Erinnerungszeichen an Ihren Aufenthalt hinterlassen. Ein edles Streben. Aber wenn Sie schon damals das gewesen wären, was Sie jetzt sind, d. h. wenn Sie mehr Christ gewesen wären, dann hätten Sie für ein anderes Denkmal Sorge getragen. Wege, Brücken und allerhand Verkehrsmittel zu schaffen und sie so klug anzulegen, wie Sie dies getan haben, ist in der Tat eine notwendige Sache, aber manchen inneren Weg zu ebnen, auf dem der Russe bei seinem Streben nach voller Entfaltung seiner Kräfte bisher noch aufgehalten und daran gehindert wird, aus den Landstraßen wie aus allen anderen Äußerlichkeiten der Bildung, um die wir heute so eifrig bemüht sind, Nutzen zu ziehen, ist eine noch notwendigere Sache. Wenn Puschkin sah, daß man sich nicht um das Wesen einer Sache, sondern um etwas bemühte, was nur eine Folge der eigentlichen, der Hauptsache war, pflegte er sich gewöhnlich des russischen Sprichworts zu bedienen: „Wenn nur erst der Zuber da ist, an den Schweinen wird es nicht fehlen.“ Die Brücken, die Wege und all diese Verkehrsmittel, das sind die Schweine und nichts anderes: wenn nur erst Städte da sind, dann werden sie schon von selbst kommen. In Europa hat man sich viel um sie bemüht und viel Sorgen um sie gemacht. Als jedoch die Städte entstanden, entstanden auch die Verkehrswege von selbst: Privatleute haben sie erbaut ohne jede Unterstützung der Regierung, und jetzt haben sie sich in solch ungeheurem Maße vermehrt, daß man sich schon ernstlich die Frage vorzulegen beginnt: Wozu brauchen wir nur so schnelle Verkehrsmittel? Was hat die Menschheit durch all diese Eisenbahnen und andere Bahnen gewonnen, was hat sie auf allen Gebieten ihrer Kulturentwicklung gewonnen, und was hat es für einen Wert, daß heute eine Stadt verarmt, und eine andere dafür zu einem Trödelmarkt wird und daß die Zahl der Müßiggänger auf der ganzen Welt so zunimmt. In Rußland wäre dieser ganze Plunder schon längst von selbst entstanden und zwar mit all dem Zubehör von Bequemlichkeiten, wie sie selbst in Europa nicht vorhanden sind, wenn sich nur viele von uns zuerst, wie es sich gehört, um ihre inneren Angelegenheiten bekümmert hätten. „Denket zuerst daran,“ sagt der Heiland, „alles andere wird euch von selbst zufallen.“ Ihre Leistungen auf moralischem Gebiete waren viel bedeutender. Wen ich auch gehört habe, alle urteilen mit großer Achtung über Ihre Verfügungen, alle sagen, Sie hätten viele Mißbräuche ausgerottet und sehr viel wahrhaft edle und vorzügliche Beamte angestellt. Ich habe davon gehört, obwohl Sie es mir aus Bescheidenheit nicht mitgeteilt haben. Aber Sie hätten noch mehr geleistet, wenn Sie damals in Betracht gezogen hätten, daß Ihre Tätigkeit nur provisorischer Art ist und daß Sie nicht nur dafür hätten sorgen sollen, daß alles gut steht, solange Sie da sind, sondern vielmehr dafür, daß auch nach Ihrem Scheiden alles in bester Ordnung sei. Sie hätten sich fortwährend vorstellen sollen, daß Ihr Amt nach Ihnen von einem schwachen und unfähigen Nachfolger besetzt werden wird, der die von Ihnen eingeführte Ordnung nicht nur nicht aufrechterhalten, sondern Sie auch in Verfall kommen lassen wird, und daher hätten Sie von vornherein daran denken müssen, etwas so Starkes und Dauerndes zu schaffen und das Geschaffene so zu befestigen und so stark zu verwurzeln, daß nach Ihnen schon niemand mehr imstande wäre, umzustoßen, was Sie einmal in Gang gebracht haben. Sie hätten die Axt an die Wurzel des Übels legen sollen und nicht an die Stämme und Zweige, und Sie hätten dem allgemeinen Getriebe einen solchen Impuls geben sollen, daß die Maschine nach Ihrem Fortgang von selbst arbeitet und daß kein Aufseher es mehr nötig hätte, neben ihr zu stehen, um sie zu beaufsichtigen, und hierdurch erst hätten Sie sich ein ewiges Denkmal Ihrer Generalgouverneurschaft errichtet. Jetzt weiß ich, daß Sie ganz anders handeln werden, aber darum dürfen Sie dieses Amt nicht gering achten, wenn es Ihnen aufs neue angeboten wird. Noch niemals war ein Generalgouverneur eine so wichtige und notwendige Persönlichkeit wie in unserer Zeit. Ich will Ihnen einige Leistungen nennen, zu denen heutzutage niemand fähig ist außer dem Generalgouverneur.

Die erste ist folgende: Alle Stände und Berufe in ihre gesetzlichen Grenzen zurückzuführen und einem jeden Provinzbeamten die Pflichten, die sein Beruf ihm auferlegt, zu vollem Bewußtsein zu bringen; das ist keineswegs unnütz. In der letzten Zeit sind alle Berufe und Ämter der Provinz in ganz unmerklicher Weise aus ihren Grenzen und Schranken getreten, die ihnen vom Gesetze vorgeschrieben werden. Die Kompetenzen der einen sind viel zu sehr beschnitten und begrenzt, andere wieder in ihrer Bewegungsfreiheit auf Kosten der Übrigen allzusehr erweitert worden. Die eigentlichen Hauptinstanzen haben durch die Schaffung einer großen Zahl abhängiger und provisorischer Stellungen an Macht und Kraft verloren. In der letzten Zeit hat es sich besonders fühlbar gemacht, daß gerade dort, wo man hemmend eingreifen sollte, die Macht und die Kompetenzen viel zu unbeschränkt waren und die Handlungsfreiheit zu groß war, und andererseits machte sich wiederum der Umstand bemerkbar, daß einem die Hände gebunden waren, wo man fördernd eingreifen mußte. Es ist jetzt soviel schwieriger geworden, jeden Beruf in den ihm durch das Gesetz angewiesenen Wirkungskreis zurückzuführen, weil die Beamten selbst an ihren Begriffen von ihrem Beruf irre geworden sind. Sie übernehmen ihn als Erbschaft von ihrem Vorgänger und zwar genau in der Gestalt, die ihm von jenem gegeben worden ist. Sie nehmen mehr oder weniger Rücksicht auf diese Form und Gestalt und nicht auf das eigentliche Urbild, das ihnen schon völlig aus dem Bewußtsein entschwunden ist. Aus diesem Grunde haben schon viele wohlmeinende und sogar kluge Vorgesetzte die Ämter, die man bloß sich selbst wiederzugeben brauchte, gänzlich aufgehoben oder doch von Grund aus umgestaltet. Das aber kann nur von dem höchsten und souveränen Vorgesetzten ausgehen, wenn er es nicht verschmäht, sich selbst gründlich über das Wesen eines jedes Berufes zu unterrichten. Alle unsere Ämter und Berufe stellen in ihrer ursprünglichen Form wirklich gute und schöne Einrichtungen dar und sind geradezu wie geschaffen für unser Land. Sehen wir uns zu diesem Zwecke einmal den ganzen Organismus eines Gouvernements etwas näher an.

Die erste Person ist der Gouverneur. Seine Kompetenzen sind sehr umfangreich. Er ist der Vorgesetzte und der unumschränkte Regent und Leiter von allem, was mit der wirtschaftlichen und polizeilichen Verwaltung des ganzen Gouvernements, d. h. sowohl mit der städtischen (hierunter verstehe ich alles, was sich auf die inneren Einrichtungen der Städte und die Aufrechterhaltung der Ordnung in ihnen bezieht) als auch mit der Verwaltung der Landschaften zusammenhängt, wozu ich alles rechne, was in den Gegenden, die außerhalb des Stadtbildes liegen, geschieht: die Erhebung der Steuern, die Verteilung der Lasten, die Anlage von Straßen und allerhand Bauangelegenheiten und Reparaturen. Im ersten Falle hängen der Polizeimeister der Provinz und die Bürgermeister aller Städte völlig von ihm ab und stehen ihm gänzlich zur Verfügung; im zweiten Falle kann er über den Hauptmann der Landpolizei und die Assessoren der Landschaft verfügen, die durch die Gouvernementsverwaltung, welche nach der Art der Kollegialverwaltungen aus Räten zusammengesetzt ist und kein eigenes Bureau mit einem Sekretär darstellt, mit ihm verkehren, so daß die Verantwortlichkeit bei jedem schweren Mißbrauch, den sich der Gouverneur zuschulden kommen läßt, unbedingt auf die Räte und die Beamten fällt und daß er trotz all seiner unumschränkten Gewalt dennoch in gewissem Sinne beschränkt ist. Er ist mehr als ein bloßes Mitglied der Verwaltung und ein Zeuge des Geschäftsganges in den andern staatlichen Organen, die gar nicht von ihm abhängen und unter ihren eigenen besonderen Ministerien stehen. Wenn diese Instanzen irgendwelche Abmachungen treffen oder Verträge schließen, die sich auf die Verpachtung oder den Rückkauf von Staatsländereien, Seen oder überhaupt über irgendwelche Ein- oder Verkäufe beziehen und irgendwelche Abkommen hierüber eingehen, so muß er schon zugegen sein. Es darf kein staatlicher Auftrag vergeben und kein Vertrag geschlossen werden, ohne daß er anwesend ist. Demnach werden auch die Instanzen, die hinsichtlich ihrer inneren Geschäftsführung gar nicht von ihm abhängen, doch durch seine Anwesenheit daran gehindert, irgendwelche Mißbräuche zu begehen.

Der ganze Apparat der Justiz, wie z. B alle Kreisgerichte und ihre höchste Instanz, das Zivilgericht, scheint, da dieses völlig von seinem Ministerium abhängig ist, ganz unabhängig vom Gouverneur zu sein, und doch werden diese Instanzen auf Schritt und Tritt durch den Gouverneur daran gehindert, Mißbräuche zu begehen, da dieser während seiner Inspektionsreisen durch die Provinz, die mindestens zweimal im Jahre stattfinden, das Recht hat, dem Gericht einen Besuch abzustatten und zu verlangen, daß ihm zwei oder drei Gerichtsentscheidungen vorgelegt werden, die er auf gut Glück herausgreifen kann, um sie bei sich zu Hause mit seinem Sekretär nachzuprüfen und auf diese Weise alle in Schrecken zu halten. Kurz, obwohl er keinerlei Oberhoheit über die Instanzen hat, die von anderen Vorgesetzten abhängen, hat er doch das Recht, überall Mißbräuche zu verhindern, wo solche immer vorkommen mögen. Auf den Adel kann er lediglich einen moralischen Einfluß ausüben. Im übrigen ist es so eingerichtet, daß er es in seinem amtlichen Verkehr mit dem Adel, mit dem eigenen Vertreter des Adels, dem Adelsmarschall der Provinz zu tun hat und sich lediglich durch diesen mit dem ganzen Adel in Beziehung und ins Einvernehmen setzt; an diesem Punkte tritt die Weisheit des Gesetzgebers mit besonderer Deutlichkeit zutage, denn auf eine andere Weise wäre es dem Generalgouverneur gänzlich unmöglich, sich mit dem Adel in Beziehung und ins Einvernehmen zu setzen, wenn man nämlich die große Verschiedenheit in der Erziehung, in den Sitten, der Denkweise und die ungeheure Mannigfaltigkeit und Vielgestaltigkeit der Charaktere in unserem Adelstande in Betracht zieht, wie sie in keinem europäischen Adelsgeschlechte vorkommt und wie sie sich bei uns in unserem Adel verkörpert hat. Der Rang des Adelsmarschalls ist dem des Gouverneurs beinahe gleich, denn der Adelsmarschall hat nächst dem Gouverneur Anspruch auf den ersten Platz in der Provinz; schon allein dadurch werden beide auf die Notwendigkeit hingewiesen, gute Freundschaft zu halten, da ihre gesellschaftlichen Beziehungen sonst etwas Gezwungenes haben, und da sie sich in ihrem amtlichen Verhältnis unfrei und beengt fühlen würden. Auch die Ämter des Polizeihauptmanns und der Assessoren, die beide vom Adel gewählt werden, aber ganz von dem Gouverneur abhängen, weisen darauf hin, wie notwendig es ist, daß beide Teile sich gegenseitig unterstützen. Der Adelsmarschall kann auch in solchen Fällen sehr viel ausrichten, wo seine eigene Macht beschränkt ist, indem er sich auf den Gouverneur beruft und mit ihm droht; und ebenso vermag der Gouverneur durch den Adelsmarschall weit erfolgreicher und kraftvoller auf den Adel einzuwirken.

Fehler und Versehen können überall vorkommen, überall können sich Unrecht, Lüge und Trug einschleichen; selbst der Gouverneur kann fehlen und irren. Doch auch dieser Fall ist vorgesehen: dafür gibt es eine besondere Persönlichkeit, die von niemand abhängt, und die allen, selbst dem Gouverneur gegenüber ihre Unabhängigkeit wahren muß — das ist der Staatsanwalt, der das Auge des Gesetzes ist, ohne das kein Stück Aktenpapier über die Grenzen der Provinz hinausgelangen kann. Keine Angelegenheit kann vor einer Instanz des Gouvernements zur Verhandlung kommen, ohne ihm vorgelegt zu werden. Es kann kein Beschluß gefaßt werden, ohne daß er zuvor jede Seite mit dem Vermerk „Gelesen“ versehen hat. Er selbst aber hat niemand in der ganzen Provinz über sich; er hat niemand Rechenschaft abzulegen außer dem Justizminister; nur mit diesem steht er in unmittelbarem Verkehr, und er kann jederzeit gegen alles, was in der Provinz unternommen wird, Beschwerde einlegen.

Mit einem Wort, es fehlt nirgends an etwas, und aus allem spricht die Weisheit des Gesetzgebers; aus der Einsetzung der einzelnen staatlichen Autoritäten sowohl wie aus der Art ihres Verkehrs miteinander. Ich rede nicht einmal von den Institutionen, die auf einen noch größeren Weitblick der Regierung schließen lassen; ich will nur an das Gewissensgericht erinnern, denn etwas Ähnliches ist mir in keinem anderen Staate bekannt geworden. Meiner Überzeugung nach ist das der Gipfel der Menschenliebe und der Herzenskenntnis. Alle Fälle, in denen ein Konflikt mit dem Gesetz als eine Last und als Härte empfunden werden würde, alle Angelegenheiten, an denen Jugendliche oder Geisteskranke beteiligt sind, alles, worüber nur das menschliche Gewissen zu entscheiden vermag, und jene Fälle, wo selbst die Anwendung des gerichtlichen Gesetzes zur Ungerechtigkeit würde; kurz alles, was im höchsten Sinne des Christentums in liebevoller und friedlicher Weise und unter Vermeidung aller Weiterungen vor höheren Instanzen entschieden und erledigt werden muß — fällt unter die Kompetenzen dieses Gerichts. Wie weise ist doch die Einrichtung, daß die Wahl des „Gewissensrichters“ vom Adel abhängt, denn der Adel wählt hierzu gewöhnlich einen Mann, den die allgemeine Stimme für den menschenfreundlichsten und uneigennützigsten Menschen erklärt. Wie gut ist es ferner, daß er keinerlei Gehalt oder Lohn für seine Mühe erhält, und daß diese Tätigkeit für den Menschen mit keinerlei weltlichen Lockungen verbunden ist! Eine Zeitlang war ich von dem lebhaften Wunsch beseelt, dieses Amt zu übernehmen. Wieviel verwickelte Streitfälle kann man da schlichten! Die Parteien werden ihre Streitigkeiten ohne Rücksicht auf ihren eigenen Vorteil dem Gewissensgericht unterbreiten, so wie es bekannt wird, daß der Richter tatsächlich nach bestem Wissen und Gewissen entscheidet und daß er sich durch die Verwaltung seines göttlichen Richteramts berühmt gemacht hat. Denn wer von uns sehnt sich nicht nach Frieden und Versöhnung?

Kurz, je genaueren Einblick man in den Verwaltungsorganismus unserer Provinzen gewinnt, um so mehr staunt man über die Weisheit der Gesetzgeber: man hat das Gefühl, Gott selbst habe die Herrscher und Regenten mit unsichtbarer Hand geleitet und gelenkt. Hier fehlt es an nichts, ist alles vollendet, alles ist so darauf angelegt, daß wir uns gegenseitig die Hand reichen, uns zu guten Handlungen anfeuern und uns gegenseitig helfen und fördern, nur die Wege zu Mißbräuchen sollen uns verbaut werden. Ich kann mir nicht einmal denken, was ein besonderer Beamter hier noch sollte, jede neue Person wäre hier nicht am Platze, jede Neuerung wäre eine überflüssige Zutat. Und doch haben sich, wie Sie ja selbst wissen, in den Provinzen Regierungsbeamte gefunden, die es verstanden, diesen ganzen Mechanismus noch durch eine Schar von Beamten mit besonderen Aufträgen und eine lange Reihe von provisorischen Kommissionen und Untersuchungskommissionen zu belasten, die die Funktionen jeder Instanz noch weiter geteilt und zerlegt und den Beamten so den Kopf verwirrt haben, daß sie jeden Begriff von den genauen Grenzen ihres Berufs verloren. Es ist sehr gut, daß Sie es nicht auch so gemacht haben, Sie verstanden die Sache nämlich schon damals viel besser, als die andern. Sie wissen zu gut: einen neuen Beamten anstellen, der einem andern auf die Finger sehen soll, damit er nicht soviel stiehlt, das bedeutet soviel, wie zwei Diebe statt eines schaffen. Überhaupt ist dies System der gegenseitigen Beschränkung und Überwachung eine höchst kleinliche Methode. Man kann die Wirkungssphäre eines Menschen nicht durch die eines anderen beschränken, schon im folgenden Jahre wird sich die Notwendigkeit herausstellen, auch den unter Aufsicht und Kontrolle zu stellen, den man angestellt hat, um die Macht des ersten zu beschränken, und so würden die gegenseitigen Einschränkungen kein Ende nehmen. Das ist ein trauriges und törichtes System; gleich allen andern negativen Systemen konnte es sich nur in Kolonialstaaten herausbilden, die sich aus allerhand zusammengelaufenen Völkern zusammensetzten, kein nationales Ganzes bildeten und von keinem gemeinsamen Volksgeist beseelt wurden, bei solchen Völkern gibt es weder so etwas wie Selbstaufopferung noch vornehme Gesinnung, solche Nationen lassen sich nur von ihrem persönlichen Eigennutz leiten. Man muß Zutrauen zum Adel menschlicher Gesinnung haben, sonst kann es überhaupt keinen Adel der Gesinnung geben. Wer da weiß, daß man ihn mit Mißtrauen ansieht, wie einen Gauner, und ihm überall Aufseher zugesellt, die ihn überwachen sollen, der läßt unwillkürlich die Hände sinken. Man muß den Menschen die Hände lösen und sie nicht noch fester binden. Man muß darauf dringen, daß sich jeder allein beherrschen lernt, damit er nicht von andern festgehalten zu werden braucht; er muß weit strenger gegen sich sein, als das Gesetz, und selbst einsehen lernen, worin er sich an seinem Amte versündigt. Kurz, man muß ihm einen Begriff von dem Wesen seiner höheren Aufgabe beibringen. Das aber vermag allein der Generalgouverneur, wenn er es nicht verschmäht, sich selbst über das wahre Wesen jedes Amts und Berufs zu unterrichten, sich an die Stelle jedes Beamten zu versetzen, den er zum vollen Verständnis seiner Pflichten erziehen möchte, und in Gedanken mit ihm zusammen den Dienst zu verrichten. Hierdurch wird Ihr ganzer Verkehr mit den Beamten einen persönlichen Charakter annehmen; Sie werden dazu keiner Sekretäre und keiner Schreibereien auf totem Aktenpapier bedürfen; infolgedessen werden Sie nur ein kleines eigenes Bureau haben, das keine Ähnlichkeit mit jenen ungeheueren riesenhaften Kanzleien haben wird, wie sie sich andere Regierungsbeamte einrichten. Diese ungeheueren Bureaus aber sind, wie Sie selbst wissen, ein großer Schaden, denn sie tragen dazu bei, allen Beamten ihre eigentliche Arbeit abzunehmen, eine neue Instanz und folglich neue Schwierigkeiten zu schaffen, ja sie sind der Anlaß, daß ganz unmerklich neue Persönlichkeiten mit wichtigen Machtvollkommenheiten auftauchen, z. B. irgendein gewöhnlicher Sekretär, den häufig niemand bemerkt und durch dessen Hände dennoch alle Akten gehen; ein solcher Sekretär schafft sich eine Geliebte an, dies führt zu Intrigen und Streitigkeiten, und bald ist der Teufel in eigener Person da, der doch jederzeit auf der Lauer liegt. Das Ende vom Liede aber ist dies: daß abgesehen von der Heraufbeschwörung neuer Verwirrungen und Verwickelungen noch unübersehbare Summen von Staatsgeldern verschlungen werden. Gott bewahre Sie davor, sich ein Bureau einzurichten. Setzen Sie sich nie anders als persönlich mit jemand auseinander. Wie kann man bloß gering von einem Gespräch mit einem Menschen denken, besonders wenn es sich dabei um etwas, was ihm nahe liegt, um seinen Beruf und seine Pflichten, und folglich um seine Seele selbst handelt? Wie kann man nur ein törichtes Zeitungsgeschwätz und totes Gerede über allerhand Schwindelnachrichten, wie sie aus den verlogenen europäischen Zeitschriften geschöpft werden, einem solchen Gespräch vorziehen? Die Pflicht der Menschen ist ein Gegenstand, über den man sich so unterhalten kann, daß es beiden Teilnehmern so scheint, als sprächen sie in Gottes eigener Gegenwart mit den Engeln. Nun denn, so reden auch Sie auf diese Weise mit Ihren Untergebenen, d. h. reden Sie so mit ihnen, daß ihre Seele Nahrung und Belehrung aus dem Gespräch schöpft! Vor allem aber — und dies dürfen Sie nie vergessen — sprechen Sie russisch mit ihnen. Damit meine ich nicht jene Sprache, der wir uns jetzt in der Praxis des täglichen Lebens bedienen und die hierbei der Verhunzung verfällt, auch nicht die Büchersprache oder die Sprache, die sich zu einer Zeit herausgebildet hat, als bei uns noch allerhand Mißbräuche an der Tagesordnung waren, sondern jene echte wahrhafte russische Sprache, deren unsichtbare Schwingungen das ganze russische Land durchdringen, trotz unserer Ausländerei in unserem eigenen Lande, jene Sprache, die zwar noch nicht mitbeteiligt ist an dem Werke unseres Lebens und die wir doch alle als die wahre russische Sprache empfinden. In dieser Sprache heißt der Vorgesetzte: Vater. Seien auch Sie ihnen das, was ein Vater seinen Kindern ist. Ein Vater aber führt keine papierene Korrespondenz mit seinen Kindern, sondern verständigt sich direkt und unmittelbar mit einem jeden von ihnen. Wenn Sie es so machen werden, werden Sie jedem das echte Verständnis für seinen Beruf mitteilen und eine wahrhaft große Leistung vollbringen.

Und nun will ich Ihnen noch eine Aufgabe nennen, die niemand lösen kann, außer einem Generalgouverneur, und die heute nicht bloß einem Bedürfnis, sondern geradezu einer dringenden Notwendigkeit entspricht; es ist dies die Aufgabe, dem Adel eine richtige Auffassung von seiner Bestimmung beizubringen. Der Adel in seinem wahrhaft russischen Wesenskern ist etwas sehr Schönes, trotz der fremdländischen Schale, von der er zeitweilig überwachsen ist. Aber unser Adel hat noch kein Gefühl dafür. Vielen dämmert zwar schon eine dunkle Ahnung davon auf, andre jedoch wissen noch immer nicht das Geringste davon, wiederum andere nehmen sich den Adelsstand fremder Länder zum Vorbild, und schließlich gibt es noch solche, die sich nicht einmal die Frage stellen, ob es überhaupt einen Adel auf der Welt zu geben brauchte? Aber selbst wenn sich unter ihnen einige Leute befinden, die ein Paar vernünftige und klare Gedanken über diese Frage haben, so dringen diese Gedanken doch noch nicht in die Massen, und die Masse hört sie noch nicht. In der letzten Zeit hat sich in unserem Adelsstande zu alledem wieder ein Geist des Mißtrauens gegen die Regierung verbreitet. Während der letzten europäischen Revolutionen und Wirren aller Art waren einige Bösewichte besonders bemüht, in den Kreisen unseres Adels das Gerücht zu verbreiten, als suche die Regierung die Bedeutung des Adels herabzusetzen und ihn bis zur völligen Bedeutungslosigkeit herabzudrücken. Allerhand Flüchtlinge, Emigranten und Leute, die es nicht gut mit Rußland meinten, schrieben allerlei Aufsätze und füllten die Spalten der ausländischen Zeitungen mit ihnen an, in der Absicht, Feindschaft zwischen der Regierung und dem Adel zu säen: einerseits wollte man dem russischen Kaiser beweisen, daß es eine phantastische Partei von Bojaren gäbe, die an der regierenden Gewalt selbst rüttelten, und andererseits wollte man dem Adel einreden, daß der Kaiser ihm nicht wohlwolle und diesen Stand überhaupt nicht schätze, das heißt, diese Leute wollten eine solche Suppe in Rußland einbrocken und solche Wirren hervorrufen, die ihnen Gelegenheit geben sollten, selbst eine Rolle zu spielen. Man spekulierte darauf, daß Furcht und gegenseitiges Mißtrauen etwas Schreckliches sind und allmählig selbst die heiligsten Bande zu zerreißen vermögen. Aber Gott sei Dank, die Zeiten sind vorüber, wo ein paar verrückte Menschen einen ganzen Staat in Aufruhr bringen konnten. Dieser Versuch blieb nichts als ein phantastisches Projekt; dennoch aber haben die Funken des gegenseitigen Mißtrauens und Mißverstehens gezündet, und ich kenne viele Adelige, die ganz ernstlich davon überzeugt sind, daß der Kaiser den Adelstand nicht liebt, und die sogar tief betrübt darüber sind. Bringen Sie diese Sache ins reine und klären Sie diese Leute über die ganze Wahrheit auf, ohne ihnen das Geringste vorzuenthalten. Sagen Sie ihnen, daß der Kaiser diesen Stand mehr liebt als alle anderen Stände, aber freilich nur den Adel in seinem echt russischen Wesen, nur jene schöne edle Form und Gestalt des Adels, die dem eigentlichen Geiste unseres Landes entspricht. Es kann ja auch gar nicht anders sein. Sollte er etwa die Zierde, die Blüte seines Landes nicht lieben? Denn bei uns ist der Adel die Blüte des eigenen Volkes und nicht ein fremdes eingewandertes Element. Allein der Adel muß selbst zeigen, was er ist, und die Bedeutung seines Berufs beweisen, denn so wie er jetzt ist, bei diesem völligen Mangel eines einheitlichen gemeinsamen Besitzes, bei dieser Verschiedenartigkeit der Anschauungen, der Erziehung, der Lebensweise und der Gewohnheiten, bei dieser falschen und verworrenen Ansicht über sich selbst kann der Adel niemand eine wirkliche, wahrhafte Vorstellung davon mitteilen, was der Adel in unserem Lande eigentlich darstellt. Daher kann auch der weiseste Mann heute nicht wissen, was er mit diesen Leuten anfangen soll. Der Adel muß sich selbst seine wahre und volle Bedeutung wieder erobern. Und dabei können Sie allen in wahrem Sinne behilflich sein, denn Sie sind doch selbst ein russischer Edelmann, und da Sie Verständnis für die Bedeutung unseres Adels besitzen, werden Sie sie auch den Leuten am besten klarmachen können. Dazu bedarf es nicht etwa vieler Worte, denn das, was Sie ihnen erklären werden, liegt ja schon im Keim angelegt in ihrer Brust. Unser Adel ist in der Tat eine ganz ungewöhnliche Erscheinung. Dieser Stand hat sich bei uns ganz anders herausgebildet als in anderen Ländern. Er führt seinen Ursprung nicht etwa auf eine gewaltsame Invasion eines fremden Stammes zurück, er ist nicht aus Vasallen und ihrem Heeresgefolge hervorgegangen, die sich in beständiger Auflehnung gegen die höchste Gewalt befinden und die Bedrücker der unteren Klassen sind; unser Adel leitet seinen Ursprung von Diensten her, die er dem Kaiser und dem ganzen Lande geleistet hat, von Leistungen, die auf sittlichen Vorzügen und Verdiensten und nicht auf roher Gewalt beruhten. Unser Adel kennt den Stolz auf irgendwelche Vorzüge und Privilegien seines Standes nicht, wie man ihn wohl in anderen Ländern findet, der Hochmut der deutschen Aristokraten ist ihm fremd; bei uns prahlt niemand mit seinem Geschlecht oder mit dem alten Ursprung seiner Familie, obwohl unsere Aristokratie die älteste ist — dies tun höchstens ein paar Anglophile, die diese Gewohnheit während ihrer Reisen in England angenommen haben; es mag wohl hin und wieder einmal vorkommen, daß sich jemand seiner Ahnen rühmt, doch auch dann nur solcher, die ihrem Kaiser und ihrem Land wirkliche treue Dienste geleistet haben, dagegen soll er es nur versuchen, mit einem Ahnherrn zu prahlen, der ein schlechter Kerl war, seine eigenen Standesgenossen würden sofort ein Epigramm gegen ihn loslassen. Es gibt nur eine Sache, der sich ein jeder zu rühmen wagt, — das ist das Gefühl für sittlichen Anstand, das ihm Gott selbst in die Brust gelegt hat. Und wenn es darauf ankommt, diese höchste innere Vornehmheit durch die Tat zu beweisen, so bleibt bei uns kein einziger hinter dem andern zurück, selbst wenn es der schlechteste von ihnen allen ist und wenn er ganz tief in Schmutz und Asche drinsteckt. Der Adel ist bei uns etwas wie ein Gefäß für diesen sittlichen Anstand, der sich über das ganze russische Land verbreiten muß, damit alle anderen Stände einen Begriff davon erhalten, warum der höchste Stand die Blüte des Volkes genannt wird. Wenn Sie ihnen annähernd das sagen werden, was ich Ihnen hier sage, und was die lauterste Wahrheit ist, und wenn Sie sie auf den Wirkungskreis hinweisen werden, der sich jetzt vor ihnen allen auftut: auf den Wirkungskreis, in dem sie ihren Namen verewigen und ihm ein dauerndes Leben in der Nachwelt sichern können, wenn Sie es ihnen völlig klarmachen werden, daß das ganze russische Land um Hilfe schreit und daß man dem Lande nur durch große, hochherzige Taten helfen kann, daß man aber vor allem denen mit großen Taten vorangehen soll, denen Adel und Vornehmheit schon bei der Geburt geschenkt wurden, so werden Sie sehen, daß ihre Herzen mit dem Ihren zusammenklingen werden, wie zwei Becher bei einem Festmahl. Verheimlichen Sie ihnen nichts, sondern eröffnen Sie ihnen die volle Wahrheit. Sollen sie etwa dieselben Dinge aus lügenhaften Berichten ausländischer Zeitungen erfahren und soll man etwa allerhand Brauseköpfe ihnen den Kopf verwirren lassen? Decken Sie ihnen die ganze Wahrheit auf. Sagen Sie ihnen, daß Rußland wirklich unter den räuberischen Praktiken und unter den Betrügereien zu leiden hat, die heute mit einer Dreistigkeit ihr Haupt erheben, wie noch nie zuvor, und daß dem Kaiser das Herz so weh tut, wie niemand von ihnen es ahnt oder glaubt und auch nur ahnen kann. Ja und könnte es denn anders sein beim Anblick dieses Knäuels neuer Verworrenheiten und Verwickelungen, die sich zwischen den Menschen aufgetürmt, sie voneinander getrennt und jedermann die Möglichkeit geraubt haben, Gutes und wahrhaft Nützliches für sein Vaterland zu leisten, angesichts endlich dieser allgemeinen Verfinsterung und Entfremdung gegenüber dem Geist des Vaterlandes, angesichts endlich all dieser Erpresser und Gauner, dieser käuflichen Rechtsverdreher und Räuber, die wie die Raben von allen Seiten herbeigeflogen kommen, um uns bei lebendigem Leibe zu fressen und im Trüben nach ihrem elenden Vorteil zu fischen. Wenn Sie ihnen das sagen und ihnen sodann beweisen werden, daß Sie jetzt vor der großen Aufgabe stehen, dem Kaiser einen wahrhaft edlen und hohen Dienst zu leisten: nämlich ebenso hochherzig wie ihre Väter einstmals in Reih und Glied wider die Feinde des Landes traten, nunmehr in die unscheinbarsten Posten und Stellungen einzurücken, selbst wenn diese von elenden Pöbelmenschen entehrt und in den Kot gezerrt sein sollten, so werden Sie sehen, wie unser Adel sich aufraffen wird. Man wird sich kaum retten können von all den Leuten, die den Wunsch haben, sich dem Staatsdienst zu widmen und die allerunbedeutendsten Stellungen einzunehmen. Und nach geleisteten Diensten werden sie keinen Lohn, keine Auszeichnungen, ja nicht einmal irgendwelche Vorrechte und Privilegien für sich verlangen, zufrieden, daß sie ihre hohen inneren Vorzüge ans Licht stellen konnten. Kurz — machen Sie ihnen bloß die Hoheit ihrer Bestimmung klar, und Sie werden sich von der Vornehmheit ihres Wesens überzeugen. Sie können sie auch auf eine zweite große Aufgabe hinweisen, der sie sich widmen können: auf die Erziehung der ihnen anvertrauten Bauern; sie sollen Menschen aus ihnen machen, die ganz Europa zum Vorbild ihres Standes werden, denn heute fangen manche Leute in Europa ernsthaft an, über die alte patriarchalische Lebensordnung nachzudenken, deren Fundamente überall, außer in Rußland, verschwunden sind, und man beginnt schon laut über die Vorzüge unseres ländlichen Lebens zu reden, nachdem man die Ohnmacht und Unfähigkeit aller heutigen Institutionen und Einrichtungen, sich aus eigener Kraft zu verbessern und zu reformieren, erkannt hat. Daher müssen wir den Adel dazu bewegen, das wahrhaft russische Verhältnis zwischen Gutsbesitzer und Bauer zu erforschen, nicht aber den verlogenen unwahren Zustand, wie er sich infolge ihrer schmählichen Gleichgültigkeit gegen ihre eigenen Güter, die sie der Obhut fremder Tagelöhner und Verwalter überließen, herausgebildet hat, — wirklich und wahrhaftig für die Bauern zu sorgen, wie für ihre eigenen Blutsverwandten und nicht wie für fremde Leute; ja Sie sollten sie lehren, ihre Bauern anzusehen wie ein Vater seine Kinder. Hierdurch allein können sie diesen Stand dazu machen, was er wirklich sein soll, diesen Stand, der bei uns wie mit Vorbedacht weder den Namen der Freien noch der Sklaven, sondern den Namen Krestjane (Bauern), nach dem eigenen Namen Christi trägt. Dies alles kann der Generalgouverneur dem Adel sehr gut klarmachen, wenn er nur zur rechten Zeit daran denkt, sich’s überlegt und selbst zum vollen Verständnis der Bedeutung unseres Adels gelangt. Und dies wird die zweite unter Ihren großen Leistungen sein.

Und nun zur dritten Leistung, die gleichfalls niemand außer dem Generalgouverneur zu vollbringen vermag. Alle europäischen Staaten haben heute unter der Kompliziertheit aller Gesetze und Verordnungen zu leiden. Überall macht sich eine eigentümliche Erscheinung bemerkbar: die eigentlichen bürgerlichen Gesetze sind über ihre Grenzen und Schranken hinausgewachsen und sind in fremde Gebiete eingedrungen, die außer ihrem Bereich liegen. Einerseits haben sie einen Einbruch in ein Gebiet vollzogen, das lange Zeit unter der Herrschaft der Volkssitten stand, andererseits aber sind sie in ein Bereich eingedrungen, das ewig unter dem Zepter der Kirche verbleiben muß. Dieser Prozeß hat sich nicht etwa gewaltsam vollzogen, dieser Austritt der bürgerlichen Gesetze aus ihrem Bett geschah ganz von selbst, da sich überall leere unausgefüllte Lücken darboten, die einem solchen Einbruch keinen Widerstand bereiteten. Die Mode unterwühlte die alten Sitten, die Geistlichkeit wandte sich immer mehr von dem geraden einfachen Leben in Christo ab und überließ so alle privaten Verhältnisse der Menschen und das Privatleben ihrem Schicksal. Die bürgerlichen Gesetze nahmen beide, wie verlassene Waisen unter ihre Obhut, und gerade dies war der Grund, weswegen die Gesetze so verwickelt wurden. Denn an und für sich sind sie gar nicht sehr zahlreich und weitläufig, und wenn wir wieder dazu zurückkehren, was von Rechts wegen der Herrschaft der Sitte untersteht und ein ewiges Besitztum der Kirche ist, wird das ganze bürgerliche Gesetz in einem Buche Platz finden können, das nur lediglich die großen Abweichungen von der sozialen Ordnung und die eigentlichen staatlichen Verhältnisse enthält. Heute sieht jedermann, daß eine große Menge von Fällen, von Mißbräuchen und Intrigen nur dadurch entstehen konnte, daß die philosophisch gebildeten Gesetzgeber Europas von vornherein sämtliche möglichen Abweichungen bis in ihre feinsten Einzelheiten feststellen wollten und damit jedermann, selbst den besten und vornehmsten Leuten, einen Weg zu unendlichen und ganz unberechtigten Prozessen ebneten; früher hätten diese Leute es für unanständig gehalten, einen solchen Prozeß zu beginnen, heute dagegen wagen sie es dreist, da sie aus irgendeinem Paragraphen, oder einer Verfügung die Möglichkeit oder die Hoffnung herauslesen, ein einstmals verlorenes Gut wieder zu erlangen oder auch nur einem andern sein Besitzrecht streitig zu machen. Und nun geht so ein Mensch gleich aufs Ganze, wie ein Held sich zum Sturm rüstet, und nimmt überhaupt keine Rücksicht auf seinen Gegner; mag dieser dabei auch sein letztes Hemd verlieren oder mit seiner ganzen Familie betteln gehn. Ein leidlich menschenfreundlicher Mensch ist heute fähig, ganz offen die größten Grausamkeiten zu begehen, ja er rühmt sich ihrer noch, während er sich schon des bloßen Gedankens schämen würde, wenn ein Diener der Kirche beide Parteien, statt ihnen ihren persönlichen Vorteil vorzuhalten, vor das Angesicht Christi stellen wollte und wenn es Sitte würde, daß, wie es in der Tat die Regel sein sollte, in allen verwickelten, dunklen, kasuistischen Fragen, kurz in allen Fällen, wo die Weiterungen vor den Instanzen drohen, die Kirche und nicht das bürgerliche Gesetz die Menschen miteinander zur Versöhnung bringt. Es ist nur die Frage: wie ist das zu bewerkstelligen? Wie soll man es einrichten, daß dem bürgerlichen Rechte tatsächlich nur die Fälle zugewiesen werden, die wirklich unter das bürgerliche Recht fallen, daß der Herrschaft der Sitte wiedergegeben werde, was unter der Herrschaft der Sitte verbleiben muß, und daß der Kirche wieder zurückerstattet werde, was ihr ewiglich angehört? Kurz, wie soll alles wieder an seinen rechten Platz gebracht werden? In Europa ist es unmöglich, solches zu vollbringen: Dazu müßten Ströme von Blut vergossen werden, Europa würde in unnützen Kämpfen erliegen und doch nichts erreichen. In Rußland aber ist die Möglichkeit hierzu vorhanden: in Rußland könnte es sich ganz unmerklich und schmerzlos vollziehen — nicht durch irgendwelche Neuerungen, Umwälzungen oder Reformen, ja nicht einmal mit Hilfe von allerhand Sitzungen oder durch Bildung von Komitees, nicht durch Debatten, Zeitungsgerede und Zeitungsgeschwätz, in Rußland kann ein jeder Generalgouverneur eines Gebietes, das seiner Obhut anvertraut ist, den Grund dazu legen; und wie einfach! — Durch nichts andres als nur durch sein eignes Leben. Durch die patriotische Schlichtheit seiner Lebensweise und die einfache Art seines Umgangs mit allen Leuten kann er die Herrschaft der Mode mit ihrer leeren, hohlen Etikette beseitigen und die russischen Sitten befestigen, die wirklich gut sind und mit Nutzen auf unser gegenwärtiges Leben angewandt werden können. Er kann eine mächtige Wirkung in der Richtung ausüben, daß die Beziehungen zwischen den Stadtbewohnern untereinander wie die der Gutsbesitzer unter sich schlichter und einfacher werden, denn die Beseitigung dieser komplizierten gesellschaftlichen Verhältnisse, wie sie heute bestehen, muß unbedingt auch die Streitigkeiten und die Unzufriedenheit beseitigen, die sich wie ein Wirbelwind zwischen den Bewohnern der Städte erhoben haben. Und ebenso wie zur Einführung und Befestigung der Sitten kann der Generalgouverneur dazu beitragen, daß die Kirche heute ihre rechtmäßige Stellung im Leben des Russenvolkes wiedergewinnt: er kann dies erstlich durch sein eigenes Beispiel, durch sein Leben, und zweitens auch durch bestimmte Maßnahmen erreichen — aber nicht etwa durch erzwungene und gewaltsame Maßregeln, sondern durch solche, die weit wirksamer sind als jede Gewalt. Hierüber wollen wir später einmal miteinander reden, wenn Sie wirklich eine Stellung angenommen haben werden; bis dahin aber will ich Ihnen nur dies sagen: wenn schon die einfache Sitte mächtiger ist als jedes geschriebene Gesetz — und was ist denn übrigens die Sitte, wenn man sie ganz streng betrachtet? Mitunter hat sie überhaupt keine Bedeutung für unsere Zeit, man kennt den Grund nicht, weswegen sie eingeführt wurde, man weiß nicht, woher sie stammt, und fühlt und merkt nichts von einer Autorität, die sie eingesetzt hätte; mitunter aber ist sie sogar ein Überbleibsel aus den Zeiten des Heidentums, das im absoluten Gegensatz zum Christentum und zu allen Grundlagen des modernen Lebens steht — wenn nun nach alledem schon die Sitte etwas so Mächtiges ist, daß es schwierig ist, sie selbst im Laufe von vielen Jahren auszurotten — wie würden sich wohl die Dinge gestalten, wenn man Sitten einführen wollte, die sich auf die Vernunft gründen, die einstimmig und einmütig von allen anerkannt werden und die höhere Billigung und den Segen Christi und Seiner Kirche erhalten würden? Eine solche Sitte würde sich von Jahrhundert zu Jahrhundert fortpflanzen, und keine Macht der Erde würde sie vernichten können, was die Welt auch für Erschütterungen heimsuchen sollten. Aber das ist ein gewaltiger Gegenstand, über ihn muß man vernünftig reden, und dazu bin ich zu dumm. Vielleicht werde ich später einmal, wenn Gott mir hilft und mich erleuchtet, etwas darüber zu sagen haben. An Arbeit wird es Ihnen also nicht fehlen. Darin also suchen Sie stark zu werden; greifen Sie daher mit fester Hand zu, wenn Ihnen das Amt eines Generalgouverneurs angeboten werden sollte. Sie werden es jetzt so verwalten, wie es verwaltet sein muß, und sich dabei im Einklang mit den Wünschen und Forderungen der Regierung befinden — d. h. Sie werden das ganze Gebiet wie eine frischen Mut spendende Kraft durchziehen, alles aufrütteln, alle erfrischen, Begeisterung um sich verbreiten, allem einen frischen Impuls geben und dann in eine andere Provinz reisen, um dort das Gleiche zu wirken. Sie werden selbst sehen, daß dieser Beruf immer nur provisorisch sein kann, sonst hätte er keinen Sinn, denn der innere Organismus eines Gouvernements ist etwas in sich Abgeschlossenes und Vollendetes, und bedarf keines weiteren Regierungsbeamten außer dem Bürgergouverneur. So gehen Sie denn mit Gott und fürchten Sie sich vor nichts! Aber selbst wenn Sie ein andres Amt übernehmen sollten, halten Sie sich stets an die gleichen Grundsätze. Vergessen sie niemals, daß die Zeit ihres Wirkens begrenzt ist. Richten Sie alles so ein, ordnen Sie alle Angelegenheiten in der Weise, daß sich alles, nicht nur so lange Sie da sind, sondern auch nach Ihrem Weggang in geordneter Weise abwickelt, daß Ihr Nachfolger kein Ding von seiner Stelle zu rücken vermag, sondern sich unwillkürlich auch selbst innerhalb der von Ihnen gezogenen Grenzen betätigen und die von Ihnen vorgezeichnete, vernünftige Richtung einhalten muß. Christus wird Sie lehren, Ihr Werk dauernd, für alle Zeiten zu begründen und zu befestigen. Seien Sie allen Ihren Untergebenen, seien Sie Ihren Beamten im wahren Sinne des Wortes ein Vater und seien Sie einem jeden dabei behilflich, seine Pflicht und Schuldigkeit treu und redlich zu tun. Reichen Sie jedem freundlich die Bruderhand, wenn er sich von seinen eigenen Fehlern und Lastern befreien will. Suchen Sie auf alle Einfluß zu gewinnen, aber nur in der Absicht, jeden zu lehren, wie er selbst auf sich Einfluß gewinnen kann. Sorgen Sie ferner dafür, daß keiner sich allzusehr auf Sie verläßt und stützt wie auf seinen eigenen Stab, so wie die römisch-katholischen Damen sich ganz auf ihre Beichtväter stützen, ohne deren Erlaubnis sie es nicht einmal wagen, aus einem Zimmer ins andere zu gehen, warten sie doch stets auf die Beichtstunde, um sich beim Priester Rat einzuholen; der Mensch muß vielmehr wissen, daß die Wärterin ihm nur für eine bestimmte Zeit und nicht für immer beigegeben wird, und daß, wenn der Lehrer ihn im Stiche läßt, der Zeitpunkt gekommen ist, wo er noch eifriger und sorgfältiger auf sich acht geben muß als früher, stets eingedenk, daß es nun niemand mehr gibt, der über ihn wacht, und jede Lehre, die ihm gegeben ward, treu wie ein Heiligtum in seinem Gedächtnis bewahrend. Sorgen Sie auch dafür, daß es beim Abschied, wenn Sie Ihr Amt niederlegen sollten, keine Tränen und kein Gejammer gibt, sondern daß ein jeder noch frischer und mutiger in die Zukunft sehe, und daher sparen Sie sich alles, was Sie einem jeglichen zu seiner Belehrung sagen möchten, sorgsam für den Tag des Abschieds auf: an diesem Tage werden alle Ihre Worte ihnen heilig sein, und was sie sonst nicht anerkannt und wonach sie sich sonst nicht gerichtet hätten, das werden sie jetzt willig aufnehmen und danach handeln. Für mich ist die Stunde des Abschieds von meinen Freunden — der schönste Augenblick; jeder meiner Freunde, der jetzt von mir Abschied nimmt, tut es frohen Mutes, und seine Seele ist heiter. Das werden Ihnen alle bezeugen, die in der letzten Zeit Abschied von mir genommen haben. Ich bin sogar davon überzeugt, daß wenn ich einmal sterben werde, alle die mich lieb gehabt haben, fröhlich und heiteren Mutes von mir Abschied nehmen werden. Keiner von Ihnen wird weinen, und alle werden nach meinem Tode weit fröhlicher sein als bei meinen Lebzeiten, und endlich will ich Ihnen noch etwas über die Liebe und die allgemeine Sympathie für uns sagen, nach der viele so sehr haschen. Sich die Liebe anderer erschmeicheln zu wollen — das ist ein falsches Streben, das den Menschen nicht beschäftigen sollte. Streben Sie danach, — die andern Menschen zu lieben, und nicht danach, daß andere Menschen Sie lieben. Wer einen Lohn für seine Liebe verlangt, der ist ein gemeiner Mensch und noch weit vom Christentum entfernt. O wie dankbar bin ich, daß Gott mir schon in meiner Jugend diese merkwürdige und mir selbst kaum verständliche Abneigung gegen jegliche unpassende, überflüssige Gefühlsergüsse eingepflanzt hat; ich habe ihnen stets zu entfliehen gesucht, wie etwas Unangenehmem und Widerwärtigem, selbst wenn sie von Verwandten oder Freunden herrührten! Wie wichtig ist es doch, daß unsere ganze Liebe keinem Wesen dieser Erde angehören darf! Sie sollte sich von einem Vorgesetzten auf den andern übertragen, und sowie ein Vorgesetzter merkt, daß sie sich ihm zuwendet, sollte er sie sofort von sich auf den über ihm stehenden höheren Vorgesetzten abzulenken suchen, bis sie so endlich zu ihrer rechtmäßigen Quelle gelangt und bis ein von allen geliebter Kaiser sie feierlich und angesichts der ganzen Welt Gott selbst darbringt.

1845.

XXIX
Wessen Los auf Erden das beste ist
Aus einem Briefe an U—

Ich vermag Ihnen durchaus nicht zu sagen, wessen Los auf Erden das schönere ist und wem das bessere Teil beschieden ward. Früher als ich noch törichter und dümmer war, zog ich einen Beruf einem andern vor; jetzt dagegen erkenne ich, daß das Los aller Menschen gleich beneidenswert ist. Alle erhielten den gleichen Lohn — sowohl der, dem ein Talent anvertraut ward und der ein zweites hinzuerwarb, wie der, dem fünf Talente verliehen wurden und der noch fünf weitere dafür zurückbrachte. Ich glaube sogar, daß das Los des ersten noch besser ist, gerade weil er auf Erden keinen Ruhm genossen und nicht von dem Zaubertrank irdischer Ehren gekostet hat, wie der letzte. Wie wunderbar ist doch die göttliche Gnade, die jedem den gleichen Lohn bestimmte, der redlich seine Schuldigkeit getan hat, ob er nun der Zar oder der ärmste Bettler ist. Dort werden sie alle gleich sein, denn sie alle werden eingehen in die Freude ihres Herrn und werden alle gleichermaßen in Gott sein. Freilich hat Christus selbst an einer andern Stelle gesagt: „Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen“, aber wenn ich mir diese Wohnungen vorstelle, wenn ich darüber nachdenke, was die Wohnungen Gottes sein mögen, kann ich mich nicht der Tränen enthalten, und ich weiß, daß ich mich nie entscheiden könnte, welche ich wählen soll, wenn ich wirklich einmal gewürdigt sein sollte, am himmlischen Reiche teilzunehmen, und wenn die Frage an mich erginge: „welche von ihnen möchtest du wählen?“ Ich weiß nur das eine, daß ich antworten würde: „die letzte, Herr, wenn sie nur in Deinem Hause ist.“ Ich glaube, man kann sich nichts Schöneres wünschen, als jenen Auserwählten zu dienen, die bereite gewürdigt wurden, Seinen Ruhm in all Seiner majestätischen Größe zu schauen, zu ihren heiligen Füßen liegen und sie zu küssen!

1845.

XXX
Ein Geleitspruch

Auf deinen Brief werde ich dir jetzt nicht antworten, die Antwort erhältst du später. Ich sehe und begreife alles: deine Leiden sind groß. Bei einer solch zarten, feinfühligen Seele so grobe Beschuldigungen anhören, mit so hohen Gefühlen unter so groben, plumpen Menschen weilen zu müssen, wie die Bewohner dieses armseligen Städtchens, in dem du dich niedergelassen hast und deren rohe täppische Berührung, ohne daß sie es wissen, schon allein ausreicht, um die edelsten Schätze und Kostbarkeiten des Herzens in Scherben zu schlagen; dulden zu müssen, daß mit plumper Bärentatze auf die zarten Saiten der Seele losgeschlagen wird, die dem Menschen dazu verliehen werden, um himmlische Laute auszuströmen, bis sie verstimmt sind und reißen, und über dies alles noch all die Gemeinheiten und Schändlichkeiten mit ansehen zu müssen, die sich täglich ereignen und die Verachtung derer dulden zu müssen, die selbst der Verachtung wert sind — ich weiß wohl, daß ist alles sehr bitter. Und deine physischen Leiden sind nicht weniger qualvoll. Dein Nervenleiden, deine Melancholie und diese furchtbaren Ohnmachtsanfälle, die dich jetzt heimsuchen — das alles ist hart, sehr hart, ich vermag dir nichts andres zu sagen, als daß es wirklich sehr hart, sehr bitter ist! Aber hier hast du einen Trost. Das alles ist nur der Anfang; du wirst noch mehr Kränkungen zu erdulden haben, dir stehen noch härtere Kämpfe [mit der Bestechlichkeit] mit allerhand Schuften und Gaunern und schamlosen Leuten bevor, Leuten, für die es nichts Heiliges gibt, die nicht nur einer solchen Schändlichkeit fähig sind, von der du schreibst [d. h. eine fremde Unterschrift zu fälschen] — die den Mut haben, ein so furchtbares Verbrechen auf einen Unschuldigen zu laden, mit eigenen Augen anzusehen, wie das Opfer ihrer Verleumdung bestraft wird und nicht mit der Wimper zu zucken — ja die nicht nur einer solchen Niedertracht, sondern noch weit niederträchtigerer Handlungen fähig sind, deren bloße Beschreibung einem mitleidigen Menschen für immer den Schlaf rauben könnte (o wenn doch solche Leute nie geboren würden!) Alle himmlischen Heerscharen zittern vor Schrecken beim Gedanken an die furchtbaren Strafen, die sie in jener Welt erwarten und vor denen sie niemand mehr zu retten vermag. Unzählige neue und ganz unvorhergesehene Niederlagen warten deiner. In deiner exponierten [und unscheinbaren] Stellung kann alles passieren. Deine Nervenanfälle und deine Leiden werden noch stärker werden, deine Melancholie wird noch zunehmen, deine Mutlosigkeit wird sich bis zur Verzweiflung steigern, und deine Schmerzen und Qualen werden noch furchtbarer und vernichtender werden. Allein denke stets daran, daß wir nicht in diese Welt berufen werden, um Feiertage und Feste zu feiern — wir werden hierher berufen, um Schlachten zu schlagen, den Sieg werden wir dort feiern. Daher dürfen wir keinen Augenblick vergessen, daß wir ausgezogen sind, um zu kämpfen, und hier gibt es nichts zu wählen und zu überlegen, wo uns weniger Gefahren drohen! Wie ein guter Soldat muß sich ein jeder von uns in den Kampf stürzen, wo er am heißesten tobt. Der himmlische Feldherr schaut von oben auf uns alle herab, und Seinem Blick entgeht nicht die geringste von unseren Handlungen. Du darfst daher das Schlachtfeld nicht meiden, sondern mußt mutig in den Kampf stürmen; auch darfst du dir nicht etwa einen schwachen Feind aussuchen, sondern du mußt dir einen Starken zum Gegner wählen. Der Kampf mit einem kleinen Schmerz und mit geringen Leiden wird dir keine großen Ehren eintragen. [Für einen Russen ist es nicht sehr rühmlich, sich mit einem friedfertigen Deutschen einzulassen, wenn man im voraus weiß, daß er davonlaufen wird; es mit einem Tscherkessen aufzunehmen, vor dem alle zittern, weil sie ihn für unüberwindlich halten, den Kampf mit einem solchen Tscherkessen aufzunehmen und ihn zu besiegen, das ist eine Leistung, deren man sich rühmen kann!] Nun denn, vorwärts mein tapferer Kämpe! Gott helfe dir, mein braver Kamerad! Gott voran, mein herrlicher Freund!

XXXI
Wesen und Eigenart der russischen Poesie

Trotz des äußeren Anscheins der Nachahmung besitzt unsere Dichtung sehr viel Eigenartiges. Ihr natürlicher Quell regte sich schon in der Brust des Volkes, als noch ihr Name in keines Menschen Munde war. Ein Strahl dieses Quells bricht in unsern Liedern hervor, in denen zwar wenig Liebe zum Leben und zu den Dingen dieser Welt, dafür aber eine mächtige Sehnsucht nach einer grenzenlosen, zügellosen Freiheit, ein Streben, sich von den Tönen in eine unendliche Ferne forttragen zu lassen, lebt. Sein Strom bricht auch in unsern Sprichworten hervor, die von dem ungewöhnlich reichen Verstande unseres Volkes zeugen, der alles in ein Werkzeug für seine Zwecke zu verwandeln gewußt hat: die Ironie, den Spott, die Anschaulichkeit, die Treffsicherheit eines plastischen Denkens, um ein von Leben strotzendes Werk zu erschaffen, das das ganze Wesen des Russen ergreift und erschüttert, indem es seine empfindlichsten Stellen zu treffen weiß. Sein Strom bricht endlich auch aus den Reden der Diener unserer Kirche hervor — Reden, die so einfach, so schmucklos und doch so bedeutsam sind, durch das Streben, sich bis zu dem Gipfel leidenschaftsloser, heiliger Ruhe zu erheben, den zu erklimmen, jedes Christen Bestimmung ist, sowie durch die Bemühung, nicht etwa die Leidenschaften des Herzens zu entfachen, sondern den Menschen zu höchster, geistiger Nüchternheit und Besonnenheit zu erziehen. Dies alles versprach unserer Dichtung eine eigenartige und urwüchsige Entwicklung, wie sie den andern Völkern unbekannt war. Aber nicht von diesen drei Quellen, die bereits in uns ruhten, leitet unsere wohllautende Poesie, die uns heute einen so hohen Genuß bereitet, ihren Ursprung her, so wenig als die Struktur unserer gegenwärtigen bürgerlichen Ordnung sich auf Elemente zurückführen läßt, die unserem Lande schon früher eigen waren. Unsere bürgerliche Ordnung ist ja auch nicht durch eine geregelte allmähliche Entwicklung der Dinge, nicht durch eine langsame wohlüberlegte Verpflanzung europäischer Sitten in unser Land entstanden — was schon aus dem einfachen Grunde unmöglich war, weil die europäische Aufklärung bereits eine viel zu hohe Stufe der Reife erreicht hatte, weil ihre Wogen schon zu hoch gingen, als daß sie nicht früher oder später von allen Seiten über Rußland hereinbrechen und ohne einen solchen Führer, wie Peter es war, in allen Dingen eine viel größere Unordnung hervorrufen mußten, als sie sich später tatsächlich bemerkbar machte. Unsere bürgerliche Ordnung entsprang aus einer Erschütterung, aus jener gewaltigen Erschütterung des ganzen Staates, die der Zar, dieser große Reformator, hervorrief, als Gottes Wille ihm den Gedanken eingab, sein junges Volk in den Kreis der europäischen Staaten einzureihen und es plötzlich mit allem bekannt zu machen, was sich Europa durch lange Jahre blutiger Kämpfe und Leiden errungen hatte. Eine so plötzliche Umkehr war eine Notwendigkeit für das russische Volk, und die europäische Aufklärung war der Feuerstahl, der diese ganze Volksmasse treffen mußte, die im Begriff war, einzuschlafen. Der Stahl verleiht dem Stein kein Feuer, wenn aber der Stahl den Stein nicht trifft, gibt der Stein kein Feuer von sich. Und sogleich schlug aus dem Volk eine Flamme empor. Diese Flamme war die Freude, die Freude über das Erwachen, die im Anfang freilich noch unbewußt war. Noch hatte keiner das Gefühl, daß er dazu erwacht sei, um im Licht der europäischen Bildung sich selbst besser kennen zu lernen, nicht aber Europa zu kopieren. Jeder fühlte nur, daß er erwacht war. Aber schon diese bloße Umwälzung des ganzen Staates, die durch einen einzigen Menschen, und zwar durch den Zaren selbst, bewirkt war, der zeitweilig sogar großmütig auf seine Zarenwürde verzichtete, um jedes Handwerk kennen zu lernen und mit der Axt in der Hand in allen Dingen voranzugehen, damit keine von den Wirrungen und Verwicklungen entstünde, die selbst die geringfügigsten Veränderungen der Staatsform zu begleiten pflegen — schon diese Umwälzung war in der Tat eine Sache, die der Freude und der Begeisterung wert war. Eine Staatsumwälzung, die gewöhnlich das in Mitleidenschaft gezogene Volk auf Jahre unter Ströme von Blut setzt, wenn sie die Folge innerer Parteikämpfe ist, wurde hier im Angesicht von ganz Europa in so geordneter Weise vollzogen, wie das glänzende Manöver eines vortrefflich geschulten Heeres. Rußland erhob sich plötzlich zur Würde eines großen Staates, seine Stimme wurde dem Donner gleich, ein Glanz strahlte von ihm aus: der Widerschein der europäischen Bildung. Alles in dem jungen Staate geriet in Begeisterung, allen entrang sich ein Schrei des Staunens, wie ihn ein Wilder angesichts neueingeführter kostbarer Schätze ausstößt. Diese Begeisterung spiegelt sich in unserer Poesie oder richtiger: sie hat diese Poesie erst erschaffen. Das ist der Grund, warum diese Poesie mit dem ersten Gedicht, das veröffentlicht wurde, einen so feierlichen Klang annimmt. Spricht doch aus ihr das Bestreben, einen Ausdruck für die Begeisterung über das neue Licht, das sich über Rußland ergossen hatte, für das Staunen über die große Aufgabe, die dem Lande bevorstand und für den Dank zu finden, den es dem Zaren für dies alles schuldete. Seit dieser Zeit wurde das Streben nach dem Licht unser eigentliches Element, der sechste Sinn des Russen, und es erschuf unsere gegenwärtige Poesie, indem es ihr jenes neue lichtbringende Prinzip einhauchte, das wir in keiner der drei Quellen, von denen zu Beginn die Rede war, entdecken konnten.

Was ist Lomonossow, wenn wir ihn an sich betrachten? Ein schwärmerischer Jüngling, begeistert von dem Licht der Wissenschaft und der hohen Aufgabe, die er vor sich sieht. Wie durch Zufall wird er Poet. Die Freude über den ersten Sieg der Russen läßt ihn seine erste Ode aufs Papier werfen, hastig entlehnt er bei unsern deutschen Nachbarn Form und Metrum, wie sie in jener Zeit bei ihnen üblich waren, ohne zu überlegen, ob sie sich für unsere russische Sprache eignen oder nicht. Seine künstlichen rhetorischen Oden lassen auch nicht eine Spur schöpferischer Kraft erkennen, aber die Begeisterung bricht doch schon allenthalben hervor, wo er einen Gegenstand berührt, der seiner wissensdurstigen Seele nahesteht. Das Nordlicht, mit dem er sich in seinen wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigte, kommt ihm in Sinn, und die Frucht dieses Einfalls ist die Ode: Abendbetrachtungen über Gottes Größe, die von Anfang bis Ende eine hohe Majestät und Würde atmet und die kein anderer außer Lomonossow hätte schreiben können. Ein ähnlicher Einfall wird der Anlaß für die Epistel an Schuwalow: Über den Nutzen des Glases. Jede Erwähnung Rußlands, das seinem Herzen so nahesteht und das er immer durch die Perspektive seiner glänzenden Zukunft sieht, erfüllt ihn mit wunderbarer Kraft. Mitten unter kalten nüchternen Strophen begegnen wir Versen, die uns plötzlich in eine andere Welt versetzen. Man hat das Gefühl, als ob — um uns seiner eigenen Worte zu bedienen —

Der Götterjüngling David leicht

Der Harfe heil’ge Saiten meistert

Und aus Jesaias Mund begeistert

Ein Psalm empor zum Himmel steigt.

Er überschaut das ganze russische Land von einem Ende bis zum andern, wie von einem lichten Gipfel herab, begeistert und entzückt von seiner grenzenlosen Weite und seiner jungfräulichen Natur, und es scheint, als wolle sein Entzücken kein Ende nehmen. Aus seinen Schilderungen spricht mehr die Ansicht eines gelehrten Naturforschers als die eines Dichters, aber die treuherzige reine Kraft seiner Begeisterung verwandelt den Naturforscher in einen Dichter, und was das Merkwürdigste ist, indem er seine Verse in die strengen Maße des deutschen Jambus preßt, tut er der Sprache durchaus keine Gewalt an; die Sprache fließt innerhalb der engen Grenzen dieses Versmaßes mit der gleichen Würde und Freiheit dahin, wie ein wasserreicher Fluß in seinem breiten Bette. Ja, sie klingt in seinen Versen noch schöner und freier als in seiner Prosa, und Lomonossow heißt daher nicht umsonst der Vater unserer Verskunst. Das Merkwürdige ist, daß der Urheber unserer Sprache zugleich auch ihr Herr und Gesetzgeber wird. Lomonossow steht an der Spitze unserer Dichter wie die Vorrede zu einem Buche. Seine Poesie ist die aufsteigende Morgenröte: sie gleicht einem Wetterleuchten, das zwar nicht allem Helligkeit verleiht, sondern sein Licht nur auf einzelne Strophen wirft. Rußland erscheint bei ihm nur in seinen allgemeinen geographischen Umrissen; er scheint ausschließlich darum bemüht zu sein, eine Skizze von dem gewaltigen Reich zu entwerfen, und seine Grenzen durch Punkte und Linien abzustecken, während er die Ausmalung den andern überläßt. Er selbst ist gleichsam nur ein erster prophetischer Entwurf der Dinge, die da kommen sollen.

Durch den Einfall Lomonossows wurde bei uns die Ode eingeführt. Feste, Siegesfeiern, Geburtstage hoher Persönlichkeiten, ja sogar eine Illumination oder ein Feuerwerk werden Gegenstände dieser Oden. Die Verfasser dieser Dichtungen brachten es jedoch bestenfalls nur zu einer gewissen Bravour, ohne daß ihre Produkte von wahrer Begeisterung getragen wurden. Höchstens Petrow macht eine Ausnahme, dem es nicht an einer gewissen Kraft und einem gewissen poetischen Feuer fehlt. Er war ein wirklicher Dichter trotz der Härte und Trockenheit seiner Verse. Die andern erreichten bestenfalls nur die kalte äußere Rhetorik der Oden Lomonossows, und an Stelle des Wohllauts seiner Sprache tritt ein leeres zuchtloses Wortgeklapper, das unser Ohr peinigt. Aber schon hatte der Stahl den Feuerstein getroffen. Schon hatte der Funke der Poesie gezündet. Noch hatte Lomonossow die Leier nicht aus der Hand gelegt, als Dershawin seine ersten Lieder dichtete.

In der Epoche Katharinas, deren Regierung einer glänzenden Sammlung der vorzüglichsten Werke russischer Schöpferkraft gleicht, als sich auf allen Gebieten bedeutende russische Talente regten, in glorreichen Schlachten ruhmgekrönte Feldherren auftraten, große Staatsmänner in der inneren Organisation des Reiches tätig waren, geschickte Diplomaten sich beim Abschluß von Verträgen auszeichneten, in den Akademien Gelehrte und Sprachforscher eine rege Tätigkeit entfalteten, da trat auch der Dichter Dershawin auf. Er hatte das gleiche malerische würdevolle Äußere wie alle Männer aus der Zeit Katharinas, die in einer noch ungezügelten Freiheit den Spielraum für ihre freie Entwicklung fanden. Bei ihnen allen gibt es noch viel Unfertiges, und in den Details Unausgeführtes, wie man es wohl in Werken findet, die allzufrüh in die Öffentlichkeit gebracht werden. Die Möglichkeit einer Vergleichung Lomonossows und Dershawins, die sich einem bei der ersten Bekanntschaft mit beiden Dichtern aufdrängt, schwindet sofort, wenn man Dershawin eingehender kennen lernt. Er bildet vielmehr in allem, selbst in seiner Erziehung, den vollkommenen Gegensatz zu dem ersteren. Während sich Lomonossow völlig den Wissenschaften widmet und das Dichten ausschließlich als eine Zerstreuung und eine Erholung betrachtet, gibt er sich gänzlich der Dichtkunst hin und hält eine vielseitige wissenschaftliche Bildung für unnütz und überflüssig. Rußlands Größe und Staatsmacht kommt auch bei ihm zum Ausdruck, aber nun treten nicht nur die geographischen Umrisse des Reiches hervor, sondern auch die Menschen und ihr Leben werden sichtbar. Was ihn beschäftigt, ist nicht die abstrakte Wissenschaft: sondern die Kenntnis des Lebens. Seine Oden wenden sich bereits an die Menschen aller Berufe und Stände und zeugen von dem Streben, ein Gesetz des richtigen Handelns aufzustellen, nach dem sich der Mensch in allem, selbst in seinen Genüssen zu richten hat. Bei ihm macht sich schon eine wirkliche schöpferische Kraft bemerkbar, er besitzt etwas noch Gewaltigeres und Überirdischeres als Lomonossow, und man begreift nicht, woher der hyperbolische Schwung seiner Rede stammt. Ist es ein Nachklang unseres sagenhaften russischen Rittertums, das noch immer wie eine dunkle Weissagung über unserem Lande schwebt und uns eine bessere Zukunft vorhält, zu der wir bestimmt sind — oder ist es ein Echo seines alten tatarischen Ursprungs? Jener Steppen, in denen noch heute die armseligen Überreste nomadisierender Horden umherirren, die ihre Einbildungskraft an Erzählungen von klafterhohen Helden, die tausend Jahre alt werden, entzünden? — was es auch sein mag: dieser Charakterzug Dershawins hat etwas Wunderbares! Mitunter holt er seine Ausdrücke und Wendungen Gott weiß wie weit her: nur um möglichst nahe an seinen Gegenstand heranzukommen. Hier ist alles kolossal und ungeheuer, aber dort, wo ihn die Kraft der Begeisterung überkommt, da dienen diese ungeheuerlichen Massen nur dazu, um den Gegenstand mit einer schier unbegreiflichen Kraft zu beleben, so daß es uns so vorkommt, als blicke er uns mit tausend Augen an. Man überlese den „Wasserfall“: man hat den Eindruck, als wäre hier eine ganze Epopöe in eine gewaltig dahinstürmende Ode zusammengedrängt. Gemessen an dieser Ode erscheinen alle Dichter neben ihm wie Pygmäen, die Natur erscheint hier wie eine höhere Wirklichkeit neben der, die wir mit unseren Augen sehen, die Menschen gewaltiger als die, die wir kennen, und unser Dasein verglichen mit dem mächtigen Leben, wie es dort dargestellt ist, wie das eines fernen Ameisenhaufens. Von Dershawin kann man sagen: er ist der Sänger des Erhabenen. Bei ihm ist alles erhaben: die Gestalt Katharinens und Rußlands, das sich in seinen acht Meeren spiegelt; seine Feldherrn sind königliche Adler, kurz, bei ihm ist alles groß und majestätisch. Man hat jedoch das Gefühl: was seine Gedanken am meisten beschäftigte, was ihn am meisten bewegte, war der Wunsch, einen im Kampf des Lebens gestählten starken Menschen zu gestalten, bereit, es nicht nur mit seiner Zeit, sondern mit allen Zeitaltern aufzunehmen, ihn so zu zeichnen, wie er nach seiner Ansicht aus den ureigenen Wurzeln unserer russischen Natur erwachsen müßte, genährt und groß geworden auf dem unerschütterlichen Felsen unserer Kirche. Oft läßt er die Person, an die die Ode gerichtet ist, beiseite, um an ihre Stelle seinen unbeugsamen wahrhaftigen Helden zu setzen. Dann spricht er seine tiefen Wahrheiten mit einer Stimme aus, die sich hoch über das gewöhnliche Maß erhebt. Das, was wir einen Gemeinplatz zu nennen gewohnt sind, erhält seine hohe heilige Bedeutung wieder, und wir lauschen seinen ewigen Worten, als wenn der Mund der Kirche selbst zu uns spräche. Verglichen mit den Werken anderer Dichter erscheint alles bei ihm groß und gigantisch: seinen poetischen Metaphern fehlt es an der vollen plastischen Rundung, sie scheinen sich gleichsam in einer Art vergeistigter Kontur zu verlieren, erhalten aber gerade dadurch etwas noch Großartigeres und Erhabeneres. So schildert zum Beispiel der Dichter den greisen Caspius, wie er über den Sturm empört, über das Meer rast:

Wild springt er auf die Wellen los,

Schlägt mit dem Dreizack nach den Schiffen,

Stürmt himmelwärts, stürzt in den Schoß

Des Hades mit gesträubten Haaren,

Und durchs Gebirge hallt sein Schrei.

Hier schien sich ein plastisches Bild des greisen Caspius gestalten zu wollen, aber die Zeichnung verlor sich in abstrakt geistigen Konturen: das Ohr hört nichts als den Donner des brausenden Meeres, und wie dem grauköpfigen Greise, so sträuben sich auch dem Leser die Haare, der erschüttert ist von der rauhen Größe des Bildes. Bei ihm ist alles monumental. Sein Stil ist von einer Größe, wie bei keinem unserer Dichter. Wenn wir diesen Stil mit dem Messer des Anatomen sezieren, so sehen wir, daß dies in einer fremdartigen Verkuppelung pathetischer Worte mit schlichten, ja trivialen begründet ist, wessen sich kein anderer außer Dershawin erkühnen würde. Wer außer ihm würde es wagen, sich so auszudrücken, wie er es an einer Stelle tut, wo er von seinem großen Helden spricht: der nach Vollendung seiner irdischen Aufgabe

den Tod wie einen Gast erwartet

und sinnend sich den Schnurrbart streicht.

Wer außer Dershawin hätte es gewagt, eine so ernste Angelegenheit wie die Erwartung des Todes zu einer so trivialen Geste wie das Streichen des Schnurrbarts in Beziehung zu setzen? Aber wie ungeheuer gewinnt hierdurch der Held an Anschaulichkeit und welch melancholisch-tiefes Gefühl bleibt in unserer Seele zurück! Man muß jedoch sagen, daß sowohl diese wie alle andern gigantischen Züge, die ihn weit über alle unsere Dichter erheben, bei ihm etwas Zügelloses und Formloses annehmen, sowie ihn die Inspiration verläßt: Alles gerät in Unordnung: Satzbau, Sprache, Stil, alles knarrt wie ein schlechtgeölter Karren, und sein Vers gleicht einem entseelten Leichnam. Seine Werke tragen die Spuren seiner unvollkommenen geistigen und sittlichen Bildung. Der Mann, der andern Selbstbeherrschung predigte, wußte sich selbst nicht zu beherrschen, hat sich nie ganz selbst gefunden und hat mühsam und mit der ganzen Kraft seiner Begeisterung den Weg zu seinem Ich suchen müssen, um das aussprechen zu können, was sich der Seele des Dichters von selbst entringen müßte. Hätte er sich die wahre Bildung zu erringen gewußt, es würde keinen größeren Dichter als Dershawin gegeben haben. So aber gleicht er nur einem gewaltigen unförmlichen Felsblock, vor dem zwar niemand ohne Bewunderung stehen bleiben wird: jedoch kein Mensch wird lange vor ihm verweilen, sondern bald zu andern reizvolleren Eindrücken fortzueilen suchen.

Noch hatte Dershawin die Leier nicht aus der Hand gelegt, und schon hatte sich alles um ihn verändert: das Zeitalter Katharinas, die königlichen Feldherren, der höfische Luxus und das ganze höfische Leben waren dahingeschwunden wie ein Traum, die Epoche Alexanders war angebrochen: sauber, spiegelblank und manierlich. Die Menschen zogen sich mehr in sich selbst zurück und wetteiferten, aus dem Gefühl heraus, daß sie sich bisher allzusehr gehen gelassen hatten, ihren Handlungen und Bewegungen Schönheit und edlen Anstand zu verleihen. Die Franzosen galten in allen Dingen als Vorbild, und wie einst die Pariser Stutzer den Ton in unserer Gesellschaft angaben, so beherrschten eine Zeitlang die flinken französischen Poeten unsere Dichtung. Zur Rechtfertigung unseres sicheren dichterischen Gefühls sei jedoch an dieser Stelle erwähnt, daß uns nur einer dieser Dichter wirklich als Vorbild gedient hat: Lafontaine, und zwar nur deshalb, weil er der Natur am nächsten stand: Dmitriew, Chemnitzer und Bogdanowitsch dichteten in der gleichen Art und behandelten ähnliche Stoffe wie er. Die russische Sprache erhielt plötzlich eine gewisse Freiheit und die Fähigkeit, mit angenehmer Leichtigkeit von Gegenstand zu Gegenstand überzugehen — eine Leichtigkeit, die Dershawin noch unbekannt war. Man pflegte nicht nur die Ode, sondern versuchte sich in allen Arten und Formen der Poesie. Dmitriew bewies überall viel Talent, Geschmack, Einfachheit und Anstand, und hierdurch wurde der Schwulst und das falsche Pathos überwunden, das durch die talentlosen Nachahmer Dershawins und Lomonossows üblich geworden war. Aber die Oberflächlichkeit der Epoche vermochte unserer Dichtung keinen reicheren Inhalt darzubieten: sie blieb allein auf das Gesellschaftsleben beschränkt, und man konnte sie bald einem gewandten und gescheiten Weltmann vergleichen, der im Salon sitzt und plaudert, nicht etwa um andern sein Herz zu öffnen oder sie zu tüchtigen Handeln anzufeuern, sondern lediglich, um Konversation zu machen und zu beweisen, daß er über jeden Gegenstand etwas zu sagen habe. Die letzten Töne Dershawins waren verhallt wie die verklingenden Töne einer Orgel und unsere Poesie schien plötzlich aus der Kirche in den Ballsaal versetzt. Nur der eine Kapnist ließ den Duft eines wahrhaft beseelten Gefühls und eine eigenartige anthologische Anmut verspüren, wie sie bisher noch nicht bekannt war. Man denke zum Beispiel an sein Landhaus Obuchowka:

Mein liebes Häuschen, strohgedecket,

Ist nicht zu groß, noch ist’s zu klein,

Der Freund wird stets willkommen sein

Und selbst den armen Bettler schrecket

Kein Türschloß fort, will er hinein.

Aber unsere Poesie vermochte nicht lange auf diesem Gipfel eines oberflächlichen Gesellschaftslebens zu verweilen. Schon war ihre Empfänglichkeit durch jenen Schlag Peters mit dem Stahl europäischer Bildung geweckt, und sie erkannte plötzlich, daß sie von den Franzosen nichts als eine gewisse Leichtigkeit entlehnen und für ihre Entwicklung nutzbar machen konnte, und so wandte sie sich den Deutschen zu. In der deutschen Literatur ging um diese Zeit etwas Merkwürdiges vor. Eine unklare Sehnsucht, geheimnisvolle Überlieferungen, wunderbare unerklärliche Ereignisse, dunkle Schatten aus einer unsichtbaren Welt, Träume und Schrecken, wie sie die Kindheit des Menschen zu begleiten pflegen, bildeten den Gegenstand der deutschen Dichtung. Man hätte eine solche Poesie für die Laune eines Schulbuben halten können, wenn nicht jenes kindliche Lallen in ihr vernehmbar gewesen wäre, durch das die unsterbliche nach lebendiger Nahrung dürstende Seele von sich Kunde gibt. Wie ein neugieriges Kind blieb unsere feinfühlige Dichtung von dieser Erscheinung gebannt. Ihr nationaler Instinkt rief plötzlich in ihr die Erinnerung an etwas Verwandtes wach. Bei alledem wären wir uns nie mit den Deutschen begegnet, wenn nicht ein Poet in unserer Mitte erstanden wäre, der uns diese neue wunderbare Welt durch den klaren Kristall seines Wesens gezeigt hätte, das uns weit verständlicher war, als das deutsche. Dieser Dichter ist Shukowski: die stärkste Individualität in unserer Literatur. Durch die geheimnisvolle Fügung des Höchsten war ihm von seinen Kindheitstagen an eine ihm selbst unbegreifliche Sehnsucht nach dem Unsichtbaren, Mystischen in die Seele gelegt. Wie der Held seiner Ballade Wadim vernahm er immer einen himmlischen Glockenton in seinem Herzen, der ihn in die Ferne rief. Dieser Lockung folgend, stürzte er sich auf alles Unerklärliche und Geheimnisvolle, wo immer es ihm begegnete, um es in Töne zu fassen, die eine verwandte Saite in unserer Seele erklingen ließen. Alles dieser Art entlehnt er fremden Dichtern, vor allem den Deutschen, und das Meiste davon sind Übersetzungen. Aber diese Übersetzungen tragen so sehr die Spur jener inneren Sehnsucht an sich, werden so heftig von ihrer Kraft belebt und durchglüht, daß selbst Deutsche, die des Russischen mächtig sind, zugestehen, die Originale erschienen neben ihnen wie Kopien, während seine Übersetzungen den Charakter echter Originale besitzen. Man weiß nicht, ob man ihn einen Übersetzer oder einen ursprünglichen Dichter nennen soll; der Übersetzer gibt seine eigene Persönlichkeit auf, während sie bei Shukowski stärker hervortritt als bei irgendeinem unserer Dichter. Wenn wir die ganze Reihe seiner Dichtungen durchlaufen, so werden wir finden, daß das eine von Schiller, ein anderes von Uhland, ein drittes von Walter Scott, ein viertes von Byron entlehnt ist; und alle diese Werke sind bis auf das einzelne Wort getreue Abbilder ihrer Vorlagen. Die Persönlichkeit jedes Dichters ist durchaus erhalten; als Übersetzer hatte Shukowski ja auch keine Gelegenheit, sich vorzudrängen. Liest man jedoch mehrere Gedichte nacheinander und fragt man sich, wessen Gedichte man gelesen habe, dann fallen einem weder Schiller, noch Uhland, noch Walter Scott ein, sondern ein Dichter, der sich von allen diesen unterscheidet, dessen Platz nicht zu ihren Füßen ist, sondern der ein Recht hat, als Gleicher neben Gleichen an ihrer Seite zu sitzen. Wie es jedoch möglich war, daß seine eigene Persönlichkeit all diese Dichterpersönlichkeiten durchdringen konnte, das bleibt ein Geheimnis, das sich jedem Leser aufdrängt. Es gibt keinen Russen, der sich nicht aus den Werken Shukowskis selbst ein getreues Abbild seiner geistigen Persönlichkeit bilden könnte. Man muß auch sagen, daß sich in keinem der von ihm übertragenen Dichter eine so starke Sehnsucht regt, in ein wolkenfernes, unsichtbares Traumland zu entfliehen. Bei keinem von ihnen finden wir diesen festen Glauben an übersinnliche Kräfte, die den Menschen überall schützend umschweben. Wenn man Shukowski liest, so hat man beständig das Gefühl, für das Dershawin die Worte gefunden hat:

„Dem Schutz des Himmels übergeben

Ward deines Lebens Sicherheit

Und Legionen Engel schweben

Ob deinem Haupte hilfsbereit.“

Er hat durch seine Übersetzungen eine Wirkung ausgeübt, wie ein ursprünglicher urwüchsiger Dichter. Indem er unserer Dichtkunst dieses ihr bis dahin ganz unbekannte Streben nach einer unsichtbaren geheimnisvollen Welt einpflanzte, befreite er sie von dem Materialismus nicht nur ihrer Gedanken und ihrer Sprache, sondern auch ihrer Versform, die damit etwas Leichtes und Unkörperliches wie eine Vision erhielt. Mit diesen Übersetzungen legte er den Grund zu allem Originalen, schuf er neue Formen und Metren, die dann später auch von allen andern russischen Dichtern angewandt wurden. Sein träger Geist hinderte ihn daran, vor allem ein schöpferisches Talent zu sein — es fehlte ihm nicht an schöpferischer Kraft, er war nur zu träge im Erfinden. Im Beginn seiner Schriftstellerlaufbahn gab er schon Beweise seiner Produktivität: Swetlana und Ludmilla trugen zuerst die erwärmenden Klänge unserer slawischen Seele durch die Lande und sie berührten uns weit verwandter als die Lieder anderer Dichter — ein Beweis dafür, daß sie zu einer Zeit, als unser poetisches Empfinden noch schwach entwickelt war, einen mächtigen Eindruck auf alle machten. Die Elegie ist eine Schöpfung Shukowskis. Es gibt übrigens einen noch tieferliegenden Grund, auf den diese Trägheit des Verstandes zurückzuführen ist: es ist seine Veranlagung zur Kritik, die, nachdem sie sich einmal in seinem Geiste festgesetzt hatte, ihn dazu drängte, auch noch bei jedem fertigen Werk liebevoll zu verweilen. Daher sein feiner kritischer Instinkt, der Puschkin so sehr in Erstaunen setzte. Puschkin zürnte ihm sehr, daß er keine Kritiken schrieb. Seiner Meinung nach konnte niemand ein Kunstwerk so gut zerlegen und beurteilen wie Shukowski. Diese Begabung für Kritik und Analyse tritt besonders in seinen farbigen Naturschilderungen hervor, die seine eigensten, selbständigsten Leistungen sind. Bezaubert von einer Landschaft, bemächtigt er sich ihrer und läßt nicht eher von ihr ab, als bis er wie mit dem Seziermesser noch ihr kleinstes, verschwindendes Detail herausgehoben hat. Wer das Gedicht an die Sonne zu schreiben vermochte, wer so das bunte Spiel der Sonnenstrahlen und die Magie der Bilder, belauschen konnte, die sie zu jeder Tageszeit hervorzaubert, wer in seinem „Bericht über den Mond“ die magische Pracht der Mondnächte und die Reihe der Bilder, die sie begleiten, so eingehend und anschaulich zu schildern vermochte: der mußte natürlich im hohen Maße die Begabung zur Kritik besitzen. Seine „Slawin“ mit ihren Schilderungen von Pawlowsk ist vollkommene Malerei; die andächtige träumerische Stimmung, die alle seine Bilder durchweht, verbreitet ein warmes und erwärmendes Licht um sich, das den Leser mit einer unbegreiflichen Ruhe erfüllt. Alle unsere Leidenschaften beruhigen sich und eine geheimnisvolle Kraft scheint uns den Mund zu verschließen.

In der letzten Zeit trat ein Wendepunkt in Shukowskis dichterischer Entwicklung ein. In dem Maße, als sich die in einem leuchtenden Dämmer verschwebende Ferne, die er bis dahin nur in einer unklaren poetischen Distanz erschaut hatte, zu immer reinerer Klarheit läuterte, begann er, den Geschmack und die Vorliebe für die Gespenster und Phantome der deutschen Balladen zu verlieren. Seine Neigung zur Träumerei machte einer geistigen Heiterkeit Platz. Die Frucht dieser Stimmung war die „Undine“, ein Werk, das ganz Eigentum Shukowskis war. Der deutsche Dichter, der die gleiche Sage in Prosaform behandelt hatte, konnte ihm nicht zum Vorbild dienen: erst Shukowski hat diesem Stoff zu seiner vollen Klarheit und Heiterkeit verholfen. Von hier an wird ihm eine kristallene Durchsichtigkeit der Sprache eigen, die dem Gegenstand eine Klarheit verleiht, welche er nicht einmal bei dem ersten Darsteller des Stoffes besitzt, dem er ihn entlehnt. Selbst sein Vers verliert das Ätherische, Unbestimmte, das er früher besaß: er schreitet kräftiger und sicherer einher. In Shukowski schienen sich alle Vorbedingungen zu vereinigen, um mit Hilfe dieses Verses eine Dichtung von höchster Vollkommenheit zu gestalten. Bei seiner Art des Schaffens, bei solchem Erfülltsein des ganzen Menschen mit dem Geist der Antike und bei einer so erleuchteten und hohen Lebensanschauung hätte uns ein solches Werk sicherlich die ursprüngliche patriarchalische Welt des Altertums in einer vertrauten und heimischen Beleuchtung näherbringen müssen — eine Leistung, die weit höher zu bewerten ist, als jede eigene Schöpfung und die Shukowski eine universelle Bedeutung verleihen würde. Shukowski verhält sich zu unsern andern Dichtern wie ein Goldschmied zu andern Handwerksmeistern: das heißt wie ein Meister, der sich nur mit der letzten Verarbeitung des Materials beschäftigt. Es ist nicht seine Aufgabe, den Edelstein aus Bergestiefen ans Licht zu fördern: er hat dem Diamanten lediglich die Fassung zu geben, die ihn in seinem vollen Glanze erstrahlen läßt und jedem seinen ganzen Wert vor Augen führt. Ein solcher Dichter konnte nur aus dem russischen Volke hervorgehen, dem vielleicht nur darum eine geniale Empfänglichkeit verliehen ward, um all dem, was die andern Völker noch nicht in ihrem Wert erkannt, nicht verarbeitet oder übersehen hatten, eine edlere Form zu verleihen.

Während Shukowski noch in der ersten Periode seiner Dichtung stand, während er noch bemüht war, die Poesie aus den Fesseln des Irdischen und Greifbaren zu befreien und sie in die Sphäre unkörperlicher Gesichte zu erheben, suchte ein anderer Dichter, Batjuschkow, wie im bewußten Gegensatz zu ihm sie fester in der Erde und im Physischen zu verwurzeln, indem er uns den ganzen bezaubernden Reiz einer plastischen Körperlichkeit verspüren ließ. Während jener sich ganz in den ihm selbst noch nicht völlig klaren Idealen verlor, tauchte dieser vollkommen in der üppigen Pracht des Sichtbaren unter, das er so deutlich empfand und das ihn so stark ergriff. Er suchte das Schöne in allen Gestalten und Formen, selbst in den abstraktesten, in die unmittelbare lebendige Lust des Genusses aufzulösen. Er empfand, um sich seiner eigenen Worte zu bedienen, „des Denkens und des Dichtens Wollust“. Es schien, als ob eine innere Kraft im Schoße unserer Poesie diesen Dichter erschaffen hätte, um sie von einer allzuweit gehenden Übertreibung zu bewahren, damit uns der eine die nordischen Klänge der europäischen Sänger brächte, während der andere unser Ohr mit den süßen Tönen des Südens labte, indem er uns die Bekanntschaft mit Ariost, Tasso, Petrarka, Parni und den sanften Klängen des alten Hellas vermittelte, auf daß selbst der Vers, der eine gewisse ätherische Unbestimmtheit anzunehmen begann, sich mit einer fast skulpturhaften Plastik, wie wir sie bei den Alten finden, und mit jenem klingenden Wohllaute erfüllte, der uns im neuen Europa aus den Dichtern des Südens entgegentönt.

Zwei ganz verschieden geartete Dichter hatten zwei durchaus verschiedene Prinzipien in unsere Poesie hineingetragen; aus diesen beiden Prinzipien bildete sich mit einem Schlage ein drittes: Puschkin trat auf den Plan. Er bildet die Mitte: ohne die abstrakte Idealität des ersten und ohne die schwellend-üppige Wollust des andern. Bei ihm hat alles sein Gleichgewicht gewonnen, ist alles gedrängt, konzentriert wie in dem russischen Menschen, der in der Wiedergabe seiner Empfindungen sparsam mit Worten ist, und sie lange in sich hegt und zusammendrängt. Durch eine lange Aufspeicherung nehmen sie einen explosiven Charakter an, wenn sie herausbrechen. Ich will hier ein Beispiel anführen. Der Kasbek, einer der höchsten Berge des Kaukasus, machte einen starken Eindruck auf den Dichter. Er entdeckte auf dem Gipfel ein Kloster, das ihm wie die in der Luft schwebende Arche Noahs erschien. Ein anderer Dichter hätte bei dieser Gelegenheit viele Seiten mit glühenden Versen bedeckt: Puschkin aber sagt alles in zehn Zeilen und beendet sein Gedicht mit folgender unerwarteter Apostrophe:

Ersehntes fernes Friedensreich!

Könnt ich zu deiner Gnadenstelle

Mich aus der Schluchten Haft befrein

Und in der ätherlichten Zelle

Allzeit dem Schöpfer nahe sein!

(Fiedler.)

Das und nur das durfte ein Russe sagen, während ein Franzose, ein Engländer oder ein Deutscher einen langen Bericht über ihre Empfindungen gegeben hätten. Noch nie haben wir einen Dichter gehabt, der so sparsam in Wort und Ausdruck war wie Puschkin, der sich selbst so wenig beobachtete, nur um nie etwas Überflüssiges oder Übertriebenes zu sagen, da er in beiden Fällen die Banalität scheute.

Was war nun der Gegenstand seiner Dichtung? Das Ganze, nicht das Einzelne war das Objekt seiner Dichtung. Unser Denken versagt vor der ungeheuren Mannigfaltigkeit seiner Stoffe. Was hat ihn nicht ergriffen und was hat ihn nicht gefesselt? Von den über den Wolken thronenden Gipfeln des Kaukasus oder einem malerischen Tscherkessen, bis zu der elenden Hütte des Nordens und einer Schenke mit Balaleikaspiel und Trepak; — überall und allerorten: wird ihm der Ball, die Hütte, die Steppe, der Reisewagen, kurz, alles zum Objekt seiner Dichtung. Auf alles, was im Innern des Menschen vorgeht, von den höchsten und erhabensten Charakterzügen bis zum kleinsten Seufzer menschlicher Schwäche, bis zur kleinsten Regung des Aberglaubens, die ihn beunruhigt, reagiert er mit der gleichen Stärke wie auf jeden Vorgang der äußeren und sichtbaren Natur. Alles formt sich ihm zu einem abgeschlossenen Bilde, alles wird ihm zum Gegenstand, aus dem Größten schlägt er elektrische Funken jenes poetischen Feuers, das in jeder von Gottes Schöpfungen lebt: jedem Ding weiß er seine schönste Seite abzugewinnen, die nur dem Dichter bekannt ist, ohne daß er dabei an eine Anwendung auf das praktische Leben oder an die Befriedigung eines menschlichen Bedürfnisses denkt. Er verrät niemand, warum dieser Funke aufsprühte, und reicht keinen von denen, die taub für die Poesie sind, eine Leiter, die dorthin führt. Er kümmerte sich um niemand, es gab für ihn nur einen Wunsch: den mit poetischen Gefühl Begabten zuzurufen: „Schaut hin, wie herrlich ist doch Gottes Schöpfung!“, und sich dann sogleich, ohne noch etwas hinzuzufügen, dem nächsten Gegenstand zuzuwenden, um abermals auszurufen: „Schaut hin, wie herrlich ist Gottes Schöpfung!“ Was daher an seinen Werken immer wieder in Erstaunen setzt, ist der Widerspruch der Gefühle, die sie in dem Leser hervorrufen. Nach der Ansicht von sonst vielleicht klugen Leuten, denen es jedoch an poetischem Empfinden fehlt, sind seine Dichtungen unvollendete, leicht hingeworfene Fragmente — Kinder des Augenblicks. Nach der Ansicht dichterisch empfindender Menschen dagegen stellen sie reiche, wohldurchdachte, vollendete Dichtungen dar, die alle Elemente eines wirklichen Kunstwerks ich sich vereinigen.

Puschkin gegenüber verstummten alle Fragen, die bis dahin noch an keinen von unsern Dichtern gerichtet worden waren, und die von dem Geist eines erwachenden Zeitalters Zeugnis ablegen. Wozu diente, welchen Sinn hatte seine Poesie? Was für eine neue Richtung, welche neue Wendung hat Puschkin der Welt des Geistes gegeben? Was hat er ausgesprochen, dessen sein Zeitalter bedurfte, wonach es verlangte? Hat er einen heilsamen oder wohl gar einen destruktiven Einfluß auf dieses Zeitalter ausgeübt? Hat er, wenn auch nur durch seinen eigenen Charakter oder seine Persönlichkeit auf andre Menschen gewirkt: durch die Genialität seiner Verirrungen, wie z. B. Byron oder selbst viele andre Dichter zweiten Ranges und minderwertige Poeten? Warum ward er der Welt geschenkt, und was hat er mit seinem Auftreten bewiesen? Puschkin ward der Welt geschenkt, um durch sein Dasein zu demonstrieren, was der Dichter ist, und sonst nichts — was der Dichter ist, sofern man ihn nicht als Produkt einer bestimmten Epoche oder bestimmter Verhältnisse aber auch nicht als Produkt seines eigenen persönlichen Charakters, d. h. als Mensch betrachtet, sondern unabhängig von allen diesen Faktoren in Betracht zieht, damit, wenn später einmal irgendein höherer Seelenanatom der Sache auf den Grund gehen und sich darüber klar werden wollte, was der Dichter in seinem innersten Wesen eigentlich ist: dieses zarte feinnervige Geschöpf, das auf alles in der Welt reagiert, selbst ewig einsam bleibt, und bei keinem Verständnis findet — damit es ihm dann an nichts fehle, da er in Puschkin alle diese Züge vereint finden würde. Puschkin war der einzige, dem diese unabhängige Geistesart und eine so fein gestimmte Seele beschieden ward, in der alles ein Echo fand und die bei jedem Ton, der die Luft durchbebte, mitschwang. Wenn wir an einen Dichter denken, stellen wir ihn uns mehr oder weniger leibhaftig vor. Vor wem ersteht nicht bei dem Gedanken an Schiller sofort diese reine kindliche Seele, die stets von den höchsten und letzten Idealen träumte, sich eine Welt aus ihnen erschuf und damit zufrieden war, daß sie in dieser poetischen Welt leben durfte? Wer denkt, wenn er Byron liest, nicht an Byron selbst, diesen stolzen, mit allen Gaben des Himmels begnadeten Mann, der doch der Vorsehung nie seinen geringfügigen körperlichen Fehler vergeben konnte, tönt doch der Groll des Dichters über dies Gebrechen bis in seine Dichtungen hinein. Selbst Goethe, dieser Proteus unter den Poeten, der alles umfassen wollte, die ganze Welt der Natur und die gesamte Welt der Wissenschaft, bringt gerade in diesem wissenschaftlichen Streben seine Persönlichkeit zu so deutlichem Ausdruck, eine Persönlichkeit, die eine echt deutsche Würde atmet und nach echt deutscher Art den Anspruch erhebt, allen Zeitaltern und Epochen genug zu tun. Alle unsere Dichter: Dershawin, Schukowski, Batjuschkow haben ihre eigene Persönlichkeit, ihre eigene Physionomie. Nur Puschkin hat keine. Was wollte man auch aus seinen Dichtungen für Züge herauslesen, die für ihn persönlich charakteristisch wären? Man versuche es doch einmal, seinen Charakter als Mensch zu fassen. Statt seiner wird man sich immer wieder jener wunderbaren Gestalt gegenübersehen: der Gestalt des Menschen, in dessen Seele alles ein Echo findet, und der allein einsam und unverstanden bleibt. Alle seine Werke sind ein reiches Arsenal aller Werkzeuge, Waffen und Rüstungen der Dichtung. Nun denn, so tretet herein und wählet euch das Werkzeug, das euch paßt, und zieht mit ihm hinaus in die Schlacht; nur der Dichter selbst mischt sich nicht mit der Waffe in der Hand in den Kampf. Und warum hat er das nicht getan? — Das ist eine andre Frage. Er selbst beantwortet sie mit den Versen:

Nicht unser Teil ist das Getümmel

Des Pöbels Hast und Waffenklang,

Uns gab zur süßen Pflicht der Himmel

Begeistrung, Inbrunst und Gesang.

(Eliasberg.)

Puschkin verstand seine Bedeutung besser als die, die ihm solche Fragen vorlegten, und widmete sich voller Liebe seiner Aufgabe. Selbst in Zeiten, wo er im Dunst der Leidenschaften versank, war die Poesie ihm heilig — wie ein Tempel. Nie betrat er unrein und ungeschmückt dies Heiligtum; und er brachte nie etwas Unüberlegtes und Übereiltes aus seinem Leben mit sich, wenn er ihn betrat; nie durfte sich die rohe ungezügelte Wirklichkeit in ihrer Nacktheit dort hineinwagen. Und doch ist alles darin — seine eigene Geschichte. Allein das bleibt allen verborgen. Der Leser atmet nichts als Wohlgeruch, was jedoch alles im Busen des Dichters zu Asche verbrennen mußte, damit diese Wohlgerüche aus ihm aufsteigen konnten, das ahnt keiner. Und wie hütete er sie in seinem Innern; wie sorgsam hegte er sie in sich! Kein italienischer Dichter hat seine Sonette so sorgfältig gefeilt, wie er an diesen leichten Werken gearbeitet hat, die uns wie Kinder des Augenblicks anmuten. Welche peinliche Genauigkeit liegt in jedem Wort! Wie bedeutend ist jeder Ausdruck! Wie ist hier alles abgerundet, wie vollkommen und in sich geschlossen. Jedes Gedicht ist eine Perle, es ist schwer, zu entscheiden, welche Elegie die vorzüglichste ist — sie gleichen alle den glänzenden Zähnen des schönen Mädchens, die der König Salomo mit den jungen Schafen vergleicht, welche eben aus dem Taufbecken steigen und alle gleich schön sind.

Wie hätte er über die Dinge sprechen können, die unsere moderne Gesellschaft interessieren und die für sie von Bedeutung sind, wenn er für jegliches Ding dieser Welt ein offenes Ohr haben wollte, wenn alles ein Echo bei ihm finden sollte und wenn jeder Gegenstand ihn in gleicher Weise anzog? Er wollte in seinem „Onegin“ den modernen Menschen darstellen und ein modernes Problem lösen — allein er vermochte es nicht. Er stieß seine Helden von ihrem Postament herunter, trat selbst an ihre Stelle und fühlte sich in ihrer Person auf’s tiefste von allem ergriffen, was den Poeten ergreift. So wurde dies Poem zu einer Sammlung heterogenster Gefühle, zarter Elegien, boshafter Epigramme und malerischer Idylle; wenn man es durchgelesen hat, behält man wiederum nichts zurück als das Bild des Dichters, dessen Seele auf alles reagiert und für alles Verständnis hat. Seine vollkommensten Schöpfungen: „Boris Godunow“ und die Dichtung „Poltawa“ sind gleichfalls treue Spiegelungen der Vergangenheit. Er hatte durchaus nicht die Absicht, durch sie zu seiner Zeit zu reden; er dachte nicht daran, seinen Landleuten einen Dienst zu leisten, als er sich diese beiden Stoffe auserwählte, man hat auch nicht das Gefühl, daß er eine besondere Sympathie für einen der hier dargestellten Helden empfunden und gerade aus diesem Grunde den Plan zu diesen beiden Dichtungen gefaßt hätte, die so meisterhaft und so künstlerisch gestaltet und durchgearbeitet sind. Das Staunen und die Verwunderung über diese beiden historischen Ereignisse trieben ihn dazu, sie zu gestalten, denn er wollte, daß auch andere Menschen über sie staunen und sich über sie wundern sollten.

Die Lektüre der Dichter aller Zeitalter und Nationen erzeugte bei ihm dieselbe Resonanz. Der spanische Held Don Juan, dies unerschöpfliche Thema unzähliger dramatischer Dichtungen, gab ihm plötzlich die Idee ein, den ganzen Stoff in einem kurzen dramatischen Bilde konzentriert darzustellen, in dem die unwiderstehliche lockende Macht dieses Verführers und die Schwäche des Weibes mit einer unerhörten Seelenkenntnis geschildert ist und in dem Spanien mit ungewöhnlicher Anschaulichkeit vor uns ersteht. Goethes Faust brachte ihn plötzlich auf den Gedanken, die Grundidee des deutschen Dichters auf zwei oder drei Seiten zusammenzudrängen, und man ist erstaunt, mit welcher Treffsicherheit sie erfaßt und trotz der Unbestimmtheit und Sprunghaftigkeit, die sie bei Goethe hat, zu einem festen kernhaften Ganzen zusammengefaßt ist. Die strengen Terzinen Dantes legten ihm die Idee nahe, im gleichen Versmaß und im Geiste Dantes die kindlichen Anfänge seines dichterischen Schaffens während seines Aufenthalts in Zarskoje Selo zu schildern, die Wissenschaft als strenge Frau, die die Kinder in die Schule treibt, und sich selbst als Schuljungen darzustellen, der aus der Klasse entronnen ist, sich in den Garten geflüchtet hat, und nun vor den antiken Statuen steht, die Zirkel und Lyra in der Hand tragen, und die ihm mehr zu sagen haben und eine lebendigere Sprache führen, als die Wissenschaft. Das beweist wieder, wie früh schon diese große Feinfühligkeit und diese Fähigkeit, auf alle Dinge der Welt mit äußerster Feinheit zu reagieren, in ihm erwachten.

Und wie wahr und treu spiegelt er alles wieder! Wie empfindlich ist sein Gehör. Man spürt förmlich den Duft, man glaubt die Farbe der Länder, der Zeiten und Völker förmlich mit dem Auge zu schauen. In Spanien ist er ein Spanier, unter Griechen ist er ein Grieche, im Kaukasus ist er der freie Bergbewohner im vollsten Sinne des Worts; weilt er unter den Menschen vergangener Epochen, so geht von ihm selbst ein Hauch der versunkenen Zeit aus; blickt er in die Hütte des Bauern — so ist er jeder Zoll ein Russe; alle Züge unseres Wesens finden sich bei ihm vertreten, und das alles ist häufig in ein einziges Wort, in ein einziges mit wunderbarer Feinheit gewähltes, treffendes Adjektivum zusammengefaßt.

Diese Fähigkeit entwickelte sich immer kräftiger in ihm, und er hätte sicherlich noch einmal das ganze russische Leben dichterisch gestaltet, wie er ja auch auf jeden einzelnen Zug dieses Lebens reagiert und ihm Beachtung geschenkt hat. Der Gedanke eines Romans, in dem er die schlichte kunstlose Geschichte vom einfachen ehrlichen russischen Leben erzählen wollte, beschäftigte ihn während dieser Zeit unablässig. Er schrieb nur deshalb keine Gedichte mehr, um sich durch nichts ablenken zu lassen, um sich einen schlichteren Erzählerton anzugewöhnen, und er befleißigte sich in der Prosa einer solchen Einfachheit, daß man an seinen ersten Erzählungen so gar nichts zu loben fand. Puschkin freute sich darüber und schrieb dann die „Hauptmannstochter“, sicherlich das beste Werk unserer Erzählungsliteratur. Gemessen an der „Hauptmannstochter“ erscheinen alle unsere Romane und Erzählungen wie fades Gesalbader. Die Reinheit und Kunstlosigkeit der Darstellung haben hier eine solche Höhe erreicht, daß die Wirklichkeit daneben fast wie gekünstelt und wie eine Karikatur erscheint. Zum erstenmal treten uns hier wahrhaft russische Charakter entgegen: der einfache Kommandant der Festung, die Hauptmannsgattin, der Leutnant, die Festung selbst mit ihrer einzigen Kanone, die Unruhe und Verworrenheit der Epoche und die schlichte Größe dieser einfachen Leute, — das alles ist nicht nur lauterste Wahrheit, sondern beinahe etwas noch Höheres als sie. Und so muß es auch wirklich sein: das ist ja gerade die Bestimmung des Dichters, uns selbst, unser Ich — aus uns herauszuheben und uns unser Selbst in geläuterter veredelter Gestalt zurückzugeben. In Puschkin deutete alles darauf hin, daß er für diesen Beruf geboren, daß dies sein Streben war. Fast zugleich mit der Hauptmannstochter entstanden die wundervollen Fragmente zweier Romane, die er uns hinterlassen hat: „Die Handschrift des Dorfes Gorochino“ und „Der Mohr des Zaren“, sowie der mit Bleistift geschriebene Entwurf zu dem großen Roman „Dubrowski“. Während der letzten Jahre hatte er viel vom russischen Leben kennen gelernt, und er sprach so gescheit und so klug über alle Dinge, daß man jedes Wort hätte aufschreiben mögen: denn seine Worte waren mindestens so bedeutend wie seine besten Verse. Was aber noch merkwürdiger war, das war der Bau, der in seiner eigenen Seele emporwuchs und von dem aus sich ein noch helleres Licht über das Leben verbreitet hätte. Die Anklänge daran kann man in einem, erst nach seinem Tode veröffentlichten Gedicht vornehmen [hier wird in fast apokolyptischen Tönen die Flucht aus einer dem Untergang geweihten Stadt und zum Teil auch sein eigener Seelenzustand geschildert]. Wieviel Schönes reifte in diesem Menschen heran, was Rußland zum Heil und Segen hätte gereichen können. — Aber in dem Maße, als er sich dem Mannesalter näherte und von überall her Kräfte zu großen Taten sammelte, dachte er um so weniger darüber nach, wie er mit den kleinen und nichtigen Dingen fertig werden sollte. Ein plötzlicher Tod riß ihn mit einem Schlage von uns hinweg, und jeder Mann im ganzen Staate erfuhr plötzlich, daß wir einen großen Mann verloren hatten. Der Einfluß des Dichters Puschkin auf die Gesellschaft war äußerst geringfügig. Das Publikum beachtete ihn nur zu Beginn seiner dichterischen Laufbahn, als er mit seinen ersten Jugenddichtungen noch an die Töne der Byronschen Leier erinnerte; als er sich jedoch selbst gefunden hatte und nun nicht mehr Byron, sondern Puschkin selbst wurde, da wandte sich das Publikum von ihm ab. Allein sein Einfluß auf die Dichter war sehr groß. Karamsin hat auf dem Gebiet der Prosa lange nicht das geleistet, was Puschkin auf dem Gebiet des Verses gewirkt hat. Die Nachahmer Karamsins lieferten traurige Karikaturen seiner Manier, und ihr Stil und ihre Gedanken nahmen etwas unangenehm Süßliches an. Puschkin dagegen wirkte auf alle Dichter seiner Zeit wie ein vom Himmel fallendes poetisches Feuer, an dem sich alle andern Dichter, die selbst Charakter und eigene Farbe hatten, entzündeten wie die Lichter. Ein ganzer Sternenkreis von Dichtern scharte sich um ihn: Delwig, dieser Sybarit unter den Poeten, der jeden Ton seiner fast hellenischen Leier förmlich auszukosten schien und den Trank der Poesie nicht etwa mit einem Zug hinabstürzte, sondern tropfenweise schlürfte, wie ein Weinkenner seine Blume genießt und seinen Duft einsaugt. Koslow, eine harmonische Natur, aus dessen Mund ungewohnte Töne einer zu Herzen gehenden Musik, wie man sie bisher noch nie vernommen hatte, an unser Ohr klangen. Baratynski, ein Dichter von strenger, fast finsterer Eigenart, der schon früh ein tief in seinem Wesen wurzelndes Streben nach innen an den Tag legte, dessen Gedanken ganz auf die Welt unserer Seele gerichtet waren und der sich bereits um ihre äußere Formung bemühte, noch ehe sie in ihm selbst völlig ausgereift waren. Finster und noch unfertig, wie er war, trat er vor das Publikum, entfremdete sich so alle Leute, und so gelang es ihm nie, jemand nahezukommen. Alle diese Dichter hat Puschkin zum Dichten angeregt, während er andre geradezu erst erschaffen hat. Ich meine hier unsere sogenannten anthologischen Poeten, die nur wenig produziert haben, aber wenn wir unter diesen duftigen Blumen eine Auswahl treffen, so ließe sich wohl ein Buch daraus machen, unter das die besten Dichter ruhig ihren Namen setzen könnten. Ich brauche nur die beiden Tumanski, A. Krylow, Tjutschew, Pletnjew und einige andere zu nennen, die nie ihr eigenes poetisches Licht hätten leuchten lassen und nie solch reiner, schöner seelischer Regungen fähig gewesen wären, wenn sie ihr Feuer nicht an dem Puschkins hätten entzünden können. Selbst ältere Dichter stimmten unter seinem Einfluß ihre Leier um. Der bekannte Übersetzer der Odyssee, Gneditsch, der Nachdichter der Psalmen, Th. Glinka, der Freischärler und Dichter Dawydow und endlich selbst Shukowski, Puschkins Lehrer und Erzieher in der Dichtkunst, gingen bei ihm in die Schule, und der Lehrer lernte von seinem Schüler. Selbst solche Köpfe wurden zu Poeten, die gar nicht für den Dichterberuf geboren waren, sondern vor denen sich eine keineswegs geringere Laufbahn eröffnete, wenn man nach den geistigen Kräften und Leistungen urteilen darf, die sie mit ihren dichterischen Versuchen vollbrachten, so z. B. Wenewitinow, der uns so früh entrissen wurde, oder Chomjakow, der Gott sei Dank noch am Leben ist und dem noch eine herrliche Zukunft bevorsteht, die sich ihm selbst noch nicht völlig enthüllt hat. Diese anregende erweckende Kraft Puschkins ist sogar für manche gefährlich geworden, besonders für Baratynski und für noch einen Dichter, von dem unten die Rede sein wird; sie wurde ihnen dadurch gefährlich, weil sie sie veranlaßte, gleich einen Ausdruck für ihre noch gänzlich unausgereiften seelischen Regungen zu suchen, obwohl ihre Seelen noch gar nicht von einer solchen Poesie erfüllt und durchdrungen waren, die allen vertraut und verständlich gewesen wäre; sie hätten lieber noch ein wenig an sich und an ihrem inneren Ich arbeiten und eine Zeitlang schweigen sollen. Sie standen alle völlig im Bann dieser unerhört künstlerischen Gestaltung und Formung dichterischer Schöpfungen, deren Puschkin fähig war. Die ganze moderne Gesellschaft und alle Bande, die den Menschen unserer Zeit mit ihr verbinden, alle Ansprüche und Forderungen, die das Vaterland an ihn stellt, waren vergessen, und alles lebte in einer Art poetischem Hellas und deklamierte Puschkins Verse.

Nicht unser Teil ist das Getümmel,

Des Pöbels Hast und Waffenklang.

Uns gab zur süßen Pflicht der Himmel

Begeistrung, Inbrunst und Gesang.

Unter den Dichtern der Puschkinschen Epoche nimmt Jasykow eine ganz besondere Stelle ein. Gleich aus seinen ersten Versen dringt einem der Ton einer neuen Leier entgegen, das sind ganz neue Laute, eine freie wilde entfesselnde Kraft, eine Kühnheit in jedem Ausdruck, eine helle jugendliche Begeisterung, wie sie in solcher Stärke und Vollendung bei einer seelischen Beherrschung noch bei keinem Dichter dagewesen war. Es ist kein Zufall, daß er den Namen Jasykow (Herr der Zunge) trug: er ist Herr über seine Zunge, wie ein Araber über sein wildes Roß, und es ist fast so, als brüstete er sich mit seiner Macht über die Sprache. Er mag eine Periode beginnen, wie er will: mit dem Kopf oder mit dem Schwanze, sie steht in ihrer ganzen anschaulichen Bildhaftigkeit da, er führt sie stets zu Ende und rundet sie ab, daß man von Staunen und Bewunderung ergriffen wird. Das was die Kraft einer noch ungebrochenen mächtigen, schwellenden Jugend ausmacht, einer Jugend, die noch voller Zukunft ist, ist der Gegenstand seiner Dichtungen. Alles, was er berührt, sprüht und strömt förmlich über von jugendlicher Frische.

Man denke zum Beispiel an sein Gedicht „Der Fluß“:

Die Hüllen fort. Mit frischem Mut

Streckt sich die Hand zu kräft’gen Schlägen,

Und nun hinab. Und aus der Flut

Sprüht auf ein Diamantenregen.

Wie sind so stark, so frisch und kühl

Die Elemente, die mich wiegen.

Welch süßes, seliges Gefühl.

Wenn kosend sie den Leib umschmiegen!

Oder man denke daran, wie er das Swaikaspiel schildert, das er geradezu ein russisches Spiel genannt hat. Kraftvolle junge Burschen bilden einen Kreis und

Durch den Ring nach seinem Ziele

Saust der Nagel — er erklingt,

Bis bei heitrem Scherz und Spiele

Mild der Frühlingstag versinkt.

Alles, was den Jüngling zum kühnen Wagnis reizt — das Meer, ein Sturm, Festgelage und klingende Becher, ein brüderliches Bündnis voller Tatkraft und Tatenlust, ein felsenfester Glaube an die Zukunft, die Bereitschaft, jeden Kampf für das Vaterland zu bestehen — dies alles findet in seinen Gedichten einen Ausdruck von geradezu unerhörter Kraft. Als die erste Buchausgabe seiner Gedichte erschien, sagte Puschkin ärgerlich: Warum hat er das Buch: Gedichte von Jasykow genannt, er hätte es einfach Rausch! betiteln sollen. Ein Mensch von durchschnittsmäßiger Kraft wird nie etwas Ähnliches zustande bringen; dazu bedurfte es einer Entfesselung aller Kräfte. Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie begeistert er war, als er Jasykows Gedicht an Davydow gelesen hatte, das gerade in einer Zeitschrift erschienen war. Damals sah ich zum erstenmal eine Träne in Puschkins Auge (Puschkin pflegte nie zu weinen, er sagt in der Epistel an Ovid von sich selbst: „Als rauher Slawe kannt ich keine Tränen, doch ich verstehe sie.“) Ich erinnere mich auch, welche Strophen ihn so bis zu Tränen rührten: es sind die beiden ersten, in denen sich der Dichter an Rußland wendet, das man bereits für schwach und kraftlos erklärt hatte, und in denen er ausruft

Hört ihr die Trompete schmettern?

Auf, der Feind ruft, Vaterland!

Denk wie du beim Kriegeswettern

Stets dem Gegner hieltest stand.

Laß zum blut’gen Kampf sich rüsten

Deine Recken, mutig, frei.

Ruf aus Steppen sie und Wüsten,

Von den Flüssen, von den Küsten,

Aus dem fernsten Land herbei.

Und dann folgt die Strophe, in der jene unerhörte Tat der Aufopferung dargestellt wird, wo der Dichter schildert, wie die eigene Hauptstadt mit allen ihren Schätzen, die dem ganzen Lande heilig und teuer sind, den Flammen geweiht wird.

Erd’ und Himmel stehn in Flammen,

Goldgeschmückte, heilge Stadt.

Moskau! Wie? Du stürzst zusammen?

Hörst du’s, Rußland? Auf zur Tat!

Rase Feuer der Zerstörung!

Du erhöhst nur unsern Mut.

Diese flammende Verheerung

Bringt uns Rettung, bringt Verklärung,

Phönix schwingt sich aus der Glut.

Wem sollten solche Strophen nicht Tränen entlocken? Seine Verse sind wie ein alle Kräfte entbindender durcheinanderrüttelnder Rausch, aber in diesem Rausch liegt eine höhere Gewalt, die nach oben zieht. Für Jasykow ist ein studentisches Gelage nicht so sehr eine Äußerung der Lust am Zechen und am Rausch, als vielmehr die Freude über die Kraft, die die jungen Arme schwellt, und über die große Zukunft, die der Jugend bevorsteht, einer Freude darüber, daß die Studenten einmal fortstürmen werden, um

Der großen Sache treu zu dienen,

Der Wahrheit, Ehre und dem Rechte.

Leider geht nur diese Rauschstimmung häufig bis ins Maßlose, und der Dichter gibt sich allzusehr der Freude über die ihnen winkende Zukunft hin, wie dies bei uns in Rußland so viele Leute tun, ohne über einen großartigen Anlauf hinauszukommen.

Aller Augen waren auf Jasykow gerichtet. Alle Welt erwartete etwas Außerordentliches von dem neuen Dichter, dessen Verse voll ritterlicher Großsprechereien und voll Verheißungen gewaltiger Taten waren. Allein die Erwartungen wurden nicht erfüllt. Es erschienen zwar noch ein paar Gedichte von ihm, in denen die alten Töne noch einmal, wenn auch etwas abgeschwächt, erklangen; dann aber wurde der Dichter von einer schweren Krankheit heimgesucht, die nicht ohne Folgen für seine Geistesverfassung blieb. In seinen letzten Versen gab es nichts mehr, was die russische Seele ergriff. Sie enthielten nichts als eine Beschreibung der Langenweile deutscher Städte, gleichgültige Reiseschilderungen und einen Bericht über den einförmigen Verlauf peinvoller Tage. Das alles war dem russischen Geiste fremd. Man achtete nicht einmal auf die außerordentliche Sorgfalt, mit der in diesen späten Gedichten die Form behandelt war. Allein seine Sprache, die hier noch kräftiger ist, wird ihm gerade dadurch zur Verräterin: sie dient nur dazu, einen mageren Gedanken und einen dürftigen Inhalt einzukleiden und gleicht so dem Panzer eines Riesen, der den Leib eines Zwerges umschließt. Es wurde sogar die Meinung laut, Jasykow hätte überhaupt keine Gedanken; er könne nur hohle tönende Verse schmieden und sei überhaupt kein Dichter. Alles begann wider ihn zu murren. Dieser Groll fand in den Zeitschriften ein recht törichtes Echo, allein ihm lag wirklich ein berechtigter Kern zugrunde. Jasykow hat, wenn er vom Dichter sprach, nie ausgerufen wie Puschkin:

Nicht unser Teil ist das Getümmel,

Des Pöbels Hast und Waffenklang.

Uns gab zur süßen Pflicht der Himmel

Begeisterung, Inbrunst und Gesang.

Er läßt den Dichter vielmehr sagen:

Poet, ist alles in dir reif zum Werke,

Worin der Gott dem Menschen Gunst erweist,

Des feurigen Gedankens hoher Geist,

Der Rede Glut, des Wortes Stärke,

So geh und künde, daß die Welt höre.

Freilich ist hier von dem idealen Dichter die Rede, aber er hat doch sein Ideal aus seinem eigenen Wesen geschöpft. Wenn die Elemente dazu nicht in ihm selbst gelegen hätten, dann hätte er sich den Dichter auch nicht so denken können. Nein, nicht die Kraft hatte ihn verlassen, nicht Mangel an Talent und an Ideen sind schuld an dem dürftigen Inhalt der letzten Gedichte, wie anmaßende Kritiker behauptet haben, nicht einmal seine Krankheit trägt die Schuld (die Krankheiten sind immer nur dazu da, die Arbeit an einem Werk zu beschleunigen — vorausgesetzt, daß der Mensch ihren Sinn richtig erkennt) — nein, es war etwas anderes, was ihm die Kraft raubte: das Licht der Liebe war in seiner Seele erloschen. Das war der Grund, weswegen auch das Licht seiner Poesie so viel trüber brannte.

Du mußt das, dessen die Seele bedarf, was ihr not tut, mit solcher Kraft und Stärke lieben lernen, wie du einst den Rausch deiner Jugend liebtest — dann werden deine Gedanken denselben Höhenflug nehmen, wie deine Verse, und deinem Munde werden feueratmende Worte entströmen. Du wirst uns dann die große Leere deines peinvollen Lebens schildern, aber du wirst sie so schildern, daß der Mensch erschauert, daß er sich der stählernen Kraft, die sich plötzlich in ihm regt, bewußt wird, und Gott für das Übel danken wird, das ihm seine Kraft zum Bewußtsein brachte. Jasykow hätte nicht in die Fußstapfen Puschkins treten und seinen Vers nach seinem Vorbilde behandeln und formen dürfen; seine Domäne ist weder die Elegie, noch sind es die Formen der Anthologie, sondern die des Dithyrambus und des Hymnus. Das Gefühl haben alle. Und er hätte seine Fackel eher an Dershawin als an Puschkin entzünden sollen. Seine Verse gehen auch nur dann zu Herzen, wenn sie sich im vollen Glanz der Lyrik entfalten; ein Gegenstand gewinnt nur dann Leben, wenn er sich entweder bewegt, oder tönt, oder leuchtet, und nicht, wenn er ruht. Das Los der verschiedenen Dichter ist sehr ungleich. Der eine hat die Aufgabe, ein treuer Spiegel und ein treues Echo des Lebens zu sein, und dazu ward ihm ein vielseitiges Talent für das beschreibende Genre verliehen. Ein anderer erhält die Bestimmung, eine die Gesellschaft vorwärtstreibende, sie erweckende Kraft zu sein, sie zu den höchsten und hochherzigsten Regungen anzufeuern — und dazu ward ihm ein lyrisches Talent verliehen. Wenn ein solches Talent seinen Weg nicht findet, so liegt es daran, daß es seine geistigen Augen nicht auf sich selbst richtet. Aber die Vorsehung sorgt besser für den Menschen. Sie führt ihn durch Unglück, Bosheit und Krankheit mit Gewalt dahin, wohin er allein nicht den Weg gefunden hätte. In der Lyrik Jasykows machte sich übrigens wieder ein Streben zur Umkehr auf den rechten, ihm vorgezeichneten Weg erkennbar. Erst neulich haben wir sein Gedicht „Das Erdbeben“ kennen gelernt, das nach der Ansicht Shukowskis unser bestes Gedicht ist.

Unter den Dichtern der Puschkinschen Epoche nimmt Fürst Wjasemski eine besondere Stelle ein. Obwohl seine literarische Wirksamkeit lange vor Puschkin begann, müssen wir ihn doch erst hier nennen, da er erst nach dem Auftreten Puschkins den Höhepunkt seiner Entwicklung erreichte. Fürst Wjasemski steht in diametralem Gegensatz zu Jasykow: während jener durch seine Gedankenarmut auffällt, setzt dieser durch die Fülle seiner Ideen in Erstaunen. Der Vers ist für ihn nur Mittel zum Zweck, das erste beste Werkzeug, das sich ihm darbietet. Er verwendet nicht die geringste Sorgfalt auf seine äußere Form, ebensowenig wie auf die Konzentration, auf die Vollendung und Abrundung der Gedanken, um seine Idee dem Leser wie ein kostbares Kleinod vor Augen zu stellen: er ist kein Künstler und legt wenig Wert auf das alles. Seine Gedichte sind — Improvisationen, obwohl man freilich für derartige Improvisationen sehr große und vielseitige Fähigkeiten und einen Kopf von großer Reife und Ausbildung mitbringen muß. Er vereinigt in sich eine außerordentliche Menge vielseitiger Talente, eine starke Anschauung, Beobachtungsgabe, eine Fähigkeit für unerwartete Schlüsse und Folgerungen, Gefühl, Verstand, Scharfsinn, Heiterkeit und sogar Melancholie. Jedes dieser Gedichte ist ein buntes Gemisch aus all diesen Eigenschaften. Er ist kein geborener Poet. Die Vorsehung, die ihn mit allen Talenten begabt hatte, hatte ihm gleichsam als Zugabe auch noch die Gabe der Dichtkunst verliehen, um etwas Ganzes und Vollkommenes aus ihm zu machen. In seinem Buch: Die Biographie Von Wisins tritt die reiche Fülle seiner Talente, über die er verfügte, mit besonderer Deutlichkeit zu Tage. Aus diesem Buche spricht der Politiker, der Philosoph, der feine Kunstliebhaber und Kritiker, der gediegene Staatsmann und sogar der erfahrene Kenner der praktischen Seiten des Lebens — kurz, hier finden sich alle Fähigkeiten vereinigt, über die ein tiefer, ernster Historiker im höchsten Sinne dieses Wortes verfügen muß. Und wenn dieselbe Feder, die die Biographie Von Wisins geschrieben hat, uns die Regierungszeit Katharinas geschildert hätte, die uns heute bereits durch ihren Reichtum, ihre Buntheit und durch die große Zahl außerordentlicher Menschen und Charaktere, die sich hier begegneten, in einem beinahe phantastischen Lichte erscheint, so könnte man mit ziemlicher Bestimmtheit sagen, daß Europa wohl nie ein historisches Werk von ähnlicher Bedeutung hervorgebracht hätte. Das aber ist gerade der wunde Punkt im Schaffen des Fürsten Wjasemski, daß es ihm an einer großen, umfassenden Aufgabe fehlt, und das macht sich sogar in seinen Gedichten bemerkbar. Man hat das Gefühl, daß sich die einzelnen Teile nicht zu einer harmonischen Gesamtwirkung zusammenfügen und merkt ihnen einen großen, inneren Zwiespalt an. Die Worte harmonieren nicht miteinander, ebensowenig wie die Verse; dicht neben einem starken kraftvollen Vers, wie wir ihn in ähnlicher Schönheit bei keinem andern Dichter finden, steht eine andere Zeile, die der ersten nicht im mindesten gleichkommt; bald greift er uns mit einem Gefühl an die Seele, das mitten aus unserem Herzen gerissen scheint; bald wieder stößt er uns ab durch einen Ton, der uns innerlich fremd ist, und der dem Gegenstand nicht im mindesten entspricht, man fühlt, daß ihm die innere Sammlung fehlt, daß er nicht zur vollen, lebendigen Entfaltung seiner Kräfte gelangen kann. Tief unten auf dem Grunde des Ganzen macht sich eine gewisse Gedrücktheit und Unfreiheit bemerkbar. Das Los eines Menschen, dem die reichsten und mannigfaltigsten Talente verliehen werden, und der keine große Aufgabe finden kann, die alle seine Fähigkeiten bis auf die letzte in Anspruch nimmt, ist schlimmer, als das des ärmsten Bettlers. Nur eine solche Sache, die den Menschen in sein Inneres zurückführt und ihn veranlaßt, in sich selbst einzukehren, bringt wahre Erlösung. Nur bei solch einer Arbeit, sagt der Dichter, können

Der Seele Flügel sich entfalten,

Erstarkt der Wille, und das Walten

Des Schicksals zeichnet klar sich ab.

Während unsere Poesie ihren Weg unter der Führung und Leitung der Dichter aller Zeiten und Völker so schnell und in so eigenartiger Weise zurücklegte, während die Klänge aller Länder, in denen es eine Dichtkunst gibt, ihr Ohr trafen und sie selbst sich in allen Tonarten und Akkorden versuchte, stand ein Dichter einsam und abseits von allen andern. Er hatte den unscheinbarsten und schmalsten Pfad gewählt und schritt solange still und geräuschlos auf ihm dahin, bis er eines Tages über alle andern hinausgewachsen war, wie eine starke Eiche sich hoch über ein Gehölz erhebt, in dem sie sich anfänglich versteckte. Dieser Dichter war — Krylow. Er hatte die Form der Fabel gewählt, die alle Welt bisher für eine alte, kaum noch verwendbare Gattung oder gar für ein Kinderspielzeug gehalten und darum vernachlässigt hatte, und er brachte es fertig, mit Hilfe dieser Fabel zu einem wirklichen Volksdichter zu werden. Das war einer von unsern harten starken russischen Köpfen, ein Geist, der dem Geist unserer Sprichwörter so nahe verwandt ist; hier regt sich jener Verstand, der die Stärke des Russen ausmacht, und sich in der Fähigkeit, Folgerungen zu ziehen, bekundet, der sogenannte nachhinkende Verstand. Das Sprichwort stellt nicht etwa eine vorgefaßte Meinung oder eine Vermutung über eine Sache dar, sondern vielmehr das Fazit, die Summe des Ganzen, den Bodensatz, den Niederschlag völlig durchgegorener und bereits vollendeter Tatsachen, den endgültigen Extrakt, die Essenz aus der ganzen Sache, aus allen ihren Faktoren und nicht bloß aus einem einzigen Faktor. Das kommt auch in dem Spruch zum Ausdruck: „Bloße Reden ergeben noch kein Sprichwort.“ Dieser „nachhinkende“ Verstand, dieses Talent für radikale endgültige Folgerungen, das dem russischen Volk vor allen andern Völkern eigen ist, macht, daß unsere Sprichworte so viel bedeutsamer sind, als die aller andern Nationen. Nicht nur in dem reichen Gedankengehalt, sondern auch in dem Ausdruck spiegeln sich viele von unseren nationalen Eigentümlichkeiten. In ihnen ist alles enthalten: Spott, Ironie, eine Mahnung, kurz alles, was geeignet ist, den Menschen aufzurütteln und seinen wundesten Punkt zu berühren; wie ein hundertäugiger Argus blickt jedes von ihnen den Menschen an. Alle großen Männer von Puschkin bis auf Suworow und Peter den Großen haben unsere Sprichwörter geliebt und bewundert. Die hohe Würdigung, die man ihnen angedeihen ließ, kommt in vielen Aussprüchen zum Ausdruck: „Ein Sprichwort wird nicht umsonst geprägt“ oder „ein Sprichwort bleibt ewig bestehen.“ Es ist ja bekannt, daß, wenn man sich darauf versteht, seine Rede durch ein geschickt gewähltes Sprichwort zu bekräftigen, man sie dadurch dem Volke mit einem Schlage verständlich macht, selbst wenn sie seine Begriffe noch so sehr übersteigt.

Das sind die Wurzeln, aus denen Krylow hervorgewachsen ist. Seine Fabeln sind nicht etwa für Kinder geschrieben. Man würde sich eines groben Irrtums schuldig machen, wenn man ihn einen Fabeldichter von der Art der Lafontaines, Dmitriews, Chemnitzers oder gar eines Ismailow nennen wollte. Seine Gleichnisse sind ein festes nationales Besitztum und bilden das Buch der Weisheit unsers Volkes. Seine Tiere denken und handeln nach echt russischer Weise. Die Streiche, die sie einander spielen, sind ein Spiegelbild der Kniffe, der Listen, der Streiche, die in Rußland üblich sind und dessen, was in unserem Lande zu passieren pflegt. Abgesehen von der getreuen Erfassung des tierischen Charakters, die bei ihm so genau und treffend ist, daß nicht nur der Fuchs, der Bär und der Wolf, sondern sogar der Topf lebendig werden, lassen alle Geschöpfe auch ihre echt russische Wesensart erkennen.

Selbst der Esel, der bei ihm so wunderbar typisch charakterisiert ist, daß er nur seine Ohren aus irgendeiner Fabel hervorzustecken braucht, damit der Leser sofort ausruft: das ist Krylows Esel, — selbst der Esel ist, trotzdem er doch den Ländern einer andern Zone angehört, bei Krylow ein echter Russe. Nachdem er mehrere Jahre hindurch fremde Gemüsegärten geplündert hat, wird er plötzlich von einem mächtigen Ehrgeiz erfaßt, er will durchaus einen Orden haben, und tut fürchterlich wichtig, als sein Herr ihm ein Glöckchen um den Hals gehängt hat, denn er kommt nicht auf den Gedanken, daß ja jetzt jeder seiner Diebstähle und jeder schlechte Streich, den er begehen wird, von allen bemerkt werden und daß es nun bei jeder Gelegenheit kräftige Schläge auf die Lenden setzen wird. Kurz — überall befindet man sich bei ihm in Rußland, überall fühlt man sich an Rußland erinnert. Überdies hat jede seiner Fabeln noch ihren historischen Ursprung. Denn trotz seiner Bedachtsamkeit und seiner scheinbaren Gleichgültigkeit gegen die Vorgänge und Ereignisse seiner Zeit verfolgte der Dichter jede Begebenheit, die sich in seinem Vaterlande abspielte mit großer Aufmerksamkeit: alles fand bei ihm eine Resonanz, und in seinen Urteilen findet stets das kluge Maß, die rechte Mitte ihren Ausdruck, aus ihnen spricht die versöhnende Stimme des Mittlers, eine Eigentümlichkeit, die Rußlands Stärke ausmacht, wenn der russische Geist sich zu seiner wirklichen Höhe emporschwingt. Durch ein streng abgewogenes kräftiges Wort beleuchtet Krylow mit einem Schlage den ganzen Gegenstand und bestimmt er sein wahres eigentliches Wesen. Als einmal ein paar allzusehr für das militärische Wesen begeisterte Leute behauptet hatten, daß der ganze Staat ausschließlich auf die militärische Macht gegründet werden müsse und daß in ihr das ganze Heil liege, während die Zivilbeamten sich ihrerseits über alles, was mit dem Militär zusammenhing, lustig machten, bloß weil ein Paar Leute das ganze Militärwesen zu einer Epauletten- und Litzenfrage gemacht hatten, da schrieb er seinen berühmten Streit zwischen den Kanonen und den Segeln, in dem er beide Parteien mit folgenden vier Zeilen in ihre rechtmäßigen Grenzen verweist:

Darin besteht des Staates wahre Macht,

Daß alle Teile weise Frieden halten.

Die Waffen stehen drohend auf der Wacht,

Die Segel sind der Bürger — Rechtsgewalten.

Wie treffend ist diese Entscheidung! Ohne Kanonen ist keine Verteidigung möglich, ohne Segel aber kommt man auf der See überhaupt nicht vom Flecke. Ein anderes Mal wiederum, als ein Paar Regierungsbeamte, die die allerbesten Absichten hatten, sich jedoch durch eine große Kurzsichtigkeit auszeichneten, auf den seltsamen Gedanken verfallen waren, man müsse sich vor den gescheiten und energischen Leuten in acht nehmen und sie bei der Besetzung der Ämter übergehen, bloß weil sich gerade damals einzelne von ihnen einige lose Streiche hatten zuschulden kommen lassen und sich an einem törichten Unternehmen beteiligt hatten, da schrieb Krylow seine nicht weniger bedeutende Fabel: Die beiden Rasiermesser, in der er sich gegen die Beamten wendet, die

Die klugen Menschen fürchten

Und lieber sich an einen Dummkopf halten.

Man merkt, daß er überall Partei für den Verstand nimmt, überall mahnt er immer wieder, man solle den klugen Mann nur ja nicht unterschätzen, sondern man solle ihn richtig behandeln lernen. Dieser Gedanke kommt in der Fabel „Die Musikanten“ zum Ausdruck, die mit den Worten schließt: „Ich möcht dich lieber trinken sehn, tust du nur deine Sache ganz verstehn.“ Das sagt er nicht etwa, um das Trinken und Zechen zu verherrlichen, sondern weil ihm das Herz wehe tat, wenn er mit ansehen mußte, wie manche Leute sich statt tüchtiger sachverständiger Männer allerhand hergelaufenes Gesindel herholten, und sich dann noch dessen rühmten und erklärten, sie verständen zwar nichts von ihrer Sache, hätten dafür aber ein ausgezeichnetes Benehmen. Er wußte, daß man bei einem klugen Menschen alles erreichen könne und daß es nicht schwer sei, ihm auch ein gutes Betragen beizubringen, wenn man es nur versteht, verständig mit ihm zu sprechen, dagegen sei es sehr schwer, einem Dummkopf Verstand beizubringen, selbst wenn man noch so viel auf ihn einredet: „Mit einem Diebe — ist man wie auf hoher See, mit einem Dummkopf wie in einem Topf mit abgerahmter Milch.“ Aber auch dem Gescheiten weiß er ein kräftiges Wort zu sagen, in der Fabel „Teich und Fluß“ tadelt er ihn heftig, weil er seine Fähigkeiten einschlafen läßt, und in der Fabel „Der Schriftsteller und der Räuber“ straft er ihn, weil er sie zu schlimmen und lasterhaften Zwecken mißbraucht. Überhaupt beschäftigten ihn immer nur große und bedeutende Fragen. Aus einem Buch kann jeder Mensch Belehrung schöpfen, alle Stände und Ränge im Staate, in erster Linie das Oberhaupt, von dem er sagt:

Wenn ein Monarch sein Volk erfolgreich lenken will,

Muß er die Zügel fest, doch allzu straff nicht halten,

ebenso wie der letzte Tagelöhner, der in den untersten Reihen des Staatskörpers steht und wirkt. Ihn weist er auf seine hohe Aufgabe hin, indem er ihn an die Biene erinnert, die nie darum bemüht ist, ihrer Arbeit eine besondere Würde zu verleihen.

Welch hoher Achtung wert ist auch der niedre Mann,

Der ungeehrt und im Verborgnen lebt

Und den für alle Sorgen, Mühn und Plagen

Der einzige Gedanke nur erhebt!

Er muß sie für das allgemeine Beste tragen.

Diese Worte werden ein ewiges Zeugnis für den hohen Sinn Krylows bleiben. Kein Dichter hat je vermocht, seinen Gedanken eine so greifbare Form zu geben, sie so allgemein verständlich auszudrücken, wie Krylow. Der Dichter und der Weise sind in ihm eins geworden. Bei ihm ist alles plastisch und anschaulich, seine Schilderungen der Natur in ihren hohen Reizen und in ihrer drohenden Größe, ja selbst in ihrer Häßlichkeit und in ihrem Schmutz, bis zu den feinsten Wendungen eines Gesprächs, die eine lebendige Offenbarung der innersten seelischen Regungen sind. Alles ist so treffend ausgedrückt, so richtig beobachtet, die Dinge sind mit einer solchen Sicherheit erfaßt, daß es eigentlich unmöglich ist, festzustellen, was das Charakterische der Krylowschen Schreibweise ausmacht. Der Versuch wäre vergeblich, das Wesen seines Stils zu ergründen. Der Gegenstand scheint überhaupt keine sprachliche Hülle zu besitzen und ganz nackt, ganz nur er selbst, so wie die Natur ihn geschaffen hat, vor unseren Augen zu stehen. Seine Verskunst spottet gleichfalls jeder Definition. Es läßt sich nicht sagen, worin ihre Eigenart besteht: Ist dieser Vers klangvoll, leicht, oder schwerfällig? Er fängt an zu tönen, wo sein Gegenstand zu tönen beginnt, er wird lebendig und beweglich, wo sich der Gegenstand bewegt, er wird kraftvoll und ehern, wo der Gedanke stark und kräftig ist und er wird plötzlich leicht, wo die Kraft und Schwere der Gedanken dem leichten oberflächlichen Geschwätz der Toren Platz macht. Seine Sprache folgt willig und gehorsam dem Gedanken, sie schwirrt hin und her wie eine Fliege; bald bewegt sie sich in langen sechsfüßigen Versmaßen, bald wieder in schnellen einfüßigen; in der wohlüberlegten Silbenzahl offenbart sich aufs deutlichste ihre unfaßbare Geistigkeit. Man denke bloß an den großartigen Schluß der Fabel „Die beiden Fässer“:

Den großen Mann erkennt man an der Tat

Und die Gedanken, die sein Hirn erfüllen,

Denkt er im Stillen.

Hier glaubt man aus der Anordnung und der Folge der Worte förmlich die Größe des in sich selbst versenkten Menschen herauszufühlen.

Von Krylow werden wir sofort zu einer andern Gattung unserer Poesie, nämlich zur satirischen Form hinübergeleitet. Wir Russen besitzen alle viel Ironie. Sie kommt schon in unseren Sprichwörtern und Liedern zum Vorschein und, was das Merkwürdigste ist, häufig selbst da, wo die Seele ganz offenkundig leidet und wo sie gar nicht zur Heiterkeit aufgelegt ist. Die Tiefe dieser urwüchsigen Ironie hat sich uns noch nicht völlig erschlossen, weil wir auf allen Gebieten den Einflüssen der europäischen Bildung unterlegen sind und uns auch in diesem Punkte von unserer heimatlichen Wurzel losgelöst haben. Die Tendenz zur Ironie haben wir uns indessen doch erhalten, wenn auch in etwas anderer Form. Es ist schwer, einen Russen zu finden, in dem sich nicht einerseits die Fähigkeit ehrfürchtiger Hingabe an einen Gegenstand mit der Neigung zum Spott und ehrlichem Lachen vereinigt fände. Alle unsere Dichter haben diese Fähigkeit besessen. Dershawin hat den größeren Teil seiner Oden mit diesem kräftigen Salze gewürzt. Wir finden sie aber auch bei Puschkin, bei Krylow, beim Fürsten Wjasemski, wir finden sie selbst bei solchen Dichtern, deren Charakter eher zu einer sanften Melancholie neigt: bei Kapnist, bei Shukowski, bei Karamsin, beim Fürsten Dolgoruki; dies ist ein Zug, der uns allen gemeinsam ist. So wird es begreiflich, daß unser Volk geborene Satiriker im wahren Sinn dieses Wortes hervorbringen konnte. Schon zu jener Zeit, als Lomonossow sich bemühte, seine Leier auf einen hohen lyrischen Ton abzustimmen, entdeckte Fürst Kantemir mancherlei Stoffe für die Satire und geißelte in seinen Dichtungen die Torheit unsrer noch im Werden begriffenen Gesellschaft. Wir besitzen Satiren, Epigramme, boshafte karikaturistische Umdichtungen der bekanntesten Dichtungen und alle möglichen Parodien voll Spott und Ironie aus allen Epochen, sie alle werden wahrscheinlich ewig nur im Manuskript erhalten bleiben, obwohl sie von starkem Talent zeugen. Man denke nur an die Parodien des Fürsten Gortschakow, an die Satire auf die Literaten von Wojeikow „Das Irrenhaus“ und an die talentvollen Parodien Michael Dmitrijews, in denen sich die Galle Juvenals mit einer eigentümlichen slawischen Gutmütigkeit mischt. Indes die Satire brauchte bald ein größeres Wirkungsfeld für ihre Entwicklung, und so drang sie allmählig auch in das Drama ein. Das Theater hatte bei uns denselben Ursprung wie überall; wir begannen zunächst mit Nachahmungen; bald jedoch kamen auch originelle Züge zum Vorschein. In der Tragödie regten sich sittliche Mächte und eine Erkenntnis des Menschen, wie er sich unter dem Einfluß einer bestimmten Epoche, eines bestimmten Zeitalters darstellte; in der Komödie ergossen die Dichter ihren milden Spott über die lächerlichen Seiten unserer Gesellschaft, ohne sich um die Seele der Menschen zu kümmern. Namen wie denen Oserows, Knjaschnins, Kapnists, Fürst Schahowskois, Chmelnitzkijs, Sagoskins, A. Pissarews usw., haben wir ein achtungsvolles Gedächtnis bewahrt, sie alle aber verblassen vor zwei hervorragenden Werken, nämlich vor den beiden Komödien „Der Landjunker“ von Von Wisin und vor Gribojedows „Verstand bringt Leiden“, die Fürst Wjasemski geistreich zwei moderne Tragödien genannt hat. Dies ist mehr als ein leichter milder Spott über die komischen und lächerlichen Seiten der Gesellschaft, hier werden die Wunden und Krankheiten der Gesellschaft und schwere Mißbräuche in ihrem Innern aufgedeckt, die durch die Kraft einer unerbittlichen Ironie mit erschütternder Deutlichkeit in ihrer ganzen Nacktheit ans Licht gestellt werden. Von diesen beiden Komödien hat jede eine besondere Epoche zum Gegenstand; die eine geißelt die Übel, die aus der Unbildung — die andere die, die aus einer mißverstandenen Bildung entspringen. Die Komödie Von Wisins richtet sich gegen die rohe Brutalität des Menschen, dies Produkt einer stumpfen unerschütterlichen Stagnation der entlegenen Teile und Provinzen Rußlands. Sie schildert die Rinde von Roheit und Brutalität, die die Gesellschaft umgibt, in so furchtbaren Farben, daß man in diesem Stück den Russen kaum noch wiedererkennt. Wer vermag noch einen russischen Zug in diesem boshaften Wesen voll tyrannischer Gelüste zu entdecken: in dieser Frau Prostakowa, der Peinigerin ihrer Bauern, ihres Mannes sowie aller Menschen mit der einzigen Ausnahme ihres Sohnes? Und doch fühlt man deutlich, daß in keinem Lande, weder in Frankreich noch in England, ein solches Wesen möglich wäre. Diese unsinnige Liebe zu ihrem Kinde — ist unsere eigene, starke russische Liebe, die sich in einem Menschen, der seine Menschenwürde eingebüßt hat, in so unnatürlicher Weise äußert: in dieser sonderbaren Mischung mit einer tyrannischen Sinnesart; denn je mehr sie ihr Kind liebt, um so mehr haßt sie alles, was nicht ihr Kind ist. Der Charakter Skotinins stellt ein anderes Beispiel der Verrohung dar. Dieser plumpe schwerfällige Mensch, der wiederum gar keine starken und wilden Leidenschaften kennt, geht völlig in einer stillen Liebe zum Vieh auf, die fast etwas Poetisches hat; statt auf den Menschen, richtet sie sich auf das Tier: die Schweine bedeuten für ihn ebensoviel wie eine Gemäldesammlung für einen Kunstliebhaber. Sodann der Mann der Frau Prostakowa — dies unglückliche, völlig verschüchterte Geschöpf, in dem selbst die schwachen Kräfte und Regungen, die noch in ihm waren, gänzlich durch die ewigen Nörgeleien seiner Gattin erstickt sind — in ihm ist alles abgestorben! Und endlich dieser Mitrophan, in dessen Natur keinerlei Bosheit liegt, der niemand etwas Böses antun will, und der doch ganz unmerklich, infolge der übermäßigen Verzärtelung, und weil jeder seiner Wünsche erfüllt wird, zum Tyrannen seiner ganzen Umgebung, am meisten jedoch der Menschen wird, die ihn am innigsten lieben, d. h. seiner Mutter und seiner Wärterin, so daß es ihm geradezu ein Genuß ist, sie zu kränken und zu beleidigen. Kurz, diese Menschen scheinen eigentlich gar keine Russen zu sein, es ist schwierig, überhaupt noch einen russischen Zug in ihnen wiederzufinden, abgesehen etwa von der Jeremejewna und dem alten Soldaten. Man erfährt mit Schrecken, daß bei ihnen weder der Einfluß der Kirche noch die guten alten Sitten etwas auszurichten vermögen, von denen sich bei ihnen nichts als das Häßliche und Gemeine erhalten hat; hier hat nur noch das eherne Gesetz zu sprechen. In dieser Komödie erscheint alles wie eine monströse Karikatur auf das Russentum, und doch enthält sie nichts Karikiertes, alles ist mitten aus dem Leben geschöpft und mit tiefster Seelenkenntis beobachtet. Dies sind ungeheuerliche schreckliche Beispiele der Verrohung, wie sie nur ein Mensch, dessen Wiege in Rußland gestanden hat, nie aber der Sohn eines andern Volkes erschaffen konnte.

Die Komödie von Gribojedow behandelt eine andere gesellschaftliche Epoche, sie schildert das Übel, das durch eine schlecht verdaute Aufklärung, die oberflächliche Nachäffung mondäner Äußerlichkeiten statt des Kernhaften und Wesentlichen hervorgerufen wird, kurz, sie macht sich die Donquichotterien unserer europäischen Bildung, die unorganische Vermischung der Sitten und Bräuche, die die Russen so sehr ihrem eigenen Wesen entfremdet und zu Ausländern gemacht hat, zum Vorwurf. Der Typus des Famussow ist ebenso tief erfaßt, wie der der Frau Prostakowa. Mit derselben Naivität, wie Frau Prostakowa sich ihrer Unwissenheit, rühmt er sich seiner Halbbildung, und zwar sowohl seiner eigenen wie der des ganzen Standes, dem er angehört: er ist stolz darauf, daß die jungen Mädchen von Moskau die höchsten Töne singen können, daß sie keine zwei einfache ungezierte Worte zu sagen vermögen, daß seine Türe allen offen steht, den Geladenen wie den Ungeladenen, besonders aber den Ausländern und daß in seinem Bureau lauter Verwandte sitzen, die nichts zu tun haben. Er ist ein Mann von gutem würdigen Benehmen und zugleich ein Schwerenöter; er predigt Moral und ist ein Feinschmecker und ein Freund opulenter Diners, die ihm drei Tage lang im Magen liegen. Er ist sogar ein Freidenker, wenn er in Gesellschaft ähnlicher alter Herren weilt, wie er selbst einer ist, und will doch keinen jungen Freigeist auf Schußweite in die Stadt hineinlassen; diesen Namen hält er nämlich für jeden bereit, der die Bräuche der vornehmen Welt nicht aufs strengste beobachtet. Im Grunde genommen ist dies einer jener ausgebrannten Menschen, die trotz all ihres weltmännischen „comme il faut“ gänzlich leer und hohl sind, deren Verweilen in der Hauptstadt und deren Beschäftigung mit dienstlichen Angelegenheiten für die Gesellschaft ebenso schädlich sind, wie andere Leute sie dadurch schädigen, daß sie dem Dienst zu entfliehen suchen und beständig auf dem Lande sitzen, wo sie vollends verrohen. Erstens leiden schon ihre Güter darunter, da sie ihre Bewirtschaftung gedungenen Arbeitern und Verwaltern überlassen und immer nur Geld für Bälle, sowie große und kleine Diners von ihnen verlangen; damit zerstören sie das gesunde heilige Band, das einstmals den Gutsherrn mit seinen Bauern einte; ferner aber leiden darunter auch die dienstlichen Angelegenheiten: indem sie nämlich alle Ämter und Posten ausschließlich mit ihren Verwandten besetzen, die nichts zu tun haben und sich dem Müßiggang ergeben, berauben sie den Staat der wirklichen tätigen Arbeiter und nehmen einem jede Lust, bei einem ehrlichen Menschen in den Dienst zu treten; endlich aber diskreditieren sie auch noch das Ansehen der Regierung durch ihren zweideutigen Lebenswandel — denn indem sie sich selbst den Anschein geben, als seien sie wohlgesinnte Leute, die [dem Zaren] treu ergeben sind, — verlangen sie von den jungen Leuten, daß sie Tugend heucheln sollen, dabei aber führen sie selbst einen lasterhaften Lebenswandel, bringen so die Jugend gegen sich auf und pflanzen denen, deren Köpfe nicht allzu widerstandsfähig und zu allerhand Extremen geneigt sind, — Mißachtung des Alters, wahrer Verdienste und Neigung zu wirklichem Freidenkertum ein. Nicht weniger bedeutsam ist ein anderer Typus: Sagorezki, dieser ausgesprochene Lump, über den alle schimpfen und der doch wunderbarerweise überall empfangen wird, ein Lügner und Gauner, der es aber versteht, sich bei allen hochgestellten und einflußreichen Persönlichkeiten beliebt zu machen, indem er ihnen das zu verschaffen weiß, wofür sie eine schmähliche Schwäche haben; ja er ist, wenn es darauf ankommt, sogar bereit, ein Patriot und ein Vorkämpfer der Sittlichkeit zu werden, einen Scheiterhaufen zu entzünden und alle Bücher, die es auf der Welt gibt, und mit ihnen zugleich alle Fabeldichter [wegen ihrer ewigen Scherze über die Löwen und Adler] zu verbrennen, womit er übrigens verrät, daß er, der sich vor nichts scheut, — nicht einmal vor dem elendsten Geschimpf und Gezänk — dennoch den Spott fürchtet, wie der Teufel das Kreuz. Nicht minder hervorragend ist eine dritte Figur: der törichte Liberale Repetilow, dieser Ritter der Hohlheit und Torheit, in welcher Gestalt sie auch immer erscheinen mag. Die ganze Nacht über eilt er von Versammlung zu Versammlung, und freut sich, Gott weiß wie sehr, wenn es ihm gelingt, Anschluß an irgendeine Gesellschaft zu finden, in der viel Lärm gemacht und laute Reden über Gegenstände geführt werden, die er nicht versteht, und deren Sinn er nicht einmal wiederzugeben vermag; trotzdem aber hört er sich all die verrückten Phantastereien begeistert an, und er ist überzeugt, daß er sich nun endlich auf dem richtigen Wege befindet, und daß hier wirklich eine große soziale Aufgabe vorliegt: ein Problem, das zwar noch nicht reif ist, dessen wahre Bedeutung sich jedoch schon offenbaren wird, wenn man nur gehörig Lärm macht, sich nachts recht häufig versammeln und heftige Diskussionen führen wird. — Auf derselben Höhe steht ein vierter Typus: der dumme [Soldat] Skalosub, der seinen Dienst so versteht, daß es dabei lediglich darauf ankommt, die verschiedenen Abzeichen und Uniformen unterscheiden zu können, der dabei aber an einer eigenartigen philosophischen [liberalen] Anschauung über die Ränge und Titel festhält. Er erklärt ganz offen, er halte sie für die unentbehrlichen Kanäle, die zum Generalsrang führen; und habe er erst den, dann möge kommen, was da will. Sonst macht er sich keine Sorgen, die Zustände seiner Epoche und seines Zeitalters machen ihm nicht viel Kopfzerbrechen, er ist fest davon überzeugt, daß man Ruhe in der Welt schaffen könne, wenn man ihr einen Feldwebel zum Voltaire gibt. Ein prachtvoller Typus ist ferner auch die alte Chlöstowa, diese traurige Mischung aus der Hohlheit und Trivialität zweier Jahrhunderte. Von dem ganzen Inhalt der alten Zeiten hat sie lediglich deren Torheit und Hohlheit ererbt und für diese fordert sie Achtung von der jungen Generation, sie verlangt, daß dieselben Menschen, die sie verachtet, sie respektieren sollen, überhäuft jeden, der ihr in den Weg läuft, mit Vorwürfen, weil er sich in ihrer Gegenwart nicht richtig hingesetzt oder umgedreht habe, es gibt kein Wesen, das sie liebt und achtet, dafür aber protegiert sie kleine Negerjungen, Möpse und Leute von der Art einer Moltschalin, kurz, sie ist ein widerwärtiges altes Weib im vollen Sinn des Wortes. Moltschalin ist gleichfalls ein glänzender Typus. Diese stumme gemeine Kreatur ist mit außerordentlicher Treffsicherheit erfaßt. Dieser Mensch arbeitet sich ganz still und geräuschlos empor, schlummert doch nach Tschatzkys Worten in ihm ein künftiger Sagorezki. Ein solcher Haufen von Ungeheuern, deren jedes in sich das Zerrbild einer Meinung, eines Prinzips, einer Idee darstellt, ihren vernünftigen Sinn in seiner Weise entstellt und in sein Gegenteil verkehrt, mußte eine Reaktion hervorrufen und zu dem entgegengesetzten Extrem führen, wie es in seiner ganzen Schroffheit durch Tschatzky repräsentiert wird. Tschatzky geht in seinem Ärger und in gerechter Empörung gegen alle diese Leute gleichfalls viel zu weit und bemerkt nicht, daß er gerade dadurch und durch seine unbeherrschte Sprache unerträglich und lächerlich wird. Alle Personen des Gribojedowschen Dramas sind ebensosehr Produkte der Halbbildung, wie die Personen im Drama Von Wisins Produkte der Unbildung, russische Ungeheuer, Krüppel, vorübergehende Zeiterscheinungen sind, die aus einer durch neue Fermente hervorgerufenen Gärung entsprungen sind. Kein einziger von ihnen stellt einen echten, wahrhaft russischen Typus dar: in keinem von ihnen regt sich der russische Bürger. Der Zuschauer bleibt gänzlich im Ungewissen, wie nun ein Russe in Wahrheit sein soll. Selbst Tschatzky, diese Persönlichkeit, die offenbar vorbildlich wirken soll, zeigt nur ein Streben, eine Tendenz zu einem bestimmten Ziel, und äußert bloß ihre Entrüstung über alles Gemeine und Verächtliche in der Gesellschaft, ohne in Wirklichkeit in sich selbst der Gesellschaft ein Muster und Vorbild aufzustellen.

Beide Komödien erfüllen die Forderungen der dramatischen Technik nur schlecht, in dieser Beziehung ist ihnen jedes noch so minderwertige französische Stück überlegen. Der Kern der Intrige, der Knoten des Dramas wird weder straff geknüpft noch kunstvoll gelöst. Man hat den Eindruck, als hätten die Komödiendichter sich hierfür nur wenig interessiert, als repräsentiere ihnen der Stoff nur einen andern höheren Inhalt, der allein für das Auftreten und den Abgang ihrer Person maßgebend ist. Die Notwendigkeit der Nebenpersonen und Rollen steht gleichfalls in keinem Zusammenhang mit der Hauptperson, mit dem Helden des Stücks, sondern wird lediglich daran gemessen, inwieweit diese Personen geeignet erscheinen, den Gedanken des Dichters durch ihre Anwesenheit zu erläutern und zu ergänzen und das satirische Gesamtbild zu vervollständigen. Wäre es anders, d. h. hätten die Dichter die notwendigen Forderungen der Bühntechnik erfüllt und jede ihrer Personen, die alle so außerordentlich glücklich erfaßt und gestaltet sind, sich vor dem Zuschauer in einer lebensvollen Handlung und nicht in bloßen Reden und Gegenreden ausleben lassen, so wären diese beiden Komödien sicherlich zwei großartige Schöpfungen des russischen Genius geworden. Auch jetzt kann man sie zwei echte soziale Komödien nennen; eine so ausdrucksvolle und bedeutende Komödie hat es bisher, wie ich glaube, noch bei keinem Volke gegeben. Bei den Griechen finden wir zwar Ansätze zu einer sozialen Komödie, indessen ließ sich Aristophanes doch mehr durch persönliche Sympathien leiten, er geißelte die Mißbräuche und Fehler einzelner und behielt dabei nicht immer lediglich das Interesse der Wahrheit im Auge: hat er es doch gewagt, was wohl ein genügender Beweis dafür ist, den Sokrates zu verspotten. Unsere Komödiendichter aber wurden von sozialen und nicht von persönlichen Motiven bewegt, ihre Angriffe richteten sich nicht gegen einzelne Personen, sondern gegen unzählige Mißbräuche, gegen Verirrungen der Gesellschaft und ihr Abweichen vom geraden Wege des Rechts. Die Gesellschaft schien in ihnen selbst Fleisch und Blut, schien Körper geworden zu sein; am lyrischen Feuer der Entrüstung entzündete sich ihr kraftvoller schonungsloser Spott. Da ist eine Fortsetzung jenes Kampfes von Licht und Finsternis, den Peter in Rußland entfacht hat, und der jeden hochherzigen Russen unwillkürlich zu einem Vorkämpfer des Lichts macht. Beide Komödien sind keine eigentlichen Schöpfungen der Kunst, und sind nicht aus der Einbildungskraft des Dichters geboren. Es mußte sich schon viel Schmutz und Unrat in unserem Lande angehäuft haben, damit zwei solche Werke ganz aus sich selbst entstehen und wie ein reinigendes Gewitter an uns vorüberziehen konnten. Und das ist der Grund, weswegen in unserer Literatur kein Werk mehr auf sie gefolgt ist, das ihnen gleichkam, und daß ihnen wahrscheinlich auch lange kein gleiches mehr folgen wird.

Mit dem Tode Puschkins kommt die Bewegung in unserer Literatur zum Stillstand. Das bedeutet jedoch noch keineswegs, daß ihr Geist erloschen ist; im Gegenteil, er sammelt sich gleich einem Gewitter in der Ferne, und die Trockenheit und die schwüle Luft kündigen sein Nahen an. Schon heute gibt es viele talentvolle Leute unter uns. Aber noch verspüren wir die Nachwirkung der harmonischen Puschkinschen Töne; noch vermag niemand diesem Zauberkreis, den er um uns gezogen hat, zu entrinnen und zu zeigen, was er selbst vermag. Ja niemand scheint etwas davon zu merken, daß eine neue Zeit angebrochen ist, daß sich neue Lebensgrundlagen herausgebildet haben, und daß neue Fragen laut zu werden beginnen, die wir bisher nicht vernommen haben; daher haben sie alle noch keine eigene Farbe und keine selbständige Individualität. Man tut sogar besser, diese Dichter gar nicht beim Namen zu nennen, außer dem einen Lermontow, der die andern weit überholt hat und der nicht mehr unter den Lebenden weilt. Er hat Zeugnisse eines erstklassigen Talentes abgelegt; eine große Zukunft hätte ihm bevorgestanden, wenn nicht ein Unstern über ihn gewaltet hätte und wenn er sich’s nicht in den Kopf gesetzt hätte, daß dieser sein Schicksal lenke. Er war sehr früh in solche Gesellschaftskreise gekommen, denen man wohl mit Recht nur eine vorübergehende und zeitweilige Bedeutung beilegen kann, und die wie ein armes Pflänzchen, das sich vom mütterlichen Boden losgerissen hat, dazu verurteilt waren, traurig durch öde Wüsten zu irren, im sicheren Gefühl, daß sie nie in einem andern Boden Wurzeln schlagen würden und daß es ihr Los sei — zu verwelken und elend zugrunde zu gehen — daher diese herzzerreißende Gleichgültigkeit gegen alles in der Welt, die bei ihm schon so früh zum Durchbruch kommt und die wir bisher noch bei keinem unserer Dichter antrafen. Freudlose Begegnungen, ein schmerzloser Abschied, seltsame und sinnlose Liebesbündnisse, die ohne Zweck und Ziel geknüpft und ebenso ziel- und zwecklos wieder gelöst werden, das sind die Gegenstände seiner Gedichte, daher konnte Shukowski das Wesen dieser Poesie sehr treffend mit dem Ausdruck die Poesie der Illusionslosigkeit kennzeichnen. Lermontows Talent machte diese Stimmung für eine Weile populär und modern. Wie einst unter dem anfeuernden Einfluß Schillers eine Begeisterung durch die ganze Welt ging, wie es eine Zeitlang modern war, sich zu begeistern, und wie eine Weile nachher unter dem deprimierenden Eindruck der Byronschen Poesie die Enttäuschung, die „Entgeisterung“, die Desillusionierung im Schwange war, die vielleicht nur die Folge einer übermäßigen Begeisterung gewesen sein mag und dann gleichfalls modern wurde, so kam endlich auch die Reihe an die Illusionslosigkeit, dieses eigenste Kind der Byronschen Enttäuschung und Desillusionierung. Die Zeit, während der diese Stimmung herrschte, war freilich kürzer, als die Dauer der beiden andern Modeströmungen, denn die Illusionslosigkeit hat für niemand etwas Verlockendes. Lermontow glaubte, daß ein Dämon der Verführung Macht über ihn habe, und so hat er es mehr als einmal versucht, sein Bild zu gestalten, wie wenn er sich durch die dichterische Darstellung hätte von ihm befreien können. Allein dies Bild nahm keine bestimmten scharfen Konturen an, ja es fehlte ihm an jener verführerischen Macht über den Menschen, die der Dichter ihm verleihen wollte. Man merkt es Lermontow an, daß diese Gestalt nicht ein Produkt der eigenen Kraft, sondern der Müdigkeit und der Unlust der Menschen ist, den Kampf mit dem Dämon aufzunehmen. In einem unvollendeten Gedicht: „Ein Märchen für Kinder“ hat diese Gestalt mehr plastische Schärfe gewonnen, ist sie sinnvoller geworden. Vielleicht hätte sich der Dichter, wenn er diese Erzählung, die sicherlich sein bestes Gedicht ist, beendigt hätte, ganz von diesem Dämon und damit auch von seiner trostlosen Stimmung befreit (Anzeichen einer solchen Befreiung kann man bereits im „Engel“, im „Gebet“ und einigen andern Gedichten bemerken), wenn er nur selbst etwas mehr Achtung und Liebe für sein Talent besessen hätte. Noch nie hat jemand eine solche beinahe prahlerische Mißachtung für sein Können zur Schau getragen, wie Lermontow. Man hat nie den Eindruck, daß er etwas wie Liebe für die Kinder seiner Phantasie empfinde. Kein einziges seiner Gedichte ist liebevoll ausgetragen, sorgsam und mit der Zärtlichkeit einer Mutter gehegt und gepflegt. Keins ist in sich gefestigt, ins Gleichgewicht gebracht und konzentriert, sogar der Vers hat keine eigene feste Physionomie und mutet wie eine matte Reminiszenz an Shukowskis oder Puschkins Verse an. Überall herrscht Überfluß und ein unnötiger Wortreichtum. Lermontows Prosawerke dagegen sind weit bedeutender. Noch nie hat jemand eine so korrekte, schöne, duftige russische Prosa geschrieben. Aus ihr spricht eine echte Vertiefung in das Leben und die lebendige Wirklichkeit, hier kündigt sich der künftige große Maler und Darsteller russischen Lebens an .... Da aber riß der Tod ihn plötzlich von uns hinweg. Das Schicksal unserer Dichter hat etwas Schreckliches. Sowie einer von ihnen seine eigentliche Bestimmung, seine wahre Aufgabe aus den Augen verliert, nach einer andern greift oder in dem Getriebe der vornehmen Gesellschaft untertaucht, in die er nicht hingehört und in der ein Dichter nicht weilen darf, reißt ihn mit einem Schlage ein plötzlicher gewaltsamer Tod aus unserer Mitte. Drei erstklassige Dichter: Puschkin, Gribojedow und Lermontow wurden uns einer nach dem andern während eines einzigen Dezenniums in der Blüte ihres Mannesalters und ihrer Kräfte durch einen gewaltsamen Tod entrissen — und doch hat das auf keinen Menschen einen tiefen Eindruck gemacht: unsere leichtsinnige Generation fühlte sich nicht im geringsten erschüttert.

Doch es wird endlich Zeit, daß wir zum Schluß noch etwas darüber sagen, was denn eigentlich unsere Poesie überhaupt darstellt, wozu sie da ist, welchem Zwecke sie gedient und was sie für unser ganzes russisches Vaterland geleistet hat. Hat sie zu ihrer Zeit den Geist der Gesellschaft beeinflußt, hat sie jeden einzelnen je nach dem Platz, den er einnahm, veredelt, hat sie zu seiner Erziehung beigetragen, hat sie der Gesamtheit, gemäß dem Geist des Landes und den wurzelhaften Kräften des Volkes, die die treibenden Mächte des Staates sein müssen, höhere Begriffe eingepflanzt? Oder war sie lediglich ein treues Abbild unserer Gesellschaft — eine vollständige detaillierte Kopie, ein klarer Spiegel unseres Lebens? — Sie ist weder das eine noch das andere gewesen und hat weder das eine noch das andere getan. Sie ist fast völlig unbekannt geblieben, unsere Gesellschaft wußte so gut wie nichts von ihr; unser Publikum genoß damals eine andere Erziehung unter der Leitung französischer, deutscher und englischer Gouverneure, fremder Auswanderer aus aller Herren Länder, aus allen Ständen und Berufen, von Menschen ganz verschiedener Sinnesart, ganz verschiedener Grundsätze und Anschauungen. — Unsere Gesellschaft wurde — was bisher noch mit keinem Volke geschehen ist, mitten im eigenen Vaterlande in der Unkenntnis ihres eigenen Landes — erzogen. Selbst die eigene Sprache war vergessen, so daß unserer Poesie alle Mittel und Wege abgeschnitten waren, um bis ans Ohr unseres Publikums zu gelangen. Wenn es ihr aber doch einmal glückte, bis zur Gesellschaft durchzudringen, so geschah dies stets auf unnatürlichen Seitenwegen: entweder eine glücklich erfundene Musik trug ein Gedicht bis in die Salons der vornehmen Gesellschaft, oder die unreife Frucht eines jugendlichen Dichters, ein minderwertiges Gedicht, das den fremdländischen — freigeistigen Ideen, die unserer Gesellschaft von irgendeinem fremden Gouverneur beigebracht worden waren, nicht entsprach, wurde der Anlaß, daß das Publikum etwas von der Existenz eines Dichters erfuhr, der sich in seiner Mitte aufhielt.

Kurz — unsere Poesie hat weder zur Belehrung und Erziehung unserer Gesellschaft beigetragen, noch war sie ein Ausdruck dieser Gesellschaft. Sie schwebte die ganze Zeit über gleichsam hoch über der Gesellschaft, wie im Gefühl, daß ihre Bestimmung nicht innerhalb der modernen Gesellschaft liege, und wenn sie sich einmal bis zu ihr herabließ, so nur zu dem Zwecke, um sie mit der Geißel der Satire zu treffen, nicht aber, um den Nachkommen durch die Darstellung des gesellschaftlichen Lebens ein Vorbild aufzustellen. Es ist höchst merkwürdig: trotz alledem waren wir selbst Gegenstand unserer Dichtkunst, und doch erkennen wir uns in ihr nicht wieder. Wenn uns ein Dichter unsere besten Seiten vor Augen stellt, scheint er uns zu übertreiben und wir wollen nicht recht daran glauben, was Dershawin uns über uns selbst sagt. Wenn aber ein Schriftsteller die häßlichen und unwürdigen Züge unseres Wesens schildert, so glauben wir ihm gleichfalls nicht, und wir halten das Bild, das er von uns entwirft, für eine Karikatur. In der Tat, in beiden Fällen ist irgendwo eine übertriebene, übersteigerte Kraft oder Potenz vorhanden, und doch ist tatsächlich nichts übertrieben. Der Grund für die erstere ist der, daß unsere lyrischen Dichter die Gabe haben, schon in dem Keim, der dem gewöhnlichen Auge fast verborgen bleibt, die künftige herrliche Frucht zu ahnen, und daher jeden Zug unseres Wesens in gereinigter, geläuterter Gestalt vor uns erstehen lassen. Der Grund der zweiten Erscheinung ist der, daß unsere satirischen Schriftsteller, wenn auch in verschwommenen Umrissen, das Ideal des besseren russischen Menschen in der Seele trugen und gerade deswegen alles Häßliche und Gemeine in den wirklich existierenden Repräsentanten des Russentums nur um so deutlicher sahen. Die Kraft einer edlen Empörung verlieh ihnen die Fähigkeit, eine Sache weit klarer und schärfer zu beleuchten, als sie dem gewöhnlichen Menschen erscheint. Das ist der Grund, weshalb sich in der letzten Zeit von allen unseren Charakterzügen — die Spottlust am allerstärksten entwickelt hat. Bei uns lacht und spottet ein jeder über seine Mitmenschen; ja im innersten Wesen unseres Landes liegt etwas, eine Neigung, über alles zu spotten: über das Alte wie über das Neue, und nur dem Achtung und Ehrfurcht zu bezeugen, was nie veraltet und was ewig ist. So also hat unsere Dichtkunst nie den russischen Menschen in seiner Vollständigkeit dargestellt, weder in dem Ideal, das er erreichen soll, noch in seinem wirklichen Dasein, wie er heute in Wirklichkeit ist. Sie hat lediglich eine schier unendliche Zahl von Nuancen unserer verschiedensten Charaktereigenschaften aufgehäuft, sie hat nur alle einzelnen Züge unserer vielseitigen Natur wie in einer Schatzkammer vereinigt. Unsere Dichter hatten das Gefühl, daß die Zeit noch nicht gekommen sei, uns vollständig und allseitig darzustellen, uns unserer Eigenart zu rühmen, daß wir uns vielmehr erst organisieren, uns selbst finden und Russen werden mußten. Unsere russische Natur ist heute erst soweit erweicht und vorbereitet, um die ihr entsprechende Form annehmen zu können; noch haben wir nicht Zeit gehabt, die Summe aller Elemente und Prinzipien zu ziehen, die von überall her in unser Land verpflanzt wurden; noch ist jeder von uns der Schauplatz, auf dem sich Fremdes und Eigenes in bunter sinnloser Mischung begegnen, noch sind wir nur ein unreifes unvernünftiges Resultat, um dessentwillen Gott diese Mischung, dieses Zusammentreffen der Elemente angeordnet hat. Das haben unsere Dichter gefühlt; aus diesem Gefühl heraus war es gleichsam ihre stete Sorge, in diesem Kampfe die besten Züge unseres Wesens nicht untergehen zu lassen. Sie nahmen dies Beste überall, wo sie es fanden, und beeilten sich, es ans Tageslicht zu bringen, ohne viel danach zu fragen, welchen Platz sie ihm anweisen sollten. So sucht der arme Besitzer eines Hauses, das ein Raub der Flammen wird, alles Wertvolle, was es birgt, zu retten, ohne sich viel um das übrige zu kümmern. Unsere Poesie hat nicht für ihr Zeitalter getönt, sie ließ ihre Stimme erschallen, damit wir, wenn die herrliche Zeit endlich anbrechen würde, wo der Gedanke einer inneren Erbauung und Verkörperung des Menschen im Bilde, für das ihn Gott erschaffen und das er auf sein Geheiß aus den eigenen urwüchsigen Materialien unseres Landes errichten sollte, ganz Rußland ergreifen und zum sehnlichsten Wünsche aller Russen werden würde — damit wir uns dann darüber klar wären, was alles an Gutem und Schönem und Eigenem in uns verborgen liegt, und nicht vergessen, es bei diesem Bau zu verwenden. Unsere eigenen Schätze werden sich uns immer mehr enthüllen, je aufmerksamer wir uns in unsere Dichter hineinlesen werden. In dem Maße, als wir sie mehr und besser kennen lernen werden, werden wir auch ihre anderen höheren Eigenschaften verstehen lernen, die bisher noch kein Mensch bemerkt hat: wir werden erkennen, daß sie nicht bloß die Hüter unserer Schätze und Kostbarkeiten, sondern zum Teil auch unsere Baumeister waren, sei es nun, daß sie sich dessen bewußt waren oder nicht; jedenfalls aber haben sie in ihrer im Vergleich zu uns so viel höheren Natur und Veranlagung einen unserer nationalen Charakterzüge zur Darstellung gebracht, der in ihnen zu weit kraftvollerer, deutlicherer Entwicklung gekommen ist, um sich uns in seinem ganzen Glanz und in seiner ganzen Herrlichkeit zu enthüllen. Dieses Streben Dershawins, das Bild eines starken, unbeugsamen Mannes von einer ungeheuren, fast biblischen Größe zu zeichnen, hatte nichts Willkürliches: den Keim dazu fand er in unserem Volke selbst. Die mächtigen Züge eines großen und gewaltigen Menschen sind in ganz Rußland überall so lebendig, daß selbst Ausländer, die etwas von Rußland kennen gelernt haben, darüber erstaunt sind, noch ehe sie sich mit den Sitten und Gebräuchen unseres Landes vertraut gemacht haben. Vor kurzem erst hat einer von ihnen seine Memoiren herausgegeben, um Rußland Europa von einer recht abschreckenden Seite zu zeigen, aber auch er vermag seine Verwunderung über die schlichten Bewohner unserer Bauernhütten nicht zu verhehlen[5]. Mit Staunen betrachtete er unsere ehrwürdigen weißhaarigen Greise, die an der Schwelle der Hütten sitzen; erschienen sie ihm doch wie die gewaltigen Patriarchen der alten biblischen Zeiten. Mehr als einmal mußte er gestehen, daß ihm in keinem Lande Europas, das er bereist hatte, das Bildnis des Menschen in solch einer an die patriarchalisch biblische Größe gemahnenden Erhabenheit erschienen war. Und dieser Gedanke kehrt in seinem Buch, das von einem mächtigen Haß gegen unser Volk erfüllt ist, mehrfach wieder. Dieser Zug, d. h. diese Feinfühligkeit, dieser scharfe Instinkt, der sich besonders bei Puschkin mit solcher Stärke äußert, ist eine unserer nationalen Eigentümlichkeiten. Man denke bloß an die Ausdrücke, mit denen das Volk selbst diesen eigentümlichen Zug eines Charakters kennzeichnet, z. B. an den Spitznamen Ohr, den man einem Menschen beilegt, in dem jede Fiber zittert und zu sprechen scheint und der keinen Augenblick untätig sein kann. Oder man denke an die Bezeichnung Allerweltskerl für einen Menschen, dem alles gelingt, und der mit allem fertig wird, und die Zahl derartiger Ausdrücke, die die verschiedensten Nuancen und Schattierungen dieses Charakterzugs bezeichnen, ist ganz außerordentlich groß.

Das ist ein großer Zug in unserem Wesen: das Bild des russischen Mannes, das Dershawin gezeichnet hat, wäre noch nicht vollständig und würde noch nicht die ganze herbe Größe atmen, wenn es diesem Manne an dem feinen Gefühl, an der Fähigkeit fehlte, lebhaft auf jeden Naturgegenstand zu reagieren und bei jedem Schritte voll Staunen über die Schönheit der Schöpfungen Gottes zu verharren. Dieser Verstand, der die richtige Mitte, das Maß eines jeden Dinges zu finden weiß, wie wir ihn besonders bei Krylow finden, das ist der echt russische Verstand. Nur in Krylow äußert sich dieser sichere Takt des russischen Geistes, der es versteht, das wahre Wesen einer Sache zum Ausdruck zu bringen, und es auszudrücken vermag, ohne jemand durch ein Wort zu verletzen und Menschen von anderer Sinnesart gegen sich und seinen Gedanken aufzubringen, kurz jener sichere Takt, den wir durch unsere weltmännische Erziehung und Bildung verloren haben und den sich nur noch unsere Bauern erhalten haben. Unser Bauer versteht es, so freimütig mit allen Höhergestellten und über ihm Stehenden zu sprechen [selbst mit dem Zaren], wie keiner von uns, und dabei verletzt er mit keinem Worte den Anstand, während wir es häufig nicht einmal verstehen, mit einem Gleichgestellten zu reden, ohne ihn durch einen Ausdruck zu verletzen. Wenn dafür aber einmal in einem von uns dieser innere sichere, echt russische geistige Takt wirklich vorhanden ist, dann genießt er bei uns die Achtung aller Leute, ihm wird kein Mensch es verwehren, etwas zu sagen, was man einem andern nie gestatten würde, ihm nimmt niemand etwas übel. Alle unsere Schriftsteller haben Feinde gehabt, selbst die gutmütigsten unter ihnen und die, die das beste Herz hatten. (Man denke nur an Karamsin und Shukowski.) Krylow aber hatte nie einen Feind. Dieser jugendliche Wagemut und dieser stürmische Drang, seine Kräfte für alles Hohe und Gute einzusetzen, der in den Versen Jasykows pulsiert, das ist die überschäumende Kraft unseres russischen Volkes, jene herrliche Eigenschaft, die nur ihm allein eigen ist und die uns Alten und Jungen ein jugendliches Feuer einhaucht, sowie sich eine Gelegenheit bietet, sich für eine große Sache, deren kein andres Volk fähig ist, einzusetzen — solch eine Aufgabe schmilzt plötzlich die ganze bunte, mit sich im Streit liegende Masse in einem mächtigen Gefühl zusammen; jeglicher Streit, alle engherzigen persönlichen Interessen — alles ist vergessen, und ganz Rußland steht plötzlich da wie ein einziger Mann. Alle diese Eigenschaften, die unsere Dichter uns offenbart haben, sind nationale Eigentümlichkeiten unseres Volks, die in ihnen bloß schärfer und deutlicher zur Ausprägung gekommen sind; die Dichter tauchen ja nicht plötzlich wie aus dem Wasser empor, sie gehen aus ihrem Volke hervor. Sie sind Funken, die von ihm selbst ausgehen, die ersten Herolde, die von seiner Kraft zeugen. Daneben aber haben unsere Dichter auch schon dadurch viel Gutes geleistet, daß sie einen bisher noch nie bekannten Wohllaut verbreitet haben. Ich weiß nicht, ob die Dichter irgendeiner andern Literatur eine so unendliche Mannigfaltigkeit von Klangnuancen hervorgebracht haben, wozu ja freilich auch unsere poetische Sprache manches beigetragen hat. Jeder von ihnen hat sein eigenes Versmaß und seinen Eigenton. Dieser eherne metallische Vers Dershawins, den unser Ohr noch bis auf den heutigen Tag nicht vergessen kann; dieser Vers Puschkins, der da tropft wie schweres Harz oder wie ein Strahl alten, hundertjährigen Tokaiers, dieser leuchtende festliche Vers Jasykows, der wie ein Lichtstrahl in die Seele dringt und ganz aus Licht gewebt zu sein scheint, dieser mit allen Düften des Mittags gesalbte Vers Batjuschkows, süß wie der Honig aus Bergschlüchten, dieser leichte ätherische Vers Shukowskis, der wie der kaum vernehmbare Ton einer Äolsharfe verschwebt, dieser schwere, uns zur Erde herabziehende Vers und häufig von einer bitteren, quälenden russischen Schwermut durchdrungene Vers Wjasemskis — sie alle haben wie verschieden abgestimmte Glocken, oder wie die vielen Flöten einer herrlichen Orgel einen wundervollen Wohllaut durch das ganze russische Land getragen. Dieser Wohllaut ist wahrlich nichts Geringes, wie die glauben mögen, die keinen Begriff von der Poesie haben. Dieser Wohllaut lullt das Volk in seinen Kinderjahren ebenso ein wie das herrliche Wiegenlied einer Mutter, noch ehe es den Sinn des Liedes verstehen lernt, und seine wilden Leidenschaften legen sich und kommen von selbst zur Ruhe. Dieser Wohllaut ist ebenso notwendig, wie der Weihrauch im Tempel, der unsere Seele unmerklich, noch ehe der Gottesdienst begonnen hat, zur Aufnahme von etwas Höheren stimmt und vorbereitet. Unsere Poesie hat alle Akkorde auserprobt, hat die Einflüsse der Literatur aller Völker erfahren, hat der Leier aller Dichter gelauscht, hat sich eine Art von Weltsprache geschaffen, um alle Menschen für eine größere Aufgabe vorzubereiten. Jetzt kann man nicht mehr von den Torheiten reden, die unsere heutige, sich ihrer Verantwortlichkeit noch nicht bewußte junge Dichtergeneration leichtsinnig weiterplappert; man kann auch der Kunst nicht mehr dienen — so schön und beglückend ein solcher Dienst auch sein mag —, ohne ihre höhere Bestimmung zu verstehen und ohne sich darüber klar zu sein, wozu uns die Kunst verliehen ward; ein Puschkin läßt sich nicht wiederholen. Nein, weder Puschkin noch irgendein anderer darf uns jetzt zum Vorbilde dienen; nun sind andre Zeiten gekommen. Heute kann man uns mit nichts mehr imponieren: weder durch die Eigenart und Eigenwilligkeit des Verstandes, noch durch die plastische Kraft des Charakters, noch durch die stolze Selbstbewußtheit der Geste: heute muß der Dichter eine höhere christliche Bildung erhalten. Andere Aufgaben erwachsen der Poesie. Wie sie während der Kindheit der Völker dazu diente, die Nationen zum Kampf anzufeuern und ihren kriegerischen Geist zu wecken, so ist es jetzt ihre Bestimmung, den Menschen zu einem andern, höheren Kampf aufzurufen — zu einem Kampf, in dem es sich schon nicht mehr um unsere zeitlichen Güter und unsere zeitliche Freiheit [unsere Rechte und Privilegien], sondern um unsere Seele handelt, die unser himmlischer Schöpfer selbst für die Perle Seiner Schöpfungen hält. Zahlreiche Aufgaben stehen heute der Dichtkunst bevor: sie muß der Gesellschaft alles wahrhaft Schöne wieder zurückerstatten, was ihr durch das sinnlose Leben von heute geraubt ward. Nein, diese künftigen Dichter werden keinem von unseren früheren Poeten ähnlich sehen. Sogar ihre Sprache wird anders klingen; sie wird unserer russischen Seele verwandter und vertrauter erscheinen, und unsere nationalen Elemente werden viel lebendiger und kräftiger in ihr zum Ausdruck kommen. Noch sprudelt jener eigene urwüchsige Quell unserer Poesie nicht kräftig und hoch genug, der schon zu einer Zeit im Innern unseres Busens kochte und strömte, als selbst das Wort Poesie noch in keines Menschen Munde war. Noch immer erscheint dieser unerklärliche Freiheitsdrang, der uns aus unseren Liedern entgegentönt, und über das Leben und sogar über das Lied selbst hinweg in unbekannte Fernen stürmt, noch erscheint uns dieser glühende, verzehrende Wunsch nach einem besseren Vaterland, nach dem sich der Mensch seit dem Tage seiner Geburt so schmerzlich sehnt — wie ein Rätsel. Noch ist in keinem einzigen Wesen jene vielseitige, poetische Harmonie und das Geschlossene unseres Geistes, die in unseren vieläugigen Sprichwörtern verborgen ist, völlig Fleisch und Blut geworden; haben sie es doch verstanden, in einem so armseligen und traurigen Zeitalter so große und bedeutsame Folgerungen und Schlüsse zu ziehen, als dem Menschen in Rußland noch so enge Grenzen gezogen waren, als er noch gezwungen war, in einem so trüben Sumpfe zu leben; so sind sie uns eine lebendige Mahnung, was für gewaltige Folgerungen der moderne Mensch in Rußland aus unseren heutigen machtvollen Zeiten ziehen kann, in denen die Ergebnisse aller Zeitalter aufgespeichert und wie allerhand ungesiebter Plunder ungeordnet in einem Haufen zusammenliegen. Noch ist vielen diese Lyrik — dies Produkt einer höchsten Verstandsreife und Nüchternheit — ein Geheimnis! diese Lyrik, die aus unseren Kirchenliedern und kanonischen Gesängen herstammt und die Seele unserer Dichter noch unbewußt begeistert, wie ihm die heimatlichen Klänge unserer Lieder unbewußt ans Herz greifen. Und endlich ist uns auch unsere merkwürdige Sprache noch ein Geheimnis. Sie enthält sämtliche Töne und Farben, alle Klangnuancen, von den kräftigsten bis herab zu den zartesten und weichsten. Sie ist unendlich und grenzenlos und vermag sich, lebendig wie das Leben selbst, in jedem Augenblick zu bereichern, indem sie einerseits die hohen gewaltigen Worte aus der biblischen Kirchensprache schöpft und sich andererseits die treffendsten Ausdrücke aus den zahllosen Dialekten, die es in unseren Provinzen gibt, aneignet; so gewinnt sie die Möglichkeit, sich in ein und derselben Rede bis zu einer Höhe emporzuschwingen, die keiner andern Sprache erreichbar, und andererseits bis zu einer Einfachheit herabzusteigen, die selbst dem Sinn des unbegabtesten Menschen verständlich ist; — eine Sprache, die selbst und an und für sich schon dichtet, und die nicht umsonst für eine geraume Zeit von den vornehmen Ständen vergessen worden war. Es war eine Notwendigkeit, daß wir alles Häßliche und Minderwertige, das wir uns zugleich mit der fremdländischen Bildung angeeignet hatten, in den fremden Mundarten ausschwatzten und ausplauderten, damit alle die unklaren Töne und die ungenauen Bezeichnungen für die Dinge — diese Produkte ungeklärter und verworrener Gedanken, die die Sprachen dunkel machen — die kindliche Klarheit unserer Sprache nicht mehr trüben, und daß wir nunmehr mit dem Drang zum Nachdenken und von dem Wunsche beseelt, unserem eigenen und nicht mehr einem fremdem Verstande zu folgen, zu ihr zurückkehren konnten. Das alles sind vorerst nur noch Werkzeuge, Material, noch Felsblöcke oder ein in der Erzader steckendes Edelmetall, aus dem einmal eine andre machtvolle Sprache geschmiedet werden wird. Und diese Sprache wird bis tief auf den Grund der Seele dringen und nicht auf unfruchtbaren Boden fallen. Ein Schmerz und eine Trauer, wie sie wohl Engel empfinden mögen, wird unserer Poesie einen mächtigen Impuls verleihen; sie wird tief in alle Saiten greifen, die in dem Russen anklingen, und selbst die rohesten Gemüter mit jenem heiligen Gefühl der Ehrfurcht erfüllen, das keine Kraft und kein Werkzeug dem Menschen einzupflanzen vermögen; sie wird unser Rußland ans Licht rufen — unser russisches Rußland, nicht das, von dem uns irgendwelche Hurrapatrioten ein rohes Bild entwerfen und auch nicht das, das uns einzelne ihrem Vaterland entfremdete Russen übers Meer herüberbringen wollen, nein, das Rußland, das unsere Dichtung aus uns selbst heraufholen und so vor uns hinstellen wird, daß alle bis auf den letzten, so verschieden ihre Sinnesart, ihre Erziehung und ihre Anschauungen auch sein mögen, einstimmig ausrufen werden: „Ja, das ist unser Rußland; hier fühlen wir uns behaglich und heimisch, jetzt sind wir wirklich zu Hause unter unserem heimatlichen Dach und nicht irgendwo draußen in der Fremde!“

XXXII
Auferstehungstag

Der Russe nimmt einen besonders warmen Anteil an der Feier des Auferstehungstages. Das empfindet er mit besonderer Lebhaftigkeit, wenn er um diese Zeit in einem fremden Lande weilt. Wenn er sieht, wie dieser Tag sich überall in allen andern Ländern kaum von den andern Tagen unterscheidet — alles geht seiner gewohnten Tätigkeit nach, das Leben nimmt seinen gewöhnlichen Lauf, auf allen Gesichtern ruht der gleiche alltägliche Ausdruck — wenn der Russe das sieht, so wird er traurig und seine Gedanken schweifen unwillkürlich nach Rußland hinüber. Es will ihm so dünken, als ob dieser Tag dort schöner gefeiert wird, als ob dort der Mensch heiterer und besser sei, als an anderen Tagen und als ob auch das Leben dort ein anderes und nicht so alltägliches Gewand trage. Er denkt an die feierliche Mitternacht, an das Glockengeläute, das das ganze Land durchhallt und alle Stimmen der Erde gleichsam in einem dumpfen Ton verschmelzen läßt, er denkt an den Ruf „Christ ist erstanden“, der an diesem Tage an die Stelle aller andern Grüße tritt, an diesen Kuß, den man nur bei uns vernimmt, und er ist beinahe so weit, daß er ausrufen möchte. „Nur in Rußland wird dieser Tag so gefeiert, wie er in Wahrheit gefeiert werden sollte!“

Freilich ist das nur ein Traum, der sofort verschwindet, wenn er tatsächlich nach Rußland versetzt wird, und sich bloß daran erinnert, daß dies ein Tag voll schläfrigen Hin- und Herrennens, voll törichten Getriebes, sinnloser Besuche, bewußten Nichtzuhausetreffens, statt eines Tages voll froher Begegnungen ist — wenn man sich an diesem Tage wirklich einmal trifft, so hat das stets einen recht eigennützigen Grund; man braucht nur daran zu denken, daß sich der Ehrgeiz an diesem Tage weit lebhafter regt, als an allen anderen Tagen und daß nicht etwa von der Auferstehung Christi, sondern davon geredet wird, was für eine Belohnung einen jeden erwartet und was ein jeder wohl für ein Geschenk erhalten wird; ja daß selbst das Volk, das doch in dem Rufe steht, sich an diesem Tage am meisten zu freuen, sofort nach Beendigung der Festmesse und noch ehe die Sonne über der Erde aufgegangen ist, trunken über die Straße schwankt. Ein Seufzer entringt sich der Brust des armen Russen, wenn er an all dieses denkt [und erkennt, daß das höchstens eine Karikatur und ein Hohn auf diesen Festtag ist und daß es einen solchen Festtag gar nicht gibt]. Im besten Fall gibt ein Vorgesetzter einem Invaliden, um die Form zu wahren, einen schmatzenden Kuß auf die Backe, um den unter ihm stehenden Beamten zu beweisen, wie man seinen Bruder lieben muß, oder ruft irgendein [rückständiger] Patriot voll Empörung über unsere Jugend, die unsere alten russischen Volkssitten schlecht macht und behauptet, bei uns gäbe es überhaupt nichts Ordentliches, wütend aus: „Wir haben alles: ein schönes Familienleben, schöne Familientugenden, die Sitten werden bei uns heilig gehalten, wir erfüllen auch unsere Pflicht und Schuldigkeit, so wie dies nirgends in Europa geschieht, kurz, wir sind ein Volk, das die Bewunderung aller Menschen verdient.“

Nein, es kommt nicht auf diese sichtbaren Zeichen und Äußerlichkeiten, nicht auf das patriotische Geschrei [ebensowenig wie auf den Kuß, der dem Invaliden verabreicht wird], sondern lediglich darauf an, daß wir an diesem Tage den Menschen tatsächlich wie unser höchstes Kleinod ansehen lernen — und ihn so in unsere Arme schließen und an unser Herz drücken, wie einen unserem Herzen nahestehenden Bruder, daß wir uns so über ihn freuen, wie über den unerwarteten Besuch unseres liebsten Freundes, den wir viele Jahre lang nicht gesehen haben. Ja, noch inniger, noch stärker sollte unsere Freude sein. Denn die Bande, die uns mit ihm vereinigen, sind stärker als die irdische Blutsverwandtschaft; sind wir doch mit ihm durch unseren herrlichen himmlischen Vater verwandt, der uns weit näher steht, als unser irdischer Vater, und weilen wir doch an diesem Tage — in unserer wahren Familie, d. h. in Seinem Hause. Dieser Tag ist der Tag jenes heiligen Festes, an dem die ganze Menschheit bis auf den letzten unserer Brüder eine himmlische Verbrüderung feiert, und davon ist kein einziger Mensch ausgeschlossen.

Wie gelegen müßte dieser Tag eigentlich unserem neunzehnten Jahrhundert kommen, wo der Traum vom allgemeinen Menschenglück der Lieblingsgedanke fast aller Menschen geworden; wo es der Lieblingswunsch des jungen Menschen geworden ist, die ganze Menschheit wie einen lieben Bruder zu umarmen, wo viele beständig davon träumen, den inneren Wert und die Würde des Menschen zu heben, wo die gute Hälfte der Menschen bereits feierlich anerkannt hat, daß nur das Christentum das vermag, wo man bereits fordert, daß das Gesetz Christi weit inniger mit unserem Familien- und Staatsleben verwachsen müsse [ja wo bereits davon gesprochen wird, daß alles Gemeingut werden soll: unser Haus und unser Grund und Boden], wo die hohen Taten des Mitleids und die den Armen und Unglücklichen erwiesene Hilfe bereits ein beliebter Gesprächsstoff unserer Salons geworden sind, ja wo uns infolge all dieser humanitären Anstalten [all dieser Hospize und Asyle für Obdachlose] die Erde schon zu eng zu werden beginnt. Wie freudig müßte eigentlich das neunzehnte Jahrhundert diesen Festtag begehen, der all seinen hochherzigen und ehrgeizigen Regungen so sehr entspricht! Aber gerade dieser Tag wird zum Probierstein dafür, wie matt all diese christlichen Bestrebungen, wie sie lediglich [schöne Träume und] bloße Ideen sind, die zu keinen Taten führen. Und wenn wir an diesem Tage wirklich Gelegenheit haben, einen unserer Brüder wie einen Bruder zu umarmen — so tuen wir es nicht. Wir sehnen uns danach, die ganze Menschheit brüderlich an unseren Busen zu drücken, unsern Bruder aber wollen wir nicht umarmen. Es braucht sich nur irgendein einzelner Mensch, der uns beleidigt hat, von dieser Menschheit abzulösen, dem wir unsere Arme so hochherzig entgegenbreiten, und dem wir laut Christi Gebot sofort vergeben sollen, — so werden wir ihn nicht mehr umarmen. Oder es brauchte sich von dieser Menschheit nur ein einzelner Mensch abzulösen, der in irgendeinem unwesentlichen Punkt, in irgendeiner unserer menschlich bedingten Meinungen nicht mit uns überstimmt — so werden wir ihn schon nicht mehr umarmen. Oder es braucht sich endlich nur ein einziger Mensch von dieser Menschheit abzulösen, der mehr und erkennbarer als die andern an den schweren Schäden geistiger Fehler und Gebrechen krankt und daher weit mehr Anspruch auf unser Mitleid hat als sie — so werden wir ihn von uns stoßen und ihn nicht umarmen wollen. Wir werden nur die in unsere Arme schließen, die uns noch nie beleidigt haben, mit denen wir noch nie zusammengestoßen sind, die wir noch nicht kennen und noch nie mit Augen gesehen haben. Das sind die Umarmungen, mit denen der Mensch unseres Jahrhunderts die ganze Menschheit beglücken will, und das sind häufig gerade die Menschen, die von sich glauben, daß sie wahre Menschenfreunde und echte Christen sind. [Christen! Sie haben Christus auf die Straße hinausgejagt und in die Lazarette und Krankenhäuser getrieben, statt Ihn bei sich in ihrem Hause, unter ihr heimatliches Dach aufzunehmen, und da glauben sie noch, sie seien Christen!]

Nein, unser Jahrhundert vermag den Auferstehungstag nicht würdig, nicht so zu feiern, wie er gefeiert werden sollte. Dem steht ein schreckliches, unüberwindliches Hindernis entgegen: es heißt: Hochmut. Dieser Hochmut war auch den früheren Zeitaltern bekannt, aber jener Hochmut war mehr ein kindischer Stolz auf die physische Kraft, auf unseren Reichtum, ein Stolz auf unsere Abstammung und unsere Titel, und er erreichte nie diesen schrecklichen geistigen Grad wie heutzutage. Heute tritt er in doppelter Gestalt auf. Die erste Art dieses Hochmuts ist der Stolz auf unsere Reinheit.

Hocherfreut darüber, daß sie ihre Vorfahren in vielen Beziehungen überholt und übertroffen hat, hat sich die Menschheit unserer Zeit völlig in ihre Reinheit und Schönheit verliebt. Niemand schämt sich mehr, sich öffentlich der Schönheit seiner Seele zu rühmen und sich für etwas Besseres zu halten, als die anderen Menschen. Man braucht nur darauf zu achten, wie sich heutzutage jeder Mensch für einen wahren Heros an Hochherzigkeit und Edelmut hält, wie schonungslos und mit welcher Schärfe er über andere Leute urteilt. Man muß nur einmal hören, mit was für Gründen er sich dafür rechtfertigt, daß er seinen Bruder nicht einmal am Auferstehungstage umarmt hat. Ohne jede Scham und ohne innerlich zu erbeben, erklärt er: „Ich kann diesen Menschen nicht umarmen, er ist schmutzig, er hat eine gemeine Seele, er hat sich durch ehrlose Handlungen befleckt; ich kann diesen Menschen nicht einmal in mein Vorzimmer hineinlassen; ich kann die Luft nicht atmen, die er atmet, ich mache einen großen Bogen um ihn, um ihm aus dem Wege zu gehen und um ihm nicht zu begegnen. — Ich kann nicht mit gemeinen und verächtlichen Leuten zusammen leben — und da sollte ich einen solchen Menschen wie meinen Bruder umarmen?“ Ach! der arme Mensch des neunzehnten Jahrhunderts hat leider vergessen, daß es an diesem Tage weder gemeine noch verächtliche Menschen gibt und daß alle Menschen — Brüder, Kinder derselben Familie sind und daß jeder Mensch keinen andern Namen als den: Bruder trägt. Er hat alles mit einem Male vergessen. Er hat vergessen, daß er vielleicht gerade deshalb von diesen gemeinen und verächtlichen Menschen umgeben ist, damit er durch ihren Anblick veranlaßt werde, einen Blick in sein eigenes Innere zu werfen, und nachzusehen, ob er nicht auf dem Grunde seiner Seele gerade das findet, was ihn an dem andern so sehr erschreckt hat. Er hat vergessen, daß er auf Schritt und Tritt und ohne es selbst zu merken, wenn auch in einer etwas anderen Art, eine genau so scheußliche Handlung begehen kann, die in den Augen der Gesellschaft nicht als schmachvoll gilt, die jedoch auf dasselbe hinauskommt oder wie ein russisches Sprichwort es ausdrückt, derselbe Eierkuchen ist, nur auf einer andern Schüssel serviert. Es ist alles vergessen! Er hat vergessen, daß die Zahl der gemeinen und verächtlichen Menschen vielleicht nur deshalb sehr zugenommen hat, weil die besten und edelsten Menschen sie in so rauher Weise von sich gestoßen und so dazu beigetragen haben, daß sie ihr Herz noch mehr verhärteten und noch verstockter wurden. Als ob es so leicht ist, die Verachtung anderer Menschen zu ertragen! Weiß Gott, vielleicht wird mancher gar nicht als ein so ehrloser Mensch geboren; vielleicht hat seine arme Seele, die nicht stark genug war, um den Kampf mit den Versuchungen aufzunehmen, um Hilfe gefleht und gerufen, vielleicht hätte er freudig jedem Hände und Füße geküßt, dessen Seele von Mitleid für ihn ergriffen, ihn daran verhindert hätte, in den Abgrund zu stürzen; vielleicht hätte ein einziger Tropfen Liebe ihm genügt, um ihn auf den rechten Weg zurückzuführen. Wie wenn es so schwer gewesen wäre, auf dem Wege der Liebe bis zu seinem Herzen vorzudringen! Als ob sich sein Inneres schon so sehr verhärtet hätte, als ob er schon so ganz zu Stein geworden, daß er keiner warmen Regung mehr fähig gewesen wäre, wo doch selbst der Räuber noch dankbar ist für ein Zeichen der Liebe und selbst das wilde Tier sich freundlich der Hand erinnert, die es geliebkost hat.

Allein der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts hat alles vergessen, er stößt seinen Bruder von sich, wie ein Reicher einen aussätzigen Bettler von der Schwelle seines Hauses jagt. Was kümmern ihn die Leiden des andern, er will bloß seine eiternden Schwären nicht sehen. Er will nicht einmal sein Klagelied hören, damit seine Nase den übelduftenden Hauch, der aus dem Munde des Unglücklichen kommt, nicht einzuatmen braucht, er, der so stolz auf den Wohlgeruch seiner Reinheit ist. Und ein solcher Mensch sollte das Fest der himmlischen Liebe feiern können?

Aber es gibt noch eine andere Art des Hochmuts, die noch mächtiger ist als die erste, — das ist der geistige Hochmut. Nie noch hat er solche Dimensionen erreicht, wie im neunzehnten Jahrhundert. Er kommt vor allem in der Furcht zum Ausdruck, für einen Dummkopf gehalten zu werden, einer Furcht, von der heute jeder Mensch beseelt ist. Der Mensch unserer Zeit kann alles ertragen: er kann es ertragen, daß man ihn einen Lumpen oder einen Gauner nennt; gebt ihm jeden beliebigen Namen — es läßt ihn kalt — nur den Namen Dummkopf wird er nicht dulden. Er kann jeden Spott ertragen, nur eins kann er nicht ertragen, daß man sich über seinen Verstand lustig macht. Sein Verstand ist ihm heilig. Jeder noch so leichte Spott über seinen Verstand genügt ihm, um seinen Bruder, wie es der Anstand erfordert, sich in einer gewissen Entfernung aufstellen zu lassen und ihm sodann, ohne mit der Wimper zu zucken, eine Kugel in den Kopf zu jagen. Er glaubt an nichts, das einzige, woran er glaubt, ist sein Verstand. Was sein Verstand nicht sieht, das existiert nicht für ihn. Er hat sogar vergessen, daß auch der Verstand erst fortschreitet, wenn alle sittlichen Kräfte des Menschen fortschreiten und sich entwickeln, und daß er sich sogar zurückentwickelt, wenn die sittlichen Kräfte sich nicht heben. Er hat ferner vergessen, daß kein Mensch sämtliche Verstandeskräfte in sich vereinigt, daß ein anderer Mensch gerade die Seele einer Sache sehen kann, die er selbst nicht sieht, und folglich etwas wissen kann, was er nicht zu wissen vermag. Aber das glaubt er nicht und alles, was er nicht selbst sieht, das ist für ihn eine Lüge. Sein Vernunftstolz hält jeden Schatten christlicher Demut von ihm fern. An allem zweifelt er: an dem Herzen eines Menschen, den er viele Jahre lang kennt, an der Wahrheit, ja selbst an Gott, nur an seinem Verstande zweifelt er nicht. Schon streitet man sich und kämpft man nicht mehr um irgendwelche wirkliche Rechte und auch nicht aus persönlichem Haß oder Feindschaft, nein, heute sind es nicht mehr die sinnlichen Leidenschaften, die uns beherrschen, sondern die Leidenschaften des Verstandes: heute bekämpft man sich und streitet man sich miteinander, weil man verschiedener Meinung ist, und wegen der Widersprüche in der Welt der Gedanken. Schon haben sich ganze Parteien gebildet, die sich gegenseitig verabscheuen, die persönlich noch nie etwas miteinander zu tun hatten, und sich dennoch glühend hassen. Ist es nicht merkwürdig! Schon glaubten die Menschen, mit Hilfe der Bildung Haß und Bosheit aus der Welt verbannt zu haben, da dringen Haß und Bosheit von der andern Seite wieder in die Welt ein, kommen auf den Flügeln der Zeitungsblätter herangeflogen und fallen wie ein verheerender Heuschreckenschwarm von allen Seiten über die Herzen der Menschen her. Schon hört man kaum noch die Stimme der Vernunft. Schon beginnen selbst die gescheiten Leute sogar gegen ihre eigene Überzeugung zu reden, nur um der gegnerischen Partei nicht das Feld zu räumen, und nur weil ihr Stolz es ihnen nicht erlaubt, ihren Fehler vor der Welt einzugestehen — schon hat die reine Bosheit statt des Verstandes die Oberhand gewonnen.

Und der Mensch einer solchen Zeit sollte der Liebe, der christlichen Liebe zum Menschen fähig sein? Er sollte sich mit jener reinen Treuherzigkeit und Einfalt, mit jener engelhaften kindlichen Naivität erfüllen können, die alle Menschen zu einer großen Familie macht? Er sollte etwas von der Süßigkeit und Schönheit unserer himmlischen Brüderschaft empfinden können? Er sollte diesen Tag feiern können? Ist doch selbst jene äußere gütige Geste, jener Ausdruck der Güte verschwunden, der den alten schlichten Zeiten eigen war, und dem gegenüber man das Gefühl hat, als hätte der Mensch damals dem Menschen viel nähergestanden. Der stolze Verstand des neunzehnten Jahrhunderts hat ihn vernichtet und zerstört. Ohne jede Maske ist der Teufel in der Welt erschienen. Der Geist des Hochmuts kommt heute nicht mehr in verschiedenen Gestalten und schreckt keine abergläubischen Menschen mehr: er kommt in seiner eigenen Gestalt zu uns. Er fühlt, daß man seine Herrschaft anerkennt, und darum macht er nicht mehr viel Umstände mit den Menschen. Dreist und schamlos lacht er denen ins Gesicht, die sich vor ihm beugen; die törichtesten Gesetze gibt er der Welt, Gesetze, wie sie bisher noch nie gegeben worden sind — und die Welt sieht es und wagt es nicht, sich zu widersetzen! Was bedeutet diese armselige sinnlose Mode, die der Mensch sich erst als eine Bagatelle, als eine harmlose Spielerei gefallen ließ und die jetzt als absolute Herrin und Herrscherin in seinem Hause gebietet und alles Gute und Wesenhafte im Menschen austreibt. Kein Mensch fürchtet sich noch, die wahrsten und heiligsten Gebote Christi zu übertreten, wohl aber fürchtet er sich, die unsinnigste Anordnung der Mode unerfüllt zu lassen, und er zittert vor ihr wie ein furchtsamer Knabe. Was hat das zu bedeuten, daß selbst die, die sich über sie lustig machen, wie leichtsinnige windige Gesellen nach ihrer Pfeife tanzen? Was bedeuten all diese sogenannten Anstandsregeln, die uns weit stärker binden, als die grundlegendsten fundamentalsten Gebote? Was bedeuten alle diese seltsamen Autoritäten, die sich neben den gesetzmäßigen rechtmäßigen Autoritäten installiert haben — was bedeuten diese Nebenwirkungen und Nebeneinflüsse? Was hat es zu bedeuten, daß heute nur noch Näherinnen, Schneider und alle möglichen Handwerker die Welt regieren, während die Gesalbten Gottes abseits stehen? Namenlose unbekannte Menschen, ohne Ideen und ohne ehrliche Überzeugungen beherrschen die Anschauungen und die Meinungen gescheiter Leute, und ein Zeitungsblättchen, von dem jedermann weiß, daß es nichts wie Lügen verbreitet, schwingt sich unmerklich zum Gesetzgeber über die Menschen auf, die es verachten! Was bedeuten all die gesetzwidrigen Gesetze, die die unreine Macht aus der Tiefe offen und vor aller Welt aufrichtet? Und die ganze Welt sieht es, steht wie verzaubert da, und wagt’s nicht, sich zu rühren? Welch furchtbarer Hohn auf die Menschheit! [Wozu sucht man bei diesem Lauf der Dinge überhaupt noch die heiligen Sitten und Zeremonien der Kirche aufrecht zu erhalten, deren himmlischer Beherrscher keine Macht mehr über uns hat? Oder ist das etwa ein neuer Streich des Geistes der Finsternis.] Wozu dieser Feiertag [der jede Bedeutung verloren hat.] Warum kehrt er immer [aufs neue] wieder, um die auseinanderstrebenden Menschen [immer dumpfer und schwächer] zusammenzurufen, um sie in einer Familie zu vereinigen [und, nachdem er sie mit einem traurigen Blick gestreift, wie ein unbekannter Fremdling wieder von dannen zu gehen? Ist er denn wirklich für alle ein unbekannter Fremdling? Aber] warum gibt es denn noch [hie und da] Menschen, denen es so vorkommt, als würde es an diesem Tage heller in ihrer Seele, und die an diesem Tage das Fest ihrer Kindheit begehen, jener Kindheit, von der eine himmlische Liebkosung, gleich dem Kosen eines ewigen Frühlings, in ihre Seele hinüberströmt, jener herrlichen Kindheit, die dem stolzen Menschen von heute ganz verloren gegangen ist? Warum hat der Mensch diese Kindheit noch nicht für immer vergessen und warum bewegt sie noch immer unsere Herzen gleich einem fernen Traumbild? Wie kommt das nur, und was hat das alles für einen Zweck? Als ob man wirklich nicht wüßte, was es für einen Sinn und Zweck hat? Sieht man denn etwa nicht, wozu das geschieht? Damit es zum mindesten den wenigen, die noch etwas von dem Frühlingshauch dieses Festtags verspüren, plötzlich so traurig ums Herz wird, auf daß sie von einer Trauer befallen werden, wie sie nur ein Engel des Himmels empfindet, und auf daß sie ihren Brüdern mit einem herzzerreißenden Aufschrei zu Füßen fallen, und sie anflehen, wenigstens diesen einen Tag der langen öden Reihe der übrigen Tage zu entreißen und nur diesen einzigen Tag nicht nach der Weise des neunzehnten Jahrhunderts, sondern im Geiste jenes ewigen Zeitalters zu verbringen, den Menschen nur ein einziges Mal zu umfassen und in die Arme zu schließen wie ein Freund, der sich schuldig fühlt, den hochherzigen alles verzeihenden Freund umarmt, selbst wenn er ihn schon morgen wieder von sich stoßen und ihm erklären sollte, er sei ihm fremd und unbekannt. Wenn auch nur, um einmal diesen Wunsch zu fassen, wenn auch nur, um sich mit Gewalt dazu zu zwingen und sich daran zu klammern, wie ein Ertrinkender an eine Planke! Gott weiß, vielleicht wird sich schon um dieses einzigen Wunsches willen eine Leiter vom Himmel herabsenken und sich uns eine Hand entgegenstrecken, die uns hilft, an ihr emporzuklimmen.

Aber nicht einmal diesen einen Tag will der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts so verbringen. Schon ist die Erde von einem unnennbaren Weh und einer Trostlosigkeit ergriffen; immer bitterer, trostloser und nüchterner wird das Leben; alles wird kleinlich und flach, bloß das Riesengespenst der Langenweile wächst von Tag zu Tag bis ins Ungeheure. Alles ist wüst, alles ist wie ein einziges Grab. Mein Gott! Wie öde und schrecklich wird Deine Welt!

Warum kommt es denn aber nur dem Russen so vor, als ob dieses Fest nur in seinem Vaterlande würdig gefeiert werde? Ist das etwa nur ein Traum? Warum sucht denn dieser Traum keinen andern auf als den Russen? Wirklich, was hat es zu bedeuten, daß [dieser Festtag selbst verschwunden ist und daß] seine sichtbaren Kennzeichen so deutlich im Angesicht unseres Landes erkennbar sind. Man hört die von Küssen begleiteten Worte: Christ ist erstanden; mit der gleichen Feierlichkeit bricht immer wieder die heilige Mitternacht an, und der dumpfe Ton der ewigen Glocken hallt unaufhörlich über das ganze Land dahin, als wollten sie uns aus dem Schlummer wecken! Wo die Geister in so greifbarer Deutlichkeit erscheinen, da erscheinen sie nicht vergebens. Wo jemand geweckt wird, da gibt es auch ein Erwachen. Die Sitten und Bräuche, die ewig währen sollen, können nicht vergehen. Der Buchstabe stirbt, aber ihr Geist lebt wieder auf. Sie können wohl zeitweilig verblassen, sie können zugrunde gehen und absterben für eine geist- und herzlose, für eine abgestumpfte Menge, aber sie erstehen neu gekräftigt auf in den Auserwählten, um in ihnen in hellem Lichte aufzustrahlen und sich über die ganze Welt zu ergießen. Kein Titelchen von unseren alten Sitten und Bräuchen, nichts, was an ihnen wahrhaft russisch ist und was von Christus selbst geheiligt ward, wird untergehn. Die helltönenden Saiten der Dichter werden es weiter tragen, der Wohllaut ausströmende Mund unserer Priester wird es weithin verkünden; das schon erloschene Licht wird wieder aufflammen — und der heilige Auferstehungstag wird würdig gefeiert werden —, weit früher, denn von einem andern Volke.

Worauf aber, auf welche fest in unseren Herzen verschlossene Tatsachen können wir unsere Behauptung gründen? Sind wir etwa besser als andre Völker? [Sind wir in unserem Lebenswandel Christus nähergekommen als sie? Nein, wir sind nicht bessere Menschen, und unser Leben ist noch weniger geordnet und geregelt als das der andern Nationen. „Wir sind schlimmer als alle anderen“ — so müssen wir stets von uns sagen.] Aber es liegt etwas in unserem Wesen, das uns solches verheißt. Gerade die Unordnung, die bei uns herrscht, ist eine Verheißung. Wir sind noch ein flüssiges Metall, das noch nicht in seine nationale Form abgegossen ist; wir haben noch die Möglichkeit, das, was nicht zu uns paßt, abzustoßen und alles in uns aufzunehmen, wozu die anderen Völker schon nicht mehr fähig sind, die bereits ihre eigene feste Form angenommen haben und in ihr erstarrt sind. Daß in unserem innersten wahren Wesen, das wir vergessen haben, vieles liegt, was dem Geiste des Christentums verwandt ist — dafür ist schon allein das ein Beweis, daß Christus nicht mit dem Schwert in der Hand zu uns gekommen ist, und daß der aufgepflügte und wohlvorbereitete Grund unseres Herzens sich von selbst Seinem Worte entgegenstreckte, daß das Prinzip der christlichen Brüderlichkeit tief in unserer slawischen Natur begründet ist, und daß die Verbrüderung der Menschen untereinander uns näher am Herzen liegt, als unser heimatliches Dach und die Blutsverwandtschaft, daß bei uns noch nichts von jenem unversöhnlichen Haß der Stände und jenen gehässigen Parteiungen bekannt ist, die wir in Europa finden und die ein unüberwindliches Hemmnis für die Eintracht der Menschen und die brüderliche Liebe bilden, daß wir endlich Mut und Kühnheit besitzen, wie sie kein andres Volk in ähnlicher Stärke besitzt und daß, wenn wir uns vor eine Aufgabe gestellt sehen, die kein andres Volk zu lösen vermöchte, wie etwa folgende: mit einem Schlage alle unsere Fehler und Mängel und alles, was den hohen Sinn der Menschheit schändet, abzuwerfen, — daß wir uns dann, alle unsere körperlichen Schmerzen und Qualen vergessend und ohne uns im geringsten zu schonen, aufraffen und alles, was uns befleckt und schändet, von uns stoßen werden, so wie die Menschen einst im Jahre 1812 schonungslos ihre ganze Habe, ihre Häuser und ihre irdischen Besitztümer verbrannten; dann wird kein einziger Mensch hinter dem andern zurückbleiben wollen; in solchen Augenblicken ist jeder Haß und Streit, jede Feindseligkeit vergessen, der Bruder drückt den Bruder an den Busen, und ganz Rußland ist nur ein einziger Mensch. Das ist’s, worauf wir die Behauptung gründen können, daß der Auferstehungstag von uns früher gefeiert werden wird, als von den andern Völkern. Das sagt mir deutlich meine innere Stimme, und das ist kein bloßer Gedanke, der meiner Phantasie entsprungen ist. Solche Gedanken lassen sich nicht erfinden. Durch eine göttliche Eingebung werden sie mit einem Schlage im Herzen vieler Menschen zugleich geboren, die einander noch nie gesehen haben, die in den entlegensten Provinzen des Landes wohnen, und zu ein und derselben Zeit werden sie wie aus einem Munde verkündet. Ich weiß es bestimmt, daß, obwohl ich sie nicht alle kenne, in Rußland mehr als ein Mensch fest daran glaubt und schon heute spricht: „Früher denn in irgendeinem andern Lande wird bei uns der heilige Auferstehungstag Christi gefeiert werden.“

Druck von Mänicke und Jahn, Rudolstadt.

Fußnoten

[1] Die Abschiedserzählung kann nicht erscheinen: was nach dem Tode von Bedeutung sein könnte, das hat bei Lebzeiten keinen Sinn.

[2] Im Original heißt es: „Die Kaiser Alexander hat.“ Schukowski hat wohl aus Zensurrücksichten Alexander in Napoleon umgeändert. Anm. des Herausg.

[3] „Aus Ärger über die Läuse in den Ofen mit dem Pelz!“

[4] Das russische Wort für Aufklärung hat noch den Nebensinn der „Durchleuchtung“. Anm. des Herausgebers.

[5] Der Marquis Custin.

Anmerkungen zur Transkription

Die Schreibweise der Buchvorlage wurde weitgehend beibehalten. Auch Variationen in der Transliteration der russischen Namen wurden nicht verändert.

Offensichtliche Fehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt, teilweise unter Verwendung des russischen Originales (vorher/nachher):